Neorassismus in der Einwanderungsgesellschaft: Eine Herausforderung für die Bildung 9783839434543

Today's world is organized into nation-states. Postcolonial paradigms, nationalism, ethnocentrism and racism all fo

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Neorassismus in der Einwanderungsgesellschaft: Eine Herausforderung für die Bildung
 9783839434543

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Der NSU-Komplex
Die koloniale Mentalität in nachkolonialer Zeit
Schattenseiten des Nationalstaates
Kulturelle Selbstvergewisserung und die Identitätsproblematik
Die konstruktive Verunsicherung
Eine Gigantomachia über Europa
Ethische Logik
Historische Orientierung: Was uns wichtig war und wichtig ist
Autorinnen und Autoren

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Bärbel Völkel, Tony Pacyna (Hg.) Neorassismus in der Einwanderungsgesellschaft

Kultur und soziale Praxis

Bärbel Völkel, Tony Pacyna (Hg.)

Neorassismus in der Einwanderungsgesellschaft Eine Herausforderung für die Bildung

Die vorliegende Publikation wurde durch die Dr. Buhmann Stiftung für interreligiöse Verständigung gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3454-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3454-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Steffen Preuß, Bärbel Völkel, Tony Pacyna | 7 Der NSU-Komplex Ein Fallbespiel für strukturellen und institutionellen Rassismus

Kien Nghi Ha | 35 Die koloniale Mentalität in nachkolonialer Zeit Zu Genese, Erscheinungsformen und Wandel einer Bewusstseinsform

Bea Lundt | 57 Schattenseiten des Nationalstaates Menschen ‚mit‘ (und ‚ohne‘) Geschichte in Einwanderungsgesellschaften

Bärbel Völkel | 89 Kulturelle Selbstvergewisserung und die Identiätsproblematik Zur Konzeption einer im-werden-begriffenen multiplen Identität

Ram A. Mall | 127 Die konstruktive Verunsicherung Drei Plädoyers für das Missverstehen in interkulturellen Begegnungen

Fabian Lehmann | 147 Eine Gigantomachia über Europa Enrique Dussels Interpellationen des europäischen Monologs über die Moderne

Hans Schelkshorn | 167

Ethische Logik Zur Grundverfasstheit der Mensch-Person-Ambiguität

Tony Pacyna | 195 Historische Orientierung: Was uns wichtig war und wichtig ist Eine kritische Bestandsaufnahme

Streitgespräch mit Jörn Rüsen am 9.5.2016 | 213 Autorinnen und Autoren | 255

Einleitung S TEFFEN P REUSS , B ÄRBEL V ÖLKEL , T ONY P ACYNA

Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind in Europa auf dem Vormarsch. Auch in Deutschland lassen sich zunehmend Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen beobachten.1 Dies wird von Politiker*innen aller demokratischen Parteien mit großer Sorge beobachtet und einhellig verurteilt. Relative Ratlosigkeit besteht darin, welche Bevölkerungsgruppen Träger dieser Vorbehalte sind. Trotz einer sehr breiten Intervention gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in den Bereichen der politischen und interkulturellen Bildung im schulischen wie auch außerschulischen Bereich in den letzten Jahren, scheinen diese Bemühungen viele Menschen noch nicht erreicht zu haben.2

1

http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2016/Januar_I_2016, http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ debatte-ueber-fluechtlinge-zdf-politbarometer-afd-gewinnt-merkel-verliert/1243 0480-2.html, 18.7.2016.

2

Vgl. Greuel, Frank: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – Ansätze der pädagogischen Intervention. https://www.demokratie-leben.de/file admin/content/PDF-DOC-XLS/Wissen/Aufsatz_Greuel_final.pdf, 18. 7. 2016.

8 | S TEFFEN PREUSS, B ÄRBEL VÖLKEL, TONY PACYNA

‚P OPULISTEN ‘, ‚ANTI -P OPULISTEN ‘ UND DIE AUSEINANDERSETZUNG UM KULTURELLE ANSPRÜCHE

HEGEMONIALE

Am Montag, dem 11. Juli 2016, veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift „Der hilflose Anti-Populismus. Die rechtspopulistischen Bewegungen stehen den bürgerlichen Parteien näher, als diese zugeben mögen“ einen Beitrag, in dem der Autor Thomas Steinfeld die „populistische Kritik am Populismus“ schonungslos in den Blick nimmt. Steinfeld diagnostiziert einen Distanzierungsreflex bei den ‚Anti-Populisten‘. „Widersprüchlich ist die populistische Kritik am Populismus: Sie argumentiert nicht. Vielmehr setzt sie allgemeine Zustimmung voraus, ein Einverständnis, das sich in einem Wort erschöpft, worauf die Verhältnisse geklärt sein sollen. Sie tut so, als erübrige sich jede weitere Auseinandersetzung, wenn man jemanden einen „Populisten“ nennt. Sie beruft sich auf eine Volksmeinung, um sich eines Gegners zu erwehren, der sich seinerseits für die Verkörperung der Volksmeinung hält.“3

Steinfeld markiert diesen Distanzierungsreflex als eine „hilflose Angelegenheit“, weil auf diese „Schmähung“ nichts folge. Sie werde weder erklärt, noch werde selbstkritisch reflektiert, „dass es keinen Nationalstaat gibt, der nicht zwischen ‚wir‘ und ‚sie‘, zwischen den Eigenen und den anderen unterschiede – weshalb Rassismus bei einem Verhältnis zum Fremden beginnt, das seinen Ausgang tief in demokratischen Verhältnissen nimmt“.4 Demokraten und Populisten stünden sich damit näher, als Demokraten eingestehen mögen, Populisten aber zu nutzen wüssten. Dabei würde sich der Populist als „ein enttäuschter Anhänger seines Staates“ zu erkennen geben, der sich um etwas betrogen sehe, das ihm seiner Ansicht nach zustünde.5 Wer aber sind diese ‚Populisten‘? Und lässt sich hier vielleicht doch etwas erklären, so dass man nicht beim hilflosen Schmähen stehen bleiben muss? Im Jahr 2015 gingen die heute Populisten Genannten als ‚Patriotische 3

Steinfeld, Thomas: Der hilflose Anti-Populismus. Die rechtspopulistischen Bewegungen stehen den bürgerlichen Parteien näher, als diese zugeben mögen, SZ Nr. 158, Montag, 11. Juli 2016. S. 9.

4

Ebd.

5

Ebd.

E INLEITUNG | 9

Europäer gegen (die) Islamisierung des Abendlandes‘ in Massen auf die Straßen in deutschen Städten. In der Partei Alternative für Deutschland (AfD) haben sie sich als Europakritiker und Bewahrer europäisch/deutscher Werte politisch organisieren können. Es handelt sich, wie wir heute besser als vor einem Jahr wissen, bei den ‚Populisten‘ deutlich nicht vorwiegend um Menschen, die in sozial prekären Verhältnissen leben. Vielmehr finden sich in diesem Feld des politischen Meinungsspektrums Menschen aus der sozialen Mitte unserer Gesellschaft, die einen Realschulabschluss und zu großen Teilen auch Universitätsabschlüsse nachweisen können.6 Allerdings haben sich Pegidisten und AfDler von der „soziale-Mitte-Position [...] eindeutig rechts vom Zentrum grundiert“.7 Eine Forschergruppe um den Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter identifiziert bei dieser Bevölkerungsgruppe ein durchaus elitäres Bewusstsein, weil sie für sich in Anspruch nimmt, als einzige die ‚Zeichen der Zeit‘ richtig erkannt und gedeutet zu haben.8 In diesem politischen Spektrum wird die repräsentative Demokratie hoch kritisch gesehen. Offensichtlich wird hier ein identitäres Demokratieverständnis vertreten. So stehen der „Ausbau plebiszitärer Elemente“, das Beharren auf „konservativen Leitvorstellungen“, die „Stärkung nationaler Interessen“ sowie die „Förderung von ‚Recht und Ordnung‘“ im Fokus politischer Vorstellungen. Pluralismus und Minderheitenrechte hingegen nehmen in ihrem „demokratischen Referenzrahmen“ eine nur „marginale Rolle“ ein.9 Fremdenfeindlichkeit gehört damit stabil in die Mitte unserer Gesellschaft.10

D EUTSCHE ZUERST – N EORASSISMUS IN D EUTSCHLAND In Deutschland hat man mit dem Eingeständnis, rassistische Tendenzen in der Gesellschaft zu erkennen, Schwierigkeiten. ‚Rassismus‘ wird hier mit

6

Geiges, Lars / Marg, Stine / Walter, Franz: PEGIDA. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld 2015, S. 64.

7

Ebenda.

8

Ebenda, S. 103.

9

Ebenda, S. 181.

10 Alheim, Klaus / Heger, Bardo: Nation und Exklusion. Der Stolz der Deutschen und seine Nebenwirkungen. Schwalbach/Ts. 2010. S. 56.

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der als überwunden verstandenen nationalsozialistischen Vergangenheit verbunden: Weil diese Vergangenheit ‚bewältigt‘, ‚bearbeitet‘, ‚verarbeitet‘ und als Mahnung dauerhaft im kollektiven Gedächtnis verankert wurde, scheint man gefeit gegenüber solchen Denkmustern. Hierzulande wird unter Rassismus immer noch ein ausschließlich auf unterstellten hierarchisierten biologischen Unterschieden bestehender Ausgrenzungsmechanismus verstanden, der in unserer heutigen Welt tatsächlich überwunden und daher geächtet ist. Allerdings verweist der Begriff der Xenophobie, der Fremdenfeindlichkeit, mit dem wir aktuell eher agieren, durchaus auf eine ebensolche Hierarchisierung von Bevölkerungsgruppen innerhalb der Gesellschaft. Rekurriert der Terminus ‚Rassismus‘ stärker auf den Körper, verweist der Begriff ‚Fremdenfeindlichkeit‘ auf fundamentale kulturelle Differenzen.11 Vor diesem Hintergrund wird im Zusammenhang mit Xenophobie dann auch von „Neo-Rassismus“ gesprochen, von einem „Rassismus ohne Rassen“, bei dem es „um so etwas wie ein Hegemonie-Verhältnis“ geht.12 Ein Rassismus ohne Rassen wird unter einen „postkolonialen Rassismus“ gefasst, eine „Herrschaftspraxis, die rassistisch wirksam ist, ohne explizit auf das Rassekonzept zurückgreifen zu müssen“.13 Innerhalb von Nationalstaaten lässt sich das von Balibar angesprochene Hegemonie-Verhältnis tatsächlich ausmachen, wie Birgit Rommelspacher belegt und in den Begriff der „Dominanzkultur“ gefasst hat.14 ‚Dominanzkultur‘ meint ein „Geflecht verschiedener Machtdimensionen [...], die in Wechselwirkung zu einander stehen“ und Bilder vom Anderen entwerfen, die „in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind“.15 Rommelspacher vertritt dabei einen umfassenderen Kulturbegriff

11 Cashmore, Ellis: Dictionary of Race and Ethnic Relations, Stichwort ‘Xenophobia’. New York 1996. S. 382-383. 12 Balibar, Etienne / Wallerstein, Immanuel: Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg 1990. S. 27ff. Zitate auf S. 27 und 28. 13 Mecheril, Paul / Scherchel, Karin: Rassismus und „Rasse“. In: Rassismuskritik Band 1: Rassimustheorie und –forschung. Hrsg. von Claus Melter & Paul Mecheril. Schwalbach/Ts. 2011. S. 39-58, hier S. 49. Kursiv im Original. 14 Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin 1998. 15 Ebenda, S. 22 und 23. Kursiv im Original.

E INLEITUNG | 11

„[…] und zwar als Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam geteilter Bedeutungen, in denen die aktuelle Verfasstheit der Gesellschaft, insbesondere ihre ökonomischen und politischen Strukturen, und ihre Geschichte zum Ausdruck kommen. Sie bestimmt das verhalten, die Einstellungen und Gefühle aller, die in dieser Gesellschaft leben, und vermittelt so zwischen den gesellschaftlichen und individuellen Strukturen.“16

Tatsächlich kommt dem Nationalstaat in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle zu. Diejenigen, die sich der dominanten Gruppe in der Gesellschaft als angehörig zurechnen, können sich damit als ‚Deutsche mit Vorrang‘ fühlen.17 Nichts Anderes nehmen die heutigen ‚Populisten‘ für sich in Anspruch. Der Kampf und symbolische Macht und kulturelle Dominanz kann dabei Formen annehmen, im Rahmen derer Gruppenkonstruktionen naturalisiert und in diesem Zusammenhang „ökonomische, politische und kulturelle Dominanzverhältnisse legitimiert werden“.18 Die Auseinandersetzung zwischen ‚Anti-Populisten‘ und ‚Populisten‘, wie sie der Journalist Thomas Steinfeld umrissen hat, bringt eben diesen ‚Kampf um symbolische Macht und kulturelle Dominanz‘ zum Ausdruck. Gleichzeitig kann diese Auseinandersetzung als ein Beleg dafür genommen werden, dass es in unserer Gesellschaft neo-rassistische Praktiken gibt, die in der Mitte und nicht am Rand unserer Gesellschaft ausgetragen werden. Die gesellschaftliche Platzierung dieser Auseinandersetzung lässt erkennen, dass eine rassistische, hier neo-rassistische, Denkweise nicht auf eine prekäre Bildungssituation zurückgeführt werden kann. Ganz im Gegenteil! ‚Populisten‘, die mit neorassistischen Argumenten agieren, müssen als gebildet wahrgenommen werden. Ihre Bezugnahme auf ‚Demokratiedefizite‘ (Einforderung von Plebisziten), Kapitalismuskritik (Deutsche zuerst) und historische Bildung (Deutschland muss ‚abendländisch‘ bleiben) lässt erkennen, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die sich viele konzeptuelle Gedanken um das Gemeinwohl in Deutschland und Europa machen. Sie tun dies allerdings in einem ganz bestimmten Bezugsrahmen und dieser ist durch

16 Ebenda, S. 22. 17 Ebenda, S. 189–198. 18 Rommelspacher, Birgit: Was ist eigentlich Rassismus? In: Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und – forschung. Hrsg. von Claus Melter & Paul Mecheril. Schwalbach/Ts. 2011. S. 25–38, hier S. 27.

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einen hegemonialen Kulturdiskurs geprägt. Das heißt, dass in diesem Referenzrahmen schroff zwischen dem Eigenen und dem Fremden sowie deren Unvereinbarkeit unterschieden wird. Im Februar 2015 fand an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg eine Tagung statt, auf der in unterschiedlichen Berufsfeldern tätige Menschen sich mit der Frage ‚Neorassismus in Einwanderungsgesellschaften – (k)ein Bildungsproblem!?‘ befassten.

„K ONFLIKTE , R EVOLUTIONEN , K RIEG UND G EWALT “ – E INE KRITISCHE U NTERSUCHUNG AKTUELLER G ESCHICHTSBÜCHER . E RFAHRUNGEN AUS DEM S CHULALLTAG Der Realschullehrer Steffen Preuß setzte sich kritisch mit dem neuen Bildungsplan 2016 in Baden-Württemberg sowie gängigen Schulbüchern im Unterrichtsfach Geschichte auseinander, um diese mit Blick auf die übergeordnete Fragestellung der Tagung zu problematisieren: „Krieg, Gewalt, Hunger, Flucht und Vertreibung, die unmenschlichen Gräueltaten des sogenannten „Islamischen Staates“, all dies hat im letzten Jahr sehr betroffen gemacht und gezeigt, dass es notwendig ist, den Schutzsuchenden aktiv bei und mit uns ein besseres, aber vor allem sichereres und an ethischen Grundwerten ausgerichtetes Leben zu ermöglichen. Im Folgenden soll daher nun analysiert werden, welchen Beitrag der Geschichtsunterricht leisten kann, um dem aufkommenden Neorassismus und dem zumindest medial präsentierten wieder erstarkten Rassismus entgegenzuwirken. Dieser Frage soll, ausgehend von den Prämissen des Bildungsplans 2016 des Landes Baden-Württemberg, den Leitgedanken für das Fach Geschichte, sowie exemplarisch am Geschichtsbuch als Leitmedium des Geschichtsunterrichts als Erfahrungsbericht vorgestellt werden. Breits von seinem prinzipiellen Anspruch her gibt sich der neue Bildungsplan 2016 in Baden-Württemberg als Richtung weisend: Es geht um nicht mehr und nicht

E INLEITUNG | 13

weniger als die Vorbereitung der Heranwachsenden auf die Herausforderungen der globalisierten Welt.19 Eine große Bedeutung kommt den so genannten Leitperspektiven, die von allen Fächern berücksichtigt werden müssen, zu. Im Einzelnen beinhalten diese Leitperspektiven den Umgang mit Diversität, Pluralismus und Kontroversität auf allen Ebenen des menschlichen Zusammenlebens (I) und die Teilhabe und Mitgestaltung bei der Weiterentwicklung der globalisierten Welt und den daraus resultierenden Transformationsprozessen (II). Ebenso steht hierbei eine Festigung der eigenen Identität im Vordergrund wie auch der Erwerb sozialer Kompetenzen, die zu einem friedfertigen und gerechten Miteinander beitragen sollen (III). Zuletzt steht die Medienkompetenz im Fokus der Bildung, ein Zurechtfinden in den unermesslichen Weiten der Abundanz an Informationen sowie deren kritische Nutzung und Analyse.20 Es lässt sich konstatieren, dass es im Sinne der Bildungsplanmacher ist, den Jugendlichen eine Bildung zu Teil werden zu lassen, die es ihnen ermöglicht, friedlich, gerecht, kritisch und in ethisch verantwortungsvoller Weise mit sich selbst und dem Fremden sowie aktuellen und zukünftigen Ereignissen umgehen zu können. Die Leitperspektiven und eine konsequente Umsetzung im Unterricht bilden ein nicht verhandelbares Fundament für unsere aktuelle und zukünftige Gesellschaft. Mittels des Geschichtsunterrichts soll den Schüler*innen ermöglicht werden, die Kausalitäten zu ergründen, die die Gegenwart konstituieren. Dadurch soll Handlungs- und Orientierungskompetenz entwickelt werden. Die Vernetzung und Komplementarität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft soll so deutlich werden. Es sollen mittels Kontinuitäten und Konstanten menschlichen Handelns das Geschichtsbewusstsein geschult werden, welches unabdingbar für eine selbstbestimmte, reflektierte Identitätsentwicklung und Lebensführung ist. Den Schülern soll somit die Fähigkeit vermittelt werden ihre Lebenswelt nicht nur als absolut und statisch zu erfahren sondern über aktive Teilhabe und Mitwirkung als wandelbar.21 Auch die historische Perspektive spielt dabei eine wichtige Rolle.

19 Vgl. Stoch, Andreas: Vorwort. In: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Lehrkräftebegleitheft. S. 3. 20 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Lehrkräftebegleitheft. S. 8f. 21 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 3.

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Zur Leitperspektive Bildung von Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt

„[…] die Geschichte der Menschheit ist seit ihren Anfängen sowohl durch vielerlei wechselseitige Kultureinflüsse als auch durch Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen geprägt.«22 „begegnen in […] der Geschichte unentwegt Beispielen für Intoleranz, aber auch für gegenseitigen Respekt und Akzeptanz von Vielfalt. […] lernen den unterschiedlichen Umgang der Gesellschaft mit Minderheiten […] kennen und entwickeln dabei Werthaltungen, die sie zur Achtung und Wertschätzung von Verschiedenheit befähigen.“23



Zur Leitperspektive Bildung für nachhaltige Entwicklung

„[…] Die Entwicklung von Kritik- und Empathiefähigkeit sowie die Bereitschaft zu multiperspektivischem Denken sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass nachfolgende Generationen ihre Verantwortung für die Eine Welt übernehmen können.“24



Zur Leitperspektive Prävention und Gesundheitsförderung

„[…] Förderung von Lebenskompetenzen und die Stärkung von Resilienzfaktoren. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit „…] schafft (das Fach Geschichte) Einsichten, Perspektiven und Vorbilder für die Gegenwart. […]“25



Zur Leitperspektive Medienbildung

„[…] zentrale Bedeutung von Medien bei der Konstruktion von Wirklichkeit […] und zu einer reflektierten Mediennutzung […] wie wichtig die kritische Auseinandersetzung mit Medien für die Weiterentwicklung eines demokratischen Gemeinwesens und seiner zivilgesellschaftlichen Strukturen ist.“26

22 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 4. 23 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 5. 24 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 4. 25 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 5. 26 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 5.

E INLEITUNG | 15

Das Besondere am neuen Bildungsplan ist, dass er für alle Schularten gilt. Statt äußerer Differenzierung ist es nun Aufgabe des Lehrers, eine entsprechende Binnendifferenzierung im Rahmen seines Unterrichts durchzuführen. Inhaltlich sind die Lehrpläne deutlich eurozentrisch und auch nationalstaatlich ausgerichtet. So heißt es: „Die nationale und die europäische Ebene stehen im Vordergrund des Geschichtsunterrichts. […] durch die sozusagen darunter beziehungsweise darüber liegende regionale und globale Ebene konkretisiert, ergänzt und bisweilen relativiert.“27 Da Politikgeschichte dominiert, werden auch die Kategorien ‚Herrschaft, Nation, Gewalt’, wie ich sie nennen möchte, ausgesprochen relevant. Als Beleg hier nun mehrere Beispiele aus den Klassen 5-9, die in den inhaltlichen Vorgaben der Bildungspläne aufgelistet werden.



Klasse 5/6 Die athenische Demokratie, Expansion des Imperium Romanum, das chinesische Reich im Vergleich mit dem Imperium Romanum, das Frankenreich und die Reichsidee



Klasse 7/8/9 Die Kreuzzüge, Expansion des osmanischen Reiches, Expansion von Europa nach Amerika, der Absolutismus, die Französische Revolution, die amerikanische Revolution, Neuordnung Europas zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die europäischen Revolutionen 1848/49, Gründung des deutschen Kaiserreichs im Vergleich zur Nationalstaatsgründung in Polen und Frankreich, Nationales Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Imperialismus, der Erste Weltkrieg, Beginn des Zwiespaltes zwischen der USA und der Sowjetunion, der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, Expansion Japans im Zweiten Weltkrieg, Nachkriegszeit in Europa, Kalter Krieg.28

27 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 8. 28 Vgl, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 16–41.

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Diesen inhaltlichen Vorgaben entsprechend können zahlreiche (Schau-)Bilder aus den Schulbüchern zugeordnet werden, die ebenfalls Macht, Gewalt und Nation als Inhalte transportieren. Nur einige Beispiele:

• • • •

Die Landung von Kolumbus in Amerika Der Dreieckshandel Portrait Ludwig XIV Die allseits bekannte Karikatur zur Situation des Dritten Standes im Zeitalter des Absolutismus

• • • • • • •

Der Sturm auf die Bastille Karikaturen zur Schreckensherrschaft der Jakobiner unter Robespierre Barrikadenkämpfe in Berlin 1848/49 Portrait Wilhelm II in der Pose von Ludwig XIV Propagandazeichnungen zur Dolchstoßlegende Portrait von Hitler: Ein Volk, ein Reich, ein Führer Zwangsarbeiter, die durch die SS überwacht werden29

Dieser kleine Auszug soll nur verdeutlichen, dass es nicht schwierig ist, unzählige Beispiele zu finden, die die dominanten Kategorien des Geschichtsunterrichts bedienen. Wie man schon in der obigen Liste entnehmen kann, werden auch andere Staaten behandelt, wenn auch nur peripher. So steht in Cornelsens „Entdecken und Verstehen“ Band 1 in einem Vergleich zwischen dem Imperium Romanum und dem chinesischen Kaiserreich, dass beide durchaus vergleichbar wären und sich ähnlich seien. Sowohl was die Herrschaftsgewalt der beiden Reiche angeht, als auch die Verwaltung der Macht.30 Wenn dies in zwei Sätzen für China gesagt werden kann, warum muss dann in aller Breite und Fülle die Herrschaftsstruktur vergangener oppressiver europäischer Reiche und Nationen, deren Expansion oder Umgang mit Konflikten, die bekanntlich in den seltensten Fällen friedlich verliefen und nicht gerade Vorbildcharakter für

29 Siehe z.B. Berger-von der Heide, Thomas, Oomen, Hans-Gert (Hrsg.): Entdecken und Verstehen. Geschichtsbuch. Realschule Baden-Württemberg. Band 2. Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zur Industrialisierung. 1. Auflage, Berlin 2005, sowie Band 3. Vom napoleonischen Zeitalter bis zur Gegenwart.1. Auflage, Berlin 2006. 30 Vgl. Berger-von der Heide / Oomen, Band 1. 2016. S. 147.

E INLEITUNG | 17

Jugendliche in der Bewältigung ihres Alltags haben, eine solch hohe Bedeutung beigemessen werden? Auch dem menschlichen Zusammenleben wird eine große Bedeutung zuerkannt: „[…] Daneben ist auch die Beschäftigung mit kulturhistorischen Aspekten des menschlichen Zusammenlebens wesentlicher Bestandteil des Geschichtsunterrichts. […]“31 „[…] Denn Identität ist die geronnene Form der gemeinsamen Erfahrungen, die Menschen in der Vergangenheit gemacht und aus denen sich ihre Wertmaßstäbe entwickelt haben. […] Sie erkennen die Notwendigkeit, sich auch in andere Perspektiven hineinzuversetzen, sich mit diesen kritisch auseinanderzusetzen und selbst Position zu beziehen. […]“32 Soziale und personale Kompetenz soll sich also durch die Beschäftigung mit Geschichte entwickeln. Die heutigen Werte sind hierbei als Produkt einer sich ständig wandelnden Gesellschaft im Rahmen ihrer historischen Bedingtheit zu erkennen und zu verstehen.33 Ebenso wird formuliert, dass menschlichem Zusammenleben wesentliche Beachtung geschenkt werden soll. Dabei muss aber klar sein, dass die Völker in der Vergangenheit, die sich einen territorialen Raum teilten, nie eine organische Einheit waren und auch heute nicht sind. Im Vordergrund müssten daher eigentlich Themen stehen, wie zum Beispiel der Umgang mit Minderheiten und vorherrschende Werte und ihr Wandel in der Vergangenheit bis heute. Welche inhaltlichen Vorgaben im Bildungsplan 2016 entsprechen tatsächlichem menschlichem Zusammenleben? Auch hier wieder die thematischen Rahmungen, die der Bildungsplan vorgibt:



Klasse 5/6 Das Leben in der Jung- und Altsteinzeit, Aspekte der Lebenswelt in der griechischen Polis, Einfluss des Imperium Romanum auf das römische Germanien, das

31 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2004. Realschule. S. 104. 32 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 4. 33 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2004. Realschule. S.104 und Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (Hrsg.): Baden-Württemberg Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 6–15.

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Christentum und seine Bedeutung im Imperium Romanum, Ausbreitung und Entstehung des Islams und sein Einfluss auf Europa34



Klasse 7/8/9 Mittelalterliche Lebenswelten am Bespiel von Burg, Dorf, Kloster und Stadt, die Bedeutung Jerusalems für Christen, Juden und Muslime, Epochenwechsel und Alltag der Menschen beim Übergang zur Neuzeit, bürgerliche Lebenswelten im 19. Jahrhundert, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, der Alltag der Arbeiter in der Industrialisierung, die Ambivalenz der Lebenswelten im ausgehenden 19. Jahrhundert in Europa, die Welt am Ende des 19. Jahrhunderts als vernetzten Interaktionsraum, Imperialismus in Afrika, die Ideologie des Nationalsozialismus, Alltag in der NS-Diktatur, Alltag in den NSHerrschaftsgebieten, Lebenswelt in der BRD und DDR, Unterdrückung in der DDR, Liberalisierung und Emanzipation in der BRD in den 60´ern und 70´ern, Friedliche Revolution und deutsche Einheit.35

Komplexes menschliches Zusammenleben, wie dies in unserer heutigen hybriden Gesellschaft gang und gebe ist, scheint im Fach Geschichte nicht vorgesehen zu sein. Pluralismus und Diversität, die uns immer wieder auf die Probe stellen, sind einer, wie ich es nennen möchte, episodischen und oberflächlichen Homogenisierung gewichen. Der Blick richtet sich nach wie vor auf Deutschland und Europa mit kleinen Exkursen in andere Länder, aber auch hier dominieren die Handlungen und der Umgang des Okzidents mit der indigenen Bevölkerung. Erfolgreiches Zusammenleben scheint offenbar nicht stattgefunden zu haben. Es gab immer nur Herrscher und Beherrschte, Gewinner und Verlierer gewalttätiger Auseinandersetzungen. Dies wird auch in der Wahl der Abbildungen deutlich, die in den Schulbüchern abgedruckt sind. Nur einige Beispiele für menschliches Zusammenleben, die repräsentativ für die inhaltlichen Vorgaben sind:

34 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 16–21. 35 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 16–21.

E INLEITUNG | 19

• • •

Die Ausbeutung der Ureinwohner Amerikas durch die Spanier Der Bauernkrieg Die Vertreibung des Stammes der Nez Perce von ihrem angestammten Land durch die junge amerikanische Republik

• •

Das Gebaren eines deutschen Kolonialherren in Togo Die berühmte Postkarte aus dem Kaiserreich „Der Soldat, der schönste Mann im Staat“36

Auch hier ließen sich mit Sicherheit noch mehr Beispiele finden. Was dies aber im konkreten Fall bedeutet, scheint evident zu sein. Erfolgreiches menschliches Zusammenleben, wie es der Bildungsplan in seinen Leitperspektiven beschreibt und auch in den Leitgedanken für das Fach Geschichte genauer benennt, ist nirgendwo zu finden. Stattdessen wird den Schülern das Geschichtsbild vermittelt, dass es ein Zusammenleben immer nur unter oder als Folge imperialistischer und kriegerischer Auseinandersetzungen von Staaten geben kann. Dabei stützen sich der Bildungsplan und auch die Schulbücher auf die fragwürdige Annahme, Völker seien eine in sich geschlossene homogene Gruppe, die weder unterschiedliche Standpunkte vertreten könnten noch empathiefähig oder tolerant wären. Völker werden als homogene Einheiten behandelt, die voneinander getrennt, nur eine geringe Komplementarität entfalteten. Die Entstehung des heutigen Europas zu bearbeiten, ohne auch nur über die nationalen oder europäischen Grenzen hinauszublicken, lässt einen bitteren Beigeschmack zurück. Der bedeutende Einfluss aus dem nicht-europäischen Ausland bleibt bis auf knappe und begrenzte Thementeile unerwähnt. Ebenso werden Erfindungen, die nicht originär in Europa gemacht wurden, als europäische Errungenschaften dargestellt, ob es jetzt um die Erfindung des Buchdrucks geht oder um die des Kompasses.37 Natürlich fand eine Weiterentwicklung auch durch europäische Pioniere statt, sie waren aber nicht immer die Schöpfer dieser Ideen. Es werden auch keine gewaltfreien Konfliktlösestrategien dargestellt, wie sie in anderen Teilen der Welt praktiziert wurden und werden. Es scheint, als ob nationaler und europäischer Geschichte mehr Bedeutung beigemessen wird, als dass alternative Lebensweisen und Lebensläufe in Betracht gezogen werden, die vielleicht in anderen Ländern gemacht wurden, sich aber dennoch an ethischen Grundwerten und

36 Siehe z.B. Berger-von der Heide / Oomen, Band 2, 2005, sowie Band 3, 2006. 37 Vgl. Berger-von der Heide / Oomen: Band 2. 2005. S. 24 f. und 22.

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einer friedlichen Koexistenz orientierten und einer Vorbereitung für die Herausforderungen der modernen Welt dienlicher sein könnten. Auch in Bezug auf die welterschließenden Kompetenzen Neugier, Toleranz, Akzeptanz gibt es erhebliche Diskrepanzen: „[…] Die Schülerinnen und Schüler sind neugierig auf Unbekanntes, Fremdes, Vergangenes. Diese Neugier kann im Geschichtsunterricht aufgenommen und verstärkt werden. Sie wenden sich fragend der Geschichte zu und lernen so, eine forschendkritische Grundhaltung einzunehmen. […]“38 Der Bildungsplan 2016 wird hier konkret und spricht von einem sogenannten „Fenster zur Welt“. Die Themen, die im Rahmen dieses Fensters bearbeitet werden sollen, sind:



Klasse 5/6 China als Großreich im Vergleich zum Imperium Romanum sowie die Entstehung und Ausbreitung des Islam und seiner kulturverändernden Auswirkungen auf europäischen Staaten



Klasse 7/8/9 Handel zwischen Europa und Asien am Beispiel der Seidenstraße, Jerusalem als ein Zentrum religiöser Auseinandersetzungen; Kreuzzüge, Expansion des Osmanischen Reiches und seine Bedeutung für Europa, Expansion der Europäer nach Amerika, Auswanderung aus Mitteleuropa nach Amerika, die Welt am Ende des 19. Jahrhunderts als vernetzten Interaktionsraum, Imperialismus am Beispiel Afrikas, Expansion Japans im Zweiten Weltkrieg, Auswirkungen des Kalten Krieges auf Kuba.39

Im chronologischen Durchlauf werden die zukünftigen Schüler*innen also auf Themen stoßen, die tatsächlich den Blick auf andere Länder richten. Allerdings wird dieses „Fenster zur Welt“ doch sehr stark eingeschränkt. Der Fokus liegt weiterhin auf Europa mit einem Abstecher nach China, dem Osmanischen Reich, dem Vorderen Orient

38 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 4. 39 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 16-21.

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im 12-14. Jahrhundert, den USA, Kuba, Japan und Afrika. Zudem ist der ‚Blick aus dem Fenster’ erheblich weniger differenziert als der innerhalb des Hauses. Erneut wird auch hier der Fokus auf Europa und für europäische Belange relevante Themen gelenkt. Zentral auch hier wieder die Dominanz der Kategorien „Macht, Gewalt, Nation“. Friedliches menschliches Zusammenleben, gewaltfreie Konfliktlösungen oder Problemlösestrategien sucht man auch hier vergeblich. Man sollte denken, dass vielleicht das Thema „Die Seidenstraße“ hier richtungsweisend für unsere aktuellen Probleme sein könnte. Die Geschichte der Seidenstraße ist umfangreich und soll hier nicht im Detail erörtert werden. Als Kurzinformation sollte genügen, dass aus einer einfachen Handelsroute ein weltveränderndes Netz an Verkehrswegen entstand, das eine kulturelle Blüte für alle an ihr teilhabenden Völker brachte. In Zeiten der ethnisch-religiösen-kulturellen Globalisierung sollte diesem Thema doch deutlich mehr Platz eingeräumt werden, da es menschliches Zusammenleben in all seinen Facetten in der Vergangenheit in der damals bekannten Welt abbilden könnte. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass es bei dem Thema ‚Die Seidenstraße’ in erster Linie um wirtschaftliche Beziehungen zwischen Asien und Europa geht. Zentrale Arbeitsbegriffe und damit verknüpftes Wissen, das alle Schüler durch die Behandlung dieses Themas erwerben sollen, sind: Seidenstraße: Seide, Pest.40 Auch dem ethischen Handeln wird im Bildungsplan 2016 ein wichtiger Platz eingeräumt. „[…] Darüber hinaus entwickeln die Schülerinnen und Schüler Einstellungen und Haltungen […] um auftretende Schwierigkeiten in demokratischer und ethisch verantwortungsvoller Weise zu überwinden. […]“41. „Die […] Schüler begegnen in der Geschichte unentwegt Beispielen für Intoleranz, aber auch für gegenseitigen Respekt und Akzeptanz von Vielfalt. Sie lernen den unterschiedlichen Umgang der Gesellschaft mit Minderheiten im Verlauf der Ge-

40 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 23. 41 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2004. Realschule. S. 104.

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schichte kennen und entwickeln dabei Werthaltungen, die sie zur Achtung und Wertschätzung von Verschiedenheit befähigen.“42 Besonderes Augenmerk soll also dem selbstbestimmten Handeln geschenkt werden, das an ethischen Grundwerten ausgerichtet ist. Die Mannigfaltigkeit menschlichen Handelns in seiner Vergangenheit soll den Jugendlichen Orientierungs- und Handlungskompetenz für die Gestaltung der Gegenwart und ihrer Zukunft geben. Um die Ausführungen der Bildungspläne umzusetzen, müssten daher besonders alltags- und mentalitätsgeschichtliche Themen im Fokus der Aufmerksamkeit sein bzw. all die geschichtswissenschaftlichen Teildisziplinen, die bisher nicht erwähnt wurden, wie z.B. Umweltgeschichte, Frauengeschichte, Umgang mit Sexualität oder Behinderungen u.v.m. Allerdings wird es schwierig, in den inhaltlichen Vorgaben des Bildungsplans 2016, Themen zu finden, die die Vielfalt des menschlichen Handelns in der Vergangenheit zum Gegenstand haben.



Klasse 5/6 Leben in der Alt- und Jungsteinzeit, Leben in der griechischen Polis



Klasse 7/8/9 Mittelalterliche Lebenswelten, Epochenwechsel beim Übergang von Mittelalter zur Neuzeit und Auswirkungen auf den Alltag, bürgerliche Lebenswelten im 19. Jahrhundert, Arbeiteralltag und Arbeiterbewegung im Zeitalter der Industrialisierung, Ambivalenz moderner Lebenswelten im ausgehenden 19. Jahrhundert, Alltag in der NS-Diktatur, Liberalisierung und Emanzipation in der BRD in den 60’ern/70’ern

In den wenigen, gelisteten Themen bestünde durchaus eine Chance aufzuzeigen, wie die Menschen gelebt, gehandelt und gedacht haben. Mit welchen Problemen sie konfrontiert wurden, welche Konflikt- und Problemlösestrategien sie dabei entwickelten, anwandten und welches Ergebnis oder Konsequenz daraus resultierte. Es ist nicht zu übersehen, dass die Auswahl an Themen ebenso überschaubar wie die des „Fensters zur Welt“ sind und eher als Randerscheinung im Geschichtsunterricht betrachtet werden müssen.

42 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016. Geschichte. S. 5.

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In der Praxis des Geschichtsunterrichts beschränkt sich die Erarbeitung der Themen jedoch meist auf einen stoischen Pragmatismus der kaum als „Leben in …“ bezeichnet werden kann. Die Texte in den zur Verfügung stehenden Materialien und Geschichtsbüchern bilden die Menschen in den jeweiligen Themen als homogene Gruppen ab, die ihre Rahmenbedingungen meist als unveränderlich akzeptierten oder aber sich dagegen auflehnten und mit staatlichen Sanktionen oder gar dem Tod rechnen mussten. Die meist eindrücklichen Bilder aus der Reihe der „Entdecken und Verstehen“ – Bände zeichnen auch ein eher eindeutiges Bild, was die ‚Vielfalt’ toleranten menschlichen Handelns angeht. So finden sich z.B. die (Selbst-)Krönung Napoleons zum Kaiser, das Attentat in Sarajewo 1914, Ein Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg (eine sogenannte Auftaktseite), „Tag der Wehrmacht“ – Kinder nehmen an Schießübungen teil, die Geschwister Hans und Sophie Scholl.43 Wenn im Bildungsplan von der Intoleranz in der Vergangenheit gesprochen wird aber keine relevanten positiven Beispiele zu erkennen sind: Was sollen die aktuellen und kommenden Generationen daraus lernen? Es war schon immer so, es wird immer so bleiben? Wo ist die Vielfalt menschlichen Handelns? Eine Ausnahme mag die ‚friedliche Revolution’ von 1989 bilden, wenn man sie dann entsprechend des chronologischen Durchlaufes am Ende der Sekundarstufe I thematisiert. Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass man die Realisierung der übergeordneten Ziele nicht mit den inhaltlichen Vorgaben des Bildungsplans Geschichte und den zur Verfügung stehenden Materialien im Geschichtsunterricht erreichen kann. Geschichtsunterricht kann meiner Meinung nach so auch keinen Beitrag zur Völkerverständigung, Akzeptanz, Toleranz oder Friedensliebe leisten. So sind sowohl ein guter Wille wie auch ein hohes Problembewusstsein über die Leitperspektiven im Bildungsplan 2016 zu erkennen. In der Praxis bleibt dann aber doch Vieles offen.“

Die kritische Analyse von Steffen Preuß zeigt, wie schwierig es innerhalb der Bildungspolitik zu sein scheint, gute Vorsätze, die einer Zivilgesellschaft zuträglich sind, in konkrete Unterrichtsinhalte zu übersetzen. In der Folge entsteht genau das Phänomen, das Birgit Rommelspacher beschrieben hat: Auf der Ebene der Inhalte, zumindest derer im Fach Geschichte, sind die Lehrpläne in allen Bundesländern in Deutschland ähnlich wie der

43 Siehe z.B. Berger-von der Heide / Oomen, Bände 1–3. 2005–2006.

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hier vorgestellte Bildungsplan aufgebaut.44 Auf diese Weise entsteht ein hegemonialer Diskurs über Geschichte, der eurozentrisch und chronologisch, später dann nationalstaatlich ausgerichtet ist. ‚Andere‘ in unserem Land haben dann ‚eine andere Geschichte‘. Diese kann man sehen, wenn man ‚aus dem Fenster‘ schaut. Offensichtlich muss man das eigene Haus nicht verlassen, um sich die Geschichte ‚der Anderen‘ anzusehen. Die Frage ist, wo ‚die Anderen‘ stehen oder erscheinen – vor dem Haus, am Horizont – offensichtlich jedoch nicht im Haus.

N EORASSISMUS – EINE BESONDERE

KEIN B ILDUNGSDEFIZIT , SONDERN W EISE , W ELT ZU DENKEN

‚Populisten‘ stellen eine besondere ‚Kränkung‘ dar, weil sie sich gegenüber den schulischen und außerschulischen Bildungsbemühungen um Toleranz und eine solidarische Zivilgesellschaft so widerständig, auch eigensinnig zeigen. Kann man dem Gedanken folgen, dass wir es hier nicht mit einem Bildungsdefizit, sondern mit einer besonderen Denkweise zu tun haben, stellt sich die Frage, woher solche Denkweisen kommen und welche Möglichkeiten es gibt, mit ihnen umzugehen. Der Politologe Kien Nghi Ha zeichnet am Beispiel des „NSU-Komplex“ nach, wie sich struktureller und institutioneller Rassismus in Deutschland ausmachen lassen. Ha erkennt im NSU-Komplex ein „tödliches Kultur- und Politikphänomen“, das entstehen konnte, weil in Deutschland eine Machtmatrix über den gesellschaftlichen Prozessen liegt, die gegenüber Veränderungsprozessen resistent erscheint, weil die Hegemonialität der eigenen Machtpositionen verleugnet wird. Insbesondere die undurchsichtigen Verflechtungen zwischen Verfassungsschutz und rechtsextremer Szene lassen eine Idee davon entstehen, wie deutsche Institutionen, hier die Sicherheitsorgane, und rassistisch motivierte Gruppen und Straftäter miteinander liiert sind. Blindheit deutscher Institutionen auf dem rechten Auge kann als eine Konsequenz solcher Verstrickungen als Sekundäreffekt verstanden werden. Aber auch die prompte Bereitschaft und scheinbare Evidenz, die Tathintergründe und auch die Täterschaft bei den Opfern und ihren Familien selbst zu

44 Vgl. Lässig, Simone: Repräsentationen des ‚Gegenwärtigen‘ im deutschen Schulbuch, APuZ 1-3/2012. S. 46–54.

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suchen, lässt erkennen, wie strukturell verankert dieses Denken in unserer Gesellschaft ist. Ha diagnostiziert in diesem Zusammenhang eine „gesellschaftliche Kolonialität in der deutschen Gegenwartsgesellschaft“. Auch die Historikerin Bea Lundt diagnostiziert eine solche „koloniale Mentalität“, die wir in Ausblendung eines selbstkritischen Bewusstseins in die nachkoloniale Zeit übernommen haben. Bei der Darstellung der Genese dieser „kolonialen Mentalität“ setzt sie in der Antike an, indem sie feststellt, dass kulturelle Begegnungen stets ambivalent verarbeitet wurden. Eine Zwangsläufigkeit fremdenfeindlicher Abwehrhaltungen hat es jedoch nicht gegeben. Im Verlauf der kolonialen Expansionen des 18. Jahrhunderts entstanden dann Diskurse um eine kulturelle Höherwertigkeit der Kolonialherren, die sich zu einer Denkweise verfestigten, die auf Kolonisatoren wie Kolonisierte gleichermaßen wirkte und das prägte, was wir heute ‚koloniale Mentalität‘ nennen. Am Beispiel Afrikas führt Lundt diesen Gedankengang aus, indem sie sich mit literarischen Darstellungen des Kolonialismus im viktorianischen Jahrhundert befasst. Bea Lundt weitet im Verlauf ihres Beitrags die Perspektive aus und erfasst auf diese Weise postkoloniale Handlungsmuster vor allem der Wissenschaft, die in unterschiedlichen Lebensbereichen bis heute wirksam sind. Koloniale Mentalität, so wird deutlich, ist rekursiv angelegt: sie ‚nistet‘ sich nicht nur bei denen ein, die sie entwickelt haben, sondern auch bei denen, die sie am eigenen Leib erfahren mussten. Bis heute sind die ehemals kolonisierten Völker bemüht, sich aus dieser hegemonialen Dominanz zu befreien. Bea Lundt plädiert daher für eine ‚Dekolonialisierung des Denkens‘. Die Geschichtsdidaktikerin Bärbel Völkel analysiert die Konsequenzen der Art und Weise, wie Geschichte heute in unserer Gesellschaft kommuniziert wird. Am Beispiel von PEGIDA macht sie deutlich, welch wichtige Ordnungsfunktion der Nationalgeschichte in einer pluralen und heterogenen Gesellschaft zukommt, und welche Sekundäreffekte dadurch erzeugt werden. Vor diesem Hintergrund nimmt sie das aktuelle Insistieren auf kulturelle Vielfalt bzw. kulturelle Differenz kritisch in den Blick. Völkel zeichnet eine mit dieser Differenzierung einhergehende Essentialisierung von Kulturen argumentativ nach, indem sie sowohl ‚die Nation‘ als auch ‚deren Geschichte‘ als Kernelemente einer solchen substanzialisierenden Denkweise ausmacht. In der Folge können Vorstellungen wirksam werden, nach denen soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt, Kulturen sich daher nicht mischen sollten, um gesellschaftliche Bindungsmechanismen nicht zu zerstö-

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ren. Kulturelle Bindung kann, so Völkel, über Geschichte verifiziert werden. Innerhalb des Nationalstaates entsteht auf diese Weise ein hegemonialer historischer Diskurs, der ethnisierend und damit gleichzeitig ausgrenzend wirkt. Ethnozentrismus, Xenophobie und Rassismus können so als ‚Schattenseiten‘ des Nationalstaates und einer nationalstaatlich organisierten Welt sichtbar gemacht werden. Da sich die kulturelle Heterogenität der Gesellschaft nicht ‚abstellen‘ lässt, kann es, so Völkel, nur darum gehen, diese Vielfalt zum Ausgangspunkt eines gelingenden Miteinanders zu machen. In Anlehnung an Michel Foucault schlägt sie vor, die Begrenzungen der jeweiligen historischen/kulturellen/nationalen Apriori durch einen Zugriff auf deren Archive als Möglichkeitsräume zu erweitern, um einen interkulturellen Dialog, der dann mehr erlaubt, als die Gegenwart erscheinen lässt, zu führen. Den Bezugspunkt dieser Kommunikation über Geschichten bildet dabei nicht die Vergangenheit, sondern eine gemeinsame Zukunft. Der Jenaer Philosoph Ram A. Mall wirft einen kritischen Blick auf die hegemonialen Superioritätsansprüche im Rahmen von Kulturbegegnungen. Am Beispiel der Hindu-Identität entwirft er eine feinsinnige Vorstellung interkultureller Kommunikation, die den eigenen kulturellen Hintergrund als regulative Idee nicht gegen eine andere kulturell regulative Idee abgrenzen muss. So geht es Mall nicht darum, im Gespräch einen maximalen Konsens zu erreichen, sondern mit Dissens friedlich umgehen zu lernen. Mall argumentiert ganz im Sinne eines ambiguitätstoleranten Miteinanders. Dieses scheint möglich, wenn der interkulturelle Dialog im Sinne einer „analogischen Hermeneutik“ geführt wird. So kann es möglich werden, „das zu verstehen, was man selbst nicht ist und sein will“. Auch Mall verzichtet nicht auf einen Imperativ: Die einzige Grenze möglicher kultureller Lesarten, die er ziehen möchte, ist die, diejenige nicht zu dulden, die selbst keine andere Lesart neben sich duldet. Dann – so seine historische Erfahrung aus Indien – kann Gewaltlosigkeit die verschiedenen Kulturen miteinander verbinden. Am Beispiel Christoph Schlingensiefs Operndorf in Afrika zeigt der Philosoph Fabian Lehmann deutlich, wie der Dissens nicht nur ausgehalten werden muss, sondern sogar revitalisierend genuin Neues produzieren kann. Ausgehend von der Theorie María do Mar Castros, einer Kritik der praktischen Umsetzung interkultureller Kompetenz in der Pädagogik, diagnostiziert Lehmann mit Castro die Unerreichbarkeit interkultureller Bildung als Kompetenzschulung für Pädagogen aufgrund fundamentaler Strukturen der Institutionen, die bereits in sich ausgrenzende und hegemoniale Machtansprüche umsetzen, und

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somit zu unverhülltem artikulierten Rassismus führen. Vielmehr seien konfliktäre Situationen, so Castro weiter, Potential für qualitative interkulturelle Kompetenzen. Denn die Begegnung mit dem Fremden, dem Anderen, stellen erlernte und etablierte Handlungs- und Denkweisen erst einmal in Frage. Diese Verunsicherung resultiert aber nicht in einem Nicht-Verstehen des Anderen, des Fremden, sondern vielmehr wirkt sie revitalisierend. Unter Verunsicherung versteht Lehmann ein Missverstehen nicht als universal gültige Qualität. Wäre sie dies, so würde aus dem Missverstehen ein Nicht-Verstehen, das auf eine Anpassung der Dialogpartner zielt, die zu einer Auflösung des Widerspruchs führen würde. Nur wann wäre dieser erreicht? Die Verunsicherung ist vielmehr ein Zeichen der gegenseitigen Akzeptanz, das Andere, das Fremde in seiner Eigenständigkeit und die Bruchstellen im eigenen, konventionalisierten Handeln anzuerkennen, und somit das Potential zu bergen, Neues hervorzubringen, das außerhalb erwartbarer Ergebnisse liegt. Repräsentativ ist für Lehmann Christoph Schlingensiefs Operndorf. Kritiker werfen Schlingensief vor, wieder nur europäische Konstrukte, wie ‚Oper’, ins Ausland zu exportieren. Lehmann zeigt deutlich, dass dem so wäre, hätte Schlingensief eine dezidierte Vorstellung seines Projektes verfolgt. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr war das Projekt für seinen Begründer ein offener Prozess, der keine Ausgangsbotschaft enthielt, doch aber eine Verhandlung mit der Bevölkerung Burkina Fasos darstellt. Schlingensiefs Operndorf exemplifiziert für Lehmann die praktische Umsetzung des Dritten Raums nach Homi Bhabha, der als quasi-transzendentales Konzept das Resultat des Aufeinandertreffens zweier Parteien darstellt und damit zum Ausgangspunkt für ein kritisches Hinterfragen der Standpunkte wird. Denn nach Stuart Hall sind Verhandlungen in einem solchen Dritten Raum die Basis für Neugenerierungen zwischen dominanten Sendern und deren deutenden Rezipient_innen. Ein solch kritisches Bewusstsein scheint letztlich aber eine Frage der persönlichen Einstellung zu sein und somit gebunden an eine Form der Subjektivität. Diese Subjektivität wiederum muss nicht ausschließlich beim Individuum bleiben, sondern lässt sich freilich auch auf Nationen übertragen. Enrique Dussels Kritik richtet sich daher an den Hegemonieanspruch Europas: der Gigantomachia. Eindrucksvoll stellt der Philosoph und Theologe Hans Schelkshorn Dussels Werk zu einer ‚Ethik der Befreiung’ dar. Ausgehend von Dussels These, dass Europa eigentlich nur eine Imagination sei, also keine Realität, weil Europa seit Anbeginn lediglich eine Halbinsel Asiens ist, erweist sich für Dussel Amerika als angemessener Ort einer nichteurozentri-

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schen Universalitätsgeschichte. Dussels Ansatz einer ‚Ethik der Befreiung‘ führt zur Interpellation des Anderen. Damit erhält Dussels Ansatz eine politische Konnotation, denn als Interpellation entstammt diese Forderung dem politischen Bereich, in dem den Abgeordneten (Interpellanten) von Seiten des Parlaments das Recht zugesprochen wird, Minister der Regierung aufzufordern, sich zu einer politischen Handlung zu rechtfertigen. Die philosophische Auseinandersetzung (Süd-)Amerikas gegen die asiatische Halbinsel Europa, ist für Dussel der politische Kampfplatz der aufklärerischen Sehnsucht nach einem ‚Gerichtshof‘ (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 780), in dem die Stimme eines jeden vertreten wird. Die europäische Aufklärung, so Dussel, wurde allerdings nicht beendet, denn Europa trat vielmehr die Alleinherrschaft über das Denken an. Schelkshorn führt Dussels Kerngedanken nun in die Transmoderne über, als Vision einer polyzentrischen Weltgesellschaft. Diese konfligiert allerdings mit Dussels Geschichtskonstruktion: Europas globale Dominanz beginnt danach nicht mehr 1492 mit der Entdeckung Amerikas, sondern erst im 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution. Dussel dechiffriert Descartes ego cogito durch ein ego conquiro, das sich nunmehr auf den Komplex des europäischen Imperialismus reduziert. Schelkshorn kritisiert Dussels Inkonsequenz, ausschließlich Europa zu kritisieren, eine Kritik des bspw. chinesischen, russischen oder osmanischen Imperialismus aber zu unterlassen. Diese hätte es nach Schelkshorn allerdings gebraucht, um als ‚Philosophie der Befreiung’ gelten zu können. Schließlich diagnostiziert Schelkshorn der Transmoderne eine Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit allein – so Schelkshorn kritisch weiter – genüge nicht, um eine ethische Konzeption umzusetzen. Vielmehr führen Rivalitäten zwischen regionalen Mächten zu erstzunehmenden Gefahren für den Weltfrieden. Schelkshorn fordert deshalb, dass die Philosophie ihren europäischen Exklusivitätsanspruch aufhebt, um einen kritischen Polylog ‚außereuropäischer‘ und ‚europäischer‘ Philosophien zu ermöglichen. Damit einer provinzialen Vereinsamung kritischer Gedanken vorgebeugt werden kann, fordert Schelkshorn eine diskursethische Dialogdynamik. Doch auch ein solcher Ansatz, so kritisiert der Philosoph Tony Pacyna, neigt zu einer grundlegenden Differenzierung der Dialogpartner. Pacyna entwickelt eine ethische Logik, die als Ethik nicht bereits eine Theorie voraussetzt, aber auch nicht auf eine subjektive Einstellung zurückzuführen ist. Vielmehr geht das Ethische für Pacyna aller Theorie als Metaontologie voraus. Ausgehend von Emmanuel Lévinas, zeichnet Pacyna den bereits ur-

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sprünglich ambigen Charakter des Menschen in dessen ontologischer Verfasstheit nach. Als Mensch, so Pacyna, ist jeder Mensch schlechthin ein Mensch. Erst in seiner individuellen Ausprägung (das Ontische) wird ein jedes Individuum einzigartig. Doch lassen sich diese beiden Seiten – das Ontologische und das Ontische – im konkreten Subjekt nicht voneinander trennen. Vielmehr existieren beide Seiten je gleichzeitig. Damit geht das Ethische einer jeden Kategorisierung voraus, ohne dem Subjektivismus anheim zu fallen. Mit Ludwig Wittgenstein wird die Logik nicht zu einer der Handlung vorausgehendes – und damit von der Handlung verschiedenes – Phänomen, sondern vielmehr ein interner Aspekt der Handlung. Logik fungiert somit als Reflexion der individuellen Wahrnehmung. Ethische Logik ist damit keine eigene Position oder Theorie, aber auch keine individuell-variierende Einstellung. Der Andere, das Fremde bildet daher auch keine vom Subjekt unabhängige ontologische Kategorie, sondern ist vielmehr dessen ursprünglicher Bestandteil. In der Begegnung mit dem Anderen ist ein jeder in seinen Handlungen eingeschränkt. Als anderes-in-mir ist der Andere damit vom Subjekt nicht grundlegend unterschieden, sondern vielmehr dessen ontologischer Bestandteil. Neorassismus lässt sich daher nicht als Schulfach unterrichten, weil es keine Theorie darstellt. Auch Bildungsangebote ‚gegen Rassismus‘ scheinen kaum sinnvoll. Vielmehr muss es darum gehen, die Grundlagen unserer Weltwahrnehmung neu zu überdenken. Neorassismen sollten daher nicht auf eine Diffamierung von Minderheiten reduziert werden, sondern als ein Angriff auf unseren internalisierten Humanismus.

H ISTORISMUS VERSUS P OSTKOLONIALISMUS – S TREITGESPRÄCH IM Z EICHEN EINES G ENERATIONENKONFLIKTS ? EIN

Unsere heutige Welt, die in Form von Nationalstaaten organisiert ist, basiert auf einer geschichtstheoretischen Vorstellung, die untrennbar mit der europäischen Geschichtsphilosophie verbunden ist. In diese Vorstellungswelt hinein gehört der Säkularisierungsprozess, der, so der Philosoph Hans Blumenberg, durch eine Entkoppelung der Lebenszeit von der Weltzeit geprägt war.45 Damit Lebenszeit und Weltzeit wieder einigermaßen kongruent 45 Blumenberg: Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt am Main 1986.

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erscheinen können, musste ein neuer Sinn gefunden werden, der die Endlichkeit der Lebenszeit mit der Unendlichkeit der Weltzeit verträglich verknüpfte.46 Dies war vor allem über die Erinnerung plausibilisierbar, die es erlaubte, Vergangenheit und Gegenwart in einer Weise aufeinander zu beziehen, die Zukunft möglich machte.47 Mit der Institutionalisierung der Wissenschaft und hier insbesondere der Geschichtswissenschaft konnte die als diskontinuierlich erfahrende Lebenszeit so homogenisiert werden, dass die unberechenbare Weltzeit in gewisser Weise diszipliniert werden konnte.48 In diesem Zusammenhang wurde die Idee der Vernunft relevant, der gleichzeitig eine Geschichte zur Seite gestellt werden konnte.49 Die Vernunft rückte zur regulativen Idee der Erfahrung auf50 und Geschichte konnte hierüber aufklären51. Historisches Denken, das auf historischem Wissen aufbaut, avancierte auf diese Weise zum Inbegriff eines vernunftbasierten Handelns. Als Idee und Ideal wurde es vernünftig, Geschichte zu haben52 und Menschen am besten noch innerhalb der eigenen Lebensspanne möglichst vernünftig ‚zu machen‘. Aus der Sorge um eine „Verspätung der Aufklärung“ heraus wurde ihr Prozess beschleunigt53, Aufklärung über die Bedeutsamkeit der Erfahrung im historisch noch offenen Prozess wurde zum zivilisatorischen Anliegen europäischer Gelehrter. Der Historismus als Geschichtstheorie entwickelte sich dann als die historisch offensichtlich ‚einzig‘ bewährte Methode. Seine inhärente Utopie einer vernunftbasierten Welt, in der die Menschen friedlich zusammenleben, einfach deshalb, weil das vernünftig ist, macht diese Geschichtstheorie charmant. Problematisch erscheint jedoch, dass sie in den Niederungen der wirklichen Welt umgesetzt und vorangetrieben werden musste und muss. Seine institutionelle Verankerung erhielt der Historismus im Nationalstaat, der als demokratischer Rechtsstaat vernünftig aus der Geschichte hervorgegangen war und als Staatsform bis heute geeignet erscheint, Pluralität rechtlich so ab-

46 Ebd., S. 87. 47 Ebd., S. 97. 48 Ebd., S. 173 und 179. 49 Ebd., S. 180 ff. 50 Ebd., S. 189. 51 Ebd., S. 199. 52 Ebd., S. 332. 53 Ebd., S. 218ff.

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zusichern, so dass ein friedliches Miteinander in der Vielfalt der Lebensformen möglich wird. An dieser Wirklichkeit, so die Kritik am Historismus, ist dessen Reliabilität gescheitert. Hier setzt die postkoloniale Kritik an. Der Historismus als Geschichtstheorie hat sich, so die Kritik, in der Erfahrungswelt nicht bewährt. Vielmehr hat er, aufgrund seines Zivilisierungsgedankens, der dem theologischen Missionierungsgedanken entspricht und sicherlich von der Idee her ungewollt, viel Leid über die Welt gebracht. Auf der Tagung in Ludwigsburg vertrat der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen die Position des Historismus und der damit verbundenen regulativen Idee der Vernunft, die im historischen Prozess noch als offene Aufgabe zu erkennen ist. Er distanzierte sich scharf von postkolonialen Ansätzen, denen er die Generierung einer sinnhaften Zukunft abspricht. Jörn Rüsen legt großen Wert darauf, nicht mit postkolonialen Theorien verbunden zu werden. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, ein Interview mit ihm zu führen, in dem er noch einmal seine Position und deren Zukunftsfähigkeit innerhalb pluraler Gesellschaften explizieren sollte. Was daraus wurde, war ein Streitgespräch, das sich möglicherweise als ein Generationenkonflikt beschreiben lässt. Die Herausgeber danken der Thyssen-Stiftung, der Dr. Buhmann-Stiftung und der Gesellschaft für Dialog/Baden-Württemberg für die freundliche Unterstützung der Konferenz, die am 19. und 20. Februar an der PH Ludwigsburg stattfinden konnte. Die Dr. Buhmann-Stiftung war darüber hinaus so großzügig, den Druckkostenzuschuss für die vorliegende Publikation zu übernehmen. Dem transcript-Verlag, stellvertretend Annika Linnemann, für eine reibungslose und unbürokratische Drucklegung des Manuskripts.

L ITERATUR http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbar ometer_2016/Januar_I_2016/ http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/debatte-ueber-fluechtlin ge-zdf-politbarometer-afd-gewinnt-merkel-verliert/12430480-2.html, 18.7.2016. ALHEIM, KLAUS / HEGER, BARDO: Nation und Exklusion. Der Stolz der Deutschen und seine Nebenwirkungen. Schwalbach/Ts. 2010.

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Der NSU-Komplex Ein Fallbeispiel für strukturellen und institutionellen Rassismus

K IEN N GHI H A „An verschiedenen Orten in Deutschland, an deren Namen ich mich erinnern will, lebten vor nicht langer Zeit Menschen, die nur deshalb ermordet wurden, weil wir die rassistische Struktur der Gewalt nicht wahrgenommen haben.“

Vor fast genau 400 Jahren wurde zeitgleich mit der Formierung des modernen Rassismus und der kolonialen Weltordnung ein außergewöhnliches Buch der Weltliteratur veröffentlicht. Der Spanier Miguel de Cervantes veröffentlichte kurz vor seinem Tod am 22. April 1616 den letzten Teil des epochalen Romans „Don Quijote von der Mancha“ (2011). Das komplex angelegte Werk mit seinen Ambiguitäten wurde verschiedentlich gelesen und auch als Kritik der spanischen Kolonialpolitik interpretiert. Im Zentrum steht die mehrbödige Auseinandersetzung mit dem Widerspruch zwischen Sein und Schein, Wahnsinn und Realität, Idealisierung und Fiktion. Weltberühmt ist die Episode, in der der tragische Held Don Quijote immer wieder in einem ausweglos erscheinenden Kampf gegen Windmühlen anrennt. Obwohl letztlich ungeklärt bleibt, wie real oder imaginativ diese Szenerie ist, können die Windmühlen metaphorisch wie ideologiekritisch als übermächtige Institutionen gedeutet werden. Die unermüdlich sich drehenden Mühlen erscheinen als ein Ensemble, das sich wie einem gut aufeinander

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abgestimmten Festungssystem gegenseitig beschützt und bestärkt. Sie erscheinen in ihrer Gesamtheit als homogen und undurchdringlich wirkende Machtmatrix. Im Roman wie in der Gegenwart stehen die blendend weißen Windmühlen für eine altehrwürdige, über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft. In ihrer Überkommenheit symbolisieren sie den konservativen Mainstream, der beharrlich die eigene Weiße1 Machtposition verleugnet und Veränderungsprozesse durch randständige Widerstandskräfte marginalisiert, welche sich gegen Unrecht auflehnen. Mein obenstehendes Motto wandelt den Eingangssatz von Cervantes ab und übersetzt ihn in den deutschen NSU-Kontext.

W AHN ( SINN )

UND

R EALITÄT

Der NSU-Komplex stellt ein bizarres wie tödliches Kultur- und Politikphänomen dar, in der politischer Wahnsinn und gesellschaftliche Realität sich auf eine Weise rassistisch überlappen, die im Post-Holocaust-Deutschland von den Eliten wie einem Großteil der Bevölkerung bis hin zur antifaschistischen Szene für nicht mehr möglich gehalten wurde.2 Daher wurde die explosive Mischung sowohl in medialen als auch in wissenschaftlichen Diskussionen sträflich ignoriert, so dass diese institutionellen Seismographen in diesem Fall in ihrer kritischen Wächterfunktion trotz ausreichender Warnungen und Hinweise kläglich versagten. Dazu zählen die gut dokumentierten Gewaltakte organisierter Neonazi-Netzwerke in Ostdeutschland in den 1990er Jahren, in denen die späteren NSU-Mitglieder prominent mitwirkten (vgl. Peters 2013). Im Mai 2006 organisierten die Angehörigen mehrerer NSU-Mordopfer zusammen mit deutsch-türkischen Kulturvereinen eine Protest- und Trauerkundgebung in Kassel mit etwa 2000 Teilnehmenden, die unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ stand und auf diese Weise im Gegensatz zu den deutschen Medien und Sicherheitsorganen eine zusammenhängende, anti-migrantische Mordserie erkannte (vgl. Jentsch

1

In Fällen, in denen Begriffe wie „Weiß“ und „Schwarz“ keine Farbadjektive darstellen, sondern eine politische Kategorie mit rassenkonstruktivistischer Bedeutung ausdrücken, wird in diesem Beitrag die Großschreibung verwendet, um die gesellschaftliche Bedeutungsdimension kenntlich zu machen.

2

Siehe hierzu Hund (2012).

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2012). Dagegen stellte Barbara John, die Opferbeauftragte der Bundesregierung für die Neonazi-Mordserie, fest, dass die Behörden jahrelang einseitig in Richtung organisiertes Verbrechen ermittelt haben, weil sie stereotypisch von einem kriminellen Hintergrund der deutsch-türkischen Opfer ausgingen. Hinweise, die ein rassistisches Tatmotiv nahelegen, wurden daher systematisch ignoriert und unterdrückt (tageszeitung 2012). So wurde ein Profiler abgezogen, der einen rechtsextremistischen Täterkreis vermutete und die Ermittlungen in diese Richtung lenken wollte. Wenn wir das Verhältnis von Wahn(sinn) und Realität mit ihrer überschießenden phantasmagorischen Dimension in Form von stigmatisierenden Stereotypen und rassistischen Grundannahmen als Ausgangspunkt einer kritischen Reflektion des NSU-Komplexes nehmen, dann stellen sich überaus bemerkenswerte Fragen. Wer oder was ist an den NSU-Morden eigentlich tatsächlich wahnsinnig? Die Morde? Die Täter? Oder sogar die Opfer, weil sie den deutschen Institutionen vertrauten? Vielleicht auch ihre Angehörigen, die die Getöteten betrauern, lange Zeit an der Warum-Frage verzweifelten und gegen die rassistischen Unterstellungen und falschen Beschuldigungen der Polizei ankämpfen mussten? Die bekannten und unbekannten Verstrickungen zwischen Verfassungsschutzbehörden und gewalttätigen rechtsextremistischen Organisationen?3 Die institutionellen Vertuschungen der staatlichen (Un)sicherheits- und (Anti)aufklärungsbehörden?4 Die jahrelangen Irrungen und Wirrungen der zahlreichen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, die neue Fakten und noch mehr offene Fragen mit sich brachten?5 Die aufgedeckten Pannen, Inaktivitäten, Inkompetenzen, Widersprüche, Lügen, Aktenmanipulationen und -vernichtungen der Sicherheitsorgane?6 Das kollektive Versagen der sogenannten Qualitätsmedien?7 Die kollektiven Freudschen Entgleisungen wie „Dönermorde“,

3

Vgl. hierzu Aust/Laabs (2014) und Funke (2015).

4

Siehe etwa Frankfurter Allgemeine Zeitung (2012).

5

Vgl. etwa Thomas Mosers Beitrag „Abgeordnete, die aufklären wollen und nicht können“ (S. 161-184) in Förster (2014).

6

Vgl. etwa SPIEGEL-Online (2012). Eine erste Übersicht über die zahlreichen Vorfälle dieser Art biete der Wikipedia-Artikel „NSU-Morde“ https://de.wiki pedia.org/wiki/NSU-Morde#Akten.2C_Datenvernichtung_und_Ermittlungspannen

7

Siehe die Studie von Virchow/Thomas/Grittmann (2015).

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„Sonderkommission Bosporus“ und „SoKo Halbmond“?8 Die unglaublichen Zufälle etwa beim Mord an Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé, wo ein Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes zugegen war, der aufgrund seiner rechtsextremistischen Gesinnung unter dem Spitznamen „Klein Adolf“ bekannt ist?9 Die unwahrscheinlichen Konstellationen und offenkundigen Ungereimheiten des behaupteten Selbstmordes der NSU-Täter?10 Die Theorien rechtsextremistischer Verschwörungstheoretiker“?11 Fünf tote Zeug*innen, die jung unter mysteriösen Umständen überraschend starben und nun nicht mehr befragt werden können?12 Der tiefe

8

Vgl. die Begründung der Jury „Unwort des Jahres“ (2011).

9

Ausführlicher in Thomas Mosers Beitrag „Der Schattenmann“ (S. 119-130) in Förster (2014).

10 Obwohl eine Fluchtmöglichkeit bestand, sollen die Rechtsterroristen laut der offiziellen Darstellung des Tathergangs aufgrund einer „spontanen Deradikalisierung“ Selbstmord begangen haben: „In 20 bis maximal 30 Sekunden soll aus dem Wohnmobil auf die beiden Polizisten geschossen worden sein, soll Mundlos Böhnhardt erschossen haben, einen Brand im Wohnmobil gelegt und Selbstmord begangen haben“ (Gröh 2015). Obwohl noch sieben andere Schusswaffen zur Verfügung standen, soll Mundlos eine Pumpgun benutzt haben, die für ein Suizid völlig ungeeignet ist. Da zwei Patronenhülsen gefunden wurden, müsste Mundlos in diesem Szenario nach der Abgabe des tödlichen Kopfschusses die Waffe noch entladen und nachgeladen haben. Weitere Merkwürdigkeiten in Förster (2015). 11 Vgl. stellvertretend für dieses Genre etwa die Darstellung in Voss (2014). 12 Die Zeug*innen, mehrheitlich mit einem rechtsextremen Hintergrund, hießen Arthur C., Florian H., Melisa M., Thomas R. und Sascha W. (Joswig 2016). Thomas Richter, der unter dem Decknamen „Corelli“ als Topquelle des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) geführte wurde, erhielt in 18 Jahren für seine Dienste rund 300.000 Euro Honorar steuerfrei. Wie der GrünenPolitiker Jerzy Montag, der als Sonderermittler im Auftrag des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags beim BfV eingeschränkte Akteneinsicht erhielt, berichtete, übergab Corelli dem BfV mehrere Jahre vor der öffentlichen Aufdeckung des NSU-Terrors eine umfangreiche Daten-CD, die aber vom BfV nicht ausgewertet wurde. Diese CD wurde dann vom Bundeskriminalamt aufgespürt, da der BfV nicht in der Lage war den Verbleib zu ermitteln. Bevor Thomas Richter zu diesen Vorgängen befragt werden

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Staat in Deutschland?13 Die fortlaufenden Enthüllungen, Entdeckungen und Spekulationen?14 Die unzureichenden politischen und institutionellen Konsequenzen, die bisher gezogen wurden? Die langwierige gerichtliche Aufarbeitung mit ihren schmerzhaften Erinnerungen und Traumata15 auf der einen Seite und den Scheinheiligkeiten und medialen Inszenierungen auf der anderen16? Der wieder gefestigte Glauben, dass der NSU-Komplex kein Systemversagen, sondern letztlich doch nur ein Betriebsunfall im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ist? Zusammengefasst ließe sich fragen: Wo endet der politische Wahn, und wo beginnt der institutionelle Konsens? Rechtsextreme Verstrickungen und institutioneller Rassismus Obwohl gegenwärtig viele Fragen ungeklärt sind und der Gesamtablauf der NSU-Terrormorde in der polizeilichen Darstellung beträchtliche Widersprüche aufweist, steht seit geraumer Zeit fest, dass die NSU-Morde nicht nur durch grobe Fehler, sondern auch durch zahlreiche Verstrickungen verschiedener Sicherheitsbehörden mit rechtsextremen Netzwerken ermöglicht

konnte, starb er innerhalb von drei Tagen nach Wiederentdeckung der DatenCD überraschend mit 39 Jahren – angeblich an einem unerkannten Diabetes (Schultz/Kampf 2015). Vor dem Düsseldorfer NSU-Untersuchungsausschuss gab der zuständige Gutachter, der bisher ein Fremdverschulden ausgeschlossen hatte, überraschend zu, dass der Tod von Richter auch durch Rattengift herbeigeführt werden könnte (Aust/Büchel/Laabs 2016). 13 Die Spur verfolgen unterschiedliche Autoren wie Wetzel (2013), dessen Buch demnächst in dritter aktualisierter und erweiterter Auflage erscheinen wird, und Brumlik (2014), der nach dem Tod eines Zeugen sich tief beunruhigt über den Missbrauch staatlicher Macht zeigte. 14 So wurde zuletzt gemeldet, dass ein V-Mann des Bundesverfassungsschutzes die NSU-Mitglieder legal in Zwickau unter Falschnamen beschäftigte als sie bereits bundesweit als Mörder unterwegs waren (Wetzel 2016). Auch der Brandenburgische Verfassungsschutz steht wieder unter Druck, weil er die Flüchtigen NSU-Mitglieder trotz passender Gelegenheit nicht verhaftet hat und die späteren Morde hätte verhindern können (Fröhlich 2016). 15 Siehe die Opferperspektiven der überlebenden Familienangehörigen in John/Gaserow/Kahya (2014) und Şimşek/Schwarz (2013). 16 Siehe etwa Thorwarth (2015).

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wurden. In dieser Hinsicht besonders negativ hervorgetan, hat sich das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz, der über viele Jahre hinweg beträchtliche Summen neonazistischen Organisationen über V-Leute zukommen ließ. So wurde allein der Rechtsextremist Tino Brandt und sein „Thüringer Heimatschutz“ mit über 200.000 Euro aus dem öffentlichen Haushalt unterstützt (Jüttner 2012). Ihre Mitglieder standen der NSU nahe und leisteten konspirative Unterstützung. Bereits bei der Enttarnung der NSU traten weitere Hinweise für eine verdeckte Amtshilfe zu Tage: So wurden Presseberichten zufolge in dem zuletzt bewohnten Versteck der NSU in Zwickau gefälschte Ausweispapiere aus Geheimdienstquellen gefunden, die den Wohnungsbrand überstanden (Lachmann/Flade 2011). Der parlamentarische Untersuchungsausschuss Thüringens stellte in seinem von allen Parteien mitgetragenen Abschlussbericht fest, dass eine „mittelbare Unterstützung und Begünstigung“ rechtsextremer Strukturen durch den Landesverfassungsschutz stattgefunden hat. Aufgrund der massiven Behinderung der Ermittlungsarbeit und der hintertriebenen Zusammenarbeit mit den Bundesund Landeskriminalämtern wurde auch der Vorwurf der behördlichen Sabotage erhoben: „Die Häufung falscher und nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens und Auffindens der [NSU-]Flüchtigen zu“ (zit. nach MDR 2014). Der Verfassungsschutz in Thüringen wurde nach der deutschen Wiedervereinigung durch Mithilfe der Hessischen Landesbehörde aufgebaut. Daher ist es auch kein wirklicher Zufall, dass das Bruderamt ebenfalls im Zentrum der NSU-Skandals steht. Um ein herausstechendes Beispiel zu nennen: Im Zuge der Überprüfung der Polizeiprotokolle von abgehörten Telefonanten fanden investigative Journalisten und die Anwälte der Familie Yozgat den wichtigen Hinweis, dass Andreas Temme, ein Mitarbeiter der Hessischen Verfassungsschutzes, anscheinend schon im Vorfeld über die bevorstehende Ermordung von Halit Yozgat informiert war.17 Obwohl er

17 Etwa zwei Wochen nach der Verhaftung von Temme wird er vom Geheimschutzbeauftragten des Hessischen Verfassungsschutzes in einem ominösen Telefongespräch für die anstehende Aussage bei der Polizei instruiert. Temme erhält den fragwürdigen Rat: „So nah wie möglich an der Wahrheit bleiben.“ Der Beauftragte kritisiert Temme zudem mit dem denkwürdigen Satz: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbei-

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sich zur Tatzeit in dem kleinen Kasseler Internetcafé aufhielt, will er weder die Erschießung noch den blutbeschmierten Leichnam des Mordopfers im Vorbeigehen registriert haben. Erst zwei Wochen nach dem Mord wurde Temme dann von der Polizei nach Auswertung von Internet-Logindaten ausfindet gemacht und als Tatverdächtiger verhaftet. Augenscheinlich breiteten das Hessische Innenministerium und der Verfassungsschutz ihre schützende Hand über Temme aus und setzten die ermittelnde Polizei unter Druck: Bereits nach wenigen Stunden wurde Temme wieder entlassen. Seine Vorgesetzten beim Verfassungsschutz wunderten sich anscheinend nicht darüber, dass er am Tatort anwesend war, noch machten sie ihm Vorwürfe, dass er Strafvereitlung im Amt begeht, da er sich nicht als Zeuge gemeldet hat. Stattdessen wurde Temme versichert, dass seine Beförderung gesichert sei. Auch Hessens damaliger Innenminister Volker Bouffier setzte sich laut Gesprächsprotokoll dafür ein, dass Temme trotz förmlichen Disziplinarverfahrens keine finanziellen Nachteile davonträgt (vgl. Aust/Hinrichs/Laabs 2015). Natürlich stellt sich hier die Frage, warum Verfassungsschutz und Innenministerium den Tatverdächtigen aus der Bredouille helfen. Sehen sie sich in der Pflicht, weil Temme sich dienstlich am Tatort aufhielt und eine wahrheitsgemäße Aussage noch viel schwerwiegendere Folgen hätte? Bis heute sind eine Reihe von Indizien, die für eine Mitwissenschaft und mögliche Mittäterschaft von Temme sprechen, nicht mit der erforderlichen Hartnäckigkeit bearbeitet worden: 1.) So hat ein Zeuge gesehen, dass Temme sich mit einem schweren eckigen Gegenstand in einer Plastiktüte, dessen Konturen eine Pistole ähnelt, im Internetcafé aufhielt; 2.) Gegenüber einer Kollegin offenbarte Temme Täterwissen, da er die Ceska-Pistole als Tatwaffe in einer bundesweiten Serie bezeichnete, obwohl diese Information vier Tage nach der Ermordung von Yozgat noch gar nicht publik war;

fahren“. Im schriftlichen Polizeiprotokoll ist diese Aussage nicht zu finden, sondern wird erst bei den Nachforschungen der Opferanwälte aufgespürt, als sie Zugang zum Telefonmitschnitt erhalten. Die mit der Transkription befasste Kriminaloberkommissarin und ihre Kollegen hielten diese Aussage für belanglos (Euler 2015).

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3.) Anhand von Telefon- und Kalenderdaten konnte die Polizei 2011 rekonstruieren, dass Temme mit dem rechtsextremen Skinhead Benjamin Gärtner (Deckname „Gemüse“) nicht nur in Kassel, sondern auch in Nürnberg und München kurz vor den dortigen NSU-Morden telefonierte. Gärtner hielt sich in allen drei Fällen in der Nähe des Tatorts auf und wird vom Generalbundesanwalt zum Umfeld der NSU gerechnet; 4.) Die polizeiliche Telefonüberwachung Temmes zeigte, dass leitende Mitarbeiter*innen des Hessischen Verfassungsschutzes konspirative Treffen mit Temme arrangierten und ihre Telefongespräche auffällig mit Andeutungen chiffrierten (vgl. Aust/Hinrichs/Laabs 2015). Obwohl die Dimension der institutionellen Verstrickungen im NSU-Skandal spektakulär und in dieser Form auch einzigartig ist, hat die dahinterliegende Grundproblematik eine viel tieferreichende Geschichte (vgl. Ha 2011). Wie ein Großteil der bundesrepublikanischen Institutionen wurden auch die deutschen Geheimdienste durch weitgehende personelle und weltanschauliche Kontinuitäten zu Nazi-Deutschland geprägt. Der NS-Staat ging zwar unter, aber die deutsche Gesellschaft mit ihren antisemitischen und rassistischen Tradierungen lebte fort. Daher war es auch nicht wirklich überraschend, dass in den 1960er Jahren noch etwa ein Drittel der Volksvertreter*innen im Parlament ehemalige NSDAP-Mitglieder waren (Schultz 2015). Wie der Bundesnachrichtendienst, der nach den damaligen Angaben der US-amerikanischen Central Intelligence Agency (CIA 1954) in seiner Gründungsphase zu etwa einem Drittel aus NS-belasteten Mitarbeitern bestand, wurde auch das Bundesamt für Verfassungsschutz insbesondere durch Ehemalige der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und der Schutzstaffel (SS) aufgebaut (vgl. Goschler/Wala 2015).18 In einigen Behörden wie

18 Die Forschungsarbeit der Historiker Goschler und Wala wurden von Bundesamt für Verfassungsschutz aufgrund des zunehmenden öffentlichen Drucks 2009 in Auftrag gegeben und konnte aufgrund der politischen Brisanz der Thematik erst nach komplizierten Absprachen im November 2011 begonnen werden. Da Akten- und Archivbestände „stark reduziert“ sind und keine Interviews mit Zeitzeugen durchgeführt wurden, sind die Ergebnisse auch nach Auffassung der Auftraggeber mit „großer Vorsicht“ zu behandeln (Bundesamt für Verfassungsschutz 2013). Aufgrund der methodischen Einschränkungen sind die Angaben als dynamische Mindestgrößen aufzufassen: Waren bei der Gründung

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dem Bundeskriminalamt (BKA) bestand die Leitungsebene Ende der 1950er Jahre zu etwa 70% aus Alt-Nazis (Schultz 2015).19 Erschwerend kam hinzu, dass die NS-Belasteten sich bis in die 1970er Jahren gerade in den Leitungsfunktionen der deutschen Sicherheitsapparate etablieren konnten und dadurch auch großen Einfluss auf die Auswahl und den Karriereweg von Nachwuchskräften hatten. So führte Hubert Schrübbers von 1955 bis 1972 als Präsident das Bundesamt für Verfassungsschutz und trat erst zurück, als seine frühere Funktion als NS-Richter in der sich wandelnden gesellschaftlichen Wertorientierung nicht länger politisch unwidersprochen blieb. Ironischerweise wurde Günther Nollau sein Nachfolger, obwohl seine Mitgliedschaft in der NSDAP zu dem Zeitpunkt bereits öffentlich diskutiert wurde (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2013). Diese Episode verdeutlicht die komplexe Mischung aus Tradierung und langsamen Transformationsprozessen, die die ambivalente institutionelle Struktur und Arbeitsweise der deutschen Sicherheitsorgane bis in die Gegenwart hinein prägen. Wenn der öffentliche Eindruck nicht täuscht, ist die politische Kultur in diesen Behörden im Normalfall überwiegend nationalkonservativ und weist an vielen Schnittstellen bedenkliche Überschneidungen in die rechtspopulistische Parteienlandschaft sowie die rechtsextreme Szene der Kameradschaften mit ihren autonomen Netzwerken auf. Von daher ist die über mehrere Jahrzehnte gemachte Beobachtung auch nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass die Staatsschutzämter häufig auf dem rechten Augen blind seien und die politische Bedrohung für die sogenannte freiheitlich-demokratische Grundordnung in der Regel einseitig im linken politischen Spektrum verorten (vgl. Gössner 2012).20 Wie problematisch die unzureichende Abgrenzung nach rechts ist, zeigte sich abermals bei der juristischen Aufarbeitung des Verbotsantrags der Bundes gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) vor dem

des Amtes 13% NS-belastet, stieg ihr Anteil 1954 aufgrund der praktizierten Willkommenskultur auf annähernd 30% (Schultz 2015). 19 Wie der Bundesnachrichtendienst hat auch das Bundeskriminalamt mit großer zeitlicher Verspätung mit der Aufarbeitung der eigenen Organisationsgeschichte begonnen. So wurde das Projekt „BKA-Historie“ 2007 ins Leben gerufen (Bundeskriminalamt 2011). 20 Vgl. hierzu etwa die kontinuierliche Dokumentation der Zeitschrift „Der Rechte Rand“, insbesondere die NSU-Schwerpunktausgaben Nr. 134, 135, 137 und 139.

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Bundesverfassungsgericht (2001-2003). Ein entscheidender Grund für die Abweisung der Verbotsklage war, dass die angeworbenen oder dort eingesetzten V-Leute häufig als Doppelagenten agieren, so dass es im Endeffekt zu einer personellen und organisatorischen Verquickung kommt (vgl. Dietzsch/Schobert 2002). Obwohl mittlerweile alle Alt-Nazis schon aus biologischen Gründen nicht mehr in diesen Ämtern vertreten sind, haben sie eine politische Kultur hinterlassen, die sich für rassistische Wahrnehmungen und rechtsextreme Denkweisen empfänglich zeigt. Bis in die jüngste Vergangenheit machten Spitzenfunktionäre, wie der frühere Präsident des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz Helmut Roewe, aufgrund ihrer Kooperationen mit rechtspopulistischen Publikationen und rechtsextremen Think-Tanks Schlagzeilen (Renner/Wellsow 2012). Außerdem ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, da viele Kontakte heimlich ablaufen und nicht durch investigative Journalist*innen mit ihren beschränkten Ressourcen aufgedeckt werden. Wie in der Gesellschaft hat sich auch in den Überwachungsorganen ein rassistischer Normalzustand breitgemacht, in der die rechte Gesinnung zwar in problematischen Entscheidungen, aber nicht in politisch heiklen Verbindungen zum Ausdruck kommt. Der gesetzliche Auftrag die freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu schützen, ist unter diesen Umständen nur ein frommer wie naiver Wunsch. Wie illusorisch diese vertrackte Aufgabe ist, wird spätestens dann klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung vor allem ein Ideal ist, das in der Realität nur in eingeschränkter Form existiert. Da gesellschaftliche Machtverhältnisse nach wie vor alle Lebensbereiche durchdringen, profitieren vor allem jene Gruppen, die die Macht haben die soziokulturelle Normalität zu definieren und das Privileg genießen, sie zu repräsentieren.

L ÜCKENHAFTE AUFKLÄRUNG UND GESELLSCHAFTLICHE K OLONIALITÄT Wie die Ermittlungsstrategien im Fall der NSU-Morde eindrücklich aufzeigen, zielt die institutionelle Arbeitsweise der deutschen Sicherheitsorgane darauf ab, rassistische Kontexte systematisch auszublenden und die überwiegend deutsch-türkischen Mordopfer sowie ihre Angehörigen durch

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unterstellte Verbindungen zur organisierten Kriminalität oder zum politischen Extremismus zu diskriminieren. Durch diese haltlosen Annahmen erscheinen die Opfer als Täter und erhalten durch staatliche Repräsentant*innen eine entsprechend stigmatisierende Behandlung, die als Entwürdigung und als zusätzliche emotionale Verletzung erfahren wird. In dieser Normalitätskonstruktion wird die rechtsextreme Bedrohung durch rassistische und antimuslimische Gewalt gegen People of Color (Ha 2007) ignoriert und letztlich für irrelevant erklärt. Ein signifikantes Beispiel für die systematische Entthematisierung von Rassismus lieferte der frühere linksradikale Promi-Anwalt und damalige Bundesinnenminister Otto Schily, der die Rücknahme der EU-weiten Antidiskriminierungsgesetzgebung21 als „echte[n] Beitrag zum Bürokratieabbau“ forderte (Berliner Morgenpost 2005). Bereits einen Tag nach dem Nagelbombenanschlag auf die von deutsch-türkischen Geschäften geprägte Keupstraße in Köln-Mülheim am 09. Juni 2004 mit 22 zum Teil schwerverletzten Opfern schloss Schily in einer Presseerklärung demonstrativ ein rassistisches Tatmotiv aus: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu“ (zit. nach Tabeling 2016). Obwohl weder die Spurensicherung noch die kriminaltechnischen Untersuchungen zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen waren und diese Festlegungen sachlich nicht begründbar sind, wurde das politisch motivierte Manöver vom sozialdemokratischen Parteifreund und NRW-Innenminister Fritz Behrens willfährig unterstützt.22

21 Nachdem das Antidiskriminierungsgesetz (ADG) nach langjähriger Beratung nach den vorgezogenen Bundestagswahlen 2005 nicht mehr weiterverfolgt wurde, wurden die verbindlichen EU-Richtlinien erst mit dreijähriger Verspätung, in einer stark abgeschwächten Form und nach Verhängung einer Vertragsverletzungsstrafe 2006 als Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verabschiedet. Da das AGG die EU-Richtlinien für einen effektiven Diskriminierungsschutz nicht ausreichend umsetzt wurde 2008 erneut ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, das trotz weiterhin bestehender Schutzlücken im AGG 2010 eingestellt wurde (vgl. Lembke 2016). 22 Im Unterschied zu den deutschen Qualitätsmedien veröffentlichte die deutsche Ausgabe der „World Socialist Web Site“ in der damaligen Berichterstattung einen hellsichtigen Beitrag. Die Autoren erinnern in ihrem gut recherchierten

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Die ideologisch-politische Fixierung im Ermittlungsansatz staatlicher Institutionen und die politischen Vorgaben hoher Regierungsvertreter sind umso bemerkenswerter, da sie auf fundamentale Weise das offensiv vertretene Selbstverständnis, als freiheitlichen Rechtsstaat und als aufgeklärtrationale Gesellschaft nachhaltig konterkarieren. Acht Jahren später berichtet „Westpol“, das Politmagazin des Westdeutschen Rundfunks, nach Sichtung vertraulicher Ermittlungsunterlagen, dass Polizeiprofiler 2004 nach der Untersuchung des Kölner Tatorts auf ein „ausländerfeindliches Motiv“ hinwiesen. Jedoch habe das Innenministerium die Ermittler angewiesen, diesen Ansatz nicht weiterzuverfolgen und die Tat nicht als „terroristischen Anschlag“ zu werten (Westdeutsche Zeitung 2012). Im Mai 2006 kam der Münchener Profiler Alexander Horn in seiner Fallanalyse ebenfalls zu dem

Beitrag an die Geschichte rassistischer Angriffe im Bezirk, aber auch an die behördliche Vertuschung des neonazistischen Kontexts beim Anschlag auf das Münchener Oktoberfest 1980 durch eine ähnlich gebaute Bombe. Da die Nagelbombe wahllos möglichst viele migrantische Opfer treffen sollte, werden rassistische Motive in Erwägung gezogen. Die befragten Anwohner*innen halten dieses Szenario für wahrscheinlich, während sie die medial kolportierten Thesen über angebliche „Bandenkriege“, „Schutzerpressungen“ und türkischkurdische Abrechnungen verwerfen. Zudem werden auch die möglichen politischen Motive der Regierungsvertreter diskutiert: „Seit Wochen betreiben die Medien mit aktiver Unterstützung Schilys und anderer Regierungspolitiker eine intensive Kampagne gegen vermeintliche islamische ‚Hassprediger‘. Der Islamist Metin Kaplan, der im Zentrum dieser Kampagne steht, lebt in KölnChorweiler nur wenige Kilometer von dem Terroranschlag entfernt. Die Kampagne stempelt muslimische Einwanderer und Flüchtlinge zum Sündenbock, um damit eine massive Verschärfung der Ausländergesetze zu rechtfertigen. Das Zuwanderungsgesetz, das ursprünglich die Zuwanderung fördern und erleichtern sollte, ist mittlerweile zu einem Abschiebegesetz mutiert und dient als Einfallstor für den Abbau elementarer Grundrechte, wie des Schutzes gegen behördliche Willkür. Entpuppte sich der Anschlag in Köln als Werk von Rechtsextremen, untergrübe dies die offizielle Kampagne. Es würde deutlich, dass eine terroristische Gefahr von ganz anderer Seite droht, als die Behörden weismachen wollen. Die unter Generalverdacht gestellte muslimische Bevölkerung stünde plötzlich als Opfer dar. Daher hat die Regierung wenig Interesse, dass in dieser Richtung ermittelt wird.“ (Kunstmann/Henning 2004)

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Ergebnis, dass die bundesweite Mordserie und der Bombenanschlag in der Keupstraße miteinander in Verbindungen stehen und vermutlich von rechtsextremistischen Serientätern begangen wurden (Wolf 2012a). Auch dieser Anstoß verlief im Sande, da er zunächst nur halbherzig weiterverfolgt und später gänzlich zurückgestellt wurde. (Wolf 2012b) Während Fritz Behrens im Nachhinein keine Fehler seinerseits erkennen konnte, übernahm Otto Schily die politische Verantwortung für den Vorgang. Da keine juristischen Konsequenzen oder persönlichen Nachteile drohten, blieb es beim rein symbolischen Akt. Wie rhetorisch die Verantwortungsübernahme tatsächlich gemeint war, zeigte sich bei seinem Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags: Dort bestritt Schily vehement im NSU-Fall persönliche Fehler gemacht zu haben (SPIEGEL-Online 2013) und redete sich mit Erinnerungslücken heraus, so dass der Erkenntnisgewinn im Prozess der Wahrheitsfindung gering blieb. (Tretbar 2013) Wie weitreichend und flächendeckend das institutionelle Versagen im NSU-Komplex ist, lässt sich auch an diesem Sachverhalt ablesen: Seit der Aufdeckung des NSU-Terrors setzten neben den Bundestag auch die Landesparlamente in Thüringen, Sachsen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen und Brandenburg bisher insgesamt elf Untersuchungsausschüsse ein. Andere Länder wie etwa Berlin, wo der Verfassungsschutz ebenfalls große Aktenbestände nach Bekanntwerden der NSUMorde vernichtete, die mit diesem Fall in Verbindung stehen, und V-Leute führte, die mutmaßlich mit der NSU verbunden waren, begnügten sich mit Sündenböcken wie dem Rücktritt der Amtsleiterin. Auf eine weitergehende Klärung wurde dagegen verzichtet (Reinhardt 2012). Brandenburg konnte sich dagegen erst nach fünf Jahren dazu entscheiden einen Untersuchungsausschuss über das Wirken seines Verfassungsschutzes einzusetzen (Peters 2016). Da wichtige Fragen und Widersprüche dieser weitverzweigten Problematik ungeklärt blieben, wurde auf Bundesebene, aber auch in Thüringen und Sachsen ein zweiter Ausschuss eingesetzt, die bis Ende 2019 terminiert sind. In Sachsen wurden nicht nur die Einbindung eines NPDAbgeordneten, sondern auch die dürftige Arbeit und das ausgeprägte Desinteresse des ersten Ausschusses kritisiert (Speit 2014), so dass ein zweiter Anlauf notwendig wurde. Obwohl fünf der zehn NSU-Morde in Nürnberg und München stattfanden und die jahrelange Arbeit der großen Bayerischen Sonderkommissionen und Staatsanwaltschaften sich als nutzlos und schädlich herausstellte, schloss der Bayerische Untersuchungsausschuss seine

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routinierte Arbeit nach dem Pflichtprogramm bereits nach einem Jahr ab. Kritische Beobachter*innen bemängelten, dass der Untersuchungsausschuss die Ermittlungsbehörden vom latenten Rassismus freisprach und kein wirkliches Aufklärungsinteresse zeigte (Mair 2014). In allen Ausschüssen zeigte sich das Grundproblem, dass die Sicherheitsbehörden prioritär eigene Interessen verfolgen und ihnen dafür zahlreiche Handlungsmöglichkeiten offenstehen: Sie können bei heiklen Fragen blockieren, sich permanent auf unerklärliche Erinnerungslücken berufen, die Zusammenarbeit so weit wie möglich verschleppen, V-Leute decken und verschweigen, nichtige Zeugenaussagen abgeben, vermeintlich wichtigere Sicherheitsinteressen vorschieben und mit einem angeblich höherstehenden Geheimhaltungsgebot herausreden. In vielen Fällen wurde den Abgeordneten die Akteneinsicht verweigert oder nur verzögert und eingeschränkt gewährt. Da große Aktenbestände rechtswidrig vernichtet, manipuliert und als verschollen gemeldet wurden, ist zu befürchten, dass niemals die „ganze Wahrheit“ festgestellt werden kann. Auch ist bereits absehbar, dass sich im Wust der Mythen, Halbwahrheiten, Desinformationen und verkürzten Darstellungen die NSU-Geschichte weder vollständig und widerspruchsfrei rekonstruiert noch einheitlich erzählt werden kann. Wenn offizielle, kriminalisierte, aber legitime23 und manipulative Narrationen in Konkurrenz zueinanderstehen, besteht immer die Gefahr, dass sich machtbesetzte, aber nicht legitimierbare Perspektiven durchsetzen. Auch die Aufklärungsarbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse ist in anderer Hinsicht problematisch, etwa im Hinblick auf verweigerte Anerkennungspraktiken für die Opfer und ihre Angehörigen. Obwohl anfänglich in den Massenmedien und auch im politischen Mainstreamdiskurs Stimmen und Positionen zugelassen wurden, die das systematische Versagen der Sicherheitsbehörden als Beleg für strukturellen und institutionellen Ras-

23 Das vom Berliner „Bündnis gegen Rassismus“ am 03. Juni 2014 aufgehängte Wandbild „NSU: Staat & Nazis Hand in Hand“ wurde auf Betreiben des Staatsschutzes

des

Berliner

Landeskriminalamtes

wegen

vermeintlicher

Verunglimpfung des Staates entfernt und dabei zerstört. Zwar wurde diese Polizeiaktion später wie bei einem vorangegangenen Fall für rechtswidrig erklärt, dürfte aber trotzdem zu einer Atmosphäre der Einschüchterung beigetragen habe (MiGAZIN 2014).

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sismus werten,24 wurde diese Dimension in der Folgezeit immer stärker vernachlässigt. Je stärker das Entsetzen über die jahrzehntlang verleugnete Terrorwelle nachließ und die gewohnte Normalität des Verleugnens wiedereinkehrte, desto schwächer wurde die Einsicht die institutionellen Rahmenbedingungen für das Gedeihen der NSU in Frage zu stellen. In dem gemeinsamen 1357seitigen Abschlussbericht des ersten Bundestagsausschusses, der am 22. August 2013 präsentiert wurde, wurde eine Vielzahl von Fehlern und Versäumnissen aufgezählt und mehr interkulturelle Kompetenz sowie Sensibilität für Rassismus in den Behörden angemahnt. Im Sondervotum der SPD zum Untersuchungsbericht werden statt rassistische Institutionen nur noch „strukturelle und rassistische Vorurteile“ beschrieben (Carstens 2013), während die Grünen sich nicht mit dieser Thematik befassen. Nur im Sondervotum der kleinsten Bundestagsfraktion wird mit erster Priorität gefordert, „institutionellen Rassismus [...] als ein strukturelles Merkmal der Polizeiarbeit“ (Fraktion DIE LINKE 2013: 1) aufzuarbeiten. Vor diesem Hintergrund kritisieren Anwälte der Opferfamilien einhellig diese Problemrelativierung und -verschiebung, da institutioneller Rassismus das „entscheidende Problem“ sei und daher im Fokus stehen sollte (Carstens 2013). In den Folgejahren hat sich diese Abkehr weiter verstetigt, so dass Rassismus und Islamophobie im öffentlichen Diskurs, wie gewohnt, fast nur noch als Randgruppenphänomene diskutiert werden. Auf diese Weise wird das alte Paradigma verfestigt, dass Rassismus höchstens von Skins und Pegida, aber nicht von der gesellschaftlichen Mitte und ihren demokratisch legitimierten Institutionen ausgehen könne. Allerdings bestätigt auch die neuste Ausgabe, der an der Universität Magdeburg durchgeführten Mitte-Studien, abermals den Befund, dass Rassismus ein virulentes Problem der gesellschaftlichen Mitte ist (Decker/Kiess/Brähler 2016) und rechtspopulistische Sammelbewegungen wie die „Alternative für

24 Im Zuge dieser Aufbruchsstimmung startete Ende Februar 2012 die Petition „Entnazifizierung, jetzt“, die in Anlehnung an britische Vorbilder ein unabhängiges Gremium zur Untersuchung des institutionellen Rassismus in Deutschland forderte. Diese Initiative wurde von Prominenten aus Politik, Kultur und der Zivilgesellschaft unterstützt (Bax 2012).

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Deutschland“ (AfD) weitgehend ein bürgerliches Phänomen der Besserverdienenden und akademisch Gebildeten ist.25 Vor diesem Hintergrund ist es notwendiger denn je, die bisher ausgebliebene Auseinandersetzung mit strukturellen und institutionellen Rassismus als Ausdruck einer gesellschaftlichen Kolonialität in der deutschen Gegenwartsgesellschaft aufzuarbeiten (Ha 2016). Gerade die Weigerung institutionalisierte Diskriminierungen wahrzunehmen, ist nicht nur als privilegiertes Weiß-sein, sondern auch als Ausdruck einer kolonialen Logik zu verstehen, die das politische Selbstverständnis liberal-demokratischer Institutionen und ihre Arbeitsweise prägt. Solange in Deutschland das Thema „struktureller und institutioneller Rassismus“ ein weithin unbekanntes Terrain im gesellschaftlichen Mainstream bleibt, kann sich der „NSU-Komplex 2.0“ als Tragödie und als Farce wiederholen. Wir werden solange weiterhin mit dem gesellschaftlichen Trugschluss leben, dass die freiheitlichdemokratische Grundordnung für alle offensteht und institutionelle Machtformationen auch ohne interkulturelle Öffnung und gleichgestellte Teilhabe von Menschen of Color demokratisch sind. In diesem Kontext ist es hilfreich sich auf andere kollektive Lernprozesse zu beziehen: Die deutsche Nachkriegsgesellschaft tat sich, angesichts der eigenen „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich 1967), sehr schwer den Holocaust aufzuarbeiten und pflegte mindestens bis Ende der 1960er Jahre eine offizielle politische Kultur, die sekundären Antisemitismus produzierte. Es bedurfte eine Kulturrevolution durch die 68er-Generation um den antisemitischen Mief in den Institutionen, in der Sozialisation und in den Köpfen zu entlarven, und es vergingen weitere Jahre um ihn weitgehend aus den Amtsstuben zu vertreiben. Im Gegensatz dazu wurde Deutschlands politische Kultur bis heute nicht dekolonialisiert (vgl. Bahl/Bergh/Della/ Pfeiffer/Rühlemann 2015). Die Unfähigkeit institutionellen Rassismus in

25 Zu den Gründer*innen und Führungspersonal der AfD zählen eine Reihe von Professor*innen,

hochgestellte

Beamte,

Jurist*innen,

Unternehmer*innen,

Journalist*innen und Lehrer*innen. Diese Struktur spiegelt sich laut einer Analyse der FORSA-Instituts auch in ihrer Wählerschaft: „Anhänger der AfD stammen eher aus der Ober- und Mittelschicht mit relativ hohem Einkommen und entsprechend hoher Schulbildung, während Sympathisanten der rechtsextremen Parteien dagegen überwiegend aus den unteren sozialen Schichten mit geringem Einkommen und geringer Schulbildung kommen“ (Mathes 2014).

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den gesellschaftlichen Strukturen wahrzunehmen und anzuerkennen, verfestigt jene gesellschaftliche Kolonialität, die alles abzuwehren versucht, dass die privilegierte Stellung von Weiß-sein mit seinen Normalitätsvorstellungen in Frage stellt. Um diese historisch gewachsenen Machtstrukturen und Hierarchien aufzubrechen, bedarf es im Grunde einer globalen Kulturrevolution, die die Fundamente der westlich geprägten Moderne dekolonialisiert.

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Die koloniale Mentalität in nachkolonialer Zeit Zu Genese, Erscheinungsformen und Wandel einer Bewusstseinsform

B EA L UNDT

C HANCEN UND H INDERNISSE BEIM AUFBAU EINER NEUEN P ARTNERSCHAFT D IE F RAGESTELLUNG

MIT

A FRIKA.

Afrika sei nicht länger ein Krisen-, sondern ein Chancenkontinent, so argumentiert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) in seiner „neue(n) Afrika-Politik“, die im April 2014 bekannt gegeben wurde.1 Die Mittel für Jugendprogramme und Schul- wie AusbildungsPartnerschaften in Kooperation mit dem Nachbarkontinent werden erheblich aufgestockt. Ende September 2015 wurde zudem auf dem UN-Gipfel in New York die Agenda 2030 verabschiedet, ein „Weltzukunftsvertrag“. 2 Die Mitgliedsländer verpflichten sich darin auf gemeinsame Ziele der Nachhaltigkeit und Friedenssicherung. Auch jene Regionen, die sich bisher als „entwickelt“, „zivilisiert“ und „überlegen“ verstanden haben, erkennen damit an, dass sie Mangelzustände beseitigen müssen. Der polare Gegensatz zwischen den Ländern der Nord- und denen der Südhalbkugel der Erde 1

https://www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/2014/maerz/140321_pm_025 _Die-neue-Afrika-Politik-des-BMZ/25_Die_neue_Afrikapolitik_des_BMZ.pdf (aufgerufen 27.3.2016).

2

http://www.bmz.de/de/ministerium/ziele/ziele/2030_agenda/index.html

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wird damit aufgehoben: denn alle sind sie auf unterschiedliche Weise „defizitär“. Dem Rassismus, der auf dem Mythos einer europäischen Superiorität über andere beruht, wird damit der Boden entzogen und eine „neue globale Partnerschaft“ begründet. Zu Recht wird dieses Konzept als „revolutionär“ gefeiert. Die Umsetzung solch weitreichender Absichtserklärungen wird ehrgeizig verfolgt. Bei vorbereitenden Tagungen zu der Etablierung der Deutsch-Afrikanischen Jugendinitiative (DAJ), die 2016 startet, standen ganz die Forderung nach einem neuen Afrikabild und nach einer Partnerschaft auf Augenhöhe im Mittelpunkt. Doch blieb die so ernsthaftig, ja leidenschaftlich begonnene Bundespolitik nicht unkritisiert. Die FriedrichEbert-Stiftung bezeichnete in einem Bericht die optimistische Einschätzung der Situation in Afrika durch das BMZ gar als „surreal“.3 Evaluationen bestätigen zudem seit Jahrzehnten, dass Volunteers, die Projekte in Afrika realisieren, keineswegs automatisch mit gestärkten interkulturellen Kompetenzen zurück nach Deutschland kommen. Latente Vorurteile brechen vielmehr durch die relativ kurzfristigen Aufenthalte erst voll aus. Im Medienzeitalter finden sie nun mehr und mehr in Wort und Bild ihren Ausdruck in blogs, die weltweit kursieren. Diese werden von Kritikern*innen als „kolonial gedacht“, ja, „rassistisch“ bezeichnet.4 Seit 2010 habe ich ca. 100 Lehramtsstudierende und 20 Hochschullehrende auf Aktivitäten in Westafrika vorbereitet, sie dorthin begleitet und vor Ort sowie nach ihrer Rückkehr betreut.5 Es lässt sich nicht bestreiten: Viele junge Weiße, die ehemalige Kolonien besuchen, denken, fühlen und schreiben über diese Länder bis heute in einer „kolonialen Mentalität“.6

3

http://politik-im-spiegel.de/die-neue-afrika-politik/ (aufgerufen am 27.3.2016).

4

Glokal e.V. (Hrsg.): Mit kolonialen Grüßen. Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet. Berlin 2013. Vgl. dazu: Bea Lundt: „Ihr Weißen seid immer noch Rassisten!“ Erfahrungen mit deutschen und afrikanischen Studierenden in Ghana (Westafrika). In: Christina Isabel Brüning/Lars Deile/Martin Lücke (Hg.): Rassismen, Geschichte und historisches Lernen, Schwalbach/Ts., S. 95-116 (erscheint 2016).

5

Vgl. die beiden blogs: WestafricaActivities.wordpress.com sowie Schulenwuru pong.blogspot.com.

6

Vgl. dazu auch: Bea Lundt: Die alten bösen Lieder und die neuen Emotionen. Transkulturelles historisches Lernen in Ghana/Westafrika. In: Juliane Brauer/

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IN NACHKOLONIALER

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Dieser Befund warnt vor einer allzu naiven Hoffnung, durch ein primär quantitatives Vorgehen rasch die erwünschten Ziele der breitenwirksamen Förderung kultureller Sensibilität gegenüber dem afrikanischen Kontinent zu erreichen. Doch fällt die Arbeit zum Abbau einer solchen kolonialen Orientierung der jungen Deutschen schwer. Denn mit dem Begriff „kolonial“ verbinden sie eine politische Herrschaftsstruktur, die sie selber nicht erlebt und über die sie nur wenig gelernt haben. Sie haben daher keine konkreten Vorstellungen, wie sich die Zeit der Kolonialherrschaft Europas über weite Teile Afrikas gestaltete und welche Folgen sie hatte. Dieser Leerraum wird mit dumpfen Assoziationen von Horrorszenarien wie Sklavenhandel und skrupelloser Ausbeutung gefüllt. Solche Bilder kollidieren aufs empfindlichste mit dem verbreiteten Selbstbild des Modernen Menschen, der die Menschenrechte weltweit für realisiert hält, die wenigen Ausnahmen in weiter Ferne und wirkungsvoll bekämpft glaubt. Beziehungen zwischen dem Globalen Süden und Norden aufzubauen und zu regeln, scheint zudem in den Aufgabenbereich des Staates oder jedenfalls offizieller Instanzen zu gehören. Private Aktivitäten werden meist als humanitäre Akte betrachtet, die sich entfalten, ohne politische Folgen nach sich zu ziehen.7 In der Tat: Mit der Etablierung der Internationalen Organisationen nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurden von der UNO Konventionen verabschiedet, die die Eroberung und Unterwerfung fremder Regionen und ihrer Bevölkerungen als fundamentale Verletzung der Menschenrechte brandmarkt. In vielen Schulbüchern und Darstellungen wird die historische Schuld mit solchen formalen Erklärungen als endgültig erledigt betrachtet. Der Vorwurf der Kontinuität einer „kolonialen Orientierung“ im Alltag, erhoben insbesondere gegenüber jenen Individuen, die sich durch eigene Initiativen besonders um Afrika bemühen, wiegt also schwer, wird oft pauschal zurückgewiesen, und die Debatte ist emotional überfrachtet. Historiker*innen haben sich bisher in diesem Kontext wenig zu Wort gemeldet. Auch an der Entwicklung des für neue Inhalte und Orientierun-

Martin Lücke: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 287-312. 7

(Selbst-)Kritische Betrachtungen der Entwicklungshilfeprogramme und anderer Initiativen zum Ausbau der Beziehungen zwischen Europa und Afrika begleiten die gesamte Nachkriegszeit, sind aber in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen worden.

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gen im Bildungsbereich während der Weltdekade 2005-2014 zentralen Konzeptes „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) waren sie erst seit der 2. Auflage beteiligt.8 In Geschichtsunterricht und Öffentlichkeit war man gänzlich beschäftigt mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland. Fragen nach der globalen Entwicklung nach Abschluss der imperialen Phase der Weltmächte überließ man den Nachbarfächern Geographie, Politik und Religion. Der Begriff „koloniale Mentalität“ fordert aber explizit Deutungs- und Erklärungsmuster ein, die sich mit einem historischen Phänomen beschäftigen. Insbesondere das verbreitete Afrikabild, das auch das BMZ als überholungsbedürftig thematisiert, bedarf im schulischen Bereich einer gründlichen Entrümpelung, um die Beziehung zwischen den Kontinenten glaubhaft neu definieren zu können. Um die bisherigen Abwehrblockaden zu lockern, möchte ich daher einen Überblick über die Entstehungsgeschichte und die vielfältigen Erscheinungsformen kolonialer Orientierung geben und dabei insbesondere auf die Wahrnehmung der Afrikanischen Partner*innen eingehen. Am Schluss stehen Überlegungen, welche flankierenden Maßnahmen die Umsetzung der Agenda 2030 unterstützen könnten.

Z UM B EGRIFF „ KOLONIALE M ENTALITÄT “ Was ist gemeint mit dem Begriff „koloniale Mentalität“? Zunächst einmal überrascht, dass das Wort in den Überblicksdarstellungen zur Mentalitätengeschichte und in ihren Glossaren nicht mit einem Stichwortartikel vertreten ist. Bisher gibt es zudem keine Monographie, die sich mit der „kolonialen Mentalität“ beschäftigt. Dennoch wird in der Fachliteratur ständig davon gesprochen, meist im Plural und/oder kombiniert und ergänzt durch weitere Begriffe, etwa als „Ideologie und Mentalität des Kolonialismus“9, „Mentalitätslagen“10, „mentale Grundbefindlichkeit“ des Kolonialismus.11

8 9

http://www.bne-portal.de/ So das Stichwort im Sachregister von Osterhammel/Jansen: Kolonialismus 2009, S. 142.

10 Osterhammel/Jansen: Kolonialismus 2009, S. 111. 11 Osterhammel/Jansen: Kolonialismus 2009, S. 119.

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Zunächst einmal zu dem Bestandteil „Kolonialismus“: Die mit dem Wortfeld verbundenen Nomen Kolonie, Kolonialmacht, Kolonialherr umreißen ein ungemein komplexes Phänomen mit vielfacher Ausprägung, das von welthistorischer Bedeutung ist und zu dem in den letzten Jahren zahlreiche Darstellungen erschienen sind.12 Die Begriffsprägung geht zurück auf das römische Wort colonia, das „Ansiedlung, Bebauung“ meint.13 Coloniae entstanden bei den Griechen und Römern durch kriegerische Eroberung von fremden Gebieten, die jenseits des „Mutterlandes“ lagen; der Name der Stadt Köln geht auf diesen Vorgang zurück. Der Prozess der Kolonialisierung diente vor allem der Ansiedlung von Bürgern aus dem Mutterland, die als Siedler in der Ferne das volle Bürgerrecht behielten und eine begrenzte Selbstverwaltung trugen. Dagegen wurden die Einheimischen als „Fremde“ verstanden und als Sklaven gehandelt. Der auf die Gründung eines „Weltreiches“ ausgerichtete Alexanderzug nach Asien löste aber den starren Gegensatz zwischen herrschenden Hellenen und den als minderwertig betrachteten barbaros auf und begründete einen „Ausgleich“14 mit anderen Kulturen. Alexander zugesprochen wird die Haltung, man solle nicht alle in anderen Ländern Lebenden pauschal als Feinde betrachten, da „es besser sei, nach der inneren Tüchtigkeit und Schlechtigkeit die Teilung vorzunehmen.“15 Bei der Konfrontation mit der Religiosität der kolonisierten Regionen wurde Toleranz gegenüber den Götterwelten und Kulten der beherrschten Gebiete praktiziert.16 Solche Beispiele aus der weiter zurückliegenden

12 Jürgen Osterhammel / Jan C. Jansen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2009; Wolfgang Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 2008; Ders.: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016; Helmut Bley u.a.: Kolonialismus. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart (2007), Sp. 873, S. 896. 13 Von dem Verb colere, bebauen, pflegen. Kluge. Etymologisches Wörterbuch, 23. Auflage Berlin u.a. 1999. Der Begriff „Kolonialismus“ ist erst „nach dem 2. Weltkrieg aufgekommen“. Konrad Fuchs / Heribert Raab: DTV Wörterbuch zur Geschichte Bd. 1. München 1975. S. 433. 14 Stutzinger: Antike. In: Dinzelbacher (Hrsg): S. 468. 15 Strabon, Geographika I 4,9, zit. nach Stutzinger, S. 468. 16 Vgl. etwa Zusfass: Ulrich van der Heyden: Aktuelle missionsgeschichtliche Forschungen zu Mission und direkter Kolonialherrschaft im deutschen

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Vergangenheit zeigen also, dass sich im Rahmen kolonialer Akte ein Spannungsfeld ergab, bei dem die gewaltsam herbeigeführte Begegnung von Menschen verschiedener Kulturen und Religionen ambivalent verarbeitet wurde: Abwehr, Vorurteile und Vereinnahmungen der Eroberer dominierten die Verhaltensweisen, die aber auch eine gewisse Toleranz und Akzeptanz der Lebenswelt der Anderen einschlossen. Trotz des verbalen Ursprungs in der Antike wird „Kolonialismus“ meist mit der europäischen Expansion seit der Frühen Neuzeit nach Übersee verbunden, ja im eigentlichen Sinn erst für die politischen Strukturen benutzt, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden.17 Doch wird auf seine „Vorformen“ hingewiesen, etwa die mittelalterliche „Ostkolonisation“, die von Westeuropa ausging und noch von den Nationalsozialisten als Rechtfertigungsstrategie für ihre Landnahmen im Osten benutzt wurden.18 Koloniale Phasen anderer Kontinente, vor allem Asiens, werden im Zusammenhang mit der Entwicklung einer globalen Geschichtsschreibung erst langsam erforscht.19 Und „Mentalität? Peter Dinzelbacher definiert den Begriff als das „Ensemble der Denk-, Empfindungs- und Verhaltensweisen […] einer Gruppe“20. Die adjektivischen Wortbildungen beschreiben eine Haltung, die den

Kolonialimperium 1884/85-1918/19. Ein Literaturbericht, Berliner Beiträge zur Missions-Geschichte 2010, vor allem S. 4–7. 17 Reinhard, Wolfgang: Einleitung. In: Geschichte der Welt Bd. 3: 1350-1750. Weltreiche und Weltmeere. Hrsg. von Wolfgang Reinhardt. München 2014. S. 9–52, hier: S. 19. 18 Reinhard, Wolfgang: Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart 2008. S. 10. 19 Zu dem imperialen Ausgreifen Chinas, des indischen Mogul-Reiches, des Osmanischen und Russischen Reiches sowie Japans vgl.: John Darwin: Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400-2000. Frankfurt am Main 2010. W. Reinhard spricht auch von einem Kolonialismus der Azteken und Inka, S. 10. Ein Überblick über die Geschichtsdarstellungen außereuropäischer Bereiche findet sich in: Georg G. Iggers, Q. Edward Wand, Supriya Mukherjee: Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute. Göttingen 2013. 20 So die Def. von „Mentalität“ von Peter Dinzelbacher s.v.: „Mentalität“ In: Sachwörterbuch der Mediävistik. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1992. S. 521-524, hier: S. 521; ähnlich Iris Gareis: Mentalitäten. In: Enzyklopädie der

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IN NACHKOLONIALER

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Kolonialismus „betrifft“, die also aus ihm entstanden und/oder auf ihn bezogen ist. In der Regel ist gemeint: die ihn legitimiert und fördert. Osterhammel und andere beschreiben diese gedanklichen Konstruktionen, die die Herrschaftsausübung begleiten, als „sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.“21 Ich möchte durch historische Beispiele einem Verständnis des Phänomens näherkommen.

D IE LITERARISCHE D ARSTELLUNG DES K OLONIALISMUS IM VIKTORIANISCHEN J AHRHUNDERT Am Anfang steht der handelnde Mensch: welche Europäer hielten sich in kolonialer Mission in Afrika auf, wie nahmen sie diesen Kontinent wahr, welche Kennzeichen sind für diese Akteure typisch und wie verstanden sie ihre Aufgabe dort? Ein literarisches Werk aus dem späten 19. Jahrhundert gestaltet in ästhetischer Verdichtung eine Art Gesamtschau über Orte und Personen: 1899 erschien in englischer Sprache Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“ (Heart of Darkness). Der Autor (1857-1924) war selber als Kapitän im Kongo und erkrankte dort an einem tropischen Fieber, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Die Handlung: Ein europäischer Ich-Erzähler besucht eine Handelsstation in einem fiktiven afrikanischen Land. Es wird als undurchsichtig, finster, bedrohlich gezeichnet und seine Geheimnisse erschließen sich den Weißen nicht – trotz aller Bemühungen. Die koloniale Grundsituation wird als allgemeines Chaos dargestellt, das die Weißen regeln; durch ihre Aktivität entsteht als Lichtblick etwas Wertvolles: „ein kostbares Rinnsal aus Elfenbein.“22 Damit ist das zentrale Gut benannt, um das sich alles dreht. Conrad zeichnet die Europäer als besessen von Neugierde und Abenteuerlust, gierig nach Geschäftserfolg und Geld, getragen von einem extremen Geltungsbedürfnis gegenüber den Einheimischen sowie einer enthemmten

Neuzeit Bd. 8, Stuttgart 2008, Sp. 372-377, hier: Sp. 372, die aber zusätzlich auch den Aspekt der „unbewussten geistigen Strömungen“ besonders hervorhebt, Sp. 374. 21 Osterhammel/ Jansen 2009, S. 119. 22 Joseph Conrad: Herz der Finsternis. Dt. Stuttgart 2009. S. 31.

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Lust an Gewaltausübung und Sex. Ihr Handeln im Alltag ist brutal: „Kein Erbarmen, kein Erbarmen. Ist der einzige Weg“, so äußert sich ein weißer Büroangestellter. Das korrekte äußere Erscheinungsbild und die geordnete Arbeitswelt dieses Buchhalters steht ganz im Gegensatz zu der Welt der Afrikaner: eine anonyme, in unhygienischen Verhältnissen lebende und monoton agierende Masse an Arbeitssklaven: „Lange Reihen von staubigen, plattfüßigen Niggern kamen und gingen.“23 Mit der Figur des Elfenbeinhändlers „Mr. Kurtz“, der tief im Landesinneren ganz allein eine Handelsstation betreibt, gestaltet Joseph Conrad den Prototyp des gewissenlosen Kapitalisten, der keine Skrupel kennt, um sich in Ausbeutung anderer selber zu bereichern. So denkt er auch darüber nach, wie er die Produkte privat vermarkten und so den Profit seinen Arbeitgebern betrügerisch vorenthalten kann. Er beherrscht die Einheimischen, indem er sich kulthaft als eine Art religiöser Führer und Heros verehren lässt. Trotzdem oder gerade deswegen formieren sich um diese Gestalt herum auch Hass und Widerstand der Schwarzen. Der Traum der Europäer, in Afrika Reichtum, Macht und Ansehen zu erlangen sowie enthemmten Sex ausleben zu können, erfüllt sich aber nicht, sondern wird zum Albtraum: Der Blick in die eigene Seele konfrontiert die Agenten des Kolonialismus mit den Abgründen ihrer eigenen Psyche, in denen sich die christliche Moral und die Werte des sich aufgeklärt gebenden Europa auflösen. So bleibt ein dumpfes Bewusstsein von Schuld und eigenem Elend vorhanden. Mit dem „geflüsterten Schrei: Das Grauen! Das Grauen!“,24 stirbt Mr. Kurtz an einer Tropenkrankheit, die weit ab jeder westlichen Medizin nicht behandelt werden konnte. Seine Erfolge haben ihm keinen inneren Frieden mit sich und der Welt, in die er sich begeben hatte, schenken können. Zwar lebte er nicht einsam: ein „wildes, herrliches Weib“25 trauert im Dschungel um ihn. Zu Hause in dem gepflegten Londoner Salon sitzt dagegen ein „Mädchen“, das auf ihn wartet, seine Braut. Sie glaubt nicht nur naiv an die Treue ihres Mannes, sie hält ihn auch für ein moralisches Vorbild: „Die Menschen sahen zu ihm auf – seine Güte leuchtete in allem, was er tat.“26 Der Icherzähler, Überbringer der Nachricht vom

23 Ebd., S. 31. 24 Ebd., S. 131. 25 Ebd., S. 120. 26 Ebd., S. 135.

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Tode des Mr. Kurtz, weiß es besser. Doch bestätigt er durch Lügen diese Fehleinschätzung. Der zunächst barmherzig scheinende Akt hat ein Janusgesicht: Denn so kann die Illusion von dem kultivierten Dasein und dem guten Charakter eines erfolgreichen Kaufmannes aufrechterhalten werden. Tief im „Herzen der Finsternis“ (Titel), die Joseph Conrad zugleich als konkreten Ort, personifiziert durch eine zentrale Gestalt wie auch als Symbol bzw. Metapher für ein Verhalten beschreibt, findet sich die Wahrheit über die westliche Selbstsicht. Europäer stellen sich als Lichtgestalten dar und schmücken sich mit Tugenden wie Nächstenliebe, Rationalität und zivilisiertem Verhalten. Diese leuchtenden Charaktereigenschaften werden in diesem Schlüsselroman als die eigentliche „Finsternis“ entlarvt. Das Werk gilt als flammende Anklage gegen Gräuel des europäischen Imperialismus. Eine gewisse Verachtung gegenüber den „Kannibalen“ genannten Einheimischen, die als unzivilisierte Wilde dargestellt werden, findet man aber auch bei Conrad, der darin „Kind“ seiner Zeit war. In typisch rassistischer Weise wird allen Afrikanern pauschal ein körperliches Manko zugeschrieben: sie sind alle mit Plattfüßen versehen.

T ÄTERPROFILE

DES

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Conrads Roman enthält keineswegs die Fieberphantasien eines von seiner Tropenkrankheit nicht geheilten Schriftstellers. Er beschreibt Realitäten, die auch andere Quellen bestätigen. Sein Problemverständnis des Komplexes um eine „koloniale Mentalität“ bleibt bis heute zentral: So kehrt das in seinem Roman entfaltete Motiv, bei dem besitzergreifenden Handeln und Ausbeuten anderer werde die europäische Selbstsicht der zivilisatorischen Überlegenheit gerade nicht bestätigt, sondern als brüchig und lügenhaft entlarvt, kehrt innerhalb der Diskussion immer wieder. Dominant ist bei Conrad die egoistische ökonomische Perspektive von Kaufleuten. Nach dem Anlanden europäischer Schiffe an der westafrikanischen Küste im 15. Jahrhundert wurden in der Tat zunächst Niederlassungen gebaut, die die Abwicklung von Handelsgütern befördern sollten. In diesem Kontext entwickelte sich der Kauf und Verkauf von Menschen als Sklaven, der auch in Afrika bereits betrieben wurde. Bald trat jedoch die politische Machtübernahme durch Nationalstaaten hinzu. Quellen berichten über das Leben der in die Kolonien entsandten Repräsentanten der europäi-

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schen Mächte: sie sind die eigentlichen „Kolonialherren“. Im Rahmen der Ambitionen ihrer Herkunftsländer, afrikanische Regionen zu erobern und in Besitz zu nehmen, wurden einige Akteure auch selbständig aktiv: So ist etwa Carl Peters (1856-1918) berüchtigt.27 Von Hause aus war er ein qualifizierter Wissenschaftler: nachdem er in Geschichte promoviert worden war und in Philosophie habilitierte, reiste er nach Ostafrika. Er erschlich sich das Vertrauen von Häuptlingen, wobei er sie zum Konsum alkoholischer Getränke ermunterte und sie dann Verträge unterschreiben ließ, in denen in deutscher Sprache die Übertragung ihres Herrschaftsgebietes festgehalten war; für die lokalen Autoritäten waren diese Schreiben sowohl sprachlich als auch inhaltlich unverständlich. Auf der Basis solcher Zugeständnisse begründete er die deutsche Kolonie Ostafrika. Zahlreiche Zeugen beschrieben seine täglichen Prügelorgien, mit denen er sich mit Stock und Peitsche Respekt zu verschaffen suchte. Auch vor Morden schreckte er nicht zurück. Wegen seines brutalen Verhaltens gegenüber der Bevölkerung kam es zu Aufständen. Jay Loomings berichtet: „Er hatte auch den Beinamen HängePeters und blutige Hand und das sozialdemokratische Zentralorgan Vorwärts schrieb über ihn als den grimmigen Arier, der alle Juden vertilgen will und in Ermangelung von Juden drüben in Afrika Neger totschießt wie Spatzen und zum Vergnügen Negermädchen aufhängt, nachdem sie seinen Lüsten gedient. “28 Deutlich wird hier die rassistische Basis seines Wütens. Offiziell verfolgte er primär ein eher kollektiv ausgerichtetes wirtschaftspolitisches Ziel, wie es für die Zeit der nationalstaatlichen Orientierung typisch war, nämlich: „die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer schwächerer Völker Unkosten.“29 Daher genoss Carl Peters im Obrigkeitsstaat hohes Ansehen als konsequenter und effektiver Kolonialpolitiker. Allerdings wurde er wegen seiner Tötung von Schutzbefohlenen im Kaiserreich zunächst unehrenhaft aus dem Reichsdienst entlassen; in der Zeit des Nationalsozialismus aber von Adolf Hitler wegen derselben Vergehen als vorbildlich rehabilitiert. Man heroi-

27 Biographischer Überblick etwa bei Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien. Paderborn u.a. 2004. S. 85f. 28 Jay Loomings, ein pensionierter Hochschullehrer (Historiker?) in seinem Blog: „Silvae“, aufgerufen am 4.7.2014. 29 Wehler, Hans-Ulrich: Bismarck und der Imperialismus. S. 333, 337 f., zit nach Gründer. S. 86.

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sierte ihn als Prototypus des germanisch-überlegenen Herrenmenschen. Sein abenteuerliches Leben wurde in Starbesetzung verfilmt (mit Hans Albers); zahlreiche Straßen wurden nach ihm benannt. Die Einschätzung seiner schillernden Gestalt in der Forschung schwankt zwischen den Positionen, ihn als Repräsentanten, extremen Ausnahmefall oder Karikatur des Sozialtyps des Kolonialherren zu verstehen. Auch andere Beispiele erweisen die schwierige Einordnung solcher Gestalten. Dies gilt etwa für Heinrich Carl von Schimmelmann (17241782), der selber nie den Boden Europas verließ, doch durch die afrikanischen Sklaven, die er auf die dänischen Inselkolonien verschleppte und auf Zuckerrohrplantagen einsetzte, zum „reichsten Mann Dänemarks“30 und einflussreichen Politiker wurde. Vor einer einseitigen Verurteilung von Einzelgestalten muss aber auch gewarnt werden: Männer wie Schimmelmann werden auch als Projektionsfläche und Ventil benutzt, denen pauschalisierend und personalisierend die Schuld am Kolonialismus angehängt werden kann, um das kollektive Gewissen von der Schuld und Verantwortung zu entlasten. Neben den weißen Akteuren der Kolonialmächte aus dem Bereich von Wirtschaft, Politik und Verwaltung spielten Missionare eine Rolle. Zweifellos waren sie als „loyale Bürger ihrer Herkunftsländer“ ein Teil des kolonialen Projektes.31 Doch verfolgten sie auch eigene Ziele: Aus der Bibel wurde ein Missionsbefehl abgeleitet, der von einer grundsätzlichen Überlegenheit der christlichen Religion über andere Religionen ausging und damit die Pflicht legitimierte, die „Heiden“ zu christianisieren. Deutlicher noch als bei jenen Europäern, deren Anwesenheit in Afrika mit dem Versprechen legitimiert wurde, den Handel zu fördern, Güter und Fortschritt für die Menschen zu bringen, wurde das spirituelle Anliegen der Missionare in Afrika mit Misstrauen zur Kenntnis genommen. Für dieses schwierige Amt bewarben sich daher selten Angehörige der Oberschicht, da sie auf andere Weise zu Ansehen kommen konnten. Für England argumentiert Darwin, die eigentliche religiöse Arbeit habe bei den oft auch nur begrenzt theolo-

30 Krieger, Martin: Heinrich Karl von Schimmelmann. In: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Hrsg. von Jürgen Zimmerer. Frankfurt/New York 2013. S. 311-322, hier S. 311, auch hier in Anführungsstrichen als „landläufige“ Bezeichnung Schimmelmanns. 31 Wolfgang Reinhard: Der Missionar. In: Zimmerer 2013, S. 282-293, hier: S. 284.

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gisch ausgebildeten Missionaren ganz im Hintergrund gestanden. 32 Vielmehr seien sie als medizinische Helfer, Vermittler in der Diplomatie und auch als Händler tätig gewesen, die zuweilen auch Waffen lieferten, um sich Sympathien der Bevölkerung zu verschaffen. Die mit der Missionierung verbundene Tätigkeit zum Aufbau von Schul- und Gesundheitswesen sowie zur Dokumentation, Erschließung und Erhaltung von Kulturen und Sprachen wird heute etwa unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion als „transkulturelle Wissensaneignung und Wissensvermittlung“ untersucht und sehr ambivalent bewertet.33 So setzten sich Missionare auch für die einheimische Bevölkerung ein und waren sogar bereit, deswegen Konflikte mit der Kolonialbehörde ihres Herkunftslandes auszutragen. Gerade am Beispiel der Mission wurde aufgezeigt, dass auch Frauen am kolonialen Projekt aktiv beteiligt waren: sie betrieben die Tätigkeit der Vermittlung der christlichen Botschaft, und zwar nicht nur als Ehefrauen, Begleiterinnen und Mitarbeiterinnen auf den Missionsstationen, sondern als „Female Missionaries“, wie C. Midgley für das Britische Imperium nachwies.34 Auch Wissenschaftler*innen müssen als „Täter*innen“ betrachtet wer35 den: Am Beispiel der historischen Wissenschaft im 2. Kaiserreich in Frankreich untersuchte Ursula Becher 1986 Einstellungen der Forschenden. Sie fand ein nationales Selbst- und Feindbild innerhalb von Europa in Erbfeindschaft Frankreichs gegen Deutschland, aber auch rassistische Ansätze, die sich vor allem auf nicht-europäische Gebiete richteten. Diese kreisten um ein Konzept der paternalistischen Welthaltung, die in einem „unbegrenzten Optimismus“36 das westliche Superioritätsbewusstsein festschrieb. „Diese KOLONIALE MENTALITÄT wollte die ganze Welt zum Gegenstand ihrer For-

32 Darwin, S. 303. 33 Vgl. dazu Ulrich van der Heyden, Andreas Feldtkeller (Hrsg.): Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und –vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 2012. Zitat aus dem Vorwort der Herausgeber, S. 9-12, hier: S. 11. Vgl. dazu auch meine Rez. in ZfG 5 (2014), S. 451-453. 34 Nach Darwin, S. 301. 35 Vgl. dazu auch das Kapitel „Akteure“ in Zimmerer 2013. S. 311-408. 36 Ursula A. J. Becher: Geschichtsinteresse und historischer Diskurs. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1986. S. 163.

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schung“.37 Hier findet sich also eine Art Definition der „kolonialen Mentalität“, die interessanterweise nicht am Beispiel von politischen Akteuren europäischer Kolonialmächte in Afrika vorgenommen wird, sondern von einer skrupellosen Forschungswut von Historikern ausgeht. Um Geschichtswissen zu erlangen, richtete sich die historische Forschung in einer fast militärischen Weise auf die Beherrschung anderer, die als den methodisch geleiteten Akten der eigenen rationalen Erkundung preisgegeben verstanden wurden. Diese Haltung aber sei nicht fachlich begrenzt gewesen, so hält Becher fest. Die historische Wissenschaft bot ihren universalistischen Anspruch vielmehr der Öffentlichkeit als Antwort auf allgemeine Orientierungsbedürfnisse in einem umfassenden gesellschaftlichen Diskurs. Ähnliches gilt auch für Geographen, deren Expeditionen in das Innere Afrikas unter dem Gesichtspunkt der Eroberung und Beherrschung verstanden wurden.38 Häufig waren solche Wissenschaftler etwa in „Forschungskommandos“ tätig, die der nationalsozialistischen Herrschaftsausübung dienten.39 Auch nach dem 2. Weltkrieg waren die bei diesen Aktivitäten in Ländern des Globalen Südens erworbenen Kompetenzen gefragt. Viele dieser Geographen erhielten Lehrstühle an deutschen Universitäten sowie führende Positionen in Verwaltung und Politik. Sie dominierten das Fachgebiet auch in nachkolonialer Zeit.40 Wissenschaft begleitete also das gesamte koloniale Projekt, doch wirkte sie auf unterschiedliche Weise. Das Bedürfnis des 19. Jahrhunderts nach empirischer Orientierung führte zu einer gewaltigen Ausweitung des Wissens über fremde Kontinente. Neben den Erfolgen, die sich dabei einstellten, etwa bei der Malariabekämpfung, kam es aber auch zu folgenreichen Fehlschlüs-

37 Becher, S. 167. Großschreibung im Original. 38 Etwa: Iris Schröder: Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790-1870, Paderborn 2011. Über die Erforschung Afrikas ab S. 113. 39 Etwa: Sören Flachowsky, Holger Stoecker (Hrsg.): Vom Amazonas an die Ostfront. Der Expeditionsreisende und Geograph Otto Schulz-Kampfhenkel (1910-1989). Wien 2011. 40 Flachowsky/Stoecker 2011. Der Anhang zeigt die wissenschaftlichen Laufbahnen von 19 für den Nationalsozialismus tätigen Geographen und belegt die Kontinuität ihrer Karrieren an Universitäten und in anderen führenden Positionen; S. 378–380.

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sen der Wissenschaftler.41 Denn sie übertrugen ihre europäischen Vorstellungen auf fremde Verhältnisse, ohne deren Alterität in ausreichendem Maße zu erfassen. So erzeugten die Kategorisierungen der in Afrika vorgefundenen Menschen, die weiße Wissenschaftler in Erfüllung europäischer Ordnungsbedürfnisse vornahmen, erst die „Stämme“ und Gruppen, die sie unterscheiden zu müssen glaubten. Sie sind damit mitverantwortlich für ethnische Konflikte, die aus diesen Zuordnungen entstanden. Das neue Wissen förderte aber auch humanitäre Strömungen, die die Abschaffung des Sklavenhandels und einen anderen Umgang mit nichtwestlichen Völkern forderten. Eine einheitliche koloniale Mentalität habe es angesichts dieser vielfältigen Lobbygruppen mit ihren zum Teil ganz kontroversen Interessen daher nie gegeben, so beharrt John Darwin.42 Gleichwohl gab es in England auch nach dem 2. Weltkrieg bis zu dem Jahr 1968 einen gewissen Grundkonsens, dass das Empire mit seiner Weltgeltung weiterbestehen sollte.

D ER „ AUTORITÄRE C HARAKTER “ UND ANDERE P ERSÖNLICHKEITSSTRUKTUREN IM O BRIGKEITSSTAAT Zwischen der Erforschung von Mentalitäten, die die imperiale Machtentfaltung Europas in Übersee begleiteten und derer, die den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglichte, lässt sich durchaus ein fruchtbarer Zusammenhang herstellen: Wissenschaftler im Umkreis von Theodor Adorno (19031969) suchten in groß angelegten Forschungsprojekten zu entschlüsseln, welche mentale Konstellation Vorurteile wie vor allem den Antisemitismus förderten und die breite Zustimmung zu den Nationalsozialisten ermöglichte. Im Kontext solcher Arbeiten haben auch Sozialpsychologen wie Erich Fromm (1900-1980) das Syndrom der im Obrigkeitsstaat des 19. und 20. Jahrhunderts verbreiteten Mentalität als „autoritären Charakter“ beschrieben. Heinrich Mann (1871-1950) verewigte diese Haltung, zu der Bürger im Deutschen Reich erzogen wurden, an der Figur des Diederich Heßling in seinem Roman „Der Untertan“, den er 1914 hellsichtig mit der Vision eines unmittelbar bevorstehenden Weltkrieges abschloss. Die Sehnsucht nach Anerkennung der

41 Osterhammel/Jansen: Kolonialismus 2009. Kapitel: „Koloniales Wissen“, S.117–120. 42 Darwin, S. 298.

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eigenen Nation im Konzert der Weltimperien förderte den Wunsch nach wirtschaftlicher Bereicherung und zugleich die Gewaltbereitschaft des einzelnen, um diese für sein Land (oder nur sich selbst als Repräsentant des Landes) zu realisieren. Die Raffgier in Übersee und die aggressiven Exzesse in einem Allmachtswahn gegenüber Menschen, die man für „fremd“ und unterlegen hielt, sind aber nur die Kehrseite der Unterwerfung und des blinden Gehorsams gegenüber vermeintlichen Autoritäten zu Hause, also jener Mentalität, die die Machtübernahme der Nationalsozialisten förderte. Beide Orientierungen beruhen auf einer Kompensation von Gefühlen der eigenen Nichtigkeit in einem Weltganzen, das sich in einer Phase der Etablierung des Nationalstaats weitgehend neuformierte. Rassismus und Sozialdarwinismus sicherten solche Bestrebungen legitimierend ab. Zudem suchten insbesondere (sexual)-pathologische Charaktere bewusst eine Tätigkeit in den Kolonien, weil sie sich dort unkontrollierter als zu Hause an weitgehend schutzlosen, von ihnen abhängigen Menschen abreagieren konnten. Möglicherweise förderte aber auch erst die erlebte koloniale Situation „Deformationen“ im Charakter der in Übersee tätigen Europäer und „dehumanisierte“ sie.43 Jedenfalls sind sadistische Aktivitäten von Kolonialherren ein zentrales Motiv in den Schriften afrikanischer Autoren. Doch darf ein solches Handeln von einzelnen Akteuren auch nicht verallgemeinert werden. Die englische Kolonialpolitik verstand sich etwa explizit als „Indirect Rule“. Da man die großen eroberten Gebiete nicht in ständiger Präsenz von britischen Beamten verwalten konnte, bediente man sich einheimischer Herrschender. Die Akte der unmittelbaren Begegnung zwischen weißen Herrschenden und schwarzen Beherrschten wurden damit reduziert. Zugleich wurde verhindert, dass die britischen Kolonialbeamten Beziehungen oder gar Ehen mit Afrikanerinnen schlossen, sich dadurch mit den beherrschten Ethnien vermischten und vor Ort eine private lokale Machtbasis aufbauten. Man fürchtete die „Verkafferung“ weißer Repräsentanten, die sich mit der Kultur der Schwarzen arrangierten. Gerade auf der relativen Distanz von Weißen gegenüber den Afrikanern beruhte „das Geheimnis der britischen Autorität“.44 Doch war diese Politik einer indirekten Herrschaft, wie neueste Untersuchungen zeigen, nicht weniger brutal als die direkte Herrschaftsausübung

43 Osterhammel/Jansen 2009, S. 112. 44 John Darwin: Das unvollendete Weltreich 2013, S. 241.

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der Franzosen, die in weitgehend persönlicher Anwesenheit ihre Kolonialgebiete verwalteten. Denn gerade durch die Delegation von Macht wurde ein besonderer Mythos der Überlegenheit geschaffen, den die Engländer zudem durch eine geschickte Personalpolitik beim Bestätigen, Einsetzen und Gegeneinander-Ausspielen verschiedener lokaler Autoritäten ausnutzten. Zudem schuf sie durch die tiefen Eingriffe in die vermeintliche Struktur des traditionellen Machtgefüges nachhaltige Konflikte.45 Oft auch blieben sowohl das englische Prinzip indirekter Herrschaft wie auch das Französische der „assimilation“ ohnehin einfache Fiktion oder „Utopie eines wohlgeordneten Kolonialismus“.46 In der Realität waren die in den Metropolen erdachten theoretischen Prinzipien der Machtausübung weniger wirksam.

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Kolonialismuskritik gab es seit den Anfängen des kolonialen Experimentes in den europäischen Metropolen, vor allem aus marxistischer Sicht, aber auch im Sinne eines neuen Nationalismus, der die kolonisierten Gebiete als neue Nationen mit ihrem Selbstbestimmungsrecht verstand.47 Neue Forschungen kritisieren demgegenüber den europäisch verzerrten Blick der Untersuchungen, die den Anteil der Afrikaner*innen an der Gestaltung der Situation ignorieren. Wie bei Joseph Conrad werden die Kolonisierten dadurch, oft indirekt, als hilflose passive Opfer dargestellt, die als einheitliche Masse erscheint und gänzlich fremdbestimmt wird. Ein anderes Bild vermitteln die Schriften von Afrikanern*innen: Die Führer der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen erkannten früh, dass Kolonialismus nicht nur eine konkrete Herrschaftspraxis darstellt, sondern eine gedankliche Konstruktion, die Abhängigkeiten auch nach der offiziellen Dekolonisation fortsetzte. Sie suchten daher nach Wegen, um ihre Länder von dem mentalen Einfluss der Kolonialzeit zu befreien. Besonders einfluss-

45 Vgl. Myers, J. C.: Indirect Rule in South Africa: Tradition, Modernity, and the Costuming of Political Power. Suffolk 2013. 46 Osterhammel/Jansen 2009. S. 111. 47 Vgl. die Übersicht in Maloba, W.O.: Anticolonialism. Africa. In: NewDictionary of the History of Ideas. S. 80–84.

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reich wurden die Thesen von Frantz Fanon (1924-1961), der die koloniale Mentalität der Herrschenden und der Beherrschten in einen Zusammenhang setzte.48 Als Psychiater hatte er die psychischen Störungen von Opfern wie Tätern im Algerienkrieg behandelt. Diese Arbeit hatte in ihm lernpsychologische Überlegungen über das zu erwartende nachkoloniale Profil der Befreiten angestoßen. Die symbolische Welt der Kolonialherren sieht er in ihrer Sprache repräsentiert: „Der Agent der Macht benutzt die Sprache der reinen Gewalt.“49 So erzeugt er ein todesverherrlichendes Klima und überträgt eine nekrophile Weltanschauung. Die Afrikaner*innen übernehmen nun das ihnen vorgelebte Modell: „Der Kolonisierte hat die Kultur des Unterdrückers angenommen und sich auf sie eingelassen, (etwa, indem B.L.) er sich die Denkformen der kolonialen Bourgeoisie zu eigen machte.“50 Diese Reproduktion der Herrschaftsmentalität wird ermöglicht durch die Selbsterniedrigung von Teilen der Bevölkerung, die das Bewusstsein von ihrer Inferiorität internalisiert haben und sich den neuen afrikanischen Eliten unterwerfen. Diese pessimistische Sicht bestätigt sich in einigen afrikanischen Ländern. Das Phänomen des kolonialen Bewusstseins muss also auch von der Seite der indigenen Völker her beleuchtet werden.51 Ohnehin sind jeweils Vertreter der beiden Hautfarben ein fester Bestandteil der auf beiden Kontinenten hybriden Bevölkerung: eine afrikanische Diaspora nimmt Einfluss auf europäische Politik und Kultur wie auch europäische „Kolonien“ afrikanische Länder bewohnen; zudem hat eine breite Durchmischung beider Gruppen stattgefunden. Viele Afrikaner haben zunächst in den Missionsschulen und dann auch an europäischen Universitäten und anderen Ausbildungsstätten eine europäische Bildung erworben und mit dieser das Wissen um das Selbstbild des „guten“ Europäers. Die Unabhängigkeit wurde von dieser europäisierten Elite eingefordert, etwa im Namen der Werte des Christentums und der Französischen Revolution. Sie lernten aber auch die Opposition innerhalb Europas kennen: marxistische Gedanken sind sehr einflussreich in Afrika. Diese in Europa erworbenen Wissenselemente wurden freilich von den neuen afrikanischen Eliten nicht einfach reproduziert, sondern auf die indige-

48 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main 1966. 49 Ebd., ich zitiere nach der ersten TB-Auflage 1981, S. 32. 50 Ebd., S. 41. 51 König, Hans-Joachim: Wissenssysteme, außereuropäische. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 15 (2012), Sp. 131-170.

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nen Gesellschaftsstrukturen übertragen. Führer der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen entwerfen etwa einen eigenen „African Socialism“, der anders als in Europa auf dörflichen Traditionen und kollektiven Lebensformen aufbaut, so etwa Julius Nyerere (1922-1999). Der erste Staatspräsident des ostafrikanischen Tansania wurde katholisch erzogen und studierte in Edinburgh. Er entwickelte ein Konzept weitgehend selbstgenügsamer ländlicher Gemeinschaften, die dem afrikanischen Wert des „Ujamaa“ (etwa: Gemeinschaft, Verbindung) folgen sollten. Dabei knüpfte er an vorkolonialen Vergemeinschaftungsformen an.52 Während er eine rasche Industrialisierung nach westlichem Modell für sein Land ablehnte, ließ Kwame Nkrumah (1909-1972), der erste Staatspräsident der ehemals englischen Kolonie „Goldküste“, 53 als erste Regierungsakte einen Staudamm sowie einen Industriehafen bauen. Mit der Namensgebung „Ghana“ sollte an die Tradition eines mittelalterlichen Reiches angeknüpft werden, das aber geographisch nicht identisch ist mit dem heutigen Ghana, sondern in Westafrika weiter nordwestlich von dem Land lag, dessen Grenzen die Kolonialmacht gezogen hatte. Mit diesem symbolischen Akt wurde eine Historizität afrikanischer Staatsbildung beschworen, ein wichtiger Akt zur Identitätsstärkung des neuen Landes, da eine eigene Geschichte Afrikas oft geleugnet wurde. Auch Nkrumah hatte eine umfangreiche westliche Erziehung genossen. Er definierte den Begriff „Neokolonialismus“ bzw. „Kulturimperialismus“, 54 der für die weitere Diskussion um Unterentwicklung und Ausbeutung in nachkolonialer Zeit zentral werden sollte. In seinem Buch „NeoColonialism. The Last Stage of Imperialism“55 warnte er 1965 in marxistischleninistischer Tradition davor, die formal erreichte politische Unabhängigkeit als endgültige Befreiung von der Bevormundung durch Fremde zu verstehen. Die kolonialen Herrschaftsstrukturen werden nur transformiert, so argumentierte er, und die ehemalige Kolonialmacht behält ihren Einfluss, etwa über ihre fortwirkende Dominanz über die Wirtschaftskraft der ehemaligen Kolo-

52 Nyerere, Julius: Ujamaa. Essays on Socialism. Dar es Salaam 1968. 53 Vgl.: Lundt, Bea / Marx, Christoph (Hrsg.): Kwame Nkrumah heute. Stuttgart 2016. (im Druck) 54 Randeria, Shalini: „Kulturimperialismus“. In: Lexikon der Globalisierung. Hrsg. von Fernand Kreff. Bielefeld 2011. S. 209–213. 55 Nkrumah, Kwame: Neo-Colonialism. The Last Stage of Imperialism, London 1965. Vor allem das Kapitel: „The Mechanisms of Neo-Colonialism“, S. 239-254.

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nie. Aber auch in den Bereichen der Bewusstseinsprägung wirkt die paternalistische Mentalität der Europäer weiter fort. Detailliert beschreibt er die Mechanismen des Neo-Kolonialismus, unter ihnen die westliche ideologische Kontrolle über die Informationsmedien, aber auch die Rolle von Religion und Missionaren sowie den Einfluss der Geheimdienste, die sich als Entwicklungsaktivitäten tarnen wie das amerikanische „Peace Corps“. Angesichts dieser Situation fordert er seine Landsleute dazu auf, „to reject any belief in co-exstistence or in the policy of non-alignment“.56 Wie viele andere afrikanische Führerpersönlichkeiten lehnte er das Modell des Nationalstaates ab und forderte statt der „Balkanisierung“ in Einzelstaaten eine Panafrikanische Vereinigung des Kontinents. Nur auf einer gemeinsamen Basis könne es gelingen, „to recover possession of our heritage“.57 Zur Erforschung afrikanischer Kulturen gründete er an der University of Ghana in Legon bei Accra ein „Institut of African Studies“.58 Nkrumah steht selber mit seiner Vita für die Zerrissenheit vieler europäisierter Afrikaner: denn die Ablehnung der verhassten westlichen Dominanz kollidiert mit der tiefen Sehnsucht nach einer Partizipation an der erreichten Technologie und Wissenschaft im Weltmaßstab. Und auch sein Modell scheiterte: unter dem Druck des Kalten Krieges kehrte er zu autoritären Staatsformen zurück und wurde schließlich 1966 vom CIA gestürzt. Man fürchtete im westlichen Lager, er könne zum Führer eines panafrikanisch geeinten sozialistisch orientierten afrikanischen Kontinentes werden.59 Im Kontext der 68er-Bewegung erschien eine ganze Reihe von Schriften aus der Feder von Intellektuellen aus Afrika, die sich gegen die fortbestehende Abwertung einheimischer Traditionen und Überlieferungen der Länder des Globalen Südens in nachkolonialer Zeit und die Überfremdung einheimischer Sprachen, traditioneller Religiosität, autochthoner Denktradi-

56 Ebd., S. 258. 57 Nkrumah, S. 259. 58 Nkrumah, Kwame: The African Genius. Wiederabgedruckt als Einleitung in: Africa in contemporary perspective. Hrsg. von. Takyiwaa Manuh, Esi Sutherland-Addy.ccra 2013, S. VI-XIII. 59 Vgl. dazu Pohl, Jonathan: Nkrumah, the Cold War, the „Third World“, and the US Role in the 24th February 1966 Coup. In: Lundt/Marx (Hrsg.) 2016, S. 24 (im Druck)

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tionen und Einrichtungen richteten: etwa von Aimé Césaire (1913-2008)60, und Léopold Sédar Senghor (1906-2001).

V ERSUCHE EINER „DEKOLONISIERUNG DES D ENKENS “ Aus dieser Diagnose des Fortbestehens einer kolonialen Mentalität sowohl bei den ehemaligen Kolonialmächten und ihren Agenten als auch bei den einheimischen Eliten wird die Forderung einer „Dekolonisierung des Denkens“ abgeleitet. Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire (1921- 1997) legte ein Konzept vor, wie die „Kultur des Schweigens“ der Kolonisierten durch das Einüben dialogischer Kompetenzen in der Kommunikation überwunden werden könne.61 Die entscheidende Aufgabe, den Teufelskreis von Herrschaft und Unterwerfung zu durchbrechen, überträgt er damit den „Opfern“ in den Ländern des Globalen Südens und bestärkt sie darin, in Selbsthilfe die Lethargie und Unterwerfungsbereitschaft, die auch Fanon diagnostizierte, zu überwinden. Es gehe um die „Beseitigung der inneren Dispositionen, die das Unterdrücktwerden ermöglichen“.62 Freire weigerte sich, bei seiner Arbeit mit analphabetischen Erwachsenen Lehrbücher aus dem Westen einzusetzen. Er begann vielmehr mit einem Diskussionsprozess über die Lebenssituation der Lernenden und ließ sie selber im Zuge dieser Gespräche die Begriffe bestimmen, an denen die Buchstaben erlernt werden sollten. Motiviert, sich die für ihre eigene Umgebung wichtigen Worte nunmehr auch schriftlich anzueignen, lernten sie rasch und definierten zugleich ihre Umwelt neu. Damit, so argumentiert Freire, übernahmen sie nicht nur selber die Verfügungsgewalt über ihr Leben in der Gemeinschaft, sondern verhinderten durch die Entfaltung eigener Aktivität die Fortsetzung der Herrschaft durch die Kolonialherren. Es sei die „große humanistische und geschichtliche Aufgabe der Unterdrückten: sich selbst ebenso wie ihre Unterdrücker zu befreien.“63 Dabei würden auch die Kolonialherren quasi erlöst von dem Zwang, angesichts sich hilflos zeigenden Afrikaner in ihren ehemaligen Kolonien die Herrschaft fortzuset-

60 Césaire, Aimé: Über den Kolonialismus. Berlin 1968. 61 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Stuttgart 1971. 62 Lange Ernst: Einführung. In: Paulo Freire, S. 7-28, hier: S. 21. 63 Freire, S. 39.

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zen. Machtausübung, so auch ein zentraler Gedanke des französischen Philosophen Michel Foucault, ist nur möglich, solange die Beherrschten sie zugestehen, einen Fremden also „be-mächtigen“. Die Theorien Freires wurden in breiten Teilen Afrikas rezipiert und seine Anregungen wurden insbesondere in der ländlichen Bildungsarbeit eingesetzt.64 In dieser Tradition stehen auch Bestrebungen, etwa in Ghana, weniger öffentlich dominante Gruppen darin zu bestärken, ihre Identität neu und selber zu definieren. So sollen etwa Frauen und Mädchen ihr „eigenes Afrika schreiben“ und sich damit aus verbreiteten Perspektiven lösen, die primär die Aktivitäten männlicher Prominenter auf Afrika festhalten.65 Freires Arbeiten fanden aber auch im Westen rege Rezeption: Viele Europäer verstanden sich nicht länger als „Täter“ im Rahmen einer kolonialen Machtausübung von Landsleuten in der Ferne, sondern als „Opfer“ einer (Selbst)- Kolonisierung, die sich in einer Reihe von Phänomenen des Bewusstseins nachweisen ließ. Paternalistische Bevormundung anderer wurde vor allem in den obrigkeitlichen Strukturen des Bildungs- und Schulsystems gefunden. So wurde gefordert, die Phase der Kindheit zu entkolonisieren. Eine „Antischulbewegung“ forderte provokant als überspitzte Konsequenz, die Stätten der Indoktrination ganz aufzulösen und die Erziehung der Gesellschaft zu überlassen. Jeder Mensch solle die gleiche Anzahl von Bildungsgutscheinen erhalten, die er selbstorganisiert einlösen könne bei Menschen, von denen er etwas lernen wolle. Wichtig sei dabei der Verzicht auf den Konsum von Produkten, die ein unnötiges Wachstum hervorbringen. Die Schriften von Ivan Illich (1926-2002) zeigen deutlich einen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Überwindung kolonialer Strukturen und einer Kritik an der Vorstellung, die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes sowie die private Teilhabe daran müsse weiter expandieren. Er fordert vielmehr eine Selbstbegrenzung und den lebensgerechten Einsatz der Erzeugnisse des technischen Fortschritts.66

64 Fordjor, Peter Kwadjoe: Das Erziehungswesen und die Problematik der Erwachsenenbildung im Entwicklungsprozess dargestellt am Beispiel Ghana. Hamburg 1975. 65 Sutherland-Addy, Esi / Diaw, Aminata: Women writing Africa. West Africa and the Sahel (The Women Writing Africa Project, Vol. 2). New York 2005. 66 Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft, 1987. Ders.: Schulen helfen nicht. 1972.

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Aktuelle Schriften von Afrikanischen Germanisten diagnostizieren weiterhin das Fortbestehen des „kolonialen Blickes“67 in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und verurteilen es scharf. Die Bearbeitung der Historie in diesen Büchern habe sich quasi ästhetisiert, sodass nun „Kolonialgeschichte als eine Mentalitätsgeschichte“68 begegne. Diese diene der Identitätserhaltung der Weißen in Verdrängung der kolonialen Schuld der Vergangenheit. Sie beharren aber auch, die Tradition afrikanischer Kulturen und die mit Gewalt durch die Kolonialherren herbeigeführte und fremdbestimmte Moderne schlössen sich nicht aus. 69 Eine konsequente Dekolonisierung des Denkens hat also nicht stattgefunden. Die Kontinuität solcher kolonialen Dispositionen wird vielmehr über verschiedene Maßnahmen gewährt. Der Ansatz der Erinnerungskulturforschung zeigt besonders deutlich die Prozesse, durch die eine koloniale mentale Disposition auch unabhängig von formaler Herrschaft erhalten werden kann. Bekannt sind Denkmale wie Statuen von Akteuren oder Schrifttafeln an Orten des kolonialen Geschehens, um historische Fakten zu vergegenwärtigen oder die einstige Macht über andere zu verherrlichen. Viel häufiger aber geht es um sog. „mental maps“, das heißt Identitätskonstruktionen, die symbolische „Orte“ definieren, weil sie für einen Kontinent, eine Nation, Stadt, Region, eine religiöse Gemeinschaft, ein Geschlecht bzw. eine andere Gruppe von Bedeutung sind.70 Jürgen Zimmerer belegt eine Kontinuität vielfältiger Strategien der Bewahrung solcher kolonialer Erinnerungsorte und kritisiert das mangelnde Bewusstsein über die Bedeutung und Referenzlogik solcher Phänomene: es seien „nur wenige .. bisher dekonstruiert oder dekolonialisiert“ worden, so hält er 2013 aufgrund von

67 Sarè, Constant Kpao: Postkoloniale Erinnerungskultur in der zeitgenössischen deutschsprachigen Afrika-Literatur. Hamburg 2012. S. 134. 68 Ebd., S. 126. 69 Sagbo, Sinseingnon Germain: Tradition und Entwicklungsprozesse in Benin: Frankfurt 2012: S. 33. Vgl. auch die Rez. von Bea Lundt in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) Berlin Heft 6 (2014), S. 548-550. 70 Zimmerer, Jürgen: Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. In: Ders. 2013, S. 9-38, hier: S. 15, auch S. 24. Den Begriff „mental map“ benutzt auch Conrad, Sebastian: Deutsche Kolonialgeschichte. München 2008. etwa S. 11.

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vielfältigen Beispielen fest.71 Und er weist auf die Schwierigkeiten bei den Diskussionen über eine Korrektur oder Umwidmung solcher Symbole hin. Auch bei den gutgemeinten Aktivitäten komme oft eine „unterschwellige Romantisierung und Verharmlosung des Kolonialismus“ zum Ausdruck.72 Das zeigte sich etwa, so zeigt er an einem besonders eindrucksvollen Beispiel, an der mangelnden Sensibilität bei der Übergabe von Schädeln und anderen Leichenteilen aus der ehemals deutschen Kolonie SüdwestAfrika an eine Delegation aus Namibia im Jahre 2011. Diese wollte sich die in der Berliner Charité seit der deutschen Kolonialherrschaft zwecks rassenkundlicher Vermessungen eingelagerten Überreste ihrer Ahnen abholen. Wie Zimmerer beschreibt, nutzte die Bundesregierung nicht die Chance, sich in angemessener Weise zu diesem Vorgang zu äußern und sich damit deutlich von den Traditionen abzugrenzen, die dazu geführt hatten, dass sich diese Gebeine von Afrikanern*Innen noch immer in Berlin befinden. Unreflektiert bis heute bleibt auch das Verhältnis zu den natürlichen Gegebenheiten auf dem afrikanischen Kontinent. Beispiele in dem von Zimmerer herausgegebenen Band zeigen die fortbestehende Sehnsucht von Deutschen, an einer tropischen und exotischen Idylle und unbeeinträchtigten Naturwelt Afrikas Anteil zu gewinnen. In den Diskursen um Urwald, Wüste, Tiger, Kilimandscharo, Serengeti usw. mischen sich Imaginationen von Angst und Abwehr gegenüber der „Wildheit“ mit Besitzansprüchen, sich diese Ikonen des Kolonialismus auch weiterhin zugänglich zu machen, sie zu bändigen und zu beherrschen. Fast überall wird assoziiert, diese Objekte westlicher Phantasien seien frei zugänglich: die einheimische Bevölkerung wird meist ausgegrenzt. Wenn überhaupt präsent, wird sie kommerziell eingesetzt, so bei dem „Sarottimohr“, der als Werbebild für eine Schokoladenmarke fungiert. Visuell stereotypisierend wird dabei eine niedliche heile Welt von schwarzen Menschen beschworen, die den Weißen für die Vermittlung von kulinarischen Genüssen untergeben zur Verfügung stehen. Die Arbeitsbedingungen, unter denen der Rohstoff Kakao nach Europa kommt, werden dabei verschleiert. Viele afrikanische Kakaobauern wissen nicht, was in den Ländern des Westens aus dem von ihnen gelieferten Rohstoff produziert wird.

71 Zimmerer, S. 17. 72 Ebd., S. 22.

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DIE HERAUSFORDERUNG DER P OSTCOLONIAL S TUDIES Die Erfahrung der sich globalisierenden Weltgesellschaft schafft eine neue Situation gegenüber der älteren Selbstwahrnehmung im Raum. Hier setzen auch die „Post-Colonial Studies“73 ein. Vor allem Wissenschaftler*innen aus Ländern des Globalen Südens beharren, die Erfahrungen, Wahrnehmungen und Positionen der (ehemals) Kolonisierten seien in den internationalen Diskurs nicht bzw. nicht in ausreichender Weise eingegangen. Dies gelte insbesondere für die Historiographie, die in „eurozentristischer“ Perspektive die Geschichte des „alten“ Kontinents noch immer isoliert und einseitig erschließe. Ihre dominanten Meistererzählungen berichteten von den Erfolgen der eigenen Zivilisation. Kritisiert werden die polaren Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts, vor allem das mentale Muster „Das Eigene“ und das „Fremde“.74 „Die Idee der unversöhnlichen Fremdheit“75 nennen auch Osterhammel und Jansen an erster Stelle von drei „Grundelementen kolonialistischen Denkens“. Fremdheit sei keine Realität, sondern eine Konstruktion, die diese Disposition erst hervorbringe und damit Feindseligkeiten herstelle, das „Othering“.76 Daher wird der Begriff ersetzt durch „Differenz“, meist im Plural benutzt. Diese Bezeichnung von Alteritäten lässt es zu, die Vielfalt der Unterschiede unter den Menschen zu beschreiben, ohne eine Hierarchie herzustellen und Wertungen vorzunehmen. Um die Weisen zu verstehen, durch die Menschen Unterschiede untereinander definieren, sei der Begriff „Differenzmarkierungen“ geeignet.

73 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg 2007. S. 184-237; Conrad, Sebastian / Randeria, Ahalini / Römhild, Regina (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/New York 2013. Scharfe Kritik an der postkolonialen Orientierung der Geschichtswissenschaft übte Wehler, Hans-Ulrich: Transnationale Geschichte – der neue Königsweg historischer Forschung? In: Budde, Gunilla / Conrad, Sebastian / Janz Oliver (Hrsg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien. Göttingen 2006. S. 161–174. 74 Vgl. Torres, Max Sebastián Hering: Fremdheit. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006. Sp. 1226-1229. 75 Osterhammel / Jansen: 2009, S. 112. 76 Glissant, Édouard: Zersplitterte Welten: Der Diskurs der Antillen. 1986; Ders.: Kultur und Identität. Essays 2005.

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Die Forderung nach einer Pluralisierung zahlreicher Basisvorstellungen der Geschichtswissenschaft richtet sich etwa auch gegen die Tendenz der Mentalitätengeschichte, bestimmte Haltungen pauschalisierend in großen Strängen zu verfolgen, die für kollektiv dominant erklärt werden, obgleich sie zahlreiche Phänomene ausgrenzen. Auch der Aspekt der „elitären“ Orientierung der großen Werke der europäischen Elite wird kritisch beleuchtet: In einem Schlüsselwerk für die postkolonialen Ansätze fragte Gayatri Chakravorty Spivak nach der „agency“, der Aktivität der Armen und ihrer quellenprägenden Sprache. Sie begründete damit die „Subaltern Studies“, in deren Mittelpunkt die bisher als sprachlose Objekte kolonialer Beherrschung verstandenen Menschen stehen, deren Stimmen und deren Eigensinn zurückgewonnen werden sollen. 77 Das europäische Selbst, so wird es in den Schriften der Vertreter der postcolonial studies deutlich, definiert sich in selbstherrlicher Abgrenzung gegenüber allem Fremden als stabile Einheit, getragen von Standardwerken der Geistesgeschichte, ohne sich die gegenseitige Verflechtung mit anderen Gruppen, Religionen, dem anderen Geschlecht sowie anderen Kulturen zu vergegenwärtigen. In der Tat: Das Verhalten junger Europäer in afrikanischen Ländern ist bis heute gekennzeichnet durch eine arrogante Herrenmentalität, die alle Welt an dem eigenen erreichten Standard misst und andere Kulturen angesichts dieses Maßstabes für defizitär erklärt. Damit verbunden ist oft ein forderndes Auftreten mit dem Anspruch, die anderen müssten sich im Sinne des Vorbildes der westlichen Kultur „entwickeln“.

ARBEIT

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D IALOG

HEUTE

Der Kolonialismus stellt ein gesamteuropäisches Projekt dar, das begleitet wurde durch eine bestimmte lebensweltliche Kultur, Wissensstrukturen, ja „Imaginationen“ in den Mutterländern. Während die politische Struktur im engeren Sinne inzwischen aufgelöst ist, leben entsprechende Orientierungen fort. Diese Kontinuität in nachkolonialen Zeiten wurzelt in den Struktu-

77 Spivak, Gayatri Charkravorty: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Dt. Wien 2008. Überlegungen zu dieser Gegengeschichte der „Subalternen“ verfolgt sie seit 1985.

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ren des 19. Jahrhunderts, die in der westlichen Gesellschaft noch nicht transformiert und verarbeitet wurden. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen Afrika und Europa, wie die Agenda 2030 sie anstrebt, kann nur gemeinsam entwickelt werden. Daher sind konkrete Kooperationen in gemeinsamen Projekten sowie Reisen und Begegnungen zwischen den Menschen beider Kontinente unverzichtbar. Doch bedarf es der flankierenden Maßnahmen in Öffentlichkeit und Bildungssystem, um die Volunteers angemessen vorzubereiten und die bei den Auslandsaufenthalten gewonnenen Erfahrungen einzuordnen. Denn der Wertkatalog der westlichen Zivilisation, die sich selber als aufgeklärt, rational und durch christliche Nächstenliebe gekennzeichnet darstellt, wird von Afrikanern*innen zu Recht massiv infrage gestellt. Weiße Volunteers reagieren mit einem „Kulturschock“, wenn die vertrauten Orientierungen ihre bisherige Aussagekraft verlieren. Die Herausforderung der bisherigen kulturellen Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten beeinträchtigt zutiefst die Identität. Der Untergang der Superioritätsüberzeugung ist nicht einfach zu verkraften: er wird als Verlust des Selbstwertes wahrgenommen. Das „koloniale“ Gehabe der Deutschen kompensiert dann auch ein latentes Wissen um eine historische Schuld und die Grenzen der eigenen Zivilisation. Wir wissen noch wenig über die typischen Bewusstseinsprozesse, die afrikanische Jugendliche durchlaufen, wenn sie im Austausch nach Europa kommen. Ein Wissen um die Verstrickungen der Vergangenheit hilft, die Verletzungen zu verstehen, die das nationalstaatlich geprägte Europa der Würde von anderen, aber auch sich selber zugefügt hat. Selbstbild und Afrikabild hängen also eng zusammen. Es reicht nicht aus, Afrika als „Chancenkontinent“ zu definieren und darauf zu hoffen, dass sich daraus eine positivere Sicht auf den bisher als Krisenkontinent vorgestellten Nachbarn von selber ergibt: Die Überheblichkeit, mit der gerade auch junge Deutsche auf ihre Erfahrungen in Afrika reagieren, basieren auf einer unkritischen Haltung gegenüber der eigenen Kultur und ihrer „Entwicklung“. Die Grenzen der Technisierung und des Fortschritts, wie sie durch die industrielle Revolution in Europa ausgelöst wurden, sind nicht reflektiert. Ein Wachstum, das die Umwelt zerstört und sich als unfähig erwies, das Versprechen, alle Menschen gleichermaßen am Wohlstand teilhaben zu lassen, einzulösen, kann nicht mehr die entscheidende Größe für eine Bewertung von Kulturen darstellen. Das Fach Geschichte ist zwar in besonderer Weise herausgefordert, wo es um den Kolonialismus geht. Doch ist diese Disziplin noch immer stark

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durch das Denken des 19. Jahrhunderts geprägt, in dem es entstand. So wird in diesem Kontext das zentrale Ordnungselement unglaubwürdig, auf dem das schulische Curriculum im Fach Geschichte noch immer basiert: die in linearer Abfolge des Fortschritts dargestellte Chronologie des Westens. Eine Orientierung in der Zeitdimension, die die Vielfalt menschlicher Aktivitäten („agency“) im weltgeschichtlichen Maßstab reflektiert, wird bisher nicht vermittelt. Eine solche macht es erforderlich, dass die nationalstaatliche Gliederung aufgehoben wird und auch die meist als starr dargestellten Grenzen Europas verflüssigt werden. Nur so kann das Bewusstsein einer verantwortlichen Teilhabe an einer Weltgemeinschaft, in der sich Aufgaben für alle stellen, gefördert werden. Geschichte ist „entangled“, auf vielfache Weise verbunden und verflochten zwischen den Kulturen. Dieser Zusammenhang kann aber nur verdeutlicht werden, wenn der Überlegenheitsmythos zurückgenommen wird. Gelernt werden muss eine kulturelle Demut, die alle Elemente der Verbindung gleichermaßen gelten lässt. Es bedarf also einer „anderen“ Bildung, wie Bärbel Völkel sie zu Recht fordert. Ein integriertes, kulturwissenschaftlich orientiertes Fach Weltkunde scheint mir dafür geeigneter als der bisherige Geschichtsunterricht. Damit würde auch der Anteil der Teile, die reine Politikgeschichte vermitteln, reduziert und durch eine Umweltgeschichte ersetzt werden, die stärker die natürlichen Gegebenheiten berücksichtigt. Doch geht es nicht nur um kognitive Elemente, sondern darum, Strukturen des 19. Jahrhunderts, die weiterhin die Erfahrungswelt prägen, aufzulösen. Traditionen des Obrigkeitsstaates leben insbesondere in der Erziehung und im Schulwesen weiter. Schüler*innen befinden sich täglich in der polaren Rollensituation als unterlegenes Wesen, das auf Personen angewiesen ist, die über weitreichende Autorität verfügen und zwar nicht nur in Bezug auf Sachwissen. Vielmehr verteilen Erwachsene im Rahmen eines „heimlichen Lehrplanes“ auch die Sozialchancen für die Zukunft. Sie vermitteln dabei auch die Fähigkeiten, die nötig sind, sich durch Anpassung, Gehorsam, Unterwerfung sowie Herrschaft über vermeintlich Schwächere in diesem Geflecht zu positionieren. Die Forderung der „Entkolonisierung“ muss ernstgenommen werden, dabei sind Schule und Lernen deutlicher dialogisch anzulegen: als gemeinsame und ergebnisoffene Erkundung von Material, das angeboten, aber nicht verordnet wird. Zentrale Ziele der Lehramtsausbildung müssen dazu neu durchdacht werden: sie favorisieren bisher für die Lehramtsrolle ein selbstbewusstes Auftreten, das auf der Über-

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zeugung basiert, Sachwalter*in des für die Zukunft erforderlichen Wissens zu sein. Die Lehrperson hat verinnerlicht, dass sie niemals Unwissen und Schwächen eingestehen darf und sie hat Techniken eingeübt, wie sie eigene Defizite verschleiert: ein typisch koloniales Verhalten. Stattdessen gilt es hier, die Fähigkeit zu einer neuen freudigen Beobachtung der Vielfalt einzuüben. Die Fähigkeit zu einer Partnerschaft zwischen Afrika und Europa muss also zunächst einmal in der eigenen Umgebung eingeübt werden.

L ITERATUR https://www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/2014/maerz/140321_pm _025_Die-neue-Afrika-Politik-des-BMZ/25_Die_neue_Afrikapolitik_ des_BMZ.pdf http://www.bmz.de/de/ministerium/ziele/ziele/2030_agenda/index.html http://politik-im-spiegel.de/die-neue-afrika-politik/ (aufgerufen am 27.3.2016). BLEY, HELMUT u.a.: Kolonialismus. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart (2007), Sp. 873- S. 896. BACHMANN-MEDICK, DORIS: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg 2007. BECHER, URSULA A. J.: Geschichtsinteresse und historischer Diskurs. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Stuttgart 198. BUDDE, GUNILLA / CONRAD, SEBASTIAN / JANZ, OLIVER (Hrsg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006.. CÉSAIRE, AIMÉ: Über den Kolonialismus. Berlin 1968. CONRAD, SEBASTIAN / RANDERIA, AHALINI / RÖMHILD, REGINA (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichtsund Kulturwissenschaften, 2. Auflage Frankfurt/New York 2013. CONRAD, JOSEPH: Herz der Finsternis. Stuttgart 2009. DARWIN, JOHN: Das unvollendete Weltreich. Frankfurt/New York 2013. DINZELBACHER, PETER: Mentalität. In: Sachwörterbuch der Mediävistik. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1992. S. 521-524. FANON, FRANTZ: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main 1966. FLACHOWSKY, SÖREN / STOECKER, HOLGER (Hg.): Vom Amazonas an die Ostfront. Der Expeditionsreisende und Geograph Otto Schulz-Kampfhenkel (1910-1989), Wien 2011.

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Schattenseiten des Nationalstaates Menschen ‚mit’ (und ‚ohne’) Geschichte in Einwanderungsgesellschaften

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D IE

PATRIOTISCHEN

E UROPÄER GEGEN ABENDLANDES

DIE I SLAMISIERUNG DES UND IHR

V OLKSVERSTÄNDNIS

PEGIDA1 irritiert seit Oktober 2014 die deutsche Gesellschaft: Woche für Woche gingen bis Januar 2015 immer mehr Menschen auf die Straße, um unter anderem für den „’Schutz der christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur’“2 zu demonstrieren. Multikulturalität wird von den Anhängern dieser Protestbewegung abgelehnt, insbesondere der Islam vertrage sich nicht mit den europäischen Werten und der deutschen Leitkultur.3 Dem Schutz der Heimat wird ein hoher Stellenwert eingeräumt, wobei hier insbesondere Kultur und Geschichte eine große Rolle spielen.4 Die Menschen, die für PEGIDA stehen, sind gebildet, haben einen Arbeitsplatz5 und sie 1

Das Phänomen PEGIDA steht hier stellvertretend für rechtspopulistische Bewegungen in demokratischen Nationalstaaten.

2

Geiges, Lars / Marg, Stine / Walter, Franz: PEGIDA. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: transcript 2015. S. 17.

3

Ebd., S. 120.

4

Ebd., S. 93.

5

Ebd., S. 65.

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verstehen sich als gesellschaftspolitische Avantgarde: Man habe, im Gegensatz zur Mehrzahl der Deutschen `verstanden`, in welcher Gefahr sich Deutschland durch die muslimische Zuwanderung befinde.6 An der Religion des Islam macht sich offensichtlich für PEGIDA-Anhänger die Wahrnehmung des kategorial Anderen fest.7 Eine Referenzgröße ist hierbei u. A. Thilo Sarrazin8, der bereits im Jahr 2010 in seinem Buch Deutschland schafft sich ab vor einer ‚muslimischen Überfremdung’ warnte.9 Auch, wenn bei Pegidisten eine rechte politische Orientierung mit nationalen Identifikationen und dem Bezug auf eine deutsche Leitkultur stärker mit Ressentiments gegenüber Muslimen und dem Islam einhergeht, können

6 7

Ebd., S. 122. Ebd., S. 123 und 182. Nach Birgit Rommelspacher ist die kategoriale Andersheit ‚des Islam’ auf eine „Islamisierung“ der Einwanderungsdebatte in Deutschland zurück zu führen. Rommelspacher diagnostiziert, infolge der Akzeptanz, dass Deutschland seit den 1990er Jahren ein Einwanderungsland ist, sei der frühere politisch-ökonomische Diskurs vom `Gastarbeiter` auf den nun kulturell konnotierten Diskurs „Muslime“ gewechselt. Im Rahmen dieses kulturellen Einwanderungsdiskurses gehe es zentral darum, „welche Einwanderer(innen) die Mehrheitsgesellschaft akzeptieren kann und will und welche ihr als so fremd gelten, dass sie glaubt, sie nicht integrieren zu können“. Vgl. Rommelspacher, Birgit: „Identitätspolitik in Deutschland zwischen Islamisierung und (RE-) Christianisierung.“ In: Islam und Diaspora. Analysen zum muslimischen Leben in Deutschland aus historischer, rechtlicher sowie migrations- und religionssoziologischer Perspektive. Hrsg. von Rauf Ceylan. Frankfurt am Main 2012. S. 205–220, hier S. 205. Ebenso: Ceylan, Rauf: Muslime und Diaspora – interdisziplinäre Forschungsfragen im Einwanderungskontext. In: Islam und Diaspora. Hrsg. von Rauf Ceylan. Frankfurt am Main 2012. S. 9-27, hier S. 18. Rommelspacher sieht in der sich zeitgleich etablierenden Re-Christianisierung der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland einen identitären Selbstvergewisserungsdiskurs der Mehrheitsgesellschaft, die sich im ‚christlichen Abendland verwurzelt’ sieht. Auf diese Weise kann innerhalb der Mehrheitsgesellschaft nun zwar nicht mehr der ‚Gastarbeiter’, dafür aber der ‚Muslim’ als ‚der Andere und Fremde’ identifiziert werden. Ebd., S. 206.

8

Geiges, Lars / Marg, Stine / Walter, Franz 2015, S. 173.

9

Vgl. Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2010, S. 391.

S CHATTENSEITEN

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solche antimuslimischen Einstellungen überall in der deutschen Gesellschaft, wenngleich im Osten stärker als im Westen, festgestellt werden.10 In der Partei der AfD scheinen die Pegidisten und ihre Sympathisanten eine Partei gefunden zu haben, die ihre Position im politischen Raum vertritt. 11 PEGIDA wird derzeit in erster Linie in den Zusammenhang mit einer prinzipiellen Politikverdrossenheit gebracht.12 Diese verdankt sich nicht zuletzt einer Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie. Pegidisten plädieren u. A. für den Ausbau plebiszitärer Elemente im demokratischen Rechtsstaat, sowie einer stärkeren Hinwendung zu konservativen Leitvorstellungen und nationalen Interessen. Dabei vertreten sie ein Volksverständnis, das von homogenen Vorstellungen getragen ist und dem eine „’kollektive Vernunft’“13 zugestanden wird. Die Forschergruppe um den Politikwissenschaftler Franz Walter attestiert den Pegidisten ein eher identitäres statt eines pluralistischen Demokratieverständnisses, „da Pluralismus und Minderheitenrechte eine marginale Rolle in ihrem demokratischen Referenzrahmen einnehmen“.14 Insbesondere ‚die Anderen’ werden abgelehnt, wobei hier „das kulturalistisch-rassistische antimuslimische Ressentiment“ dominiert.15 Im Folgenden wird ein Gedankengang vorgestellt, der dem ohne Zweifel komplexen Phänomen von PEGIDA ein weiteres Element hinzufügt, das derzeit in der Debatte so noch nicht diskutiert wird. Das Beharren der Pegidisten auf Begriffen wie ‚Volk’, ‚Tradition’, ‚Identität’, ‚Geschichte’, ‚Kultur’ und ‚Nation’ wird als ein historisches Bewusstsein diagnostiziert. Wenn Pegidisten ein ethnisches Denkmuster mit gleichzeitiger Benennung des ‚kategorial Anderen’ bemühen, ist dies, so die These, durchaus kein zuverlässig rechtsextremes Denkmuster. Vielmehr kommt hier ein Differenzierungsmerkmal in einer komplexen und unübersichtlichen Welt zum Vorschein. Dieses wird, als weitere These, über die institutionalisierte Kommunikation von Geschichte in plurale und heterogene Nationalstaaten

10 Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz, 2015, S. 182-183. 11 Ebd., S. 154. Das Politbarometer vom Dezember 2015 sieht die AfD bei 9%, sie liegt gleichauf dem den LINKEN und nur 1% hinter den GRÜNEN. Vgl. http://www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Politbarometer/ vom 04.01.2016 12 Ebd., S. 192. 13 Ebd., S. 181. 14 Ebd. 15 Ebd.

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eingeführt. Pegidisten beharren, so wird hier argumentiert, auf der Rechtmäßigkeit und Gültigkeit der im heutigen Nationalstaat offensichtlich geltenden historischen Ordnung. Anschließend werden, unter Bezugnahme auf die interkulturelle Philosophie, Überlegungen zu einer veränderten Kommunikation von Geschichte in einer Einwanderungsgesellschaft vorgestellt. Hierbei bilden die unterschiedlichen historischen Bezüge der Staatsbürger die Grundlage für die Entwicklung eines zukunftsfähigen pluralen demokratischen Staates.

G ESCHICHTE

KANN

O RDNUNG

HERSTELLEN

Um die überall in Europa verstärkt auftretenden national-konservativen Denkmuster verstehen zu können, muss berücksichtigt werden, dass sich in der (post-) modernen Welt der Nationalstaat augenscheinlich historisch durchgesetzt hat.16 Diese Denkweise stellt die Grundlage allen politischen Handelns in unserer Welt dar. Nationalstaaten sind dabei in gewisser Weise ambivalente Gebilde: Auf der einen Seite zeigen sie sich als demokratische Rechtsstaaten, die die Pluralität und Heterogenität der auf ihrem Territorium lebenden Menschen rechtlich absichern. Gleichzeitig zeichnen sie sich durch eine historisch entstandene primäre funktionale Differenzierung aus.17 War die mittelalterliche Welt noch von universalen Herrschaftsansprüchen geprägt, begann spätestens mit der Reformation ein gesellschaftspolitischer Differenzierungsprozess, in dessen Folge sich aus der Universalität der ehemaligen Herrschaftsansprüche Handlungsfelder herauslösten, die sich zunehmend eigenständiger theoretisch und pragmatisch ausdifferenzierten. Die ehemals ständisch geprägte Welt mit ihren eindeutigen sozialen Platzierungen und Hierarchisierungen verlor ihre umfassend integrierende Deutungskraft und wurde durch „operative“ Einheiten, so genannte funktionale Teilsysteme,

16 Vgl. z.B.: Mann, Michael: Globalization, Macro-Regions and Nation-States. In: Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien. Hrsg. von Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz. Göttingen 2006. S. 21-31, hier S. 23-24. 17 Nassehi, Armin: Differenzierungsfolgen. Beiträge zu einer Soziologie der Moderne. Wiesbaden 1999. S. 14.

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ersetzt.18 Die einzelnen Teilsysteme stehen - und hier kommt ein neues Element innerhalb der Gesellschaft zum Tragen – nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, sondern jedes Teilsystem erfüllt seine Funktion autonom.19 Funktional differenzierte Gesellschaften beruhen auf dem Prinzip der Egalität, hier hat jeder Mensch einen gleich berechtigten und freien Zugang zu jedem Funktionssystem. Daher ist es wichtig, dass funktional differenzierte Gesellschaften rechtsstaatlich abgesichert werden. Funktional differenzierten Gesellschaften fehlt es allerdings an gesamtgesellschaftlichen sozialen Bindungsmechanismen, was für die Menschen, die in einer solchen Gesellschaft leben, zu einer Identitätsdiffusion führen kann: Niemand weiß mehr gewiss zu sagen, wer mit wem warum zusammen gehört und wo sein Platz in der Gesellschaft ist.20 Moderne Staaten sehen sich daher vor die Herausforderung gestellt, Inklusionsmechanismen zu entwickeln, die die Solidarität der ehemals eindeutigen, geburtsrechtlich festgelegten, Gruppenzugehörigkeiten ersetzen können.21 Hier wird eine weitere historische Entwicklung relevant, die zwar zeitlich etwas später einsetzte, dann allerdings parallel zur weiteren funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft stattfand. Im Zeitraum des ausgehenden 18. und gesamten 19. Jahrhunderts entstand die Idee der Nation, die – und das sollte in seiner Wirksamkeit nicht unterschätzt werden – zunehmend mit den staatlichen Institutionen und deren Territorium, dem Staatsgebiet, identifiziert wurde.22 Das institutionelle Gebilde des Staates mit seinen rationa-

18 Diese funktionalen Teilsysteme funktionieren auf der Grundlage von Kommunikationen. Die Gesellschaft erscheint im Zusammenhang funktionaler Teilsysteme nur noch als ein Horizont. Dennoch hindert das die gesellschaftlichen Kommunikationen nicht daran, so Nassehi, „sich mit Selbstbeschreibungen als Gesellschaft – meist synonym mit Nationalstaat oder zumindest an dessen Außengrenzen orientiert - zu versorgen“. Ebd., S. 16. Kursiv im Original. 19 Vgl. Baraldi, Claudio: Gesellschaftsdifferenzierung. In: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Hrsg. von Claudio Baraldi / Giancarlo Corsi / Elena Esposito. Frankfurt am Main 1997. S. 68. Funktionale Teilsysteme sind z.B. Religion, Politik, Wissenschaft und Politik. 20 Nassehi 1999, S. 156. 21 Ebd. 22 Die Identifikation von Staat und Nation kommt auch in den Begriffen ‚Staatsnation’ oder ‚Nationalstaat’ zum Ausdruck.

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len Verfahrensweisen im Zusammenhang mit seinen personenfernen funktionalen Teilsystemen bekam nun eine emotionale Komponente zur Seite: die imaginierte Gemeinschaft derjenigen, die den Boden des Territoriums bewohnten und die dem funktionalen Staat eine „Seele“ einzuhauchen, ihm ein „geistiges Prinzip“ zu unterlegen in der Lage waren.23 Mit der „Erfindung der Nation“24 war nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung eine neue territoriale, institutionelle und emotionale Heimat gefunden, die sich fortan in der Lage zeigte, neue soziale Bindungen aufzubauen und ein Gemeinschaftsprojekt zu entwickeln. Dieses Gemeinschaftsprojekt war deshalb möglich, weil sich ebenfalls im 19. Jahrhundert die Wissenschaft als weiteres funktionales Teilsystem ausdifferenzierte und in diesem Zusammenhang auch die Geschichtswissenschaft an Bedeutung gewann.25 Über die nun generierten Meistererzählungen, die die Geschichte der Nation von ihren ‚Ursprüngen‘ her erzählte, konnte der Idee der Nation eine Ideologie unterlegt werden, die die ehemaligen theologischen Heilsgeschichten (wo komme ich her, wo gehe ich hin) zu ersetzen vermochte. Der Nationalismus konnte sich als eine ‚säkulare Religion‘ etablieren, deren ‚Priester‘ die Historiker wurden, die fortan zuständig waren für eine neue ‚Heilsgeschichte‘, nämlich der des nationalen Vaterlandes mit seinem ‚auserwählten‘ Volk, das den Boden des Territoriums als ‚heiliges Land‘ für sich beanspruchen darf.26 Diese Geschichte stattete das Volk, das den Boden des Territoriums ‚schon immer‘ bewohnte, mit ‚Wurzeln‘ aus, die weit in der Vergangenheit lagen. Aus diesen ‚Wurzeln‘ heraus entwickelte sich, so konnte nun kohärent dargestellt werden, dessen einzigartige Kultur, die schützenswert ist, weil sich hier eine Werte- und Solidargemeinschaft wiederfindet, die sich sozial mit der Nation verbunden und für diese verantwortlich weiß. Über ihre ‚eigene und unverwechselbare‘ Ge-

23 Vgl. Renan, Ernest: Was ist eine Nation?. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hrsg. von Michael Jeismann / Henning Ritter. Leipzig 1993. S. 290–311, Zitate auf S. 308. 24 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt am Main 1996. 25 Vgl. auch: Hroch, Miroslav: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen 2005. S. 149–150. 26 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2007. S. 27–34.

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schichte wurde die Nation also historisch legitimiert und damit auch zukünftig legitimierbar. Gleichzeitig konnte das Staatsvolk, das seine ‚Wurzeln‘ in der Geschichte der Nation erkannte, nach innen hin homogenisiert werden zu einer ‚super-family‘, der Ethnie. In die indifferente, komplexe und jedem Menschen offenstehende Gesellschaft des Staates war nun mit Hilfe einer ursprungsorientierten historischen Erzählung ein Ordnungsmoment eingezogen, über das für einen Teil des Staatsvolkes eine Vollinklusion in die Gemeinschaft der Nation möglich wurde. In der Folge kann dann ‚plausibel‘ begründet werden, wer in der Nation nicht ‚wirklich‘ dazu gehört: Muslime zum Beispiel können zwar Deutsche sein (auf der Ebene des demokratischen Rechtsstaates), der Islam gehört deshalb aber noch lange nicht zu Deutschland (auf der Ebene der Nation als einer imaginierten und historisierten Gemeinschaft).27 Wenn PEGIDA also von der Erhaltung der deutschen Kultur spricht, dann argumentieren diese Menschen historisch, indem sie auf die Herkunfts-, Leidens- und Wertegemeinschaft der Nation als einem ‚geistigen Prinzip‘28 rekurrieren und sich dazu bekennen.

K ULTUREN UND IHR

BESONDERER

W ERT

Aufgrund des Vernichtungswillens der Nationalsozialisten gegenüber dem jüdischen Volk und seiner Kultur hat sich die Weltgemeinschaft für einen besonderen Schutz aller Kulturen ausgesprochen. So bekräftigte die UNESCO Generalkonferenz im November 2001 in ihrer Erklärung zur kulturellen Vielfalt, „dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe auszeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeu-

27 Vgl. entsprechende Einlassungen von Volker Kauder aus dem Jahr 2012. http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article107786292/Kauder-Musli me-gehoeren-zu-Deutschland-der-Islam-nicht.html, vom 14. 01. 2016. 28 Vgl. Renan 1993, S. 290–311, hier S. 307. Renan rekurriert zwar auf die „spirituelle Familie“ und nicht die Ethnie. Seine Einlassungen zum Ahnenkult sind jedoch, wie später gezeigt wird, geeignet, über die Historisierung eines Personenverbandes eine neue Ethnie zu generieren.

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gungen umfasst“. Darüber hinaus stellt UNESCO fest, dass „Kultur im Mittelpunkt aktueller Debatten über Identität, sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Entwicklung einer Wissensgesellschaft steht.“ Gleichzeitig wird kulturelle Vielfalt als eine „Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität“ markiert, „die [für die] Menschheit ebenso wichtig [ist] wie die biologische Vielfalt für die Natur“ (Artikel 1).29 Angela Merkel formulierte im Jahr 2004 in einem Beitrag zu „Kultur und Nation“: „Der Zusammenhang von Kultur und Nation ist im Allgemeinen kaum umstritten, im besonderen Fall unseres Landes geradezu offensichtlich [...]. Kultur ist Heimat, Zugehörigkeit und Teilnahme [...]. Kultur ist die ‚zweite Natur’ des Menschen [...]. Kultur ist nie statisch [...]. Das Tradierte wird immer neu angeeignet, umgebildet, ergänzt.“30

Bei aller möglichen Evidenz zeigen sich dennoch diesen Einlassungen ausgesprochen schwierige Implikationen:31 Zum einen wird deutlich, dass Kultur und Nation im politischen Handeln als identisch angesehen werden.32 Demnach wäre also durchaus der Schluss zulässig, es gäbe eine ‚deutsche Kultur’. Auch Ernest Renan sprach von nationalen Kulturen, was zeigt, dass die Identifizierung einer Nation 29 Alle Zitate siehe: http://www.unesco.de/infothek/dokumente/unesco-erklaerung en/erklaerung-vielfalt.html, vom 05.01.2016 30 Merkel, Angela: Kultur und Nation. In: Alles nur Theater? Beiträge zu Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Hrsg. von Norbert Lammert. Köln 2004. S. 227–234, Zitate auf S. 229. Online einsehbar unter http://www.kas.de/upload/dokumente/ kunst_kultur_merkel.pdf, vom 05.01.2016. 31 Die deutsche Bundeskanzlerin wird hier insofern zitiert, als dass an ihrer Äußerung erkennbar wird, wie sich die UNESCO Erklärung in eine politische Haltung übersetzt. Hier zeigt sich die Ambivalenz des Bedürfnisses, Kulturen einerseits als einzigartig und schützenswert zu markieren und sich andererseits zu der je eigenen bekennen zu müssen, will man diese nicht relativieren. 32 Hier handelt es sich nicht um eine parteipolitische Aussage. Auch die SPD vertritt einen solchen Gedanken, wenn sie z.B. im Jahr 2012 im Rahmen einer Gesetzesinitiative forderte, Kultur (und Sport) sollten im Grundgesetz als Staatsziele eingesetzt werden. http://www.spdfraktion.de/themen/erweiterungder-staatsziele-um-kultur-und-sport, vom 05.01.2016.

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mit ihrer Kultur historisch offensichtlich zur Idee der Nation gehört.33 Wenn PEGIDA also für die Erhaltung der deutschen Kultur eintritt, dann dürfte daran historisch gesehen nichts ehrenrühriges sein. Im Grunde zeigt sich hier nichts Anderes als eine patriotische (nicht: verfassungspatriotische) Einstellung, die von ‚Vaterlandsliebe’ geprägt ist. Schließlich bekräftigt auch UNESCO, dass Kultur und sozialer Zusammenhalt untrennbar miteinander verbunden sind. Hier jedoch zeigt sich eine prekäre Ambivalenz: Einerseits kann diesem Gedanken sicherlich spontan zugestimmt werden, weil er mit dem Alltagsempfinden korrespondiert. Andererseits definiert der Nationalismusforscher Ernest Gellner „Nationalismus [als] eine Form politischen Denkens, die auf der Annahme beruht, dass soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt.“34 Hier zeigt sich, dass sowohl in die weltpolitische wie auch die nationalstaatliche Definition von Kultur ein nationalistischer Diskurs, sogar ein Grundkonsens, eingelagert ist, den PEGIDA auf die Straße bringt. Hinzu kommt, dass im nationalistischen Diskurs „die unteilbare Einheit der Bevölkerungsgruppe proklamiert (wird), die sich historisch in ein und demselben Staat zusammen geschlossen haben“.35 Ein differenzierender Diskurs von ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘ kann als anschlussfähig an eine solche Denkweise gesehen werden.

W ENN K ULTUREN

NATURALISIERT WERDEN

...

Hinzu kommt ein weiteres kritisches Moment: Wer Kultur zur ‚zweiten Natur‘36 des Menschen erklärt, macht damit eine folgenreiche Analogiebildungen möglich. Die Erhaltung der kulturellen Vielfalt wird damit für die Menschheit ebenso überlebenswichtig wie die biologische Vielfalt für die

33 Vgl. Renan 1993, S. 304–305. 34 Gellner, Ernest: Nationalismus: Kultur und Macht. Berlin 1999. S. 17. 35 Balibar, Etienne / Wallerstein, Immanuel: Rasse. Klasse. Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg/Berlin 1990. S. 266. 36 Kultur und Geist in einen neobiologistischen Rahmen einzubinden, ist durchaus auch ein in wissenschaftlichen Zusammenhängen diskutierter Ansatz. Vgl. z.B.: Blackmore, Susan: Die Macht der Meme oder Die Evolution von Kultur und Geist. Heidelberg 2010.

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Natur.37 Kultur, zumindest in soziologischen Zusammenhängen ein an die Gesellschaftlichkeit des Menschen gebundenes, beobachterabhängiges Phänomen38, wird in einem solchen Denkrahmen biologisiert und damit auch essentialisiert (man hat sozusagen definitiv immer eine unveränderliche39 Kultur, so wie man definitiv und unveränderlich blaue Augen hat). Kultur wird zu einem Merkmal.40 Da im vorliegenden Zusammenhang Kultur und Nation synonym gedacht werden, liegt der Verdacht nahe, dass die Kultur die Natur der Nation ist. Das bedeutet letztendlich nichts anderes, als dass derjenige, der in die deutsche Kultur hineingeboren ist, eine ‚deutsche Natur’ hat und diese wäre ‚natürlich‘ anders als eine ‚syrische‘ oder ‚griechische Natur‘. Wer Kultur als eine der Biologie analoge ‚zweite Natur‘ versteht, der gerät in ein durchaus prekäres Denkmuster: Aus Biologismus kann Kulturalismus werden. So, wie es einen biologischen Artenschutz gibt, kann dann für einen „kulturellen Artenschutz“ plädiert werden (siehe PEGIDA)41; und so, wie biologische Arten sich nicht mischen sollten, kann man analog auf die Idee kommen, auch verschiedene Kulturen sollten sich nicht mischen, weil sie ansonsten ‚degenerieren‘, was zum ‚geistigen Tod‘ der Menschheit führen könnte.42 Damit gerät der so denkende Mensch in eine bedenkliche Nähe zu einem differenzialistischen Rassismus, der auch als ein „Rassismus ohne Rassen“43 bezeichnet wird:

37 Siehe Artikel 1 der UNESCO Erklärung zur kulturellen Vielfalt. Vgl. Fn. 30. 38 Moebius, Stephan: Kultur. Bielefeld 2009. S. 8. Nassehi 1999, S. 211. 39 ‚Die Kultur’ kann sich dennoch im Rahmen einer solchen Denkweise evolutionär verändern, so wie sich auch körperliche Merkmale im Laufe des Lebens ändern. 40 Nassehi 1999, S. 219. 41 Ein solcher ‚kultureller Artenschutz‘ lässt sich auch als ‚unerwünschte Nebenwirkung’ aus der UNESCO Erklärung zur kulturellen Vielfalt herauslesen. Bezüglich eines kulturellen Artenschutzes bezieht Jürgen Habermas eindeutig Stellung: „Einen kulturellen Artenschutz kann und darf es nicht geben.“ http://www.philosophisches-forum.de/Archiv/Themengruppen/ Gruppe_einzelne_Denker/Habermas/hauptteil_habermas.html, vom 06.01.2016. 42 Vgl. Wiegel, Gerd: Nationalismus und Rassismus. Zum Zusammenhang zweier Ausschließungspraktiken. Köln 1995. S. 65. 43 Vgl. Balibar, Etienne: Gibt es einen ‚Neo-Rassismus‘? In: Balibar, Etienne / Wallerstein, Immanuel: Rasse. Klasse. Nation. Ambivalente Identitäten,

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Die biologische Rasse wird hier durch die naturalisierte Kultur ersetzt; der Argumentationsgang bleibt jedoch strukturell der Gleiche. Aber nicht nur dieser Analogieschluss von Biologie zu Kultur naturalisiert das Phänomen ‚Kultur‘. Auch bestimmte Denkweisen im Zusammenhang mit Geschichte erlauben deren Naturalisierung und damit Essentialisierung. In der Geschichtswissenschaft hat sich eine Denkweise durchgesetzt, die auf die Phänomene des Gedächtnisses, der Erinnerung und der Erinnerungskulturen rekurriert. Hier gewinnt die Unterscheidung zwischen dem kommunikativen und einem kulturellen Gedächtnis an Relevanz. Bezieht sich das kommunikative Gedächtnis stets auf lebende Personen, die innerhalb von 3-4 Generationen ihre erlebte Geschichte weitergeben, vergeht dieses mit dem Versterben seiner Träger. Die erlebte Geschichte muss nun in einen neuen Gedächtnisrahmen des Erinnerns übergehen, der von Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis bezeichnet wurde. Erinnerungen können über diesen Gedächtnisrahmen fundiert werden, indem man sie auf Ursprünge hin bezieht, wodurch ein genealogisches Moment in die erinnerte Geschichte Einzug hält. Damit die ‚Herkunftsgemeinschaft‘ ihre Geschichte nicht vergisst, bedarf es einer permanenten Einweisung in dieselbe. „Dadurch kommt eine Kontrolle der Verbreitung zustande, die einerseits auf Pflicht zur Teilhabe drängt und andererseits das Recht auf Teilhabe vorenthält. Um das kulturelle Gedächtnis sind immer mehr oder weniger strikte Grenzen gezogen. Während die einen ihre Kompetenz (oder Zugehörigkeit?) durch förmliche Prüfungen ausweisen […] bleiben andere von solchem Wissen ausgeschlossen.“44

Eine vom Ursprung her erzählte Geschichte stellt für die Menschen, die sich in sie hinein imaginieren, ein folgenreiches transgenerationelles Bindeglied dar: Sie wird zum ‚Lebensaft‘ einer Ethnie: So, wie das Blut die Familien biologisch verbindet, verbindet Geschichte die gleichen Menschen kulturell miteinander. Hinzu kommt, dass über Geschichte und ihre Kultur die in den funktionalen Teilsystemen fragmentierte Person nunmehr in eine

Hamburg/Berlin 1990. S. 28 und 30. Ein Rassismus ohne Rassen betont die Unaufhebbarkeit von kulturellen Differenzen. 44 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007. S. 50–55.

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„ganze Person“ zurück verwandelt werden kann.45 Das wirkt identitätsbildend und identitätsstabilisierend. Geschichte macht es nämlich möglich, „nach der lebensweltlichen Verwurzelung“ von Menschen zu fragen.46 Die Wurzelmetapher jedoch erweist sich im vorliegenden Zusammenhang wiederum als ausgesprochen schwierig: Zum einen ermöglicht sie eine Assoziation zum Boden (des Territoriums). Wer möchte, kann imaginieren, dass Geschichte und Boden zusammengehören, was durchaus auch über den unbezweifelbaren Zusammenhang von Raum und Zeit belegt werden könnte. Über Geschichte, die sich als eine Meistererzählung47 zeigt, kann eine Ethnie, die ein Territorium, einen Nationalstaat, bewohnt, ‚historisch legitimiert’ Anspruch auf diesen Boden erheben. Gleichzeitig statten Wurzeln Menschen mit „Kraft und Authentizität“ aus.48 Eine vom Ursprung her erzählte Geschichte, die sinnstiftend und orientierend in der Gegenwart wirken soll, authentifiziert Menschen offensichtlich und deutet sie als einen nach innen hin homogenisierten Verband. Mit Hilfe einer Meistererzählung, unter der heute „eine kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete und in der Regel auf den Nationalstaat ausgerichtete Geschichtsdarstellung, deren Prägekraft nicht nur innerfachlich schulbildend wirkt, sondern öffentliche Dominanz erlangt“49 verstanden wird, können Menschen sozial konstituiert und in die Gemeinschaft derjenigen mit der gleichen Geschichte, die zugleich auch die Geschichte der Nation ist, als

45 Nassehi 1999. S. 219. 46 Rüsen, Jörn (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde. Köln/Weimar/Wien 2001. S. 2. 47 So gibt es nach Jörn Rüsen, an dem sich die deutsche und internationale Geschichtsdidaktik derzeit stark orientiert, „keine kulturellen Identitäten ohne Meistererzählungen“. Jörn Rüsen, zitiert in: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Hrsg. von Konrad H. Jarusch & Martin Sabrow. Göttingen 2011. S. 10. 48 Gellner, Ernest: Nationalismus: Kultur und Macht, deutsche Ausgabe, Berlin 1999. S. 122. 49 Jarausch, Konrad, H. / Sabrow, Martin: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2011. S. 16.

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ganze Person inkludiert werden.50 Über die historische Meistererzählung konnten der Sinnverlust und das Integrationsdefizit, die mit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung verbunden waren, offensichtlich ‚geheilt’ werden, da diese in der Lage ist, „Antworten auf die Frage nach kultureller Identität zu geben“51. Gleichzeitig versieht sie die eigene Kultur mit dem Etikett der ‚Zivilisiertheit‘.52 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund lassen sich auch die von unterschiedlichen Verbänden publizierten Verlautbarungen verstehen, die im Zusammenhang mit dem Geschichtsunterricht, dem Ort, an dem eine institutionell verantwortete historische Bildung geschieht, stehen. So veröffentlichte der Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands im Jahr 2010 eine Stellungnahme zum Geschichtsunterricht, in dem es hieß: „Heranwachsende sollen lernen, mithilfe von elementaren historischen Kategorien, Fragestellungen und Verfahren die Komplexität von geschichtlicher Kontinuität und historischem Wandel zu erschließen. Dazu haben sie nur dort Gelegenheit, wo das Schulfach Geschichte zentrale historische Themen in deren diachronen Zusammenhängen entfaltet und durch Kontextualisierung Kohärenz entstehen lässt. [...] Der Geschichtsunterricht dient mit der Vermittlung von historischem Orientierungswissen von der Antike bis zur Gegenwart nicht allein der historischen Bildung, sondern auch einer grundlegenden Allgemeinbildung.“53

Bereits im Jahr 2007 konnte man beim Geschichtslehrerverband lesen: „Das Fach Geschichte ist in allen Schularten ein zentrales Fach, weil seine Inhalte das ‚Gedächtnis‘ der Gesellschaft darstellen. […] Wir treten mit unseren Bildungsstandards bewusst Tendenzen entgegen, die einer ‚Auflösung’ unseres kulturellen Gedächtnisses Vorschub leisten.“ [...] Geschichte ist „ein unverzichtbares Bildungsfach, das bis in die Umgangssprache hinein historische Bilder, Begriffe und Vorstellungen, die zum kulturellen 50 Vgl. Völkel, Bärbel: Nationalism – Ethnicity – Racism? – Thinking History in a World of Nations, Review of History and Political Science. Vol. 2, No. 1, S. 29– 50, hier Seite 37– 44. 51 Rüsen, Jörn: Geschichte im Kulturprozess. Köln/Weimar/Wien 2002. S. 217. 52 Ebd. 53 http://www.historikerverband.de/fileadmin/_vhd/pdf/Stellungnahme_zu_Hess__ Bildungsstandards.pdf, vom 06.01. 2016.

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und sprachlichen Allgemeingut gehören, vermittelt, ohne deren Verständnis eine störungsfreie Kommunikation nicht mehr gegeben ist. […] Entscheidend für den Einzelnen wie für die Gesellschaft ist der Erwerb einer Identität über die wachsende Beschäftigung mit der eigenen Geschichte.“54 Und auch in der Geschichtsdidaktik wurde als Folge der Verknüpfung von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur ein entsprechender Zusammenhang hergestellt. Über den Topos ‚Sinnbildung über Zeiterfahrung‘ hat sich die historische Bildung auf die Entwicklung einer historischen Identität ausgerichtet. „Historische Identität synthetisiert [...] das Gewordensein eines Subjekts oder einer sozialen Einheit mit dessen Zukunftsentwürfen“55, sie ist stets auf „kulturelle Kohärenz“56 ausgerichtet.57 Damit wirkt die heutige historische Bildung als eine kulturelle Praxis ethnozentrierend.58 Paul Ricoeur spricht in diesem Zusammenhang von der „Unheimlichkeit der Geschichte“.59 Wer mit dem Referenzrahmen des historischen Gedächtnisses argumentiert, der pfropft, „gestützt auf die Erzählung der Alten, [...] das Band der Abstammung auf den gewaltigen genealogischen Baum auf, dessen Wurzeln sich im Boden der Geschichte verlieren. Und sobald die Erzählung der Ahnen ihrerseits aufs Neue dem Schweigen anheimfällt, obsiegt die Anonymität des Bandes der Generationen über die noch leibli-

54 Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (Hrsg.): Bildungsstandards Geschichte. 5.-10. Jahrgangsstufe, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2007. S. 9, 11, 12. 55 Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2013. S. 270. 56 Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2013. S. 23. Kursiv im Original. 57 Vgl. Völkel, Bärbel: Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Überlegungen zu einem uneindeutigen Begriff. In: Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Hrsg. von Heinrich Ammerer / Thomas Hellmuth / Christoph Kühberger. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2015. S. 73–91. 58 Vgl. Rüsen 2002. S. 210. 59 Ricoeur, Paul: Gedächtnis. Geschichte. München: Wilhelm Fink 2004. S. 605. Wer einen „Kult der Ahnen“ pflegt, der verortet sich eindeutig im Denken des 19. Jahrhunderts. So formulierte Renan: „Wie der einzelne ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und von Hingabe. Der Kult der Ahnen ist von allen am legitimsten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind.“. Renan 1993, S. 308.

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che Dimension des Bandes der Abstammung. Zurück bleibt dann nur noch die abstrakte Annahme einer Abfolge der Generationen: Die Anonymität hat das lebendige Gedächtnis in die Geschichte umkippen lassen. […]“ Dabei bleibt, so Ricoeur, „der Hauptbezug des historischen Gedächtnisses die Nation“.60 Wenn aber die deutsche Geschichte letztlich nichts Anderes als eine Abstammungsgeschichte ist, wer könnte es Menschen dann verargen, wenn sie den Islam als kulturell fremd und nicht mit der deutschen Identität vereinbar wahrnehmen? Nichts Anderes wird in der Schule vermittelt.61 Und auch in der deutschen Geschichtskultur finden sich keine Hinweise darauf, der Islam könne zu Deutschland gehören, obwohl Muslime seit dem Anwerbeabkommen Deutschlands mit der Türkei im Oktober 1961 heute auch als deutsche Staatsbürger in Deutschland leben und ihre Religion und Kultur praktizieren. Bis heute haben sie keinen Eingang in die deutsche Geschichtsschreibung und damit in die deutsche Geschichtskultur gefunden.62 Ein solches Geschichtsverständnis, das sich einer transgenerationellen Zugehörigkeit verpflichtet sieht, „sichert den Vorrang der horizontalen Identität gegenüber sämtlichen Formen vertikaler Solidarität“.63 Das singuläre Identitätsmodell, das sich in der Vorstellung einer historischen, kulturellen oder nationalen Identität manifestiert, wird heute durch-

60 Ebd., S. 609. 61 Es kommt hierbei nicht so sehr darauf an, was aus dem Geschichtsunterricht behalten wurde oder nicht. Wichtig ist die (stabile) Wahrnehmung, wer thematisiert wird und wer nicht. Vgl. Völkel, Bärbel: Nationalism – Ethnicity – Racism? – Thinking History in a World of Nations, Review of History and Political Science. Vol. 2, No. 1. S. 29-50. Hier S. 44–46. Dies.: Von ungewollten Nebenwirkungen eines traditionellen chronologischen Geschichtsunterrichts. Nationalismus als historische Sinnbildung? In: HMRG 26 (2013/2014), S. 401–412. 62 Vgl. Völkel, Bärbel: Wie lange muss jemand hier leben? Migration und Identität. In: Public History Weekly 2 (2014) 7, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1284. Auch: Alavi, Bettina: Migration und Geschichtskultur – 40 Jahre Ford-Streik. In: Public History Weekly 1 (2013) 10, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-608. Hier zeigt sich, dass deutsche Migrant_innen offensichtlich ein Diasporagedächtnis entwickeln, weil sie auch nach Generationen im Einwanderungsland fremd geblieben sind. 63 Ricoeur 2004, S. 626.

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aus scharf kritisiert.64 Nationen und Kulturen sind noch nie so homogen und in sich geschlossen gewesen, wie ihnen mit dem Kollektivsingular ‚kulturelle Identität‘ unterstellt wird.65 Bedenkt man jedoch die normative Kraft der sozialen Integration in eine kulturelle Gemeinschaft mit langer Tradition, die sich gegenüber einer eher unverbindlichen, flüchtigen und unübersichtlichen pluralen Gesellschaft in einer globalisierten Welt der gegenseitigen Solidarität sicher sein kann, dann wird plausibel, warum die historisch-nationale-kulturelle Identität offensichtlich gerade aktuell wieder eine solch hohe Faszination ausübt: Nur sie scheint in der Lage, Übersichtlichkeit und eine gewisse Zukunftsperspektive in eine von Kontingenzerfahrungen geprägte Lebenswelt zu bringen.66 Die historische Identität, die immer auch eine kulturelle Identität ist, nimmt dabei den Charakter einer Masterkategorie an.67 Über die Geschichte der Nation wird, so der hier vorgestellte Befund, die Dominanzkultur eines konkreten sozialen, nämlich nationalen, Verbandes als ‚kulturelle Familiengeschichte’ ontologisiert: Die Ethnie kann sich als eine unhintergehbare Entität verstehen. Das ist nicht naiv, wie Armin Nassehi schreibt68, sondern Selbst stabilisierend – wenngleich auch nur in diesem Referenzrahmen. Weil Nicht-Zugehörigkeit ein Kennzeichen der Moderne ist, konnten sich, so wurde gezeigt, die nationalen Kulturen als wirkmächtige Kompensationsmodelle entwickeln; sie versahen „die unvertraut gewordene Welt mit dem Siegel der Vertrautheit“.69 Die im Zusammenhang mit den globalen Wanderungsbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert entstehenden ‚multikulturellen Gesellschaften’ bleiben insofern „dem Denken in Kulturen und Na-

64 Vgl. z.B. Sen, Amatrya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2012. S. 58–60. 65 Ebd., S. 60. 66 Vgl. Hidas, Zoltán: Im Bann der Identität. Zur Soziologie unseres Selbstverständnisses. Bielefeld 2014. S. 197–202. 67 Vgl. Völkel, Bärbel: Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Überlegungen zu einem uneindeutigen Begriff. In: Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Hrsg. von Ammerer, Heinrich / Hellmuth, Thomas / Kühberger, Christoph. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2015. S. 83–86. 68 Nassehi 1999. S. 213. 69 Ebd., S. 218.

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tionen eng verwandt.“ Der Begriff „verschiebt die Differenz zwischen Nationen in das Innere der Gesellschaft und affirmiert sie dort als Kulturvielfalt“.70

S CHATTENSEITEN : E THNOZENTRISMUS , X ENOPHOBIE UND R ASSISMUS ALS DIE ‚ SCHMUTZIGE ‘ S EITE EINER IN N ATIONALSTAATEN ORGANISIERTEN W ELT Nun könnte man ja sagen, daran, dass eine Nation ihre Geschichte erzählt und institutionell tradiert, sei doch nichts Verwerfliches. Schließlich ist damit ja nicht gleichzeitig auch zwingend eine Diskriminierung der anderen auf dem Staatsgebiet lebenden Menschen verbunden. Vielmehr lernen, so ein gängiges Argument auf beiden Seiten, die Zuwanderer damit auch die Geschichte ihres neuen Heimatlandes kennen und können sich dann auch besser integrieren. Und immerhin sichert ja der Staat das Nebeneinander der unterschiedlichsten kulturellen Verfasstheiten rechtlich ab; sie werden alle gleich behandelt. Diese Gleichheit evoziert jedoch, so Birgit Rommelspacher, ihre ganz eigene Problematik: Wenn alle gleich sind, worin erkenne ich dann eigentlich den Wert meiner eigenen Vorstellungen und letztlich auch meines Selbst? In die Vorstellung von Gleichheit ist ja gerade, wie oben gezeigt wurde, ein Moment der Heterarchie eingelagert, das Menschen offensichtlich so irritiert. Nach Rommelspacher wurde daher im Zuge der Aufklärung der Idee der Egalität ein elitäres Moment zur Seite gestellt, das an die Vorstellung der Vernunft geknüpft war.71 Dieses elitäre Moment wird, so die hier vorgestellte These, über die Kommunikation einer lebensweltlich verwurzelnden, auf kulturelle Kohärenz hin ausgerichtete Geschichte in eine Gesellschaft unter Gleichen eingeführt.72 Nach Niklas Luhmann muss nämlich in eine Kommunikation unter Gleichen immer eine Unterscheidung eingeführt werden: es ist zu entscheiden, wer in einer Kommunikation zuerst genannt wird. Dabei, so Luhmann, erhält derjenige in dieser Kommunikation einen Vorrang, dem eine größere Kontinuität zum 70 Ebd., S. 216. 71 Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: 1998. S. 18. 72 Hier muss betont werden, dass dies keine ‚Eigenart‘ der Deutschen ist, sondern dass eine solche Denkweise zum Prinzip der Nation gehört.

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Ursprung zuerkannt wird; er repräsentiert fortan unsichtbar das allgemeine Ganze73 im Rahmen eines hegemonialen Diskurses, der die Dominanzkultur74 legitimiert. Bereits im Hinblick auf den so genannten glass ceiling effect habe ich den Gedankengang ausgeführt, dass innerhalb egalitärer Geschlechterbeziehungen eine solche kommunikative Rückführung auf einen Ursprung über Geschichte möglich wird und für Frauen dabei erhebliche diskriminierende Konsequenzen nach sich zieht.75 Der gleiche Gedankengang greift auch im vorliegenden Fall, bei dem entschieden werden muss, welcher Kultur innerhalb der multikulturellen Nation in der Kommunikation der Vorrang eingeräumt werden soll. Über die Geschichte der Nation wird nun die Lücke zwischen der Gegenwart und einer fiktiven Ursprungszeit geschlossen – jedoch nur für den transgenerationell und erinnerungskulturell verbundenen Teil der Bevölkerung, der sich nun nobiliert weiß. Von der Zugehörigkeit zur Dominanzkultur profitieren schließlich alle, die dazu gehören, auch wenn sie innerhalb der Kultur selbst Diskriminierungen erfahren. Sie sind diejenigen, die in den unterschiedlichen Funktionssystemen der Gesellschaft überwiegend eine bevorzugte Behandlung erfahren.76 Damit repräsentiert die Ethnie innerhalb einer Nation das unsichtbare Allgemeine. Sie ist ‚verwurzelt‘ in der Geschichte der Nation, damit zivilisiert und verlässlich. Der unterlegene Teil in der Kommunikation, ‚die Anderen‘, geraten hingegen in einen prekären Status: ‚Ihr‘ Ursprung bleibt vage, ‚Sie‘ sind die Menschen ‚ohne Geschichte‘ innerhalb der Nation und damit

73 Luhmann, Niklas: Frauen, Männer und George Spencer Brown. In Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Hrsg. von Ursula Pasero & Christine Weinbach. Frankfurt am Main 2003. S. 15–62, hier S. 24–25. 74 Rommelspacher 1998. Unter Dominanzkultur wird ein „Geflecht verschiedener Machtdimensionen“ begriffen, „die in Wechselwirkung zueinander stehen“. Ebd., S. 23. 75 Vgl. Völkel, Bärbel: Der glass ceiling effect und das subversive Gelächter aus der Geschichte – oder: Was gehen die Probleme von Managerinnen die historischen Genderforscher/innen an? In: ZfG Jahresband 2008. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2008. S. 171-183. 76 Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin 1998,/2. S. 53. Diese Nobilierung die Ethnie bei gleichzeitiger Marginalisierung ‚der Anderen’ stellt ein Merkmal von Rassismus dar.

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die ‚Wurzellosen‘. Wer könnte schon sagen, wem letztlich ‚Ihre‘ Solidarität gehört?77 An dieser Stelle wird der ‚Schatten‘78 des demokratisch verfassten Nationalstaats deutlich: Dort, wo soziale Bindung von kultureller Kohärenz abhängig gemacht wird, die in der modernen Welt stets an die Geschichte der Nation gebunden ist, wird der reziproke Zusammenhang von Nationalismus und Rassismus erkennbar. Rassismus kann demnach als die ‚schmutzige Seite‘ des vom Ursprung her erzählten und auf ein transgenerationelles Gedächtnis rekurrierenden Nationalstaats bezeichnet werden. Und nicht nur von hier aus kann diese verstörende Bilanz gezogen werden. Über die kommunizierte Geschichte der Nation und das Nicht-Kommunizieren der Geschichten ‚der Anderen‘ werden diese innerhalb der sich dadurch fundierenden Dominanzkultur sogar physisch sichtbar gemacht. Im ethnisierenden Diskurs sind ‚Sie‘ diejenigen, die ehemals an der Peripherie lebten. ‚Sie‘ „sind jetzt mitten unter uns in den westlichen Metropolen, es geht nicht mehr um Expansion, sondern um Abgrenzung auf dem eigenen Territorium“.79 Ihr vager Ursprung, ihre Geschichtslosigkeit auf dem Boden des Einwanderungslandes, macht es möglich, auf ihren physischen Körper zu schauen. Über den ‚erkennenden‘ Blick kann das ethnische ‚Wir‘ sich

77 Rauf Ceylan weist darauf hin, dass ethnisierende Zuschreibungsdiskurse in einer Gesellschaft zu Re-Ethnisierungen der Minderheiten führt, indem diese sich wieder stärker auf ihre Herkunftskontexte besinnen. Vgl. Ceylan, Rauf: Muslime und Diaspora – interdisziplinäre Forschungsfragen im Einwanderungskontext. In: Islam und Diaspora. Hrsg. von Rauf Ceylan. Frankfurt am Main: 2012. S. 9-27, hier S. 20. 78 Der Begriff des ‚Schattens’ wird hier im Sinne einer Metapher verstanden: Die als Entität gedachte Nation, die sich ‚im Lichte’s der Aufklärung (engl.: Enlightenment) sieht, erzeugt auf ihrer Kehrseite, dort, wo das Licht nicht mehr hin scheinen kann, einen Schatten. In diesem finden sich die unerwünschten, ungeliebten, ins Abseits gedrängten Vorstellungen, die `die Nation` ebenfalls ausmachen: Ethnozentrismus, Xenophobie und Rassismus als Müllhaufen dieser substanzialisierten Imagination. 79 Eickelpasch, Rolf / Rademacher, Claudia: Identität. Bielefeld 2013/4. S. 88. Auch: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994. S. 216. Hier kann eine nach wie vor existierende ‚koloniale Mentalität’, wie Bea Lundt in diesem Band ausführt, beobachtet werden.

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kategorial von einem andersethnischen ‚Sie‘ unterscheiden. ‚Ihrer‘ Geschichte kann innerhalb der Dominanzkultur (immer noch) nicht der gleiche Grad an Zivilisiertheit zugeschrieben, wie der eigenen Geschichte. Eine solche Sichtweise, die auf die Inferiorität einer anderen Kultur abhebt, wird als Rassismus bezeichnet.80 Auch ein Diskurs, der zwar auf die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Kulturen abhebt, Kulturvermischungen aber für problematisch hält, fällt unter diese Kategorie.81 Denkweisen und Sprachhandlungen, die zwischen einem ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ kategorial unterscheiden, reduzieren jedes Individuum in der Gesellschaft darauf, eine Totalität zu repräsentieren: Es ist in ein „stahlharte(s) Gehäuse der Zugehörigkeit“ gesperrt, nämlich das der Kultur.82 Rassismus ist daher nicht, so wurde gezeigt, ein Phänomen von Bildungsferne oder einer oft unerklärlichen individuellen Einstellung. Im Gegenteil! Man braucht offensichtlich geradezu einen ‚wachen‘ Blick auf die Welt, um ‚erkennen‘ zu können, was im eigenen Land nicht richtig läuft.83 Rassismus, in Deutschland eher mit ‚Fremdenfeindlichkeit‘ konnotiert84, ist grundlegend in die Gefasstheit unserer Welt eingelagert. Wer sich nicht eines ‚kulturellen Relativismus‘ schuldig machen möchte, muss Stellung beziehen.85

80 Cashmore, Ellis u.a.: Dictionary of Race and Ethnic Relations, London, New York 1996/4. Stichwort ‘Xenophobia’, S. 382. 81 Ebd. Damit zeigt sich gleichzeitig wiederum, so die These, der ‚koloniale Blick’. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2011. S. 62. Wenn von ‚gelungener Integration’ gesprochen wird, kann unterstellt werden, dass man hier eher an ‚Assimilation’ denkt. Diese kann jedoch von der Dominanzgesellschaft dauerhaft argwöhnisch betrachtet werden. Vgl. Balibar, Etienne: Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In: Rasse. Klasse. Nation. Ambivalente Identitäten. Hrsg. von Balibar, Etienne / Wallerstein, Immanuel. Hamburg, Berlin 1990. S. 33. 82 Ebenda, Bezug nehmend auf: Nassehi, Armin: Differenzierungsfolgen. Beiträge zu einer Soziologie der Moderne, Wiesbaden 1999. S. 216. 83 Vgl. die Selbstwahrnehmung der Pegidisten und auch entsprechende Befragungsbefunde. Vgl. Geiges, Lars / Marg, Stine / Walter, Franz 2015. S. 65, 103– 104 und 122–127. 84 Vgl. Cashmore, Ellis u.a.: Dictionary of Race and Ethnic Relations, London, New York 1996/4. Stichwort ‘Xenophobia’, S. 382. 85 Banton, Michael: Racial Conciousness, New York 1999/3. S. 23–28.

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Es macht daher, so die These, nicht wirklich Sinn, die Pegidisten zu beschimpfen. Vielmehr wäre es an der Zeit, gesamtgesellschaftlich darüber nachzudenken, wie diese ‚Schattenseiten‘ demokratisch verfasster Nationalstaaten so ins Bewusstsein gehoben werden können, dass Menschen reflektiert damit umgehen lernen. Gleichzeitig könnte auch ein Diskurs darüber angeregt werden, ob die Idee der Nation im 21. Jahrhundert überhaupt noch hilfreich für ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Verfasstheiten ist.86 Möglicherweise benötigen wir andere Ordnungselemente, die die Ambiguitäten unserer Welt auch individuell bewältigbar erscheinen lassen. 87

Z USAMMEN GEHÖRT , WER ZUSAMMEN LEBT – K ONSEQUENZEN FÜR DIE K OMMUNIKATION VON G ESCHICHTE IN E INWANDERUNGSGESELLSCHAFTEN Nun, da ‚The West and the Rest‘ sich unübersehbar und unhintergehbar gemeinsam ihre Territorien und sogar die Staatsbürgerschaften teilen, scheint es an der Zeit, das dem 19. Jahrhundert eigene Denken in essentiellen Zugehörigkeitskategorien aufzugeben. Damit dieser Weg beschritten werden kann, sind auf unterschiedlichen Ebenen veränderte Denk- und Sprechgewohnheiten notwendig. Diese sind nicht neu zu erfinden, sondern innerhalb unserer Gesellschaft schon längst artikuliert. Was bislang allerdings zu fehlen scheint, ist eine Zusammenführung dieser Überlegungen in einen gemeinsamen Diskurs. Dieser kann jedoch, so meine Wahrnehmung, nur dann ehrlich in Gang gesetzt werden, wenn ein selbstkritischer Umgang mit den ‚Schattenseiten‘ unserer aufgeklärten, demokratischen, rechtsstaat86 „Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen. (Aber das ist nicht das Gesetz des gegenwärtigen Jahrhunderts, in dem wir leben. Gegenwärtig ist die Existenz der Nationen gut, sogar notwendig.“ Renan 1993, S. 290–311, Zitat auf S. 310. 87 Armin Nassehi spricht in diesem Zusammenhang von der „epochale(n) Aufgabe einer endgültigen Säkularisierung des Staates“. Nassehi 1999, S. 222. Vielleicht wäre diese leichter voran zu treiben, wenn man sich von der Idee der ‚Nation‘, der ‚säkularen Religion‘ des Staates, trennen würde?

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lichen und dennoch hegemonial verfassten Perspektive auf die Welt beginnt. In einem ersten Schritt müsste es darum gehen, die Essentialisierung von Staat und Nation und in ihrem Gefolge auch den damit verbundenen politischen Kulturbegriff zu verflüssigen. Bereits Renan stellte fest, dass die eine menschliche Kultur den nationalen Kulturen voranging.88 Es ist also primär das Mensch-Sein, das die Menschen verbindet und nicht die Ethnie.89 In einer Nation leben Menschen zusammen, die sich als Volk nicht zwingend im Sinne eines ethnos, sondern eben auch eines demos verstehen können, wenn sie dies denn wollen. Zum Volk gehört nämlich, wer zusammen lebt. Es geht um eine „Wohnbürgerschaft“, die eine „‚Gemeinschaft ohne Substanz‘“ darstellt.90 Diese wird zusammengehalten durch ein „tägliches Plebiszit“91. Die soziale Bindung des demos ist formal (nicht emotional, wie beim ethnos) verfasst: sie bezieht sich auf eine normative Verpflichtung gegenüber der Rechtsordnung des demokratisch verfassten Nationalstaats. Damit sich der demos aber als ‚Gemeinschaft ohne Substanz‘ finden kann, empfiehlt sich eine ‚Pflicht zum Vergessen‘92. Das ‚Vergessen‘ sollte sich und dafür plädiere ich eindringlich, auf alle Menschen im Staat beziehen: Diejenigen, die schon länger dort wohnen und auch diejenigen, die neu

88 Renan 1993, S. 304. Auch Jörn Rüsen argumentiert stets von diesem Menschheitsgedanken her (siehe das Streitgespräch zwischen Jörn Rüsen und mir im vorliegenden Band). 89 Ebd., S. 298: „An die Stelle des Prinzips der Nation setzt man das der Ethnographie. Es handelt sich dabei um einen schwerwiegenden Irrtum. Würde er vorherrschend, richtete er die europäische Zivilisation zugrunde.“ 90 Ehs, Tamara / Valchas, Gers: Demos statt Ethnos. Plädoyer für ein EU-Volk jenseits des Homo Europaeus, Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2009. S. 85–91. Zitate auf S. 86 und 89. 91 Vgl. Renan 1993, S. 309. 92 Ebd., S. 294-296. Nach Renan müssen sich diejenigen, die sich in einer Nation zusammengefunden haben, auf ein ‚Vergessen‘ ihrer vornationalen Divergenzen verständigen: Die Bevölkerungen „verschmelzen“ (S. 293) und beginnen eine gemeinsame Geschichte. Diese ist für den Franzosen Renan nicht ethnisch konnotiert, wohl aber historisch: In der Nation generiert sich fortan eine neue Gemeinschaft mit Ahnenkult. Gerade aber diese Denkweise war geeignet, neue Ethnien entstehen zu lassen, die sich fortan ethnisch-national definieren konnten.

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hinzukommen. Dafür erscheint es notwendig, sich in ein neues Verhältnis zur Geschichte (der Nation) zu setzen: Diese sollte nun nicht mehr ursprungsorientiert und transgenerationell erzählt werden, damit nicht nur die neuen Zuwanderer, sondern auch die schon seit langem bei uns lebenden Einwanderer eine Chance bekommen, mit den bereits auf dem Staatsgebiet lebenden Menschen zu ‚verschmelzen’.93 •



Wenn z.B. Afrodeutsche davon sprechen, in Berlin in der ‚Diaspora‘ zu leben, obwohl es schon seit Jahrhunderten Menschen afrikanischer Herkunft in Europa gibt94 und Schwarze Deutsche Deutschland spätestens seit der Kolonialzeit mit zu dem gemacht haben, was es heute ist95, zeigt sich daran, dass sie eben nicht in die Geschichte Deutschlands, in die ‚Solidargemeinschaft‘ der Nation, integriert wurden. Und obwohl seit dem 15. Jahrhundert Sinti und später auch Roma im Deutschen Reich leben, galten sie seit jeher als ‚unerwünschte‘ Ethnie, die man mit diskriminierenden Gesetzen belegte. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden sie aus rasseideologischen Gründen verfolgt und ermordet. Bis heute sehen sich Sinti und Roma xenophoben und rassis-

93 Und ausdrücklich: NEIN! Ich rede hier nicht einem Vergessen des Holocaust das Wort. Vergessen werden sollte, dass Zuwanderer einmal nicht in die Nation gehört haben. Ab dem Zeitpunkt der Zuwanderung beginnt eine gemeinsame Geschichte, in die die kulturellen und damit auch historischen Verfasstheiten aller Beteiligten einfließen und das Gemeinwesen verändern. Der normative Bezugsrahmen bleibt der demokratisch verfasste, stets verbesserungswürdige, Rechtsstaat. 94 Vgl. Zeller, Joachim / Diallo, Oumar: Einführung: Das afropolitane Berlin. In Black Berlin. Die deutsche Metropole und ihre afrikanische Diaspora in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Joachim Zeller & Oumar Diallo. Berlin 2014/2. S. 11. Auch: Kuhlmann-Smirnov, Anne: Schwarze Europäer im Alten Reich. Handel, Migration. Hof/Göttingen. 2013. 95 Vgl. z.B. Michael, Theodor: Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, München: Taschenbuch Verlag 2013. Vgl. auch: Marmer, Elina / Papa Sow (Hrsg.): Wie Rassismus aus Schulbüchern spricht. Kritische Auseinandersetzung mit ‚Afrika‘-Bildern und Schwarz-WeißKonstruktionen in der Schule. Ursachen, Auswirkungen und Handlungsansätze für die pädagogische Praxis, Weinheim, Basel: Beltz 2015.

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tischen Übergriffen ausgesetzt.96 Heute leben etwa 120 000 Sinti und Roma als deutsche Staatsbürger*innen in Deutschland97 und gestalten unser Land mit. Kommen sie auch entsprechend in der Geschichte der Nation vor? Die Ereignisse in Deutschland im Jahr 1989 deutet der Politikwissenschaftler Nevim Cil folgendermaßen: „Die Frage, ob zusammenwachsen wird, was zusammengehört, wurde in einem nationalen und ethnischkulturellen Raum diskutiert. Das neue Deutschsein hieß vor allem, zur deutschen Abstammungsgemeinschaft zu gehören. [...] Der Mauerfall und die Wiedervereinigung beschreiben [...] eine Geschichte, die neue Deutsche und bereits vergessen geglaubte Deutsche wieder sichtbar machte. Unabhängig von der historischen Bedeutung ist dieses Datum auch für türkische Einwanderer identitätsrelevant. [...] Nach einer Phase der grundlegenden Irritation müssen Nachkommen von ehemaligen türkischen Arbeitskräften jedoch ihre Verortung überdenken und sich die Frage stellen, ob und wie sie die Geschichte Deutschlands zukünftig mitprägen und mitgestalten wollen. Die Verengung des Selbst auf herkunftsspezifische Elemente stellt eine Antwort auf die bisherige historische Nichtanerkennung in Deutschland (Hervorhebung B. V.) dar.“98

Nichtzugehörigkeit trotz Deutsch-Sein in Staatsbürgerschaft und Empfinden ist also eine Erfahrung von Millionen Deutschen. Möglich wird diese unreflektierte historische Ausgrenzung aufgrund des Gedächtnis- und Erinnerungsparadigmas und der daran gebundenen Fokussierung auf das kulturelle Gedächtnis einer Nation. Dabei markiert der Kulturwissenschaftler Jan

96 Vgl. End, Markus: Gutachten Antiziganismus. Zum Stand der Forschung und Gegenstrategien. In: Haus für Kultur, Bildung und Antiziganismusforschung. Hrsg. von Daniel Strauß & Romno Kher. Marburg 2013. 97 Vgl. Weiss, Günter: Sinti und Roma seit 600 Jahren in Deutschland. http://www.zigeuner.de/sinti_und_roma_seit_600_jahren.htm, vom 28. 01. 2016. Auch: Leidgeb, Ellen/ Horn, Nicole: Opre Roma! Erhebt euch! Eine Einführung in die Geschichte und Situation der Roma, Saarbrücken: AG-SPAK-Bücher 1994. 98 Cil, Nevim: Eine allzu deutsche Geschichte? Perspektiven türkischstämmiger Jugendlicher auf Mauerfall und Wiedervereinigung. In: Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Hrsg. von Viola Georgi & Rainer Ohliger. Hamburg: Körber Stiftung 2009. S. 46 und 58.

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Assman das kulturelle Gedächtnis einer sozialen Gruppe zwar als „identitätskonkret“99. Durch seine Gerichtetheit auf „Fixpunkte in der Vergangenheit“ gerinnt diese jedoch „zu symbolischen Figuren“.100 Damit, so Assmann, verschwimmt die Grenze zwischen Mythos und Geschichte. „Man könnte auch sagen, dass im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird. Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erzählen.“101

Assmann bezeichnet eine solche Geschichtsvorstellung als „Antigeschichte“. „Antigeschichtliche Formen von Vergangenheitsbewältigung entspringen dem Wunsch, dass alles immer schon so gewesen war, wie es ist und dass sich seit Menschengedenken nichts geändert hat.“102

Zur Antigeschichte gehört für Assmann die „Geschichte mit Gedächtnisbezug“.103 Vor diesem Hintergrund würde es Sinn machen, in pluralen und heterogenen Gesellschaften, die von permanenter Zuwanderung und auch Abwanderung betroffen sind, ein anderes Geschichtsverständnis zu entwickeln.

99

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Nördlingen 2007/6. S. 39.

100 Ebd., S. 52. 101 Ebd. 102 Assmann, Jan: Zeitkonstruktion und Gedächtnis. In: Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte. Hrsg. von Jörn Rüsen. Göttingen: 1999. S. 81– 98. hier S. 86. 103 Ebd., S. 95.

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D IE

HISTORISCHEN

APRIORI

UND IHRE

ARCHIVE

Dennoch erweist sich meines Erachtens der Bezug auf das kommunikative oder soziale Gedächtnis als weiterhin anschlussfähig, da sich dieses auf die ‚lebendige Vergangenheit‘ biographischer Erinnerungen bezieht.104 Es zeigt sich dadurch als informell und wenig geformt. Das kommunikative Gedächtnis entsteht durch Interaktionen im Alltag und bezieht sich auf die lebenden drei bis vier Generationen der sozialen Gruppe. Es ist demnach permanent gegenwartsbezogen und kann als ein „mitwandernder Zeithorizont“ als prinzipiell offen für Neues angesehen werden. Die Träger des sozialen Gedächtnisses sind eher unspezifisch und erwachsen der „Zeitzeugenschaft einer Erinnerungsgemeinschaft“.105 An dieser Stelle zeigt sich die Plastizität des Gedächtnisses in die Zeithorizonte106 hinein: In Bezug auf den Zeithorizont ‚Vergangenheit‘ verschmelzen transgenerationelles107 und soziales Gedächtnis zu einem ‚historischen Apriori‘. Phänomenologisch gewendet heißt dies, dass der Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens die Gegenwart seiner gesamten Vergangenheit zum Ausdruck bringt.108 Nach Foucault markiert das historische Apriori damit einen Aussagenbereich, der begrenzt ist, ohne dass wir jemals seine Grenzen benennen könnten. Es stellt „Realitätsbedingungen für Aussagen“ bereit, was nichts anderes heißt, als dass jeder nur das zum Ausdruck bringen kann, was sein historisches Apriori ihm erlaubt.109 Systemtheoretisch gewendet bedeutet dies, dass jeder Mensch stets nur auf die Aussagen handlungsleitend zurückgreifen

104 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Nördlingen 2007/6. S. 50-52. 105 Ebd., S. 56. 106 Vgl. hierzu: Merleau-Ponty: Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1965. S. 472–476. 107 Die transgenerationellen Erinnerungsgemeinschaften, in die das soziale Gedächtnis eingebettet ist, bleiben ja erhalten z.B. in der Sprachwendung: „Deine Oma hat mir erzählt, dass ihre Oma [...]“. Ebenso bleiben Relikte der vergangenen Generationen erhalten und gerinnen zu den erwähnten kulturellen Gedächtnisformen, an die das rezente Gedächtnis identitätskonkret anschließt. 108 Merleau-Ponty 1965, S. 478. 109 Foucault, Michel: Das historische Apriori und das Archiv. In: Ders.: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1981. S. 187 und 184, Zitat auf S. 184.

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kann, die aus seinem historischen Apriori heraus als eine Wiedereinführung (re-entry) in die Kommunikation eingebracht werden können. Niemand kann also den strukturellen Konsequenzen einer solchen Wiedereinführung bereits bekannter Elemente in den Diskurs ausweichen.110 Das heißt letztlich aber nichts anderes, als dass niemand sich jenseits seines nationalkulturellen Hintergrundes stellen kann, wenn er in ein Land einwandert oder wenn er sieht, dass Menschen in sein Land einwandern.111 So oder so treffen unterschiedliche historische Verfasstheiten mit ihren Strukturelementen, die sich in identitätskonkreten werthaltigen Diskursen zeigen, aufeinander. Wichtig ist jedoch, dass sich in keiner der vorgestellten Theorien das historische Apriori als deterministisch erweist. Vielmehr ist es so zu verstehen, dass in jeder historischen Verfasstheit von Menschen Zukunft bereits als Horizont enthalten ist. Diese Zukunft wird durch das historische Apriori positiv und seine archivierten Aussagensysteme potenziell gerahmt. Das Archiv an Aussagen zu Ereignissen und Dingen, in das ein historisches Apriori eingebettet ist, stellt einen Möglichkeitsraum zur Verfügung, der nicht „die Schwere der Tradition“ hat.112 Vielmehr ist es „das allgemeine System der Formation und Transformation der Aussagen“113, was heißt, dass innerhalb eines identitätskonkreten Archivs mehr Möglichkeiten liegen, als das historische Apriori in seiner lebendigen Verfasstheit vermuten lässt. Einer offenen Zukunft stehen vor diesem Hintergrund die vielfältigen Möglichkeitsräume identitätskonkreter Archive gegenüber. Jeder kann nun, wenn er seine Kultur als einen bedingt offenen Diskurs begreifen lernt, mit den Anderen einen erweiterten Möglichkeitsraum betreten, in dem das jeweils Eigene erhalten bleibt, neue Formen aber erlaubt sind114: Wir arbeiten gemeinsam an dem ‚Projekt Deutschland‘ in Europa und der Welt. Gleichzeitig verzichtet der Nationalstaat um einer gemeinsamen Zukunft für Alle Willen auf eine institutionalisierte, vom Ursprung her gedachte, Erinnerungskultur.

110 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft 1. Frankfurt a.M. 1997. S. 51. 111 Vgl. Rommelspacher 1998, S. 190. 112 Foucault 1981, S. 188. 113 Ebd., kursiv im Original. 114 Merleau-Ponty 1965, S. 113.

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I NTERKULTURELL KOMMUNIZIEREN ÜBER HISTORISCHE A PRIORI , DEREN A RCHIVE UND EINE GEMEINSAME Z UKUNFT Jeder am Dialog Beteiligte kann nun sein Archiv möglicher Aussagen dahingehend befragen, was am „Saum der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, über sie hinausläuft, auf sie in ihrer Andersartigkeit hinweist“115 und damit möglich scheint. Im interkulturellen Dialog kommt es nun darauf an, die Positivitäten der jeweiligen Diskurse, die in den historischen Apriori zum Ausdruck kommen, an die jeweiligen Archive zurück zu binden, damit neue Aussagen, die gemeinsame Aussagen für einen demos in einem demokratischen Rechtsstaat werden können, aus diesen Archiven heraus archäologisch gewonnen werden können.116 Hier kann es dann nicht mehr um eine „Leitkultur“ gehen, die in den Zusammenhang eines positivistischen Diskurses gehört: Die Zuwanderer sind aufgefordert, sich unserem Diskursrahmen anzupassen.117 Eine solche gesellschaftliche Homogenisierung spaltet die Gesellschaft in assimilierungswillige, letztlich aber historisch wurzellose Menschen und solche, die offensichtlich integrationsunwillig sind. Da, wo kulturspezifische Monologe sich ihrer selbst vergewissern, öffnen interkulturelle Kommunikationen den Blick für Analogien, die stärker auf ein gegenseitiges Verstehen denn auf inhaltliche Übereinstimmung rekurrieren.118 Letztlich geht es um nichts anderes, als dass jeder Mensch verstehen will und verstanden werden will. In Bezug auf die Kommunikation von Geschichte in einer Einwanderungsgesellschaft bedeutet dies, dass jede Geschichte, die sich in unsere Gesellschaft einbringen möchte, immer eine sinnvolle Geschichte ist, denn sie hat den Menschen, der sie identitätskonkret mitbringt, überlebens- und handlungsfähig gemacht. Für diesen Menschen ist sie so wahr und rational, wie er selbst wahr ist und sich als ra115 Foucault 1981, S. 189. 116 Ebd., S. 190. 117 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Grundbegriffe der interkulturellen Kommunikation. Konstanz 2014. S. 25. 118 Mall, Ram Adhar: Interkulturelle Philosophie und Historiographie. In: Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs. Hrsg. von Manfred Brocker & Heino Heinrich Nau. Darmstadt. 1997. S. 69-89, hier S. 70.

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tional handelnd erlebt.119 Daher ist diese historische Partikularität auch unhintergehbar und muss als Grundvoraussetzung, damit Menschen überhaupt (über Geschichten) kommunizieren können, anerkannt werden. In einem ersten Schritt geht es also darum, den Anderen mit seinem mir fremd erscheinenden Handeln verstehen zu wollen; ich möchte mich dem Sinn seines Handelns annähern. Gleichzeitig will aber auch ich in meinem sinnvollen Handeln von dem Anderen verstanden werden. Die im Zusammenhang mit der Kommunikation von Geschichte wesentliche Kompetenz bestünde dann darin, zu verstehen, dass der Andere gute Gründe hat, die auch in seiner Geschichte liegen, um so zu handeln, wie er es tut. Und ebenso ist mein Handeln empirisch abgesichert und lässt sich unter anderem aus meiner Geschichte heraus erklären. Kommunikation über Geschichte hat in einer pluralen Gesellschaft also erst einmal den Sinn, dass man sich gegenseitig erklärt, warum man etwas in einer bestimmten Weise tut oder für richtig hält. Dann geht es sicherlich auch darum anzuerkennen, dass diese historischen Verfasstheiten Geschichten sind, die als unsere Lebensgeschichten zu uns gehören. Obwohl sie konstruiert sind, benötigen wir sie dennoch, um uns zu erklären. Für das gegenseitige Verstehen wichtige Herkunftsgeschichten verflüssigen sich auf diese Weise zu Erklärgeschichten120 und können in der Folge hermeneutisch aufeinander bezogen werden. Es geht bei diesen Geschichten um „wechselseitige Selbstaufklärung im Sinne einer dialogischen Haltung [...], die Gemeinsamkeiten und Unterschiede gleichermaßen sucht“.121 Ram Adhar Mall spricht in diesem Zusammenhang von einer

119 Ebd., S. 79. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen dem historischen Apriori und dem kognitiv reflektierten Geschichtsbewusstsein. Das historische Apriori ist der leiblichen Reflexivität zuzuordnen. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main 2013/5. In Bezug auf die leibliche Reflexivität siehe S. 36. Das Wissen um den Konstruktcharakter von Geschichte hat bislang kaum zu der Einsicht geführt, dass historische Identitäten konstruierte Identitäten sind und demnach auch anders konstruiert werden könnten. Meine These ist, dass die leibliche Wahrheit schlüssiger im Handlungsvollzug scheint als die reflektierte. 120 Nicht: Ereignisgeschichten. 121 Yousefi, Hamid Reza: Grundbegriffe der interkulturellen Kommunikation, Konstanz: UTB 2014, S. 28.

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„analogischen Hermeneutik“.122 Im Rahmen eines solchen interkulturellen hermeneutischen historischen Verständigungsprozesses können „Überlappungen“ erkannt werden. „Die starke Identitätstendenz der Moderne und die ebenso starke Differenzthese der Postmoderne verlieren so ihren Stachel“ und ermöglicht uns auf diese Weise, auch „das zu verstehen, was wir vorher nicht unbedingt konstituiert haben müssen“.123 Mall spricht in diesem Zusammenhang von der ortlosen Orthaftigkeit, die sich in einem solchen interkulturellen hermeneutischen Prozess für die Dialogpartner auftut. Das Verstehen, das in einem solchen Dialog möglich wird, ist nicht auf Einleuchten und Überzeugen ausgerichtet. Es kann als ein „Verstehen [...] im Sinne eines Sich-zurücknehmen-Könnens“ markiert werden, in dessen Folge auch Standpunkte nebeneinander bestehen bleiben.124 In einem solchen Dialog können sich im besten Falle dann alle Beteiligten von ihren je eigenen im historischen Prozess entstandenen einseitigen Bildern emanzipieren und gemeinsam etwas Neues schaffen, in dem Aspekte aller dennoch enthalten sind.125 Dafür aber ist es notwendig, die historischen Quellen und Darstellungen zu gemeinsam als relevant erachteten Thematiken für das historische Denken in Schule und Öffentlichkeit erst einmal zu generieren. Hier liegt die Herausforderung für einen veränderten Geschichtsunterricht und eine veränderte Erinnerungskultur, die sich den vielfältigen Menschen im Staat respektvoll zuwenden. Ein reflektiertes interkulturelles Geschichtsbewusstsein wäre dann als die Fähigkeit zu einem ‚Two-SpiritDenken‘126 zu beschreiben: Einerseits ‚bin‘ ich partikular dieses oder jenes,

122 Mall, Ram Adhar: Interkulturelle Philosophie und Historiographie. In: Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs. Hrsg. von Manfred Brocker & Heino Heinrich Nau. Darmstadt 1997. S. 69–89, hier S. 72. 123 Ebd., S. 72–73. 124 Ebd., S.73. 125 Ebd., S. 74–75. 126 Dieser Begriff ist der Genderdebatte entnommen und bezieht sich auf das sog. ‚dritte Geschlecht‘. Vgl. Lee Wallace: Zur Entdeckung der Homosexualität: Interkulturelle Vergleiche und die Geschichte der Sexualität. In: Gleich und anders. Eine globale Geschichte der Homosexualität. Hrsg. von Robert Aldrich. Hamburg 2007. S. 249–269, hier S. 254. Ich verwende die ‚Two-Spirit‘-Idee hier im Zusammenhang ambiguitätstoleranten Denkens: Beides ist richtig und beides und ist falsch. Was also soll ich tun? Das Tun, das aus dieser Spannung heraus

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gleichzeitig ‚bin’ ich aber auch universal mit Allen – und das an dem konkreten Ort, an dem ich lebe und handle. Die partikularen Werthaltungen stehen in einem ambiguen Verhältnis zueinander: jeder hat Recht (aus seiner Perspektive). In unser aller Ortlosigkeit liegt demnach eine ganz eigene Ethik, nämlich die „Ethik der Ambiguität“127 als einer geistigen Einstellung, wie Mall dies bezeichnet.128 Ein veränderter Umgang mit Geschichte würde dann bedeuten, danach zu fragen, welche Beiträge die Geschichtswissenschaft, die Geschichtsdidaktik und der Geschichtsunterricht zur Förderung von Ambiguitätstoleranz in einer pluralen und heterogenen Gesellschaft einzubringen vermögen. In einem Europa, in dem sich in der Folge der Reformation ein Denken auf der Grundlage von Eindeutigkeiten hat als Wert durchsetzen kön-

entwickelt wird, wäre dann als ‚dritter Weg‘ zu verstehen, bei dem ich mich aus der Orthaftigkeit meines Denkens heraus emanzipiere und in der Ortlosigkeit des Dialogs zu einem Konsens finde, der gesellschaftlich tragfähig ist, ohne die jeweiligen Orthaftigkeiten außer Kraft zu setzen. Vgl. Caputo, John D.: In Praise of Ambiguity. In: Ambiguity in the Western Mind. Hrsg. von Craig J.N. Paulo / Patrick Messina / Marc Stier. New York 2005. S. 15-34, hier S. 17. Der Geschichtsdidaktiker Michele Barricelli definiert ‚interkulturelles Geschichtsbewusstsein’, das er in der aktuellen Debatte innerhalb der Geschichtsdidaktik als unzureichend präzisiert diagnostiziert, folgendermaßen: „Im Interesse humanistischen Geschichtslernens, so wird hier gesagt, ist jedenfalls die Ausformulierung

einer

pädagogisierten

historischen Migrationserzählung

anzustreben, in welcher die Zielgesellschaft als multiethnisch inklusiv und dynamisch re-interpretiert wird.“ Hier zeigt sich jedoch ein Verhaftet sein am Ort, da über die Migrationserzählungen sich lediglich die Orte, von denen ausgesprochen wird, vervielfältigen. Wie aus dieser Stimmenvielfalt Handlung erwachsen soll, kommt in einer solchen Definition nicht zum Ausdruck. Barricelli, Michele: Vielfalt und Einheit im Prozess des historischen Lernens. In: Interkultureller Humanismus. Hrsg. von Jörn Rüsen & Henner Laass. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2009. S. 280-299, Zitat auf S. 289. 127 Caputo, John D.: In Praise of Ambiguity. In: Ambiguity in the Western Mind. Hrsg. von Craig J.N. Paulo / Patrick Messina / Marc Stier. New York 2005. S. 15–34, S. 31 128 Mall 1997, S. 73f.

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nen, bedeutet dies natürlich eine große Herausforderung, muss man doch wieder lernen, sich zurück zu nehmen.129 Relationale Geschichte in Begegnungen und Verhältnissen In einem Staat, der sich dazu durchringen kann, auf institutioneller Ebene (auch in der Schule) auf die Kommunikation eines „pluralen Monokulturalismus“130 unter Privilegierung des hegemonialen Anspruchs der eigenen historisierten Kultur zu verzichten, öffnen sich neue Horizonte. Wenn es gelingt, im öffentlichen Raum auf allen Ebenen interkulturelle Kommunikationen zu institutionalisieren, können alle Staatsbürger ihre historischen Erfahrungen als schon immer hier Lebende, als schon lange hier Lebende und als neu Hinzugekommene in den Dialog einbringen. Im interkulturellen historischen Dialog setzen sie sich in ein Verhältnis zueinander. Wenn es gelingt, den Anderen in seiner Transzendenz anzuerkennen, so wie auch ich von ihm in meiner Transzendenz anerkannt sein möchte, entsteht eine relationale Beziehung, ohne dass die Dualität der Subjekte noch deren Unterschiede untereinander aufgehoben wären.131 Menschen, die sich in ein solches relationales Verhältnis zueinander setzen, mögen dann auch in der Lage sein, Geschichte relational zu denken und zu kommunizieren. Relationale Geschichte kann dann als ein performativer Akt verstanden werden, der sich einer „Ethik des Anderen“ verpflichtet sieht.132 Wer sich mit seiner Geschichte in ein Verhältnis zu einem Menschen mit anderer Geschichte setzt, fragt nicht mehr: ‚Wo kommst du her?‘, sondern:

129 Vgl. Kaufhold, Martin: Europas Werte. Wie wir zu unseren Vorstellungen von richtig und falsch kamen. Paderborn 2013. S. 147. Auch: Völkel, Bärbel: Darf einer sich gegen eine tausendjährige Tradition stellen? – Martin Luther im multikulturellen Geschichtsunterricht. In: Luther unterrichten. Fächerverbindende Perspektiven für Schule und Gemeinde. Hrsg. von Thomas Breuer & Veit-Jakobus Dieterich. 2016. S. 64-77. 130 Sen, Amartya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt München 2012. S. 165. 131 Irigaray, Luce: Welt teilen. Freiburg im Breisgau 2010. S. 11. 132 Mersch, Dieter: Vom Anderen reden. Das Paradox der Alterität. In: Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs. Hrsg. Manfred von Brocker & Heino Heinrich Nau. Darmstadt.1997. S. 27–45, hier S. 44.

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‚Welche Erfahrungen bringst du mit?‘ und ‚Wie können wir unsere unterschiedlichen Erfahrungen so in die Gesellschaft einbringen, dass damit eine Ordnung in unsere Gesellschaft gebracht wird, in der jeder von uns sich wieder findet und eine gemeinsame Zukunft erwartet?‘ Die historische und kulturelle Pluralität in einer Gesellschaft bedingen eine „hermeneutische Situation“, bei der davon ausgegangen wird, dass die eigenen historischen Erfahrungen wahr sind, ohne dass die des Gegenübers falsch sein müssen.133 Im Rahmen einer relationalen Geschichte wird dann „nicht mehr im Schema der naturalen Ähnlichkeiten von Arten und Gattungen, sondern im Schema funktionaler Äquivalenzen“ kommuniziert.134 Geschichte in Einwanderungsgesellschaften wird dann von der Zukunft her gedacht:135 Wie sollen unser Staat und unser Zusammenleben organisiert sein, damit sich jeder und jede hier heimisch und angenommen erleben? Alle am Dialog Beteiligten entwickeln nun aus ihren jeweiligen historischen Apriori und Archiven (also Ihren jeweiligen Geschichten und denen, die auch noch möglich sind) heraus Vorstellungen, die geeignet scheinen, dem demos auf unterschiedlichen Ebenen eine empirische Absicherung sowohl am Ort als auch in der Welt zu geben. Dafür ist es nötig, nach den funktionalen Äquivalenzen in den jeweiligen Geschichten zu suchen, die dialogisch aufeinander bezogen werden können.136 Geschichte als Archiv von pluralen Aussagensystemen wird dann zu einem pluralen sekundären Erfahrungsraum und auch zur Inspiration. Über die Reflexion von Kontinuität und Wandel, von Kohärenzen und Differenzen aus den pluralen Erfahrungen und Möglichkeitsräumen, die in die den Lebenswelten vorausgehenden Gegenwarten zurückreichen, kann eine gemeinsam getragene Gegenwart entwickelt werden, die dann auch zu einer gemeinsamen Geschichte verschmilzt, die in die jeweiligen historischen Apriori und deren Archive eingeht. Pluralität bleibt auf diese Weise erhalten, bekommt aber zunehmend gemeinsame Er-

133 Mall 1997, S. 75 und 84. 134 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft 1. Frankfurt a.M. 1997. S. 590. 135 Vgl. hierzu: Rüsen 2013, S. 279. „Aus einer ursprungsorientierten Teleologie wird eine zukunftgerichtete Rekonstruktion“. Diese Rekonstruktion speist sich nach einem interkulturellen Dialog aber aus vielen Geschichten. 136 Unübersehbar ist nun die Notwendigkeit, dass sich die Pluralität der Gesellschaft auch in den Wissen generierenden Institutionen abbildet.

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innerungen. Auch diese Geschichte wird ja für die Lebenden bis in die transgenerationellen Bezüge hinein wieder identitätskonkret werden – nun aber nicht mehr als hegemonialer Erinnerungsdiskurs: Mit dem Versterben der ältesten Generation geht deren kommunizierte Erfahrung in das jeweilige diskursive Archiv ein, in das der Verstorbene transgenerationell gehört. Im politischen Raum bleiben fortan die Archive der pluralen Erinnerungsgemeinschaften relevant und täglich wichtig. Deutschland als Projekt hat damit Zukunft – aber eine, die sich nicht mehr aus der Vergangenheit heraus erzählen lässt, sondern in der die historischen Erfahrungen aller ihrer Staatsbürger verarbeitet sind. Gleichzeitig gilt es auch, sich an den globalen Fragen zu beteiligen – unter der Maßgabe des gleichen Verfahrens, das dann auf die Weltgemeinschaft ausgedehnt wird.

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Kulturelle Selbstvergewisserung und die Identitätsproblematik Zur Konzeption einer im-werden-begriffenen multiplen Identität

R AM A. M ALL „Angesichts unserer unausweichlich pluralen Identität müssen wir im jeweils gegebenen Kontext entscheiden, welche Bedeutung wir unseren einzelnen Bindungen und Zugehörigkeiten zumessen [...] Die Identität kann ja eine Quelle von Reichtum und Freundlichkeit wie auch von Gewalt und Terror sein.“ AMARTYA SEN

E IN W ORT

ZUVOR

Die zentrale These, die hier vorgeschlagen, dargestellt und diskutiert wird, ist die folgende: Identität ist ein Prozess und weder Ding noch unveränderliche Entität. Stets im Werden begriffen, weist Identität unter ihren je eigenen kontextuellen Bedingungen, unterschiedliche adjektivische Bestimmungen auf, und bleibt so jenseits der gefährlichen Konstruktion eindimensionaler Identitäten. Die Anerkennung multipler Identitäten ist ein Gebot der Stunde.

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Ferner scheint es eine anthropologische Konstante zu sein, dass die menschliche Gattung in einer unaufhörlichen Bewegung lebt: Vom je herrschenden Zustand, hin zu einem Zustand, in dem wir gern sein möchten. D.h. verhaftet sein im beständigen Prozess vom Ist-Zustand zum SollZustand. Dies sind die beiden Dimensionen der Identität: Die phänomenologisch-deskriptive und die normative, die präskriptive. M.a.W. ist auch hier die alte Dichotomie zwischen „Sein“ und „Sollen“ am Werke. Die Differenz bzw. die Diskrepanz zwischen den beiden Identitätspolen, kann sowohl Ansporn als auch Enttäuschung sein. Wir sind zu einem Entwurfscharakter verurteilt. Die anthropologische Psychiatrie geht heute mit Recht von einem in sich widersprüchlichen Wesen des Menschen aus, in unserem Falle eben von einer Widersprüchlichkeit zwischen den Polen der „IstIdentität“ und der „Soll-Identität“. Diese „Soll-Identität“ ist wie ein Polarstern, ist wie eine, in der Terminologie Kants „regulative Idee“. Das Problem der Identität ist und bleibt ein Rätsel, und dies heute mehr denn je. Identität im heutigen globalisierten interkulturellen Kontext, bewegt sich auf drei Ebenen: Erstens ist da die eigene Herkunftsidentität, die unterschiedlich verankert sein kann und sich oft einem Wandel verweigert. Zweitens verformt sie sich diese Herkunftsidentität oder lässt sich verformen. Drittens, lebt diese Herkunftsidentität von einer Plastizität, die sich weder restlos verformen lässt noch sich einem Wandel restlos verweigert. Es ist diese dritte Form der Identität, die „ein und nicht kein Bildungsproblem“ darstellt. Denn von einer Pädagogik wird erwartet, dass sie sich die Entwicklung und Kultivierung einer solchen Haltung, zu ihrem Ziele macht. Denn es geht um eine Plastizität und die Anerkennung dieser, die Identität in fast allen Bereichen des Lebens im Werden begriffen sein lässt. Dies hat ferner zur Folge, dass die Vorstellung einer unveränderlichen, essentialistischen Identität aufgegeben werden muss. Identitäten fallen nicht vom Himmel. Es ist zwar wahr, sie werden uns oft zugeschrieben. Aber letzten Endes können und sollen auch die uns zugeschriebenen Identitäten einem rationalen, selbstbestimmten Entscheidungsprozess unterliegen. Es zeugt von einer Denkfaulheit, wenn wir Identitäten als Vorgegeben annehmen, um dadurch regressive Praktiken rechtfertigen zu können mit der Begründung: Wir können es nicht anders.1 Mit Herkunftsidentität ist es so eine Sache. Man kann sie freilich nicht ganz

1

Vgl. Sen, Amartya: Reason Before Identity. Oxford 1999. S. 21.

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UND DIE I DENTITÄTSPROBLEMATIK

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loswerden. Aber man kann und soll sie selbstbestimmt akzeptieren, ablehnen, modifizieren oder transformieren. Freilich ist die Identität, die durch äußere physiognomische, physiologisch-biologische (wie z. B. Hautfarbe) Merkmale feststeht, kaum zu leugnen. Was wir jedoch tun sollen, ist ihre ungerechtfertigten positiven oder negativen Besetzungen abzulehnen.

G LOBALISIERUNGSFORMEN IN DER G ESCHICHTE DER M ENSCHHEIT Die europäische Moderne weist mehrere Stufen auf und trägt unterschiedliche Gewänder. Die Moderne ist kein statisches Phänomen. Auch sie unterliegt mehr oder minder dem Inkulturationsprozeß. Die japanische Moderne ist unverkennbar die Moderne, zugleich jedoch unverwechselbar japanisch. Im Gegensatz zu vielen anderen Kulturen, die von der Schwemme der amerikanischen Filme und anderen Erscheinungen überrannt werden, gibt es in Indien (Bollywood), eine Filmkultur, die im Ganzen ein unverwechselbares indisches Gesicht trägt. Befreit man sich von der Kurzatmigkeit und Enge und stellt die Globalisierungsformen in eine allumfassende Geschichte der Menschheit und der Zeit (falls es sie gibt), so kann man Globalisierungsphänomene als Trend der Zeit bezeichnen. Und solche Trends hat es seit Menschengedenken gegeben. Einige Globalisierungsformen seien hier kurz erwähnt. 1. Die Globalisierung der indischen Erfindung der Null und des Dezimalsystems, die ihren Weg über Persien, Arabien nach Europa nahm. Unsere heutige weltumfassende Zahlenschrift ist ein weiterer Beleg der Globalisierung einer indischen Erfindung. Das Schachspiel, das in Indien entstand, ist heute ein Welteigentum. 2. Die chinesische und indische Entdeckung der Teepflanze und die Gewohnheit des Teetrinkens, die sich in allen Ländern ausgebreitet hat. Lokalität wird zur Universalität. 3. Die chinesische Entdeckung des Schießpulvers, des Papiers, der Druckkunst und des Kompasses hat sich kontinuierlich weiterentwickelt und ausgebreitet bis zu den heutigen Waffensystemen. Adorno sieht zu Recht eine Kontinuität von der Steinschleuder zur Megabombe.

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4. Ferner gibt es ideologisch motivierte und vom Wunschdenken geleitete Vorstellungen wie z. B. der Weltkommunismus, Weltislam, Weltchristentum, Weltbuddhismus um nur einige zu nennen. Alle solche Vorstellungen tun der menschlichen Vielfalt Gewalt an. 5. Die heutige Globalisierung zeichnet sich im Wesentlichen durch ihre schicksalhafte Allgegenwart aus. Nichts scheint ihr zu entgehen. Globalisierung kennt zwei Dimensionen: eine rein deskriptive und eine normative, präskriptive. Der Mensch ist ein Faktor in der ungeheuren Komplexität der Bedingungen, und nicht selten mehr bestimmt als bestimmend. Interkulturalität ist auch ein Gesicht, das die heutige Globalisierung trägt. De facto gibt es das Phänomen der Interkulturalität seit Menschengedenken, und dies trotz der stellenweise sehr spannungsreichen Kulturbegegnungen. So ist die Konzeption einer totalen Reinheit einer Kultur eine Fiktion, ein Mythos und gefährlich, je mächtiger eine solche Konzeption sich durchzusetzen vermag. Die Vernetzung der Kulturen ist vielschichtig und lässt sich fast endlos in die Vergangenheit zurückverfolgen. In der langen Geschichte der Kulturbegegnungen haben die Mehrheits- und Minderheitskulturen aus unterschiedlichen Gründen sehr verschiedene Schicksale gehabt. Man denke z.B. an die Begegnung der arischen und vor-arischen Kulturen auf dem indischen Subkontinent, an die des indischen Buddhismus in China, Korea, Japan, Sri-Lanka und anderen südasiatischen Ländern, ferner an die der arabisch-islamischen Kultur mit der altiranischen Zarathustra-Kultur und an die der christlich-europäischen Kultur mit den Kulturen beider Amerikas u. a. an. Alle Schattierungen der Inkulturation, Akkulturation bis hin zur teilweisen oder völligen Zerstörung der Kulturen sind hier festzustellen. Unsere Frage lautet: Wie kommt es, dass einige dieser Begegnungen, zwar nicht ohne jede Spannung, aber doch eher friedlich und nicht zerstörerisch gewesen sind? Könnte es vielleicht doch an einer zu engen, provinziell- kulturellen Selbstvergewisserung der eigenen Identität liegen? Wer von einer alleinseligmachenden Masteridentität ausgeht (auf welchem Gebiet auch immer) bringt mehr Unglück als Gluck.

K ULTURELLE S ELBSTVERGEWISSERUNG

UND DIE I DENTITÄTSPROBLEMATIK

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K ULTURELLE S ELBSTVERGEWISSERUNG UND DIE I DENTITÄTSSUCHE Kulturelle Selbstvergewisserung hinsichtlich der Identitätssuche- und Findung ist so eine Sache. Da wir von einer totalen Reinheit der Kulturen nicht ausgehe können, ist eine jede kulturelle Selbstvergwisserung im Werden begriffen. Sie kennt Brüche, hat Fransen und baut auf konzentrischen Zirkeln. Die Phänomene der bi- und multikulturellen Identitäten lassen sich von hieraus begreifen. Ist eine kulturelle Selbstvergwisserung zu eng, so steht sie einer interkulturellen Verständigung und Kommunikation im Wege; ist sie dagegen zu weit, verwässert sie sich selbst, verliert das notwendige Zentrum und endet in einem Kulturbrei, ohne den Kulturdifferenzen gerecht zu werden. Mit Differenzen muss man einen behutsamen Umgang pflegen. Denn es gibt Differenzen, die annehmbar und tolerierbar sind. Aber es gibt auch Differenzen, die nicht tolerierbar sind. Die Differenzen mit Pegida gehören zweifelsohne der zweiten Gruppe an. Kulturvergewisserungen sind selbst intra-kulturell stellenweise konträr bis kontradiktorisch. Sokrates, der große Philosoph und Mensch, und seine Verurteilter, die Sokrates einen Schierlingsbecher trinken ließen, hatten sich beide der griechischen Kultur versichert. Hitler, Himmler, Goebbels auf der einen und Stauffenberg und sein Team auf der anderen Seite gingen von einer deutsch-kulturellen Selbstvergewisserung aus. Mahatma Gandhi und sein Mörder Godse waren beide je Inder und Hindu. Rabin und sein Mörder waren Juden. Die Kette solcher kulturellen Selbstvergewisserungen ist endlos. Die oben erwähnten Beispiele machen eines u.a. deutlich: Eine jede kulturelle Selbstvergewisserung, mag sie kulturell noch so unterschiedlich sein, muss einigen ihr vorgelagerten Werten wie z.B. der Menschenwürde, den Menschenrechten, der Toleranz, der Offenheit, der Kompromissbereitschaft verpflichtet sein. Eine jede Kultur ist ein Reservoir und hält eine Vielzahl von Eigenschaften, Werten und Unwerten bereit, und jede kulturelle Selbstvergewisserung ist, im Geist einer interkulturellen Gesinnung, verpflichtet, sich mit den friedfertigen Werten zu identifizieren.

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K ULTURBEGEGNUNGEN UND S UPERIORITÄTSANSPRÜCHE Ein gewisses Unbehagen begleitet seit Menschengedenken alle Kulturbegegnungen. Auf die Frage, warum einige der Kulturbegegnungen, anstelle spannungsarme und friedliche Begegnungen zu sein, ein Zusammenprallen darstellten und darstellen, das oft in einen „Kampf“ ausartete und ausarten kann, gibt es mehrere Antworten. Einer der Hauptgründe ist mit Sicherheit der absolutistische und exklusivistisch-universalistische Anspruch einiger Kulturen gewesen, der ein erträgliches Mit-und Nebeneinander der Kulturen verhinderte. Es geht nicht darum, dass man selbst die Vorstellung einer uns auf allen Gebieten des Denkens und Handelns leitenden regulativen Idee aufgeben muss. Es ist nicht die sog. Absolutheit der Wahrheit, die im Wege einer interkulturellen Kommunikation steht, sondern lediglich der absolutistische menschliche Anspruch, diese Absolutheit der Wahrheit allein zu besitzen. Absolutistische Ansprüche können nicht die Tugend der Kompromissbereitschaft hervorbringen und neigen zu einem Konsensdenken, das Differenzen nicht ernst nimmt und dem Konsens ein Primat vor der Kommunikation zukommen lässt. Der völlige Konsens wird erstens selten de facto erreicht. Zweitens spielt die Kommunikation die zentrale Rolle, die ihr im Vergleich zum Konsens zusteht. Dissense sind da, und Konsens soll sein. Es ist der Konsens, der in der Zielrichtung liegt. Die Frage ist daher nicht, wie einen allumfassenden Konsens herstellen, sondern wie mit Dissensen friedlich umgehen. Konsens ist in erster Linie eine regulative und nicht eine konstitutive Idee.

D AS HEUTIGE ANGESPROCHENSEIN H OFFNUNGEN UND R ISIKEN

DER

K ULTUREN :

Das heutige Angesprochensein der Kulturen und Religionen ist in vieler Hinsicht von ganz anderer Qualität als das gewesene in der Geschichte der Menschheit. Die de facto hermeneutische Situation ist heute so geartet, dass die nicht-europäischen Kontinente mit ihren je eigenen Stimmen am Gespräch beteiligt sind. Dieses Gespräch ist begleitet von einer vierdimensionalen hermeneutischen Dialektik. Als Beispiel hier Europa in seinem Verhältnis zu Nicht-

K ULTURELLE S ELBSTVERGEWISSERUNG

UND DIE I DENTITÄTSPROBLEMATIK

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Europa: Erstens gibt es, trotz aller intrakulturellen Differenzen, eine Selbsthermeneutik Europas. Es ist nicht lange her, dass die Welt fast geopolitisch in zwei Teile geteilt wurde: The West and the Rest. Zweitens gibt es eine Fremdhermeneutik, und hier geht es um das europäische Verstehen der nichteuropäischen Kulturen, Philosophien und Religionen. Die institutionalisierten Fächer wie z.B. das Fach Orientalistik an den akademischen Einrichtungen belegen dies. Diese beiden hermeneutischen Dimensionen hat es fast seit dem Alexander-Zug nach Indien über die Entdeckung Amerikas bis zum Ende des Kolonialismus gegeben. Drittens sind da die nicht-europäischen Kulturen, die heute eine eigene Selbsthermeneutik entwickeln. Viertens – und dies ist das Neue – ist das Verstehen Europas durch die nicht-europäischen Kulturen. In dieser Situation stellt sich die Frage, wer versteht wen, wann, warum und wie besser oder sogar am besten. Die Zeiten sind heute vorbei, als man mit dem Anspruch auftreten konnte, dass wir Europäer die Fremden besser als sie sich selbst verstehen. Es mag Europa eher überraschen, dass es heute von den Nicht-Europäern interpretierbar geworden ist. So verlangt diese de facto existierende hermeneutische Situation nach einer Philosophie der Hermeneutik, die offen, selbstkritisch und bescheiden genug ist, um die Traditionsgebundenheit, auch der eigenen Kultur, einzusehen. Eine solche interkulturell orientierte Hermeneutik geht von einer grundsätzlichen Reziprozität aus, die die beiden Aspekte, das Verstehenwollen und Verstanden-werden-wollen, zusammen denkt als zwei Seiten derselben hermeneutischen Münze. Hinsichtlich der Problematik der Methodologie der interkulturellen Philosophie möchte ich folgendes sagen: Erstens lehnt interkulturelles Philosophieren jedweden Methodenmonopolismus ab. Denn dagegen spricht schon die ungeheure Komplexität der menschlichen Verhältnisse. Zweitens privilegiert interkulturelle Philosophie die Methode einer phänomenologisch-deskriptiven Hermeneutik, die keine geschichtlich entstandenen hermeneutischen Modelle unnötig privilegiert und in den absoluten Stand setzt. M. a. W. gibt es weder den einen absoluten Text noch die eine absolute Interpretation. Drittens wendet sie eine analytisch-logische Methode an. Es geht um eine Methode, die sowohl eine Logik der Identität und eine der Differenz mit ihren Ansprüchen von totaler Kommensurabilität und völliger Inkommensurabilität zurückweist und für eine Logik der Überlappung plädiert, die jenseits beider Fiktionen der Identität und Differenz das Verstehen-wollen und das Verstanden-werden-wollen zusammengehen

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lässt. Viertens schlägt sie eine neue Lesart der philosophia perennis vor, die als eine regulative Idee jenseits aller essentialistischen und ontologisierten Auffassungen niemandes ausschließlicher Besitz ist und sein kann. Fünftens geht sie von der Überzeugung aus, dass das Wesen der Philosophie weder per definitionem noch a priori auch nicht durch den Hinweis auf die unterschiedlichen Ansichten der philosophischen Schulen dingfest machen lässt. Eine andere, alternative Art zu philosophieren ist auch Philosophieren, mag sie noch so konträr oder sogar kontradiktorische sein. Es herrscht auch hier eine Wittgensteinsche „Familienähnlichkeit“ vor. Um eine einigermaßen konsensfähige Definition der Philosophie zu gelangen stellt interkulturelle philosophische Orientierung die Frage: Was tun Menschen, die sich Philosophen nennen, wenn sie philosophieren? Die Praxis gibt dem Begriff seinen Sinn. Sechstens spricht sie von der Notwendigkeit einer neuen, interkulturell-philosophisch orientierten Konzeption der Historiographie der Philosophie, die von einer Pluralität der Geburtsorte der Philosophie ausgeht und dies interkulturell-philosophisch vergleichend belegt.

I NTERKULTURALITÄT

VS .

T RANSKULTURALITÄT

Der Begriff der Interkulturalität ist gegen die Universalisierung einer bestimmten Kultur, sei diese europäisch oder nicht-europäisch. So ist Interkulturalität nicht eine trans-kulturelle Instanz, sondern der Name einer Einstellung mit einer vierfachen Perspektive: einer philosophischen, einer religiösen, einer politischen und einer pädagogischen. Unter philosophischer Optik besagt sie, dass die eine philosophia perennis niemandes Besitz allein ist. Unter religiöser Optik bedeutet sie, dass auch die eine religio perennis nicht der absolut-exklusivistische Besitz einer bestimmten Religion ist. So hat Interkulturalität ihr Gegenstück in der Interreligiösität, die eine urreligiöse Überzeugung von dem einen Wahren mit vielen Namen ist. Unter politischer Optik ist Interkulturalität der Name einer pluralistischen demokratischen Einstellung, die auch die politische Weisheit nicht alleinigen Besitz irgendeiner Partei, Gruppe oder Ideologie sein lässt. Die pädagogische Perspektive, eigentlich die wichtigste, hat die Aufgabe, die Einsichten und Ansichten der drei anderen Perspektiven von den Kindergärten bis zur Universität zum Tragen zu bringen. Alle diese Perspektiven haben eine offene Gesellschaft sowohl zur Voraussetzung als auch zur Folge.

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Die hier vertretene Auffassung von der Interkulturalität hat einen toleranten Pluralismus zur Folge. Es geht dabei nicht bloß um irgendeine Form der „correctness“, sei sie philosophisch, kulturell, politisch oder religiös gemeint. Es geht eigentlich um eine erkenntnistheoretische, ethischmoralische Einsicht in die de facto pluralistische, aber nicht unverbindliche Struktur im Denken, Fühlen und Wollen. Interkulturalität ist selbst nicht ein Name einer bestimmten konkreten Kulturalität; sie ist vielmehr eine Einstellung, eine Attitüde, die alle Kulturen begleitet und verhindert, dass irgendeine bestimmte Kultur sich verabsolutiert. Zur Theorie und Praxis einer kulturellen Selbstvergewisserung gehört daher das Zurückweisen der Fiktionen einer totalen Kommensurabilität und einer radikalen Inkommensurabilität. Dies hilft uns, dass wir bei unserer Identitätsfindung weder das Fremde uns gewaltsam aneignen noch uns verleugnen. Es geht daher um eine Hermeneutik, die weder die einer totalen Identität noch die einer radikalen Differenz ist, sondern eine „interkulturelle analogische“. Eine analogische Hermeneutik geht, methodologisch orientiert, von Überlappungen unter den Kulturen aus, die aus unterschiedlichen Gründen vorhanden sind. Es sind auch diese Überlappungen, die Vergleiche und Übersetzungen ermöglichen. Die analogische Hermeneutik vertritt die These, dass man auch das versteht und verstehen kann, was man selbst nicht ist und nicht sein will. Eine Hermeneutik, die im Namen des Verstehens eine Selbstverdoppelung vornimmt erlebt ihre Grenze, wenn das Fremde sich nicht aneignen lässt. Es ist eine menschliche Anmaßung, alles nach dem eigenen Bild verstehen zu wollen. So etwas ist nur Gott möglich. Eine weitere Konsequenz der analogischen Hermeneutik ist, dass sie das Andersverstehen nicht mit Falschverstehen gleichsetzt. Andersverstehen ist nicht Falschverstehen, es sei denn, es ist ein Verstehen, das neben sich keine andere Form des Verstehens zulässt. Solche sich verabsolutierenden Ansichten sind schon in der Theorie absolutistisch, exklusivistisch und fanatisch-fundamentalistisch. Gegenargumente sind auch Argumente, Gegenüberzeugungen sind auch Überzeugungen, mögen sie noch so konträr sein. Freilich ist hier die Überlappung sehr dünn, aber sie erlaubt uns, offen und tolerant zu sein. Daher gilt der Imperativ: Lasse alle Lesarten zu bis auf diejenigen, die neben sich keine anderen dulden und zulassen. Toleriere die Toleranten könnte unser Motto lauten aus dem einfachen Grunde, weil die Intoleranz den Wert Toleranz zerstört.

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Eine jede kulturelle Selbstvergewisserung aus interkultureller Sicht – so unser Fazit – muss sich zweifach vergewissern: Erstens soll eine Identitätsfindung auf der kulturspezifischen Ebene des Eigenen stattfinden und zweitens auf der der kulturübergreifenden überlappenden Ebene. Eine solche offene und tolerante Selbstvergewisserung ist identitätstheoretisch konzentrisch angelegt, wobei die unterschiedlichen Identitätszentren in einander übergehen. Wollte man einen kulturellen Selbstvergewisserungsimperativ formulieren, so könnte er so lauten: Immer wo und immer wenn es zwischen diesen beiden Formen – der kulturellen und interkulturellen Selbstvergewisserungeinen Streit gibt, so wähle die letztere, weil diese uns vor den Gefahren einer provinziell-kulturalistischen Selbstvergewisserung bewahrt. „Brunnenfroschmentalitäten“ – auf welchem Gebiete auch immer – sind kommunikationsfeindlich.

I DENTITÄT

STETS ANGESICHTS DER

V IELFALT

Es gibt nicht die eine Identität. Jede Identitätsfindung muss sich von zwei Fiktionen einer totalen Identität und radikalen Differenz absagen. Es geht nicht so sehr um erstens Einheit in der Vielfalt, zweitens Einheit und Vielfalt, drittens sowohl Einheit als auch Vielfalt, viertens weder Einheit noch Vielfalt, sondern vielmehr fünftens um Einheit angesichts der Vielfalt. Identitätsbenennungen sind immer adjektivisch anzugeben. Ein sehr schönes und sehr persönliches Beispiel gibt Amartya Sen, wenn er über seine eigene Identität nachdenkt: „Was mich betrifft, so kann man mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeshischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischen Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte der von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tod [...] angeht. Dies ist nur eine kleine Auswahl der unterschiedlichen Kategorien, denen ich gleichzeitig angehören kann […]“2 Identität weist ein Strukturmerkmal auf, das ich hier

2

Sen, Amartya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007. S. 33f.

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ihre „orthafte Ortlosigkeit“ bezeichnen möchte. Sie ist stets orthaft, wenn sie konkret wird und sie ist auch ortlos, weil sie in keiner ihrer Identitätsformen restlos aufgeht. Fundamentalisten fast aller Richtungen stellen eine bestimmte kontextuell relevante Identität wie z. B. Rasse, Religion, Kultur und dgl. in den absoluten Stand und lassen alle Identitäten von ihr leiten und lenken. Eine solche Masteridentität gibt es nicht, sie ist eine Ideologie, ein Mythos, eine Fiktion und dazu auch noch gefährlich.

I DENTITÄT , G EWALT UND G EWALTLOSIGKEIT K ONTEXT DER „W ELTINNENPOLITIK “

IM

Die heutige Globalisierung hat die Weltverhältnisse dergestalt miteinander vernetzt, dass von einer Außensicht heute kaum die Rede sein kann. Der Physiker, Philosoph und in unserem Zusammenhang hier der Konflikt- und Friedensforscher, Carl Friedrich von Weizsäcker, schuf sehr passend den Begriff „Weltinnenpolitik“, um auf die heutige schicksalhafte Vernetzung aufmerksam zu machen. Man kann sich heute nicht absondern ohne abgesondert zu werden oder andere abzusondern. Es führt zu einer selbstverschuldeten Verengung, die beiden Seiten schadet. Die Beschränktheit einer reduktiven Sichtweise besteht darin, dass man eine bestimmte Identität zu der allbestimmenden macht. Eine zivilgesellschaftliche Gemeinschaft ist z. B. nicht gleich Glaubensgemeinschaft. Die Bürger und Einwohner eines Landes wie z. B. Deutschlands verbindet in erster Linie die zivilgesellschaftliche Identität und nicht die jeweilige religiöse Identität. Die Überwindung eines ‚Monokulturalismus’ ist daher für das Funktionieren einer multikulturellen Gesellschaft unbedingt notwendig, denn nur so kann man die Gefahren eines Separatismus und Sektierertums vermeiden. Multikulti ist nicht nur eine deskriptive, sondern ebenso eine normative, präskriptive Kategorie. Am Beispiel Gandhi möchte ich dies ganz kurz erläutern. Für Gandhi war die Kategorie des Inderseins der Oberbegriff, worunter dann andere Zugehörigkeiten und Identitätsformen sich subsumieren lassen. Eingeladen zur Teilnahem auf der „Indian Round Table Conference“ in London im Jahre 1931 wo über das indische Schicksal des Britisch Indiens verhandelt wurde, wurde Gandhi vorgestellt als Sprecher der Hindus. Gandhi stand auf, protestierte und sagte, er sei zwar ein Hindu, aber die politische Bewe-

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gung, die er vertrete und mit der er sich auch und vor allem identifiziere, sei universalistisch. Gandhi leistete zu Recht Widerstand gegen den Versuch der britischen Regierung, die reiche zivilgesellschaftliche multiethnische, multireligiöse und multikulturelle indische Identität einer singulären, reduktionistischen und gefährlich engen religiösen Klassifikation unterzuordnen. Gandhi wollte, dass die britischen Herrscher Indien nicht willkürlich auseinander dividieren, sondern die Pluralität der vielfältigen indischen Identität anerkennen.3 Drei Punkte stehen hier im Zentrum: Erstens soll über Identität im Allgemeinen etwas gesagt werden. Zweitens soll Identität im interkulturellen Kontext thematisiert werden. Drittens soll die multikulturell und multireligiös angelegte indische Sicht der Identität dargestellt werden mit einem Plädoyer, dass dieses Modell im 21. Jh. ein geeigneter Weg sein könnte für eine interkulturelle Kompetenz, die eine ‚interkulturelle Koexistenz‘ erst ermöglicht. Dass Identitäten, ob individuelle, kulturelle oder kollektive, sich ändern und immer im Werden begriffen sind, ist eine allgemeine, aber sehr richtige Beobachtung und Feststellung. Das buddhistische Element in der chinesischen, in der japanischen und in der indischen Kultur, das christliche in der europäischen, das christlich-europäische in der amerikanischen, das islamische in der indischen, in der indonesischen und in der persischen Identität belegen dies. Über Identität und Identitätsbildung lässt sich generell folgendes sagen: Eine völlig reine Identität gibt es nicht. Ebenso ist es eine Fiktion, ein Mythos von der totalen Reinheit einer Kultur, Religion, Rasse und dgl. auszu-

3

Vgl. „Indian Round Table Conference” (Second Session) 7th September 1931: Proceedings, London: Her Majesty’s Stationary Office 1932. Theorien über Religionen, Kulturen und Zivilisationen, die eine singuläre Identität fast ausschließlich betonen, sind zwar selbst nicht gewalttätig, aber können u. U. zur Gewalt führen. In den meisten westlichen journalistischen Berichterstattungen wird oft die religiöse Zugehörigkeit an erster Stelle erwähnt, auch wenn in einem besagten Kontext diese Identität eine untergeordnete Rolle spielt. So fragte der Araber, Iraker, Sa’doon al-Zubaydi; ein Mitglied des iraktischen Verfassungsausschusses einen BBC-Reporter: „Darf ich Sie bitten, mich nicht als Sunniten, sondern als Iraker vorzustellen?“ (Sunday Telegraph: The Real News from Iraq, 28. August, 2005, S.24.

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gehen. Denn eine solche Vorstellung ist sachlich falsch, faktisch widerlegt und ideologisch gefährlich. So schält es sich heraus: Identität ist ein schillernder und sehr facettenreicher Begriff, und dies umso mehr in der heutigen globalisierten Welt. Die Pluralität der Kulturen, Religionen und Weltanschauungen lässt sich heute nicht mehr verstecken. Es kommt einer fast selbstverschuldeten Anmaßung gleich, wenn man alles nach dem eigenen Bild verstehen will. Der fremden Identität wird in einem solchen Falle kein Eigenrecht zugestanden. (vgl. Identitätshermeneutik). Eine interkulturelle Orientierung hinsichtlich der Identitätsproblematik ist konzentrisch angelegt. Sie weist nicht so sehr die kulturspezifische Ebene des Eigenen zurück, sondern lehnt einen jeden engen, provinziellen Kulturalismus ab. Zentren müssen wir haben, Zentristen dürfen wir nicht sein. So gibt es eine sich stets erweiternde Identität, angefangen von der kleinen Familie, von Dorf und Nation bis hin zu einem internationalen Weltbürgertum. Die ‚Sehn-Sucht‘ nach einer einzigen, total reinen Identität darf nicht zu einer ‚Sucht‘ werden, weil sie dann Kontextualitäten leugnet, die polyvalente Verankerung nicht in Betracht zieht, sich selbst in einen absoluten, exklusivistischen Stand setzt und so im Wege einer interkulturellen und interreligiösen Kommunikation und Verständigung steht. Aus dem Gesagten folgt: Identitäten fallen nicht vom Himmel sie werden auch nicht so sehr ‚entdeckt‘, sondern vielmehr in freiwilliger Entscheidung ‚gewählt‘. Die sich wechselnden religiösen, kulturellen, politischen Identitäten belegen dies zur Genüge. Identität ist im Wesentlichen ein plurales Konzept, und wir müssen heute den Ausdruck ‚multiple Identitäten‘ von der jahrhundertlangen negativen Besetzung befreien und sie positiv besetzen, wenn wir dem Ziel einer friedlichen interkulturell, interreligiöse und zivilgesellschaftlich orientierten multikulturellen Gesellschaft in ihrer normativen Valenz zum Erfolg verhelfen wollen.

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Z UM

M ODELL DER I DENTITÄT ALS EINEM MÖGLICHEN V ORBILD FÜR HEUTIGE KOSMOPOLITISCHE I DENTITÄTEN INDISCHEN

Der indische Sub-Kontinent weist eine inklusivistische (nicht aber einverleibende) und eine pluralistische (nicht aber unverbindliche) Konzeption der indischen Identität aus und könnte ein Weg sein, um mit den Herausforderungen des 21. Jh. zurecht zu kommen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die heiß diskutierten Themen wie z. B. globale Vernetzungen, kosmopolitische Identitäten und dgl. von dem indischen Modell eines interkulturell- und interreligiös-orientierten Überlappungskonsens profitieren können. Und das heißt, dass eine Diversität religiöser, politischer Verortungen kein Hindernis zu sein braucht auf dem Wege einer pluralistischdemokratisch säkularen und sakralen Partizipation.4 Interkulturalismus, nicht Kulturalismus, welcher Provenienz auch immer, ist das Gebot der Stunde. Eine interkulturelle Orientierung schließt ein, nicht aus. Die Vorsilbe inter besitzt ein Primat im Vergleich zu den Vorsilben trans, multi und intra. Indien hat eine lange Tradition der Akzeptanz der Heterodoxie, die den Pluralismus als einen Wert ansieht.5 Der Buddha war kein Hindu, für die Hindus sogar ein Häretiker, aber er war ein Inder. Die westliche Wahrnehmung Indiens, besondern im Zeitalter des Kolonialismus, Imperialismus und Missionarismus hat zu Zerrbildern geführt und Indien eine Identität (von außen her) zugeschrieben, die die indische Kultur durch die Eigenschaften wie z. B. Religiosität, Spiritualität, Emotionalität, Passivität und durch die Abwesenheit des logisch-rationalen und wissenschaftlichen Denkens definiert.6 Der bekannte indische Philosoph, B. K. Matilal spricht in diesem Zusammenhang von „Dogmen des Orientalismus“. Hinzu kommt der romantische Indien-Entwurf wie z. B. der der Schlegel Brüder, der Herders, Schopenhauers usw. Die Romantiker haben Indien 4

Vgl. Ganeri, Jonardon: Identity as Reasoned Choice. A South Asian Perspective on the Reach and Resources of Public and practical Reason in Shaping individual Identities. New York 2012.

5

Vgl. Buddhismus, Jainismus, Sikhismus, Hinduismus, Islam, Christentum, u.a.

6

Vgl. Sir William Jones u.a.

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viel zu einseitig betrachtet, es idealisiert und dies als eine Art Kompensation der eigenen Unzufriedenheit empfunden. Was dieser einseitigen Wahrnehmung Indiens seitens der westlichen Romantiker eine Legitimation (freilich nur scheinbar) verlieh, war der Umstand, dass es Inder gab und gibt, die dieses romantische Indienbild verinnerlichten und es heute noch stellenweise tun. Es handelte sich um eine westliche Projektion Indiens. Identitätsfindung unterliegt, recht besehen, einer zweifachen Sicht: einer internen, die man hat und einer externen, die einem zugeschrieben wird. Von drei solchen von außen zugeschriebenen Identitäten spricht der indische Nobelpreisträger, Amartya Sen: erstens die exotische, zweitens die magistrale und drittens die kuratoriale. Während die kuratoriale Sicht im Großen und Ganzen bei der Betrachtung Indiens auch die intellektuellen Merkmale der indischen Kultur in Betracht zog, übertrieb die exotische Romantisierung die indische Spiritualität. Die magistrale Sicht sprach dem indischen Geist die Fähigkeit analytischen, mathematischen, wissenschaftlich-rationalen Denkens ab. Ich stelle hier die Frage: Was für eine Art von Identität besitzt Indien? Wie lässt sich Indien, trotz seiner fast verwirrenden, nicht aber verworrenen, Vielfalt einheitlich definieren? Auf die Frage: Ist Indien ein Hindu-Land? ist dezidiert die Antwort: nein. Denn Indien war selten nur hinduistischen Bekenntnisses, denn es gab und gibt Religionen wie z. B. Buddhismus, Jainismus, Sikhismus, Judentum, Islam und Christentum u.a. M.a.W. ist die Definition: Inder-sein sei Hindu-sein nicht nur zu eng, sondern auch kulturell, religiös und politisch gefährlich und falsch. Der Hindufundamentalismus belegt das eben Gesagte. Der große Kaiser Ashoka (ca. 3. Jh. v.Chr.) war ein Buddhist und, wie seine Felsenschriften beweisen, vertrat er u. a. das Menschenrecht der Religionsfreiheit. Darüber hinaus sprach er von den Menschenpflichten, die ein Gläubiger zu erfüllen hat. Es gab unter seinen Ministern auch einen „Dharmamahamatra“ (in etwa vergleichbar mit den Ministerien für religiöse Angelegenheiten), dessen Aufgabe es war, den Respekt und die Anerkennung unter den Religionen zu gewährleisten und diejenigen zu bestrafen, die andere Religionen missachteten, beleidigten und ihnen gegenüber gewalttätig wa-

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ren.7 Was für ein wohltuender Kontrast im Vergleich zu den Religionsministerien in manchen Ländern heute! Akbar, der bekannte Mogul Kaiser im 16. Jh. in Indien war ein Muslim, unterhielte interkonfessionelle Gesprächskreise mit buddhistischen, jainistischen, muslimischen, atheistischen und christlichen Teilnehmern, gründete ein neue Religion unter dem Namen „Din-ilahi“ (Religion Gottes) und schlug eine nicht eng konfessionsgebundene Methode vor, die Methode, die er „Rahi Aql“, d.h. der Weg des Verstandes, der Vernunft nannte8. Während Akbar in den letzten Jahren des 16. Jh. solche Weite und Weisheit besaß, wurde im christlichen Europa Gordano Bruno der Ketzerei angeklagt und im Jahre 1600 in Rom verbrannt. Ashokas und Akbars Wege sind für die heutige ‚weltinnenpolitische Lage‘ beispielhaft. Indische Identität darf man nicht mit einer Teilidentität, ob kulturell, sprachlich oder religiös, gleichsetzen. Sie scheint eher der Name einer Einstellung, einer Überzeugung zu sein, die in dem vedischen Diktum von dem Einen Wahren mit vielen Namen zum Ausdruck kommt und ein Miteinander der Religionen ur-religiös verankert. Indien ist eine Nation und doch keine Nation. Gandhi hat stets dagegen protestiert, eine Nation bloß als eine Föderation von Religionen, Sprachen und Gemeinschaften zu betrachten. Die inklusivistisch-differenzierende, aber nicht diskriminierende Konzeption der indischen Identität favorisiert keine besondere Identität, ob buddhistische, hinduistische, islamische, christliche, um nur einige zu nennen. Der große Dichter-Philosoph und Neo-Hinduist, Tagore, weist auf drei Kulturen hin, die seine Identität ausmachen: hinduistische, islamische und britische. Indische Identität ist daher nicht nur, aber auch Hindu-Identität. Sollte nicht in diesem Geiste auch die europäische oder die amerikanische Identität nicht nur christlich-europäisch, sondern auch christlich-europäisch sein? In diesem Zusammenhang gilt nicht nur: Islam gehöre zu Deutschland, sondern auch Christentum gehöre zu Türkei, Ägypten, Irak, Indien usw. Einige Worte zu dem nicht- oder un-indischen Hindufundamentalismus: Hindufundamenta-

7

Vgl. Chowdhury, H. B. (Hrsg.): Asoka 2300, Jagajjyoti: Asoka Commemoration Volume 1997 AD/2541 B.E.. Kalkutta 1997. Smith, Vincent, A.: The Buddhist Emperor of India. Oxford 1909.

8

Vgl. Habib, Irfan (Hrsg.): Akbar and his India. Delhi/New York 1997. Smith, Vincent, A.: Akbar: The Great Mogul. Oxford 1997.

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lismus begeht den gefährlichen Fehler, die indische Identität mit HinduIdentität gleichzusetzen. Fundamentalisten aller Couleur begehen solchen Fehler. Hier liegt der logische Fehler: pars pro toto. Der Hindufundamentalismus tut dem tolerant-pluralistischen indischen Geist Gewalt an. Er hat die indische religiöse, kulturelle, sprachliche, ethnische Vielfalt sträflich missdeutet. Er hat darüber hinaus die ‚orthaft ortlose‘ eine göttliche Botschaft kulturalistisch und eng religiös missverstanden. Die eine ‚religio perennis‘, d.h. ‚Sanatan-Dharma‘ darf man nicht ausschließlich mit dem Hinduismus gleichsetzen. In diesem Zusammenhang spricht Amartya Sen von zwei Indien: von dem großen, weiten, eigentlichen und von dem kleinen, engen, uneigentlichen Indien.9 Es ist kurzsichtig und eng, kulturelle Identitäten z. B. nur von der Religion her zu klassifizieren. Genau dies tut Huntington in seinen diesbezüglichen Schriften. Und ironischerweise tun die Hindufundamentalisten etwas Analoges, ganz zu schweigen von anderen Fundamentalisten, die heute am Werke sind. Die Hindufundamentalisten mit ihrer Ideologie der „Hindutva“, d.h. der ‚Hindu-heit‘ gehen in drei Schritten vor: Erstens erfinden sie eine indische Vergangenheit, zweitens bauen sie drauf eine indische Gegenwart und drittens entwerfen sie, basierend darauf, eine indische Zukunft. So behaupten sie: Inder-sein ist gleich Hindu-sein. In diesem Sinne wäre eine Indianisierung der Muslime, der Christen, der Buddhisten u.a. der Tod des indischen hinduistischen Geistes. Die Hindufundamentalisten wollen ein ‚Miniatur-Indien‘ (small India) etablieren und tun der reichen, gesunden Vielfalt des indischen Geistes Gewalt an. In Indien kursiert seit langem ein Witz, der doch Ernst ist: Die weißen Shahibs, gemeint sind die Briten als Fremdherrscher ist Indien losgeworden. Aber wie kann und soll Indien die braunen einheimischen Shahibs, Herrscher loswerden, die das eigene Volk beherrschen. Ist dies eine Form des „Neorassismus“? Ich weiß es nicht. Oder vielleicht doch, wenn wir den Begriff Rassismus mit irgendeiner herrschenden Macht identifizieren. Man könnte ebenso von einer „Neoapartheid“ sprechen. Der französische Premierminister Valls spricht von „einer territorialen, sozialen, ethnischen Apartheid“ in Frankreich. Ferner könnte man auch von einer Abart des „Neokolonialismus“ sprechen.

9

Sen, Amartya: India: large and small, in: The Argumentative Indian. Writings on Indian History, Culture and Identity. Delhi/London 2005. S. 45f.

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Stellen wir die Frage: Kann ein Rassist tolerant sein? Auch eine bejahende Antwort gilt es zurückzuweisen, denn Rassist-sein, mit welchen Adjektiven auch immer, ist das Grundübel. Indien zeichnet sich aus nicht nur durch einen säkularen, sondern ebenso durch einen sakralen Pluralismus. Alleinseligmachende Anschauungen, ob politischer oder religiöser Natur haben, um einen Ausdruck von Karl Popper hier zu verwenden, der Welt Himmel versprochen und Hölle gebracht. Das Mangelhafte aller Ansichten mit der Vorsilbe „mono-“ besteht darin, dass sie Selbstverabsolutierung und Universalisierung unmöglich vermeiden können. Hitlers Buch Mein Kampf in den Bücherregalen war schon gefährlich genug und stellte eine theoretische Denkkrankheit dar. Im Namen einer ‚neuen, / ‚anderen’ Bildung gilt es, dieser gemeingefährlichen theoretischen Krankheit zu begegnen.

F AZIT Es gibt nicht die Identität so wie es nicht die Kultur, die Sprache, die Philosophie, die Religion usw. gibt. Identitäten, wie oben kurz dargestellt und besprochen, wählt man freiwillig, und die Kriterien dieser Wahl sind nicht eng kulturalistisch, sondern eigentlich inter-kulturell, d.h. kulturübergreifend verbindlich und verbindend. Daher ist die Idee einer ‚Leitkultur‘ kompatibel mit der Idee einer Mehrheitskultur, ohne dass sie (die Leitkultur) selbst die Mehrheitskultur sein muss. Die Kultur der Gewaltlosigkeit in ihren vielfältigen Gestalten ist das eigentlich verbindende Glied in multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften. M.a.W. ist die Kultur der Gewaltlosigkeit (Ahimsa) die eigentliche verbindliche und verbindende Leitkultur. Leitkultur ist selbst nicht eine bestimmte konkrete Kultur, sie ist der Name einer Haltung, einer Einstellung, die das Zusammengehen unterschiedlicher Anschauungen ermöglicht und eine multikulturelle Zukunft sichert. Nicht die kulturellen Zentren sind der Stachel im Fleisch der interkulturell orientierten multikulturellen Gesellschaften, sondern nur ihre je eigenen Zentrismen. Daher das interkulturelle Motto: Zentren – ja, Zentrismen nein.

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„P EGIDA“

Ängste vor Überfremdung, Entfremdung, Identitätskrise und –Verlust und dgl. Gibt es seit Menschengedenken. Es gibt hier jedoch eine zweidimensionale konzentrische Bewegung – eine verengende und eine erweiternde. Es gibt Menschen, die sich mit der ganzen Welt identifizieren, Weltbürger sind und Weltsolidarität kultivieren, hegen und pflegen. Auf der anderen Seite eine Gegenbewegung, wo der Mensch sich immer weiter einengt und ganz zum Schluss mit der je eigenen Individualität aufhört. Die These von den „zwei Seelen in meiner Brust“ ist auch eine Art Identitätskrise. Pegida-Leute haben Angst vor der Islamisierung des Abendlandes. In einem von mir geleiteten Seminar-privatissimé über Was machen mit einer stets im Werden begriffenen Identität? stellte eine Teilnehmerin die Gegenfrage angesichts der utopischen Vorstellung von einer Islamisierung des Abendlandes: Was hat man gemacht mit dem analogen Phänomen der Christianisierung. Ist die Islamisierung der IS Terroristen eine neue Auflage der abendländisch-christlichen Kreuzfahrer? Sind die IS-Leute bei den Kreuzfahrern in die Schule gegangen? Solche und ähnliche Fragen stellt man sich und liest in den Zeitungskommentaren. Dennoch ist die Frage erlaubt: Was ist das besonders Gefährliche an der an die Wand gemalte Islamisierung des Abendlandes heute? Ist es die kategorische Gewaltbereitschaft? Wie wäre es, wenn wir von solchen Bewegungen schon im Vorfeld ein Versprechen abverlangen (im Sinne Mahatma Gandhis) die ‚Protoreligiosität der Gewaltlosigkeit’ (ahimsa parmo dharma) bedingungslos anzuerkennen und versuchen im fairen Austausch der Argumente Menschen von der je eigenen Ansicht zu überzeugen. Hier sollte das Motto gelten: Jede Alternative ist zulässig bis auf die, die neben sich keine andere duldet, bekämpft und vernichtet. Ist eine solche Alternative überhaupt noch Alternative? Mit Nichten. In seinem Buch Das Herz der Religionen10 spricht der Dalai Lama vom Mitgefühl, in dem sich alle Religionen treffen und plädiert für die Möglichkeit und Wirklichkeit der ‚nicht-exklusivistischen interreligiösen Verständigung’. Mahatma Gandhi, der Bekehrungsversuchen gegenüber skeptisch bis ablehnend war, schlägt jedem Anhänger einer Religion eine ‚vertikale’

10 Dalai Lama: Das Herz der Religionen. Freiburg im Breisgau 2012.

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und keine ‚horizontale’ Bekehrung. M. a. W. soll ein Christ ein besserer Christ, ein Muslim ein besserer Muslim, ein Hindu ein besserer Hindu usw. werden. Ob die Pegida-Leute in ihrer Islamophobie nicht doch das Kind mit dem Bade ausschütten? Das Wasser mag schmutzig sein und verdient ausgeschüttet zu werden, aber nicht das Kind. Wie wäre es, wenn alle islamische Gelehrten (und nicht nur sie) ein Konzil berufen sollten, um ihre heilige Schrift Koran zeitgemäß und im Geiste einer gesunden, humanen, offenen, toleranten Lesart eine Zweiteilung vornehmen: Apokryphen und echte Schriften? Hierzu sollte dann gehören alle Stellen, die einen exklusivistischen Absolutheitsanspruch erheben zu den Apokryphen zu erklären. Ferner sollte eine Art Protoreligiosität der Gewaltlosigkeit zur Pflicht gemacht werden.

L ITERATUR DALAI LAMA: Das Herz der Religionen. Freiburg im Breisgau 2012. GANERI, JONARDON: Identity as Reasoned Choice. A South Asian Perspective on the Reach and Resources of Public and practical Reason in Shaping individual Identities. New York 2012. HABIB, IRFAN (Hrsg.): Akbar and his India. Delhi/New York 1997. SEN, AMARTYA: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007. SEN, AMARTYA: India: large and small, in: The Argumentative Indian. Writings on Indian History, Culture and Identity. Delhi/London 2005. SEN, AMARTYA: Reason Before Identity. Oxford 1999. SMITH, VINCENT A.: Akbar: The Great Mogul. Oxford 1997.

Die konstruktive Verunsicherung Drei Plädoyers für das Missverstehen in interkulturellen Begegnungen

F ABIAN L EHMANN

Schulungsangebote der interkulturellen Kompetenz vertreten überwiegend das Ziel, ein möglichst harmonisches Miteinander in interkulturellen Kontexten zu ermöglichen und dieses produktiv zu gestalten. Dennoch treten als Resultat dieser Schulungen nicht selten Effekte auf, die diesem Ziel entgegenstehen: Vorurteile werden gestärkt und Verkrampfungen im Umgang miteinander können sogar erst entstehen.1 Diese Einschätzung formuliert der Jenaer Professor für interkulturelle Wirtschaftskommunikation, Jürgen Bolten, in seinem Buch Interkulturelle Kompetenz, das 2012 in der fünften Auflage erschienen ist. Bolten selbst publiziert seit den 1990er Jahren zum Thema Interkulturalität im Wirtschaftsbereich. Seiner Einschätzung nach ist ein langfristig ausgerichtetes Lernen im Umgang mit Situationen, die interkulturelle Sensibilität erfordern, im Bildungsbereich noch immer kaum verankert. Allzu oft erschöpfe sich das Lehrangebot hingegen in punktuellen Kompetenzschulungen als Handreichung ‚erlaubter‘ und ‚unerlaubter‘ Handlungen in kulturell differenten Kontexten.2 Dieser Kritik am Konzept der interkulturellen Kompetenz möchte ich mich im Folgenden näher widmen und mich dabei ausführlicher auf einen

1

Bolten, Jürgen. 2012. Interkulturelle Kompetenz. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Hier S. 17.

2

Ebd., S. 39.

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Beitrag von María do Mar Castro Varela beziehen. Castro Varelas Text wird mir weiterhin als Ausgangspunkt dienen, um Konzepte und Praktiken zu beschreiben, in denen alternative Umgangsweisen mit herausfordernden Situationen in interkulturellen Kontexten erprobt werden. Dieses alternative Verständnis ist mit einem vereinfachenden Kompetenzmodell wie es von Bolten kritisiert wird, nicht zu vereinen. Das interkulturelle Projekt des Operndorf Afrika, wie es in der Entstehungsphase vom Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief bis zu seinem Tod im August 2010 praktiziert worden ist, bietet sich als Alternativansatz insbesondere an. Indem ich mich weiterhin auf Ansätze der cultural und der postcolonial studies beziehe, werde ich das von Castro Varela argumentierte und von Schlingensief künstlerisch gelebte Potential der Verunsicherung auch theoretisch herausarbeiten. Meiner Argumentation nach wird eine lediglich negativ konnotierte Auffassung von Missverstehen dem Potential interkultureller Kommunikation nicht gerecht.

W IDER DEN INTERKULTURELLEN M ASSNAHMENKATALOG Neben dem Bildungsbereich sind es vor allem international agierende Wirtschaftsunternehmen, die auf kurzfristige Kompetenzschulungen setzen. Dort erhofft sich die Unternehmensführung, durch interkulturell kompetente Mitarbeiter_innen den Berufsalltag zu optimieren. So ginge es nach Bolten vor allem darum, ein „Maximum an Handlungsautomation und damit auch ein Höchstmaß an Handlungseffizienz“ zu erreichen.3 Denn es sei gerade das ‚Fremde‘, das Routinehandlungen unterbreche, weil es dem Bekannten und zu Erwartenden zu widersprechen scheint.4 Auch Hora Tjitra und Alexander Thomas benennen als Ziele interkultureller Schulungen die Steigerung der Effizienz in Arbeitsverhältnissen und ebenso die Aufrechterhaltung sozialer Harmonie. Demnach sei die Vermeidung von Konflikten maßgebliche Zielsetzung für den Umgang mit den als kulturell ‚fremd‘ identifizierten Menschen, Vorstellungen und Praktiken. Um dies zu erreichen, würden Maßnahmen des „Integrierens, des kognitiven Verstehens und der Problembewältigung der kulturellen Unter-

3

Ebd., S. 109.

4

Ebd., S. 91.

DIE KONSTRUKTIVE VERUNSICHERUNG | 149

schiede“ hoch gehandelt.5 Grundlage für die Organisation ungestörter Handlungsabläufe sei also ein Verstehen des ‚Fremden‘, da es auch in einer kulturell differenten Umgebung das Einschätzen angemessener Handlungen erlaube. Ein solches Verständnis interkultureller Kompetenz sogleich relativierend, betonen Tjitra und Thomas jedoch, dass diese Anforderungen zuerst europäischen Vorstellungen und Anforderungen genügen müssen und folglich keine universelle Geltung beanspruchen können. Um dieses Argument zu bekräftigen, beziehen sich die Autor_innen auf die Forschung der Psychologin Hana Panggabean. Panggabean hatte in einer vergleichenden Studie zwischen Deutschland und Indonesien das vorherrschende Verständnis eines kompetenten Umgangs mit interkulturellen Fremdheitserfahrungen untersucht. Dabei stehe auf Seiten des indonesischen Umgangs mit Interkulturalität ein Verstehen des Gegenübers durchaus nicht im Vordergrund. Von Bedeutung sei vielmehr, die Grenzen der gemeinsamen Vorstellungen zu erspüren und diese dann zu akzeptieren. Ziel sei es demnach, in interkulturellen Begegnungen die Vielfalt und Unterschiedlichkeit anzunehmen und anzuerkennen, ohne dabei den Anspruch zu verfolgen, die Grenzen der geteilten Vorstellungen zugleich überwinden zu müssen.6 Sowohl Bolten, als auch Tjitra und Thomas ermahnen, nicht vereinfachenden Modellen einer interkulturellen Kompetenz zu erliegen. Weder punktuelle Schulungen, die sich mit der Vermittlung einfacher Handlungsanweisungen begnügen, noch ein unreflektierter und nicht hinterfragter Umgang mit einem deutschen, möglicherweise auch europäischen Verständnis kompetenten Verhaltens werden der Problemstellung gerecht. Die Autor_innen distanzieren sich auch von einem Kompetenzverständnis, das sich allein der übergeordneten Anforderung nach Effizienz und Handlungsautomation in der praktischen Anwendbarkeit in Arbeitsverhältnissen verpflichtet fühlt. Im Folgenden Abschnitt soll der Anwendungsbereich von interkultureller Kompetenz in der Wirtschaft wieder verlassen werden, um das Kon-

5

Tjitra, Hora / Alexander Thomas: Interkulturelle Kompetenz und Synergieentwicklung. In: Interkulturell denken und handeln. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis. Hrsg. von Hans Nicklas / Burkhard Müller / Hagen Kordes. Frankfurt am Main/New York 2006. S. 249–257. Hier S. 251.

6

Ebd., S. 251.

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zept nicht auf ökonomische Interessen einzuengen. Stattdessen soll einer Kritik Raum gegeben werden, welche die Pädagogik als weiteres wichtiges Feld adressiert, in dem interkulturellen Kompetenzschulungen hohe Bedeutung beigemessen wird.

P LÄDOYER 1: C ASTRO V ARELAS L OB DER V ERUNSICHERUNG Bereits 2002 wurde im Sammelband Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität ein Artikel María do Mar Castro Varelas veröffentlicht, in dem mit seltener Deutlichkeit Kritik am Konzept der interkulturellen Kompetenz, deren Annahmen und praktischer Umsetzung im Bereich der Pädagogik formuliert wird.7 Dabei belässt es Castro Varela jedoch nicht bei ihrer Kritik, sondern entwirft auch ein Gegenangebot, indem sie für das Potential der Verunsicherung wirbt und damit ein Plädoyer für produktives Missverstehen in interkulturellen Zusammenkünften formuliert. Für Castro Varela ist zum Erscheinen ihres Artikels vor knapp 15 Jahren der Diskurs um interkulturelle Kompetenz in eine tiefe Krise geraten. Interkulturelle Kompetenz war als Schlüsselkompetenz unhinterfragt als sinnvoll und auch notwendig erachtet worden und damit zu einem Allheilmittel im Umgang mit interkulturellen Herausforderungen avanciert.8 Diesen Annahmen stellt sich nun Castro Varela vehement entgegen und damit zugleich die grundsätzliche Frage, was interkulturelle Schulungsmaßnahmen tatsächlich leisten könnten und wer davon überhaupt profitiere. In ihre Kritik bezieht Castro Varela die zugrundeliegenden institutionellen Bedingungen ein, die sich auf die Berufspraxis von Lehrkräften, Erzieher_innen und Sozialarbeiter_innen auswirken. Sie stützt sich auf die Erfahrungen aus einem Pilotprojekt, das auf den von Mitarbeiter_innen Berliner

7

Castro Varelas Aufsatz ist nur in der ersten Auflage (2002) des Sammelbandes erschienen. In allen weiteren Auflagen, bis zur vierten im Jahr 2013, ist ihr Beitrag durch einen Aufsatz des Herausgebers Georg Auernheimer zu interkultureller Kommunikation ersetzt worden.

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Castro Varela, María do Mar: Interkulturelle Kompetenz – Ein Diskurs in der Krise. In: Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Hrsg. von Georg Auernheimer. Opladen 2002. S. 5–48. Hier S. 36.

DIE KONSTRUKTIVE VERUNSICHERUNG | 151

Behörden unverhüllt artikulierten Rassismus im Umgang mit Migrant_innen reagierte. Castro Varelas Argumentation impliziert, dass dieses Projekt keinen Einzelfall behandelt, sondern eine verbreitete Schieflage in deutschen Behörden beschreibt. Die Frage der Autorin lautet daher, inwieweit Kompetenzschulungen für Pädagogen überhaupt eine angemessene Antwort auf Rassismen sein können, die den Institutionen inherent sind, in denen Entscheidungen getroffen werden, die sich wiederum auf die pädagogische Praxis auswirken. So schlussfolgert Castro Varela: „Interkulturelle Kompetenz ist nicht selten die Good-will-Praxis einer dem institutionellen Rassismus hilflos gegenüberstehenden Pädagogencommunity“ (ebd., 44). Das eigentliche Ziel interkultureller Schulungen, ein gleichberechtigtes Miteinander von Menschen verschiedener Herkunft zu ermöglichen, müsse somit unerreicht bleiben. Denn solange nicht die institutionellen Ausgangsbedingungen in den Blick genommen würden, blieben auch die in der pädagogischen Praxis resultierenden ungleichen interkulturellen Machtverhältnisse unverändert.9 Mehr noch wirken für die Autorin Schulungen sogar kontraproduktiv, da sie sich an der Ungleichbehandlung beteiligen. Denn es seien schließlich die bereits privilegierten Angehörigen nicht-marginalisierter Gruppen, die im Beruf profitierten, verschaffen die zertifizierten Kompetenzen ihnen in Bewerbungssituationen doch Vorteile. Hinzu komme, dass im Reden über ‚die Anderen‘ diese erst als Gruppe abgegrenzt würden: „Interkulturelle Differenz ist gewissermaßen das Wissen über die zu ‚anderen‘ deklarierten“.10 Nicht selten handele es sich bei verordneten Schulungen außerdem um ein den Teilnehmer_innen aufgezwungenes Engagement, dass deshalb seine Adressaten gar nicht erreichen könne, andererseits jedoch den Initator_innen der Schulung eine Möglichkeit der Profilierung biete. Castro Varelas Kritik am Umgang der Pädagogik mit institutionalisierten Rassismen kann entgegengehalten werden, dass sie sich lediglich auf ein Projekt mit ausgewählten Berliner Behörden stützt, auf dessen Grundlage aber deutschen Behörden generell rassistische Ressentiments attestiert. Dennoch zeigt sich unbestreitbar gerade auch aktuell im Umgang mit geflüchteten Menschen die Dominanz politischer Entscheidungen, die sich unmittelbar in den Behörden niederschlagen und damit unweigerlich auf den Spielraum pädagogischer Möglichkeiten einwirken.

9

Ebd., S. 46.

10 Ebd., S. 44.

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Auf Grundlage ihrer ernüchternden Bestandsaufnahme fordert Castro Varela eine „radikale Politisierung der Pädagogik“,11 welche die Ausgangsbedingungen der ungleichen Machtverhältnisse einbezieht und darauf reagiert. Das erklärte Ziel der Autorin ist es dabei auch, den erstarrten Diskurs um interkulturelle Kompetenz aufzubrechen, unhinterfragte Grundannahmen offenzulegen und neue Verständnismöglichkeiten anzubieten. Gerade in der Formulierung eines alternativen Verständnisses interkultureller Kompetenz liegt die Stärke des Beitrags. Denn entgegen der Auffassung, Kompetenz müsse zwingend als „Konfliktvermeidungs- oder Bewältigungskompetenz verstanden“ werden,12 hält Castro Varela gerade das Potential zur Verunsicherung durch konfliktäre Situationen für eine herausragende Qualität interkultureller Kompetenz. In Gegensetzung zum konventionellen Verständnis plädiert sie gerade dafür, Unwissen und die damit einhergehende Verunsicherung anzunehmen und konstruktiv zu nutzen.13 Eine ähnliche Zielsetzung findet sich auch bei Bolten. Zwar geht dieser nicht so weit, Verunsicherung als wünschenswerte Herausforderung zu formulieren, wohl aber zeigt sich Kompetenz im interkulturellen Umgang für ihn gerade auch darin, mit „Nicht-Eindeutigkeiten“ umgehen zu können und sich die Flexibilität zu bewahren, Widersprüche auszuhalten.14 Die vornehmliche Aufgabe einer interkulturellen Kompetenz wäre dann folglich nicht, zur Verständigung beizutragen und die Wogen zu glätten, die durch das problematisierte und oft genug politisierte Aufeinandertreffen differenter Vorstellungen und Praktiken aufgewirbelt worden sind. Sondern interkulturelle Kompetenz kann mit Castro Varela vielmehr als Verunsicherung etablierter Handlungs- und Denkweisen verstanden werden, die letztlich als revitalisierende Maßnahme wirken kann. So verstanden ist es „geradezu ein Gütekriterium einer solchen Maßnahme, dass sie verunsichert. Sie soll verunsichern“, so Castro Varela.15 Der Gewinn interkultureller Verunsicherung bestehe demnach auch darin, auf die eigene Position in einer gesellschaftlichen Beziehung verwiesen zu werden, die immer auch ein Machtverhältnis beschreibt. Kompetent seien demnach die-

11 Hervorhebungen im Original. S. 40. 12 Ebd., S. 38. 13 Ebd., S. 46. 14 Bolton 2012, S. 15. 15 Castro Varela 2002, S. 40.

DIE KONSTRUKTIVE VERUNSICHERUNG | 153

jenigen, die ihre Ratlosigkeit zum Anlass nähmen, ihre eigene gesellschaftliche Position zu reflektieren.16

P LÄDOYER 2: S CHLINGENSIEFS

UNKONVENTIONELLES

V ORGEHEN

Auch Christoph Schlingensiefs Formulierung und frühe Umsetzung seiner Idee des afrikanischen Operndorfs kann als revitalisierend im Sinne Castro Varelas verstanden werden. Als interkulturelle Unternehmung unterlief das Operndorf Afrika von Beginn an die etablierten Strukturen und Muster der Projektimplementierung und -umsetzung. Schlingensief verfolgte vielmehr eine künstlerische Vorgehensweise, die seiner Arbeit als Theaterregisseur weitgehend entsprach. Ergebnisoffenheit, die Fokussierung auf den Prozess und eine flexible Planung, die als Reaktion auf die Erfahrungen in Burkina Faso immer wieder angepasst werden konnte, bestimmten sein Denken und Handeln. Und so wie Verunsicherung seine Theaterproduktionen und Kunstaktionen grundlegend prägte, setzte er dieses zentrale Mittel auch in der Präsentation seiner Operndorfidee ein. Einmal mehr verließ Schlingensief also die geschützten Räume des Theaters, um im öffentlichen Raum zu agieren und dabei immer auch mit der Verwischung der Grenze zwischen Kunst und Realität zu spielen. Das Operndorf Afrika kann grundsätzlich als Angebot verstanden werden, in Burkina Faso auch Menschen außerhalb der an Kulturangeboten äußerst reichen Hauptstadt Ouagadougou Anreize und Möglichkeiten zur kulturellen Selbstverwirklichung zu geben. Ziel war es für Schlingensief, einen Ort zu schaffen, an dem sich Leben und Kunst verbinden und auf diese Weise unkonventionelle künstlerische Ausdrucksformen hervorgebracht werden können. Das Operndorf umfasst heute verschiedene soziale und kulturelle Einrichtungen im ländlichen Burkina Faso, 30 Kilometer östlich der Hauptstadt. Die Siedlung beherbergt unter anderem eine Grundschule, ein Tonstudio, eine Krankenstation und einen Sportplatz. In den Schulgebäuden werden mittlerweile vier Klassen mit insgesamt 200 Jungen und Mädchen im Alter von sechs bis neun Jahren unterrichtet. Dabei werden die

16 Ebd., S. 43.

154 | FABIAN L EHMANN

regulären Schulfächer des Landes um Kunst-, Film- und Musikunterricht ergänzt. Die Schule wie auch alle anderen Einrichtungen sollen zunächst der angrenzenden Bevölkerung zugutekommen, aber auch von Gästen aus aller Welt besucht werden. Eine zentrale Idee ist es, dass die Ergebnisse der künstlerischen Produktionen im Operndorf auf die verschiedenen Ausprägungen von Kunst in Europa rückwirken sollen, um diese schließlich zu bereichern.17 Nach dem Tod Christoph Schlingensiefs ist es nun seine Mitarbeiterin und spätere Ehefrau Aino Laberenz, die zusammen mit dem Architekten Francis Kéré und unter Einbindung eines burkinischen und deutschen Beirats das Projekt weiterführt. Neben der konkreten Umsetzung des Projekts war das afrikanische Operndorf ein assoziationsstarkes Bild, an dem sich Schlingensief – und mit ihm die Öffentlichkeit – abarbeiten konnte. Die Verbreitung seiner Vision „Operndorf“ ermöglichte es ihm, europäische Vorstellungen von Hochkultur auf- als auch anzugreifen und einen Spielraum zu eröffnen, indem neue Interpretationen des Begriffs „Oper“ erprobt werden konnten. Ohne an dieser Stelle im Einzelnen auf die frühe Selbstdarstellung des Projekts einzugehen, verweist allein schon seine Bezeichnung auf, zumindest in Europa, stark besetzte und traditionell konfliktäre Konzepte. Denn die Begriffe „Oper“ und „Dorf“ schließen sich nach dem gängigen Verständnis von Oper als Prototyp europäischer Hochkultur eigentlich aus. In der Zusammenfügung zu einem Wort werden die antagonistischen Begriffe dann aber aufs engste konfrontiert. Als sei schon die so neu zusammengefügte Bezeichnung der Beweis für die Umsetzbarkeit der Pläne Schlingensiefs. Eine Szene aus Sibylle Dahrendorfs Dokumentarfilm Knistern der Zeit (2012), die Schlingensief auf seiner Suche nach einem geeigneten Ort für das Operndorf begleitete, verdeutlicht, wie unkonventionell der Projektinitiator aber auch praktisch vorging. Als sich Schlingensief nach Aufenthalten in verschiedenen afrikanischen Staaten schließlich für eine Anhöhe im westafrikanischen Burkina Faso entschied, war es nicht mehr weit bis zur feierlichen Grundsteinlegung des Operndorfs am 8. Februar 2010. Im Rahmen dieses Festes zeigt der Film einen Freund Schlingensiefs, vermutlich selbst Burkinabè,

17 Siehe Broschüre zum Operndorf Afrika unter der Überschrift „’Unsere Oper ist ein Dorf’. Gedanken und Zitate (I).“ Herausgeberin: Festspielhaus Afrika gGmbH, Stand: 20.01.2012.

DIE KONSTRUKTIVE VERUNSICHERUNG | 155

der ihm ein burkinisches Gewand überreicht. Abseits des Publikums, das der Grundsteinlegung beiwohnt, probiert Schlingensief das Kleidungsstück an. Es ist ein intimer und rührender Moment. Als Schlingensief vollständig bekleidet ist, kommentiert der Freund dies feierlich und begrüßt ihn als nun vollständigen Sohn Afrikas: „You are a son of the continent“. Schlingensief, der kein Wort Französisch und nur schlechtes Englisch spricht, versteht offensichtlich die Aussage seines Gegenübers nicht und beantwortet sie mit unangemessener Flapsigkeit und abwendender Geste: „Genau!“. Der symbolische Gehalt dieser Szene ist bedeutsam, denn der Raum für solcherlei Missverständnisse und ungeschicktes Verhalten in interkulturellen Beziehungen war im Operndorfprojekt gezielt angelegt. Anders als in konventionellen Unternehmungen im Bereich der interkulturellen Zusammenarbeit ging es Schlingensief nicht um das bestmögliche gegenseitige Kennenlernen oder die möglichst reibungslose Umsetzung eines im Vorhinein ausgefeilten Projekts. Schlingensief suchte für sein Operndorf einen ihm unbekannten Ort auf, mit einer Verkehrssprache, derer er nicht mächtig war und in der er folglich keine klaren Anweisungen oder auch nur Bedürfnisse ohne die Hilfe von Übersetzer_innen mitteilen konnte. Überblick und Kontrollierbarkeit dieses Projektes durch seinen Leiter waren damit deutlich eingeschränkt. Schlingensief betonte hingegen die Eigendynamik des Projekts als Prozess, der nur teilweise vorausplanbar und von ihm keineswegs zu Ende gedacht sei.18 Als Folge der eingeschränkten kommunikativen Voraussetzungen und der verhältnismäßig hohen Offenheit des Projektverlaufs musste den interkulturellen Aushandlungsprozessen geradezu zwangsläufig eine entscheidende Rolle für das Gelingen des Projekts zukommen. Missverständnisse wurden dabei von Schlingensief nicht als planerische Unzulänglichkeit verstanden, die es zu vermeiden gilt. Als Künstler stand er einer Auffassung von Verständnisproblemen und Sinnverkehrungen nahe, die diese als Chancen begreift, uneingeübte Perspektiven einzunehmen und somit konstruktiv und sinngenerierend zu wirken.

18 Siehe die frühe Website des Operndorf Afrika unter http://web.archive.org/ web/20100906075032/http://www.festspielhaus-afrika.com/weblog/? (dort datiert: 06.09.2010, Zugriff: 15.06.2016).

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P LÄDOYER 3: N EUVERHANDLUNGEN

ETABLIERTER

V ORSTELLUNGEN

Nach dieser kurzen Darstellung interkulturellen Handelns am Schnittpunkt zwischen künstlerischem Projekt und praktischer interkultureller Zusammenarbeit, soll im Folgenden die theoretische Auseinandersetzung um interkulturelles Missverstehen im Vordergrund stehen. In gebotener Kürze werde ich daher das Konzept des Dritten Raums des postkolonialen Theoretikers und Literaturwissenschaftlers Homi K. Bhabha einführen. Es dient als Grundlage, um im darauffolgenden Abschnitt Stuart Halls Sender-Empfänger-Modell hinsichtlich seiner Bedeutung von Missverstehen zu analysieren. Das Operndorf wird dabei weiterhin als Bezugspunkt dienen, um die Relevanz der Diskussion für die Praxis zu verdeutlichen. Homi K. Bhabhas Konzept des Dritten Raums 1984 erschienen Homi K. Bhabhas Aufsatz „Signs Taken for Wonders” – für das Verständnis seiner Konzepte noch immer ein Schlüsseltext. Bhabha beschreibt hierin Prozesse der Sinngenerierung zwischen kulturell differenten Akteuren. Als Ideal eines solchen Verhältnisses argumentiert er anhand der hierarchischen Beziehung zwischen den Vertreter_innen europäischer Kolonialmächte und der kolonisierten lokalen Bevölkerung. Damit verbunden ist jedoch der Anspruch, räumlich und zeitlich abstrahierend, generell Wechselbeziehungen zwischen kulturell differenten Akteuren zu betrachten.19 Was Oliver Marchart bezüglich des hier nicht weiter zu besprechenden Bhabha’schen Begriffs der Hybridität feststellt, lässt sich daher genauso auch auf das Konzept des Dritten Raums übertragen. Denn auch dieser ist als „quasi-transzendentales Konzept“ angelegt.20 Die Vorstellung eines Dritten, das aus dem Aufeinandertreffen differenter Akteure resultiert, ist 19 Mitchell, W. J. T. / Bhabha, Homi K.:. Translator Translated. W. J. T. Mitchell talks with Homi Bhabha. In: Artforum 33 (7). 1995. S. 80–83, 110, 114, 119. Hier S. 82. 20 Marchart, Oliver: Der koloniale Signifikant. Kulturelle ‚Hybridität’ und das Politische, oder: Homi Bhabha wiedergelesen. In: Kultureller Umbau. Räume, Identitäten, und Re/Präsentationen. Hrsg. von Meike Kröncke / Kerstin Mey / Yvonne Spielmann Bielefeld 2007. S. 77–98. Hervorhebung im Original, FL.

DIE KONSTRUKTIVE VERUNSICHERUNG | 157

offen genug formuliert, um unabhängig von einer historischen Situation vielfältig und flexibel angewendet zu werden. Im oben benannten Aufsatz bezieht sich Bhabha auf das Britische Empire und dessen Kolonie Britisch-Indien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Historische Quellen zitierend beschreibt Bhabha die Bekehrungsbemühungen von christlichen Katechisten gegenüber indischen hinduistischen Bauern nahe der Stadt Delhi. Er interpretiert die historische Darstellung der Geschehnisse als Akt des Verhandelns europäisch-christlicher Hegemonialbestrebungen durch die hinduistischen Bauern. Diese hinduistischen Bauern hätten sich für Bhabha in geschickter Weise auf ihre Wertvorstellungen einer vegetarischen Ernährungsweise bezogen, denen die Bibel wiederum in keiner Weise Rechnung zollt. Indem er die Rezeption der heiligen Schrift durch Angehörige der lokalen Bevölkerungen als Verhandlung differenter kultureller und religiöser Wertvorstellungen interpretiert, führt Bhabha schließlich sein Konzept des Dritten ein. So geht er davon aus, dass die Bibel, wie auch andere europäische Schriften und Vorschriften von den lokalen Akteuren nicht lediglich aufgenommen und übernommen wurden. Vielmehr sei es zu Prozessen des kritischen Hinterfragens, des Neuverhandelns und des Umdeutens gekommen. Bhabha reduziert das Handeln der Bauern nicht auf einen Akt des Widerstands, sondern spricht ihnen eine Handlungsfähigkeit zu, die es erlaubt, die imperiale Autorität zu untergraben und mit Verhandlungsgeschick herauszufordern. Aus den kritischen Nachfragen der hinduistischen Bauern und ihrem Vorbringen von Bedingungen für eine Konvertierung zum Christentum resultieren für Bhabha Neuinterpretationen der Bibel als Verhandlungen in einem Dritten Raum.21 Dieser Dritte Raum lässt sich nun grundsätzlich als Zwischen- und Verbindungsraum kulturell differenter Ausdrucksformen denken. Bhabha knüpft für dieses Denkmodell an Jacques Derridas Kunstwort der différance an, um sich auf die Unmöglichkeit der Bedeutungsfestlegung von Begriffen zu beziehen. Mit Derrida verweist Bhabha zugleich auf die zugrundeliegende Trennung des Signifikanten (dem Bezeichnenden) vom Signifikat (dem Bezeichneten) wie sie bereits Ferdinand de Saussure formuliert hatte. Bhabha wählt als Ausgangspunkt seiner Argumentation somit ein Verständnis von Bedeutungsbeziehungen, die nicht natürlich gegeben sind,

21 Mitchell und Bhabha 1995, S. 114.

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sondern auf Konventionen beruhen.22 In den Prozess der Bedeutungsgenerierung zwischen dem Signifikanten und den verschiedenen Signifikaten setzt Bhabha nun aber zusätzlich einen Dritten Artikulationsraum: „the Third Space of enunciation“.23 Der Dritte Raum bestimmt folglich die Bedingungen, unter denen Aussagen getroffen werden und verhindert die festgelegte Deutung von Zeichen. Damit fokussiert Bhabha die Aushandlungsprozesse zwischen differenten Kulturen ebenso, wie innerhalb einer Kultur, die in sich immer schon inhomogen ist. Er beschreibt den Ort, an dem unterschiedliche Lesarten von Zeichen beständig neu verhandelt werden. Zu betonen ist dabei, dass es sich bei dem Dritten nicht um die numerische Begrenzung auf genau eine dritte Variante der Deutung handelt. Das Dritte verweist im Gegenteil auf die Pluralität unvorhersehbarer Alternativen in Abgrenzung zu binären Gegenüberstellungen. Missverstehen als Dritte Deutungsweise Wie bereits erläutert, muss das Projekt Operndorf Afrika von einem Konzept interkultureller Kompetenz, das Effizienz, Harmonie und Verstehen betont, deutlich abgegrenzt werden. Das Operndorf beschreibt die Idee eines Ortes, an dem Menschen aus verschiedenen Teilen Burkina Fasos, Afrikas und Europas miteinander in Austausch treten. Sie teilen dabei oft weder eine gemeinsame Sprache, noch gemeinsame Erfahrungen oder Wissen. Zugleich wird an diesem Ort ein Opernbegriff verhandelt und erweitert, der sich an den Maßstäben europäischer Operntradition abarbeitet. Genau diesen Ansatz werfen die beiden Ethnolog_innen Michael Schönhuth und Kerstin Eckstein dem Projekt vor. Sie kritisieren insbesondere, dass neben der dauerhaften Tragfähigkeit und der mangelnden burkinischen Beteiligung der Begriff der ‚Oper‘ selbst ein grundlegendes Problem darstelle. Dieser Begriff sei in Burkina Faso bislang kaum bekannt und nahezu bedeutungslos. Mit dem Verständnis von Oper als exklusive

22 Bonz, Jochen / Struve, Karen: Homi K. Bhabha. Auf der Innenseite kultureller Differenz. „in the middle of differences“". In: Kultur. Theorien der Gegenwart. Hrsg. von Stephan Moebius & Dirk Quadflieg. Wiesbaden 2006. S. 140–156. Hier S. 142. 23 Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. New York 2004. Hier S. 54.

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Kulturveranstaltung europäischer Oberschichten plädieren beide Ethnolog_innen hingegen für Produktionen, die weit mehr „Anknüpfungspunkte an lokale [burkinische] Sehgewohnheiten“ zuließen. Mit dem Argument, besser bei bekannten Inszenierungen zu bleiben und „traditionelle Erzählstoffe“ zu bedienen, betonen sie die Notwendigkeit der „kulturelle[n] Übersetzungsarbeit“, wo burkinische und europäische Erzählformen aufeinandertreffen.24 Damit folgen die Autor_innen einem Verständnis interkultureller Kommunikation, das Irritationen zu vermeiden sucht. Folgerichtig setzen sie auf die Sicherheit voraussehbarer Reaktionen seitens der Burkinabè durch lokal bewährte Kunstformen. Die von Schönhuth und Eckstein kritisierten Irritationen sind hingegen durchaus im Sinne eines Austauschs und Verhandelns wie von Bhabha für den Dritten Raum beschrieben. So lesen Breger und Döring aus den Texten Bhabhas die Produktivität einer „weniger vermittelnden als verstörenden Funktion des Dritten“.25 Auch Bachmann-Medick argumentiert in diese Richtung. Gerade im Missverstehen sieht sie ein kreatives Potential, etablierte Diskurse aus neuen Perspektiven zu betrachten, umzudeuten und schließlich gesellschaftlich relevant zu setzen:26 „Danach scheinen vor allem die Grenzen und Grenzüberschreitungen von Kulturen fruchtbar, gerade derjeinige Bereich, wo kulturelle Bedeutungen nicht in zentralen Texten scheinbar festgeschrieben, sondern wo sie mißverstanden, mißrepräsentiert, ja sogar falsch angeeignet werden“27

24 Schönhuth, Michael / Eckstein, Kerstin: Wenn es nichts mit uns zu tun hat, geht es uns auch nichts an. Webfehler in Schlingensiefs Operndorf Afrika. https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb4/ETH/Aufsaetze/ArtikelEckstein Schoenhuth.pdf (dort datiert: 19.08.2011, Zugriff: 15.06.2016). Hier S. 6. 25 Breger, Claudia / Döring, Tobias: „Einleitung“. In: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Hrsg. von Claudia Breger und Tobias Döring. Amsterdam/Atlanta 1998. S. 1–18. Hier S. 3. 26 Bachmann-Medick, Doris: Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung. In: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Hrsg. von Claudia Breger & Tobias Döring. Amsterdam/Atlanta 1998. S. 19–36. Hier S. 25. 27 Ebd., S. 24.

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Christoph Schlingensiefs Anliegen war es nicht, die europäische Oper schlicht nach Afrika zu überführen und im Stile eines Teatro Amazonas europäische Opern an einem dafür ungewöhnlichen Ort aufzuführen. Das Teatro Amazonas war 1896 nach dem Vorbild europäischer Opernhäuser im brasilianischen Manaus gebaut worden und galt der vom Kautschukboom profitierenden brasilianischen Oberschicht. Als Bau im RenaissanceStil diente es der Aufführung des europäischen Opernkanons und zugleich verkörpert es die Ideale europäischer Architektur und Kulturpraxis auf dem südamerikanischen Kontinent. Wäre Schlingensiefs Operndorf diesem Beispiel gefolgt, hätte sein Vorgehen tatsächlich nach den Maßstäben der Verständigung und Effizienz bemessen werden müssen. Ansatz des Operndorfprojekts war jedoch der Versuch, den Begriff der Oper neu zu besetzen und um unvorhersehbare Konnotationen zu bereichern. Schlingensief selbst hat das einmal so formuliert: „Die Missverständlichkeit des Projekttitels ist nicht kalkuliert, um irgendwen davon abzuhalten, einen Beitrag zum Aufbau des Operndorfs zu spenden. Sie ist aber willkommen. Denn darum geht es doch: dass wir unsere Begriffe von Kultur, Kunst, Oper usw. neu aufladen. […] Wir erweitern also den Opernbegriff und lassen einfach mal alle Einschränkungen beiseite, die wir mit Oper verbinden […]“.28

Im Operndorf ging es also immer auch um unvorhersehbare Deutungsweisen, als Lesarten, die nicht bereits in der Ausgangsbotschaft angelegt sind, sondern erst aus der Verhandlung in einem Dritten Raum hervorgehen. Eine solches Kommunikationsmodell ist von Stuart Hall in seinem einflussreichen Aufsatz „Encoding, decoding“ in Bezug auf die Rezeption von Fernsehbeiträgen beschrieben worden. Das Modell erlaubt den Akt des Missverstehens im Kommunikationsprozess zwischen Fernsehnachricht und Zuschauer_in zu lokalisieren und dadurch greifbarer werden zu lassen. Nach Hall ist das Aufnehmen einer Nachricht durch ihre Rezipient_innen eng mit der Neugenerierung dieser Nachricht verbunden, da die Zuschauer_innen durch ihre Deutung oder Dekodierung den Effekt dieser

28 So nachzulesen in einer Broschüre zum Operndorf Afrika unter der Überschrift „’Unsere Oper ist ein Dorf’. Gedanken und Zitate (I).“ Herausgeberin: Festspielhaus Afrika gGmbH, Stand: 20.01.2012.

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Nachricht erst festlegten.29 Zwar seien dominante Lesarten durch die Produzent_innen der Nachricht vorgegeben.30 Entscheidend für den Effekt einer Nachricht sei jedoch unter anderem die Symmetrie oder Asymmetrie zwischen dem Kodierungsprozess (encoding) der Produzent_innen und dem Dekodierungsprozess (decoding) der Konsument_innen einer Nachricht. Der Grad struktureller Ungleichheiten, die Verschiedenheit beider Gruppen innerhalb kommunikativer Prozesse, beeinflusse dabei in hohem Maße das Ausmaß der Differenz (lack of fit) zwischen kodierter und dekodierter Nachricht. Äquivalent zu dieser Differenz müsse von einem Missverstehen gesprochen werden.31 Eine solche Definition von Missverstehen grenzt den Begriff von dem alltagssprachlich genutzten, negativ besetzten Begriff des Missverständnisses ab. Missverstehen – so ließe sich an Hall anknüpfen – steht damit im Gegensatz zu einem Nichtverstehen. Nicht-verstehen geht mit der Verweigerung von Deutungen einher. Es bezeichnet ein Resignieren gegenüber möglichen Deutungsweisen und verhindert den Prozess des Aushandelns von Bedeutungen. Missverstehen hingegen ist ein produktiver Vorgang, da Nachrichten gedeutet werden, allerdings nicht im Sinne linearer Sender-Empfänger-Modelle, bei denen eine Nachricht produziert und die gleiche Nachricht in ihrer intendierten und dominierenden Lesart rezipiert wird. Nach Hall wird eine kodierte Nachricht vielmehr von den jeweiligen Rezipient_innen relativ autonom von ihrer intendierten Aussage dekodiert. Überschreitet die Deutungsweise einer Nachricht jedoch den im Kodierungsprozess vorgegebenen Deutungsrahmen der dominanten Lesart – auch diese Möglichkeit wird von Hall eingeräumt32) – kann von einer Dritten Deutung im Sinne Bhabhas gesprochen werden. Dann handelt es sich auf Grund des Ausmaßes der Differenz zwischen Kodierung und Dekodierung weder um die produzierte noch um eine rezipierte Nachricht im Rahmen der Kodierung. Diese Möglichkeit ist nach Hall umso wahrscheinlicher, je größer die strukturelle Ungleichheit zwischen Produzent_innen und Rezipient_innen einer Nachricht ist. Die Dritte – missverstandene – Nachricht ist somit Ergebnis von

29 Hall, Stuart: Encoding, decoding. In: The Cultural Studies Reader. Hrsg. von Simon During. London/New York 1997/1980. S. 90–103. Hier S. 93. 30 Ebd., S. 98. 31 Ebd., S. 94. 32 Ebd., S. 100.

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Deutungspluralitäten im Dritten Raum; sie ist die aus der Dynamik der Aushandlungsprozesse kultureller Differenzen hervorgegangene unvorhersehbare Produktion von Bedeutung. Wird also durch das Operndorf Afrika der Begriff der Oper, mit seinem dominanten Deutungsrahmen einer Oper der europäischen Moderne, in Burkina Faso rezipiert, evoziert die kontextuelle Ungleichheit, das heißt die kulturelle Differenz zwischen Produktions- und Rezeptionskontext, Aushandlungen des Opernbegriffs als Dritte Lesart. Denn der Begriff der Oper wird in der afrikanischen Savanne re-kontextualisiert und dadurch potentiell neuen Deutungsweisen ausgesetzt. Dies geschieht unter der Voraussetzung, dass kaum etwas von den Handlungs- und Rezeptionsgewohnheiten, die in Europa in Bezug auf die Oper zur Konvention geworden und abgesichert sind, auch für das ländliche Burkina Faso gilt. In dieser Neuverhandlung sind die durch verschiedene Sprachen eingeschränkten Möglichkeiten der interkulturellen Kommunikation von großer Relevanz. Für Burkina Faso stellt sich diese Problematik in besonderer Weise, werden doch neben der Amtssprache Französisch die Nationalsprachen Mòoré, Dioula und Fulfulde sowie zahlreiche weitere lokale Sprachen gesprochen. Auf Grund dieser Vielfalt an Sprachen ist auch eine Kompetenz im Französischen, vor allem in ländlichen Gebieten Burkina Fasos, kein Garant für eine unkomplizierte Verständigung. Die Voraussetzungen für sprachlich begünstigte Missverständnisse waren bereits in der Projektimplementierung des Operndorfs voraussehbar. Demnach sind die kommunikativen Einschränkungen durch die Wahl des Standortes des Operndorfs wissentlich in Kauf genommen worden. Der spezifisch ländliche und zugleich multilinguale Kontext der Gemeinde Ziniaré bestimmt wesentlich die Unternehmung des Projekts. Denn können lokale Akteure in Burkina Faso nicht auf den Bedeutungshorizont eines kulturell differenten Elements wie der Oper zurückgreifen, weil die sprachlichen Voraussetzungen für ein Verstehen dieser Herkunftsbedeutung nicht gegeben sind, sind diese Menschen mehr denn je veranlasst, eigene Bedeutungen zu (er)finden. So wird zusätzlich zu den bereits bestehenden kulturellen Differenzen europäischer und afrikanischer Akteure auch durch sprachliche Einschränkungen erschwert, dass europäische Konzepte von Oper als Übernahme einer ‚Nachricht‘ in der Lesart ihres Entstehungskontextes schlicht übernommen und angeeignet werden.

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Missverstehen und die Verunsicherung etablierter Konzepte und Denkweisen bedingen sich also gegenseitig. Missverstehen unterbricht eingeübte Kommunikations- und Handlungsweisen, da es die Beteiligten vor die Herausforderung stellt, sich unbewusste und unreflektierte Verhaltensweisen zu vergegenwärtigen. Denn „[f]remd erscheint uns etwas dann, […] wenn dementsprechend Routinehandlungen nicht mehr ‚in der gewohnten Weise‘ möglich sind“, schreibt der eingangs zitierte Jürgen Bolten.33 Das durch die Herausforderungen interkultureller Kontexte evozierte Entheben von unbedachten Handlungen und von eingeübten Deutungsweisen aus dem Alltagsgeschehen ermöglicht ein Vergegenwärtigen alltäglicher Handlungs- und Denkweisen – also Verunsicherung im besten Sinn. Entstehungsbedingungen für Unvorhergesehenes Ich habe in diesem Beitrag drei Vorgehensweisen beziehungsweise Konzepte aus Kunst und Wissenschaft vorgestellt, die eine Alternative gegenüber einem vereinfachenden Verständnis interkultureller Kompetenz anbieten. Die Kritik María do Mar Castro Varelas an der Schulungspraxis im Bereich der Pädagogik schuf die Ausgangssituation. Ihr Plädoyer für die Verunsicherung veranlasste mich, Christoph Schlingensiefs Formulierung und frühe Umsetzung seines Operndorfprojekts als Anwendung eines nah verwandten Anspruchs an die Arbeit in interkulturellen Zusammenhängen zu verstehen. Ich habe dabei gezeigt, dass sich beide Ansätze hinsichtlich eines grundsätzlich positiven Verständnisses von Verunsicherung ergänzen. In Bezug auf das Operndorf habe ich die Bedeutsamkeit von Missverstehen hervorgehoben, das aus einer fehlenden gemeinsamen Sprache resultiert, aber auch durch interkulturell nur eingeschränkt übersetzbare Konzepte wie der europäischen Oper bedingt ist. Mit Homi K. Bhabhas Konzept des Dritten und Stuart Halls Kommunikationsmodell habe ich zuletzt theoretische Position herausgearbeitet, die sich gezielt dem produktiven Verhandlungsraum interkulturell differenter Akteure widmen. Es fällt nicht schwer, auch in der Pädagogik Positionen auszumachen, die das Verständnis vom Nutzen interkultureller Irritationen teilen. Der 2014 verstorbene Hagen Kordes war Professor im Bereich Erziehungswissenschaften und einer der Herausgeber des 2006 erschienen umfangreichen

33 Bolton 2012, S. 91.

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Sammelbands Interkulturell denken und handeln. Er verstand Verunsicherung und Sprachverwirrung, nahezu analog zu Bhabha, als Möglichkeit, einen Freiraum zu eröffnen, in dem es zu bereichernden Begegnungen kommen kann.34 Cohen-Emerique hingegen hat sich dem weithin gefürchteten Phänomen des sogenannten Kulturschocks angenommen und darum eine eigene pädagogische Methode entwickelt – nicht, um dem Schock vorzubeugen, sondern um ihn sich zunutze zu machen. Ihrer Auffassung nach ist der Kulturschock ein nützliches Mittel, sich der eigenen kulturellen Einbettung bewusst zu werden, zu dieser in reflexive Distanz zu treten und sich schließlich gegenüber kulturell differenten Vorstellungen zu öffnen.35 Zum Ende dieses Beitrags möchte ich darauf hinweisen, dass die hier argumentierte positive Lesart von Verunsicherung und Missverstehen nicht als eine universal gültige Qualität verstanden werden soll, deren Ansprüche weltweit geteilt würden. Die in Deutschland gepflegte Offenheit zur Aussprache sowie die früh geschulte Fähigkeit, Kritik zu üben und auch anzunehmen, dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass außerhalb des deutschen Sprachraums durchaus andere Vorstellungen gelten und andere Qualitäten geschätzt werden. Gerade auch außerhalb von Europa wird ein harmonisches Miteinander häufig nicht nur im Bereich der interkulturellen Kooperation als Voraussetzung angesehen, gemeinsame Unternehmungen zu bewältigen.36 So allgemein diese Aussage an dieser Stelle stehen bleiben muss, soll sie doch auf die pluralen Möglichkeiten im Umgang mit interkulturellen Herausforderungen verweisen. Diese Einschränkung steht jedoch nicht im Widerspruch, sondern in Einklang mit den drei vorgestellten Plädoyers dieses Beitrags. Sie verdeutlicht einmal mehr den Anspruch, die eigenen Werte beständig zu reflektieren und zu prüfen. Sie steht zugleich für die Herausforderung, interkulturelle Differenzen zu akzeptieren und produktiv zu nutzen, anstatt sie zwecks 34 Kordes, Hagen: Interkultureller Umgang mit Fremdheitserfahrungen. In Interkulturell denken und handeln. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis. Hrsg. von Hans Nicklas, / Burkhard Müller / Hagen Kordes. Frankfurt 2006. S. 309–316. Hier S. 310. 35 Ebd., S. 321. 36 Diesen Umstand zu berücksichtigen, verdanke ich der kritischen Anmerkung der Kollegin Franziska Dübgen an der Universität Kassel.

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der Auflösung des Widerspruchs voreilig aneinander anzupassen.37 Das Konzept des Dritten bietet hierfür eine Alternative gegenüber polarisierenden Darstellungen unvereinbarer Gegensatzpaare, indem es den gemeinsamen Verhandlungsraum fokussiert. Dabei sind die Zwischen- und Übergangsräume aufeinandertreffender Differenzen der eigentliche Fixpunkt; die Brüche „im Kontinuum eines kulturellen Sinnhorizontes“.38 Diese Bruchstellen bergen das Potential, Neues hervorzubringen, das außerhalb erwartbarer Ergebnisse liegt, sofern der dafür nötige Freiraum von allen beteiligten gewährt wird. So plädiert auch Jürgen Bolten dafür, Zufälligkeiten zu ermöglichen, in dem ihnen der nötige Raum gewährt wird.39 Es seien gerade die Schnittstellen, an denen Vertreter_innen differenter Gruppen aufeinandertreffen, wo etwas „qualitativ wirklich Neues“ entstehen könne.40

L ITERATUR BACHMANN-MEDICK, DORIS: Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung. In: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Hrsg. von Claudia Breger & Tobias Döring. Amsterdam/Atlanta 1998. S. 19–36. BHABHA, HOMI K.: The Location of Culture. New York 2004. BOLTEN, JÜRGEN: Interkulturelle Kompetenz. Erfurt 2006. BONZ, JOCHEN / STRUVE, KAREN: Homi K. Bhabha. Auf der Innenseite kultureller Differenz. „in the middle of differences“. In: Kultur. Theorien der Gegenwart. Hrsg. von Stephan Moebius & Dirk Quadflieg. Wiesbaden 2006. S. 140–156. BREGER, CLAUDIA / DÖRING, TOBIAS: „Einleitung“. In: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Hrsg. von Claudia Breger und Tobias Döring. Amsterdam/Atlanta 1998. S. 1–18. CASTRO VARELA, MARÍA DO MAR: Interkulturelle Kompetenz – Ein Diskurs in der Krise. In: Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Hrsg. von Georg Auernheimer. Opladen 2002. S. 5–48.

37 Bhabha 2004, S. 37. 38 Bonz und Struve 2006, S. 145. 39 Bolton 2012, S. 168. 40 Ebd., S. 107.

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COHEN-EMERIQUE, MARGALIT: Der Kulturschock als Ausbildungsmethode und Forschungsinstrument. In: Interkulturell denken und handeln. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis. Hrsg. von Hans Nicklas / Burkhard Müller / Hagen Kordes. Frankfurt 2006. S. 317–327. HALL, STUART: Encoding, decoding. In: The Cultural Studies Reader. Hrsg. von Simon During. London/New York 1997/1980. S. 90–103. KNISTERN DER ZEIT. Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Burkina Faso. Dokumentation, 106 Minuten, Deutschland 2012. Regie: Sibylle

Dahrendorf. KORDES, HAGEN: Interkultureller Umgang mit Fremdheitserfahrungen. In Interkulturell denken und handeln. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis. Hrsg. von Hans Nicklas, / Burkhard Müller / Hagen

Kordes. Frankfurt 2006. S. 309–316. MARCHART, OLIVER: Der koloniale Signifikant. Kulturelle ‚Hybridität’ und das Politische, oder: Homi Bhabha wiedergelesen. In: Kultureller Umbau. Räume, Identitäten, und Re/Präsentationen. Hrsg. von Meike Kröncke / Kerstin Mey / Yvonne Spielmann Bielefeld 2007. S. 77–98. MITCHELL, W. J. T. / BHABHA, HOMI K.:. Translator Translated. W. J. T. Mitchell talks with Homi Bhabha. In: Artforum 33 (7). 1995. S. 80–83, 110, 114, 119. SCHÖNHUTH, MICHAEL / ECKSTEIN, KERSTIN: Wenn es nichts mit uns zu tun hat, geht es uns auch nichts an. Webfehler in Schlingensiefs Operndorf Afrika. https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb4/ETH/Aufsaetze/Artikel

EcksteinSchoenhuth.pdf (dort datiert: 19.08.2011, Zugriff: 15.06.2016). TJITRA, HORA / ALEXANDER THOMAS: Interkulturelle Kompetenz und Synergieentwicklung. In: Interkulturell denken und handeln. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis. Hrsg. von Hans Nicklas / Burkhard Müller / Hagen Kordes. Frankfurt am Main/New York 2006. S. 249–257.

Eine Gigantomachia über Europa Enrique Dussels Interpellationen des europäischen Monologs über die Moderne1

H ANS S CHELKSHORN

H INFÜHRUNG Enrique Dussels Philosophie der Befreiung ist im eminenten Sinn ein „Denken in Bewegung“2; denn trotz aller voluminösen Monographien ist seine Philosophie eine Werkstatt geblieben, in der bis heute gleichsam rund um die Uhr durchgearbeitet wird. Als die fünfbändige Ethik der Befreiung3 vollständig vorliegt, kündigt Dussel noch im letzten Band bereits „eine Nueva ética

1

Bei diesem Text handelt es sich um die deutsche Version meines Artikels „Gigantomachía sobre Europa. Enrrique Dussel y las interpelaciónes del monlógo europeo sobre la modernidad”, der in der vom Mabel Morena herausgegebenen Festschrift zum 80. Geburtstag von Enrique Dussel im Verlag CLASCO erscheinen wird.

2

In diesem Sinn charakterisiert Jean Starobinski das Denken von Montaigne, Michel de: Jean Starobinski: Montaigne en mouvement. Paris 1993.

3

Dussel, Enrique: Para una ética de la liberación latinoamericana. 2 Bände. Buenos Aires 1973. Ders.: Filosofía ética de la liberación latinoamericana. Band. III: De La erótica a la pedagógica. México 1977. Ders.: Filosofía ética latinoamericana. Band. IV: La política latinoamericana. Bogotá 9. Ders.: Filosofía ética latinoamericana. Band. V: Arqueología latinoamericana. Bogotá: Universidad Santo Tomás 1981.

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de la liberación“ an, „die die Ergebnisse dieser Ethik reinterpretieren und auf der Ebene eines ökonomischen Realismus neu implantieren wird“4, eine Ankündigung, die zwei Jahrzehnte später mit der „Ética de la Liberación en la Edad de la Globalización y de la Exclusión“ (1998) tatsächlich eingelöst wird. In enger Verbindung mit der Ethik der Befreiung arbeitet Dussel seit den 1960er Jahren in immer neuen Anläufen an einer Geschichtsphilosophie, in der vor allem die Beziehungen zwischen Europa und Amerika in großflächigen und detailreichen Gemälden, die vom Alten Ägypten bis zur Gegenwart und von China bis zu den amerindischen Kulturen reichen, dargestellt werden. Sowohl in der Ethik als auch in den weit ausholenden historischen Studien vollzieht sich – allein darauf möchte ich im Folgenden den Blick richten – ein permanenter Kampf mit Europa. In Analogie zu Platons „gigantomachia peri tes ousias“ (Sophistes 246-248) kann Dussels Philosophie der Befreiung daher als eine Gigantomachia über Europa charakterisiert werden. Ein philosophischer Kampf mit Europa ist nur möglich, weil „Europa“ als Halbinsel Asiens keine geographisch klar abgrenzbare Realität, sondern von Anfang an eine Imagination ist, die von den Griechen in den Perserkriegen entworfen und seit der Antike immer wieder umgeschaffen worden ist. Aus diesem Grund hat Europa keine feste Identität, sondern ist ein Objekt je neuer Befragungen, in denen gleichwohl schmerzliche Grenzen, vor allem gegenüber Asien und Afrika gezogen werden. Im 19. Jahrhundert drohen bei Hegel selbst Spanien und die slawischen Völker aus „Europa“ herauszufallen. Das südliche Amerika schließt Hegel als bloßer „Widerhall der Alten Welt“5 überhaupt aus der „Weltgeschichte“ aus. Vor diesem Hintergrund wird bereits ein Grundmotiv von Dussels Philosophie sichtbar, nämlich dem südlichen Amerika einen würdigen „Ort“ in einer nichteurozentrischen Universalgeschichte zu geben. Dussels Philosophie der Befreiung ist kein beschaulicher Ort des Denkens, sondern ein Kampfplatz, dem sich ein europäischer Philosoph nicht in theoretischer Distanz nähern kann. Im Zentrum der „Ethik der Befreiung“ steht die „Interpellation des/der Anderen“ bzw. der Opfer, von der

4

Dussel, Enrique: Filosofía ética latinoamericana. Band. V. S. 97 (Übersetzungen aus dem Spanischen werden auch im Folgenden jeweils von mir selbst vorgenommen).

5

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke, Band. 12. Frankfurt am Main 1986. S. 114.

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nach Dussel eine unbedingte Forderung nach Gerechtigkeit und Anerkennung ausgeht. Die „Interpellation“ ist jedoch nicht bloß ein theoretisches Element einer bestimmten philosophischen Ethik. Vielmehr ist Dussels Philosophie der Befreiung auch selbst eine Interpellation, und zwar gegenüber der europäischen Philosophie, die sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert als „Diskurs der Moderne“6 vollzieht. In seiner Auseinandersetzung mit dem europäischen Denken vollzieht sich gleichsam in praxi jene Analektik, die Dussel als Logik einer befreienden moralischen Praxis expliziert.7 Wie die Opfer die Normen des Herrschaftssystems zunächst verinnerlichen und sie im Rückgang auf ihr exteriores Sein transzendieren, so hat Dussel bereits in früher Zeit die europäische Philosophie wie ein Schwamm in sich aufgesogen und stößt sich seit den 1960er Jahren im Namen der Andersheit Amerikas von ihr immer wieder ab. Da in den europäischen Philosophien der Moderne, wie ein Blick auf Michel Foucault, Jürgen Habermas oder Charles Taylor zeigt, außereuropäische Stimmen noch immer weitgehend ausgeblendet sind, ist Dussels Philosophie der Befreiung de facto eine Interpellation des europäischen Monologs über die Moderne, der bereits seit längerer Zeit ein Anachronismus ist. Selbst jene Philosophien, die in eurozentrischer Manier noch immer Europa als exklusiven Geburtsort der Philosophie verteidigen, hätten spätestens im 19. Jahrhundert die imaginären Grenzen Europas überschreiten müssen. Denn die europäische Philosophie ist zwar bereits im 16. Jahrhundert in die „Neue Welt“ ausgewandert. Seit dem 19. Jahrhundert sind jedoch in Asien, im arabischen Raum und auch in Afrika „moderne“ Philosophien entstanden, in denen europäische Philosophien mit eigenständigen Denktraditionen in kreativer Weise verbunden werden. Mehr noch: Mit der Abschirmung der Modernediskurse in Asien, Afrika und Lateinamerika verstrickt sich die europäische Philosophie in einen fatalen Selbstwiderspruch. Wenn der Ort aufklärerischen Denkens mit Kant als ein „Gerichts-

6

Zum „Diskurs der Moderne” als Befragung der Aktualität vgl. Foucault, Michel: Was ist Aufklärung? In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Schriften, Band. IV. Hrsg. von D. Defert /. F. Ewald. Frankfurt am Main 2005. S. 837–848.

7

Dussel, Enrique: Para una ética de la liberación latinoamericana. Buenos Aires 1973. Vgl. dazu Schelkshorn, Hans: Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels. Freiburg/Basel/Wien 1992. S. 69–131.

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hof“ verstanden werden muss, „worin jeder seine Stimme hat“8 (KrV B780), so ist die Exklusion „außereuropäischer“ Stimmen zur Moderne ein Akt der Selbstzerstörung der Aufklärung. Vor diesem Hintergrund möchte ich mich in den folgenden Skizzen bewusst als europäischer Philosoph Dussels Gigantomachia über Europa nähern.

E UROPA ALS U MWEG DER S ELBSTENTDECKUNG : „I CH ENTDECKTE L ATEINAMERIKA IN M ADRID “ Das komplizierte Verhältnis zwischen Lateinamerika und Europa spiegelt sich bereits in Dussels Familiengeschichte. Sein Urgroßvater Johannes Kaspar Dussel wanderte 1870 aus Deutschland nach Argentinien aus, ein Ereignis, das keineswegs eine zufällige private Episode ist. Denn im 19. Jahrhundert verlassen Millionen Menschen Europa, um der sozialen Not, die durch die kapitalistische Industrialisierung produziert worden ist, zu entfliehen. Selbst Hegel, der geschichtliche Ereignisse stets im Horizont eines umfassenden Systemdenkens deutet, sieht angesichts der sozialen Verwerfungen der bürgerlichen Gesellschaft keinen anderen Ausweg als den „Export“ der überschüssigen Bevölkerung in die Kolonien. „Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“9 Aus diesem Grund wird nach Hegel die bürgerliche Gesellschaft „dazu getrieben, Kolonien anzulegen“, wobei die Kolonien nicht dauerhaft besetzt bleiben müssen. Denn so wie die Befreiung der Sklaven letztlich dem Herrn zum Vorteil gereichte, so erweist sich nach Hegel auch „Befreiung der Kolonien […] als der größte Vorteil für den Mutterstaat.“10 Hegels „Lösung“ für den europäischen Pöbel blieb nicht bloß eine theoretische Überlegung im Elfenbeinturm der Philosophie. Im Gegenteil, gerade Argentinien bemühte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

8 9

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. B 780. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Werke Bd. 7. Frankfurt am Main 1986. § 241.

10 Ebd, § 248.

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um europäische Einwanderer, eine Politik, die paradoxerweise durch die Bemühungen der Generación 1837 um eine eigenständige Philosophie im südlichen Amerika entworfen und gerechtfertigt worden ist. Juan Bautista Alberdi vollzieht zusammen mit Faustino Domingo Sarmiento eine Kontextualisierung europäischer Philosophie, genauer der liberalen Fortschrittsidee, im Licht der soziohistorischen Verhältnisse des südlichen Amerika. 11 In der Umsetzung des Programms der sogenannten „filosofía americana“ reproduzieren Alberdi und Sarmiento jedoch in fataler Weise die eurozentrischen und rassistischen Elemente der liberalen Ideologien des 19. Jahrhunderts. Zwar kann das Projekt einer „filosofía americana“, wie Alberdi betont, nur im „Hören auf das Volk“ gelingen. Da jedoch Amerika im Bann der Überlegenheit der europäischen Zivilisation nur mehr als ein Ort der Barbarei erscheint, reduziert sich für ihn das „Volk“ auf die kleine Schicht einer bürgerlichen Elite. Dies bedeutet: Indios, Mestizen und selbst die Kreolen, die noch dem kolonialen Geist verhaftet sind, gehören nach Alberdi nicht zum „Volk“, dem die „filosofía americana“ zu dienen hat. Für die Zivilisierung des barbarischen Amerika schlagen Alberdi und Sarmiento eine doppelte Strategie vor: Einerseits soll durch eine neue Bildungspolitik der scholastische Geist der Kolonialzeit durch ein „aufgeklärtes“, d.h. an den Naturwissenschaften orientiertes Denken, ersetzt werden. Anderseits soll – in sachlicher Konvergenz mit Hegels Vorschlag, den Pöbel in die Kolonien zu exportieren – mit einer aktiven Einwanderungspolitik, die europäische Arbeiter_innen ins Land holt, die Barbarei Amerikas gleichsam durch einen „Bluttransfer“ therapiert werden. Zugleich kommt es in Argentinien im späten 19. Jahrhundert zu neuen Ausrottungskriegen gegenüber indigenen Völkern. An dieser Stelle ergibt sich eine Schnittstelle zur Familiengeschichte von Enrique Dussel. Denn die Immigration seines Großvaters, der 1870 aus

11 Alberdi, Juan Bautista: Ideas para un curso de filosofía contemporanea [Montevideo 1842]. In: Fuentes de la cultura latinoamericana. Hrsg. von Leopoldo Zea. Band. II, México. S. 301–311.Vgl. dazu Fornet-Betancourt, Raúl: Die Frage nach der lateinamerikanischen Philosophie, dargestellt am Beispiel des Argentiniers Juan Bautista Alberdi. In: Ders., Philosophie und Theologie der Befreiung. Frankfurt am Main 1988. S. 49–64; Beorlegui, Carlos: Historia del pensamiento filosófico latinoamericano, Una búsqueda incesante de la identitad. Bilbao 2004. S. 207–228.

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Schweinfurt auszog, fällt in die Zeit, in der die „filosofía americana“ den Mythos eines „weißen Argentinien“ entwirft. Die rassistische Gewalt liberaler und positivistischer Modernisierungsstrategien ist Ende des 19. Jahrhunderts von José Martí in aller Schärfe zurückgewiesen worden. José Martí übernimmt zwar die Grundidee der „filosofía americana“ als einer Philosophie, die sich an den „sozialen, politischen, religiösen und moralischen Interessen“ der Staaten im südlichen Amerika zu orientieren hat.12 Zugleich klagt jedoch Martí in dem berühmten Essay „Nuestra América“ (1891) den Europäismus der „Generacion 1837“ in scharfen Worten an. „Die in Amerika auf die Welt kamen und sich schämen, weil in ihnen das Indianerblut der Mutter fließt, die sie stillte! Ihre Mutter ist nun krank, doch diese Taugenichts verleugnen sie und lassen sie allein auf ihrem Krankenlager liegen!“13

Für Martí sind alle politischen Programme, die die Indios, Mestizen und Bauern ausschließen, zum Scheitern verurteilt. Dies bedeutet: Amerika kann sich – so Martís radikale Konsequenz – nur „mit seinen Indios retten“.14 Die Dialektik von Selbstnegation im Namen der okzidentalen Zivilisation und Selbstaffirmation durch die Rückwendung auf das eigene „Volk“ ist kein Proprium der „filosofía americana“, sondern wiederholt sich seit dem späten 19. Jahrhundert in zahlreichen Regionen Asiens, von Japan bis zum Osmanischen Reich.15 Die modernen Philosophien in Asien, in der arabisch-islamischen Welt und im südlichen Amerika sind allerdings von der europäischen Philosophie kaum wahrgenommen worden. Dies scheint mir ein fatales Versäumnis zu sein. Denn in der Auseinandersetzung mit

12 Alberdi, Juan Bautista: Ideas para un curso de filosofía contemporanea (Fn. 6). S. 305. 13 Martí, José: Unser Amerika. In: Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende. Hrsg. von Angel Rama Frankfurt am Main 1982. S. 57. 14 Ebd. 15 Eine ähnliche Konstellation zeigt sich selbst an den imaginären Peripherien „Europas“, z.B. in Spanien im Streit zwischen den Regenerationisten und Miguel de Unamuno oder in den Debatten zwischen „Westlern“ und Slawophilen in Russland.

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außereuropäischen Diskursen über die Moderne hätte die europäische Philosophie, wie gerade am Beispiel der „filosofía americana“ deutlich wird, einerseits die Fratze ihres eigenen Rassismus wie in einem Spiegel sehen können, andererseits aber auch frühe Strategien einer Selbstbefreiung von rassistischen Ideologien. Obwohl das liberal-positivistische Modernisierungskonzept von Alberdi und Sarmiento um die Jahrhundertwende auch von Strömungen der Lebensphilosophie16 und in einer marxistischen Perspektive von José Carlos Mariátegui17 korrigiert worden ist, lagerte der Geist der europäischen Philosophie auch im 20. Jahrhundert noch tief in den Universitäten Lateinamerikas. Aus diesem Grund hat sich Enrique Dussel, wie er selbst rückblickend betont hat, als argentinischer Student zunächst in ungebrochener Weise als europäischer Philosoph verstanden. „Das Studium der griechischen, lateinischen, modernen und zeitgenössischen Klassiker […] erlaubte mir, die europäische Erfahrung ohne Schwierigkeiten zu assimilieren.“18 Als Dussel jedoch seine philosophischen Studien in Europa vertiefen möchte, geschieht das Unerwartete. In Madrid macht Dussel die schmerzliche Erfahrung, nicht als Europäer im vollen Sinn des Wortes anerkannt zu sein. „Ich entdeckte Lateinamerika paradoxerweise in Europa, genauer in Madrid, als ich im Zusammenleben mit den Studienkollegen aus allen Ländern unseres soziokulturellen Kontinents ein Bewusstsein von der Wirklichkeit unseres Großen Vaterlandes bekam.“19

So wie die Einwanderung seines Großvaters, so steht auch Dussels „Entdeckung“ Lateinamerikas in Europa in einem weiten geschichtlichen Kontext. Denn in Dussels Biographie wiederholt sich in gewisser Hinsicht die Erfahrung der Kreolen in der Wende zum 19. Jahrhundert. Da ihre Forderung

16 An dieser Stelle vor allem Rodó, José Enrique und das Ateneo de Juventud in Mexiko hervorzuheben; vgl. dazu Beorlegui, Carlos: Historia del pensamiento filosófico latinoamericano. (Fn. 6). S. 363ff., 410ff. 17 Vgl. dazu a.a.O., S. 453ff. 18 Dussel, Enrique: Praxis latinoamericana y filosofía de la liberación. Bogotá 1983. S. 9. 19 Dussel, Enrique: América Latina: Dependencia y liberación. Buenos Aires 1973. S. 9.

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nach einer gleichberechtigten Stellung im spanischen Cortés sowohl von den Republikanern als auch den Monarchisten in Spanien brüsk zurückgewiesen worden ist, fühlen sich die Kreolen plötzlich als Europäer „zweiter Klasse“. In dieser Situation taucht in den Briefen bei Servando Teresa de Mier, der selbst an den Verhandlungen beteiligt war, die Selbstbezeichnung „americanos“ auf.20 Dies bedeutet: Die Kreolen sind am Beginn des 19. Jahrhunderts, wie Leopoldo Zea treffend festhielt, zum „Objekt desselben Fragezeichens“21, das seit dem 16. Jahrhundert auf den indigenen Völkern lastet, geworden. Denn in der Debatte zwischen Bartolomé de las Casas und Gines de Sepúlveda diskutierten Europäer über die Frage, ob die Völker Amerindiens „vernunftbegabte Menschen“ sind. „Unser Philosophieren in Amerika hebt“, wie Zea hellsichtig betont, „mit einer Polemik über das Wesen des Menschlichen an [...] In der Polemik [von Las Casas mit Sepúlveda] werden nicht nur das Recht auf das Wort, auf den Logos oder die Sprache in Parenthese gesetzt, sondern das gesamte Wesen des Menschen dieses Amerika.“22 Die Infragestellung der Humanität durch europäische Arroganz ist ein Subtext der lateinamerikanischen Philosophie, der auch Dussels Gigantomachia über Europa in allen Phasen prägen wird.

D IE R ISSE IN DER M AUER DES EUROPÄISCHEN U NIVERSALISMUS UND DAS P ROGRAMM EINER „ RECUPERACIÓN LATINOAMERICANA “ Nachdem „Amerika“ als Ort und Aufgabe des Denkens bewusst geworden ist, beginnt für Enrique Dussel eine Phase intensiver geistiger Produktivität. In den 1960er Jahren entstehen die Werke „El helenismo helénico“ (verfasst 1963, publiziert 1975), „El humanismo semita“ (1969) und „El dualismo en la antropologia de la christiandad“ (vollendet 1968, publiziert 1974). In der frühen Trilogie handelt es sich nicht bloß um geistesgeschichtliche Studien, sondern – was für europäische Leser_innen nicht auf 20 de Mier, Servando Teresa: Cartas de un Americano 1811-182. La otra insurgencia. México D.F. 1987. 21 Zea, Leopoldo: La filosofía americana como filosofía sin más. México 1969. S. 19. 22 Ebd., S. 12.

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den ersten Blick erkennbar ist – zugleich um Bausteine einer Wiederaneignung der lateinamerikanischen Realität („recuperación latinoamericana“). Denn das griechische und semitische Denken sind für Dussel nach der jahrhundertelangen Kolonialherrschaft Europas in Amerika nicht nur Quellen der europäischen, sondern auch der lateinamerikanischen Kultur. Darüber hinaus sucht Dussel, um einen Freiraum für das Projekt einer eigenständigen „filosofia latinoamericana“ zu gewinnen, von Anfang an nach Rissen in den Mauern der europäischen Philosophie. Einen ersten Spalt findet Dussel in der Spannung zwischen Athen und Jerusalem, eine Spannung, die das europäische Denken seit der späten Antike immer geprägt hat und in der hermeneutischen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts zum Bewusstsein gekommen ist. Martin Heidegger dechiffrierte die abendländische Philosophiegeschichte als eine kontingente, von den Griechen eröffnete Seinsgeschichte. In der Folge hat vor allem Paul Ricœur die griechische Philosophie als rationale Auslegung einer bestimmten, nämlich griechischen Mythologie reinterpretiert und auf diese Weise den Blick für philosophische Explikationen biblischer Narrativa geöffnet. In Fortführung der philosophischen Mytheninterpretation von Paul Ricœur23 situiert Dussel die griechische Philosophie im weiten Raum der indoeuropäischen Kulturen, die jüdisch-christliche Tradition hingegen als eine Artikulation des semitischen Kulturkreises, eine geistesgeschichtliche Differenzierung, in die durchaus „starke Wertungen“ (Taylor) einfließen. Denn der „ethisch-mythische Kern“ (Ricœur) der indoeuropäischen Kulturen, der vor allem in der griechischen Philosophie einen rationalen Ausdruck findet, enthält nach Dussel ein tragisches Ethos, das von einem holistischen Einheitsdenken getragen wird. Die Logik von Identität und Differenz, in der das Einzelne unter das Allgemeine subsumiert wird, enthält nach Dussel eine Logik der Totalität, die bereits in der Antike zu schmerzlichen Einschränkungen menschlicher Freiheit geführt und in der Neuzeit als ideologische Matrix für die Rechtfertigung der imperialen Expansion Europas gedient habe. Im „ethisch-mythischen Kern“ der semitischen Kulturen ist nach Dussel hingegen ein dramatisches Ethos interpersonaler Verantwortung eingelagert, das sich vor allem in der christlichen Philosophie des Mittelalters und der nachidealistischen Philosophie vom späten Schel-

23 Dussel bezieht sich in besonderer Weise auf Ricœur, Paul: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Freiburg/München 1971.

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ling, Feuerbach, Marx bis hin zur Dialogphilosophie philosophischen Ausdruck verschafft habe.24 Im jüdisch-christlichen Logos, der im Denken von Emmanuel Levinas eine paradigmatische Gestalt gewinnt, entdeckt Dussel Anfang der 1970er Jahre den Keim einer Logik der Befreiung. Mit der befreiungsphilosophischen Explikation des semitischen, konkret des jüdischchristlichen Logos versucht Dussel die Tradition der antikolonialen Kämpfe im südlichen Amerika von Bartolomé las Casas bis zu den sozialrevolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts philosophisch einzuholen. Im Übergang von der hermeneutischen Phase zur Philosophie der Befreiung bleibt allerdings Dussels Programm einer „recuperación latinoamericana“ weiterhin gültig. Denn auch die Ethik der Befreiung versteht sich als Beitrag für eine adäquate Verwurzelung der Philosophie in der lateinamerikanischen Realität. Mehr noch: Dussel reagiert mit der Ethik der Befreiung auf die berühmte Debatte zwischen Augusto Salazar Bondy und Leopoldo Zea über die Authentizität lateinamerikanischer Philosophie.25 Nach Salazar Bondy hat das hispanoamerikanische Denken als „ein verpflanzter Baum“26 bislang noch keine Wurzeln im amerikanischen Boden geschlagen. Der imitative Charakter der hispanoamerikanischen Philosophie hat allerdings nach Salazar Bondy seine Ursache nicht im Unvermögen einzelner Denker, sondern in der politischen und kulturellen Abhängigkeit vom imperialen Europa. Durch einen verinnerlichten Eurozentrismus ist die hispanoamerikanische Philosophie von der eigenen sozialen Realität entfremdet worden. Zugleich vertieft nach Salazar Bondy die hispanoamerikanische Philosophie durch die Fixierung auf Europa selbst die Entfremdung der lateinamerikanischen Gesellschaften. Kurz: Die hispanoamerikanische Philosophie ist Opfer und Täter zugleich. Der Ausweg aus dem Zirkel der Entfremdung setzt nach Salazar Bondy eine realgeschichtliche Überwindung der Strukturen der Abhängigkeit voraus. In der Zwischenzeit bleibt nach Salazar Bondy der Philosophie nur die bescheidene Aufgabe

24 Vgl. dazu Dussel, Enrique: Para una de-struccón de la historia de la ética, Mendoza 1973. S. 20–74. Ders.: Método para una filosofía de liberación. Superación analéctica hegeliana. Salamanca 1974. S. 175ff. 25 Vgl. dazu Schelkshorn, Hans: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Moderne. Weilerswist 2009. S. 68–74. 26 Bondy, Augusto Salazar: ¿Existe una filosofía de nuestra Américia?. México 1988. S. 27

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einer solidarischen und zugleich kritischen Reflexion der Kämpfe der verarmten Massen um mehr Gerechtigkeit – eine Vision, die Salazar Bondy wegen seines frühen Todes nicht mehr ausführen konnte, jedoch für Enrique Dussel zum Vermächtnis wird. Die Ethik der Befreiung expliziert in der von Salazar Bondy anvisierten Perspektive die moralischen Kriterien einer authentischen Befreiungspraxis. Dies bedeutet: Als Akt der Selbstbefreiung der Philosophie von der Übermacht des okzidentalen imperialen Logos ist die Ethik der Befreiung daher zugleich eine neue Etappe in Dussels Gigantomachia über Europa.

AUF DEM W EG ZU EINEM NEUEN U NIVERSALISMUS : D IE NEUE E THIK DER B EFREIUNG UND DIE T RANSMODERNE Die zentralen Säulen von Dussels Philosophie der Befreiung sind die Ethik und die Geschichtsphilosophie, die eng miteinander verbunden sind. Denn die Kategorien der Befreiungsethik werden einerseits in weit ausholenden kultur- bzw. philosophiegeschichtlichen Rekonstruktionen (indoeuropäisches, semitisches Denken) entwickelt, andererseits dient das normative Gerüst der Befreiungsethik selbst für eine neue Geschichtsphilosophie jenseits von Hegel. Die Weltgeschichte bewegt sich, wie Dussel gegen Hegel aufzuweisen versucht, nicht einfach von Osten und Westen.27 Denn die neolithischen Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens breiten sich auch in den Fernen Osten und schließlich nach Amerika aus. Das „Mittelalter“ hat nach Dussel keine weltgeschichtliche Bedeutung, sondern bezeichnet bloß eine Episode innerhalb der europäischen Geschichte, in der sich Europa sowohl kulturell als auch machtpolitisch an der Peripherie der islamischen Reiche befindet. Erst nach der Eroberung Amerikas steigt Europa zum globalen Machtzentrum auf, womit zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sämtliche Kulturen der Erde in einem einzigen Herrschaftssystem miteinander vereint werden.

27 Dussel hat die universalgeschichtliche Rahmentheorie immer wieder modifiziert. Zur neueren Version vgl. Dussel, Enrique: Ètica de la liberación en la edad de la globalización. Madrid 1998. S.19–86.

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Der globale Imperialismus Europas spiegelt sich nach Dussel in ideologischer Form in der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis Hegel. In der De-struktion der Philosophie der europäischen Moderne macht sich Dussel erneut die Selbstkritik der europäischen Vernunft zunutze. Im Konkreten knüpft Dussel an Nietzsche an, der Descartes‘ cogito auf ein zugrunde liegendes volo, genauer auf den „Willen zur Macht“ hin dechiffriert, eine Kritik, die im 20. Jahrhundert vor allem von Martin Heidegger28 fortgeführt worden ist. Im Licht der bitteren Erfahrungen mit der transozeanischen Expansion Europas gibt Dussel der innereuropäischen Kritik an Descartesʼ cogito eine neue Bedeutung. Denn das Machtsyndrom neuzeitlicher Vernunft ist zwar von der europäischen Philosophie in ihrer Grundstruktur bereits aufgedeckt, jedoch noch nicht mit aller Konsequenz auf die imperiale Gewalt Europas bezogen worden. In der Subjekt-Objekt-Relation des cartesianischen cogito spiegelt sich, wie Dussel in den Spuren von Nietzsche und Heidegger emphatisch betont, letztlich die geopolitische Zentralität des neuzeitlichen Europa, das sämtliche Kulturen der Erde zu Peripherien seiner imperialen Macht degradiert. „Vor dem ego cogito gibt es ein ego conquiro (das ‚ich erobere‘ ist die praktische Basis des ‚ich denke‘) ... Vom ‚Ich erobere‘, das in der Welt der Azteken und Inkas in ganz Amerika gilt, vom ‚ich versklave‘, das in der Welt der Schwarzen aus Afrika gilt, die für Gold und Silber verkauft werden, das mit dem Tod der Indios aus den Tiefen der Minen gewinnen wird, vom ‚ich vernichte‘, das in den Kriegen mit Indien und China bis zum schändlichen Opiumkrieg gilt, von diesem ‚ich‘ geht das Cartesianische Denken im ‚Ich denke‘“ (ego cogito) aus.29

Der Herrschaftslogik moderner Vernunft stellt Dussel die analektische Logik der Selbstbefreiung der Exteriorität der Opfer der globalen Hegemonie Europas entgegen. Die ideologische Rechtfertigung des modernen Imperialismus, genauer der „Mythos der Moderne“ ist, wie Dussel in den Frankfurter Vorlesungen von 1992 darlegt, von Ginés de Sepúlveda in paradigmati-

28 Vgl. dazu Heidegger, Martin: Der europäische Nihilismus. Stuttgart 1961. Band. II. S. 124–171. 29 Dussel, Enrique: Philosophie der Befreiung. Hamburg 1989. S. 17–21.

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scher Weise grundgelegt worden. 30 Denn Sepúlveda rechtfertigt die Konquista Amerikas durch die neue Idee einer gewaltsamen Zivilisierung der Barbaren. Der Gegenspieler von Sepúlveda, Bartolomé de las Casas, entwickelt hingegen nach Dussel die erste geschichtswirksame Kritik am Opfermythos der Moderne. „An dieser Stelle setzt sich Bartolomé mit dem ‚Mythos der Moderne (und seinen künftigen ‚Modernisierungen‘) in seinem Ursprung selbst auseinander. Die Moderne wird als Mythos immer die zivilisatorische Gewalt rechtfertigen – im 16. Jahrhundert um die Predigt des Christentums zu begründen, später um die Demokratie zu propagieren, den freien Markt etc.“31

Durch die schonungslose Kritik der imperialen Gewalt aus der Sicht der Opfer und die Option für eine gewaltlose Missionierung durch argumentative Überzeugung treten nach Dussel bei Las Casas bereits die zentralen Elemente der analektischen Logik der Befreiung hervor. Dussels Geschichtsphilosophie beschränkt sich jedoch nicht auf eine kritische Rekonstruktion der Vergangenheit. Gegen Hegels These vom „Ende der Geschichte“ entwirft Dussel mit Marx die Vision einer postkapitalistischen Moderne, die sowohl von der monokulturellen Idee einer vollständig europäisierten Weltzivilisation als auch von der Fiktion einer Koexistenz zwischen autochthonen, d.h. von europäischen Einflüssen unberührten oder gereinigten Kulturen, abgegrenzt wird. Die Zukunft der Moderne liegt nach Dussel in der Transmoderne, d.h. in einer polyzentrischen Weltordnung, in der die verschiedenen Kulturen zwar in relativer Autonomie koexistieren, zugleich jedoch ihre eigenen geistigen Traditionen in kreativer Weise mit der europäischen Moderne verbinden. „Die Verwirklichung [der Transmoderne] könnte heute in dem transzendierenden Übergang bestehen, in dem die Moderne und ihre geleugnete Alterität (die Op-

30 Dussel, Enrique: Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne. Düsseldorf 1993. S. 75–82. 31 A.a.O., S. 88.

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fer) sich gemeinschaftlich durch wechselseitige schöpferische Befruchtung beleben.“32 Mit der Kritik an der imperialen Logik der globalen Moderne und der Vision der Transmoderne, die sämtliche Völker und Kulturen miteinschließt, steht nun allerdings Dussels Philosophie der Befreiung selbst vor der Aufgabe einer Rechtfertigung universalistischer Geltungsansprüche. Gewiss, die Befreiungsethik war von Anfang an nicht bloß eine Reflexion über regionale Befreiungsbewegungen. Dennoch blieben die universalistischen Perspektiven in gewisser Hinsicht noch dem Projekt einer „recuperación latinoamericana“ untergeordnet. Mit den immer deutlicher hervortretenden universalistischen Ansprüchen droht sich nun allerdings Dussels „De-struktion“ der europäischen Philosophie plötzlich gegen seine eigene Philosophie der Befreiung zu richten. Wenn nämlich der normative Kern der Befreiungsethik aus einer bestimmten, nämlich semitischen Tradition stammt, so erhebt sich die Frage, warum gerade das Semitische gegenüber dem Indoeuropäischen oder anderen Kulturen von vornherein einen Vorzug verdient. Dies bedeutet: Mit dem Projekt einer universalen Ethik hat sich Dussel auf ein Terrain begeben, in dem die Philosophie der Befreiung nun selbst in jenes Sperrfeuer der Kritik gerät, das üblicherweise gegen den Universalismus europäischer Moraltheorien entfacht wird. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich Dussel in der „Ética de la Liberación en la Edad de la Globalización y Exclusión“ (1998) ausführlich der heiklen Frage der Begründung der Befreiungsethik gestellt hat. Ob die vorgelegte Ethikbegründung, in der die Erträge der MarxKommentare33 und des mehrjährigen Dialogs mit der europäischen Diskursethik34 einfließen, gelungen ist, kann in diesem Rahmen nicht im Detail

32 A.a.O., S. 195. Zum Konzept der Transmoderne vgl. auch Dussel, Enrique: Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Wien/Berlin 2006, S. 135– 182. 33 Dussel, Enrique: La producción teórica de Marx. Un commentario a los Grundrisse, México 1985. Ders, Hacia un Marx desconocido. Un commentario de los Manuscritos del 61-63, México 1988. Ders.: El ultimo Marx (1863-1882). Commentario a la tercera y cuarta redacción de „El Capital“. México 1990. 34 Vgl. dazu Schelkshorn, Hans: Diskurs und Befreiung. Studien zur philosophischen Ethik von Karl-Otto Apel und Enrique Dussel. (Studien zur Interkulturellen Philosophie 6). Rodopi 1997.

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untersucht werden. Mit der Differenzierung von drei Ebenen (materialethisches Prinzip, formal-ethisches Prinzip und das Prinzip der Faktibilität) hat Dussel jedenfalls eine komplexe Ethiktheorie entworfen, deren Rezeption durch die europäische Moralphilosophie noch aussteht. Um latente Eurozentrismen in der eigenen Theorie auszumerzen, hat Dussel in jüngerer Zeit nicht nur seine Ethik, sondern auch seine Geschichtsphilosophie noch einmal einer Revision unterworfen. Zwei Korrekturen sind von besonderer Bedeutung, nämlich ein neuer Blick auf die griechische Antike und auf die Zeit zwischen 1492 und 1800. In der Rekonstruktion der Antike sprengt Dussel – gestützt auf jüngere Studien über die Beziehungen zwischen dem antiken Griechenland und dem Orient – das enge Korsett des Dualismus zwischen „SemitenIndoeuropäern“ auf, um auch die Kulturen des Fernen Ostens in seine Universalgeschichte besser integrieren zu können.35 Denn der „Hellenizentrismus“, genauer das romantische Bild von Griechenland als eigenständiger Wurzel der europäischen Philosophie und Geschichte, ist – dies steht für Dussel weiterhin außer Streit – „der Vater des Eurozentrismus“36. Aus diesem Grund hebt Dussel nun die Abhängigkeit der griechischen Kultur und Philosophie vom ägyptischen und semitisch-mesopotamischen (!) Denken hervor, in dessen Zentrum die Gerechtigkeit, konkret der Schutz der Armen, Witwen und Waisen steht.37 In ähnlicher Weise verändert sich auch der Blick auf die frühe Neuzeit. Die Eroberung Amerikas ist plötzlich nicht mehr der Beginn der globalen Hegemonie Europas. Vielmehr ist Europa zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, wie Dussel zu Recht betont, bloß ein Machachtzentrum neben dem Osmanischen Reich, China und Russland. Die globale Dominanz Europas ist eine späte Entwicklung, die erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert einsetzt. Angesichts des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas in den letzten Jahrzehnten könnte, wie Dussel in Aussicht stellt, die europäische Weltherrschaft letztlich ein Intermezzo in der Geschichte der Menschheit sein.

35 Vgl. dazu Dussel, Enrique: Política de la liberación. Historia mundial y crítica. Madrid 2007. 36 A.a.O., S. 25. 37 Vgl. dazu a.a.O., S. 22ff.

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V ON DER I NTERPELLATION ZUM D IALOG – EINIGE R ÜCKFRAGEN AN D USSELS P HILOSOPHIE B EFREIUNG

DER

Trotz aller Verwobenheit mit dem abendländischen Denken ermöglicht Dussels Kritik an der kolonialistischen Moderne der europäischen Philosophie eine De-zentrierung, die sie sich selbst nicht geben kann. Die Interpellation schafft in einer asymmetrischen Herrschaftsbeziehung die Voraussetzung für einen möglichen Dialog, der stets ein wechselseitiges Geschehen, nicht nur zwischen logoi, sondern auch zwischen den involvierten Diskurspartner_innen ist. Ich selbst bin in den 1980er Jahren durch die Begegnung mit dem lateinamerikanischen Denken, und hier wiederum vor allem mit Enrique Dussels Philosophie der Befreiung, aus dem „eurozentrischen Schlummer“ bzw. der selbstgenügsamen Introvertiertheit der europäischen Philosophie erwacht. In der Auseinandersetzung mit der Philosophie der Befreiung, die für mich auch den Blick in die Jahrhunderte alte Geschichte der lateinamerikanischen Philosophie geöffnet hat, bin ich mir einerseits erst als „europäischer“ Philosoph bewusstgeworden, andererseits habe ich auf diesem Weg die Geschichte Lateinamerikas als verdrängten Teil der europäischen Geschichte entdeckt. So wie sich die lateinamerikanische Philosophie nicht ohne die europäische Philosophie verstehen kann, so kann sich, dies ist mir in den letzten Jahrzehnten zur konkreten Erfahrung geworden, auch die europäische Philosophie nicht ohne die Philosophie Lateinamerikas verstehen. Die Interpellation lateinamerikanischer und anderer post-kolonialer Philosophien zwingt die europäische Philosophie zu einer selbstkritischen Reinterpretation der „europäischen“ Moderne. So wie Dussel nach einer authentischen Gestalt einer filosofía latinoamericana sucht, so stellt sich inzwischen auch für die europäische Philosophie die Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit einer filosofía europea. Kurz: Die europäische Philosophie steht heute vor der Frage: Welche Denktraditionen können in welcher Weise fortgeführt werden, nachdem Europa interpretierbar geworden ist. In dieser Perspektive habe ich unter dem Titel „Entgrenzungen“ mit einer selbstkritischen Re-interpretation der europäischen Moderne begonnen.38

38 Schelkshorn, Hans: Entgrenzungen (Fn. 18).

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Vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend bewusst aus einer „europäischen” Perspektive einige Themen und Probleme für einen zukünftigen Dialog mit Dussels Gigantomachia über Europa vorlegen. Seit den 1960er Jahren hat Dussel mit einem sicheren Instinkt immer wieder Risse in der Mauer europäischer Philosophie aufgespürt und auf diese Weise für die lateinamerikanische Philosophie neue Räume des Denkens eröffnet. Im Rückblick erhebt sich allerdings die Frage, ob die unterschiedlichen Durchbruchsstellen in der Mauer der europäischen Philosophie noch kohärent miteinander verbunden werden können. Diese Problematik möchte ich exemplarisch an einigen Themenfeldern illustrieren. Das antike Griechenland: indoeuropäisch oder semitisch? – Zur Bedeutung des sokratischen Logos Die griechische Philosophie ist für den frühen Dussel eine Rationalisierung des tragischen Ethos der Indoeuropäer, dessen dualistische Anthropologie und Totalitätslogik zur Legitimationsgrundlage nicht nur der antiken Imperien, sondern auch des modernen Imperialismus wird. Beim späten Dussel erscheint hingegen das antike Griechenland plötzlich als ein Produkt der semitischen Kulturen Mesopotamiens. Die Verschiebung des historischen Blicks führt in Dussels Philosophie der Befreiung zu internen Spannungen, die bislang noch nicht hinreichend bearbeitet worden sind. Statt einer Dechiffrierung auf indoeuropäische oder semitische Mythenstämme deute ich die griechische Antike mit Jaspers als einen achsenzeitlichen Durchbruch zur Philosophie. Das zentrale Merkmal der Achsenzeit ist der „Streit der Schulen”, in dem die mythologischen Weltbilder zerbrechen. So entstehen Indien, China und Europa, wie Jaspers selbst hervorhebt, jeweils völlig unterschiedliche geistige Strömungen, die vom Materialismus und radikaler Skepsis bis hin zu metaphysischen und religiösen Transzendenzvorstellungen reichen.39 In China ist denn auch die achsenzeitliche Periode, die mit Konfuius einsetzt, bis heute als die „Zeit der 100 Schulen” im kollektiven Gedächtnis gegenwärtig. Gewiss, die Philosophenschulen arbeiten sich inhaltlich an den jeweiligen Mythologien ab. Während in die chinesischen Philosophien der Achsenzeit den Mythos des sakralen Königtums in unterschiedlichen Varianten

39 Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1988. S. 20.

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rationalisieren, kommt es im antiken Griechenland zu einem Konflikt zwischen unterschiedlichen Mythologien, nämlich den Mythen der homerischen Epen, die das Ethos der Ehre (time) einer aristokratischen Kriegerkaste abbilden, und der Mythologie Hesiods, die die Gerechtigkeitsidee der sakralen Monarchien des Vorderen Orients (z.B. die ägyptische Ma’at) in die griechische Kultur einführt.40 Der Konflikt zwischen dem agonalen Ethos der Aristokraten und der Idee der Gerechtigkeit durchzieht die gesamte griechische Philosophie und führt schließlich zu einer radikalen Mythenkritik. Inmitten der Implosion mythischer Weltbilder entwickelt Sokrates den argumentativen Dialog, in dem sämtliche Wahrheitsansprüche, einschließlich der religiös-mythischen Traditionen, zur Rechtfertigung gezwungen werden. Gewiss lassen sich, worauf Dussel alles Gewicht legt, das sokratische Ethos mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und erst recht die Philosophien von Platon und Aristoteles im historischen Rückblick in übergreifende kulturelle Traditionen einschreiben. Dennoch ist mit dem sokatischen Logos zugleich ein Medium kritischer Reflexion etabliert, in dem sämtliche Deutungshorizonte nochmals zur Disposition gestellt werden können. Kurz: In der europäischen Philosophie ist mit der sokratischen Entdeckung „endlicher Vernunft” eine Quelle kritischer Selbstreflexion aufgebrochen, die in der Geschichte zwar immer wieder durch religiöse und metaphysische Absolutsheitsansprüche marginalisiert worden ist, ohne jedoch vollständig zu versiegen. Selbst Nietzsche sah sich gezwungen, seine eigene Philosophie, die inhaltlich die sokratische und christliche Sklavenmoral radikal verwirft, nichtsdestotrotz in den von Sokrates eröffneten Denkweg zu stellen „Socratesʼ Skepsis in Betreff alles Wissens um die Moral ist immer noch das größte Ereigniß – man hat es sich aus dem Sinne geschlagen.“41

40 Das frühe Griechenland ist daher, wie Dussel in jüngerer Zeit zu Recht betont, in massiver Weise vom Vorderen Orient beeinflusst, eine Tatsache, die im romantischen Bild von der einzigartigen Genialität des Griechentum ausgeblendet war. 41 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1880 7 [222]: In: KSA 9. S. 363.

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Emanzipatorische Moderne vs. Mythos der Moderne? – Die schwierige Frage der Kritik imperialer Gewalt Dussel unterscheidet in den Frankfurter Vorlesungen zwischen zwei Paradimen der Moderne, nämlich der Moderne als rationaler Emanzipation, im Sinn von Kant „als ‚Ausgang‘ aus der Unmündigkeit durch die Anstrengung der Vernunft als kritischen Prozess, welcher der Menschheit eine neue historische Entwicklung des menschlichen Seins eröffnet”42, und dem Opfermythos der Moderne, der im Namen der Überlegenheit Europas die zivilisatorische Gewalt gegenüber den „Anderen“ rechtfertigt. So wichtig diese Unterscheidung ist, so sehr bedarf sie weiterer Vertiefungen. Vor allem gilt es zu klären, warum Aufklärungsprozesse, und zwar nicht erst in der europäischen Moderne, sondern bereits in der Antike, und auch nicht nur in der griechisch-römischen Antike, sondern auch in anderen Hochkulturen wie z.B. im Alten China, zu Rechtfertigungen gewaltsamer Zivilisierung der Anderen (Barbaren, Nicht-Chinesen, Heiden u.a.) geführt haben. Im Blick auf die eigene, europäische Tradition stellt sich die Frage, warum Aristoteles, Sepúlveda und selbst Kant trotz ihrer Orientierung an der Universalität der Vernunft zugleich Theorien über die natürliche Sklaverei der Barbaren oder minderwertiger Rassen entwickeln konnten. Auf den ersten Blick scheint es sich um Selbstwidersprüche oder zeitbedingte Inkonsequenzen zu handeln. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn mit der Reflexion auf die universalen Geltungsansprüche der Vernunft ist noch nicht entschieden, wer als “vernünftiges Wesen“ zu achten ist. Die Frage der Inklusion, d.h. wer Mitglied der Menschheit ist, ist eine Frage der Anthropologie, in der unumgänglich, wie heute an den Debatten über Abtreibung, Sterbehilfe u.a. sichtbar wird, auch empirische Daten miteinfließen. Daher haben Aristoteles, Sepúlveda und Kant ihre Rationalitätstheorien, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten, jeweils mit einer bestimmten, extrem problematischen Anthropologie verbunden. Dies bedeutet: Fragen der Inklusion lassen sich nicht nicht durch eine transzendentale Reflexion, aber auch nicht in den Spuren von Lévinas durch ein Alteritätsdenken entscheiden.

42 Dussel, Enrique: Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. (Fn. 23). S. 193.

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Eine zweite Quelle von Gewalt liegt in der Ungleichzeitigkeit von Reflexionsstufen. Dussel selbst gründet die Philosophie der Befreiung auf philosophische Übersetzungen semitischer Narrativa, insbesondere der jüdischchristlichen Tradition (Las Casas, Lévinas u.a.). Da sich die monotheistischen Religionen jeweils auf eine göttliche Offenbarung und heilige Schriften beriefen, war und ist ihre philosophische Durchdringung jedoch bis heute ein extrem konfliktiver Prozess. An dieser Stelle kommt trotz aller zeit- und kulturgeschichtlichen Kontexte dem sokratischen Denken eine besondere Bedeutung zu. Denn Sokrates tritt nicht in autoritativer Weise als Verkünder einer Weisheit oder Heilsbotschaft auf, sondern zwingt alle Wahrheitsansprüche, gerade jene, die sich auf eine göttliche Inspiration oder Sendung berufen, zu einer kritischen Prüfung.43 Auch in Dussels Konzept der Transmoderne wird de facto allen Kulturen das Niveau sokratischer Selbstreflexion abverlangt. Denn die schöpferische Befruchtung zwischen europäischer Moderne und ihren Alteritäten kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten zu einer kritischen Distanz gegenüber ihren eigenen Wahrheitsansprüchen fähig sind. Diese Annahme ist jedoch, wie die Gewaltexzesse fundamentalistischer Bewegungen in allen Regionen der Welt zeigen, keineswegs selbstverständlich. Da nicht alle gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen zeitgleich dieselben Sinnhorizonte in Frage stellen bzw. sich überhaupt auf das Niveau kritischer Selbstreflexion einlassen, entstehen letztlich aporetische Konfliktfelder, die sich weder durch eine Analektik noch durch Appelle an die Universalität „der“ Vernunft auflösen lassen. Da es kritische Vernunft in der Geschichte niemals in reiner Form, sondern immer nur in Verbindung mit bestimmten inhaltlichen Optionen gibt, nimmt jede geschichtliche Gestalt einer rational ausgewiesenen Universalität unumgänglich auch Exklusionen vor. In diesem Zirkel bewegt sich jedoch nicht nur die europäische Philosophie, sondern auch Dussels Philosophie der Befreiung, die auf der Basis einer universalistischen Ethik eine postkapitalistische Vision für die Zukunft der Moderne entwirft. Darüber hinaus grenzt Dussel die Transmoderne in konsequenter Anwendung des philosophischen Reflexionsniveaus von einem vormodernen Folklorismus, der unhinterfragt eine bestimmte Vergangenheit konserviert, und von antimodernen Konzep-

43 Plato: Apologie. 21e-22c.

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tionen wie dem Nationalsozialismus, dem Faschismus oder aktuellen Formen des Populismus ab.44 Die Problematik eines internen Zusammenhangs zwischen universaler Ethik und Gewalt verweist nochmals auf Sepúlveda45, der keineswegs die aristotelische Lehre von der natürlichen Sklaverei der Barbaren übernimmt. Vielmehr steht Sepúlveda als Humanist und christlicher Theologe auf dem Boden des stoisch-christlichen Kosmopolitismus, der jedoch in der Antike eine ethisch-spirituelle Haltung und nicht Grundlage der politischen Philosophie ist. Erst die Schule von Salamanca entwickelt die stoisch-christliche Ethik zu einer Theorie des Völkerrechts fort. Francisco de Vitoria, Sepúlveda und Las Casas stellen sich daher zum ersten Mal in der europäischen Philosophie dem Problem der global-politischen Anwendung des ethischen Universalismus der stoisch-christlichen Tradition. Wenn das Naturrecht, das Sepúlveda gegen theologische Vereinnahmungen als philosophische und damit universalgültige Ethik verteidigt, tatsächlich globale Gültigkeit gewinnen soll, so muss – so Sepúlvedas folgenreiche Schlussfolgerung – im Konfliktfall auch der Einsatz von Gewalt als ultima ratio gerechtfertigt werden. Gewiss ist Sepúlvedas Verteidigung der Konquista Amerikas, die auf verzerrten empirischen Daten über die amerindischen Völker aufruhte, heute zurückzuweisen. Doch vor der Problematik, die Sepúlveda in seiner Zeit zu lösen versuchte, steht die politische Philosophie der Neuzeit, trotz bedeutsamer Klärungen von Las Casas, noch heute. Denn so wichtig Las Casas’ Warnung vor der Eskalation zivilisatorischer Gewalt war und so revolutionär seine religionsphilosophische Deutung der aztekischen Menschenopfer bis heute erscheint, so stellt sich spätestens in jenen Situationen, wo Menschen von einem politischen System massenhaft getötet werden, die Frage moralisch gerechtfertigter Gewalt. Aus diesem Grund stehen heute auch Menschenrechtsgruppen und postkoloniale Befreiungsbewegungen vor der Problematik Sepúlvedas. Auch Dussel befürwortet bei politischen Bewegungen, deren Ziele befreiungsethisch gerechtfertigt werden können, den Einsatz von Gewalt als ultima ratio.

44 Dussel, Enrique: Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen, (Fn. 23). S. 195f. 45 Zu Vitoria und Sepúlveda vgl. Schelkshorn, Hans: Entgrenzungen (Fn. 18) 2009. S. 205-345.

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Ambivalenzen der emanzipatorischen Moderne Die präzise Analyse der Ambivalenzen der Moderne ist ein zentrales Diskussionsfeld für einen Dialog zwischen europäischer und lateinamerikanischer Philosophie, für das Dussels Philosophie der Befreiung eine Fülle an fruchtbaren Beiträgen einbringt. Im Zentrum seiner Modernetheorie steht die Kritik am Opfermythos der Moderne, der nach Dussel einer Pervertierung der emanzipatorischen Moderne durch den desarollismo entspringt. Mit der Ethik der Befreiung nimmt Dussel daher gleichsam eine Operation vor, in der das Krebsgeschwür des desarollismo aus der emanzipatorischen Moderne entfernt wird. Ohne auf die komplexe Problematik näher eingehen zu können, möchte ich in diesem Rahmen zumindest auf zwei Themenfelder, die in einem zukünftigen Dialog zu vertiefen wären, kurz hinweisen. Das erste Themenfeld ist die Idee der Moderne als rationaler Emanzipation, an der auch Dussel trotz aller Kolonialismskritik festhält. Die Anfänge der rationalen Moderne werden jedoch von Descartes in die spanische Kolonialdebatte zurückverlegt. Im 16. Jahrhundert, der ersten Phase der Moderne, hat nach Dussel Las Casas durch seine Absage an die koloniale Gewalt und die Insistenz auf einem rationalen Dialog mit den indigenen Völkern das Maximum an kritischem Bewusstsein errreicht. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts deutet Dussel hingegen primär in einer machttheoretischen Perspektive: In Descartes’ ego cogito manifestiert sich das ego conquiro; Hobbes und Locke sind hingegen der merkantilen Logik des englischen Imperialismus verhaftet. Allerdings sind auch Dussel die Grenzen der emanzipatorischen Aufbrüche im 16. Jahrhundert bewusst. Denn auch Las Casas stellt z.B. die Absolutheit des Christentums und die weltweite Etablierung christlicher Reiche nicht in Frage. Vor diesem Hintergrund wird nun allerdings die Frage dringlich, auf welche Denktraditionen eine Verteidigung der emanzipatorischen Potentiale der Moderne heute noch zurückgreifen kann. Ohne die Verflechtungen mit der kolonialen Gewalt zu leugnen, muss eine europäische Philosophie in einer selbstkritischen Apologie nichtsdestrotz verengte Bilder über die neuzeitliche Philosophie Europas aufbrechen. Denn die Moderne lässt sich schwerlich auf eine oder zwei paradigmatische Ausformungen reduzieren. Gerade die Renaissance, die für Dussel selbst zumindest ab 1492 bereits eine konstitutive Phase der Moderne markiert, ist eine Zeit vielstimmiger und heterogener geistiger Aufbrüche. So

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wie in der Antike die Krise der mythologischen Weltbilder die Philosophie hervorbrachte, so entstand durch die Krise des mittelalterlichen Christentums in Europa eine kaum zu überblickende Vielfalt an religiösen und philosophischen Bewegungen, die sich im 16. Jahrhundert durch die transozeanische Expansion nochmals verstärkt. Vor diesem Hintergrund sind sämtliche Versuche, mit Hegel und Heidegger den Geist der europäischen Moderne auf einen Denker, nämlich Descartes, zurückzuführen, zum Scheitern verurteilt. „Das“ Subjekt der Moderne existiert nicht. Vielmehr finden sich bereits am Beginn der Moderne mit Montaigne, Descartes und Pascal völlig unterschiedliche Konzepte neuzeitlicher Subjektivität, die jeweils ihre eigene Wirkungsgeschichte entfalten. Auch die politische Philosophie der Neuzeit ist kein monolithischer Block. Gewiss sind wichtige Stränge politischen Denkens seit Sepúlveda und Hobbes, wie Dussel ausführlich analysiert, durch den europäischen Imperialismus ideologisch deformiert worden.46 Zugleich hat sich jedoch die europäische Philosophie in der Neuzeit der sozialen Anarchie, die die europäischen Gesellschaften in der frühen Neuzeit verwüstete, in konstruktiver Weise gestellt. Trotz aller theoretischen Umwege und auch Sackgassen ist in der politischen Philosophie der Neuzeit das komplizierte Konstrukt eines demokratischen Rechtstaates und die Idee eines globalen Völkerrechts entwickelt worden, die im Vergleich zur antiken Aufklärung ohne Zweifel als eine zentrale Errungenschaft der emanzipatorischen Moderne anzuerkennen ist. Die vielen Gesichter der Moderne sind, wie Dussel zu Recht betont hat, auch das Resultat von schillernden Synthesen zwischen emanzipatorischen und ideologischen Momenten. Die von Dussel vehement kritisierte Verbindung zwischen der emanzipatorischen Moderne und dem desarollismo ist jedoch – dies wäre ein zweites Themenfeld für zukünftige Dialoge – eine, keineswegs die einzige Synthese. Zwischen 1400 und 1700 lassen sich vielmehr in allen zentralen Bereichen der Philosophie, von der Anthropologie bzw. Subjektphilosophie bis hin zur Ökonomik zahlreiche Konstellationen aufweisen, in denen jeweils rationale Aufbrüche mit spezifisch kulturellen Visionen amalgamiert sind.47

46 Dussel, Enrique: Política de la liberación (Fn. 32). S. 242–391. 47 Eine detaillierte Rekonstruktion der frühneuzeitlichen Amalgamierungen von rationalen und kulturellen Durchbrüchen findet sich in Hans Schelkshorn, Entgrenzungen (Fn. 18).

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Um nur zwei Beispiele zu nennen: Montaigne entwickelt noch vor Descartes eine neue Form radikaler Selbstkritik, in der, wie auch Dussel anerkennt, nicht nur die Gewalt in Europa, sondern auch die eurozentrische Arroganz gegenüber außereuropäischen Völkern schonunglos kritisiert wird. Montaignes Skepsis etabliert jedoch nicht bloß ein rationales Selbstverhältnis des Individuums. Vielmehr gelangt Montaigne in den Versuchen einer Selbsterkundung zu einem schöpferischen und experimentellen Umgang mit Lebensformen, in denen die Grenzen der Rationalität bewusst transzendiert werden. Denn Montaigne sucht nicht allein nach dem guten Leben, sondern zuweilen einfach nur nach anderen möglichen Lebensformen.48 Eine ähnliche Amalgamierung von rationalen und kulturellen Momenten findet sich in Francis Bacons Konzept moderner Wissenschaft, in der die Idee einer experimentellen Wisssenschaft, die ohne Zweifel einen markanten Fortschritt in der Naturphilosophie markiert, mit der philanthropischen Pflicht der Herstellung neuer Dinge zum Wohl der Menschen verknüpft wird. Darüber hinaus verbindet Bacon die moderne Wissenschaft mit der extremen Utopie, alle verborgenen Potentialitäten der Natur freizusetzen. Was bei Bacon noch als Lob des Schöpfers gedacht war, hat sich im 20. Jahrhundert durch die Atomtechnik und Humangenetik als monströse Utopie entpuppt, durch die die Zukunft der Menschheit als ganzer gefährdet wird.49 Transmoderne und die transkulturelle Suche nach normativen Standards für eine olyzentrische Weltgesellschaft Im Zentrum von Dussels Idee einer Transmoderne steht die Vision einer polyzentrischen Weltgesellschaft, in der die globale Hegemonie Europas überwunden ist. Die Idee der Transmoderne gerät allerdings in eine gewisse Spannung zur späten Geschichtskonstruktion Dussels, in der nicht mehr 1492, sondern die industrielle Revolution im frühen 19. Jahrhundert den Beginn der globalen Dominanz Europas markiert. Die Polyzentrik ist nun nicht mehr bloß ein Merkmal der zukünftigen Moderne, sondern beschreibt

48 A.a.O., S. 345-407. 49 Vgl. dazu a.a.O., S. 411-470.

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bereits die geopolitischen Verhältnisse der frühen Neuzeit. Denn zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert festigte das Osmanische Reich seine Herrschaft über den Vorderen Orient, Südosteuropa und den Maghreb; China verdoppelte sein Territorium und Russland dehnte sein Herrschaftsgebiet bis in den Ural aus. Vor diesem Hintergrund relativiert sich Dussels Dechiffrierung des cartesianischen ego cogito durch das ego conquiro, die nun „nur“ mehr den ideologischen Komplex des europäischen Imperialismus aufdeckt. An dieser Stelle müsste die Philosophie der Befreiung konsequenterweise zu einer Kritik der ideologischen Strukturen des chinesischen, osmanischen oder russischen Imperialismus übergehen. Doch Dussel würdigt stattdessen die politische Philosophie Chinas, die stets auf das Wohl des Volkes bedacht gewesen sei und stabile Institutionen begründet habe. Über die imperiale Expansion im 17. und 18. Jahrhundert, die Barbarendiskurse und Weltreichsideen im chinesischen Denken breitet sich ein Mantel des Schweigens.50 Als einziges Defizit des chinesischen Denkens verweist Dussel auf die Unfähigkeit, die sakrale Legitimität des Kaisers als Sohn des Himmels in Frage zu stellen.51 Mit dem geopolitischen Niedergang Europas, der bereits mit dem Ersten Weltkrieg einsetzt, und dem Aufstieg Chinas in den letzten Jahrzehnten scheint am Beginn des 21. Jahrhunderts Dussels Transmoderne bereits Wirklichkeit zu werden. Doch die bloße Pluralität an Machtzentren ist noch keine Garantie für eine bessere Welt. Im Gegenteil: Die Rivalität zwischen regionalen Mächten ist inzwischen zu einer ernsten Gefahr für den Weltfrieden geworden. Im Vorderen Orient verwüstet der Konflikt zwischen dem Iran und Saudi-Arabien eine ganze Weltregion. Die zunehmenden Spannungen zwischen dem aufstrebenden China und seinen südostasiatischen Nachbarn haben bereits eine neue Rüstungsspirale in Gang gesetzt. Manche Regionen in Afrika werden wie am Ende des 19. Jahrhunderts zum Objekt eines Wettlaufs um imperiale Einflusszonen, in dem sich nicht nur europäische und USamerikanische Konzerne, sondern auch wirtschaftliche Akteure aus China, Japan und Korea natürliche Ressourcen und Bodenrechte sichern. Darüber hinaus sind in der polyzentrischen Weltgesellschaft absurde Allianzen entstanden: Europa und die USA koalieren mit Saudi-Arabien, das den wahabiti-

50 Enrique Dussel, Política de la liberación (Fn. 32), S. 143-167. 51 A.a.O., S. 164.

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schen Fundamentalismus weltweit verbreitet. Sozialistische Regime in Lateinamerika gehen Allianzen mit dem islamischen Faschismus in Iran ein. In einer zunehmend polyzentrischen Weltgesellschaft müssen auch in der Philosophie die Dialogebenen vervielfacht werden. Für die europäische Philosophie bedeutet dies, den Exklusivitätsanspruch endgültig aufzugeben und sich auf die Vielfalt „moderner“ Philosophien in Lateinamerika, Afrika und Asien vorbehaltlos einzulassen. Aber auch „außereuropäische“ Philosophien sind gefordert, ihre Bilder von Europa im kritischen Dialog mit europäischen Philosophien zu überprüfen. Ohne gegenseitige Kritik droht die Gefahr, dass die Philosophien in den verschiedenen Weltregionen bloß ihre jeweiligen Binnendiskurse mitsamt ihren „blinden Flecken“ kultivieren. Dies bedeutet: Eine kritische Philosophie der Gegenwart kann nur auf dem Pfad transkultureller Dialogprozesse wachsen. Der lange Weg von der Interpellation zum Dialog ist von Enrique Dussel selbst beschritten worden. Denn Dussel hat nicht nur den europäischen Monolog über die Moderne aufgebrochen, sondern sich auch auf einen mehrjährigen Dialog mit der Diskursethik von Karl-Otto Apel eingelassen, dessen Ergebnisse in die neue Ethik der Befreiung eingeflossen sind.

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Ethische Logik Zur Grundverfasstheit der Mensch-Person-Ambiguität

T ONY P ACYNA Man kann die Menschen nicht zum Guten führen; man kann sie nur irgendwohin führen. Das Gute liegt außerhalb des Tatsachenraums.1 LUDWIG WITTGENSTEIN

Spätestens seit Ludwig Wittgensteins Zurückweisung des Privatsprachenarguments bekommt man eine Ahnung davon, dass die komplexen Strukturen der menschlichen Gesellschaft nicht entstanden wären, wäre der Mensch seinem Wesen nach ein grunzender Einzelgänger mit schmalem Vokabular. Abgesehen von den Reduktionisten, die davon ausgehen, dass dem Menschen entweder eine grundlegende Universalgrammatik angeboren ist oder ein basaler Sprachinstinkt zur Verfügung steht, sind sich die Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen einig, dass die Komplexität der menschlichen Kultur in Formen des Geistes wie Zahlen, Worte oder Symbole unmöglich die Ergebnisse individueller geistiger Fähigkeiten außergewöhnlicher menschlicher Gehirne sein können, sondern vielmehr kollektive kulturelle Produkte verschiedener Individuen und Gruppen von Individuen in einem historischen Zeitraum. Im Zentrum meines Beitrags steht deshalb der Dialog in einer globalisierten Welt, in der Individuen verschiedener kultureller, religiöser und sozia1

Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Band 8. Frankfurt am Main 1984. S. 454.

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ler Provenienzen als Dialogteilnehmer aufeinandertreffen und ihre jeweilige Individualität zugunsten eines gleichberechtigten Dialogs dezentrieren. Dabei handelt es sich m.E. bei der globalen Gesellschaft nicht um eine ‚Family of Man’, also das Ganze der Menschheit. Denn das würde nur wieder einer ontologischen Reduktion anheimfallen. Mir jedoch geht es vielmehr um eine Weltoffenheit, die eine Vielfalt an konkreten Existenzmöglichkeiten zulässt, ohne dabei in verabsolutierende Zentrismen zurückzufallen. Ziel meines Beitrages ist daher die Vorstellung der ethischen Logik, die als Logik in der Reflexion eine normative Funktion erhält. Als Ethik reguliert sie in der konkreten Situation die Bedingungen von Handlungen – auch Gedankenhandlungen –, und geht deshalb einer Logik, aller Theorie als Metaontologie voraus. Ausgehend von Emmanuel Lévinas, zeichne ich den bereits ursprünglich ambigen Charakter des Menschen in dessen ontologischer Verfasstheit nach. Als Mensch ist jeder Mensch schlechthin ein Mensch. Erst in seiner individuellen Ausprägung (das Ontische) wird eine jede Person einzigartig. Doch lassen sich diese beiden Seiten – das Ontologische und das Ontische – in der konkreten Person nicht voneinander trennen. Vielmehr existieren beide Seiten je gleichzeitig. Damit geht das Ethische einer jeden Kategorisierung voraus, ohne dem Subjektivismus anheim zu fallen. Mit Ludwig Wittgenstein wird die Logik nicht zu einer der Handlung vorausgehendes – und damit von der Handlung verschiedenes – Phänomen, sondern vielmehr ein interner Aspekt der Handlung. Logik fungiert somit als Reflexion der individuellen Wahrnehmung. Ethische Logik ist damit keine eigene Position oder Theorie, aber auch keine individuellvariierende Einstellung. Der Andere, das Fremde bildet daher auch keine vom Subjekt unabhängige ontologische Kategorie, sondern ist vielmehr dessen ursprünglicher Bestandteil. In der Begegnung mit dem Anderen ist ein jeder in seinen Handlungen eingeschränkt. Als anderes-in-mir ist der Andere damit vom Subjekt nicht grundlegend unterschieden, sondern vielmehr dessen ontologischer Bestandteil.

I Der globale Dialog steht im Gegensatz zu einem lokalen Dialog. Der lokale Dialog ist in seiner Struktur in autarken Gefügen festgelegt und begrenzt, wie bspw. die Hierarchien in Gesprächen zwischen Chef und Mitarbeiter

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zeigen. In einem weltorientierten Dialog handeln verschiedene Teilnehmer ohne bekannte Rollenmuster. Deshalb ist der Verlauf des Dialogs offen und kann genuin Neues generieren. Scheinbar unaufhörlich kommt man dabei mit dem Fremden in Kontakt. Man denke vielleicht an Menschen mit einer anderen Hautfarbe, einem völlig anderen Kleidungsstil oder dem Hören einer anderen Sprache. Im Moment der Erfahrung des Fremden bemerkt man, dass man bspw. die Sprache selbst nicht beherrscht und dass man nichts versteht. Das Fremde zeigt sich als etwas, dass sich entzieht, mir immer schon entzogen ist. Etwas als fremd zu bezeichnen, setzt eine Verstandesleistung voraus, die das, was mir unmittelbar begegnet, als different von mir zu erkennen und bezeichnen. Denn erkenne ich das Fremde als fremd2, ist es mir nicht mehr unmittelbar gegeben, sondern angereichert mit Attributen durch mein Bewusstsein. Es gehört zur Eigenart des Fremden, nicht synchron (sondern diachron) mit dem Eigenen zu sein. Die entstandene Diachronie ist ein Resultat der rationalen Synthese. Es braucht eine zeitliche Verschiedenheit – und sei sie auch noch so klein –, damit die Begegnung mit dem Fremden als Begegnung mit dem Fremden zu Bewusstsein gelangen kann. In der Erfahrung mit dem Fremden stößt man also an seine Grenzen. Es zeigt sich ein Geschehen, das im Entstehen begriffen ist, in denen der Erfahrende von der Erfahrung ‚mitgenommen’ wird. Lévinas spricht von diesen Erfahrungen als Erfahrungen „im stärksten Sinne des Wortes“3. Dieses Geschehen ist insofern empirisch, da es als solches konkret wahrnehmbar ist. Es handelt sich um Alltagserfahrung. Erst retrospektiv lassen sich in der reflexiven Analyse dann Hypothesen über dieses Geschehen aufstellen. Das Verhältnis zwischen Ich und Du ist keineswegs ein kausales wie im Empirismus, demzufolge das eigene Verhalten dem Fremden gegenüber notwendig erfolgt, wie man es an einem Gesetz ablesen kann. Es ist aber auch kein lineares Verhältnis, in dem das Erleben der verschiedenen Teilnehmer zur gleichen Erfahrung führt. Ein Verhältnis zwischen Ich und Du spielt sich aber auch nicht ausschließlich im Geistigen ab – wie im Idealismus –, weil diese Ansicht zum Leib-Seele-Dualismus und damit zu einem Vernunfttotalitarismus des

2

Vgl. dazu Pacyna, Tony: Die Fremdheit des Zeigens. Wittgensteins Kultur der Einstellung. In: Das Fremde – Chance oder Bedrohung. Hrsg. von Karin Farokhifar & Brigitta Fuchs. Köln 2016. S. 119–140.

3

Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. München 62012. S. 206.

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Rationalismus führen. Es folgt die Herrschaft des Subjektes über das Objekt. Das Subjekt verbannt sich damit selbst in eine abstrakte Isolation und trennt sich damit ab vom Sein – der Existenz.4 Das jeweilige Erfahren wird vielmehr durch eine intentionale Struktur bestimmt, da wahrgenommene Objekte immer schon als etwas wahrgenommen werden. Das heißt, dass der spontane und kontextuell-variierende Wahrnehmungsakt des Fremden also primär ein intentionaler Vorgang ist, in dem sich ein Subjekt auf ein anderes bezieht, sich seiner Bezugnahme allerdings nicht bewusst ist. Erst später, in der Reflektion, kann das bereits Wahrgenommene verarbeitet werden. Als Instrumentarium dienen dafür bereits erlebte Erfahrungen und strukturierende Erkenntnismodelle. Wahrnehmung wird also erst kausal. Im aktualen, also spontanen (i.e. unmittelbar) Wahrnehmungsakt selbst, ist keinerlei Kausalität enthalten. Erst im Wahrnehmungsvorgang wird das Wahrgenommene kausal bestimmt.5 Wäre Kausalität bereits im Wahrnehmungsakt vorhanden, könnte man mit Sicherheit das Wahrgenommene bestimmen. Eine jede Theoriebildung würde dann die empirischen Wahrnehmungen nur noch bestätigen oder widerlegen. Einprägsam verdeutlicht hat Paul Watzlawick das Problem von Ursache und Wirkung am Beispiel des Pferdes, dessen Hufe auf einer Metallplatte stehen. Jedes

4

Die Isolation des Subjektes in die Abtrennung vom Sein ist dann Heideggers Ausgang nach dem Sein des Subjekts zu fragen. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2006.

5

Vgl. dazu die neuronale Rolle des Nucleus corpori geniculati lateralis (NCGL) bei der Farbwahrnehmung. Francisco Varela und Evan Thompson schreiben dazu: „Der Sehnerv führt vom Auge zu einer Region des Thalamus namens seitlicher Kniehäcker (NCGL) und von dort zur Sehrinde (CV). Die übliche Darstellung (nach wie vor in Lehrbüchern zu finden) lautet, dass Informationen durchs Auge eintreten und dann sequentiell über den Thalamus bis zur Großhirnrinde reisen, wo sie ‚weiter verarbeitet’ werden. Betrachtet man den Aufbau des Gesamtsystems aber genauer, spricht kaum etwas für sequentielle Vorgänge. […] Offenbar stammen achtzig Prozent dessen, worauf eine NCGL-Zelle anspricht, nicht von der Retina, sondern von starken Wechselwirkungen zwischen anderen Regionen des Gehirns. […] Daher erscheint es völlig willkürlich, die visuellen

Pfade

als

sequentielle

Informationsverarbeitung

aufzufassen;

ebensogut könnte man behaupten, die Sequenz bewege sich in die Gegenrichtung.“ Varela, Francisco & Thompson, Evan: Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Bern/München/Wien 1992. S. 135f.

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Mal, wenn ihm ein Stromschlag versetzt wird, ertönt gleichzeitig ein Signal. Das Pferd stellt eine Assoziation zwischen diesen beiden Ereignissen her, so dass irgendwann das Ertönen des Signals ausreicht, um das Bein des Pferdes zu heben. Was das Pferd allerdings nicht weiß und auf diese Weise aber auch nicht herausfinden wird, ist, dass die Gefahr bereits nicht mehr besteht. Die vergnüglichere Geschichte gibt Watzlawick mit dem Beispiel des Mannes, der Elefanten verscheucht. Alle zehn Sekunden klatscht dieser in die Hände. Als er zu seinem Verhalten befragt wird, erklärt er: „‚Um die Elefanten zu verscheuchen.‘ ‚Elefanten? Aber es sind doch hier gar keine Elefanten?‘ Darauf er: ‚Na, also! Sehen Sie?‘“6 Wir können für den Moment also festhalten, dass der Empirie nicht die Theorie vorausgeht, sondern vielmehr der Theorie die Empirie. Man nimmt das Fremde also nicht als fremd wahr, weil es einem selbst per definitionem fremd ist, sondern weil es einem als different erscheint. Diese intentionale Struktur ist in ihren Möglichkeiten, sinnlich Gegebenes in der Vielfalt der Intentionen wahrzunehmen, allerdings bereits ans Bewusstsein gebunden. Die Modalitäten der Phänomene lassen sich im Bewusstsein evident aufzeigen. Damit unterliegt die Wahrnehmung aber immer auch schon einer bestimmten Methode, Ordnungsparametern, die der Kultur, in die das Subjekt leiblich eingebunden ist, prägen. Das Fremde muss dem Subjekt also als fremd erscheinen, weil das Subjekt sich totalisiert, zum Ausgang und Maßstab seiner Betrachtungen macht. Damit stellt sich die Frage nach der Funktion des Fremden: wird das Fremde nur dazu eingesetzt, um eine Identität zu konstituieren? Brauche ich das Fremde, um Ich werden zu können? Intentionalität mag für eine Bezugnahme auf Dinge zutreffen. Wie verhält es sich aber in Bezug auf Personen? In der intentionalen Anschauung „beschreibt sich das Wissen als Erfüllung, als Befriedigung eines Verlangens nach dem Objekt.“7 Das Fremde wird zum Objekt, distanziert vom Subjekt – eben anders. „Übergehen zum Anderen des Seins, anders als sein. Nicht anderssein, sondern anders als sein. Auch nicht nichtsein.“8

6

Watzlawick, Paul: Anleitung zum Unglücklichsein. München/Zürich 1988. S. 51f.

7

Lévinas, Emmannuel: Zwischen uns. München/Wien 1995. S. 176.

8

Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder andres als Sein geschieht. Freiburg/München 1992. S. 24. (Hervorhebungen im Original)

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Die so oft postulierte Vielheit, der Dualismus oder die Dichotomie von Subjekt und Objekt, wird zum Ausgangspunkt für Erkenntnis und Ethik. Dabei zeigt sich, dass diese Einheit des Subjekts eben nur eine ‚nachgeschaltene’ Reflexionsleistung im Bewusstsein ist – eine Synthese in der Zeit. Denn die Erfahrung mit dem Anderen ist eben keine intentionale, mithin bewusste, sondern eine fundamental existentielle. Damit geht sie jeder Theoriebildung voraus. Eben weil der Fremde uns erst in der Bewusstwerdung erscheint, weil er uns als verschieden zeigt, sich mir entzieht und entzogen bleibt. Denn wir nehmen seine Individualität lediglich in der Zeit wahr. In der Wahrnehmung versucht das Ich das Fremde in seiner Andersheit zu erfassen. In der Gegenwart des Fremden ist der Umgang mit Dingen nicht mehr selbstverständlich. Interessen kollidieren, Freiheitsprinzipien werden miteinander ins Verhältnis gesetzt. Eben dieses Unverhältnismäßige zwischen dem Fremden und dem Ich ist die Grundlage für die ethische Voreinstellung. Der Mensch ist eben nur in seiner individuellen Verfasstheit dichotom, allerdings nicht in seiner grundlegenden Ontologie als Mensch. Damit ist das Fremde, das Andere ein Produkt unseres Bewusstseins, das zur Relation des Wahrgenommenen wird. Gleichzeitig und ursprünglich ist jeder Mensch aber die Einheit als Mensch (Gattung) und als Individuum. Schreibt bspw. Karl Jaspers in Vernunft und Existenz9, dass Existenz stets auf den Anderen gerichtet ist, dann entsteht Existenz durch Vernunft. Das Andere wird konstitutiv für das Ich. Kein Anderes, kein Ich. Damit ist das Andere immer schon das Fremde. Identität entsteht durch Abgrenzung. Man wird etwas, indem man etwas Anderes nicht ist. Das Andere wird zum Anderen aber erst im Bewusstsein als Synthese der Zeit. Damit ist es immer schon reflexiv, wird zum Objekt.10 Vortheoretisch jedoch ist jeder Mensch ambig. Spielende Kinder im Kindergarten mögen hier ein gutes Beispiel sein: Fragt man Kinder, ob Schwarze, Christen oder andere auf Differenz ausgehende Bezeichnungen mit ihnen spielen, wird dies verneint. Denn es spielen nur Kinder im Kindergarten – auch wenn jedes der Kinder freilich eine eigene, individuelle Existenz hat.

9

Jaspers, Karl: Vernunft und Existenz. München 1984.

10 Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Freiburg im Breisgau 1983.

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II Für die retrospektive Verarbeitung der Erfahrung spielt Sprache eine konstitutive Rolle: Sprache ist nicht etwas genetisch Vererbbares, das die Strukturen der Welt so erfasst, wie sie unabhängig vom Menschen sind. Im Gegenteil: das Sprechen von Sprache ermöglicht dem Menschen überhaupt erst einen strukturierten Zugang zur Welt. Jeder Sprechakt wird begleitet von einer Sprachgeste, die bereits vor aller begrifflichen Fixierung einen Sinn in sich trägt, wie bspw. Zorn oder Freude. Die von uns verwendete Sprache ist ein autonomes System, dessen man sich nicht bewusst bedient, das sich vielmehr einem aufdrängt. Autonom ist Sprache, weil es in ihr lediglich Differenzen und Oppositionen gibt, ohne signifikante Einzelglieder, die davon unabhängig Sinn ergeben oder existent wären. Sprachliche Zeichen spiegeln also nicht die Welt. Vielmehr ist es ihr Gebrauch, der ihnen Sinn verleiht. Welchen Sinn macht es, von einem Mann zu reden, wenn es im Gegensatz nicht auch eine Frau gibt, oder umgekehrt? Was wäre ein links, ohne rechts? Ein oben ohne unten? Ein hinten ohne vorne? Eine 1 ohne eine 2? „Philosophen sprechen sehr häufig davon, die Bedeutung von Wörtern zu untersuchen, zu analysieren. Aber lasst uns nicht vergessen, dass ein Wort keine Bedeutung hat, die ihm gleichsam von einer uns unabhängigen Macht gegeben wurde, so dass man eine Art wissenschaftliche Untersuchung anstellen könnte, um herauszufinden, was das Wort wirklich bedeutet. Ein Wort hat die Bedeutung, die jemand ihn gegeben hat.“11

Die Bedeutung des Gesprochenen ist deshalb nicht ablösbar aus dessen Zeichensystem. Vielmehr befinden sich die Zeichen untereinander in Relationen zueinander. Kein Zeichen hat Bedeutung ohne die anderen. Allein im Gebrauch der Zeichen innerhalb eines uns bekannten Sets an Regeln lässt sich Sinn konstituieren. Bedeutung entsteht durch den Gebrauch der Zeichen in Relation zueinander und innerhalb eines Sets von Regeln, die historisch und kulturell variieren.

11 Wittgenstein, Ludwig: Das Blaue Buch. Werkausgabe Band 5. Frankfurt am Main1984. S. 52. (Hervorhebungen im Original)

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Eben die Benutzung von Regeln sind ein Beleg für die Kontingenz von Handlungen in der geschichtlichen Reflexion: wir benutzen heute nicht mehr die gleichen Regeln der Sprache wie vor 200 Jahren. Die Regeln veränderten sich im Laufe der Zeit. Ein Sprechakt änderte sich, ein Sprechvorgang wurde angepasst, dessen Anpassung wiederum eine erneute Änderung eines Sprechaktes hervorrief, usw. Die historische Kontingenz entspricht eher einer Dialektik von Individuum und Sozialität, als einer genetischdeterminierten Anpassung des Menschen an seine Umwelt. Allein die Logik als strukturbildende, weil sinngebende Form bleibt. D.h., spricht man außerhalb der logischen Formen, wird man von Anderen nicht verstanden. Dabei können sich die logischen Inhalte allerdings ändern. Das, was früher fetzig war ist heute cool. Was sich ändert, ist das Wort als semantischer Inhalt. Was bleibt, ist die logische Struktur der Verwendung. Sprache schreitet permanent über sich selbst hinaus, und damit der Mensch als Kulturwesen. Könnte man sich außerhalb der Sprache befinden, bspw. im Bereich der ideellen Bedeutungen oder von Tatsachen, würde sich die Frage nach der Selbstüberschreitung nicht stellen. Bliebe die Sprache ein autarkes System, dass jedweder Veränderung trotzt, auch nicht. Eine Selbstüberschreitung kann nur stattfinden, wenn Sprache ein strukturbildendes System von Rede und Wechselrede darstellt, in der etwas zum Ausdruck gebracht wird. Diese sprachtranszendierende Differenz ist konstitutiv für den Gebrauch von Zeichen. Eben weil jeder Mensch einer individuellen Genese unterliegt, ist der Gebrauch von Wörtern historisch-kontingent. Weil ein Mensch aber auch einer bestimmten Kultur zugehörig ist, unterliegt dessen Reden bestimmten Regeln, damit man verstanden wird. Und eben diese Ambiguität von subjektiver Verarbeitung und objektivem Gebrauch ist der Ort, an dem sowohl die Fremd- und Selbstbestimmung, als auch deren Verhältnis zu den Dingen bestimmt werden. Dieser Ort ist der weltorientierte Dialog, in dem Menschen gemeinsam erkennen und handeln, eine Welt gemeinsam bilden, Sinn generieren, indem sie Strukturen bilden, die individuell geprägt sind, aber auch den Regeln der Logik unterliegen. Ein Dialog ist jedoch nur der Ort für ein gemeinsames Erkennen, wenn sich ein jedes Ich selbst entthront, seiner Verabsolutierung widerspricht, um sich dem vorontologischen Wir als gleichberechtigtem Korrespondenzpartner zu öffnen. Isoliert man sich, verabsolutiert man seinen Standpunkt und befreit sich vom Dialog. Nur eine Partizipation am Dialog führt zur Verwirklichung des gemeinsamen sinngerechten Erlebens. Spra-

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che versucht also nicht, einfach Zeichen oder Dinge durch Zeichen zu ersetzen, sondern sie gelangt im erzählerischen Gebrauch intentional zu den Seienden.12 Die Kommunikation wird zur Folge des Logos. Die Logik ist also die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt Wahrgenommenes beschreiben kann. Der Gebrauch logischer Regeln zur Vermittlung von Gedankeninhalten erlaubt dem Menschen nicht – wie es die Reduktionisten behaupten – Naturgesetze und Verhaltensgründe gleich zu setzen. Wäre dem so, ließe sich menschliches Verhalten problemlos vorhersagen. Doch der universale und allgemeingültige Anspruch von Naturgesetzen, ist noch nicht deren Begründung. Indem man durch naturwissenschaftlichkausale Gesetze bisher erfolgreich und richtig auf die Zukunft schließen konnte, meint so mancher, dass man damit auch zukünftig Erfolg haben wird. Allerdings macht die Begründung bereits von dem Gebrauch, was sie eigentlich begründen will: sie begründet den Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft mit dem vergangenen Erfolg, richtig auf die Zukunft geschlossen zu haben. Somit sind die Existenz und der Inhalt keineswegs empirische Tatsache, wir finden sie nicht einfach vor; die Kontinuität von Regeln der Natur ist somit kein Begriff der Logik. Logik lehrt mit ihrem allgemeinen Formalanspruch nichts über Inhalte und Eigenschaften der Natur, sondern untersucht die strukturellen Züge von Argumenten und Aussagen. Bereits Wittgenstein vertritt 1921 in seinem Tractatus logico-philosophicus die Ansicht, dass es keine Kausalität gibt, die einen logischen Schluss aus gegenwärtigen Ereignissen auf zukünftige rechtfertigt: „5.1361 Die Ereignisse der Zukunft können wir nicht aus den gegenwärtigen schließen. Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube. 5.1362 Die Willensfreiheit besteht darin, dass zukünftige Handlungen jetzt nicht gewusst werden können. Nur dann könnten wir sie wissen, wenn die Kausalität eine innere Notwendigkeit wäre, wie die des logischen Schlusses.“ (Hvh. i. O.)

Wir sind demnach als Menschen gar nicht in der Lage, logisch auf zukünftige Ereignisse fehlerfrei zu schließen. Verantwortlich dafür ist nach Wittgenstein der menschliche Wille (vgl. Kierkegaard). Dieser ist für ihn kein der Handlung vorausgehendes – und damit von der Handlung verschiede-

12 Vgl. auch Lévinas, Emmanuel 62012, S. 262.

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nes – Phänomen, sondern vielmehr ein interner Aspekt der Handlung selbst. Deshalb kann nach Wittgenstein der menschliche Wille keine notwendigen Zukunftsvoraussagen machen, weil die Kontingenz des menschlichen Willens bereits zur Handlung gehört; und 2.) Kausalität ihm zufolge keiner inneren Notwendigkeit folgt, aus einer Ursache also nicht notwendig und immer dieselbe Wirkung folgt. Notwendige Sätze spiegeln für Wittgenstein also nicht das Denken der Mehrheit wieder oder die meistverbreiteten Ansichten über Wirklichkeit. Wittgenstein vertritt vielmehr die Ansicht, Logik reflektiere die Bedingungen der Möglichkeit empirischer Darstellungen. Das Wahrgenommene – also die subjektive Wirklichkeit – wird im Denken, mithin in Sprache als Handlung dargestellt. Die Logik nun ist die Methode, mit der man die Grenzen der Sprache untersucht, denn die Sprache ist begrenzt durch bestimmte Gesetze: eben die Logische Syntax, das System der Regeln, das bestimmt, ob eine Verbindung von Zeichen sinnvoll ist oder nicht. Die Logik ermöglicht uns also die Transformation von Symbolen zu propositionalen Ausdrücken mit Schlussfolgerungen. In seinen späteren Werken erwähnt Wittgenstein zusätzlich, dass die Zeichen hinsichtlich ihrer Verwendungen verschieden gedeutet werden können, ihr Sinn also different ist. Er ergänzt die sprachliche Komponente der regelgeleiteten Tätigkeit um die nicht-sprachlichen Aktivitäten, die beide zusammen innerhalb eines bestimmten Kontexts, in dem sie auftreten, gedeutet werden müssen. Damit spricht Wittgenstein jedem Zeichen eine ontologische Grundlage ab. Das zu bezeichnende Objekt ist damit nicht identisch mit dem Zeichen, das es bezeichnet, und das Zeichen kann damit innerhalb eines bestimmten aktualen Kontextes einen anderen Sinn haben, als in einem anderen Kontext. Beispielsweise hat ein Dreizack keine Bedeutung-an-sich. Er ist nicht einfach nur ein Dreizack. Erst die Ikonographie entschlüsselt den Kontext des Objektes, der sich einmal als Dreizack des hinduistischen Gottes Shiva offenbart, ein anderes Mal aber als Dreizack des griechischen Gottes der Ozeane Poseidon. Hinzu kommt die Beachtung nicht-sprachlicher Aktivitäten. Die Gesamtheit von Sprache, Kultur und Weltsicht, nennt Wittgenstein Lebensform. So ist eine Begegnung mit dem Fremden ebenso immer kontextabhängig. Ein Ereignis ist nie identisch mit einem anderen, auch wenn es noch so ähnlich ist. Erfahrungen werden gemacht, Ereignisse rekontextualisiert, frühere Urteile widerlegt oder bestätigt. Die Regeln der Logik verhindern dabei eine Kommunikationsunfähigkeit, weil die Grenzen der Sprache

ETHISCHE LOGIK | 205

die Grenzen unserer Weltdeutung sind. Die Funktion von Zeichen kann überdacht werden, ob sie in einem bekannten Kontext noch Sinn macht oder nicht. Die Urknalltheorie und die Schöpfungsgeschichte sind beide Theorien über die Entstehung der Erde – und beide sind von Menschen nicht empirisch zu belegen oder zu widerlegen. Die Gemeinsamkeit der beiden Theorien liegt in der Überlappung, eine Theorie über die Entstehung der Erde liefern zu wollen. Die Differenz liegt im jeweiligen Bezugssystem: Bezieht sich die Urknalltheorie auf eine physikalisch-kausaldeterminierte Argumentation, nutzt die Genesis mythisch-narrative Ansätze. Beide Ansichten stehen sich diametral gegenüber. Ein Konsens kann nicht erreicht werden. Falsch sind sie deshalb noch lange nicht. Eben deshalb sind Ansichten anderer nicht relativ, also willkürlich oder zufällig, sondern relational. Indem sich Aussagen auf den gleichen Gegenstand beziehen und einer Argumentation folgen, ist keine von beiden irrational. Eine wirkliche Wirklichkeit als tertium comparationis gibt es nicht, weil die jeweilige Ansicht immer schon physikalisch oder mythisch geprägt ist. Die empirische Erfahrung wird in der Theorie also immer schon bspw. physikalisch oder mythisch interpretiert. Es gibt innerhalb der Wissenschaft keinen theoretisch zwingenden Grund, eine der beiden Theorien als irrational oder falsch einzustufen. Solange die Beschreibungen auf Argumenten basieren, so lange kann ein Dialog stattfinden. Irgendwann kommt aber eine jede Argumentation an ihr Ende. Auch die physikalische.

III Die Grundvoraussetzung für den weltoffenen Dialog mit dem Fremden kann somit nicht die logische Argumentation sein, denn die haben alle Teilnehmer im Wesentlichen gemeinsam. Dialoge müssten dann alle gleich verlaufen. Vielmehr stellt sich also die Frage, wie ein jeder in den Dialog geht: von welcher Art seine jeweilige Startbedingung ist, um überhaupt die Möglichkeit zum gelingenden (herrschaftsfreien) Dialogs zu gewährleisten. Die Bedingungen von Handlungen zu analysieren, ist nun die Aufgabe der Ethik. Folgen wir Wittgensteins Ansichten, gibt es verschiedene Bezugssysteme, innerhalb derer man handeln kann. Diese sind insofern gleichberechtigt, als dass mit ihnen ein bestimmter Handlungsspielraum zur Verfügung gestellt wird, der sowohl weltlich als auch sozial bestimmt ist. Weltlich, weil die eige-

206 | TONY P ACYNA

nen Handlungen gleichsam dem Blick und der Wahrnehmung anderer ausgesetzt sind, die sich zwischen Personen zu Interaktionen entwickeln.13 Sozial, weil diese Interaktionen Strukturen der geteilten Lebenswelt konstituieren. Man ist angewiesen auf Kooperationen mit anderen, und sei es auch nur im Kampf gegeneinander. Die Grenzen dieses Aktionsspielraumes liegen nun im Grad der Verfügbarkeit der uns umgebenden Wirklichkeit: Wie weit korrelieren die Handlungen anderer mit den eigenen Intentionen? Dabei reduzieren sich die Grenzen des Aktionsspielraums nicht auf eine statische Trennung von Können-Nichtkönnen oder Gefallen-Nichtgefallen. Erst der Versuch einer Interaktion mit dem Fremden legt die Möglichkeiten der praktischen Umsetzbarkeit der Interaktion dar. Stellt aber das Können die Grenzen eines Handlungsspielraums dar, so ist es das Sollen, das die Bedingungen der Möglichkeiten einer potentiellen Interaktion erst schafft. Das Können eines Subjektes reduziert das Subjekt wieder auf seine isolierte Bezugnahme der Welt. Die eigenen Fähigkeiten konstituieren die eigene Welt, die Intentionalität strebt die Expansion dieser Welt an. Das Fremde ist dann davon isoliert und entzieht sich jedem Versuch des Erfassens. Eine vorontologische Verfasstheit des Menschen als Mensch und als Individuum zugleich, setzt hingegen ein ‚Sollen’ in Kraft, das seine Welt nicht aktiv konstituiert, sondern passiv in der Begegnung mit dem Anderen den Anderen eben nicht als alter ego objektiviert, sondern in seiner Andersartigkeit sein lässt und damit die Bedingungen der Möglichkeit für eine Interaktion erfüllt, die eine mögliche Vielheit freisetzen. Ginge das regelgeleitete Können den Möglichkeiten des Sollens voraus, so würden die ethischen Aspekte der menschlichen Handlungen auf den rationalen Fähigkeiten des Menschen beruhen: Die Ethik hinge von der Logik ab. Logische Schlüsse jedoch zielen auf eine Darlegung der Wahrheit. Gibt es aber mehrere Wahrheiten, die entsprechend der Korrelation von subjektiven Erfahrungen und objektiven Interpretationsmöglichkeiten unterliegen, sind logische Schlüsse immer auch vom Kontext der Handlungen abhängig. Die Darstellung der Wahrheit übernimmt dann die Funktion einer regulativen Idee. D.h., man verfolgt in der logischen Analyse das Ziel, die Wahrheit herauszufinden, weiß aber, dass es die eine Wahrheit nicht gibt, und muss deshalb die eigenen erlernten Grenzen zur Disposition stellen, um einen Dialog zu ermöglichen, und dabei aber darauf achten, sich nicht selbst zu verlieren.

13 Vgl. hierzu bspw. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1965.

ETHISCHE LOGIK | 207

Die Logik kann also ein ethisches Verhaltensideal gar nicht bestimmen, weil die Logik eine Methode ist um zu klären, ob innerhalb eines Bezugssystems die getroffenen Aussagen der Wahrheit des Bezugssystems entsprechen oder nicht. Wahrheit ist demnach nicht absolut, sondern wahrscheinlich. „Die Ethik bedarf der Logik nicht […], da die Logik sonst eine Wahrheit voraussetzen müsste, deren Erkenntnis sie durch die Erfassung von Verfahrensweisen, die selbst wiederum diese Erkenntnis bewirken sollen, erst herstellen muss.“14

Wäre die Logik eine Methode, die absolute Wahrheit darzulegen, würde eine logische Ethik die Handlungsweisen vorgeben, die zur Erkenntnis der Wahrheit führen. Anerkennt man allerdings die Pluralität von Wahrheiten, hängt die Logik als Methode von der jeweiligen Einstellung des Menschen ab, welche Wahrheit man zu suchen gedenkt. Die Logik selbst, scheint jedenfalls nicht in der Lage, ein ethisches Verhaltensideal zu bestimmen. Diese Analyse führt zu der Annahme einer Logik, der eine ethische Einstellung vorausgeht. Diese Logik ist dadurch gekennzeichnet, dass der pragmatische Aspekt des Handlungsspielraumes bereits vor jeder kognitiven Handlung eines logischen Gedankens beginnt. Charles Sanders Peirce ist meines Wissens der erste, der zumindest den pragmatischen Ansatz einer von der Ethik abhängigen Logik beschreibt. Nach Peirce15 entspricht nun die Ästhetik dem evaluativen Aspekt Vernunft, die uns eine erste Bewertung des Wahrgenommenen ermöglicht. Darauf folgt die Ethik als praktischer Aspekt, die unsere Einstellung als Bedingung der Möglichkeit für Handlungen spiegelt. Am Ende steht die Logik als kognitiver Aspekt der Vernunft, um die Regeln der Systeme zu erkennen, einzuordnen und uns Handlungen im Spielraum des Verhaltens ermöglichen. Diese Trias ist nach Nicola Erny die „konkrete Vernünftigkeit als Einheit der Vernunft“, „deren Zusammenhang über den Begriff des Normativen begründet wird.“

14 Erny, Nicola: Konkrete Vernünftigkeit. Tübingen 2005. S. 15 Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Hrsg. von Charles Harthorne und Paul Weiss. Cambridge/Massachusetts 1931–1958.

208 | TONY P ACYNA

ALLES

EINE

F RAGE

DER

B ILDUNG ?

Der Ansatz einer ethischen Logik entsteht sowohl als theoretische als auch praktische Dimension: Die theoretische Dimension berücksichtigt Grundstrukturen der Wirklichkeit, Werte und Normen verschiedener Kulturen, die einen überlappenden Geltungsanspruch erheben. Die praktische Dimension ist die ethische Logik als vorontologische Einstellung, die jeder Kategorisierung vorausgeht. Die ethische Logik selbst ist aber keine eigene Position. Vielmehr liegt sie einer jede Position zugrunde und geht ihr damit voraus. Die Gemeinsamkeiten der Überlappungen bilden die zu untersuchenden Kontexte. Deshalb sind die historischen Kontingenzen einer jeden Überlappung zu berücksichtigen. Diese geschichtliche Dimension ergibt sich aus der wissenschaftlich-technischen Begründung der Welt seit Descartes. Damit stellt mein Entwurf einer ethischen Logik ein Modell dar, das die Bedingungen der Möglichkeit für einen idealiter gleichberechtigten Dialog aufzeigt und das Ethos als Grundlage für jede Form von Handlung zu erkennen gibt. Dabei bleibt die eigene kulturelle Provenienz die Grundlage des Handelns.16 Doch soll das Ziel einer Multiperspektivität eben nicht zu kultureller Desorientierung führen, sondern in der Respektierung des Anderen in seiner Andersartigkeit. Diese Position entwickelte vor mehr als 25 Jahren Ram Mall.17 Die Interkulturelle Philosophie zielt auf die Darstellung der pluralen Kulturen und Lebensformen, der Anerkennung ihrer heterogenen Ursprünge und kontextuell-variierenden Relationen untereinander. Als Philosophie antwortet sie auf „reduktionistische Rationalitätsformen unter Zuhilfenahme eines pluralistischen Kulturbegriffes“. Als Lebensform bekommt die Interkulturelle Philosophie jedoch Bedeutung im Sinne des Ethos: Damit umfasst die Interkulturelle Philosophie nicht allein normative Elemente, sondern ebenso lebenspraktische und deren kritische Reflexion.

16 Zur

ausführlichen

Auseinandersetzung

zwischen

Interkulturalität

und

Transkulturalität sh. Pacyna, Tony: Was ist transkulturell an Musikvermittlung und reicht das Konzept der Transkulturalität aus, um Musik im Unterricht zu vermitteln? In: Transkulturalität und Musikvermittlung. Frankfurt am Main 2012. S. 63–80; Ders. 2016. 17 Bspw. Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Darmstadt 1995. Ders.: Indische Philosophie. Vom Denkweg zum Lebensweg. München 2012.

ETHISCHE LOGIK | 209

Für Mall18 nimmt die Bildung daher eine zentrale Rolle ein. In der Vermittlung dieser Lebensform und deren Befähigung sind die wichtigsten Dimensionen der Interkulturalität.19 Als Ethos ist die ethische Logik der Interkulturellen Philosophie aktuell keine Aufgabe der Bildung: Man kann das Ethos nicht auswendig lernen und es gibt vor allem nicht die eine Methode, die vermittelt werden kann. Schließlich bleibt das Ethos eine individuelle Aufgabe, die jeder von uns wiedererkennen muss. Wir dürfen nicht mehr von einem Subjekt-ObjektDualismus, ja, nicht einmal mehr von einer Dichotomie ausgehen, in der das Andere immer schon zum Objekt der Untersuchung wird. Erinnern wir uns wieder unserer fundamentalen Ambiguität als Mensch und Person, damit wir erkennen, dass wir unsere Welt immer schon mit anderen teilen. Jeder Person ist schon in sich selbst Differenz und damit Andersheit. Bildung setzt heute noch auf der Ebene des Individuellen an und totalisiert diese Ansichten dann, wie man am Erfahrungsbericht Steffen Preuß’20 deutlich erkennen kann. Ausgang für die Vermittlung ist eine Differenz, ohne zu berücksichtigen, dass diese Differenz ein bereits reflektiertes Ergebnis des Bewusstseins ist. Bildung bewahrt also nicht davor, Rassist zu sein.

F AZIT Neorassismen sind damit in erster Linie für mich kein Bildungsproblem, weil deren Behandlung nicht statisch als Schulfach vermittelbar ist. Allerdings sollten sie Teil des Bildungsprozesses werden, damit ein jeder für die eigene Ambiguität als Mensch und Person sensibilisiert wird und gemeinsam Formen des Umgangs mit dem unabwendbaren Dissens entworfen werden. Bildung sollte nicht allein in der Vermittlung und Reproduktion bereits erworbenen Wissens enden, sondern dieses anwenden und genuin Neues schaffen.

18 Siehe den Beitrag Ram Adhar Malls in diesem Band. 19 Vgl. dazu auch die Interkulturelle Pädagogik. Bspw. Auernheimer, Georg: Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Darmstadt 2003. Essinger, Helmut & Kula, Onur Bilge: Pädagogik als interkultureller Prozess. Felsenberg 1987. 20 Siehe Einleitung des vorliegenden Bandes.

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Jeder von uns hat eine andere Auffassung von Werten und Normen, die sich kaum auf eine vermittelbare Theorie reduzieren lassen. Denn genau diese Reduktion wäre das Ende unserer aufgeklärten Welt! Eine neue Ansicht würde dann entweder zu der bestehenden Theorie passen oder eben nicht. Damit erhebt der theoretische Ansatz – sei er auch noch so vielfältig – erneut den Anspruch auf Allgemeingültigkeit – und verabsolutiert sich damit selbst. Somit kommt es nicht auf den logisch vermittelbaren Anteil an, der lediglich eine Beurteilung ermöglicht, sondern vielmehr auf den ethischen, der die Bedingungen der Möglichkeit schafft. Nur sollten wir uns unserer eigenen vorontologischen Heteronomie wieder bewusstwerden, bevor wir die Autonomie des Subjektes zur Bewusstseinstotalität erklären. Eine Aussage, dass der Islam zu Deutschland gehöre, gleicht dann einem Lippenbekenntnis, wenn islamischer Religionsunterricht weiterhin nicht an Schulen unterrichtet wird, islamische Theologie weiterhin ein Orchideenfach trotz hohem Interesse von Studierenden bleibt, und auch außereuropäische Philosophien nicht zum Curriculum der Universitäten gehören. Wir sollten verstehen lernen, dass Neorassismen keine Diffamierung von Minderheiten in Deutschland bedeutet. Jedes Mal, wenn jemand diskriminiert wird, ist es ein Angriff auf unser humanistisches Ideal.

L ITERATUR AUERNHEIMER, GEORG: Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Darmstadt 2003. Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Hrsg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss. Cambridge/Massachusetts 1931–1958. ERNY, NICOLA: Konkrete Vernünftigkeit. Tübingen 2005 ESSINGER HELMUT / KULA. ONUR BILGE: Pädagogik als interkultureller Prozess. Felsenberg 1987. JASPERS, KARL: Vernunft und Existenz. München 1984. LÉVINAS, EMMANUEL: Die Spur des Anderen. München 62012. DERS.: Zwischen uns. München/Wien 1995. DERS.: Jenseits des Seins oder andres als Sein geschieht. Freiburg/München 1992. DERS.: Die Spur des Anderen. Freiburg im Breisgau 1983. MALL, RAM ADHAR: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Darmstadt 1995.

ETHISCHE LOGIK | 211

DERS.: Indische Philosophie. Vom Denkweg zum Lebensweg. München 2012. MERLEAU-PONTY, MAURICE: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966. PACYNA, TONY: Die Fremdheit des Zeigens. Wittgensteins Kultur der Einstellung. In: Das Fremde – Chance oder Bedrohung. Hrsg. von Karin Farokhifar & Brigitta Fuchs. Köln 2016. S. 119–140. DERS.: Was ist transkulturell an Musikvermittlung und reicht das Konzept der Transkulturalität aus, um Musik im Unterricht zu vermitteln? In: Transkulturalität und Musikvermittlung. Frankfurt am Main 2012. S. 63–80. VARELA, FRANCISCO & THOMPSON, EVAN: Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Bern/München/Wien 1992. WATZLAWICK, PAUL: Anleitung zum Unglücklichsein. München/Zürich 1988. WITTGENSTEIN, LUDWIG: Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Band 8. Frankfurt am Main 1984. DERS.: Das Blaue Buch. Werkausgabe Band 5. Frankfurt am Main1984. DERS.: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main 1984.

Historische Orientierung: Was uns wichtig war und wichtig ist Eine kritische Bestandsaufnahme Streitgespräch mit Jörn Rüsen am 9.5.16

R = J ÖRN R ÜSEN ; V = B ÄRBEL V ÖLKEL

V ERLORENE Z UKUNFT – VERLORENE G ESCHICHTE : E INE G ENERATIONENFRAGE ? R: Wenn ich mir Ihren Leitfaden (eine Vorlage für das Gespräch) anschaue und die Vorannahmen, die dahinterstehen, dann stehen Sie für eine andere Generation. Es würde mich wundern, wenn das nicht so wäre. Diese Differenz muss erst einmal identifiziert werden, damit deutlich wird, worum es letztlich geht. Was waren die maßgeblichen Herausforderungen meiner Generation? Es war die erste Generation nach der derjenigen, die das Naziregime getragen hat. Wir waren die erste Nachnazigeneration. Wir wuchsen in der frühen Bundesrepublik auf, die von den übriggebliebenen Trägerinnen und Trägern des Naziregimes aufgebaut wurde. Das war für uns ein Riesenproblem, aber es gab dazu keine Alternative. Es war ein Problem in mehrfacher Hinsicht. Es war einmal ein Problem in der tiefenpsychologischen Formung politischer und moralischer Grundeinstellungen. Ich würde sagen, dass diejenigen, die für die Untaten des Nationalsozialismus (in unterschiedlicher Weise) verantwortlich waren, die Zeitgenossen, die Profiteure, die Täter, die Zuschauer, dass sie den inhumanen Charakter des Systems ausgeblendet haben. Sie haben ihn nicht verdrängt. Sie haben ihn beschwiegen. Sie hatten auch

214 | J ÖRN R ÜSEN, B ÄRBEL VÖLKEL

gar keine Chance, das nicht zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine ganze Generation unter der Last eines klaren Bewusstseins der stattgefundenen Verbrechen die Nachkriegssituation hätte bewältigen können. Wir, die nächste Generation, haben das moralisch verwerflich gefunden. Wir haben uns empört. (Wenn ich jetzt von wir spreche, meine ich eine diffuse, mentale Grundeinstellung einer Generation). Die meisten Kollegen, die ich kenne, hatten ähnliche Einstellungen. Es gibt ein interessantes Phänomen, das meines Wissens noch nicht hinreichend erforscht ist, weil die Geschichtswissenschaft in Deutschland ein gebrochenes Verhältnis zur Psychoanalyse hat: Auf der Ebene des Beschweigens ist das Gefühl, verantwortlich zu sein, von dieser Generation schweigend auf deren Kinder übergegangen. Mit anderen Worten: Meine Generation hat sich schuldig gefühlt. V: Das ist ja auch von Dan Bar-On, was die israelische und deutsche Gesellschaft angeht, gut dokumentiert – wie sich die Traumata des Zeitgeschichtserlebens der Eltern bei Beschweigen auf die Kinder übertragen.1 R: Ja. Nur waren es bei den Deutschen die Täter und nicht die Opfer. Und das hat die Mentalität einer ganzen Wissenschaftlergeneration tief geprägt. Zwar nicht alle, aber wenn Sie die führenden Historiker ab den 60er Jahren nehmen, Wehler, Kocka, Winkler, Christian Meier, Niethammer, die Mommsens und viele andere, dann werden Sie das überall wiederfinden. Diese Mentalität hat also meine Generation tief geprägt. Dann gab es einen Strukturwandel, der sich aber nur indirekt bemerkbar gemacht hat. Für mich wurde er durch die Rede von Martin Walser markiert, die ziemlich Furore gemacht hat. Sie war ein Indiz, dass sich etwas ändert. Inzwischen gibt es jetzt die dritte Generation. Gegenüber der Generation des Beschweigens ist die zweite die Generation des Moralisierens. Diese tritt nun langsam ab und an ihre Stelle tritt eine Generation des Historisierens.2 Historisieren bedeutet aber nicht Normalisieren. Denn wenn man den Nationalsozialismus historisiert in Sinne einer Normalisierung, dann könnte man die moralische Dimension ignorieren. Das ist aber nicht der Fall. Es hat sich etwas in der Struktur des Denkens

1

Bar-On, Dan: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern. Hamburg 2012. Ders.: Furcht und Hoffnung. Von den Überlebenden zu den Enkeln. Drei Generationen des Holocaust. Hamburg 1997.

2

Zu dieser Einteilung siehe Rüsen, Jörn: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte. Köln 2001. S. 279–300 (Holocaust-Erinnerung und deutsche Identität)

H ISTORISCHE O RIENTIERUNG | 215

verändert. Diese neue Generation steht vor neuen Herausforderungen. Eine davon ist ihr Thema: die Migrationserfahrung. Diese neue Generation ist jedoch nicht als eine geschlossene Gruppe ansprechbar. Sie gehören zu einer sehr bemerkenswerten Gruppierung, die von mehreren Fundamentalerfahrungen ausgeht. Die eine Erfahrung ist ein radikaler Zukunftsschwund. Also für Ihre Generation ist Zukunft Katastrophe. Für Sie ist nicht der Nationalsozialismus die Herausforderung, woraus Orientierungsprobleme erwachsen, sondern das wirkliche Orientierungsproblem ist für Sie die Moderne. Denn die machen Sie verantwortlich für sämtliche Probleme, die wir in der Gegenwart haben. Und das ist das zweite: Sie haben keinen historischen Boden mehr unter den Füßen, sondern schweben gleichsam in einer ganz interessanten negativistischen Einstellung, die einen klaren sprachlichen Befund hat. Ich nenne das Postism. Einige Beispiele der Selbstbezeichnung: postmodern, postdiskursiv, postnational, postsäkular, Poststrukturalismus, Posthumanismus, Postkapitalismus, Postkolonialismus, Postfeminismus, Postkonstruktivismus und so weiter. V: Mit dem Post wird meiner Wahrnehmung nach eher zum Ausdruck gebracht, dass wir in einer späteren und damit anderen Welt leben, in der aber die Moderne noch `irgendwie` enthalten ist, aber nicht mehr in der gleichen Weise ist, wie sie sich einst etabliert hat. Wir leben in einem Zeitalter der Nationalstaaten, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Nationalstaaten haben es aber seit ihrer Etablierung überwiegend nicht geschafft, sich auf eine nicht-ethnische Grundlage zu stellen. Unsere Welt, in der wir heute leben, ist maximal durch Wanderungsbewegungen unterschiedlichster Art geprägt. Damit sind viele Nationalstaaten, Deutschland auch, zu echten Einwanderungsgesellschaften geworden. Wir leben demnach in einem postnationalen Staat. Dennoch kann man wahrnehmen, dass sich der Nationalstaat Deutschland bislang in vielen Bereichen noch nicht auf diesen Sachverhalt eingelassen hat - auch nicht mental. Damit ist in meinen Augen dieses postnationale Zeitalter ein großes Problem für uns heute.3 R: Das meine ich ja. Das ist ein Riesenproblem. Die von mir beschriebene bundesrepublikanische Historikergeneration ist umgetrieben worden von schweren Modernisierungsdefiziten in der deutschen Geschichte und wollte dagegen etwas tun. Sie wollte die Geschichtswissenschaft modernisieren

3

Vgl. z.B.: Conrad, Sebastian: Kolonialismus und Postkolonialismus. Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte. APUZ 44-45/2012. S. 3–9, hier S. 7

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und damit zugleich auch die Bundesrepublik, im Sinne von „Mehr Demokratie wagen“. Das hat uns geistig bewegt. Da können Sie doch nur noch drüber lachen und sagen, das hätte sich als Illusion erwiesen. Nun haben Sie aber das Problem, sich zeitlich zu verorten. Sie müssen ja etwas historisch unter den Füßen haben. Und das haben Sie nicht, weil Sie sich nur als post definieren. Post heißt nach. V: Das wäre jetzt eine Unterstellung. Das Wort Post lässt sich so verstehen, dass in der Welt, in der wir heute leben, Elemente der Moderne fundamental, kategorial und für viele auch existentiell offensichtlich immer noch vorhanden sind, obwohl ein Wandel ansteht. Post heißt, dass wir in einer Zeit des anstehenden Wandels leben. Der Wandel ist aber nicht machbar, weil wir sozusagen in der Moderne festhängen und es bestimmte Elemente der Moderne nicht schaffen, sich so zu verändern, dass wir in ein friedliches Miteinander kommen können. Meine Theorie ist, dass das, was uns Menschen am meisten um die Füße hängt, unsere Geschichten sind, denn wir trennen uns im Wesentlichen über unsere Geschichten. R: Das meine ich ja auch. Sie versuchen sich mit dieser Post-metapher von der Last der Tradition der Moderne zu befreien. Das macht einen Riesenunterschied zu der Generation, die sagt, dass sie vor der Herausforderung eines Selbstverständnisses unserer Zeit und unseres Kontextes eines Deutschlands in Europa steht, in der es darum geht, schwere Defizite zu überwinden. Das Modell für diese Überwindung war eine gelingende Modernisierung. Dafür galten die westlichen Demokratien als Beispiele, insbesondere die USA. Die Modernisierungstheorie ist auch heute noch aktuell, wenn auch natürlich in veränderter Gestalt. Das nehmen Sie nicht zur Kenntnis und sagen, dass das nicht mehr Ihr Problem sei. Welche Probleme haben Sie denn dann? Das Wort Post besagt ja nur, was sie nicht wollen. Das ist eine klare Distanzierungsmetapher. V: Ich würde eher sagen, es ist eine Übergangsmetapher. Wir hängen in bestimmten Definitionen und Mentalitäten fest. Dadurch dass Ihre Generation so auf den Nationalsozialismus fixiert war und sich, wenn man so sagen kann, von diesem in gewisser Weise paralysieren ließ, sind bestimmte, ebenfalls in der Moderne anzusiedelnde Probleme, wie z.B. das koloniale Denken, das Denken in ethnischen Unterschieden, nicht als gegenwärtiges Problem im historischen Bewusstsein vorhanden. Denn diese Relikte aus der Moderne bereiten uns bis heute Probleme. Nicht der Nationalsozialismus und seine Folgen sind das was unsere Generation noch im gleichen

H ISTORISCHE O RIENTIERUNG | 217

Maße wie die Ihre beschäftigt. Wir verstehen den Nationalsozialismus als den Exzess eines Prozesses, der vor diesem angesetzt hat und der bis heute noch nicht zu einem guten Ende gekommen ist (Stichwort: Postkolonialismus). Damit sind wir heute im Wesentlichen befasst und damit müssen wir uns auch historisch befassen. R: Sie verwenden jetzt mehrfach das Wort festhängen. Sie wollen nicht mehr festhängen, Sie lassen also los. Das meint dieses Post. Aber zu manchen Dingen schweigen Sie. Dinge, die zur Moderne gehören: die Aufklärung, der Humanismus zum Beispiel. Ich habe gelesen: „Es gebe kein Verbrechen, das vom Humanismus nicht begangen worden wäre.“4 Solche Pauschalurteile (wie ich sie häufig in unserer Tagung gehört habe) sind für mich unerträglich. Es geht Ihnen also um die Herausforderung westlicher Gesellschaften, mit einer Migrationsbewegung dramatischen Ausmaßes fertig zu werden. In diesem Zusammenhang taucht dann auch der Kolonialismus auf. Ihre Generation sagt, er sei ein blinder Fleck oder eine schwarze Leinwand im Panorama der historischen Selbstverständigung des Westens. Sie nehmen ihn als Paradigma der Moderne schlechthin (ähnlich wie postmoderne Denker Auschwitz als ein solches Paradigma nehmen.) V: Wegen der Fixierung auf den Nationalsozialismus. Man kann sagen, dass über Ihre Generation eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus stattgefunden hat. Und auch der Versuch über das Trauern oder über die Verantwortungsübernahme einen Umgang mit dem Nationalsozialismus und deren Opfern zu finden, der zwar keine gleiche Augenhöhe wiederherstellt, aber der Begegnung wieder ermöglicht, kann als ein Verdienst angesehen werden. Das Problem ist nur, dass dabei die koloniale Mentalität erhalten geblieben ist und dass diese weiterhin ihr Unwesen treibt. Unsere Generation ist gerade nicht geschichtslos, aber wir setzen eben nicht am Nationalsozialismus an, sondern davor.

4

Davies, Tony: Humanism. London 1997. S. 141. Davies bringt es sogar fertig, von einem „Humanismus der Nazis“ zu sprechen (ebd.). Zitiert von Braidotti, Rosi: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt am Main 2014. S. 55.

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K RITIK

AM H ISTORISMUS – ÜBERZOGEN ODER SINNFÄLLIG ? R: Sie versuchen in die neuen Globalisierungstendenzen des historischen Denkens einen roten Faden hinein zu bekommen. Dieser soll darin bestehen, dass die westliche Beherrschung der nicht-westlichen Kulturen über Jahrhunderte und die dort auftretende Unmenschlichkeit den entscheidenden Gesichtspunkt zur historischen Interpretation der Neuzeit abgibt. Und zwar so, dass die maßgebliche Denkweise, d.h. die moderne, die westlichen Kulturen überlegen gemacht hat. Die nicht-westlichen Gesellschaften konnten dem Westen nicht Paroli bieten. Das ist der Horizont, in dem Sie jetzt versuchen, das historische Denken relevant zu machen. Damit soll es eine Orientierungsfunktion gewinnen, die dieser neuen Globalisierungserfahrung und der damit verbundenen Erfahrung einer fundamentalen Ungleichheit der Menschen zueinander entspricht, um dann zu so etwas wie Gleichheit oder zum ewigen Frieden zu gelangen. Wobei das übrigens eines der Schlagwörter des modernen Geschichtsdenkens ist. Dafür steht beispielsweise ein Aufsatz von Kant: "zum ewigen Frieden" – für mich das Gründungsdokument der Vereinten Nationen. Ich sehe in dieser fundamentalen Grundkonstellation ein Problem. Mit dieser Post-kategorie versuchen Sie aus dem Bann der westlich-imperialen Weltherrschaftsdenkattitude herauszukommen. Sie wollen sich davon befreien. Die Post-metapher zeigt aber nur eine Bewegung `weg von`, und sie zeigt gleichzeitig die Unfähigkeit zu formulieren, wohin es eigentlich gehen soll. Nur weg von, aber eine positive Bestimmung ist damit nicht verbunden. Wenn es positive Bestimmungen gibt, dann sollten wir uns die einmal im Einzelnen ansehen. Sie stammen nämlich praktisch alle aus der Kultur, von der Sie wegwollen. Das heißt, dass Sie im Grunde von Prämissen abhängen, die Sie gleichzeitig, auf der Reflexionsebene, abweisen. Nochmal: Meine Wahrnehmung dieses Abbrechens ist, dass dabei der Gedanke einer sinnbildenden Kontinuität abgelehnt wird. V: Nein. Nicht prinzipiell. Sinnbildende Kontinuität gibt es natürlich in Gemeinschaften. Alle Gemeinschaften haben sinnbildende Kontinuitäten. R: Aber wird reden doch jetzt über die Situation… V: Wir reden über die Gesellschaft. Über eine plurale, heterogene Gesellschaft. Und da frage ich mich, ob es überhaupt eine sinnbildende Kontinuität, die für alle gilt, geben kann. Das stelle ich in Frage.

H ISTORISCHE O RIENTIERUNG | 219

R: Ok. Das wollte ich gerade sagen. Sie stellen das in Frage. Das Ganze hängt indirekt mit einer sehr gebrochenen Zukunftserwartung zusammen. Die bleibt bei Ihnen relativ unbestimmt. Zumeist wird dabei auf die Klimakatastrophe verwiesen. Aus der westlichen Kultur sei eine Naturbeherrschung hervorgegangen, die letztlich nur in einer Katastrophe enden könne. Es sei denn, wir ziehen die Reißleine und gehen in eine andere Richtung. Wobei die Reißleine zu ziehen jeder akzeptieren würde, nur worin die andere Richtung bestehen soll, darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. V: Da gibt es einen ganz spannenden Absatz im Buch von Dipesh Chakrabarty Europa als Provinz. Darin weist er auf die Notwendigkeit hin, dass man eigentlich mit all diesen Differenzen, die sich über die koloniale Geschichte Europas ergeben haben, einfach mal aufhören sollte. Er sagt einfach abbrechen, weil wir nämlich mit diesem Menschheitsproblem des absehbaren Endes unserer natürlichen Ressourcen umgehen müssen. Er meint, dass hierbei keine Geschichte hilft, da so ein Ereignis des bevorstehenden Kollapses historisch einmalig sei. Hier brauchen wir demnach auch keine Geschichte mehr, wir müssen Neues erfinden und wir sollten uns alle mit unseren möglicherweise auch historischen Ressourcen zusammentun.5 R: Das bestätigt meine These, dass das historische Denken wegen der Zukunftsunfähigkeit der Gegenwartsanalyse seine Plausibilität verliert. Was bietet sich denn dann an? Es gibt nur eine Alternative: Mythos. V: Wenn der Mythos aber doch helfen würde... R: Ausgerechnet der Mythos! Das ist ja alles nicht neu. Dass die rationalisierende Mentalität des Menschen ein Unglück ist, dafür brauche ich doch Herrn Chakrabarty nicht. Da kann ich Spengler, George Sorel und die Kulturkritiker vom Ende des 19. Jahrhunderts lesen. Nietzsche zum Beispiel. Sie scheinen meiner These zuzustimmen, dass es in ihrem Geschichtsdenken wegen einer generell negativen Zukunftserwartung keine historische Linie mehr gibt, die von einer längeren Vergangenheit in eine längere Zukunft hineinführt. Offensichtlich geht es nur noch darum, dass wir uns mit der auf uns zukommenden Katastrophe auseinandersetzen. Ich frage mich: wo und wie soll diese neue Geschichte anfangen? Wo bekommt sie ihre Sinnkriterien her? Jetzt triumphieren die nicht-westlichen Kulturen, die chinesische vor allen. Uns halten die nicht-westlichen Intellektuellen vor,

5

Chakrabarty, Dipesh: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung.Frankfurt am Main 2010. S. 169–196.

220 | J ÖRN R ÜSEN, B ÄRBEL VÖLKEL

dass unsere Sinnkriterien die Welt zerstören. Dagegen wird dann der ganze Reichtum der vormodernen nicht-westlichen Kultur, z.B. die chinesische Klassik, ins Spiel gebracht, oder auch der derjenige der Inder oder der indigenen Völker. Sie liefern Modelle einer nicht-westlichen Weltdeutung grundsätzlicher Art als Alternative. Aber schauen Sie sich die mal an. Glauben Sie denn im Ernst, Sie könnten mit der indischen oder der chinesischen Kosmologie oder mit dem indigenous knowledge vormoderner Kulturen die Orientierungsprobleme der modernen Welt lösen? Das ist reine Ideologie, Rousseauismus reinsten Wassers. V: Nein, das ist keine Ideologie. Das ist ein ganz anderer Ansatzpunkt. Da wird ja davon ausgegangen, dass die Not der Welt sich aus einem inneren Zerfall des Menschen heraus erklären lässt. Weil er nämlich, wenn man so möchte, die Beziehung zum Kosmos verloren hat und innerhalb der Immanenz der Welt verloren ist. Und er hat keine Idee, wie er das, was er entfesselt, jemals wieder in den Griff bekommen soll. Man könnte das psychologisch deuten, dass die männliche und die weibliche Seite auseinandergefallen sind, wie auch immer. Die konfuzianische oder die buddhistische Weltsichtweise ist ja keine historische, sie gehört in den Zusammenhang von Weisheitslehren. Und ich würde die Geschichte nicht als Weisheitslehre bezeichnen. R: Der Buddhismus hat eine ausgesprochene Geschichtskultur. Da wäre ich vorsichtig. Was China betrifft, hat diese Kultur eine große historiographische Tradition. Und die entsteht in der gleichen Zeit wie der Konfuzianismus. Nun, dieses Auseinanderdriften des vermeintlich destruktiven Westens und des konstruktiven Ostens ist ein beliebter intellektueller Topos, der den Nachteil hat, dass er unplausibel ist.6 Er ist übrigens alles andere als neu. V: Diese Debatte würde ich nun ungern führen. Ich glaube nämlich, dass das unterschiedliche Ebenen sind. Mir geht es nur darum, dass wir heute in Deutschland in einer Gesellschaft leben, die durch die Migrationsbewegungen vor sehr großen Herausforderungen steht. Dazu kommen gesellschaftliche Verhältnisse, die zunehmend auf Ausgrenzung rekurrieren. In Europa sind Parteien wieder wählbar, die Parolen vertreten, von denen ich dachte, dass so etwas nach der historischen Bildung nach Auschwitz nie wieder sagbar wäre. Und es ist doch wieder sagbar. Meines Erachtens ist also in der his-

6

Siehe Huang, Chun-Chieh / Rüsen, Jörn (Hrsg.): Chinese Historical Thinking. An Intercultural Discussion Göttingen/Taipei 2015.

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torischen Denkweise etwas fundamental schief gelaufen. Dass eben die Rückbesinnung auf das eigene das ist, was Menschen tun, wenn die Welt unübersichtlich wird, das kann man psychologisch erklären. Aber das kann doch nicht sein, dass die Nationen sich wieder nach innen abschließen. R: Sie sollten hier differenzierter vorgehen. In den intellektuellen Anstrengungen der Bundesrepublik zur Bewältigung der Orientierungsprobleme der Gegenwart ist ein Rekurs auf nationale oder nationalistische Traditionen eine Ausnahme. Das ist eine Frage der Empirie. Wo gibt es namhafte Interpreten, auf die man hört, die was zu sagen haben, die diesen Bezug auf Nation in den Mittelpunkt stellen? V: Wenn z.B. gesagt wird, „der Islam gehöre nicht zu Deutschland“, Muslime aber schon, dann ist das für mich eine schizophrene Äußerung. Wie kann der Islam nicht zu Deutschland gehören, wenn Muslime zu Deutschland gehören? Das würde bedeuten, dass sich der Moslem von seiner Religion dissoziieren muss, damit er überhaupt deutscher Bürger sein kann. Und das sind für mich historische Bezüge, weil er angeblich historisch nicht zu Deutschland gehört. R: Ja, aber dann nehmen Sie die Äußerungen von Wulf und von Kauder als repräsentativ für eine ganze Denkströmung und lassen dabei die konkreten Vorgänge des Umgangs mit Muslimen außer Acht. Die Einrichtung islamisch-theologischer Lehrstühle, die Einrichtung von Islamunterricht in den Schulen, der etwas schwierige Umgang mit den islamischen Verbänden. Das reduzieren Sie auf solche relativ törichten Aussagen. V: Nein, das ist nicht töricht. Die Beispiele die Sie nennen, sind auf politischer Ebene wunderbare Bemühungen, das Miteinander auf Augenhöhe zu gestalten. Aber das Miteinander auf Augenhöhe lässt sich solange nicht richtig umsetzen, solange gesagt wird: „Aber historisch gehört ihr nicht zu uns.“ Das ist keine empirische Frage, das ist ein Problem des Historismus, einer bestimmten Art der Geschichtsschreibung, die nämlich auf Institutionen rekurriert und sozusagen den Nationalstaat als Höhepunkt der historischen Entwicklung beschrieben hat.7 R: Nun, das ist Ihre Auffassung von Historismus. Aber jetzt sollten wir das doch mal konkretisieren. Wenn Sie sagen, der Historismus sei dafür verant-

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Vgl. Assmann, Jan: Zeitkonstruktion und Gedächtnis. In: Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte. Hrsg. von Jörn Rüsen. Göttingen 1999. S. 81–98, S. 92: „Historismus und Nationalismus gehören zusammen:“

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wortlich, dass man sagt, der Islam gehöre historisch gesehen nicht zu Europa. Was ist daran historistisch? Und wenn Sie diese Aussage ablehnen, dann würden Sie doch sagen, dass der Islam sehr wohl zu Europa gehöre, oder? V: Natürlich. Denn ohne den Islam gäbe es Europa in seinem jetzigen Selbstverständnis nicht. Denn das Eigene entsteht immer in der Begegnung.8 Und zweitens hat es immer schon Muslime in Europa gegeben. Ich habe kürzlich Unterrichtsmaterial zur Holocaust-Education in Deutschland entwickelt und habe da Sinti und Roma sehr stark eingearbeitet, weil die bei uns bislang als Mitglieder der deutschen Bevölkerung und auch als Opfer des Nationalsozialismus zwar erwähnt, aber nicht als deutsche Staatsbürger thematisiert wurden. Und wissen Sie, was ich vergessen habe? Die Schwarzen Deutschen. Warum tauchen Schwarze Deutsche bei uns nicht in der genuinen deutschen Geschichte auf?9 Warum nicht Sinti und Roma als diejenigen, die Deutschland mit aufgebaut haben?10 Warum wurden z.B. nach der Wiedervereinigung Deutschlands nicht die zugewanderten Deutschen gefragt, wie sie dazu stehen? Wir haben bis heute einen ausgeprägt ethnischen Zugang zu Geschichte.11 R: Das würde ich komplett bestreiten. Meiner Meinung nach sehen Sie das ganze Problem einer nationalen Zugehörigkeit in einer sehr verengten Weise. Das kann man an den Muslimen deutlich machen. Wenn man fragt, ob der Islam zu Europa gehöre, dann muss man sich die konkrete Beziehungsgeschichte zwischen Europa und den islamischen Ländern ansehen. Da ha-

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Vgl. z.B. Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. München 1983, Studienausgabe 2012. S. 218-221. Auch: Kapsch, Edda: Verstehen des Anderen. Fremdverstehen im Anschluss an Husserl, Gadamer und Derrida. Berlin 2007. S. 143–147.

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Z. B.: Michael, Theodor: Deutsch sein und Schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen. München 2013.

10 Leidgeb, Ellen / Hon, Nicole: Opre Roma! Erhebt euch!! Eine Einführung in die Geschichte und Situation der Roma. München 1994. 11 Cil, Nevim: Eine allzu deutsche Geschichte? Perspektiven türkischstämmiger Jugendlicher auf Mauerfall und Wiedervereinigung. In: Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Hrsg. von Viola Georgi & Rainer Ohliger. Hamburg 2009. S. 46 und 58. Auch: Völkel, Bärbel: Schattenseiten des Nationalstaates: Menschen ‚mit‘ (und ‚ohne‘) Geschichte in Einwanderungsgesellschaften, in diesem Band.

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ben Sie dann die geistigen Bewegungen, in denen islamische Gelehrte die antike Kultur über Spanien nach Europa transportiert haben. Damals ging es nicht um den Islam, sondern um die Philosophie der Antike. Sie dürfen dann aber doch das andere nicht ausklammern: der ewige Krieg zwischen Muslimen und Christen, die Kreuzzüge, die Reconquista in Spanien, wie lange dauerte die? Hunderte von Jahren, bis die Muslime aus Spanien vertrieben wurden. Dann: die Türken vor Wien. Wenn man also die Beziehungsgeschichte ernst nehmen möchte, dann kann man durchaus sagen, dass der Islam in folgenden Hinsichten zu Europa gehört: Und dann zählen wir diese konkreten historischen Vorgänge auf. Es bleiben dann im Grunde Abgrenzung und Abwehrgeschichten dominant. Was die Wahrnehmung der Europäer von den Muslimen betrifft, muss man das berücksichtigen. Man kann das machen, aber das bestätigt letztlich die These, dass dazugehören bedeutet, dass bestimmte kulturelle Elemente, in denen man sich selbst wiederfindet, die man mit sich selbst identifiziert, vom Islam herkommen. Und das sehe ich überhaupt nicht. Ich sage ja nicht, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Aber wenn jemand kommt und sagt, der Islam gehöre historisch nicht zu Europa, dann frage ich: Wie meinen Sie das? Man kann die historische Nichtzugehörigkeit in einem identitätshistorischen Sinn nicht leugnen. Zugehörigkeit ist sehr kompliziert; sie hat sehr viele Schichten. Wir kommen da zum Begriff der Identität. Zugehörigkeit und Abgrenzung sind anthropologische Universalien. Wenn man das bestreitet und meint, dass das nicht menschlich sei, dass man sich von anderen unterscheidet, dann gibt es nicht mehr viel zu diskutieren. Die Frage ist nur, wie diese Unterscheidung sich konkret ausprägt und wie wir damit umgehen.12 V: Aber wenn wir heute sagen, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, dann heißt das auch, dass in Krisenzeiten, wenn knappe Ressourcen verteilt werden

12 Dazu Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln 2013. S. 266 ff. Ders.: How to Overcome Ethnocentrism: Approaches to a Culture of Recognition by History in the 21st Century, in: Taiwan Journal of East Asian Studies, vol. 1, no. 1, June 2004, S. 59–74; auch in: History and Theory 43 (2004) Theme Issue „Historians and Ethics“, S. 118–129; deutsch: Der Ethnozentrismus und seine Überwindung. Ansätze zu einer Kultur der Anerkennung im 21. Jahrhundert. In: Kultursynergien oder Kulturkonflikte? – eine interdisziplinäre Fragestellung. Hrsg. von Michael Kastner / Eva M. Neumann-Held / Christine Reick. Lengerich 2007. S. 103–117.

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müssen, danach gefragt werden kann, wer diese bekommen soll. Und dann kommt schnell bei manchen, mittlerweile durchaus immer mehr Menschen, die Denke auf, dass sie denjenigen zusteht, die historisch zu Deutschland gehören. Das wird in der gesamten Rassismusforschung diskutiert.13 Und wenn Sie sich diese populistischen Bewegungen anschauen, den Front National, bei uns PEGIDA und AfD, Geert Wilders und mehr, dann findet man da genau dieses Argument: Wir haben Probleme, wir haben eine Krise, also soll die Gruppe, die sozusagen historisch mit dem territorialen Boden verbunden ist, auf dem sie leben, zuerst die knappen Ressourcen bekommen. Über dieses historische Argument legitimiert man Ausgrenzungspraktiken und fremdenfeindliches Verhalten. Deshalb würde ich sagen, dass uns da Geschichte nicht hilft, die Probleme zu lösen, sondern sie verschärft sie. Sie bringt uns sogar zurück in ein Denkmuster des 19. Jahrhunderts. R: Das Denkmuster des 19. Jahrhunderts müssten wir uns mal ein bisschen genauer ansehen. Was Sie da über den Historismus schreiben, ist ja nur die halbe Wahrheit. Dass der Historismus (auch) ein Nationalismus war, kann man nicht bestreiten. Wenn man sich aber die großen Vertreter des Historismus einmal ansieht, Leopold von Ranke z.B., einer der führenden deutschen Historiker des Historismus, – der hat mit Nationalismus überhaupt nichts am Hut gehabt. Also da wäre ich vorsichtig. Wenn Sie gleichzeitig sagen, der Historismus sei völlig außerstande, nicht-westliche Kulturen als solche wahrzunehmen und anzuerkennen, kann ich Sie nur fragen, woher Sie das haben. Der Historismus ist eine große hermeneutische Leistung, kulturelle Differenz anerkennungsfähig zu machen. „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“, meinte Ranke.14 V: Aber was ist mit solchen Kulturen, die hermeneutisch nicht zu verstehen sind? Die auch kein hermeneutisches Selbstverständnis haben. R: Welche Kulturen sollten das sein? V: Orale Kulturen zum Beispiel. R: Und die kann man nicht verstehen?

13 Balibar, Etienne: Rassismus und Nationalismus. In: Rasse. Klasse. Nation. Ambivalente Identitäten. Etienne Balibar & Immanuel Wallerstein. Tübingen 1990. S. 63. Auch: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994. 14 Siehe Jaeger, Friedrich / Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992; Rüsen, Jörn: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt am Main 1993.

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V: Wir haben vielleicht das Gefühl, wir könnten sie verstehen. R: Wir können sie verstehen. Sie können doch nicht die Ergebnisse hundertjähriger ethnologischer Forschung mit einer Handbewegung in den Orkus schicken. V: Nein, das will ich auch nicht. Aber es ist auch, wenn Sie sich einmal die postkoloniale Literatur ansehen, nicht unproblematisch, wie die westliche hermeneutische Bewegung andere Kulturen, die Geschichte eher im Sinne von Herkunftsgeschichten definieren, plötzlich mit Sinnbildungskonstruktionen konfrontieren, die so im eigenen Selbstverständnis überhaupt nicht vorhanden sind.15 R: Aber das eigene Selbstverständnis ist doch genau das, was nach den hermeneutischen Direktiven des Historismus durch unsere Forschung ermittelt werden muss. Man muss die Kulturen aus sich selbst heraus verstehen. Wo bleibt bei Ihnen denn der Herder? Herder, einer der anregensten und maßgebendsten Geschichtsdenker der frühen Moderne, hat bei Ihnen überhaupt keinen Stellenwert. Herder sagt, dass jede Kultur ihre Würde in sich selber habe. V: Und eine Orale Kultur, die sozusagen ihre Oralität bewahren muss, damit die Erzählungen wandelbar bleiben und sich dann eben nicht hermeneutisch deuten lässt, wird so nicht in ihrer Würde anerkannt. Diese Gefahr besteht. Wandelbare Oralität wird dann zu einem hermeneutischen Interpretationsproblem.16 R: Da bewegen Sie sich aber in ideologischen Bahnen. Wenn Sie sich mal ansehen, wie die Ethnologie, ich denke etwa an Jan Vansina, sich bemüht, die oral tradition zum Sprechen zu bringen und deutlich zu machen, was das eigentlich ist und was das bedeutet: das ist klassische geisteswissenschaftliche Forschung.17 Die kann man doch nicht mit einer Handbewegung abtun. V: Unsere Vorstellung ist doch, dass wir die anderen Kulturen durch unsere hermeneutische Versiertheit möglicherweise besser verstehen, als sie sich

15 Vgl. z.B. Feiermann, Sven: Afrika in der Geschichte: Das Ende der universalen Erzählungen. In: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts-und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Sebastian Conrad / Randeria Shalini / Regina Römhild. Franfurt am Main 2013. S. 405–437. 16 Muriuki, Godfrey: Westliche Besonderheit? Einige Gegenargumente in afrikanischer Perspektive. In: Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte Hrsg. von Jörn Rüsen. Göttingen 1999. S. 223–231, 17 Vansina, Jan: Oral Tradition as History. London 1985.

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selbst. Wir werden jetzt von denen, die bisher immer interpretiert wurden, als Westen interpretiert. Und zwar so, dass wir erstens immer noch den kolonialen Blick haben, dass wir zweitens stark rassistisch geprägt sind und dass wir drittens andere Kulturen angeblich besser verstehen könnten, als sie sich selbst. Und diese anderen Kulturen sagen nun, dass das eben nicht so ist. Sie haben in gewisser Weise gelernt, sich mit dem westlichen Blick selbst zu sehen und sie erkennen nun, dass ihnen das viele Probleme gebracht hat. R: Ich kenne das. Da ist auch was dran. Man könnte das an der Diskussion um Edward Said deutlich machen. Nehmen wir sein letztes Buch über Humanismus. Das ist ein Lobgesang auf die westlichen Universitäten und die Departments of Humanities, weil das die Orte seien, wo man noch frei diskutieren kann. Das, sagt er, sei der Humanismus, den wir verteidigen müssen.

‚K NOCK -O UT ’-V ORWURF ‚R ASSISMUS ‘ UND WIEDER H ISTORISMUS V: Und warum haben wir dann so wenig Menschen mit anderem ethnischen Hintergrund in verantwortlichen Positionen in unserer universitären Landschaft? Wir sind ein multiethnisches Land, das müsste sich doch in unseren Professuren widerspiegeln. R: Sie meinen, innerhalb von drei Generationen müsste das gelaufen sein. Das finde ich sehr optimistisch. Einer der führenden Psychologen der Ruhr Universität ist ein Türke. Nur als Beispiel. Das kann man alles kritisieren. Es müssten vielleicht mehr sein. Aber dass das ein grundsätzliches Problem sein soll, stelle ich in Frage. Was mir jetzt zum Rassismus noch einfällt. Der Rassismus ist im Augenblick eine Vokabel, die die gleiche Funktion hat, wie der Begriff Faschismus in den 60er und 70er Jahren. Ich halte das für hochproblematisch. Das ist Begriffspolitik. Ich verstehe das. Das kommt gut an. Insbesondere bei den Deutschen, weil die sich dann vor dem Hintergrund des Holocaust ertappt fühlen. Rassismus ist als Begriff für Totschlagargumente sehr nützlich.18 Ich halte das für kognitiv unerquicklich. Das gleiche ist es mit dem

18 Wenn man z.B. sagt, wie ich es in meinen Arbeiten über interkulturelle Kommunikation tue, dass der Ethnozentrismus mental tief verankert ist und sich letztlich nicht auflösen, sondern nur zähmen oder zivilisieren lässt, dann ist das

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Begriff Imperialismus. Schon der Faschismusbegriff hat sich ja als untauglich erwiesen. Aber lassen wir das. Mich interessiert jetzt mal eine ganz einfache Frage: In welcher Kultur ist eigentlich ein rassistisches Selbstverhältnis der Mitglieder dieser Kultur kritisch gesehen worden? So in der Art da stimmt was nicht. V: Der Rassismus ist ja kein Problem innerhalb einer Kultur, sondern wird erst zum Problem, wenn es zu einer Kulturbegegnung kommt. Dann entsteht ja erst Rassismus.19 R: Aber die finden doch dauernd statt. V: Das sind sozusagen Alltagserfahrungen. Der Rassismus ist ein Effekt dieser Begegnungen und er entsteht im Augenblick der Hierarchisierung. Und deshalb ist er permanent. R: Aber wo wird er kritisiert? Normalerweise ist es doch so, dass diese hierarchisierende Abgrenzung als völlig normal empfunden wird. Da unterscheidet sich der Westen von China und anderen überhaupt nicht. Aber wo gibt es denn eine fundamentale Kritik des Rassismus, indem man sich auf eine Qualität des Menschseins beruft, die ihm widerspricht? Meine These ist, dass das im Westen passiert. In keiner anderen Kultur wurde der Gleichheitsgedanke so zur Geltung gebracht, wie in der westlichen Kultur in den letzten 200 Jahren. V: Birgit Rommelspacher hat den Begriff der „Dominanzkultur“ entwickelt. Damit wird beschrieben, dass in den Gleichheitsgedanken ein Ungleichheitsgedanke immer schon eingewoben ist. Denn wo Gleichheit als Ideal gefordert wird, heißt das ja, dass wir es immer auch mit Ungleichheit zu tun haben. Wir brauchen sozusagen die Ungleichheit, um Gleichheit fordern zu können.20 R: Das ist Sophisterei. Über eine sehr lange Zeit haben sich Kulturen in der Wahrnehmung von Differenz auf eine Ungleichheitskategorie bezogen. Ungleichheit war normal und natürlich. Von Natur sind die Menschen ungleich. Und dann auf einmal heißt es, wir seien von Natur aus alle gleich. (Das ge-

natürlich rassistisch, und damit ist mein ganzer Versuch, eine Kultur interkultureller Anerkennung plausibel zu machen, erledigt. (siehe Fn. 4) 19 Rassismus wird hier nicht im Sinne der Unterscheidung biologischer Rassen verwendet. Rassismus taucht heute als ein Neo-Rassismus oder auch differentialistischer Rassismus auf, der auf eine Substanzialisierung von Kulturen rekurriert. Balibar/Wallerstein: Rasse. Klasse. Nation. Fn. 13. 20 Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin 1998. S. 18-21.

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hört in den kulturellen Beginn der von Ihnen verteufelten Moderne.) Welche Rolle spielt diese Gleichheitsvorstellung? Wie wird sie benutzt, um die fortbestehende Ungleichheit zu legitimieren? Wenn Sie dem mal nachgehen, dann stellt sich das, was Sie so gerne der westlichen Kultur unterstellen wollen, als höchst differenziert und komplex dar. Nehmen wir das Beispiel Sklaverei. Man könnte sagen, dass das alles fürchterlich war, was der Westen da gemacht hat. Das ist ein wunderbares Beispiel für die nicht-westlichen Intellektuellen, uns ein schlechtes Gewissen zu machen. Und dann schlagen wir die Augen nieder und sagen nichts mehr. Jetzt frage ich, wer denn die Sklaven gemacht hat? Die sind doch nicht vom Himmel gefallen. Das waren nicht die westlichen Händler, das waren die Schwarzen selber. Und wer hat die Sklaverei abgeschafft? Der Westen! Diese Ambivalenz fehlt mir bei Ihnen. Und zwar an ganz entscheidender Stelle. Sie rekurrieren mit Ihrer Kritik auf die Probleme unserer Gegenwart. Denen wenden Sie sich zu, mit einer ganz bestimmten normativen Einstellung: Menschen sollen andere Menschen nicht unterdrücken. Menschen sollen auf gleicher Augenhöhe miteinander reden können. Diese Normativität würde ich ganz schlicht humanistisch nennen. Das ist das Erbe des klassischen Humanismus. Wir sehen das z.B. bei Herder, der diese Werte vertritt. Gleichzeitig schneiden Sie aber, in der Art wie Sie sich auf die letzten 400 Jahre beziehen, diese traditionelle Verbindung ab. Das halte ich für hochproblematisch. Ein anderes Beispiel. Sie reden von der Vernunft und dem Fortschritt. Der Historismus ist das Konzept des Fortschritts der (hermeneutisch) vernehmenden Vernunft.21 Und für Sie ist diese Vernunft eine durch und durch koloniale. V: Sie ist profund kolonial geprägt und kann das auch gar nicht anders sein. R: Das sagen Sie so, aber das ist doch empirisch gesehen gar nicht wahr. Nehmen wir die Aufklärungsvernunft, z.B. den Begriff der praktischen Vernunft nach Immanuel Kant. Der kategorische Imperativ ist doch nicht kolonial. Der kategorische Imperativ ist genau diejenige Vorstellung von Moral, die wir benutzen, um den Kolonialismus zu kritisieren. Sehen Sie, Ihr ganzes Ethos lebt genau von dieser Tradition. Jetzt versuchen Sie in Ihrem Denken

21 Dazu Ranke: „In der Herbeiziehung der verschiedenen Nationen und der Individuen zur Idee der Menschheit und der Kultur ist der Fortschritt ein unbedingter.“ (Ranke, Leopold von: Über die Epochen der neueren Geschichte. In: Aus Werk und Nachlaß. Band 2. Hrsg. von Th. Schieder & H. Berding. München/Oldenburg 1971, S. 80)

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die Menschrechtstraditionen in die Zukunft hinein weiter zu entwickeln, obwohl Sie ja gar kein Zukunftskonzept haben. Da sehe ich Widersprüche. V: Ich habe sehr wohl ein Zukunftskonzept. Das besteht darin, dass unser demokratischer Rechtsstaat auf Dauer ein Staat sein muss, in dem zuwandernde Menschen nicht damit rechnen müssen, dass ihre Unterkünfte angezündet werden. Und dass ein Staat an dieser Stelle ein anderes Geschichtsverständnis entwickeln muss. Der Tag des Anwerbeabkommens mit der Türkei im Oktober 1961 müsste für uns ein nationaler Feiertag sein, weil Deutschland somit letztlich zum Einwanderungsland wurde. Wir haben eine Geschichtsauffassung, die nach wie vor an unserer langen Vergangenheit festhält. R: Die Geschichtsauffassung meiner Generation war doch nicht vergangenheitsverhaftet. Wir hatten Zukunftsvisionen von „Mehr Demokratie“, von sozialer Gerechtigkeit und solchen Dingen. V: Aber da gehört jetzt eben auch mehr Pluralität dazu. R: Wer würde das denn bestreiten? Das mache ich seit 20 Jahren, dass ich sage, dass wir neue Erfahrungen von kultureller Differenz haben. Worauf müssen wir zurückgreifen, um mit dieser Erfahrung der kulturellen Differenz fertig zu werden? Dafür würde ich in unserer Kultur nach passenden Traditionen suchen. Und dann landet man z.B. bei Johann Gottfried Herder und beim klassischen modernen Historismus. Dass der Humanismus dann im Laufe des 19. Jahrhunderts voll den Bach runterging, würde niemand bestreiten. V: Dann knüpfen wir sozusagen an die eigentliche Idee an. R: Nicht nur die Idee. Wir müssen auch sehen, wo denn und in welcher Form die hier maßgeblichen Vorstellungen vom Menschsein des Menschen Wurzeln geschlagen haben. Und wo sie das nicht taten. Dann ergibt sich ein komplexes Bild einer fortsetzungsfähigen Geschichte und genau daran arbeiten wir. Diese Art des Denkens, dass man irgendwo kritisch anknüpft, ist doch besser, als zu sagen, dass alle Verbrechen im Namen des Humanismus begangen worden sind. Ich sehe auch die Situation im Augenblick offen. Die Situation ist verfahren, weil es in bestimmten Ländern der Welt einen ungeheuren Emigrationsdruck gibt und weil es klar ist, dass Europa diese Migrationswilligen nicht alle aufnehmen kann. Eine Million haben wir hinbekommen, wenn wir noch eine Million kurzfristig bekommen würden, dann, so glaube ich, kollabiert das System. Also müssen wir uns was überlegen. Eine echte Lösung, eine Patentlösung, die gibt es nicht. Deshalb müssen wir jetzt versu-

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chen, unter Wahrung bestimmter traditionaler Wertvorstellungen mit den Flüchtlingen umzugehen. Aber zurück zur Geschichte, ansonsten verlieren wir uns in politischen Diskussionen. Die Vernunft des Historismus ist nicht kolonial, weil sie bestimmte hermeneutische Elemente enthält. Die sind im angelsächsischen Diskurs nur begrenzt rezipiert worden. Herder, Schleiermacher und Dilthey sind dort keine Referenzgrößen. Diese große Hermeneutik geht im Begriff der kolonialen Vernunft nicht auf. Man kann das natürlich tun. Man kann sagen, dass nach der Unterwerfung der restlichen Welt durch den Westen die Wissenschaftler hinterhergekommen seien und Ethnologie betrieben hätten. Also sei die Ethnologie nichts anderes, als eine Widerspiegelung kolonialer Ausbeutung Das finde ich kurzschlüssig, denn man muss sich doch mal anschauen, was die Ethnologen gemacht haben. Heute gehen Townshipbewohner in Südafrika in die Bibliotheken und suchen in den alten ethnologischen Handbüchern nach ihrer eigenen Identität. Dass das vom Kolonialismus gefärbt ist, ist nicht zu bestreiten. Dass das aber reine Ideologie sein soll, die mit dem, was damals der Fall war, überhaupt nichts zu tun hat, das können wiederum nur Ideologen behaupten. Die historistische Vernunft hat natürlich kolonialistische Elemente. Aber sie ist nicht grundsätzlich kolonial und zwar deshalb, weil sie so etwas wie kulturelle Vielfalt überhaupt erst denkbar und anerkennensfähig macht. Das ist der Schritt von Kant zu Herder.

G ESCHICHTSBEWUSSTSEIN – G ESCHICHTSKULTUR UND DIE HISTORISCHEN L EISTUNGEN DES W ESTENS V: Ok. Bleiben wir mal dabei. Wir haben jetzt kulturelle Vielfalt innerhalb der Bundesrepublik. Und wir haben ein Verständnis von historischem Lernen, dass jeder Mensch sein Geschichtsbewusstsein hat und dieses ist rekursiv auf seine Geschichtskultur bezogen. Diese Geschichtskultur ist aber nur relational zu dem Geschichtsbewusstsein einer bestimmten Gruppe unseres Landes. Das sind diejenigen, die sozusagen in die deutsche Geschichtskultur hineingehören. Wo spiegelt unsere Geschichtskultur die kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft? R: Dafür gibt es Ansätze. Erstens ist die Bundesrepublik nicht erst durch die Migration vielfältig geworden. Deutschland hat sich immer als vielfältig

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empfunden. Das waren dann die sogenannten Stämme, wie man das im 19. Jahrhundert nannte. Die Bayern, die Preußen, die Schwaben und so weiter. Dann kam diese Migrationsgeschichte, aber in dem Bewusstsein, dass alle wieder gehen würden. Das hat sich als Irrtum herausgestellt. Dann wurde die faktische Einwanderung ignoriert und verdrängt. Das ist schon alles hochproblematisch, aber dann ging es doch los. Dann gab es im Ruhrlandmuseum eine Ausstellung über die Türken. Oder davor über die Polen im Ruhrgebiet. Diese Anerkennung von Vielfalt und Differenz wächst. Schauen Sie sich mal die Lehrpläne in den Schulen an. Ich habe allerdings mit der Schulbuchanalyse vor 20 Jahren aufgehört, aber ich bin ziemlich sicher, dass in modernen Schulbüchern der Islam vorkommt. V: Das Problem ist, wie etwas vorkommt. Es nützt nichts, wenn in einem Museum mal eine Ausstellung über die Türkei gemacht wird. Das Problem ist das Verhältnis von allgemeiner zu besonderer Geschichte. Wir haben eine allgemeine Geschichte, die das unsichtbare Allgemeine repräsentiert. Deshalb kann man den Deutschen auch nicht beschreiben. Auf der anderen Seite haben wir dann die Sondergeschichten. Die gehören nicht in die allgemeine Geschichte, sonst wären sie ja keine Sondergeschichten. Die haben dann in Schulbüchern auch ihre Sonderseiten. Der Blick, der da geschult wird, ist der koloniale Blick. Das sind dann eben die anderen. Jene, die früher an der Peripherie lebten, die sind jetzt mitten unter uns. Und gerade weil wir diese Sonderausstellungen jetzt haben, bekommen wir einen Blick für jene, die eigentlich nicht dazu gehören. R: Das mag schon sein. Nur kommt eben in der etablierten Geschichtskultur der Bundesrepublik Vielfalt vor. Es spiegelt sich in der gegenwärtigen Geschichtskultur der Bundesrepublik die Vielfalt der Kulturen, die die jüngere Migration ins Land gebracht hat, nicht wider. Das kann man doch auch nicht erwarten. So etwas dauert. Das geht nicht von heute auf morgen. Das Problem liegt woanders: Das ist das Problem des Allgemeinen und des Besonderen. Und das liegt bei Ihnen so, dass es die allgemeine, nationale, koloniale, unterdrückende Geschichte gibt, die den anderen die Luft zum Atmen nimmt. V: Ich würde sagen, dass die allgemeine Geschichte die politische Geschichte ist. R: Aber mit der Unterscheidung verdecken Sie das entscheidende Problem, um das es eigentlich geht. Die Bundesrepublik hat lange Zeit gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie nun eine Migrationsgesellschaft sind. Jetzt steht sie vor dem Problem, wie man etwas Gemeinsames hinbekommt. Irgendwie

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müssen die Einwanderer ja integriert werden. In dieser Geschichte bin ich seit 30 Jahren mit meinen Arbeiten aktiv. Es gibt ein fundamentales, normatives Grundgesetz oder eine kulturell normative Grundlage unserer modernen Zivilgesellschaft. Dazu gehört das Prinzip des Pluralismus. Da kann man also Türke sein oder Bayer oder Atheist. Pluralismus verlangt aber ein übergeordnetes Regelsystem, in denen die unterschiedlichen Lebensformen so in die Pflicht genommen werden, dass sie friedlich miteinander auskommen und wesentliche Loyalitäten zum Gemeinwesen (common sense) gemeinsam haben. Das sind bestimmte Grundwerte, die selbst nicht mehr pluralistisch sind. Auf sie bezogen, würde ich von der "allgemeinen" Geschichte sprechen. Wir sehen diese Grundnormen aus? Die bloße Berufung auf das Grundgesetz reicht vorne und hinten nicht aus. Es ist eben nicht so, dass die den Pluralismus regelnden zivilgesellschaftlichen Regulative schon alle im Grundgesetz stehen. Die Menschen- und Bürgerrechte, auf die wir zu Recht verweisen, sind offene historische Projekte. Diese Offenheit ist aber im normalen Lehren und Lernen noch nicht angekommen. Jeder, der sich mit dieser Geschichte beschäftigt hat, weiß das. Schauen Sie sich aber mal unsere Schulbücher an. Da findet man wenig übergreifende historische Perspektiven unserer kulturellen Grundlagen. Wie ich das sehe, haben die Perspektiven auf die allgemeine Geschichte, die Sie die exkludierende nennen, einen höchst unzureichenden Blick. Es muss eine Geschichte sein, in der die kulturellen Leistungen moderner Zivilgesellschaften hervorgekehrt werden. Also die Rechte der Person, die Menschenrechte und die Bürgerrechte, Trennung der Gewalten, die Trennung von privat und öffentlich etc. Hier besteht Aufklärungsbedarf. Dann hört auch dieses dumme Gerede vom christlichen Abendland, das die Leistung der religionskritischen Aufklärung unterschlägt, auf. Die moderne Kultur ist nicht christlich, sondern säkular (allerdings ohne Christentum nicht zu denken). Das haben aber z.B. die Muslime in Deutschland so noch gar nicht verstanden. Wenn die das Wort säkular hören, dann fühlen sie sich bedroht. V: Ich würde mal sagen, dass das die überwältigende Mehrheit der Muslime in Deutschland verstanden hat. Ich denke schon, dass sie ihre Religionsausübung in einem säkularen Staat sehr zu schätzen wissen. R: Ja, aber sie wissen den Säkularismus nicht zu schätzen. Die finden es gut, dass sie hier ihre Religion frei ausüben können. Aber aus der Tradition oder der Überzeugungskraft ihres religiösen Glaubens fällt für den Säkularismus überhaupt nichts ab.

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V: Es gibt vielleicht an dieser Stelle noch keine konsensfähigen historischen Beispiele, wie sich islamischer Glaube und laizistischer Staat gut miteinander verbinden lassen. R: Die Türkei ist ein Beispiel, wo so etwas gerade nicht funktioniert und wo die Grenzen liegen. Im Moment sieht es ja so aus, als wäre dort eine schleichende Islamisierung auf Kosten demokratischer und zivilgesellschaftlicher Substanz der politischen Kultur der Fall. V: Für mich ist die schleichende radikalisierte Islamisierung parallel zu einer schleichenden Re-Nationalisierung Europas zu sehen. Es gibt Debatten, die Islamismus und Nationalismus äquivalent sehen, nur mit unterschiedlichen Auswirkungen.22 Möglicherweise ist das nicht nur ein Problem innerhalb des Islams, der sich islamisiert, sondern wir haben in unserer westlichen Welt auch nationalistische Tendenzen. Möglichweise sind das Pendants. R: Nein, das sind Sie meiner Meinung nach nicht. Sondern die Nationalisierung ist eine Reaktion auf etwas, das diejenigen, die das machen, als Bedrohung durch den Islam empfinden. Das ist das Problem, wie eine Mehrheitsgesellschaft mit der Erfahrung von differenten Minderheiten umgeht. Das wurde in der Debatte bis heute souverän ignoriert. Die ganze Frage nach dem Eigenen und dem Anderen wurde mit einer abstrakten Gleichheitsvorstellung auf der einen Seite, die bei uns im System sanktioniert ist, und mit einer vollkommen verblasenen ideologischen Vorstellung von der Vielfalt der Kulturen als Humanitätsgewinn aufgenommen. Beides war völlig daneben. Weil die Urphänomene des Selbstseins und der Abgrenzung vom Anderen überhaupt nicht in den Blick genommen wurden. Da gibt es natürlich lange Geschichten und auch Erfahrungen, wie so etwas funktioniert, wie man solche Differenzen lebbar machen kann. Ich glaube nicht, dass es Lebensformen gibt, in denen diese Binnendifferenzierung verschwunden wäre. Das wäre auch ein Albtraum. Die Sache ist komplizierter. Und auch da haben wir Traditionen, in denen das zumindest vorgedacht wurde. Ich bringe wieder mal das Beispiel Herder. Aber es gibt auch andere Denker in der hermeneutischen Tradition, die sagen, dass das Verstehen des Andersseins des Anderen immer auch ein Gewinn des Selbstverständnisses ist. Das ist eine hermeneutische Grundregel. V: Nun, das würde aber sozusagen ein dialogisches Prinzip voraussetzen. Es kann ja nicht nur so sein, dass ich den Anderen betrachte und dabei sel-

22 Gellner, Ernest: Nationalismus, Kultur und Macht. Berlin 1999. S. 131–139.

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ber klüger werde. Sondern es wäre erst gleichberechtigt und auf Augenhöhe, wenn man ins Gespräch miteinander käme. Wenn man z.B. in der Schule eine Einheit zum Islam macht, dann ist da kein Dialog zwischen christlichen und islamischen oder buddhistischen oder sonstigen Vorstellungen. Die müssten ja alle auf eine Kategorie, z.B. was heißt eigentlich Frieden?, gebracht werden.

N ATIONALISMUS

ALS F EHLENTWICKLUNG EINER HISTORISTISCHEN U NIVERSALPERSPEKTIVE ? R: Der Geschichtsunterricht kann diese Vorreiterrolle nicht übernehmen. Dafür sind die Ausbildungsmöglichkeiten einfach viel zu schlecht. Wie wir heute Geschichtslehrer ausbilden, ist sehr problematisch, weil es keinen universalistischen Zugriff auf Geschichte gibt. Historismus war übrigens überhaupt nicht von Anfang an Nationalismus, das ist einfach falsch. Der Ursprung des Historismus ist liegt m Bereich der Universalgeschichte. Erst dann wird die Universalität der Menschheit konkretisiert zur Partikularität des Nationalen. Dort schimmert das Universale aber immer durch und macht den Nationalismus so gefährlich. Weil man im Anderen dann eben nicht nur den Anderen, sondern auch den Unmenschen sieht. Im 1. Weltkrieg ist diese Blase dann geplatzt. Was aber nicht bedeutet, dass damit der Nationalismus vorbei ist. Da sollte man vorsichtiger sein und sich erst einmal informieren. Was gibt es denn überhaupt für Nationalismen? Was ist denn der moderne oder gar der zeitgemäße Nationalismus? Wo entsteht der eigentlich? Dass der ein untrennbarer Bestandteil der Demokratisierung war, ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Gegenwart verschwunden. Über den Nationalismus hat sich das Bürgertum seine politischen Teilhaberechte erstritten. V: Dann müsste man aber sagen, dass der Nationalismus ein historisches Phänomen ist, das heute überwunden sein sollte. R: Nein, es ist ein historisches Phänomen, das heute dabei ist, sich zu verändern. Die Franzosen bleiben Franzosen, wir Deutschen möchten zwar ungern Deutsche sein, aber wir sind es. Es geht doch nur um die Frage, ob sich die nationale Zugehörigkeit im Zuge der weiteren Entwicklung der westlichen Staaten auflöst oder eben nicht. Die Erfahrung zeigt, dass sie sich nicht auflöst. Wir sind mitten in einem Prozess, wo sich nationale Zugehörigkeiten verändern. Und zwar von einer Exklusionsmentalität in eine

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Inklusionsmentalität. Das können Sie am deutsch-französischen oder am deutsch-niederländischen Verhältnis klarmachen. Worin das dann genau besteht, wie dieser europäisierte dann genau aussieht, ist schwer zu sagen. Es gibt Indikatoren dafür, z.B. die Schulbuchanalyse. Nur haben die Leute, die das betreiben, nicht die richtige Fragestellung. Man ist eben postnational und ignoriert die Tatsache, dass die Mitglieder der europäischen Union Nationalstaaten sind. Bei der Fußball-WM 2006 konnte man beobachten, wie nationale Zugehörigkeiten sich artikuliert haben. Ich hatte befürchtet, dass wieder ein traditioneller Nationalismus ausbricht. Aber so kam es nicht. Viele deutsche Autos waren nicht nur mit einer Fahne geschmückt; sie hatten mehrere. Und das ist doch, wenn man den klassischen Nationalismus kennt, geradezu ein Wunder. Da gibt es Veränderungstendenzen, die von unserer Intelligenzia ignoriert werden. V: Ich stimme Ihnen da zu. Erst hält man zum einen Land, und wenn das ausscheidet, hält man zu Deutschland, weil man in Deutschland lebt. Das sind interessante Phänomene. Was heißt denn nun dieser neue Nationalismus für unseren Umgang mit Geschichte? Wie muss sich Geschichte verändern? R: Der neue Nationalismus ist nicht der Nationalismus von diesem Holländer Wilders, das muss man betonen. Es besteht aber jederzeit die Gefahr, dass Errungenschaften preisgegeben werden. Und dann muss man eben sehen, wer dafür verantwortlich ist, dass diese Errungenschaften in welchem Maße preisgegeben werden. Ich neige zu einer vorsichtigen Beurteilung. Noch haben diese neonationalistischen Strömungen immer nur Minderheitsergebnisse ergeben. Ich fürchte nur, dass der AfD das Schicksal der Piraten erspart bleibt, weil sie viel zu klug ist. Aber das hängt von Umständen ab, auf die wir keinen Einfluss haben. Machbar ist die Geschichte sowieso nicht. Man kann nur sein Scherflein dazu beitragen. Das bedeutet für den Geschichtsunterricht, diese fundamentale Normativität der kulturellen Regelung von Differenz in einer säkularen Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen. Das ist umsetzbar. Leider zeigt sich das aber so nicht in unseren Geschichtsbüchern. Da kommen natürlich die Menschen- und Bürgerrechte vor, aber nur sporadisch. Es geht doch um die Frage nach dem Menschsein des Menschen. Was hält denn diese ganze Menschheit in der gegenwärtigen Krisensituation überhaupt noch zusammen? Meiner Meinung nach die Tatsache, dass wir Menschen sind. Dass wir als Menschen über bestimmte normative Grundeinstellungen verfügen, die variabel sind und sich entwickelt haben. Die sich auch wieder rückent-

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wickeln können. Aber da muss man mal ein bisschen genauer hinschauen. Was heißt Menschsein des Menschen bei den Griechen? Bei den Römern? Bei den Christen? In der frühen Neuzeit? Und dann bei uns? Wo liegen da die Defizite? Was bringen die Einwanderer für Vorstellungen vom Menschsein des Menschen mit? Ich sage nur: zumeist verheerende. Natürlich nicht alle, aber es ist verheerend. Es bedurfte in der Bundesrepublik ich weiß nicht wie vieler Jahre, um die afrikanische Mädchenbeschneidung sanktionierbar zu machen. Denn sie wurde ja von linken Intellektuellen als kulturelles Erbe der Einwanderer verteidigt. Das ist zum Glück vorbei. Insofern ist diese Multi-Kulti-Idee auch Unsinn. Multi-Kulti in einem verbindlichen normativen Rahmen, der nicht mehr pluralistisch relativiert werden kann – darum geht es. Und das ist ‚unsere‘ Kultur. Das ist der Rahmen, für den wir 400 Jahre gebraucht haben, den Sie hier mit einer Handbewegung vom Tisch fegen wollen. Dazu gehören die Menschenrechte, dazu gehört das höchst komplizierte Verhältnis von Mann und Frau, das Verhältnis von privat und öffentlich, die Frage danach, wie wir mit Gewalt umgehen. Für uns ist Gewalt ein Problem. Für die allermeisten Mitglieder nicht-westlicher Kulturen ist Gewalt selbstverständlich. V: Aber das heißt nicht, dass es nicht trotzdem ein Problem für sie ist. R: Für die doch nicht. Die bringen ihre kulturelle Orientierung mit, in der bestimmte Gewaltausübungen als selbstverständlich gelten. V: Die sind aber nicht unproblematisiert und zwar auch innerhalb ihrer eigenen Kultur. R: Das sind vielleicht ein paar Intellektuelle, die in Pariser Cafés sitzen und darüber schwadronieren. (Wenn sie nicht gerade in Gewaltphantasien schwelgen wie damals die Roten Khmer.) Wenn man mal genauer hinschauen würde, was in den Flüchtlingsunterkünften für Gewaltverhältnisse herrschen, da wären wir schockiert. V: Das ist aber ein neues Thema. Das hängt ja auch zum Teil mit den Bedingungen in diesen Unterkünften zusammen. Das heißt ja nicht, dass die Leute sozusagen naturgemäß gewalttätig sind. R: Das sage ich doch auch gar nicht. Ich sage nur, dass es Kulturen gibt, in denen Gewalt eine andere Normalität haben kann als bei uns. Dass unsere gewaltlos wäre, ist natürlich Quatsch. Das war ein mühsamer Prozess der Veränderung im Umgang mit Gewalt.

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V: Was meinen Sie: Bringen die Zuwanderer in ihrem historischen Gepäck Dinge mit, die für uns so interessant und erstrebenswert wären, um sie in unser eigenes Selbstverständnis einzubinden? R: Das ist eine gute Frage. Ich kann Ihnen die nicht beantworten. V: Ich auch nicht. Ich weiß da viel zu wenig. Meine These ist, eben weil wir das nicht wissen, finden wir uns selber so gut. R: Da würde ich widersprechen. Die große Dichtung der Perser zum Beispiel. Aber das ist doch alles nicht neu. Dafür brauchen wir die Einwanderer nicht. Denken Sie an Goethes west-östlichen Diwan. Da sind wir doch in hohem Maße aufnahmefähig. Aber die, die jetzt zu uns kommen, bringen die etwas qualitativ Neues herein? Das sehe ich überhaupt nicht. Wenn vom Islam her zumindest mal die Sufis reinkämen, das wäre ein toller Gewinn. Aber davon kann ja gar keine Rede sein. Es gibt große kulturelle Potenziale, aber ich finde sie hier nicht. V: Aber die Einwanderer haben das im Gepäck. Der Sufismus ist Teil des islamischen Kulturgutes, d.h. er könnte hier thematisiert werden. R: Das haben wir, aber was geschieht dann? Der Professor für islamische Theologie Mohammed Khorchide steht jetzt unter Polizeischutz, weil er die islamische Theologie von den Sufis herleitet. Ich finde diese Theologie höchst anerkennenswert. Ich engagiere mich auch dafür. Wir gründen jetzt einen Verein, wo die reformbereiten Muslime zusammenkommen können, ohne von den Islamverbänden beeinflusst zu werden. Dort kann man sich dann mal wirklich darüber unterhalten, welche Chancen der Islam in einem modernen säkularen Kontext hat. Da passiert auch viel. Das können Sie auch mit der Rassismusvokabel nicht zudecken. Da kann man mit dem Rassismus eigentlich nur noch entmutigen oder diejenigen, die das alles nicht wollen, bestärken.

K ULTURELLE O RIENTIERUNG IN EINER E INWANDERUNGSGESELLSCHAFT V: Nochmal eine Frage: Sie sagen, das historische Lernen dient der kulturellen Orientierung. Wenn ich Sie richtig verstehe, dient das den noch offenen und ausstehenden Verbesserungen aller unserer Ideale, wie der Menschen- und Bürgerrechte.

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R: Das sind Beispiele dafür. Übrigens ist das nicht offen, im Sinne, dass Ideale nicht wirklich wären, sondern wir sind mittendrin in den Prozessen ihrer Verwirklichung. Die geleisteten Voraussetzungen sollten nicht als gering geachtet werden. Dann gerät nämlich die Bundesrepublik in das Fahrwasser einer ideologischen Diskreditierung als nationalistisch. Schauen Sie mal in unsere Verfassung und versuchen dort, den Rassismus nachzuweisen. V: Was bedeutet für Sie kulturelle Orientierung im Zusammenhang mit historischem Lernen oder historischem Denken? R: Dass die Menschen eine Vorstellung davon haben, wie die Zeit eigentlich aussieht, in der sie leben. Wie Zukunft und Vergangenheit miteinander zusammenhängen, welche Erfahrungen es gibt und wohin ich da gehöre. Das wäre eine kurze Antwort. Das ist eine inhaltlich bestimmte Vermittlung von Zukunftsentwurf und Vergangenheitsrekonstruktion mit einer Platzierung der Person, um die es hier geht in der jeweiligen Gegenwart, in der sich Vergangenheit und Zukunft verschränken. V: Das ist eine relativ abstrakte Definition. Wie gehören da nun historische Ereignisse mit hinein? R: Da gehören diejenigen historischen Ereignisse hinein, in denen maßgebende Orientierungen geschaffen wurden. Das wäre etwa die Gründung der Bundesrepublik, die Entstehung des Grundgesetzes und die französische, englische und amerikanische Revolution. Es gehört eigentlich auch eine Erweiterung des Horizontes in einen menschheitlichen mit hinein. Also bei uns ist der Horizont, wenn er überhaupt noch traditionell ausgeweitet wird, die Antike und Mittelalter. Das ist übrigens nicht national. Die Antike lässt sich nicht national interpretieren. Wir müssen hinsichtlich der Standardthemen eigentlich nur die Dimensionen und die Perspektiven ändern. Die entscheidende Dimension des historischen Lernens muss die Menschheit sein. Und das ist offenkundig nicht der Fall. Ich würde den Geschichtsunterricht damit beginnen lassen, dass man sich fragt, worum es in der Geschichte eigentlich geht. Um die Zeitdimensionierung gestern, heute und morgen. Das kann man konkretisieren. Wie kann man bei Anfängern universalgeschichtliche Perspektiven plausibel machen? Man muss elementare Alltagsphänomene ansprechen und sie universalhistorisch qualifizieren. Zum Beispiel: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und die modernen Medien – die Kinder kennen das alles. Wir können sie sogar zeitlich definieren. Tausende von Jahren gab es keine Schrift. Die Menschen redeten nur miteinander, und sie tun es heute noch. Irgendwann

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wurde in China und im vorderen Orient die Schrift entwickelt – da kann man gleich kulturelle Vielfalt mit thematisieren. Was hat sich da geändert? Das kennen die Kinder alle, weil sie es ja selbst gelernt haben. Und jetzt leben wir in einer Zeit, wo etwas völlig Neues kommt. Die electronalité (nach der oralité und scribalité), wie Albert dʼHaenens einmal formuliert hat.23 Jedem Kind ist das verständlich zu machen. Drei Großepochen, menschheitlich dimensioniert und ineinander verschränkt. Da haben Sie ein Modell der Universalgeschichte. Und wenn Sie nun hingehen und elementare Phänomene nehmen, wie Herrschaft und Gewalt, Wirtschaft und Handel, dann kann man das alles universalhistorisch und interkulturell thematisieren und verliert keine relevanten Inhalte. V: Das wäre ein themenorientierter oder kategorialer Zugang. Auf jeden Fall keiner, der an politischen Verhältnissen festmacht, wie wir sie heute primär betrachten. R: Wenn man jetzt hingehen würde und den Phänomenbestand Politik entsprechend elementarisierte – zum Beispiel Herrschaft – dann könnte man z.B. ein oder zwei datierbare Ereignisse herausgreifen. Also z.B. 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, 1789 den Beginn der französischen Revolution. Das sind paradigmatische Ereignisse für die Konstitution moderner Herrschaft, die rechtlich gebunden ist, auf Menschen- und Bürgerrechten beruht und Gewaltenteilung hat. V: Da stimme ich Ihnen ja prinzipiell auch zu. Nur, was ist mit den Menschen, die aus Afrika zu uns zugewandert sind und die sich jetzt damit auseinandersetzen? Das hat doch mit ihnen und ihrer Geschichte überhaupt nichts zu tun. Außer dass sie sich als defizitäre Kultur erleben und jetzt auch mal gesagt bekommen, warum Sie so ‚hinterwäldlerisch‘ sind. Was kann ein Kind aus einem solchen Unterricht mitnehmen? R: Das ist alles nicht so einfach zu beantworten. Aber es gibt zum Beispiel im südlichen Afrika seit ungefähr 30 – 40 Jahren eine leidenschaftliche Debatte über autochtone afrikanische Humanität. V: Das wären zum Beispiel Dinge, die müsste man mit allen Kindern genauso besprechen. R: Aber dann darf man die Kinder nicht verkohlen und ihnen erzählen, die Menschen- und Bürgerrechte, die hätte es im vorkolonialen Afrika schon gegeben. Das ist Unsinn. Aber wie die Menschen in diesen vormodernen

23 Rüsen 2013 (Anm. 4), S. 152.

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Lebensformen miteinander umgegangen sind, dass es da bestimmte Formen der Gegenseitigkeit gegeben hat, das sollte man den Kindern doch beibringen. Man kann ihnen auch zeigen, wo da die Grenzen gelegen haben. Ich glaube, dass das geht. Die Kinder brauchen auch nicht zu lernen, dass es defizitäre Lebensverhältnisse gibt, weil sie das schon wissen, sonst wären sie ja nicht hier. Sie sollen sehr wohl lernen, dass wenn sie hier sind, sie von Errungenschaften Gebrauch machen (können), die nicht nur für die Einheimischen gelten, sondern die die Einheimischen im Namen der Menschheit gemacht haben. In der französischen Menschenrechtserklärung steht ja nicht am Anfang die Franzosen, sondern lʼhumanité, die Menschheit. Dass das eine Phrase ist, dass die Frauen ausgeschlossen waren, das wissen wir doch. Nur, wenn ein solches Rechtprinzip des Politischen einmal in der Welt ist, bekommt man es so schnell nicht wieder raus. Im Gegenteil: Es entwickelt sich weiter. Ich glaube, dass man die jungen Menschen mit einer guten didaktischen Strategie auch erreichen kann. Man muss ihnen nur eines klarmachen: das ist deine Geschichte! Dass Männer Frauen nicht schlagen dürfen, oder dass du einer Frau gegenüber höflich zu sein hast. Im Hinblick auf diese Errungenschaften der politischen Kultur kann und sollte man auch Forderungen stellen. Es ist doch ein Ärgernis, wie in bestimmten intellektuellen Diskursen (Postkolonialismus, Posthumanismus etc.) die Errungenschaften unserer westlichen Kultur überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Das müsste doch ein Sozialdemokrat hochhalten, dazu müsste er doch stehen. Wo arbeiten Kinder heute noch, wenn sie fünf Jahre alt sind und wo nicht? Und warum nicht? Um das zu verstehen, braucht man die postkoloniale Ideologie nicht. Kinderarbeit ist bekanntlich in der westlichen Moderne abgeschafft worden.

K APITALISMUSKRITIK , N ATION , K ULTUR UND R ASSISMUS V: Da machen wir ein neues Fass auf. Das hängt ja auch wieder mit dem Kolonialismus und dem Imperialismus zusammen, dass eben die prekären wirtschaftlichen Verhältnisse auch durch ausbeuterischen Kapitalismus entstanden sind. R: Jetzt kommen Sie mit dem Kapitalismus. Das ist doch auch eine alte Kiste, die ist jetzt ein paar hundert Jahre alt und wird jetzt wieder aufge-

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wärmt. Dass der Kapitalismus etwas ist, das kritikbedürftig ist, das bestreitet ja selbst der Erzkapitalist nicht. V: Sagen wir mal so: Die Entwicklung des Kapitalismus hat im Zusammenhang mit der Industrialisierung dazu geführt, dass wir die Erde innerhalb von 200 Jahren an den Rand des Kollapses gebracht haben. Der Kapitalismus hat auf der anderen Seite eine soziale Absicherung von Menschen ermöglicht, wenn denn gerecht verteilt werden würde. Es ist immer beides in unseren Konzeptionen enthalten. R: Das ist ja schon mal was. Dass die Menschheit vor der totalen Katastrophe steht, das hat Rachel Carson schon vor 50 Jahren verkündet.24 Der Club of Rome hat regelmäßig Prognosen gemacht und die waren durchgängig falsch. Insofern wäre ich da vorsichtig. Wir neigen zu apokalyptischen Zukunftsvisionen, weil es (bis auf die Moderne mit ihrem Fortschrittsbegriff) eine anthropologische Universalie ist, die eigene Lebensform ans Ende der Geschichte zu setzen. Das ist jetzt nicht natürlich mehr plausibel, der klassische Fortschritt ist zur Katastrophe geworden. Aber jetzt zu sagen, dass daran der Kapitalismus schuld wäre, finde ich intellektuell faszinierend, aber einfach falsch. Wenn es überhaupt Möglichkeiten gibt, diese Katastrophe zu verhindern, dann braucht man dafür eine bestimmte Form der Wirtschaft und der Technik. Also genau das, was heute als Quelle des Übels erkannt wird. Ich bin kein Ökonom und auch kein Anhänger von liberalen Theorien, aber man muss das nüchtern betrachten. Der Kapitalismus ist die einzige Wirtschaftsform, von der man mit guten Gründen sagen kann, dass ihre Potenziale so genützt werden können, dass Armut abgeschafft werden kann. Das ist eine Tatsache. Wenn Sie erst mal dafür sorgen, dass kein Mensch mehr verhungert, dann bin ich für den Kapitalismus und seine Wertschöpfung, auch wenn das Ausbeutung bedeutet. Wenn Sie nämlich die Ausbeutung abschaffen, und dafür tausende Menschen verhungern, was soll das? Der Kapitalismus ist eine Zukunftsmöglichkeit, hat aber auch katastrophale Tendenzen. Es gibt also Potenziale, und es gibt Gefährdungen. Im Augenblick leben wir in dem Bewusstsein, dass die krisenhaften Phänomene zunehmen. Wir haben eine europäische Finanzkrise, wir haben eine europäische, politische Einigungskrise und wir haben eine kulturelle Orientierungskrise, in der die Europäische Union die Glaubwürdigkeit einer zukunftsfähigen Institution verliert. Woran liegt das? Wir haben wenig Anstrengungen unternommen,

24 Carson, Rachel: Silent Spring. 1962 (dt: Der Stumme Frühling. 1963).

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eine gemeinsame europäische Kultur zu entwickeln. (Es gibt ja noch nicht einmal einen europäischen Historikerverband.) Wir werfen der Gegenwart Nationalismus vor. Und was machen wir? Der deutsche Historikerverband ist national orientiert. Und Sie schreiben: „Müssen wir nicht vielmehr innerhalb unserer Geschichtskultur historisch kulturelle Bezüge der Staatsbürger mit einer anderen Geschichte aufnehmen und in die deutsche Geschichte integrieren?“ Das ist doch klassischer Nationalismus. Wenn Sie das rein-integrieren wollen, ist die deutsche Geschichte der Bezugsraum. Da überführe ich Sie eines geheimen Nationalismus. V: Das könnte man tatsächlich so verstehen, aber so habe ich das nicht gemeint. R: Ja, aber geschrieben haben Sie es. Wenn Sie geschrieben hätten „in die westliche Geschichte“, hätte ich das auch gesagt. Wir müssen viel universalistischer sein. Der Kapitalismus ist universalistisch, die Globalisierung ist universalistisch. V: Ich weiß wieder, wie das kommt. Sie haben mal gesagt, die Nation sei unhintergehbar. Meine Vorstellung wäre ja, die Idee der Nation aufzugeben, weil sie auf dem Stamm, der Abstammung basiert. R: Das stimmt doch gar nicht. Die Nation hat mit dem Stamm nichts zu tun. V: Doch. Natio = der Stamm. Und in der deutschen Kulturnation ist das nach wie vor noch immer ein großes Element. R: Kennen Sie Friedrich Meinecke? Schauen Sie sich doch mal die Dokumente an, da können Sie doch nicht sagen, die Idee der Nation sei die Idee eines Stammes. Das ist genau das Gegenteil. V: Das stimmt eben nicht. Lesen Sie Ernest Renan, der diesen Definitionsartikel geschrieben hat.25 Der sagt zwar, die Nation ist nicht auf eine Ethnie zu reduzieren, er sagt gleichzeitig aber auch, dass in der Geschichte der Nation nichts mehr zählt, als der Kult der Ahnen. Und was anderes als Abstammung ist Kult der Ahnen? Renan hat sich da selbst widersprochen. R: Man muss da differenzieren. Der Nationalismus hat sich erheblich verändert. Es gibt einen vormodernen Nationalismus, da haben Sie die Natio bei den Universitäten. Das war sprachlich definiert. Dann gab es den frühneuzeitlichen Nationalismus, den hat der Humanismus gepflegt. Der war

25 Renan, Ernest: Was ist eine Nation? In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hrsg. von Michael Jeismann & Henning Ritter. Leipzig 1993. S. 290–311, hier S. 308.

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auch sprachlich-kulturell bedingt. Die Humanisten haben ja sogar die Herkunftsgeschichten der Dynastien ihrer Geldgeber erfunden. Dann gibt es den modernen Nationalismus, das ist der von Renan. Un plebiszite de tour le jour. Dann gibt es im 19. Jahrhundert eine Contra-bewegung. Da beginnt der Nationalismus sich zu objektivieren, ethnisch zu werden. Aber in einer historischen Langperspektive ist die Idee der Nation immer geprägt durch einen universellen Trend der Subjektivierung. V: Nicht in Bezug auf Deutschland. Es wird unterschieden zwischen Staatsnation und Kulturnation und Deutschland gehört in der Diskussion zur Kulturnation. R: Aber wen meint Meinecke, von dem diese Unterscheidung stammt, denn damit? Goethe, Ranke und andere Repräsentanten der Kultur. Damit hat Meinecke die Deutschen getröstet, dass sie keinen Nationalstaat hatten, der erst (nach der gescheiterten Revolution) mit Bismarck kam. Es gibt die Idee des Deutschtums, aber die ist doch alles andere als ethnisch definiert. Das kann man nicht sagen. Sie können ethnische Elemente im deutschen Nationalismus der 19. Jahrhunderts finden. Aber sie sind nicht entscheidend. Ich habe die Vorstellung der Nation selber einmal bei meinen Studenten getestet. Bei denen war der Subjektivismus (also das Gegenteil von der objektiven Ethnie) ganz selbstverständlich. Nationale Zugehörigkeit ist ein dynamischer Prozess. In unterschiedlichen Kontexten hat sich die Nation auch unterschiedlich formiert. Wenn sie im Rahmen eines Imperiums, z.B. des österreichischungarischen oder des russischen, als Pole plötzlich die Frage Wer sind wir denn eigentlich? stellen, dann ist das eine andere Frage, als wenn sie als Mitglied der Nationalversammlung in Paris erklären, dass mit den Menschen- und Bürgerrechten die Menschheit erlöst werden wird. Man sollte das wirklich differenzierter betrachten. Man sollte auch wahrnehmen, was in der Gegenwart passiert. In Russland haben wir das interessante Phänomen einer Rückkehr zu starken nationalistischen Tendenzen, die sich festmachen am Russentum. Ob die das rassistisch verstehen, weiß ich nicht, glaube ich aber auch nicht. Sondern das ist die Sprache, die Tradition, der orthodoxe Glaube. In China habe ich unter jungen Intellektuellen Rassisten gefunden. Ich glaube aber nicht, dass das typisch ist. Aber da schauen wir ja gar nicht hin. Ist das in Polen Rassismus? Das ist, wenn Sie so wollen, Kulturrassismus. Aber ansonsten muss man fragen, was man unter Rassismus überhaupt versteht. Sie benutzen dieses politische Totschlagwort. Rassismus präzise formuliert, bedeutet, die Qualifikation von Zugehörigkeit aufgrund von biologischen Merkmalen.

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V: Aber der Rassismusbegriff hat sich gewandelt und der Begriff der Rasse ist im neo-rassistischen Diskursfeld durch den der Kultur ersetzt worden. So wie sich früher Rassen nicht mischen sollten, sollen sich heute Kulturen nicht mischen. R: Wer sagt denn so was? Ich habe mich 50 Jahre mit dem Thema Kultur und Kulturgeschichte beschäftigt und noch nirgendwo gelesen, dass Rasse durch Kultur ersetzt wird. V: Ich schon. Etienne Balibar zum Beispiel. Stewart Hall.26 R: Wir müssen da die Klassiker lesen. Wo kommt der Begriff her und was meint er? Und da muss man Begriffsgeschichte betreiben. Der Kulturbegriff hat mit der Rasse gar nichts zu tun. V: Das wird ja auch nicht behauptet. Der Kulturbegriff wird heute im Sinne des Rassebegriffs benutzt. Zum Beispiel steht in der Charta der Nationen zur kulturellen Vielfalt, dass die kulturelle Vielfalt für den Fortbestand der Menschheit genauso wichtig sei, wie die Artenvielfalt für den Fortbestand der Natur. R: Aber da wird doch nicht gesagt, dass Kultur biologisch definiert ist. V: Sie ist analog definiert. R: Ja, ich kenne das. Mich hat das damals sehr beunruhigt, weil ich die Vermutung hatte, dass damit die Einheit der Menschen verloren ginge. Dann habe ich mir die Erklärung genauer angeschaut und erleichtert festgestellt, dass am Ende steht, dass die Menschenrechte durch die kulturelle Differenz nicht außer Kraft gesetzt werden können. Damit haben sie der Kultur den Stachel einer regressiven Partikularisierung gezogen. Dass es eine Tendenz gibt, jeweils vorgegebene Kulturen rassistisch festzuschreiben, will ich nicht bestreiten. Dass das die dominierende Tendenz westlicher Intellektueller in den Humanwissenschaften sein soll, das glaube ich allerdings nicht. Nehmen wir doch einmal die maßgebenden Texte zur Kultur. Jan Assmann dürfte hier ein allgemein anerkannter Repräsentant sein. Wo ist bei ihm irgendwo gesagt, dass Kultur gleich Rasse sei? Davon kann doch gar keine Rede sein. V: Das habe ich doch auch nicht gesagt, sondern dass in bestimmten Diskursen der Kulturbegriff den der Rasse ersetzt hat, wenn nämlich gesagt wird, dass Personengruppen kulturell homogen bleiben sollen. Und das ist im neuen Nationalismusdiskurs ebenso. Und es wurde z.B. von Paul Ricoeur gesagt, dass wir da, wo die Familiengeschichte in den Erinnerungs-

26 Siehe Fn. 13.

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diskurs umschlägt und zur Generationenfolge wird, was wir ja heute so diskutieren, in ein Prinzip der Abstammung hineingeraten. Das gleiche hat auch Assmann geschrieben. In dem Augenblick, wo die Lebenden in die Toten übergehen wird Geschichte, wenn sie narrativiert und sinnbildend erzählt wird, zum Mythos.27

G EDÄCHTNIS

UND

G ESCHICHTE

R: Wir wollen uns nicht über Assmann streiten, da könnten wir uns viele Zitate um die Ohren schlagen. Bei Assmann allerdings so etwas wie eine Naturalisierung der Geschichtskultur zu finden, würde ich für interessant halten. Ich würde das aber ausschließen, weil ich sein Werk ziemlich gut kenne. Von Naturalisierung kann da gar keine Rede sein. Auch bei Aleida Assmann nicht. Ich stehe ja den memory-Leuten sehr kritisch gegenüber, aber nicht deshalb, weil sie so etwas wie einer rassistischen Wende im historischen Denken vorbereiten würden. Denn das ist nicht so. Und dass es nun mal Generationen gibt und dass intergenerationell historische Orientierungen vermittelt werden müssen, ist eine Trivialität. Die Frage ist jetzt nur, was man denn mit Generation meint. V: Das wäre die Frage. Das Problem ist das kollektive und das kulturelle Gedächtnis. Da wo das kommunikative ins kulturelle Gedächtnis umschlägt, entsteht eine Generationenidee und damit auch eine Ahnenidee und damit eine Abstammungsidee von Geschichte. Damit hat sich Paul Ricoeur sehr intensiv befasst und wie gesagt, habe ich es auch bei Jan Assmann gefunden. Die Frage ist tatsächlich, was denn eigentlich eine Generation ist und wie weit sie gefasst wird. Das Problem ist, dass sie als Ahnenreihe assoziiert werden kann. Und dass sie tatsächlich auch so assoziiert wird. Ob das so ursprünglich mal verstanden wurde, ist eine ganz andere Frage. R: Ich würde das bestreiten. Der Generationsbegriff ist von Karl Mannheim in die Kulturwissenschaften eingeführt worden. Und da meint er etwas komplett Anderes, und so wird er von den Historikern auch verwendet. Wenn ich z.B. von meiner Generation rede, dann ist das eine Erfahrungsgemeinschaft, die bestimmte Elemente gemeinsam hat, die sich auch in

27 Ricoeur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. S. 608. Assmann 1999 (Fn. 7), S. 91–95.

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einem ähnlichen Verhalten niederschlägt. Da kann es durchaus zehn Jahre Lebenszeit oder mehr an Differenz geben. V: Aber in diesem Zusammenhang wird der Generationenbegriff ja nicht gebraucht. Er wird in dem Zusammenhang mit dem Gedächtnisbegriff verwendet. R: Aber Sie können doch Geschichtsbewusstsein gar nicht anders denken, als dass es sich jeweils generationsspezifisch ausprägt. V: Das ist ja das Problem, das ich benenne. Dann muss man mit der Kategorie Geschichtsbewusstsein anders arbeiten. Wenn sie tatsächlich auf transgenerationelle Bezüge rekurriert, dann bekommen Einwanderer in unserer Gesellschaft ein ernsthaftes Problem, denn sie werden niemals transgenerationell mit unserer Geschichte verbunden sein. Und da kommt das mögliche rassistische Element hinein. Sie gehören nämlich in eine andere Geschichte, weil sie in eine andere Geschichtskultur gehören. Da haben wir den Kulturbegriff. R: Aber auch da nehmen Sie eine Art Ontologisierung der kulturellen Differenz vor, die mir überhaupt nicht einleuchtet. V: Das Interessante ist, dass umgekehrt die Idee die gleiche ist. Ich sage, dass diejenigen Geschichte ontologisieren, die auf diesen transgenerationellen Bezug des Geschichtsbewusstseins rekurrieren. Halbwachs hat damit angefangen. Assmann problematisiert das. R: Bei Assmann gibt es ein kulturelles Gedächtnis. Das dauert eine ganze Zeit, aber dann ist es da. Es ändert sich dann aber auch wieder. V: Assmann sagt aber auch, dass sich dieses kulturelle Gedächtnis nicht von alleine tradiert, sondern es muss ganz gezielt weitergegeben werden. Es dauert nicht von alleine. In dem Augenblick, in dem die Erlebnisgeneration stirbt, muss historisiert werden und dann fängt das kulturelle Gedächtnis, und damit auch die Einweisung in dieses, an.28 R: Ich sehe das völlig anders. Wo liegt hier wirklich das Problem? Sie unterstreichen die Bedeutung der Unterschiedlichkeit. Wir haben hier Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, das ist ja richtig. Dann stellt sich doch die Frage, wie man alle historisch so ansprechen kann, damit diese Differenz erst mal gar keine Rolle spielt? Dafür muss man ein wenig Ahnung davon haben, was Kultur ist. Im Rahmen meiner Arbeit zum Huma-

28 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007. S. 50–55.

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nismus ist ein sehr gutes Buch von Christoph Antweiler über die Gemeinsamkeit von Kulturen im Bezug auf den Ursprung des Humanismus entstanden.29 Antweiler ist Spezialist für anthropologische Universalien. Hier kann man viele Anknüpfungspunkte für ein zeitgemäßes Geschichtsdenken finden. Ich plädiere für eine Anthropologisierung des historischen Denkens.30 Das geschieht aber nur sehr bedingt. Ich bekomme meine Vorstellung eines anthropologisierten Geschichtskonzepts mit Ihrer Vorstellung des Umgangs der Europäer oder der Westler mit dem halben Jahrtausend ihrer eigenen Geschichte nicht unter einen Hut. Vor allen Dingen, weil die entscheidenden geistigen Errungenschaften genau in dieses halbe Jahrtausend fallen. Deshalb bin ich so fuchsig, wenn man die abtut. V: Dann hätten Sie mich falsch verstanden. Ich tue dies nicht ab. Ich möchte unseren Umgang mit Geschichte nur selbstkritisch reflektieren im Hinblick auf seine Bedeutung für eine Zuwanderungsgesellschaft. R: Aber damit habe ich doch überhaupt kein Problem. Dann würde man doch einfach an gegebene Zu- und Umstände anknüpfen und sich fragen, was die Herkommenden mitbringen, was sie vorfinden und was sie zu lernen haben. V: Und gibt es vielleicht auch Sachen, die wir von ihnen lernen können. R: Die Frage kann man stellen. Es gibt ein paar Leute, die eine gute Antwort geben können. Aber diese Antworten sind alle hochintellektuell. Narvid Kermani zum Beispiel, der kann aus der Tradition des Islam sehr eindrucksvolle Einsichten vermitteln. Ich habe angefangen, den Koran zu lesen. Ich zitiere ihn ja sogar im Rahmen meiner Idee zur Universalgeschichte des Humanismus. Der gehört da mit hinein. „Wer einen Menschen tötet, das ist so, als wenn er die ganze Menschheit töten würde.“ Das ist ein humanistischer Satz von Mohammad. Allerdings zitiert er da den Talmud, also einen jüdischen Spruch.31 Und gleich im nächsten Vers geht es mit dem Töten los.

29 Antweiler,

Christoph:

Mensch und Weltkultur.

Für

einen realistischen

Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. (Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung, Bd. 10) Bielefeld 2011. 30 Rüsen 2013 (Anm.4). 31 Laass, Henner / Prokasky, Herbert / Rüsen, Jörn / Wulff, Angelika (Hrsg.): Lesebuch Interkultureller Humanismus. Texte aus drei Jahrtausenden. Schwalbach/Taunus: Wochenschau 2013. S. 150.

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V: Wenn man sich das Alte Testament anschaut, ist das auch nicht gerade eine Friedensbotschaft. Wir haben allerdings das Neue Testament. R: Das würde ich allerdings auch sagen. Wird im Neuen Testament im Namen Christi getötet? Nein. Die Frage ist, wie man im Religionsunterricht damit umgeht. Dass man die Gemeinsamkeiten betont, das ist ja notwendig.32 Aber wenn man die Differenzen weglässt, wird das vollkommen schief. Und daran müssen wir arbeiten. V: Ich bin trotzdem zutiefst der Überzeugung, dass jeder Mensch, der hierherkommt, aus seiner Kultur Dinge mitbringt, die für uns zumindest bedenkenswert sind. Ich habe leider noch keine Beispiele. Wenn man aber den Sufismus betrachtet, den Kabbalismus, den Buddhismus und würde das mit unserem Mysthizismus zusammenbringen. Da haben wir sehr viele Diskurse. Das ist zwar alles nicht neu, es wird aber nicht unter der Perspektive ‚Geschichte’ betrachtet. R: Nun gut, die Geschichte kann nicht alles machen. Wir müssen uns überlegen, was der Kernbestand dessen sein soll, was historisch gelernt und gelehrt werden soll. V: Das sehe ich mittlerweile anders. Wir müssen uns fragen, wie wir ein gelingendes Miteinander hinbekommen und welchen Beitrag das historische Lernen zu so einem gelingenden Miteinander leisten. R: Kein Problem. Aber da muss das historische Denken eine bestimmte Seite berücksichtigen: dass das Miteinanderauskommen eine überaus schwierige Sache ist. V: Ja, weil wir eben das Gefühl haben, dass die eigene Meinung immer etwas richtiger wäre, als die des anderen.

H ISTORISCHE E RFAHRUNGEN UND IHRE B EDEUTUNG FÜR DIE G EGENWART R: Aber das Problem ist doch die historische Erfahrung. Es geht doch nicht darum, dass einige Leute meinen, die eigene Meinung sei mehr wert, als die der anderen. Als wenn das alles wäre! Sondern dass der Andere in seinem

32 Ein Beispiel: Grewel, Hans / Becke, Luis / Schreiner, Peter (Hrsg.): Quellen der Menschlichkeit. Bibel und Koran von Christen und Muslimen gedeutet. München 2010.

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Anderssein ein Teufel ist, dass der Andere in seinem Anderssein für das Gegenteil dessen steht, was für einen selbst heilig und gut ist, also täte man ein gutes Werk, wenn man ihn umbrächte. Die Muslime haben symbolische Handlungen der radikalen Abgrenzung in der Hadsch. Es gibt bei den Prozessionen eine Stelle, wo man einen Stein aufnimmt und auf den Teufel wirft. Dann ist es doch sehr leicht, diesen Teufel mit konkreten Menschen zu identifizieren und darauf einen Stein zu werfen. Hier wird rituell die Gewalt in die Tiefe der religiösen Erfahrung eingeschrieben. V: Der Dshihad ist meines Wissens vom Ursprung her nicht der Kampf gegen den Ungläubigen, sondern der Kampf gegen sich selbst. Gegen den Teufel in sich selbst. Und wenn man dann rituell den Stein gegen den Teufel werfen soll, also gegen alle Bedrohungen in mir selbst, dann würde ich auch einen Stein werfen. R: Das ist eine Verharmlosung. Das stimmt zwar, was Sie sagen, ist allerdings nur die eine Hälfte der Wahrheit. Dshihad ist schon auch ein Kampf gegen sich selbst, er ist aber immer auch mehr gewesen. Ein Kampf gegen die Abtrünnigen, ein Kampf gegen diejenigen, die nicht rechten Glaubens sind oder den Glauben wechseln wollen. Da ist ein Element von Gewalttätigkeit eingebaut und wenn wir das ignorieren, dann können wir wunderbare Gespräche führen, die aber nichts bringen. Als Westler könnte ich sofort loslegen und viel über das Christentum und die Gewalt erzählen. Der Papst hat am Ende des 19. Jahrhundert noch gesagt, dass die Menschen- und Bürgerrechte ein Werk des Teufels seien. So einfach ist das alles nicht. Ich finde, wir sollten mit dem Anspruch auftreten, dass die Muslime lernen sollen, dass die Menschen- und Bürgerrechte nicht des Teufels sind und dass Säkularismus nicht ein Abfall vom wahren Glauben ist. Das bekommen Sie aber in drei Generationen nicht hin. V: Ja, nur so, wie wir weitergemacht haben, haben wir es geschafft, die dritte Generation der hierher zugewanderten muslimischen Jugendlichen dem islamischen Staat in die Arme zu treiben. Das ist nicht nur ein Problem der Zuwanderer, das ist auch ein Problem der Aufnahmegesellschaft. R: Das sehe ich auch so. Dann sind wir auch noch so idiotisch und sagen, sie könnten gleichzeitig Bürger der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei sein. Das heißt, wir stabilisieren einen Loyalitätskonflikt. Wenn Erdogan weiterhin die Demokratie in seinem Land zugunsten einer autoritären Herrschaftsstruktur abbaut, dann hat er eine fünfte Kolonne in der Bundesrepublik. Und da es sich um Millionen Wählerstimmen handelt,

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werden unsere Politiker dagegen nicht viel machen. Das finde ich außerordentlich bedauerlich. V: Das wären für mich auch Themen, die im Geschichtsunterricht eine Rolle spielen. Denn das Loyalitätsproblem ist an die Nationen gebunden. Und deswegen ist es für mich auch eine Frage, ob die Nation in unserer heutigen Welt überhaupt noch eine gute Organisationseinheit ist, wo die Menschen im Leben möglicherweise mehrfach die Räume so massiv wechseln, dass Loyalitäts- und Solidaritätsfragen eine ganz andere Rolle spielen. Möglicherweise tragen die politischen Organisationskonzepte, die vor 200 Jahren entwickelt wurden, in der heutigen Zeit nicht mehr und wir müssen neue Organisationskonzepte entwickeln. R: Dazu gibt es ja einen Versuch. Habermas war der Meinung, man müsse die nationale Zugehörigkeit durch Verfassungspatriotismus ersetzen. Ich halte das für eine Kopfgeburt. Sie haben aber vollkommen Recht. Der traditionelle Nationalismus mit seinen starken Zugehörigkeitselementen gehört der Vergangenheit an. Und nun stehen wir da und schauen blöd aus der Wäsche und wissen nicht so Recht, was wir jetzt tun sollen. Man müsste mal einen Ansatzpunkt finden, wo es sich lohnt, mentales Kapital zu investieren. Meine Antwort wäre: Das Menschsein des Menschen. Jetzt schauen Sie sich aber einmal an, welche Rolle heutzutage der Humanismus in unseren wissenschaftlichen und intellektuellen Diskussionen spielt. Um es zurückhaltend zu sagen: keine besondere. V: Und wissen Sie warum? Weil die Nation politisch unhintergehbar ist. Das hat nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern mit politischem Handeln. Und damit, dass unser Geschichtsunterricht der Legitimation des Nationalstaats dient. Der dient nicht in erster Linie dem historischen Denken und dem reflektierten Geschichtsbewusstsein. R: Das sehe ich nicht so. Legitimiert wird mit dem Geschichtsunterricht natürlich die Bundesrepublik Deutschland. Aber im Kontext Europas. Es geht also nicht um den Nationalstaat. V: Das sollte eigentlich nicht so sein. Die Idee ist eine andere. Aber Kultur und Identität sind bei uns in der politischen Debatte national konnotiert. Wenn Sie Politikeräußerungen lesen, sind das Aussagen, die genau in diese Richtung gemacht werden. R: Wenn es um die kulturelle Identität der Bundesrepublik geht, wird das Wort Nation nicht benutzt, sondern dann wird von der freiheitlich demokratischen Grundordnung geredet.

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V: Dann lesen wir die Aussagen unterschiedlich. R: Ja, dann haben wir unterschiedliche ideologische Filter, und die Frage ist, wer von uns realistischer ist. Auf jeden Fall ist der Menschheitsbezug maßgebend und Kultur ist, wenn man sie vernünftig denkt, immer auch eine Kultur des Menschseins des Menschen. Die Nation ist eine Spielart davon. Traditionell war die europäische Nationsvorstellung immer eine konkretisierte Menschheit. Daran sollten wir anknüpfen und uns fragen, was wir eigentlich falsch gemacht haben. V: Da sind wir völlig einer Meinung. R: Da darf man aber nicht postnational sein. Dann muss man sagen, dass der bisherige Nationalismus einen Strukturfehler hatte. Das haben wir inzwischen gelernt und daraus kann man weiter folgern. V: Da kann ich wieder mit Ihnen mitgehen. Das wäre dann ein gutes Schlusswort. R: Lassen Sie mich noch etwas Melancholisches hinzufügen. Die Geschichtswissenschaft und die Geschichtsdidaktik haben in der gegenwärtigen Debatte über die kulturelle Orientierung in unserem Lande keine Stimme mehr. Wir haben nichts mehr zu sagen. Wir sollen in uns gehen und uns fragen, woran das wohl liegt. Meine Zeit ist abgelaufen. Ich bin sehr traurig, denn letztlich hat sich meine Generation enorm darum bemüht, eine humane Friedensform in der Bundesrepublik hervorzubringen.

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Autorinnen und Autoren

Ha, Kien Nghi, Dr. in Kultur- und Politikwissenschaft, ist Fellow des Instituts für postkoloniale und transkulturelle Studien der Universität Bremen. Er hat an der New York University sowie an den Universitäten in Heidelberg, Tübingen und Bayreuth zu postkolonialer Kritik, Migration und Asian Diasporic Studies geforscht und gelehrt. Als Kurator hat er u.a. im Haus der Kulturen der Welt (Berlin) und im Hebbel am Ufer-Theater (Berlin) verschiedene Projekte über asiatische Diaspora realisiert. Letzte Publikationen: Kein Nghi Ha: Geschlossene Gesellschaft? Exklusion und rassistische Diskriminierung an deutschen Universitäten (Heinrich Böll Stiftung 2016), Kein Nghi Ha: Asian Germany – Asiatische Diaspora in Deutschland (Heinrich Böll Stiftung 2014), Kein Nghi Ha (Hrsg.): Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond. 2012. Lehmann, Fabian, PhD cand an der Bayreuth International Graduate school of African Studies (BIGSAS). Mithrsg. Von „DIENADEL – kulturwissenschaftliche zeitschrift für Kunst und Medien.“ Letzte Publikationen: Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken. Ein Austausch mit dem Künstler Philip Metz. In: abwesenheitsnotiz Nr. 5, 2013. S. 51–70; Warten auf den Knall. Oder: Miriam Rauschs Theater physikalischer Kräfte. In: DIENADEL, Jg. 1, Nr. 1, 2013. S. 125–132. Lundt, Bea, Prof. em. für Geschichte des Mittelalters und für Didaktik der Geschichte an der Europa-Universität Flensburg. Zahlreiche Vorträge und Gastprofessuren in der Welt. Letzte Publikationen: Bea Lundt/Christoph Marx (Hrsg.): Kwame Nkrumah heute. Stuttgart 2016., „Ihr Weißen seid immer noch Rassisten!“ Erfahrungen mit deutschen und afrikanischen Studierenden in Ghana (Westafrika). In: Rassismen, Geschichte und histori-

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sches Lernen. Hrsg. von Christina Isabel Brüning / Lars Deile / Martin Lücke. Schwalbach / Taunus 2016. S. 95–116., Bea Lundt/Ulrich Marzolph (Hrsg.): Narratin (Hi)stories in West Africa. Berlin/Münster/Zürich/Wien/ London 2015. Mall, Ram A., Seniorprofessor des Religionswissenschaftlichen Seminars der Universität Jena. Zuvor Professor für Philosophie und Religionswissenschaft u.a. in München. Ehrenpromotion in Philosophie an der Universität Hildesheim (2015), Ehrenpräsident der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (GIP e.V.). Letzte Publikationen (u.a.): Ram A. Mall/Damian Peikert: Philosophie als Therapie. Freiburg 2017. Ram A. Mall: Indische Philosophie – Vom Denkweg zum Lebensweg. Freiburg 2015. Pacyna, Tony, promovierter Philosoph, wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie, insbesondere Dogmatik und Religionsphilosophie (Prof. Dr. Philipp Stoellger) der Universität Heidelberg. Letzte Publikationen: Die Fremdheit des Zeigens. Wittgensteins Kultur der Einstellung. In: Das Fremde – Chance oder Bedrohung. Hrsg. von Karin Farokhifar & Brigitta Fuchs. Köln 2016. S. 119–140. Tony Pacyna: ‚Am Ende bleibt das Durcheinander’ – Die Sprachspiele der New Atheists. Zürich 2014. Preuß, Steffen, Lehrer an der Realschule Tamm, seit 2012 zusätzlich Lehrbeauftragter an der PH Ludwigsburg. 1996–2002 Lehramtsstudium Geschichte, Politik und Englisch an der PH Ludwigsburg. 2002 Erstes Staatsexamen. 2003–2004 Magisterstudium Fachdidaktik an der PH Ludwigsburg. 2005 Zweites Staatsexamen. Rüsen, Jörn, Prof. em. für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschichtstheorie, Universität Bielefeld, zuvor Prof. für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Fachdidaktik, Universität Bochum. Vorsitzender des Vorstand der ‚Stiftung für Kulturwissenschaft’. Letzte Publikationen: Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln/Weimar/Bonn 2013, Jörn Rüsen (Hrsg.): Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen. Bielefeld 2010. Schelkshorn, Hans: Professor für Christliche Philosophie der Universität Wien. Präsident der Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie

A UTORINNEN

UND

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(WiGiP). Letzte Publikationen: Helmuth Vetter/Alfred Dunshirn/Hans Schelkshorn (Hrsg.): Anthropologien der Weisheit. Wien 2016, Hans Schelkshorn/Gunter Prüller-Jagendteufel/Franz Helm (Hrsg.): Sehnsucht nach Brot. Aachen 2015. Völkel, Bärbel, Professorin für Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogi schen Hochschule Ludwigsburg. Leiterin des Arbeitskreises ‚Geschichtsdidaktik theoretisch’(gem. mit Prof. Dr. Martin Lücke (FU Berlin)). Letzte Publikationen: Bärbel Völkel: Subjektorientierte Geschichtsdidaktik – Überlegungen zu einem uneindeutigen Begriff. In: Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Hrsg. von Th. Hellmuth, C. Kühberger. Schwalbach/Ts. 2015. S. 73-91., Bärbel Völkel: Darf einer sich gegen eine Tradition von 1000 Jahren stellen? Martin Luther im multikulturellen Geschichtsunterricht. In: Luther unterrichten. Fächerverbindende Perspektiven. Hrsg. v. Th. Breuer, V. Dieterich. Calw 2016. S. 6477., Bärbel Völkel: Inhalte oder Kategorien? Erste Annäherung an eine inklusive Geschichtsdidaktik. In: Inklusiver Geschichtsunterricht. Hrsg. von B. Alavi, M. Lücke. Schwalbach/Ts. 2016. S. 34-57.

Kultur und soziale Praxis Lucia Artner, Isabel Atzl, Anamaria Depner, André Heitmann-Möller, Carolin Kollewe (Hg.) Pflegedinge Materialitäten in Pflege und Care Juli 2017, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3841-7

Gesa Köbberling Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention Juli 2017, ca. 370 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3866-0

Maria Grewe Teilen, Reparieren, Mülltauchen Kulturelle Strategien im Umgang mit Knappheit und Überfluss Mai 2017, ca. 310 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3858-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.) So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch 80 wegweisende Projekte mit Geflüchteten März 2017, ca. 350 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3829-5

Anna Gansbergen, Ludger Pries, Juliana Witkowski (Hg.) Versunken im Mittelmeer? Flüchtlingsorganisationen im Mittelmeerraum und das Europäische Asylsystem Oktober 2016, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3676-5

Maren Ziese, Caroline Gritschke (Hg.) Geflüchtete und Kulturelle Bildung Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld September 2016, 440 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3453-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Käthe von Bose Klinisch rein Zum Verhältnis von Sauberkeit, Macht und Arbeit im Krankenhaus Juli 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3811-0

Daniel Volkert Parteien und Migranten Inkorporationsprozesse innerhalb der SPD und der französischen PS Mai 2017, ca. 375 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3828-8

Laila Huber Kreativität und Teilhabe in der Stadt Initiativen zwischen Kunst und Politik in Salzburg Mai 2017, ca. 370 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3664-2

Felix Koltermann Fotoreporter im Konflikt Der internationale Fotojournalismus in Israel/Palästina März 2017, ca. 470 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3694-9

Christian Lahusen, Stephanie Schneider (Hg.) Asyl verwalten Zur bürokratischen Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problems März 2017, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3332-0

Christian Lahusen, Karin Schittenhelm, Stephanie Schneider Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln Zur Behördenpraxis in Deutschland und Schweden Februar 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3330-6

Daniel Kofahl, Sebastian Schellhaas (Hg.) Kulinarische Ethnologie Beiträge zur Wissenschaft von eigenen, fremden und globalisierten Ernährungskulturen Februar 2017, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3539-3

Marie-Theres Modes Raum und Behinderung Wahrnehmung und Konstruktion aus raumsoziologischer Perspektive August 2016, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3595-9

Christoph Bareither Gewalt im Computerspiel Facetten eines Vergnügens Juni 2016, 368 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3559-1

Francis Müller Mit Behinderung in Angola leben Eine ethnografische Spurensuche in einer von Tretminen verletzten Gesellschaft Mai 2016, 152 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3480-8

Donja Amirpur Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive Mai 2016, 312 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3407-5

Dieter Haller Tanger Der Hafen, die Geister, die Lust. Eine Ethnographie April 2016, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3338-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis bei transcript Maren Ziese, Caroline Gritschke (Hg.)

Geflüchtete und Kulturelle Bildung Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld

Oktober 2016, 448 S., kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3453-2 E-Book: 26,99 € Wie können Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Hunger und wirtschaftlicher Not in Deutschland ankommen, ihre Rechte auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe wahrnehmen? Was sind geeignete Formate der Kulturellen Bildung, um auf die Realität der Geflüchteten aufmerksam zu machen und um Vernetzung und Solidarisierung herzustellen? Die Beiträge des Bandes gehen diesen Fragen nach und zeigen: Die Kulturelle Bildung ist ein Feld, in dem viele ambitionierte Projekte mit Geflüchteten realisiert werden. Das Phänomen Flucht bietet so Möglichkeiten für eine macht- und differenzsensible Veränderung von Kultur- und Bildungsinstitutionen und eröffnet Chancen für die Revision etablierter Handlungsroutinen.

www.transcript-verlag.de