Der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen Theorie und Praxis 9783666401640, 9783525401644

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Der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen Theorie und Praxis
 9783666401640, 9783525401644

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Helmwart Hierdeis (Hg.)

Der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen Theorie und Praxis

Mit 3 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40164-4

Umschlagabbildung: © Irmgard Hierdeis, »Puzzle« (Radierung)

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Schwab Scantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen

Inhalt

Helmwart Hierdeis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Hamburger Traumspiegel. Gegenübertragungsträume in der Beziehungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Günther Bittner Der Gegenübertragungstraum – oder: Das Ping-Pong-Spiel der beiderseitigen Unbewussten . . . . . . .

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Peter Schneider Look Who’s Talking oder Horch, was kommt von draußen rein! Über den Gegenübertragungstraum . . . . . .

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Gaetano Benedetti Der therapeutische Traum. Psychoanalyse und therapeutische Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Edith Seifert Was hat Josef Breuer falsch gemacht? Zu Gegenübertragung oder Begehren des Psychoanalytikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ellen Reinke Bildszenen: Über szenisches Verstehen von Traumbildern in der Gegenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

6 Ingrid Biermann Schwarzes Quadrat und Panzerung. Gegenübertragungsträume in psychoanalytischen Prozessen

Inhalt

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Monika Rafalski und Klaus-Uwe Adam Zur Polarität konkordanter und diskordanter Gegenübertragungsträume in der Dynamik des therapeutischen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Dietmut Niedecken Arbeit, die man nicht sieht. Die institutionelle Gegenübertragung im Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Michael Maas Keine Zeit zum Träumen!? Psychoanalytisch-pädagogische Begegnungs- und Verstehensmuster im Alltag einer Wohngruppe für autistische und psychotische Jugendliche . . . 225 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Helmwart Hierdeis

Einleitung

Im Vergleich zum Umfang der psychoanalytischen Literatur zu den Themen Traum, Übertragung und Gegenübertragung sind die Beiträge zum Gegenübertragungstraum eher dünn gesät. Außenstehende könnten meinen, das sei bei einem Epiphänomen nicht weiter verwunderlich. Aber eine solche Erklärung wäre höchstens im Hinblick auf die Wissenssystematik befriedigend und sagte nichts über Vorkommen und Gewicht der Sache aus. Inzwischen ist hinreichend belegt, dass die meisten Analytiker irgendwann von ihren Patienten träumen, etwa zu Beginn ihrer therapeutischen Tätigkeit, in besonders belastenden Fällen, bei Parallelen zu eigenen aktuellen oder früheren Konflikten oder bei Blockaden im therapeutischen Prozess (vgl. Zwiebel, 2002, S.  110  f.). Dadurch hervorgerufene Gegenübertragungsträume sind demnach für das innere Erleben des Analytikers ganz alltägliche Inszenierungen seines träumenden Ich, hier eben mit dem Material analytischer Beziehungen. Die Frage ist, ob er davon etwas mitbekommt (weil Gegenübertragungsträume nicht unbedingt am Auftreten von Patienten im Traum erkennbar sind), was er gegebenenfalls aus ihnen herausliest, wie er bewertet, was sie ihm über sich, über den Patienten und über ihre Beziehung verraten, und wie er das Resultat in die Analyse einfließen lässt. Dass der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen Diskussion nicht seiner tatsächlichen Häufigkeit entsprechend thematisiert wird, hat vermutlich in erster Linie Gründe, die in seiner Einschätzung durch die Analytiker selbst liegen – und das seit Beginn der Psychoanalyse. Ralf Zwiebel macht dafür »das klassische psychoanalytische Traumverständnis« verantwortlich, »das als entscheidendes Motiv für die Traumbildung eine infantile Wunsch-

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erfüllung postuliert; das steht im Gegensatz zu Idealvorstellungen eines erwachsenen, reifen und durchanalysierten Analytikers; so war und ist es naheliegend, diese Träume als Ausdruck einer Restneurose oder gar unüberwundener Neurosen des Analytikers zu verstehen und dementsprechend zu tabuisieren« (Zwiebel, 2002, S. 110 f.). Léon L. Altmann entdeckt hinter der Vernachlässigung des Gegenübertragungstraums eine generelle, auch ausbildungsbedingte Unsicherheit bei der jüngeren Analytikergeneration, »was sie mit Träumen anfangen soll« (1992, S. 239). Sie gilt den eigenen Träumen wie den Träumen von Patienten. Die Analytiker wüssten dann gar nicht, was ihnen »an innige[r] Kenntnis des eigenen Unbewussten«, an Möglichkeiten der »Vertiefung und Erweiterung des analytischen Scharfblicks« und an Chancen, ihr »therapeutisches Instrumentarium zu schärfen« (S.  239), entgehe. Vielleicht ist auch der Gedanke nicht abwegig, Analytiker könnten das Abstinenzgebot so weit auslegen, dass es ihnen die Offenlegung ihrer Träume, die von Patienten handeln, verbietet. Schließlich müssten sie doch, Freud folgend, um des Erfolgs der Analyse willen gleichsam unsichtbar sein. Die vergleichsweise spärliche Literatur zum Gegenübertragungstraum verweist aber auch auf terminologische Schwierigkeiten, in denen die Problemgeschichte der Gegenübertragung nachwirkt. In ihr hat Freuds Skepsis gegenüber der Infiltration des therapeutischen Unbewussten durch den Patienten ihre Spuren hinterlassen. Seine Deutung des »Traum(s) von Irmas Injektion« (1900/1999, S. 100 ff.) ist einerseits zwar eine brillant ausgearbeitete Bestätigung seiner Wunscherfüllungshypothese, andererseits aber auch ein Lückentext hinsichtlich der Gefühle, die er für die Patientin hegt. Und seine Äußerung, der Arzt müsse den »Einfluß des Patienten auf das unbewußte Fühlen […] in sich erkennen und bewältigen« (Freud, 1910/1999, S.  108), könnte auch den Schluss zulassen, dieser Einfluss sei gleichsam dingfest zu machen und unter Verschluss zu halten. So ist die Passage häufig verstanden worden, und ein solches Bedenken klingt heute noch etwa bei Léon Wurmser (1991) nach, wenn er in der Gegenübertragung in Analogie zur Übertragung nur »emotionelle Regungen im Analytiker« versteht, »die der gegenwärtigen Situation, also den Erforder-

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nissen der analytischen Behandlung unangemessen sind« (1991, S. 307). In einem solchen Verständnis bleibt die Möglichkeit einer umfassenderen Wahrnehmung des Gegenübers ausgeblendet. Im Gegensatz dazu umschreiben Laplanche und Pontalis die Gegenübertragung als die »Gesamtheit der unbewussten Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden und ganz besonders auf dessen Übertragungen« (1967/ dt. 1972, S. 164). Darüber hinaus finden sich in der heutigen Debatte auch Auffassungen, die unter Gegenübertragung sämtliche »Einstellungen des Analytikers gegenüber dem Analysanden […] beschreiben, also bewusste und unbewusste, reaktive und genuine Einstellungen, die Bezug zum Analysanden haben« (Ermann, 2002, S. 227). Ellen Reinke hat schon vor geraumer Zeit (1995) darauf hingewiesen, dass die Empfehlungen Freuds – bei aller Problematik seines Metapherngebrauchs (der Arzt als »Spiegel«, als »Receiver« oder als »Chirurg«) – nicht als Aufforderung zu einer unpersönlichen Haltung gegenüber dem Patienten zu verstehen sind, sondern dass es ihm darum ging, »den unbewussten Vorstellungen des Patienten Raum zu verschaffen« (Reinke, 1995, S.  45). Dem Analytiker sollten also bei der »Kur« nicht die »Abkömmlinge« der eigenen Konflikte in die Quere kommen und sich vordrängen. In diesem Sinne ist auch Freuds dringender Appell an die angehenden Psychoanalytiker zu verstehen, sie sollten sich zu Beginn ihrer Tätigkeit einer gründlichen Selbstanalyse unterziehen und sie im Laufe der Behandlungen fortlaufend vertiefen (1910/1999, S. 108). Während mir Wurmsers Begriff zu eng ist und dazu negativ konnotiert, gehen mir die »totalistischen« (Ermann, 2002, S. 227) Auffassungen zu weit, weil sie – vor allem mit der Einbeziehung des Bewussten – die Gegenübertragung ununterscheidbar machen von sonstigen Gedanken, Überlegungen, Schlussfolgerungen und theoretischen Zuordnungen, zu denen eine Therapie, vor allem in der Vor- und Nachbereitung, auch zwingt, und weil sie sich damit immer weiter von der jeweiligen konkreten Beziehung entfernen. Ich halte mich daher an Ellen Reinkes These, dass die Gegenübertragung »grundsätzlich unbewusst [ist]. Ihre Abkömmlinge zeigen sich in den Gefühlen, die der Analytiker in der Analysesituation in bezug auf seine Patienten empfindet und deren Bedeutung im Rah-

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men der Selbstanalyse zugänglich gemacht werden kann« (Reinke, 1995, S. 48; vgl. Krauß, 1996, S. 96). Ähnlich wie die Gegenübertragung hat auch der Traum seit Sigmund Freud eine wechselhafte Forschungs- und Theoriegeschichte erfahren. Wo die wichtigsten Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Freuds Annahmen und heutigen Auffassungen bestehen, ist andernorts ausführlich dargestellt worden, desgleichen die Fülle der offenen Fragen (vgl. Deserno, 1999; Leuschner, 1999, S. 356 ff.; Leuschner, 2002, S. 721 ff.; Solms, 1999, S. 101 ff.). Es muss nicht eigens begründet werden, dass für den Gegenübertragungstraum die gleichen Auslöser gelten, wie Freud sie für den Traum als solchen postuliert hat: libidinöse Regungen, Tagesreste (neben den »Tagesabfällen« vor allem Ungelöstes und Konfliktträchtiges) und die Traumzensur mit ihren Über-Ich-Forderungen (vgl. Freud, 1900/1999, S. 148 ff.; 493 ff.) – auch wenn die heutige Traumforschung den Träumen häufiger eine bloße Entlastungstätigkeit im Hinblick auf die zahllosen Tageseindrücke zuschreibt und das »Vergessen« nicht primär motivisch begründet sieht (Leuschner, 2002, S.  725). Auch die Annahmen Freuds zur »Traumarbeit« (1900/1999, S. 283 ff.) sind für eine Reihe von Träumen nach wie vor plausibel. Für mein eigenes Verständnis der Träume des Analytikers vom Patienten sind einige neuere Erkenntnisse wichtig geworden, die mit der Rolle des Ich im Schlaf bzw. im Traum zu tun haben. Dazu gehört die erst heute mögliche Revision der Freud’schen Überzeugung, dass im Schlaf (Traum) die Ich-Funktionen außer Kraft gesetzt seien. Im Gegensatz zu ihr scheint das, was im Traum an unbewusster Verarbeitung von Objekterfahrungen (Lebens-, Beziehungs- und Welterfahrungen) stattfindet, von einem regressiven Ich gesteuert oder inszeniert zu sein – was zur Folge hat, dass alle vorkommenden Personen und Objekte ichhaft bzw. ichförmig sind (siehe dazu insbes. Leuschner, Hau und Fischmann, 1999, S. 181 ff.; Leuschner, 2002, S. 721 ff.; Leuschner, 2009). Dazu zählt ferner, dass der Traum belastende Probleme und Konflikte aufgreift; dass er Lösungen durchspielt und die begleitenden Affekte neuen Kontexten zuordnet; dass er dabei an lebensgeschichtliche, besonders an frühkindliche Objekterfahrungen anknüpft und sie ins Sinnliche (v. a. Bild und Klang) übersetzt; dass er bei seinen

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Bearbeitungen die Erfahrungspartikel immer wieder neu kombiniert, so dass die Traumgebilde nicht rational geordnet erscheinen, sondern (als Ergebnis der »Traumarbeit«) verschoben, verdreht, verdunkelt, entstellt und lückenhaft; dass erinnerte Träume keine Originale, sondern durch das Vergessen entstellte, nachbearbeitete Gebilde sind, in die das Ich Phantasien, Erinnerungen und Übertragungsinhalte aufgenommen hat (Leuschner, 1999, S. 360 f.). Das erschwert das Verständnis des Traums und macht ihn deutungsbedürftig, notwendigerweise in erster Linie durch den, dessen (regressives) Ich ihn auf eine nichtrationale Weise generiert hat – in der Analyse durch den Patienten, in der »Selbstanalyse« (Freud, 1910/1999, S.  108) durch den Analytiker (vgl. Zwiebel, 2002, S. 123). Aber der Interpret des eigenen Traums vom Patienten stößt auf die in der Traumkomposition selbst liegende Schwierigkeit, zwischen eigenen Themen und Themen, die den Patienten betreffen, zu unterscheiden, ganz zu schweigen von der Mühsal einer angemessenen Auflösung des Wusts von Affekten in Abkömmlinge des eigenen und Abkömmlinge des fremden Unbewussten. Ich will das an zwei eigenen (manifesten) Gegenübertragungsträumen verdeutlichen. Sie stammen aus der Zeit der fast dreijährigen Analyse einer Frau Mitte zwanzig, die, als sie an mich überwiesen wird, Missbrauchserfahrungen als Kind, eine in die Jugend zurückreichende Angst- und Suchtgeschichte (Medikamente, Anorexie) und einige Suizidversuche hinter sich hat. Der erste erinnerte Traum fällt – ein Jahr und vier Monate nach Therapiebeginn – in eine Zeit, in der die Patientin nach zahlreichen Ankündigungen, jetzt »endgültig Schluss« zu machen, sich beruflich neu orientiert hat, sich farbiger kleidet, die Analyse im Liegen aushält und lebhafter in größeren Zusammenhängen zu erzählen beginnt: Bei uns zu Hause. Mehrere Personen, darunter die Patientin, am runden Wohnzimmertisch. Wir essen. Ich halte in jeder Hand ein welkes Radieschen und überlege, ob ich sie waschen soll. Dann singen wir. Ich höre der Frau genau zu und wundere mich über ihre kräftige Stimme. Sie singt aber nicht ganz richtig. Eine Mitsängerin macht eine kritische Bemerkung zu ihr hin. Aber sie lässt sich nicht davon beeindrucken. Gemischte Gefühle: Befriedigung, Peinlichkeit, Angst. Zum Hintergrund: Ich leite eine vierköpfige Gesangsgruppe

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und übernehme gewöhnlich die tiefe Stimme. Weil wir an verschiedenen Orten wohnen, treffen wir uns ein paar Mal im Jahr zum Madrigalsingen. Unsere Zusammenkünfte enden immer mit einem gemeinsamen Essen. Bis hierher wäre der Traum eine bloße Rekapitulation, der ich höchstens meinen Wunsch nach einem reinen Klang unterstellen könnte. Deutungsbedürftig wird er durch das Auftreten meiner Patientin. Wir sind als Gruppe seit Jahren befreundet, musikalisch gut aufeinander abgestimmt und daher sehr zurückhaltend, was weitere Sängerinnen oder Sänger angeht. Besonders ich sehe meine Klangvorstellungen schnell bedroht und möchte niemanden mitsingen lassen, dessen Stimme und Musikalität ich nicht kenne. Jemand, der sich stimmlich hervortäte und falsch sänge, wäre nicht lange dabei. Nun singt die Patientin aber hörbar mit und macht Fehler. Ich greife nicht ein. Dabei wäre die Korrektur meine Sache. An meiner Stelle übernimmt eine Mitsängerin die Kritik, und das eher unwirsch. Dass die Patientin sich nicht davon beeindrucken lässt, könnte mich als Therapeuten freuen. Endlich einmal »singt« sie, und endlich einmal zieht sie sich bei einem Widerstand nicht in Selbstzweifel und Selbstbeschädigung zurück. Also: Befriedigung auf meiner Seite, weil sie meinen Hoffnungen auf Autonomiezuwachs entspricht. – Oder nehme ich im Traum ihre unbewusste Mitteilung an mich wahr: Ich bin schon stärker, als du glaubst? Aber woher rührt dann das peinliche Gefühl? Die Kritik der Mitsängerin hat mich in einen Loyalitätskonflikt gebracht, den ich nicht löse. Das ist ein wunder Punkt bei mir: zur rechten Zeit das Richtige sagen. Ich hätte mich auf die Seite der fremden Schwächeren stellen und dafür einen Konflikt mit der befreundeten Person in Kauf nehmen müssen. Die selbstbewusste Haltung meiner Patientin hilft mir über den Augenblick hinweg. Aber das Gefühl des Versäumnisses klingt nach. Noch etwas kommt hinzu: Sie tritt in meinem Privatbereich auf. Will sie mir mitteilen, dass sie an etwas teilhaben möchte, was mir gehört? Was wäre dann ihr nächster Schritt? Wird ihre Autonomie bedrohlich für mich? Und die Radieschen? Normalerweise wären sie gewaschen, und in diesem Zustand wären sie gar nicht erst auf den Tisch gekommen. Warum halte ich in jeder Hand eines? Es sieht nicht so aus, als wollte ich sie essen, und die Patientin würde sich wegen ihrer

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anhaltenden Essprobleme wahrscheinlich nicht an einer gemeinsamen Mahlzeit beteiligen. Geht es in der Szene also gar nicht ums Essen? Was haben dann die verkümmerten und offenbar unsauberen Radieschen mit ihr zu tun? Stehen sie für die anorektisch verkümmerten Attribute ihrer Weiblichkeit? Halte ich sie in Händen, weil es einen verborgenen Wunsch nach Berührung gibt? Und warum sollen sie gewaschen werden? Weil ich die Vergangenheit der Patientin mit etwas Unreinem assoziiere? Hat mein peinliches Gefühl damit zu tun? Aber vielleicht gibt es ja auch noch eine übergeordnete Bedeutung der Symbole, die mich entlasten könnte: die Analyse als Reinigungsprozess (reines Singen, reines Essen). Hat nicht die Patientin vor einiger Zeit einmal gemeint, wie ich das nur aushalten könne, die ganze Zeit mit dem Dreck zu tun zu haben, den sie hier ausbreite? Ein Letztes: Wenn ich den Gedanken der Ichhaftigkeit wörtlich nehme und mich selbst in der Gestalt meiner Patientin sehe, dann treten mindestens zwei Seiten meiner Person, der zufriedene und der kränkbare Narziss, in Erscheinung (von anderen Seiten ganz zu schweigen). Halte ich mir also selbst einen Spiegel vor? Welche Frage auch immer ich mir stelle, ich komme nicht davon los, dass ich im Traum die Themen der Patientin und meine Themen, ihre Konflikte und meine Konflikte, das, was sie bewegt, und das, was mich bewegt, zu einer mehrdeutigen Szene verwoben habe. Es wäre einfach zu sagen: Voilà, ein Gegenübertragungstraum wie er im Buche steht, weil in ihm eine Patientin und Momente der analytischen Beziehung vorkommen (vgl. Zwiebel, 2002, S.  110) oder weil er zeigt, dass ich als Analytiker nicht »in einem Vakuum« lebe, »aus dem alle libidinösen und aggressiven Gefühle […] verbannt sind« (Altmann, 1992, S.  240). Aber es ist doch Sache meiner Unterscheidung und Entscheidung, wohin ich die Bedeutungsgewichte verschiebe. Und lassen sich dann die Elemente der Gegenübertragung so sauber herausdestillieren, dass eindeutige Merkmale für einen Traum herauskommen, der eine eigene Kategorie als »Gegenübertragungstraum« rechtfertigt? »It is […] difficult to say what is or what is not a countertransference dream«, resümieren Whitman, Kramer und Baldridge schon 1969 (S. 723).

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Eine zweiter Traum verstärkt dieses Bedenken. Er folgt dem ersten in einem Abstand von fünf Monaten und fällt in eine Phase kontinuierlicher Arbeit vor allem an den Beziehungen zu ihrer Familie: Die Patientin steht in einigem Abstand vor mir, schwarz gewandet wie eine Amish-Frau, aber mit schwarzer Kopfbedeckung und schwarzem Schleier, so dass ich ihr Gesicht nicht erkennen kann. Zwei gleich gewandete Frauen stehen neben ihr. Es sieht so aus, als wollten sie sich entfernen oder abreisen. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie das Ende der Therapie bedauert. Dreifach, so sieht es aus, lasse ich die Patientin in ihrer schwarzen Verhüllung ihre Trauer und ihren Abschied betonen. (Dass ihre Tracht der einer Amish-Frau gleicht, hat wohl mit meinem vorausgegangenen Aufenthalt in Pennsylvania zu tun.) Trauert sie, weil sie weggeht oder weggehen muss (das würde mich narzisstisch befriedigen), oder geht sie, weil sie in ihrer Trauer keinen anderen Ausweg sieht? Dann wäre die Analyse vergeblich gewesen. Geht es auf der Seite der Patientin um eine innere Distanzierung, um eine unbewusste Verabschiedung von der Analyse, von der bisher nicht die Rede war? Steht sie so da, weil ich, allen offensichtlichen Fortschritten zum Trotz, insgeheim immer mit ihrem Tod rechne? Gibt es einen Todeswunsch auf meiner Seite? Ein Gefühl der Kränkung bei mir: Ich habe so viel investiert, und jetzt geht sie einfach ohne Bedauern. Ein Gefühl der Angst: Was wäre mein Anteil daran, wenn sie nicht mehr leben wollte? Aber hat die ihr unterstellte Trauer überhaupt etwas mit einer versteckten Krise der Analyse zu tun? Stecke nicht möglicherweise ich selbst in einer Depression und habe es gar nicht bemerkt? Kommt die Patientin also nur akzidentell in meinen Traum, um mich auf ein eigenes Problem aufmerksam zu machen? Auch hier wird das Dilemma einer säuberlichen Scheidung in Eigenes und Fremdes, in die Hinterlassenschaften und Spuren des eigenen und des fremden Unbewussten sichtbar. Mir scheint, Benedettis Annahme, der Gegenübertragungstraum könne auch die Probleme des Therapeuten zum Ausdruck bringen (2006, S. 59), muss in die Feststellung gewendet werden: Er bringt sie auf jeden Fall auf seine Weise zur Sprache, und zwar Behandlungsprobleme wie persönliche Probleme. Für Ralf Zwiebel, der sich des

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Gegenübertragungstraums schon früh angenommen hat (1977; 1984), verdienen vor allem manifeste Träume des Analytikers von Patienten und analytischen Situationen die Bezeichnung »Gegenübertragungsträume« (2002, S.  110). Dieser kargen deskriptiven Aussage lässt er eine normative folgen: Von »Gegenübertragungsträumen« sollte man nur sprechen, schreibt er, »wenn man sich der komplexen Funktion und Bedeutung dieser Träume bewusst bleibt« (S.  110). Und Altmann spricht, gleichermaßen normativ, von der »Notwendigkeit […], die therapeutische Beziehung genau zu untersuchen, wenn ein Patient im Traum des Analytikers auftaucht« (1992, S. 247). In einem besteht Einigkeit seit Sigmund Freud: Die unbewussten Konflikte des Therapeuten dürfen sich nicht zwischen Analytiker und Patient stellen (Benedetti, 2006, S. 59). Daher tritt neben die zeitlich begrenzte Analyse die durch die einzelne therapeutische Beziehung jeweils aktualisierte, aber über sie hinausgehende Selbstanalyse mit dem ständigen Bemühen, eigene und fremde unbewusste Vorgänge jeweils für sich und in ihrer gegenseitigen Verflochtenheit zu verstehen (Zwiebel, 2002, S.  118 ff.; Deserno, 2002, S. 650 ff.). Mehr als zehn Jahre nach Beendigung der Analyse taucht die Patientin noch einmal in einem Traum auf. Sie war seinerzeit gezwungen, sich beruflich zu verändern und eine weit entfernte Stelle anzutreten, was die Fortsetzung der Therapie unmöglich machte. Der Traum: Die Analysandin steht im blauen Anorak neben zwei anderen Personen, die gleichfalls blaue Anoraks tragen. Eine von ihnen soll ihr Mann sein. Die Patientin ist groß, hellblond und hat ein offenes, fülliges Gesicht. Dann sitzt sie hinter mir auf einem Motorrad, mit dem ich in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, die Linkskurve zu einer Unterführung nehme. Ich fahre etwas zu schnell, wodurch sich, als ich plötzlich bremsen muss, das Hinterrad hebt. »Das war wohl zu heftig«, sage ich nach hinten. Später soll eine längere Fahrt organisiert werden Die Patientin ist besorgt, ob wir die richtige Kleidung mitnehmen. Diesmal will sie lenken, und ich soll hinter ihr sitzen. Aber bevor es losgeht, muss ich meinen Anorak anziehen. Ich steige noch einmal ab und stehe in einer Halle knapp unterhalb der Decke auf einer schmalen Kante. Ich muss mich beim Anziehen des Anoraks

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mit aller Kraft aufrecht halten, damit ich nicht nach vorne kippe. Ich sage zu jemandem, in diesem Raum sei schon einmal einer von hier oben nach unten gesprungen. Der andere findet das toll. Ich widerspreche: Wenn er sich schwer verletzt hätte, hätte er den Sprung nicht schön gefunden, und wenn er tödlich verunglückt wäre, hätte er von der Schönheit des Sprungs nichts gehabt. Die Therapie kommt nach einem heftigen Bremsvorgang zum Ende. Wer auch immer sich auf die Fahrtüchtigkeit der Patientin (von der sie selbst überzeugt ist) verlässt, muss sich in jedem Fall »warm anziehen«. Und auch dann hält die Zukunft die üblichen drei Möglichkeiten bereit: Es geht gut aus; es kommt zu Verletzungen; die Reise endet tödlich. Wer ist gemeint? Der Analytiker, den der Traum um zehn Jahre zurückversetzt, oder der Ehemann, mit dem sich der Analytiker identifiziert, weil er nun den langen Teil der Reise übernimmt? Die Tagesreste, die diesen Traum mit hervorgerufen haben, sind im Beitrag von Gaetano Benedetti in diesem Band zu entdecken. Der Traum fand im Anschluss an die Lektüre seines Textes statt, in dem ein ähnlicher Traum berichtet wird. Sein eigentliches Motiv liegt aber, wie das unvorgesehene Ende der Therapie vermuten lässt, auf einer anderen Ebene. Intensiven analytischen Beziehungen, besonders solchen, bei denen die brüchigen Ich-Grenzen der Patienten die Ich-Grenze des Analytikers bedrohen (vgl. den Beitrag von Benedetti) und die zusätzlich nicht zu einem angemessenen Ende kommen, wohnt offenbar die Möglichkeit inne, dass die Abkömmlinge des anderen Unbewussten im Unbewussten des Analytikers noch lange nachhallen. – Eine Gegenübertragung, ein Gegenübertragungstraum auch ohne analytische Beziehung? Der Analytiker kann mit dieser Hinterlassenschaft nicht mehr am konkreten Fall arbeiten. Er kann höchstens seinen »inneren Analytiker« (Zwiebel, 2002, S. 118 ff.) zu Rate ziehen und sich von ihm sagen lassen, was davon in aktuelle Analysen und was in das unendliche Projekt der eigenen Entwicklung eingehen soll. Angesichts der Vielfalt an analytischen Erfahrungen, Reflexionen und Umsetzungskonzepten im Hinblick auf unser Thema, die ihrerseits mitbedingt sind durch die Vielfalt an theoretischen Zugängen, wird es nicht verwundern, dass die hier versammelten Texte nicht gänzlich zur Deckung zu bringen sind. Für die Klärung

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der »Sache Gegenübertragungstraum« kann das nur von Nutzen sein. Zu den Beiträgen im Einzelnen: Andreas Hamburger versteht das Unbewusste als Langzeitgedächtnis, in dem die Repräsentanzen von Beziehungen aufbewahrt sind. Damit ist auch der Traum ein Beziehungsphänomen von Anfang an. Ausgehend von Freuds Irma-Traum zeichnet der Autor die wechselvolle Geschichte des Verständnisses und der Einschätzung von Gegenübertragung und Gegenübertragungstraum besonders in den Beiträgen von Erikson, Lacan, Winnicott und Zwiebel nach. Aus seinem beziehungsanalytischen Blickwinkel postuliert er einen Begriff, in dem sowohl der manifeste Traum vom Patienten Platz hat als auch jeder andere Traum, der sich assoziativ mit einer Analyse verbinden lässt (latenter Gegenübertragungstraum), weil in ihm die Teilhabe des Analytikers am analytischen Prozess zum Ausdruck kommt. Der Beitrag endet mit einer Reflexion über den Umgang mit Gegenübertragungsträumen in der analytischen Technik. Günther Bittner ist skeptisch gegenüber einem »Begriffsrealismus«, der hinsichtlich der »Gegenübertragung« so tut, als gäbe es mit dem Wort auch die Sache. Seine »Dekonstruktion« erfolgt in zwei Schritten: Über Freud, Jung, Heimann und Thomä/Kächele geht er der Entstehungsgeschichte, dem Bedeutungswandel und der semantischen Unschärfe des Gegenübertragungsbegriffs nach und kommt zu einer Lösung, die in der »Verschmelzung der Leidenshorizonte« von Analytiker und Patient liegt. Dem folgt, angeregt von Winnicott, eine Deutung eigener Träume, die Bittner als latente Gegenübertragungsträume versteht, weil sie die Identitäten beider Beteiligter tangieren. Das »Ping-Pong-Spiel« der beiderseitigen Unbewussten ist ihm ein Beleg dafür, dass es sich bei den Begriffen »Gegenübertragung« und »Gegenübertragungstraum« um Konstrukte handelt, die der Analytiker, behält er sie als solche im Auge, selbstanalytisch wie behandlungstechnisch sinnvoll nutzen kann. Peter Schneider re- und dekonstruiert die Entstehung des Gegenübertragungskonzepts als Effekt einer Aufspaltung des Unbewussten in ein »epistemisches« und ein »technisches« Objekt. Zunächst ist die Gegenübertragung ein potentieller Skandalfaktor der Psychoanalyse; erst in einem zweiten Schritt wird sie zum Instrument

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der Erkenntnis des fremden Unbewussten. Dann ist die Gegenübertragung nicht mehr die problematische Übertragung des Analytikers, sondern die Stimme des Analysanden-Unbewussten. Der Psychoanalytiker wird zum Medium, die Gegenübertragung gleichsam zur Telepathie. Der ideale Gegenübertragungstraum wäre dann jener, der möglichst wenig an »Übertragung« und somit auch an entstellender Traumarbeit enthält. Was aus ihm spricht, ist nicht das verkannte Innere des Analytikers, sondern das erkannte Innere des Analysanden – als pures Außen. Ausgehend von zwei Fallbeispielen entwickelt Ellen Reinke ihre Vorstellungen von Gegenübertragung auf der Grundlage von Paula Heimann und betont mit ihr, dass nicht die Gegenübertragung als solche, sondern deren Analyse das Kernstück der analytischen Technik sei. Lorenzers Konzept vom »szenischen Verstehen« entnimmt sie die Anregung, das Bemühen um »Resymbolisierung« bzw. Sprachfindung als einen gemeinsamen Bildungsprozess der Beteiligten anzusehen, in dem Sprache, innere Bilder und Affekte gleichermaßen als Arbeitsanforderungen zu gelten haben. Ihren gelegentlichen traumartigen Zuständen während der Analysen schreibt sie alle Qualitäten des Gegenübertragungstraums zu. Aus ihnen schöpft sie Bilder vom inneren Erleben ihrer Patienten, die, sprachlich angemessen dargeboten, auf deren Seite weiterführende Träume generieren. Edith Seifert zeichnet zunächst die unterschiedlichen Ansätze zur Gegenübertragung von Freud über Heimann bis zum heutigen dialogischen Verständnis nach und umreißt dann Lacans entgegengesetzte Position. Lacan bestreitet zwar nicht die Möglichkeit von Gegenübertragungsgefühlen, aber er hält das Unbewusste (des Anderen) grundsätzlich für nicht verstehbar, da es »als Es« vom blinden Streben nach Triebbefriedigung wie vom »Dämonischen« des Traums regiert wird. Die dem Unbewussten innewohnende Angst kann deshalb nicht analytisch aufgelöst, sondern allenfalls durch eine Hinwendung zum Anderen beruhigt werden. Edith Seifert entdeckt vor diesem Hintergrund im Sokrates von Platons »Symposion« einen Vorläufer des Psychoanalytikers, weil auch sein Begehren vom Narzissmus gereinigt ist und er damit seinem Gegenüber der Andere sein kann, der sich nicht als narzisstische Ergänzung beanspruchen lässt.

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Gaetano Benedetti vermutet, dass es eher psychotische als neurotische Patienten sind, die bei ihren Therapeuten Träume auslösen, weil ihre Ich-Grenze brüchiger ist und der Analytiker leichter mit Regressionen reagiert. Die Gegenübertragungsträume in der Psychosentherapie unterteilt er, gestützt auf zahlreiche Beispiele, in solche, in denen frühere Probleme des Therapeuten in der Auseinandersetzung mit dem Patienten reaktiviert werden, in andere, die den therapeutischen Prozess positiv beeinflussen, weil der Patient das Unbewusste des Analytikers wahrnehmen kann, und schließlich in Träume, die dem Patienten mitgeteilt werden können. Sie alle haben ihren Ursprung entweder im »Mitleid« mit dem Patienten oder in Konflikten in der eigenen Vergangenheit. Den Abschluss bildet ein Katalog von Kriterien für die Mitteilbarkeit von Gegenübertragungsträumen. Ingrid Biermann geht zunächst einigen Stationen der Theoriegeschichte von Gegenübertragung und Gegenübertragungsträumen (Freud, Winnicott, Zwiebel, Lester/Jodoin/Robertson) nach. Sie selbst bekennt sich zu einem dialektischen Verständnis, also zur Gegenseitigkeit unbewusster Resonanzen, und einer ihr entsprechenden dialektischen Arbeit. In ihr geht es darum, einen Ausgleich zwischen beobachtender Distanz und emotionaler Verstrickung zu finden. Die Analyse des Gegenübertragungstraums ermöglicht die Aufdeckung der Abwehrstrukturen auf beiden Seiten. Ingrid Biermann illustriert sein analytisches Potential ausführlich anhand je eines Gegenübertragungstraums aus der Supervision und aus dem eigenen Traumerleben. Seine Bedeutung sieht sie insbesondere darin, dass er das Unsagbare symbolisiert und dadurch die Möglichkeit schafft, dem Symbolisierten in der gemeinsamen Arbeit eine Sprache zu geben. Dietmut Niedecken stellt zu Beginn den Gegenübertragungstraum der Leiterin einer Wohngemeinschaft für geistig Behinderte vor. Dabei registriert sie einerseits eine Spannung zwischen den Leistungen der Institution, die im Rahmen der von außen verlangten Qualitätssicherung nachzuweisen sind, und der »Arbeit, die man nicht sieht«, nämlich der Auseinandersetzung mit den Emotionen und Phantasien der für die Betreuung Verantwortlichen. Andererseits entdeckt sie in diesem Traum, angeregt durch Freud, Morgenthaler und vor allem durch Elisabeth Lenk, eine

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mimetische (ekstatische, sexuelle) Dimension, die für die Einheit des Subjekts zur Bedrohung werden kann. Der Versuch der Deutung führt den Analytiker an die Grenze zu Exhibitionismus und Voyeurismus. Institutionen produzieren eigene Gegenübertragungen, die von den in ihnen herrschenden Phantasmen (hier: vom Geistigbehindertsein) durchdrungen sind. Im analysierten Gegenübertragungstraum findet die Autorin Elemente der Urszene wieder und geht der Frage nach, welche Rolle die damit verbundenen Phantasien für die Subjektkonstituierung – der Betreuerinnen, der Betreuten, ja selbst der Autorin – spielen. Monika Rafalski und Klaus-Uwe Adam verstehen unter Gegenübertragungsträumen Träume, die einen erkennbaren Bezug zum Behandlungsprozess haben. Sie sind im Geflecht des »Beziehungsquaternios« zu sehen, in dem C. G. Jung die psychischen Systeme von Bewusstem und Unbewusstem von Therapeut und Patient dargestellt hat. Um die Unterscheidung zwischen Gegenübertragungsträumen, deren Elemente stärker auf den Therapeuten, und solchen, die eher auf den Patienten verweisen, zu markieren, sprechen sie in Fortführung von Fordham und Racker von »diskordanten« bzw. »konkordanten« Träumen und spielen diesen Gegensatz an Beispielen aus der eigenen Praxis durch. Im Hinblick auf die Integration des Gegenübertragungstraums in das therapeutische Geschehen plädieren Rafalski und Adam für eine klare Trennung der beiden Gattungen: Diskordante Gegenübertragungsträume dienen ausschließlich der Selbstanalyse des Therapeuten, dagegen bieten konkordante Träume »als stille Begleiter« geeignetes Material für den therapeutischen Prozess. Ihre Mitteilung an den Patienten bleibt aber die strikte Ausnahme. Michael Maas greift aus einer Supervisionssitzung Träume von Betreuerinnen und Betreuern einer Wohngruppe für autistischpsychotische Jugendliche auf, die auf ein auffälliges Mitglied verweisen. Auch wenn der Betreffende, von dem eine ständige Bedrohung auszugehen scheint, in den Traumszenen nicht manifest auftaucht, so ist er doch über den für ihn typischen Habitus zu identifizieren. Die analytische Arbeit an den Traumsymbolen hilft den Träumern, hinter den Gewaltphantasien des jungen Mannes Ängste und Schutzbedürfnisse wahrzunehmen. Damit wird für sie seine zentrale Lebensthematik sichtbarer als zuvor. Das führt

Einleitung

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zu neuen Beziehungsformen ihm gegenüber und zu gezielteren Interventionen, die es ihm möglich machen, seine Droh- und Vernichtungsphantasien zurückzunehmen und seine Autonomie zu verstärken. Als Herausgeber danke ich den Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft, sich mit dem Thema »Gegenübertragungstraum« sowohl theoretisch als auch im Hinblick auf ihr Selbstverständnis und ihre analytische Praxis auseinanderzusetzen und damit auch andere zu einer subtileren Wahrnehmung ihrer selbst und der therapeutischen Beziehung einzuladen.

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Andreas Hamburger

Traumspiegel Gegenübertragungsträume in der Beziehungsanalyse

»Wenn ich gefragt werde, wie man Psychoanalytiker werden kann, so antworte ich, durch das Studium der eigenen Träume« (Freud, 1910a, S. 32).

Aus der Sicht der relationalistischen Psychoanalyse ist der Traum von Anfang an ein Beziehungsphänomen (Hamburger, 1987; 1998). Demzufolge ist auch die Deutung des Traums keine einseitige Entzifferung, sondern ein von Träumer und Analytiker gemeinsam beschrittener Assoziations- und Explorationsweg. Grundsätzlich gilt dies auch für die Träume des Analytikers, die, ebenso wie seine Einfälle, als Teil der unbewussten, von Patient und Analytiker geteilten Szene verstanden werden. Entsprechend der Rahmenvereinbarung ist die Deutung der Gegenübertragungsträume nicht Teil der manifesten analytischen Arbeit; sie bleiben in der Regel im Container des »inneren Analytikers«. Der Beitrag baut auf der beziehungsanalytischen Traumtheorie auf und untersucht das Phänomen des Gegenübertragungstraums an Fallbeispielen.

Der Traum als Beziehungsphänomen Gemeinhin gilt – jedenfalls in unserem westlichen Kulturkreis – der Traum als Spiegel des Inneren. Bilder, Szenen und Sequenzen des Traums werden als so privat empfunden, dass sogar der Träumer selbst beim Erwachen oft das Gefühl hat, einer Sphäre seines Innenlebens nur wie ein Zuschauer beigewohnt zu haben. Einer Sphäre, die sich zwar der bewussten Verfügung entzieht, die

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der Träumer aber dennoch nicht der Außenwelt zuordnet. Nicht zuletzt deshalb hat Freuds Formel vom Traum als der Via Regia zum Unbewussten so starken Widerhall gefunden. Die Via Regia – heute würden wir sie eine Autobahn nennen – führt eben nicht nur direkt nach Rom, sondern als große Verkehrsachse organisiert sie auch den Verkehr weitab von der Metropole. Das Traumerleben demonstriert den Begriff des Unbewussten sozusagen ad oculos; jeder kennt es, und doch kann keiner die Welt des Traums wirklich mit anderen teilen. Soweit der Common Sense. Kulturkritische und psychoanalytische Konzeptforschung ergeben jedoch ein anderes Bild. Träume sind Beziehungsphänomene von Anfang an (vgl. Hamburger, 1987; 1993b; 2006a) und bleiben es auch noch in ihren intimsten Verästelungen. Das Unbewusste wird heute als Langzeitgedächtnis aufgefasst, in dem Beziehungsrepräsentanzen aufbewahrt sind (vgl. Moser und Zeppelin, 1996; Stern, 1986; 1995; Hamburger, 1998). Ergänzt wird es durch ein in der Umwelt konserviertes Kulturgedächtnis, das in den Verhaltenskontingenzen der belebten Umwelt reproduziert und über die Interaktionen mit den primären Bezugspersonen vermittelt wird (Lorenzer, 1972; Stern, 1986; Moser und Zeppelin, 1996). Freuds theoretischer Akzent lag auf dem dynamischen Unbewussten als Resultat einer aktiven Abwehrbewegung. Für uns stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie diese Entstehung systematisch unbewusster Einträge sich aus einer interaktionistischen Sicht erklären lässt und was daraus für den Umgang mit Träumen folgt. War in den Anfängen der Psychoanalyse die Begegnung mit dem radikal Anderen der Hysterie noch durchaus eine Erschütterung, die dem forschenden Subjekt selbst widerfuhr – nicht zuletzt Freuds »Irma-Traum«, der zu Recht als Gegenübertragungstraum, als Wahrnehmung dieser Erschütterung gedeutet wurde, weist darauf hin (ich komme darauf zurück) –, so wurde mit den ersten Schritten einer Systematisierung und Kodifizierung der Neurosenlehre und Behandlungstechnik, aber auch unter dem Druck der Legitimation gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit, das Intersubjektive immer stärker aus dem psychoanalytischen Wissensbestand hinausgedrängt (vgl. Altmeyer und Thomä, 2006). Der wichtigste Markstein auf diesem Weg, jedenfalls soweit es

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die klinische Theorie betrifft, war die Entdeckung und das Theorieschicksal der Übertragung. Die emotionale Aufladung der therapeutischen Situation wurde zunächst nur auf Seiten der Patientin gesehen und als störendes Hindernis empfunden. Es sollte mehr als zehn Jahre dauern, bis Übertragungen zum »größten Hilfsmittel« der Analyse wurden, in denen Freud nun »Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewusst gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes« sah (Freud, 1905e, S. 179). Das war die Geburt der Psychoanalyse als Methode. Die Gegenübertragung wurde erst nach einer noch viel längeren, nämlich etwa vierzigjährigen Latenz (vgl. Hamburger, 1993a) als ebenso zulässig, bedeutsam und nützlich wie die Übertragung anerkannt. Zwar hatte 1918 Ferenczi vor der Verdrängung von Gegenübertragungsgefühlen gewarnt und »eine fortwährende Oszillation zwischen freiem Spiel der Phantasie und kritischer Prüfung« gefordert (Ferenczi, 1919/1970, S.  283), doch erst in den frühen 1950er Jahren begann mit den Schriften von Racker (1948) und Heimann (1950) eine Ausdifferenzierung. Aus dieser Debatte heraus wurde dann vor allem in der Sullivan-Schule eine interpersonelle Theorie der analytischen Situation entwickelt (Sullivan, 1953; 1954, vgl. Conci, 2005). In seiner Nachfolge differenzierte Langs (1978) verschiedene Formen des Zusammenspiels von Übertragung und Gegenübertragung (Langs, 1982). Aus diesem Diskurs entstand schließlich auch jene Bewegung, die heute als »relationale Psychoanalyse« bekannt ist (vgl. Aron und Harris, 2006). Aus der anfänglich diskutierten Frage der Zulässigkeit von Gegenübertragungsphänomenen war also der Anstoß zu einer psychoanalytischen Beziehungstheorie geworden – korrespondierend mit einer wesentlich auf Interaktion angelegten psychoanalytischen Entwicklungstheorie. Parallel zum amerikanischen Diskurs – dort allerdings kaum rezipiert – entwickelte sich in der europäischen Nachkriegs-Psychoanalyse der Beziehungsgedanke. Das Werk von Jacques Lacan etwa markiert einen dezidiert theoretischen, sprachkritischen Zugang zum Problem des Unbewussten. Das Unbewusste ist kein Tiefenorgan oder Gedächtnisspeicher, sondern das Produkt einer

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semiotischen Operation, die mit der Subjektbildung einhergeht und in der symbolischen Kommunikation fortwährend erneuert wird. Mit weniger sprach- als gesellschaftsanalytischem Hintergrund entfaltete sich das Verständnis psychoanalytischer Erkenntnis als Ideologiekritik in der Frankfurter Schule. In zentralen Schriften wie Lorenzers »Sprachzerstörung und Rekonstruktion« (1970) wurde eine reflexiv-interaktionistische psychoanalytische Methodik begründet. Der Analytiker ist Teil des von Übertragung und Gegenübertragung umrissenen Feldes; durch inneres Hinund -Her-Oszillieren zwischen Teilhabe und Reflexion kommt er zur deutenden Benennung der Interaktion. Jessica Benjamin hat Lacans Gedanken zu einer Theorie der gemeinsamen Symbolisierung im intersubjektiven »Dritten« erweitert (vgl. Benjamin, 1995; 2006). Ebenso wie Bauriedl (1980; 1994) geht sie dabei nicht von dem von Lacan ins Zentrum gestellten ödipalen Vater aus, sondern von einer schon in der dyadischen Interaktion selbst angelegten Erfahrung der Grenze. Früher oder später muss die frühe Identifizierung der Mutter mit den Bedürfnissen des Säuglings in Konflikt mit ihren eigenen Bedürfnissen treten.

Freuds »Irma-Traum« als Muster der Gegenübertragung Der erste in der psychoanalytischen Literatur beschriebene Gegenübertragungstraum – noch lange vor der Formulierung des Begriffs der Gegenübertragung – ist Freuds »Traum von Irmas Injektion« (Freud, 1900a). Er wurde jedoch erst nach 1950 in dieser Dimension diskutiert. Dieser Traum kann als eine Art Referenzpunkt der psychoanalytischen Traumdiskussion aufgefasst werden (vgl. auch Hamburger, 1987). Freud glaubte am »Traummuster« die Wunscherfüllungshypothese glasklar demonstriert zu haben – konterkariert dies jedoch im Text durch einige sehr aufschlussreiche Bemerkungen: An einer signifikanten Stelle (nämlich als es um die Frage des Entkleidens geht) bricht Freuds minutiös rekonstruierte Einfallskette plötzlich ab: »Das Weitere ist mir dunkel, ich habe, offen gesagt,

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keine Neigung, mich hier tiefer einzulassen« (Freud, 1900a, S. 118). Dem Autor war das Auffallende seiner Auslassung wohl klar; er schreibt dazu: »Ich kenne selbst die Stellen, von denen aus weitere Gedankenzusammenhänge zu verfolgen sind; aber Rücksichten, wie sie bei jedem eigenen Traum in Betracht kommen, halten mich von der Deutungsarbeit ab« (S.  126). Auch Freuds Weggefährten bemerkten den rüden Bruch. Schon 1908, Freud hatte 1905 die infantile Sexualität programmatisch hervorgehoben, fragte Karl Abraham an, wo denn im »Traummuster« der Psychoanalyse die Sexualität bleibe? (Brief vom 8.1.1908) – und erhielt eine Antwort, deren ausweichende Diktion dem gedruckten Text kaum nachsteht (Brief vom 9. 1. 1908). Für heutige Leser springt die Sexualität aus dem Irma-Traum hervor – aber es war ein langer Weg, bis der sexuelle Impuls des Analytikers offen diskutiert werden konnte. Noch scheute die Psychoanalyse vor dem Verdikt zurück, sie sei eigentlich eine Angelegenheit für die Polizei. Das sollte sich erst im Jahr 1950 ändern, einem entscheidenden Jahr in der Geschichte der Psychoanalyse. Nach langem Schweigen wurde die Gegenübertragung in der Fachöffentlichkeit thematisiert. Und zur gleichen Zeit wurden Freuds Briefe an Wilhelm Fließ in gekürzter Fassung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie erlaubten den ersten (teilweise) unverstellten Blick in Freuds Selbstanalyse. Für die Deutung des Irma-Traums wurde die Beziehung zu Wilhelm Fließ zentral, etwa wenn das rätselhafte Wort »Lösung« im Zusammenhang der Briefe als Chiffre für die Empfängnisverhütung und damit angstfreie Sexualität erkennbar wird. Nun konnten auch Gegenübertragungsaspekte des Irma-Traums verdeutlicht werden (Anzieu, 1959/ dt. 1990); insbesondere wurde ein Bezug zur dramatischem Emma-Eckstein-Episode konstruiert (Schur, 1966; Clark, 1980). Im Jahr 1953 erschien zudem Jones’ monumentale Freud-Biographie, die Freud einer breiten Fachöffentlichkeit erstmals in seinen privaten und persönlichen Bezügen sichtbar machte; doch verhüllte sie ihn auch an entscheidenden Stellen.

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Manifeste Konfigurationen Der Erste, der im Zusammenhang der genaueren Kenntnis von Freuds Lebenssituation um 1895 genauer auf den Irma-Traum einging, war Erik H. Erikson (1954). Er bewies, welche Fülle von Informationen man am manifesten Trauminhalt ablesen kann, nicht nur über die infantilen Wünsche des Träumers – die Freud in seiner Veröffentlichung ausgelassen hatte –, sondern auch über seine kulturelle Identität und seine Stellung im Lebenszyklus. Eriksons Arbeit wurde epochemachend für die Aufwertung des manifesten Traums (vgl. Palombo, 1984). Er verließ die auf den Einfällen des Träumers basierende sokratische Fragetechnik Freuds und glaubte die Ich-Funktionen schon an der Oberfläche des Traumphänomens, an der »manifesten Konfiguration« ablesen zu können. So erschließt er aus der Wortwahl des Irma-Traums die Befassung des Träumers mit genital-sexuellen Themen (Erikson, 1954/1974, S. 89) und deutet ihn aus der Konstellation der Figuren als Bekehrungs- und Initialtraum, der die befürchtete Ausstoßung aus einer männlichen Glaubensgemeinschaft durch ein Ritual kompensiert. Auslöser für die Befürchtung des Ausschlusses sei entsprechend der Position des Träumers im Lebenszyklus die »Krise des reiferen Lebensalters. Er handelt hauptsächlich von Dingen der Generativität«, nämlich der Hervorbringung der Psychoanalyse: »Freuds wachsendes Gefühl, eine große Entdeckung mit sich herumzutragen, die ein neues fruchtbares Denken erzeugen könnte (in ebenderselben Zeit, in der seine Frau mit einem neuen Glied der nächsten Generation schwanger ging), war am Abend durch die Einwirkung eines Wortes des Zweifels auf seinen müden Geist herausgefordert worden, ein Zweifel, der sogleich wie ein Echo allerlei Selbstzweifel und Selbstvorwürfe aus vielen nahen und fernen Winkeln seines Lebens hervorrief« (Erikson, 1954/1974, S.  97). Der Träumer versucht diesem Zweifel zunächst durch männlich-energisches »Untersuchen« Herr zu werden; dann starrt ihn jedoch der weißgraue Schorf »wie das Haupt einer Medusa« an; statt vor Schreck aufzuwachen, gibt er partiell nach, »überläßt sich einer Rollenzersplitterung«, appelliert dringend an »Lehrer«, wird gar für einen Moment selbst zur Patientin, kurz: Er »läßt sich vom Zweifel bis

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zur frühesten infantilen Sicherheitsbastion, dem kindlichen Vertrauen, zurücktreiben« (S. 97). Seine Analyse des manifesten Traums versucht Erikson nun durch eine Deutung des latenten Traums zu ergänzen – auch dies jedoch, ohne den Träumer selbst zu fragen oder auf seine in der »Traumdeutung« publizierten Assoziationen einzugehen. Er ortet »typische und infantile Konflikte« durch Heranziehung weiterer biographischer Quellen und schließt auch daraus darauf, dass es sich um einen Gegenübertragungstraum handle (vgl. auch Whitman et al. 1969; Zwiebel, 1977; 1984, Anzieu, 1959/ dt. 1990; Heenen-Wolff, 2008), weniger in Beziehung auf »Irma« als auf den Traum und die Psychoanalyse selbst: »Wie, wenn es nun das Geheimnis des Traums selber wäre, das der heißersehnte Preis seines Forschens sein sollte? […] Freuds Träume in jener Zeit […] sollen träumend den Traum enthüllen« (Erikson, 1954/1974, S. 104). Erikson vermutet, dass diese Übertragung auf den Traum selbst eine mütterliche ist, dass »der Traum als Mysterium für unseren Träumer eines jener furchterregenden Mutterbilder geworden war, die nur den Begünstigten unter den jungen Helden zulächeln« (S. 105). Der Traum ziert sich wie eine viktorianische Dame – und tatsächlich kommen ja genug schöne Frauen, die sich sträuben, im Irma-Traum vor. Gleichzeitig ist es aber auch die Übertragung auf Fließ, die Phantasie der geistigen Empfängnis durch den Freund, die den Traum durchzieht: Der Forscher schaut in seine eigene Mundhöhle.

Die Sprache des Unbewussten Gegen Eriksons ich-psychologische Deutung des Irma-Traums kam sofort ein sehr prinzipieller Widerspruch von Jacques Lacan – ein Widerspruch freilich mit interessanten Parallelen. Der Initialtraum der Psychoanalyse, der »Traum der Träume«, stelle nicht Freud und sein »Ego«, sondern den Traum selbst zur Diskussion. Der Traum enthalte nicht die Lösung, sondern das Rätsel: das »krause Gebilde«, die »heiligen Zeichen« der Trimethylamin-Formel. Er wendet sich auch gegen Eriksons Hochschätzung des Manifesten: »Es gibt nichts Tiefes außer das Oberflächliche, denn es gibt überhaupt kein Tie-

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fes« (Lacan, 1978/1980, S.  197). Radikaler als Erikson liest Lacan den Irma-Traum minutiös als Text. Schon die ersten Worte des Traums entwerfen die Szene: »wir empfangen«. Der Träumer empfängt zusammen mit seiner Frau. Dann tritt Irma auf, und es entspinnt sich ein Wortwechsel: Widerstand. Freud wirft vor, Irma hat Schmerzen, ein Zusammenschnüren, ein weibliches Sträuben, und schon sind es drei Frauen: Irma, Martha und die hübsche Freundin, die er gern zur Patientin hätte. Und nun zieht sich der Traum zu seinem ersten Zentrum zusammen. Die Patientin macht den Mund auf – genau das, was sie in der Analyse nicht macht – und was sieht Freud? »Es gibt da eine schreckliche Entdeckung, die des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund der Dinge, die Kehrseite des Gesichts, des Antlitzes, die Sekreta par excellence, das Fleisch, insofern es leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst hervorruft. Vision der Angst, Identifikation der Angst, letzte Offenbarung des Du bist dies – Du bist dies, was am weitesten von mir entfernt ist von dir, dies, welches das Unförmigste ist. Angesichts dieser Offenbarung vom Typ Mene, Tekel, Upharsin gelangt Freud auf den Gipfel seines Begehrens, zu sehen, zu wissen, das sich bis dahin im Dialog des Ego mit dem Objekt ausdrückte« (Lacan, 1978/1980, S. 200). Lacan verfolgt nun die Verwandlung des Träumers in ein »Clowntrio« von Kollegen, und er interpretiert dieses Trio lediglich als Zeichen, das sich schließlich, auf dem »Höhepunkt« des Traums, als sprachliches Zeichen in der Formel des Trimethylamin manifestiert. Lacan schreibt die Formel als Strukturformel an, eine doppelte Dreigliederung, und bemerkt dazu lakonisch: »Das erklärt alles.« »Der Traum, der, während das Ego da war, ein erstes Mal in dem grauenerregenden Bild kulminierte, von dem ich gesprochen habe, kulminiert am Ende zum zweiten Mal in einer geschriebenen Formel, mit ihrem Mene, Tekel, Upharsin-Aspekt, auf der Mauer, jenseits dessen, was wir nicht umhin können als das Sprechen zu bezeichnen, das universale Gemurmel« (Lacan, 1978/1980, S. 204). Nach Lacan hat der Traum das Grauen umgesetzt in eine Formel. »Es gibt kein anderes Wort, keine andere Lösung für dein Problem als das Wort.« Das Subjekt löst sich auf in die »heiligen Zeichen« der Formel, die aus drei mal drei Elementen besteht. Diese Drei ist das Unbewusste, und es ist außerhalb des Subjekts.

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In der imaginären Welt des unbewussten Begehrens verschwindet das Objekt, sobald man es begreifen will, anfassen, festhalten. Es gibt kein »verweile doch«. Das Begehrte ist wie der Begehrende immer nur im Moment gegeben. Erst die Macht des Wortes, die symbolische Ordnung, bannt das Objekt in die Zeit. Erst das Benannte bleibt. Deshalb endet der Irma-Traum mit einer fettgedruckten Formel, einem Wort, das nichts anderes sagen will, als dass es ein Wort ist. Der Traum sagt: »Ich bin der, der nicht schuldig sein will, denn man wird immer schuldig, wenn man eine Grenze überschreitet, die bis dahin dem menschlichen Tun gesetzt war. Ich will das nicht sein. Statt meiner sind da all die anderen. Ich bin da bloß der Repräsentant jener umfassenden, vagen Bewegung, die die Suche nach der Wahrheit ist, in der ich mich auslösche. Ich bin nichts mehr. Mein Ehrgeiz war größer als ich. Die Spritze war ohne Zweifel dreckig. Und gerade insoweit ich sie allzusehr begehrt habe, insoweit ich teilgenommen habe an dieser Handlung, insoweit ich der Schöpfer habe sein wollen, bin ich nicht der Schöpfer. Der Schöpfer ist jemand, der größer ist als ich. Es ist mein Unbewußtes, es ist jenes Sprechen, das in mir spricht, jenseits von mir« (Lacan, 1978/1980, S. 219).

Differenzierungen Kurz vor dem Jahr 1950, in dem zugleich die Gegenübertragung und die Fließ-Briefe in den Fokus der psychoanalytischen Diskussion traten, erschien ein weiterer wesentlicher Beitrag zum Gegenübertragungstraum: Winnicotts bedeutende Arbeit über den »Hass in der Gegenübertragung«. Winnicott (1949/ dt. 1976) untersucht darin die notwendigen Hassgefühle, die jeder Psychiater und Analytiker, der mit psychotischen Patienten arbeitet, in sich erkennen und aushalten lernen muss. »Wenn wir fähig werden sollen, psychotische Patienten zu analysieren, müssen wir in uns selbst bis zu sehr primitiven Dingen hinuntergestiegen sein« (Winnicott, 1949/ dt. 1976, S. 77). Er berichtet von einem Traum im Zusammenhang mit der Analyse einer psychotischen Patientin, die zu dieser Zeit so verwickelt geworden war, dass er auch in anderen Arbeitsgebieten

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»das Gefühl [hatte], schlechte Arbeit zu leisten. Bei jedem meiner Patienten machte ich Fehler. Die Schwierigkeit lag in mir selbst; sie war zum Teil persönlicher Art, hing aber hauptsächlich damit zusammen, daß ich in meiner Beziehung zu einer bestimmten (Forschungs-)Patientin einen Höhepunkt erreicht hatte« (S.  79). Mit wenigen Worten ist hier ein Gegenübertragungskonzept umrissen, das ganz selbstverständlich die Gesamtheit des Analytikers einbezieht und sie dennoch assoziativ in Kontakt mit einer bestimmten Arbeitsbeziehung bringt. Im Traum erlebt er hintereinander zwei Angstsituationen – die erste, eine Hand zu verlieren, die zweite, keine rechte Körperhälfte zu haben. Beim Aufwachen versteht er, dass der zweite Traumteil mit seiner Beziehung zu der psychotischen Patientin zu tun hatte, die es nicht ertrug, einen Körper zu haben, nicht einmal in der Vorstellung, und vom Analytiker die gleiche Verleugnung einforderte. »Diese Verleugnung brachte in mir diesen psychotischen Typus von Angst hervor« (S. 81). Die Selbstdeutung führte zu einem Fortschritt in der Analyse, nämlich dass Winnicott »diese Analyse wieder aufnehmen und sogar den Schaden beheben konnte, der ihr durch meine Reizbarkeit zugefügt worden war« (S. 81). Dennoch bleibt Winnicott nicht bei einer reparativen Interpretation des Gegenübertragungstraums stehen. Er ergänzt den Traumbericht um eine weitere Fallvignette, in der es um sein gestörtes Pflegekind geht, und entwickelt daraus das Theorem, das den Aufsatz berühmt gemacht hat: »Ich bin der Meinung, dass die Mutter das Baby haßt, bevor das Baby die Mutter haßt und bevor es wissen kann, daß die Mutter es haßt« (S. 84). Die Gefühle der Mutter, die Gefühle des Analytikers werden nicht als »reaktive« oder rezeptive Gegenübertragung getarnt, sondern entspringen dem eigenen unbewussten Leben. Die weitere Diskussion zum Gegenübertragungstraum ist zumeist auf kasuistische Studien beschränkt: Tauber und Green (1959) untersuchten im Rahmen ihrer Studie zur prälogischen Interaktion auch den Gegenübertragungstraum, Altman (1975) wies in seinem ich-psychologisch und behandlungstechnisch orientierten Buch über Traumdeutung, das der abnehmenden Kultur der Traumanalyse in der psychoanalytischen Ausbildung entgegensteuern sollte, dem Gegenübertragungstraum die Funktion zu, das Gefühlsleben des Analytikers vor dem Mitagieren zu bewahren. Zwiebel (1977)

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widmete dem Gegenübertragungstraum eine klinische Untersuchung am Beispiel zweier eigener Träume. Dieser Aufsatz wird in der Literatur oft zitiert als Beleg für die Auffassung, Träume des Analytikers über seine Patienten seien ein Indikator für eine besonders kritische Phase der Behandlung. In der Tat geht Zwiebel nicht so weit, Aussagen über solche Träume schlechthin zu machen; er postuliert vielmehr, »dass es neben anderen Träumen des Analytikers, in denen seine Patienten vorkommen, einen relativ typischen Gegenübertragungstraum gibt, der in besonders kritischen Abschnitten des analytischen Prozesses dem Analytiker die unbewusste Dynamik der Beziehung deutlicher zu Bewusstsein bringt« (Zwiebel, 1977, S. 44). Zwiebels vielzitierter Beitrag ist ein Musterbeispiel für die kasuistische Reflexionskultur der Psychoanalyse. Er zeigt auf, dass der »spezifische Gegenübertragungstraum« an der Bruchstelle der analytischen Beziehung entsteht und die Chance zu ihrer Reflexion enthält. Nach Zwiebel enthalten die Gegenübertragungsträume zum einen Übertragungsaspekte (des Analytikers), zum anderen spezifische, vom Patienten ausgelöste Gegenübertragungsreaktionen und zum dritten »Elemente, die dem Analytiker darüber Auskunft geben, welche unbewusste Bedeutung für ihn das Analysieren und die analytische Situation hat« (Zwiebel, 1977, S. 55). Sie treten vergleichsweise selten auf, ihre Bedeutung nimmt mit zunehmender Erfahrung ab, bleibt jedoch abhängig vom Störungsniveau des Patienten. In einer späteren Arbeit geht Zwiebel (1984) noch einmal auf die Frage des »typischen« Gegenübertragungstraums ein. Er diskutiert darin auch das Beispiel des Irma-Traums von Sigmund Freud. Im weiteren Verlauf der psychoanalytischen Diskussion wurde in differenzierten kasuistischen Darstellungen die Dyade aus Analytiker und Analysand zunehmend stärker mit Hinblick auf die interaktionelle Verflechtung im analytischen Prozess beschrieben (Abramovitch und Lange, 1994; Pollak-Gomolin, 2002; Brown, 2007; Heenen-Wolff, 2008; Bonaminio, 2008). Neben dieser kasuistischen Entwicklungslinie gibt es auch einige empirische Studien mit größerer Fallzahl, die oft mit Ausbildungskandidaten durchgeführt wurden. Whitman, Kramer und Baldridge (1963) untersuchten die Träume von Ausbildungskandidaten im Schlaflabor in der Nacht vor ihrer Fallvorstellung. Viele

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davon bezogen sich auf die Prüfungssituation, einige auch auf Patienten (vgl. Zwiebel, 1984, S. 203). Weitere Gruppenstudien (Lester u. a., 1989; Karcher, 1998; Degani, 2001; Kron und Avny, 2003) entfalteten vor allem die Fragen, ob Gegenübertragungsträume immer Anzeichen von problematischen Situationen oder neurotischen Reaktionen seien, ob sie als passive Wahrnehmungen oder als aktive Produktionen des Analytiker-Träumers zu betrachten sind und schließlich ob sie nur dann als solche gesehen werden sollten, wenn sie einen manifesten Bezug auf den Patienten enthalten. Aus relationaler Sicht ist die verbreitete Annahme in Frage zu stellen, dass der Gegenübertragungstraum eine Form der unbewussten »Wahrnehmung« sei. Die von Freud (1900a) und Winnicott (1949/ dt. 1976) eröffnete Kasuistik des Gegenübertragungstraums enthielt diese Festlegung noch nicht. Sie umfasste zunächst noch eine Innenansicht des Analytikers, die sich nicht auf die Einwirkung des Patienten reduzieren ließ. Erst im Lauf der Diskussion kam immer deutlicher die Auffassung zum Tragen, der Analytiker sei als unbewusst Antwortender quasi ein Empfangsgerät für die unsymbolisierten Phantasien des Patienten. Auch die in vielen Publikationen hervorgehobene hilfreiche Funktion des Gegenübertragungstraums ist aus dieser Perspektive zu hinterfragen. Dies scheint ein Topos, der noch zurückreicht in die inzwischen relativierte Befürchtung, Gegenübertragung sei eine Dysfunktion des Analytikers und der Gegenübertragungstraum ihr Symptom. Dass diese Befürchtung jedenfalls in den Anfangszeiten der Diskussion wirksam war, zeigt die auffallende Tatsache, dass viele Studien im Zusammenhang der psychoanalytischen Ausbildung durchgeführt wurden (vgl. Robertson und Yack, 1993). Die oft wiederholte Beteuerung der Nützlichkeit impliziert freilich ein instrumentelles therapeutisches Selbstverständnis. Aus beziehungsanalytischer Sicht wäre dieses Verständnis selbst zu hinterfragen. Freuds trockene Hinweise auf seinen mäßigen therapeutischen Ehrgeiz, Bions Absicht, »without memory and desire« zu analysieren, stehen in einem Spannungsverhältnis zur Heilungsabsicht, mit der jedes analytische Bündnis eingegangen wird. Aufgehoben wird dieses Spannungsverhältnis im emanzipatorischen Anspruch der Psychoanalyse nur da, wo Heilung eben durch die Abstinenz vom Heilenwollen bewirkt wird. Damit kann aber auch

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der Gegenübertragungstraum nicht mehr als Instrument therapeutischer Förderung vereinnahmt werden.

Gegenübertragungstraum und Beziehungsanalyse Stellen wir Eriksons und Lacans Deutungen des Irma-Traums nebeneinander, so fällt zunächst, bei aller Verschiedenheit, doch das Gemeinsame auf: Beide lesen den von Freud als Muster der Wunscherfüllungstheorie präsentierten Traum als Reaktion auf die Entdeckung der Psychoanalyse selbst, als Gegenübertragungstraum in einem sehr erweiterten Sinn. Nicht die therapeutische Beziehung zu einer Patientin »Irma« ist es, die den Analytiker Freud beschäftigt, sondern durch sie hindurch seine Begegnung mit sich selbst, seine Begegnung mit der Angst vor der Bewusstwerdung seines eigenen Unbewussten. Unterschiedlich ist nur die Art der Angst und die Natur des Unbewussten, die die beiden Nach-Deuter unterstellen. Ist es, wie Erikson meint, die kindliche Furcht vor Verstoßung oder die sozusagen für das Bewusstsein als solches konstitutive Angst vor der Entsymbolisierung selbst, wie Lacan unterstellt? Wir müssen uns nicht unbedingt entscheiden – und wollen es auch nicht, denn beide Deutungen entbehren eines aus unserer Sicht absolut notwendigen Moments: Sie stammen nicht vom Träumer selbst. Aus beziehungsanalytischer Sicht gibt es kein Mandat für Traumdeutungen in absentia. Versteht man den relationalistischen Ansatz stringent als eine erkenntniskritische Position, so kann der Deuter eines Traums nichts anderes deuten als seinen Antworttraum, das, was der Traum in ihm selbst auslöst, und er kann dieses Stück Selbstanalyse dem Träumer des Originals zur Verfügung stellen. In Meltzers Formulierung: »While listening to your dream I had a dream which in my emotional life would mean the following, which I will impart to you in the hope that it will throw some light on the meaning that your dream has for you« (Meltzer, 1984/1988, S. 90). Diese radikale Innenorientierung bietet einen ersten Ansatz für ein relationalistisches Konzept der Traumdeutung. In Meltzers

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Kasuistiken finden wir freilich oft intrusive und stereotype Deutungsergebnisse. Deshalb muss die selbstanalytische Orientierung strikt unterschieden werden von Routine. Die relationalistische Deutung kann nur als begründet gelten, wenn sie im Deuter selbst eine überraschende Bewegung, eine Erkenntnis auslöst. Aus relationalistischer Perspektive wären also die beiden dargestellten Deutungen des Irma-Traums Antwortträume der Verfasser. Beide weisen mit ihrer Reinterpretation von Freuds »Traummuster« auf etwas Wesentliches hin – es ist aber etwas Wesentliches aus ihrer eigenen Zeit. Ihre Perspektiven, Kulturalismus und Strukturalismus, stehen in einem prinzipiellen Widerspruch zueinander. Das Gemeinsame freilich ist auch hier nicht zu übersehen: Beide unternehmen den Versuch, Freuds Entdeckung in die nach dem Weltkrieg radikal veränderte Gegenwart, in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu übersetzen. Beide schreiben aus einem Exil, aus dem durch den radikalen Bruch erzwungenen Abschied von Freuds Erkenntnisoptimismus, den sie zugleich in ihrer Deutungsemphase replizieren. Eine relationalistische Neuinterpretation des Irma-Traums müsste, bescheidener, akzeptieren, dass sie den Handlungsraum der Textanalyse nicht überschreiten kann, und sei es mit noch so präziser biographischer Ausfütterung der von Freud hinterlassenen Risse. Sie bliebe darauf verwiesen, die eigenen Rezeption zu verdeutlichen, die Trauer vielleicht, die der Traum von der großen Halle, in der »wir empfangen«, auslöst, wenn wir wissen, dass diese Halle nicht mehr steht. »Die Psychoanalyse« wird nie mehr der Tempel sein, als den ihr Begründer sie vielleicht imaginieren wollte – eine Imagination, die sich sogleich mit Bildern von Grauen und Tod vernetzt – und die sie doch niemals werden konnte. Aus dieser Sicht kann nun die Bestimmung des Gegenübertragungstraums weiter gefasst werden. Nicht nur der Traum, in dem der Patient direkt erscheint, ist als Gegenübertragungstraum aufzufassen; vielmehr ist jeder Traum sowie jeder Einfall des Analytikers, der sich assoziativ mit einer Analyse verbindet, Ausdruck der Teilhabe des Analytikers an diesem Prozess. Er enthält die eigene Verdrängung und die eigene Wiederkehr des Verdrängten. Insofern er als Gegenübertragungstraum erscheint, wird er zwar auf eine bestimmte Analyse, ein bestimmtes Übertragungsfeld bezo-

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gen; doch löst ihn diese Operation nicht aus dem Kontinuum des eigenen Traumlebens. Aus beziehungsanalytischer Sicht ist es von Bedeutung, das teller-receiver-Modell, das Freud (1912e, S. 381) eingeführt hatte, zu überwinden. Es reduziert die zweiseitige Kommunikation auf eine instrumentelle Anwendung des »empfangenden« Unbewussten des Arztes. Was in der analytischen Beziehung tatsächlich vorgeht, ist nicht artistische Selbstinstrumentalisierung, sondern Selbstaufklärung. Durch die (aus eigenen Wurzeln gespeiste, von eigenen Bildern bevölkerte) unbewusste Teilhabe des Analytikers an der vom Patienten ausgelösten unbewussten Szene kommt der Analytiker mit ihr in Kontakt. Seine Erfahrung im Feld der Selbstanalyse befähigt ihn, diese Teilhabe in Worte zu fassen – Worte, die, als Deutung an den Patienten gerichtet, diesem eine andersartige Interaktionserfahrung ermöglichen. In diesem Verständnis der analytischen Situation, die von dem Wort »Behandlungstechnik« mehr verfehlt als beschrieben ist, gehört der Traum des Analytikers zum selbstverständlichen Repertoire seiner Selbstanalyse, ebenso wie das aktive Zuhören in der analytischen Haltung. Ferro (2006) entwirft vor dem Hintergrund des Container-Contained-Modells von Wilfred Bion (1962/ dt. 1992) eine Konzeption des psychoanalytischen Feldes, in der das Wachtraumdenken und die Reverie des Analytikers eine wichtige Rolle spielen. Die Arbeit des Analytikers besteht nach dieser Auffassung darin, die emotionale Erfahrung der Analyse zu verdauen – wozu selbstverständlich auch die träumende Verdauung gehört. Wiederum erhebt sich hier, und gerade im kleinianischen Kontext sehr dringend, die Frage, wie ein solches Modell mit der Gefahr der stereotypen Deutung umgeht – denn wenn die Innenwahrnehmung des Analytikers gleichgesetzt wird mit einem (hypothetischen) Innenleben des Patienten, so gibt es keine Erkenntnisdifferenz mehr. Der Schlüssel zu diesem Problem liegt im Umgang mit der Innenwahrnehmung, also in der psychoanalytischen Haltung. Solange die »Deutungsmacht« nicht ebenso geteilt wird wie die Wahrnehmung des unbewussten szenischen Kontinuums, kann allerdings die Auffassung des Unbewussten als eines interpersonellen Feldes zu Selbsttäuschungen führen und in der Folge auch zum indoktrinierenden Missbrauch der analytischen

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Situation. Aus beziehungsanalytischer Sicht ist die Selbstanalyse nur dann ein fruchtbarer Beitrag zur Analyse des Patienten, wenn sie tatsächlich am spezifischen Widerstand arbeitet, also emanzipatorisch ist. Das Aufkommen von »üblichen« Einfällen ist aus dieser Sicht geradezu ein Anzeichen für die Abwehr des Kontakts. Es entscheidet sich daher erst in der analytischen Situation, im Kontakt mit dem Patienten selbst, ob die Deutung eines Gegenübertragungstraums fruchtbar wird.

Gegenübertragungstraum und therapeutisches Handeln Damit ein Traum des Analytikers zum Gegenübertragungstraum wird, muss er vom Träumer auf eine Behandlung bezogen werden, mit einem Übertragungsfeld, an dem er teilhat, in Verbindung gebracht werden. Das kann entweder dadurch geschehen, dass der Patient oder die Patientin direkt als Traumfigur auftaucht. Es wäre aber eine sehr enge, dem psychoanalytischen Verständnis der Traumdeutung zuwiderlaufende Auffassung, nur solche manifest mit der Behandlung verbundenen Träume als Gegenübertragungsträume zu betrachten. Der weitaus häufigere Fall ist die assoziative oder kontingente Verbindung: Die Behandlung wird im selbstanalytischen Prozess zum Traum assoziiert; oder – ein Sonderfall dieser Verbindung – der Traum steht in einem engen räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang mit ihr.

Der manifeste Gegenübertragungstraum Die weit überwiegende Zahl der Kasuistiken und Studien zum Gegenübertragungstraum definieren diesen als »Traum vom Patienten«, also durch das Erscheinen des Patienten im manifesten Traum. Damit sind Träume, die sich nur indirekt mit einer bestimmten Übertragungs-Gegenübertragungs-Konstellation verbinden, ausgeschlossen (Whitman et al., 1969; Angel, 1979; Myers, 1987; Lester et al., 1989; Robertson und Yack, 1993; Watson, 1994;

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Sedlack, 1997; Pollack-Gmolin, 2002; Brown, 2007; Heenen-Wolff, 2008; Spangler et al., 2009). Als Beispiel für das weit verbreitete »manifeste« Modell des Gegenübertragungstraums kann eine Sequenz aus dem Film »Analyze This« (»Reine Nervensache«; USA 1999) von Harold Ramis dienen. Der Mafiaboss Paul Vitti (Robert de Niro) konsultiert den frustrierten Analytiker Ben Sobel (Billy Crystal) wegen einer Arbeitsstörung: Er kann nicht mehr killen. Auslöser ist ein Attentat, dem ein väterliches Mitglied der »Familie« zum Opfer fiel und das er selbst nur durch Zufall überlebte. Zudem leidet er an Potenzstörungen. In einer turbulenten Komödie kehrt der illustre Patient alle Regeln des Handwerks um und zwingt Sobel zu einer höchst unkonventionellen Analyse. In dauerndem Umschlag zwischen Idealisierung und Entwertung (»Du bist gut, Doc! Jaja! Du bist gut!! – Wenn du eine Schwuchtel aus mir machst, leg ich dich um, kapiert?«) überschreitet er sämtliche Grenzen und ist konventionellen Deutungen gänzlich unzugänglich (»Ödipus? Verdammte Griechen. Sie meinen, ich wollte meine Mutter ficken? Kennen Sie meine Mutter?!«). Auch die biographische Rekonstruktion scheitert an Widerstand und Verschlossenheit des Patienten, während die Symptomatik unverändert besteht – was immer bedrohlicher wird, denn es kommt eine Begegnung mit Rivalen auf ihn zu, in der er die verlorene Härte unter Beweis stellen muss. Zudem betrachtet die »Familie« den Analytiker als zunehmend gefährlichen Mitwisser und verlangt von Vitti, ihn aus dem Weg zu räumen. »Wenn du es nicht tust, tut es ein anderer.« In dieser Situation hat Sobel einen Alptraum, der in übersättigten Brauntönen wie ein altes Foto inszeniert wird: Er will zusammen mit dem Patienten in eine Gangsterlimousine steigen, vorher aber noch etwas Obst an einem Stand besorgen. Vitti wartet im Wagen. Sobel wählt zwei Orangen, da sieht er zwei Killer mit gezogenen Revolvern auf sich zukommen. Er will zum rettenden Wagen fliehen, aber die Killer sind schneller und eröffnen das Feuer auf ihn. Das Obst rollt über die Straße. Getroffen sinkt Sobel über dem Wagen zusammen. Vitti ist inzwischen ausgestiegen, um ihm zu helfen, ist aber zu ungeschickt mit seiner Pistole und lässt sie fallen. Bestürzt steht er neben dem sterbenden Sobel, im Hintergrund weint ein Säugling. Mühsam setzt er sich

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neben ihm auf die Straße, klagt: »Papa! Papa!« und bricht schluchzend zusammen. In Panik fährt der Analytiker zu den aus dem Off nachhallenden Worten »Papa! Papa!« aus dem Schlaf. Die Traumsequenz signalisiert zum einen, dass der Analytiker die sich gegen ihn zusammenbrauende Bedrohung spürt und ahnt, dass sein Patient in kindlicher Regression und Hilflosigkeit ihn nicht wird schützen können. Die zwei Orangen könnten als Anspielung auf Sobels Hochzeitsplan verstanden werden, dessen ständiges Scheitern an den rabiaten Terminvorschlägen seines Patienten den Film wie ein Running Gag durchzieht. Es ist, als ob der Traum ihn warnen wollte, dass er durch die mörderische Verstrickung der Analyse niemals dazu kommen wird, die paradiesischen Früchte zu erlangen, nach denen er sich sehnt. Hinter dieser offensichtlichen Gegenübertragungsdimension, in denen der Traum als Indikator einer immanenten Drohung erscheint, enthält er jedoch noch eine weitere Dimension, die sich erst im weiteren Verlauf des Films entschlüsseln wird: Die Traumszene ist nämlich eine genaue Wiedergabe der traumatischen Schlüsselerinnerung, die Vitti teilweise verleugnet, teilweise aber auch verdrängt hat und die erst in einer dramatischen, tatsächlich mörderischen Zuspitzung der Analyse kathartisch wiederkehrt: Als Kind war er es, der die Killer auf seinen Vater zukommen sah und so gelähmt war, dass er ihn nicht rechtzeitig warnen konnte. Der Analytiker übernimmt in konkordanter Rollenübernahme im Traum sowohl Selbstaspekte des Patienten als auch die (komplementäre) Rolle des ermordeten Vaters. Der Gegenübertragungstraum ist hier wie eine Reinszenierung des »Originalvorfalls« im Traumleben des Analytikers. Interessanterweise führt jedoch weder der Traum noch die durch ihn bewirkte Bewusstmachung der traumatischen Szene zur Heilung – das wird unmittelbar klar im Fortgang des Films: Denn nachdem Vitti begriffen hat, welche unbewusste Erinnerung ihn quälte, ist er dennoch nicht imstande, den nun plötzlich realen Überfall feindlicher Mafiosi abzuwehren. Sobel muss selbst in die Bresche springen und – so gut er kann, und er kann nicht sehr gut – zurückschießen. Auch im Showdown, der lange geplanten Begegnung mit dem großen Rivalen, muss er seinen völlig apathischen Patienten zunächst vertreten – den heilt erst sein kleiner Sohn mit der Frage, wie lange er denn noch krank sein wolle? Vitti erwacht

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aus seiner Trance, kann zu dem Treffen eilen, seinen tapferen Analytiker-Stellvertreter befreien und seine Verbrecherlaufbahn aufgeben. Alles ist (beinahe) gut. Nur noch der Analytiker muss geheilt werden: wird er auch, denn in der Schlussszene gelingt es ihm, einer der vielen Patientinnen, die ihm mit ihren neurotischen Klagen in den Ohren liegen, erfrischend direkt und tatsächlich hilfreich zu antworten. Der Gegenübertragungstraum war also, das ist seine dritte Funktion in »Analyze This«, auch eine Aufforderung zur Individuation an den Träumer selbst, sich aus seiner ödipal-unterwürfigen Vermeidungshaltung zu lösen und selbst im Sinne von angemessener Aggression »schießen« zu lernen.

Der latente Gegenübertragungstraum Die enge Definition des Gegenübertragungstraums durch das manifeste Auftauchen des Patienten im Traum des Therapeuten ist zwar griffig, aber inadäquat. Das Konzept der Gegenübertragung verweist explizit auf ein psychoanalytisches Beziehungsmodell, in dem auf unbewusste Repräsentanzen abgehoben wird (Hamburger, 1993a). Die psychoanalytische Traumtheorie geht jedoch davon aus – auch in der von Erikson (1954) inspirierten und von neueren Autoren bevorzugten Aufwertung des manifesten Traums –, dass die im manifesten, erinnerten Traum auftretenden Figuren regelmäßig nicht sich selbst, sondern assoziativ mit ihnen verknüpfte Beziehungskonstellationen vertreten. Schon Abramovitch und Lange (1994) haben darauf hingewiesen, dass nicht jeder Traum des Analytikers über seinen Patienten ein Gegenübertragungstraum sein muss. Diese Relativierung geht jedoch von einem engen Verständnis der »spezifischen« Gegenübertragung aus. Hier soll demgegenüber die Auffassung vertreten werden, dass alle Träume des Therapeuten als Gegenübertragungsträume aufzufassen sind, die in ihm selbst mit dem analytischen Prozess verknüpft sind. Für diese Auffassung findet sich in der psychoanalytischen Literatur eine Reihe von Belegen (Rudge, 1998; Cogar, 2004 u. a.). Auch in einigen empirischen Untersuchungen wurde von einem solchen erweiterten Verständnis ausgegangen, etwa in der Untersuchung von Karcher (1998) an Ausbildungskandidaten und Super-

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visoren oder in der qualitativen Studie von Degani (2001), die aus der Analyse von Traumtagebüchern und mehreren Interviews typische Behandlungssituationen herausarbeitete. Die befragten Therapeuten berichteten über Wunscherfüllungs- und Abwehrfunktionen ihrer Träume, aber sie betrachteten sie auch als unbewusstes Durcharbeiten von Beziehungskonflikten, vor allem als Hilfe, besonders rätselhafte Aspekte der Übertragung zu begreifen; manche Therapeuten berichteten von unerwarteten Wendepunkten in der Therapie in der Folge eines bearbeiteten Gegenübertragungstraums.

Problemindikator oder Anzeichen von Kontakt? Seit der Frühzeit der Diskussion zum Gegenübertragungstraum wird er als Anzeichen einer Behandlungskrise oder inneren Notsituation des Analytikers gesehen (Winnicott, 1949 / dt. 1976; Whitman et al., 1969; Zwiebel, 1977; 1984; Angel, 1979; Myers, 1987; Lester et al., 1989; Robertson, 1993; Abramovitch und Lange, 1994; Watson, 1994; Rudge, 1998). Aus relationalistischer Sicht enthält diese Festlegung ein Modell des analytischen Prozesses, das nähere Beachtung verdient. Zweifellos ist an der Traumproduktion immer auch ein Moment von Abwehrspannung beteiligt (Hamburger, 1998). Dies ist jedoch nicht spezifisch für Gegenübertragungsträume, sondern gilt für Träume schlechthin. Es ist wohl klinisch sinnvoller, den Gegenübertragungstraum nicht weitab vom gewöhnlichen Traum zu verorten und lediglich seine Beziehung auf ein mit einer Analyse verbundenes Übertragungsfeld als Kriterium gelten zu lassen. Einige Untersuchungen gehen ebenfalls von dieser weiteren Definition aus: In einer Fallstudie aus dem Jahr 1994 präsentierten Abramovitch und Lange einen »syntonen« Gegenübertragungstraum, der nicht von unbewusster Abwehr geprägt war, sondern die unbewusste Einstellung der Therapeutin auf ihre analytische Aufgabe zum Ausdruck brachte. Ob der Traum, der unmittelbar vor der ersten Sitzung geträumt wurde und vom Verschwinden der eigenen Praxis handelte, wirklich so konfliktfrei ist, kann jedoch aus der vorgetragenen Analyse nicht abschließend beurteilt werden. Pollack-Gomolin (2002) beschreibt den Gegen-

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übertragungstraum nicht als Indikator einer problematischen Situation oder Behandlungskrise, sondern als Anzeichen gelingender unbewusster Kommunikation. Brown (2007) vertritt die Auffassung, der Gegenübertragungstraum sei Indikator eines Durcharbeitens der projektiven Identifikationen des Patienten und diene daher der Kontaktaufnahme auf einer tief unbewussten Ebene (vgl. auch Sedlack 1997). Neueste Beiträge zum Thema in hochrangigen psychoanalytischen Journalen weisen darauf hin, dass das Thema des Gegenübertragungstraums die analytische Community aktuell beschäftigt. Susann Heenen-Wolff (2008) beschreibt einen eigenen Gegenübertragungstraum als Container eines bewusst nicht wahrgenommenen Affekts. Bonaminio (2008) betrachtet in Fortsetzung der oben bereits skizzierten Position Winnicotts die analytische Arbeit primär als Analyse der eigenen Beteiligung des Analytikers am Prozess. Er verdeutlicht dies am Beispiel einer Analyse, in der er zunächst von seiner eigenen Interpretationsbereitschaft Abstand gewinnen musste, um dem archaischen Material des Patienten mehr Raum zu gewähren. In dieser Situation zeigt ihm ein Traum während einer Ferientrennung den eingefrorenen Körper des Patienten; er wärmt ihn und bringt ihn ins Leben zurück (Bonaminio, 2008, S.  1123 f.). Bonaminio beschreibt diesen Traum als Wendepunkt der Analyse, als »Heilung« des Analytikers von der Widerstandskrankheit gegen den Patienten. Insgesamt ist Bonaminios Umgang mit dem Gegenübertragungstraum eher von der Kontakt- als von der Störungshypothese geprägt.

Ein Traum in Beziehung Der Gegenübertragungstraum kann also nach der hier vertretenen Auffassung latent auf Patienten bezogen sein und muss keine Störung der therapeutischen Beziehung indizieren. In einer früheren Arbeit über die zeit- und spannungsdramaturgischen Aspekte der Traumerzählung (Hamburger, 2006b) habe ich unter anderem einen Gegenübertragungstraum vorgestellt, der beide Bedingungen erfüllt. Es ging in der Analyse des schwer depressiven Herrn B. immer wieder um die Frage der emotionalen Resonanz: Welche Antwort

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kann der Patient (in der Regression: das Kind) beim Analytiker (in der Übertragung in dieser Phase: die frühe Mutter) auslösen, wie steht diese Antwort in zeitlichem Zusammenhang mit den Signalen des Patienten. Das Thema spielte sich in der Welt der Eisenbahnen ab – eine Welt, die Herrn B. schon seit der Kindheit fasziniert und die er bereits im Initialtraum als Paradigma der Analyse eingeführt hatte. In einem bewegenden, fast gestammelten Traum war ein kniffliges Eisenbahnspiel plötzlich zur überwältigend bedrohlichen Wirklichkeit geworden – das hatte eine starke Übertragungsintrusion bewirkt und hatte entscheidenden Einfluss auf die Wahl des analytischen Settings (vgl. Hamburger 2006b). In der Phase der Analyse, über die nun berichtet werden soll, hatten sich regressive Wünsche an die frühe Mutter gemeldet, es ging um Spannung und Entspannung, Stillen, Timing und Kontrolle – und damit auch um die Depression. In einer dieser Sitzungen verfiel ich in einen Tagtraum. »Ich wurde von bleierner Müdigkeit befallen und plötzlich stand mir ein Bild vor Augen: Eine Fahne auf dem Maximilianeum, die man auf Knopfdruck mechanisch wechseln kann. Eine Computersimulation?« (Hamburger, 2006b, S. 38). Ob ein solches »hypnagogisches Bild« zu den Gegenübertragungsträumen zählt, könnte bezweifelt werden. Es war aber durch die unmittelbare Einbettung in die analytische Situation mit dem laufenden Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen verknüpft und führte in der Selbstanalyse zu einem Traum. Das Maximilianeum in München (Sitz des Bayerischen Landtags und unweit meiner Praxis gelegen) ist mit persönlichen Kindheitserinnerungen verbunden. Der kreisförmige, ummauerte Park des neugotischen Prachtbaus im Münchner »Maximilianstil« ist auf beiden Seiten von einer leicht abschüssigen Straßenkurve umgeben, auf deren Innenseite, entlang den hohen Quadermauern, die Straßenbahn fuhr, die mich jeden Tag zur Schule brachte. An diese Straßenbahnfahrt knüpft meine Erinnerung an: Als Kind stand ich gern hinter dem Trambahnfahrer und sah ihm zu, wie er mit dem langen, rasselnden Hebel die Elektromotoren summen und jaulen ließ, deren Geräusch ich perfekt nachahmen konnte, unterbrochen vom schroffen Klirren der Fußklingel. Und einmal hatte ich einen glücklichen Traum: Ich fuhr selbst die Trambahn vom Maximilianeum über die Isarbrücke, im vollen Bewusstsein: Ich kann es (Hamburger, 2006b, S. 38).

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Ich war also an ein inneres Bild geraten, das zu der Erinnerung an einen eigenen, signifikanten Traum führte, der mit einem starken Gefühl von plötzlicher Lösung verbunden war. »While listening to your dream, I had a dream« nennt Donald Meltzer (1984/1988, S. 90) diese Art einer inneren Antwort im Kontakt mit dem Unbewussten des Patienten. Mein Antworttraum war nicht durch einen Traum des Patienten ausgelöst, sondern durch die Stunde selbst: ein szenisches Angebot des Analysanden, an dem ich unbewusst teilhatte. Kern dieser Szene war die Abspaltung regressiver, zärtlicher Wünsche. Sie mussten abgespalten werden, weil sie zu eng verlötet waren mit der depressiven Erstarrung. Ein Moment von Spaltung ist auch in meinem GegenübertragungsTraumbild inkorporiert: »auf Knopfdruck mechanisch wechseln« und »Computersimulation« sind Hinweise auf unterschiedliche Methoden der Affektregulierung: mechanisch-instrumentell die eine, als könne »auf Knopfdruck« ein Zustand bewirkt werden, narzisstisch-halluzinatorisch die andere, die sich vom Geschehen als einer »Computersimulation« distanziert. Diese dissoziativen Aspekte sind es wohl auch gewesen, die mich zu der Müdigkeitsreaktion veranlasst hatten, die erst das Erscheinen des Traumbildes möglich machte. Die Möglichkeiten zur Dissoziation in dieser Szene liegen sowohl in mir – sonst könnte ich so nicht reagieren – als auch im Patienten und seinem szenischen Angebot – sonst würde ich so nicht reagieren. Die aufkommende regressive Verschmelzung mit bedrohlichen inneren Objekten löste konkordant Angst in mir aus und eröffnete zugleich die Möglichkeit, aufs Knöpfchen zu drücken, um »in Anknüpfung an den Initialtraum des Patienten den Weg aus meiner Beklemmung noch einmal zu gehen und die Regression mit dem Patienten zulassen zu können« (Hamburger, 2006b, S. 38). Das Beispiel des in die Stunde einschießenden hypnagogen Traumsplitters zeigt den durch innere Bezüge hergestellten Zusammenhang eines Traums des Analytikers mit dem Patienten, in dem manifest der Patient nicht vorkommt – wohl aber die emotionale Bewegung, die die Zusammenarbeit mit ihm im Analytiker auslöst.

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Der Umgang mit Gegenübertragungsträumen in der analytischen Technik Wie kann nun diese Art der träumenden Selbstbegegnung für die Analyse nutzbar gemacht werden? Bis auf wenige Ausnahmen herrscht in der Literatur die selbstanalytische Bearbeitung des Gegenübertragungstraums vor (vgl. Spangler et al., 2009). Tauber und Green (1959) empfahlen aus ihrer interpersonellen Sicht grundsätzlich die Mitteilung von Gegenübertragungsträumen. In ihrem frühen interpersonell orientierten Werk »Prelogical experience« behandeln sie Gegenübertragungsträume als Anzeichen einer in Phasen der Stagnation auftretenden Bemühung des Analytikers, mit dem Patienten in Kontakt zu kommen (vgl. auch Watson, 1994). Benedetti (1999, S.  101) weist darauf hin, dass bei psychotischen Patienten die Träume des Therapeuten nicht als »bloße Gegenübertragungsträume im üblichen Sinne« aufzufassen seien, sondern als Ausdruck einer »positivierenden Teilsymmetrie«, einer Begegnung mit dem »Übergangssubjekt« des psychotischen Patienten, das der Überwindung seiner symbiotischen Verschmelzung und der Etablierung stabiler Ich-Grenzen diene. Dieses Konzept hat durchaus Ähnlichkeiten mit der relationalistischen Auffassung der Gegenübertragung, die hier vertreten werden soll – allerdings ohne die Beschränkung auf Psychosen. Während es nach Benedetti die »übliche« Auffassung des Gegenübertragungstraums sei, dass »frühere Probleme des Therapeuten durch die Auseinandersetzungen mit den Patienten stimuliert werden« (Benedetti, 1999, S. 101), scheint mir die für die psychotische Patient-Therapeut-Dyade angenommene systemische Ergänzung auch den Regelfall zu prägen. Benedettis Unterteilung folgt dagegen eher einem kausalen als einem systemischen Verständnis der Gegenübertragung. Der Therapeut wird – jedenfalls im Regelfall – als das empfangende Organ gesehen, in dem zwar etwas »Früheres« bereitliegt, doch wird dies Frühere durch den Patienten »stimuliert«. Nur für den Sonderfall der psychotischen Interaktion wird die Aktivität des träumenden Therapeuten als Teil des unbewussten Prozesses selbst charakterisiert. Ich würde diese Auffassung des Unbewussten als eines interak-

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tiven Prozesses gern auch für den »Normalfall« der analytischen Beziehung reklamieren. Sie tritt überall da zutage, wo zwei oder mehrere Beteiligte sich einer primärprozesshaften Verbundenheit aussetzen – sei es in der Paarbeziehung (vgl. Hamburger, 1995; 2000) oder eben im psychoanalytischen Prozess. Die von wenigen Autoren vorgeschlagene Mitteilung der Gegenübertragungsträume an den Patienten (Tauber und Green, 1959, Watson, 1994) scheint mir, jedenfalls im Grundsatz, eine Verletzung der Rahmenvereinbarung. Die Selbstanalyse des Analytikers in der analytischen Dyade dient letztlich der Aufdeckung des Unbewussten des Patienten; dies ist die notwendige und vereinbarte Asymmetrie der Beziehung, die sich auf der anderen Seite in der Asymmetrie der Bezahlung ausdrückt. Eine »mutuelle Traumanalyse« stellt diese Vereinbarung in Frage und kehrt die Deutungsrelation um. Es ist die Aufgabe des Analytikers, seine Teilhabe an der unbewussten Interaktion selbstanalytisch zu nutzen und dementsprechend auch seine Träume zu deuten – im Dienst der Analyse des Patienten. Wenn die Versuchung wächst, die Analyse des Patienten umzukehren und sie als Container für eine Selbstanalyse zu nutzen, wird er vielleicht, um mit Winnicott (1949/ dt. 1976) zu sprechen, »das Gefühl (haben), schlechte Arbeit zu leisten« – und kann dann begreifen, dass nicht nur Träumen, sondern auch der Drang zum Agieren ein Ausdruck von Gegenübertragung ist, den es zu verstehen gilt.

Literatur Abramovitch, H., Lange, T. (1994). Dreaming about my patient: A case illustration of a therapist’s initial dream. Dreaming, 4, 105–113. Altman, L. (1992). Praxis der Traumdeutung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Altmeyer, M., Thomä, H. (Hrsg.) (2006). Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta. Angel, E. (1979). The resolution of a countertransference through a dream of the analyst. Psychoanalytic Review, 66, 9–17. Anzieu, D. (1990). Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse. 2 Bände. (3. Auflage). München, Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse. Aron, L., Harris, A. (2006). In Beziehungen denken – in Beziehungen handeln.

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Günther Bittner

Der Gegenübertragungstraum – oder: Das Ping-Pong-Spiel der beiderseitigen Unbewussten

In einem Brief an Freud hatte Lou Andreas-Salomé wegen des ihr unverständlichen Stillstands einer Analyse um Rat gefragt. Freud antwortete: »Was man nicht deklinieren kann, das sehe man als – Übertragung an« (Freud und Andreas-Salomé, 1966/1980, S. 133, Brief vom 23.3.1923). Er variiert damit die alte Grammatikregel: Was man nicht deklinieren kann, das sehe man als ein Neutrum an. Es handelt sich um keine feste grammatische Gesetzmäßigkeit wie »Alle Substantiva mit der Endung -um sind Neutra«, sondern um eine mehr pragmatische Regel zum Einsortieren. Diese Äußerung mag belegen, wie Freud die Übertragung auffasste: nicht als etwas faktisch Gegebenes, sondern als etwas zu Unterstellendes und – vor allem modischen Konstruktivismus – in der Analyse zu »Konstruierendes« (vgl. Freud, 1937d). Es ist nützlich, sich immer wieder Stellen wie diese in Freuds Schriften vor Augen zu halten, um nicht dem verbreiteten trügerischen Begriffsrealismus zu verfallen: Wenn es das Wort gibt (Übertragung, Ödipuskomplex oder was auch immer), dann gibt es auch den damit bezeichneten Sachverhalt. Was Freud für die Übertragung andeutet, will ich im Folgenden im Hinblick auf die Gegenübertragung erörtern. Ursprünglich eingeführt als ein Sammeltopf für alles Mögliche in der Analyse Störende (vor allem: die Anfälligkeit der Analytiker für erotische Verwicklungen), als eine Restkategorie für alles das, was man »nicht deklinieren kann«, entwickelte sie sich mit der Zeit zu einem Systemelement der Analyse, einer Entität von beachtlicher dinglicher Kompaktheit, die zu »dekonstruieren« ich mir hier vorgenommen habe. Der Gegenübertragungstraum ist als

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empirisches Ausgangsmaterial dieser Dekonstruktion besonders geeignet. Ein Analytiker träumt wie andere Menschen manchmal von seinem Beruf, d. h. vor allem von seinen Patienten; ebenso verweisen seine Assoziationen manchmal auf etwas mit einem Patienten Erlebtes oder in Beziehung Stehendes, ohne dass dieser Patient im Traumtext manifest in Erscheinung treten müsste. Sodann bewegen sich Traumtext und Assoziationen wieder in ganz andere, persönlichere Richtungen. Träume und Assoziationen laufen kreuz und quer, hierhin und dorthin. Träume haben sozusagen ihren eigenen Willen; sie halten sich an keine behandlungstechnische Systematik. Gegenübertragungsträume als abgrenzbare Entitäten, will ich deshalb hier vertreten, gibt es nicht. Allenfalls unter behandlungspraktischen Aspekten kann man, unter Absehung von allen sonstigen Bezügen, von solchen sprechen. Die nachfolgenden Überlegungen werden sich, diesem Programm der Dekonstruktion des Gegenübertragungsbegriffs mit Hilfe des sog. Gegenübertragungstraums entsprechend, in zwei Schritten entwickeln. − Entstehungsgeschichte, Bedeutungswandel und heutige semantische Unschärfe eines zeitweise zentralen Begriffs der psychoanalytischen Behandlungslehre sollen vergegenwärtigt und kritisch kommentiert werden. − Anhand fremder und eigener Traumbeispiele soll belegt werden, dass die Separation von gegenübertragungsbezogenen und persönlichen Anteilen in Träumen und Assoziationen nicht durchführbar ist und dass »Gegenübertragung« sich damit allenfalls als ein abkürzender Verständigungsbegriff für den psychoanalytisch-behandlungstechnischen Hausgebrauch, aber keineswegs als ein explanatives Konzept erweist.

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Die Gegenübertragung – Realität oder behandlungstechnisches Konstrukt? Sigmund Freud: die »Gegenübertragung« – meist in Anführungsstrichen Die früheste mir bekannte Erwähnung des Begriffs im Juni 1909 im Freud-Jung-Briefwechsel steht im Zusammenhang mit Jungs Spielrein-Verstrickung, die Freud zu Ohren gekommen ist. Er sagt Jung zum Trost: »Man wird der ›Gegenübertragung‹ Herr, in die man doch jedesmal versetzt wird« (Freud und Jung, 1974, S.  255). Auffallend ist hier, dass »Gegenübertragung« in Anführungsstrichen gesetzt ist, die entweder besagen, dass Freud hier einen Begriff, der nicht von ihm selbst stammt, übernimmt, oder andeuten, dass es sich um einen noch nicht eingeführten »uneigentlichen« Begriff handelt (nach allem, was wir wissen, ist das Letztere der Fall). Eine Erwähnung zwei Jahre später enthält Freuds Absicht, über diese »Gegenübertragung« (wieder in Anführung) einen Aufsatz zu schreiben, der aber nur »in Abschriften zirkulieren« dürfe (1974, S. 527). Die witzigste dieser Erwähnungen im Briefwechsel ist die folgende: Jung hatte sich über Eifersuchtsszenen seiner Frau (vermutlich wiederum im Zusammenhang mit Sabina Spielrein) beklagt und den Stoßseufzer hinzugefügt: »Die Analyse der eigenen Ehefrau gehört zum Schwierigern« (S.  318). Freud antwortet: »Die Analyse der eigenen Frau hätte ich für durchaus unmöglich gehalten […]. Die technische Vorschrift, die mir neuerdings ahnt, ›die Überwindung der Gegenübertragung‹, wird einem in diesem Falle doch zu schwer« (S. 320). Aus dieser Äußerung Freuds lässt sich festhalten: − Es handelt sich bei der Gegenübertragung um etwas, das Freud »neuerdings ahnt«: Der Gedanke ist neu und hat noch keine festere Gestalt angenommen. − Dieser noch undeutliche Gedanke hat den Charakter einer »technischen Vorschrift«: Die Gegenübertragung wird als eine zu überwindende persönliche Voreingenommenheit des Analytikers angesehen. − Es ist noch keine Rede davon, die Gegenübertragung systematisch zu begründen, z. B. sie als notwendige Reaktion des Ana-

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lytikers auf die Übertragung des Patienten abzuleiten, wie dies später geschah (z. B. Racker, 1978). Diese Entstehungsgeschichte eines Begriffs, der später einmal die psychoanalytische Welt erobern sollte, ist lehrreich, um das Auftauchen und die Etablierung psychoanalytischer Begriffe generell zu verstehen. Am Anfang steht oft ein momentaner, mehr spielerischer bzw. »kasuistischer« (vgl. Freud und Jung, 1974, S.  303) Einfall, der in der Folge zu einem Begriff mit allgemeinem Geltungsanspruch gerinnt und als solcher eine doppelte Eigendynamik gewinnt: − Alles, wofür es eine Bezeichnung gibt, tendiert dazu, als real existierend genommen zu werden. − Der Begriff wird mit wechselnden Inhalten gefüllt, für die der weiterhin benutzte Begriff eine Identität vortäuscht, die tatsächlich nicht gegeben ist. In seinen Publikationen hat Freud den Begriff nach Ausweis des Gesamtregisters insgesamt nur viermal verwendet. Die wichtigste, immer wieder zitierte Stelle stammt aus dem Nürnberger Kongressvortrag von 1910, steht also im unmittelbaren zeitlichen Kontext der zitierten Stellen aus dem Briefwechsel mit Jung: »Wir sind auf die ›Gegenübertragung‹ aufmerksam geworden, die sich beim Arzt durch den Einfluß des Patienten auf das unbewußte Fühlen des Arztes einstellt, und sind nicht weit davon entfernt, die Forderung zu erheben, daß der Arzt diese Gegenübertragung bei sich erkennen und bewältigen müsse« (Freud, 1910d, S.  108). Diesem Ziel solle die Selbstanalyse des angehenden Analytikers dienen, die Freud in diesem Kontext erstmals fordert (S. 108). Zwei weitere Erwähnungen enthält der Aufsatz »Bemerkungen über die Übertragungsliebe« (Freud, 1915a), der wohl die seinerzeit angekündigte Abhandlung ersetzen sollte. Hier schärft er lediglich die notwendige »Indifferenz« ein, die man sich »durch die Niederhaltung der Gegenübertragung« (1915a, S.  313) (jetzt erstmals ohne Anführungsstriche) erworben haben sollte. In den »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1916/1917a, S. 456 f.) kommt er noch einmal auf das Phänomen zu sprechen, ohne allerdings den Begriff zu gebrauchen.

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Man sieht – schon an der Vielzahl der verwendeten Anführungsstriche –, dass Freud den Begriff sozusagen mit spitzen Fingern anfasste, einerseits weil es sich in seinen Augen um eine unerfreuliche Sache handelte, anderseits aber vielleicht doch auch, weil er das Unbestimmte und Irreführende dieser allzu raschen Konstruktion eines sozusagen spiegelbildlichen Pendants zur Übertragung des Patienten durchschaute.

C. G. Jung: das »Affiziertsein« vom Patienten Der Gedankenaustausch mit C.  G. Jung scheint an der Entwicklung des Gegenübertragungsbegriffs maßgeblich beteiligt gewesen zu sein, wie die zitierten Briefstellen belegen. Dennoch haben Jungs Ideen zu diesem Thema recht bald eine andere Richtung eingeschlagen. In der noch relativ frühen Schrift »Die Probleme der modernen Psychotherapie« heißt es: In der Psychotherapie nehme der Arzt »Einfluß auf den Patienten. Dieser Einfluß kann aber nur stattfinden, wenn auch er vom Patienten affiziert ist. Einfluß haben ist synonym mit Affiziertsein« (Jung, 1929, S.  77). Was Freud Übertragung und Gegenübertragung nennt, wird bei Jung somit in einem ersten Schritt bestimmt als ein wechselseitiges Affiziertsein. Dies ist, zweitens, mit einer »Übertragung« spezifischerer Art verbunden: Der Patient »überträgt« seine Krankheit auf den Arzt, was mehr beinhaltet als die psychoanalytische »Übertragungsneurose«: Der Patient dringt in den Arzt ein und bewirkt »jene wohl vielen Psychotherapeuten bekannten recht eigentlichen professionellen seelischen Störungen oder sogar Schädigungen […], die man wohl nicht anders formulieren kann als durch die alte Idee der Übertragung einer Krankheit auf einen Gesunden, der dann mit seiner Gesundheit den Krankheitsdämon bezwingen muß, und dies nicht ohne negativen Einfluß auf das eigene Wohlbefinden« (S. 77). Drittens trifft diese Übertragung im Arzt auf einen seinerseits leidenden Menschen, wie Jung an anderer Stelle schreibt: »Als Arzt muß ich mich immer fragen, was mir der Patient für eine Botschaft bringt. Was bedeutet er für mich? Wenn er nichts für mich bedeu-

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tet, habe ich keinen Angriffspunkt. Nur wo der Arzt selber getroffen ist, wirkt er. ›Nur der Verwundete heilt!‹« (Jung, 1961/1967, S. 139). Und viertens: Der analytische Prozess geht beide an: »Das Zusammentreffen von zwei Persönlichkeiten ist wie die Mischung zweier verschiedener chemischer Körper: tritt eine Verbindung überhaupt ein, so sind beide gewandelt« (Jung, 1929, S. 77). Dieser letztgenannte Gedanke – mitsamt seiner chemischalchemistischen Metapher – wird später ausgeführt in Jungs großer, kryptischer Spätschrift »Die Psychologie der Übertragung« (1946) mit dem Untertitel »erläutert anhand einer alchemistischen Bilderserie«, die er beziehungsvoll seiner Frau widmet. In der Vorrede nimmt er das Erstaunen des Lesers vorweg, der sich vielleicht durch die alchemistische Bilderwelt befremdet fühlen könnte. Er meint, dass die richtige Erkenntnis eines Problems zeitgenössischer Psychologie nur möglich sei, »wenn es uns gelingt, einen Punkt außerhalb unserer Zeit aufzufinden, von welchem aus wir dasselbe betrachten können« (1946, S. 176). Zum Abschluss warnt er schließlich noch davor, die in der alchemistischen Bilderfolge gezeigten Schritte und Stufen (Conjunctio, Tod, Wiederkehr der Seele, Neue Geburt usw.) als feststehendes Schema zu nehmen. Jung verweist zwar zustimmend auf Freuds Gegenübertragungsbegriff, macht ihn sich aber nicht vorbehaltlos zu eigen. Vielmehr will er zeigen, dass es mit den von Freud beschriebenen Erscheinungen eine andere Bewandtnis habe: Übertragung bzw. Gegenübertragung sei kein Produkt der analytischen Situation bzw. Technik, sondern »ein ganz natürliches Phänomen, das […] dem Lehrer, dem Pfarrer, dem somatisch behandelnden Arzt und – last not least – dem Ehemann zustoßen kann« (1946, S. 183, Fußn. 16). Diese Prozesse sind bei Jung viel schicksalhaft unausweichlicher aufgefasst als in der klassischen Psychoanalyse: Der Analytiker wird real affiziert und angesteckt durch die Krankheit des Patienten; auch die Forderung Freuds, der Analytiker müsse seine Gegenübertragung »erkennen und überwinden«, wäre in Jungs Sicht kaum erfüllbar.

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Die Neubewertung der Gegenübertragung: »Vom Aschenputtel zur strahlenden Prinzessin« (Heimann; Thomä und Kächele) Aber zurück zum psychoanalytischen Mainstream. Die Metamorphose der Gegenübertragung lassen Thomä und Kächele (1985) – nach einigen Vorläufern wie Ferenczi, Deutsch usw. – mit Paula Heimanns Genfer Kongressvortrag »On Countertransference« (1950, dt. 1996) beginnen. Der Analytiker soll ja nach dieser neueren Auffassung nicht mehr der unbeteiligte Spiegel sein, der »nur zurückwirft, was ihm gezeigt wird«, oder der gefühlskalte Chirurg, wie Freuds bekannte Metaphern hießen, sondern er soll als lebendiger und fühlender Mensch präsent sein, dessen subjektive Anmutungen und Wahrnehmungen einen Erkenntniswert beanspruchen dürfen. Heimann stellt die These auf, »dass die unmittelbare, emotionale Antwort des Analytikers auf seinen Patienten ein wichtiger Hinweis für die unbewussten Vorgänge des Patienten ist« (1996, S. 183). Wenig später spitzt sie die These dahingehend zu, dass »die Gegenübertragung des Analytikers nicht nur wesentlicher Bestandteil der analytischen Beziehung ist, sondern sie ist die Schöpfung des Patienten, sie ist Teil der Persönlichkeit des Patienten« (1996, S. 183). Diese Übertreibung soll sie später revoziert haben (Thomä und Kächele, 1985, S. 87), nicht jedoch die nachfolgende Passage: »Wenn der Analytiker in seiner eigenen Analyse seine infantilen Konflikte und Ängste, paranoide und depressive, durchgearbeitet hat, dann kann er leicht [!] den Kontakt zu seinem eigenen Unbewussten herstellen. Er wird dann nicht dem Patienten zuschreiben, was zu ihm selbst gehört« (Heimann, 1996, S. 183). In einer ihrer letzten Arbeiten hat Heimann am Beispiel der temperamentvollen Bemerkung, die sie einer jungen Patientin gegenüber machte (sie »schaudere, wenn eine 15jährige das geistige Kaliber einer 70jährigen hat«, zit. nach Thomä und Kächele, S. 100), die Trennung zwischen patientenbezogenen und privaten Gefühlen bekräftigt: Sie sei »dagegen, dass ein Analytiker seinem Patienten seine Gefühle mitteilt und Einblicke in sein Privatleben gibt« (Heimann, 1996, S. 100). Beim Nachdenken über ihre Intervention habe sie aber erkannt, dass diese Bemerkung »in Wirklich-

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keit nichts über mein Privatleben enthüllt« (S. 100), d. h. also, dass dies Gefühle seien, die zur Situation mit der Patientin gehörten und insofern legitimerweise mitgeteilt werden konnten. Ob auch »private« Gefühle mitgeteilt werden sollen oder nicht, ist hier nicht zu erörtern (vgl. Bittner, 2007). Hier geht es allein um die Frage, ob eine solche Unterscheidung von »privat« und »zur Situation gehörig« überhaupt möglich ist. Schwer vorstellbar, dass Heimann, hätte man sie befragen können, zu ihrer Intervention nicht doch auch private Erfahrungen mit 15- bzw. 70-Jährigen eingefallen wären. Wenn sie sagen würde, sie teile der Patientin nur die situativ bezogenen Aspekte ihrer Gefühlsregung mit, wäre wenig dagegen einzuwenden. Aber so, wie sie ihren Standpunkt vorträgt, konstruiert sie statt zweier Aspekte zwei unterscheidbare seelische Wirklichkeiten: eine situationsbezogene und eine »private«. Leider sind ihr viele Analytiker darin gefolgt. Der fast gleichzeitig (sogar etwas früher) erschienene Aufsatz von Winnicott (1949) verzichtet darauf, zwei derartige »Gefühlsrealitäten« zu konstruieren. Für ihn ist die Patientenbezogenheit der Gegenübertragungsreaktion eher ein behandlungstechnisch begründetes Konstrukt als eine psychologische Tatsache. In einem späteren Brief erläutert er noch einmal sein Anliegen: Jede Mutter sei (auch) eine versagende Mutter, ebenso der reale Analytiker. Sein Versagen nehme »merkwürdigerweise« meistens die Form des Versagens der primären Umwelt des Patienten an. »Mit anderen Worten, wenn wir gegenüber dem Patienten versagen, können wir uns mit der eigenen unbewußten Gegenübertragung befassen, mit den eigenen Hemmungen oder Zwängen, und so selbstkritisch sein, wie wir wollen, aber im Hinblick auf den Patienten müssen wir imstande sein, das Versagen als etwas anzusehen, zu dessen besonderer Form uns der Patient befähig hat, um das ursprüngliche Umweltversagen in den gegenwärtigen Augenblick hineinzubringen« (Winnicott, 1995, S. 74). »Gegenübertragung« wird demnach auch bei Winnicott als eine Schöpfung des Patienten gesehen; freilich nicht real, sondern im Sinn einer behandlungstechnischen Setzung: Alle die persönlichen Verknüpfungen auf Seiten des Analytikers behalten ihr Recht, aber für die Zwecke der Behandlung »sehen wir« das Versagen des Analytikers »als etwas an«, das durch den Patienten ausgelöst ist.

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Winnicott ist hier bis in die »konstruktivistische« Wortwahl hinein nahe bei Freud: »Was man nicht deklinieren kann […]«. An den beiden Aufsätzen von Winnicott und Heimann lassen sich die Weichenstellungen zwischen den beiden Richtungen ablesen, welche die psychoanalytischen Auffassungen der Gegenübertragung genommen haben bzw. hätten nehmen können. Faktisch ist die Psychoanalyse den Auffassungen von Heimann gefolgt: die Gegenübertragung als eine Manifestation, die der Analytiker als gegeben registrieren und sogar mit Hilfe seiner analytischen Kompetenz von anderen innerpsychischen Gegebenheiten (d. h. der eigenen »Übertragung«) genau unterscheiden kann. Winnicott hat die Verflechtung von Eigenem und Reaktion auf den Patienten – z. B. in seinem weiter unten zu kommentierenden »Gegenübertragungstraum« – differenzierter gesehen. Seine Sicht hat sich freilich gegen die plakativere von Heimann nicht durchsetzen können.1 Die neuere Diskussion hat sich – angesichts des ÜbertragungsBooms – daran gewöhnt, den Begriff als Ausdruck eines existierenden Sachverhalts und nicht mehr, wie bei Winnicott, als behandlungstechnische Setzung zu nehmen. Wie weit diese reifizierende Betrachtung inzwischen fortgeschritten ist, kann man z. B. in Mertens’ Überblicksreferat (Mertens, 1993, S.  44  ff.) verfolgen, gerade auch im Hinblick auf die sog. »Gegenübertragungsträume« (S. 56 ff.), die aufgrund ihres manifesten Inhalts klassifizierbar und sogar geschlechtsspezifisch attribuierbar scheinen. Kein Wunder, dass Winnicott mitsamt seinem »Gegenübertragungstraum« in dieser objektivistischen Perspektive nicht einmal mehr Erwähnung findet.

1 Etwas verwirrend ist ein Diskussionsbeitrag von Winnicott zu einem Symposion über Gegenübertragung (1960), auf den ich erst nach Abschluss dieses Manuskripts stieß. Wichtig scheint mir darin – seine Warnung, den Begriff zu sehr auszuweiten; – seine eigentliche Problemerörterung: In welchen Konstellationen geschieht es, dass der Analytiker die neutrale ärztliche Haltung aufgibt/aufgeben muss, so dass der Patient ein »klein wenig« von dessen realem Ich »erwischt« (vgl. S. 216)?; – seine Abgrenzung von und doch wieder Zustimmung zu Jung via Fordham.

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Verstehen: ein »Wiederfinden des Ich im Du« (Dilthey) Was Winnicott in seinem letztgenannten Beitrag anspricht – das ist die Frage, die mich in den mehr als vierzig Jahren meines Analytikerdaseins immer wieder beschäftigt hat: Wie weit darf ich als Analytiker real anwesend und »ich selbst« sein? Wie viel darf der Patient, nach Winnicotts Worten, von meinem »realen Ich erwischen«? Wie weit darf mein ungeschöntes, konfliktbelastetes Unbewusstes mit dem des Patienten in Wechselwirkung treten? Vor Jahren habe ich eine Antwort versucht (Bittner, 1992, 1993), die sich auf die geisteswissenschaftliche Verstehenstheorie von Dilthey gründete: Verstehen sei ein »Wiederfinden des Ich im Du«, d. h., das Verstehen des anderen taste sich an den Punkten entlang, die ich von mir selbst kenne. »Dasjenige an einem fremden Seelenleben, was von diesem eigenen Innern […] sich unterscheidet, kann von uns schlechterdings nicht positiv ergänzt werden. Wir können in einem solchen Fall sagen, daß ein uns Fremdes hinzutritt, wir sind aber nicht imstande zu sagen, was dieses sei« (Dilthey, 1894/1961, S. 199). Das würde konkret auf die psychoanalytische Behandlungssituation angewandt bedeuten: Die neurotischen Ängste des Patienten kann ich nur auf dem Hintergrund meiner eigenen neurotischen Ängste verstehen. Insofern muss ich, wenn ich analysiere, immer in Fühlung mit meiner eigenen Neurose sein. Ich reagiere mit ihr auf die des Patienten. Wo beide sich berühren, wird Verstehen möglich im Sinne einer Horizontverschmelzung (Gadamer, 1960), was ins Klinische gewendet bedeutet: einer Verschmelzung der beiderseitigen Leidenshorizonte. Mit Jung gesprochen: »Nur der Verwundete heilt.« Erst wenn ich diesen Standpunkt einnehme, entfällt Freuds alte Forderung, die Gegenübertragung müsse überwunden werden, ebenso wie die kunstreiche Unterscheidung von Gegenübertragung als Reaktion auf die Übertragung des Patienten und unerwünschter »eigener Übertragung«, auf der die neuere Gegenübertragungseuphorie beruht. Aufgrund meines eigenen Leidens an unerfülltem Leben kann ich solidarisch denken und fühlen mit dem unerfüllten Leben, das mir in der Sprechstunde begegnet. Die Annahme einer besonderen »Gegenübertragung« ist nicht erforderlich; die »neurotische« Eigenübertragung ist die

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wahre und eigentliche Gegenübertragung; es gibt keine dysfunktionalen zu eliminierenden Anteile. Was natürlich, wiederum Winnicott folgend, nicht bedeuten kann, diese neurotischen Eigenanteile in den Behandlungen beliebig auszustreuen. Hier schützt erst einmal die professionelle Rolle, wenigstens teilweise. Zugleich aber bleibt es notwendig, dass der Patient in jeder Analyse ein Stück von meinem »realen Ich« erwischen darf – sei es nun ein größeres oder ein kleineres. An die Diskussion dieses Dilemmas hat sich außer Winnicott noch niemand so richtig herangewagt.

»Gegenübertragungs«-Träume« Mit der zuletzt dargelegten Modellvorstellung im Hinterkopf will ich nun an die Sichtung einiger sog. »Gegenübertragungs«-Träume« herantreten. Es wird zu zeigen sein, dass diese Träume, insofern sie mich mit konflikthaften bzw. verwundeten eigenen Tiefenstrukturen in Verbindung bringen, zugleich an korrespondierende Verletzungen des Patienten rühren (und vice versa) – das Ping-Pong-Spiel der beiderseitigen Unbewussten.

Der reifizierte Gegenübertragungstraum (Zwiebel) In zwei Aufsätzen hat Zwiebel den Gegenübertragungstraum erörtert: »Der Analytiker träumt von seinem Patienten. Gibt es typische Gegenübertragungsträume?« (1977) und »Zur Dynamik des Gegenübertragungstraums« (1984). Im ersten Aufsatz berichtet er den eigenen Traum von einer depressiven Patientin im mittleren Lebensalter, die sexuellen Themen konstant auswich: »Die Patientin ist in der Therapiestunde. Diesmal untersuche ich sie aber gynäkologisch. Bei dem Eindringen mit dem Finger stelle ich überrascht fest, daß die Vagina ganz dick und verhornt ist. Außer dem Gefühl der Überraschung gibt es keine Gefühle in dem Traum« (Zwiebel, 1977, S. 45). Zwiebel fühlte sich zuerst beschämt, weil er einen sexuellen

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Wunsch bei sich vermutete, den er gerade bei dieser Patientin als befremdlich empfand. »Für kurze Zeit war ich daher bemüht, den Traum als mein eigenes Problem anzusehen […]«. Dann meinte er doch zu erkennen, dass es die Patientin war, die »unbewußt eine ›gynäkologische Untersuchung‹ wünschte, sich aber mit großen Ängsten diesem Eingriff auch immer wieder zu entziehen suchte« (1977, S. 45 f.). Die Patientin wurde unter dem Eindruck einer entsprechenden Deutung sexuell gelöster; es kam zu einer tragischen sexuellen Beziehung mit Schwangerschaft und Abtreibung, von der der Analytiker erst nachträglich erfuhr. Erst dann wurde ihm klar, dass der Traum »in einem tieferen Sinn« verstanden werden musste: dass die körperlich sexuellen Bilder eine »tiefergehende Kontaktstörung« zum Ausdruck brachten (1977, S. 48). Zur Diskussion: − Mir scheint, der Fehler liegt gleich am Anfang. Er fragt sich: Handelt der Traum von ihr oder von mir? Genau das ist die falsche Alternative. Zuerst denkt er, es gehe um ein eigenes Problem und sucht ihn deshalb (!) möglichst schnell zu vergessen. Dann entschließt er sich, ihn auf die Patientin bezogen zu sehen, versteht ihn zuerst sexuell und dann in einem »tieferen« Sinn. Er ist aber durch seine Theorie gehindert, die DiltheyPerspektive vom »Wiederfinden des Ich im Du« einzunehmen, d. h. den Punkt zu finden, wo sich evtl. sein und ihr Problem in irgendeiner Weise berühren. − Zwiebel behandelt den »Gegenübertragungstraum« als eine nicht weiter hinterfragbare Realität (d. h., er »reifiziert« ihn); geradezu lehrbuchmäßig unterscheidet er die drei Elemente in den Träumen des Analytikers von seinem Patienten: »1. Übertragungselemente, die der ›unendlichen Selbstanalyse‹ unterzogen werden müssen; 2. Gegenübertragungselemente, die als spezifische Reaktionen des Analytikers auf spezifische Qualitäten seines Patienten angesehen werden; 3. Elemente, die dem Analytiker Auskunft darüber geben, welche unbewusste Bedeutung für ihn das Analysieren und die analytische Situation hat« (1977, S. 55). Das dritte dieser Elemente vorläufig dahingestellt, erscheinen die Elemente 1 und 2 für ihn problemlos identifizierbar und separierbar. So ist dann auch die Analyse seines eigenen Traums von der Pa-

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tientin mit der verhornten Scheide angelegt. »Die Übertragungsaspekte möchte ich nicht näher besprechen« (S. 55). Da er die eigene Übertragung zur Privatsache erklärt, kommt man an dieser Stelle nicht weiter. In diesem Unterschlagen des Eigenen sehe ich Zwiebels Fehler. Die Gegen- und die Eigenübertragungselemente sind so eng miteinander verflochten, sind oft geradezu identisch, so dass die einen ohne die anderen nicht verstanden und gedeutet werden können. − Diskussionsbedürftig ist ferner die Annahme, dem Gegenübertragungstraum komme eine diagnostische und therapeutische Funktion zu; oder gar die spezifizierte Aussage des zweiten Aufsatzes, der Gegenübertragungstraum habe regelmäßig (!) den Verlust und die Restitution der analytischen Kompetenz zum Thema. Das klingt geradezu jungianisch: Der Traum verfolgt eine Art weiser Lenkungsabsicht. Aus meiner Sicht will der Traum nichts Bestimmtes »sagen«. Er ist nichts weiter als »Material«, das ich in den Kontext des bereits bekannten Materials stellen kann, wobei manche bis dahin weniger beachteten Zusammenhänge deutlicher zutage treten. − Warum sollen die Träume, die auf die Behandlung eines Patienten Bezug haben, ausgerechnet und ausschließlich jene sein, in denen dieser Patient leibhaftig vorkommt? Natürlich sind das die, in denen der Bezug auf den Patienten am leichtesten identifizierbar ist – aber wenn wir Freud folgen, auf oftmals irreführende Weise. Es gibt einen wenig bekannten späteren Zusatz zur »Traumdeutung«, worin Freud die Frage erörtert, ob man für den Inhalt seiner Träume die moralische Verantwortung übernehmen müsse. Natürlich muss man, sagt er, wen sollte man sonst dafür verantwortlich machen? Dann folgt eine Einschränkung, die auch für unser Problem relevant ist: »Wir wissen jetzt, der manifeste Traum ist ein Blendwerk, eine Fassade. […] Wenn vom ›Inhalt‹ des Traumes die Rede ist, kann man nur den Inhalt der vorbewussten Gedanken und den der verdrängten Wunschregungen meinen, die durch die Deutungsarbeit hinter der Traumfassade aufgedeckt werden« (Freud, 1925i, S. 565). Könnte womöglich auch der im manifesten Traum herumgeisternde Patient »ein Blendwerk, eine Fassade« sein, von der nur

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wenig Aufhebens zu machen ist? Wichtiger als der Patient, der im manifesten Traumtext vorkommt, wären dann die Assoziationen zu jedem beliebigen Thema, sofern sie auf den Patienten verweisen.

Der gehälftete Winnicott – Eigen- und/oder Gegenübertragung? Einer der bekanntesten »Gegenübertragungsträume« wurde von Winnicott in seinem Aufsatz »Haß in der Gegenübertragung« (1949/ dt. 1981) mitgeteilt. Winnicott berichtet dort: »Vor kurzer Zeit hatte ich ein paar Tage lang das Gefühl, schlechte Arbeit zu leisten. Bei jedem meiner Patienten machte ich Fehler. Die Schwierigkeit lag in mir selbst; sie war zum Teil persönlicher Art, hing aber hauptsächlich damit zusammen, daß ich in meiner Beziehung zu einer bestimmten psychotischen […] Patientin einen Höhepunkt erreicht hatte« (1949/ dt. 1983, S.  81). Dann verschwand die Schwierigkeit nach einem »heilenden Traum«, wie er schon öfter ähnliche gehabt habe, die »jedesmal meine Ankunft auf einer neuen Stufe der Gefühlsentwicklung bezeichneten« (S. 81 f.). Ich beschränke mich auf den zweiten Teil (in meinen Augen das Kernstück) dieses Traums, den Winnicott mit einer psychotischen Patientin Verbindung bringt: »Ich wusste plötzlich, daß mein Körper überhaupt keine rechte Seite hatte […]. Es war das Gefühl, jenen Teil des Körpers nicht zu haben« (1949/ dt. 1983, S.  81 f.). Die fragliche Patientin habe von ihm gefordert, »ich sollte überhaupt keine Beziehung zu ihrem Körper haben, nicht einmal in der Vorstellung […]. Wenn sie überhaupt existierte, konnte sie sich nur als einen denkenden Geist empfinden. Jede Bezugnahme auf ihren Körper rief paranoide Ängste hervor. […] Sie erhob Anspruch darauf, daß ich meinerseits auch nur einen Geist hatte, der zu dem ihren sprach« (S. 82 f.). Zwischendurch erwähnt er fast beiläufig den aktuellen Traumanlass: »Auf dem Höhepunkt meiner Schwierigkeiten am Abend vor dem Traum war ich ärgerlich geworden und hatte gesagt, was sie von mir brauche, sei nur wenig besser als Haarspalterei. Das hatte eine katastrophale Wirkung, und es dauerte viele Wochen, bis sich die Analyse von meinem Schnitzer erholte« (S. 83).

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Ich kommentiere: − Die Patientin kommt im manifesten Traum überhaupt nicht vor. Der Bezug wird auf einer anderen Ebene konstelliert: zum einen durch das Erlebnis vom Vorabend, zum anderen durch die Herstellung des inneren Bezugs »beim Aufwachen oder sogar schon vorher«. Die Bezugnahme läuft also nicht über die konkrete Person in der manifesten Traumerzählung, sondern über die gefühlte Verbindung zwischen dem mehr oder weniger latenten Traumgedanken und dem in der Stunde mit der Patientin Erlebten. Winnicott setzt gewissermaßen im Traum den Dialog vom Vorabend mit ihr fort und sagt zu ihr: Das kannst du nicht mit mir machen, dass du nur die eine Hälfte von mir zulässt und die andere abschneidest. − Winnicott nennt dies einen »heilenden« Traum. Wer wird hier geheilt, und wovon und auf welche Weise? Offenbar zunächst einmal er selbst, indem ihm seine Nicht-Ganzheit offenbar wird. Die Heilung der Patientin wird vermutlich noch längere Zeit in Anspruch genommen haben. Ein zwei Jahre später veröffentlichter Aufsatz liest sich so, als berichte er hier die Lösung, die er für ihren Konflikt gefunden habe: »Die Beziehung zwischen dem Geist und dem Leibseelischen«. Seine These dort lautet: »der Geist existiert nicht wirklich als Wesenheit« (1949/ dt. 1983, S. 165); er ist bei gesunder Entwicklung »nichts weiter als ein Sonderbereich des Leibseelischen« (S. 166). Auch in diesem Aufsatz geht es um eine Patientin, 47 Jahre alt, die in der Analyse eine tiefe Regression durchmachen musste, wodurch das »wahre Selbst« in die Lage versetzt wurde, fortan die Richtung der Entwicklung zu bestimmen (S.  174). Das Bedürfnis dieser Patientin war es, den Geburtsvorgang wiederzuerleben. Auf diese Weise eroberte sie sich ihren Körper: Sie nahm Veränderungen des Atems wahr, die Qualität des Saugens, das Erlebnis, dass der Kopf zusammengedrückt wird usw. »Manchmal bestand ein dringendes Bedürfnis, die geistigen Prozesse zu zerstören« (S. 178). »Ich nehme an, sie wäre jetzt bereit, die Psyche überall dort zu lokalisieren, wo das Soma lebendig ist« (S. 179). Auf dieselbe Patientin kommt er 1954 noch einmal zu sprechen; die Diagnose einer Psychose wird etwas relativiert (S. 185). Die einzige Deutung, die er gegeben habe, sei zwar richtig gewesen,

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aber sechs Jahre zu früh gekommen. Die zeitliche Rückrechnung verweist auf das Jahr 1948; es könnte sich also gut um diese Patientin aus »Haß in der Gegenübertragung« gehandelt haben. Leider habe ich in der Winnicott-Biographie von Kahr (1996) keinen Hinweis auf Winnicotts erwachsene Patienten finden können, der es erlaubt hätte, die Vermutung zu erhärten; aber ich glaube fast: So eine Patientin hat man nur einmal. − Doch sei dem wie auch immer: Seine Heilung und ihre Heilung korrespondieren miteinander; beide Pathologien sind in seinem Traum gemeint. Immerhin wissen wir aus Kahrs Biographie etwas über Winnicotts persönliche Pathologie (u. a. Impotenz); im ersten, hier beiseite gelassenen Teil des Traums geht es nach Winnicotts eigener Deutung um Kastration; jetzt ist im zweiten das Motiv gesteigert zu einer Art Ganzkörper-Amputation. In einer sehr persönlich gehaltenen Rezension über Jungs »Erinnerungen, Träume, Gedanken« hatte Winnicott (1964) sein eigenes Berührtsein von der Thematik des Ganz-Werdens angedeutet, auch wenn er seine Pathologie dort in einer etwas flapsigen Bemerkung dissimuliert hat. − Zurück zum »heilenden Traum«: Geheilt werden sollen beide. Damit löst sich diese »heilige Kuh« der neueren Psychoanalyse quasi in Luft auf: die säuberliche Trennung der sog. »Gegenübertragung«, die Reaktion auf die Übertragung des Patienten sein soll, und der aus eigener Konflikthaftigkeit gespeisten »Übertragung des Analytikers«. Eher ließe sich, was Winnicott berichtet, zu den Vorstellungen von Jung in Beziehung setzen: ein wechselseitiges Affiziertsein Winnicotts und seiner Patientin, kraft dessen die Pathologie der Patientin auf ihn »übertragen« wird: Er spürt ihr Gespaltensein sozusagen am eigenen Leibe. Zugleich ist es aber auch sein Gespalten- bzw. Amputiertsein: ohne dieses Entgegenkommen seiner eigenen Pathologie wäre die »Übertragung« unmöglich. Der analytische Prozess ist so beschaffen, dass beide Beteiligten gewandelt daraus hervorgehen. Gegen die oben bezeichnete »heilige Kuh« habe ich lebenslang gefochten – wie ich mir eingestehen muss, ohne eine Spur von Erfolg. Ich schrieb, auf der fortbestehenden »Restneurose« des Analytikers basiere seine analytische Potenz. Die Behandlung des

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Patienten sei zugleich Behandlung der eigenen Neurose. Eine Deutung sei nur authentisch, wenn sie dem Umgang mit der eigenen Neurose »abgerungen« sei (Bittner, 1992, S. 106). Winnicott würde mir vermutlich recht geben.

Die Analyse – ein Ping-Pong-Spiel der beiderseitigen Unbewussten Heute hatte ich (endlich) einen Traum, der zum Thema dieses Aufsatzes zu passen scheint: Ich komme aus einer Stadt, in der nach einem Platzregen Chaos herrscht. Ich wandere über nasse Felder, muss eine Pfütze umrunden, die zu einem großen See geworden ist, hebe zwei Stücke Teppichboden auf, offenbar Relikte der Überschwemmung. Dann sehe ich die italienische Grenzstation, wo ich die Stücke abgeben will. Dort treffe ich einen Mann, der auch aus der Stadt kommt. Ich frage, ob sich die Verhältnisse dort stabilisiert haben. Winnicotts »heilsames Chaos« fiel mir ein. Der Bezug zur letzten Analysenstunde des Vorabends war beim Aufwachen unmittelbar gegenwärtig. Der Analysand, etwa vierzig Jahre alt, ist eben dabei, nach einigem Zögern mit seiner Partnerin eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Etwas erschöpft war er mitten aus dem Umzugschaos zu dieser Stunde gekommen, hatte sich in den Sessel fallen lassen und zu erkennen gegeben, dass es ihm unter den obwaltenden äußeren (Chaos-)Umständen schwerfalle, auf »Analyse« umzuschalten. Ich erinnerte ihn an seinen letzten Satz aus der Stunde davor, den er als »etwas philosophisch« ironisiert hatte: »Ich möchte wissen, wer ich bin und was ich will.« Er bleibt fast die ganze Stunde an einem konkreten Umzugsbeispiel hängen: Er will die eine Wand weiß streichen; die Partnerin hätte sie lieber farbig. Sie sagt: »Es geschieht ja doch, was du willst.« »Ja, und?«, frage ich. Warum soll nicht geschehen, was er will? Eines der Symptome, das ihn in die Analyse führte, ist seine mangelnde Entschlussfähigkeit. Wenn er aber entschieden etwas will, bekommt er Vorwürfe deswegen. Es sei schon in seiner Kindheit am Kräfte sparendsten gewesen, wenn er keine eigenen Wünsche und Ideen verfochten hätte.

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Ich zitiere Winnicott: »Wer ›Ich‹ sagt, macht sich die Welt zum Feind.«2 Damit sind wir raus aus der Umzugserschöpfung. Er wird lebhaft und interessiert. Aber er fragt mich nach meinem Geschmack zu viel, wie das mit dem »Ich« zu verstehen sei. Ich sage, ich sei kein Guru und wolle ihn auch nicht belehren. Ich hätte ihm nur mit meiner Winnicott-Bemerkung in eine Stimmung versetzen wollen, wo er sich etwas Neues (das gemeinsame Wohnen mit der Freundin, sein Ich behaupten) auszuprobieren traue. Ich fühlte mich belebt von dieser Stunde; er offensichtlich auch. In der Nacht darauf also der berichtete Traum, ein »WinnicottTraum«, wie ich ihn bei mir nannte (es waren noch direktere Bezugnahmen auf Winnicott darin, die ich aber vergessen habe). Als Winnicott-Motiv halte ich das »heilsame Chaos« fest: Überschwemmung in der Stadt; draußen auf dem Land ist die Wasserpfütze mächtig angewachsen; sie zwingt mich zu einem Umweg über den schlammigen Acker. Ich habe Teppichbodenreste (offenbar aus einem überschwemmten Haus) bei mir, die ich an der italienischen Grenzstation abgeben will. Italienische Grenzstationen gibt es doch seit dem SchengenAbkommen nicht mehr? Das bezieht sich auf das Endspiel der eben zurückliegenden Fußball-Europameisterschaft in Wien. Ich hörte im Radio von österreichischen Grenzkontrollen bei der Einreise von Deutschland aus, »Schengen« sei für das EM-Finale außer Kraft gesetzt. Im Traum wird aus der österreichischen eine italienische Grenzstation. Das hat nun gar nichts mehr mit dem Patienten und meiner Gegenübertragung zu tun: Ich plane gerade einen kurzen Herbsttrip. Ich kämpfe für Italien; unsere Tochter sucht uns eine Radtour von Passau nach Wien schmackhaft zu machen. Wie langweilig; ich will nicht nach Österreich, ich will nach Italien (in diesem Punkt weiß ich also, was ich will!). Außerdem las ich gestern vor dem Einschlafen im »Focus« eine Titelgeschichte »Ganz Ich« und ärgerte mich über die außerordentlich seichte Behandlung des Themas. Auch diesen Ärger habe ich wohl noch mit in den Schlaf genommen. 2 Mein angebliches Winnicott-Zitat war nicht sehr genau, aber sinngemäß zutreffend (vgl. Winnicott, 1984/ dt. 1990, S. 63).

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Man sieht, auf dem Tisch liegt ein Thema »Wer bin ich, was will ich?«, welches das Thema des Patienten und auch mein Thema ist. Das geht hin und her wie ein Ping-Pong-Ball. Sein Thema evoziert meines und vice versa. Im Hintergrund der vorliegende Aufsatz, den ich gerade schreibe und für den ich sehnlich auf eigenes Material warte, und verbunden ebenfalls mit diesem Text die vertiefte Beschäftigung mit Winnicott und seinem Aufsatz »Haß in der Gegenübertragung«. Im Hintergrund habe ich Winnicotts Gedanken vom »heilsamen Chaos«, der heilsamen Identitätsverwirrung. Meine Assoziationen gehen teils auf die Stunde mit den Patienten, teils in andere Richtungen. Einen »Gegenübertragungstraum« aus dem Lehrbuch würde ich das nicht nennen; es ist zu vieles ineinandergemischt. Eigentlich will ich ja darauf hinaus: Lehrbuchgerechte Gegenübertragungsträume gibt es nicht, weil auch die lehrbuchgerechte Gegenübertragung nur ein Konstrukt ist, das in Wirklichkeit so nicht zu finden ist. Ein weiteres Traumstück zur gleichen Analyse wenige Wochen später, dem man die Verbindung zu diesem Patienten auf den ersten Blick ebenso wenig ansieht: Ein Ausflug mit mehreren Leuten. Mein Vater gibt mir den Autoschlüssel separat vom Schlüsselbund herunter, weil er selbst angeblich auch einen Schlüssel vom Bund braucht. Ich ärgere mich: Warum löst er nicht den von ihm benötigten Schlüssel heraus und gibt mir die übrigen Schlüssel am Bund? Solches Schlüssel-Durcheinander gibt es manchmal zwischen mir und meiner Frau. Im Traum ist es der Vater. Wie denn – sollte meine Frau untergründig für den Vater stehen? Die Gedanken gehen zurück zu der Behandlungsstunde gestern Abend. Der Patient hatte von seinen alltäglichen kleinen Reibereien mit der Freundin berichtet, mit der er seit kurzem zusammenlebt, wie sie sich beim gemeinsamen Wohnen im Alltag ergeben. Er fühlt ihren kontrollierenden Blick auf sich gerichtet, wenn er in der Küche oder im Bad z. B. die Haare nicht aus dem Abfluss fischt. Ich denke: Ganz wie bei mir. Ich hatte mit diesem Patienten gerade seine Kinderangst durchgesprochen: Mit sechs Jahren phantasierte er einen schwarzen Mann hinter der Tür in der Wohnung, der ihn beobachtete. Ich

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brachte diese Phantasiegestalt mit seinem früh verstorbenen Vater in Verbindung. In dieser Stunde gestern sagte ich: »Jetzt setzt Ihre Freundin das fort, was Sie als Kind mit dem schwarzen Mann erlebt haben.« Der manifeste Traum hat absolut nichts mit dem Patienten zu tun. Die Brücke zwischen meiner Hintergrundsgestimmtheit und der seinen läuft über die unbewusste Gleichsetzung von Frau und Vater, die ich in der Analysenstunde in Bezug auf ihn formulierte und die mir im Traum als (auch) mein eigenes Thema zugespielt wurde. Wieder das Ping-Pong-Spiel der beiderseitigen Unbewussten: Er schlägt in der Stunde ein Thema an, das in meinem Traum Resonanz weckt – was anzeigt, wo sich sein und mein Unbewusstes begegnen.

Ausblick Anhand von Winnicotts und meinen Traumbeispielen suchte ich, Paula Heimanns Konstruktion der »reinen« Gegenübertragung, ungetrübt durch eigene Anteile des Analytikers, als das zu entlarven, was sie ist – eine Konstruktion, und zwar eine irreführende. In Wahrheit gibt es diese Trennlinie nicht. Meine Traumbilder enthalten ebenso Eigenes wie vom Patienten Evoziertes. Die Assoziationen laufen hierhin und dorthin. Ich fasse die Konflikthaftigkeiten des Patienten mittels meiner eigenen Konflikthaftigkeiten auf, die vom analytischen Angebot des Patienten zum Anklingen und Mitschwingen gebracht werden. Für dieses Ping-Pong-Spiel zwischen dem Unbewussten des Patienten und meinem Unbewussten hat die Psychoanalyse bis heute keine Sprache. Nur einige wenige haben damit gerungen, die Dinge in ihrer Komplexität in Worte zu fassen: Ferenczi im »Klinischen Tagebuch« (1932/1988) mit seinen revolutionär-utopischen, von der psychoanalytischen Orthodoxie verworfenen Ideen zur »mutuellen Analyse« oder Winnicott in seinem oben kommentierten Aufsatz. In meinem gegenwärtigen Text habe ich versucht, in den Spuren dieser beiden zu gehen. Eine weise Absicht, mich auf Sackgassen im analytischen Prozess aufmerksam zu machen, wie von Zwiebel nahegelegt, vermag

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ich in den »Gegenübertragungsträumen« nicht zu erkennen. Sie kommen mir als Spontanmanifestationen des Unbewussten vor; eine bestimmte Funktion haben sie nicht. Es bleibt mir überlassen, was ich mit ihnen mache. Manche Gegenübertragungsträume im weiteren Sinn – darin stimmte ich Zwiebel (1977, S. 55) diesmal zu – handeln nicht von einem bestimmten Patienten, sondern von meiner Einstellung zur analytischen Berufsausübung überhaupt. Dazu noch ein letzter eigener Traum: Es ging darin um eine Frau von 91 Jahren, die noch eine Ausbildung zur Kindertherapeutin machen wollte, was ich im Traum erstaunlich und befremdlich fand. Mein erster Deutungsversuch war, als ich den Traum meiner Frau beim Frühstück erzählte: die Frau im Traum ist entschieden zu alt – und noch dazu Kindertherapie! Bin ich mit meinen 71 Jahren auch zu alt für die Psychoanalyse, sollte ich meine Tätigkeit besser beenden? Am Nachmittag während der Analysestunden, als alles gut lief, dachte ich genau andersherum: Was die Frau mit 91 noch kann, das kann ich mit 71 noch lange! Kein Zweifel, der Traum handelt vom (zu) Alt-Sein für die Psychoanalyse. Aber er spricht wie das Orakel von Delphi. Er benennt ein Problem; er enthält keine Lösung. Ich kann die eine oder die andere Schlussfolgerung ziehen. Es bleibt mir überlassen. Ich bin neugierig, welche Lesart sich bei mir durchsetzen wird.

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Bittner, G. (2007). Self-disclosure – oder: Wie viel darf/soll der Analytiker von sich selbst mitteilen? In H. Hierdeis, H. J. Walter (Hrsg.), Bildung – Beziehung – Psychoanalyse. Beiträge zu einem psychoanalytischen Bildungsverständnis (S. 191–206). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Dilthey, W. (1894/1961). Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. GS V (3. Aufl.). Stuttgart u. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ferenczi, S.  (1988). Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1910d). Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. G. W. Bd. VIII (S. 103–115). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S.  (1915a). Bemerkungen über die Übertragungsliebe. G. W. Bd. X (S. 305–321). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S.  (1916–1917a). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G. W. Bd. XI. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1937d). Konstruktionen in der Analyse. G. W. Bd. XVI (S. 41–56). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S.  (1925i). Einige Nachträge zum Ganzen der Traumdeutung. G. W. Bd. I (S. 559–573). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S.; Andreas-Salomé, A. (1966/1980). Briefwechsel (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S.; Jung, C.G. (1974). Briefwechsel. Frankfurt a. M.: Fischer. Gadamer, H.-G. (1960/1972): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (3. Aufl.). Tübingen: Niemeyer. Heimann, P. (1996). Über die Gegenübertragung. Forum der Psychoanalyse, 12, 179–184. Jung, C. G. (1929). Die Probleme der modernen Psychotherapie. G. W. Bd. 16. Olten u. a.: Walter. Jung, C. G. (1946). Die Psychologie der Übertragung. G. W. Bd. 16. Olten u. a.: Walter. Jung, C. G. (1961/1967): Erinnerungen, Träume, Gedanken (4. Aufl.). Zürich u. Stuttgart: Rascher. Kahr, B. (1996). D. W. Winnicott: A biographical portrait. Madison Conn: JUP. Mertens, W. (1993). Einführung in die psychoanalytische Therapie, Bd. 3. Stuttgart: Kohlhammer. Racker, H. (1978). Übertragung und Gegenübertragung. Studien zur psychoanalytischen Technik. München u. Basel: Reinhardt. Thomä, H.; Kächele, H. (1985). Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. 2 Bde. Berlin u. a.: Springer. Winnicott, D. W. (1983). Haß in der Gegenübertragung. In D. W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (S.  77–90). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Winnicott, D. W. (1983). Die Beziehung zwischen dem Geist und dem Leibseelischen. In D.  W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (S. 165–182). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Winnicott, D. W. (1983). Metapsychologische Aspekte der Regression im Rah-

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Peter Schneider

Look Who’s Talking oder Horch, was kommt von draußen rein! Über den Gegenübertragungstraum

Remote Control In der Gegenübertragung im Allgemeinen, im Gegenübertragungstraum im Besonderen, scheint der psychische Apparat des Analysanden auf den Analytiker wie ein »Beeinflussungsapparat« zu wirken. Viktor Tausk (1919) hat diesen Begriff als Terminus technicus für jene Maschinen und Apparaturen geprägt, durch welche sich Psychotiker in ihrem Denken und Handeln manipuliert fühlen. »Der schizophrene Beeinflussungsapparat«, schreibt er, »ist eine Maschine von mystischer Beschaffenheit. Die Kranken vermögen seine Beschaffenheit nur andeutungsweise anzugeben. […] es zeigt sich, daß mit dem Fortschritt der Popularität der technischen Wissenschaften nach und nach alle im Dienste der Technik stehenden Naturkräfte zur Erklärung der Funktionen des Apparates herangezogen werden, daß aber alle menschlichen Empfindungen nicht ausreichen, um die merkwürdigen Leistungen dieser Maschine […] zu erklären.«1 Der »Beeinflussungsapparat […] macht den Kranken Bilder vor. […] Er macht und entzieht Gedanken und Gefühle. […] Er macht Sensationen, die zum Teil nicht beschrieben werden können, weil sie […] ganz fremd sind […]« (1919/1983, S. 246 f.). Bilder und Sensationen dieser Art beschreibt Ralf Zwiebel im Anschluss an den Bericht eines Traums, den er von einer Patientin 1 Mit der Entdeckung der sog. Spiegelneuronen wurde das Gehirn selbst zu einem »Beeinflussungsapparat«; freilich mit einer bedeutsamen Akzentverschiebung: Im Fokus dieses Konzepts steht nicht die aktive Beeinflussung durch ein Außen (eine Maschine), sondern die rezeptive Beeinflussbarkeit des Innen (des Hirns).

Look Who’s Talking

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träumt: »Die Patientin ist in der Therapiestunde. Diesmal untersuche ich sie aber gynäkologisch. Bei dem Eindringen mit dem Finger stelle ich überrascht fest, daß die Vagina ganz dick und verhornt ist. Außer dem Gefühl der Überraschung gibt es keine Gefühle in dem Traum« (1977, S. 45 f.). Wohl aber stellen sie sich im Anschluss an den Traum ein: »Ich war beschämt, weil ich auf Grund des Trauminhalts einen sexuellen Wunsch vermutete und einen solchen Wunsch gerade bei dieser Patientin als vollkommen unangemessen empfand. Für kurze Zeit war ich daher bemüht, den Traum als mein eigenes Problem anzusehen und ihn möglichst schnell zu vergessen. Dies gelang mir jedoch nicht« (S. 46). Denn der Traum hat nicht mit seinen Problemen wie sexuellen Wünschen, sondern mit den Problemen der Patientin zu tun: »Unbewußt hatte die Patientin mir auf der körperlich-konkreten Ebene signalisiert, daß sie die Befürchtung hat, eine zu kleine Scheide zu haben; auf diese Befürchtung antwortete ich ebenso unbewußt, aber auf der gleichen konkret-bildhaften Ebene, mit der ›gynäkologischen Untersuchung‹« (S. 46). Der Psychoanalytiker wird in der Gegenübertragung zum Medium des Unbewußten des Analysanden. Wesentlich für den Gegenübertragungstraum als Gegenübertragungstraum ist, daß sein Anlass nicht durch einen (»unangemessenen«) Wunsch (»ein eigenes Problem«) des Analytikers gebildet wird. Auf zunächst unbestimmbare Weise findet das Analysanden-Unbewusste einen direkten Zugang zum Analytiker-Unbewussten, das daraus – unter Auslassung eigener Wünsche (außer dem, die Analyse möge gelingen) – einen Traum generiert. Diese Art der Umsetzung eines Traumerregers in ein Traumbild – an den Wünschen des Analytiker-Träumers vorbei bzw. durch das Vergrößerungsglas eines von infantiler Sexualneugier bereinigten Erkenntniswunsches hindurch – scheint das Besondere dieses und vielleicht das Wesen des Gegenübertragungstraums überhaupt auszumachen. Dabei wird auch die Traumarbeit mit ihren wechselnden und letztlich unbestimmbaren Graden von Verschiebungen und Verdichtungen durch eine nicht entstellende Weise der Umformung ersetzt, welche ja auch den Mechanismus der Telepathie kennzeichnet. »Der telepathische Akt«, schreibt Freud in seiner Vorlesung über »Traum und Okkultismus«, »soll ja

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darin bestehen, daß ein seelischer Akt der einen Person den nämlichen seelischen Akt bei einer anderen Person anregt. Was zwischen den beiden seelischen Akten liegt, kann leicht ein physikalischer Vorgang sein, in den sich das Psychische an einem Ende umsetzt und der sich am anderen Ende wieder in das gleiche Psychische umsetzt. Die Analogie mit anderen Umsetzungen wie beim Sprechen und Hören am Telephon wäre dann unverkennbar«2 (G. W. Bd. XV, S. 59). Telepathie nach dieser Definition wäre dann nicht vor allem Gedanken-Übertragung, sondern Gedanken-Gegenübertragung; denn Übertragung und Gegenübertragung stellen keineswegs symmetrische Phänomene dar, sondern verhalten sich ihrem Wesen nach völlig anders: Während Übertragung durch eine bestimmte Art der (unbewussten) Aktivität des Analysanden charakterisiert ist, ist Gegenübertragung geradezu die Funktion einer besonderen Art von Passivität des Analytikers. Zu dieser Passivität gehört – wenn der Traum des Analytikers nicht einfach ein Traum, sondern ein Gegenübertragungstraum ist – die weitgehende Ausschaltung der Traumarbeit, welche den Gegenübertragungstraum zu einem Produkt vor allem des Analytikers und nicht mehr in erster Linie zu einem Effekt, einem Echo, des Analysanden-Unbewussten machte. Gemäß Freuds Anmerkung zur »Traumdeutung« (G. W. Bd. II/III, S.  510  f., Fn. 2), dass das Wesen des Traums nicht im 2 Diese telepathische Einstellung wird von Freud als Grundhaltung des Analytikers empfohlen. Sie ergibt sich gleichsam als eine Folge der »freischwebenden Aufmerksamkeit«: »Wie der Analysierte alles mitteilen soll, was er in seiner Selbstbeobachtung erhascht, mit Hintanhaltung aller logischen und affektiven Einwendungen, die ihn bewegen wollen, eine Auswahl zu treffen, so soll sich der Arzt in den Stand setzen, alles ihm Mitgeteilte für die Zwecke der Deutung, der Erkennung des verborgenen Unbewußten zu verwerten, ohne die vom Kranken aufgegebene Auswahl durch eine eigene Zensur zu ersetzen, in eine Formel gefasst: er soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen« (G. W. VIII, S. 381 ff.).

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latenten Trauminhalt zu suchen ist, sondern in den Umwandlungsprozessen des Traumarbeit liegt, müsste man den Gegenübertragungstraum also als einen Nicht-Traum in Traumgestalt auffassen. Das Problem, ob man überhaupt von einem Traum sprechen kann, wenn »kein Unterschied zwischen Ereignis und Traum besteht« und darin »nichts anderes zu finden ist als die unentstellte Wiedergabe des Ereignisses«, diskutiert Freud in seiner Arbeit »Traum und Telepathie« von 1922 (G. W. Bd. XIII, S. 177 f.). Freud setzt sich hier mit der Möglichkeit eines »reinen telepathischen ›Traums‹« (S.  178) auseinander, wobei er »Traum« in distanzierende Anführungszeichen setzt: »Ich kenne solche telepathische Träume wieder nicht aus eigener Erfahrung, weiß aber, daß sie häufig berichtet worden sind. Nehmen wir an, wir hätten es mit einem solchen unentstellten und unvermischten telepathischen Traum zu tun, dann erhebt sich eine andere Frage: Soll man ein derartiges telepathisches Erlebnis überhaupt einen ›Traum‹ nennen? […] Ich meine, es wäre im Interesse wissenschaftlicher Genauigkeit, wenn wir ›Traum‹ und ›Schlafzustand‹ besser auseinanderhielten. […] Wenn wir also einen solchen reinen telepathischen »Traum« antreffen sollten, so wollen wir ihn doch lieber ein telepathisches Erlebnis im Schlafzustand heißen. Ein Traum ohne Verdichtung, Entstellung, Dramatisierung, vor allem ohne Wunscherfüllung, verdient ja doch nicht diesen Namen. […] Es kommt vor, daß reale Erlebnisse des Tages im Schlaf einfach wiederholt werden. Die Reproduktionen traumatischer Szenen im ›Traume‹ haben uns erst kürzlich zu einer Revision der Traumtheorie herausgefordert; es gibt Träume, die sich durch ganz besondere Eigenschaften von der gewohnten Art unterscheiden, die eigentlich nichts anderes sind als unversehrte und unvermengte nächtliche Phantasien […] Es wäre gewiß mißlich, diese Bildungen von der Bezeichnung ›Träume‹ auszuschließen. Aber sie alle kommen doch von innen, sind Produkte unseres Seelenlebens, während der reine ›telepathische Traum‹ seinem Begriff nach eine Wahrnehmung von außen wäre, gegen welche sich das Seelenleben rezeptiv und passiv verhielte« (G. W. Bd. XIII, S. 178).

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Vom eingeklemmten Affekt zur Wunscherfüllung »The analyst’s counter-transference is an instrument of research into the patient’s unconscious«, definiert Paula Heimann (1989, S.  74) auf dem 16. Internationalen Psychoanalytischen Kongress 1949 in Zürich die Rolle der Gegenübertragung als Erkenntnisinstrument. Damit die Gegenübertragung diese Funktion erfüllen kann, muss sie von verzerrenden Übertragungsneigungen (des Analytikers) gereinigt sein: Wo Übertragung war (wie beim Patienten), soll Gegenübertragung (beim Analytiker) werden, in welcher die Übertragung des Patienten verstanden werden kann. Das sind der Zweck und das Ziel der »Lehranalyse«, wie Freud sie 1912 formuliert3: Um sich »seines Unbewußten in solcher Weise als Instrument bei der Analyse zu bedienen«, darf der Analytiker »in sich selbst keine Widerstände dulden, welche das von seinem Unbewußten Erkannte von seinem Bewusstsein abhalten«, muss »er sich einer psychoanalytischen Purifizierung unterzogen und von jenen Eigenkomplexen Kenntnis genommen« haben, »die geeignet wären, ihn in der Erfassung des vom Analysierten Dargebotenen zu stören« (G. W. Bd. VIII, S. 382). Das Paar Übertragung – Gegenübertragung ist somit seinem Wesen nach ein höchst asymmetrisches Konstrukt: Das Ideal der Gegenübertragung besteht darin, möglichst wenig an Übertragung zu enthalten. Ich hatte angedeutet, wie sich diese Bestimmung auf die Auffassung des Gegenübertragungstraums auswirkt. Damit ein Traum als Gegenübertragungstraum gelten kann, reicht es nicht (sofern dies überhaupt als Bedingung des Gegenübertragungstraums gelten kann), dass der Analytiker von seinem Patienten träumt (sonst wäre schließlich auch jeder Traum eines Analysanden vom Analytiker ein Gegenübertragungstraum und als solcher ein Instrument zur Erforschung des Unbewußten des Analytikers4); 3 Einer anderen Begründung der Lehranalyse zufolge soll diese dem Analytiker helfen, eine sichere Überzeugung von der Existenz des (eigenen) Unbewussten zu gewinnen: »Theoretischer Unterricht in der Analyse dringt nicht tief genug und schafft keine Überzeugung«, schreibt Freud (G. W. XIV, S. 566) in seinem Geleitwort zu August Aichhorns Buch »Verwahrloste Jugend«. 4 Sándor Ferenczis (1988) Versuche mit der »mutuellen Analyse« implizieren demgegenüber eine Symmetrie der Analytiker- und Analysanden-Übertragung.

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er muss möglichst frei sein von den Einwirkungen entstellender Traumarbeit (von Seiten des Analytikers). Der ideale Gegenübertragungstraum ähnelt daher seiner Struktur dem »Traum vom brennenden Kinde«, mit welchem Freud in der »Traumdeutung« von der psychologischen Deutung des Traums zur Metapsychologie des Traumvorgangs überleitet (G. W. Bd. II/III, S. 513 ff.). Freud nennt diesen Traum merkwürdigerweise »vorbildlich« (S.  513), obwohl er sich gerade dadurch auszeichnet, dass in ihm die Beteiligung einer entstellenden Traumarbeit fehlt, sein »Sinn unverhüllt gegeben ist«. Der Modelltraum der Psychoanalyse wiederum, das »Traummuster« von »Irmas Injektion«, an dem Freud die neue Deutungskunst und seine Theorie der Traumarbeit entwickelt, ist seinem Inhalt nach offenkundig ein Gegenübertragungstraum (Freud träumt von seiner Patientin »Irma«), seiner Struktur nach jedoch keinesfalls; denn seine Deutung zielt nicht darauf ab, das Unbewusste Irmas (in ihrer Eigenschaft als Patientin Freuds) zu verstehen, sondern die Produktionsmechanismen des Unbewussten überhaupt, und zwar am Beispiel des Träumers Freud. Der »Traum von Irmas Injektion« – »der erste Traum«, den Freud, wie er in einer Fußnote anmerkt (G. W. Bd. II/III, S. 111), »einer eingehenden Deutung unterzog« – ist datiert: »Traum vom 23./24. Juli 1895« (S. 111) und mit einem »Vorbericht« (S. 110 f.) versehen, der so beginnt: »Im Sommer 1895 hatte ich eine junge Dame psychoanalytisch behandelt, die mir und den Meinigen sehr nahe stand. Man versteht es, daß solche Vermengung der Beziehungen zur Quelle mannigfacher Erregungen für den Arzt werden kann, zumal für den Psychotherapeuten. […] Die Kur endete mit einem teilweisen Erfolg, die Patientin verlor ihre hysterische Angst, aber nicht alle ihre somatischen Symptome« (S. 110).5 Der »Traum von Irmas Injektion« initiiert ein neues Kapitel in der Beschäftigung Freuds mit dem Gegenstand des Unbewussten. Ihr Motiv sind freilich nicht vor allem erkenntnistheoretische Erwägungen, sondern es entspringt dem Bemühen, die für den Patienten retraumatisierende Wiederholung der elterlichen Hypokrisie durch eine professionelle »Heuchelei« des Analytikers zu durchbrechen. 5 Zur Rolle dieses Traums in Freuds »Selbstanalyse« sowie über dessen biographischen Hintergrund vgl. Anzieu, 1990, Bd. I, S. 25 ff.

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In den »Studien über Hysterie« ist das Unbewusste nicht zuletzt noch eine Leihgabe Josef Breuers und Jean-Martin Charcots, welche Freud sich schrittweise anverwandelt. In den »Studien« tritt es in der Gestalt unbewusster, nicht abreagierter und somit »eingeklemmter Affekte« (G. W. Bd. I, S. 97) auf, als »Fremdkörper«6 (G. W. Bd. I, S.  200), »Infiltrat«7 (S.  295) oder »unannehmbarer sexueller Vorstellungen« (S.  67). Dieses Unbewusste steht im Zusammenhang einer Theorie der »Abwehr-Neuropsychosen« und deren therapeutischer Beeinflussung durch eine geeignete psychotherapeutische Technik. Mit der »Traumdeutung« schafft Freud ein weiteres bzw. erweitertes »Experimentalsystem«8, in welchem das »Unbewusste« nun artikuliert werden soll9 – diesmal im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Unbewussten, welche der speziellen Artikulation des Unbewussten auf dem Feld der Neurosentheorie und -therapie eine neue Basis geben soll: »Indem ich hier die Darstellung der Traumdeutung versuche, glaube ich den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten zu haben«, lautet der erste Satz der »Traumdeutung«. Die darauf folgende Begründung widerspricht dieser Selbstbescheidung jedoch sogleich: »Denn der Traum erweist sich bei der psychologischen Prüfung als das erste Glied in der Reihe abnormer psychischer Gebilde, von deren weiteren Gliedern die hysterische Phobie, die Zwangs- und die Wahnvorstellung den Arzt aus praktischen Gründen beschäftigen müssen. Auf eine ähnliche praktische Bedeutung 6 Im Gegensatz zu einem bloßen »Geheimnis«. 7 Im Unterschied zu einem reinen »Fremdkörper«: vgl. dazu Freud G. W. I, S. 294 f. 8 Zu diesem Begriff sowie dem des »epistemischen Dings« vgl. Rheinberger, 1992 und 2006, S. 27 f.: »Epistemische Dinge sind die Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt – nicht unbedingt Objekte im engeren Sinne, es können auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein.« »[…] epistemische Dinge verkörpern, paradox gesagt, was man noch nicht weiß« (2006, S. 27). Die Genese des Begriffs des Unbewussten zu rekonstruieren bedeutet somit, »das Primat der im Werden begriffenen wissenschaftlichen Erfahrung, bei der begriffliche Unbestimmtheit nicht defizitär, sondern handlungsbestimmend ist, gegenüber ihrem begrifflich verfaßten und verfestigten Resultat zur Geltung zu bringen« (2006, S. 28). 9 Zur Frage der Vielfältigkeit des Gegenstands des Unbewussten vgl. Schneider, 2009.

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kann der Traum – wie sich zeigen wird – Anspruch nicht erheben; um so größer ist aber sein theoretischer Wert als Paradigma, und wer sich die Entstehung der Traumbilder nicht zu erklären weiß, wird sich auch um das Verständnis der Phobien, Zwangs- und Wahnideen, eventuell um deren therapeutische Beeinflussung, vergeblich bemühen« (G. W. Bd. II/III, S. VII). In der »Traumdeutung« steht das Unbewusste im Zusammenhang mit der Konstruktion eines psychischen Apparats, der, von Wünschen getrieben, auf Wunscherfüllung hinarbeitet. Die psychische Hervorbringung des Traums ist nur ein Exempel dafür, wie dieser Apparat funktioniert – ein überaus lehrreiches freilich, weil der Traum zeigt, wie diese allgemeine Wunscherfüllungstendenz auf die List der Entstellung der Wünsche und ihrer Erfüllung angewiesen ist – wie das Symptom z. B. auch. Freuds »Traum von Irmas Injektion« ist in der psychoanalytischen Literatur unter verschiedenen Aspekten immer wieder kommentiert und neu gedeutet worden. In diesem Zusammenhang soll uns aber lediglich interessieren, welcher epistemische Stellenwert diesem Mustertraum der Psychoanalyse zukommt. Erik H. Erikson schreibt über den Irma-Traum: »Gerade ein von einem Arzt über eine Patientin geträumter Traum müßte doch Andeutungen einer Gegenübertragung enthalten, d. h. etwas von den unbewußten Schwierigkeiten des Therapeuten, die sich daraus ergeben, daß der Patient auf dem Schachbrett seines Schicksals eine strategische Position innehat. […] Aber man könnte auch noch an eine andere Art von ›Gegenübertragung‹ denken. Das, was der Träumer und seine Kollegen in dem Traum tun, sind alles ärztliche Handlungen, die an einer Patientin vorgenommen werden. Aber sie sind wissenschaftlichen Charakters: Der Träumer nimmt beiseite, beleuchtet, sieht, lokalisiert, denkt, findet. Wie, wenn es nun das Geheimnis des Traumes selber wäre, das der heißersehnte Preis seines Forschens sein sollte?« (1974, S. 104). Der »Traum von Irmas Injektion« handelt somit auch davon, dass die Entdeckung des Wunsch-Unbewussten nicht jenseits dieses Unbewussten angesiedelt werden kann. Dieser Auffassung von einem allgegenwärtigen, nicht hintergehbaren Unbewussten steht ein realer Gegensatz von Innen und Außen, Aktivität und Passivität, Übertragung und Gegenübertragung gegenüber, welcher durch

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die Möglichkeit der Existenz eines »reinen« telepathischen Traums aufgerissen wird.

Bastelei und Technik Dadurch, dass der Übertragung eine Gegenübertragung, dem Traum ein Gegenübertragungstraum an die Seite gestellt wird, verändert sich das Feld möglicher Antworten, wenn man hinsichtlich einer Produktion des Unbewussten fragt: Ist ihr Ursprung drinnen oder draußen? Ist sie Teil meiner Aktivität oder verdankt sie sich meiner rezeptiven Passivität? Aus dem Unbewussten als noch nicht klar definiertem »epistemischem Ding« – einem Unbewussten, das zum Zeitpunkt der Analyse des »Traums von Irmas Injektion« vor allem eine »Liste seiner Aktivitäten« (Bruno Latour, zit. nach Rheinberger, 2006, S. 28) war: Verdichtung, Verschiebung, Verbildlichung, Wörtlichnehmen […] – wird ein Teil dieses Unbewussten als »technisches Ding« ausgeschieden. Dieses Unbewusste formiert sich in dieser Funktion neu als das Erkenntnisinstrument eines purifizierten Erkenntnissubjekts, welches Freud am 24. Juli 1895 noch nicht verkörperte. An diesem Tag im Sommer des Jahres, in dem die »Studien über Hysterie« erscheinen und die »Traumdeutung« erst ein im Dialog mit Fließ entstehendes Projekt darstellt, ist das Unbewusste noch der Gegenstand einer »Bricolage«, wie sie Claude LéviStrauss (1973, S.  29–36) beschreibt. Freud ist kein Ingenieur des Unbewussten, sondern vor allem ein Bastler-Wissenschaftler und Mythologe des Unbewussten zugleich: »Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müßten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt […]. Sehen wir ihm beim Arbeiten zu: Von seinem Vorhaben angespornt, ist sein erster praktischer Schritt dennoch retrospektiv: er muß auf eine bereits konstituierte Gesamtheit von Werkzeugen und Materialien zurückgreifen; eine Bestandsaufnahme machen

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oder eine schon vorhandene umarbeiten; schließlich und vor allem muß er mit dieser Gesamtheit in eine Art Dialog treten, um die möglichen Antworten zu ermitteln, die sie auf das gestellte Problem zu geben vermag. Alle diese heterogenen Gegenstände, die seinen Schatz bilden, befragt er, um herauszubekommen, was jeder von ihnen ›bedeuten‹ könnte. […] […] die Signifikate werden zu Signifikanten und umgekehrt. Diese Formel, die der Bastelei als Definition dienen könnte, erklärt, daß für die mythische Reflexion die Gesamtheit der verfügbaren Mittel gleichfalls implizit aufgenommen oder geplant werden muß, damit sich ein Ergebnis definieren läßt, das immer ein Kompromiß zwischen der Struktur des instrumentalen Ganzen und der des Projektes sein wird. Wenn dieses Projekt einmal verwirklicht ist, wird es also unvermeidlich gegenüber der ursprünglichen Absicht verschoben sein, ein Effekt, den die Surrealisten zutreffend ›objektiven Zufall‹ genannt haben. Man kann aber noch weiter gehen: das Poetische der Bastelei kommt auch und besonders daher, daß sie sich nicht darauf beschränkt, etwas zu vollenden oder auszuführen; sie ›spricht‹ nicht nur mit den Dingen, wie wir schon gezeigt haben, sondern auch mittels der Dinge: indem sie durch die Auswahl, die sie zwischen begrenzten Möglichkeiten trifft, über den Charakter und das Leben ihres Urhebers Aussagen macht. Der Bastler legt, ohne sein Projekt jemals auszufüllen, immer etwas von sich hinein« (Lévi-Strauss, 1973, S. 30, 31, 34 f.). In der psychoanalytischen Technik, welche – wie man sagt – »mit der Gegenübertragung arbeitet« und mit Hilfe des Gegenübertragungstraums Zugriff auf das Unbewusste des Analysanden sich erhofft, geht es (im Unterschied zu solcher Bastelei, welche nunmehr den Status eines noch undifferenzierten Anfangsstadiums einnimmt) darum, die im Grunde noch vorwissenschaftliche, wenngleich wissenschaftlich ambitionierte Einheit von epistemischem und technischem Ding aufzuspalten: »Zu den technischen Dingen gehören Instrumente, Aufzeichnungsapparaturen […] Die technischen Bedingungen definieren nicht nur den Horizont und die Grenzen des Experimentalsystems, sie sind auch Sedimentationsprodukte lokaler oder disziplinarer Arbeitstraditionen […] Im Gegensatz zu den epistemischen Dingen müssen die technischen Bedingungen im Rahmen der aktuellen Reinheits- und

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Präzisionsstandards von charakteristischer Bestimmtheit sein. Sie determinieren die Wissensobjekte in doppelter Hinsicht: Sie bilden ihre Umgebung und lassen sie so erst als solche hervortreten, sie begrenzen sie aber auch und schränken sie ein. […] Bei näherem Hinsehen stellt sich […] heraus, dass die beiden Komponenten eines Experimentalsystems zeitlich wie räumlich in ein nicht-triviales Wechselspiel verwickelt sind, in dessen Verlauf sie sich ineinanderschieben, auseinanderstreben und auch ihre Rollen tauschen können. Die technischen Bedingungen bestimmen nicht nur die Reichweite, sondern auch die Form möglicher Repräsentationen eines epistemischen Dings; ausreichend stabilisierte epistemische Dinge wiederum können als technische Bausteine in eine bestehende Experimentalanordnung eingefügt werden« (Rheinberger, 2006, S. 29). In der Geschichte der Psychoanalyse markieren die Forderungen nach einer purifizierenden Lehranalyse, nach der Beherrschung der Gegenübertragung und schließlich nach deren Nutzung im Rahmen einer leidlich kanonisierten psychoanalytischen Technik (welche die Psychoanalyse braucht, um sich als Methode der Psychotherapie zu etablieren) drei wichtige Schritte auf dem Weg zu einer solchen Stabilisierung des epistemischen Dings des Unbewussten, welche es gestatten, dieses Unbewusste als analytisches Instrument auf sich selbst anzuwenden. Mit dieser Technisierung des Unbewussten ist die Tendenz verbunden, eine überraschende Zukunft in eine sichere Gegenwart (vgl. Rheinberger, 2006, S. 33) zu transformieren: »Technische Gegenstände […] sind in erster Linie Maschinen, die Antworten geben sollen. Ein epistemisches Objekt hingegen ist in erster Linie eine Maschine, die Fragen aufwirft« (S. 33).

Zurück zur Telepathie Wenn Freud sich zur Frage der Telepathie unentschlossen verhält, weil er dem Obskurantismus kein Einfallstor in die Psychoanalyse eröffnen will; und wenn er schließlich die theoretische (der Psychoanalyse jedenfalls nicht widersprechende) Möglichkeit einräumt,

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dass telepathisches Material wie jedes andere zum Traummaterial werden könne, weil eine solche Konzession das Minimum (und Maximum) ist, welches er dem Ideal wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit schuldet – dann geht es bei dieser zögerlichen Annäherung an die Möglichkeit der Gedankenübertragung auch um die Bestimmung, wie sich die Psychoanalyse zur Wissenschaft und damit zur Entdeckung von Neuem10 verhält. Wenn wir bislang davon ausgegangen sind, dass der Gegenübertragungstraum gleichsam die technisch nutzbar zu machende Variante der ansonsten undurchsichtigen11 Telepathie darstellt, so haben wir dabei vor allem den Aspekt der Umgehung der innerpsychischen Arbeit betont und damit den Gegenübertragungstraum letztlich in einen Bereich purer Unmittelbarkeit verwiesen, zu dem die Psychoanalyse letztlich nichts (oder doch kaum etwas) zu sagen hat. Aber mit einer anderen Interpretation der Bedeutung der Telepathie in Freuds Denken bekäme auch der Gegenübertragungstraum eine andere Kontur, die ihn nicht allein in seiner Funktion als Element der psychoanalytischen Technik umreißt. »Insofern das Telepathische (entsprechend Freuds Meinung) nicht in den analytisch-deterministischen, aber (im Gegensatz zu Freuds Meinung) auch nicht in den wissenschaftlich-deterministischen Rahmen passt«, schreibt Michael Turnheim, »kann man es als Ereignis qualifizieren. […] Ein Ereignis ist gemäß Definition etwas, das sich nicht voraussehen, nicht in einen Erwartungshorizont einschreiben lässt« (2008, S.  51). Und weiter: »Hinter dem anscheinend Zufälligen, Absurden der manifesten Inhalte entdeckt die Psychoanalyse etwas, was gleichzeitig lustvoll und peinlich erscheint und im Dunkeln gehalten wird. Sie entdeckt aber auch, muss man hinzufügen, dass dieses Latente immer das Gleiche ist […]. Es gibt neben der Peinlichkeit seiner Inhalte also eine gewisse Monotonie des Unbewussten. Falls aber eine allgemeine Neigung existiert, immer im Gleichen zu verbleiben, so verleiht das der Wiederholung des Peinlichen im Unbewussten paradoxerweise 10 Zum schwierigen Verhältnis der Psychoanalytiker zur Wissenschaft vgl. Sciacchitano, 2009. 11 »Undurchsichtig« paradoxerweise durch ihren Charakter einer für die Psychoanalyse nicht zugänglichen Transparenz.

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gleichzeitig auch etwas gar nicht Peinliches, eigentlich Bequemes« (S. 56). Die Beschäftigung mit der Telepathie habe es Freud erlaubt, »sich mit dem nicht auflösbaren Gegensatz zwischen der Regelmäßigkeit der Arbeit des Unbewussten und der Fremdartigkeit des Ereignisses auseinanderzusetzen« (S. 56). Und damit sind wir wieder bei den Wirkungen des »Beeinflussungsapparats« angelangt: »Er macht Sensationen, die zum Teil nicht beschrieben werden können, weil sie […] ganz fremd sind« (Tausk, 1919/1983, S.  247). Was aber heißt »ganz fremd«? Beim Psychotiker ist das ganz Fremde, das er als Stimme hört oder eben als Wirkung äußerer Beeinflussung erlebt, Teil eines entfremdeten, verdrängten, verworfenen »Innen« – etwas, dem er den Glauben verweigert und das nunmehr aus dem Außen zurückkehrt. Sowohl die Telepathie als auch der Übertragungstraum konfrontieren uns aber mit einem anderen »Unglaublichen«: Hier taucht etwas aus dem Außen auf, das nicht deshalb verstört, weil es eigentlich ein verkanntes Inneres ist, sondern deshalb, weil es uns wesentlich äußerlich ist. Was da spricht, ist ein wahrhaft Anderes.

Literatur Anzieu, D. (1990). Freuds Selbstanalyse. 2 Bände. München u. Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse. Erikson, E. H. (1974). Das Traummuster der Psychoanalyse. In J. vom Scheidt (Hrsg.): Der unbekannte Freud (S. 72–115). München: Kindler. Ferenczi, S.  (1988). Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1944ff.). Gesammelte Werke. London u. Frankfurt a. M. Heimann, P. (1989). About children and children-no-longer. Collected Papers 1942–1980. Hrsg. V. M. Tonnesmann. London u. New York: Tavistock, Routledge. Lévi-Strauss, C. (1973). Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rheinberger, H.-J. (1992). Experiment – Differenz – Schrift. Marburg: BasiliskenPresse. Rheinberger, H.-J. (2006). Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schneider, P. (2009). »Wie viele Unbewusste?« Vortrag auf der Entresol-Tagung »Wozu das Unbewusste?« vom 21.3.2009 in Zürich. Unveröffentlichtes Manuskript.

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Sciacchitano, A. (2009). Unendliche Subversion. Die wissenschaftlichen Ursprünge der Psychoanalyse und die psychoanalytischen Widerstände gegen die Wissenschaft. Wien: Turia und Kant. Tausk, V. (1919/1983). Über die Entstehung des ›Beeinflussungsapparats‹ in der Schizophrenie. In V. Tausk: Gesammelte psychoanalytische und literarische Schriften. Hrsg. v. H. J. Metzger (S. 245–286). Wien u. Berlin: Medusa. Turnheim, M. (2008). Freud als Medium. Bemerkungen zur Telepathie-Affäre. Texte, 28 (2), 46–62. Zwiebel, R. (1977). Der Analytiker träumt von seinem Patienten. Gibt es typische Gegenübertragungsträume? In Psyche – Z. Psychoanal., 31, 43–59.

Gaetano Benedetti

Der therapeutische Traum1 Psychoanalyse und therapeutische Wirkung

Vado peregrina per somnium sicut viam regiam ad inferos et ad hominem semper cognoscendum.

Wir erforschen die Träume unserer Patienten, wir sprechen und schreiben davon. Selten ist aber das Umgekehrte der Fall: Wie träumen wir von ihnen, und welche Rolle spielen diese Träume für das therapeutische Geschehen? Nachfolgend möchte ich in aller Kürze meine diesbezüglichen Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychosentherapie zusammenfassen.

Kategorien von Gegenübertragungsträumen Wir träumen sowohl von unseren neurotischen wie von unseren psychotischen Patienten, von diesen häufiger als von den erstgenannten. Wenn diese Beobachtung stimmt (statistisch habe ich den quantitativen Unterschied nicht untersucht), mag er seinen Grund in verschiedenen Faktoren haben: in der brüchigeren Ich-Grenze 1 Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Verfassers und des Psychosozial-Verlags dem 1998 von Helmut Reif anlässlich des 80. Geburtstags von Johannes Cremerius herausgegebenen Buch »Quo vadis Psychoanalyse?« (Stuttgart: Kore) entnommen und für den Zweck dieses Bandes leicht modifiziert. Das einleitende Motto ist die von Gaetano Benedetti gegebene Antwort auf die Frage des Widmungsbandes und lautet in deutscher Sprache: »Als Fremder gehe ich durch den Traum hindurch wie auf einem Königsweg, der in die Unterwelt führt und zum Menschen hin, den wir stets aufs neue begreifen müssen.«

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des psychotischen Patienten, welche die unbewusste Teilidentifikation fördert, vielleicht auch in der intensiveren Gegenübertragung und in der größeren Regression des Therapeuten. Wie dem auch sei, wir können vor allem vom qualitativen Unterschied ausgehen und Träume in der Psychosentherapie in drei Kategorien einteilen: Kategorie (1): Gegenübertragungsträume im engeren Sinne, in denen frühere Probleme der Therapeuten in der Auseinandersetzung mit den Patienten reaktiviert werden und, sofern sie keine schwereren sind, als bewusste Regulatoren der Gegenübertragung therapeutisch verwertbar sind – selbstverständlich in absoluter Verschwiegenheit. Ein Beispiel: Eine Therapeutin unternahm im Traum eine Radtour mit ihrer Patientin, einer paranoiden Frau, die in der Therapie schon beachtliche Fortschritte gemacht hatte. Die Therapeutin saß vorn, die Patientin auf demselben Fahrrad hinten. Anfänglich lenkte die Therapeutin das Fahrrad, mehr und mehr übernahm aber die Patientin die Führung. Die Therapeutin ließ es zu, obschon sie merkte, dass die Patientin noch unsicher war. Immerhin konnte sie mithelfen und im Schutz der Therapeutin ihren Beitrag zur Fahrt leisten. Aber die Patientin verwandelte sich allmählich in eine Hexe. Sie klammerte sich an die Therapeutin, entwickelte sogar einen Penis und drang mit diesem schmerzhaft in den Anus der Mitfahrerin ein. »So geht es nicht mehr!«, dachte diese beim Erwachen. Es wurde ihr besonders in der Supervision klar, dass sich zwischen den beiden eine symbiotische Beziehung entwickelt hatte, deren Ursprung nicht nur in der Übertragung der Patientin, sondern auch in der eigenen Problematik lag. Die Therapeutin merkte anhand des Traums, dass sie sich gegen gewisse Ansprüche der Patientin mehr wehren sollte, um ihre Integrität in der Therapie zu bewahren. Der Traum half ihr zur besseren Regulierung ihrer Gegenübertragung. Kategorie (2): Sie besteht darin, dass die Träume den psychotischen Prozess direkt und heilsam beeinflussen, obwohl sie verbal nicht mitgeteilt wurden; vielleicht kann der Patient infolge seiner brüchigen Ich-Grenze die Aktivität des therapeutischen Unbewussten wahrnehmen. Die Träume mögen auch hier Symptomcharakter, jedoch einen ausgesprochen kreativen haben. Dazu zwei Beispiele: Zunächst geht es um den chronischen

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paranoiden Wahn bei einer Patientin, die sich von den Menschen verfolgt glaubte, die sie daran hindern wollten, ihren idealen Bräutigam zu finden und zu heiraten. Mit großem Geschick konnte die Therapeutin in ein Gespräch mit der autistischen Patientin kommen und ihr Vertrauen gewinnen. Langsam begann sie, sowohl die tiefere Sehnsucht, die dem Wahn zugrunde lag, zu entdecken, wie auch die Patientin schrittweise mit der enttäuschenden Realität zu konfrontieren. Im Laufe dieser mühsamen und nicht immer erfolgreichen Arbeit träumte die Therapeutin, dass ihre Kranke in der Realität, und nicht bloß im Wahn, verfolgt wurde. In ihrem Traum wusste die Träumerin nicht mehr, dass sie die Therapeutin der Kranken war; denn die Kranke war im Traum für die Therapeutin eben keine Kranke mehr, nur eine Verfolgte; die Traum-Verfolgung erschien aber wie die Fotokopie der angehörten psychopathologischen Verfolgung. Die Therapeutin hatte Angst um ihre verfolgte Patientin, sie versuchte umsonst, sie vor den Verfolgern zu warnen, denn es war nicht möglich, sie zu erreichen. Nach dem Erwachen dachte sie jetzt erst zu wissen, wie es in einem Wahn eigentlich aussieht. – Sie hütete sich freilich, ihrer Patientin den Traum zu erzählen, der den Wahn nur verstärkt, weil bestätigt hätte. Stattdessen stellte sie sich die Frage: »Habe ich mich mit meiner Patientin überidentifiziert?« Ich konnte das als Supervisor nur bestätigen. Das Schöpferische lag aber darin, dass die Kranke von nun an entscheidende Fortschritte machte; sie begann den Wahn zu überwinden, seitdem die Therapeutin in ihrem Traum in den Wahn hineingekrochen war! Im zweiten Beispiel erwähne ich den Therapeuten eines ihn stets entwertenden paranoiden Patienten. Er erzählte in der Supervisionsgruppe einen eigenen Traum, in dem er seinen Patienten getötet hatte. Die Gruppe war von diesem Traum nicht besonders begeistert; er wurde dem Therapeuten als Symptom seiner narzisstischen Verletzbarkeit ausgelegt. Der Therapeut gab dies zu, führte aber das Argument an, dass sein dem Patienten natürlich verschwiegener Traum vermutlich nicht die ganze Person des Patienten töten wollte, sondern einen intrapsychischen Verfolger, dessen Opfer sowohl das Ich des Patienten wie auch das Ich des Therapeuten war. Er hatte recht. Denn in der nächsten Sitzung erzählte der Patient seinem Therapeuten, er habe geträumt, dass sein Verfolger gestorben sei. Der Traum des Patienten und der Traum des The-

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rapeuten hatten sogar in derselben Nacht stattgefunden. Seither besserte sich der Zustand des Patienten. Kategorie (3): Sie besteht aus Träumen, die man in der Therapie direkt verwertet, indem sie dem Patienten mitgeteilt werden. Bevor ich auf die Kriterien eingehe, die eine solche in der Psychoanalyse der Neurosen ungewöhnliche therapeutische Aktivität rechtfertigen, möchte ich dazu einige Beispiele geben. In dem einen Fall ging es um einen Schizophrenen, der in einem Raptus seine Mutter getötet hatte. Der Kranke spaltete jegliche Erinnerung an das Vorgefallene ab. Stattdessen entwickelte er einen Erlöserwahn: Er sei der Messias, der den Menschen Frieden und Heil bringen sollte. Der Wahn war hartnäckig, der Fall schien hoffnungslos, und der therapeutische Traum entstand als Reaktion auf eine aussichtslose Situation. Der Therapeut träumte, dass er die eigene (anders als beim Patienten) geliebte Mutter getötet hätte. Dies schien ihm im Traum unmöglich, er wollte es nicht glauben, so wie der Patient nicht an seinen Totschlag glauben konnte. Aber der Therapeut ließ sich, im Gegensatz zu seinem Patienten, von seinen trauernden Traum-Angehörigen überzeugen, dass die Tat geschehen war. Nach dem Erwachen war dem Therapeuten klar, dass es sich um einen Spiegeltraum handelte. Der Traum hatte ihn an die Stelle des Patienten gesetzt, damit er stellvertretend die Einsicht in die verdrängte Tat zeigen würde. Da dieser therapeutische Traum mit dem Therapeuten selbst, mit seiner Mutterproblematik nichts zu tun hatte, sondern das kompensatorische Spiegelbild des abgespaltenen Raptus des Patienten war, entschloss sich der Therapeut auf meinen Rat hin, den Traum dem Patienten zu erzählen, ohne jede Deutung und ohne direkte Anspielung auf ihn. Wie vom Donner gerührt konnte sich der Patient plötzlich an seine Vergangenheit erinnern. Er wurde schwer depressiv. Aber die Depression konnte dann im Gegensatz zum Wahn psychotherapeutisch verarbeitet werden. Der therapeutische Traum war zwar ein Symptom der Überidentifikation mit dem Patienten, welcher deshalb beim Träumer eine gewisse Angst auslöste. Das Symptom war aber eine kreative Leistung, weil es dem Patienten die Bereitschaft des Therapeuten zeigte, an seiner Stelle zu stehen. In einem anderen Fall handelte es sich um eine paranoide Pati-

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entin, die glaubte tot zu sein. Sie kratzte sich die Haut auf, damit die Todeswürmer aus der Haut hervorkriechen könnten, und verweigerte als Tote die Kommunikation mit dem Therapeuten. Die Patientin porträtierte sich auch zeichnerisch als verhüllte Frau in schwarzen Kleidern. »Das bin ich, der Tod.« Auf diese Situation regierte der Therapeut mit einem eigenen Traum. Über eine steile Treppe gelangte er in eine Todeskammer, einen engen Raum, der durch Drahtzäune, Käfige voller Würmer und Folterinstrumente abgegrenzt war. Eine in schwarze Kleider gehüllte Frau, die offensichtlich der früheren Zeichnung der Patientin entsprach, erklärte ihm, er sei tot. (Der Therapeut wurde also durch sein Unbewusstes in die Rolle der Patientin versetzt.) Er versuchte im Traum auszubrechen, eine telefonische Verbindung mit der Außenwelt herzustellen. Die schwarze Frau sagte ihm, es gebe keine Möglichkeit einer Verbindung. Der Therapeut konnte aber endlich eine solche finden, als er erwiderte, draußen würden zwei Menschen auf ihn warten. In seinen Assoziationen während der Supervision bei mir meinte der Therapeut, dass diese zwei Menschen die Patientin selbst und der Supervisor, also ich, sein könnten. Die Darstellung dieses Traums beeindruckte die Kranke. Sie kommentierte: »Dies ist nicht ein Traum, dies ist die Wirklichkeit.«

Ursprünge von Gegenübertragungsträumen Solche mitteilbaren Träume haben verschiedene Ursprünge, wie ich bei mir selbst feststellen konnte. Einerseits handelt es sich um Träume, die mit früheren Konflikten des Analytikers nichts zu tun haben und vielmehr aus dem tiefen Mitleid mit dem Patienten stammen. Ich denke an einen eigenen Traum, in dem mein Patient ein Jude in einem nationalsozialistischen Lager war und ich, selbst ein Mitgefangener, der aber Zivilkleider trug, meine Kleider mit den seinen tauschte, um ihm die Flucht zu ermöglichen – auf die Gefahr hin, in seiner Hölle zu bleiben. Andere Träume können dagegen aus früheren Konflikten des Analytikers stammen, die aber im Laufe der Lebensgeschichte

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bewältigt wurden und deshalb therapeutisch verwertet werden dürfen, wenn sie durch die Begegnung mit dem Patienten mobilisiert werden. In diesem Zusammenhang erwähne ich als Beispiel einen eigenen Traum. Ich behandelte einmal einen psychotischen Patienten, der unter der Angst litt, verfolgt zu werden. »Innere Verfolger«, die er als Stimmen wahrnahm und nach außen projizierte, »drohten ihm, die Haut vom Leib zu reißen«. Er würde dann ohne Haut dastehen, in seinem innersten völlig an seine Feinde ausgeliefert. Diese »Feinde« quälten ihn solchermaßen, weil er sich eines »unnennbaren«, schweren Verbrechens schuldig gemacht hatte. Es war unmöglich, deutend auf die Vorgeschichte dieses Verbrechens einzugehen; dass diesem eine ödipale Schuld im psychoanalytischen Sinne zugrunde liegen würde, ließ sich freilich therapeutisch vermuten. Die Verfolgung in der Gegenwart war jedoch so konkret und quälend, dass eine Exploration der Vergangenheit kaum erfolgreich erschien. Vor allem fehlte dem Patienten die Möglichkeit, symbolisch zu denken und die Gegenwart als Spiegelbild der infantilen Vergangenheit zu verstehen. Da träumte ich eines Nachts, ich hätte mich des Verbrechens meines Patienten schuldig gemacht, das ich danach aber völlig vergessen hatte und das mir im Traum auch nicht als so gravierend erschien, wie es dem Erleben des Patienten entsprochen hätte. Ich sollte nun von meinem eigenen Vater zur Rechenschaft gezogen werden. Dies machte mir eine gewisse Angst, als würde ich nun der autoritären, strengen, unerbittlichen Seite meines Vaters begegnen müssen. Die Gerichtsverhandlung fand auch im Vaterhaus statt. »Was hast du gemacht?«, fragte der Vater streng. Statt auf seine Frage einzugehen, rief ich, nicht wissend, dass ich fast wörtlich wie mein Patient sprach: »Die Verfolger wollen mir die Haut vom Leib reißen!« Ein zorniger Blitz erschien in den Augen meines Vaters; aber dieser Zorn galt nicht mir, sondern er sagte: »Werde aggressiver gegen deine Feinde!« Mein Vater hatte in meinem Traum die Worte ausgesprochen, die mein Patient im Kampf gegen sein Über-Ich brauchte. Der therapeutische Traum zeigt hier die Heiltechnik des therapeutischen Unbewussten: Die negativen Teile des Über-Ich meines Patienten werden vom Traum-Ich des Therapeuten – der derselben Verfolgung ausgesetzt ist wie sein Patient – übernommen; die

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anderen Teile aber werden in das – positive – Vater-Über-Ich verwandelt. Diese Spaltung hat zur Folge, dass die positive Hälfte des Über-Ich die negative neutralisieren kann. Ich entschied mich, meinem Patienten den Heiltraum mitzuteilen. Er war davon tief beeindruckt: »So etwas habe ich noch nie erlebt«, äußerte er. In den folgenden Sitzungen sagte er mir dann: »Meine Feinde wagen nicht mehr, mich anzugreifen.« Der Konflikt mit dem Vater war mein ödipales Problem; aber aus dem bewältigten Konflikt entstand der verwandelte Vater, der über mich dem Patienten half.

Zur Mitteilbarkeit von Gegenübertragungsträumen Am Schluss versuche ich die Frage zu beantworten: Welche Träume können dem Patienten mitgeteilt werden, welche sollen dagegen verschwiegen werden? Abgesehen davon, dass die Erfahrung des Therapeuten, seine Empathie, seine Kenntnis des Patienten nicht quantifizierbare Faktoren darstellen, habe ich folgende Kriterien der Mitteilbarkeit herausgearbeitet: − Träume, die aus einem bereits bewältigten Konflikt des Therapeuten stammen; sie dürfen sonst nicht mit den unbewältigten Konflikten des Therapeuten den Patienten belasten; − Träume, die dem Patienten stellvertretend eine Lösung der Konflikte vorschlagen; − Träume, die eine Symmetrie des Therapeuten mit dem Patienten anzeigen, die diesem wegen ihrer Nähe keine große Angst macht; − Träume, die im eindeutig positivierenden Sinne erschüttern; − Träume, die den Wahn in keiner Weise bestätigen; − Träume, die psychopathologische Aspekte des Patienten, etwa seinen Narzissmus, Infantilismus, seine Destruktivität, nicht allzu grob demaskieren; − Träume, die nicht eine problematische Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs und entsprechende therapeutische Zweifel enthalten.

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Ich schließe mit der Feststellung, dass die Psychosentherapie Erfahrungsbereiche erschließt, die nicht nur spezifisch, sondern für die ganze Psychoanalyse und ihr Menschenbild relevant sind.

Literatur Benedetti, G. (1998). Botschaft der Träume. Unter Mitarbeit von E. Neubuhr u. a. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Benedetti, G. (2006). Symbol, Traum, Psychose. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Peciccia, M. (1998). Der Traum in der Psychotherapie der Schizophrenie. In G. Benedetti (Hrsg.), Botschaft der Träume (S. 213–232). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Edith Seifert

Was hat Josef Breuer falsch gemacht? Zu Gegenübertragung oder Begehren des Psychoanalytikers

Kurz nachdem ich der Einladung von Helmwart Hierdeis zu einem Beitrag über Gegenübertragungsträume in der Kur zugesagt hatte, hatte ich einen Traum. Es ging um eine Analysantin, die seit kurzem bei mir in Behandlung ist und schon lange Jahre Analyse hinter sich hat. Sie war zuvor bei Kollegen, die ich mehr oder weniger gut kenne; ihre letzte Analytikerin schätzte und bewunderte ich sogar, sie ist leider vor einigen Jahren gestorben. Diese Kollegin war meiner Überzeugung nach in ihrer Handhabung der Kur strenger oder aber – im Traum blieb das unklar – nicht so streng wie ich. Sie steht im Kreis mit anderen Frauen, sieht indes, wie es im Traum oft vorkommt, völlig anders aus, als ich sie in Erinnerung habe: jünger, weniger stilisiert und mächtig. Ihre Haare sind heller, eher rötlich bis braun, vielleicht auch blond, und kürzer geschnitten als ich sie trage (in Wirklichkeite habe ich rote und kürzere Haare). Sie sieht legerer oder, wie man etwas böswillig auch sagen könnte, weniger aufgedonnert aus. Auch ihrer Gestalt nach ist sie verändert; sie ist länger und dünner, als sie es in Wirklichkeit war. Sie macht insgesamt einen lockereren und leichteren Eindruck. Ich wundere mich, dass ich sie nicht schon früher so gesehen habe. Der neue Eindruck ist mir aber angenehm, da er mir weniger Respekt und Angst abnötigt. Da ich mich nicht daran erinnern kann, über meine Analysen bisher viel geträumt zu haben, es jetzt aber ganz danach aussieht, als wollte ich den geplanten Titel meines Aufsatzes wider Willen unterlaufen, teile ich, belustigt von dieser merkwürdigen Subversion meiner selbst, das dem Herausgeber mit, woraufhin dieser mir Mut zuspricht, meine intellektuellen Gewissheiten doch umzustürzen, da es laut Karl Popper jedem ernst zu nehmenden Menschen ohnedies anzuraten sei, dies mindestens einmal täglich

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zu tun. Nach einigem Nachdenken kommt mir mein Traum allerdings weniger subversiv vor, als ich zunächst befürchtete. Vielmehr scheint mir jetzt, als würde er einer neuen Sicht auf die Handhabung der Kur Ausdruck geben, in der die Position des Psychoanalytikers, in Gestalt der bisher überhöhten Kollegin, für mich jetzt normaler und mir angemessener erscheint. Der Traum verweist also auf meine neue Sicht von der Position des Psychoanalytikers angesichts einer Analysantin, die, wie ich befürchte und sie selbst mir später entgegenhält, ein glanzvolleres, »knalligeres« Objekt der Übertragung wünscht, als ich es verkörpere. Dass der Traum außerdem auf die behandlungstechnischen Probleme der Psychoanalyse anspielt, um die ich mich zugunsten der Theorie bisher weniger gekümmert habe, ist ein anderes Thema. Ich komme also zu der Deutung, dass mein Traum, wenn auch nicht direkt von der Gegenübertragung, so doch von neuen Sorgen meines therapeutischen Über-Ich spricht.

Josef Breuer und der Fall Anna O. Bevor ich mich nun einigen theoretischen Erörterungen zuwende, möchte ich die Frage nach der Gegenübertragung bzw. dem Begehren des Psychoanalytikers mit einem klassischen Fall eröffnen. Ich beziehe mich hierzu auf die erste Liebesgeschichte der Psychoanalyse, den, wie man ihn wohl nennen darf, ersten Sündenfall der Psychoanalyse, den Fall, mit dem alles anfing, den Fall von Anna O. (Breuer, 1895/1987). Die Fallgeschichte ist schnell skizziert. 1895 kam Anna O., alias Bertha Pappenheim, wegen vielfältiger, körperlich auftretender Symptome, die in Kopfschmerzen, Sehstörungen, Krämpfen und einem Taubheitsgefühl in der rechten Körperhälfte wie auch in Sprachstörungen und merkwürdigen Bewusstseinsspaltungen bestanden, zu Freuds älterem Freund und Mentor Josef Breuer in Behandlung. Mit der neu entdeckten kathartischen Methode, der reinigenden Wirkung durch Wegsprechen, gelang es ihm bald, die Patientin von ihren Qualen zu befreien, so dass er, von Freud darin bestätigt, den Fall als mit vollem Erfolg abgeschlossen verbuchen

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konnte. So lautet der Mythos. Die Wahrheit hingegen sah anders aus. Diese Behandlung war ein dramatischer Misserfolg, und die Patientin musste schwerkrank und morphiumsüchtig in die Kreuzlinger Klinik Bellevue eingeliefert werden. Wie E. Jones (1978) und H. Ellenberger (1973, S.  667) später enthüllten, hatte Breuer die Behandlung überstürzt abgebrochen, nachdem Anna O. in Fortsetzung ihrer Übertragungsliebe zu ihm eine Scheinschwangerschaft ausgebildet hatte, woraufhin Breuer, der vor solcher Liebe nicht gewarnt war, von kaltem Entsetzen ergriffen die Flucht suchte. Er brach mit seiner Frau Mathilde – die vor Eifersucht schon kurz vor dem Suizid stand – sofort zu einer zweiten Hochzeitsreise nach Venedig auf, als deren Frucht neun Monate später das Kind der realen Liebe, Dora Breuer, das Licht der Welt erblickte. Bleibt die Frage: Was hatte Breuer falsch gemacht? Warum fand er keinen anderen Ausweg aus der Gegenübertragung?

Gegenübertragung nach Freud Die Frage lässt sich schnell beantworten. Breuer hatte, wie sich bald herausstellte, die Rolle der Sexualität übersehen, deren Einschätzung auch der Grund für das bald folgende Zerwürfnis mit Freud wurde. Trotzdem war es nicht die Sexualität allein oder Breuers möglicherweise anpässlerisches Zögern, die sexuelle Ätiologie bei der Entstehung der Neurosen anzuerkennen, das hier den Ausschlag gab. Der Hauptgrund für Breuers Scheitern in der Kur mit Anna liegt vielmehr darin begriffen, dass ihm noch nicht »die nötige harte Haut gewachsen« war, »mit der man der Gegenübertragung Herr wird« (Freud und Jung, 1974, S. 254 f.). Breuer war noch nicht darauf vorbereitet, dass die Kranken Einfluss auf die unbewussten Gefühle des Arztes nehmen und seine eigenen Affekte in der Behandlung eine Rolle spielen könnten – geschweige denn, dass ihm von einem Umgang mit seinem Unbewussten etwas geschwant hätte. Gut möglich deshalb, dass Freud an Breuers Desaster mit Anna dachte, als er später die Empfehlung aussprach, der Arzt müsse sein Unbewusstes durch eine eigene Analyse kennen gelernt haben, da er in den Behandlungen nur so weit komme,

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als seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände es gestatten. »Wir sind auf die ›Gegenübertragung‹ aufmerksam geworden, die sich beim Arzt durch den Einfluß des Patienten auf das unbewußte Fühlen des Arztes einstellt und sind nicht weit davon, die Forderung zu erheben, dass der Arzt diese Gegenübertragung in sich erkennen und bewältigen müsse. Wir haben, seitdem eine größere Anzahl von Personen die Psychoanalyse üben und ihre Erfahrungen untereinander austauschen, bemerkt, dass jeder nur soweit kommt, als seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände es gestatten und verlangen daher, dass er seine Tätigkeit mit einer Selbstanalyse beginne, und diese, während er seine Erfahrungen an Kranken macht, fortlaufend vertiefe. Wer in einer solchen Selbstanalyse nichts zustande bringt, mag sich die Fähigkeit, Kranke analytisch zu behandeln, ohne weiteres absprechen« (Freud, 1911/1969, S. 108).

Weiterentwicklungen des Gegenübertragungskonzepts Freuds zwar explizite Auslassungen zur Gegenübertragung sind bei aller Deutlichkeit spärlich, weshalb sie im Laufe der Zeit verschiedene Weiterentwicklungen erfahren haben. Hierunter zeichnen sich insbesondere zwei Richtungen ab: − Zum einen die Richtung, wonach die Gegenübertragung als ein bedauerlicher und schädlicher Begleitumstand der Kur beurteilt wird. R. Spitz (vgl. Lacan, 1962/1963) beurteilt sie sogar als Ausdruck eines »blinden Flecks« beim Psychoanalytiker, als ein unanalysiertes Element, das die analytische Arbeit hindert und die analytische Erkenntnis hemmt. Gegenübertragung bringt die Gefahr der Einmischung des Unbewussten mit sich, das, wie jede Form eines »schattenhaft« gebliebenen Unbewussten, auch beim Psychoanalytiker als Quell von nicht beherrschten und blinden Antworten betrachtet werden muss, aus dem verfehlte Interventionen, wenn nicht sogar Behandlungsfehler entstehen. − Zum anderen die Auffassung, wonach die Gegenübertragung ein produktives Phänomen ist, das vorbehaltlos zu begrüßen ist, da es dem Psychoanalytiker ermögliche, die unbewussten Vor-

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gänge des Patienten direkt zu verstehen (Laplanche und Pontalis, 1980, S. 164). Heute wird die Gegenübertragung unter beiden Aspekten verstanden: Sie wird als störend beurteilt, sofern sie die analytische Erkenntnis verzerren kann, bleibt aber das Instrument zum Verstehen des Unbewussten des Patienten schlechthin – vorausgesetzt allerdings, dass sie analysiert, gedeutet und bewusst gemacht worden ist. Unter der Voraussetzung von selbstanalytischer Kontrolle stellt die Gegenübertragung selbst für so strenge Psychoanalytikerinnen wie P. Heimann ein Instrument erster Güte zur Erforschung des Unbewussten dar, mit dem die Abkömmlinge des Unbewussten des Patienten in den Gefühlen des Analytikers verstanden werden können. Gegenübertragungsgefühle können überdies als ein »Frühwarnsystem« für die eigene Verstrickung in die Abwehrfiguren des Patienten genommen werden. Analysierte Gegenübertragungsgefühle zumal sind für den Psychoanalytiker als ein Schlüssel zum Unbewussten des Patienten zu bewerten (Heimann, zit. nach Reinke, 1995, S. 53). Unter den Überlegungen, wie die Gegenübertragung am besten nutzbar zu machen sei, wird auch die Frage erwogen, ob der Psychoanalytiker seine Gegenübertragungsgefühle dem Patienten mitteilen solle. Auch hierzu finden sich verschiedene Ansichten: Nein zum Mitteilen der Gefühle sagt Paula Heimann, oder doch nur, wenn die Mitteilung das Verstehen des Unbewussten befördert und die Gegenübertragungsgefühle reflektiert und kontrolliert worden sind. (Wegen der gebotenen Distanz gegenüber der speziellen Beziehungssituation und wegen der Wahrung der Kompetenz des Psychoanalytikers kann es keine Mitteilung rein dem Gefühl nach geben oder doch nur von Gefühlen, die, wie gesagt, selbstanalytisch befragt worden sind. In diesem Sinne wäre es beispielsweise nicht ratsam, wenn ich einem meiner Analysanten entgegenhalten würde: »Ich fühle mich durch Sie provoziert!« Richtiger wäre es, ihn wissen zu lassen: »Es scheint für Sie wichtig zu sein, dass Sie mich provozieren!« Oder wie eine eher laconische Entgegnung lauten könnte: »Warum wollen Sie mich provozieren?«) Zusammenfassend sind unter Gegenübertragung also alle Gefühle zu verstehen, »die der Psychoanalytiker in bezug auf seine

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Patienten in der analytischen Situation erleben kann«, wobei die Persönlichkeit des Psychoanalytikers zwar nicht unwichtig, aber doch zweitrangig ist, und lässt sich sagen, dass Gegenübertragung dem Ziel dient, die »lebensgeschichtlichen Bedeutungen des Patienten zu verstehen«. »Die Gegenübertragung kann eine zusätzliche und wichtige Erkenntnis zum Verstehen des Unbewußten des Patienten weisen, wenn die selbstanalytischen Fähigkeiten des Analytikers ausreichen, um das zunächst nur Gefühlte dem Verstehen zuzuführen« (Heimann, zit. nach Reinke, 1995, S. 58). Abschließend sei noch angemerkt, dass die Debatte um die Handhabung der Gegenübertragung in Zusammenhang mit der »Selbst«- und »Objektbeziehungs«-Theorie steht, die nach verbreiteter Ansicht die als dialogisch verstandenen Aspekte des psychoanalytischen Prozesses am besten integriert (Reinke, 1995, S.  44). Gleichwohl sind nicht alle Psychoanalytiker einhellig der Auffassung, dass die psychischen Prozesse kommunikativ und intersubjektiv aufgebaut sind. Insbesondere bei Lacan stößt diese Auffassung wegen der eingeschränkten Akzentuierung des Unbewussten auf keine Gegenliebe.

Lacans Deutung der Gegenübertragung als Begehren des Psychoanalytikers Lacan bestreitet nicht die Realität von Gegenübertragungsgefühlen. Wie Paula Heimann ist er der Meinung, dass der Psychoanalytiker dem Analysanten nicht gerecht wird, wenn er nicht sein »eigenes« Unbewusstes geschliffen und seine Leidenschaften gemäßigt hat. Trotzdem gibt es deutliche Akzentverschiebungen in Lacans Auffassung der Gegenübertragung (Lacan 1962/1963; 1991). Die erste setzt, wie erwähnt, bei der Auffassung an, wonach die Gegenübertragung Teil eines intersubjektiv ablaufenden Kommunikationsgeschehens ist, das bei entsprechend reflektiertem Umgang einen Zugang zum Unbewussten des Analysanten eröffnet. Das Unbewusste des Analysanten hat damit für den Anderen den Anschein von Verstehbarem. In Lacans Weiterentwicklung des Gegenübertragungskonzepts kann davon nicht die Rede sein. Hier

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bleibt das Unbewusste eine Dimension, die sich, allen analytischen Anstrengungen zum Trotz, dem Zugriff von Wissen und Erkenntnis grundsätzlich entzieht und den Subjekten höchstens in Form von Verlusten (d.  h. Symptomen und Träumen) erkennbar wird. Um den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs mitsamt seinen Folgen zu verstehen, mag man sich in Erinnerung rufen, dass das Unbewusste nach Freud mehrere Aspekte umfasst, einen deskriptiven, einen dynamischen und einen topischen. Welche Aspekte der Trias herangezogen, welche davon akzentuiert werden, welche nicht, das alles entscheidet über die Auffassung und Handhabung der Gegenübertragung. In diesem Sinn wird deutlich, dass die kommunikations- und objekttheoretisch begründeten Auffassungen der Gegenübertragung auf der 2. Topik und dem Begriff des deskriptiven Unbewussten fußen und das Unbewusste von seinen Eigenschaften her verstehen, die einen Vorgang als latent bzw. zeitweilig nicht bewusst oder als verdrängt erscheinen lassen, während die Lacan’sche Psychoanalyse die Gegenübertragung von der 1. Topik her erörtert, d.  h. das Unbewusste als Es von der topischen Seite her versteht. Freud bezeichnet diesen Aspekt als den dritten und wichtigsten des Unbewussten (Freud, 1915/2000, S. 36; Seifert, 2008, S. 198–204). In der Lacan’schen Entwicklung wird damit ein Unbewusstes zugrunde gelegt, das einerseits energetisch strukturiert ist und von den Primärprozessen regiert wird und andererseits, in Form des Es, von blindem Streben nach Triebbefriedigung und dem Dämonischen des Traums beherrscht wird. Darüber hinaus ist das topische Unbewusste dasjenige, das durch seine besondere Undurchlässigkeit gegen das W-Bw-System auffällt, weshalb Freud es auch als den verborgenen »Kern unseres Wesens« und »Anderen Schauplatz« bezeichnet. Schließlich ist noch ein anderer Umstand bemerkenswert, nämlich dass dem topischen Unbewussten die Affektspuren fehlen. Es sei denn, man bezieht sich auf diesen einen Affekt, nämlich die Angst.

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Vom topischen Unbewussten zur Angst Mit dem topischen Unbewussten tritt ein Affekt ins Spiel, den Freud wegen seiner fehlenden motorischen Abfuhrmöglichkeiten nur eingeschränkt einen Affekt nennt: die Angst. Von der Angst her begriffen, wird die Aufmerksamkeit auf eine Dimension gelenkt, die jenseits von Vbw, Bw und Ich liegt, die vielmehr ein Jenseits des Narzissmus beschreibt. Vor allem aber bringt die Angst ein Realitätskriterium erster Güte mit sich, ist doch die Angst das, was nicht täuscht. Von der Angst des Es aus betrachtet, dürfte nun verständlicher werden, warum die »selbstanalytische« Befragung der verdrängten, unanalysierten Elemente bzw. – wie es der strukturalistische Psychoanalytiker formuliert – der verdrängten Signifikanten des Psychoanalytikers so wenig nützlich scheint (Lacan 1962/1963, Sitzung vom 27. 2. 1963). Unter Berücksichtigung der Es-Angst gerät die Gegenübertragung nämlich in die Nähe der unanalysierbaren Elemente auch des Psychoanalytiker-Subjekts oder, um genauer zu sein, in die Nähe des Objekts der Angst. Es stellt sich jedoch die Frage, was denn die Quelle dieser Angst sei, die durch keine analytische Selbstreflexion zu besänftigen noch überhaupt gratifizierbar ist. Sagen wir fürs Erste, dass sie im Kontext des Psychischen auf den Komplex hinweist, der sprichwörtlich für die Psychoanalyse als solche ist, nämlich die Tragödie des Ödipuskomplexes. Die in Rede stehende Angst ließe sich also fürs Erste als unbewusste Kastrationsangst verstehen. Doch der Hinweis auf die Angst reicht weiter. Er weist auf die Existenz einer grundlegenden Versagung in der Kommunikation der psychischen Vorgänge hin und geht zurück auf den traumatischen Ursprung des Seelenlebens an sich, dessen Wirkungen sich kein Subjekt, auch kein Psychoanalytiker entziehen kann. Es darf nicht vergessen werden, dass die Kur, wie Freud anmerkte, stets in der Versagung stattfindet. Angesichts dieser Grundstörung dürfte einleuchten, dass die intersubjektive Kommunikation unter den Subjekten nicht gelingt, sondern im Gegenteil von Grund auf stockt. Es sieht ganz danach aus, dass die Beziehung von Psychoanalytiker und Analysant davon nicht ausgenommen ist, da auch sie unter dem Vorzeichen der Angst steht. Die Begründung der

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Gegenübertragung über die Angst konfrontiert deshalb mit der Notwendigkeit eines Umwegs des Subjekts über den Anderen.

Dimension und Bedeutung des Umwegs über den Anderen in den psychischen Bildungen: Freuds Umweg über Fließ Durch den Umweg über einen Anderen hatte die Psychoanalyse denn auch ihren Anfang genommen. Doch waren es nicht die mehr oder weniger bekannten geistigen Einflüsterer (Schopenhauer, Nietzsche, Hartmann, Grodeck u.  a.  m.), die Freud auf die Spur brachten, ausschlaggebend war vor allem dieser eine, besondere Andere, zu dem Freud in erotisch-begehrensmäßiger Beziehung stand: der Berliner HNO-Arzt Wilhelm Fließ. Weit mehr als ein Stichwortgeber für Freud zu sein, war Fließ, wie es in den Briefen heißt, stets der geliebte, unverzichtbare »Andere« – »Ich kann Dich aber, den Repräsentanten des ›Anderen‹ nicht entbehren« –, durch dessen Vermittlung Freud viele seiner anfänglichen Entdeckungen, man denke nur an den Ödipustraum, überhaupt erst möglich wurden (Freud, 1962, Brief vom 6. 12. 1896). Freuds Adressierung an die Subjektivität eines Anderen am Ursprung der Psychoanalyse ist Lacan zufolge indes kein zufälliger Umstand, sondern ist methodisch und wissenschaftstheoretisch grundlegend. Ihre Bedeutung liegt in der Erkenntnis, dass das Phänomen des Unbewussten konstitutiv auf dem Feld des Anderen angesiedelt ist und es ein dem Subjekt selbst zugehöriges Unbewusstes und Begehren im Grunde nicht gibt.1 Erfahrungen des Unbewussten werden ausnahmslos über das Unbewusste eines Anderen gemacht, sie sind als Übersetzungen des Unbewussten eines Anderen zu verstehen. Womit das Subjekt im Hinblick auf seine unbewussten Wünsche und Triebe bzw. sein Begehren als enteignet zu betrachten ist. Oder, wie Freud es nannte: Wegen der Unerkennbarkeit des Realen haben wir uns mit Ergänzungen und 1 Siehe dazu Freud, demzufolge das Symptom den Umweg über die Übertragungsneurose nimmt.

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Übersetzungen des Unbewussten zu begnügen (Freud, 1938, S. 53; Wegener, 2004). Dennoch bringt die Wendung an den Anderen zunächst einen Vorteil mit sich, entlastet sie doch von dem Anspruch, alles von sich selbst zu wissen. Zwar macht sie das Selbsterkennen nicht einfacher, da die Schwierigkeiten vom Verstehen des Eigenen jetzt auf das Verstehen des Anderen verlagert sind, zumal durch die imaginäre Verstrickung mit ihm jetzt auch noch die Angst auf den Plan gerufen ist. Noch einmal sieht es deshalb so aus, dass es zwischen den Subjekten, Analysant und Psychoanalytiker nicht ausgenommen, eng ist und klemmt. Zerstörungswut, Todestrieb und ein Jenseits des Narzissmus liegen da nicht fern.

Umweg – metapsychologisch Das Thema der Entstehung des Psychischen über den Anderen und die Notwendigkeit des Umwegs nimmt bei genauer Betrachtung großen Raum in Freuds Schriften ein. Es findet sich schon in den ersten Überlegungen zur Konstruktion des psychischen Apparats, die Freud seinen Briefen an Fließ anfügte. Es taucht insbesondere im Anhang zu einem dieser Briefe auf, den Freud als »Entwurf einer Psychologie« (Freud, 1895) titulierte. In dieser voranalytischen Schrift wird – unverändert beibehalten bis zum Schluss – das Fundament des psychischen Apparats gelegt und beschrieben, wie der psychische Apparat von Erfahrungen »unbeherrschbarer Quantitäten« und »überstarken Vorstellungen« tyrannisiert wird (Freud, 1895, S. 334, 347), die sich für das Subjekt deshalb als verhängnisvoll auswirken, wie sie sich als grundlegend unkontrollierbar darstellen. Freud ahnt zudem, dass sie das Subjekt ein Leben lang okkupieren werden. Gleichwohl scheint es einen Weg zu geben, der dieser Not eine Wendung gibt. Freud nennt ihn die »Sekundärfunktion der Verständigung« und die Sprachbahn (Seifert, 2008, S. 145). Auf diesem Weg taucht der Andere auf.

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Der Andere ist nicht neutral, sondern sexuell konnotiert Dieser Andere ist keine einfache Adresse für das Subjekt, da er ihm nicht einfach Helfer und Begleiter ist. Wie das Subjekt sich von sich selbst enteignet, konfrontiert es der Andere mit der Frage nach seinen Absichten und seinem Begehr (was will er mir?). Ab der phallischen Phase, wenn das kleine Subjekt seine neue Lust dann am Körper des Anderen wahrnimmt (Kastrationskomplex), wird er außerdem sexuell, als Statthalter der phallischen Lust wahrgenommen. Lust erscheint dem Subjekt jetzt als die Lust des Anderen. Erneut erweist sich, dass das Fehlen, hier einer eigenen Lust, zum Umweg über den Anderen nötigt. Angekommen bei dem Ödipuskomplex wird nun aber klar, warum es triebtheoretisch nicht anders geht. Der Umweg über den Anderen ist notwendig, weil das variable und konstitutiv verlorene Objekt des Sexualtriebs klar auf dem Feld des Anderen liegt. Im Hinblick auf das Unbewusste, das nach der kommunikationstheoretischen Version der Gegenübertragung verstehbar sein soll, lässt sich anschließend fragen, wie ein Spaltungsprodukt wie die triebgesteuerte Sexualität, die nach Freud den Hauptinhalt des Unbewussten ausmacht, verstehbar sein kann. Was bedeutet das aber für den Analysanten?

Bedeutung des Umwegs für den Analysanten Angesichts der traumatisch wirkenden Lücke des Seelenlebens sowie den Umbildungen der Sexualität bedeutet das Dazwischentreten des Anderen für das Subjekt zunächst eine große Erleichterung (vgl. den »Honeymoon« in der ersten Zeit der Kur). Mit den Veränderungen der Sexualität wurde die Tragfähigkeit des eingeschlagenen Umwegs immer wieder auf die Probe gestellt, zumal der Trieb laut Freud bereits selbst ein Umwegprodukt darstellt und seine Umwegigkeit für ihn derart unumgänglich ist, dass eine Identität von gewünschtem und wahrgenommenem Objekt unweigerlich in die Psychose führte. In dieser triebmäßigen Situation

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bietet der Psychoanalytiker nicht nur einen Halt, sondern ist für den Analysanten gleichzeitig ein Ersatzobjekt, ein Substitut des ersten großen Anderen.2 Dem Analysanten dämmert nämlich schon bald, dass er nur ein vergleichsweise schales Hilfsmittel ist, dessen Ungenügen sich nicht verhehlen lässt, weil er weder die »Not des Lebens« noch die »unbeherrschbaren Qualitäten« des Seelenlebens ungeschehen machen kann. Doch so ungenügend der Analytiker dem Analysanten auch vorkommen mag und so sehr die Wahrnehmung seines Ungenügens den Analysanten in Wut versetzen mag, erscheint er ihm auf der anderen Seite wiederum so übermächtig, dass der Analysant sich in seinem Narzissmus infrage gestellt fühlt: »Ich will nicht, dass Sie mich ohne Phallus, so schwach sehen! Was geht Sie das denn an? Mein Ärger mit meiner Freundin, mein sexuelles Versagen, weil ich eine Frau bin?« Noch ein weiterer Umstand kommt erschwerend hinzu. Der alle Übertragungsgefühle begleitende Eindruck des Analysanten nämlich, dass seine Gefühle nicht die richtigen sein können und die ganze Beziehung wohl eine Täuschung sein muss.

Bedeutung des Umwegs für den Psychoanalytiker Wegen der Widersprüchlichkeit der Positionen, die dem Psychoanalytiker in der Kur zugeschrieben werden, muss der Psychoanalytiker gut wissen, an welchem Platz er steht. Er muss wissen, dass er einerseits ein Substitut des ersten Anderen ist, von dessen Autorität und Nimbus er profitiert, dem er andererseits doch nicht genügen kann. Gleichzeitig wird ihm nicht entgehen, dass er im Rahmen der Kur wiederum die einzige Anwesenheit und Adresse darstellt, die momentan existiert. Die Position des Psychoanalytikers ist also zwiespältig. Als ein Ersatz ist sie im Hinblick auf Macht und Größe zu wenig, im Vergleich zur Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Analysanten schnell wieder zuviel. Weil dem Psychoanalytiker das alles bekannt ist, wird 2 Mutter, Vater fungieren im Idealfall als die ersten Anderen, die für das Kind die Leere repräsentieren und gleichzeitig halten.

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er sich in der Kur nicht einfach als ein Anwesender angesprochen fühlen, sondern eher wie ein Platzhalter der Leere und Lückenbüßer, der buchstäblich auf verlorenem Posten steht. Konkret wird das spürbar, wenn ihn der Analysant infrage stellt. (Bei einer meiner Analysantinnen war das deutlich zu hören. Sie war nicht davon abzubringen, die Psychoanalytikerin mit Fragen nach ihrer Person zu bombardieren: »Wie finden Sie das? Was meinen Sie dazu? Was raten Sie mir persönlich?« Selbst wenn ich eine ihrer Fragen aus schierer Verzweiflung einmal beantwortet hatte, hörte sie nicht auf, zu fragen. Fragte weiter, ob ich schon einmal in den USA war, wo genau, mit wem, wann, wie lange und warum? Oder wohin ich in die Ferien führe, warum dahin und weshalb? Der Analysantin ging es nicht um den Anwesenheitsbeweis ihrer Analytikerin, sondern um den Beweis eines, meines Verlustes. Offensichtlich dämmerte ihr nämlich, dass sie über den Verlust dieses Anderen, den ich repräsentierte, als Subjekt auf ihre Kosten kommen würde. Das Begehren ist eben das Begehren des Anderen.) Und: Der Analytiker kann und weiß es an der Stelle der Urversagung nur um ein Weniges besser als der Analysant. Worin besteht dann aber sein Plus? Was gibt er dem Analysanten? Und gibt er denn überhaupt?

Woran ist man mit der Übertragung und was gibt der Psychoanalytiker? In der Kur geht es um Liebe und Hass. Beide Regungen sind unvermeidlich und werden von der analytischen Situation, dem Setting als solchem hergestellt. Anders gesagt, die Übertragung kommt spontan zustande. Sie funktioniert, wie Freud meinte, bereits durch die bloße Unterstellung der analytischen Situation (Lacan, 1991, S. 230). Indessen ist die Übertragungsliebe der Kur eine besondere Liebe. Nicht, weil sie wegen der Wiederholung, die diese Liebe darstellt, nicht authentisch wäre. Die Wiederholung ist noch nicht einmal das eigentlich Besondere daran, meint zumindest Lacan.. Das Besondere daran sei vielmehr die in der Übertragung unklare

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Adressierung an den Anderen bzw. der sich dabei ergebende Eindruck der Täuschung. Dieser Verdacht der Täuschung stellte die Therapeuten – angefangen bei Charcot und Bernheim – schon immer vor Rätsel. Heute wird darauf meistenteils mit der Überlegung reagiert, ob die Übertragung tatsächlich echt und authentisch oder nicht doch ein Simulationsgeschehen sei, möglicherweise sogar ein als pathologisch zu bewertender Suggestionseffekt. Die Frage nach dem Realitätsgehalt der Übertragung ist indessen auch ein Thema in den Debatten um die Gegenübertragung. Sie erscheint beispielsweise in den Erwägungen einer Psychoanalytikerin wie M. Little (1957), die danach fragt, ob sich der Analytiker durch Mitteilung seiner Gegenübertragungsgefühle zuweilen nicht doch als reale Person manifestieren solle. Angesichts von Freuds Hinweis auf die zwischen Person und Platz des Psychoanalytikers bestehende Differenz und die an die Psychoanalytiker gerichtete Warnung, die Übertragungsliebe nicht mit der eigenen Person zu verwechseln, kann diese Überlegung allerdings verwundern. Oder lacanianisch formuliert: Insofern die Übertragung immer nur eine Übersetzung des Realen ist, ist der Psychoanalytiker dabei nur in dem Maße gemeint, wie er in der Rede des Analysanten in Erscheinung tritt. Die analytische Beziehung ist deshalb nicht auf Beweise angewiesen, die außerhalb ihres Übertragungsdiskurses liegen, weder auf den Einsatz von Sondergefühlen noch den von unanalysierten Resten des Psychoanalytikers.3 Gleichwohl gibt es, auch für Lacan, einen Affekt, mit dem sich die Realität des Psychischen nicht besser beweisen könnte – nämlich die Angst! Die Angst ist ein Gefühl, das mit Sicherheit nicht täuscht. Das Gefühl der Angst ist es denn auch, von wo aus Lacan zu seiner Deutung der Gegenübertragung überleitet und sie in das überführt, was jetzt das Begehren des Psychoanalytikers heißt.

3 Was den Eindruck der Täuschung betrifft, der die Übertragung gleichwohl begleitet, so verdankt er sich Lacan zufolge dem Umstand, dass die Übertragung hinsichtlich ihres Liebesanspruchs zwar für einen Anderen gemacht ist, hinsichtlich des Begehren des Subjekts indessen auf ein Objekt, nicht auf ein Subjekt, zielt (Lacan, 1991, S. 203).

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Der Analysant liebt den Analytiker wirklich Bleiben wir, um die Gegenübertragung besser zu verstehen, noch einen Moment bei der Frage, warum der Analysant meint, den Pychoanalytiker zu lieben. Antwort: Weil er das hat, was ihm fehlt! Besser gesagt, weil er ihm unterstellt, seine Leere ausfüllen zu können. Der Psychoanalytiker scheint das zu haben, was den Analysanten zu einem vollständigen Wesen macht, was ihn autonom, selbständig und überhaupt seines Lebens glücklich macht. Psychoanalytiker unterschiedlicher Couleur wie M. Balint, M. Little, Lucy Tower oder P. Heimann geben das in ihren Auslassungen zur Gegenübertragung auf je verschiedene Weise zu verstehen. Sie sprechen etwa von der hundertprozentigen Verantwortung des Analytikers für den Analysanten (Heimann, 1964; Tower, 1956; Szasz, 1957), dem richtigen Wissen, das er besitze (Szacz, 1957), oder auch von seiner besonderen Neugier. M. Little definiert die analytische Beziehung ganz ausdrücklich als eine Beziehung zwischen einer Person, die etwas mehr hat, und einer Person, die etwas braucht: »person with more gives person with need« (Little, 1957, S.  243). Bezogen auf das Begehren des Psychoanalytikers sieht es damit so aus, als sei es von einem Mehr, nicht von einem Mangel, getragen. Ein prominentes Beispiel für diese Auffassung der Gegenübertragung hatte in der Geschichte der Psychoanalyse inbesondere S. Ferenczi gegeben, der in der Kur darum bemüht war, den Mangel seiner Patienten durch seine »Mutterzärtlichkeit« zu kompensieren. Wo er die Leere seiner Analysanten füttern konnte, schreckte Ferenczi auch vor erotischen Befriedigungen wie Streicheln und Küssen nicht zurück. Es war für ihn auch kein Unding, wenn die Positionen zwischen Analytiker und Analysant einmal vertauscht wurden, so dass letzterer vorübergehend zur Elternfigur wurde (Ferenczi, 1909/1984; Jones, 1978, S. 197 ff.).

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Freuds Ablehnung von Gratifizierungen des Analysanten. Die Spiegelmetapher Ganz anders hier Freud. Seine Ablehnung der kompensierenden, gratifizierenden Auffassung der Gegenübertragung ist aus dem Briefwechsel mit Ferenczi bekannt. Im Gegensatz zu den Techniken der Bemutterung forderte Freud die Psychoanalytiker zu einer eher väterlichen Haltung der Versagung auf. Um den Antrieb zur Veränderung zu erhalten, empfahl er sogar, auf eine heute allerdings nicht mehr praktikable Weise, die Befriedung so weit in der Schwebe zu halten, dass beispielsweise Entscheidungen über die Partnerwahl, Berufswahl und andere wichtige Angelegenheiten des Lebens auf das Ende der Kur aufgeschoben wurden.4 Im Zusammenhang mit der Frage nach der Haltung des Psychoanalytikers findet sich dann auch das berühmte Ideal vom Chirurgen, an dessen professioneller Affektlosigkeit der Analytiker sich ein Beispiel nehmen solle. Ebenfalls hierher gehört auch die Metapher vom blank polierten Spiegel, den der moderne Seelenführer in der Kur zu imitieren habe und der ebenfalls meist als Aufruf zur Apathie interpretiert wird. Geht man bei der Spiegelmetapher näher ins Detail, nimmt sich die Gegenübertragung indessen noch anders aus. Jenseits des Ratschlags, sich dem Patienten gegenüber nur abweisend wie die Oberfläche eines Spiegels zu verhalten, lässt sich Freuds Bild dann als die Aufforderung an den Psychoanalytiker verstehen, für den Analysanten überhaupt zum Spiegel zu werden. Gleichzeitig verweist die Metapher auf die in der Übertragung gängige Vorstellung, wonach, kleinianisch formuliert, der Psychoanalytiker das gute oder schlechte Objekt des Patienten verkörpert. Doch der optische Vorgang des Spiegelns evoziert noch ein anderes Phänomen. Als ein optisches Instrument verstanden, macht er klar, dass das Reflexionsvermögen des Spiegelns grundsätzlich eingeschränkt ist. Ein Spiegelbild gibt nicht alles von dem wieder, der vor ihm steht. Gespiegelt wird nur eine Ansicht des zu spiegelnden Objekts. Außerdem gibt es den berühmten »blinden Fleck«, der in den schon 4 Man muss hier jedoch berücksichtigen, dass die Kuren damals nur Monate dauerten.

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erwähnten Überlegungen zu den Gefahren der Gegenübertragung mit den unanalysierten Elementen des Psychoanalytikers verglichen wurde, zuerst aber ein physikalisch optisches Phänomen ist, das die Lücke im Gesichtsfeld bezeichnet, an der keine Wahrnehmung möglich ist. Freuds Aufforderung an den Psychoanalytiker, sich zum Spiegel des Analysanten zu machen, gibt damit zu bedenken, dass selbst der Analytiker, der seinen Spiegel für den Patienten noch so sehr poliert, nicht alles von ihm reflektieren kann. Das Spiegeln in der Kur muss trotzdem nicht als eine Schwäche psychoanalytischer Technik aufgefasst werden. Lacan als strukturalistischer Psychoanalytiker ist im Gegenteil sogar der Meinung, dass der Psychoanalytiker die Kur genau auf diesen nicht spiegelbaren Teil am Subjekt, dieses a genannte Objekt, auszurichten habe. Dieses Objekt, das der Analysant nur bei einem Anderen wahrnimmt, obwohl es, freudianisch gesprochen, der »Kern unseres Wesens« ist oder, weniger substantiell formuliert, die Ursache seines Begehrens und der Subjektivität. Über die Erkenntnis dieses Objekts, so Lacan weiter, avanciere das Individuum nämlich erst zum Subjekt.5 Freuds Metapher vom Spiegel referiert damit auf eine Form von Selbsterkenntnis, ein »erkenne dich selbst« sehr moderner Art. Sie meint kein Erkennen der »wahren Seele«, von dem ein Platon spricht, wohl aber das Erkennen einer Wahrheit, die die eines entfremdeten Begehrens und des Objekt dieses Begehrens ist. In welchem Ausmaß ein solches Erkennen auf die Vermittlung des Anderen angewiesen ist, wurde bereits mit Hinweis auf die Rolle belegt, die W. Fließ für Freuds Entdeckung der Psychoanalyse spielte. Es wurde ebenfalls erwähnt, dass dieser Erkenntnisweg über die biographische Bedeutung hinaus für die Psychoanalyse als paradigmatisch gelten kann und grundsätzlich ihre Methode bezeichnet. Was indessen den Analysanten betrifft, so wird er von solchen 5 In der Lacan’schen Psychoanalysetheorie wird im Gegensatz zu den modernen Systemwissenschaften weiterhin vom Subjekt ausgegangen, auch wenn es nicht mehr als eine geschlossene Entität betrachtet wird, sondern sich über den entfremdenden Anderen bildet. Damit steht die Lacan’sche Theorie gewissermaßen zwischen den Fronten. Einerseits rettet sie das Subjekt als Subjekt des Unbewussten symbolisch, andererseits steht sie imaginär auf der Seite der modernen Naturwissenschaften, die das Subjekt verabschiedet haben (Seifert, 2008).

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Umwegen der Selbsterkenntnis zunächst nichts wissen wollen. Er wird sich dagegen sperren, wenn ihn der Psychoanalytiker das Fehlen lehrt. Mit Wut und Hass wird er nicht selten quittieren, dass er genötigt sein soll, das, wie es im Märchen heißt, Fürchten, die Angst zu lernen.6

Platons »Symposion« als Lehrstück für Gegenübertragung Ich möchte zur Illustration des vom Anderen abhängigen Begehrens weiter ausholen und folge dazu einem Verweis, den Lacan in seinem Seminar über die Übertragung auf Platons »Symposion« gibt. Das »Symposion«, zu deutsch Trinkgelage, ist ein Text über den Eros (Platon, 1985). In Reden, Gesprächen und Berichten lässt Platon die berühmtesten Männer Athens vom Ende des fünften Jahrhunderts Lobreden auf Eros halten: Nach der Rede des Phaidros ist Eros »für die Menschen der mächtigste Führer zur Vollkommenheit und Glückseligkeit im Leben wie im Tode« (1985, 180 b); nach Pausanias muss man zwischen dem allgemeinen und dem himmlischen Eros unterscheiden (1985, 180  c); nach Aristophanes war die Gestalt des Menschen anfangs ein rundes Ganzes, wurde wegen der Hybris der Menschen von Zeus aber in zwei Teile geschnitten, womit die Begierde in die Welt kam (1985, 190 d, 191 a); und für Sokrates bezieht sich Eros schließlich auf einen Mangel. Eros begehrt und liebt etwas, wenn er es nicht besitzt (1985, 200 a). Am Ende erweist sich, dass für den als Verdammer des Körpers verrufenen Platon sinnlich körperliche Liebe und Liebe zur Weisheit nicht aufeinander verzichten können. Eros ist geistige, sublimierte Liebe bzw. Begehren nach der Idee wie sinnliche Liebe zugleich. Platons Lehre über den Eros hatte seinerzeit schon Freud inspiriert. Wichtiger als die Reden über den Eros ist im Zusammenhang unseres Themas aber die Lobrede des Alkibiades auf Sokrates, aus 6 Hier ist daran zu erinnern, dass der nicht spiegelbare und damit nicht anerkennbare Teil am Anderen im Subjekt Angst auslöst.

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der Lacan seine Idee zur Weiterentwicklung der Gegenübertragung gewinnt. Es sind besonders zwei Aspekte, die seine Aufmerksamkeit erregen: Zum einen der Positionswechsel, den die Liebenden, der Geliebte und der Liebende, in der Liebe vollziehen, Eromenos und Erastes, zum anderen die Methode, mit der der Weise, Sokrates, die Lobrede seines Schülers Alkibiades analysiert.7 Die Rede des Alkibiades dient hier gleichsam als ein psychoanalytisches Lehrstück. In dieser Rede vergleicht Alkibiades Sokrates, dessen Hässlichkeit sprichwörtlich ist, mit einem plumpen, abstoßenden Silen, einem Wesen, das nach dem Prinzip der russischen Puppen in seinem Inneren noch eine andere Figur birgt, das sog. »agalma«, ein göttergleiches Bild, Götterbild. Dieses Agalma-Objekt hat es Lacan angetan. Es illustriert für ihn das Objekt des Begehrens, das der Analysant beim Psychoanalytiker-Anderen sucht, weil dieser es seiner Vorstellung nach verkörpert, wenngleich er es beim besten Willen nicht spiegeln kann, da es schlichtweg nicht spiegelbar ist, vielmehr die »a-chose« ist, das Unding des Begehrens an sich. Für Alkibiades ist Sokrates solch ein Anderer, der das absolut fremde götterähnliche »agalma«, in Lacan’scher Terminologie die Ursache des Begehrens, inkorporiert. Das macht den Weisen und Knabenliebhaber Sokrates nun zu einer eigentümlichen Figur, die man nicht einfach menschlich nennen kann, sondern der wegen ihrer Ähnlichkeit mit einem Silen und Satyr bestialische Züge zukommen, die wegen des götterähnlichen Bildes aber, das sie umschließt, gleichzeitig göttliche Züge besitzt. Der italienische Philosoph S.  Benvenuto schlussfolgert deshalb, Sokrates, der Liebhaber der Weisheit, sei weder ganz Mensch, noch ganz göttlich, er sei im Grunde dishuman, fremd, ein a-topos. Der Philosoph reiht ihn darum auch unter die Helden ein, die zwischen den Menschen und den Göttern vermitteln. Sokrates ist ein Heros des Eros. Soweit in aller Kürze zu 7 Es muss hinzugefügt werden, dass es hier um die Knabenliebe geht, bei der nach den Regeln der Griechen der Meister einen schönen Jüngling wählte, den er sexuell genießen durfte, wenn er ihn gleichzeitig zur Erkenntnis seiner selbst führte. Um seine Würde zu behalten, durfte sich der Schüler keiner sexuellen Lust hingeben, sondern sollte dem Meister in zärtlicher Freundschaft verbunden sein.

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Sokrates, wie ihn sein Zögling und Geliebter Alkibiades schildert (Benvenuto, 1999, S. 115). Interessant nun aber die Art und Weise, mit der Sokrates Alkibiades seine Weigerung mitteilt, dass er für ihn nicht den Platz des container einnimmt und sein Objekt des Begehrens nicht enthalte. Sokrates will nur von den Dingen der Liebe, den Erotika wissen. Er kennt die Logik der Liebe, weiß, dass der »Begehrende begehrt, was ihm fehlt« und dass sich das Begehren stets ohne unser Wissen zeigt. Und selbst das weiß er, auch darauf macht S. Benvenuto aufmerksam, nur von anderen und sogar von einer Frau, die, von wenigen Ausnahmen wie der Diotimas abgesehen, ansonsten auf der Seite des rohen, ungezügelten Eros steht und bei den Griechen nichts gilt. Sokrates verweigert sich jedem weiteren Zugang, weil er von seinem Schüler nicht zum Objekt seiner narzisstischen Vollkommenheit degradiert werden will. Er will nicht der Liebhaber sein, der eines anderen nur wert ist: »Mir ist nämlich nichts wichtiger«, gibt Alkibiades offen zu, »als so vollkommen wie möglich zu werden, und dazu, glaube ich, gibt es für mich keinen geeigneteren Helfer als dich.« Sokrates behauptet sich dagegen als der Begehrende, als der er nie ganz Mensch ist, sondern immer auch dishuman, fremd und göttlich zugleich (Benvenuto, S.  115). Er beharrt auf seiner Position als Erastes, als Liebhaber des sublimierten Eros. Darüber hinaus beruft er sich auf seine Unwissenheit, sein berühmtes Nicht-Wissen: »Ich weiß, dass ich nicht weiß.« Lacan ist begeistert von dem Unwissen des Sokrates. Er empfiehlt es unerhörterweise als die psychoanalytische Methode schlechthin.8

8 Als ich jemandem, der zu mir in Supervision kam, empfahl, er könne, um seinen Klienten besser hören zu können, es doch einmal mit dem Nicht-Verstehen versuchen, fragte er mich denn auch ungläubig: »Darf man das?«

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Wozu soll die Methode des Unwissens dienen, was ist ihr Zweck und wie kommt man ihm im Einzelnen näher? Ziel ist die Metaphorisierung der Liebe. Wie in der Beziehung der griechischen Weisen zu den schönen Jünglingen geht es auch in der psychoanalytischen Kur um die Verschiebung der Liebespositionen und die Verwandlung des narzisstischen Genießens in ein sublimiertes Begehren. Wie das im Detail geschieht, hatte sich bei der Skizzierung der Spiegelbeziehung bereits angedeutet, wo das Subjekt durch Vermittlung des spiegelnden Anderen auf das Bild seiner – emphatisch gesagt – eigenen Seele zurückfällt. Der kurze Einblick in die Verhältnisse aus dem »Symposion« Platons bringt indes noch eine weitere Übereinstimmung mit der Übertragungsbeziehung der Kur ans Licht. Er besagt, dass der spiegelnde Andere, damit er die Selbsterkenntnis befördern kann, mitnichten von neutraler Gestalt sein kann, sondern immer als ein Geliebter oder Liebender auftritt. Im »Symposion« wird außerdem deutlich, wie dieses Spiegeln – ähnlich wie in der talking cure – sodann durch die Rede des Meisters vor sich geht und an sich schon ein Lieben bedeutet (Benvenuto, S. 117). Als wichtigste Voraussetzung für den Wechsel der Liebespositionen hatten wir aber gefunden, dass beim Spiegelvorgang, rein optisch verstanden, ein nicht spiegelbarer Rest, blinder Fleck bzw. das agalma, das negativierte Objekt übrig bleibt. Nach Lacan’scher Auffassung gilt es als der Teil der Beziehung zum Anderen, durch dessen Erkenntnis das Subjekt seinen Narzissmus überwindet und zur Kehrtwende in seiner Liebesposition gelangt. Damit das gelingt und das nicht spiegelbare und darum auch Angst auslösende Objekt das Trauma der Urversagung nicht einfach verstärkt, sondern die verfestigte Liebesposition tatsächlich in Bewegung versetzt, geht es, um das zu betonen und gängigen Missverständnissen vorzubeugen, nicht ohne den Beweis der Anwesenheit eines Anderen, zum Beispiel des Psychoanalytikers ab. Freud formulierte diese Bedingung so, dass niemand »in effigie« erschlagen werden könne. Oder diskurstheoretisch gewendet: Das verlorene, reale Etwas, Objekt a, braucht zum Existieren einen anwesenden Anderen, der ihm Stütze und Rahmen gibt (Lacan, 1962/1963, Sitzung vom 20.2.1963).

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Unter der Voraussetzung der signikanten Präsenz des Anderen – eines Psychoanalytikers etwa – wie dem entsprechend begehrensgeleiteten Hinweis auf das nicht spiegelbare Objekt, mag es dann sein, dass, mit Platon gesprochen, die Verwandlung eines Erastes in einen Eromenos gelingt. Oder psychoanalytisch formuliert, es mag schließlich gelingen, dass ein Subjekt, das bisher ausschließlich auf seinem Genießen insistierte und geliebt sein wollte, seinen Erastes nicht mehr nur als narzisstische Ergänzung seiner selbst beansprucht. Möglich, dass das Subjekt sich jetzt selbst zum Lieben aufschwingt und das Genießen mit der Wahrheit des Begehrens verschränkt.9

Der Psychoanalytiker: Ein moderner Sokrates Liebe, Eros und Begehren weisen im Hinblick auf ihre innere Mangelhaftigkeit also durchaus Ähnlichkeit auf, weshalb man den Psychoanalytiker auch mit einem modernen Erastes vergleichen darf. In der Kur fungiert er denn auch wie ein Liebender, Begehrender, der sich – ähnlich wie Sokrates seinem Zögling Alkibiades – dem Zugriff der narzisstischen Liebe seines Analysanten verweigert, weil nur auf diese Weise die Liebe, das Begehren sublimiert werden kann. Trotzdem kann der Psychoanalytiker nur ein Liebhaber zweiter Ordnung sein. Ein Sprachliebhaber vielleicht, Liebhaber von Übersetzungen aus dem Realen oder einer, der bei Verfolgung seiner Geld- und Forschungsinteressen die Gesetze der Liebe studiert. Aus dem Wissen heraus, dass sich das Begehren des Psychoanalytikers ausschließlich auf die Rede des Patienten bezieht, dürfte dem Psychoanalytiker grundsätzlich klar sein, dass er die Erwartung des Analysanten enttäuschen muss und er sich stets als einer, der das hat und weiß, was dem Anderen zu seiner Vollkommenheit fehlt, verweigern muss. Angesichts des Objekts des Begehrens tritt erneut der Grundsatz der Abstinenz in Kraft, umso mehr, als der Psychoanalytiker nicht weiß, nicht wissen kann, um welches 9 Es versteht sich, dass im psychoanalytischen Kontext natürlich die Triebsublimierung gemeint ist.

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göttlich-bestialisches Ding, agalma, es sich bei dem Analysanten handelt. Insofern aber diese Unwissenheit für den Psychoanalytiker kein Manko ist, sondern gerade umgekehrt ein Teil seines Begehrens, seiner Liebe zu dem Nichts, dem Agalma-Objekt ausmacht, kann er den Analysanten durch Konfrontation mit dem nicht spiegelbaren Objekt zum Wechsel der Liebesposition führen.10 Wenn das gut geht und gelingt, wird der Analysant seinen Kurs in der Folge ändern und darauf verzichten, ausschließlich »lieb gehabt« werden zu wollen oder ausschließlich ein Erastes, Liebender zu sein. Möglich, dass er sich dann von einem Erastes, der nichts von den sinnlichen Dingen wissen will, nur Weisheit und Wissen im Sinn hat, in einen Eromenos verwandelt, der außer dem Geliebt-werdenWollen auch Weisheit und Wissen sucht und seinen Erastes nicht nur zur eigenen Vervollkommnung einsetzt (Benvenuto, S. 118). Es wird nun weiter keine Überraschung sein, dass angesichts einer Psychoanalytikerliebe, die den Anderen das Fehlen lehrt, das Wohl des Analysanten nicht die erste Sorge des modernen Seelenführers sein kann. Es wäre aber polemisch gesprochen, wollte man übergehen, dass eine Kur, die den Patienten das Lieben lehrt, nicht gleichzeitig auch zu seinem Wohl beiträgt.

Das Kabinett ist kein Liebesnest. Ausbildung Diese Liebe zum Nichts zu geben, will indessen gelernt sein und hat ihre Voraussetzungen. Sie werden im Allgemeinen in der Kur vermittelt, der sich auch ein Lacan’scher Analytiker stets unterzieht. (In der Lacan’sche Analyse gibt es jedoch, anders als in anderen Psychoanalyseschulen, nicht die Unterscheidung zwischen Selbstanalyse und Lehranalyse, sondern, gemäß dem Grundsatz 10 Liebe ist geben, was man nicht hat, sagt nicht erst Lacan, sondern schon Platon im »Symposion« (z. B. 1985, 220 a): »Begehrt und liebt er eben das, was er begehrt und liebt, dann, wenn er es besitzt oder wenn er es nicht besitzt? Vermutlich, wenn er es nicht besitzt.« Und weiter Sokrates: »Und was man nicht hat und was man selbst nicht ist und was einem fehlt – eben darauf sind die Begierde und die Liebe gerichtet« (1985, 220 c).

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von Ferenczi, nur die eine, nämlich die eigene Analyse.) In der Kur wird der zukünftige Analytiker sein Unbewusstes erprobt, seine Leidenschaften gemäßigt und vor allem an den unvermeidlichen Versagungen jedes Pychoanalytikers gearbeitet haben: der Hemmung seiner narzisstischen Lust, der Erschütterung seiner intellektuellen Gewissheiten und der Modifizierung seines Über-Ich (Lacan, 1962/1963, Sitzung vom 20. 2. 1963). Zusammen mit dem Studium der Texte Freuds und idealerweise dem Studium von Wissenschaften und Künsten kann er es dann auf sich nehmen, andere bei der Suche nach der Wahrheit ihres Begehrens zu begleiten. Warum der Lacan’sche Psychoanalytiker nun aber weder eine Selbstanalyse noch eine Lehranalyse macht, hat seine zum Teil jetzt schon bekannten Begründungen. Für die Lacan’sche Psychoanalyse bezieht sie sich auf zweierlei. Zum einen auf die Auffassung, wonach dem Unbewussten die Bedeutung des »Anderen Schauplatzes« zukommt und damit nur durch Übersetzungen eines Anderen zugänglich ist. Zum anderen bezieht sie sich auf die metapsychologische Annahme, wonach die Seele in Freud’schen, jetzt nicht mehr platonischen Begriffen einen Apparat darstellt, einen psychischen Apparat, der eine reine Oberflächenstruktur darstellt und keinerlei Innendimension mehr aufweist. Seele, Psyche ist im Freudo-Lacan’schen Verständnis reine Oberfläche, die durch unbewusste Sprachbahnen gespurt wird. Angesichts einer solchen, beinahe systemtheoretisch konzipierten Auffassung von Psyche wird auch der seine Gegenübertragung noch so sehr reflektierende Psychoanalytiker das Unbewusste seines Analysanten niemals verstehen, sondern mit Hilfe seiner speziellen Liebe zum Nichts höchstens auf seine versteckt verklausulierten Adressierungen hin entziffern können.

Was hatte Breuer also falsch gemacht? Breuer hatte nicht nur die nötige »harte Haut« im Umgang mit der Gegenübertragung gefehlt. Sein Fehler war vielmehr, dass er die Wahrheit des Begehrens buchstäblich und positiv verstand. Hätte Breuer Platons »Symposion« beherzigt, wäre er möglicher-

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weise besser darauf vorbereitet gewesen, dass »das Begehrende das begehrt, was ihm fehlt« (Platon, 1985, 200 b) und der Mensch, »wie jeder andere Begehrende auch, das Nichtvorhandene und Nichtgegenwärtige« begehrt« (1985, 200 c). Vielleicht, dass nach dieser Erkenntnis seine Abneigung gegenüber dem Sexuellen nicht so panisch ausgefallen wäre und er besser ertragen hätte, dass Anna O. ihm ihr Objekt des Begehrens unterstellte. Er als ein Anderer konnte es ja nicht haben.

Und zurück zu meinen Traum Was mich zum Schluss mein Traum lehrt, ist Folgendes: Er bestärkt mich in dem Gedanken, dass ich als Analytikerin getrost fehlerhaft sein darf. Ich muss für die Ausrichtung der Kur kein »knalliges« Objekt des Begehren sein. Es ist weder möglich noch nötig, ein solches zu verkörpern. Der Analyse kann das nur gut tun, weil es die Analysanten auf sich selbst bzw. ihr Nicht-Haben und Nicht-Sein zurückwirft. Die Botschaft meines Traums lautet also: Weniger wollen, weniger, nicht mehr, bieten. Als Psychoanalytikerin weniger glanzvoll sein wollen!

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Ellen Reinke

Bildszenen: Über szenisches Verstehen von Traumbildern in der Gegenübertragung

Vorbemerkung Die folgenden Überlegungen haben sich im Zusammenhang mit zwei psychoanalytischen Behandlungen ergeben, in denen sich bei mir besonders eindrückliche traum- und bildhafte Gegenübertragungserlebnisse einstellten, die sich für den Fortgang meines szenischen Verstehens (Lorenzer, 1970b; Reinke, 1999)1 dieser beiden Patienten als wesentlich erwiesen. Beide Patienten sind männlichen Geschlechts und waren zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns um die dreißig Jahre alt. Als Nachkriegskinder mit Geburtsjahrgängen um ca. 1952 –1956 zähle ich sie zu den deutschen Patienten der sog. zweiten Generation (u. a. Reinke, 1992a, 1992b, 1993), die in den Beziehungen zu ihren Eltern bewusst wie unbewusst mit einem Erbe des Nationalsozialismus konfrontiert wurden, welches bei ihnen sowohl bewusste wie unbewusste Schuldgefühle auslöste. Insbesondere in Bezug auf letztere möchte ich auf Sigmund Freuds Konzept eines »entlehnten unbewussten Schuldgefühls«2 hinwei1 Eine ausführliche Darstellung des Szenischen Verstehens habe ich an anderer Stelle geleistet (Reinke, 1999). Lorenzer (1970b, S. 104 ff.) definiert das Szenische Verstehen als modus operandi, d. h. als methodologisches Fundament des psychoanalytischen Prozesses. In das Szenische Verstehen als modus operandi bezieht er das logische Verstehen, das Nacherleben und das diese übergreifende bzw. aufhebende Verstehen des szenisch Dargebotenen mit ein. In seinem Methodentransfer auf das psychoanalytische Erstinterview hat Argelander dieses methodische Prinzip besonders praxisnah und gut nachvollziehbar dargestellt (Argelander, 1970). 2 »Eine besondere Chance der Beeinflussung gewinnt man, wenn dies ubw Schuldgefühl ein entlehntes ist, das heißt das Ergebnis der Identifizierung mit einer anderen Person, die einmal Objekt einer erotischen Besetzung war. Eine

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sen, das viel zum Verständnis dieser Patienten und zur Analyse meiner Gegenübertragungsgefühle beigetragen hat. Auf der Ebene einer strukturellen Diagnose (Kernberg, 1988) betrachtet, wiesen beide als Zentralmerkmal Identitätsdiffusion auf und waren auf unterschiedlichen Strukturniveaus3 des Borderline-Bereichs einzuordnen. Im Rahmen von Alfred Lorenzers Theorie der Interaktionsformen (1974) steht hier sein Konzept der Aufhebung der Symbolisierungssperre im Mittelpunkt. Mein erster Patient, den ich Thomas nennen will, kam nach einem missglückten Suizidversuch zu mir. Er hatte nach Einnahme einer blausäurehaltigen Droge Panikzustände bekommen und randaliert, so dass Mitbewohner auf ihn aufmerksam wurden. Der überweisende Kollege hatte ihn aufgrund der Wahl des Giftstoffes direkt gefragt, ob es in seiner Familie Verwicklungen in den Nationalsozialismus gegeben habe. Er hatte die Phantasie, dass es sich bei dem Selbstmordversuch des Patienten um einen »Selbstversuch auf Leben und Tod« gehandelt habe, auf der Grundlage eines entlehnten unbewussten Schuldgefühls und als Versuch, einen für seine Bezugsperson entschuldigenden Gegenbeweis zu erbringen. Der Patient teilte ihm daraufhin verwundert mit, dass sein Großvater Wächter in einem Konzentrationslager im Südwesten des Deutschen Reiches und nach dem Krieg für einige Zeit inhaftiert gewesen sei. Er fügte hinzu: Sein Vater hingegen sei als Krüppel von der Ostfront zurückgekehrt, was der dort getan habe, sei ihm unbekannt. Seine Familie schilderte er als bäuerlich-ländlich, er und sein Bruder seien die ersten Akademiker. Im Erstinterview bei mir nahm mein Patient diesen Gedanken wieder auf und äußerte seine Bewunderung für meinen Kollegen, verbunden mit der Entwertung meiner Person. Zum Zeitpunkt des solche Übernahme des Schuldgefühls ist oft der einzige, schwer kenntliche Rest der aufgegebenen Liebesbeziehung« (Freud, 1923b, S. 279 Fn.). 3 Kernberg, 1988; dort insbes. Kap. 2 zum strukturellen Interview (S. 48 ff., Schaubild S.  50). Ausgehend von seinen früheren Arbeiten (Kernberg, 1975) geht Kernberg von der Qualität der Objektbeziehungen und von drei umfassenden Strukturorganisationen aus, mit jeweiligen Leitsymptomen und Abwehrorganisationen: neurotische Struktur (Verdrängung), Borderline-Struktur (Spaltung/ Identitätsdiffusion), Psychosen (S. 18 f.). Meine Überlegungen beziehen sich auf die Borderline-Struktur.

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Behandlungsbeginns bei mir hatte Thomas nach einem abgeschlossenen Studium der organischen Chemie gerade das erste medizinische Staatsexamen gemacht. Er folgte darin dem Weg seines Bruders, eines promovierten Naturwissenschaftlers, und hatte damit die Hoffnung verbunden, dass diese Studien ihm erlauben würden, irgendeinen Sinn im Leben zu finden. Seinen Selbstmordversuch begründete er damit, dass diese Hoffnung ihn getrogen habe. Er bezweifle auch, dass die Behandlung bei mir das ändern würde, da er ein schwerer Fall sei und bestenfalls ein Kollege vom Format eines Heinz Kohut ihm helfen könne. Ich dagegen sei eine blutige Anfängerin, der er sich gar nicht zumuten könne. Ich empfand es als günstige Prognose, dass er die Entwertung meiner Person mit einer Haltung der Schonung des als unsicher empfundenen guten Objekts verband. Mein zweiter Patient, den ich Peter nennen möchte, stammte aus einem anderen sozialen Umfeld. Er war der Sohn einer aus Ostpreußen geflüchteten und sehr gut gestellten Familie. Man schrieb deren Genealogie vom Deutschen Orden bis zu den ostpreußischen Junkern. Die Familie habe diesen Klassengeist mitgebracht und es auch im Westen (Ruhrgebiet) wieder zu ansehnlichem Vermögen gebracht. Peter hatte ein Studium der Politikwissenschaften und des Journalismus absolviert und war in letzterem Bereich freiberuflich erfolgreich tätig – jedenfalls was die Nachfrage nach seinen Beiträgen anging. Ihm war allerdings aufgefallen, dass er in seinem Lebensalltag und seiner Berufshaltung alles so einrichtete, dass »nichts bei ihm hängen blieb« und er wie ein Obdachloser lebe. So stelle er z. B. keine Honorarrechnungen, außer um die dringendsten Lebenskosten zu decken, und könne nichts behalten. Aber auch dann habe er immer ein schlechtes Gewissen und denke, dass er das nicht verdient habe, dass er anderen damit etwas wegnehme. Zum Beispiel verschenke er sofort seinen Pullover, sobald ihm seine Mutter einen weiteren (stets von jemand anderem abgelegten) schicke. Es sei ihm unerträglich, mehr als jeweils ein Teil des Notwendigsten zu besitzen. Er suche die Analyse, da er wieder mal verliebt sei und verhindern wolle, dass diese Beziehung wie vorherige an seinem »Abwerfverhalten« scheitere. Auch dieser Patient bezweifelte, dass eine Behandlung bei mir geeignet sei, ihm zu helfen. Er habe z. B. einen der berühmtesten

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deutschen Psychoanalytiker interviewt und könne sich nicht vorstellen, dass eine so unbekannte Person wie ich eine gute Analytikerin sei. Zu Anfang der Analyse bei mir setzte er seine Interviews mit »berühmten Analytikern« fort und legte die Termine oft so, dass Analysestunden ausfallen mussten. So war es beiden Analysen gemeinsam, dass von Anfang an phantasierte oder echte »berühmte Psychoanalytiker« im Hintergrund standen, ganz zu schweigen von den jeweiligen Kontrollanalytikern, denn beide Behandlungen fielen noch in meine Ausbildungszeit. Während ich bei Thomas davon berührt war, wie ihn seine aggressiv-verzweifelte Wut umtrieb und zu Angriffen auf seinen eigenen Körper wie auf seine Mitmenschen trieb, erschütterte mich bei Peter ein fast erstickendes Gefühl, in jedem Fall zu kurz gekommen zu sein, irgendwie bizarr zu sein und bestenfalls wert, etwas aus zweiter Hand zu bekommen und auf jeden Fall hinter anderen zurückstehen zu müssen. Ihm durfte nichts »passend« sein, worüber er sich jedoch im gleichen Atemzug beklagte, wie über die abgelegten Pullover. In seiner Formulierung bezog sich das auch auf meine Analysecouch, die ich wohl vom Sperrmüll geholt habe und die bestenfalls für Pygmäen ausreichend lang sei (er war ca. 1,90 Meter groß). So waren meine Gegenübertragungserlebnisse bei beiden Patienten von Anfang an in einem Bereich, den ich bei meinen von fürsorglichen Lehranalytikern sorgsam ausgewählten Ausbildungspatienten noch nicht kennen gelernt hatte. Ich fühlte mich sehr an meine Erfahrungen im Rahmen meiner Arbeit mit Strafgefangenen und Entlassenen erinnert, an die Schwierigkeiten, im Umgang mit ihnen zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit zu unterscheiden, mit Spaltungsprozessen umzugehen und den jähen Wechsel zwischen grandioser Idealisierung und vernichtender Entwertung zu bewältigen.

Sprache, Bild, Affekt Eine Besonderheit bei der Behandlung meiner beiden Patienten bestand auch darin, dass die zwischen uns gesprochene Sprache, die inneren Bilder, die darin transportiert wurden und die sich bei mir

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in diesem Zusammenhang einstellten, zu dem tragenden Affekt, d. h. der jeweiligen Stimmung in der Behandlung, vollkommen disparat waren. Ausgehend von Lorenzers Symboltheorie (1970a, 1974) ging ich von der Hypothese einer Symbolisierungssperre aus. Ich half mir anfangs mit einer Art stoischem Glaubenssatz, wonach ich zwar zunächst keinerlei Zusammenhang – Sinnzusammenhang – verstehen könne, dieser jedoch vorhanden sei und sich mir auch erschließen könne, wenn ich von keinem »göttlichen Logos durchströmt« sei, sondern bei der psychoanalytischen Methode bleibe. Ich sagte mir: »arbeite und ruhe«, eine frühe methodische Formulierung für das Szenische Verstehen, das Alfred Lorenzer in die Dialektik von passagerer bzw. vorübergehender Identifizierung und konsequenter analytischer Distanzierung vom Übertragungserleben eingespannt hat (Lorenzer, 1970b, S. 177–194). Dies hatte zur Folge, dass mir Sprache, inneres Bild und Affekt zu gleichwertigen Arbeitsanforderungen an meine analytischen Fähigkeiten wurden, ausgehend davon, wie meine beiden Patienten das Übertragungsgeschehen in Szene setzten. Diese Haltung und das Bewusstsein, von meinen Kontrollanalytikern zuverlässig getragen zu werden, befähigten mich, Gegenübertragungserlebnisse zuzulassen, die sowohl in mein körperliches Erleben wie in meine Denkfähigkeit tief eingriffen und sich bisweilen in Traumbildszenen äußerten, die ich in einem besonderen Bewusstseinszustand, zwischen Wachen und Schlafen, erlebte. Es handelte sich bei mir nicht, wie ich meine, um die Kategorie der Tragträume oder Übergangsgeschichten, wie sie z. B. von Volkan (1978) im Zusammenhang mit der Behandlung von Patienten mit einer Borderline-Struktur und im Rahmen von gespaltenen primitiven Objektrepräsentanzen als Beitrag dieser Patienten für den Fortgang der Analyse beschreibt – zunächst einmal aufgrund der einfachen Tatsache, dass nicht meine Patienten diese Bewusstseinszustände hatten, sondern ich, zum Zweiten aber auch, weil sie alle Qualitäten entbehrten, die uns Tagträume bescheren, indem wir unsere Phantasie spielen lassen und uns als mutiger und besser erleben, eine schönere Welt ausmalen. Im Gegenteil: Sie hatten für mich alle Qualitäten, die Ralf Zwiebel zur Dynamik des Gegenübertragungstraums zählt. Wie er schreibt, verweisen bestimmte Träume des Analytikers auf eine wichtige Beziehung

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zwischen Analytiker und Analysand und können ebenso wichtige diagnostische und therapeutische Funktion haben (Zwiebel, 1977, S. 43). Meine Traumbilder alarmierten mich nicht nur wegen ihres bezwingenden Auftretens, sondern auch als Anzeichen einer Störung des Analytiker-Patient-Verhältnisses, dessen Ursache nicht nur in Gefühlen von Entwertung, also der Befürchtung eigener analytischer Inkompetenz oder eigenem Versagens zu suchen war. Träume des Analytikers von seinem Patienten – oder für seinen Patienten? – sind jedoch, wie Zwiebel ebenfalls bereits festhält (1984, S.  194), besondere Arten von Chancen, ausgehend vom eigenen Erleben einen Patienten und seine Mitteilungen zu verstehen, wo alles darauf angelegt scheint, in Diskrepanzen, Abwehr und Scheitern zu ersticken. In den beiden hier skizzierten Fällen führten meine Traumbilder jeweils zu Träumen der Patienten, die einen Umkehrpunkt in den Analysen bezeichneten.

Übertragung und Gegenübertragung Ich möchte an dieser Stelle meine eigene Auffassung zum Verständnis von Übertragung und Gegenübertragung kurz darlegen (Reinke, 1995), die auf Paula Heimanns (1950) Ausführungen aufbaut. Heimann betont die bis dato gängige Auffassung, dass die Gegenübertragung des Analytikers zu einem Störfaktor in der Analyse werden kann: »[…] violent emotions of any kind, of love or hate, helpfulness or anger, impel towards action rather than towards contemplation and blur a person’s capacity to observe and weigh the evidence correctly, it follows that, if the analyst’s emotional response is intense, it will defeat its object« (1989, S. 75). Das ist eine bedeutsame Warnung Heimanns, die, wie ich dargelegt habe (Reinke, 1995), von denjenigen gern übersehen wird, die inzwischen in »der« Gegenübertragung (und das heißt meist nicht in der Analyse der Gegenübertragung) die Via Regia zum Unbewussten sehen wollen. Heimann stellt klar: »The transference interpretation is the real tool of analytic technique« (1989, S. 119, Hervorhebung E. R.). Wie Heimann nochmals deutlich macht, bleibt das Erleben

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von Übertragung und Gegenübertragung in seiner Bedeutung zunächst ebenso unbewusst, wie das für den manifesten Traum gilt, dieses Bilderrätsel, dessen lebensgeschichtlichen Sinn wir erst durch seine Analyse erschließen können. Sie betont dies noch einmal ausdrücklich, indem sie es für eine unanalytische Auffassung von »Wahrhaftigkeit« erklärt, wenn der Analytiker meint, seine unmittelbaren Gegenübertragungserlebnisse dem Patienten als Deutung der Übertragung anbieten zu können. Die Struktur der verschütteten Motive und Bedeutungen erschließt sich nicht in der passageren bzw. vorübergehenden Identifizierung (Lorenzer, 1970b, S. 177–194), diese ist lediglich eine conditio sine qua non. Heimann zufolge enthält die unmittelbare Gegenübertragungsreaktion des Analytikers das Übertragungsangebot des Patienten wie des Analytikers, einschließlich der beiden zukommenden Abwehrstrategien bezüglich der verschütteten Lebensentwürfe (Lorenzer, 1986, S.  66). Diese erschließen sich erst im konsequenten (d. h. daran anknüpfenden) Prozess der Distanzierung von der Unmittelbarkeit des Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehens als innerer Verstehensprozess des Analytikers. Hierzu ist die innere analytische Verstehensarbeit in ihrem Fortschreiten von der Primär- zur Sekundärorganisation nötig (Lorenzer, 1970b, S.  187) – eine Voraussetzung, die bisweilen eben auch mit Hilfe des Kontrollanalytikers erst möglich wird. Heimann erklärt diese zur »[…] private affaire, and I do not consider it right for the analyst to communicate his feelings to his patient. […] The emotions roused in the analyst will be of value to his patient, if used as one more source of insight into the patient’s unconscious conflicts and defences; and when these are interpreted and worked through, the ensuing changes in the patient’s ego include the strengthening of his reality sense so that he sees his analyst as a human being, not a god or demon, and the ›human‹ relationship in the analytic situation follows without the analysis’s having recourse to extra-analytical means« (1989, S. 78, Hervorhebung E. R.). Heimann hat in einer späteren Arbeit noch einmal betont, dass es sich bei der unanalytischen Verwendung von Gegenübertragungsreaktionen keinesfalls um »Wachstumsschmerzen des Anfängers« (1989, S. 484) handelt, sondern um eine methodische Frage, die sie zwar einerseits mit der Forderung nach Lehranalyse

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und mehreren Kontrollanalysen beim lernenden Psychoanalytiker verbindet, jedoch als grundsätzlich für die gesamte Arbeit des Analytikers weiter bestehende Herausforderung ansieht. Methodisch ist daraus zu schließen, dass die Supervision bzw. Intervision zum analytischen Prozess gehört und auch späterhin im Berufsleben nicht vernachlässigt werden sollte.

Theoretische und methodische Überlegungen Meine Überlegungen gehen also von einem spezifischen Verständnis des Übertragungs-Gegenübertragungs-Prozesses aus. Es ist jedoch nur die halbe Wahrheit, dass Gegenübertragung definiert wird als das Gesamt der Gefühle, die der Analytiker in Bezug auf seinen Patienten in der analytischen Situation erleben kann (Heimann, 1950/1989, S. 74). Hinzukommen muss ihre spätere Spezifizierung, wonach es sich beim Erleben des Analytikers um das im analytischen Prozess vom Patienten unter Einbezug seiner Phantasien über die analytische Situation hier und jetzt sowie über die Person des Analytikers neu Geschaffene handelt4: »Sobald aber die Arzt-Patient-Beziehung zur Bühne wurde, auf welcher der Patient seine heftigen Impulse agiert, weil er unbewusst überzeugt ist, dass sie in Tat und Wahrheit durch die Handlungen und das Verhalten des Analytikers hervorgerufen werden, wurde der Analytiker selbst zum therapeutischen Mittel« (1960/1989, S. 486). Das heißt, dass der Analytiker sich selbst probeweise als Produzent (und nicht nur Rezipient) seines Gegenübertragungserlebens erleben können muss. Lorenzer zufolge setzt dies die Bereitschaft des Analytikers zur passageren bzw. vorübergehenden Identifizierung5 voraus: »Diese Teilhabe – verbürgt durch Übertragung und Gegenübertragung – besteht in der realen Zuweisung einer ›Rolle

4 »Thus the analyst is not only or primarily to interpret something that happened in the past: it is happening now« (Heimann, 1950/1989, S. 115; s. a. Argelander, 1970). 5 In diesem Zusammenhang verwendet Lorenzer auch »vorübergehende« und »probeweise« Identifizierung (Lorenzer, 1970b, S. 177–194).

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aus der Situation des Patienten‹ an den Analytiker. […] Der subjektiv lebensgeschichtliche Sinnzusammenhang wird im hermeneutischen Feld zwischen Analytiker und Analysand objektiviert, indem eine gemeinsame Sprache hergestellt wird« (Lorenzer, 1974, S. 154). Meine Entscheidung, die eigenen inneren Traumbilder beschreibend in Sprache zu fassen und diese dem Patienten anzubieten, verstehe ich daher nicht als »Agieren statt aushalten« oder In-derSchwebe-Halten von heftigen Gegenübertragungsgefühlen. Vielmehr möchte ich methodisch an eine Arbeitsweise Freuds bei der Traumdeutung anknüpfen. In Fällen, in denen sich die Assoziationen des Patienten als dürr oder fehlend erwiesen, ließ sich Freud den Traum noch einmal erzählen, um Spuren des Unbewussten an den Stellen zu entdecken, an denen sich die ursprüngliche von der neuen manifesten Traumerzählung unterschied. Auf der Suche nach dem latenten Sinn meiner Traumbilder für den Patienten, bot ich ihm einen »manifesten Text« auf der Grundlage meines Gegenübertragungserlebens an, um mit ihm zusammen im Gang der Interpretation zu seinem latenten Text zu gelangen. Lorenzer hat dieses Zurverfügungstellen von Sprache als eine praktischändernde Operation benannt, »weil der hermeneutische Prozeß seinen Abschluss nur innerhalb von Sprache finden kann« (1974, S.  278). Ziel ist die Wiedereinholung desymbolisierter Interaktionsformen, und d. h., dass der Analysand einen eigenen Begriff6 für seine Sache gewinnt. Wo das Übertragungsangebot des Patienten sich, wie bei den hier erörterten beiden Patienten, durch besondere Traumbilder auszeichnet, statt vorwiegend in sprachlichen Mittellungen zu prozedieren, eröffnet dieses methodische Vorgehen nach meiner Überzeugung einen Zugang zur Struktur der verschütteten Lebensentwürfe, die der Patient nicht anders als nach dieser sprachlichen Hilfe des Analytikers zum Ausdruck bringen kann. Implizit ist hier, wie auch Zwiebel (1977, S. 43) betont, ein diagnostischer Hinweis enthalten, insofern mein Vorgehen von der Hypothese gleitet war, dass die »bestimmten Interaktionsformen«, 6 »Der Traumphantasie fehlt die Begriffssprache, was sie ausdrücken will, muß sie anschaulich hinmalen« (Freud, 1900, S. 88).

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die ihre Äußerung in Traumbildern des Analytikers finden, bei beiden Patienten noch nicht in einem sozialisatorisch zweiten Schritt mit (Symbol-)Sprache verknüpft sind (Lorenzer, 1970b, 1974). Es sind ganz offenbar noch keine Sprachsymbole dafür vorhanden gewesen, die dann im Fortgang der Sozialisation durch Desymbolisierung wieder unbewusst geworden wären. Somit ist festzuhalten, dass zumindest in einem wesentlichen Teilbereich die Subjektbildung dieser Patienten vor der Einführungssituation von Sprache systematisch gestört wurde. Wir haben es mithin mit einem Übertragungsangebot zu tun, einem Teil des Zusammenspiels zwischen Analytiker und Analysand, das aus der Phase der sinnlich-konkreten Interaktionsformen herauswuchs. Freilich ist hier festzuhalten, dass das Zusammenspiel zwischen beiden noch andere, »normale«, also bewusstseinsfähige Interaktionsfiguren aufweist, »schließlich korrespondieren Analytiker und Analysand nicht auf einem Geleise blanker Neurosenhaftigkeit« (Lorenzer, 1974, S. 291). Hieraus erwächst auch die Chance, für das zunächst vom Analytiker zur Sprache Gebrachte einen Gegenpart beim Patienten zu finden und aus der Analyse beider manifester Texte den latenten Textsinn zu enträtseln. Lorenzer formuliert ausdrücklich, dass diese praktisch-ändernde Prozedur nicht nur dann als modus operandi der Psychoanalyse fungiert, wenn es um den Bereich neurotischen Leidens, also um Resymbolisierung geht: »Daß es sich [bei der Produktion eines Sprachspiels bzw. einer symbolischen Interaktionform im analytischen Prozess, E. R.] um eine kreativ-produktive Leistung handelt, wird übrigens auch deutlich, wenn man die ›über das Wiederfinden erkennbar hinausgehenden‹ Fälle von Neuformulierungen betrachtet, jene Strukturbildungen, die an Stellen geschehen, an denen (aufgrund der Widersprüchlichkeit der Interaktionsformen) die Symbolisierungssperre von vornherein die Bildung symbolischer Interaktionsformen blockiert hat. In diesem Falle übernimmt die analytische Dyade zugleich die Funktion der Mutter-Kind-Dyade im Sinne der Einigungssituation wie auch der Spracheinführung« (1974, S. 292; Hervorhebung E. R.). Ausgehend von Lorenzers Bestimmung des modus operandi der Psychoanalyse als Szenisches Verstehen kann ein Prozess der Resymbolisierung, in den hier skizzierten Fällen der Anregung zur Symbolisierungsfähigkeit beginnen. Subjekt der Artikulation bzw.

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Sprachfindung ist hier nicht der eine oder andere der analytischen Dyade, sondern der kreative Bildungsprozess der Beteiligten in den Formen ihrer Interaktion.

Fallvignetten Die Fallvignetten enthalten jeweils ein bis zwei Gedächtnisprotokolle aus Stunden, in denen ich die beschriebenen Gegenübertragungsgefühle hatte, die ich meinen Patienten im Sinne einer Neuformulierung (Lorenzer, 1974, S. 292) in Worte fasste, sowie einen in der nächsten oder einer der nächsten Stunden folgenden Traum meiner Patienten.

Thomas Mit Thomas war zunächst vereinbart, dass ich ihn bis zum Abschluss des zweiten Staatsexamens im Rahmen einer einstündigen Therapie begleite. Über weite Strecken wechselte die Stimmung von Thomas abrupt zwischen dem Ausdruck unverarbeiteter Wut und rührendem Bemühen um Schonung des analytischen Objekts. Gegen Ende des ausgemachten Behandlungsjahres stellten sich bei mir Gegenübertragungsreaktionen ein, die mich sowohl körperlich als auch hinsichtlich meines Denkvermögens stark beeinträchtigten. Als Beispiel dienen die Gedächtnisprotokolle der folgenden Stunden: Di. 13.1. Kommt 20 min. zu spät, sonst ist er ja überpünktlich. Er kocht vor Wut: Bus versäumt. Heute ist er ganz schlecht drauf. Th: »Alles Scheiße, was ich hier mache, ist sowieso lächerlich. Ferien nach dem Examen werde ich auch nicht machen. Gleich in den Beruf, gleich verdienen, dann kann ich mir wenigstens was leisten.« Dann schweigt er wieder zum Fenster hinaus. Ähnliche Gegenübertragungsreaktionen wie wenige Stunden zuvor, es ist als würde

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sich ein Bleivorhang auf mein Gehirn senken, als könnte ich die Augen nicht mehr fokussieren, es wird mir schwarz vor Augen. Ich habe die Assoziation: Drogen, Bewusstlosigkeit. Erst im Nachhinein wird mir klar, dass er von mir wegen seines Zuspätkommens einen ordentlichen Angriff erwartet hat, dem er durch sein Geschimpfe zuvorgekommen ist. Er spricht dann aus, was er denkt, was ich denke. Wenn ich das hätte deuten können, wäre es nicht zu der heftigen Gegenübertragungsreaktion gekommen. In der darauf folgenden Kontrollstunde rät mein Supervisor zu klären, ob er bewusstseinsverändernde Drogen nimmt. Es sei wichtig zu klären, woher in seiner Vorstellung der Angriff auf das Bewusstsein komme. In den folgenden Stunden können wir klären, dass er »wegen des Examens« sich unterschiedliche Drogen und Medikamente »verordnet« hat. Sie werfen ihn in verschiedene Zustände, in denen er dann nicht lernen kann. Mal ist er so erregt, dass er keinen Gedanken mehr fassen kann, mal so »bleiern müde«, dass er einzuschlafen droht. Ich fasse daraufhin meinen eigenen oben erwähnten Zustand in Worte, was er kommentiert mit: Das kann ich wiedererkennen. Ich sage: »Die Angriffe auf Ihre Denkfähigkeit kommen von den Drogen. Sie haben noch 14 Tage Zeit bis zum Examen. Setzen Sie die Drogen ab, Sie schaden sich, Ihren Examensvorbereitungen und unserer Arbeit damit.« Er akzeptiert das, und das Examen geht gut über die Bühne. Damit ergibt sich die Situation, dass wir am Ende des ausgemachten Behandlungsumfangs angelangt sind, und ich sage ihm das. Er reagiert darauf sehr giftig und sagt: »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie mich loswerden wollen, hätte ich mir den ganzen Mist hier auch sparen können.« Ich: »Wir können eine neue Verabredung treffen.« Da es gegen Ende der Stunde ist, füge ich hinzu: »Überlegen Sie doch bis zur nächsten Stunde, wie das für Sie aussehen könnte.« Er schweigt dazu, schaut auf die Uhr, erhebt sich und geht. Thomas: »Wieder 70 DM für die Katz.« In den folgenden Stunden sollte es um die neue Verabredung gehen, wozu auch ein neuer Termin gefunden werden muss, denn er beginnt seine Arbeit in der ärztlichen Praxis. Mir fällt jedoch auf, dass das Thema auch von meiner Seite vermieden wird. So gehe ich mit einer Stunde zu einem anderen Analytiker und nicht zu meinem Kontrollanalytiker.

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Di. 20.01. Er kommt wütend in die Stunde, voller Neid über H., seinen Freund, der sich im SFI als Kandidat beworben hat und angenommen wurde. Außerdem hat der auch noch die Stelle in der Psychosomatik als PJler bekommen, die er selbst so gern wollte. Ich: »Und was haben Sie bekommen?« Naja, er habe schon ein besseres Examen gemacht als der H., und er habe die Stelle in dem kleinen Krankenhaus bekommen, die er haben wollte. Aber das ist nix wert. Der H. werde jetzt Analytiker! Mir geht durch den Kopf, dass er vielleicht fürchtet, der H. komme mir jetzt näher als er, der er nur Patient ist, während H. eine Lehranalyse macht. An den weiteren Verlauf der Stunde erinnere ich mich nicht. Ich war verwirrt. Zum Ende ging es darum, dass er ab nächste Woche ja kein Student mehr sei, sondern PJ-ler, also keine Vormittagstermine mehr wahrnehmen kann. Er ist ja dann in der Klinik. Er kennt seine Termine dort noch nicht. Ich sage, dass wir sicher andere Termine finden werden, er solle mich anrufen, wenn er Bescheid weiß. Hier merke ich im Nachhinein, dass unsere neue Absprache immer noch in der Schwebe ist und dass ich das merkwürdigerweise immer wieder vergesse. Das strahlte aus bis in die Kontrolle, wo es dem bisherigen Supervisor auch nicht auffiel. Der neue Supervisor wäscht sowohl mir als auch seinem Kollegen ordentlich den Kopf und stellt fest, dass wir uns darauf eingelassen hätten, ein Jahr lang möglichst nicht hinzugucken. Wie deutlich der Patient denn noch werden müsse, um seinen verzweifelten Wunsch nach adäquater Hilfe verstanden zu finden? Hier müsse zunächst einmal ich eine Entscheidung treffen, ob ich ihn wirklich behalten wolle, obwohl mir schwarz werde vor Augen zum Schutz vor dem, was der Patient denke, mir zumuten zu müssen. Solange ich seine Phantasie teile, dass das, was ihn umtreibt, nicht zum Ansehen sei, habe er recht mit seinem Urteil: Wieder 70 DM für die Katz! Er sagt: »Über dem Patienten hängt ein Damoklesschwert, es geht in seiner Vorstellung nicht nur um Analyse oder nicht, es geht um Leben und Tod.« Wenige Stunden vor dem Ende des ersten Behandlungsjahres kommt es dann zu einer neuen Vereinbarung, was Thomas mit den Worten kommentiert: Ich traute mir wohl Löwenkräfte zu, ihm sei

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wohl doch nicht zu helfen. In dieser Stunde berichtet er auch von seinem Zorn über seine ersten Patientenkontakte. Die Patienten würden »sich verweigern« und seine Kompetenz in Abrede stellen. Ich sage: »Nicht unbedingt, vielleicht haben sie auch große Angst, einem anderen zu vertrauen und sich helfen zu lassen. Wenn der Arzt das versteht, braucht er sich weder wütend noch hilflos zu fühlen. Sich helfen lassen ist eine schwierige Sache, wenn man meint, man könne sich nur auf sich selbst verlassen.« Ob ich das jetzt mal wieder alles auf ihn beziehen würde? Das kenne er ja schon. Er schweigt und wendet sich ab. Bei mir stellt sich wieder das bleierne Gefühl ein, die Augen wollen nicht mehr fokussieren, ich kann nichts mehr sehen. Ich denke nun auch: Das kenne ich ja nun schon. Mit diesem Gedanken »hebt der Vorhang der Pupille sich auf und lässt ein Bild hinein«: Ich sehe wie im Film einen rundum und bis zur Decke gekachelten Raum, in dem sich ein Mann in einem weißen Overall bewegt. Er steht mit dem Rücken zu mir und verdeckt damit das, was er tut. Ich versuche mich im Raum zu bewegen, um etwas zu sehen. Ich berichte Thomas von meinem inneren Traumbild. Thomas: »Sie waren also auch schon mal in einem Schlachthaus! Was Sie da schildern, ist doch wie das Schlachthaus von meinem Opa.« Er sei da nicht gern hingegangen als Kind. Er wollte das nicht sehen, was dort mit den Tieren passiert. Aber es sei ja wohl schon schlimm genug gewesen, was zu hören und zu riechen war. Er sei sehr froh gewesen, dass der Opa die Schlachterei dann aufgegeben hätte. Ich: »Wenn ich wie Sie auch schon mal in einem Schlachthaus war, können Sie sich also vorstellen, dass ich verstehen kann, was Sie da erlebt haben, und dass wir darüber auch reden können.« In der übernächsten Stunde berichtet er mir seinen »Alptraum«, den er wiederholt und eben auch nach der letzten Stunde hatte. Thomas’ Traum: Er liegt auf dem Bett des Großvaters, und da ist ein Zombie, oder eigentlich nur der Kopf eines Zombies. Er bekommt die Panik und versucht, dem Zombie das Gehirn zu zerschneiden, was dem aber auch nichts anhaben kann. Erst als er ihm die Augen zersticht, trifft ihn das. Er stöhnt »getroffen«, und eine eklige Flüssigkeit, halb Blut, halb Wasser, läuft ihm aus dem Mund. Um ihn ganz zu vernichten, wirft er ihn einer Löwin zum Fraß vor.

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Zu dem Traum fällt ihm ein, dass er eine ganze Weile nicht mehr von Katzen geträumt habe und jetzt doch wieder. Diesmal habe es sich aber nicht so wie sonst angefühlt, nicht so bedrohlich. Er habe auch gedacht: Löwinnen sind sprichwörtlich dafür, dass sie ihre Jungen verteidigen. Ich: »Es scheint, als ob die Katze in Ihrem Traum von einer feindlichen Macht zu einer freundlichen Hilfe geworden wäre. Sie lässt sich von Ihnen gebrauchen, um den Rest des Schreckgespenstes unschädlich zu machen.« Er lacht, als hätte er mich durchschaut: »Sie meinen: samen zijn wij sterk!« (Das ist eine Zeile aus einem Rockmusiktext). Dann redet er weiter vom Großvater und seiner Phantasie, dass die unschuldigen Toten als Zombies umgehen und den Lebenden das Leben aussaugen, ganz besonders, wenn sie einen Anknüpfungspunkt finden können, so wie z. B., dass er ja so stark vom Großvater geprägt sei. Ich hätte ja mal vom »ererbten Schuldgefühl« gesprochen. Allerdings, wie er so etwas hätte wissen können, was die Schuld des Großvaters betrifft, das ist ihm nicht klar. Zu Hause wurde jedenfalls früher nie davon gesprochen, dass der Opa Wächter im KZ war. Es hieß immer, er sei in Gefangenschaft. Er hatte das als Kind so verstanden, dass der Opa im Gefängnis ist und also etwas Schlimmes verbrochen haben musste, weil man sonst nicht ins Gefängnis kommt. Er wisse auch nicht genau, wann ihm das zu Bewusstsein gekommen sei, dass der Opa nicht im Gefängnis war, wann er wusste, dass der Opa von den Siegern in Gefangenschaft genommen wurde, und was X (der Ortsname des KZ) eigentlich bedeutet. Ich: »Sie haben es gewusst und doch nicht wissen wollen, weil Sie den Opa ja auch lieb hatten. Dann schon lieber ein Opa, der ein normales Verbrechen begangen hat und im Gefängnis sitzt, als ein Opa, der KZ-Wächter war. Es ist schwer für Kinder, das zu verstehen.« Ja, sagt er. Hinzu kam auch noch, dass er nicht so recht wusste, was er eigentlich glauben soll. Ihm gegenüber hat die Mutter immer gegen den Vater gegiftet, die Großmutter hat auch gegen den Vater gegiftet, und alle haben sich gegenseitig angegiftet. Der einzige, gegen den keiner sich getraut hat zu giften, war der Großvater. Ich denke nun daran, dass es eines unserer Hauptthemen während dieses Jahres war, wie er von seinem im Elternhaus angelegten Giftkeller wieder »runterkommen« könne, da er, wie er sagte, das

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Gift ja nicht einfach in die Kanalisation kippen könne. Das würde ja reichen, um die nächste Kleinstadt auszuradieren. Ich: »In Ihrer Familie wurde viel gegiftet, war das nur im übertragenen Sinne so?« Nein, sagt er: Durch den Weinbau sei natürlich immer auch wirkliches Gift da gewesen. Da konnte jeder sein Giftfläschchen haben. Die Mutter habe ihm mal gesagt, dass sie E 605 in Reserve hat für den Fall, dass sie es mal nicht mehr aushalten kann. Auf diese Weise erfahre ich, dass das Gift ein Familienthema ist. Ich: »Ich verstehe jetzt, warum Sie erst organische Chemie und dann Medizin studiert haben. Und warum Sie sich einen Giftkeller zu Hause halten. Die organische Chemie hat Ihnen geholfen, zu verstehen, um was für Mittelchen es sich da handelt, Gift und Gegengift zu kennen. Die Medizin hat ihnen geholfen, die Seite der Heilung zu studieren und die Mutter oder den Vater eventuell retten zu können, wenn sie zum Gift greifen. Das ist sehr klug für einen Menschen, in dessen Familie so viel gegiftet wird.« Also, er wundert sich ja manches Mal schon darüber, was ich für Ideen habe. Ganz so abwegig brauche das aber nicht zu sein. Er hat als Kind manchmal gedacht, dass er sich selbst heilen können müsste. Oder wenigstens diagnostizieren. Er entsorgt den tatsächlichen Giftkeller im Laufe der nächsten Zeit durch das »Verbringen« dieser Stoffe in die Giftschränke der beiden Kliniken, zu denen er Zugang hat.

Peter Peter ist, im Gegensatz zu Thomas, aus einer sozialen Schicht, in der man noch von »Klasse« spricht. Es ist entscheidend, ob jemand »Klasse« hat. Das ist zwar unabhängig von Reichtum, jedoch am besten mit Reichtum verbunden. Peter selbst hat als »Salonarmer« allem Reichtum abgeschworen, jedenfalls in seinem Selbstverständnis. (Auch seine Familie lege Wert darauf, den Reichtum zu verstecken.) Er hat sich auf die Ebene der Sprache gerettet und verfügt über einen ausgesprochenen Sprachreichtum, was diese wöchentlich vierstündige Analyse zu Anfang nicht zuletzt wegen meiner Neigung zur Kollusion in dieser Hinsicht erschwert. Schon

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im Erstinterview ließ ich mich von Peters Sprachkompetenz verführen, wie der Kontrollanalytiker kritisch anmerkte. Er verärgert mich mit der Qualifizierung meines Patienten als »narzisstischer Blender«, es fällt gar das Wort »Psychopath«. Es fällt mir schwer, aber ich muss es mir gegenüber zugeben: Peters Vorträge erinnern mich tatsächlich an die ebenso schönen wie unwahren Vorträge meiner begabten Kriminellen. Dem Kontrollanalytiker gegenüber reagiere ich aber trotzig und ablehnend. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass Peters anfänglich von mir so geschätztes sprachlich-brillantes Feuerwerk ermüdend auf mich wirkt. Ich begann mich zu langweilen und dachte: »Er fängt sehr hoch an und stürzt dann tief ab.« So mag es nicht verwundern, dass auch bei diesem Patienten trotz all seiner Sprachfertigkeit nicht die sprachliche Interaktion den Boden für ein tieferes Verständnis bereitete. Mo. 06.11. Peter: »Jetzt werde ich Vater. Ich war früher aus ideologischen Gründen gegen das Kinderkriegen – jedenfalls nach außen. Nach innen war mir klar, dass ich so einem Kind die Zuwendung und die Fürsorge neiden würde, das es bekommt. Ich brauche das doch selbst, bin selbst noch ein Kind […]« etc. Ich denke: Schöne Worte, Pseudoeinsichten, Klischees, langweilig, denke ich. Dabei werde ich so müde, dass ich drohe einzuschlafen. Ich sage: »Das ist alles Journalismus, gut fürs Feuilleton – worum geht es denn eigentlich?« Plopp, meine Müdigkeit ist weg. Ich wundere mich nur selbst, wie aggressiv meine Reaktion ausfällt. Ich wundere mich auch, dass ich die Neigung entwickle, technisch-uneinfühlsam auf ihn zu reagieren. Ich erlebe das als Identifizierung mit dem gespaltenen Mutterobjekt, das ihm nur »gebrauchte« Sachen zukommen lässt. Ich denke: Ich muss für ihn einen eigenen Pullover stricken. Hier fehlt die Verbindung mit dem guten Mutterobjekt. Thema der folgenden Stunden ist sein Gefühl der Entwertung, zu kurz gekommen zu sein, obwohl er sich so abrackert. Dabei hat er selbst das Gefühl, »es nicht wert zu sein«. Peter: »Das, was mir eigentlich zusteht, gehört mir nicht, es ist unwiederbringlich, tot.« Hier muss ich plötzlich an Fontane denken, das Wort »unwieder-

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bringlich« übt eine starke Faszination auf mich aus. Ich frage: »Was wäre es denn?« Peter: »Zwecklos, daran zu denken. Das gibt es nicht mehr.« Ich: »Zwecklos oder nicht erlaubt? Gibt es da eine Leiche im Keller? Ich bekomme ein unheimliches Gefühl. Da muss jetzt wieder etwas geheim bleiben.« Er schweigt. Das Schweigen ist greifbar und gibt mir das Gefühl, er will mir etwas vermitteln. Ich sinke in mich hinein und erlebe einen inneren Film, der mich in eine seenreiche Winterlandschaft führt. Es ist bitter kalt. Ich denke, ich sei an den Friesischen Seen (»Friese Meeren«), und bin verwundert darüber, dass ich in eine WeltkriegsSzenerie hineingekommen bin. Oder besser gesagt: zwischen Brueghel und Weltkrieg (I). Ich denke an das »Massaker der Unschuldigen«, eine Darstellung des Kindesmordes von Bethlehem. In der Geschichte dieses Bildes sind bei Brueghel d. Ä. die Kinder durch Tiere ersetzt worden. Es wurde also das Massaker übermalt mit unverdächtigen Objekten. Der Bezug zum Krieg ist daher naheliegend, denn es soll sich um eine Verschlüsselung des brutalen Einmarschs der Habsburger Truppen in Flandern gehandelt haben, was durch die Übermalung unkenntlich gemacht wurde. Mir ist zwar bewusst, dass Peters Familie aus Ostpreußen stammt, ich sehe jedoch keine Verbindung zu einem Massaker an Kindern. Ich entschließe mich, Peter meinen »Film von den winterlichen Friese Meeren« ohne die Brueghel-Assoziationen zu erzählen. Peter: »Falsche Landschaft, richtige Jahreszeit. Meine Familie ist Januar 45 aus I. mit Pferd und Wagen geflüchtet. Sie sind erst mal am Frischen Haff gestrandet. Also nicht ›Friese‹ Meeren, sondern Frisches Haff. Aber komisch: Seit meine Familie im Ruhrgebiet ist, fahren wir zu den ›Friesen Meeren‹ in Urlaub. Phonetisch klingt ›frische‹ ja fast wie ›Friese‹. Eben.« Fr. 10.11. Peters Traum: »Ich fahre in einem Bus zusammen mit anderen Fahrgästen die Straße entlang. Im Bus herrscht eine fröhliche Stimmung. Wir erreichen W. (wo meine Familie bis zu meinem 4. oder 5. Lebensjahr lebte). Am Bürgersteig stehen im Abstand von wenigen Metern zwei offenbar frisch verheiratete Paare, die ein Transparent – an Holzstangen befestigt – halten. Es handelt sich jedoch nur um ein

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weißes Stück Tuch – ohne Aufschrift. Wir halten an und besuchen ein Fest. Die Buden sind in einem Viereck aufgebaut. Es herrscht Hochbetrieb, die Stimmung ist ausgelassen. Verschiedene Zecher prosten uns zu und singen laut. Mein Vater ist jetzt auch bei mir. Ich bin ebenfalls gut gelaunt und schlendere die Buden entlang. Plötzlich sehe ich ein altes Haus mit einer Art Freitreppe, die zum Eingang führt. Die Tür steht offen. In einem Raum mit rötlichem Licht stehen Männer um einen Tisch, auf dem eine enthäutete, teilweise ausgenommene Leiche liegt. Ich habe den Verdacht, dass die Männer die Leiche nicht nur ausgenommen, sondern auch davon gegessen haben. Ich ekle mich sehr. Plötzlich springt die Leiche auf; ich laufe voller Entsetzen weg, werde aber von ihr eingeholt. Deutlich kann ich das klebrige rohe Fleisch spüren und wache auf.« Zu seinem Traum fällt ihm ein, dass der Untote ihn an seinen Onkel erinnert habe, was nicht verwunderlich sei, denn er war ja gerade auf dessen Beerdigung. Daher wohl auch das weiße Tuch, ein Leichentuch. Peter: »Mein Patenonkel, Bruder meines Vaters und Mitbesitzer der Firma. Damit Familienbetrieb ade.« Ich: »Was hat der Tod mit ›Familienbetrieb ade‹ zu tun?« Das ist so ein Déjà-vu-Erlebnis von ihm. In der alten Heimat war der Onkel noch nicht mit im Familienbetrieb. Zu jung, angeblich. Aber nicht zu jung, um gegen die Russen zu kämpfen, er sollte eigentlich die Offizierslaufbahn beibehalten, auch Familientradition. Peter: »Aber es gab einen anderen Onkel, den ich nicht mehr kennen gelernt habe, weil der dort irgendwie geheimnisvoll umkam. Ich kann das ja nicht miterlebt haben, war ja noch nicht auf der Welt. Aber irgendwie weiß ich, dass es da wohl blutig zuging, es war von Bajonetten die Rede. Unser Heimatort soll hin- und hergewandert sein zwischen den Fronten, mal die Deutschen, mal die Russen. Ich weiß das, obwohl ich denke, dass nie darüber gesprochen wurde. Jedenfalls leiteten mein Vater und dieser Onkel damals den Familienbetrieb. Und dann im Westen musste der Jüngste einspringen. Nun sind sie alle tot, da wäre ich jetzt der Jüngste. Mein Vater ist ja, wie Sie wissen, vor wenigen Jahren gestorben. Damals kam heraus, dass er ein komplettes Doppelleben geführt hat – bei der Beerdigung erschien eine komplette zweite Familie. Meine Mutter war entsetzt. Übrigens fällt mir da auf, dass alle drei ein Doppelleben geführt

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haben. Von meinem Patenonkel weiß ich es, der war ja homosexuell. Meine Mutter war natürlich auch wieder entsetzt. Ob der dort verstorbene Onkel auch ein Doppelleben geführt hat? Der war der Senior, mein Vater der Junior. Ich habe jetzt die Phantasie, dass der Senior nicht das Opfer, sondern der Täter war, das finde ich unheimlich. Dabei sehe ich übrigens auch das Ganze im tiefen Winter, überall Eis und Schnee.« Ich: »Was für ein Familienbetrieb war das eigentlich in der alten Heimat?« Peter: »Das war ein sehr großes Gut, Landwirtschaft – ach ja, Sie denken jetzt wohl an Zwangsarbeiter, so wie ich Sie kenne.« Ich: »Ich verstehe jetzt, warum Sie glauben, das, was Ihnen zusteht, sei unwiederbringlich, tot, und warum Sie sich immer geweigert haben, in den Familienbetrieb einzusteigen. Ihr Dilemma ist, dass Sie sich einerseits als der Senior fühlen und andererseits Phantasien über die unheimlichen und schrecklichen, unverzeihlichen Taten der Familienmänner hegen. Das ist auch eine Art Doppelleben – heimlich haben Sie das Seniorerbe angetreten. Es gehört Ihnen alles, und im anderen Leben nehmen Sie nichts für sich. Alles oder nichts?« Peter: »Ja, ich muss mich jetzt entscheiden, da bleibt ja nur alles – d. h. die Firma – oder nichts – d. h., ich wurstle so weiter wie bisher. Soll meine Mutter doch verkaufen. Ich will nichts davon.« Ich: »Warum eigentlich? Das klingt so, als wäre das alles Blutgeld, und nichts davon stünde Ihnen zu.« Peter: »Ich sehe da keine Alternative!« Ich: »Es gibt auch die Alternative, dass Sie ihr eigenes Leben leben. Sie müssen dieses Erbe nicht nach dem Motto ›alles oder nichts‹ antreten, Sie könnten z. B. Ihren eigenen Familienbetrieb gründen und das Startkapital dazu von Ihrer Mutter bekommen, also von ihr etwas Gutes annehmen.« Peter hat inzwischen eine eigene Firma gegründet, wobei mir nicht mehr bekannt wurde, ob er das Kapital dazu von seiner Mutter angenommen hat.

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Ergebnis In meinem Beitrag zum Thema dessen, was wir als Gegenübertragungsträume bezeichnen können, habe ich Überlegungen zu traumartigen Zuständen des Analytikers diskutiert, die weder als Tag- noch als Nachtträume einzuordnen sind.7 Normalerweise ist mit Gegenübertragungstraum gemeint, wie Zwiebel es formuliert, dass der Analytiker im Schlafzustand von seinem Patienten träumt. Es handelt sich also um einen Nachttraum, der uns »geschieht«. Dem Tagtraum dagegen ist eigen, dass wir ihn gestalten, als eine Phantasie vom besseren Leben, eine Utopie. Es gibt jedoch mehr als die schöne Unterscheidung zwischen Tag- und Nachttraum, mit der sich u. a. auch Ernst Bloch im Rahmen des utopischen Bewusstseins8 auseinandergesetzt hat (1959/1976, S. 86 ff.). Das heißt, dass es ein Zwischen zu untersuchen gilt, einen Raum in dem Sinne etwa, wie Winnicott sein Konzept des Zwischen, des Vermittelnden – des »intermediate space« (Winnicott, 1973) – definiert. Romane und Dichtung sind voll von solchem Zwielicht, Zwischenzuständen zwischen Phantasie, Tag- und Nachttraum. »Was sprichst du wirr wie in Träumen zu mir, phantastische Nacht«, sagt Eichendorff, und dieses Phänomen galt es, im Zusammenhang mit der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung zu betrachten. Mich faszinierte die Kreativität dieser Träume und ihre Eignung als analytisches Werkzeug in der Analyse mit Patienten, bei denen es nicht nur um Resymbolisierung, sondern, wie Lorenzer (1974, S.  292) definiert, um die Aufhebung der Symbolisierungssperre durch eine 7 In der »Traumdeutung« nennt Freud als Hauptbedingung der Traumbildung den »Schlafzustand der Seele« (1900/1999, II/III, S. 531) und erklärt: »[…] der Schlafzustand ermöglicht die Traumbildung, indem er die endopsychische Zensur herabsetzt« (S. 531). Damit erklärt er als Schlafzustand der Seele das Wirken der endopsychischen Zensur, ohne dass daraus zwingend abzuleiten wäre, dass dieses Agens lediglich beim Nachttraum wirksam wird. 8 »Wie bekannt, ist die eigentlichste Entdeckung Freuds diese: daß die Träume keine Schäume sind, selbstverständlich auch keine prophetischen Orakel, sondern daß sie zwischen beiden gleichsam in der Mitte liegen. […] Und das Thema: Träume vom besseren Leben schließt streckenweise, mit Vorsicht und Bedeutung, auch die nächtlichen Träume als Wunschträume ein; auch sie sind ein Teil (ein freilich verschobener und nicht ganz homogener) auf dem riesigen Feld des utopischen Bewußtseins« (Ernst Bloch, 1959/1976, S. 88).

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Neuformulierung, das Schaffen einer neuen Interaktionsform geht. Es muss uns zum Staunen über die Ressourcen des Unbewussten unserer Patienten bringen, in welch kreativer Weise sie sich der analytischen Situation bedienen können, um solche unsagbaren Inhalte zu vermitteln. Zur Illustration meiner Überlegungen habe ich zwei Fallvignetten vorgelegt, aus denen man ersehen kann, in welcher Weise der von mir versprachlichte Traumtext9 von den Patienten aufgenommen wurde: als Ausgangspunkt für die Mitteilung ihrer eigenen Traumgedanken. Diese Stunden stellen einen Wendepunkt dar, wie Volkan (1978) sagt: Aus »schwarz oder weiß« wird »grau«, d. h., der Patient kann hier erstmals die Berührung zuvor gespalten gehaltener Selbst- und Objektrepräsentanzen zulassen. Die Analyse der im latenten Traumtext verborgenen »verschütteten« Lebensentwürfe (Lorenzer, 1986, S. 66) und die Beseitigung der Symbolisierungssperre werden ermöglicht und führen zu einem Neuanfang für den Patienten, zu neuen Interaktionsformen.

Literatur Argelander, H. (1970). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Bloch, E. (1959/1976). Das Prinzip Hoffnung, 1. Band. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S.  (1900/1999). Die Traumdeutung. G.  W. Bd. II/III. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1923b). Das Ich und das Es. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Heimann, P. (1950). On counter-transference. Int. J. Psycho-Anal., 31, 81–84 (Wiederabdruck in Heimann, 1989, S. 73–79). Heimann, P. (1956). Dynamics of transference interpretations. Journal of PsychoAnalysis, 37 (Wiederabdruck in Heimann, 1989, S. 108–121). Heimann, P. (1960). Counter-transference. British Journal of Medical Psychology, 33 (Wiederabdruck in Heimann, 1989, S. 151–160); deutsch: Bemerkungen zur Gegenübertragung. Psyche – Z. Psychoanal., 18, 1964, 483–493. 9 Zwiebel (1992, S.  122) weist – hier in Bezug auf alle Deutungsaktivitäten des Analytikers – auf folgende bedeutsame Unfertigkeit aller dieser Konstruktionen hin: »In Wirklichkeit sind diese aber seine eigenen Konstruktionen und als solche niemals vollkommen ›wahr‹ oder ›richtig‹ in diesem umfassenden Sinn, bedürfen also der Verarbeitung, Korrektur und Antwort durch den Patienten.«

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Heimann, P. (1989). About children and children no-longer. Collected papers, 1942–1980. Ed. M. Tonnesmann. London/New York: Tavistock/Routhledge. Kernberg, O. F. (1975). Borderline conditions and pathological narcissism. Northvale, NJ: Jason Aronson. Kernberg, O. F. (1984). Schwere Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart: Klett Cotta. Lorenzer, A. (1970a). Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lorenzer, A. (1970b). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lorenzer, A. (1974). Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lorenzer, A. (1981). Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt. Lorenzer, A. (1986). Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In A. Lorenzer (Hrsg.), Kultur-Analysen. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Reinke, E. (1992a). Zweite Generation – zweite Chance? Transgenerationelle Übermittlung von unbearbeiteten Traumen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus. In K. Flaake u. V. King (Hrsg.), Aufsätze zur weiblichen Adoleszenz. Frankfurt a. M.: Campus. Reinke, E. (1992b). Zwischen Apologetik und Erinnern. Psychoanalyse und Vergangenheitsbewältigung. Psychosozial, 51, 86–101. Reinke, E. (1993). Kollektive Verbrechen und die zweite Generation. In L. Böllinger u. R. Lautmann (Hrsg.), Vom Guten, das noch stets das Böse schafft – Kriminalwissenschaftliche Essays zu Ehren von Herbert Jäger. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Reinke, E. (1995). Wir alle arbeiten mit der Gegenübertragung. Methodenkritische Anmerkungen auf der Grundlage der Auffassung von Paula Heimann. LuziferAmor 8, 43–60. Reinke, E. (1999). Wiederholung und Neubeginn. Überlegungen zum ›Szenischen Verstehen‹ (Alfred Lorenzer und Hermann Argelander) als Erkenntnismöglichkeit im psychoanalytischen Prozeß. In Th. Resch (Hrsg.), Psychoanalyse, Grenzen und Grenzöffnung (S. 43–62). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Volkan, V. (1978). Psychoanalyse der frühen Objektbeziehungen. Stuttgart: Klett. Winnicott, D. W. (1973). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta. Zwiebel, R. (1977). Der Analytiker träumt von seinem Patienten. Psyche – Z. Psychoanal., 31, 43–59. Zwiebel, R. (1984). Zur Dynamik des Gegenübertragungstraums. Psyche – Z. Psychoanal., 38, 193–213. Zwiebel, R. (1992). Der Schlaf des Analytikers. Die Müdigkeitsreaktion in der Gegenübertragung. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse.

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Schwarzes Quadrat und Panzerung Gegenübertragungsträume in psychoanalytischen Prozessen

Ist der Traum mehr als eine Wunscherfüllung und ein Hüter des Schlafes? Ob Träume, wie Freud (1900) annahm, an der Wunscherfüllung der im Wachzustand vom moralischen Ich abgelehnten Triebvorstellungen arbeiten, ob sie die Hüter des Schlafes sind und andrängende Triebimpulse in ihrem Affektdruck so weit eindämmen, dass wir nicht erwachen und sie somit auch ein vom Traumdenken modifiziertes Bild des gegenwärtigen affektiven Erlebens sind, oder ob die Traumarbeit mehr bewirkt, ist unter Psychoanalytikern und Traumforschern bis jetzt strittig. Solms (1999), der in den Ergebnissen der Hirnforschung über den Traumprozess eine weitgehende Bestätigung von Freuds Traum- und Affekttheorie sieht, bestätigt, vom neurophysiologischen Gesichtspunkt ausgehend, dass Träumen dem Schlaf dient und dass körperliche und gedankliche Prozesse während des Schlafes Erregungen hervorrufen, die, wie Freud es formulierte, nach Triebabfuhr drängen: »Wenn ein Signalaffekt während des Schlafes ausgelöst wird, versucht das Ich, den zu Grunde liegenden Triebabwehrprozess in Gestalt eines halluzinatorischen Traums von den motorischen Systemen – einschließlich der Affektsysteme – ab- und auf die äußeren Wahrnehmungsoberflächen umzulenken« (1999, S. 237). Schlaf und Affektivität seien gegensätzliche, einander widerstrebende Zustände (S. 237). Im Gegensatz dazu folgern Leuschner und seine Mitarbeiter (1999) aus ihren Untersuchungen, dass die Besetzung der Sinnesorgane im Schlaf nicht zurückgenommen wird, sondern im Vorbewussten erhalten bleibt. In ähnlicher Weise betonen Hartmann (1999) und Fiss (1999), aber auch Schreuder (1999), dass der Traum affektregulierende und affektverarbeitende, ja sinngebende

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Funktionen beinhaltet. Während Hartmann die Arbeit des Traums als eine die Gefühle und Affekte integrierende Tätigkeit versteht, die neue metaphorische Kontexte herstellt und so Gefühle versinnbildlicht, hebt Fiss die Funktion des Traums bei der »Entwicklung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Selbst« hervor, bis hin zu einer »performativen Funktion« (1999, S. 181 f.). Deserno (1999) zeigt in berührender Weise diese entwicklungsrelevanten Funktionen der Traumarbeit über die Darstellung von Träumen aus der Analyse eines depressiven Patienten.

Zur Bedeutung von Gegenübertragungsträumen Der erste Gegenübertragungstraum, der uns in der psychoanalytischen Literatur berichtet wird und auf den sich fast alle Arbeiten beziehen, ist Freuds Traum von »Irmas Injektion« (1900). Freud exemplifiziert an ihm seine These von der Bedeutung des Traums als unbewusste Wunscherfüllung und der Zensur der Triebwünsche durch Verdrängung. Weitere Deutungsoptionen dieses Traums liefern Max Schur, der auf die unbewusste Tendenz Freuds verweist, an seiner zusammenbrechenden Idealisierung von Fließ festzuhalten, und Zwiebel (1977; 1984), der ihn als Ausdruck eines drohenden Kompetenzverlustes in Freuds psychoanalytischer Arbeitssituation sieht. Zwiebel, der sich zweimal ausführlicher mit dem Thema des Gegenübertragungstraums beschäftigte, hat verschiedene Bedeutungsebenen herausgearbeitet: Der Traum gibt Auskunft über eine gegenwärtige und schwierige psychoanalytische Behandlungssituation, er reflektiert unbewusste Aspekte des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens und er kann beim Durcharbeiten zur vertieften Selbstanalyse und zur Analyse der Objektbeziehung des psychoanalytischen Paares führen. Letztendlich kann er, wenn der psychoanalytische Prozess in eine Sackgasse geraten ist, eine konstruktive Lösung bereitstellen. Er erwähnt in diesem Zusammenhang Winnicotts Ausführungen über einen Gegenübertragungstraum, den dieser im Verlauf der Behandlung einer Patientin mit einer psychotischen Störung träumte und der für ihn »hei-

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lenden«, konfliktlösenden Charakter hatte (Winnicott, 1958/ dt. 1983, S.  81 f.). Zwiebel vermutet, dass Gegenübertragungsträume vorwiegend bei der Behandlung von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen vorkommen und vielleicht auch eher bei in Ausbildung befindlichen Analytikern. Insofern verwiesen sie auf Probleme mit der psychoanalytischen Kompetenz. Seit den Anfängen der Psychoanalyse hat sich unsere Vorstellung der psychoanalytischen Beziehung vom Analytiker als objektivem Beobachter zum anteilnehmenden Beobachter bis hin zum involvierten, ja zuweilen verletzten Partner des Patienten verändert. Zwiebel schildert die psychoanalytische Situation als »das Ergebnis eines komplexen Wechselspiels, an dem immer zwei Personen mit ihrer jeweiligen Geschichte und ihren Konflikt- und Störungsdispositionen« (1984, S. 194) beteiligt sind. Eine erste systematische Untersuchung des Themas Gegenübertragungstraum verdanken wir Lester, Jodoin und Robertson (1989). Sie widerlegen Zwiebels Vermutung, dass nur unerfahrene Analytiker von Gegenübertragungsträumen heimgesucht werden. Denn von 95 befragten Kollegen räumten 80 Prozent Erfahrungen mit Gegenübertragungsträumen ein, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Erfahrung. Drei Viertel der Befragten berichteten, dass ihnen die Träume halfen, im analytischen Prozess aufgetretene Widerstände aufzulösen. Ein Viertel klagte über Scham- und Peinlichkeitsempfindungen, die von den Untersuchern als Hinweis auf eine mögliche Verleugnung des Träumers interpretiert wurden. Die meisten Analytiker hatten Gegenübertragungsträume in jenem Zeitraum des psychoanalytischen Prozesses, in dem sie ihre Patienten nicht verstanden. Diese Analyseabschnitte waren von heftigen triebhaften Übertragungsgefühlen des Patienten gekennzeichnet, die entweder aggressiven oder erotischen Charakter hatten. Nur wenige berichteten, dass Gegenübertragungsträume in einer Analysephase auftraten, die von Entwicklungsschritten des Patienten gekennzeichnet war. Hinsichtlich des manifesten Trauminhalts ergaben sich eindeutige Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Analytikern: Rivalitätsträume und sadistische Kontrolle mit erotischer und aggressiver Gefühlstönung wurden vorwiegend von Männern berichtet, während Frauen durch Trauminhalte intimer Nähe und

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Intrusionen in ihrem persönlichen Bereich betroffen waren. Diese Untersuchungen exemplifizieren ein weiteres Mal zwei Vorstellungen über die Rolle des Analytikers im therapeutischen Prozess: die des objektiven Beobachters, die eher den Anfangszeiten der Geschichte der Psychoanalyse zugeordnet werden kann, und die gegenwärtige andere, dass der Analytiker in die Übertragungsbeziehung des Patienten verwickelt wird. Unsere Arbeit ist eine dialektische. Sie versucht immer wieder das Gleichgewicht herzustellen zwischen beobachtender Distanz und emotionaler Verstrickung. Die idealtypische Haltung, um die wir uns bemühen und die Bolognini (2003) in seinem Buch über die Einfühlung ausführlich darstellt, ist die der beobachtenden Anteilnahme. Nach meiner Ansicht gibt der Gegenübertragungstraum eindeutig Aufschluss über unbewusste Resonanzen, die in jeder Analyse zwischen Analytiker und Analysand jenseits der Worte stattfinden, die sich auf einer Vielzahl von Ebenen zwischen Bewusstsein und tiefem unbewussten Erleben ereignen. Sie sind gekennzeichnet von dem unbewussten Bestreben beider Seiten, einen Abstand einzuhalten, in dem sich beide wohl oder sicher fühlen, der demnach von der Konfiguration der Schutzbauten beider Beteiligter bestimmt wird. Gegenübertragungsträume zeigen, dass die Affektivität eine vorherrschende Bedeutung hat und triebhafte Inhalte nach Regulation verlangen. Nach Lester et al. (1989) signalisieren Gegenübertragungsträume Widerstände im Analytiker, wenn sie vom Inhalt her Zeichen einer negativen Resonanz aufweisen. Obwohl Freud die Gegenübertragung als Störung charakterisiert und an vielen Stellen seines Werkes direkt oder metaphorisch auf die ideale Haltung des kühlen Beobachters beim Analysieren hinweist, verdeutlicht er in anderen Zusammenhängen sein Wissen um die tiefe unbewusste Kommunikation im psychoanalytischen Prozess. So schreibt er 1913, »daß jeder Mensch in seinem eigenen Unbewußten ein Instrument besitzt, mit dem er die Äußerungen des Unbewußten beim anderen zu deuten vermag« (1913/1973, S.  112); und 1915, »dass das Unbewußte eines Menschen mit Umgehung des Bewußtseins auf das Unbewußte eines anderen reagieren kann« (1915/1975, S.  153). Bereits 1912, in den »Ratschlägen für den

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Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, macht Freud diese Erkenntnis zu einer Grundlage der psychoanalytischen Technik, wenn er dem Analytiker empfiehlt, er möge das eigene Unbewusste dem des Anderen wie einen Empfänger entgegenhalten. Seine Empfehlung, mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zuzuhören, versucht uns auf eine Ebene der Kommunikation einzustellen, die wir im allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs zugunsten von Neutralität und Rationalität unterdrücken (1912/1975, S. 175). »Wir erreichen heute«, schreibt Palombo (1984), »unter aufmerksamer Beobachtung und Verwendung der Gegenübertragung Beziehungsebenen, die unsere eigene Persönlichkeit möglicherweise in Ängste und peinliche Empfindungen stürzen können, die deshalb unsere Abwehrorganisationen aktivieren, um vermeintlich die Analyse zu schützen, uns aber dadurch in Sackgassensituationen manövrieren können, aus denen uns die Analyse der Gegenübertragungsträume ein Entkommen zu ermöglichen vermag. Die anfänglichen Zeichen des Widerstandes gegen Angst und Verwirrung verwandeln sich so in Quellen der Erkenntnis über uns, den Anderen und den analytischen Prozess. Ob triebhafter Wunsch oder eine heftige affektive Antwort den Traum angezettelt haben, er repräsentiert einen Angriff auf das geschlossene System des Träumers, der sich mit Anpassung und Widerstand im seelischen Gleichgewicht hält. Nichtsdestoweniger, obgleich er eine Intrusion ist, stellt er eine neue Öffnung in die Außenwelt dar, die Möglichkeiten potentieller Problemlösungen und Bedürfnisbefriedigungen vermehrt« (zit. nach Lester et al., 1989, p. 311 f., Übersetzung I. B.). Eine etwas veränderte Sichtweise ermöglichen uns Überlegungen Mancias (2006). Ausgehend von den Entdeckungen des impliziten und expliziten Gedächtnisses durch die Neurowissenschaften, beschreibt er mögliche Erfahrungen in der psychoanalytischen Begegnung, in der sich vorsprachliche Inhalte vermitteln. Diese sind, da sie noch nicht der Verdrängung unterliegen konnten und somit keine explizite Erinnerung möglich ist, als Spuren averbaler Erfahrung während der letzten Monate der Schwangerschaft oder des ersten Lebensjahres im impliziten Gedächtnis vorhanden und können über unsere Fähigkeit, mit unserem Unbewussten die Gestimmtheit und die Aktionen des Anderen in uns aufzunehmen und über Traumprozesse zu symbolisieren, entdeckt werden.

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Hier ist die empfängliche, vielleicht weiblich zu nennende Seite des Analytikers gefragt, die freilich Vertretern beiderlei Geschlechts zu eigen sein kann. Es scheint jedoch geschlechtliche Präferenzen bezüglich der Inhalte von Gegenübertragungsträumen zu geben. Lester et al. (1989) ziehen zur Erklärung Ausführungen von Chasseguet-Smirgel (1984) heran, die der Weiblichkeit des Analytikers eine Arbeit widmete, in der sie die besondere Eignung der Frau bei der Untersuchung der Innenräume und der primären Mütterlichkeit betont. Freud hingegen bekannte in einem Brief an Ferenczi, dass es ihm nicht liege, in der Psychoanalyse die Mutter zu spielen, weshalb er wohl diese Fährte nicht weiter verfolgte, obwohl er sie, wie in der Receiver-Metapher beschrieben, immer wieder aufgenommen hatte (nach Zienert-Eilts, 2009). Mancia nennt diese Ebene der Begegnung die der musikalischen Dimension. Ich hatte versucht zu belegen, dass die Musik als Medium eine Sprache darstellt, welche die frühe Interaktion zwischen Mutter und Kind symbolisiert (Biermann, 1995). Dantlgraber (2008) beschreibt diesen Vorgang einer musikalischen Begegnung in einem analytischen Prozess, der ihm ein tieferes Verständnis des Patienten ermöglichte. Die kommunikativen Äußerungen in der psychoanalytischen Situation, die auf der Ebene des impliziten Gedächtnisses immer präsent sind und unbewusst vermittelt werden, »beziehen sich auf Musik als eine Sprache sui generis, deren symbolische Struktur derjenigen unserer emotionalen und affektiven Welt entspricht (›isomorphic‹). Diese Dimension ermöglicht eine Übertragungsmetaphorik, die jenseits der narrativen affektiven, emotionalen und kognitiven (traumatischen) Erfahrung liegt, die das implizite Modell der geistig-seelischen Einheit des Patienten geformt haben« (Mancia, 2006, p. 91, Übersetzung I. B.). Die Sprache, in ihrer musikalischen Dimension, ist deshalb Trägerin frühester Erfahrungen. Sie wird bereits im Mutterleib gehört. Vermittels ihrer musikalischen Färbung finden einfache Prozesse der Projektion und Introjektion im Austausch mit dem Analytiker statt. Mit der Stimme können Analytiker und Analysand Affekte vermitteln oder sie bekämpfen. Noch einmal Mancia: »Das die sprachliche Bedeutung vermittelnde Element der Sprache des The-

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rapeuten ist zutiefst beeinflusst durch seine emotionale Bedeutung, die zur frühesten unbewussten Geschichte des Patienten gehört und auf der Prosodie der Sprache beruht, die erlernt wurde, bevor das Sprachvermögen sich entwickelte. […] Solch eine prosodische und musikantische Dimension kann nur zum unverdrängten Unbewussten gehören, insoweit sie mit der primitiven emotionalen Erfahrung verknüpft ist. Sie kann leicht abgespalten und projektiv mit dem Analytiker identifiziert werden und ist deshalb geeignet, die Haut der Gegenübertragung zu durchbohren, mehr als jeder semantische oder narrative Inhalt es tun kann« (p. 92, Übersetzung I. B.). Stellt sich diese basale Ebene in der Analyse ein, dann verändern sich Intensität und Atmosphäre der psychoanalytischen Kommunikation. Wenn autistische und psychotische Abwehrstrukturen, die ein verletztes Selbst beschützen und es einkapseln, berührt werden, wird die analytische Begegnung ungewohnt schwierig. In der Nähe dieser Strukturen ist die Funktion des beobachtenden Ich sehr schwach oder kommt überhaupt zum Erliegen. In der Regel entsteht ein intensiver Objekthunger, den wir als Gier bezeichnen. Die Angst vor dieser Gier, die auf der primärprozesshaften Ebene unbewusste Ängste vor dem Verschlucktwerden hervorruft, aktiviert Distanzierungstendenzen. Diese Verhältnisse sind Zeichen einer frühen Mangelsituation, hervorgerufen durch ein insuffizientes Primärobjekt. Der Analytiker wird nicht mehr in seiner eigentlichen Funktion als jemand gesucht und erfahren, der Hilfe zur Erkenntnis gibt, sondern als Stiller extremer Bedürfnisse. Die Situation wird oft als stark erotisierte Übertragung ausgestaltet, um die darunter liegenden heftigen Aggressionen, die an die Oberfläche drängen, abzuwehren. Als gegen Ende eines solchen Prozesses die Ich-Funktionen einer meiner Patientinnen erstarkten und die Erkenntnis von ihr Besitz ergriff, konnte sie mir anvertrauen: »Ich habe Sie jede Stunde gegessen, deshalb konnte ich nicht hören, was Sie sagten, ich meine, was Ihre Worte bedeuteten.« Die beherrschende und gleichzeitig den oralen Konflikt versteckende Situation kann unterschiedliche Ausdrucksformen der Ängste und Abwehrstrukturen auf Seiten des Analytikers und des Analysanden bewirken. So bevorzugen weibliche Analysanden gegenüber männlichen Analytikern eher hocherotische Über-

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tragungen und gegenüber Analytikerinnen aggressiv gefärbte Beziehungen, weil sie hier vorbewusst gegen die Annahme eigener Homosexualität anzukämpfen haben. Ähnlich verhält es sich nach meiner Kenntnis vice versa. Analysandinnen können bei Analytikerinnen Ängste um ihre eigenen Körpergrenzen oder private Lebensverhältnisse hervorrufen. Eigentlich bedeuten diese massiven oralen Angriffe abgespaltene Wünsche, symbolisch am inneren Raum des Analytikers teilnehmen zu können. Das verlangt von ihm, den seelischen Raum zu öffnen, Symbolisierungsfähigkeit zu vermitteln und den abgespaltenen Selbstanteilen Integration zu ermöglichen. Verkennt der Analysand die Beziehung des primären Angenommenseins durch den Analytiker konkretistisch als Vereinnahmung, kann es zu einer heftigen Ablehnung der empathischen Haltung führen. Andererseits können fusionäre Wünsche des Analysanden die Analytikerin umso heftiger bedrohen, je mehr sie eigene unbearbeitete Wünsche nach Verschmelzung mit ihrer Mutter hat. Diese Verhältnisse können zu einer Bedrohung ihrer analytischen Funktion führen. Der Gegenübertragungstraum kann diese Verhältnisse in symbolischer Form darstellen. Über seine Analyse ist es möglich, die Abwehrstrukturen auf beiden Seiten aufzudecken. Die neu gewonnene Erkenntnis bietet möglicherweise einen Ausweg aus der Sackgasse. Ist der innere Spiegel auf Seiten des Analytikers relativ klar, so bietet der Gegenübertragungstraum eine Möglichkeit, das Nichtrepräsentierte, das im Allgemeinen beim Patienten als beängstigende Leere oder diffuser Druck empfunden wird, symbolisch zu fassen.

Gegenübertragungsträume in Supervisionssituation und Analyse. Deutungsoptionen und Diskussion Der Gegenübertragungstraum der Supervisandin An zwei Gegenübertragungsträumen möchte ich die geschilderten Problemkreise der Gegenübertragungswiderstände und des drohenden Kompetenzverlustes beim Analytiker reflektieren. Beson-

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deres Augenmerk richte ich jedoch auf die Möglichkeit, dass unser eigenes Unbewusstes im Gegenübertragungstraum nichtsymbolisiertes Material in der seelischen Welt des Patienten erfassen und eine erste symbolische Form finden kann. Außerdem möchte ich verdeutlichen, dass die Analyse des Gegenübertragungstraums Hilfe in einem drohenden Dilemma im psychoanalytischen Prozess bedeuten kann. Der erste Gegenübertragungstraum stammt von einer jungen Kollegin, die bei mir die wöchentlich vierstündige Analyse einer jungen Theologiestudentin kontrollierte. Die Patientin hatte sich in Analyse begeben, weil sie eine sich zuspitzende psychosomatische Reaktionsweise zunehmend in Panik versetzte und ihr Leben wachsenden Einschränkungen unterwarf. Die Symptomatik entwickelte sich in Situationen, in denen die Patientin Männern begegnete, die sie erotisch anziehend fand. Zum ersten Mal hatten sich krankhafte Anzeichen in der Zeit einer schwärmerischen Verliebtheit in einen älteren Bekannten gezeigt. Da sie in der Universität häufig erotisch interessante Männer traf, war allmählich auch der Fortgang ihres Studiums bedroht. Der jungen Kollegin war die Patientin sympathisch. Ihre Fähigkeit zur Empathie war in den Supervisionsstunden gut zu beobachten. Sie konnte die bald auftretenden Manipulationen am Setting regulieren und die Patientin in der Analyse halten, wenn diese wiederholt Stunden ausfallen lassen wollte, um kurzfristig in Ferien zu fahren. Auffallend war jedoch ein zurückhaltender Umgang mit Übertragungsdeutungen, den ich ihrer relativen Unerfahrenheit in der psychoanalytischen Arbeit zuschrieb. Ich ließ der Kollegin zunächst Raum, ihre Arbeit darzustellen und ihre Überlegungen zum Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen zu entwickeln. Die Patientin nahm bald nach Analysebeginn die Beziehung zu einem Kommilitonen auf, die schnell sexuell wurde. Dies war umso erstaunlicher, als die Patientin bisher keinen Verkehr mit einem Mann gehabt hatte. Der junge Mann war in seiner erotischen Begehrlichkeit eher zurückhaltend und gehemmt. Das milderte die neurotischen Hemmungen der Patientin und gab ihren narzisstischen Wünschen viel Raum, in der Beziehung zu tun, was sie wollte. Wir verstanden die Beziehungsaufnahme zu ihrem Freund einerseits als eine Revanche gegenüber ihrer Ana-

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lytikerin, die ihren freizügigen Umgang mit den Analysestunden nicht gutheißen konnte, andererseits vermuteten wir aufgrund der belastenden Lebensgeschichte eine ihr unbewusste tiefer liegende Angst, in eine basale Abhängigkeit zur Therapeutin zu geraten, zu der sie von ihren abgewehrten Wünschen nach Fusion gedrängt wurde. Wir sprachen über die Angst der Patientin, infolge ihrer unbewussten, auf die Analytikerin projizierten oralen Gier, verschlungen zu werden und dadurch verloren zu gehen. Der Lebensanfang der Patientin hatte ihr äußerst unsichere Erfahrungen mit dem primären Objekt auferlegt, insofern als sie als Frühgeburt längere Zeit im Inkubator zugebracht hatte. Weitere prekäre Lebensumstände überschatteten den Beginn ihres Lebens. Aus diesen Gründen erlebte sie als Säugling aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die nötige emotionale Resonanz. In diesem Zeitraum, also in den ersten Monaten der Analyse mit der Patientin, brachte die Kollegin folgenden Gegenübertragungstraum mit, aus dem sie mit heftiger Angst erwachte und den sie zunächst nicht verstand: Ich lag auf der Couch und vor mir stand die Patientin, die mir ein schwarzes Quadrat vor die Füße warf. Es war flach, nicht dreidimensional. Die Patientin verlangte von mir, dass ich es zertreten solle. Ich aber hatte im Gegenteil das Gefühl, ich müsse vorsichtig damit umgehen und dürfte es keinesfalls zerstören. Die Kollegin war beunruhigt und fragte sich, ob sich da etwas Schlimmes andeute. Sie stellte über die Couch, auf der sie im Traum lag, Verbindungen zu ihrer eigenen Analyse her. Ich besprach mit ihr, dass der Traum zwar einerseits etwas mit ihrer eigenen Analyse zu tun habe, andererseits sei er Ausdruck einer intensiven Beziehung zu ihrer Patientin auf einer tiefer liegenden Ebene, die ihr noch nicht zugänglich sei. Es gelte, ihn für die Behandlung der Patientin nutzbar zu machen. Wir würden deshalb ihre Einfälle nur im Hinblick auf das Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen untersuchen. Überlegungen, die ihre persönliche Analyse beträfen, würden wir im Rahmen der Supervision nicht behandeln. Ein ähnliches Vorgehen fand ich bei Robertson (Robertson und Yack, 1993) beschrieben, der die Arbeit mit einem Gegenübertragungstraum seiner Kandidatin im Rahmen ihrer Supervision bei ihm darstellt. Auch hier erweist sich die Analyse des Traums als

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Ausweg aus einer schwierigen negativen Übertragungssituation. Die Assoziationen meiner Kollegin bewegten sich im Umkreis von Leere, Verlust von Raumgefühl, Oberfläche, Tod und Sterben. Sie dachte an den Suizid des Vaters der Patientin in der Zeit ihrer beginnenden Pubertät und überlegte, dass die Patientin sie zu etwas Aggressivem gegen sie verführen wollte. Zugleich spürte sie etwas sehr Zerbrechliches in deren Persönlichkeit, das sie motivierte, vorsichtig mit ihr umzugehen. Mich selbst hatte ich gefragt, ob ich der Kollegin in der Supervision zu wenig Halt gegeben hätte oder ob meine Ausführungen über die orale Abwehrorganisation der Patientin die Supervisandin vielleicht geängstigt hätten. Ich legte ihr meine Überlegungen vor. Sie meinte jedoch, dass sie sich nicht geängstigt habe, sondern es sei ihr einiges klarer geworden. In mir war während der Traumerzählung ein Bild des Traumgeschehens entstanden, in dem das schwarze Quadrat besonders deutlich in Erscheinung trat. In meiner Vorstellung wurde es von vier gelborangen Stäben begrenzt, die ich irgendwo glaubte gesehen zu haben. Meine Assoziationen führten mich zu einer Aufführung der »Zauberflöte«, in der Pamina symbolisch von vier Mohren mit diesen Stäben eingegrenzt wurde, als sie sich aus Verzweiflung um den Verlust des geliebten Tamino und über den Auftrag ihrer Mutter, Sarastro zu morden, umbringen möchte. Auch mich beschäftigte also die depressive Thematik von Selbstmord und Mord in der Bedeutung einer psychotischen Krise, und ich erinnerte mich an die Behandlung eines autistischen Mädchens, das sich während ihrer Panikattacken stets schreiend in eine Ecke des Zimmers geflüchtet hatte, weil es sich von einem schwarzen Viereck verfolgt fühlte. Die Einfälle meiner Supervisandin, meine eigenen Vorstellungen und die bisherige Kenntnis der Lebensgeschichte der Patientin ließen mich das schwarze Quadrat im Gegenübertragungstraum als ein Sinnbild für einen objektlosen Zustand im Inneren der Patientin deuten. Den Traum verstanden wir als eine in der Traumsymbolik gefasste Reaktion der Analytikerin auf die namenlose Angst der Patientin vor einem Zustand grenzenloser Verlassenheit, von dem sie sich am liebsten durch Zerstörung oder Selbstzerstörung zu befreien wünschte. Das psychosomatische Symptom schien diesen Drang körperlich in Szene zu setzen. Auf Seiten der

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Analytikerin entwickelte sich über ihren im Traum empfundenen Widerstand eine Ahnung, wie viel Kraft ihr die Arbeit mit der Patientin innerlich abverlangen werde, wenn sie sich dem maniformen Drang der Patientin widersetzte, durch Destruktion eine schnelle Lösung für beängstigende und schmerzhafte Konflikte zu erreichen. In der Nacht nach der Supervisionsstunde beschäftigte die Kollegin das schwarze Quadrat erneut in einem Traum: Von einem kurzen Angstaffekt begleitet, der allmählich in Beruhigung überging, verwandelte sich das zu ihren Füßen liegende schwarze Quadrat in eine Obstschale. Sie deutete ihn als Hinweis auf ein in der Patientin schlummerndes Reifungspotential. Ich sah in ihm auch eine tiefere Resonanz der Supervisandin auf unsere Überlegungen in der vorhergehenden Stunde, die in mir die Hoffnung auf eine fruchtbare Zusammenarbeit weckte. Der erste Gegenübertragungstraum ermöglichte uns zu verstehen, dass es für die Patientin wichtig war, zunächst vorbehaltlos angenommen zu werden. Ihren destruktiven Drang musste die Analytikerin vorerst in eigener Arbeit, mit Unterstützung der Supervision, verdauen. In Anlehnung an Steiner (1993) überlegten wir, patientenzentrierten Interventionen den Vorrang vor Übertragungsdeutungen zu geben, um die Ich-Funktionen der Patientin zu stärken. Für die Supervisionsarbeit machte mir dieser Traum deutlich, dass ich mit autistischen Objekten zu rechnen hatte und dass projektiv-identifikatorische Prozesse besonders auf ihren kommunikativen Aspekt zu untersuchen sein würden. Uns beiden forderte der Prozess der Analyse und der Supervision die Fähigkeit ab, Zustände von Hilflosigkeit, Unsicherheit und Zweifeln zu ertragen, bis sich in der Patientin kreative Lösungen fanden. Die Kollegin hatte in Gruppensupervisionen oft unter Unverständnis für ihre Arbeit zu leiden. Sie wurde jedoch durch einen guten Ausgang der Analyse mit ihrer Patientin belohnt: Die Symptomatik verlor sich allmählich, und die Analyse wurde wenige Wochen nach dem erfolgreichen Examen der begabten Patientin beendet. Katamnestisch ist zu berichten, dass die Patientin ihr Leben bisher erstaunlich positiv gestaltet. Bei einer zufälligen Begegnung mit ihrer ehemaligen Analytikerin wirkte sie entspannt und berichtete, dass sie den gegen Ende ihrer Analyse gefundenen Freund, der von seiner

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Körperlichkeit und Intellektualität her gut zu ihr zu passen schien, geheiratet hatte und ein Kind erwartete. Die Kollegin fand für das schwarze Quadrat in ihrem Traum später eine weitere Bedeutung: Sie sah hinter der an der Oberfläche Tod und Verderben repräsentierenden Fläche den ursprünglichen Wunsch der Patientin, dass sich dieses flache Gebilde mit der Dreidimensionalität eines primären Liebesobjekts (im Sinne eines transzendentalen Objekts) füllen möge und dieser Wunsch von der Therapeutin angenommen und nicht zerstört werde. Dieser frühe Gegenübertragungstraum der Kollegin hat uns dazu veranlasst, unsere Aufmerksamkeit deutlicher auf die Traumarbeit einzustellen. Das Verständnis der analytischen Beziehung lief häufig über eine nach dem Gegenübertragungstraum auftretende rege Traumtätigkeit der Patientin. Vielleicht ist es uns im Laufe unserer Zusammenarbeit immer besser gelungen, die Patientin in der gemeinsamen Supervisionsstunde zu »erträumen« und ihr so besser gerecht zu werden. Damit nehme ich einen Gedanken von Ogden (2005, p. 1266) auf, der die Beziehung in Analyse und Supervision im Sinne Bions als »angeleitetes Träumen« (guided dreaming) versteht.

Mein eigener Gegenübertragungstraum Der einzige mir in meiner bisherigen langjährigen Arbeit bewusst gewordene Gegenübertragungstraum stammt aus einer schwierigen Analyse mit einer Dozentin. Nach einer abgelehnten Bewerbung um eine Professur an einer anderen Universität, die für sie die erwartete Beförderung gebracht hätte, stellten sich zunehmend depressive Verstimmungen ein, weswegen sie sich entschloss, eine psychoanalytische Behandlung zu beginnen. Sie hatte sich aus eigenem Interesse in die Werke Freuds vertieft. Das führte zu einer zusätzlichen Belastung der Analyse, weil ihre Textkenntnisse ihr dazu verhalfen, ihren Schutz vor schmerzhaften Einsichten zu verstärken. Sie rüstete ihre Abwehr damit auf und vermittelte mir, wie Psychoanalyse zu verstehen sei. Das half ihr immer wieder, an der psychoanalytischen Beziehung vorbeizusehen. Ihre scharfe Intellektualität verstand sie provozierend einzusetzen, und immer wieder

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schaffte sie es, mich in unfruchtbare Diskussionen zu verwickeln, in denen ich meine analytische Funktion vorübergehend verlor. Damals entdeckte ich, dass diese Auseinandersetzungen sich an Missverständnissen entzündeten, weil bestimmte Worte für sie nur eine Bedeutung in ihrem Sinne hatten und keine andere zugelassen wurde. Ihre berufliche Seite als Geisteswissenschaftlerin machte mir ihre Idealisierung der Worte verständlich, aber sie benützte sie, um die zwischen uns entstehende Nähe zu vernichten. Als ich versuchte, ihr dieses Vorgehen als Schutz vor Vereinnahmung zu deuten, schlief sie ein und begann längere Zeit jede Stunde mit der Bemerkung, sie wisse nicht, wovon in der letzten Stunde die Rede war. Aber diese Dinge ereigneten sich, als die anfangs positive Übertragung sich in ihr Gegenteil zu verwandeln begann. Nach einem Honeymoon, der sich ungefähr über 250 Stunden erstreckte und während dessen die Patientin körperlich und seelisch aufblühte, begann allmählich ein Übertragungsagieren mit negativem Vorzeichen. Wie schnell sie einen Menschen fallen lassen konnte, der ihr zu nahe kam, zeigte sie mir an brutalen Verabschiedungen ihrer Liebhaber, falls diese ihr die Absicht eröffneten, sie zu ehelichen. Mein spontanes Mitgefühl mit ihnen machte mir überdeutlich, dass eigentlich ich damit gemeint war. Die Patientin stellte nach sich häufenden Missverständnissen fest, dass ich mit allem, was ich ihr sagte oder wie auch immer ich mich verhielt, es ihr nicht recht machen konnte. Ich deutete ihr das als ihr Bedürfnis, mich nur kurz zu berühren, um sich dann in ferne Weiten zu begeben und sich frei von jeder Beziehung zu fühlen. Darauf begann sie immer mehr in Schweigen zu versinken. Ich beobachtete oft, dass sie nur die Hälfte eines Satzes von mir hörte und dann abrupt einschlief. Trotzdem mochte ich die Patientin, und ich betrachtete anfangs mit Erstaunen und einem gewissen Humor ihre Manöver, in der Hoffnung, zu einem gemeinsamen Verständnis dieses fatalen Verhaltens zu kommen. Allmählich machten sich bei mir jedoch Wut und Hilflosigkeit sowie Zweifel an meiner analytischen Kompetenz breit. Mir war klar, dass ich auf diesem Wege sehr frühe kindliche Erfahrungen der Patientin in mir trug, aber es gab keine Möglichkeit, ihr das zu vermitteln, so dass ich mir sagte, dass es vielleicht zunächst auf das Aushalten und Verdauen von meiner Seite her ankäme. Oft unter-

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brachen psychosomatische Erkrankungen den Fortgang der Analyse. Sie verschärfte ihre Tendenz, alles als Vorwurf aufzufassen. Selbst auf empathische kurze Kommentare über ihre Gefühlslage reagierte sie mit gekränktem Rückzug, wofür ich keine Erklärung finden konnte. Ich fühlte mich jede Stunde wie in einem Minenfeld. Trotz aufmerksamer Beobachtung unserer beider Interaktion und sorgfältigem Abwägen meiner Deutungen blieb die Atmosphäre meist schneidend feindselig. Ebenso wenig half es, wenn ich mich ganz zurücknahm und nur für sie offen war. Ich spürte jetzt manchmal die tiefe Depression der Patientin, während ich früher oft während ihrer Rückzüge wie ins Nichts stürzte. Ich erreichte sie hin und wieder mit Bemerkungen darüber, dass ihr vielleicht alles zuviel war, sogar das Sprechen. Nach einer solchen Stunde äußerte sie zuweilen Dankbarkeit, dass ich ihr Schweigen toleriert und sie in Ruhe gelassen hatte. Die Patientin kam jetzt oft bis zu 20 Minuten zu spät, um die quälenden Stunden zu verkürzen. Sie war nicht bereit, mit mir über ihre Vorstellungen von meiner Person oder über mein Verhalten zu sprechen, geschweige denn es zu verstehen. Sie wollte über sich selbst in keinerlei Hinsicht Auskunft geben. Da mir derartige Reaktionen von Patientinnen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen vertraut waren und die Patientin eine Betroffene war, versuchte ich vorsichtige Interventionen, die ihre Angst vor einer Verführung zu einer Analyse, die nicht die ihre war, thematisierten. Sie wurden verächtlich abgelehnt. Es trat jedoch eine Veränderung ein: Wenn es in der vorhergehenden Stunde gelungen war, Verständnis und Entspannung zu erleben, zog sich die Patientin in der nächsten Stunde feindselig zurück. Der Modus eines kurzen Sich-Öffnens der Patientin und eines folgenden totalen Rückzugs war nicht zu übersehen. Inzwischen sank meine anfängliche Zuversicht, aufgrund meiner Erfahrung die bestehenden Barrieren durch vorsichtigen Umgang mit Deutungen ihres Befindens doch noch zu lösen. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Resignation bezüglich meiner psychoanalytischen Kompetenz machten sich breit. Mir war innerlich präsent, dass die Patientin sich, hinter ihren Attacken verborgen, ebenso verzweifelt und hoffnungslos fühlen musste. Aber wann immer ich versuchte, diese Zusammenhänge offenzulegen, kam mir ein hasserfüllter verbaler Biss entgegen. Ich bräuchte ihr das

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nicht zu sagen, das wisse sie selber. Ihre offensichtliche Selbstidealisierung anzusprechen, gab ich auf, da ich damit nie etwas erreicht hatte. Oft geschah es, dass sie mich misstrauisch fragte, wie ich zu bestimmten Deutungen gekommen sei, die mir von meiner Seite aus als halbwegs gelungen und unverfänglich erschienen waren. Ich konstatierte für mich ihren Neid. Aber bis ich eine passende Antwort gefunden zu haben meinte, war ich in ihren Augen bereits mit meiner Reaktion zu spät, und sie verdächtigte mich des Desinteresses oder des feigen Rückzugs. In dieser Zeit hatte ich den nachfolgend skizzierten Traum. Er ereignete sich kurz vor dem Aufwachen, an einem Tag, an dem ich die Patientin zur ersten Stunde meines Arbeitstages erwartete: Ich sehe aus einer nebelhaften Ferne von links eine Gestalt auftauchen, die mich zuerst nur erschreckt, die aber beim Näherkommen in mir Grauen auslöst, weil sie einen seltsamen Panzer trägt, der auch ihr Gesicht verhüllt. Wir gehen beide langsam aufeinander zu, und ich erkenne, dass die Person in einen Ganzkörperverband eingepackt ist, der aus Jeansstoff besteht, der den Körper in Form von kleinen, lang gestreckten Stücken bedeckt, deren vorderes Ende abgerundet ist. Im Bereich des Rumpfs handelt es sich um den üblichen blauen Jeansstoff, im Bereich von Hals und Gesicht ist er rosarot. An den unbedeckten Haaren und dem Körperbild wird mir klar, dass es sich um meine Patientin handeln muss. Ich bin jetzt ganz ruhig, aufmerksam und ein wenig verwundert. Da beginnt die Figur ihre Arme und den Körper zu bewegen, zunächst auf mich zu, dann ruckartig wieder zurück, eine Bewegung, die sich fast rhythmisch wiederholt. Zunächst identifiziere ich die Bewegungen als Kampfgesten, später verändert sich ihr Charakter. Sie wirkt auf mich jetzt hilflos, als versuche sie mich verzweifelt zu erreichen, schaffe es aber wegen dieses Panzers nicht. Ich bin noch im Traum gerührt von dieser verzweifelten Geste, die mir wie die Bewegung eines schreienden Säuglings erscheint, der sich in einer auswegslosen Lage befindet, aus der er den Weg zu einer helfenden mütterlichen Person sucht. Als mich kurz darauf der Wecker aus dem Schlaf holt, ist mir der Traum klar präsent, und ich empfinde ein dankbares Gefühl der Erleichterung, da ich nun hinter dieser entsetzlichen seelischen Barrikade meiner Patientin auch einen Versuch des Entgegenkommens erfasse. Ich mache mir klar: Auch wenn sie mich attackiert,

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will sie zu mir kommen. Aber etwas zunächst Unheimliches hält sie gefangen und verwandelt sich bei näherem Hinsehen in eine vereinheitlichende Jugendtracht. Mit dieser Einstellung ging ich in die erste Stunde. Es gelang mir nun, meine frühere Verzweiflung der Patientin innerlich zuzuordnen. Als sie mir zu Stundenbeginn von einem schmerzlichen Ereignis berichtete, sagte ich, mit einfühlsamer Stimme: »Das muss Ihnen sehr weh getan haben.« Die Patientin zog sich zurück, und das feindselige Schweigen machte sich breit, das zu kennen wir gewohnt waren. Als ich ihr sagte, sie habe sich eben auf meine Bemerkung hin zurückgezogen, so als hätte ich etwas Kränkendes gesagt, kam mir ein wütender Kommentar entgegen. Die Patientin stimmte mir zu und schleuderte mir meinen vorherigen einfühlsamen Satz in einem vorwurfsvoll anklagenden Tonfall entgegen. Ich war erstaunt und überrascht und konnte nun begreifen, dass die Patientin die freundliche Melodie meiner Äußerungen verkannte und sie wahrscheinlich nahezu regelmäßig in einem gehässigen, vorwurfsvollen Tonfall hörte. Diese Erkenntnis ermöglichte mir in den folgenden Stunden, mich mit ihr über dieses Phänomen zu verständigen und ihre unbewusste Identifikation meiner Person mit ihrer stets nörgelnden, misstrauischen und depressiven Mutter zu erarbeiten. Ich war, in der nun für mich kenntlichen, psychotischen Übertragung, deren Ebenbild geworden. Ich erinnerte mich an Haydee Faimbergs (1992) Ausführungen über die Funktion des besonderen Zuhörens in der psychoanalytischen Situation, auf das »listen to the listening«. Aber erst diese Mitteilung ließ mich erkennen, auf welch spezifische und persönliche Weise die Patientin mich aufnahm. Jetzt war ich in der Lage zu hören, wie sie mich gehört hatte. Ich begriff jetzt: Es gab von ihrer Seite aus nicht nur für die Worte eine einzige, nämlich ihre Bedeutung, sondern auch die sinnliche Komponente des Tonfalls, die Sprachmelodie, hatte nur eine Tonfarbe, die des Vorwurfs und der Anklage. Ihre Wahrnehmung war nicht nur durch verbale Missverständnisse charakterisiert, sondern im Sinne einer wahnhaften Überzeugung verzerrt. Die körperlichen Erkrankungen verstand ich jetzt klarer als Abkömmlinge autistischer Schutzmaßnahmen (Meltzer et al., 1975). Diese Erkenntnisse erleichterten uns das Leben nun etwas und

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lockerten das tiefe Misstrauen, das die Patientin mir seit Beginn der negativen Übertragungsphase entgegengebracht hatte. Aus den ersten zwei Jahren der Analyse war mir diese Art des Misstrauens zwar vertraut, wenn es sich in fast wahnhafter Überzeugung plötzlich gegen ihr nahestehende Personen, vor allem Frauen, wandte. Sie nahm, anscheinend ohne äußeren Anlass, eine Bemerkung eines anderen über eine andere Person auf und verband den Bedeutungsinhalt, wie mir schien willkürlich, mit einer ihr nahestehenden Person. Es handelte sich dabei meistens um Affekte des Neides und des neidischen Triumphes, die ich bei der Patientin selbst beobachtete. Versuchte ich damals ihr diese Beziehungskomplikation zu erklären, wurde ich schnell mit der Bemerkung abgewiesen, dass ich das nicht wissen könnte, weil ich die betreffende Person ja nicht kannte. Meine Versuche, mit ichstützenden Interventionen ihre Ich-Funktionen zu stärken, indem ich auf gute Objekte in ihrem Inneren verwies, liefen ins Leere, weil sie, wie ich später erkannte, diese als omnipotente verführerische Vereinnahmung identifizierte. Wie sich im weiteren Verlauf der Analyse klären ließ, beruhte ihre unbewusste Einstellung auf einer durch Spaltung hervorgerufenen Abwehrorganisation, die eine sehr frühe Wurzel hatte und ihren Ursprung in der ödipalen Phase. Wahrscheinlich wurden in der Pubertät diese Verhältnisse nachträglich in eine erotische Problematik umgearbeitet, woraus sich ihre fragile Beziehung zu Männern entwickelte. Aus deren »Gebrauch« enthüllte sich eine masturbatorische Bedeutung, die ihren Sinn in einer autistisch anmutenden Versicherung der Anwesenheit eines realen Objekts hatte. Auf diese Weise führte sie den Kampf gegen ins Bewusstsein drängende Phantasien über eine sie verschlingende und vernichtende Nähe durch das primäre Objekt und gegen die verführerische Annäherung pseudoödipaler Objekte. Diese Situation gestaltete sie mit mir jede Stunde: Zu Beginn, wenn ich sie einfühlend anzunehmen versuchte, wurde ich so verkannt, als ob ich sie gefühlshaft nicht wahrnahm und vernichtete; wenn ich Deutungen gab, verführte ich sie sexuell und beraubte sie ihrer eigenen Position. Aus unserer Arbeit der ersten beiden Jahre wusste ich, dass sie mit ungefähr sechs Jahren von einer vierzehn Jahre älteren Tante, bei der sie gelegentlich zu Besuch war und die sie bereits als Säug-

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ling in Zeiten der Abwesenheit ihrer beruftätigen oder kranken Mutter betreut hatte, zu sexuellen Handlungen verführt wurde, für die das kleine Mädchen damals kein Verständnis hatte. Aus Liebe zu ihr, sicher auch aus einer gewissen Neugier heraus, war es der Tante zu Willen. Es werden in der Familie Dinge über die frühe Fürsorge dieser Tante für den Säugling berichtet, die deutlich darauf hinweisen, dass diese mit der Betreuung des kleinen Mädchens überfordert war und Gedeihstörungen bei ihm verursachte. Darüber hinaus hatte ich den Verdacht, dass die Mutter der Patientin möglicherweise eine postpartale Psychose hatte. Mit Sicherheit jedoch war sie wegen einer schweren Depression am Ende des ersten Lebensjahres der Patientin in einer psychiatrischen Klinik. Der Gegenübertragungstraum half mir, ein vollständigeres Bild der fatalen Objektbeziehungen zu gewinnen. Er war auch für die weitere Arbeit von Nutzen, weil ich zusätzliche Erkenntnisse über Hindernisse im Verständigungsprozess gewann. Vor allem interessierten mich Hinweise darauf, wie sich die schrecken- und grauenerregende Panzerung enträtseln ließ. In meinen Assoziationen wandte ich mich zunächst dem Jeansstoff zu, den ich früher einer Jugendtracht zugeordnet hatte. Die Gebilde, aus denen sie bestand, erinnerten mich an Zungen oder Penisse, beides ohne Zweifel phallische Objekte auf verschiedenen Stufen der Entwicklung, in denen ich die Patientin traumatisiert wusste. Es waren jedoch flache Objekte, die ihre Dreidimensionalität verloren hatten. Sie wurden in dieser Charakteristik von Frances Tustin (1981) als eine der Formen autistischer Objekte beschrieben. Sie dienen dazu, die angstvolle und erregende Beziehung zum primären Objekt zu beruhigen, da durch ihre Empfindungsqualität die Anwesenheit eines Objekts halluziniert werden kann. Für jede von außen kommende Beziehungsmöglichkeit ist das Subjekt jedoch verschlossen. Beim Zusammenbruch der psychischen Organisation in die Richtung der autistischen Lebensweise (Ogden, 1989/ dt. 1995) wird der Bedeutungshof von Objekten auf eine einzige persönliche Bedeutung sinnlicher Berührung reduziert. Nur wenn es gelingt, diese zu erkennen und die dahinter liegende Suche nach einem hilfreichen primären Objekt zu erfassen und zu bezeichnen, kann der Patient sich verstanden fühlen. Mir fiel der besondere Umgang wieder ein, den die Patientin zuweilen mit Worten pflegte, wenn

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sie diese »auf die Goldwaage« legte und mich auf eine einzig für sie mögliche Bedeutung festnagelte. Die Worte hatten ihren kommunikativen Charakter verloren, wurden gleichsam idolisiert, wie dies Britton (2003) für eine bestimmte narzisstisch gestörte Patientengruppe beschreibt. Ich verstand dieses Traumdetail so, dass ich darin den konkretistischen Melodie- und Wortgebrauch der Patientin traumsymbolisch erfasst hatte, mit dem sie sich gegen eine verständnisvolle Nähe gepanzert hatte. Aber ich entdeckte auch, als ich nach meinem Anteil in dieser Verkleidung fragte, dass ich öfters der Faszination verfiel, wenn ich ihrer intellektuellen Ausdrucksweise und philosophischen Bildung lauschte. Ich hatte mich, wie ich erkennen musste, öfters verführen lassen, diese Äußerungen als persönliche Mitteilungen aufzufassen und sie entsprechend zu behandeln. Auf solche Verwendung hin kam es schnell zu einer verwirrenden Situation, in der ich mich hilflos, schuldig und dumm fühlte. Oft konnte ich erst im Nachhinein beim Protokollieren der Stunden feststellen, wie viele Allgemeinplätze und Vereinfachungen diese intellektuellen Elogen enthielten und wie stark sie vom emotionalen Kontext getrennt waren. Es gelang mir nun besser, diese verfehlte Interaktion als Wiederauflage der kindlichen Verführungssituation zu begreifen, diesmal mit umgekehrtem Vorzeichen: Jetzt war ich das kleine Mädchen, das der Verführung durch eine wunderbare, unbekannte Sprache und Formulierungskunst unterlag und, sich darauf einlassend, nun hilflos, schuldig und unverständig zurückgelassen wurde. Dabei war ich meiner eigenen analytischen Kompetenz enteignet worden. Wenn ich mich in die Position der Patientin versetzte, sah die Sache anders aus: Sprach ich sie auf ihrer intellektuellen Ebene an, wurde ich abgewiesen, weil ich, mir zunächst unbewusst, mit meinem psychoanalytischen Wissen gegenagierte, wodurch sich die Patientin missverstanden und überwältigt fühlen musste. Gleichzeitig galt ich als Verführerin, die ihr den eigenen kindlichen Weg der Erkenntnis mit Hilfe der eigenen Erfahrung abschnitt, die ja mit eigenem Erleben verbunden war. Der Patientin waren weite Bereiche ihrer emotionalen Erlebnisfähigkeit verborgen, weil sie durch eine frühe Spaltung und Projektion ihres Gefühlslebens keinen Zugang zu sich hatte. Im Sinne einer falschen Selbstbildung

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hatte sie sich infolge ihrer guten Begabung in die Welt des intellektuellen Gebrauchs der Sprache gerettet, in dem sie lange erfolgreich überlebte. Die Arbeit an meinem Traum hatte mir nun den verborgenen Sinn dieser Panzerung enthüllt. Sie fürchtete, dass sie an mir ichentleert kleben bleiben würde oder dass ich an ihr haften bliebe und sie mich nicht mehr los würde. Trennung würde dann aber zumindest die Vernichtung von einem von uns bedeuten, zumindest würden wir dabei Löcher bekommen. Das war entsetzlich und grauenhaft. Leider konnten meine Erkenntnisse nur langsam für die Behandlung nutzbar gemacht werden, da ja die Patientin die primäre Hilfsbeziehung als sie auslöschend erlebte und ihre Ängste vor Fusion jedes Mal aufflammten, wenn eine Veränderung im Raum stand. Ich musste deshalb die Patientin auf vielen Umwegen begleiten, ihre Aktivität in zahlreichen kleinen Schritten bestätigen, bis die von mir im Gegenübertragungstraum erlebten Affekte des Schreckens und Grauens ihre Bedeutung in einer Szene finden konnten, in der die Patientin sie als zu sich gehörig erleben konnte und die es ihr ermöglichte, ein Verständnis ihrer primärprozesshaften Realitätsbewältigung zu gewinnen. Über die gemeinsame Arbeit an einem Traum, aus dem die Patientin ein heftiger Schreck geweckt hatte, erkannte sie schließlich die Tricks ihrer Selbsttäuschung und Selbstidealisierung und die damit verbundenen Projektionen ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung. Sie konnte noch rechtzeitig wahrnehmen, dass ihre unbewusste Vorstellung, dass die Zeit unendlich dehnbar sei, sie beinahe in eine existentiell bedrohliche berufliche Krise gestürzt hätte, und ihre neu gewonnene Selbsterkenntnis versetzte sie in der Lage, sie noch rechtzeitig zu ihren Gunsten zu wenden. Als Folge dieser Durcharbeitungsphase musste sich die Patientin nicht mehr so sehr gegen meine Unterstützung wehren und konnte die Psychoanalyse zunehmend als sinnvoll erleben und benützen. Die Patientin konnte sich erst sehr spät mit dem Gefühl des Grauens konfrontieren. In der Zeit nach meinem Gegenübertragungstraum erfuhr ich, dass sie sich zu Beginn der negativen Übertragungsphase mit einem Mann in eine ernsthaftere und andauernde Beziehung eingelassen hatte. Sie hatte mir nie davon erzählt, weil sie sich eigentlich dieses Mannes schämte, da er sehr krank

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war und bereits eine psychotische Erkrankungsphase mit stationärer Behandlung durchgemacht hatte. Außerdem war er beruflich gescheitert und lebte nun teilweise von der finanziellen Unterstützung der Patientin. Mit einem Teil ihrer Persönlichkeit fand die Patientin ihn als ihr nicht adäquat, auf der unbewussten Seite passte er in seiner Intellektualität, seiner schizoiden Organisation und seinem zwischen Fusion und Abstoßung schwankenden Beziehungsstil auf eine unglückliche Weise zur Patientin. Sie konnte bei ihm ihren psychosenahen Persönlichkeitsanteil unterbringen, den sie kritiklos in ihm hegte und pflegte. In einer Haltung, die diesen Mann idealisierte, und eigener unbewusster Selbstentwertung ließ sie sich sadistisch quälen und von ihm unterwerfen. Insbesondere engte sich ihr gesellschaftlicher Beziehungsradius aufgrund seiner chronischen Eifersuchts- und Neidprobleme immer mehr ein. Mit wachsender Ichstärke durch den nun sich für sie günstiger entwickelnden Analyseverlauf, in dem sie mir zumindest über die Komplikationen ihrer unglücklichen Beziehung Mitteilung machen konnte, wuchs in ihr die Einsicht, dass sie sich aus dieser jahrelangen Mesalliance lösen musste. Über die allmähliche Integration ihrer infantilen Hilflosigkeit, Einsamkeit und Wut wurden ihre psychotischen Ängste, sich zu verwirren, unendlich zu fallen und sich aufzulösen, allmählich bewusst und bearbeitbar. Als ich ihr zeigen konnte, dass die hasserfüllte Beziehung zu mir und ihre idealisierende, liebevolle und unterwürfige Beziehung zu ihrem Freund zwei auseinandergerissene Teile ihrer Beziehung zu ihrer Tante waren, begann sie zu verstehen, dass sie mit der Wahl dieses Mannes unbewusst die Mutter ihrer frühen Lebenszeit hatte wiederauferstehen lassen. Die Erfahrung ihrer ersten Lebensmonate mit einer Umgebung, die von ihr Überanpassung bis zur Selbstaufgabe forderte, zwang sie, früh Gefühle und Verstandeskräfte auseinanderzuhalten, um überleben zu können. Jetzt erst spürte sie, wie tief sie mit beiden Frauen verbunden war und sich mit ihnen identifiziert hatte. Diese Entdeckungen lösten zunächst Grauen in ihr aus, besonders als sie entdeckte, welch verletzliches, aber auch mit starker Lebenswut ausgestattetes hilfsbedürftiges Kind in ihr verborgen war, das noch nicht gelebt hatte. Das Grauen wich allmählich einer erst heftig schmerzenden, später milder werdenden Trauer, von der die Patientin sagte, sie fühle, diese werde

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ihr Leben lang andauern. Im Verlauf dieser Arbeit lösten sich weitere Reste der psychotischen Übertragung mir gegenüber auf. Die damals über die Analyse meines Gegenübertragungstraums erkannte Abwehrorganisation begleitete uns während des gesamten Analyseverlaufs. Sie tauchte immer wieder an den Stellen auf, an denen sich starke Ängste infolge einer möglichen Veränderung einstellten und wir diese gemeinsam aushalten mussten. Ich war mir in diesen Momenten nie sicher, ob die Patientin ihren Entwicklungsweg fortsetzen würde oder es vorzog, sich erneut in die Krankheit zu flüchten: durch Spaltung und projektive Identifikation ihrer entwerteten und idealisierten Selbstanteile in andere lebte sie dann gleichsam in ihnen oder über sie. Wo jedoch unvermeidliche Verschiedenheit bzw. als schärfere Differenz die Trennung drohte, brach ihre Ich-Struktur in Richtung der autistischen Welterfahrung zusammen und sie klammerte sich konkret und wahnhaft an ein bestimmtes Wort oder Gefühl.

Resümee Ich hoffe verdeutlicht zu haben, dass ich meinen Gegenübertragungstraum, wie in der Literatur beschrieben, als Ausdruck einer Krisensituation in der Analyse und als die traumsymbolische Darstellung der Abwehrorganisation von Analytiker und Analysand verstand. Seine Analyse half mir immer wieder, Kollisionen in der Übertragungs-Gegenübertragungs-Situation zu bewältigen. Der Traum stellt gewiss auch eine unbewusste Wunscherfüllung dar, weil er mir das Verständnis des Entgegenkommens meiner Patientin vermittelte und mich aus ihrer schwer erträglichen feindseligen Beziehung entließ. Dies deutete sich bereits im Traum durch die veränderte Traumstimmung an, in der ich gerührt die hilflosen Bewegungen der Patientin wahrnahm und den darunter verborgenen Säugling entdeckte. Diese Dimension des Gegenübertragungstraums war für mich auch Ausdruck einer Begegnung auf der Ebene primärer Beziehungsformen. Er versucht unsymbolisierten, deshalb noch unfühlbaren und unsagbaren Affekten und ihren damit verbun-

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denen Beziehungserfahrungen in einer symbolischen Form eine erste Gestalt zu verleihen und ist insofern eine Mitteilung über eine kindliche Kommunikation. Vor der Symbolisierung sind die unsymbolisierten Affekte und das ihnen zugehörige Narrativ der Objektbeziehung auf Seiten des Patienten nur als diffuser Druck wahrnehmbar. In der Gegenübertragung des Analytikers symbolisiert und erkannt, werden sie dem Analysanden später, als zu seinem Sein gehörig, zurückgegeben. Diese Erfahrungen können nicht verdrängt werden und liegen im impliziten Gedächtnis immer präsent, aber unsymbolisiert und als noch nie bewusst vor. Gegen die damit verbundenen Affekte von Hilflosigkeit, Wut, Verzweiflung und Angst, in schlimmeren Fällen Schrecken und Grauen, werden verschiedene Schutzbauten aufgerichtet, durch die Lösungen gefunden werden, mit denen der Mensch nicht gut leben, aber existieren und überleben kann. Pathologischer Ausdruck dieser Bemühungen sind depressive Störungen auf den verschiedenen Objektbeziehungsebenen. Die traumatische Erfahrung wird in der Analyse mit dem Analytiker, aber auch in anderen Beziehungen in Szene gesetzt. Sie gerinnt zu einer unbewussten Gestalt. Für diesen Vorgang hat Danckwardt (2005) den Begriff »Performance« entwickelt. Diese Gestalten vermitteln sich über den musikalischen Gestus: über Rhythmen, den Klang der Stimme, Körperbewegungen und Gesichtsausdruck in der analytischen Situation. Es sind dies nach meinem Verständnis vorwiegend Situationen, in denen das primäre Objekt in seinen Funktionen des »holding, handling and object presenting« (Winnicott, 1965/ dt. 1974) versagt hat. Ohne diese Hilfestellung ereignet sich, wie Freud formulierte, ein »Einriß in der Beziehung des Ichs zur Außenwelt« (1924/1975, S. 335). Diese Ereignisse sind vor Errichtung der Verdrängungsschranke gelegen, immer präsent und werden in verschiedenen Beziehungen wiederholt gelebt und, ohne dass die Bedeutung erkannt wird, erfahren. Im Gegenübertragungstraum kann diese Ebene erfasst, symbolisiert und in der Bearbeitung des Traums dem Analytiker bewusst gemacht werden. In dem dargestellten Fragment dieser Analyse zeigt sich meines Erachtens eine besondere Komplikation darin, dass die Patientin in ihrer primären Beziehungswelt und in der

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Zeit ihrer ödipalen Entwicklung in ähnlicher Weise traumatisiert wurde, teilweise von derselben Person. Die innere traumatische Situation ist gekennzeichnet durch eine nur schwache väterliche Instanz, sowohl in der Funktion des Vermittlers und Beschützers als auch in der ödipalen Funktion dessen, der uns von der Mutter trennt und als das Andere, das Dritte, zum Objekt des Begehrens werden kann (Loch, 1985). In der Realität war der Vater als sehr beschäftigter Geschäftsmann viel unterwegs und außerdem als derjenige, der seinen einzigen Sohn bevorzugte, für die Patientin doppelt unerreichbar. Im Bereich des Seins war sich die Patientin in ihrem Gefühlslebens oft selbst verborgen. Hinsichtlich ihrer Potenz war sie gezwungen, in Beziehungen des »Als-ob« zu leben, mit einem »falschen Selbst« (Winnicott, 1965/ dt. 1974, S.  182 ff.), das sie über ihre Intellektualität ausbauen und mit dem sie überleben konnte, ohne zunächst an Grenzen zu stoßen. Die frühen Erfahrungen beherrschten sie vorwiegend als Introjekte, die allmählich über ihr Agieren in der psychoanalytischen Sitzung über den Weg der projektiven Identifikation mehr oder weniger gewaltsam den Weg in mein Inneres fanden. Mir half mein Gegenübertragungstraum nicht nur, meine und der Patientin Abwehrstrukturen zu erforschen und zu verstehen, sondern auch die Patientin in ihrer Not und Aktivität umfassender zu erleben und zu unterstützen. Die verständlicherweise angstvoll gemiedenen Affekte des tiefen Erschreckens und Grauens, die für mich Hinweise auf die Erfahrung eines objektlosen Zustandes waren, konnten von mir identifiziert und für die Patientin getragen werden, bis sie in der Lage war, durch zunehmende Integration der durch Spaltung auseinandergehaltenen extremen Partialobjekte eine Ebene ganzheitlicher Erfahrung ihres Schicksals und ihrer Person zu erreichen. Ich danke Frau Dr. Elke Teutsch für die gute Zusammenarbeit und das zur Verfügung gestellte Material.

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Ingrid Biermann

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Monika Rafalski und Klaus-Uwe Adam

Zur Polarität konkordanter und diskordanter Gegenübertragungsträume in der Dynamik des therapeutischen Prozesses

»Ein Traum ist vorteilhaft demjenigen, der ihn in seinem Herzen trägt, er ist aber ein Unheil für denjenigen, der ihn nicht versteht.« (altägyptisch)

Aus der komplexen Thematik von Gegenübertragungsträumen werden wir einen eher oszillierenden Aspekt aufgreifen und auf das polare Spannungsfeld von Projektion und objektiver Wahrnehmung fokussieren, innerhalb dessen Gegenübertragungsträume angesiedelt sind. Dabei gehen wir der Frage nach, ob es Kriterien gibt für die Unterscheidung von konkordanten und diskordanten Therapeutenträumen. Intention dieser Überlegungen ist, Gegenübertragungsträume für das Prozessgeschehen fruchtbar zu machen, aber zugleich Schieflagen und Verzerrungen durch eine nicht erkannte persönliche Gleichung des Therapeuten zu vermeiden – im Interesse des Patienten.

Das psychische Umfeld von Gegenübertragungsträumen Die Beschäftigung mit Gegenübertragungsträumen setzt voraus, den komplexen energetischen Wirkzusammenhang ihrer Entstehung im Blick zu haben. Aus dem kontinuierlichen psychischen Fluss eines analytischen Prozesses, an dem die Psyche des Patienten und die des Therapeuten beteiligt sind, tauchen sie als Bilder,

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Zur Polarität konkordanter und diskordanter Gegenübertragungsträume

Gefühle, Traumgedanken und -einfälle nächtens auf und machen deutlich, dass die therapeutische Arbeit keineswegs auf die Analysestunde beschränkt ist. Gegenübertragungsträume entstehen in der komplexen Beziehung zwischen Patient und Therapeut, die C. G. Jung als Beziehungsquaternio beschrieben hat (Abb. 1). Patient

Therapeut

IchBewusstsein

IchBewusstsein a b

g

i j

h e

f

c

d

k l Unbewusstes

gemeinsames unbewusstes Feld

Unbewusstes

Abbildung 1: Beziehungsquaternio

Die wechselseitige Kommunikation und Beeinflussung zwischen den vier psychischen Systemen von Bewusstsein und Unbewusstem von Patient und Therapeut verläuft in zwölf Richtungen: – a + b: Auf der Ebene des Bewusstseins, des Arbeitsbündnisses, vermittelt durch verbalen Austausch wie durch Gesten und Aktionen. – c + d: Die Beziehung zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem Unbewussten im Therapeuten. Hierzu gehören vorbewusste oder unbewusste Körperempfindungen, Emotionen, Gedanken und Einfälle im Verlauf der therapeutischen Arbeit, soweit sie ins Bewusstsein geholt werden. – e + f: Der Austausch zwischen Ich-Bewusstsein und Unbewusstem im Patienten. Dieser Ebene wird üblicherweise besondere

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Monika Rafalski und Klaus-Uwe Adam

Aufmerksamkeit gewidmet (Diagnostik, Therapieantrag, Falldarstellung). – g + h, i + j: Die wechselseitigen Beeinflussungen von IchBewusstsein des einen Partners und Unbewusstem des Gegenübers. Beide Beteiligte nehmen die unbewussten Botschaften des anderen wahr und werden von diesen beeinflusst; ebenso registriert das Unbewusste des einen die bewussten Äußerungen des anderen. – k + l: Der Austausch zwischen dem Unbewussten des Patienten und dem des Therapeuten. Dies ist der psychische Ort kontinuierlicher Interaktion, Resonanzwirkung und Regulation. Er ist dem Bewusstsein zwar (zunächst) nicht zugänglich, jedoch von wesentlicher therapeutischer Bedeutung. »Dadurch, dass der Arzt […] sich der seelischen Not des Patienten annimmt, exponiert er sich den bedrängenden Inhalten des Unbewussten und setzt sich damit auch deren Induktionswirkung aus« (Jung, 1946/1979, S.  187 / §  364). In diesem interaktiven Feld können gemeinsame Phantasien, Ahnungen, Bilder, Gedanken, Körperreaktionen, Emotionen auftreten bis hin zur Konstellierung eines beide ergreifenden archetypischen Kraftfeldes sowie synchronistischer Ereignisse als – kausal nicht erklärbares – sinnvolles Zusammentreffen von Phänomenen, die beide Personen betreffen. Dieses Geschehen und die damit zusammenhängende Wandlung innerhalb des therapeutischen Prozesses verdeutlichte Jung (1946) anhand einer alchemistischen Bilderserie, wohl wissend, dass diese Komplexität unser intellektuelles Auffassungsvermögen übersteigt. Einflüsse aus vier unterschiedlichen Instanzen kommen im Unbewussten des Therapeuten als psychischem Entstehungsort von Gegenübertragungsträumen zusammen: aus dem Bewusstsein und aus dem Unbewussten von Therapeut und Patient. Zusätzlich sind beide Partner auch ihrem Umfeld gegenüber nicht abgeschottet, sondern stehen mit diesem ebenfalls in bewusstem und unbewusstem Austausch, so dass auch diese Einflüsse in das Beziehungsfeld zwischen Patient und Therapeut eingehen. Dass die gegenseitige Beeinflussung nicht kausal verstanden werden kann, betont Dieckmann: »[…] was uns bei diesen […] Untersuchungen am meisten beeindruckt hat, ist, dass das übliche kausale Modell von Übertragung und Gegenübertragung, d. h. Aktion und Reak-

Zur Polarität konkordanter und diskordanter Gegenübertragungsträume

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tion bzw. Beeinflussung und Gegenbeeinflussung zur Erfassung der Phänomene nicht ausreichte. Der analytischen Situation liegt in einer tieferen Schicht ein vom Selbst ausgehender synchronistischer Prozess zugrunde, für dessen Differenzierung uns heute noch die Begriffswelt fehlt, und für den wir den Mut und die Offenheit aufbringen müssen, einen Schritt in das Unbekannte und Unübliche zu wagen« (1971, S. 27, Hervorhebung M. R./K.-U. A.).

Gegenübertragungsträume Die hier wiedergegebenen Gegenübertragungsträume stammen aus unserer Arbeit mit erwachsenen Patienten. Da sich das Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen in Kinder- und Jugendlichentherapien davon unterscheidet (Blomeyer, 1972, S.  214), ist dies zu beachten. Zunächst gilt, dass jeder aktuelle Traum des Therapeuten in das Behandlungsgeschehen einfließt und dessen unbewusstes Wirkfeld mitbestimmt. Er zeigt das aktuell konstellierte Unbewusste des Therapeuten mit möglichen Neurotizismen, Komplexen, aber auch mit Ressourcen und wirksamen Symbolen im Sinne von Energieträgern und Energiewandlern. Ebenso zeigt der Traum die aktuelle Dynamik von Progression bzw. Regression. Auf diesem Hintergrund sollen als Gegenübertragungsträume im eigentlichen Sinn nur Träume verstanden werden, die einen erkennbaren Bezug zum jeweiligen Behandlungsprozess haben, in welche die Person des Patienten, Gestalten aus seinem Umfeld, Symbole, Bilder, Motive seines bewussten und unbewussten Feldes eingegangen sind. Oft ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen, dass ein Therapeutentraum – manchmal nur in ausschnitthaften Sequenzen – Teile eines aktuellen Therapieprozesses aufgreift, variiert oder weiterführt. Wird diesen Verflechtungen Aufmerksamkeit geschenkt, wird erkennbar, in welchem – für das Alltagsbewusstsein unerwarteten – Maße sie vorhanden sind. Dazu ein Beispiel: Eine Patientin schildert ihre Befürchtung, durch ein geplantes Nachbarhaus bald noch weniger direktes Sonnenlicht in ihrer Wohnung am Hang zu haben. Gegenübertragungsmotiv in meinem

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Monika Rafalski und Klaus-Uwe Adam

(M. R.) auf die Sitzung folgenden Traum (Ausschnitt): Bin allein unterwegs in einer belebten, teils grünen Landschaft. Suche am Hang einen Platz, wo ich noch Sonne abbekomme im Sitzen, beim Lesen. Muss weg […]. Später mit einem liebevollen Mann im Untergeschoss. Denke: »Hier ist gar keine Sonne! Trotzdem gute Atmosphäre.« Unser Begriff vom Gegenübertragungstraum ist insofern weit gefasst, als er nicht ausschließlich einen Bezug zur Übertragung des Patienten postuliert. Begrenzt wird er jedoch durch seinen wahrnehmbaren Bezug zum Therapieprozess. Diesen zu erkennen, fällt dem distanzierten Auge Dritter möglicherweise leichter als dem Träumenden selbst, wie aus Untersuchungsergebnissen von Dieckmann (1971) geschlossen werden könnte. Um im Gegenübertragungsgeschehen zwischen Projektionen des Therapeuten und relativ objektiven Aussagen zum Patienten zu unterscheiden, grenzte Fordham (1957) die illusionäre von der syntonen und Racker (1982) die neurotische von der konkordanten/ komplementären Gegenübertragung ab (vgl. Jacoby, 2000, S.  68 ff.). Auch bei Gegenübertragungsträumen ist eine derartige Unterscheidung notwendig. In Anlehnung daran wollen wir diskordante und konkordante Gegenübertragungsträume einander gegenüberstellen.

Diskordante Gegenübertragungsträume In diesen erscheinen Gestalten, Bilder etc. aus dem Kontext von Behandlungen, aber in deutlichem Bezug zur psychischen Situation des Behandlers, zu seinen Konflikten, Komplexen oder Schattenaspekten. Sie stellen Projektionen eigener unbewusster Anteile auf die Person des Patienten dar, die durch den Behandlungsprozess angesprochen wurden. Daher sind derartige Träume Aufforderungen an den Therapeuten, sich seiner persönlichen Verstrickung in die Übertragung des Patienten, in durch ihn repräsentierte Störungen, in konstellierte Themen usw. bewusst zu werden, damit er seine Wahrnehmung und sein Interagieren mit dem Patienten von unbewussten subjektiven Verzerrungen befreien kann. Es wäre gefährlich und schädlich für beide, wenn sich der Therapeut der illusionären Annahme hingäbe, ein derartiger Traum sei

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eine zutreffende Darstellung des Patienten oder seiner Thematik; unbemerkt würde er den Patienten verzerrt durch seine Projektion wahrnehmen und dadurch den Prozess stören. In der Geologie werden winkelig aufeinanderstoßende Gesteinsschichten diskordant genannt; diskordante Musik ist auf Dissonanzen aufgebaut. In Analogie dazu erscheint in unserem Zusammenhang die Bezeichnung diskordant (lat. discors = uneinig, unverträglich) das betreffende Phänomen vielschichtig zu charakterisieren. Diskordante Träume sind vom Therapeuten als symbolische Darstellungen seiner Innenwelt subjektstufig zu verstehen und zu bearbeiten. Bei Deutung auf der Subjektstufe werden die in Träumen und Phantasien »auftretenden Personen oder Verhältnisse […] auf subjektive, gänzlich der eigenen Psyche angehörende Faktoren bezogen« (Jung, 1921/1981, S.  514 / §  892). Nur durch diese Arbeit am eigenen Unbewussten trennt der Therapeut seine persönlichen Probleme von denen des Patienten und differenziert seine Gegenübertragung. So verstanden erweisen sich diskordante Gegenübertragungsträume als Chance für den Therapeuten, selbst an seiner Arbeit zu wachsen. Da wir auch »Therapeut werden, weil in uns selbst etwas der Therapie bedarf« (Blomeyer, 1972, S. 214), liegt es nahe (und wir müssen uns dessen nicht schämen), dass wir projektive Träume haben. Projektive Gegenübertragung zeigt »im Sinne C. G. Jungs die Alteration des Analytikers auf, die durch Affinität, d. h. durch das zusammenführende Element der zwei Persönlichkeiten entsteht, und damit nicht nur gefährlichen, sondern auch prospektiv-dynamischen Charakter hat, sofern sie im Laufe des Prozesses bewusst und bearbeitet wird« (Dieckmann, 1980, S. 118).

Konkordante Gegenübertragungsträume Im Unterschied zu diskordanten haben konkordante Gegenübertragungsträume keinen erkennbaren Bezug zur psychischen Konstellation des Behandlers, die zu bereinigen wäre, sondern sind wertvolle Hilfen aus dem Unbewussten des Therapeuten, um Aufschlüsse über den Patienten, seine Anamnese, seine Konflikte, seine Übertragung, seine Außenbeziehungen, über die Symbolik

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Monika Rafalski und Klaus-Uwe Adam

seiner Träume, die Erfordernisse des Therapieprozesses usw. zu gewinnen. Da sie nicht durch Projektionen des Therapeuten verzerrt sind, vertiefen sie die Übereinstimmung mit der psychischen Realität des Patienten (lat. concordare = übereinstimmen, einig sein). Sie schöpfen aus dem Wissen des Unbewussten und können als wertvolles diagnostisches Instrument fungieren. Als relativ identisch mit den Objekten der Außenwelt – in diesem Fall mit dem Patienten und allem ihn Betreffenden – sind sie objektstufig zu verstehen. Auch ihre Sprache ist symbolisch und sollte nicht konkretistisch missverstanden werden, wie folgender Gegenübertragungstraum zeigt: »In meinem Traum saß (die Patientin) auf einem Fahrrad und ich hielt und schob sie dabei. Ich gab ihr so eine Hilfestellung, dass sie nicht umkippte […]. Der Traum sagte mir, dass diese (schwer gestörte) Patientin eine supportive (stützende) therapeutische Einstellung von mir braucht. Sie kann noch nicht ohne Hilfe und Halt von außen sein« (Adam, 2006, S. 272). Konkordante Gegenübertragungsträume helfen dem Therapeuten, einen Patienten tiefer zu verstehen; sie haben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für den analytischen Prozess. Für Patienten, deren Entwicklung durch projektiv-verzerrende Wahrnehmungen und Zuschreibungen früher Bezugspersonen belastet ist, wie dies bei narzisstischen Störungen der Fall sein kann, ist es geradezu eine heilende Erfahrung, wenn sie sich in ihrer Eigenart erkannt fühlen. Objektivität des Therapeuten hilft ihnen, sich so zu sehen und anzunehmen, wie sie sind; sie stärkt damit die Beziehung zwischen ihrem Ich-Bewusstsein und ihrem Selbst. Der Wert konkordanter Gegenübertragungsträume erschöpft sich nicht darin, dass sie gleichsam objektive Gegebenheiten beim Patienten aufzeigen, sondern sie ermöglichen darüber hinaus dem Therapeuten den Zugang zum beide Partner verbindenden Feld des kollektiven Unbewussten und daraus auftauchenden archetypischen Symbolen.

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Zur Unterscheidung von diskordanten und konkordanten Gegenübertragungsträumen Das Unterscheiden von Traumqualitäten hat eine lange Tradition in der Menschheitsgeschichte: Schon in der griechischen Antike wurden wahre und falsche, prophetische und für die Zukunft bedeutungslose Träume einander gegenübergestellt (Pinterovic, 1984, S. 237). In der islamischen Tradition wird zwischen Wahrträumen, die von Gott oder Engeln eingegeben sind, und falschen Träumen, die »aus den Wünschen der Seele kommen« und »Traumgestrüpp« genannt werden, unterschieden (Schimmel, 1998, S.  36). Eindeutige Kriterien wurden nie genannt – das ist nicht verwunderlich, ist doch nicht einmal die physikalische Wirklichkeit eindeutig, noch weniger die des Traums, »der trotz aller Offenkundigkeit sich selbst nicht deutet und auch niemals eindeutig ist« (Jung zit. nach Zuckerkandl, 1964, S. 192). Für die analytische Theorie und Praxis gilt die Erfahrung, dass es ein diffiziler, persönlicher Prozess ist, immer wieder neu zu unterscheiden zwischen verzerrenden, störenden und adäquaten, konstruktiven Gegenübertragungsqualitäten (Jacoby, 2000). Dieses Wissen hat Gültigkeit auch für das Verstehen und Arbeiten mit Gegenübertragungsträumen. Um sich darauf einzulassen, muss dem Therapeuten das subjektstufige Verstehen seiner Träume vertraut sein. In der Ausbildung von Psychotherapeuten zeigt sich, wie schwer es ist, sich vom Konkretismus des herrschenden kollektiven Bewusstseins zu lösen, um für die symbolische Traumsprache und deren Bezug zur eigenen Innenrealität offen zu werden; dies ist besonders schwer, wenn bekannte Personen der Außenrealität im Traum abgebildet sind. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion muss trainiert sein, um dem Sog zu widerstehen, Trauminhalte auf diese Personen zu projizieren. Der Therapeut sollte daran interessiert sein zu klären, wo die Thematik eines Patienten ihn persönlich, möglicherweise in seinem Schatten oder unbewussten Komplexen, betrifft. Immer wieder gilt es, sich zu fragen, was verbindet, was entzweit mich mit dem Patienten? Solches Reflektieren kann helfen, eigene Träume subjektstufig zu verstehen. Gegenübertragungsträume sind zunächst immer auf beide Möglichkeiten (subjektstufige und objektstufige Bedeutung) hin

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zu prüfen. Ein schönes Beispiel findet sich bei Stevens (1996, S.  300  f.): »Ich träumte, dass wertvolle Gegenstände aus meinem Sprechzimmer verschwunden waren und diese Patientin sie gestohlen hatte. Sollte ich das subjektstufig oder objektstufig auffassen? War sie der Dieb in mir – meine eigene Langfinger-Anima? Oder war es ein kompensatorischer Traum? Bewertete ich ihre Persona zu stark und kümmerte mich nicht genug um ihren Schatten? Ich beschloss, alle Möglichkeiten offen zu lassen, die Zeit würde Klärung bringen. Einige Wochen später konnte sie mir gestehen, dass sie jahrelang ziemlich regelmäßig Ladendiebstähle begangen hatte. Wie meist, wenn jemand ein so bedeutsames Geständnis macht, entstand ein starkes therapeutisches Bündnis […] Was war nun der Nutzen meines Traums? Er machte mich so weit auf ihren Schatten aufmerksam, dass ich die für ihr Geständnis erforderliche Atmosphäre schaffen konnte.« Hier hat der weitere Prozess die Frage beantwortet, wobei das In-der-Schwebe-Lassen, ob es einen Langfinger-Aspekt in der eigenen Psyche geben könnte, vermutlich daran beteiligt war, dass eine tragfähige gemeinsame Basis für das Geständnis entstand. Das Ertragen der Uneindeutigkeit wurde zum Ferment für die weitere Entwicklung. Um projektive Anteile in Gegenübertragungsträumen zu erkennen, kann es eine Hilfe sein, sich zu fragen: Habe ich ähnliche Motive oder Situationen schon in Verbindung mit anderen Personen geträumt? Dies könnte ein Indiz sein dafür, dass durch den Patienten ein eigener Aspekt im Traum symbolisiert wird, dieser also auf ihn projiziert ist. Sofern ein oder mehrere unbekannte Patienten im Traum erscheinen, ist leicht zu erkennen, dass hier die eigene Thematik, möglicherweise die des Leidens und der Heilungsbedürftigkeit, vor Augen geführt wird. Verschiedene Möglichkeiten ergeben sich, einen Traum zu verstehen, in dem Patienten erscheinen, deren Behandlung schon lange abgeschlossen ist. In jedem Fall ist es hilfreich, sich zu fragen, wodurch ein Gegenübertragungstraum ausgelöst wurde: Hat der Patient zuvor starke Affekte oder Unsicherheit bei mir ausgelöst? Gab es einen Übertragungstraum, dessen Botschaft mich getroffen hat? Falls das zutrifft, wäre zu vermuten, dass mein Traum meine unbewusste Reaktion darauf symbolisch abbildet.

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Bei der Suche nach Kriterien der Unterscheidung ergab sich ein überraschender Ausblick durch das Beachten der Einstellungsmodi Introversion und Extraversion der Orientierungsfunktionen in fremden und eigenen Gegenübertragungsträumen. Diesen Überlegungen liegt das von C. G. Jung entwickelte Modell der vier Orientierungsfunktionen des Ich-Bewusstseins (Empfinden, Intuieren, Fühlen und Denken) zugrunde. Jung hatte es in seiner Untersuchung »Psychologische Typen« (1921) entworfen, und lange wurde es im Sinne einer Typologie verstanden. Durch die empirische und theoretische Weiterarbeit von Nachfolgern wurde es jedoch modifiziert, so dass es heute ein anderes Verständnis ermöglicht (Adam, 2003). Um die Unterscheidungskriterien verständlich zu machen, soll dieses Modell kurz erläutert werden. Dem Ich-Bewusstsein stehen vier Funktionen zur Verfügung, damit es sich in seiner Innen- und Außenwelt zurechtfinden kann: Um sich in wahrnehmender Weise zu orientieren: das Paar von Empfinden (Wahrnehmen der konkreten, materiellen Realität durch die Sinnesorgane) und Intuieren (Wahrnehmen der unsichtbaren, immateriellen Realität über den sog. sechsten Sinn); um sich in urteilender Weise zu orientieren: das Paar von Fühlen (Grundkriterien »angenehm« oder »unangenehm«) und Denken (Urteilen nach logischen Gesichtspunkten). Dies gilt grundsätzlich für jeden Menschen; individuell verschieden ist hingegen der jeweilige Einstellungsmodus einer Funktion. Der Einstellungsmodus charakterisiert den Fluss der psychischen Energie (Libido nach Jung). Bei extravertierter Einstellung verbindet die psychische Energie das Ich direkt mit dem jeweiligen Objekt auf der Ebene der betreffenden Funktion. Beim introvertierten Modus hingegen macht der Fluss der Libido – bildlich gesprochen – einen Umweg über das Unbewusste des Betreffenden. Zwar richtet sich auch hier die Libido auf das Objekt, sie wird jedoch gleichzeitig in der Innenwelt mit inneren Faktoren (Bildern, Erfahrungen, Gefühlen, Gedanken) verknüpft, die in irgendeiner Beziehung zu dem gegebenen Objekt stehen. Der introvertierte Modus verbindet das gegebene Objekt mit der Subjektivität der Person. Beide Paare der Orientierungsfunktionen sind hinsichtlich des Einstellungsmodus polar aufeinander bezogen. Auf der wahrnehmenden Achse ist demnach eine Funktion introvertiert und die andere extravertiert;

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ebenso auf der urteilenden Achse. Die individuellen Unterschiede bestehen darin, welche der Funktionen auf einer Achse introvertiert bzw. extravertiert eingestellt ist, wie Abbildung 2 zeigt.

iI

eI

eD

iF

iD

eF

eE

iE

S. Freud

C. G. Jung

Abbildung 2: Die unterschiedliche Einstellung der vier Orientierungsfunktionen bei S. Freud und C. G. Jung im Vergleich (Adam, 2003, Abb. 7, S. 146)

Der extravertierten Intuition steht bei Jung das introvertierte Empfinden gegenüber. Bei Freud ist es umgekehrt: extravertierte Empfindungsfunktion gegenüber introvertierter Intuition. Auch auf der urteilenden Achse ist der Einstellungsmodus beider gegensätzlich: Während bei Freud das Denken extravertiert und entsprechend das Fühlen introvertiert ist, denkt und fühlt Jung jeweils im umgekehrten Modus. Introvertiert eingestellte Funktionen sind in ihren Akten sehr viel persönlicher gefärbt, was aber nicht mit neurotisch verzerrt oder willkürlich zu verwechseln ist. Extravertiert eingestellte Funktionen vermitteln dagegen mehr Objektivität, weil ihr Zugang zum Objekt relativ frei ist von subjektiven Beimischungen. Es wird angenommen, dass die individuelle Konstellation der Funktionen angeboren ist. Da die Struktur des Orientierungssystems auch für das träumende Ich gilt (Adam, 2006, S. 214), sind die Träume des Einzelnen von seiner persönlichen Funktionen-Konstellation geprägt. Daher

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bietet sich in unserem Zusammenhang die Arbeitshypothese an, dass konkordante Gegenübertragungsträume vorrangig in den extravertierten Orientierungsfunktionen abgebildet werden, diskordante Gegenübertragungsträume dagegen hauptsächlich in den introvertierten Funktionen. Trauminhalte, die durch extravertierte Funktionen vermittelt werden, sind eher objektiv bezogen auf die in ihnen dargestellten Personen und daher eher objektstufig zu verstehen. Durch introvertierte Orientierungsfunktionen vermittelte Trauminhalte hingegen sind subjektiv geprägt und subjektstufig zu verstehen, da auch Gestalten der Außenrealität (in unserem Zusammenhang: Gestalt des Patienten) hauptsächlich als Bilder der Innenwelt des Träumers fungieren. Hierzu zwei entgegengesetzte Beispiele: Der erste Traum (M. R.) wird von einer extravertierten Intuition dominiert (keine konkreten Bilder, nur Ahnungswissen; körperlose Bilder): In der ganzen Familie von Patientin A herrscht eine Atmosphäre der Angst, besonders beim Fernsehen. Ich sehe dabei in einem sich im Dunkel verlierenden Wohnraum eine Art großen Trichter, der zu einem Sog führt. Ich frage die Patientin vorsichtig in der darauf folgenden Stunde, wie in ihrer Herkunftsfamilie das Fernsehen gehandhabt wurde. Sie berichtet, wenn sie zu Besuch sei, werde viel geschaut. Das sei für sie furchtbar, denn das Programm gefalle ihr nicht, aber sie wage nicht, Kritik zu äußern, weil es sonst noch mehr Spannungen und Missstimmung gäbe. Schon früher habe sie aus Angst vor Strafe nie gewagt, ihre Gefühle mitzuteilen. In derselben Stunde (die letzte vor dem Urlaub bei ihren Eltern) kommt die Angst der Patientin zur Sprache, die anstehende Therapieverlängerung könnte vom Gutachter abgelehnt werden. Im übertragenen Sinn blickt sie angstvoll »in die Ferne«! Dieser Gegenübertragungstraum erlaubt aus der Distanz einen diagnostischen Blick auf Atmosphäre und Beziehungsmodi in der Herkunftsfamilie sowie auf aktuelle Ängste der Patientin. Er trägt auf konkordante Weise zu einem differenzierteren Verständnis ihrer Entwicklungsbedingungen wie auch ihrer aktuellen Situation bei, was der Patientin durch den anschließenden Dialog zu einem adäquateren Selbstverständnis verhilft. Der zweite Traum (M. R.) ist durch die introvertierte Empfin-

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dungsfunktion geprägt (konkrete, detaillierte Bilder und Aktionen): Patientin B liegt seitlich auf der Couch, mit der kamelhaarfarbenen Therapiedecke zugedeckt. Ich mache irgendetwas, was sie stört – ohne dass sie etwas sagt. Ich bemerke es, weil sie die Decke über sich hoch zieht. Dann sagt sie, meine Armbanduhr sei ihr zu laut. Detailliert werden in diesem Traum konkrete Einzelheiten durch die Empfindungsfunktion vorgeführt. In der äußeren Realität trage ich jedoch – im Unterschied zum Traumtext – keine Armbanduhr. Da ich schon vor dem Traum um die Irritierbarkeit und Geräuschempfindlichkeit der Patientin wusste, bietet er keine neuen Informationen zu ihrer Person, sondern fordert auf, sich des eigenen irritierbaren, leidenden Schattenaspekts, verkörpert in der Gestalt dieser Patientin, bewusst zu werden, der sich besonders an der Realität der verstreichenden Zeit stört. Um Missverständnisse zu vermeiden: Nach unserer Hypothese ist es nicht die Intuition, die für die Konkordanz des Traums spricht, oder die Empfindungsfunktion für die Projektion. Das Kriterium ist vielmehr in dem je individuell gegebenen Einstellungsmodus Extraversion oder Introversion zu sehen. Daher können ähnliche Traumtexte, jedoch von verschiedenen Therapeuten geträumt, eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben, weil diese von der persönlichen Funktionen-Konstellation des einzelnen Therapeuten abhängt. Um dies an der genannten Gegensätzlichkeit von Freud und Jung zu verdeutlichen: Ein Gegenübertragungstraum, der hauptsächlich durch die Funktionen Denken und Empfinden erschiene, hätte bei Freud eine konkordante Qualität, da durch seine extravertiert (= objektbezogen) eingestellten Funktionen vermittelt; von Jung in denselben Funktionen geträumt, hätte er dagegen eine diskordante Qualität, weil durch introvertierte Funktionen vermittelt. Umgekehrt hätte bei Jung ein in den Funktionen Fühlen und Intuieren geträumter Gegenübertragungstraum eine konkordante, bei Freud dagegen eine diskordante Qualität. Natürlich gibt es auch Gegenübertragungsträume, in denen sich projektive und konkordante Bedeutungen mischen. Diese Überschneidungen sind ein Hinweis darauf, dass der Therapeut in den analytischen Prozess persönlich einbezogen ist. Dazu ein Beispiel (M. R.):

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Wie Patientin A im Therapiesessel sitzt, verrutscht immer wieder die Filzunterlage unter dem Sesselfuß, so dass der Sessel kippelig wird. Sie versucht diese zurückzuschieben und hält sich ängstlichverkrampft an den Armlehnen fest. Ich gehe und schiebe den Flecken unter den Fuß; dachte zuvor: Es muss für sie schlimm sein, weil sie sich schwindelig fühlt. Ich versuche, mich in ihr Erleben hineinzuversetzen – dabei wird mir das beängstigende Gefühl bewusst, in dem relativ festen Gehäuse (Sessel) zu sitzen, das jedoch nicht stabil auf dem Boden verankert ist. Ich sage zu ihr: Und dann kommt die Wärme! Patientin A leidet u.  a. an einer Schwindelerkrankung. Über einen Traum kam ihr die Erinnerung an einen kippenden Kinderstuhl und eine darauf folgende erschreckende Strafe. Mir wurde erst beim Aufschreiben ein Zusammenhang zur eigenen Kindheit bewusst: In meiner Angst vor Fehlern beim Klavierspiel schien mir der Stuhl zu wackeln, auf dem ich saß. Der Traum beginnt mit der Beschreibung einer konkreten Situation (introvertierte Empfindungsfunktion = erster Hinweis, dass Subjektives beteiligt ist). Mit dem Denken – extravertiert – stellt sich das Traum-Ich auf die Patientin ein und geht dann durch das introvertierte Fühlen wieder in den subjektiven Bereich über, um mit einem kryptisch anmutenden Satz (extravertierte Intuition) zu enden. Es mischt sich Nachdenken über die Bedürftigkeit der Patientin mit der darauf antwortenden stabilisierenden therapeutischen Haltung, die mit eigenen Fühlengrammen verbunden ist, um mit dem Hinweis auf die für die Patientin notwendige Geborgenheit zu schließen.

Zum Stellenwert konkordanter Gegenübertragungsträume im analytischen Prozess Wie für Patiententräume gilt auch für Gegenübertragungsträume, dass ihre Position im Prozessverlauf, ihre inhaltliche Ausrichtung und der aktuelle Kontext der Behandlung von Bedeutung sind. Die Aussage von Gegenübertragungsträumen kann eher auf den Patienten, die Menschen seines Umfeldes, den Therapeuten oder

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auf alle zugleich bezogen sein. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden einige Beispiele angeführt. Das Auffächern der einzelnen Aspekte soll helfen, Einsicht in die Dynamik des interpersonellen Feldes zu gewinnen, in dem sich Gegenübertragungsträume ereignen. Zugleich wird damit die erstaunliche Vielfalt ihrer Bezüge sichtbar.

Die Position von Gegenübertragungsträumen im Prozessverlauf Patiententräume können im Verlauf der analytischen Arbeit zu Wegmarken werden, wenn sie eine neue Phase einleiten – könnte dies nicht auch für Gegenübertragungsträume gelten in dem Sinne, dass sie dem Therapeuten ein tieferes Verständnis für den Patienten und damit eine neue Qualität der therapeutischen Beziehung ermöglichen? Es kann durchaus einige Zeit dauern, bis das sich im Unbewussten ankündigende Wissen ins Bewusstsein aufgenommen wird. Der erwähnte »Langfinger«-Traum von Stevens (1996, S. 300), durch den eine neue Arbeitsphase eingeleitet wurde, scheint dies zu verdeutlichen. Im Initialraum einer Therapie hat ein Gegenübertragungstraum eine andere Aussagekraft als ein in der Mitte oder gar in der Abschlussphase geträumter – bei ähnlichem Inhalt. Die grundsätzliche Bedeutung für die gesamte Therapie zeigt ein Gegenübertragungstraum aus der Initialphase einer Behandlung. Kurz vor der dritten probatorischen Sitzung träumte ich (M. R.): »Den enormen Widerstand des Patienten in der Tiefe beachten – an der Oberfläche sieht es ganz anders aus!« Der sehr angepasst wirkende Patient sagte in dieser Sitzung zu meinem Erstaunen, er fühle sich endlich verstanden; obgleich ich ihn in der vorigen Stunde deutlich mit seiner Neigung zu projizieren konfrontiert hatte. Das Beachten seines Widerstandes als etwas Grundsätzliches, auch im Sinne von achtsamem Respekt, hatte ihn offenbar unbewusst erleichtert. Die therapeutische Beziehung wurde daraufhin offener und positiver gestimmt.

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Eher auf den Patienten bezogene Gegenübertragungsträume Hinweis auf die Konstellation eines archetypischen Wirkfeldes Ich (M. R.) sehe im Traum Patientin C in ihrer erdhaften Gestalt (breites Becken) und weiß plötzlich im Traum, dass es dies war, was ihren Ehemann zu Beginn der Ehe anzog an ihr. Kurz zuvor hatte die Patientin, ohne dass ich davon wusste, geträumt: In der Küche war es ziemlich unordentlich und ich fing an aufzuräumen. Dann saßen H. (Ehemann) und ich auf der Couch. Er rückte immer näher, legte den Arm um mich, wollte mich küssen. Er verhielt sich so, als wäre nichts gewesen. Ich fühlte mich gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Ich fragte mich die ganze Zeit, warum er meine Nähe suchte. Die Patientin war depressiv geworden, als ihr Ehemann eine jüngere Frau heiratete. Beide Träume fielen in die Zeit, als es für die Patientin darum ging, die vergangene Lebensphase als Ehefrau abzuschließen, um einen neuen Lebenssinn und ein adäquates Selbstwertgefühl zu entwickeln. Der Gegenübertragungstraum beleuchtet Aspekte ihrer Vergangenheit, an die sie fixiert ist, weil sie ihr Selbstwertgefühl hauptsächlich über ihre Mutterschaft bezog; er problematisiert die damit verbundene Funktionalisierung ihres Körpers. Der Traum der Patientin holt diese Vergangenheit – jedoch gewandelt – in die Gegenwart, objektstufig betrachtet als Illusion, die hinterfragt werden soll, subjektstufig betrachtet als – noch nicht verstandenes – Angebot, den liebevollen männlichen Aspekt im eigenen Inneren zu entdecken. Traum der Patientin und Gegenübertragungstraum korrespondieren auf erstaunliche Weise miteinander, ohne dass ein bewusster Austausch stattgefunden hätte. Dies zeigt, dass ein archetypisches Wirkfeld konstelliert war, das sowohl das Unbewusste der Patientin wie das der Therapeutin beeinflusste. Der Archetyp des Weiblich-Mütterlichen wirkt hier als Ressource aus dem kollektiven Unbewussten, indem er den Aspekt des mütterlichen Gefäßes mit dem der Wandlung verbindet. In seiner Studie »Die Rückkehr der Göttin« stellt Whitmont (1989) eindrucksvoll

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dar, wie notwendig es heute für Frauen ist, die lange verdrängte Wandlungskraft des Weiblichen zu beachten. Synchroner Gegenübertragungstraum im gemeinsam konstellierten psychischen Feld (M. R.): Patientin A. kommt zu mir, wirkt scheu, geht in den Raum, der nach »hinten« führt. Ich versuche zu erahnen, was ist. Mir wird bewusst, dass sie in ihrem Verhalten nur die Botschaft aussendet: »Bin ich richtig so?« Ich weiß, dass meine einzige Aufgabe ist, ihr zu vermitteln: »Es ist richtig, wie Sie sind; Sie machen keinen Fehler.« Sie sagt oder ich weiß: »Das Einzige, was ich brauche, ist ein Fernseher im Raum!« Am folgenden Tag traf ein Brief von ihr ein, in welchem sie ihre Gefühle der letzten, schwierigen Stunde zu erläutern versuchte: »[…] mein verzweifeltes Inneres mitzuteilen. […] Dieser ›Urlaub‹ bei den Eltern hat mir vollkommen den Boden unter den Füßen genommen. Seither hat sich in mir wieder eine große Angst breitgemacht, nicht alles richtig zu machen, nicht gut genug zu sein. Ich fühle mich ausgeschlossen von allem, habe das alte Gefühl, von der Welt bedroht zu werden.« Im gemeinsamen unbewussten Feld war es offenbar zu einem gemeinsamen Einschwingen auf das brisante Thema gekommen. Der Sinn dieser synchronen Anordnung liegt darin, dass der Gegenübertragungstraum bereits im Vorfeld eine Offenheit ihrem Brief gegenüber entstehen ließ, wodurch dieser eine tiefe Resonanz bekam.

Eher auf den Therapeuten bezogene Gegenübertragungsträume Nachträgliches Verarbeiten des Prozessgeschehens Nach einer Therapiestunde mit einer an Bulimie leidenden jungen Frau träumt mir (M. R.): In einem dämmrigen Raum, bräunliches Licht. Ich sehe vor mir – eher auf dem Boden – zwei parallele Reihen, etwa wie Dokumentenreihen auf dem PC, aber gegenständlich. Einige wenige der in diesen Reihen angeordneten Bezeichnungen sind offen (daran zu erkennen,

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dass sie hell sind, zugleich wie aufgeklappte längliche Deckel). Ich denke/oder höre: Mehr sollte ich Frau D. jetzt nicht zumuten – sie braucht Zeit, um es zu verarbeiten! Der Traum kommentiert die intensive Arbeit des Vortages am Ambivalenzkonflikt der Patientin. Dem Traum-Ich wird in einem symbolischen Bild, das dem beruflichen Umfeld der jungen Frau entspricht, das Aufdeckende der Arbeit vor Augen geführt, um aufgrund der erreichten Belastbarkeitsgrenze der Patientin die notwendige Begrenzung deutlich werden zu lassen. Daraus ergibt sich für das Therapeuten-Ich ein Hinweis für die angemessene therapeutische Haltung der nächsten Zukunft. Bemerkenswert ist, welche Bilder der Traum benutzt, um die ambivalente Struktur der Patientin und die therapeutische Arbeit darzustellen. Weiterarbeit an unbewusstem Material des Patienten Therapeutenträume, die Motive aus Träumen oder anderem Material aus dem Unbewussten von Patienten (Phantasie, Imagination, Bild) aufgreifen, sind auf den ersten Blick nicht so offensichtlich als Gegenübertragungsträume zu erkennen wie jene, in denen die Imago des Patienten selbst erscheint. Doch auch sie zeigen, wie das Unbewusste des Therapeuten am Prozessgeschehen beteiligt ist, und sie können durch Umstrukturieren, Akzentverlagerung und Veränderung der Gefühlswerte zu dessen weiterer Entwicklung beitragen. Deshalb sind sie gleichfalls als therapeutische Hilfe zu schätzen. Eine Patientin brachte aufgewühlt einen Traum mit, in dem sie von einem rückwärts wendenden Autofahrer beinahe angefahren wird. Er wird von einer Mauer aufgehalten; durch Schläge auf sein Auto will sie sich bemerkbar machen, wird jedoch ignoriert. Sie verfolgt ihn in eine Tiefgarage: »Ich in meiner Wut, all den Gefühlen, die man hat, wenn man gerade davongekommen ist, hätte dem Fahrer gerne eine blutige Nase geschlagen.« Aus Rücksicht auf anwesende Kinder hält sie zunächst inne, steigert sich jedoch immer mehr in Zorn, schlägt zu: »Plötzlich liegt der Mann vor mir, sieht merkwürdig aus, verdreht der Körper und Kopf wie eine leblose Puppe, ich laufe weg.« Die Bearbeitung des Traums in der Therapie war schwierig, weil die Patientin wie in einem Sog den Autofahrer auf ihren verstor-

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benen Ehemann projizierte. In der nächsten Sitzung hielt dieser Widerstand an. Daraufhin mein Traum (M. R.): Ich bin mit einem kleinen Wesen (Kind/Tier) auf dem Arm unterwegs in einer Straße, da will ein Autofahrer wenden, stößt direkt neben uns zurück bis zur Wand – ich passe gespannt auf, dass er uns nicht berührt, v. a. nicht das Wesen, das ich auf einen Sims gesetzt habe. Der Fahrer langt nun durch das geöffnete Autofenster heraus und möchte unbedingt ein »Pfötchen« von dem Wesen berühren. Dieses möchte es jedoch nicht. Interessant ist, dass es zu diesem Traum wiederum eine Korrespondenz im Unbewussten der Patientin gab: in ebendieser Nacht hatte sie einen Traum, der sie sehr beglückte: […] Plötzlich singt jemand einen Akkord. Wir anderen nehmen sofort fröhlich diesen Akkord auf […]. Schon seit langem möchte ich gerne mit vielen Menschen »tönen« in Richtung Oberton-Singen […]. Offenbar gab die Patientin ihren inneren Konflikt, dem sie sich noch nicht stellen konnte, an mein Unbewusstes ab, das eine Umstrukturierung des Geschehens anbot. Zusätzlich macht der Gegenübertragungstraum darauf aufmerksam, dass ein noch unentwickelter Aspekt (Kind/Tier) berücksichtigt werden muss, der noch nicht zu einer Beziehungsaufnahme (Integration) bereit ist. Wie befreit konnte nun das Unbewusste der Patientin – zeitgleich – zu einer neuen Integration des Fühlens voranschreiten. Das Umstrukturieren des ursprünglichen Traums entspricht auf unbewusster Ebene dem Umträumen, wie es von den Senoi, einem Ureinwohnerstamm auf Malaysia, in ihren täglich stattfindenden Traumbesprechungen praktiziert wird (Cramer, 1982).

Umgang mit Gegenübertragungsträumen Gegenübertragungsträume sind energetische Vorgänge im Unbewussten des Therapeuten und bedürfen der Resonanz in seinem Bewusstsein, also auch seiner Entscheidung, wie sie in die therapeutische Arbeit sinnvoll zu integrieren sind. Diskordante Gegenübertragungsträume haben allein die Funktion, dem Therapeuten Hinweise für die Arbeit an sich selbst zu

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geben. Sie sind wertvolles Material für Super- und Intervision und können dort ihren Platz finden, keinesfalls jedoch im Therapieprozess des betreffenden Patienten. Doch auch konkordante Gegenübertragungsträume sind eher in Ausnahmefällen im Therapieprozess zu erwähnen. Sie sind ad usum medici und nicht dazu geschaffen, dem Patienten mitgeteilt zu werden. Sie können hilfreiche stille Begleiter sein. Es wäre eine falsch verstandene Authentizität, Interventionen oder Deutungen mit einem eigenen Traum begründen zu wollen, wie manchmal von Berufsanfängern vermutet wird. Damit würde sich das Ich-Bewusstsein aus der Verantwortung stehlen und diese an das Unbewusste als vermeintlich unumstößliche Autorität abtreten, wodurch sich das Therapeuten-Ich aus dem Dialog mit dem Patienten, auch mit dessen möglicher kritischen Stellungnahme, ausklinken würde. Und es würde übersehen, dass die symbolische Sprache des Traums entschlüsselt werden muss, bevor er umgesetzt werden kann.

Ausblick Wenn wir mit Guggenbühl-Craig (1995) davon ausgehen, dass das Sich-Konstellieren des Heiler-Archetyps einer der wichtigsten Faktoren für Heilung in der Therapie ist, dann bestimmt sich der Wert von Gegenübertragungsträumen wesentlich aus ihrem Beitrag zu diesem Geschehen. Demnach sind sie daraufhin zu befragen, wo und wie sie helfen, dieser archetypischen Wirkkraft Raum zu geben im interaktiven Feld zwischen Patienten und Therapeuten; wieweit sie dem Therapeuten helfen, seine Haltung darauf auszurichten, dieses Geschehen zu ermöglichen, ohne sich mit dem Archetyp des Heilers zu identifizieren. Auf diesem Hintergrund wird auch der Wert diskordanter Gegenübertragungsträume erkennbar, indem sie den Therapeuten darauf aufmerksam machen, wo seine Projektionen den Heilungsprozess stören. Die differenzierte Beachtung konkordanter Gegenübertragungsträume als diagnostisches Instrument und Orientierung für therapeutische Interventionen erweist sich als wertvolle Hilfe und vertieft unser Wissen um die Bedeutung der therapeutischen Beziehung.

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Es wäre verlockend, über die praktisch-therapeutische Bedeutung hinaus einer weiteren Dimension nachzugehen, für welche die Beschäftigung mit Gegenübertragungsträumen fruchtbar werden könnte: Aufgrund ihrer Wirksamkeit im intersubjektiven Raum haben sie auch Relevanz für die philosophisch-erkenntnistheoretische Frage nach der Wirklichkeit und Wahrheit des Traums. Unter diesem Aspekt könnten sie einen wichtigen Beitrag leisten zur Überwindung des cartesianischen Dualismus von Wirklichkeit und Traum.

Literatur Adam, K. U. (2003). Therapeutisches Arbeiten mit dem Ich. Denken, Fühlen, Empfinden, Intuieren – die vier Ich-Funktionen. Düsseldorf u. Zürich: Walter. Adam, K. U. (2006). Therapeutisches Arbeiten mit Träumen. Theorie und Praxis der Traumarbeit (2. Aufl.). Heidelberg: Springer. Blomeyer, R. (1972). Übertragung und Gegenübertragung in der Kindertherapie unter Gesichtspunkten der Analytischen Psychologie. Zeitschrift für Analytische Psychologie und ihre Grenzgebiete 3 (4), 207–218. Cramer, G. (1982). Traumzeit im Dschungel. Psychologie heute 1, 62–69. Dieckmann, H. (1971). Die Konstellierung der Gegenübertragung beim Auftauchen archetypischer Träume. Untersuchungsmethoden und Ergebnisse. Zeitschrift für Analytische Psychologie und ihre Grenzgebiete 3 (1), 11–28. Dieckmann, H. (Hrsg.) (1980). Übertragung und Gegenübertragung in der Analytischen Psychologie. Hildesheim: Gerstenberg. Fordham, M. (1957). Notes on the transference. In: Technique in Jungian Analysis. Library of analytical psychologiy, vol. 2 (pp.111–151). (Dt.: Bemerkungen zur Übertragung und Gegenübertragung in der analytischen Psychologie. Hildesheim: Gerstenberg, 1980. Guggenbühl-Craig, A. (1995). Was wirkt in der Psychotherapie? Gorgo 28, 21–36. Jacoby, M. (2000). Übertragung und Gegenübertragung in der Jungschen Praxis (3. Aufl.). Solothurn u. Düsseldorf: Walter. Jung, C. G. (1946/1979). Die Psychologie der Übertragung. In G. W. Bd. 16 (3. Aufl.). Olten, Freiburg: Walter. Jung, C. G. (1921/1981). Psychologische Typen. G. W. Bd. 6 (14. Aufl.). Olten u. Freiburg: Walter. Pinterovic, A. (1984). Das Traumbild, sein Hermetismus und die Suche nach Sinn. Analytische Psychologie, 15 (4), 235–252. (Das dem Beitrag vorangestellte Motto ist S. 243 dieses Buchs entnommen.)

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Racker, H. (1982). Übertragung und Gegenübertragung (2. Aufl.). München u. Basel: Reinhardt. Schimmel, A. (1998). Die Träume des Kalifen. Träume und ihre Deutung in der islamischen Kultur. München: Beck. Stevens, A. (1996). Vom Traum und vom Träumen. Deutung, Forschung, Analyse. München: Kindler. Whitmont, E. C. (1989). Die Rückkehr der Göttin. Von der Kraft des Weiblichen in Individuum und Gesellschaft. München: Kösel. Zuckerkandl, V. (1964). Die Wahrheit des Traumes und der Traum der Wahrheit. In A. Portmann (Hrsg.), Eranos-Jahrbuch »Vom Sinn der Utopie« (S. 173–210). Zürich: Rhein-Verlag.

Dietmut Niedecken

Arbeit, die man nicht sieht Die institutionelle Gegenübertragung im Traum

Der Traum Der Traum spielt in einem fremden Haus in einer fremden Gegend. Wir machen dort mit der Wohngruppe Urlaub. Zwei Zimmer nebeneinander, in einem befinde ich mich beim Auspacken, in dem anderen liegen P. (m) und K. (w(a)) in einem Doppelbett. Sie sind indisch gekleidet, die Kleidung weist auf eine höhere Kaste hin. K. spricht mit P. darüber, dass er für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen müsse. Sie erklärt ihm dafür, wie er später oben auf der Straße die Schuhe putzen soll. Plötzlich entfacht aus der Ritze meines Doppelbettes eine riesige Stichflamme und verschwindet wieder. Ich wunderte mich und war über diese Aktion verwirrt. Bald darauf beginnt mein Bett am Fußende zu brennen. Ich bin in großer Aufregung. A. (m) kommt herein und stellt mir einen Hometrainer aufs Bett. K. (w(b)) kommt ins Zimmer, reibt abwesend und unbeteiligt ihre Finger und dreht »ihre Runden«. E. (w) kommt ins Zimmer, setzt sich auf einen Stuhl, raucht eine Zigarette und ist ebenso unbeteiligt am Geschehen. G. (m) höre ich vom Gang herein in Selbstgesprächen über Unternehmungen. Ich nehme schließlich einen Kübel und lösche selbst. Dabei wird alles nass und mein Koffer voller Wasser. Ein Gegenübertragungstraum, der im Rahmen eines von mir geleiteten Supervisionsworkshops berichtet wurde.1 Es handelte sich 1 Ich danke der Träumerin W. dafür, dass sie mir diese Traumerzählung aufge-

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um eine jährlich stattfindende Fortbildung für das Betreuungsteam einer Wohngruppe Erwachsener mit geistiger Behinderung. Die Wohngruppe lebt in einer süddeutschen Kleinstadt, d. h. an einem Ort, zu dem ich jeweils eigens anreise. (Die Träumerin, die mir diese Traumbeschreibung zur Verfügung stellt, ist Betreuerin und Wohngruppenleiterin. K(a) und K(b) sind eine Kollegin und eine WG-Bewohnerin gleichen Namens, alle anderen sind WG-Bewohner; (m) und (w) bezeichnen das Geschlecht der auftretenden Personen.) Die seit Jahren regelmäßig stattfindende Zusammenarbeit wurde im Zuge des um sich greifenden »Qualitätsmanagements« immer drängender mit der Forderung nach Vorzeigbarkeit und Dokumentierbarkeit der Betreuungsarbeit konfrontiert. Während auf diese Weise das Sichtbare und Handgreifliche zu Werten per se hochstilisiert wurden und werden, kamen in unseren Workshops grundsätzlich andere Dinge zur Sprache: Erlebnisse, die sich im Innenraum der Phantasie abspielen. Sie werden von den Maßnahmen zum Qualitätsmanagement oftmals nur verstellt, wenn der erzwungene Aktionismus nicht gar verhindert, dass sie überhaupt noch wahrgenommen werden. Die »Arbeit, die man nicht sieht«, wie ich sie zusammen mit der Gruppe genannt habe, ergibt sich aus dem massiven, tief ins je Private eingreifenden emotionalen Affiziertsein, den Gegenübertragungen, die in der Betreuungsarbeit entstehen. Sie stellen eine enorme Belastung dar, wenn der reflektierende Umgang mit ihnen nicht ausdrücklich erlernt und darüber hinaus als Arbeit benannt und anerkannt wird. Eine solche Anerkennung hat es freilich kaum je gegeben, geschweige denn dass die pädagogischen und heilpädagogischen Ausbildungen den Umgang mit der Gegenübertragung mehr als allenfalls beiläufig streiften. In den letzten Jahren wird sie durch die Konzentration auf das Dokumentierbare der Betreuungsarbeit ausdrücklich entzogen. Der Umgang mit Phantasien schrieben hat, und ihr und dem Team für die intensive und sehr lehrreiche Zusammenarbeit. Betreuerin K. danke ich für ihr Protokoll unserer Fortbildung. Zu danken habe ich auch dem ersten Master-Studiengang am Institut für Musiktherapie Hamburg für die eingehende und anregende Diskussion des Traums. Wolfgang Leuschner verdanke ich wertvolle Hinweise zum Traum und zur Literatur über das Träumen.

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und Träumen ist von der Qualitätssicherung nicht vorgesehen. Das innere Erleben, die Gegenübertragung in der Betreuungsarbeit, ist in steter Gefahr, als private Schwäche, ja als Fehler und Vergehen diffamiert zu werden. Aus der supervisorischen Zusammenarbeit (nicht nur) mit diesem Team entstand daher die Vorstellung, dass es notwendig sei, für diese Arbeit eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Wir hatten dies verschiedentlich angesprochen, und ich hatte in Aussicht gestellt, dass ich, als einen Beitrag dazu, einen Aufsatz über die »Arbeit, die man nicht sieht« schreiben wolle. Diese Vorgeschichte steht nun mit der Entstehung des vorgestellten Traums in engem Zusammenhang. Ich hatte nämlich vorgeschlagen, mir Träume zu berichten, weil sich damit die »Arbeit, die man nicht sieht« in besonderer Weise zu erkennen geben könne. Auf diesen Vorschlag hin war die erste Reaktion eine Verneinung: Die Gruppe konnte sich an keine Träume über ihre Klienten erinnern. Zum nächsten Workshop freilich wurde der hier vorangestellte Traum berichtet.

Traumsymbolik und die kulturelle Dimension von Träumen Eine Reise vom Alltag weg ins Fremde hat stattgefunden; in der Fremde ereignet sich das Traumgeschehen. Etwas Befremdliches geschieht im Zimmer der Träumerin. Es geht um »Sehen und Gesehenwerden« – als Gesehenwerden der beiden, die auf dem Doppelbett liegen, als Schauen der Träumerin und als Wegschauen der im Folgenden auftretenden Traumpersonen. Sodann betont der Traum die Zweizahl. Zweimal taucht im ersten Satz das Wort »fremd« auf, im weiteren Verlauf werden zwei (weibliche) Personen als »unbeteiligt« beschrieben; zwei Zimmer, Doppelbetten, auf einem davon liegen zwei Menschen miteinander im Gespräch; zwei weitere Männer und zwei weitere Frauen treten auf, zwei Feuer entstehen; der Name »K« kommt zweimal vor. Zwei unterschiedliche Szenarien werden dargestellt: Im einen

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ereignet sich etwas zwischen zwei Personen, im anderen packt eine Person aus, es »entfacht eine Stichflamme«, es beginnt das Bett von selbst zu brennen, es kommen und gehen unterschiedliche Personen. Die beiden Szenarien sind durch das Schauen der Träumerin aufeinander bezogen: eine Urszenensituation – von hüben beobachtet eine ein Geschehen, das zwischen zweien drüben stattfindet. Das beobachtete Geschehen präsentiert sich freilich wenig spektakulär als pädagogisch-edukativer Alltag, während im Zimmer der Beobachtenden sich Dinge ereignen, die deutlich aufs Sexuelle anspielen. Der Traum liest sich wie ein Kompendium der Sexualsymbole, die von Freud in der »Traumdeutung« (1900) und noch einmal in der Nr. X der »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1917) aufgezählt werden.2 Mit den dort vorgeschlagenen Symbolübersetzungen gelesen stehen die Zweizahl, die Zimmer, der Koffer für weibliche Genitalien, die besondere Bekleidung, das Paar aus der höheren Kaste für die elterliche Urszene, die Stichflamme, der Brand des Doppelbettes, das Ein und Aus der Personen im Zimmer der Träumerin für sexuelle Erregung und Geschlechtsverkehr, der Koffer voller Wasser für den Inbegriff des Weiblich-Kreativen. Demnach stellt uns der Traum – im ersten groben Überblick – die Situation einer Urszenen-Beobachtung vor, die in der beobachtenden Traumperson zu sexueller Erregung und eigener sexueller Betätigung führt. Dass das Thema »Sehen und Gesehenwerden«, mit seiner Umkehrung in das »Unbeteiligtsein« der vier Personen im Zimmer der Träumerin, im Traum eine Rolle spielt, verwundert nicht – es liegt darin eine direkte Bezugnahme auf die Übertragungssituation, aus der heraus der Traum entstand: auf das Thema der »Arbeit, die man nicht sieht«. Und auch die stattgefundene Reise verweist auf die Übertragung – nicht die Träumerin verreist allerdings, sondern ich werde zum Workshop anreisen. Dieser Übertragungsaspekt, und die jeweils damit verbundene Umkehrung ins Gegenteil, wird 2 Ich verwende hier der Einfachheit halber den naiven Freud’schen Begriff der Traumsymbolik. Die Diskussion des Symbolbegriffs ist in der Psychoanalyse seither weit vorangeschritten, worauf ich im vorliegenden Zusammenhang aber nicht eingehe.

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uns noch beschäftigen. Wenden wir uns hier zunächst der Frage nach der Sexualsymbolik zu. Freud räumte den Symboldeutungen wiederholt in seinem Denken einigen Platz ein. Traumsymbole verweisen, so Freud, über das Individuelle des Traumvorgangs hinaus auf ein Allgemeines, einen kulturellen Aspekt: »Das Gebiet der Symbolik ist ein ungemein großes, die Traumsymbolik ist nur ein kleiner Teil davon; es ist nicht einmal zweckmäßig, das ganze Problem vom Traum aus in Angriff zu nehmen. [….] Man bekommt den Eindruck, dass hier eine alte, aber untergegangene Ausdrucksweise vorliegt, von welcher sich auf verschiedenen Gebieten Verschiedenes erhalten hat, das eine nur hier, das andere nur dort, ein drittes vielleicht in leicht veränderten Formen auf mehreren Gebieten. Ich muss hier der Phantasie eines interessanten Geisteskranken gedenken, welcher eine ›Grundsprache‹ imaginiert hatte, von welcher all diese Symbolbeziehungen die Überreste wären« (1917/1999, S. 168 f.). In der »Neuen Folge der Vorlesungen über Psychoanalyse« betont Freud diesen kulturellen Aspekt der »Grundsprache« noch einmal: »Im manifesten Inhalt der Träume kommen recht häufig Bilder und Situationen vor, die an bekannte Motive aus Märchen, Sagen und Mythen erinnern. Die Deutung solcher Träume wirft dann ein Licht auf die ursprünglichen Interessen, die diese Motive geschaffen haben« (1932/1999, S. 25). Eine »Grundsprache«, »ursprüngliche Interessen« – Freuds Diktion verweist hier auf etwas Überindividuelles, auf ein Jenseits des Diskursiven, das sich über Traumsymbolik zur Geltung bringe. Freud hatte freilich durchaus Bedenken gegen die Verwendung von Symboldeutungen. Er sah sie lediglich als letztes Mittel, wenn die Assoziationen verstummen. Diese Bedenken sind nach Freud eher noch gewachsen. Fritz Morgenthaler erkennt in der Symbolverwendung Anzeichen einer besonderen Art von Zensur im Traum: »Die Umformung durch Symbole ist ein besonders raffinierter Eingriff der Traumzensur, um die Bewegungen der ungerichteten Triebregungen des Es in eine Objektvorstellung einzuschließen und zum Verschwinden zu bringen« (1990, S. 81). Diese Überlegung steht vor dem Hintergrund von Morgenthalers Unterscheidung zwischen dem Sexuellen und der Sexualität. Ersteres begreift er als Bewegung des Primärprozesses, die sich aller Ordnung und Festlegung (auch der denotativen auf bestimmte

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Bedeutungen) entzieht, letztere als eine dem Sekundärprozess folgende gesellschaftskonforme Ordnung der Objektwahl, der alles Triebhafte unterworfen wird und die einen Wiederholungszwang konstituiert. Zur Illustration beschreibt er in einer Metapher den Sekundärprozess als einen starr konstruierten Apparat, ein Triebwerk, das die chaotisch-ungerichtete Bewegung des Primärprozesses auffängt und ihr eine Richtung gibt. Sexualsymbolik im Traum wird von Morgenthaler demnach als ein Moment dieses Triebwerks angesehen. Sie stellt sich der anarchischen Tendenz des Primärprozesses im Träumen entgegen und bietet ihr ein gesellschaftskonformes Darstellungsmuster. Diese Auffassung wird von der Beobachtung gestützt, dass die Traumsymbolik weitgehende Gemeinsamkeiten mit den in der Umgangssprache üblichen Bildern für sexuelle Vorgänge und Genitalien zeigt (vgl. Hall, 1964). Die »besonders raffinierte« Technik besteht demnach darin, dass mit öffentlich verfügbaren (wenn auch vielfach sozial verpönten) Bildern eine Form geboten wird, in der das Anarchische des Primärprozesses gezähmten Zugang zum Bewusstsein erhält. Die Bilder, die im Slang und in der Traumsymbolik verwendet werden, entsprechen Phantasmen, in denen ein bestimmter Umgang mit dem Sexuellen präformiert ist. Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk trifft in ihrem Buch »Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum« (1983) eine Unterscheidung, die der Morgenthalers sehr nahe kommt. Von der »Dialektik der Aufklärung« ausgehend unterscheidet Lenk zwei Seinsweisen, an denen die Menschen unserer Kultur teilhaben, die zweckrationale und eine dieser entgegengesetzte, die Lenk als »mimetisch« bezeichnet und die ich im gegebenen Zusammenhang der Einfachheit halber mit dem gleichsetzen will, was Morgenthaler das »Sexuelle« nennt.3 Beide sind miteinander nicht kompatibel. Die zweckrationale entspricht dem, was Morgenthaler als festgelegte, sekundärprozessgesteuerte Objektbezogenheit der Sexualität bezeichnet; sie zielt auf 3 Diese Gleichsetzung ist vorschnell und dient der Vermeidung einer Diskussion des mir problematisch erscheinenden Begriffsgebrauchs von Lenk, die im hier gegebenen Kontext aber zu weit führen würde.

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einen stabilen Rahmen und gründet sich auf psychologischer Ebene auf die Einheit des mit-sich-identischen »autonomen Subjekts«, auf sozialer Ebene unterwirft sie es den Gesetzen der Ökonomie; das (von Lenk so genannte) »Mimetische« hingegen ist – wie bei Morgenthaler das »Sexuelle« des Primärprozesses – dionysischen Charakters, ekstatisch, zerstreuend, verschwendend, auflösend, identitätsverwirrend; die Einheit des Subjekts wird von ihm in Frage gestellt, bedroht. Träume sind, so die Autorin, neben Literatur und Kunst ein Ort, in welchem dieses Grenzauflösende gegen den Hegemonialanspruch der Zweckrationalität sich behauptet, wo also das, was im Zuge der Aufklärung auf der Strecke bleibt, sich äußert. Das Aufbegehren des »Mimetischen« im Traum blieb, so Lenk, nicht unbemerkt. Die zu allen Zeiten populären wohlfeilen Deutungsanleitungen und Traumbücher stehen in der Pflicht eines Bemühens, auch da noch einen Rahmen der Zurechnungsfähigkeit einzurichten, wo das »Mimetische« sein Reservat hat. In solchen Traumbüchern wurden Traumsymbole notiert und gemäß einem Code festgelegter Bedeutungen interpretiert. Diese Bedeutungszuschreibungen entspringen nach Lenk einem Bedürfnis, das sich im Traum zeigende »Mimetische«, dessen Beweglichkeit und Unfassbarkeit, auf eine festgelegte Ordnung zu verpflichten. Nun sind nicht nur die schon von Freud selbst ambivalent gesehenen Symboldeutungen Lenk Anlass zu Kritik. Sie kritisiert darüber hinaus die Traumdeutung Freuds insgesamt als einen Versuch, das Unbotmäßige des Traums auf die Eindeutigkeit einer Kausalreihe festzulegen. Dazu wird das Gebilde selbst – so ihre Kritik – zerpflückt, zerlegt, rationalisiert, ohne Rücksicht auf seine sinnlich-ästhetischen Qualitäten. Freuds Zurückführung aller Träume auf eine quasi-kausale Ordnung mit dem Ausgangspunkt des unbewussten Wunsches entspringt nach Lenk dem Bedürfnis, die Oberherrschaft des Sekundärprozesses gegen das »Mimetische« zu sichern. Die Traumdeutung ziele auf eine Einheit des Subjekts, anstelle der verwirrenden Vielfalt der Rollen, die sich im Traum abspiele; der oder die Träumende solle durch die Traumanalyse diese Vielfalt seiner Identität unterwerfen, sich als Autor oder Autorin des unbewussten Wunsches identifizieren, statt sich der dionysischen Tendenz, der »gewaltlosen Synthesis des Zerstreuten« (Adorno, 1970, S.  215), anheimzugeben, die im Traum zum Ausdruck komme.

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Lenks Kritik legt den Finger auf eine Wunde: auf die unaufgelöste immanente Widersprüchlichkeit im psychoanalytischen Denken, das die erzwungene Einheit des Subjekts, Identitätszwang und Subjekt-Objekt-Trennung als latent gewaltvoll entlarvt, während es zugleich sich auf die Demarkationslinie der Subjekt-ObjektTrennung in seinen Begriffen noch immer stützt. Indem aber Lenk einseitig das Affirmative der Freud’schen Theorie ankreidet, gerät ihr die andere Seite aus dem Blick. Schon Freud warnt ja vor der vorschnellen Virtuosität des Symboldeutens. In der Möglichkeit von Symboldeutungen liege eine Verführung zu exhibitionistischer Selbstgefälligkeit. »Ein solches Kunststück schmeichelt dem Traumdeuter und imponiert dem Träumer«, heißt es in Vorlesung X (Freud, 1917/1999, S.  152). Dies sei nicht Sinn der Psychoanalyse: »Lassen Sie sich aber hierdurch nicht verführen. Es ist nicht unsere Aufgabe, Kunststücke zu machen« (S. 152). Freud erkennt also eine Gefahr in der Anwendung der Traumsymbolik. Sie bietet die Möglichkeit, sich selbst virtuos deutend in Szene zu setzen. Traumdeutung kann auf diese Weise in einen Akt von Exhibitionismus gewendet werden. Überhaupt liegt bei der Auseinandersetzung mit Träumen – und dies gilt in besonderer Weise bei Gegenübertragungsträumen – die Thematik von Exhibitionismus und Voyeurismus nahe, als sexualisierte Varianten des Themas »Sehen und Gesehenwerden«, das nicht umsonst im vorangestellten Traum betont wird. Masochistisch-exhibitionistische Selbstzerfleischung auf Seiten des Träumers, der Träumerin und voyeuristische Häme auf der deutenden Seite sind den Umgang mit Träumen ständig begleitende Gefahren. Was sorgt für die hurtige Übersprungsreaktion, mit der solche zu bezeugenden inneren Wirklichkeiten der Regie einer Sexualitätsordnung unterworfen werden können? Was sorgt dafür, dass der Voyeurismus das Schauen sexualisiert und in den Mittelpunkt rückt, anstelle des Gesehenen; dass der Exhibitionismus das Schauen des Anderen funktionalisiert, statt sich ihm hinzugeben? Voyeurismus bannt die Gefahr, die von dem »Mimetischen«, oder spezifischer: vom Ekstatisch-Sexuellen4 ausgeht, als Haltung 4 Die Bedeutung des Terminus »Mimesis« ist vielschichtig und wird im Rahmen der hier vorgelegten Untersuchung nicht weiter ausgelotet werden. Ich ziehe es

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des hämischen Beobachtens eines Ausgleitens, eines Versagens vor der Forderung nach Autonomie und Zurechnungsfähigkeit; Exhibitionismus kann als ein Versuch verstanden werden, durch zwanghaftes Sich-Präsentieren eine Identität gegen deren bedrohliches Zerfallen zu erzwingen. Freud war, als er die Traumdeutung schrieb, die Gefahr von voyeuristischer Abwehr und deren exhibitionistischem Gegenstück durchaus gegenwärtig. In seiner Analyse des Irma-Traums (Freud, 1900) – jenem ersten uns bekannten Gegenübertragungstraum der psychoanalytischen Literatur – kommen eine Menge kleine Niederträchtigkeiten zutage. Freud berichtet diese nicht in exhibitionistischer Absicht; vielmehr geht es ihm darum, zu diesen Niederträchtigkeiten »ich« zu sagen. Dies ist etwas anderes als der Hegemonialanspruch des Subjekts, vor dem Lenk zu Recht warnt: Es geht nicht um Beherrschung und Kontrolle, sondern um die Übernahme von Verantwortung. Was passieren kann, wenn kein »ich« die Verantwortlichkeit für das im Traum zum Ausdruck Kommende übernimmt, hat die Geschichte immer wieder demonstriert. Das Mimetische, das Lenk zu idealisieren tendiert, oder mit Morgenthaler: das Sexuelle, wird da, wo niemand bereit ist, »ich« zu sagen, ihm sein »ich« zu leihen, zum beängstigend Fremden, wird potentiell destruktiv. Als Entfremdetes muss es in Reservate verbannt, projiziert werden. Projektionsfiguren lassen sich immer finden. An ihnen wird dann die Ausrottung des Projizierten vollzogen – und paradoxerweise wird das entfremdete Triebhafte im Bemühen, sich seiner zu entledigen, zugleich allzu häufig auf destruktive Weise in Aktion gesetzt. Auch hierauf verweist uns der vorangestellte Traum mit seiner Betonung des Fremden und Befremdlichen. Die Aufgabe psychoanalytischer Traumdeutung wird es also sein, diese Projektionen aufzuheben und eine immer wieder vom Scheitern bedrohte, fragile und verletzliche individuelle Verantwortlichkeit zu suchen, mit der dem Menschlichen in seiner Schwäche Raum gegeben werden kann. Es steht dann am Schluss einer Traumdeutung, die sich dieses Ziels inne bleibt, nicht ein tridaher vor, im Folgenden die Morgenthaler’sche Terminologie zu verwenden, die spezifischer auf das passt, worum es hier geht.

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umphierendes »hab ich dich erwischt«, nicht projektiv-voyeuristische Häme und auch nicht masochistisch-exhibitionistische Selbstzerfleischung, vielmehr ein die Scham überwindendes »nichts Menschliches ist mir fremd«. Wichtig an der Kritik Lenks ist, dass sie den kulturellen Aspekt des Träumens hervorhebt und den Traum gegen eine Tendenz zur Privatisierung verteidigt, die dem Freud’schen Denken in der Tat innewohnt. Damit eröffnet sie den Blick auf etwas, was Freud in seinen Überlegungen zur Traumsymbolik zu ahnen scheint: In der Traumsymbolik bringen sich Phantasmen zur Geltung, zwingen – zensierend, präformierend – das Anarchische des Träumens immer schon unter ihre Kontrolle. In der Traumzensur allgemein, insbesondere jedoch in der Traumsymbolik wird deutlich, dass der Traum selbst schon, und nicht erst seine Deutung, vergesellschaftet ist. Die Traumzensur ist doppelgesichtig: Indem sie verbirgt, macht sie auf das Verborgene aufmerksam. Sie schränkt die Bewegung des Primärprozesses ein und an ihrem Resultat lässt – in einer Umkehrung ins Gegenteil – sich ablesen, welche Kräfte da hemmend einwirken. Dies gilt in besonderem Maße für die Traumsymbolik. Sie gießt das Anarchische des Primärprozesses in phantasmatische Gebilde und macht so das Phantasma in seinem Wirken sichtbar. Somit rückt Lenks Kritik einen Aspekt des Träumens in den Blickpunkt, der von besonderer Wichtigkeit ist, wenn es um Gegenübertragungsträume geht: Überschreiten diese doch ganz ausdrücklich das je Private. Gegenübertragungsträume sind nichts anderes als gewöhnliche Träume – Freud etwa hat seinen IrmaTraum nicht in Bezug auf seine Gegenübertragung, sondern als seinen privaten Traum analysiert. Gegenübertragungsträume werden jedoch aus anderer Perspektive gelesen. Sie werden zur Erkenntnis eines Fremdpsychischen herangezogen und damit in ihrer das je Private überschreitenden Dimension anerkannt.

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Der soziale Kontext: Institutionelle Gegenübertragung »In jedem Einzelnen muss die gesamte Gesellschaft mitsamt ihren Regeln präsent sein, damit sie funktionieren kann, da aber jedes Individuum doppelt ist, da es an zwei Zuständen partizipiert, da es eine Dimension mehr hat als die flächige Gesellschaft, bleibt es der ewige Unsicherheitsfaktor. Stabile Gewohnheiten sollen dies kompensieren; und für den Ernstfall hat man eben das zurechnungsfähige Subjekt geschaffen als Bollwerk gegen die fundamentale Unsicherheit« (Lenk, 1983, S. 25). Wie ich andernorts (Niedecken, 1989) gezeigt habe, stellen geistig Behinderte einen solchen »Ernstfall« – vielleicht den Ernstfall par excellence – dar. Sie sind gewissermaßen der verkörperte Unsicherheitsfaktor; in sie wird das Unzurechnungsfähige, der Rest, der sich dem zweckrationalen Kalkül nicht fügt, projiziert, in ihnen kann es manipuliert werden. Mit vielfachen Veranstaltungen (den Organisatoren des »Geistigbehindert-Werdens«) ist in der Gesellschaft dafür Sorge getragen, dass die Betroffenen sich in diese Rolle einfinden und dass damit zugleich das von ihnen verkörperte Unzurechnungsfähige unter Kontrolle gebracht wird. Entscheidender Faktor bei diesem Geschehen ist das, was ich, im Anschluss an Maud Mannoni (1964/ dt. 1972) und Mario Erdheim (1982), die gesellschaftlichen Phantasmen des Geistig-behindert-Werdens genannt habe.5 Phantasmen können mit Ernst E. Boesch definiert werden als »Bezugssysteme, übergreifende Kategorien also, denen Einzelsituationen und Objekte wahrnehmend und vorstellend zugeordnet werden« (1976, S.  293). Diese Bezugssysteme sind »funktionaler Art, sie definieren unsere Handlungspotenz gegenüber bestimmten Situationen« (S. 293) in Form von »übergreifende[n], im Einzelnen unspezifizierte[n] Tendenzen der Bewertung und Handlungsregulation« (S. 297). Dies gilt auch für die in der »Institution Geis5 Johannes Picht machte mich darauf aufmerksam, dass meine Verwendung des Subjekt-Begriffs eine Unschärfe enthält – einerseits verwende ich ihn für das Subjekt, das einem Auflösenden, Dionysischen sein Identischsein entgegensetzt, andererseits für das Subjekt als Individuum, das in seinem Nichtidentischen der (projektiv) identifizierenden Gesellschaft gegenübersteht. Inwiefern diese Unschärfe sich in der Sache gründet, kann ich hier nicht entscheiden. Weitere Überlegungen müssen sich anschließen.

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tigbehindertsein« virulenten Phantasmen. Die Steuerung durch Phantasmen geschieht subtil und ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Auf ihrer Grundlage prägen sich spezifische Gegenübertragungen aus, die sich als private Reaktionen und Phantasien verkleiden und die überindividuelle Konfiguration verschleiern. Ich nenne sie die »institutionelle Gegenübertragung«. Im psychoanalytischen Setting kann, wie wir heute wissen, die Wahrnehmung der Gegenübertragung zum Instrument der Erkenntnis werden. Dass dies auch weit darüber hinaus möglich ist, hat Georges Devereux in »Angst und Methode in den Humanwissenschaften« (1967/ dt. 1973) anhand reichhaltiger Beobachtung dargestellt. Jeder Arbeitsgegenstand löst affektive Reaktionen aus, und es kann auch jenseits der Couch zu entscheidenden Erkenntnissen führen, wenn diese affektiven Reaktionen reflektiert werden. Gegenübertragung ist ebensowenig rein privater Natur wie die Zensur im Traum. Aus dem Mythos des Privaten befreit und als gesellschaftlich/kulturell bestimmtes Phänomen begriffen, kann sie zu Erkenntnissen über die Mechanismen der gesellschaftlichen Produktion des Unbewussten führen. Die institutionelle Gegenübertragung, die speziell in der Arbeit mit geistig Behinderten sich Geltung verschafft, ist von den Phantasmen des »Geistig-behindert-Seins« gesteuert und unterwirft das individuelle Handeln deren Gesetzmäßigkeiten. Wie ich in »Namenlos« (Niedecken, 1989) dargestellt habe, sorgt die Virulenz von Phantasmen in der Betreuungsarbeit dafür, dass sich dyadische Konfrontationen konstellieren. In solchen Beziehungskonstellationen sind Betreuende und Betreute in einer Weise unmittelbar aufeinander fixiert, die alles Dritte ausschließt und systematisch der Wahrnehmung entzieht. Gesten und Handlungen des Gegenübers werden nicht mehr auf ihren Bedeutungsgehalt hin wahrgenommen, sondern stehen zueinander in einem Reiz-Reaktions-Zirkel. Der vorangestellte Traum nimmt die Konstellation der dyadischen Konfrontation auf und thematisiert sie, indem er das Ausschließen des Dritten in Szene setzt. Die Träumerin beobachtet zwei, die drüben miteinander im Bett liegen: eine – eigentlich – eindeutige Situation; im manifesten Text jedoch ist alles Erregende, Sexuelle aus der beobachteten Szene ausgeblendet. Auf dem Doppelbett liegend sind zwei damit beschäftigt, sich über alltägliche

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Betreuungsfragen zu unterhalten. Sie sind in indischer Manier vornehm bekleidet und gehören offenbar einer höheren Kaste an. Die Bedeutung des Miteinander-auf-dem-Bett-Liegens ist in diesem Geschehen ins Gegenteil umgekehrt und damit der Wahrnehmung entzogen – es geht nicht etwa um Nacktheit, Unterleib, niedere Triebe, vielmehr um Zugehörigkeit zur »höheren Kaste«, um Schuheputzen »oben« auf der Straße6. Hüben im Zimmer der Träumerin scheint das Ausgeschlossene seinen Platz zu finden: Ein lebhaftes Treiben, ein Ein- und Ausgehen verschiedener Personen findet statt, eine Stichflamme »entfacht aus der Ritze«, ja das Bett gerät – am Fußende – in Brand. Während also die beiden miteinander auf dem Bett Liegenden sich auf eine desexualisierte Weise aufeinander beziehen, verlagert sich das Sexuelle ins Abseits, ins Nebenzimmer, und versetzt die Träumerin »in große Aufregung«. Aber auch hier noch setzt sich die Tendenz fort, das Erregende auszuschließen. Was geschieht, bezieht sich wiederum ausdrücklich nicht auf diese Erregung, die doch eine Antwort sucht. Die Beziehungslosigkeit ist auf unterschiedlichen Ebenen dargestellt – in direkter Handlung, die so tut, als sei nichts los; als der Hometrainer, ein Gerät, das zum Löschen eines Feuers denkbar ungeeignet ist, während es zu monoton-ungerichteter Bewegung anleitet; als das »Abwesend-« und »Unbeteiligtsein« von K. und E., als die Selbstgespräche von G., schließlich als das Feuer, symbolische Darstellung sexueller Erregung, das völlig beziehungslos zustande kommt, für dessen Entstehen niemand verantwortlich zu sein scheint. Auch sprachlich wird diese Beziehungslosigkeit unterstrichen: Die Träumerin übertritt hier in ihrer Traumerzählung auf bezeichnende Weise eine grammatikalische Regel: »Plötzlich entfacht eine Stichflamme« – das transitive Verb »entfachen« wird zum Intransitivum. Bei Beachtung einer latenten, metaphorischen Bedeutungsebene lässt sich schon im ersten Zimmer das Thema einer masturbatorischen Kanalisierung und Entschärfung von Sexuellem erschließen. In eine Sonderstellung versetzt der manifeste Trauminhalt die Fi6 Wobei das Schuheputzen wiederum eine niedere Dienstleistung ist, die der höheren Kaste angeboten wird.

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gur von P. Er und Betreuerin K. sind die einzigen, die einen Beziehungsaspekt darstellen, indem sie zusammen auf dem Bett liegen. P. erhält freilich, wiederum umgekehrt ins Gegenteil, eine Anleitung zum autonom Werden durch Schuheputzen, eine Anleitung also zum »Wichsen« – Betreuungsarbeit als Anleitung zur Onanie. Im Zimmer der Träumerin findet das Sexuelle direktere, symbolische Darstellungen. Auch sie stellen es phantasmatisch fest, indem sie es zu einer beziehungslosen, rein masturbatorischen Sexualität erstarren lassen: ein Hometrainer auf dem Doppelbett, Fingerreiben, eine Zigarette rauchen, »Selbstgespräche über Unternehmungen« im Gang, im »Vorhof« sozusagen. Der Beziehungsaspekt kommt im Zimmer der Träumerin als »unbeteiligtes« Ein und Aus zum Ausdruck, als Bewegung, die zu nichts führt, als Flamme, die von sich aus entfacht. Es ist, als wolle der Traum grell herausstreichen: »Es entfacht«, aber wir »haben nichts (Sexuelles) miteinander.« Die Anknüpfung an die betreuerische Realität ist hier eindeutig: Eine Anleitung zur Onanie findet in der Arbeit mit P. tatsächlich statt. P. ist manifest pädophil. Seine Pädophilie wird vom Team wie eine tickende Zeitbombe erlebt. Auf Anraten der psychiatrischen Administration soll er dazu ermutigt werden, zu onanieren, um seinen potentiell gefährlichen Trieb zu erschöpfen. Dies tut er ausgiebig – allerdings nicht zurückgezogen in seinem Zimmer, sondern sich massiv exhibierend. Mit erigiertem Penis präsentiert er sich nackt in der WG, lässt die Tür zu seinem Zimmer sperrangelweit offen, wenn er onanierend auf dem Bett liegt, oder er lehnt sie nur leicht an, um Anklopfende dann ausdrücklich zum Hereinkommen aufzufordern. Entsetzt sind die Teammitglieder von der Haltung, die er auf dem Bett beim Onanieren einnimmt – sie beschreiben sie als die eines hilflos mit angezogenen Beinen auf dem Rücken liegenden Säuglings. Der latente Traumgedanke sagt also das Gegenteil von dem, was der manifeste Traum vorführt: Hier findet in der Tat etwas Sexuelles statt. Wenn wir die Zeitbombe P. entschärfen sollen, müssen wir unseren Voyeurismus aktivieren, wir müssen ihn scharf beobachten. Was wir zu sehen bekommen, erfüllt uns mit erregtem Entsetzen. Was »wir miteinander haben«, ist diese ständige Erregung, die unter der Oberfläche der ordentlichen Betreuungsarbeit das Team ergriffen hält. Sie ist als exhibitionistische Provokation von P. in

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Szene gesetzt und auf Seiten des Teams als Abwehr voyeuristischer Geilheit kanalisiert. In einer ersten Intervention sprach ich an dieser Stelle an, dass die Betreuenden es offenbar als unvermeidbare Begleiterscheinung der Arbeit ansehen, ihren Unterleib anästhetisieren zu müssen – eine Intervention, die das bisher sehr stockende Gespräch ein wenig in Fluss bringen konnte. Ein Pandämonium der sexuellen Festschreibungen, personifiziert in A., K., E. und G., defiliert im Traum und präsentiert die Phantasmen, die der Stillstellung des »wir haben etwas miteinander« dienen: − A. war zweimal rechtskräftig wegen versuchter Vergewaltigung verurteilt, aber als leicht geistig Behinderter wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit zunächst in der Psychiatrie, statt im Gefängnis untergebracht. Seither wird er, zur Drosselung und Kanalisierung seines Triebes, einer Hormonbehandlung unterzogen. In letzter Zeit äußert er des Öfteren und mit zunehmender Dringlichkeit das Verlangen, die Medikation absetzen zu können. Auch verlangt er, eine Prostituierte aufsuchen zu dürfen. − K. ist schwer geistig behindert. Sie verbringt ihre Tage damit, als eine Art alternde Lolita tänzelnd »ihre Runden zu drehen« und »an den Fingern zu reiben«. Auffällig ist, dass ihre Mutter K. an Besuchswochenenden regelmäßig auf eine entstellende Art und Weise kleidete und frisierte, also dafür sorgte, dass K. unattraktiv und in betonter Weise behindert aussah.7 K.s Mutter hat sich auch wiederholt darüber beklagt, K.s wegen ihren Mann (den Vater K.s) und dann auch ihren Partner verloren zu haben und so ihres Lebensglücks beraubt zu sein. In vorangegangenen Workshops hatte sich der Verdacht aufgedrängt, dass die Beziehung der Mutter zu ihrem Freund gescheitert sein könnte, weil K. ihn verführt haben bzw. von ihm missbraucht worden sein könnte. − E. ist psychotisch, leicht geistig behindert und potentiell ge7 Die Arbeit des Teams hat dazu geführt, dass diese Verkleidungsaktionen, die regelmäßig zu schweren Verstimmungszuständen bei K. geführt hatten, aufhörten.

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walttätig. Sie bewohnt eine eigene kleine Wohnung im Obergeschoss, in die sie sich oft zurückzieht, und wenn man in ihr Zimmer eindringt, was die Arbeit gelegentlich erforderlich macht, kann sie mit massiven Drohungen und körperlichen Angriffen reagieren. Einer permanenten Übererregung sucht sie durch süchtiges Rauchen mächtig zu werden, dem die Triebhaftigkeit deutlich anzusehen ist. Das Team ist gehalten, ihren Zigarettenkonsum streng zu rationieren, ihr also die Ersatzbefriedigung zu versagen, was aufgrund der latenten Gewalttätigkeit E.s, vor der alle Angst haben, nicht leicht ist. − G. gehört wie K. zu den schwerer geistig behinderten Bewohnern der Gruppe. Er spricht wenige Sätze, und zwar mit der aufreizend hohen Stimme eines Kastraten. Seine üblichen Selbstgespräche drehen sich immer wieder um seinen Penis, den er »die Pfeife« nennt: »Du sollst die Pfeife nicht anfassen!« Er hat in unseren Supervisionssitzungen nie einen eigenen Raum erhalten, weil er eben »keine Probleme macht« (wobei es dem Team durchaus bewusst ist, dass genau dies sein Problem ist). Und so bleibt er auch im Traum »außen vor«. Wir können aus diesen Darstellungen, geradezu grotesk überzeichnet, Phantasmen der männlichen und der weiblichen Sexualität herauslesen: Hie der vergewaltigende Mann, dort (»dumm-ficktgut«) die alternde Lolita, hie die männermordende Mänade, dort der verblödete Kastrat: Dämonisierung des Sexuellen versus sexuelle Dummheit und »Unschuld«, jeweils in männlicher und weiblicher Version. Die Frage, warum sich die realen Personen zu solchen karikierenden Überzeichnungen tatsächlich anbieten, kann hier nicht verfolgt werden. Unsere Frage geht dahin, zu ergründen, was der Traum uns über das »wir haben etwas miteinander« noch weiter mitteilen kann.

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Urszene Das manifeste Geschehen im Traum zeichnet die situative Struktur einer Urszene nach. Entsprechend finden sich auch im assoziativen Material, das den Traumbericht begleitet, situative Aspekte eines Urszenengeschehens. Vor dem Traumbericht waren im Workshop zwei weitere Konstellationen des Urszenenthemas berichtet worden, die sich als Assoziationen auf den Traum beziehen lassen: − Die Situation einer Bewohnerin wurde als ein klaglos ertragenes Abgeschoben- und Ausgeschlossenwerden beschrieben. Die Eltern der jungen Frau leben seit langem getrennt. Zu ihrem Vater hat sie nur Kontakt, weil sie ihn von sich aus anruft, und er ist immer, deutlich schuldbewusst und zugleich ungeduldig, bemüht, das Telefonat schnell hinter sich zu bringen; die Mutter holt sie gelegentlich zu Unternehmungen ab, aber auch hier entsteht das Gefühl, dass weniger wirkliche Affektion als irgendein Pflichtgefühl dazu den Anlass gibt. Anlässlich ihres jüngsten Anrufes beim Vater fragte dieser die junge Frau, ob sie eigentlich wisse, dass ihre Mutter demnächst neu heiraten werde. Sie wusste es in der Tat nicht; als sie die Mutter darauf ansprach, erfuhr sie, dass sie zu dieser Hochzeit ausdrücklich nicht eingeladen sei. Auf diese Zumutungen reagierte die junge Frau nicht etwa mit Empörung; vielmehr nahm sie des Vaters Methode, seine Schuldgefühle auf die Mutter abzuschieben; nahm sie insbesondere den Ausschluss von Mutters Hochzeit klaglos hin mit der Erklärung: Die Mutter habe recht, sie werde von diesem Fest ja »sowieso nichts haben«. Die von den Eltern betriebene Delegation von Schuldgefühlen – der Vater »entschuldigt« sein Desinteresse, indem er die Mutter vorschiebt, die Mutter »entschuldigt« ihr Abschieben der Tochter mit deren »naturgemäßer« Unfähigkeit, eine solche festliche Situation zu begreifen – wird von der Betreuerin K., die in einem Rollenspiel während des Workshops die Rolle der jungen Frau übernommen hat, beschrieben als das Empfinden: »Alle putzen sich an mir die Schuldgefühle ab«. − Es wurde die Möglichkeit der Beziehungen der Bewohner untereinander thematisiert. Dabei kam zur Sprache, dass sich in der WG eine Paarbildung ergeben hat. Zwei schwer geistig behin-

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derte WG-Bewohner sind ein Liebespaar geworden. Ich selbst hatte sie am Vortag erlebt, wie sie beieinander saßen, miteinander in eigenartige, von mir als zärtlich-lustvoll empfundene Tändeleien vertieft. Ich war erfreut und beeindruckt, weil ich den Eindruck hatte, dass hier die gute Arbeit des Teams Früchte trug, indem sie etwas so Schönes ermöglichte. Es stellte sich freilich heraus, dass diese Beziehung ganz anders wahrgenommen wurde: Das Team war von Sorge erfüllt. Die Frage wurde gestellt, ob der Mann des Paares nicht übergriffig sei, ob er seiner Freundin nicht weh tue, wenn er ihr mit der flachen Hand auf Bauch oder Brust schlage. Sie wehre sich doch ohnehin nie, und man wisse nie so genau, was ihr recht sei und was nicht. Es wurde berichtet, dass die Frau des Paares einmal von den Nasenstübern, die für beide miteinander offenbar ein Substitut fürs Küssen darstellen, Nasenbluten bekommen habe. Sie sei blutüberströmt gewesen, zum großen Schrecken der anwesenden Betreuerin, die hätte eingreifen müssen.8 Es steht die Frage unausgesprochen im Raum, ob man nicht nachts dafür sorgen müsse, dass die Frau vor des Mannes Übergriffen geschützt sei. Diese beiden Szenen – sie werden hier nicht in ihren je eigenen Implikationen verfolgt – sind als Assoziationen im Kontext der Traumerzählung bedeutungsvoll, denn sie verweisen auf einen Zusammenhang zwischen geistiger Behinderung und Urszene, der die Inhalte des Traums zentral bestimmt. Wie ich in »Versuch über das Okkulte« (Niedecken, 2001) dargestellt habe, ist die Verarbeitung der Urszene wesentliches Moment der Subjektkonstituierung. Die Urszenensituation besteht darin, dass ein erregtes Geschehen meist zwischen zwei Beteiligten beobachtet (oder phantasiert) wird, an welchem der/die Beobachtende in bestimmter Weise teilhat. Die Verarbeitung der damit verbundenen Erregungen wird zur wesentlichen Grundlegung des sekundärprozessgebundenen Denkens.

8 Dies liest sich als Verschiebung von unten nach oben: eine Entjungferungsphantasie. Der Verschiebungsmechanismus und die Thematik unten-oben können in der hier vorgestellten Deutung nur beiläufig thematisiert werden.

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Diese Verarbeitung fällt je kulturell unterschiedlich aus.9 In der für unsere Kultur typischen Verarbeitungsweise wird der Sekundärprozess und mit ihm das Denken in der Subjekt-Objekt-Trennung eingerichtet. Die beobachtende Teilhabe des Kindes an der elterlichen Urszene wird als Situation des Ausgeschlossenseins verarbeitet. Inzestverbot und Kastrationsdrohung spielen dabei eine wesentliche Rolle, insofern eine identifikatorische Teilhabe als Inzestvergehen interpretiert und vermittels der Kastrationsdrohung ein Ertragen des Ausgeschlossenseins erzwungen wird. Das Destruktive der Drohung hinterlässt im Resultat der Verarbeitung deutliche Spuren. Typischerweise wird aus einem (masturbatorisch umgesetzten) »ich-kann-allein« auf metaphorischer Ebene die »dritte Position« – und zwar als eine Position des »Ich-denke«. Dieses »Ich-denke« findet nun, metaphorisch übersetzt, den Weg zurück, insofern es sich selbst aus der Ausgeschlossenheit heraus identifikatorisch als Subjekt der Urszene bestimmt, das Gegenüber als das Objekt, über welches es als Subjekt der Urszene qua Prädikat verfügt. Vermittels säuberlicher grammatikalischer Trennung wird so das Ekstatische dingfest gemacht, wird identifikatorisch die Subjektrolle als aktives Bestimmen, und, davon durch einen Hiatus getrennt, die Objektrolle als passives Bestimmtsein festgeschrieben. Dergestalt begründet sich die von Morgenthaler benannte, im Sekundärprozess festgelegte Sexualität, begründet sich das »zurechnungsfähige« »autonome Subjekt«, auf das Lenk im Zusammenhang ihrer Kritik an Freuds Methode der Traumdeutung rekurriert. Unter der Herrschaft dieser kulturtypischen Verarbeitungsform des Urszenenerlebens ist das Ekstatische in seiner grenzauflösenden Macht tendenziell nur noch als Verfügungsgewalt des Subjekts über das Objekt denkbar – zugespitzt zur Gewalt eines (i.  d.  R. männlichen) Täter-Subjekts über sein (weibliches) Opfer-Objekt. Exemplarisch dafür sind die Phantasien, die von der Liebesbeziehung der beiden schwer geistig behinderten WG-Bewohner im Team angeregt werden. 9 In meinen in 2001 angestellten Überlegungen habe ich die Kulturspezifität der dort beschriebenen Verarbeitungsform noch nicht hinreichend deutlich gemacht. Der hier gegebene Zusammenhang ermöglicht es mir, dies nachzuholen.

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Die Figur des »autonomen Subjekts« begründet mit ihrem Identitätszwang eine Figur des Ausschließens: Alles, was sich den Zwängen der Zurechnungsfähigkeit, des mit sich identischen Subjekts, nicht fügt, wird als Abweichung, Perversion, Minderwertigkeit gekennzeichnet und in entsprechend zugerichtete Objekte projiziert. In Gestalt der Verfügung über diese Objekte kann es dem Identitätszwang doch noch unterworfen werden. Der hier vorgestellte Traum bietet sich ausdrücklich an, im Lichte der Problematik des »autonomen Subjekts« gelesen zu werden. In mancherlei Hinsicht ist darin dessen Identitätszwang und die dazugehörige Ausschlussfigur thematisiert. Deren Grundlegung ist darin in der für unsere Kultur spezifischen Verarbeitung des Urszenen-Erlebens schon vom manifesten Text dargestellt: Die Träumerin beobachtet vom Nebenzimmer, wie K., mit P. auf dem Doppelbett liegend, diesem erläutert, wie er »für sich selbst sorgen«, also sozusagen »autonomes Subjekt« werden solle. Insofern Subjekt-Autonomie in intellektueller Verfügung über das Objekt gründet, sind diejenigen, denen eine intellektuelle Potenz weniger oder gar nicht zu Verfügung steht, per se ausgeschlossen, sind sie Projektionsobjekte par excellence für das Ausgeschlossene. Der Traum führt vor, in welcher Weise die Projektionen durch Phantasmen kanalisiert werden, indem er im bzw. vor dem Zimmer der Träumerin die allegorischen Gestalten von A. dem Vergewaltiger, K. der Lolita, E. der Mänade und G. dem Kastraten defilieren lässt. Der Zusammenhang von Dummheit und Kastration wird schon von Karl Landauer (1929) als eine phantasmatische Konfiguration beschrieben, und der Traum streicht auch die Gegenposition des »harmlos Dummen«, das Phantasma vom unkontrollierbar monströsen, dämonisch Sexuellen, heraus. Der Satz »alle putzen sich an mir die Schuldgefühle ab«, der von K. in der Rolle der Bewohnerin, die sie während des Workshops in einem Rollenspiel angenommen hatte, ausgesprochen wird, fasst diese Projektionsfigur in ihrer Doppelgesichtigkeit zusammen: »Ich bin Fußabtreter für alles Monströse, Dämonisch-Sexuelle, von dem ich doch, dumm und kastriert, wie ich bin, gar nichts weiß.« Der in P. verkörperte Traumgedanke lässt sich auf vielschichtige Weise interpretieren. Zunächst steht das Pädophile für ein totalitäres Verfügen über das Sexualobjekt (das zugleich der Identifikation

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dient). Im Traum ist es doppelt angedeutet: zum einen in Gestalt von P. selbst, zum anderen jedoch auch in der Situation von K. und P. auf dem Doppelbett. Ein realer sexueller Akt zwischen Betreuerin und Betreutem würde wohl einer quasi-inzestuösen Ausnutzung von Abhängigkeit gleichkommen, phantasmatisch ausgedrückt einer »Unzucht mit Abhängigen«. Aber auch die im Traum von P. repräsentierten perversen Interaktionsformen von Exhibitionismus und Voyeurismus werden – wie wir bereits erkannten – der Petrifizierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses dienstbar gemacht, insofern sie zur sexualisierenden Selbstvergewisserung bzw. zur projektiv identifizierenden Häme verwendet werden. Von Bedeutung ist auch noch eine Doppeldeutigkeit in der Anweisung, die P. von K. erhält: P. soll »wichsen« bzw. soll er »oben auf der Straße« Schuhe putzen, also »niedere Dienste« anbieten. Damit wird angedeutet, dass das »Wichsen« auch in der Phantasie der Betreuer eben doch nicht nur einsames Tun P.s ist – dass es eine erregende Wirkung hat, dass es auf die »Schuhe« (die für das weibliche Genital stehen können) einwirkt. Auch wird darin noch einmal die Hierarchie von oben und unten betont, die das SubjektObjekt-Verhältnis bestimmt. Vom manifesten und latenten Gehalt des Traums wird uns also ein Kompendium der Techniken vorgestellt, die geeignet sind, der in der Betreuungsarbeit bedrohlich virulenten Bewegung des Sexuellen ein Triebwerk der Sexualität aufzuzwingen. Aufgeführt wird die Entkopplung des Sexuellen aus einem Beziehungsgeschehen – als Hometrainer, als »wichsen«; bzw. als Stillstellung – als hormonelle Behandlung, als Dummstellen. Aufgeführt wird die sexualisierende Selbstvergewisserung im hämisch-projektiven Voyeurismus; ebenfalls aufgeführt wird der Exhibitionismus, der latent von den Forderungen zur Qualitätssicherung geschürt wird, als sich präsentierendes Bestehen. Das Endergebnis all dieser Maßnahmen zur Kanalisierung und Einbetonierung der grenzauflösenden Tendenzen des Sexuellen führt uns der manifeste Traum mit dem Paar K. und P. vor: Vornehm gekleidet auf dem Doppelbett liegend führen sie eine ihres ekstatischen Momentums beraubte, geradezu bürokratisch wohlgeordnete, eine »qualitätsgesicherte« Urszene auf.

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»Auspacken«: Zwei Frauenzimmer Die Träumerin ist in einem fremden Haus in einer fremden Gegend am Auspacken: Mit diesem Beginn verweist der Traum auf den Übertragungsaspekt im Rahmen der supervisorischen Arbeit. Nicht allerdings die Träumerin, sondern ich bin gereist, ich komme aus der Fremde, und zwar nicht in Urlaub, sondern um mit dem Team zu arbeiten – eine Umkehrung ins Gegenteil, die sich im Traum mehrfach wiederholt. Das Thema »Sehen und Gesehenwerden«, das im manifesten Traum eine so zentrale Rolle spielt, verweist ebenfalls auf die Übertragungsbeziehung: Die Aufforderung, einen Traum öffentlich zu machen und sich darin zu zeigen, kann grundsätzlich als ein voyeuristisches Verlangen und Verführung zum Exhibitionismus erlebt werden. In diesem Sinn verstand ich die anfängliche Verneinung von Seiten der Supervisionsgruppe auf meine Anfrage nach ihren Gegenübertragungsträumen. Es sprach sich darin die Befürchtung aus, sich zu entblößen, »auszupacken«, d. h., das Fremdartige, das verwirrend Ungeregelte der täglichen Betreuungsarbeit öffentlich zu machen und sich damit meiner voyeuristischen Häme auszuliefern. Durch die Mitteilung ihres Traums im Rahmen unseres Workshops kehrt die Träumerin diese Verneinung ins Gegenteil. Sie begibt sich damit allerdings in eine prekäre Situation: Die Träumerin W. muss als Leiterin der Wohngruppe die oft ungeliebten administrativen Vorgaben und »Qualitätssicherungsmaßnahmen« im Team durchsetzen, wie kritisch auch immer sie selbst zu ihnen steht. Die Wertschätzung der Gruppe für ihre Arbeit ist daher durchsetzt von Ressentiments, die das Administrative ihrer Arbeit betreffen. Damit bedeutet es für sie einen besonderen Aufwand an Mut, sich hier mit ihrem Traum zu präsentieren. Das allgegenwärtige »Qualitätsmanagement« ist darauf ausgerichtet, das Unzurechnungsfähige, das verkörperte Ausgeschlossene, so zu verwalten, dass es diesen Verwaltungsakt dokumentieren, nachweisen, exhibieren kann. Damit wird das Augenmerk von der Not der verkörperten Unzurechnungsfähigkeiten verschoben auf die potente Verwaltungsarbeit. Zu diesem Zweck wird eine Umkehrung ins Gegenteil veranstaltet: vom intensiven Verwickeltsein in leibliche Not zum sauberen Katalogisieren und

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Präsentieren. So wird ein seines sexuellen Ursprungs entkleideter Exhibitionismus gefördert, wird die Schaulust der Betreuenden instrumentalisiert. W. läuft mit ihrem Traumbericht Gefahr, sich bloßzustellen als eine, die an genau den Normen scheitert, für die sie einstehen soll. Es passt dazu, dass vielfache Hinweise auf Verbrechen und Komplizenschaft den Traum durchziehen. Auspacken – metaphorisch verstanden heißt dies: Sie will ein Geständnis machen und Verrat begehen. Im manifesten Traum treten A. – manifest eines versuchten Verbrechens überführt – und P. – besessen von potentiell verbrecherischer Begierde – auf. Es brennt. Die Träumerin bekommt nicht »kalte Füße«, vielmehr in der Umkehrung ein brennendes Fußende: Etwas wird ihr zu heiß. Es geht um eine Mit-Schuld, um eine gefährliche Komplizenschaft. Nun tritt auch die Kollegin der Träumerin, die im ersten Zimmer mit P. auf dem Doppelbett liegt, nicht von ungefähr im Traum auf: K., die Betreuerin, ist eine enge Freundin der Träumerin. Beide sind mit den administrativen Zwängen sehr unzufrieden, und aktuell träumen sie miteinander davon, einmal eine alternative WG gründen zu können, in denen das menschliche Miteinander und Beziehungsarbeit im Mittelpunkt stehen. Mit K.s Vorkommen im Traum werden also zunächst die bewussten Wünsche thematisiert, welche die Träumerin zur Zeit ihres Träumens bewegten: Wünsche, den Alltag des Durchsetzens ungeliebter administrativer Vorgaben und des Festschreibens der Hierarchien und Verfügungsgewalten zu verlassen. Das Reiseziel Indien kann für Phantasien von Flower-Power stehen, für Wünsche, auszubrechen aus den Zwängen der Zweckrationalität, für Sehnsucht nach ekstatischer Aufhebung von Grenzen. Die vielfachen Anspielungen auf Verbrecherisches und Komplizentum im Traum zeigen, dass dieser phantasierte Aufbruch ins idealisierte Fremde mit Ängsten und Schuldgefühlen verbunden ist. Eine Art Urszene konstelliert sich auch im Rahmen des Übertragungsgeschehens im Workshop, in dessen Verlauf der Traum berichtet wird. Während der Entfaltung der latenten Traumgedanken durch die Gruppe, die den Traum bereitwilligst als einen gemeinsamen adoptiert, traut nämlich die Träumerin sich schließlich, eine Begebenheit zu erzählen und mich und die

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Gruppe zu deren Zeugen zu machen, die sich leicht als der auslösende Tagesrest des Traums zu erkennen gibt. W. erzählt, wie sie – ausnahmsweise, insofern das nicht zu ihren Aufgaben als WGLeiterin gehört, aber aus der Not des Personalmangels sich häufig genug ergibt – die Aufgabe übernahm, C., eine ältere, sehr gebrechliche und taubstumme WG-Bewohnerin, zu baden. C. genießt das Gewaschenwerden sehr. Als W. ihre Scheide wäscht, wölbt sie ihr in plötzlich aufwallender Lust den Unterleib entgegen. Ein tiefer Schreck durchfährt W., und in großer Scham und voller Schuldgefühle bricht sie die Situation ab. Dies ist das Ausgepackte. Hier erfahren wir von dem Vorbild der Stichflamme, die »aus der Ritze« plötzlich aufsteigt und wieder verschwindet. Diese Urszene zwischen der Träumerin und der taubstummen Bewohnerin ist alles andere als ein vornehm-verhaltenes Beieinanderliegen zweier Mitglieder einer »höheren Kaste«. Ein ekstatisches Miteinander, das plötzlich für einen Moment »entfacht«, mündet nicht in eine in ekstatischer Verschmelzung erlebte Lust, vielmehr in angstvolle Erstarrung und schwere Schuldgefühle bei W. – die Stichflamme »verschwindet wieder«. C’s Lust muss versiegen. Die Träumerin benützt ihren Traum und das sich daran anschließende Gruppengespräch, um im Schutz meiner Gruppenleitung »auszupacken«. Sie braucht diesen Schutz, denn die Gruppe kann, bei aller ihr eigenen Solidarität, nicht umhin, mit verhaltener Häme das Ausgleiten derjenigen zur Kenntnis zu nehmen, die für das Administrative zuständig ist und also im »höheren Dienst« steht. Die Übertragungen der Gruppe auf sie enthalten eben auch Befürchtungen, mit ihren »niederen Diensten« nicht der administrativen Qualitätskontrolle standhalten zu können, und so bietet die Umkehrung der Situation eine Gelegenheit, sich zu rächen. Das, was W. zu berichten hat, ist Arbeit, die niemand sehen soll, die, wenn es im Sinne des Qualitätsmanagements geht, in der Heimlichkeit der intimen Situation verborgen bleiben soll. Alle im Team kennen solche Situationen – und hier ist es derjenigen passiert, deren offizielle Zuständigkeit es ist, dafür zu sorgen, dass das, was alle am meisten belastet, zur Arbeit wird, die man nicht sieht. Wäre das Team weniger solidarisch und weniger geübt im psychoanalytischen Reflektieren gewesen, hätte es an dieser Stelle

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leicht zu einer dyadischen Konfrontation innerhalb des Workshops kommen können. Stattdessen konnte es gelingen, eine dyadische Konfrontation, die das Team in seiner Arbeit in ihren Zwingen hielt, sichtbar zu machen, sie zu hinterfragen und tendenziell aufzulösen. Die Einsicht »[…] und bin nun selbst der Sünde bloß« war möglich, ohne dass W. gerichtet wurde. Die Interaktion zwischen W. und C. kann als ein Paradigma für das genommen werden, was als das Damoklesschwert »Unzucht mit Abhängigen« unausgesprochen über aller Betreuungsarbeit hängt. Die ständig zu überschreitende Intimitätsschranke führt zu sexuellen Erregungen auf beiden Seiten, und in dem geschilderten Moment bricht sich diese Erregung Bahn. Einen Moment lang sind W. und C. in einem ekstatischen Miteinander verbunden; dann aber greift sofort das Phantasma: W. erstarrt in Schuldgefühl. Sie reagiert, als sei sie als Komplizin eines Verbrechens entlarvt, bloßgestellt als diejenige, die »Schuhe putzt«, die »niedere Dienste« auf der Straße (dem potentiell öffentlichen Raum der Betreuungsarbeit) anbietet; als müsse sie befürchten, dass nun alle an ihr sich die »Schuldgefühle abputzen« werden. Die Erregung und Lust C.s kann sie nicht als das zulassen, was sie sind: Sexuelles Entzücken einer älteren Frau; sie werden ihr vielmehr unmittelbar zum Zeichen einer untragbaren Schuld und lösen so den Phantasmengesteuerten Reiz-Reaktions-Kreis aus: Sexuelle Erregung führt zu Erstarrung und Anästhetisierung des Unterleibs. Im Workshop konnte das »Auspacken« von einem Schuldeingeständnis gewendet werden in eine Frage: »Was ist falsch daran, C. Lust zu bereiten?« Als ich diese rhetorisch klingende Frage formulierte, machte ich zugleich deutlich, dass ich darauf keine Antwort wisse. Es gibt darauf keine Antwort; kein Rezept für richtiges Handeln in einer solchen Situation. Die Arbeit, die man nicht sieht, besteht darin, solche Ungewissheit zu ertragen und darauf zu verzichten, für solche Situationen qualitätssichernde Vorschriften zu besitzen.

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Betreuungsarbeit als Ensemblespiel Was ist falsch daran, C. Lust zu bereiten? Nichts, wäre die spontane Antwort. Was aber können wir uns als Realisierung einer nicht abwehrenden Haltung vorstellen? Was würde aus der Angewiesenheit C.s auf die körperliche Pflege werden? Wie hätte W. die Situation verarbeiten können? Hätte das Geschehen überhaupt eine Begegnung werden können, an der zwei mit ihrer je eigenen Lust teilhaben? So sicher, wie es nicht angemessen ist, ob einer solchen Situation in Schreckstarre zu verfallen, so sicher ist auch, dass eine einfache Umkehrung ins Gegenteil ebenso falsch wäre. Das Thema »Unzucht mit Abhängigen« ist nicht per Dekret aus der Welt zu schaffen. Und doch: Auch auf allgemeinerer Ebene kann und muss gefragt werden, was falsch daran ist, Menschen, die auf uns angewiesen sind, gleichwohl in ihrer Sinnlichkeit wahrzunehmen und sich daran zu freuen, auf diese Sinnlichkeit also mit der eigenen zu antworten; muss gefragt werden können, ob masturbatorische Tätigkeit nicht auch in einer Beziehung lustvoll erlebt werden könnte, dergestalt, dass zwischen P. und dem Team ein lustvoller Austausch von Zeigen und Schauen denkbar wäre, in welcher er sich in seiner Männlichkeit und Potenz bestätigt und bewundert erleben könnte, während das Team sich daran erfreute. Durch die Maßnahmen zur Qualitätssicherung wird die Trennung zwischen denjenigen, die sie auszuführen haben, und denjenigen, die deren Objekt sind – eine Trennung, die tendenziell in der Betreuungsarbeit immer schon bestand –, zugespitzt. Ein latenter Voyeurismus: der kontrollierende Blick, und Exhibitionismus: das Präsentieren der qualitätsgesicherten Arbeit wird in den Dienst der Subjekt-Objekt-Hierarchie genommen und kann daher nicht mehr für spielerische Interaktionen zur Verfügung stehen. Damit werden auf latenter Ebene Phantasmen festgeschrieben: das von »niederen Diensten« und »käuflicher Liebe« und mehr noch das der »Unzucht mit Abhängigen«. Die Erregungen, die von der täglichen Arbeit ausgehen, müssen angesichts einer »unbeteiligten« Welt »selbst gelöscht«, müssen durch Anästhetisierung des Unterleibs von der bewussten Wahrnehmung ferngehalten werden. Unbewusst werden sie dann zwar noch immer registriert, können

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aber nur noch phantasmatisch verbucht werden. Auf diese Weise putzt eine ganze Kultur sich hier »die Schuldgefühle ab«. Unser Traum kehrt diesen Prozess um. Seine manifeste Aussage »wir haben nichts miteinander« verweist in der Umkehrung ins Gegenteil auf den latenten Sinn: Doch, wir haben etwas miteinander, und dieses etwas macht »alles nass und füllt unsere Koffer mit Wasser«. Dieses, trotz aller traurig-enttäuschter Konnotationen, wunderschöne Bild von weiblich-verschwenderischer Sinnlichkeit, mit dem der Traum abschließt, liest sich wie eine Utopie. Eine solche Utopie für die Betreuungsarbeit habe ich als »zwangloses Miteinander im Ensemblespiel« (Niedecken, 2006) beschrieben – in Absetzung von der Formulierung »zwangloses Miteinander des Selbst«, die von Whitebook (2003) vorgeschlagen und zu Recht wieder zurückgenommen wurde. Für das Zustandekommen und Gelingen solchen Ensemblespiels ist es unerlässlich, dass die Angewiesenheit auf Betreuung nicht mit familialer Abhängigkeit verwechselt und also als inzestuöse Gefahr phantasiert wird, denn damit wird das kulturtypische Urszenenkonstrukt mit seiner Ausschlussfigur auf den Plan gerufen, wird die SubjektObjekt-Hierarchie festgeschrieben und jede Möglichkeit, sich auf das Gegenüber in seiner Fremdheit und Andersheit einzulassen, abgeschnitten.10 Im Ensemblespiel sind alle auf unterschiedliche Weise aufeinander angewiesen und zugleich eigenständig; ist die Bereitschaft aller Beteiligten angesprochen, sich auf die Besonderheit und Fremdheit der Mitspielenden einzulassen. Dabei kommt es auch darauf an, die je eigenen Möglichkeiten des Sich-Einlassens und Mitspielens aufzunehmen. Die Betreuungsarbeit ist und bleibt asymmetrisch: Es geht darum, sich den vielfach beschädigten und geschwächten subjektiven Impulsen der Betreuten zur Verfügung zu stellen – etwa wie in einem Orchesterlied der riesige Orchesterapparat sich der menschlichen Stimme, die gegen die entfesselte Klanggewalt von sich aus keine Chance hätte, zur Verfügung stellt und sie trägt, damit sie, was nur sie kann, etwas zur Sprache bringt.11 10 Vgl. dazu meine Ausführungen in Niedecken, Lauschmann und Pötzl, 2003. 11 Dass dies nicht heißen muss: sich unterordnen, sich opfern, zeigt eine von M. Pötzl (in Niedecken, Lauschmann, Pötzl, 2003, S. 60) berichtete Szene.

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Qualitätsmanagment mit seinem Fokus auf das Planbare engt den Raum für solches Ensemblespiel systematisch auf ein Minimum ein. Hier zählt das, womit gerechnet werden kann – und das ist zuallererst der dingfest zu machende Defekt der Betreuungsobjekte. Betreuungsarbeit als Ensemblespiel kann nicht geplant und kann nicht sichtbar gemacht werden, weil dieses Spiel ständig im Fluss ist, weil es keine festen Bestimmungen gibt, weil immer nur aus dem Moment entschieden werden kann. Das Wort »fremd« zweimal im ersten Satz der Traumerzählung, die Reise ins ferne Indien, die Betonung der Zweizahl, der Koffer voller Wasser: All dies sind Signaturen der Utopie im Traum. Der Traum sagt gleichsam: Hier sind wir zwei – zwei Gleiche, wie die Namensschwestern K. (Betreuerin) und K. (Bewohnerin) vom Traum zu Gleichen gemacht werden – und haben etwas miteinander, und in Utopia wäre das, was wir miteinander haben, wunderschön. Aber wir sind nicht in Utopia, sondern im Land der dyadischen Konfrontationen, im Land des Kastensystems der Subjekt-Objekt-Hierarchie und des ausgeschlossenen Dritten. Es muss also das Dritte zu uns reisen: Diejenige, die mit ihrer Schaulust und Neugierde auf die Urszene der Betreuungssituation die Zeigelust der Träumenden angeregt hat, möge kommen und diese Urszene – das, was man an der Arbeit nicht sehen soll – bezeugen: Voyeurismus, aus der dyadischen Konfrontation gewendet in die dritte Position des Bezeugens; Exhibitionismus, gewendet in Überwindung der Scham und Anerkennung des eigenen Ausgleitens.

Epilog Dieser Nachtrag entstand erst nach einer Pause, genauer: nach einem Verstummen. Zunächst war, mit den abschließenden Sätzen des vorigen Abschnitts, mein denkerischer Impuls plötzlich versiegt. Zwar wusste ich, dass ich den Aufsatz nicht mit solch plakativen Wendungen enden lassen und dass ich die Übertragungssituation, in der der Traum von mir induziert und von der Träumerin stellvertretend für die Gruppe mir präsentiert wurde, nicht derart en passant abfertigen wollte. Alle Bemühungen jedoch, mir

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abschließende Reflexionen einfallen zu lassen, gerieten verkrampft und wirkten aufgesetzt. Erst nachdem ich den Aufsatz in einer Arbeitsgruppe12 vorgestellt hatte, konnte mir deutlich werden, dass dieses Versiegen meiner Gedanken einer Reinszenierung entsprach: Was ich beschrieben hatte, hatte sich eben auch ereignet – was der Träumerin mit C. passiert war, war mir, auf metaphorischer Ebene, mit der Träumerin und dem Team geschehen. Ich hatte die Träumerin sozusagen aufs Glatteis geführt und zum Ausgleiten gebracht, indem ich sie und das Team dazu anregte, mir Träume mitzuteilen, und die Mitteilung dieses Traums, in Zusammenhang mit der sehr offenen Diskussion im Team, erlebte ich, als wölbte sich mir da ein Unterleib entgegen. Für meine subtile Verführung fühlte ich mich ähnlich schuldig, ähnlich angreifbar wie W. in der Situation mit C. Gerne hätte ich diese Vorgeschichte ausgespart. Noch eine andere grammatikalische Eigentümlichkeit des Traums wiederholte sich beim Schreiben.13 Der Tempuswechsel, den die Träumerin unternimmt, als sie vom Bericht über ein Geschehen im Präsens übergeht zur eigenen Stellungnahme »ich wunderte mich und war verwirrt«, lässt einen Bruch in der Gesamterzählung entstehen; ein entsprechender Bruch ergab sich hier im Text an der Stelle, an der ich von meinem deutenden Eingriff über die Anästhetisierung des Unterleibs berichte. So wie die Träumerin durch die unvermittelt verwendete Vergangenheitsform sich zum Geschehen im Traum in Distanz setzt, so setze ich mich mit dem Wechsel zwischen historischem Präsens und Imperfekt zum Geschehen im Workshop schreibend in Distanz, und zwar an genau der Stelle, als es um mein Beteiligtsein am Gruppengespräch geht. Es ergibt sich eine formale Inkonsistenz in der Diktion, die sich im Zusammenhang aufdrängt und die durch das Absetzen nur

12 Den Mitgliedern der Kultur-AG (Arbeitsgemeinschaft Psychoanalyse und Kulturtheorie des Instituts für Musiktherapie, Musikhochschule Hamburg) danke ich vielmals für ihre hilfreiche Diskussion meines Referats. 13 In einem Gespräch mit dem Komponisten Hauke Berheide, in welchem er die Lektüre dieses Aufsatzes zum Anlass nahm, um über Ähnlichkeiten von Traumarbeit und Komponieren nachzudenken, wurde ich auf diese formale Entsprechung aufmerksam.

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notdürftig abgemildert wird. Auch ich sage schreibend quasi »es entfacht«, aber »wir haben nichts miteinander«. Der Traum mit all seinen Implikationen war wie eine »Flamme, die entfacht«, für deren Entfacht-Sein Verantwortung zu übernehmen mir schwer wurde. Mein Verstummen entsprach dem Erstarren W.s angesichts dessen, was sie in C. ausgelöst hatte; entsprach zugleich dem Versiegen der Lust C.s angesichts der Schreckstarre ihrer Betreuerin. Den von Phantasmen beherrschten Mechanismen des Geistigbehindert-Seins und den Folgen der Subjekt-Objekt-Trennung, die ihnen zugrunde liegen, ist nicht zu entrinnen. Das macht diese Reinszenierung, die sich noch im Schreibvorgang ereignete, deutlich. Einen anderen Weg als den, den die Träumerin mit ihrem Traumbericht beschreitet, gibt es nicht. Es gilt, sich der Scham zu stellen.

Literatur Adorno, Th. W. (1970). Ästhetische Theorie, GS Bd. 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Boesch, E. E. (1976). Psychopathologie des Alltags. Zur Ökopsychologie des Handelns und seiner Störungen. Bern: Huber. Devereux, G. (1967). Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München: Hanser. Erdheim, M. (1982). Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1900/1999). Traumdeutung G. W. Bd. II/III. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S.  (1917/1999). Vorlesungen zur Einführung in der Psychoanalyse. G. W. Bd. XI. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1932/1999). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G. W. Bd. XV. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Hall, C. (1964): Slang and Dream Symbols. Psychoanalytic Review 51A (1), 38–48. Landauer, K. (1929/1987): Zur psychosexuellen Genese der Dummheit. Nachdruck in S. Broser u. G. Pagel (Hrsg.), Psychoanalyse im Exil. Würzburg: Königshausen und Neumann. Lenk, E. (1983). Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum. München: Matthes und Seitz. Mannoni, M. (1982). Das zurückgebliebene Kind und seine Mutter. Olten: Syndikat. Morgenthaler, F. (1990). Der Traum. Fragmente zur Theorie und Technik der Traumdeutung. Frankfurt a. M.: Campus.

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Keine Zeit zum Träumen!? Psychoanalytisch-pädagogische Begegnungs- und Verstehensmuster im Alltag einer Wohngruppe für autistische und psychotische Jugendliche

Die Institution Der Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit in Tübingen entstand im Jahre 1978 mit der Gründung eines therapeutischen Heims für bis zu fünf schwerst psychisch erkrankte bzw. von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche. Vor allem waren und sind dies junge Menschen mit autistischen und psychotischen Störungen. Das Angebot des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit ist im Randbereich klassisch-psychotherapeutischer Hilfsangebote einzustufen. Die Lebensschwierigkeiten der Betroffenen sind so groß, dass sie nicht mehr im Rahmen der Richtlinien der Krankenkassen behoben oder gelindert werden können. Außerdem würden sie in Einrichtungen, die sehr dicht an klassischen Jugendhilfekonzepten angesiedelt sind, keine adäquate, genügend haltgebende Betreuung erfahren. 1990 erweiterte der Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit das Angebot des Therapeutischen Heims um eine weitere Einheit, die Wohngruppe Hagenwört, die mit einer spezifisch angepassten Konzeption Jugendliche und junge Erwachsene insbesondere bei ihrer weiterführenden sozialen Integration und vor allem auch beruflichen Integration ansprechen möchte. Um diese Wohngruppe, die wir auch als Gesprengte Institution bezeichnen, soll es in den nachfolgenden Betrachtungen und Überlegungen gehen. Die Gesprengte Institution Hagenwört existiert also seit etwa zwanzig Jahren, was im Rahmen von psychoanalytisch-pädagogischen Heimprojekten fast schon als biblisches Alter gelten darf, scheiter(te)n doch manche dieser Projekte an ihren hehren Ansprüchen. Auch der Gesprengten Institution Hagenwört machte Anfang

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der 1990er Jahre heftiger Gegenwind zu schaffen; die sozialpolitischen Konstellationen meinten es nicht nur gut mit betreuungsintensiven und damit kostspieligen stationären Jugendhilfeprojekten. Immerhin aber hat die Wohngruppe Hagenwört inzwischen so berühmte Einrichtungen wie Bernfelds Kinderheim Baumgarten, Redls Pioneer House oder auch Aichhorns Erziehungsheim Oberhollabrunn/St.Andrä an Lebensjahren weit übertroffen, ohne dass die Ansprüche an eine reflektierte psychoanalytisch-pädagogische Arbeit bzw. Begegnung mit autistisch-psychotischen Menschen hätten arg beschränkt werden müssen. Wohl wird sich psychoanalytisch-pädagogische Arbeit fortwährend mit einem konstruktiven Mangel zu arrangieren haben, aber das kann ja auch durchaus Kräfte mobilisieren.

Strukturen und Praktiken Zunächst soll ein Augenmerk auf die Strukturen und Praktiken des Therapeutischen Heims –Wohngruppe Hagenwört gerichtet werden, die sich auf eine Lebenswelt beziehen, in der die Mitarbeiter den »Wahnsinn tagtäglich empfangen«, wie es sinngemäß einmal die französische Psychoanalytikerin Maud Mannoni ausdrückte, die in den 1970er Jahren die international viel beachtete Experimentalschule Bonneuil in einem Vorort von Paris gründete, um hier in einer radikalen Form die ihres Erachtens totalen Institutionen in Frage zu stellen. Durch eine Sprengung der Institution (l’institution éclatée) würden überlebensnotwendige Abständigkeiten hergestellt (Mannoni, 1976). – Dennoch sollten wir diese institutionelle Sprengung nicht als eine vollständige Absage an die Milieutherapie begreifen. In der Wohngruppe Hagenwört leben sechs autistisch und/oder psychotische (oder auch Borderline-strukturierte) junge Erwachsene im Alter zwischen 17 und 23 Jahren. Sie sollen ihren vorübergehenden Lebensort als verlässlich und haltgebend erfahren. Ein besonderer Fokus gilt der Binnendifferenzierung des Settings, die sich deutlich von einer herkömmlichen milieutherapeutischen Sichtweise abhebt, denn Lebensort, Arbeits- oder Schulplatz und

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schließlich das psychoanalytisch-sozialtherapeutische Einzelstundenangebot der hier lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen befinden sich nicht unter einem Dach oder auf einem überschaubaren Gelände. Vielmehr müssen sich die jungen Menschen trotz oder gerade wegen ihres seelischen Handicaps in Bewegung setzen, sie müssen Übergänge gestalten, was ihnen aufgrund ihrer großen Ängste zum Teil unendlich schwerfällt. Nur so aber können sie wirklich erleben, wie an den verschiedenen Orten unterschiedlich kommuniziert wird, dass es an jedem der genannten Orte unterschiedlichste Gesetzmäßigkeiten gibt: Mit dem Meister eines Handwerkbetriebes wird anders gesprochen als mit der Gestalterin der Einzelstunde, die Bezugspersonen der Wohngruppe wiederum werden anders ins Alltagsgeschehen eingebunden als der zu konsultierende Psychiater etc. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen müssen sich also auf ein soziales Netzwerk einlassen, wenn sie in der Wohngruppe leben möchten, gleich, wie schwer sie in ihren individuellen Handlungsvollzügen, in ihrer Selbsttätigkeit eingeschränkt zu sein scheinen. Das Fort-Da-Spiel zwischen den verschiedenen Orten – in Anlehnung an das von Freud beschriebene Fort-Da-Spiel eines 18 Monate alten Kindes, das eine Garnrolle mit großer Geschicklichkeit verschwinden und wiederkommen ließ, was als symbolische Bemächtigung der abwesenden Mutter gelesen werden kann (Freud, 1920) – macht schließlich erlebbar, auf welch unterschiedlichen Entwicklungsniveaus die Bewohner der Einrichtung agieren. Ihre Ich-Struktur ist fragmentiert, eine Ungleichzeitigkeit verschiedener Entwicklungsniveaus wird manifest, was sich in einem fortwährenden Oszillieren zwischen tiefer Regression und vorsichtiger Progression ausdrückt. Tagtäglich müssen die Bewohner der Wohngruppe Hagenwört den Aufbruch riskieren. Sie dehnen ihren Lebensraum aus und werden mit der Normalität des Lebens konfrontiert. Die Wohngruppe ist kein geschlossenes Ghetto, das alle entstehenden Bedürfnisse etwa magisch durch sich selbst befriedigen kann, sondern sie nutzt die in der Lebenswelt und Region integrierte soziale Infrastruktur. So können auch Geheimnisse entstehen. Die jungen Menschen erleben zum Teil ein erstes Mal, dass sie nicht mit einem in sie eindringenden Gegenüber zu tun haben. Die Sprengung der

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Institution sorgt dafür, dass die Betreuer nicht allgegenwärtig und allwissend sind. Das haben die jungen Menschen in ihren Familien, insbesondere mit den Eltern, zum Teil ganz anders erlebt. Viele der jungen Menschen, die in der Wohngruppe leben, tun sich allerdings mit den Übergängen zwischen den Orten außerordentlich schwer. Besonders am Morgen, wenn der Aufbruch zur Arbeit oder zur Schule ansteht, gibt es viele spannungsgeladene Momente. Die Nachtbereitschaft der Wohngruppe hat Schwerstarbeit zu leisten. Unterstützung erfährt sie ab etwa sieben Uhr durch die in der Wohngruppe eintreffenden Arbeitbegleiter; dies sind Kollegen des Arbeitsprojekts des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit. Sie sollen den Übergang zwischen Wohnen und Arbeit haltgebend gestalten. »Im Gegensatz zum Bereich des Wohnens, der als ein dauerhafter Ort des Lebens konzipiert ist, wird den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Arbeitsprojekts eine zeitlich befristete Mittler- und Vermittlerrolle zugedacht, ohne eigenen Ort innerhalb der Institution. Sie sollen vielmehr als vorübergehende Begleitung zwischen den Orten der ›Gesprengten Institution‹ Hagenwört tätig sein. Ihr Ziel ist es, sich möglichst schnell überflüssig zu machen. Benötigt werden sie in den Übergängen zwischen Wohn- und Arbeitsort für eine Übergangszeit, da ihre Begleitung niederschwelligere Zugänge für die BewohnerInnen zu bestehenden Arbeitsstrukturen eröffnet« (Krüger, 2000, S. 66). Die Sprengung der Institution ist eine – wie wir denken – konstruktive Provokation. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollen die Einrichtung sehr wohl als eine haltgebende erfahren, dennoch möchten wir sie darin bestärken, die Trennung zu wagen, diese anzuerkennen. Das Anerkennen einer solchen Trennung, die symbolisch durch das Fort-Da- Spiel zwischen den Orten zum Ausdruck kommt, soll dazu beitragen, dass die jungen Menschen sich als Subjekte erleben (s. Abb. 1). Sie sollen in der Trennung bzw. in der Abwesenheit von einem Ort den Mangel erfahren (es gibt keine fortwährende Vollversorgung). Erst aus diesem Mangel heraus entsteht bei den Betroffenen die Fähigkeit, Wünsche zu entwickeln und zu formulieren. Die Jugendlichen sollen ermutigt werden, das Leben (nochmals) zu riskieren. Natürlich erfahren die Bewohner der Gesprengten Institution Hagenwört eine weitreichende Unter-

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stützung. In vielen Situationen des Alltags übernehmen wir sog. Hilfs-Ich-Funktionen, wir versuchen unaufdringlich bestimmte (Fort-)Bewegungen zu ermöglichen. Immer wieder sind es die so genannten Übergänge, die durch dichte Begleitstrukturen – nicht nur vom Arbeitsprojekt – gesichert werden, im Sinne einer haltgebenden Unterstützung. Ein Ziel verlieren wir aber nie aus den Augen: nämlich uns möglichst überflüssig zu machen. dienstleistungsbezogene Aktivitäten (z. B. Friseur)

(therapeutische) Einzelstunden durch Ambulante Dienste

Einkäufe für Haushalt

Psychiater in freier Praxis Wohngruppe Hagenwört

Behörden-/ Arztbesuche

Arbeitsprojekt Schule, Ausbildung, Beruf

Familie, Freunde

Hobby, Freizeit, Verein

Abbildung 1: Das Fort-Da-Spiel in der Gesprengten Institution Hagenwört

Das 1993 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ernüchterte aber die Anstrengungen, den Bewohnern der Wohngruppe Hagenwört einen dauerhaften Ort zum Leben zu schaffen. Das Leben bzw. die Aufenthaltsdauer wird nicht nur von der je konkreten Individuallage der Betroffenen bestimmt, sondern auch von den sehr formalen Rahmenbedingungen. Das Lebensalter spielt hier eine bedeutende Rolle, denn nach Vollendung des 21. Lebensjahres sehen sich die Jugendämter als Kostenträger der jeweiligen Maßnahmen nicht mehr in der Pflicht. Die Entwicklungsretardierung der schwerst seelisch behinderten Menschen findet im § 35a des KJHG zwar insofern Berücksichtigung, als in

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Ausnahmefällen eine stationäre Eingliederungshilfe weiter erfolgen kann, in der tatsächlichen Umsetzung dieses Paragraphen durch die jeweils zuständigen Jugendämter sind die Erfahrungen allerdings sehr enttäuschend.

Therapeutische Arbeit Trotz solcher Hindernisse versuchen wir in einem therapeutisch anmutenden Milieu eine gewisse therapeutische Enthaltsamkeit zu leben, die nach einer gewissen Zeit aber dennoch therapeutisch wirkt bzw. wirken soll. Dieser Satz könnte durchaus als ein Paradigma unserer Arbeit angesehen werden. Die einzelnen Begegnungen mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass wir uns viel Zeit nehmen für das Verstehen ihrer autistisch-psychotischen Symptomatik. Mannoni sagte bereits vor mehr als dreißig Jahren: »Die Psychose ist bei weitem kein krankhafter Prozeß, sondern zunächst und vor allem eine Reaktion der gesamten Persönlichkeit auf eine außerordentlich konflikthafte Situation« (Mannoni, 1976, S. 253). Und diese zu erkennen und zu begreifen ist nicht einfach! Wir lassen uns tagtäglich auf eine Beziehungsarbeit ein, wo wir in der Übertragung mit katastrophischen inneren Zuständen unserer jeweiligen Gegenüber zu tun haben. In einem Alltag des Handelns und Sprechens, des Teilens und Austauschens geht es zunächst um einen sehr banalen Anspruch, der gleichsam existenzbedeutend ist: Wir möchten den jungen Erwachsenen das Überleben ermöglichen. Wir stellen uns zur Verfügung, wir lassen uns verwenden, versuchen verlässliche Beziehungen aufzubauen. Wir, das sind sechs Mitarbeiter (alle sind Sozialpädagogen, was aber eher ein Zufall denn die Regel ist) sowie sechs studentische Nachtbereitschaften. Das Tagdienstteam unterteilt sich in zwei Tandems (jeweils Mann/Frau) und einen Brückendienst. Die Tandems (100%-Stellen) arbeiten jeweils von Donnerstag bis zum Freitag der nächsten Woche, also neun Tage en bloc, danach folgen fünf freie Tage, die Donnerstage und Freitage sind Übergabe- und Supervisionstage, der Brückendienst (zwei 50%-Stellen) arbeitet von Montag

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bis Freitag. Die Nachtbereitschaften arbeiten im Schnitt fünf bis sechs Nächte monatlich und treffen sich mit dem Tagdienst regelmäßig zu Besprechungen und Fortbildungen und natürlich zur Supervision. In der Arbeit mit den beziehungsgestörten jungen Menschen hat der Umgang mit Nähe und Distanz eine zentrale Bedeutung. Die Mitarbeiter stellen sich mehr oder weniger den jungen Erwachsenen zur Verfügung, sie lassen sich verwenden. Diese spalten Gefühle ab, sie projizieren sie auf die professionellen Bezugspersonen. Es sind Gefühle, die sie anscheinend selbst nicht mehr ertragen können. Diese abgespaltenen bedrohlichen Ich-Anteile werden von uns, die im Gesamtsetting mitwirken, aufgenommen. Wir bilden sozusagen einen Container. Entscheidend ist nun in der Folge, dass wir in der Lage sind, zwischen den eigenen Gefühlen und den in uns lancierten Projekten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu unterscheiden und zu trennen. Hierzu dient die psychoanalytische Supervision. »Bei so viel Räumen des Agierens muss es auch institutionalisierte Räume der psychoanalytischen Reflexion geben, die aus dem Alltagsgeschehen und seinem Handlungsdruck herausgehoben sind. Einer dieser Räume ist sicherlich die intensive psychoanalytische Supervision […] Eine ihrer wichtigsten Aufgaben besteht darin, den psychoanalytischen Sozialarbeitern durch Einsicht in die inneren Prozesse wieder Lust zu machen auf den handelnden Umgang mit den Bewohnern der Wohngruppe« (Günter, 2000, S. 179). Denn nichts wäre schlimmer als das, wovor Bruno Bettelheim einmal warnte, dass man nämlich bei dieser intensiven Beziehungsarbeit nichts mehr zu fürchten habe als eine »emotionale Verheerung«, die in einem angerichtet werden könne (Bettelheim, 1975, S.  282). In der Gesprengten Institution Hagenwört gibt es unterschiedliche Supervisionsarrangements. Das Wohngruppenteam, das Arbeitsprojekt und die Kollegen, die die Einzelstunden anbieten, haben sowohl Team- als auch Einzelsupervision. Ferner kommen die Repräsentanten dieser unterschiedlichen Orte regelmäßig zu einer fallzentrierten Gruppensupervision zusammen (Fuchs, Maas und Nonnenmann, 1994). Diese dient vor allem dazu, die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Bewohner, die ja

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zu beträchtlichen Spaltungen führen können, zusammenzutragen. Das fragmentierte Ich der jungen Menschen soll ein Containment erfahren. Die gemeinsame Supervision der Repräsentanten unterschiedlicher Orte soll zu einer größeren Kohärenz des Subjekts beitragen. Die Psychoanalytische Sozialarbeit will somit Bedingungen schaffen, unter denen subjekthaftes Handeln möglich wird. »Sie bedient sich dabei in ihrem Kern der Essenz der psychoanalytischen Arbeit, indem sie Bedeutungen, Sinnzusammenhänge gemeinsam mit dem Patienten in einer Weise rekonstruiert, die ihm neue Zugänge zur Welt und zu den menschlichen Beziehungen ermöglicht. Dies geschieht in einer Situation, in der sowohl der psychoanalytische Sozialarbeiter als auch der Patient häufig am Rande der andauernden Vernichtung sinnhafter Bedeutungs- und Beziehungszusammenhänge steht. Nimmt man die Rekonstruktion von Bedeutung ernst, kann es hier, wie in der klassischen psychoanalytischen Behandlung auch, streng genommen nicht darum gehen, kausalgenetische Erklärungen für die Erkrankung zu liefern. Sondern es geht darum […], auf der Annahme des Unbewussten und seiner Bedeutung ein erfolgreiches Handeln aufbauen zu können« (Günter, 2000, S. 173). In diesem Sinne hat sich die Psychoanalytische Sozialarbeit stets des Spannungsverhältnisses zwischen notwendigem sozialarbeiterischem Handeln und ebenso notwendiger psychoanalytischer Reflexion der unbewussten Motive für das Handeln der Jugendlichen (aber auch der Sozialarbeiter) bewusst zu bleiben. Das ist praktisch der Kern allen Tuns und Denkens in der Psychoanalytischen Sozialarbeit.

Arbeit mit Träumen: Fallbeispiel So gehört selbstverständlich auch die Traumarbeit und hier vor allem die Beschäftigung mit den eigenen Träumen zum Alltag des Psychoanalytischen Sozialarbeiters. Als Schlafende haben wir uns zwar von der realen (Hagenwört-Wohngruppen-)Welt weitgehend zurückgezogen, dennoch reagieren wir mit Traumbildungen auf innere und äußere Reize. Es sind vielfach Tagesreste, die auch wäh-

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rend des Schlafs aktiv bleiben und uns aufzuwecken drohen. Und vielleicht geschieht dies ja noch in einer besonders dramatischen Weise, weil wir junge Menschen begleiten, die ihre psychotischen Symptome agierend in Szene setzen. Es werden jedenfalls in den Supervisionen durchaus solche Traumgeschehen behandelt, in denen Bewohner oder Bewohnerinnen der Wohngruppe mehr oder weniger unverstellt vorkommen und bei denen die Vermutung naheliegt, dass es sich um einen Gegenübertragungstraum handeln könnte. Eine Zeitlang wurde in den Supervisionen in auffälliger Form über eigene Träume verdichtet berichtet, und zwar zu einem Zeitpunkt, als wir in der Wohngruppe einen jungen Mann begleiteten, der eine tiefgreifende paranoid-psychotische Erkrankung hatte. Dieser 21-jährige Mann, ich nenne ihn Daniel, lebte vier Jahre in unserer Einrichtung. Er hat zwei jüngere Brüder. Von seiner Vorgeschichte erfahren wir, dass sie im Wesentlichen unauffällig verlief. Allerdings berichtet die Mutter, dass ihr der Junge immer Leid tat, wenn er versuchte, sich krabbelnd fortzubewegen. So nahm sie ihn meist auf den Arm und trug ihn umher. Ähnliches berichtet sie von den ersten Stehversuchen ihres Sohnes. Auch hier konnte sie es nicht mit ansehen, dass der Sohn möglicherweise seinen Stand verlieren könnte, und stützte ihn ab – wenn sie es mitbekam. Die Kindergartenzeit und die sich daran anschließende Schulzeit verliefen zunächst unauffällig. Es konnte nur davon berichtet werden, dass sich Daniel schneller als andere Kinder zurückzog. Als weiterführende Schule besuchte Daniel eine Realschule. Ab der siebten Klasse wurde Daniel schließlich auffälliger. Er beleidigte seine Mitschüler und auch Lehrer und stieß verbale Drohungen aus. Er selbst erlebte sich aber nie als Täter, sondern ausschließlich als Opfer von gezielten Mobbingprozessen. Zu Hause zog er sich auf sein Zimmer zurück, verschloss es häufig und verweigerte schließlich jede konstruktive Kontaktaufnahme mit den Eltern. Auch die Geschwister fanden mit dem Bruder keinen Gesprächsfaden mehr. Nur noch beim Essen kam es zu Begegnungen, allerdings bedrohte Daniel hier nun auch seine gesamte Familie, sah sich ständig benachteiligt und verweigerte schließlich den Schulbesuch.

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Die Familie suchte daraufhin Hilfe. Daniel wurde zu diagnostischen Abklärungsprozessen und anschließenden stationärpsychiatrischen Therapieprozessen in drei verschiedenen jugendpsychiatrischen Einrichtungen aufgenommen, ohne dass jedoch Entscheidendes bewirkt werden konnte. Der mittlerweile 16-jährige Jugendliche entwickelte eine zunehmend tiefer greifende paranoide Störung und bedrohte immer heftiger seine Mitmenschen, von denen er sich vornehmlich verkannt und ausgenutzt fühlte. Zudem belastete ihn ein ungeheures Übergewicht. Der beinahe 1,95 Meter große Daniel wog zu diesem Zeitpunkt ca. 175 kg. Die Eltern sahen sich nicht mehr in der Lage, Daniel eine Rückkehr in die Familie zu ermöglichen – eine Haltung, die ihre Begründung in den immer zahlreicheren, sehr schweren familiärer Konflikten fand und dazu führte, dass ein Sachverständigengutachten eine dauerhafte Fremdunterbringung empfahl. So kam es schließlich zu einem einjährigen stationären Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Tübingen, von wo aus er nach einem längeren Anbahnungs- und Kennenlernprozess in die Gesprengte Institution Hagenwört einzog. Daniel hat sich nur zögerlich auf unsere Einrichtung einlassen können. Sämtliche Angebote, Begegnungen oder Gespräche wurden von ihm äußerst misstrauisch aufgenommen. Vielfach entwickelte er scheinbaren Belanglosigkeiten gegenüber eine paranoide Haltung. So sprach beispielsweise ein Mitarbeiter dem jungen Mann wörtlich »ein dickes Lob« aus, weil er an seinen Tischdienst gedacht hatte. Daniel reagierte auf diese Aussage fürchterlich erzürnt: »Auf mein Gewicht will ich nicht noch einmal angesprochen werden. Komischer Zufall, mit deiner blöden Lobhudelei. Pass auf, dass ich nicht bald einmal ein Gewaltvideo drehe, und zwar mit einem coolen Titel: ›Daniel G., bitte werde zum Mörder!‹« Anschließend marschierte er, einen Song der Böhsen Onkelz singend, durch die Wohngruppe: »Es regnet Kampf ums Überleben. Es regnet Wut, hier gibt es keine Arche, wir ertrinken in Blut!« Phasenweise schien es unklar, ob Daniel je noch einmal in die Lage kommen könnte, zumindest ein Minimum an Motivation und Anerkennung gegenüber den Angeboten und Menschen aufzubringen. Stieß er zum Beispiel aufgrund seiner Größe gegen die etwas niedere Türoberkante unseres Geräteschuppens, gab er die

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Schuld einem Mitarbeiter der Wohngruppe und drohte in der Folge an, alles niederzumetzeln, was sich ihm zukünftig nochmals in den Weg stellen sollte. Er war in solchen Situationen meist über eine längere Zeit erregt, was selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Dynamik der Bewohnergruppe hatte. Ferner zeichnete er sich in der Wohngruppe durch sein geradezu provokantes Schneckentempo aus. Aufgaben in und um den Haushalt erledigte er zumeist nur unter Protest. Er fühlte sich durchgehend benachteiligt, wobei seine andauernden Missfallensbekundungen von einigen Mitarbeitern als primitive Kontaktaufnahmeversuche erlebt wurden, von anderen hingegen als reine Provokation. Zu dieser Zeit berichteten in den Supervisionen einige Mitarbeiter von ihren Träumen, die eine direkte Identifizierbarkeit zuließen und somit einen Zugang zu den unterschiedlichen Projektionen lieferten, die die Begegnungen mit Daniel auslösten; so zum Beispiel der Traum einer Kollegin: Ich laufe. Ich werde von etwas nicht Konkretem verfolgt. Ich drehe mich um, ohne zu erkennen, was hinter mir ist. Es ist irgendwie angsteinflößend. Ich mache dunkle Umrisse aus, dann erkenne ich düster eine dicke, fette Taube. Ich bin zunächst beruhigt, weil es nur eine Taube ist. Ich denke mir, dass Tauben ja eigentlich zutraulich sind, ich ihr etwas zum Füttern geben kann. Die Taube kommt immer wieder näher, doch dann verschwindet sie wieder. Es kommt plötzlich zu einer eigentümlichen Kontaktaufnahme, weil sie anfängt zu picken. Ich versuche sie wegzuschieben, es kommt mir alles vor wie in Zeitlupe. Alles wirkt auf mich zäh, langsam und schrecklich anstrengend. Ich versuche die Taube wegzutreten, nach ihr zu schlagen. Je länger der Traum anhält, desto mehr verändern sich die Umrisse. Aus dem Federkleid entschlüpft allmählich – und das weiter wie in Zeitlupe – ein Mensch. Ich will ihn erkennen, gleichzeitig möchte ich mich von ihm entfernen, möchte von ihm loskommen, aber er klebt an mir, ohne dass er greifbar oder erkennbar wäre. Und von einem Kollegen hörten wir den folgenden Traum: Ich befinde mich im Garten der Wohngruppe auf einem Liegestuhl. Ich nehme ein geschäftiges Treiben um mich wahr. Es sind viele Geräusche zu hören. Ein Geräusch kommt immer näher. Ich empfinde es bedrohlich, weiß es aber überhaupt nicht einzuordnen. Wie aus dem Nichts steht plötzlich ein monströser Schatten vor mir. Er

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hat eine Kettensäge in der Hand und wirkt irgendwie wie aus einem Science-Fiction entstiegen. Er bedroht mich mit der laufenden Säge, will meinen Kopf, Blut soll fließen. Ich erschrecke zutiefst, wache glücklicherweise auf; alles nur ein Traum! In der Supervision arbeitete das Team zunächst assoziativ, indem der Fokus des Supervisors auf die manifesten Trauminhalte »Taube« einerseits und »Kettensäge« andererseits gerichtet wurde. Taube: grau, wenig bunt, kein süßes Tier, man scheucht sie weg, Tauben treten überall auf, Tauben machen ätzenden Schmutz, Tauben kommen immer dann, wenn es etwas zu futtern gibt. Kettensäge: wenig real, eher taucht sie in Computerspielen auf, niederwalzend, radikal, zerstückelnd, Kettensägenmassaker, Kinofilm, furchteinflößend, Gruselnachtwanderung, macht unheimliche Geräusche. Die Taube in dem Traum wird von der Mitarbeiterin nach dem Aufwachen sofort mit Daniel in Verbindung gebracht und von ihr sehr stark mit unangenehmen Empfindungen assoziiert. Das Tier wird einerseits als farblos, wenig vielfältig oder gar lebendig, andererseits als etwas erlebt, das nach Futter giert und dadurch Anspannungen verursacht und teilweise angsteinflößend ist. Am Abend zuvor sei Daniel etwa eine Stunde mit der Kollegin zusammengesessen und es sei schwer gewesen, ihn schließlich dazu zu bewegen, sich selbst zu beschäftigen bzw. die sich immer wiederholende Diskussion um Kaba und Nutella zu beenden. Die Mitarbeiter berichten in der Supervision einerseits von Mitleidsgefühlen, ihn versorgen, sich um ihn kümmern zu wollen, andererseits aber vor allem von einem latenten Unlustgefühl, sich auf die von der Kollegin als »Herr-Knecht-ähnlich« empfundene Beziehung mit Daniel einzulassen. Es sei mit ihm »schrecklich anstrengend«, wie auch Daniel jede Bewegung mehr als anstrengend empfinde. Bereits die Kontaktaufnahme wird als »ein unangemessenes eindringendes Picken am eigenen Körper« erlebt. Gleichzeitig wurde auch von einem steten »Gefühl der Unnahbarkeit Daniels echtem Kern« gegenüber berichtet. Dieses Gefühl wird von der Langsamkeit, mit der Daniel seinen Mitmenschen begegnet, bestärkt und löst oft Wut ihm gegenüber aus. In der Supervision wurde dann schließlich herausgearbeitet, dass die Taube als ein Symbol größter innerer Ambivalenz im Sinne des Hin-undHer-gerissen-Seins zwischen Versorgtwerden und Zelebrieren des

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Stillstands einerseits und anstrengendem Aufbruch und erkennbarer Entwicklung andererseits gedeutet werden kann. Der Kollege berichtet, er habe einen Traum gehabt, nachdem Daniel am Tag zuvor am Abendessenstisch seinen Phantasien über ein Kettensägenmassaker an eben diesem Mitarbeiter freien Lauf gelassen hatte. Der Kollege erwähnt zunächst eine »eigenartige emotionale Unberührtheit« im Traum auf dem Liegestuhl. Er fühlte sich zunächst als Zuschauer eines Films, dessen Hauptdarsteller er zufällig selber war. Erst mit etwas zeitlicher Verzögerung habe er sich bedroht gefühlt. In der Supervision wurde die Kettensäge – im Gegensatz zu der wenig lebendigen Taube aus dem vorherigen Traum – als Symbol für die nach Außen projizierte, wenig (be-) greifbare existentielle Angst gedeutet, eine Deutung, die uns zu diesem Zeitpunkt sehr beeindruckte, weil wir uns im Team häufig fragten, warum wir Daniels wutschnaubende Ankündigungen hinsichtlich seiner bevorstehenden Amokläufe und Gewalttaten für wenig realitätsnah erachteten, diese uns also nicht wirklich greifbar erschienen. Der Gegenübertragungstraum rückte uns Daniels Angst sehr viel deutlicher ins Bewusstsein und damit in den Alltag. Auch der Taubentraum wurde uns nun in seiner Bedeutung und in seinen Bezügen klarer. Wir waren gleich zu Beginn von Daniels Aufenthalt in der Wohngruppe beeindruckt, wie sich die Begegnungen mit ihm in oft unerträglicher Weise in die Länge zogen. Wir begriffen diese Langsamkeit aber vor allem als einen Tribut an sein enormes Übergewicht, das schon eine manifeste Kurzatmigkeit provozierte. Der Gegenübertragungstraum erzeugte nunmehr im Team ein besonderes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer differenzierten Gestaltung von Mobilität bei Daniel. Ein tragendes Motto für den weiteren Verlauf der Begleitung Daniels oder, besser gesagt, eine zentrale Fragestellung der therapeutisch-pädagogischen Arbeit mit Daniel ergab sich somit aus der zusammengeführten Interpretation der Symbolik beider Träume. Wir fragten uns fortan, wie man dem jungen Mann Mobilität und Entwicklungsaufgaben nahebringen könnte, ohne bei ihm existentielle Ängste und damit entsprechende Abwehrmechanismen in Gang zu setzen, womit der Bogen zum Alltagsleben der Wohngruppe, also der Lebenswelt von Daniel, wieder gespannt war.

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Lebensweltorientierte Soziale Arbeit und psychoanalytische Reflexion Hier trifft die psychoanalytische Deutung auf die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, die ihren Ausgang in den gegebenen Lebensverhältnissen der jungen Menschen nimmt, diese also dort abzuholen versucht, wo sie in ihrer Entwicklung gerade stehen (Grunwald und Thiersch, 2004). Die psychoanalytische Reflexion ergänzt hier die Methodik der sozialpädagogisch-hermeneutischen Diagnostik, jenem Fallverstehen, dessen Grundlage die offenen (interviewähnlichen) Gesprächssituationen mit den jeweiligen jungen Erwachsenen sind. Auch wenn diese ein Handicap haben, sind sie in der Lage, sehr vielschichtige verbale wie auch nonverbale Mitteilungen über ihre Lebensentwürfe und Weltanschauungen zu machen (Peters, 2002). Eine Aufgabe der Sozialpädagogik bzw. Sozialarbeit besteht darin, zwischen den Entwürfen, den Lebensthemen der jungen Menschen einerseits und den Normalitätserwartungen andererseits zu vermitteln, denn trotz der Individualisierung von Lebenslagen und -stilen lassen sich allgemeine Entwicklungsaufgaben nachweisen, von denen eine gelungene Sozialisation abhängt. So hat sozialpädagogisch-hermeneutisches Fallverstehen zunächst und insbesondere herauszuarbeiten, an welchen Entwicklungserwartungen die betroffenen Jugendlichen in ihren spezifischen Milieus (z. B. Schule, Familie, Peergroup) gescheitert sind oder bei welchen sie überfordert waren, um dann diverse im aktuellen Alltag – also in der nunmehr zum Teil vorgegebenen und Begleitungen anbietenden Lebenswelt – eingebundene pädagogische Aufgabenstellungen gemeinsam mit den jungen Erwachsenen zu konstruieren. Hier sollten entsprechende Tätigkeitsangebote zur Verfügung gestellt werden, die nicht neuerlich überfordern, weshalb an dieser Stelle der Hinweis auf ein entsprechendes therapeutisch-pädagogisches Milieu nur noch einmal unterstrichen werden kann, trotz aller Sprengung der Institution. Die psychoanalytische Reflexion sensibilisiert in einem enormen Maß für die Geschehnisse im Alltag, in diesem Fall für Daniels Lebensthemen Angst und Mobilität. Es scheint so möglich, den Alltag gewissermaßen zu lesen, den betreffenden Jugendlichen

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bezüglich seiner Lebensthematik zu hören (im Handeln und Sprechen des Alltags). Betrachtet man mit diesem Wissen die Begegnungen Daniels in seinen unterschiedlichen Lebensfeldern, so spiegelt sich hier eine Vielzahl von Handlungen wider, die die Themen Angst und Mobilität aufnehmen. In der Wohngruppe beispielsweise erleben wir Daniel immerzu in äußerster Anspannung. Er möchte wohl einerseits Kontakte mit den Mitbewohnern der Einrichtung haben, er stellt sich aber bei seinen Kontaktversuchen äußerst unbeholfen an, was häufig dazu führt, dass ihm die Altersgenossen ablehnend gegenüber auftreten. Beispielsweise will er »cool« wirken, indem er blutrünstigste Gedankenwelten preisgibt. Darüber hinaus macht er sich unbeliebt, weil er eine Herr-Knecht-Mentalität offenbart und in einer arroganten Herrenhaltung die Wohngruppenatmosphäre negativ beeinflusst. Auch außerhalb des geschützten Wohngruppenrahmens hat Daniel kaum Kontakte. Hin und wieder trifft er sich mit einem ehemaligen Psychiatriepatienten, den er als seinen Freund bezeichnet. Insgesamt haben wir den Eindruck, dass bei Daniel viele Ängste bezüglich der Begegnung mit Altersgenossen bestehen und er eigentlich von vornherein mit seiner unzugänglichen Haltung kontinuierliche oder gar intensivere Treffen abblockt. Sein monströses Erscheinungsbild wirkt in diesem Zusammenhang wie ein undurchdringlicher Schutzpanzer. Im Alltag der Gesprengten Institution Hagenwört greifen wir diese Thematik zunehmend auf. Um aber in keine verfolgende Position zu geraten, meiden wir Begegnungen, die bei Daniel gleich wieder Misstrauen auslösen könnten, dass man von ihm irgendetwas wolle. Vielmehr versuchen wir, die Begegnungen zu öffnen, triangulierend in dem Sinne zu arbeiten, dass wir mit der Tübinger Sportmedizin kooperieren, die eine Adipositas-Plattform anbietet. Daniel besucht mit unterstützender Hilfe der Mitarbeiter der Wohngruppe regelmäßig eine Adipositas-Trainingsgruppe. Hier erfährt er ein spezielles, auf ihn abgestimmtes Körpertraining, wird zudem über Folgeschäden aufgeklärt, die Übergewicht auslösen kann, und er nimmt an einer Ernährungsberatung teil. Er hat sich nach einigen Monaten eine Fahrgemeinschaft organisiert, mit der er gemeinsam zu den Trainingsangeboten fährt. Dieses Angebot

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macht er mehr und mehr zu seiner eigenen Sache, weshalb wir hier im Rahmen unserer Hilfs-Ich-Funktion in den Hintergrund treten können. So erstaunt und überrascht es uns, als wir hören, dass er seine körperliche Schwerfälligkeit auch an seinem Arbeitsplatz, dem Berufsbildungsbereich einer Werkstätte für Menschen mit psychischer Erkrankung, konkret thematisiert: Zweimal wöchentlich nimmt er hier fortan das Sportangebot der Werkstatt wahr und begeistert sich in einem Zentrum für gesunde Bewegung für einen Hometrainer. Darüber hinaus macht er diverses Arm- und Beintraining. Sein Gewicht kann Daniel innerhalb von einem Jahr um ca.15 kg auf etwa160 kg reduzieren. »Ich fühle mich wacher«, kommentiert er seine körperliche Verfassung, führt diesen Zustand aber auch auf eine weniger hohe Dosierung seiner Psychopharmaka zurück. Seine psychiatrische Versorgung obliegt dem Konsiliarpsychiater der Wohngruppe. In einem Vier-Wochen-Rhythmus besucht Daniel den Psychiater. Er wünscht sich auch hier allmählich seltenere Begleitung durch uns, »da ich schon selber mit ihm reden kann«. Daniel kann anerkennen, dass die ihm zugedachten Psychopharmaka hilfreich sind und sie ihn den Tag erträglicher gestalten lassen. Er könne sich inzwischen sogar vorstellen, die Medikamente eigenverantwortlich einzunehmen. Die psychotherapeutischen Einzelstunden werden von einem Mitarbeiter der Ambulanten Dienste des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit angeboten. Das geschieht auf Wunsch von Daniel, der sich nach etwa einem Jahr Aufenthalt in der Gesprengten Institution Hagenwört einen männlichen Therapeuten wünscht, weil er bei diesem seine Phantasien und Gedanken besser aufgehoben sieht. Ihm würde es leichter fallen, seine reichhaltige und zum Teil bedrohliche innere Welt mit einem Mann zu teilen. Wir unterstützen ihn bei der Umsetzung seines Vorhabens, indem wir teilweise auch hier wieder die Übergänge von einem zum anderen Ort sichern. Zunehmend gewinnen wir den Eindruck, dass Daniel den Alltag meist in solchen Fällen bedrohlich zuspitzt, wenn er das Gefühl bekommt, dass von ihm etwas erwartet wird, dass er auf Verbindlichkeiten festgelegt werden könnte. In einer solchen für ihn offenbar wieder einmal zu engen Situation tobt er und droht den finalen

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Amoklauf an. Allerdings lässt er sich zu einer bedeutsamen Aussage hinreißen: »Ich denke doch nicht daran, euch zu zeigen, dass ich etwas kann, ihr legt mich dann noch darauf fest und verlangt Dinge von mir, dann soll ich plötzlich acht Stunden arbeiten!« In den folgenden Wochen organisieren wir gemeinsam mit Daniel einen Umzug in die kleine Trainingswohnung unserer Einrichtung, die sich unter dem Dach der Wohngruppe befindet. Wir wollen zukünftig nicht immer in der Rolle von Bittstellern sein, die von ihm, wie er es empfindet, unmögliche Dinge verlangen, sondern Daniel soll in die Lage kommen, Mängel wahrzunehmen und Wünsche formulieren zu können. Tatsächlich ließ sich Daniel auf diese neuen Erfahrungen ein. Er organisierte seinen Alltag nicht mehr nur im Sinne einer stetigen Abwehrhaltung, die sich in den angesprochenen Misstrauenskundgebungen, der ständigen Abwertungen der ihn umgebenden Menschen und der Destruktion banaler Alltagsanforderungen ausdrückte, sondern wir erlebten bei ihm eine zaghafte Neugier, eine vorsichtige Öffnung bzw. Hinwendung zu sozialen Prozessen. Daniel entwickelte allmählich eine realistischere Beziehung zur Zeit, d. h. zu Zeitabläufen. Er begann seinen Tag zu planen, und zeitliche Organisationsabläufe interessierten ihn stärker. Die Anteile (eigen)verantwortlichen Handelns nahmen rasch zu. Letzteres drückte sich vor allem darin aus, dass Daniel von uns zunächst im zweitägigen, später im viertägigen Rhythmus Kostgeld bekam (er musste sich dieses im Büro abholen und quittieren) und fortan ein Selbstversorger wurde. Aus diesen Alltagserkenntnissen heraus, die in vielfältiger Weise Bezüge zu den Themen der psychoanalytischen Reflexion erlaubten, entwickelten wir weitere Aufgabenstellungen, die wir innerhalb unseres sozialpädagogisch-therapeutischen Settings in den folgenden Monaten akzentuierten: − Weiterer vorsichtiger Abbau begleiteter Wege (so auch der zwischen Wohngruppe und Arbeitsplatz durch das Arbeitsprojekt), verbunden mit einer Reaktivierung seines Fahrrads, das seit Beginn seines Aufenthaltes in der Wohngruppe ungenutzt im Fahrradschuppen stand. − Weitere Stärkung des Bereichs der Selbsttätigkeit und Verantwortung, hier insbesondere das Erinnern daran, dass es Daniel

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ist, der in Verantwortung steht. So vereinbarten wir mit ihm, dass er bei Fehlzeiten im Arbeitsbereich oder Versäumnissen im Rahmen von klaren Absprachen sein wöchentliches Taschengeld in der Tübinger Geschäftsstelle des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit im 10 km entfernten Tübingen ausgezahlt bekäme und nicht mehr in der Wohngruppe direkt. Darüber hinaus erarbeiteten wir gemeinsam mit ihm verlässliche Pläne, um für ihn kontrollierbare Alltagsabläufe zu gewährleisten, die seine (sozialen) Ängste binden halfen. − Schließlich vereinbarten wir regelmäßige Rückmeldungen über die Be- und Empfindlichkeiten im alltäglichen Zusammenleben, damit Daniel eine konkretere Vorstellung darüber bekommen konnte, welche Reaktionen seine Verhaltenmuster bei den jeweiligen Mitmenschen provozierten. Er sollte darin unterstützt werden, die Perspektive des signifikanten Anderen zu übernehmen (Zweite-Person-Perspektive). Der Aufenthalt von Daniel in der Wohngruppe erstreckte sich, wie schon erwähnt, über insgesamt vier Jahre. Die Entwicklungsaufgaben, die wir um Daniels Lebensthemen Angst und Mobilität im Alltag der Gesprengten Institution Hagenwört einbauten und von denen hier nur einige wenige beispielhaft aufgegriffen werden konnten, führten zu einer Beruhigung seiner Symptomatik, wohl vor allem dadurch bedingt, dass Daniel es geschafft hat, den Menschen weit weniger misstrauisch zu begegnen. Das mag sich zunächst banal anhören, für Daniel (und seine Mitmenschen) sicherte es in gewisser Hinsicht das Überleben. Im Sommer 2009 verließ er die Gesprengte Institution Hagenwört. Seinem Wunsch entsprechend lebt er nun im Rahmen der Eingliederungshilfe in einem Wohnprojekt, wo er ambulant betreut wird und in einer unteren Hilfebedarfsgruppe eingestuft ist. Und, so ist Daniels Perspektive, »vielleicht kann ich irgendwann sogar einmal ganz selbständig leben«.

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Resümee Seit etwa zwanzig Jahren arbeiten wir nun schon in diesem gelungenen Zusammenspiel von Psychoanalyse und Sozialarbeit. Es ist ein großer Luxus, wenn man auf derartige Rahmenbedingungen zurückgreifen kann, wie sie uns seit den Anfängen unserer Gesprengten Institution gegeben sind. Das heißt, wir genießen seit über 18 Jahren fünf Stunden Supervision wöchentlich! Das ist ein hoher finanzieller Aufwand, der ungefähr eine halbe Sozialarbeiterstelle im Monat ausmacht. In Deutschland (aber auch im angrenzenden Ausland) gibt es keine uns bekannte Einrichtung, die in einem vergleichbaren Umfang Supervision als selbstverständlichen Standard (verpflichtend) anbietet. In diesem Sinne ist im Titel dieses Beitrags die ernsthafte Frage eingebaut, nämlich, ob wir uns – zugespitzt formuliert – Träume und das Nachdenken darüber überhaupt noch leisten können und dürfen, ob institutionelle Zeit dafür überhaupt noch vorgesehen ist, ganz abgesehen von den budgetären Mitteln und Möglichkeiten. Wen interessiert es im Rahmen von zeitgeistigen Evaluierungs-, Dokumentations- und Qualifizierungszwängen ernsthaft, dass die Arbeit mit beziehungsgestörten Menschen permanent unser Denken angreift und verordnete Abständigkeit zum notwendigen Arbeitsinstrumentarium in der Sozialarbeit gehört. Die Analyse der Gegenübertragungsträume im Zusammenhang mit Daniel hat im erheblichen Maß dazu beigetragen, die Aura der Gewalt, die von dem jungen Mann ausging, in ein anderes Licht zu rücken, sie nicht in erster Linie als konkrete Bedrohung des Wohngruppenrahmens, sondern als Daniels genuine Angst vor Entwicklung zu lesen. Dieses in der abständigen Reflexion entwickelte Verständnis erspart(e) Daniel mit großer Wahrscheinlichkeit ein Leben in sog. geschützten Einrichtungen. Allgemeiner gesprochen ist die Analyse von Gegenübertragungsträumen ebenso wie die Analyse des gesamten Gegenübertragungsgeschehens in unserer Arbeit mit beziehungsgestörten jungen Erwachsenen unerlässlich, um neben allem manifesten Alltagsgeschehen auch der latenten und oft unbewussten psychischen Kehrseite der Beziehungsdynamik zu einem Verstehen und einer Bearbeitung und so dem jungen Erwachsenen zu einer

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kohärenteren Persönlichkeitsstruktur zu verhelfen. Denn ist schon im normalen Alltag das Sichtbare oft trügerisch, um wie viel mehr gilt das in der Arbeit mit ich-strukturell beeinträchtigten jungen Menschen!

Literatur Bettelheim, B. (1975). Der Weg aus dem Labyrinth. Leben lernen als Therapie. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Freud, S. (1920/1989). Jenseits des Lustprinzips. Studienausgabe, Bd. 3 (S. 213–272). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Fuchs, K., Maas, M., Nonnenmann, H. (1994). Supervisionsarrangements und Lebenswirklichkeiten. Über die psychoanalytisch-pädagogische Arbeit und Reflexion innerhalb einer »Gesprengten Institution«. In Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit (Hrsg.), Supervision in der psychoanalytischen Sozialarbeit (S. 158–177). Tübingen: edition discord. Grunwald, K., Thiersch, H. (Hrsg.) (2004). Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Weinheim u. München: Juventa. Günter, M. (2000). Vom Nutzen des Agierens. In Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit (Hrsg.), Afrika ist um die Ecke. Psychoanalytische Sozialarbeit in der »Gesprengten Institution« Hagenwört (S. 171–179). Tübingen: edition discord. Krüger, C. (2000). Das Arbeitsprojekt. Kernelement, Fragment oder Sprengstück in der Institution Hagenwört? In Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit (Hrsg.), Afrika ist um die Ecke. Psychoanalytische Sozialarbeit in der »Gesprengten Institution« Hagenwört (S. 64–70). Tübingen: edition discord. Mannoni, M. (1976). Ein Ort zum Leben. Die Kinder von Bonneuil. Frankfurt a. M.: Syndikat. Peters, F. (Hrsg.) (2002). Diagnosen – Gutachten – hermeneutisches Fallverstehen. Rekonstruktive Verfahren zur Qualifizierung individueller Hilfeplanung. Frankfurt a. M.: IGfH-Eigenverlag.

Die Autorinnen und Autoren

Klaus-Uwe Adam, Dr. med., Psychiater; Facharzt für Psychosomatische Medizin; Psychoanalytiker in eigener Praxis; Mitglied am C. G. Jung-Institut Stuttgart. Gaetano Benedetti, Prof. Dr. med., ehem. Medizinische Fakultät der Universität Basel; Libero Docente in Mailand und Rom; langjähriger Gastprofessor an der Universität Perugia; Dr. h. c. für Psychiatrie an der Universität Torino. Ingrid Biermann, Dr. med., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie; Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis; Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, der IPA und der DGPT. Günther Bittner, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych.; Psychologischer Psychotherapeut; ehem. Professor für Pädagogik an der Universität Würzburg; Psychoanalytiker in eigener Praxis. Andreas Hamburger, Dr., Germanist und Psychologe; Priv.-Doz. für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel; Psychoanalytiker (DPG) in eigener Praxis; Lehranalytiker und Supervisor der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München. Helmwart Hierdeis, Prof. Dr. phil.; ehem. Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck; Psychoanalytiker in eigener Praxis.

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Die Autorinnen und Autoren

Michael Maas, Dipl.-Päd.; Psychoanalytischer Sozialarbeiter; Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Tübingen; Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck; Supervisor der Österreichischen Vereinigung für Supervision. Diemut Niedecken, Dr. phil. habil.; Psychologische Psychotherapeutin und KJ-Psychotherapeutin (Psychoanalyse); Dozentin für Psychoanalyse am Institut für Musiktherapie in Hamburg. Monika Rafalski, Dipl.-Psych., Analytische Psychotherapeutin in eigener Praxis; Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut Stuttgart. Ellen Reinke, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych.; ehem. Professorin für Psychologie an der Universität Bremen; Psychoanalytikerin. Peter Schneider, M. A., Dr., Priv.-Doz., Lehrtätigkeit u. a. an der Universität Zürich (Psychoanalytische Psychotherapie) und an der Universität Bremen (Psychoanalyse); Psychoanalytiker in eigener Praxis. Edith Seifert, Univ.-Doz., Dr., Psychoanalytikerin in Berlin und psychoanalytische Supervisorin in Berlin, Polen und Südtirol; Privatdozentin für Psychoanalytische Pädagogik an der Universität Innsbruck.