Zwischen Naturrecht und Partikularismus: Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte [Reprint 2013 ed.] 3110173751, 9783110173758, 9783110899825

Die Universalität der Menschenrechte wird seit Jahren zwischen den verschiedenen Kulturkreisen kontrovers diskutiert. Di

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Zwischen Naturrecht und Partikularismus: Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte [Reprint 2013 ed.]
 3110173751, 9783110173758, 9783110899825

Table of contents :
Einleitung
1. Die Grundlegungsfrage in der gegenwSrtigen evangelischen Ethik
2. Menschenrechte und Naturrecht
3. Der systematische Zusammenhang zwischen den beiden beobachteten Phanomenen
4. Zu Disposition und Titel der Arbeit
Teil I: Modelle theologisch-ethischer Grundlegung im Protestantismus des 20. Jahrhunderts
1. Wilhelm Herrmann
1.1. Ansatz und Durchfiihrung von Herrmanns Ethik
1.2. Die Grundlegung der Ethik bei Wilhelm Herrmann
1.3. Wilhelm Herrmann und das Naturrecht
2. Ernst Troeltsch
2.1. Troeltschs Aufgabenbestimmung von Wissenschaft im allgemeinen und Religionswissenschaft im besonderen
2.2. Troeltschs VerstSndnis von Ethik
2.3. Die Grundlegung der chrisdichen Ethik
2.4. Troeltschs Stellung zum Naturrecht
2.5. Troeltschs Konzeption und ihre immanente Infragestellung
2.6. Der Beitrag Ernst Troeltschs zur Grundlegungsdebatte
3. Karl Barth
3.1. Barths Grundlegung der christlichen Ethik im Rahmen seines Verstandnisses von Theologie
3.2. Die Vorziige einer christologischen Grundlegung in Barths Sicht.
3.3. Eine erste kritische Riickfrage
3.4. Die Genese von Barths Programm einer christologisch fundamentierten Ethik
3.5. Barths Stellung zum Naturrecht - Zweite kritische Rückfrage
4. Emil Brunner
4.1. Brunners Stellung in der Frage nach der Grundlegung der christlichen Ethik
4.2. Kritische Wiirdigung von Brunners Position
4.3. Brunners Urteil iiber das Naturrecht
5. Emanuel Hirsch
5.1. Hirschs ethisches Programm in den 20er Jahren
5.2. Die reife Gestalt von Hirschs Ethik in »Ethos und Evangelium«
5.3. Zusammenfassung und kritische Wiirdigung
5.4. Hirschs Stellung zum Naturrecht
6. Trutz Rendtorff.
6.1. Der Aufbau von Rendtorffs »Ethik«
6.2. Die Struktur der ethischen Argumentation bei Rendtorff
6.3. Kritische Wiirdigung
6.4. Rendtorffs Aussagen zum Naturrecht
7. Weitere Modellbeispiele aus der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts
7.1. Dietrich Bonhoeffer: »Ethik«
7.2. Helmut Thielicke: »Theologische Ethik«
7.3. Stanley Hauerwas: »The Peaceable Kingdom«
7.4. Dietz Lange: »Ethik in evangelischer Perspektive«
7.5. Zusammenfassung der Ergebnisse von Teil 1
Teil II: Naturrecht und Menschenrechte
8. Stationen aus der Geschichte des Naturrechtsgedankens
8.1. Sophokles: »Antigone«
8.2. Platon und Aristoteles
8.3. Cicero: »De legibus«
8.4. Thomas von Aquin: »Summa Theologica« I-II, 90-105
8.5. Hugo Grotius: »De iure belli ac pacis« (1625)
8.6. Thomas Hobbes: »Leviathan« (1651)
8.7. Samuel von Pufendorf: »De officio hominis et civis juxta legem naturalem« (1673)
8.8. John Locke: »Two Treatises of Government (1690)
8.9. Kant, Fichte und die Historische Rechtsschule
8.10. G. W. F. Hegel: »Uber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts« (1802/03)
8.11. Rudolf Stammler: »Die Lehre von dem richtigen Rechte«
8.12. Hans Kelsen: »Reine Rechtslehre«
8.13. Gustav Radbruch: »Rechtsphilosophie«
8.14. Die Naturrechtsrenaissance nach 1945
9. Robert Alexys diskurstheoretische Begriindung universaler Menschenrechte
9.1. Die Verbindung zwischen Recht und Moral
9.2. Die diskurstheoretische Begriindung der Moral
9.3. Die diskurstheoretische Begründung universaler Menschenrechte
9.4. Alexys Theorie und die Naturrechtstradition
10. Otfried Hoffes gerechtigkeitstheoretische Grundlegung der Menschenrechte
10.1. Das Konzept der »Politischen Gerechtigkeit«
10.1.1. Jenseits von Rechtspositivismus, Rechtsmoralismus und Naturrecht
10.1.2. Die Legitimation von Recht und Staat
10.2. Die Begriindung universaler Menschenrechte
10.3. Kritische Anmerkungen
10.3.1. Die impliziten Voraussetzungen
10.3.2. Der zu schwache Gerechtigkeitsbegriff
Teil III: Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik
11. Argumente fur eine anthropologische Grundlegung der Ethik
12. Argumente fur einen perspektivischen Ansatz
12.1. Im Umkreis des Kommunitarismus: Michael Walzer und Charles Taylor
12.1.1. Michael Walzer
12.1.2. Charles Taylor
12.2. Schleiermacher
12.3. Religiose Wurzeln
13. Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus
13.1. Transzendentaler Universalismus: Thomas Rentsch
13.2. Rationaler Universalismus: Sibylle TSnnies
13.3. »Vermeintlicher« und echter Relativismus: Klaus Peter Rippe
13.4. Die paradoxe Struktur der Moral: Wilhelm Liitterfelds
14. Die christliche Anthropologie als Bezugspunkt der christlichen Ethik
15. Reprise: Naturrecht und Menschenrechte
15.1. Naturrecht
15.2. Menschenrechte
Literatur
Register

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Friedrich Lohmann Zwischen Naturrecht und Partikularismus

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W Härle · H.-P. Müüer

Band 116

W DE

G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

Friedrich Lohmann

Zwischen Naturrecht und Partikularismus Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte

w DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Lohmann, Friedrich: Zwischen Naturrecht und Partikularismus : Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte / Friedrich Lohmann. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 116) Zugl.: Tübingen, Univ., Habil.-Schr., 2001 ISBN 3-11-017375-1

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde am Ende des Wintersemesters 2000/01 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Habilitationsschrift im Fach Systematische Theologie angenommen. Ich habe sie für den Druck durchgesehen und überarbeitet. Die Veröffentlichung einer solchen über Jahre gewachsenen Arbeit verleitet zum Rückblick, und es versteht sich, daß nach einem erfolgreichen Abschluß Worte des Danks an erster Stelle stehen. Danken möchte ich zunächst Herrn Prof. Dr. Ellert Herms. Er hat meine Studien nicht nur angeregt und begleitet; er hat sich darüber hinaus auf vielfältige Weise für mich eingesetzt und nicht zuletzt das Erstgutachten für die Fakultät angefertigt. Das zweite Gutachten schrieb Herr Prof. Dr. Eberhard Jüngel D.D. Ihm danke ich für seine hilfreichen Hinweise, die mir zu manchen Präzisierungen in der nun vorliegenden Fassung Anlaß gaben. Für finanzielle Unterstützung, ein dreijähriges Habilitandenstipendium sowie eine großzügige Druckkostenbeihilfe, gilt es der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken. Den Herausgebern der »Theologischen Bibliothek Töpelmann« danke ich fur die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe sowie den Mitarbeitern des Hauses De Gruyter fur die gute Zusammenarbeit. Wichtig war auch der Kontakt mit Studierenden in Tübingen, wie er mir durch den von der Fakultät erteilten Lehrauftrag möglich wurde. In diesen Dank einschließen möchte ich auch die Mitarbeiterinnnen und Mitarbeiter am Tübinger Institut für Christliche Gesellschaftslehre sowie die Mitglieder des zugehörigen Doktorandenkolloquiums. Ich danke unseren vier Rindern für die Geduld, mit der sie meine häufige - wenn schon nicht körperliche, so zumindest geistige - Abwesenheit akzeptiert haben. Ich bin gespannt auf ihr Urteil, wenn sie irgendwann einmal einen Blick in dieses Buch werfen werden. Meiner Frau sage ich Dank für die Begleitung und Unterstützung in all den Jahren. Noch wesentlich länger begleiten und unterstützen mich meine Eltern, Christa und Hans-Bernhard Lohmann. Mein Vater hat meine Forschungen immer mit Interesse verfolgt und den Abschluß des Manuskripts noch erlebt. Seit nunmehr 114 Jahren ist es meine Mutter allein, die vom Hannoverschen Burgdorf aus an meinem Erleben Anteil nimmt. Ihr und dem Andenken meines Vaters widme ich das vorliegende Werk. Onex, im April 2002

Friedrich Lohmann

Inhalt

Einleitung 1. 2. 3. 4.

Die Grundlegungsfrage in der gegenwärtigen evangelischen Ethik 1 Menschenrechte und Naturrecht 7 Der systematische Zusammenhang zwischen den beiden beobachteten Phänomenen 11 Zu Disposition und Titel der Arbeit 14

Teil I: Modelle theologisch-ethischer Grundlegung im Protestantismus des 20. Jahrhunderts 1. 1.1. 1.2. 1.3.

Wilhelm Herrmann Ansatz und Durchführung von Herrmanns Ethik Die Grundlegung der Ethik bei Wilhelm Herrmann Wilhelm Herrmann und das Naturrecht

17 17 26 30

2. 2.1.

Ernst Troeltsch Troeltschs Aufgabenbestimmung von Wissenschaft im allgemeinen und Religionswissenschaft im besonderen Troeltschs Verständnis von Ethik Die Grundlegung der christlichen Ethik Troeltschs Stellung zum Naturrecht Troeltschs Konzeption und ihre immanente Infragestellung Der Beitrag Ernst Troeltschs zur Grundlegungsdebatte

34

2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.

Karl Barth Barths Grundlegung der christlichen Ethik im Rahmen seines Verständnisses von Theologie Die Vorzüge einer christologischen Grundlegung in Barths Sicht.. Eine erste kritische Rückfrage Die Genese von Barths Programm einer christologisch fundamentierten Ethik Barths Stellung zum Naturrecht - Zweite kritische Rückfrage

34 40 43 48 50 57 59 59 62 66 71 74

Vili 4. 4.1.

Inhalt

4.2. 4.3.

Emil Brunner Brunners Stellung in der Frage nach der Grundlegung der christlichen Ethik Kritische Würdigung von Brunners Position Brunners Urteil über das Naturrecht

5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.

Emanuel Hirsch Hirschs ethisches Programm in den 20er Jahren Die reife Gestalt von Hirschs Ethik in »Ethos und Evangelium«... Zusammenfassung und kritische Würdigung Hirschs Stellung zum Naturrecht

102 102 109 115 124

6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.

Trutz Rendtorff. Der Aufbau von Rendtorffs »Ethik« Die Struktur der ethischen Argumentation bei Rendtorff. Kritische Würdigung Rendtorffs Aussagen zum Naturrecht

126 126 129 135 142

7.

Weitere Modellbeispiele aus der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts Dietrich Bonhoeffer: »Ethik« Helmut Thielicke: »Theologische Ethik« Stanley Hauerwas: »The Peaceable Kingdom« Dietz Lange: »Ethik in evangelischer Perspektive« Zusammenfassung der Ergebnisse von Teil 1

144 144 150 155 158 161

7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5.

81 81 89 96

Teil II: Naturrecht und Menschenrechte 8. 8.1. 8.2. 8.3. 8.4. 8.5. 8.6. 8.7. 8.8. 8.9.

Stationen aus der Geschichte des Naturrechtsgedankens Sophokles: »Antigone« Platon und Aristoteles Cicero: »De legibus« Thomas von Aquin: »Summa Theologica« I-II, 90-105 Hugo Grotius: »De iure belli ac pacis« (1625) Thomas Hobbes: »Leviathan« (1651) Samuel von Pufendorf: »De officio hominis et civis juxta legem naturalem« (1673) John Locke: »Two Treatises of Government« (1690) Kant, Fichte und die Historische Rechtsschule

165 167 171 175 177 182 186 191 196 201

Inhalt

8.10. 8.11. 8.12. 8.13. 8.14. 9. 9.1. 9.2. 9.3. 9.4. 10. 10.1. 10.1.1. 10.1.2. 10.2. 10.3. 10.3.1. 10.3.2.

G. W. F. Hegel: »Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts« (1802/03) Rudolf Stammler: »Die Lehre von dem richtigen Rechte« Hans Kelsen: »Reine Rechtslehre« Gustav Radbruch: »Rechtsphilosophie« Die Naturrechtsrenaissance nach 1945

IX

208 216 223 233 239

Robert Alexys diskurstheoretische Begründung universaler Menschenrechte 245 Die Verbindung zwischen Recht und Moral 245 Die diskurstheoretische Begründung der Moral 254 Die diskurstheoretische Begründung universaler Menschenrechte 263 Alexys Theorie und die Naturrechtstradition 273 Otfried Höffes gerechtigkeitstheoretische Grundlegung der Menschenrechte Das Konzept der »Politischen Gerechtigkeit« Jenseits von Rechtspositivismus, Rechtsmoralismus und Naturrecht Die Legitimation von Recht und Staat Die Begründung universaler Menschenrechte Kritische Anmerkungen Die impliziten Voraussetzungen Der zu schwache Gerechtigkeitsbegriff.

276 276 277 283 288 292 293 306

Teil III: Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik 11.

Argumente für eine anthropologische Grundlegung der Ethik

12. 12.1.

Argumente für einen perspektivischen Ansatz Im Umkreis des Kommunitarismus: Michael Walzer und Charles Taylor 12.1.1. Michael Walzer 12.1.2. Charles Taylor 12.2. Schleiermacher 12.3. Religiöse Wurzeln 13.

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus

320 338 339 340 349 359 369

374

X

Inhalt

13.1. 13.2. 13.3. 13.4.

Transzendentaler Universalismus: Thomas Rentsch Rationaler Universalismus: Sibylle Tönnies »Vermeintlicher« und echter Relativismus: Klaus Peter Rippe Die paradoxe Struktur der Moral: Wilhelm Lütterfelds

374 380 384 388

14.

Die christliche Anthropologie als Bezugspunkt der christlichen Ethik

391

Reprise: Naturrecht und Menschenrechte Naturrecht Menschenrechte

408 408 417

15. 15.1. 15.2.

Literatur

430

Register

458

EINLEITUNG Die vorliegende Arbeit geht von zwei Beobachtungen aus: der gegenwärtigen Unklarheit in der Grundlagenreflexion im Bereich der evangelischen Ethik und der gleichzeitigen Renaissance des Naturrechtsgedankens in Gestalt des menschenrechtlichen Universalismus. Diese Beobachtungen seien zunächst näher erläutert. 1. Die Grundlegungsfrage in der gegenwärtigen evangelischen Ethik Nimmt man einige der Werke zur Hand, die von deutschsprachigen evangelischen Theologen im vergangenen Jahrzehnt zu Themen der Ethik veröffentlicht worden sind, so fällt auf, mit welch einhelliger Stimme attestiert, ja beklagt wird, daß auf dem Gebiet der Grundlegung der Ethik Arbeitsbedarf besteht. Am sprechendsten hat dies wohl Klaus Tanner zum Ausdruck gebracht, der von der »>Baustelle< protestantischer Ethik«1 spricht und Helmut Thielicke, Heinz-Horst Schrey, Wolfgang Trillhaas, Trutz Rendtorff, Hans Günther Ulrich und Christofer Frey als Gewährsleute dieses Urteils nennt. Was er damit meint, geht aus einer Passage der Einleitung seiner »fundamentalethischen Untersuchung«2 hervor: »In der deutschsprachigen protestantischen Theologie sind seit der Aufklärung ethische Gestaltungsfragen zunehmend ins Zentrum der Theologie gerückt. Trotz des hohen Gewichts der Ethik gibt es im Protestantismus aber nur Ansätze einer Diskussion über Bedingungen und Strukturen ethischer Urteilsbildung. Für evangelische Theologie und Kirche ist es kennzeichnend, daß permanent inhaltliche Kontroversen ausgetragen werden [...]. Über Sachfragen aus nahezu allen Bereichen menschlichen Weltumgangs wird gestritten. Die Hermeneutik ethischer Urteilsbildung fuhrt demgegenüber ein Schattendasein. Unter dem Druck der Sachprobleme scheint für ein differenziertes Verstehen der Voraussetzungen und Implikationen ethischen Urteilens keine Zeit zu bleiben.«3 Tanner beschreibt also das Problem als einen Mangel an Reflexion über so darf man als GegenbegrifF zu den dominierenden »inhaltliche[n] Kontroversen« und »Sachfragen« ergänzen - formale Probleme der Ethik, die er wiederum näher bestimmt mit dem Stichwort »ethische Urteilsbildung«.

1 2 3

Tanner, Schatten, 38. So der Untertitel von Tanner, Schatten. A.a.O., 9.

2

Einleitung

Noch genauer geht es ihm um deren »Bedingungen«, »Strukturen«, »Hermeneutik«, »Voraussetzungen« und »Implikationen«. All dies ist offenbar nicht ganz das Gleiche. Während die Bedeutung des Begriffs »Hermeneutik« an dieser Stelle unklar bleibt und er wohl am ehesten fur den ganzen Vorgang ethischen Urteilens stehen soll, weist die Rede von »Bedingungen« und »Voraussetzungen« auf das, was dem Urteil vorausgeht. Die »Strukturen« bezeichnen die immer wiederkehrenden Formen, in denen es vollzogen wird, und die »Implikationen« gehen schon in die Richtung dessen, was sich dann als Inhalt aus dem vollzogenen Urteil ergibt. Aus dieser Satzanalyse ergibt sich, daß Tanner den Mangel der zeitgenössischen evangelischen Ethik im Bereich der formalen Grundlegung, der dann seine eigene »fimdamentalethische Untersuchung« rechtfertigt, primär auf zwei Ebenen sieht: in der systematischen Reflexion sowohl der dem ethischen Urteil vorausgehenden Grundlage als auch seiner vom wechselnden Inhalt unabhängigen Verlaufsform. Ein Blick auf die ethische Literatur der letzten Jahrzehnte aus dem Bereich der evangelischen Theologie bestätigt die so spezifizierte Ansicht Tanners. Die Debatte um Grundlegungsfragen fuhrt ein Schattendasein, und wo sie geführt wird, stehen sich die Positionen unversöhnlich gegenüber. Hinsichtlich der ersten Ebene, der der inhaltlichen und formalen Voraussetzungen des ethischen Urteils, wird diese These in Einleitung und erstem Teil der vorliegenden Studie näher begründet. Um den Nachholbedarf hinsichtlich der Reflexion der Struktur ethischer Urteilsbildung zu illustrieren, genügt der Hinweis darauf, daß diese Thematik in der evangelischen Ethik bisher kaum eigens behandelt wurde.4 Auch eine Erklärung dieses Sachverhalts liegt auf der Hand: die Befürchtung nämlich, eine solche Reflexion sei »gesetzlich« und »kasuistisch« im Sinne einer römisch-katholischen Theologie schlechten Stils.5

4

5

Vgl. aber Tödt, Versuch; Herms, Grundlinien; Lange, Ethik, 508-521. Die Auslegung des von Tanner verwandten Begriffs der »Strukturen« in Richtung auf diese Fragestellung wird dadurch bestätigt, daß dieser Begriff in Tödts Aufsatz eine prominente Rolle spielt: Es geht ihm um »die Eigenart und Struktur sittlicher Urteile (als Handlungen)« (Tödt, Versuch, 21) und ein »Schema der Sach- und Verlaufsstruktur sittlicher Urteile« (a.a.O., 29). Laut Tödt ist der Mangel an wissenschaftlicher Bearbeitung dieses Problems kein Spezifikum der evangelischen Diskussion, sondern auch der philosophischen und römisch-katholischen Ethik zu eigen (vgl. a.a.O., 21). Vgl. Frey, Ethik, 229: »In der neueren evangelischen Ethik ist das sittliche Urteil ein Thema, das eher vermieden wird. Offensichtlich wirkt sich dabei die Furcht vor einer Kasuistik aus, wie sie in der römisch-katholischen Moraltheologie vermutet wird.«

Einleitung

3

Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf die wesentlich komplexere erste Ebene, die eigentliche Grundlegung der Ethik: Was liegt dem ethischen Urteil zugrunde? Worauf gründet sich eine ethische Stellungnahme? Aus welchen Quellen schöpft sie? Daß hier die gegenwärtige allgemeine Diskussion,6 aber insbesondere die innerevangelische Debatte zu weiterer Reflexion Anlaß gibt, wird auch von anderen Autoren gesehen. So beklagt sich Christofer Frey, daß »die kirchliche Diskussion in der Fülle von Appellen, die sich um eine Begründung drücken, unterzugehen droht«7. Allerdings wird dabei von einer Mehrheit der kritischen Stimmen anders als bei Tanner weniger auf den Mangel an Beiträgen an sich als auf deren mangelndes Argumentationsniveau und die verwirrende Uneinigkeit verwiesen. Kennzeichnend sind die Sätze, mit denen Dietz Lange die Beschränkung seiner Monographie auf Grundlegungsfragen der Ethik begründet hat: »[D]as Defizit in der evangelischen Ethik [besteht], wie oben ausgeführt [vgl. a.a.O., 15: zwischen Begeisterung und Enttäuschung taumelnder »blinde[r] Aktionismus« als Folge mangelnder theoretischer Reflexion], entgegen dem ersten Eindruck primär nicht in der Ratlosigkeit gegenüber konkreten aktuellen Einzelfragen, sondern in der Behandlung der Grundprobleme. Natürlich gibt es auch dazu eine große Anzahl von Diskussionsbeiträgen [...]. Aber aufs Ganze gesehen bietet der Diskussionsstand ein höchst verwirrendes Bild, und gar nicht selten hat man sogar den Eindruck, als ob das schlichte Bekenntnis zu einer bestimmten theologischen Richtung bereits als ausreichende Begründung gelten solle. Auf alle Fälle ist hier so viel Arbeit zu leisten, daß dieses Buch nicht mehr zu sein beanspruchen kann als ein bescheidener Diskussionsbeitrag.«8 Ein ähnliches Urteil begegnet bei Johannes Fischer, der ebenfalls ein Werk »Zur Grundlegung christlicher Ethik« - so der Untertitel vorgelegt hat: »Die Grundlegung christlicher Ethik muß also argumentativ gerichtet und in ihrer Argumentation so genau wie möglich sein. Dies ist besonders zu fordern in einer Situation, in der sich zumindest im evangelischen Bereich die theologische Ethik in eine gewisse Beliebigkeit aufzulösen droht.«9 Martin Honecker schließlich konstatiert: »Die entscheidende Frage an die evangelische Ethik in ihrer Beziehung zur allgemeinen Ethik ist [...], [...] was überhaupt Ethik theologisch begründet. Hier befindet man sich bis heute in einer Grundsatzdiskussion. Diese Grundsatzdiskussion betrifft die

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Im Hinblick auf sie spricht Pannenberg von der »Aufgabe einer Grundlegung der Ethik in einem gegenüber normativen Argumentationen skeptisch gewordenen Zeitalter« (ders., Grundlagen, 5). Frey, Ethik, XI. D. Lange, Ethik, 18f. Fischer, 15.

4

Einleitung

gesamte theologische Grundlage der Ethik. Sie greift auch weit über die Ethik hinaus in die Fundamentaltheologie.«10 Man fühlt sich bei diesen kritischen Äußerungen zum Stand evangelischer Ethik an Schopenhauers Bonmot erinnert: »Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer«, wie er es seiner »Preisschrift über die Grundlage der Moral« als Motto beigegeben hat.11 Es handelt sich um ein Selbstzitat, und der Kontext, in dem Schopenhauer das Diktum erstmals vorbringt, führt eine der geschilderten vergleichbare Situation vor Augen. Nur ist anstelle der Theologen von den Philosophen die Rede, wenn es hinsichtlich der »Moralität des menschlichen Handelns« heißt: »über den Sinn hievon, über die Art und Weise, über die Möglichkeit der Sache, sind sie sämmtlich wieder höchst uneinig und haben einen Abgrund von Dunkelheit vor sich«.12 Schopenhauer spielt auf die Ansicht des gesunden Menschenverstands an, daß moralische Appelle, die nicht in argumentativ nachvollziehbarer Weise über ihre Gründe Rechenschaft geben, wenig überzeugend, ja unglaubwürdig sind. In der Verbindung von Moral und der Forderung nach rationaler Rechtfertigung trifft er sich mit anderen. Schleiermacher hat gerade darin, in der Angabe von Gründen, das auszeichnende Merkmal schon der alltäglichen Sittlichkeit gesehen.13 Aus der neueren metaethischen Diskussion kann man Marcus Singer nennen, der in diesem Sinne ein moralisches Urteil just durch seine Begründbarkeit von einer Gefühlsäußerung abhebt.14 Die gleiche Ansicht hat Charles Taylor vertreten, wenn auch mit einer ganz anderen Art von Begründung im Blick als Singer.15 Günther Patzig spricht vom »wesentlichen

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Honecker, Einfuhrung, 23. Vgl. a.a.O., 31 (»die Grundlagenproblematik heutiger evangelischer Ethik«); 37 (»Das Ziel wissenschaftlicher Ethik kann nicht bloß die Untersuchung der Bedeutung moralischer Sätze sein, sondern muß die Möglichkeit einer Begründung ethischer Urteile und sittlicher Entscheidungen aufgreifen.«). Vgl. Schopenhauer, Grundprobleme, 459. Schopenhauer, Ueber den Willen, 315 (»Hinweisung auf die Ethik«). Es folgt der Satz: »Da ergiebt sich, daß Moral-Predigen leicht, Moral-Begründen schwer ist« (ebd.). Vgl. Schleiermacher, Dialektik, 83 (»Analog ist es mit dem Handeln überhaupt. Auch hier gibt es ein ganz bewußtloses: das Handeln des Ungebildeten, und ein Handeln mit dem Bewußtsein der Gründe und des Verfahrens. Das Handeln mit Bewußtsein ist das sittliche.«); 278 (»Denn das Denken kann wohl unklar und unbestimmt sein, fehlt aber niemals ganz. Jedem Moment des Wollens als solchem geht ein Denken voran; und jeder Mensch muß über sein Denken, das dem Wollen vorherging, Rechenschaft geben können, wie hell oder dunkel ihm jenes auch sein mag.«). Vgl. M. Singer, 59 (dt. 84f): »It also follows, trivially, that moral judgments can be supported by reasons; a statement having the verbal form of a moral judgment for which one is unable to give reasons does not express a genuine moral judgment at all.« S. u. S. 352-355.

Einleitung

5

Anspruch auf Begründbarkeit, den moralische Werturteile ihrem Sinne nach immer erheben«16, und auch Julian Nida-Rümelin sieht darin, »dass wir für Handlungen Gründe angeben können«, ihre entscheidende Differenz zu (sittlich irrelevantem) Verhalten.17 Solche Thesen sind sicherlich diskussionswürdig, sofern sie sich auf jedes moralische Urteil beziehen. Der Fall des Malers, der seine Farben »gut« mischt und einsetzt, ohne dies farbtheoretisch begründen zu können, ist auf das gute Handeln im Sinn von Sittlichkeit ohne weiteres übertragbar.18 Allerdings wird auch der Künstler Gründe angeben können, wenn auch keine wissenschaftlich-verallgemeinerbaren.19 Klar ist die Sache jedenfalls, sofern nicht mehr bloß von sittlich-moralischen, sondern von ethischen Äußerungen die Rede ist: Hier sind die genannten Thesen über die definitorische Bedeutung von Begründungen zweifellos zutreffend. Denn Ethik ist, so sei an dieser Stelle vorläufig und noch sehr unspezifisch definiert,20 die rationale und im engeren Sinn wissenschaftliche Reflexion auf das Moralische.21 Rationali-

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Patzig, Relativismus, 75. Vgl. Nida-Rümelin, Rationalität, 73-84, Zitat: 74. Zur dahinterstehenden Definition des Handlungsbegriffs vgl. a.a.O., 55: »Nur derjenige Teil unseres Verhaltens hat Handlungscharakter, der unter der Kontrolle der handelnden Person steht.« Das Beispiel ist inspiriert durch Husserl, Β 9: »In der Regel ist der ausübende Künstler nicht derjenige, welcher über die Prinzipien seiner Kunst die rechte Auskunft zu geben vermag. Er schafft nicht nach Prinzipien und wertet nicht nach Prinzipien.« Vgl. Schleiermacher, Dialektik, 83. Auch Husserl hat seinen Künstler wohl eher als advocatus diaboli auftreten lassen. In der Folge singt er jedenfalls das Lob der Begründungen: Wir brauchen sie, »um in der Erkenntnis, im Wissen über das unmittelbar Evidente und darum Triviale hinauszukommen« (Husserl, Β 16), sie lassen Evidenz »aufleuchten« (a.a.O., Β 17; vgl. Β 16), sie allein ermöglichen wissenschaftliche Voraussagen (vgl. a.a.O., Β 20). Für eine genauere Diskussion s. u. Kap. 11. Jürgen Habermas hat Ende der 80er Jahre einen anderslautenden Definitions- und Differenzierungsvorschlag in die Debatte geworfen (vgl. Habermas, Gebrauch). Obwohl primär dazu gedacht, die Diskursethik - die nach dem neuen Vorschlag besser »Diskurstheorie der Moral« hieße - vor Mißverständnissen zu schützen, hat dieses Modell rasch Verbreitung gefunden. So gründet die vielbeachtete Theorie Rainer Forsts von den vier »Kontexten der Gerechtigkeit« maßgeblich auf dieser Habermasschen Unterscheidung (vgl. Forst, 53f). Auf theologischer Seite hat Wolfgang Huber den Vorschlag mit Beifall bedacht (vgl. Huber, Gerechtigkeit, 103f). Habermas unterscheidet moralischen, ethischen und pragmatischen Gebrauch der Vernunft. Hinsichtlich des letzteren, der auf das zweckrationale Handeln zielt, ist die Unterscheidung sinnvoll und gut nachvollziehbar. Wichtiger ist freilich die Abgrenzung der beiden anderen Gebiete: »Moral« steht bei Habermas für den sozialethischen Bereich der universalen Prinzipien, »Ethik« für die Frage nach dem (individuellen) guten Leben. Ob diese Unterscheidung sachlich sinnvoll ist, die Frage nach ihren Stärken und Schwächen, wird später aufzunehmen sein. Die von Ha-

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Einleitung

tät beinhaltet aber schon von ihrer sprachlichen Wurzel her 22 die Rechenschaft über GründeΡ U m so unerfreulicher sind die zitierten theologischen Zustandsbeschreibungen, die sich folgendermaßen auf einen Nenner bringen lassen: In der gegenwärtigen evangelischen Ethik wird Grundlegungsfragen zu wenig Aufmerksamkeit beigemessen, woraus sich nicht unbedingt quantitativ, aber in jedem Fall qualitativ ein mangelndes Argumentationsniveau und das Bild verwirrender Beliebigkeit ergibt. Dieses Urteil ließe sich auch durch einen Blick auf v o n der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegebene ethische Stellungnahmen bestätigen. Denn in den Denkschriften, die ja dem Anspruch nach eine für den deutschen Protestantismus vorbildliche Argumentation vortragen wollen, 2 4 stehen faktisch in der Tat Gestaltungs- vor den Grundlegungsfragen im Vordergrund. Dies ist deshalb besonders bedauerlich, weil im Bereich der aktuellen gesellschaftlichen Kontroversthemen ζ. T. abenteuerliche Vorstellungen über die entsprechenden Gegenargumente aus christlicher Sicht im Umlauf sind. 25 Aber auch für die innerkirchliche Diskus-

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bermas gewählten Begriffe sind jedenfalls nicht überzeugend. Das lateinische »mos«, von dem das Wort »Moral« abstammt, hat mit »Sitte« genau den gleichen Inhalt wie das griechische »ήθος«. Habermas folgt mit seiner Terminologie dem schlichten Faktum, daß Aristoteles - wie sollte es auch anders sein? - sein Unternehmen »Ethik«, Kant das seinige »Moralphilosophie« genannt hat, verläßt damit aber ganz den ursprünglich wie heute allgemein üblichen Gebrauch der Begriffe. Die oben im Text gewählte Definition macht zwar auch eine, wenn man so will, künstliche Unterscheidung zwischen Moral und Ethik. Sie greift dabei aber auf den alltäglichen Sprachgebrauch zurück, in dem sich die Bezeichnung der akademischen Moralreflexion mit dem Namen »Ethik« durchgesetzt hat. Vgl. lat. ratio, franz. raison, engl, reason, die allesamt außer »Vernunft« auch »Grund« bedeuten können. Dies hat in jüngster Zeit besonders Julian Nida-Rümelin in Erinnerung gerufen. Vgl. ders., Rationalität, 12 (»Praktische und theoretische Vernunft befassen sich mit Gründen für theoretische und normative Urteile.«); 25 (»Wo Gründe und Gegengründe angegeben werden, steht die Rationalität in Frage.«). Vgl. dazu die »Denkschriften-Denkschrift« von 1970: Eine kirchliche Äußerung in Form einer Denkschrift versteht sich als »Verkündigung und Ratschlag« (Aufgaben, 58). »Es ist dabei ein größtmögliches Maß an Objektivität, Sachkunde und theologischer Sorgfalt anzustreben« (a.a.O., 60; vgl. a.a.O., 50: »in Form gewissenhafter vernünftiger Argumentation«). Auch zur Grundlage der Argumentation wird Stellung genommen: Kriterium ist die »Sach- und Schriftgemäßheit« (a.a.O., 58), näherhin »erwächst [...] die konkrete Entscheidung aus einem wechselseitigen Zusammenspiel von Glaubenserkenntnissen und vernunftgemäßem Erfahrungsge[?]wissen« (a.a.O., 70) bzw. »im Hin und Her zwischen theologischen und durch Sachanalyse geleiteten Erwägungen« (a.a.O., 71). Vgl. ζ. B. Hoerster, 287-290. Wem Hoersters Referat der christlichen Argumente gegen die aktive Sterbehilfe polemisch überspitzt erscheint, der nehme Dieter Birnbachers Wort von der »Normativierung der Naturkontingenz« bei den Gegnern der Genmanipulation

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sion besteht genug Anlaß, die Suche nach guten Gründen nicht zu vernachlässigen. Das Grundlegungsproblem ist auch aus spezifisch theologischer Sicht alles andere als eine intellektuelle Fingerübung. 2. Menschenrechte und Naturrecht Die zweite hier darzustellende Beobachtung geht von dem allgemeinen Diskurs aus, wie er gegenwärtig facher- und berufsübergreifend um die Menschenrechte gefuhrt wird. Berufsübergreifend - d. h. nicht etwa nur auf der Ebene der Wissenschaftler. Zur Stunde sind es im Lichte der Öffentlichkeit weniger sie als die Politiker und Politikerinnen der westlichen Welt, die sich die Menschenrechte auf die Fahne geschrieben haben. Da dies medienwirksam geschieht, darf es eigentlich als bekannt vorausgesetzt werden. Um aber die Eindrücklichkeit, mit der sich die westliche Politik um Ausrichtung zumindest auch am Gedanken universaler Menschenrechte bemüht, zu illustrieren, seien einige Beispiele genannt. Am augenfälligsten in dieser Hinsicht sind die Stellungnahmen zum NATO-Engagement im Kosovo. Es darf darüber jedoch nicht vergessen werden, was ihm an Verlautbarungen vorausging: so die programmatische Amtsführung des britischen Außenministers Cook als »ethische Diplomatie«, so die 1997 gegenüber Malaysia gemachte Äußerung Madeleine Albrights, falls notwendig, auch mit Gewalt die Einhaltung der Menschenrechte in einem Staat durchzusetzen.26 Aufschlußreich sind jedoch auch Stellungnahmen von Seiten der 1998 gewählten rot-grünen Bundesregierung. Dies gilt noch nicht so sehr fur die Regierungserklärung Gerhard Schröders, die in ihrem ohnehin schon sehr knappen außenpolitischen Teil eher die Aufgabe der Friedenssicherung als die Einhaltung der Menschenrechte im Kosovo zur Sprache bringt.27 Besondere Beachtung verdient aber die programmatische Rede, die Außenminister Joschka Fischer anläßlich der Übernahme des Ratsvorsitzes der EU in Straßburg vor dem Europäischen Parlament gehalten hat. Dort wird, nachdem die Thematik mit der Erwähnung des »Anspruchs« der EU, »als Kulturraum und Wertegemeinschaft für ganz Europa zu sprechen«, mit der »Frage nach einer europäischen Verfassung« und dem Vorschlag fur »die langfristige Ausarbei-

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(Bimbacher, Genomanalyse, 219) und halte die von der EKD herausgegebene Studie zur Gentechnik dagegen. Wie schon der Titel ahnen läßt (»Einverständnis mit der Schöpfung«), kommt sie argumentativ kaum über die von Birnbacher zu Recht kritisierte Position hinaus. Vgl. U.Voigt, 11. Vgl.: Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Bonn, den 10. November 1998, hg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 42.

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tung einer europäischen Grundrechtscharta« bereits implizit angeklungen ist, 28 in einer längeren Passage direkt eine Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik »an den europäischen Werten des Friedens und der Menschenrechte« gefordert. Weiterhin postuliert Fischer eine auch »politische und wirtschaftliche Bedeutung« der Menschenrechte und nennt sie als erste Basis einer weltweit zu verwirklichenden »umfassenderefn] Freiheitskultur«.29 Daß diese Forderungen keine Minderheitsmeinung Fischers und kein bloßes Programm »in einer mutigen, vielleicht historischen Rede« 30 waren, hat dann der Kosovo-Krieg gezeigt. Nicht nur Fischer, sondern alle westlichen Politiker verwiesen zur Rechtfertigung des NATO-Einsatzes unisono auf die Durchsetzung der Menschenrechte. 31 Als 2 Vi Jahre später erneut

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Der hier ausgesprochene Gedanke der EU als »Wertegemeinschaft« hat ein Jahr später politische Relevanz erlangt mit den Sanktionen der übrigen EU-Staaten gegenüber der neuen Regierung Österreichs. Vgl. Gerhard Schröder: »Wenn wir Europa als eine Wertegemeinschaft begreifen und diese Werte sogar in den Amsterdamer Vertrag hineinschreiben; wenn die Akzeptanz ebendieser Werte die Bedingung fur Neuaufnahmen in die EU ist - dann müssen wir so handeln. Die Achtung der Freiheit, der Rechte von Minderheiten, der Menschenrechte beruht ja nicht auf einem einsamen Beschluss. [...]« (Interview in: DIE ZEIT Nr. 8,17.2.2000, S. 3). Vgl. Rede des Vorsitzenden des Rates der Europäischen Union Joschka Fischer, Bundesminister des Auswärtigen, am 12. Januar 1999 in Straßburg, S. 6: »Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik muß an den europäischen Werten des Friedens und der Menschenrechte ausgerichtet und zu einem effizienten Krisenmanagement in der Lage sein. Menschenrechte haben im Zeitalter der Globalisierung eine über das Humanitäre hinausgehende, politische und wirtschaftliche Bedeutung - das hat die Asienkrise deutlich gezeigt. Investitionssicherheit in den >emerging markets< gibt es nur gemeinsam mit ökologischer Nachhaltigkeit und Menschenrechten und nicht durch deren Unterdrückung. Die Entwicklung freier Märkte ist eben nur dann von Dauer, wenn sie in eine umfassendere Freiheitskultur eingebettet ist, beruhend auf den Menschenrechten, Gewaltenteilung, Verfassungsstaat, demokratischen Parteien, freien Gewerkschaften, einer unabhängigen Presse und einer kritischen Öffentlichkeit. Wir werden uns in unserer Präsidentschaft für eine Stärkung des Menschenrechtsprofils der EU einsetzen. Der neue Menschenrechtsbericht der EU soll Transparenz schaffen und zugleich Handlungsdruck in der EU und den Mitgliedsstaaten erzeugen.« So der Kommentator in: DIE ZEIT Nr. 4,1999, S. 3. So Rudolf Scharping (DER SPIEGEL Nr. 13, 29.3.1999, S. 219: »Die Menschenrechte sollen universell gelten.«), Tony Blair (DIE WELT, 27.4.1999, S. 10: »In unserer Welt hat Isolationismus sein Raison d'être völlig verloren. [...] Letztlich fallen das Interesse und die Werte in eins. Wenn es uns gelingt, die Werte der Freiheit, des Rechtsstaates, der Menschenrechte und der offenen Gesellschaft weiterzutragen, dann ist das auch in unserem nationalen Interesse. Die Verbreitung unserer Wertordnung läßt uns sicherer leben.«), Javier Solana (DER SPIEGEL Nr. 18, 3.5.1999, S. 175: »Dieser Krieg wird um Werte und um die moralische Verfassung jenes Europa geführt, in dem wir im 21. Jahr-

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Bomben fielen, diesmal über Afghanistan, stand dies zwar ebenso unisono unter einem anderen Leitwort: dem des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Der Hinweis auf die Nichteinhaltung elementarer Menschenrechte, etwa der Rechte der Frau und der Religionsfreiheit, spielte in den einschlägigen Verlautbarungen aber durchaus eine Rolle. Dem entsprach die Ende 2001 abgegebene Regierungserklärung des neuen afghanischen Regierungschefs Karzai, die die Etablierung von Menschenrechtsstandards als wichtiges Ziel definierte. Auch in Afghanistan geht es somit um die Durchsetzung eines Konzepts, das Joschka Fischer nach dem Ende der Kampfhandlungen im Kosovo bündig umrissen hat: die Menschenrechte als universales »Wertefundament«.32 Genau dies ist aber umstritten: Gibt es überhaupt einen weltweiten Wertekonsens? Und sind die Menschenrechte sein Fundament? Wer diese Fragen verneint, verweist auf die kulturelle Verfaßtheit des Menschen und seiner Äußerungen - eben auch der Menschenrechtserklärungen. Nicht erst heute, sondern schon seit der Propagierung der Menschenrechtsidee im 18. Jahrhundert melden sich so die Gegner zu Wort.33 Auch vor der Verabschiedung der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« 1948 wurde in diesem Sinne die kulturelle Gebundenheit von Normen geltend gemacht.34 Dieser philosophische Diskurs über die Reichweite moralischer Wertesysteme wird bis heute zwischen Vertretern einer eher universalen und denen einer eher lokalen Moral geführt.35 Durch seine politische Tragweite und das engagierte Auftreten von Vertretern nicht-westlicher Kulturen hat er aber gegenwärtig besondere Brisanz erreicht. Dies spiegelt schon der ganz und gar nicht von Dissensen freie Ablauf der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993.

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hundert leben werden.«), Gerhard Schröder (a.a.O. Nr. 22, 31.5.1999, S. 179: »Frieden und Stabilität sind in Europa nicht zu haben ohne die unteilbaren Menschenrechte. [...] Dabei will ich gern einräumen, daß die Verteidigung der Menschenrechte von uns Maßnahmen verlangt, durch die der Handelnde Schuld auf sich lädt.«). Vgl. im Interview a.a.O. Nr. 25, 21.6.1999, S. 35: »Menschenrechte, sind das denn nur westliche Werte? [...] Was unterschreiben eigentlich die Länder, wenn sie der Uno beitreten? Die Uno-Charta ist für mich kein westlicher Wert. Wenn ein Massenmord am eigenen Volk verhindert werden soll, wie in Kambodscha, wenn das Mittel der Vertreibung eines ganzen Volkes zur Korrektur politischer Landkarten führt, dann geht es um elementare Werte. Wie sollen denn sechs Milliarden Menschen friedlich miteinander leben, ohne ein allseits akzeptiertes Wertefimdament?« Vgl. Bielefeldt, 10-14. Vgl. Herskovits, ζ. B. 40: »Maßstäbe und Werte sind relativ auf die Kultur, aus der sie sich herleiten.« Vgl. ζ. B. Henry Shues Auseinandersetzung mit Michael Walzer in: Shue, Menschenrechte.

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D i e aktuelle Dimension sollte aber nicht verschleiern, daß der philosophische Kern der Debatte noch weiter zurückreicht als bis ins 18. Jahrhundert. Traditionell, seit der griechischen Antike, sind die Fragen i m Zusammenhang mit der Universalität von Normen und Werten unter dem Titel des Naturrechts verhandelt worden. Und tatsächlich besteht eine unbestreitbare Kontinuität zwischen der klassischen Naturrechtslehre und dem aktuell eingeforderten Ethos der Menschenrechte. Zunächst historisch: Die bis heute vorbildlichen Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts orientieren sich nachweislich an naturrechtlich argumentierenden philosophischen Entwürfen aus dem 17. Jahrhundert.36 Und die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« von 1948 steht im Kontext der Bemühungen, nach den »Akten der Barbarei« 37 gerade auch über eine Rückkehr zu naturrechtlichen Denkfiguren eine neue Rechtsgrundlage zu fixieren.38 Vor allem aber gibt es eine systematische Kontinuität. Die klassischen Entwürfe bezogen ihre ethischen Folgerungen nicht aus dem Rekurs auf irgendeine Natur, sondern auf die Natur des Menschen.19 Umgekehrt setzt ζ. B. die »Allgemeine Erklärung«, wenn sie in

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Vgl. ζ. B. Welzel, Kapitel, wo Welzel den Einiluß Pufendorfs auf John Wise und damit das Aufkommen der Menschenrechtsidee im Neuengland des 18. Jahrhundert belegt. Die These bleibt richtig, auch wenn man berücksichtigt, daß, wie Jürgen Habermas gezeigt hat (vgl. ders., Naturrecht), der amerikanischen und der französischen Erklärung der Menschenrechte unterschiedliche Naturrechtskonzeptionen zugrunde liegen. So in der Präambel der »Allgemeinen Erklärung«; vgl. Heidelmeyer, 209. Der Zusammenhang wird direkt hergestellt in der Schrift »Les droits de l'homme et la loi naturelle« des diplomatisch aktiven Jesuiten Jacques Maritain, die erstmals 1942 in New York erschienen ist. Im gleichnamigen zentralen Kapitel heißt es: »II faut considérer maintenant que la loi naturelle et la lumière de la conscience morale en nous ne prescrivent pas seulement des choses à faire et à ne pas faire; elles reconnaissent aussi des droits, en particulier des droits liés à la nature même de l'homme. [...] Il y a des choses qui sont dues à l'homme par là même qu'il est homme. [...] La vraie philosophie des droits de la personne humaine repose donc sur l'idée de la loi naturelle« (Maritain, 67f; dt. 56f). Im Anhang ist eine weitgehend unbekannte Menschenrechtserklärung des »Instituts für internationales Recht« abgedruckt, die 1929 in New York verabschiedet wurde. Eine Zusammenfassung der Schrift Maritains gibt Vögele, Elemente, 107-112 (vgl. auch ders., Menschenwürde, 204-209). Nach Kühnhardt war Maritains Konzeption von maßgeblichem Einfluß auf die »Allgemeine Erklärung« (vgl. Kühnhardt, 91). Als neueren Versuch, die Menschenrechte mit dem traditionellen Naturrechtsgedanken - im gegebenen Fall in der Fassung, die ihm Thomas von Aquin gegeben hat - zusammenzubringen, vgl. Rousseau, Croissance. Auch in Ernst Blochs einschlägiger Studie (vgl. ders., Naturrecht und menschliche Würde) ist es ausdrückliches Thema, diesen Zusammenhang, gerade angesichts seines häufigen Verdrängtseins, herauszuarbeiten. Vgl. z. B. Grotius, Prol. 9 (lat. S. 9, dt. S. 33): »et quod tali iudicio plane répugnât, etiam contra ius naturae, humanae scilicet, esse intelligitur«.

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ihrem ersten Artikel unterstreicht, alle Menschen seien frei und gleich an Würde und Rechten geboren,40 voraus, daß die entsprechenden Rechte dem Menschen bereits mit seiner natürlichen Ausstattung mitgegeben sind. Wenn in der neueren Debatte als Definitionsmerkmal der Menschenrechte ihre Nicht-Erworbenheit hervorgehoben wurde,41 so weist das in die gleiche Richtung. Die Menschenrechte sind natürliche Rechte wie umgekehrt das Naturrecht Rechte und Pflichten des Menschen umfaßt. Darüberhinaus besteht systematische Kontinuität im Universalisierungspostulat. Das gegenwärtige »Zeitalter der Menschenrechte«42 ist auch eine Zeit der Renaissance des Naturrechtsgedankens.43 Damit soll keineswegs eine Identität behauptet werden. Aber gerade in bezug auf das Thema der Universalität, das in der aktuell zu beobachtenden öffentlichen Debatte um die Menschenrechte im Vordergrund steht, könnte ein Blick auf einige klassische Positionen erhellend sein. 3. Der systematische Zusammenhang zwischen den beiden beobachteten Phänomenen Die beiden geschilderten Phänomene haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun. Betrachtet man sie jedoch genauer, ist eine interessante systematische Parallele feststellbar. Ausgangspunkt ist die Analyse eines wesentlichen Strukturmoments des christlichen Glaubens. Der christliche Glaube erlebt sich ausgespannt zwischen zwei Wirklichkeiten: die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit der Welt. Die Spannung gehört offensichtlich zum Wesen des Glaubens. Versuche, sie aufzulösen, sind in der Geschichte des Christentums Randerscheinungen geblieben. Dies gilt sowohl für den Pantheismus, der beide Wirklichkeiten in eins setzt, als auch für dualistische Vorstellungen wie den Manichäismus. Es bleibt bei einem spannungsvollen In-, aber auch Gegeneinander. Die christliche Theologie hat dies darin zum Ausdruck gebracht, daß sie bei der Behandlung ihres Themas an entscheidender Stelle auf Begriffspaare zurückgegriffen hat. Vernunft und Offenbarung sowie Natur und Gnade sind die bekanntesten. Sie verweisen auf die nähere Situation, in der der Glaube die beiden Wirklichkeiten erlebt. So verrät die Verbindung der Weltwirklichkeit mit dem Naturbegriff, daß das Leben in der Welt der »natürliche«, normale Zustand ist. Dem entspricht die Rede von Offenbarung auf der anderen Seite. »Offenbarung«

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Vgl. Heidelmeyer, 209. Vgl. Wildt, 138; 142. Vgl. Bobbio, Zeitalter. Dies hat in der jüngeren Theoriedebatte vor allem Kühnhardt betont.

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heißt, daß etwas, was vorher nicht sichtbar war, etwas »Unnatürliches« und Besonderes also, erscheint. Wenn die Theologie von Gott unter dem Titel der Offenbarung spricht, so gibt sie damit zu verstehen, daß Gott in der Welt erscheint, also keine Trennung zwischen beiden Wirklichkeiten besteht, zugleich aber auch, daß die allgemeine Situation der Glaubenden das Leben in der Welt ist. Ähnliches läßt sich zu den beiden anderen Begriffen sagen. Die Gnade steht parallel zur Offenbarung im anderen Begriffspaar. Dies erhellt schon aus dem allgemeinen Sprachgebrauch. Egal ob man »Gnade vor Recht ergehen« läßt oder ein »Gnadenakt« vollzogen wird, ist es immer eine besondere, sich von dem, was »eigentlich« geschehen müßte, abhebende Handlung. Die Parallele zwischen Vernunft und Natur schließlich mag zu Zeiten der Vernunftskepsis weniger einsichtig sein. Die Bedeutung der Vernunft im Begriffspaar »Vernunft und Offenbarung« klärt sich jedoch sofort, wenn man bedenkt, daß in der Zeit, als die Theologie begann, die Art ihres Zugangs zu ihrem Gegenstand mit diesem Paar wiederzugeben, genau diese Parallele im Hintergrund stand. Galt doch die Vernunftbegabung als Spezifikum des Menschen, seine Natur eo ipso als Vernunftnatm. Der Rekurs der christlichen Theologie auf spannungsvolle Begriffspaare an entscheidender Stelle stellt also eine legitime Form der notwendigen Reflexion auf die Situation dar, in der sich der Glaube erlebt. Noch mehr als das: es ist soeben angeklungen, daß die Theologie zumindest mit dem Paar »Vernunft und Offenbarung« auch die Art des Zugangs zur Wirklichkeit als spannungsvolle beschreibt. Sie reflektiert damit ebenfalls die Erfahrung des Glaubens. Auch hier sind radikale Auflösungen der Spannung zur einen (Offenbarung als Vernunft, Vernunft als Offenbarung) wie zur anderen (Vernunft oder Offenbarung) Seite Episode geblieben. Die christliche Theologie hat sich in ihrer Hauptströmung stets zwischen diesen beiden Extremen bewegt. Der Raum, der ihr dabei zur Verfügung steht, ist gleichwohl groß, und die Theologiegeschichte bringt ein vielfältiges Oszillieren innerhalb der durch die beiden Extrempositionen abgesteckten Grenzen an den Tag. Der jeweils vertretene theologische Ansatz spiegelt dabei die jeweilige Sicht auf die Wirklichkeit: Überwiegt das In- oder das Gegeneinander von Welt- und Gotteswirklichkeit? Wer mehr das Ineinander betonen will, wird dem durch das Stichwort »Vernunft« bezeichneten Pol eines natürlich-allgemeinen Zugangs zur richtigen Deutung der Wirklichkeit als Welt- und Gotteswirklichkeit größere Bedeutung verleihen. Steht das Gegeneinander im Vordergrund, wird das Schwergewicht auf den Gedanken zu liegen kommen, daß der Mensch auf besondere Offenbarungen Gottes angewiesen ist, um Zugang zur Gottes- und damit auch zur recht gedeuteten Weltwirklichkeit zu haben.

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Dieser Zusammenhang von Wirklichkeitssicht und theologischem Ansatz läßt sich etwa am römischen Katholizismus gut aufweisen. Indem er an einem zumindest rudimentären Bewußtsein Gottes in der menschlichen Natur stets festgehalten hat, also zumindest in der Anthropologie den Akzent auf das /»einander beider Wirklichkeiten gelegt hat, war und ist es ihm möglich, ohne größere Probleme einen ersten allgemeinen Zugang auch zur Gotteswirklichkeit mittels Vernunft und Natur zu behaupten. Das Schwergewicht, das die römisch-katholische Theologie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf den Inkarnationsgedanken legt, ist, indem es den Gedanken einer Wirklichkeit Gottes in der Welt von der Anthropologie auf die gesamte Weltwirklichkeit ausdehnt, aus dieser Sicht nur konsequent. Wenn soeben von dem römischen Katholizismus gesprochen wurde, so gibt das die relative Einmütigkeit wieder, die dort in der Frage nach dem Zugang zur Wirklichkeit Gottes herrscht und die sich auch in der römischkatholischen Theologie, sei es in Fragen der Dogmatik, sei es auf ethischem Gebiet, im Blick auf den allgemein geteilten Grundansatz wiederfinden läßt. Eine solche Einmütigkeit ist, wie schon zu Beginn dieser Einleitung für die Ethik festgestellt wurde, im Protestantismus nicht zu finden. Dies hat historische Gründe, insofern die Reformatoren mit der abgrundtiefen Sündigkeit des Menschen das Gegeneinander von Gott und Mensch betonten, zugleich aber an einer natürlichen Gottesbezogenheit von Welt und Mensch festhielten. In der protestantischen Theologiegeschichte konnten daher unter Berufung auf das reformatorische Erbe beide prinzipiellen Möglichkeiten eines Ansatzes der theologischen Wirklichkeits- und Lebensdeutung - erste Zugangsmöglichkeit wie im römischen Katholizismus bei der allgemeinen Erfahrung und von dort her Explikation der Offenbarung oder Bestreiten einer solchen Möglichkeit und Betonung des von Beginn an spezifischen, offenbarungsbezogenen theologischen Erkenntniswegs - in den verschiedensten Varianten vertreten werden.44 Die theologische Grundlegungsdebatte läßt sich also auf die Frage nach dem Vorrang des Allgemeinen oder des Besonderen hinsichtlich des Zugangs zur Lebenswirklichkeit zurückfuhren. Dies gilt auch und gerade fur die protestantische Ethik. An dieser Stelle zeigt sich der systematische Zusammenhang mit der aktuellen Theoriedebatte über die Menschenrechte, von dem eingangs die Rede war. Denn als zumindest eine entscheidende Frage dieser Debatte erscheint eben genau die nach dem Verhältnis von Allgemeinem und

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Dies sei hier nur thetisch formuliert. Die nähere Begründung dieser These am Beispiel der deutschsprachigen evangelischen Theologie des vergangenen Jahrhunderts wird in Teil I nachgeliefert.

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Besonderem, gefaßt in die nach dem Verhältnis von Universalitätsanspruch der Menschenrechte und Pluralismus der Kulturen.45 Auch hier geht es um die Behauptung der Möglichkeit eines allgemein-menschlichen Zugangs zur Ethik einerseits und deren Bestreitung andererseits. Dieser systematische Zusammenhang - ob darüberhinaus auch ein historischer besteht, wie ihn das Schlagwort »Voltaire gegen Herder« aus der aktuellen Diskussion46 zumindest nahelegt, mag an dieser Stelle offenbleiben - ist es, der die Thematik der hier vorliegenden Studie motiviert. Die beiden gegenwärtig zu beobachtenden Debatten werden durch ihn in ein gemeinsames Licht gerückt, und es stellt sich die Frage, ob sich die innerevangelische Diskussion um die Grundlegung der Ethik und die über Fächergrenzen weit hinausgreifende Theoriedebatte um die universale Gültigkeit der Menschenrechte angesichts dieser Parallele nicht gegenseitig befruchten können. Damit ist die übergreifende Fragestellung genannt. Es bleibt noch, das genauere Vorgehen darzustellen und zu begründen. 4. Zu Disposition und Titel der Arbeit Die folgenden Überlegungen sind von einem evangelischen Theologen geschrieben. Dieser Standpunkt wird sich auch inhaltlich kaum verleugnen lassen. Methodisch jedenfalls wirkt er sich dahingehend aus, daß in einer Kreisbewegung Anfang und Ende dem Feld der Theologie gewidmet sind. Im ersten Teil soll die zu Beginn anhand von einigen Stimmen aus der gegenwärtigen Debatte verdeutlichte und soeben systematisch und historisch hergeleitete umstrittene Gestalt evangelischer Ethikgrundlegung anhand einiger Modelle aus dem 20. Jahrhundert dargestellt und auf die leitenden Fragen zurückgeführt werden. Das Schwergewicht fällt dabei auf den deutschsprachigen Bereich und dort wiederum auf die großen ethischen Entwürfe, da in ihnen am ehesten eine klare Positionierung in der Grundlegungsfrage zu erwar-

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Vgl. Lohmann, Neues zur Theorie. Als umfangreicher theologischer Beitrag zu dieser Debatte ist Wolfgang Vögeles Habilitationsschrift: »Menschenwürde zwischen Recht und Theologie« zu würdigen. Vögeles Interesse gilt zwei Themen: (1) theologische Elemente bei der juristischen Legitimation von Menschenrechten, (2) ein »in der Perspektive der öffentlichen Theologie zu verantwortende[s] Modell der Begründung der Menschenrechte« (a.a.O., 17). Da die zweite Fragestellung erst im sechsten und letzten Kapitel explizit aufgenommen und die erste anhand von verfassungsgeschichtlichen »Fallstudien« (a.a.O., 18 u. ö.) behandelt wird, verhält sich Vögeles Arbeit zu der hier vorliegenden komplementär: Hier soll für einmal die Grundlegungsfrage ins Zentrum gerückt werden, und dies auf der Basis weniger von verfassungsgeschichtlich-empirischen als ideengeschichtlich-systematischen Erwägungen. Vgl. Bielefeldt, 13.

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ten ist. Teil II weist hier insofern bereits voraus, als auch konkret nach der Stellung des jeweiligen Theologen zum Naturrecht gefragt wird. In diesem mittleren Teil selbst werden dann in Umkehrung des hier in der Einleitung gegangenen Wegs von den Menschenrechten zum Naturrecht schlaglichtartig die geschichtliche Entwicklung des Naturrechtsgedankens und dessen bleibender Einfluß auf die gegenwärtige Theorie der Menschenrechte beleuchtet. Mit dem diskurstheoretischen Entwurf von Robert Alexy und dem gerechtigkeitstheoretischen Entwurf von Otfried Höffe werden zwei Versuche einer rationalen Begründung von Menschenrechten, die zu den profiliertesten in der aktuellen Debatte gehören,47 auf ihren universalen Anspruch hin untersucht. Der dritte Teil führt dann über prinzipielle Überlegungen zum Gegenstandsbereich von Ethik und der Frage nach ihrem Bezugspunkt zu einem eigenen Vorschlag für ein Modell zur Grundlegung christlicher Ethik, das zugleich einen Standort in der Universalismusdebatte markiert. Von diesem Standpunkt aus werden dann abschließend skizzenhaft die Fragen nach Naturrecht und Menschenrechten noch einmal aufgegriffen. Alle Analysen stehen unter dem Oberbegriff »Grundlegung«. Hier ist eine terminologische Abgrenzung angebracht. In der Literatur wird die hier gemeinte Fragestellung häufig auch unter dem Stichwort »Begründung« verhandelt. Das ist zwar möglich, führt aber auf falsche Assoziationen. (1) Die Rede von »Begründung« hat eine weitere, hier nicht zur Debatte stehende Konnotation. Denn »Begründung der Ethik« kann auch für die Antwort auf die fundamentalere Frage nach dem Warum von ethischer Reflexion überhaupt stehen, wie sie etwa Peter Singer im Schlußteil seiner »Praktischen Ethik« als Frage nicht aus, sondern nach Ethik48 gestellt hat: »Die Frage fragt nach den Gründen dafür, weshalb man über diese persönliche Handlungsgrundlage hinausgehen und nur nach Prinzipien handeln sollte, die man bereit wäre, zu allgemeingültigen Vorschriften zu machen.«49 (2) Ein Urteil zu »begründen« kann heißen: es auf übergeordnete Prinzipien zurückführen, aus

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Vgl. Kersting, Vorwort, 8: »Neben der Diskursethik, die noch längst nicht alle von ihrer rechts- und staatsphilosophischen Leistungsfähigkeit überzeugen konnte, ist Höffes Theorie der politischen Gerechtigkeit der andere deutsche Beitrag, der in der internationalen politikphilosophischen Diskussion Beachtung gefunden hat.« Vgl. P. Singer, 274. A.a.O., 277. Vgl. Andersen, 15: »Philosophische Ethik ist eine kritische Reflexion über die Frage, ob es Sinn macht, zwischen guter bzw. richtiger und böser bzw. falscher menschlicher Handlungsweise zu unterscheiden.« Andersen muß sich fragen lassen, ob die so skizzierte Frage nach Ethik tatsächlich die »grundlegende Aufgabe« (ebd.) der philosophischen Ethik oder nicht eher eine Vorfrage ist. Als Definition der philosophischen Ethik ist der zitierte Satz jedenfalls nicht ausreichend weit gefaßt.

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denen es sich dann logisch zwingend ableiten läßt. Die Ethik wäre dann einfach nur die »Anwendung« ihres Grundes - ein Gedanke, der ihrem komplexen Charakter nicht angemessen ist. (3) Der Begründungsbegriff gibt insofern dem zu Begründenden den Primat, als es als fertiger Komplex, für den nun nach Gründen gesucht wird, vorausgesetzt wird. Demgegenüber läßt die Rede von einer »Grundlegung« mehr dynamischen Spielraum; am Beispiel des Fundaments eines Hauses wird deutlich, daß, so wie das zu Begründende zurückwirkt auf den Grund - s. o. (2) - , so auch der Grund über das ganze Gebäude einschließlich seiner Ausmaße mitbestimmt.50 Dies gilt gerade auch für die Ethik. - Aus all diesen Gründen wird im Rahmen der vorliegenden Studie konsequent von der Grundlegungs- und nicht der Begründungsfrage gesprochen, sofern es sich nicht um Referate anderer Positionen handelt, die wie etwa Höffe dezidiert einen Begründungsanspmch vertreten. Zum Schluß sei angemerkt, daß alle in der Folge zur Sprache kommenden Denker, um ihnen vollständig gerecht zu werden, selbst schon für das hier allein interessierende Gebiet der Ethikgrundlegung bzw. der Naturrechtslehre monographische Abhandlungen rechtfertigen würden (und es ζ. T. bereits getan haben). So gesehen, stellt der hier vorgenommene Syntheseversuch ein kaum kalkulierbares Risiko dar. Wenn er dennoch in Angriff genommen wird, dann geschieht das aus der Überzeugimg, daß Erkenntnisfortschritt (und nur dieser - nicht etwa ein abschließendes Wissen) zumindest gelegentlich auch auf synthetischem Wege und nur um den Preis eines Risikos zu erzielen ist. Ob die vorliegende Arbeit in diesem Sinn weiterführend ist, bleibt dem Urteil ihrer Leserinnen und Leser überlassen.51

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Vgl. Heidegger, Kant, lf. Noch eine kuize Anmerkung zu den Zitationen: Alles, was in Anführungszeichen steht, folgt in Wortlaut und Hervorhebungen dem jeweiligen Originaltext. Ergänzungen des Verfassers sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.

TEIL I:

Modelle theologisch-ethischer Grundlegung im Protestantismus des 20. Jahrhunderts 1. Wilhelm Herrmann 1.1. Ansatz und Durchführung von Herrmanns Ethik Wilhelm Herrmanns Theologie kreist um einen Gedanken: den des menschlichen Selbst und seiner Autonomie.1 Wirkungsgeschichtlich am bedeutsamsten war eine Folgerung Herrmanns aus diesem Gedanken auf dem Gebiet der Dogmatik: Rudolf Bultmann berief sich fur sein Entmythologisierungsprogramm maßgeblich auf die Aussage seines Lehrers Herrmann, der christliche Glaube sei kein Für-Wahr-Halten unverstandener Lehren, sondern persönliches Überzeugtsein.2 Wie nun aber der Autonomiegedanke ursprünglich dem Bereich der Ethik angehört, so ist auch bei Herrmann mehr noch als die Dogmatik seine Ethik durchdrungen von der Forderung nach Selbständigkeit des Individuums, dem Ideal der - recht verstanden - autonomen Persönlichkeit. Schon der grobe Aufbau von Herrmanns ethischem Entwurf3 läßt sich in dieser Weise interpretieren. Neben der Abfolge eines allgemein-sittlichen und

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Handgreiflich wird die Wichtigkeit des Wortes »Selbst« und seiner Komposita für Herrmanns Theologie an der Vorlesungsmitschrift eines Studenten: Dort ist »Selbst« mit einem eigenen Kurzschriftzeichen belegt (X) - eine Ehre, die außer »Mensch« sonst nur Worten wie »ist« und »auch« zuteil wird (vgl. die Zitate bei Mogk, 333-339). Vgl. ζ. B. Bultmann, Mythologie, 156f: »Der Versuch der Entmythologisierung beginnt mit dieser wichtigen Einsicht: Die christliche Predigt, sofern sie Predigt des Wortes Gottes auf sein Geheiß und in seinem Namen ist, bietet nicht eine Lehre an, die man entweder durch die Vernunft oder durch ein sacrificium intellectus annehmen kann. Die christliche Predigt ist Kerygma, das heißt, eine Verkündigung, die nicht an die theoretische Vernunft gerichtet ist, sondern an den Hörer als an ein Selbst.« Herrmann, Ethik. Herrmann hat diesen Entwurf anläßlich von Neuauflagen mehrfach überarbeitet. Die Seitenangaben im Text folgen der Ausgabe letzter Hand: Tübingen 5 1913. Die »Ethik« und ihre verschiedenen Auflagen gehören in die mittlere und späte Periode von Herrmanns Schaffen. Zu den verschiedenen Perioden und ihren Differenzen

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Grundlegung der Ethik im Protestantismus des 20. Jahrhunderts

eines christlich-sittlichen Teils fällt in Herrmanns Gliederung insbesondere der Beginn des letzteren mit einem Abschnitt über die »Entstehung des christlichen Lebens«, d. h. Wiedergeburt, Glaube und Bekehrung, ins Auge, ehe ein zweiter Abschnitt unter dem Titel: »Die Entfaltung des christlichen Lebens« auf das Terrain der traditionellen theologischen Ethik einschwenkt. Dieser Aufschub und relativ bescheidene Platz der »Entfaltung« ist auf doppelte Weise in Herrmanns theologischem Programm begründet. Geht es nämlich darum, »den christlichen Glauben und die geistigen Vorgänge, in denen er sich entfaltet, zu verstehen [!]« (6), so ist, wie Herrmann in der Einleitung in Auseinandersetzung mit Schleiermacher ausfuhrt, erforderlich, auch die Entstehung dieses Glaubens sowie seinen Zusammenhang mit dem Allgemein-Sittlichen in die Darstellung der christlichen Ethik einzubeziehen. Und ergibt diese Darstellung ein Verständnis des christlichen Glaubens, das seine Pointe in der sittlichen Selbständigkeit des einzelnen hat, so folgt fast von selbst, daß ein ausführliches Abhandeln der einzelnen Tätigkeitsfelder im Stile einer Moralkasuistik gerade nicht angezeigt ist. In dieses Konzept einer verständlichen - und zwar auch für dem Christentum Femerstehende verständlichen (vgl. XIII) - Darstellung der christlichen Sittlichkeit und ihrer Voraussetzungen fügt sich die Durchführung im einzelnen nahtlos ein. Daß dabei der Autonomiegedanke in einer an Kant und seine Trennung von noumenaler und phänomenaler Sphäre angelehnten Fassung leitend bleibt, geht schon aus dem Satz hervor, mit dem Herrmann gegen Ende der Einleitung sein Verständnis von Ethik umreißt: Es »scheint mir eine Ethik Platz zu haben, in der die Geschichte als die gewollte Wirklichkeit des Menschlichen von der Natur als der nachweisbaren Wirklichkeit der Dinge unterschieden und diese Unterscheidung zum Fundament gemacht wird« (11).

Die Unterscheidung von Natur und Sittlichkeit wird nach Herrmann vom Bewußtsein selbst vollzogen. »[W]enn wir uns zum Wollen aufraffen« (16), dann tun wir das, weil wir uns bewußt sind, »noch einer ganz anderen Wirklichkeit anzugehören« (ebd.) als der Natur, die uns umgibt. Im Wollen erlebt

vgl. seit kurzem die in München bei Jan Röhls geschriebene Dissertation von Rainer Mogk: »Die Allgemeingültigkeitsbegriindung des christlichen Glaubens. Wilhelm Herrmanns Kant-Rezeption in Auseinandersetzung mit den Marburger Neukantianern«. Mögk arbeitet strikt aus den Quellen und unter vollem Respekt der Entwicklungsgeschichte von Herrmanns Theologie. Auf dieser Basis erweist sich manche gängige These der Herrmann-Interpretation als unbegründet, etwa die einer Abhängigkeit Herrmanns vom Marburger Neukantianismus oder die von Theodor Mahlmann in einem vielzitierten Aufsatz vollzogene Herleitung von Herrmanns Erlebnisbegriff aus der Lebensphilosophie.

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sich das Bewußtsein, anders als im Vorstellen, als nicht »abhängig von den Zuständen« (ebd.), in denen es sich jeweils befindet. Ein vollkommenes oder sittliches Wollen besteht dann darin, gegenüber den ständig wechselnden Umständen der uns umgebenden Natur »innere Selbständigkeit« bzw. »ein wirklich einheitliches Wollen« oder, noch anders gesagt, »die innere Sammlung in einer Gesinnung« zu erwerben und auszuformen (vgl. 21). Herrmann hat damit einen Gedanken formuliert, der seine ganze Ethik durchzieht und ihr das Gepräge gibt: Sittlichkeit ist Selbständigkeit (vgl. ζ. B. 56). Ist somit die grundlegende These, das Verständnis der Sittlichkeit als »Selbstunterscheidung des Menschen von der Natur« (36), bewußtseinstheoretisch verortet, so fällt es Herrmann nicht mehr schwer, den Nachweis zu fuhren, daß der Eudämonismus, der ganz im Gegensatz dazu einen Zusammenhang zwischen natürlichem Streben und Sittlichkeit postuliert, unzulänglich ist (25-35). Aber auch andere Versuche, Sittlichkeit in irgendeiner Weise unter Rückgriff auf die Natur zu erklären, würden geradewegs zur »Selbstauflösung« (36) der Ethik fuhren.4 Natur ist aber nicht Geschichte. Was hinsichtlich der natürlichen Wirklichkeit unmöglich ist, nämlich einen Anhaltspunkt für das formulierte Verständnis von Sittlichkeit zu erhalten, muß für die geschichtliche Wirklichkeit sogar gefordert werden: »Es kommt vor allem darauf an, ob wir uns ein sittliches Verhalten als ein uns zweifellos gegebenes Faktum des geschichtlichen Lebens, an dem wir selbst teilnehmen, vergegenwärtigen können« (43f). Herrmann findet dieses Faktum im zwischenmenschlichen Vertrauen und geht damit erstmals signifikant über Kant hinaus, dessen »Kritik der praktischen Vernunft« zuvor insbesondere bei der Auseinandersetzung Herrmanns mit dem Eudämonismus unverkennbar Pate gestanden hat.5 Die Differenz zu Kant bleibt bestehen, auch wenn Herrmann später die Bedeutung des Vertrauenserlebnisses wieder einschränkt, indem er im Sinne des bekannten Satzes aus der Einleitung zur »Kritik der reinen Vernunft«6 den Autonomiege-

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Vgl. 24f: »Der Ursprung des Wollens liegt im Wollen, d. h. auf jede Möglichkeit, es zu erklären, müssen wir verzichten.« Mogk weist nach, daß das Vertrauenserlebnis erst mit der ersten Auflage der »Ethik« (1901) von Herrmann in seine »Allgemeingültigkeitsbegriindung des christlichen Glaubens« eingeführt wird, und zwar aus zwei Gründen: (1) Die Argumentation soll unabhängiger von philosophischen Voraussetzungen - also auch Kant - werden (vgl. Mogk, 31 lf; 374); (2) insofern auch die Begegnung mit Jesus Christus von Herrmann als Vertrauensakt beschrieben wird, stellt das sittliche Vertrauenserlebnis einen hervorragenden Anknüpfungspunkt fur die Offenbarung dar (vgl. a.a.O., 309; 315; 337). Vgl. Kant, KrV, Β 1 : »Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.«

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danken im Vertrauensverhältnis zwar »erwachen«, aber als dessen Voraussetzung doch »von aller Erfahrung unabhängig []« sein läßt (53). Denn in der »Kritik der praktischen Vernunft« wird bei der Herleitung des Kategorischen Imperativs weder auf das Vertrauen noch auf ein anderes Moment der äußeren Erfahrung verwiesen, sondern einziges »Faktum« ist dessen bewußtseinsimmanente Forderung.7 Zunächst wieder ganz in den Bahnen Kants verläuft der nächste Argumentationsschritt Herrmanns. Wegen des Widerspruchs des unveränderlichen Wollens zu den Neigungen erhält es Gebotscharakter, bestimmt es sich als »sittliches Gesetz« (44-52). Herrmann verteidigt die Kantsche These von dessen Gegenstandsunabhängigkeit und damit bloßer Formalität, ehe er eine zweite charakteristische Erweiterung gegenüber Kant vornimmt. Er versucht eine inhaltliche Näherbestimmung des Kategorischen Imperativs und gelangt so zu folgender Doppelforderung: »[W]ir sollen imbedingt wahrhaftige geistige Gemeinschaft mit andern wollen und wir sollen [...] selbst innerlich selbständig sein« (51).8 Geht schon die Formulierung einer Konkretion als solche über Kant hinaus (einmal ganz abgesehen vom Gebrauch der 1. Person Plural), so sind auch die Inhalte, die Herrmann stipuliert, ohne direkten Anhaltspunkt bei Kant. Der Gemeinschaftsgedanke spielt beim Königsberger Philosophen keine grundlegende Rolle, und die von ihm geforderte Eignung jeder persönlichen Maxime zu einer allgemeingültigen Gesetzgebung ist etwas anderes als Herrmanns Insistieren auf der »innerlichen Selbständigkeit«.9 Während Kant die Kongruenz der Maxime mit der allgemeinen Vernunft fordert, bedeutet Autonomie nach Herrmann das konsequente Verfolgen einer persönlichen Gesinnung,10 und es ist wohl nicht zuletzt die hier lauernde

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Vgl. Kant, KprV, A 56: »Doch muß man, um dieses Gesetz [sc. den kategorischen Imperativ] ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken, daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend [...] ankündigt.« An der Stelle der Auslassung steht im Text ein »dadurch«. Wie aber die Fortsetzung von Herrmanns Argumentation auf der folgenden Seite zeigt, ist das Bedingungsverhältnis der beiden Teilforderungen ein reziprokes und nicht etwa einseitig nur die Selbständigkeit im Willen zur Gemeinschaftsbildung bedingt. Zu dieser Differenz gegenüber Kant vgl. Mogk, 3 lOf. Herrmanns Auslegung des Kategorischen Imperativs stimmt an dieser Stelle mit der Fichtes überein (s. zu Fichte u. 8.9.); sie radikalisiert den Kantschen Gedanken der Formalität des Sittengesetzes. Vgl. zur Relativierung der Inhalte gegenüber der Form der reinen Gesinnung die beiläufige Bemerkung Herrmanns, es könne sein, »daß der Mathematiklehrer, der streng bei seiner Sache bleibt, zur religiösen und sittlichen Förderung der Schüler viel mehr beiträgt, als der Religionslehrer« (220). Die an Texten der mittleren und späten Periode von Dietz Lange beobachtete zentrale Stellung der Wahrhaftigkeit

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Gefahr des Solipsismus, die ihn dazu bestimmt, den Gemeinschaftsgedanken in seine Formulierung des Kategorischen Imperativs aufzunehmen. Herrmann selbst verweist allerdings auf das biblische Doppelgebot der Liebe.11 Bevor jedoch die Differenzen zwischen Herrmann und seinem philosophischen Gewährsmann Kant12 genauer betrachtet werden, soll der Gedankengang von Herrmanns ethischem Entwurf weiterverfolgt werden. Die auf die grundlegenden Ausführungen zum »sittlichen Gesetz« folgenden Paragraphen haben ihren Fluchtpunkt im Zukunftsaspekt der Sittlichkeit. Letztere ist ein fortwährender Kampf mit den natürlichen Schranken des persönlichen Lebens, eine »ewig gültige unerschöpfliche Aufgabe« (64), Freiheit gegenüber dem natürlichen, am Vergangenen orientierten Kausalzusammenhang. »Sobald die sittliche Erkenntnis in uns wirksam wird, schreiben wir uns ein freies Wollen zu, das in dem Zusammenhang des empirisch Wirklichen nicht begründet ist, aber uns eine neue Zukunft schafft« (80). Sittlichkeit impliziert das Rechnen mit einer anderen als der natürlichen Wirklichkeit, also eine dualistische Weltanschauung. Dementsprechend ist das Böse »in erster Linie das Verharrenwollen in dem alten Wesen oder Trägheit gegenüber der sittlichen Forderung« (81). Analog zur Doppelgestalt des Guten äußert es sich darin, daß die Verpflichtung zur Gemeinschaft abgelehnt und durch Bindung an die Naturtriebe Unfreiheit produziert wird. Diesem Bösen kann sich nun

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bei Herrmann (vgl. D. Lange, Wahrhaftigkeit, 95: »Die sittliche Grundforderung der Wahrhaftigkeit hat sich uns als der Leitfaden der gesamten Theologie Wilhelm Herrmanns erwiesen.«) hat hier ihre Wurzel, heißt doch »wahrhaftig sein« fur Herrmann: »sich selbst treu sein« (a.a.O., 80). Im Urteil, daß Herrmanns Theologie in diesem ihrem Zentrum »wegweisend« sei (a.a.O., 97), konnte sich Lange der Zustimmimg seines Lehrers Emanuel Hirsch gewiß sein, dessen Ethik, wie unten noch zu zeigen sein wird, ganz deutlich auf entsprechende Gedanken Fichtes und der Romantik zurückgreift. Vgl.Mogk.311. Vgl. zur Bedeutung Kants für Herrmann: Mogk, 51 (»Für Herrmann war Kant immer die philosophische Bezugsgröße.«); 72; 422 (»Kant ist von Anfang bis Ende Herrmanns philosophischer Hauptgewährsmann.«). Mogk kann auch anhand bisher unveröffentlichter Arbeiten belegen, daß schon der Student, ja der Schüler Herrmann eine intensive KantLektüre betrieb. Allerdings - und dies ist vielleicht der wichtigste Ertrag der Rekonstruktion Mogks - habe Herrmann Kant von Beginn an durch eine von Lotze geprägte Brille gelesen: »Die Kant-Rezeption erfolgt von Herrmanns eigenem Ansatz aus. Die beiden Ausgangspunkte, die Beziehungsontologie und das Selbstgefühl, sind Lotze entlehnt bzw. von ihm inspiriert. Wenn man also von einem Kantianismus Herrmanns sprechen möchte, so muß man stets im Auge behalten, daß das Selbst bzw. das Selbstgefühl der Nagel ist, an dem Herrmann die kantische theoretische und praktische Philosophie aufhängt« (a.a.O., 422f; für Belege vgl. a.a.O., 161-171). Gerade in der wirkungsgeschichtlich so bedeutsamen Spätphase sind diese Ausgangspunkte für Herrmann wieder wichtig geworden (vgl. a.a.O., 424).

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nach Herrmann kein Mensch entziehen, weil der Mensch eben auch der natürlichen Wirklichkeit angehört. Der sittliche Mensch wird sich diese Boshaftigkeit nicht nur eingestehen, sondern auch zurechnen. So entsteht bei jedem, der »in ernster Selbstbesinnung« (86) seine Existenz reflektiert, das Bewußtsein von Schuld.13 »Er wird um so unglücklicher, je ernster und aufrichtiger er ist« (87). Mit diesen Sätzen zur für das sittliche Denken unüberwindlichen »Krisis des sittlichen Bewußtseins« (ebd.) läßt Herrmann den ersten Teil seiner »Ethik« enden. In der ersten Auflage hatte er noch einen Absatz angefügt, der bereits den Silberstreif am Horizont dieser Krise sehen läßt: die »kleine[] Schaar von Menschen«, die von einer »Thatsache« sprechen, die hilft, das Dilemma zu bewältigen.14 Ist schon in der späteren Version die Anlehnung an die paulinische Argumentation in Rom 7 mit ihrem scheinbar ausweglosen Zwiespalt zwischen Wollen und Vollbringen mit Händen zu greifen, so folgt dieser ursprüngliche Text Paulus auch noch darin, daß dem Notschrei unmittelbar der erlösende Hinweis auf das Christusgeschehen folgt. Doch bevor die Frage nach den Quellen, aus denen Herrmanns »Ethik« schöpft, näher erörtert wird, sei zunächst noch der Gedankengang ihres zweiten Teils nachgezeichnet. Nach Herrmann kann die Befreiung aus der Krise »nur in Einem« (92) liegen: der gänzlichen Unterwerfung unter die Macht des Guten in freier Hingabe. Genau dies ist aber Religion - und damit der Schritt von der allgemeinen zur christlichen Sittlichkeit vollzogen. Wichtig ist die genaue Verhältnisbestimmung von Sittlichkeit und Religion. Sittliches Denken - und hier grenzt sich Herrmann von Kant wie von seinem Marburger Gesprächspartner Hermann Cohen ab - ist zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das Entstehen von Religion. Es bereitet den Schritt zur religiösen Unterwerfung vor, ist sogar einziger Zugang zum religiösen Erlebnis (vgl. 60; 89; 110), kann den Übergang zur Religion aber nicht selbst »schaffe[n]Durchschnitt, der zu einem gewissen buchstäblichen Legalismus genötigt ist< beanstanden. Dessen bedürfen wir alle.« Vgl. den definitionsartigen Satz: »Das christliche Leben in dieser Welt beruht auf der einfachen Tatsache, daß die Person Jesu dem von ihrer Kraft ergriffenen Menschen der Ausdruck dieser Vergebung Gottes wird« (130).

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nes Willens zum Guten auffassen, so sieht der Glaube in ihr gottgegebene Ordnungen und Berufe als Material zur sittlichen Vervollkommnung (vgl. 144). Mit diesem Satz ist bereits der Übergang zum abschließenden Teil der »Ethik« Herrmanns vollzogen, der die »Entfaltung des christlich-sittlichen Lebens«, insbesondere in den Ordnungen von Ehe bzw. Familie, Kulturgesellschaft und Staat behandelt. Er braucht hier nicht weiter behandelt zu werden. Wichtiger fur das Verständnis des Herrmannschen Ansatzes ist jedoch, daß vor diesen Teil der ethischen Konkretionen ein Kapitel gestellt ist, das noch auf einen weiteren ethischen Aspekt des christlichen Glaubens eingeht. Denn der christliche Glaube vermittelt - so Herrmanns These - nicht nur die Kraft, das Gute zu tun, sondern er führt auch zu einem neuen, »klarerefn]« (148) Verständnis des Guten, als es sich aus der allgemein-ethischen Reflexion erheben läßt. Dies ergibt sich aus Herrmanns Interpretation der sittlichen Weisungen Jesu. In Herrmanns Sicht hat Jesus keine Lebensregeln gegeben, sondern eine »Gesinnung« gefordert: »reine Hingabe an Gott in sittlicher Selbständigkeit« (169; vgl. 154).22 Beides ist wichtig, doch es kann kaum noch überraschen, daß die entscheidende Bedeutung wiederum der Autonomie zukommt, denn: »Jesus hat die Selbständigkeit des sittlichen Wollens mit einer Schärfe gefordert, die vor ihm und nach ihm von keinem erreicht worden ist« (157; vgl. 161).23 Zum Beleg dieser These dienen Herrmann mehrere exegetische Beobachtungen am Neuen Testament: Die Bergpredigt hat ihren Fokus in der »Unabhängigkeit der gerechten Gesinnung« (160) von allgemeinen Vor-

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Vgl. Herrmann, Weisungen, 3 (»Auf den Nachweis ist es im folgenden abgesehen, daß die sittlichen Weisungen Jesu nicht vielerlei fordern, sondern das Eine, das allein dem Wollen eine einheitliche Richtung geben kann oder eine feste, selbständige Gesinnung begründet.«); 28 (»Denn wir erfassen sie [sc. die sittlichen Gedanken Jesu] überhaupt erst dann, wenn wir sie als die Erzeugnisse eines Willens erkennen, der nicht Willkür, sondern im Ewigen ruhende Einheit der Gesinnung ist.«). Vgl. auch Herrmann, Weisungen, 25 (»Es ist dann ein rauhes Erwachen, wenn wir merken, daß Jesus unserm Mitgefühl mit ihm die Erwartung entgegenhält, daß wir uns auf uns selbst besinnen sollen.«); 31 (»Jesus hat uns vielmehr zu der Erkenntnis bringen wollen, daß wir überhaupt durch kein Wort von außen erfahren können, was gut sei, sondern aus uns selbst die unveränderliche Richtung unseres Wollens erzeugen müssen.«); 39 (»Er [sc. Jesus] bekämpft [...] den Wahn, daß ein Mensch zu sittlichem Handeln gebracht werden könne durch eine Summe von Vorschriften, die seine Selbständigkeit einschränken. Zugleich aber macht er die eigentümliche Art des sittlichen Handelns deutlich, daß es nämlich nur aus der eigenen Erkenntnis des Guten erzeugt werden kann.«).

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Schriften,24 das Gebot der Nächstenliebe fordert eine Liebe, »die völlig unabhängig ist von der durch andere in uns erregten Abneigung oder Zuneigung« (165). Das Liebesgebot zeigt überdies, wie Autonomie, Einheitlichkeit der Gesinnung, Wahrhaftigkeit und Gemeinschaftsideal zusammenhängen. Auch letzterem hat Jesus die »schärfste Form« (ebd.) gegeben. Diese Verschärfung der Forderung ist nur möglich auf der Basis der Hingabe an Gott, wodurch sich zeigt, wie bei Jesus das sittliche Handeln mit einer Veränderung der »innere[n] Stellung zu der sittlichen Aufgabe« (153), nämlich dem hoffnungsvollen Glauben an Gott als die Macht des Guten, verknüpft ist. Ein im Profanen verbleibendes Bemühen tun Sittlichkeit ist hingegen zum Scheitern verurteilt: »Die selbständige Erkenntnis des sittlichen Endzwecks, die der Mensch auch ohne Zuversicht zu Gottes Macht und Gnade haben kann, ist ohne Kraft. Sie kann nicht einmal zu der Einsicht fortschreiten, daß das sittlich Geforderte Liebe zum Nächsten ist, weil es dem Menschen, der es noch nicht erlebt hat, daß Gott ihm seine Sünden vergibt, undenkbar sein muß, daß Liebe von ihm gefordert werden könne« (170). 1.2. Die Grundlegung der Ethik bei Wilhelm Herrmann Die zuletzt referierten Ausführungen Herrmanns scheinen für eine spezifisch christliche Grundlegung zu sprechen: Erst das Christentum vermittelt im Hören auf die Stimme Jesu eine wahre Erkenntnis des Sittlichen. Nun steht aber eine solche Folgerung im Widerspruch zu Äußerungen Herrmanns in der Einleitung der »Ethik«, die in Auseinandersetzung namentlich mit Schleiermacher die gegenteilige Meinung vertreten: »In der Theologie ist es üblich, eine philosophische und eine theologische oder christliche Ethik zu unterscheiden. Es gilt zunächst, diesen Begriff einer besonderen theologischen Ethik als unhaltbar aufzulösen« (1). Die gleiche Auffassung in positiver Formulierung: »Von der Wissenschaft der Ethik ist zu verlangen, daß sie den Begriff des Guten, unabhängig von jeder religiösen Autorität, als eine Erkenntnis feststellt, die jedem ernsthaft wollenden Menschen bewiesen werden kann« (2).25

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Vgl. Herrmann, Weisungen, 48: »Sie [sc. die Weisungen Jesu] sind nicht Stricke, die er uns gedreht hätte, sondern Wegleiter zur Freiheit.« Was der Begriff des »Beweises« und überhaupt die Bezugnahme auf das allgemeine ethische Bewußtsein bei Herrmann bedeutet, war einer der Gegenstände der in den 60er Jahren zwischen Gerhard Ebeling und Wolfhart Pannenberg geführten Kontroverse. Während letzterer von »Herrmanns ethische[m] Beweis des Christentums« spricht und ihn insofern gutheißt, als damit »die evangelische Theologie ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit noch nicht preisgegeben [hatte]«, aber die »Einengung auf das ethische Interesse« bei Herrmann und seinen Vorgängern und Nachfolgern kritisiert (Pannenberg, Krise, 43.42.54), möchte Ebeling gerade mit Herrmann bei der »Evidenz des Ethischen«

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Begründet wird dieser Standpunkt mit der Allgemeinheit des Guten: »Eine vermeintliche Erkenntnis des Guten, die sich nicht als allgemein menschlich ausweisen könnte, würde den Gedanken des Guten noch gar nicht erreicht haben, mit dem es die Ethik zu tun hat« (ebd.). Die Klarheit dieser Äußerungen und ihr prominenter Ort am Beginn des Werks sprechen für sich. Zum gleichen Ergebnis führen Überlegungen, die sich aus der Pointe und dem Duktus von Herrmanns gesamter Argumentation ergeben. Die Pointe besteht, wie aus dem Referierten deutlich geworden sein dürfte, im Gedanken der Autonomie des einzelnen, verstanden als Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Dieser Autonomie würde aber Entscheidendes fehlen, wenn eine Erkenntnis des Guten der Vermittlung der christlichen Überlieferung bedürfte. Gerade die von Herrmann immer wieder betonte Bedeutung der ernsthaften Selbstbesinnung weist in eine andere Richtung. Zu beachten ist dabei nur, daß das autonome Subjekt das Gute zwar erkennen kann, beim Tun des Guten jedoch auf eine ohne die Hilfe der Offenbarung unüberwindliche Grenze stößt. Der Duktus der Argumentation führt von der Sittlichkeit zur Religion. Dies entspricht Herrmanns Sicht des sachlichen Verhältnisses. Zwar bedingen sich beide gegenseitig, doch in unterschiedlicher Weise: Es gibt zum »religiösen Erlebnis [...] keinen andern Zugang als in der sittlichen Gesinnung«

anknüpfen und Herrmanns »Auffassung von der hermeneutischen Bedeutung des Sittlichen für die Theologie« (Ebeling, Evidenz, 8 Anm. 6) teilen, hingegen das Wort »Beweis« bei Herrmann nicht im allgemein üblichen Sinn verstanden wissen (vgl. Ebeling, Krise, 42f Anm. 3). Legt man Herrmanns »Ethik« zugrunde, so besteht etwa im oben zitierten Satz kein Grund, das Wort »bewiesen« anders als üblich zu verstehen, und ist insofern Pannenberg recht zu geben. Es gibt allerdings Anhaltspunkte, daß Herrmanns Auffassung von einem »Beweis« und dessen Möglichkeit sich im Laufe seiner Veröffentlichungstätigkeit gewandelt hat (vgl. zum Spätwerk Mogk, 412-417, mit folgendem Ergebnis: Herrmann versucht zum Schluß keine Begründung mehr sensu stricto, sondern »operiert mit bloßen Evidenzen«, a.a.O., 445). Auch ist klar, daß der »Beweis« für Herrmann die Offenbarung nicht überflüssig machte und allein keine sichere Basis des Glaubens darstellte. Zinn letzteren vgl. Bultmann, Mythologie, 180: »Wir müssen jedoch bedenken, daß die Behauptungen des Glaubens über Gott, seinen Gegenstand, nicht objektiv bewiesen werden können. Das ist nicht eine Schwäche des Glaubens, sondern seine wahre Stärke, wie mein Lehrer Wilhelm Herrmann betonte.« Bultmann geht jedoch über seinen Lehrer hinaus, wenn er in der Fortsetzung über die »Heilstatsachen« schreibt: »Außerhalb des Glaubens sind sie nicht sichtbar, denn der Glaube kann nicht auf dieselbe Art auf Tatsachen gründen, wie die Naturwissenschaften auf Tatsachen gründen, die empirischer Beobachtung zugängig sind« (ebd.). Genau dies: die Herstellung einer Parallele zu den Naturwissenschaften, war der Sinn von Herrmanns Insistieren auf »Tatsachen« und »Fakten«!

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(60; vgl. 2),26 während die Religion zwar die Kraft und Motivation zum Tun des Guten bereitstellt, eine Erkenntnis des sittlichen Gesetzes jedoch schon durch eine bloße Analyse der inneren Logik des Wollens (vgl. 52) möglich ist. Die »Vernunft« fuhrt letztlich »jeden Menschen« über die Erkenntnis des Geforderten zum Bewußtsein der eigenen Ohnmacht« (135). Ernst Troeltschs kritische Bemerkung, das Sittliche verstehe sich bei Herrmann von selbst,27 ist also völlig zutreffend. In diesem Sinn müssen dann auch die scheinbar gegenteiligen Aussagen Herrmanns interpretiert werden. Auch der Beitrag Jesu zur Ethik besteht eben in erster Linie darin, Kraft und »innere Stellung« zum Tun des bereits bekannten Guten zu vermitteln. Wenn Herrmann den Mehrwert des Glaubens in bezug auf die Erkenntnis des Sittlichen betont, dann lassen sich die Worte Jesu ähnlich wie das Vertrauen als Konkretionen verstehen, an denen das sittliche Bewußtsein in voller Schärfe erwacht, ohne ihrer für die Einsicht in das prinzipielle Wesen der Sittlichkeit bedürftig zu sein. Herrmann vertritt also eine Grundlegung der Ethik auf ein allgemein zugängliches sittliches Bewußtsein. Quelle der Erkenntnis ist dabei die ernsthaft vollzogene Selbstbesinnimg mittels der Vernunft. Das Gewissen allein gilt Herrmann hingegen als fehlbar und muß »durch Erkenntnis berichtigt werden« (10). Ob Herrmann diese rein vernünftige Grundlegung gelingt, ist eine andere Frage. Hier ist auf die bereits oben angesprochenen charakteristischen Abweichungen gegenüber Kant hinzuweisen. Der Bezug auf das Vertrauensverhältnis und die Interpretation des Kategorischen Imperativs als Doppelforderung sind zwar zunächst dem Bemühen Herrmanns um Verständlichkeit zuzuordnen, könnten also prima vista als popularisierende Ergänzungen der Lehre Kants gelesen werden, ohne den allgemein-rationalen Ansatz, der beide Denker verbindet, zu gefährden. Angesichts der Bedeutung, die die beiden

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Vgl. Herrmann, Weisungen, 32: »Davor [sc. daß »die Religion ein Übergewicht über die sittliche Gesinnung« erhält] bleiben wir nur bewahrt, wenn wir einsehen, daß sittlicher Emst, die Wahrhaftigkeit des Wollens ein Anfang der Religion ist, in der wirklich der lebendige Gott gesucht wird.« Vgl. Troeltsch, Grundprobleme, 589f: »Es ist wieder [sc. bei Herrmann], wie in der herkömmlichen protestantischen Schulethik. Das Sittliche versteht sich von selbst. Das Christentum hat seine Bedeutung nicht im Sittlichen, sondern in der Wunderkraft, die es zu dessen allgemeinem Begriff als Fähigkeit der Verwirklichung hinzubringt, sowie in der Sündenvergebung, die es über die außerhalb der Erlösungssphäre immer vergeblich jenem Ideal Nachstrebenden ausspricht. Neu ist nur, daß das selbstverständliche Ideal nicht mehr in einer Mischung von allerhand naturrechtlichen, biblischen und herkömmlichen Inhalten besteht. Es hat überhaupt keinen Inhalt, sondern nur die Form der gewissensmäßigen Unbedingheit.«

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genannten Ergänzungen fur Herrmanns Interpretation der christlichen Religion haben - das Vertrauen zu Gott bzw. Jesus als Grundelement des Glaubens, die Doppelforderung als Zusammenfassung der Verkündigung Jesu - besteht jedoch erheblicher Anlaß zur Vermutung, daß Herrmann hier bereits als Theologe argumentiert. Genauer: als Apologet28, der zeigen will, daß das Christentum in den Fragestellungen mit dem, was jede und jeder sich selbst sagen kann, übereinstimmt, in den darauf aufbauenden Lösungen jedoch überlegen ist. Die Forderungen der Sittlichkeit, die seinem Programm nach jedermann spontan einsichtig sein sollen, sind von Herrmanns Auffassung des Christentums geprägt. Umgekehrt wird die letztere durch ihr stark sittliches Gepräge und ihre Orientierung an Kant in Richtung auf das vermeintlich »allgemeine« Bewußtsein gemodelt, weit über den ja durchaus berechtigten und erforderlichen bloßen Bezug der christlichen Aussagen auf die Wirklichkeit29 hinaus. Herrmann wird aufgrund seines apologetischen Ziels einer Vermittlung zwischen autonomer Vernunft und christlicher Bindung an die Offenbarung letztlich beiden nicht gerecht - und verfehlt so gleichzeitig das Ziel.30

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Mogk möchte im Anschluß an Abgrenzungen des Autors selbst lieber von »Allgemeingültigkeitsbegründung« als von »Apologetik« bei Herrmann sprechen, weil sich Herrmanns »Hauptstoßrichtung« nicht nach außen richte (vgl. Mogk, 147). Schon das Vorwort der »Ethik« (vgl. XIII) zeigt jedoch, daß dies durchaus der Fall sein konnte. Herrmanns Programm mit dem Ziel eines »Beweises« verdient den Titel »Apologetik«, sofern man letztere nicht mit Herrmann auf schüchterne Rückzugsgefechte und das Abarbeiten von Vorwürfen engführen will. Vgl. Herrmann, Weisungen, 11 : »Diese Worte [sc. Jesu] können uns doch mir dann wirklich überzeugen, wenn sie uns die Wirklichkeit deutlicher machen und auslegen, in der wir stehen.« Zu Herrmanns positiver Wertung des Wirklichkeitsbezugs von Denken und Handeln vgl. D. Lange, Wahrhaftigkeit, 79 (Wahrhaftigkeit bei Herrmann als »die Anerkennung der Wirklichkeit in dieser ihrer doppelten Gestalt [sc. als »nachweisbare« Natur und »erlebbare« Geschichte]«); 81 (»Das wirklichkeitsgemäße Handeln, das aus der wahrhaftigen Gesinnung hervorgeht, [...].«). Vgl. Troeltsch, Grundprobleme, 628: »[...] die Verschiebung, die Herrmann bei der Identifizierung des Kantischen Sittengesetzes mit dem christlichen unter der Hand vornimmt.« Diese Verschiebung besteht nach Troeltsch einesteils darin, daß das sittliche Bewußtsein vor der Begegnung mit Christus bei Herrmann nur als scheiterndes in den Blick kommt (vgl. a.a.O., 647: »Hier ist Herrmann ganz der harte Dogmatiker und Apologet, der den Wert des Christentums nur um den Preis des Unwertes alles Außerchristlichen glauben kann.«), andernteils im Verständnis der christlichen Sittlichkeit bloß vom Formalen und von der Erlösungslehre aus (dagegen Troeltsch, a.a.O., 645: »An erster Stelle muß der eigentümliche Inhalt des christlichen Ethos selber stehen.«). D. h.: Troeltsch kritisiert, daß durch das apologetische Vermittlungsbemühen Herrmanns der Eigenwert der beiden zu vermittelnden Pole - christliches und außerchristliches Bewußt-

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1.3. Wilhelm Herrmann und das Naturrecht In der Einleitung der »Ethik« schreibt Herrmann: »Für das antike Denken besteht das sittliche Verhalten entweder in der vollkommenen Betätigung der menschlichen Natur oder in dem Gehorsam gegen überlieferte Gesetze. Jene Auffassung ist die vorwiegend griechische, diese die vorwiegend jüdische« (3). Beide ethischen Ansätze werden von Herrmann abgelehnt. Der zweite verletzt zu deutlich das Autonomieideal, das Herrmann über seine Ethik stellt. Aber auch der »griechische«, auf die menschliche Natur rekurrierende und somit »naturrechtliche« Weg ist nach Herrmann fur eine Grundlegung unzulänglich. Bei diesem Urteil steht Herrmanns Verständnis der menschlichen Natur im Hintergrund. Zunächst, noch in der Einleitung, wird die Ablehnung nur thetisch ausgesprochen: »Nun ist es allerdings gewiß nicht die christliche Lebensaufgabe, das, was man als das menschliche Wesen erfahrungsmäßig feststellt, zu behaupten und zu betätigen« (ebd.). Doch die spätere Auseinandersetzung mit dem Eudämonismus offenbart den Ausgangspunkt der Kritik mit wünschenswerter Deutlichkeit: »Es erscheint also von vornherein als ein Fehler, wenn man das Wollen, in dem der Mensch wirklich sich selbst behauptet [,] mit dem Drange des Naturtriebes gleichsetzt, der einfach so, wie er ist, hingenommen und erlebt wird« (24). Die menschliche Natur wird von Herrmann mit dem Naturtrieb gleichgesetzt, wie dieser launisch und von der Umgebung abhängig und daher für eine ethische Grundlegung unbrauchbar. Herrmann kennt allerdings noch einen zweiten Naturbegriff: den der Naturwissenschaft mit seinem Insistieren auf Kausalität, Nachweisbarkeit, Exaktheit, Beständigkeit und eben nicht Launenhaftigkeit. Aber auch hier grenzt er sich ab: Wie bereits oben zitiert, soll gerade die Unterscheidung der Geschichte von der Natur, des Wollens von der Nachweisbarkeit und des

sein - nicht genügend gewürdigt wird. Eine gleichlautende Kritik hat Troeltsch gegenüber Albrecht Ritschis Versuch, modernes Weltbild und christlichen Glauben zusammenzubringen, geäußert. Vgl. Troeltsch, Rückblick, 218: »Aber es stellte sich einerseits immer mehr heraus, daß hier gewaltsame und unhistorische Deutungen vorlagen, daß in Wahrheit sein [sc. Ritschis] Verfahren eine stillschweigende Konformierung christlichtraditioneller und modern-wissenschaftlicher oder auch modern-ethischer Ideen war. Andererseits zeigte sich, daß diese Konformierung doch auch nirgends weit genug ging und auf die brennendsten Fragen des modernen religiösen Lebenskampfes gar keine oder nur Scheinantworten gab.« Der durch das »andererseits« bezeichnete Punkt begegnet in Troeltschs großer Stellungnahme im Anschluß an Herrmanns Ethik insofern, als Herrmann vorgeworfen wird, am eigentlichen Problem aktueller Ethik, das auf Seiten der objektiven Zwecksetzungen liege, vorbeizugehen. Vgl. im übrigen auch Troeltsch, Soziallehren, VII (zit. u. 6.3. S. 142).

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Menschen von den Dingen das Fundament seiner Ethik bilden. Das menschliche Wollen gehört zum Reich der Freiheit, während die Natur mit kausalgesetzlicher (Fremd-)Bestimmtheit gleichgesetzt wird. Bei diesem Naturbegriff steht unverkennbar erneut Kant Pate,31 der sich seinerseits bei seiner »Gesetzesmetaphysik«32 am Ideal der mathematischen Naturwissenschaften im Sinne Newtons orientierte. Daß die Differenzierung von Geschichte und Natur und der aus ihr folgende, von Herrmann auch offen vertretene Dualismus auf schwerwiegende Probleme stoßen, braucht kaum eigens hervorgehoben zu werden. Schon der Handlungsbegriff setzt ja voraus, daß menschliches Wollen etwas in der Natur bewirkt, also eine Beziehung zwischen beiden Bereichen besteht. Umgekehrt ist die aristotelische These, daß menschliches Handeln und seine Güte auch von den natürlichen Umständen abhängen, längst nicht so abwegig, wie Herrmann glauben machen möchte (vgl. 28f). Man muß ihm allerdings zugute halten, daß sein Dualismus im Vergleich mit der zeitgenössischen Populärphilosophie dem menschlichen Handeln noch vergleichsweise viel zutraute. Denn durch das Postulat eines zweiten Wirklichkeitsbereichs, in dem Freiheit und nicht Kausalbestimmtheit gilt, wandte er sich gegen die Tendenz, monistisch alle Wirklichkeit dem naturwissenschaftlichen Weltverständnis unterzuordnen. Gleichwohl gab er damit zugleich den Bereich der »Natur« kampflos preis. Es ist nun interessant zu sehen, daß Herrmann selbst - bei der »Entfaltung« der christlichen Ethik und dem Übergang dazu - Abstriche an seinem Dualismus vornehmen muß. Der leitende Gedanke ist dabei, daß der Mensch unentrinnbar an seine Natur gebunden ist. Zu seinem Leben gehören Entscheidungen, die nicht durch sittliche Einsicht, sondern durch die äußeren Verhältnisse bestimmt sind; ein Großteil der menschlichen Existenz vollzieht sich in der Arbeit an Sachen (vgl. 142f). Gerade in der hier sich für das sittli-

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Vgl. Kant, Prolegomena, § 14 (A 71): »Natur ist das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.« Zu diesem Naturbegriff vgl. Erik Wolf, Problem, 47-61. Wenzel, 161; 184. Was darunter verstanden werden soll, beschreibt Wenzel a.a.O., 160: »Kant folgt einem ontologischen Paradigma von Kausalgesetzlichkeit, unter das Natur und Freiheit gleichermaßen subsumiert sind.« Wie stark dieses Paradigma auch für Kants Ethik leitend war, erhellt aus folgenden von Wenzel (a.a.O., 167f) angeführten Zitaten aus einer Vorlesung Kants über das Naturrecht von 1784: Kant, Naturrecht, 1320 (»Wäre aber jeder frey ohne Gesetz, so könnte nichts schrecklicheres gedacht werden. Denn jeder machte mit dem andern was er wollte, und so wäre keiner frey. Vor dem wildesten Thiere dürfte man sich nicht so fürchten, als vor einem Gesetzlosen Menschen.«); 1322 (»Ohne Gesetze läßt sich keine Ursache, mithin kein Willen denken, da Ursache da[s] ist, worauf etwas nach einer beständigen Regel folgt. Ist Freiheit einem Gesetz der Natur unterworfen, so ist sie keine Freiheit. Sie muß sich daher selbst Gesetz seyn.«).

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che Bewußtsein ergebenden Unsicherheit hilft nun aber laut Herrmann der Glaube an Gott, sofern er die geschichtlichen und natürlichen Verhältnisse als Gaben Gottes ansieht, die »mit gutem Gewissen« (144) zu benutzen sind. Sind aber die »durch Naturtriebe begründeten Gemeinschaften« (180) aus dieser Warte durchaus positiv zu beurteilen und sittlich zu bewerten, so stellt sich die Frage, wie die von Herrmann zum Programm gemachte Differenz von Natur und Sittlichkeit damit noch widerspruchsfrei zu vereinen ist. Die Natur bleibt zwar auch im neuen, durch den Glauben geläuterten Verständnis ambivalent: »Zustände der Abwendung von dem natürlichen Leben und der willigen Teilnahme an ihm gehen in der christlichen Sittlichkeit fortwährend ineinander über« (178). Doch ist dies etwas anderes als der Naturbegriff des ersten Teils von Herrmanns Darstellung, der die Natur des Menschen mit dem kruden Selbsterhaltungstrieb gleichsetzt. Berücksichtigt man noch, daß die positiven Seiten der Natur nach Herrmann nicht nur aus christlicher Sicht, sondern von jedem »sittlich kämpfenden Menschen« (177) wahrgenommen werden können, also durchaus in der von Herrmann intendierten allgemeinverständlichen Grundlegung Platz gehabt hätten, so wird vollends unklar, warum Herrmann von einem Naturverständnis ausgeht, das er einige Kapitel später erheblich modifizieren muß. Auch hier bietet sich als beste Erklärung erneut Herrmanns apologetisches Bemühen an, das ihn bei einem Dualismus Zuflucht nehmen ließ, der neben dem Handlungsbegriff auch die innere Kohärenz des Entwurfs, nämlich die von allgemeiner Grundlegung und christlicher Entfaltung, eskamotiert. Ein weiteres Problem von Herrmanns Stellung zum Naturrecht zeigt sich, wenn man die strenge Begrifflichkeit verläßt. Denn bisher ist die Interpretation in diesem Abschnitt, darin Herrmann folgend, am Naturbegriff orientiert gewesen. Nun kann in der klassischen Naturrechtsdoktrin anstelle von der Natur auch vom Wesen des Menschen als Bezugspunkt gesprochen werden. Dies ist Herrmann auch durchaus bewußt, denn er schreibt in seiner Kritik der christlichen Ethik vor Schleiermacher: »Die Quelle, aus der man sie [sc. die Pflichten und Tugenden des Christen] ableiten zu können meinte, war vielmehr das menschliche Wesen, wie die Erfahrung es darzubieten schien« (3). Um so unverständlicher wird dann jedoch die Rückführung der Naturrechtstradition auf eine Orientierung am Naturtrieb. Was bei einer Rede von der menschlichen Natur noch einigermaßen plausibel klingt (ohne es freilich zu sein), fuhrt bei einem Verständnis als Wesenszassage vollends in unauflösliche Widersprüche. Denn zum menschlichen Wesen gehören außer den Trieben eben auch Wollen und Vernunft, die Herrmann zum Ausgangspunkt seiner Bestimmung des Ethischen macht. Auch Herrmanns »Quelle« ist demnach »das menschliche Wesen, wie die Erfahrung es darzubieten schien«. Nur deshalb konnte ja oben Herrmann eine »natürliche« Begründung der

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Ethik attestiert werden. Es ist doch schließlich die zum menschlichen Wesen gehörige Vernunft, die durch Selbstbesinnung und Analyse der Logik des Wollens (vgl. 52) auf den Begriff des Guten fuhrt. Daher »kann jeder Mensch« - ohne spezielle Offenbarung - »die Frage nach dem Inhalt des sittlichen Gebotes aus sich selbst erledigen« (ebd.). Die »Vernunft mit ihrer Frage nach dem Endzweck eines wahrhaftigen Wollens muß doch schließlich jeden Menschen als ein unsterbliches Gewissen packen und ihm seine Ohnmacht zur Pein machen« (135). Die Vernunft offenbart dem Menschen seine wahre Natur als sittliches Wesen, das Gute erscheint als Verwirklichung des eigentlichen Endzwecks des Menschen - damit ist der Grundgedanke der klassischen Naturrechtslehre in Herrmanns Programm eingeholt. Herrmanns Polemik gegen den Naturrechtsgedanken steht also in doppelter Weise im Widerspruch zu entscheidenden Partien seiner »Ethik«: zur positiven Wertung der natürlichen Ordnungen von Familie, Kultur und Staat ebenso wie zur allgemeinen Grundlegung. Offenbar war Herrmann zu sehr in seinem oben zitierten Programm, den Dualismus von Natur und Sittlichkeit zum Ausgangspunkt der Ethik zu machen, befangen, um die Parallelen, die in realiter zwischen seiner und einer naturrechtlichen Ethik bestehen, anzuerkennen. Im Bedürfiiis, sich von einer naturwissenschaftlichen Begründung abzugrenzen, ließ er sich gerade von dieser einen engen Naturbegriff diktieren, und zwar einerseits als Trieb-, andererseits als Gesetzesbestimmtheit, wobei die Gemeinsamkeit beider Varianten eben im Insistieren auf (Fremd-) Bestimmtheit liegt. Indem dieser defiziente Naturbegriff als Gegenbild zur Sittlichkeit dann sogar grundlegende Bedeutung erhielt, waren die Probleme bei der Durchführung, wie sie obige Interpretation in der Form von Widersprüchen ergeben hat, vorprogrammiert.

2. Ernst Troeltsch 2.1. Troeltschs Aufgabenbestimmung von Wissenschaft im allgemeinen und Religionswissenschaft im besonderen Jeder Versuch, auch nur einen Teil des Denkens von Emst Troeltsch systematisch zu rekonstruieren, muß bei seinen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen einsetzen.1 Die diesbezüglichen Gedanken vor allem in der Schrift »Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft« lassen sich als methodologischer Hintergrund seines gesamten Schaffens interpretieren.2 Die beiden im Titel der Schrift genannten Disziplinen stehen für die beiden Pole menschlicher Erkenntnis, das aposteriorische und das apriorische Element, Empirie und Rationalität. Ihr Miteinander ist ebenso grundlegend wie problematisch,3 und es ist die Grundaufgabe von Wissenschaft, eine »Synthese«4 zwischen beiden Polen herzustellen. Die in der Erfahrung empirisch gegebene Wirklichkeit ist auf die in ihr sich zeigende Vernunft zu durchleuchten, womit ein reiner, sich auf bloßes Beschreiben von Phänomenen beschränkender Empirismus ebenso ausgeschlossen ist wie ein abstrakter Rationalismus, der das empirisch Gegebene verachtet und die wahre Wirklichkeit konstruieren will. Im Hintergrund steht der Gedanke, daß es »eine geordnete Wechselwirkung zwischen phänomenaler und intelligibler,

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Einen Hinweis darauf, daß auch Troeltsch selbst dies so sah, gibt folgende Bemerkung gegen Ende seines Lebens: »Den Mittelpunkt eines solchen Systems müßten Logik, Erkenntnistheorie und Psychologie bilden, in denen ich überhaupt den streng wissenschaftlichen Kem aller Philosophie sehe« (Troeltsch, Meine Bücher, 16). Georg Pfleiderer hat in seiner Habilitationsschrift bezüglich des Denkens Karl Barths die Fruchtbarkeit eines solchen erkenntnistheoretischen Interpretationsansatzes eingeräumt, sie aber zugleich relativiert. Ich gestehe, daß mich Pfleiderers Gegenargumente gegen diese u. a. von mir vertretene Linie der Barth-Interpretation wenig und die von ihm vorgetragene alternative Lesart noch weniger überzeugt haben, muß aber eine ausführliche Auseinandersetzung einer späteren Veröffentlichung vorbehalten. Zu Troeltschs späterer Kritik an dieser Schrift s. u. Anm. 19. Sie bezieht sich auf keinen zentralen Punkt. Vgl. Troeltsch, Psychologie, 49: »Der Zusammenklang des Apriorisch-RationalenAllgemeinen mit dem Tatsächlich-Irrationalen-Einmaligen ist das Geheimnis der Wirklichkeit und das Grundproblem aller Erkenntnis.« Seitenzahlen ohne weitere Angaben im folgenden Abschnitt (2.1.) beziehen sich auf diese Schrift. Vgl. z. B. 21: »Synthese der psychologischen Empirie und der rationalen Erkenntnistheorie«.

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psychologischer und rationaler Bewußtseinswirklichkeit geben müsse« (39). Troeltsch nennt das vorbildliche Verfahren, Empirisches und Rationales miteinander zu verknüpfen, »formalen, erfahrungsimmanenten Rationalismus« (22).5 Bei Kant findet er es gefordert und im Ansatz verwirklicht, wenn auch mit einigen gravierenden Mängeln, deren Behandlung knapp die Hälfte der Schrift ausmacht. Quintessenz der Kant-Kritik ist der Vorwurf, sich noch zu sehr am Rationalen und zu wenig am Tatsächlichen zu orientieren (vgl. 50f). Dieser Hinweis auf Kant ist bedeutsam, denn Troeltschs Programm steht in engem Zusammenhang mit der Kant-Renaissance in der deutschen Philosophie ab etwa 1850. Richtete diese sich prinzipiell gegen den Empirismus, so hielt man doch als dessen partícula veri stärker als Kant an einer notwendigen Korrelation der konstruktiven Vernunfttätigkeit mit den menschlichen Lebenszusammenhängen fest. Während die Marburger Schule des Neukantianismus zumindest in ihrem ursprünglichen Programm bei Cohen den empirischen Vorhalt im »Faktum« der mathematischen Naturwissenschaft verwirklicht sah, gehört Troeltsch zu denen, die wie der junge Scheler6 in der Zeit um die Jahrhundertwende an den Ertrag des »historischen Jahrhunderts« anknüpfen wollen und die Gegebenheiten der menschlichen Geschichte als ganze ins Zentrum der philosophischen Reflexion auf das in der Erfahrung enthaltene Apriorische stellen. Aus dieser Grundaufgabe ergibt sich für Troeltsch die prinzipielle Vorgehensweise bei der wissenschaftlichen Betrachtung eines Gegenstandsgebiets.

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Vgl. Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, 7: »Sie [sc. die historische Konstruktion] wül rein erfahrungsimmanent nur die verschiedenen großen Mächte unseres geschichtlichen Lebens zu Allgemeinbegriffen nach Möglichkeit formulieren und das kausalgenetische tatsächliche Verhältnis dieser aufeinanderfolgenden und sich ineinander schiebenden Kulturtypen aufhellen.« Vgl. Scheler, Methode, 33 (= ders., GW I, 224f): »Es wurde trotz allem Bedeutenden, was die Philosophie seit Hegel geleistet hat, noch kein größerer, über die engsten Fachkreise in seiner Wirkung hinausreichender Versuch unternommen, den gewaltigen Erwerb des neunzehnten Jahrhunderts an geschichtlichem Sinn überhaupt und an diesbezüglichen Forschungsergebnissen erkenntnistheoretisch zu rechtfertigen.« Übereinstimmung mit Troeltsch besteht auch in der auf dieser Basis erfolgenden Kritik an Kant: Die Erfahrungs- (vgl. a.a.O., 78/258: die Kantschen Prinzipien werden »aller besonderen Erfahrung gegenüber zu einem schattenhaften unwirksamen Gebilde«) und Geschichtsvergessenheit (vgl. a.a.O., 56/242: »Schade dabei ist nur dies, dass die Unwiderlegbarkeit durch die Geschichte, soweit sie fiir die durch die transszendentale Methode gewonnenen Ergebnisse thatsächlich besteht, bezahlt wird mit dem völlig unproduktiven Charakter dieser Ergebnisse fiir den wissenschaftlichen Fortschritt, und dass sie dem Fortschritt nur so weit zu dienen vermag, als die geschichtliche Widerlegbarkeit besteht.«) ist auch in Schelers Habilitationsschrift ein Hauptvorwurf gegenüber Kants Methode.

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An erster Stelle steht »die ernsteste Beachtung des rein Tatsächlichen und Psychologischen« (23).7 Aus diesem gilt es dann, die vernünftigen Elemente zu gewinnen. Troeltsch spricht in diesem Zusammenhang an einer Stelle von »Herausholen« (vgl. 23), genauer sind aber die Beschreibungen des Vorgangs im Sinne einer zirkelhaften Struktur,8 weil es in der Tat die Vernunft selbst ist, die sich bei diesem Schritt im Tatsächlich-Gegebenen entdeckt. In diesem Sinne fordert Troeltsch im Rahmen der Auseinandersetzung mit Kant, daß der »Zirkel im Wesen aller Erkenntnis selber liegt, und daß er eben deshalb entschlossen begangen werden muß« (29).9 Diesem Votum entspricht es, wenn Troeltsch noch viel später festhält, daß die wissenschaftliche Arbeit »in fortwährender gegenseitiger Berichtigung von Denken und Leben« zu geschehen habe.10 Nicht die Erfahrung bringt die Vernunft hervor, sondern diese greift aktiv und autonom in den Verlauf der Ereignisse ein, auch wenn sie dabei »durch ihn angeregt und gefördert oder gehemmt und geschwächt werden kann« (40).11 Vorausgesetzt ist also eine zwar latente, aber doch weitgehende12 »Vernünftigkeit der Welt« (22) in dem »verwirrenden Strome des psychologischen Gemenges« (23).

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Troeltsch formuliert prägnant: »Die Psychologie ist das Eingangstor zur Erkenntnistheorie« (34). Vgl. 23 (»Selbsterfassung des Rationalen, das in der Erfahrung enthalten ist«); 30 (»Selbsterkennung des Logischen«; »Selbsterkenntnis der in der Erfahrung enthaltenen Vernunft durch die sie herausziehende Analyse«), A.a.O., 40, wird der erfahrungsimmanenten Vernunft noch mehr Aktivität attestiert, wenn es heißt, daß »das Intelligible aus dem Phänomenalen, das Rationale aus dem Psychologischen hervorbricht [!]«. Vgl. Scheler, Methode, 171 (= ders., GW I, 328), wo fur das der transzendentalen wie der psychologischen Methode entgegengesetzte »noologische« (vgl. a.a.O., 179/334) Vorgehen zunächst der Vorwurf eines logischen Zirkels abgewiesen, dann aber fortgesetzt wird: »Wir behaupten, dass nur unter gegenseitiger Determination von Arbeitswelt [diesen Begriff definiert Scheler im Anschluß an Rudolf Eucken als »die gemeinsam anerkannten Werkzusammenhänge der menschlichen Kultur«, a.a.O., 181/335] und geistiger Lebensform die Probleme der Philosophie zu lösen seien. Will man dies Verfahren dennoch Zirkelbeweis nennen, so vergesse man wenigstens nicht, dass auf solchen [sie] >Zirkel< schon die lokale Logik beruht [...].« Troeltsch, Meine Bücher, 15. Man fühlt sich hier an Kants Satz erinnert, daß die Erkenntnis zwar mit der Erfahrung anhebt, aber nicht vollständig aus ihr entspringt (vgl. Kant, KrV, Β 1, sowie Troeltsch, 34 [»Die erkenntnistheoretischen Gesetze sind unterschieden von der bloßen psychologischen Tatsächlichkeit, können aber doch nur aus ihr hervorgeholt werden.«]). Daß »die Wirklichkeit nie völlig rational ist«, betont Troeltsch a.a.O., 31. Vgl. auch 33f die Kritik an der Hegeischen Rechten. In Wesen, 495, identifiziert sich Troeltsch allerdings mit dem Hegeischen Ziel, ein »teleologisches Entwicklungsgesetz« für die Weltgeschichte aufzustellen (nur soll es nicht wie bei Hegel deduktiv aus der Vernunft, son-

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Sind so die der Vernunft »einwohnenden« (vgl. 18) apriorischen Grundlagen des jeweiligen Gegenstandsgebiets entdeckt, so ergeben sich weitere Schritte im Prozeß der »Rationalisierung der Erfahrung« (23). Hinsichtlich der Tatsachen kann nun mit dem Apriorischen als geltendem Maßstab das Irrationale, »Schein und Irrtum« (31), ausgeschieden und so der Weg in Richtung auf die allerdings niemals erreichbare »vollständige Erkenntnis« (23) gegangen werden, niemals erreichbar, weil auch die »Bewußtseinsgesetze« (20) kein »fertiges System« bilden, sondern durch den Fortschritt von Leben und Erfahrung korrigierbar zu denken sind (vgl. 30f).13 Trotz dieser Einschränkung geht Troeltsch aber von einem Zusammenhang des Bewußtseins aus - er spricht gern von »Bewußtseinsökonomie« (vgl. z. B. 51) - , der jeweils aktuell ansatzweise erfaßbar ist. Daraus leitet sich die Aufgabe hinsichtlich der erschlossenen Grundbegriffe eines Gegenstandsgebiets ab: sie nämlich »in fruchtbare und ausgleichende Berührung mit dem Gesamtleben der Vernunft [zu] bringen« (48).14

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dem induktiv aus der Geschichte gewonnen werden). Insofern ein derartiges Gesetz eine durchgängige Rationalität der Wirklichkeit voraussetzt, die Troeltsch an der zuvor zitierten Stelle ausdrücklich bestreitet, scheint sich hier eine ungelöste Spannung in seinem Denken zu zeigen. Mit der Kritik an der »Starrheit« der Kantschen Kategorientafel (32) nimmt Troeltsch einen wesentlichen Gedanken der von ihm sonst eher abgelehnten Kant-Interpretation Hermann Cohens auf (vgl. zum »Dynamismus« Cohens: Lohmann, Karl Barth, 70-72). Vgl. auch Scheler, Methode, z. B. die erste zusammenfassende These, a.a.O., 179 (= ders, GW I, 334): »Es giebt (die Prinzipien der formalen Logik ausgenommen) kein absolut festes, in sich selbst evidentes Datum, von welchem die Philosophie, sei es als Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, Aesthetik ausgehen könnte. [...].« (Diese These hat Scheler später nicht aufrechterhalten: vgl. ders., GW I, 201.) Der Idealismus, zu dem sich Troeltsch »mit aller Entschiedenheit« (Wesen, 457) bekennt, hat »seinen Schwerpunkt [...] in der konkreten Auffassung des geistigen Lebens als einer jeweils Neues und völlig Eigentümliches hervorbringenden Kraft« (a.a.O., 456) und betrachtet »den Geist als mit qualitativ schöpferischen Kräften zur Erzeugung spezifisch geistiger Werte ausgerüstet« (a.a.O., 455). Die beiden letztgenannten Aufgaben hat Troeltsch an anderer Stelle (vgl. Wesen, 489f) in Ergänzung zur psychologischen und erkenntnistheoretischen Fragestellung als »geschichtsphilosophische« (»die innere Bewegung dieses Wahrheitsgehaltes durch die Geschichte hindurch«, 489) und metaphysische (Verhältnis zum Gesamtwissen) Frage gekennzeichnet. In dieser wahrhaft enzyklopädischen Aufgabenstellung besteht erneut eine Parallele zu Schelers Habilitationsschrift. Vgl. Scheler, Methode, 95 (=ders., GWI, 270f): »Soll aber den apriorischen Ideen der Wert eines solchen kritischen Massstabes zugebilligt werden, so dürfen die Arbeitsgebiete, aus deren synoptischer Betrachtung sie gewonnen sind, nicht bloss Sondergebiete, wie etwa die Wissenschaft oder gar nur Sondergebiete dieser Sondergebiete wie Einzeldisziplinen sein, sondern das umfassende

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In exakter Parallele zu dieser Aufgabenbeschreibung von Wissenschaft entwickelt Troeltsch die der Religionswissenschaft.15 Als »Einzelwissenschaft«16 hat sie einen eigenen und abgegrenzten Phänomenbereich, ein »Kulturgebiet[]«17, zu bearbeiten: das »religiöse Bewußtsein«18. Ihre Aufgabe ist die »Untersuchung der Religion als eines Bewußtseins-Phänomens«19. Im Sinne einer positiven Wissenschaft geht sie vom Gegebenen aus.20 »Sie hat das apriorische Bewußtseinsgesetz zu suchen, das sich in der Tatsächlichkeit des religiösen Lebens äußert, und hat an diesem Bewußtseinsgesetz den letzten für die Wissenschaft erreichbaren Grund für die Feststellung des Wahrheitsgehaltes der Religion und eben damit auch ein Mittel der kritischen Reinigung und Fortentwicklung der naturwüchsigen psychologischen Religion« (27). Sowohl eine reine Religionspsychologie nach dem Vorbild James' als auch eine an den Gegebenheiten des religiösen Bewußtseins vorbeidenkende Religionstheorie wie die Kantsche sind damit ausgeschlossen. Kant hat zwar mit seinem kritisch-idealistischen Ansatz auch der Religionswissenschaft den richtigen Weg gewiesen,21 doch gegen Kant ist nicht die Sanktionierung von Sittlichkeit, sondern »ein persönliches Gegenwartsverhältnis zum Übersinnlichen« (46)22 das Charakteristikum des Religiösen, wie es aus einer unbefan-

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Reich aller Bezirke, in denen Geistesarbeit wirkt und schafft.« Direkter Ansprechpartner Schelers ist hier die Marburger Schule. Vgl. Wesen, 492: »Die Aufgabe der Religionswissenschaft [...] beschränkt sich auf die Analyse des möglichst rein und sachlich aufgefaßten geistigen Phänomens, das wir Religion nennen, unter den vier genannten Gesichtspunkten [...]: sie zerfällt in Psychologie, Erkenntnistheorie, Geschichtsphilosophie und Metaphysik der Religion«. A.a.O., 460f. A.a.O., 467. Vgl. z.B. a.a.O., 461. A.a.O., 488. Entsprechend dieser Beschränkung auf das religiöse Bewußtsein gilt fur das von der Religionswissenschaft zu erhebende Apriori: »Nur den Beweis der Vernunftnotwendigkeit der religiösen Ideenbildung, nicht den für eine Existenz des religiösen Objektes an sich selbst kann sie zu liefern unternehmen« (a.a.O., 494). Troeltsch hat diese Beschränkung im Rückblick als dem »religiösen Gedanken selbst« und der »natürliche[n] Realitätsempfindung« widersprechend kritisiert: ders., Meine Bücher, 10. Vgl. a.a.O., 463: »Die Religionswissenschaft bringt also nicht Religion hervor und erzeugt nicht die wahre Religion, sondern analysiert und wertet die gegebene Religiosität.« Vgl. a.a.O., 488: »Der Verfasser schließt sich im wesentlichen an die KantischSchleiermacherische Methode der Religionswissenschaft an.« A.a.O., 479, spricht Troeltsch von der »Berührung mit dem Grund der Dinge«. Vgl. auch a.a.O., 493: »der Glaube an eine unter bestimmten Bedingungen zu erlebende Präsenz des Göttlichen, wobei der Gedanke des >Göttlichen< selbst überall schon vorausgesetzt ist, und die davon bewirkte eigentümliche religiöse Gefühls- und Willensbestimmtheit«;

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genen Analyse der religiösen Phänomene23 ableitbar ist. Das religiöse Apriori wird eben ans keinem übergeordneten Standpunkt gewonnen, sondern »[d]ie Religionswissenschaft läßt die Religion als Religion bestehen und reguliert sie nur aus ihrem eigenen Apriori heraus« (53). Dieses »Gesetz der religiösen Ideenbildung«24, der Bezug auf das Übersinnliche, gibt der Religionswissenschaft zugleich eine besondere Stellung im Kanon der Wissenschaften: Innerhalb seiner liegen »Inhalt und Wesen des religiösen Apriori [...] in der aus dem Wesen der Vernunft heraus zu bewirkenden absoluten Substanzbeziehung, vermöge deren alles Wirkliche und insbesondere alle Werte auf eine absolute Substanz als Ausgangspunkt und Maßstab bezogen werden«25. Es geht der Religionswissenschaft direkt um »die verborgene Einheit der kosmischen Vernunft« (49), der alle andere Wissenschaft indirekt auf der Spur ist. Die »Gesamtvernunft« hat ein »religiösefs] Zentrum« (53).26 Troeltsch führt außer den genannten noch drei weitere Aufgaben der gegenwärtigen Religionswissenschaft an: Einschätzung des »regressiven«, aus der Erfahrung induktiv auf ihren Grund zurückschließenden Rationalismus;

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»der Glaube an Präsenz und Wirkung übermenschlicher Mächte mit der Möglichkeit der inneren Verbindung mit ihnen«. Als Quellen dieser Analyse nennt Troeltsch: »Selbstbeobachtung«, »Beobachtung anderer, besonders die Beobachtung extremer und charakteristischer Fälle«, »Beobachtung von Angehörigen fremder Konfessionen und Religionen«, »die eigentlich religiöse Literatur«, »Biographien, Berichte und Worte von besonders charakteristischen führenden religiösen Persönlichkeiten«, »Psychopathologie« (9f). Der Katalog enthält also sowohl geschichtliches wie aktuelles Material. Das Schwergewicht liegt für Troeltsch allerdings auf dem gegenwärtigen Erleben. Vgl. Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, 5 (»Sie [sc. die Voraussetzungen der historischen Forschung] bestehen darin, daß wir überall an das gegenwärtige Erleben gewiesen sind.«); Glaubenslehre, 24; 38f; und besonders 329 (»Dann steht naturgemäß auch bei der Erlösung das gegenwärtige und immer neue Erlösungserlebnis im Mittelpunkt und kommt das Historische nur insofern in Betracht, als es, dieses bedingend, in das gegenwärtige Leben hineinragt.«). Zu den Folgen dieser Schwerpunktbildung s. u. Abschnitt 2.5. Es ist die These von Troeltschs Protestantismusdeutung, daß der Neuprotestantismus - unter dem Einfluß der allgemeinen neuzeitlichen Entwicklung (vgl. Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, 80) - sich eben durch diesen Ansatz beim gegenwärtigen, persönlichen Erleben auszeichnet, während der Altprotestantismus der Reformatoren und ihrer unmittelbaren Nachfolger sich an Autoritäten, namentlich der Bibel, orientierte. Troeltsch, Wesen, 479; 494. A.a.O., 494. Vgl. zur besonderen Bedeutung der Religion auch 43 f und insgesamt Troeltsch, Wesen, 494f. Noch 1922 heißt es: »auch in der von der Geschichtsphilosophie zu zeichnenden gegenwärtigen Kultursynthese bleibt das Religiöse im Zentrum« (Troeltsch, Meine Bücher, 15).

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»geschichtsphilosophische[] Wertabstufung« der verschiedenen Religionen; Klärung des Einflusses des modernen, wissenschaftlichen Weltbilds auf die »bewußte[] Religionsgestaltung der Gegenwart« (vgl. 28). Insbesondere das zweite und dritte dieser Themata haben Troeltsch immer wieder beschäftigt. Primäre Aufgabe auch der Äe/igionswissenschaft bleibt aber die Bestimmung ihres Apriori im Ausgang von den Phänomenen: »Nur, wenn so beides, der Empirismus und der Rationalismus, die Psychologie und die Erkenntnistheorie, zu seinem Rechte kommt, ist die Religionswissenschaft eine Wissenschaft von der Religion, nicht eine Ersetzung der Religion durch Wissenschaft und nicht eine Wissenschaft gegen die Religion, auch nicht bloße Beschreibung der Religion ohne Wissenschaft« (53). 2.2. Troeltschs Verständnis von Ethik Troeltschs Auffassung der »Grundprobleme der Ethik«27, wie er sie 1902 in Form einer umfangreichen Rezension von Herrmanns »Ethik« skizziert hat,28 fügt sich lückenlos in den Rahmen des eben umrissenen Wissenschaftsverständnisses ein. Auch die Ethik hat bei einer Analyse der empirischen Gegebenheiten, d. h. der geschichtlichen und aktuellen Fassungen ihres Themas »de[r] letzten Ziele[] und Zwecke[] des menschlichen Daseins« (552) - einzusetzen.29 Diese Untersuchung ist zwar durch den Gedanken eines »allerallgemeinsten Grundbegriffes« - nämlich des »apriorisch gültigen, unbedingten und einheitlichen Zweckes« - geleitet, der in seiner Weise »die Erfahrung erst hervorbringt]«, »aber sie kann mit ihm allein nicht arbeiten, sondern sie muß die sittlichen Erfahrungsurteile, die aus ihm hervorgehen, sammeln, klassifizieren und auf ein System möglichst zutreffender Abstufung 27

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Seitenverweise ohne weitere Angaben in den folgenden vier Abschnitten (2.2.-2.5) beziehen sich auf die gleichnamige Abhandlung, die Troeltschs eigener Aussage nach »ein ganzes System [enthält]« (Troeltsch, Briefe, 62 [Brief vom 10.3.1903]). Brent W. Sockness hat der Auseinandersetzung zwischen Herrmann und Troeltsch über die Jahre hinweg eine Monographie gewidmet. Sein Ergebnis: Beide beschuldigen sich gegenseitig einer falsch verstandenen Apologetik und reden dabei aneinander vorbei bis zum »polemical overkill« (Sockness, 206). Vgl. z. B. 616 (Es »ist kein Zweifel, daß die Ethik mit einer allgemeinen Analyse des Sittlichen zu beginnen hat [...].«); 653 Anm. 58 (viele theologische Ethiken machen »den Eindruck einer völlig weltfernen, papierenen Konstruktion«); 669 (die »Zeugnisse« des »Wirklichkeitssinnes« sprechen für Troeltsch und gegen Herrmann). In den »Soziallehren« hält sich Troeltsch ebenfalls seine induktive Methode zugute: vgl. a.a.O., 268 Anm. 120 (»Ich habe meinerseits die Begriffsbestimmung rein empirisch aus dem Evangelium aufgenommen [...].«); 383 (zur Darstellung der mittelalterlichen Sekten: »Dabei wird sich zeigen, daß das kein konstruierter und von außen her aufgedrungener Schematismus, sondern eine aus dem Nachfuhlen der Erscheinungen entsprungene und ihren inneren Zusammenhang erst erleuchtende Deutung ist.«).

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klassifizieren und auf ein System möglichst zutreffender Abstufung ihrer Richtigkeit bringen, wobei der Maßstab der jeweils geleistete Beitrag zur Tiefe und Kraft der Persönlichkeitsbildung ist« (622). Auch hier liegt also ein Verhältnis wechselseitiger Verwiesenheit von empirischer und rationaler Betrachtung vor. Die Untersuchung der »sittlichen Wirklichkeit« (618; 622) in Form der »geschichtlichen Gesamterfahrung« (622) fuhrt nun allerdings darauf, daß der eine Grundbegriff ausdifferenziert werden muß. Zwei Gegensatzpaare prägen das ethische Gebiet. Da sind einerseits unter den »Zwecksetzungen« die subjektiven, »das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und zu dem analogen Verhältnisse anderer zu sich selbst betreffenden]« (618),30 und die objektiven, auf die »objektiven Güterf], die in der Arbeit der Geschichte erwachsen« (623),31 bezogenen Zwecke zu unterscheiden. Andererseits spalten sich die letzteren nochmals. Troeltsch nennt sechs »Hauptformationen« objektiver Güter: »Familie, Staat, Produktionsgemeinschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion« (623). Unter ihnen besteht ein »fundamentaler Unterschied« (624): Sind die ersten fünf an innerweltliche Zwecke geknüpft, so impliziert die Religion »einen einzigen letzten bleibenden und ewigen Zweck, dem gegenüber alle andern vergänglich sind« (625). Die Religion steht aufgrund dieses ihres Ewigkeitsbezugs »in relativer Spannung gegen alle Kultur, die doch in ihr ihre letzte Voraussetzung und ihren letzten Halt hat«.32 In Geschichte und Gegenwart der Ethik ist das Verhältnis der beiden Paare ganz unterschiedlich bestimmt worden. So ist etwa die Kantsche Ethik laut Troeltsch ganz an den subjektiven Zwecken orientiert (vgl. 617f), während in der Ethik Jesu die Gebote ihre »Begründung im objektiven Zweck« (631) finden - fur Troeltsch ein entscheidender Einwand gegen Herrmanns Synthese von Kant und Bergpredigt. Auch hinsichtlich der Unterscheidung innerhalb der objektiven Zwecke zeigt die Geschichte verschiedene Lö-

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Der Kontext (617f) zeigt, daß Troeltsch hier die individuellen und sozialen Tugenden und Pflichten der Tradition vor Augen hat. Die Güter fallen also nicht als Denkkonstrukte »wie Meteore vom Himmel«, sondern in ihnen kommen die beiden Triebkräfte der geschichtlichen Entwicklung, Ideologisches und Soziologisches, zusammen. Vgl. Tanner, Schatten, 83. Dem Ineinander beider Kräfte in Troeltschs Auffassung der geschichtlichen Bewegung entspricht das oben skizzierte von Ratio und Empirie bei der Analyse der geschichtlichen und gegenwärtigen Wirklichkeit. Ein weiteres Beispiel fur die Figur einer gegenseitigen Ergänzung von Gegensätzen, die das Denken Troeltschs prägt, findet sich bei seiner Beschreibung des näheren Verhältnisses von subjektiver und objektiver Ethik: Zwischen ihnen besteht »ein engerer [sie] innerer Zusammenhang gegenseitiger Bedingung. Aber so eng der Zusammenhang ist, so deutlich scheiden doch beide Sphären sich wieder« (Troeltsch, Ethik und Geschichtsphilosophie, 27; vgl. Tanner, Schatten, 94f). Troeltsch, Absolutheit, 183.

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sungsmodelle: Die Ethik Jesu ist an den innerweltlichen Zwecken gar nicht interessiert (635), die römisch-katholische Ethik ordnet sie in einem Stufenmodell dem religiösen Zweck unter,33 wohingegen die Antikebegeisterung des Humanismus auf einer Sehnsucht nach rein innerweltlichen Lebenszwecken beruht (vgl. 660f). Für Troeltsch liegen nun die Hauptprobleme der Ethik auf diesem zweiten, dem objektiven Gebiet (vgl. 624).34 Gerade in der Moderne - und der Bezug auf die aktuelle Erfahrung macht ja einen wesentlichen Zug von Troeltschs Wissenschaftsverständnis aus - gilt das, denn: »Ihr Wesen ist es, neben dem religiösen Zweck die Selbstzwecklichkeit der innerweltlichen Zwecke zu behaupten« (654). Dies bedeutet nichts weniger als »einen neuen Typus des sittlichen Lebens [...], der so noch nicht da war, und der mit seinen besonderen Verhältnissen und Spannungen eine besondere Theorie verlangt« (656). Troeltsch hat keinen Gesamtentwurf einer solchen Theorie vorgelegt, wohl aber einige Hinweise, wie sich eine Ethik in der und für die Moderne aus seiner Sicht zu gestalten hätte. Sie müßte zunächst die prinzipielle Unvereinbarkeit der innerweltlichen und der religiösen Zwecke eingestehen, weil deren Dualismus im Wesen des Menschen angelegt ist (vgl. 658; 665).35 Die »wirkliche Sittlichkeit des Lebens oszilliert daher von dem einen zum andern« (661). Nimmt man noch die individuell-persönlichen Anteile in jeder Auffassung von Sittlichkeit und die ganz unterschiedliche Schwerpunktbildung hinzu, die innerhalb der innerweltlichen Zwecke möglich ist, so ergibt sich »die Erkenntnis, daß das Sittliche von Hause aus nichts Einheitliches, sondern etwas Vielspältiges ist, daß der Mensch in einer Mehrzahl sittlicher Zwecke heranwächst, deren Vereinheitlichung erst das Problem und nicht der Ausgangspunkt ist« (657).36 Dennoch »muß die Synthese immer neu versucht und durchgeführt werden« (659). Dabei ist für Troeltsch- klar, daß der religiösen Zweckidee der Primat zukommen muß, denn nur sie befriedigt »endgültig den Trieb nach einem ob-

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Diese Deutung der christlichen Ethikgeschichte hat Troeltsch in den »Soziallehren« breit entfaltet. Dies erklärt die Gleichsetzung von Ethik und Geschichtsphilosophie in: Troeltsch, Briefe, 138 (Brief vom 24.10.1922). S. aber u. Abschnitt 2.5. Hier zeigt sich, daß Troeltschs immer wieder begegnender Gedanke von Polaritäten, deren Synthese ebenso unabdingbare wie unvollendbare Aufgabe ist, in seiner Anthropologie begründet ist. Wenn Pannenberg (ders., Begründung, 91) diese Vielspältigkeit als »fundamentale[n] Sachverhalt« fur die »>SpannungSollmaBstäben< wird durch das Zusammenwirken verschiedener Kräfte erzeugt« (a.a.O., 144, als Zusammenfassung des Ergebnisses von Troeltschs Untersuchung der christlichen Naturrechtsentwürfe). Letzteres hat Pannenberg in seiner Interpretation der Ethikgrundlegung Troeltschs besonders hervorgehoben - aus verständlichen Gründen, wenn man die Bedeutung der Eschatologie für Pannenbergs eigenes Christentumsverständnis bedenkt. Pannenberg spricht von einer »teleologische[n] Begründung der Ethik« (Pannenberg, Begründung, 73) bei Troeltsch und lobt ihn dafür, daß er »die grundlegende Bedeutung des kommenden Gottesreiches in der Botschaft Jesu in ihrer systematischen Relevanz für die Ethik zur Geltung zu bringen wußte« (a.a.O., 79). Damit hat Pannenberg einen wichtigen Zug der Theologie Troeltschs herausgearbeitet, der sich nicht nur in »Grundprobleme der Ethik« (vgl. z. B. 639: »So ist der objektive religiöse Zweck durchaus der Angelpunkt und die Hauptsache am Evangelium [...].«), sondern auch in den »Soziallehren« (vgl. zum Beginn: F. Voigt, 184-187; zum Schlußabschnitt s. u. S. 405) und in der eigenen Selbstdarstellung (vgl. Troeltsch, Meine Bücher, 12: »der Auftrieb, den das ursprünglich utopisch-eschatologische Ideal wie ein Riesenspringquell dem überlagernden Gestein gibt«) widerspiegelt. Zur Troeltsch-Interpretation Pannenbergs insgesamt ist aufschlußreich: Denis Müller, Réflexion. Im Ergebnis ist Müllers Analyse allerdings unbefriedigend: Sie läuft auf die zu plakative, der Nuanciertheit des Denkens beider Theologen nicht genügend entsprechende These einer Gegenüberstellung von hier »méthode dogmatique (privilégiée par Pannenberg)« und dort »méthode historico-éthique (développée par Troeltsch)« hinaus (a.a.O., 381). Demgegenüber versuchen meine Ausführungen zu zeigen, daß sich bei Troeltsch (1) Anhaltspunkte fur beide Modelle der Ethikgrundlegung finden, (2) die Dominanz der allgemeinen »éthique des valeurs culturelles« (a.a.O., 380) sich erst allmählich herausgebildet hat (was Müller selbst betont), und zwar (3) im Widerspruch zu der erkenntnistheoretisch gut begründeten methodischen Forderung Troeltschs, daß das Allgemeine nur via einer rigiden, nicht zuletzt die Historie befragenden Klärung der individuellen Ausgangsposition(en) zugänglich ist. Müller ist nicht der einzige, der die von Troeltsch gleichwohl klar ausgesprochene und in seiner Methodologie schlüssig verankerte Unterscheidung von spezifisch christlicher und allgemeiner Ethik, die gerade erst in ihrer Unterschiedenheit sich gegenseitig befruchten können, außer Acht läßt. Vgl. z. B. Troeltsch, Absolutheit, 233 (»Es entsteht die Dogmatik und das eigentliche dogmatische Denken, das einen jeder Kontrolle und jeder Analyse entzogenen Ausgangspunkt mit allen erdenklichen Gedanken und Wahrheiten zusammenschmelzt, am Ausgangspunkt selbst nur unbewußt konformierend, aber bei den Gegeninstanzen teils direkt leugnend, teils einfach in Besitz nehmend.«); Wesen, 462 (»nicht im Sinne einer konfessionellen Autoritäts-Dogmatik«); Glaubenslehre, 10.

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danken geht der christlichen Ethik voraus - indem sie die jeder Ethik unvermeidlichen metaphysischen Voraussetzungen erhellt (vgl. 670) und »die Hauptgebote und die Hauptgüter« (671) bestimmt.52 Die vielzitierte Rede Troeltschs vom theologischen Primat der Ethik als »Fundamentalwissenschaft« oder »Grundwissenschaft« (564) kann diesen Befund nicht in Frage stellen, denn sie ist Bestandteil eines historischen Referats und gibt nicht Troeltschs eigene Auffassung wieder. Ebensowenig ist Troeltschs These, daß »die Ethik die übergeordnete und prinzipiellste Wissenschaft ist, in deren Rahmen die Religionswissenschaft sich einfugt« (553), eine Gegenanzeige. Man muß lediglich beachten, daß Troeltsch hier von der allgemeinen Ethik und von der heutigen Situation, die allerdings seinem Wissenschaftsverständnis entsprechend maßgebend ist, spricht. Die moderne Unsicherheit hinsichtlich der allgemeinsten Zwecke des menschlichen Daseins ist das gegenwärtig brennende Problem und deshalb Fragen etwa nach der Trinitätslehre »übergeordnet«. Damit ist aber lediglich gesagt, von welchem Punkt der allgemeinen Debatte aus sich das Interesse auf die Religion richtet. Die religionswissenschaftliche Betrachtung hat ihren Schwerpunkt dann jedoch gerade im spezifischen Beitrag, den die Religion zur Lösung des Problems liefern kann: »[V]on dem allgemeinen ethischen Problem der letzten Werte und Ziele menschlichen Lebens und Handelns kommt man zu den darin eingeschlossenen religiös-metaphysischen Gedanken und bestimmt dann wieder von ihrer Entwickelung aus die genauere ethische Wertung« (553). Ja: die allgemeine Ethik ist »die übergeordnete und prinzipiellste Wissenschaft«, sofern sie nämlich Ausgangs- und Zielpunkt der gesamten wissenschaftlichen Bemühungen, auch derer der Theologie, ist. Eine in den Augen Troeltschs weiterführende Antwort auf ihre Fragestellung erfordert jedoch eine Art ethischer Epoché, indem die »religiös-metaphysischen Gedanken« als solche für die aktuell geforderte »genauere ethische Wertung« fruchtbar gemacht werden sollen. Die allgemeine Ethik fuhrt zur Religion und von dort wieder zurück. Innerhalb aber der so ethisch umklammerten Fragestellung nach der Antwort der Religion auf die Probleme der Gegenwart bleibt es für Troeltsch ausgemacht, daß die dogmatischen die ethischen Antworten aus sich heraussetzen und nicht umgekehrt. Eine vorschnelle und »stillschweigende Konformierung christlich-traditioneller und modern-wissenschaftlicher oder auch modern-ethischer Ideen«, für die Troeltsch von Anhängern wie Gegnern ger-

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Vgl. Troeltsch, Glaubenslehre, 4: die »eigene[] Glaubenseinsicht, die dann der Praxis zugrunde gelegt werden soll«.

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ne in Anspruch genommen wird, hat er der Ritschl-Schule gerade zum Vorwurf gemacht." Hinsichtlich des Verhältnisses von Ethik und Dogmatik ist also Troeltschs Position ungleich nuancierter, als es etwa Karl Barth erscheinen läßt, der nicht zuletzt die »grundsätzliche Überordnung der Ethik über die Dogmatik« zu einem Kennzeichen der von ihm gescholtenen Theologie der Neuzeit erklärt und in ihr allen Gegensätzen zum Trotz den »Punkt sicherster Übereinstimmung« zwischen Herrmann und Troeltsch erkennt - angesichts der Kritik gerade an der Heirmannschen Ethikgrundlegung in »Grundprobleme der Ethik« ein einigermaßen erstaunliches Urteil.54 2.4. Troeltschs Stellung zum Naturrecht Troeltsch spricht sich also durchaus fur eine Orientierung der christlichen Ethik an den spezifisch christlichen Glaubensgedanken aus. Das irdische Leben im Heute findet allerdings »auf dem Boden des Sündenfalles« (662) statt. Deshalb »sind die christlichen Maßstäbe nur bedingt durchfuhrbar«, »[insbesondere in der Moral des öffentlichen Lebens und des Erwerbes« (ebd.). Dieses Problem hat sich nach Troeltsch bereits für die frühe Kirche gestellt: Mit dem Ausbleiben der Parusie und dem eigenen Wachstum war ein Desinteresse am gesellschaftlichen Leben, wie es die Ethik Jesu gekennzeichnet hat, nicht mehr möglich. Urchristliche Moral und Kulturwerte der Umwelt mußten miteinander vermittelt werden,55 und genau an dieser Stelle liegt der Ursprung der kirchlichen Rezeption des stoischen Naturrechtsgedankens, die dann die folgende Geschichte des Christentums prägte, denn mit

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Troeltsch, Rückblick, 218. Vgl. auch die sachlich gleichlautende Kritik im Vorwort der »Soziallehren« (a.a.O., VII): Im Blick auf Moderne und christliche Überlieferung wurden von der Ritschl-Schule »Angleichungen vollzogen [...], die der Sachlage nicht entsprachen und die den wirklichen Gegensatz nicht voll zur Geltung kommen ließen«. Vgl. Barth, KD 1/2, 879. Eine der Barthschen vergleichbare Troeltsch-Kritik, die ebenfalls auf einer zweifachen Einebnung von Differenzierungen beruht - nämlich der innerhalb von Troeltschs Œuvre sowie der im Verhältnis zu seinen unmittelbaren Vorgängern und Zeitgenossen - , hat von römisch-katholischer Seite her Ignacio Escribano Alberca vorgelegt (vgl. ders., Gewinnung). Nach Escribano ist Troeltsch in der Nachfolge Kants völlig dem erkenntnistheoretischen Idealismus verfallen, der der christlichen Offenbarungswahrheit die ihr als »vérité de fait« zustehende grundsätzliche Anerkennung verweigert. Vgl. z. B. Troeltsch, Soziallehren, 254 Anm. 115: »Mit dem neuen [sie] Testament allein sind überhaupt keine Soziallehren zu erzeugen.«

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der Adaptation des Naturrechts »war die Anschlußfähigkeit der Kirche an die gegebenen Verhältnisse der großen Welt gewonnen«.56 Troeltschs »Soziallehren« sind dieser These gemäß zu einem guten Teil eine Darstellung der Geschichte der christlichen Naturrechtslehre. Auf Troeltschs Rekonstruktion dieser Geschichte und der in ihr erfolgenden Umformungen des Naturrechtsgedankens braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.57 Wichtiger ist die Frage, wie Troeltsch sie bewertet. Das große Interesse, das er dem naturrechtlichen Vermittlungsversuch entgegenbringt, liegt darin begründet, daß dieser genau an der Stelle ansetzt, die für ihn das »Hauptproblem« jeder Ethik ausmacht: dem Verhältnis von religiösen und innerweltlichen Zwecken. Stellt die Naturrechtsdoktrin hier eine gangbare Lösung dar? Troeltschs Antwort ist ein deutliches: »Nein!« Der Naturrechtsgedanke hatte große Bedeutung in der Geschichte der Ethik, aber er hat seine Zeit gehabt. Der Grund liegt im Charakter der »modeme[n] Gesittung«: »Ihr Wesen ist es, neben dem religiösen Zweck die Selbstzwecklichkeit der innerweltlichen Zwecke zu behaupten. [...] Eben deshalb werden heute auch alle diese Güter nicht mehr von der christlichen Ethik abgeleitet. Sie werden auch nicht mehr indirekt auf dem Weg über die Lex naturae mit ihr zusammengefaßt« (654f). Wegen der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft58 sind sowohl die römisch-katholische59 als die lutherische60 als auch jedwede andere61 Variante des Naturrechtsgedankens obsolet.62 Der bereits

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Troeltsch, Sozialphilosophie, 9. Vgl. dazu Tanner, Schatten, 109-140. »Staatslehre, Wirtschaftslehre, Sexualethik, Technik, Wissenschaft, Kunst und Aesthetik: sie alle gehen ihre eigenen Wege und konstruieren selbständig ihre eigenen Ideale aus ihren besonderen Lebensbedingungen und geschichtlichen Entwickelungen« (655). »Deshalb ist die katholische Lösung des Problems heute unmöglich, die diese Zwecke und ihren Träger, den Staat, aus dem Naturrecht ableitet und durch die Identifizierung der lex naturae und des Sittengesetzes Mosis und Christi diese Bestimmungen indirekt als christlich erweist« (ebd.). »Ebensowenig aber ist die lutherische Lösung innerhalb der heutigen Kultur zu behaupten, die die Zwecksetzungen der innerweltlichen Kultur ganz ebenso aus der Lex naturae herleitet wie der Katholizismus, aber in ihnen den gottgewollten Stoff und Spielraum auch aller geistlichen Sittlichkeit sieht« (ebd.). »Es zeigt sich hier überall, daß es schlechterdings unmöglich ist, jene Zwecksetzungen als bloße Naturformen des Daseins zu behandeln« (656). Eine interessante Parallele zu Troeltschs Ablehnung des Naturrechtsgedankens für die Ethik sind seine gleichfalls kritischen Ausfiihrungen zur These einer natürlichen Gotteserkenntnis innerhalb der »Glaubenslehre«: »Die letztere [sc. sogenannte natürliche Gotteserkenntnis] gibt es als eine allgemein übereinstimmende und logisch zwingende überhaupt nicht. Was man so nennt, sind verschiedene Versuche zur Erfassung des göttlichen Wesens, die doch meistens unter einem mehr oder minder starken Einfluß der wirklichen

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zitierte Satz, daß die »moderne Welt [...] einen neuen Typus des sittlichen Lebens bedeutet, der so noch nicht da war, und der mit seinen besonderen Verhältnissen und Spannungen eine besondere Theorie verlangt« (656), zielt also im Kontext besonders auf die naturrechtlichen Theorien.63 2.5. Troeltschs Konzeption und ihre immanente Infragestellung Die zitierten Überlegungen Troeltschs zum Naturrecht bestätigen das bisherige Ergebnis. (1) Troeltsch mißt dem Verhältnis von religiösen Zwecksetzungen (die partikularen Ursprungs und zugleich von universalem Geltungsanspruch sind) und allgemeinen, am Innerweltlichen orientierten Kulturwerten entscheidende Bedeutung für die Konzeption einer Ethik bei. (2) Eine Synthese, wie sie der Naturrechtsgedanke exemplarisch versucht, ist wünschenswert und unvermeidlich. (3) Sie bleibt jedoch wegen der im Wesen des Menschen selbst verankerten grundsätzlich Ambivalenz von überweltlicheschatologischer Religiosität und innerweltlichem Kulturschaffen eine prinzipiell unabschließbare Aufgabe. (4) Um eine vorschnelle Synthese im Stile des Naturrechtsgedankens, aber auch der Ritschlschen Schule zu vermeiden, spricht sich Troeltsch aus heuristischen Gründen dafür aus, zunächst zwei Ebenen der Ethik zu unterscheiden. Die »Praktische christliche Ethik« erhebt

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Religiosität stehen und insofern eben nicht Wissenschaft sind« (a.a.O., 128). Auch hier rekurriert Troeltsch auf die moderne Lage, die - ohne daß etwa die »katholische Literatur« dies bemerkt hätte - keinen einheitlichen Gottesbegriff mehr kennt (vgl. a.a.O., 134). Anstatt dem Gottesbegriff der eigenen Religion einen philosophischen Doppelgänger beizugesellen, sollen die Theologen mutig ihre eigene Sache vertreten. Denn: »Auch der Philosoph kann es hier nicht anders machen als alle anderen: im Kern verdankt er seine Gotteserkenntnis seiner inneren Lebensstellung. Dies bedeutet aber nicht nur einen Verlust, sondern auch einen Gewinn. Die Religion ist freier, ist lebendiger, wenn sie nicht immer auf ihren Zwilling philosophischer Art schielen muß. Sie verliert jene Züge der Abstraktheit und des Beweisenden, die ihr so oft den Charakter des Mühsamen gegeben haben. Ihre Erkenntnis kann mit Evidenz und Glut nur aus dem Leben hervorbrechen, und je mehr sie es tut, um so echter wird sie sein. Ihre apologetischen Aufgaben von heute liegen auf anderem Gebiet als auf dem des Gottesbegriffs« (ebd.). In solchen Sätzen wird der Einfluß Schleiermachers auf Troeltsch greifbar. Dieses Ergebnis wird durch andere Veröffentlichungen Troeltschs bestätigt. Der Vortrag »Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik« sieht im Naturrechtsgedanken einen in der deutschen Tradition vernachlässigten wesentlichen Bestandteil des »westeuropäischamerikanischen« (a.a.O., 4) Denkens. Als solcher ist er von Bedeutung für die geforderte »Selbstbesinnung des deutschen historisch-politisch-ethischen Denkens« (a.a.O., 22), aber doch nur als ein Glied im »Ideal einer zukünftigen Kultursynthese« (a.a.O., 20). An anderer Stelle heißt es, die gegenwärtigen Zustände seien so komplex, daß sie »weder durch antike, noch durch christliche, noch durch eine beides kombinierende Sozialphilosophie mehr gemeistert werden können« (Troeltsch, Sozialphilosophie, 28f).

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die spezifisch christliche Ethik und ist methodisch durch Standpunktbezogenheit und Positionalität gekennzeichnet. Die »Allgemeine Ethik« bzw. Geschichtsphilosophie versucht, durch Analyse des gegenwärtigen allgemeinen Bewußtseins (in das die am christlichen Gottesgedanken orientierte Ethik auch, aber nicht allein eingegangen ist), der geforderten Synthese näherzukommen. (5) »Praktisch christliche« und »allgemeine« Ethik bilden somit zwei jeweils unabdingbare Bestandteile der ethischen Reflexion. Man kann von einer Zwei-Stufen-Ethik sprechen, mit zwei entscheidenden Differenzen zum scholastischen Modell: Das spezifisch Christliche ist nicht Überbau des allgemein Gültigen, sondern umgekehrt eines von dessen zu synthetisierenden Bestandteilen; das Verhältnis beider Stufen wird von Troeltsch nicht harmonisch, sondern als unhintergehbare Spannung bewertet, wobei seine Sympathie gerade solchen christlichen Strömungen gilt, die sich - wie die Täufer und Spiritualisten - der Einebnung des Christlichen ins Allgemeine entgegenstellen. (6) Insofern die deduktiv zu schaffende allgemein-ethische Synthese erst den zweiten Schritt bildet nach der historisch-empirischen Analyse der unterschiedlichen die Gegenwartskultur bestimmenden Werte, zu denen eben auch die des Christentums und seiner verschiedenen Strömungen gehören, steht diese ethische Konzeption im Einklang mit Troeltschs grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Erwägungen. Diese Übereinstimmung gilt auch gerade dann, wenn man die historische Bedingtheit der einzelnen Bestandteile der Gegenwartskultur in Anschlag bringt, wie sie Troeltsch bis an sein Lebensende immer wieder betont hat.64 Das historische Material bildet fur ihn im Sinne der »Anschauung« Kants den empirischen Vorhalt, den die Spontaneität des Denkens für ihre Synthesen notwendig voraussetzen muß. Wenn es bei Troeltsch heißt: »Geschichte durch Geschichte überwinden«65, dann ist genau dies gemeint: Die relativierenden Tendenzen des Historismus lassen sich nur bekämpfen, wenn man die notwendige Synthese absoluter Werte geschichtlich in den vorgegebenen Traditionen verankert. Dies gilt auch für den Umgang mit der christlichen Überlieferung: In seinem Artikel zum Stichwort »Glaube« für die erste Auflage der RGG plädiert Troeltsch zwar fur eine Autonomie des Glaubens gegenüber der theologischen Tradition, doch nur im Sinne von deren kritischer Aneignung bei prinzipieller Gebundenheit, während er Neubildungen dem Ausnahmefall des religiösen Genius vorbehalten wissen will - eine Position,

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Troeltsch, Historismus, 765: »Diese [heutige] Welt hat einen außerordentlich reichen und bunten geistigen Inhalt, der nicht bloß aus ihr selbst, sondern zum größten Teil aus unserer ganzen Geschichte seit den Griechen stammt.« A.a.O., 772.

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die Troeltsch von Seiten Herrmanns und dessen seinerzeit treuem Schüler Karl Barth pikanterweise den Vorwurf eintrug, er sei letztlich ein »positiver« Theologe.66 Daß diese Einschätzung Troeltsch nicht gerecht wird, liegt maßgeblich daran, daß er der Gegenwart sehr viel mehr theologische Bedeutung beimißt, als es nach den bisher wiedergegebenen Gedanken den Anschein haben könnte. Dies zeigt exemplarisch Troeltschs frühe Stellungnahme zum Naturrechtsgedanken, denn an ihr wird deutlich, wie die Gegenwart, die nach seinem Wissenschaftsverständnis erst hinsichtlich der in ihr enthaltenen normativen Objektivationen der Vernunft zu befragen und vom bisherigen Vernunftbestand aus durchaus kritisch zu würdigen ist, selbst normativen Charakter erhält, indem der Status quo über Beibehaltung oder Verwerfung von Traditionsbeständen entscheidet. Im Hintergrund steht dabei Troeltschs dynamisch-schöpferische Geistauffassung.67 Die Stellungnahme belegt im übrigen, daß der Primat, den Troeltsch der religiösen Zweckidee auch in der neu zu schaffenden allgemein-ethischen Theorie zubilligt, nicht als direktes oder

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Vgl. Groll, Troeltsch und Barth, 43f, mit Bezug auf: Troeltsch, Art. Glaube. Vgl. dazu folgende Passage aus der »Glaubenslehre«: Nach Troeltsch ist die traditionelle Lehre von der urständlichen Gottesebenbildlichkeit u. a. deshalb zu verwerfen, weil sie »durch den Begriff des Geistes selbst unmöglich gemacht wird, der nichts Fertiges und Anerschaffenes, sondern nur etwas Werdendes in dem Ineinander von Freiheit und Gnade sich Bildendes sein kann« (a.a.O., 295). Die »Glaubenslehre« zeigt zugleich, daß nicht nur die Naturrechts- und die Urstandslehre, sondern die gesamte christliche Tradition von Troeltsch dem gegenwärtigen Bewußtsein untergeordnet werden. Zwar werden in den einleitenden Paragraphen neben dem modernen religiösen Erleben auch Bibel und Tradition als Quellen genannt, doch soll die neuere Entwicklung »die Grundlage unserer Glaubenslehre« sein, »in der Überzeugung, daß in ihm die eigentliche Entwicklungslinie des Christentums lebt. [...] Für eine Bewußtseinstheologie heißt es nicht, das Christentum überhaupt darzustellen, sondern das gegenwärtige Christentum zu fassen« (a.a.O., 14). Um die optimistische Einschätzung, daß die Christentumsgeschichte kein Abfall, sondern schon im Evangelium angekündigte legitime Fortentwicklung der Offenbarung ist (vgl. die Rede von den »immer neuen Offenbarungen«: Troeltsch, Absolutheit, 209), aus der Bibel zu belegen, beruft sich Troeltsch auf Jesu Ansage der Geistausgießung (vgl. Glaubenslehre, 29; 120f). Eine auch kritische Würdigung des gegenwärtigen Christentums ist in diesem Programm nur insoweit vorgesehen, als sie »immer schon eine bedingte Anerkennung einschließt]« (a.a.O., 31), was die Aussage, daß das kritische Moment »durch die immer wiederholte Messung an dem Urstoff und die immer erneute Zusammenstimmung der verschiedenen Offenbarungsstufen [geschieht]« (a.a.O., 40; vgl. 48), entscheidend relativiert. Troeltsch ist sich durchaus bewußt, daß seine dezidiert positive Stellung zur zeitgenössischen Entwicklung eine grundlegende Weichenstellung bedeutet: »Wer sich gegen diese Glaubenslehre richten will, muß daher hier einsetzen« (a.a.O., 31). Am deutlichsten ist die Abweichung von der dogmatischen Tradition in der Erlösungslehre (vgl. a.a.O., 326-364, bes. 328-332).

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indirektes Ableitungsverhältnis verstanden werden darf. Denn der Weg einer christlichen Naturrechtslehre setzt nach Troeltsch ein solches Ableitungsverhältnis voraus und ist gerade in diesem Punkt heute nicht mehr gangbar. Die ethische Funktion der Religion muß sich angesichts der im Diesseits unüberwindlich polaren »metaphysischen Konstitution des Menschen« (665) - an dieser Stelle argumentiert Troeltsch wieder prinzipiell-anthropologisch - darauf beschränken, im Sinne eines Glaubens an eine letzte Einheit das Streben nach Vereinheitlichung der selbständigen Zwecke voranzutreiben.68 Noch in einer zweiten Hinsicht zeigt sich die bestimmende Bedeutung der Gegenwart für Troeltschs Denken. Nicht nur die Beurteilung, sondern überhaupt die Aufarbeitung der Geistesgeschichte geschieht nach dem Maßstab der Angemessenheit für die Gegenwartsdeutung.69 Nach den »Soziallehren«, deren Vorarbeiten noch in die Zeit vor der Jahrhundertwende zurückreichen, hat sich Troeltsch mehr und mehr mit der GeschichtspMosopAze, weniger mit der Geschichte selbst beschäftigt.70 Zugleich verlor das Studium der Kultur des geschichtlichen Christentums gerade in seiner Eigenheit, wie es als Anliegen hinter den »Soziallehren« erkennbar ist,71 an Bedeutung gegenüber dem des »eigenen Kulturtypus« der »moderne[n] Welt«72 bzw. der Frage nach einer »zukünftigen Kultursynthese«, an der Troeltsch zum Schluß seines Lebens arbeitete. Der Ruf auf den philosophischen Lehrstuhl in Berlin entsprach insofern ganz seinen gewandelten oder besser: latent immer vorhandenen73 Interessen.74 Im Blick auf die eingangs referierte Wissenschaftstheorie

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Vgl. Tanner, Schatten, 160-163. Vgl. Troeltsch, Grundprobleme, 668 (»Die protestantische Ethik steht damit vor der Aufgabe einer neuen Erfassung und Formulierung ihrer selbst, die nicht tiñelige Neuanpassung einer alten Theorie, sondern entschlossene Einstellung auf die Gesamtlage der heutigen Kultur sein muß. Sie wird für diesen Moment auch ihre eigentlichsten religiösen Grundlagen und Impulse neu gestalten müssen.«); Historismus, 692 (»Eine »rein historische^ Kontemplation [...] hat fur eine in schweren sozialen Krisen und geistig-religiösen Nöten lebende Welt den Reiz verloren.«). Vgl. Troeltsch, Meine Bücher, 13: »Von allen diesen Punkten her erwuchs mir als wesentliches Problem meiner gegenwärtigen Lage die theoretische und philosophische Seite der Geschichte, deren Verhältnis zur empirisch-fachmäßigen Forschung einerseits, zu einer Theorie der Kulturwerte oder der Ethik andererseits.« Vgl. F. Voigt, 184-187 (zu den »Soziallehren«): »Die >rein religiöse* Begründung der soziologischen Struktur des Christentums«. Troeltsch, Absolutheit, 112. Vgl. Troeltsch, Historismus, VII: »Es ist also ein geschichtsphilosophisches Thema, und das war ja von Anfang an mein eigentliches wissenschaftliches Interesse.« Vgl. Drescher, 215-219. Vgl. besonders a.a.O., 218, gegen die Deutung, der Wechsel nach Berlin sei eine »Flucht aus der Theologie« gewesen.

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Troeltschs implizierte dies alles eine Verschiebung von der als Tradition vorliegenden oder individuell erlebten Empirie zur Analyse der umfassenden Gegenwartskonstellation und dann weiter zum rational-konstruierenden Element - und fur die hier interessierende Frage nach Troeltschs Modell der Ethikgrundlegung eine Schwerpunktverlagerung von der spezifisch »christlichen« zur »allgemeinen« Ethik. Troeltschs These, daß die Wissenschaft beim Individuellen beginnt und dann von dieser Basis zum Allgemeinen fortschreitet - »So gilt es die Masse des Relativen und Individuellen immer enger einzugrenzen und das in ihr wirkende Allgemeingültige immer gesammelter in seiner Zielrichtung zu erkennen.«75 - , findet ihren Spiegel in der Abfolge der Schwerpunkte seiner Gelehrtentätigkeit. Aus der Sicht der hier leitenden Fragestellung bedeutet diese Schwerpunktverlagerung eine Verschiebung von der individuellen zur universalen Perspektive. Sprechend ist hier wiederum die Rede vom »Ideal einer zukünftigen Kultursynthese«. Sie steckt bereits im Begriff einer »allgemeinen« Ethik, die ja bei Troeltsch gegenüber der »praktischen« Ethik gerade durch das Fehlen einer persönlichen »Stellungnahme« gekennzeichnet ist. Schon in der Absolutheitsschrift evoziert Troeltsch die »immer neue schöpferische Synthese« der allgemeinen Normen als Ziel der geschichtlichen Forschung.76 Er betont dort aber zugleich, daß dieses Ziel nur auf der Basis von »mit allen Mitteln historischer Kunst«77 betriebener Erkundung des einzelnen zu erreichen ist. Anstatt »alles mit dem Triebsande der Einfálle zu verschwemmen«, liegt »das Wesen historischen Denkens darin, die großen unser Dasein tragenden Gesteinmassen [sie] der in der Historie erarbeiteten Werte deutlich abzugrenzen und in ihrem Zusammenhang zu durchschauen«78. Dies gilt auch auf dem Gebiet der Religion. Den »reinsten und tiefsten Gottesgedanken[] [...] lehrt gerade eine religionsgeschichtliche Betrachtung nicht in irgendeiner wissenschaftlichen Religion oder in einem synkretistischen, bloß das Gemeinsame abstrahierenden und deshalb gerade die wichtigen Unterschiede übersehenden Allgemeinbegriff der Religion suchen, sondern unter den historischen positiven religiösen Kräften und Offenbarungen«79. Das Christentum »ist gerade in seiner Besonderheit und in seinen charakteristischen Zügen, von denen aus das Ziel der Religion hier erst entscheidende neue Bestimmt-

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Troeltsch, Absolutheit, 189. A.a.O., 171. A.a.O., 206. A.a.O., 178. A.a.O., 185.

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heiten erfährt, der Höhepunkt« der Religionsgeschichte.80 Solchen Äußerungen, die das Allgemeine allein in einem individuell Vorfindlichen verkörpert sehen wollen, stehen allerdings schon hier und nicht spannungslos andere zur Seite, die dem Geschichtsphilosophen zubilligen, die allgemein geltenden Normen auf der Basis der Historie erst zu entwickeln: »Die historisch geschilderten und wirksamen Normen sind nicht ohne weiteres die geltenden, von uns anzuerkennenden Normen, aber Offenbarungen desselben Prinzips, aus dem wir die geltenden Normen entwickeln.«81 Dabei steht Troeltschs bereits erwähnter dynamischer Geistbegriff im Hintergrund: »Der Gedanke verlangt die metaphysische Wendung, die Zurückfuhrung aller dieser Zielsetzungen und Kräfte auf eine mit dem geistigen Kern der Wirklichkeit zusammenhängende, vorwärtstreibende übersinnliche Realität.«82 Im Spätwerk erhält dieser spekulative Gedanke die Führung. Zwar ist auch hier noch im Sinne der in Abschnitt 2.1. dargestellten, Troeltsch lebenslang leitenden Erkenntnistheorie an eine Korrelation von »Tatsachenforschung« und »Konstruktion« gedacht.83 Aber das erstere Moment ist nun nicht mehr präsent in Form einer Orientierung am Einzelnen, sondern als »Entwicklungstrieb unseres geschichtlichen Lebenszusammenhanges«84. Aus ihm soll die Kultursynthese »herausgeholt« werden, wie umgekehrt die »Universalgeschichte« »organisiert ist von der Idee einer gegenwärtigen Kultursynthese aus«.85 Der Gedanke einer spezifisch »christlichen« Ethik und mit ihm der noch in der Absolutheitsschrift, wenn auch in ihren verschiedenen Auflagen immer weniger vertretene Gedanke eines unhintergehbaren individuellen Ausgangspunkts jeder Reflexion tritt demgegenüber ganz zurück. Die oben herausgearbeitete Konzeption einer zweigeteilten Ethik wird somit im Spätwerk, ausgehend von einer immer stärkeren Orientierung an der allgemeinen Kultur der Gegenwart, immanent in Frage gestellt. Obwohl hier unstreitig eine Bewegung in Troeltschs Denken stattgefunden hat, die sich einerseits als Gegenreaktion auf die Unfähigkeit der fuhrenden kirchlichen Kreise zur Anpassung an die Moderne, andererseits als Resultat einer intellektuellen Entwicklung erklären läßt,86 ist es allerdings wenig ratsam, die Gedanken der Heidelberger und der Berliner Zeit gegeneinander

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A.a.O., 197. A.a.O., 189; neutraler ist die Bemerkung ebd., wonach sich das Allgemeingültige im Individuellen und Einmaligen der Geschichte »erschließt«. A.a.O., 180. Vgl. Troeltsch, Historismus, 693. A.a.O., 692. Ebd. Vgl. Ruddies, Acceptation, 203-206.

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auszuspielen. Die Orientierung an der Gegenwart und ihren Problemen war von Beginn an ein zentraler Bestandteil der Troeltschschen Theologie. Dies zeigt nicht zuletzt die bei der obigen Rekonstruktion maßgeblich herangezogene Arbeit über »Grundprobleme der Ethik«87. Der Gedanke einer »allgemeinen Ethik« war Troeltsch bereits durch seinen Erlanger Lehrer Claß nähergebracht worden88 und bestimmt durchgängig seine ethische Reflexion. Wenn oben dennoch für einmal der Fokus auf die These einer notwendigen Ergänzung dieser »allgemeinen« durch eine »Praktische christliche Ethik« gerichtet wurde, so nicht zuletzt, weil damit deutlich wird, daß Troeltsch die Problematik der »allgemeinen Ethik« durchaus bewußt war und man - um die oben bereits zitierte Formel zu variieren - Troeltsch mit Troeltsch überwinden kann. Die genannte Problematik liegt noch nicht in dem Vorsatz, der theologischen Reflexion eine gegenwartsbezogene Situationsklärung vorauszuschicken,89 denn eine solche Klärung ist unabdingbar, soll die Ethik nicht ihren Wirklichkeitsbezug verlieren. Die Probleme beginnen dort, wo vorgegeben wird, eine solche Klärung sei von einem allgemeinen Standpunkt aus möglich. Daß dies nicht möglich ist, haben Erkenntnistheorie und Hermeneutik des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet - in Übereinstimmung mit einigen oben zitierten Aussagen vornehmlich des jüngeren Troeltsch. Das zweite Problem besteht in der Normativität, die für die »allgemeine Ethik« Troeltschs der Gegenwart zukommt. Troeltschs grundlegendes Interesse galt einerseits der Integration des Christentums in die gegenwärtige Kultur, andererseits der Wahrung der spezifischen Identität von Christentum und Kultur.90 Zwischen diesen beiden Polen besteht eine notwendige Spannung, die Troeltsch allzuoft zugunsten der »Integration« auflöste, wodurch das kritische Potential, das das Christentum gegenüber der modernen Kultur geltend machen kann, nicht genügend zur Geltung kam. Wo eine derartige harmonische Auflösung geschieht - bei Troeltsch selbst oder aber bei neueren Anhängern seiner Theologie - steht Troeltschs oben zitierte Kritik an den vorschnellen Synthesen der Ritschl-Schule im Raum. Der methodische Beginn bei einer soziologischen Standortklärung muß nicht per se bedeuten, daß das Christentum sich unkritisch lediglich zu integrieren oder anzupassen habe. Den extremen Gegenpol zu Troeltschs Aussagen in diesem Sinn bildet der französische Jurist und Theologie Jacques Ellul, der gleichfalls die Not-

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Vgl. außer der referierten Kritik am Naturrechtsgedanken noch das in Anm. 69 zitierte Postulat. Vgl. Will. Vgl. Troeltsch, Weltanschauung, 228 Anm. Vgl. Korsch, Identité, bes. 42.

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wendigkeit einer umfassenden Kenntnisnahme der Gegenwartskultur betont, aber nur, um diese dann um so besser bekämpfen zu können.91 Troeltschs Gegenüberstellung von spezifisch christlicher und allgemeiner Ethik bildet hier einen guten Ansatz, um Einseitigkeiten zu vermeiden. Doch mehr als das! 2.6. Der Beitrag Ernst Troeltschs zur Grundlegungsdebatte Die hier auf der Basis vor allem der Überlegungen über »Grundprobleme der Ethik« herausgearbeitete Konzeption des jüngeren Troeltsch stellt einen wichtigen Beitrag dar, um die eingangs dargestellte Debatte in der protestantischen Ethik zu klären. Das Auseinanderdividieren von christlicher und allgemeiner Ethik stellt zwar sicherlich nicht die eleganteste Lösung der Probleme dar. Sie schärft aber jenseits von jedem Lagerdenken ein, daß jede christliche Ethik zwei Dinge im Auge behalten muß: die Orientierung an den spezifisch christlichen Glaubensgedanken wie die Ausrichtung auf die allgemeine Kultur. Das Vorbild dieser Überlegungen Troeltschs bildet zweifellos Schleiermacher. Nicht nur das Verständnis der Ethik als primär objektiver Gütertheorie, wie es Troeltsch der Ethik Herrmanns entgegenstellt, sondern auch die Etablierung einer neben der allgemeinen Ethik eigenständigen christlichen Ethik weist auf Schleiermacher zurück (Herrmanns dezidiert beim Allgemeinen ansetzende »Ethik«, anläßlich deren Kritik Troeltsch sich zu den »Grundproblemen der Ethik« äußerte, richtete sich ja gerade gegen Schleiermachers Formulierung einer spezifischen »Christlichen Sittenlehre«!). Schleiermachers und Troeltschs Ethikgrundlegung ist allerdings trotz dieser Parallelen nicht identisch. Der Vorzug von Schleiermachers »Philosophischer Ethik« gegenüber Troeltschs Programm einer »allgemeinen Ethik« liegt darin, daß Schleiermacher nicht der naheliegenden Versuchung erliegt, das Allgemeine vom Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters in den Blick nehmen zu wollen, sondern eingesteht, mit seiner »Philosophischen Ethik« lediglich die Einsichten der »Christlichen Sittenlehre« ins Allgemeine auszuziehen. Schleiermacher wird damit dem erkenntnistheoretischen Faktum, daß das Allgemeine nur aus individueller Perspektive zugänglich ist, besser gerecht als Troeltsch, dessen »allgemeine Ethik« schon von Beginn an der genannten Versuchung nicht ausreichend entgegentrat. Umgekehrt liegt der Vorzug der Theorie Troeltschs gegenüber der Schleiermachers darin, daß sie sehr viel stärker den Ambivalenzen und zentrifugalen Kräften in der modernen Gesellschaft gerecht wird.

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Vgl. Lohmann, Göttliches und menschliches Recht.

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Betrachtet man Troeltschs Lebenswerk, so liegt sein Beitrag zur Frage nach partikularer oder universaler Grundlegung der Ethik gerade in der Unterscheidung und Pflege von zwei Typen von Ethik, die jeweils vom entgegengesetzten Pol der Wirklichkeit - hier geschichtlich-partikulares, dort spekulativ-universales Moment - ausgehen.

3. Karl Barth 3.1. Barths Grundlegung der christlichen Ethik im Rahmen seines Verständnisses von Theologie Noch wichtiger als bei Troeltsch ist es bei Karl Barth, die Äußerungen zur christlichen Ethik von den Überlegungen zur sein Denken leitenden Erkenntnistheorie aufzuschließen. Barth selbst hat im Rückblick den für sein ganzes weiteres Lebenswerk richtungsweisenden Neuansatz seiner Theologie während des Ersten Weltkriegs als erkenntnistheoretischen, als »Umkehrung« des geläufigen Verstehensbtgcifts bezeichnet: Es sei ihm damals »um die Begründimg des menschlichen Erkennens in des Menschen Erkanntwerden und Erkanntsem vom Gegenstand seines Erkennens her« gegangen.1 Und tatsächlich läßt sich die Bedeutsamkeit dieses erkenntnistheoretischen Ansatzes, im Kontext des Zitats durch den Vergleich mit dem Exodus aus Ägypten und der Kopernikanischen Wende noch mit zusätzlichem Pathos versehen, auf allen Gebieten des Barthschen theologischen Schaffens nachweisen. Ein solcher Nachweis soll hier ebensowenig geführt wie die Diskussion möglicher Wurzeln dieser gegenstandsorientierten Erkenntnistheorie wiederholt werden.2 Gegen das Descartessche »cogito« stellt Barth ein »cogitor«.3 Das Ergebnis, das aus Barths konsequentem Ausbau dieses Verstehensbegriffs für sein Gesamtverständnis von Theologie folgt, ist notorisch: Theologie ist gedankliches Nachvollziehen der Offenbarung Gottes. Sie ist daher4 in ihrem Zentrum Christologie. Alle theologische Reflexion ist ebenso wie das Glauben und Handeln der Christen, dem sie gilt, im Ereignis der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, der ersten Gestalt des Wortes Gottes, begründet. Barths Überlegungen zur theologischen Ethik und ihrer Grundlegung sind im Rahmen dieses Verständnisses völlig folgerichtig. Auch die Ethik ist Auslegung des Wortes Gottes. Ihre Besonderheit: Sie legt es allein unter dem Aspekt aus, daß es nicht nur Aussage, sondern auch Gebot ist. Sie ist »Lehre

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Barth, Rudolf Bultmann, 52. Vgl. Lohmann, Karl Barth, 236-247; 273-280. Vgl. Barth, Auferstehung, 23. Dieses »daher« ergibt sich allerdings nicht zwingend aus dem erkenntnistheoretischen Ansatz, sondern fußt noch auf anderen Voraussetzungen Barths.

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von Gottes Gebot« (Π/2, 564)5, in dem Gott den sein Wort hörenden Menschen »in Anspruch nimmt«6. Dieses Gebot ist also kein neues Wort Gottes, sondern das Evangelium vom sich den Menschen zuwendenden Gott, soweit es immer zugleich Aufforderung zum Handeln ist. Aus dieser Überlegung Barths ergibt sich wie die Abfolge »Evangelium und Gesetz« so auch die Bindung der theologischen Ethik an die Dogmatik. Beide sind ohne das jeweils Andere nicht zu denken, wie ja auch im Wort Gottes Zuspruch und Anspruch Gottes niemals zu trennen sind. »Die Dogmatik selbst ist Ethik. Auch die Ethik ist Dogmatik« (1/2, 888).7 Dennoch plädiert Barth auch hier für eine unumkehrbare Abfolge, wobei der Dogmatik der Primat zukommen soll. Denn indem die Ethik das Wort Gottes im Hinblick auf das menschliche Handeln untersucht, verschiebt sich faktisch ihre Fragestellung: vom Wort Gottes hin zum »christlichen Leben« (vgl. ebd.) bzw. zur »Heiligung« des Menschen (Π/2, 564). Der Mensch und seine »Existenzfrage« (1/2, 887) tritt in der Ethik stärker in den Blickpunkt. Diese Frage ist aber - und hier wirkt sich wieder Barths Ausgang beim Bereits-Erkanntyez'n des Menschen aus sachgemäß nur zu beantworten im Rückgriff auf das, was das Wort Gottes und die dieses nachsprechende Dogmatik dazu sagt. »[N]icht aus irgend einer Selbstreflexion [...], sondern schlicht aus dem Faktum seiner Anrede durch Gott« erkennt der Mensch ja den Sinn seines Lebens (ΠΙ/4, 371).8 Der Vorrang der Dogmatik vor der Ethik ergibt sich also aus dem offenbarungstheologischen Ansatz Barths.9 Die neuzeitliche Tendenz zur Loslösung der theo-

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Band- und Seitenzahlen im Text des folgenden Kapitels ohne weitere Angaben beziehen sich auf Barths »Kirchliche Dogmatik«. Die beiden Vorlesungen »Ethik I« und »Ethik II« werden durch die Kürzel »EI« und »E II« gekennzeichnet. Vgl. zu diesem für die Ethik Barths charakteristischen Terminus ζ. B. wiederum den Leitsatz Π/2, 564. Vgl. II/2, 670: »Die Sätze der christlichen Ethik sind Sätze der christlichen Dogmatik.« Sofern diese Anrede und das wahre Sein des Menschen in Christus offenbar werden, kann Barth dann als Grundsatz seiner Anthropologie formulieren: »den Menschen [...] von der Menschheit Christi her verstehen« (Π/2, 610). Auch hier ist wieder zu notieren, daß es sich um keine zwingende Folge handelt. Der für das Verhältnis von Dogmatik und Ethik einschlägige Abschnitt der »Kirchlichen Dogmatik« (Π/2, 875-890) ist alles andere als begrifflich exakt formuliert. Im Sinne einer Definition wird die Dogmatik mit der »Frage nach Gottes Wort« assoziiert, während die Ethik die dieser untergeordnete »Frage nach dem christlichen Leben« bearbeiten soll (II/2, 888). Der im ganzen Abschnitt erkennbare Kampf Barths mit der Frage, ob in der Ethik ein Wechsel der Blickrichtung gegenüber der Dogmatik stattfindet oder nicht, wird durch diese unzureichende Aufteilung der Perspektiven beider Disziplinen maßgeblich ausgelöst. Barths letztliche Antwort, wonach auch die Ethik Lehre von Gottes Wort ist, nur eben dieses als Gebot verstehend, ist innerhalb seines theologischen Ansatzes völlig

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logischen Ethik von der Dogmatik ist von daher zumindest »bedenklich, weil dabei in großer Regelmäßigkeit ein in der Theologie unmöglicher Wechsel in der Blickrichtung, eine fatale Vertauschung der Subjekte, nämlich Gottes und des Menschen stattfindet und zum eigentlichen konstituierenden Prinzip der Ethik gemacht wird« (1/2, 884).10 Konstituierend ist vielmehr der Blick Gottes auf den Menschen, wie er definitiv im Christusgeschehen offenbar geworden ist. Theologische Ethik ist nicht Theorie der menschlichen, sondern zunächst der - bzw .dieser - göttlichen Praxis.11 »Daß uns die souveräne Ent-

einleuchtend. Sie hätte jedoch nicht durch die zitierte Gegenüberstellung, die unterschwellig im ganzen Text präsent ist, verunklart werden dürfen. Die »Frage nach Gottes Wort« steht über der ganzen Theologie Barths und ist also Dogmatik und Ethik gemeinsam. Im Rahmen dieser übergeordneten Fragestellung richtet sich der Blick der Ethik dann auf das »christliche Leben«, und der entsprechende Begriff für die Dogmatik hätte »christlicher Glaube« lauten müssen. Gegen eine derartige Gegenüberstellung von Glaube und Leben, oder auch Rezeptivität und Spontaneität, hat sich Barth allerdings - und das dürfte der Grund sein, warum er sie an der zitierten Stelle vermeidet - ausdrücklich verwahrt (vgl. EI, 12f.l5f; II/2, 881.883). Auch die Gleichsetzung der Ethik mit der »Frage nach dem christlichen Leben« im Zitat ist also nicht kongruent mit Barths eigentlicher Auffasssung. Eine im Barthschen Sinne korrekte Untergliederung ist im obigen Text vorgeschlagen worden: Die Darstellung des Wortes Gottes erfolgt in der Dogmatik, soweit es Zuspruch, und in der Ethik, soweit es Anspruch an den Menschen ist (dies trifft Barths Intention am ehesten, trotz des II/2, 701, geäußerten Vorbehalts gegen die Rede von einem göttlichen »Anspruch«), Diese Gliederung hätte überdies den Vorteil, daß sofort deutlich wird, warum Barth die Dogmatik trotz des identischen Gegenstands - Wort Gottes - der Ethik überordnet: weil das Evangelium dem Gesetz vorausgeht. Damit ist zugleich gezeigt, daß der Vorrang der Dogmatik bei Barth nicht allein aus dem offenbarungstheologischen Ansatz folgt (denn die Ethik ist ebenso Lehre von Gottes Offenbarung wie die Dogmatik), sondern die Abfolge »Evangelium und Gesetz« zur eigentlichen Voraussetzung hat. 10

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W2, 601, heißt es lapidar: »Was mit dem Selbst des Menschen anfängt, das kann nun einmal nicht mit der Erkenntnis Gottes und seines Gebotes endigen.« Der Satz steht in einem Kontext, in dem Barth allgemein die Möglichkeit einer nicht-theologischen Ethik, sofern sie über negative Aussagen über die Grenzen des Menschen hinausgehen will, bestreitet (vgl. a.a.O., 600-603). Vgl. Barth, Geschenk, 17: »Ethik kann von unseren Voraussetzungen her nur evangelische Ethik sein.« Vgl. H/2, 609: »Das Gebot Gottes ist die Entscheidung über die Güte des menschlichen Handelns. Als göttliches Handeln geht es dem menschlichen Handeln voran. Nur auf diese durchaus nicht ruhende, sondern geschehende, durchaus nicht allgemeine, sondern höchst besondere Wirklichkeit hin unternimmt es die theologische Ethik [,] auf die ethische Frage Antwort zu geben. Ihre Theorie ist schlechterdings die Theorie dieser Praxis.« Vgl. zur Wendung »Theorie der göttlichen Praxis« noch a.a.O., 589; 838. Auch an dieser Stelle - Ethik als Rede von Gott und erst in zweiter Linie vom Menschen - entsprechen die Überlegungen Barths zur Ethik vollkommen seinem Verständnis von Theo-

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Scheidung Gottes über alle unsere Entscheidungen in Jesus Christus real und objektiv gegenübersteht, das ist [...] das Kriterium aller Kriterien ethischer Besinnung« (Π72, 737). »Die Ethik als Lehre von Gottes Gebot und also als Lehre von der dem Menschen von Gott widerfahrenden Heiligung ist in der Erkenntnis Jesu Christi begründet« (Π/2, 871). 3.2. Die Vorzüge einer christologischen Grundlegung der Ethik in Barths Sicht Mit der so ausgesprochenen Forderung einer »christologische[n] Begründung« (Π/2, 726) der Ethik ist der Ausgangspunkt der obigen Zusammenfassung erreicht und gezeigt, daß Barth auch hinsichtlich der Ethik seinem Verständnis der Theologie als christozentrischer Offenbarungstheologie treu bleibt. An Barths Äußerungen zur Grundlegung der Ethik werden exemplarisch - wenn auch mehr implizit als explizit - einige der Gründe deutlich, die ihm diesen theologischen Ansatz als einzig möglichen erscheinen ließen. 1. Die Adverbien »real und objektiv« in einem der letzten Zitate sind keine bloßen Ausschmückungen, sondern sie haben in Barths Theologie einen besonderen Stellenwert. Daß das Christusgeschehen den menschlich-subjektiven Entscheidungen »real und objektiv gegenübersteht«, ist vielmehr entscheidend dafür, daß es in Barths »neuem«12 Denken nach 1914 zunächst via Dialektik, dann mittels christologischer Konzentration und schließlich durch »christologische Expansion«13 immer größere Bedeutung für die Grundlegung von Theologie und eben auch Ethik erhielt. Das Postulat einer gegenstandsorientierten Erkenntnistheorie, mit dem das Insistieren auf dem in Christus »real und objektiv« unabhängig vom Menschen gelegten Grund unmittelbar zusammenhängt, war die Reaktion Barths auf das Verhalten seiner akademischen Lehrer beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die insbesondere durch Martin Rades Bezeichnung des Kriegs als »Gotteserlebnis« ausgelöste Einsicht, »das sind alles Protuberanzen von Erlebnissen«, führte bereits in der Erstauflage des »Römerbriefs« zur Gegenthese gegen jeglichen Rekurs auf Erfahrung und Erleben in Grundlegungsfragen: »Im Objektiven liegt die Wahrheit!«14 Das Objektive ist aber nicht nur wahr, sondern auch wirklich. Während menschliche Empfindungen und Gedanken immer der Gefahr aus-

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logie im ganzen. Vgl. Jüngel, Evangelium und Gesetz, 201: »Vielmehr ist Barths Theologie pointiert Rede von Gott, die von Gottes Aktionen her ihre Logik gewinnt [...].« Vgl. Spieckermann. Vgl. Härle, Souveränität, 45. Barth, Römerbrief 1919,113. Vgl. Lohmann, Karl Barth, 371f.

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gesetzt sind, bloße »Chimäre«15, bloß »eigenmächtig von Menschen fabriziert[]«16 zu sein, bildet das raum-zeitlich konkrete Christusgeschehen für Barth mehr und mehr den »archimedische[n] Punkt«17, den Punkt der Wirklichkeit, der verläßlich ist. Beide Eigenschaften, die Realität und die Objektivität, werden von Barth zusammengezogen, wenn in den Prolegomena der »Kirchlichen Dogmatik« Jesus Christus als die »objektive Wirklichkeit der Offenbarung« bezeichnet wird (vgl. 1/2,1-28). 2. In direktem Zusammenhang mit dem eben Genannten steht die oben anmerkungsweise zitierte Bemerkung Barths, beim göttlichen Handeln in Christus handle es sich um eine »durchaus nicht allgemeine, sondern höchst besondere Wirklichkeit«. Stand Barths Vorordnung des Objektiven vor das Subjektive quer zur gesamten Tradition einer »Glaubenslehre« in der Nachfolge Schleiermachers, so steht seine Aversion gegen das Allgemeine im Gegensatz zu einem entscheidenden Grundsatz der deistischen Theologie: Setzte doch deren Protest gegen eine Grundlegung von Glaube und Theologie auf Offenbarung genau bei deren Partikularität an.18 Der bei Barth hinter seiner Umkehrung und seinem Plädoyer fiir ein besonderes Geschehen als Fundament stehende Gedanke ist der gleiche wie hinsichtlich der Objektivität, gilt ihm doch ein »Allgemeines« als Produkt der Vernunft, womit es gerade dem Subjektiv-Unbestimmten anheimfällt.19 In den gleichen »anti-deistischen« Kontext gehören Barths Eintreten für eine Grundlegung der Theologie a posteriori und nicht a priori (vgl. Ε Π, 109; 112) sowie - wenn auch Barth versucht, sie biblisch zu begründen - seine Ausführungen zur »Bestimmt-

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Barth, Das christliche Leben, 469. A.a.O., 426. A.a.O., 425. Vgl. Herms, Theologie und Politik, 107 Anm. 7. Vgl. dazu für den Bereich der Ethik Barths Auseinandersetzung mit dem idealistischen Gesetzesbegriff in E II, 88-129, vor allem 98 (»Die Offenbarung des Gesetzes des Glaubens, die Inanspruchnahme des Christen ist ein schlechthin einzelnes Ereignis, das sich unter allen Ereignissen dadurch charakteristisch hervorhebt, daß Gott in ihm exklusiv der Handelnde ist. Gewiß nicht ohne Reflex seines Handelns in unserer endlichen Vernunft, aber darum nicht unter Anteilnahme und Mitwirkung unserer Vernunft bei diesem Handeln.«); 118 (»Eben damit ist die Offenbarung Gottes im Unterschied zu einer allgemein zugänglichen Erkenntnis bezeichnet als ein besonderes, einzelnes, konkretes Ereignis im Unterschied zu den zeitlosen Wahrheiten der geistigen Welt, von denen man ja bei einiger Dehnbarkeit des Begriffs auch sagen kann, daß sie uns >offenbar< werden als eine durchaus in der Zeit uns begegnende Wahrheit, im Unterschied zu dem >GottEs ist vollbracht - [ist] für Barth mehr und mehr zur Quintessenz des gesamten biblischen Zeugnisses geworden [...]. Gottes Werk an der Welt ist in Christus an dessen Kreuz vollbracht, das Urteil der Gnade ist vollzogen; daran gibt es nichts weiter zu vollbringen und nichts zu vergegenwärtigen, zu vermitteln, zu vertreten.« Vgl. ζ. B. 1/2, 123-125; 260 (»Zu diesem Perfektem der Wahrheit der objektiven Offenbarung braucht nichts hinzuzukommen und kann auch nichts hinzukommen.«). Vgl. Lehmann, Karl Barth, 365f.

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klusivitätsbehauptung: Durch eine Ausrichtung an der philosophischen Ethik wird »der eigentümliche Gehalt der theologisch-ethischen Fragestellung« (E I, 34) verdeckt, und umgekehrt ist »klar«, daß die christologisch orientierte Ethik »einen im Verhältnis zu aller sonstigen Ethik sehr eigentümlichen Weg einschlägt« (Π/2, 600). Gegenüber einer christlichen Ethik, die Anleihen bei anderen Disziplinen macht, verbürgt die Christozentrik, daß die wissenschaftstheoretische Forderung, die Wahrheit eines Gesetzes »in ihm selbst« (ΕΠ, 102; vgl. 109) zu begründen, eingelöst und die Selbständigkeit der Theologie gewahrt wird.25 6. Galten die bisher aufgezählten Vorzüge, die eine christologische Grundlegung in Barths Sicht hat, für die Theologie im allgemeinen, so sind nun noch zwei Punkte zu nennen, die gerade für den Bereich der Ethik von Bedeutung sind. Beide ergeben sich aus Barths Aufnahme der christologischen Zweinaturenlehre. Schon der Leitsatz des einschlägigen § 36 der »Kirchlichen Dogmatik«, der am Beginn von deren formaler Ethik steht, verweist auf diesen Zusammenhang: »Sie [sc. die Ethik] ist darum in der Erkenntnis Jesu Christi begründet, weil dieser der heilige Gott und der geheiligte Mensch in Einem ist« (Π/2, 564). Der hinter diesem Satz stehende Gedankengang beginnt bei dem für Barth unhintergehbaren Grundsatz jeder Ethik: »Was das rechte Handeln des Menschen ist, das ist schlechterdings beschlossen im rechten Handeln Gottes« (II/2, 598). Die Zweinaturenlehre sagt nun, daß die Differenz zwischen beidem in Jesus Christus aufgehoben ist, sofern er »der erwählende Gott und der erwählte Mensch in Einem« ist (ebd.). Deshalb »bedürfen [wir] neben diesem einen Bilde keines anderen [...]. Wir haben in dem einen Bild Jesu Christi wie das Evangelium [...] so auch das im Unterschied zu allen anderen, selbst gefundenen oder selbst erdachten Gesetzen wirklich bindende und verpflichtende Gesetz« (ebd.).26 Der im Sinne der Zweinaturenlehre verstandene Jesus Christus verkörpert also in idealer Weise den fur Barth essentiellen Zusammenhang zwischen Evangelium und Gesetz. 7. Ebenfalls im Kontext der Zweinaturenlehre steht eine letzte hier zu nennende Überlegung. Ist Jesus Christus der wahre Mensch, so muß man »den Menschen überhaupt von der Menschheit Christi her verstehen« (II/2, 610). Dieser anthropologische Grundsatz kann fur die Ethik zwei Konsequenzen haben, deren eine von Barth auch gezogen wird: Barth leitet daraus, daß Jesus Christus der vorbildliche Mensch ist, eine Ethik der Nachfolge ab. »Daß unser Tun seinem Tun gleichförmig werde, das ist es, was von uns gefordert

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Vgl. zu diesem Anliegen Barths: Lohmann, Karl Barth, 363f. Eine Vorform dieses Gedankens bilden die Überlegungen Barths zum »menschgewordene[n] Gesetz« in E II, 121-129 (Zitat: 121).

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ist« (H/2, 641). Allerdings beeilt sich Barth, einige Kautelen anzubringen: Der Mensch Jesus Christus ist »kein moralisches Vorbild bloß« (II/2, 619), die Luthersche Formel: »dem Nächsten ein Christus werden« gilt nur unter Vorbehalt (vgl. Ε Π, 141; 154). »Jesus nachfolgen heißt nicht werden wie Jesus, heißt nicht diese und diese an ihm auffallende Tugenden sich aneignen, sondern mit ihm auf dem Wege, auf seinem Wege sein. Sein Weg ist aber der Weg des Leidens und Sterbens« (E II, 131). D. h.: Es ist für Barth gerade der Gehorsam Christi, dem es nachzufolgen oder - um zwei andere zentrale Begriffe der Barthschen Ethik zu verwenden - zu entsprechen und zu antworten gilt.27 D. h. aber auch: Die christologische Grundlegung liefert Barth zugleich ein erstes inhaltliches Kriterium seiner Ethik, das überdies, indem es die Unterordnung des Menschen unter Gott betont, aufs beste mit seinem erkenntnistheoretisch-theologischen Ansatz zusammenstimmt. 3.3. Eine erste kritische Rückfrage Daß in Jesus Christus der wahre Mensch offenbart ist, kann für die Ethik noch eine zweite Konsequenz haben, denn es ergibt sich daraus, daß die Orientierung der Ethik an Jesus Christus dem sittlichen Menschen keinen ihm äußerlichen Maßstab auferlegt. Wie nahe diese Folgerung liegt, wird an einigen Aussagen Barths deutlich. Zwar ist es ein Charakteristikum seiner Ethik, daß sie wie keine andere das Gebot als schlicht zu befolgende Gehorsamsiorderung begreift,28 doch möchte Barth diese Forderung nicht als eine dem eigentlichen Willen des Menschen widersprechende verstanden wissen. Die Ausführungen über den Gehorsam Christi betonen: »Es handelt sich um den Gehorsam des freien [!] Menschen gegen den freien [!] Gott. Und eben darum handelt es sich um rechten Gehorsam« (II/2, 623). Das Gebot Gottes ruft den Menschen in die Freiheit, denn: »Als dieses Vaters Kind bei diesem Vater

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Vgl. ζ. Β. II/2, 622f: »Es gibt nichts, was die menschliche Person Jesu stärker charakterisiert als eben ihre Bindung an Gott. [...] Eben seinem Anspruch entzieht er sich nicht, sondern ist er völlig unterworfen. Eben ihm ist er gehorsam. [...] Eben das, was an und in dem Menschen Jesus sichtbar ist, gilt nun aber exemplarisch für das Verhältnis des Menschen zum Willen Gottes überhaupt.« Vgl. ζ. B. Barth, Halten der Gebote, 106: »Die These, die in diesem Vortrag vertreten und erläutert werden soll, ist die: daß auf das sogenannte ethische Problem, auf die alte und immer neue Frage: >Was sollen wir denn tun?< [...] keine andere Antwort zu geben ist als eben diese: die Gebote halten, beide Begriffe in dem schlichten tiefen Sinn verstanden, in dem sie in der Bibel verstanden werden.« Die Gehorsamsforderung geht notabene noch über den engeren Bereich der Ethik hinaus und betrifft das gesamte Verhältnis zum Wort Gottes, vgl. folgenden Satz: »Der Inhalt des Wortes Gottes selbst muß regieren und die Dogmatik mit der kirchlichen Verkündigung muß gehorchen« (1/2, 957).

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sein, das ist aber Freiheit« (III/4, 746). Das Gebot ist Einladung und Auszeichnung; der Mensch »muß nicht gehorchen, er darf es« (ΠΙ/4, 747). Die Forderung Gottes muß nicht im Widerspruch zum Wollen des Menschen stehen (vgl. ΠΙ/4, 730). »Ist Gott in Jesus Christus sein Menschenbruder geworden, um ihn in die Freiheit zu rufen, so ist der Mensch in Jesus Christus auch zu Gottes Menschenbruder geworden [...]« (ΓΠ/4, 552). Durch die Inkarnation ist das Menschenleben in seiner Auszeichnung durch Gott offenbar geworden (vgl. ΠΙ/4, 384f). Man wird daher die Konsequenz, die Barth aufgrund eines solchen »in der Freiheit zu leistende[n] Gehorsam[s]« (1/2, 959) hinsichtlich von Dogmatik und kirchlicher Verkündigung zieht - daß ihre Theonomie sich nämlich als Heteronomie und Autonomie äußere (vgl. ebd.) - , auch in seiner Ethik erwarten und wird in dieser Erwartung auch nicht völlig enttäuscht. In der Miinsteraner bzw. Bonner Ethik-Vorlesung findet sich folgende Passage: »Die Forderung des Schöpfergebotes kann also sachlich nichts anderes sein als die Forderung des eigensten Wesens des Geschöpfes. Das ist der berechtigte Sinn des alten Begriffs der lex naturae und des modernen Begriffs der Autonomie des Sittengesetzes« (E I, 356).29 Im Kontext betrachtet, zeigt freilich gerade diese Passage, wie weit Barth davon entfernt ist, die zuletzt genannte, scheinbar naheliegende Konsequenz aus der christologischen Grundlegung auch im Bereich der Ethik zu ziehen. Denn was sich im herausgelösten Zitat als Sympathiekundgebung für die Autonomie des Sittengesetzes liest, ist in Barths Text von Abgrenzungen umgeben. Gegen ein Verständnis des Autonomiegedankens im Sinne einer zwar geschaffenen, aber nun selbständigen ethischen Existenz - von Barth unter dem Etikett: »deistischer Mythus« verhandelt (vgl. E I , 356-359) - , betont er: »[W]ir haben es im Gebot mit dem Willen des Schöpfers und gerade nicht mit unserem eigenen Willen zu tun, und dieser Wille des Schöpfers will unsere Unterordnung« (E I, 360). Die ethische Autonomie, wie Barth sie hier versteht, ist strikt die des Geschöpfes,30 das sich gehorsam unterzuordnen hat. Eine andere Art von Autonomie läßt Barth nicht zu, vielmehr spricht er von der »Irrlehre von der sittlichen Selbstbestimmung des Menschen« (E I, 43). Auch an dieser Stelle bleibt es also beim Verständnis des göttlichen Gebots als Gehorsamsforderung. Überdies argumentiert Barth hier schöpfungstheo-

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Daß Barth hier vom »eigensten Wesenf]« spricht, zeigt übrigens, daß ihm die Differenz zwischen naturrechtlicher Argumentation und ethischem Naturalismus, der sich an der empirisch sichtbaren, nicht aber der »eigensten« Wesensnatur des Menschen orientiert, bewußt ist (zur Kritik am Naturalismus vgl. II/2, 569f). Vgl. EI, 355: »Sie [sc. die Forderung Gottes] fordert einfach, daß das Geschöpf sei, was es ist, nämlich eben Geschöpf.«

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logisch und nicht christologisch. Es war daher nur konsequent, daß der entsprechende Passus in die »Kirchliche Dogmatik« keinen Eingang gefunden hat. Es bleibt als Ergebnis zu notieren, daß Barth den christologischen Satz, daß in Christus das wahre Wesen des Menschen offenbart wurde, nur in einer Hinsicht für die Ethik fruchtbar gemacht hat: Es gilt, dem Gehorsam Christi nachzufolgen. Die zweite denkbare Konsequenz, die darin gelegen hätte, die Übereinstimmung der Forderung Gottes mit dem innersten Wesen des Menschen herauszustellen und damit den Anschein, daß es sich um ein bloß äußerliches Gebot handelt, zu widerlegen, hat Barth nicht gezogen. Die Tendenz, die hinter der christologischen Grundlegung seiner Ethik wie seiner gesamten Theologie steht und die die verschiedenen Punkte, die sie ihm vorzugswürdig erscheinen läßt, verbindet, geht vielmehr gerade in die andere Richtung: Es geht ihm um eine Grundlegung unabhängig vom und in Distanz zum Menschen. Dieses Anliegen spiegelt sich schon in der grundsätzlichen Wortwahl: Barth versteht die Ethik als Lehre vom Gebot, was den Aspekt der Forderung ins Zentrum rückt. Will man Barths Ansatz der traditionellen Einteilung der Ethik in Pflichten-, Tugend- und Güterethik zuordnen, so handelt es sich bei Barth eindeutig um eine Pflichtenethik. Die Konsequenz und zugleich das grundsätzliche Problem für Barths Ethik: Sie erhält dadurch, daß sie das in Jesus Christus offenbarte Gebot Gottes als schlicht zu befolgende und dem Menschen von außen begegnende Forderung zu ihrer Grundlage macht, eine gesetzliche Tendenz im Sinne von Heteronomie ( nicht jedoch im Sinne der beiden anderen möglichen Verständnisse von Gesetzlichkeit: als Kasuistik oder als Werkgerechtigkeit). Diese Tendenz ergibt sich trotz oder vielmehr gerade wegen der dezidierten Vorordnung des Evangeliums vor das Gesetz. Zwar ist auf dieser Basis die geforderte Unterwerfung nicht die unter einen entfernten Willkürgott, sondern die unter den bereits nahen und gnädigen Gott.31 Gerade so kommt aber, gleichsam durch die Hintertür, eine andere Art von Heteronomie zum Zuge. Denn Barths Ansatz beim τετέλεσται impliziert eine Abstraktion von der faktischen Wirklichkeit des Menschen, insbesondere von der ihn weiterhin prägenden Sünde. Anders als die Menschheit lebte Jesus Christus sündlos. Erhebt man nun sein Leben und seine Weisungen unvermittelt zur ethischen Norm, so ergibt das einen im Hier und Jetzt per se unerfüllbaren Maßstab. Das gleiche gilt, wo ein Handeln in Analogie zum Tun Gottes, des Va-

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Diesen Aspekt der Barthschen Ethik hat Eberhard Jüngel besonders hervorgehoben. Vgl. ders., Anrufung, 327: »Denn der gebietende Gott ist für Barths Ethik auf jeden Fall der im Evangelium bereits mit dem Menschen verkehrende, mithin der gnädige Gott.«

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ters, gefordert wird.32 Dieses Problem teilt Barths christozentrische Ethik mit jeder Ethik der Nachfolge Jesu, sofern sie nicht in einem Reflexionsakt den Geist der Forderung Jesu von ihrem Buchstaben unterscheidet. Demgegenüber hat Luther in seiner Zwei-Regimenten-Lehre dezidiert den Unterschied zwischen einer Welt ohne Sünde, in der etwa den Forderungen der Bergpredigt vollständig Genüge getan werden könnte, von der faktischen Wirklichkeit festgehalten und daraus - nicht zuletzt vom Anspruch des Gesetzes entlastende - Konsequenzen gezogen. Indem Barth diesen Unterschied zu wenig reflektiert, konterkariert er das oben genannte seelsorgerlich-befreiende Anliegen seiner theologischen Grundlegung. Der gesetzliche Zug hat sich bei Barth allerdings weniger ausgewirkt als bei manchen seiner Schüler, die in Gestalt der »Lehre von der Königsherrschaft Christi« programmatisch eine direkte Ausrichtung der Ethik an den Zuständen im Eschaton gefordert haben. Die Differenz zwischen Barth und Barthianern läßt sich an der jeweiligen Ethik des Politischen verdeutlichen. Zwar hat auch Barth von einem Analogieverhältnis zwischen Staat und Reich Gottes sprechen können und auf dieser Basis die Kirche zu einem »exemplarischen« Handeln auffordern können.33 Die »Mitverantwortung«34 der Kirche für den politischen Bereich geschieht aber bei Barth, indem sie bei ihrer eigenen Sache, der Predigt der

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Vgl. Barth, Das christliche Leben, 294. Eberhard Jüngel hat Barth gegen den Vorwurf der Gesetzlichkeit nicht nur durch den Hinweis auf die Vorordnung des Evangeliums vor das Gesetz, sondern auch durch den auf die »eschatologische Perspektive« der Ethik Barths zu verteidigen versucht: »In diesem Sinn gibt eine Ethik der Anrufung dem menschlichen Handeln eine eschatologische Perspektive. Sie ist keine gesetzliche Ethik des bloß Seinsollenden, sondern eine Ethik der Gewißheit des Kommenden und insofern des schon, und zwar für alle Menschen schon ermöglichten Seinsollenden« (Jüngel, Anrufimg, 331). Die obige Anfrage kann beim letzten Halbsatz dieses Zitats ansetzen: Inwiefern ergibt sich aus der »Gewißheit des Kommenden«, daß das Seinsollende »schon ermöglicht [...]« ist? Die eschatologische Perspektive ist, wie in Teil ΠΙ näher ausgeführt werden wird, wichtig für die Grundlegung der Ethik. Ein Schluß von der Gewißheit des Erhofften auf das gegenwärtig Mögliche erscheint jedoch fragwürdig. Vgl. Barth, Christengemeinde, § 14 (S. 65: »die Gerechtigkeit des Staates in christlicher Sicht ist seine Existenz als ein Gleichnis, eine Entsprechung, ein Analogon zu dem in der Kirche geglaubten und von der Kirche verkündigten Reich Gottes«; S. 67: »die Geschichte [...], die die Gestaltung der Bürgergemeinde zum Gleichnis des Reiches Gottes und also die Erfüllung ihrer Gerechtigkeit zum Ziel und Inhalt hat«); § 33 (S. 80: »Der rechte Staat muß in der rechten Kirche sein Urbild und Vorbild haben. Die Kirche existiere also exemplarisch [...].«). Dies ist ein zentraler Begriff in Barth, Christengemeinde. Vgl. a.a.O., §§ 8; 10; 14 (S. 57; 59f; 66).

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Rechtfertigungsbotschaft, bleibt.35 Barth hat daher zu Recht seine Schrift »Christengemeinde und Bürgergemeinde« als legitime Auslegung der fünften These von Barmen bezeichnen können, die mit der Unterscheidung der Aufgaben von Staat und Kirche - einerseits Erhaltung von Recht und Frieden »unter Androhung und Ausübung von Gewalt«, andererseits Erinnern »an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit« - die Zwei-RegimentenLehre im Sinne von Paulus und Luther aufgreift.36 Ernst Wolf als Vertreter der »Lehre von der Königsherrschaft Christi« hat hingegen ausdrücklich bestritten, daß die Zwei-Regimenten-Lehre die »sozialethische Grundformel« sei und an ihre Stelle eine Ethik der Nachfolge gesetzt.37 Ist es aber Aufgabe der Christen, durch ihr Handeln »>Zeichen des noch verborgenen Reiches, dessen Botschafter wir sind, aufzurichten«moralischen Aufrüstung< als eines billigen, trotz aller Schuldbekenntnisse und durch sie billigen Gewissenstrostes.«39 Die genannte Differenz ist aber nicht allzu groß, denn solche in ihrer »Unmittelbarkeit« kurzschlüssigen Urteile kann man auch bei Barth in seinen vielfältigen Äußerungen zum politischen Leben nach 1945 finden. Sie sind angelegt in seiner strikten Auffassung der christlichen Ethik als Gebotsethik und in der sich in der Formel »Evangelium und Gesetz« widerspiegelnden Nivellierung der zwischen diesen beiden Formen der Offenbarung Gottes bestehenden Spannung,40 wie sie das christliche Leben in der »noch nicht erlösten Welt« auszeichnet. Beides läßt sich bis auf die Grundlegung von Barths Ethik im christologischen »Es ist vollbracht« zurückfuhren.

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Vgl. a.a.O., § 8 (S. 56): »Die Christengemeinde beteiligt sich aber gerade in Erfüllung ihrer eigenen Aufgabe auch an der Aufgabe der Bürgergemeinde.« Die gleiche These läßt sich schon in »Rechtfertigung und Recht« als Antwort auf die eingangs der Schrift gestellte Frage nach dem »politischen Gottesdienst« der Christen (Barth, Rechtfertigung, S. 5) herauspräparieren: »Es heißt dann doch wohl, daß die entscheidende Leistung der Kirche für den Staat schlicht darin besteht, daß sie ihren Raum als Kirche behauptet und ausfüllt« (a.a.O., Kap. 4, S. 46). Vgl. Barth, Christengemeinde, § 35 (S. 82). Vgl. Ernst Wolf, Königsherrschaft, 225; 229. A.a.O., 228 (Wolf zitiert hier Philippe Maury). Ebd. Vgl. Thielicke, Theologische Ethik I, 192-203. Thielicke betont demgegenüber gut paulinisch, das Gesetz sei auch »bleibender Kontrahent des Evangeliums« (a.a.O., 188).

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3.4. Die Genese von Barths Programm einer christologisch fundamentierten Ethik Barths Äußerungen zur Grundlegung der Ethik sind noch in einer zweiten Hinsicht exemplarisch: Aus ihnen lassen sich nicht nur die Hintergründe fur die Christozentrik von Barths gesamter Theologie erschließen, sondern sie spiegeln auch die Entwicklung, die Barth im Blick auf die Fundamente der theologischen Argumentation überhaupt im Laufe seiner Lehrtätigkeit genommen hat, mustergültig wider. Wenn im vorletzten Abschnitt betont wurde, daß die entsprechenden argumentativen Überlegungen bei Barth mehr implizit vorhanden sind, also aus seinen Texten erst erschlossen werden müssen, so trifft dies vollständig erst auf die Reifezeit seiner theologischen Entwicklung, die mit der Ausarbeitung der »Kirchlichen Dogmatik« zusammenfällt, zu. Denn dort wird der Gedanke, daß Theologie lediglich die Offenbarung nachzuvollziehen und darzustellen habe,41 konsequent umgesetzt. Zu Barths Programm einer christologischen Grundlegung der Theologie gehört es, daß darauf verzichtet wird, die Wahl gerade dieser Grundlegung argumentativ zu begründen.42 Vom prinzipiellen Neuansatz bis zu diesem Verzicht mußte Barth jedoch noch einen Weg zurücklegen - einen Weg, der sich auch an seinen wichtigsten Veröffentlichungen zur Ethik nachvollziehen läßt. Der Vortrag »Das Problem der Ethik in der Gegenwart« aus dem Jahr 1922 ist repräsentativ für Barths theologisches Argumentieren in seiner »dialektischen« Phase. Zwar wird schon hier auf die »Offenbarung«, den »Weg Gottes zum Menschen« und »Jesus Christus« verwiesen, wenn es um das Woher der »Kardinalantwort auf die ethische Frage« geht, und wird betont:

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Vgl. außer den klassischen Formulierungen des Anselm-Buches ζ. Β. E1,18 (»Die Theologie ist die Darstellung der Wirklichkeit des sich an den Menschen richtenden Wortes Gottes.«); KD 1/2, 957 (»Der Inhalt der Dogmatik kann also kein anderer sein als eine Erklärung des im Worte Gottes sich ereignenden Werkes und Handelns Gottes.«) und 973f (»Indem Gott sich uns offenbart, handelt er an uns. Darüber hat die kirchliche Verkündigung zu berichten; darüber zu berichten ist die materiale Aufgabe auch der Dogmatik.«). Vgl. Barth, Fides, 27 (»Alle Fortsetzung und Explikation, alle Meditation der gläubigen Bejahung des Credo kann ja nur eine Umschreibung dieser Bejahung bzw. des bejahten Credo sein, nicht aber - das wäre gegen die humilitas, und dazu fehlt uns die potestas eine Begründung unserer Bejahung oder des bejahten Credo. Die Begründung liegt in dem Faktum des Credo und des credo, im Faktum der göttlichen Offenbarung. Das Faktum als solches, wie es etwa hinter dem Dogma von der Dreieinheit Gottes oder hinter dem von der Inkarnation sichtbar wird, ist unbegreiflich.«); 50 (»Die Begründung der Erkenntnis des Glaubensgegenstandes besteht in der Anerkennung des dem Glaubensgegenstand selbst eigenen Grundes.«).

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»[E]s gibt keinen Weg zu diesem Weg, sondern der Weg ist selber der Weg zu diesem Weg.«43 Aber dieser Verweis steht nicht als Basis aller Überlegungen am Anfang, sondern als eine Art Anhang, als »>punktierte Linien 44 , am Schluß. Den Anfang bildet nicht die Darstellung dieser Antwort, sondern das ethische Problem, das in seinen verschiedenen Facetten, u. a. mit Hilfe eines längeren Kant-Referats (vgl. 116-119), vor Augen gefuhrt wird. Im Zentrum folgt darauf die Erläuterung des vorbildlichen Lösungsansatzes, des Wegs der »paulinisch-reformatorische[n] Dialektik« (136), »mit dem ich aber auch den Weg Piatos auf weite Strecken parallel gehen sehe« (130). Dieser Weg ist dadurch gekennzeichnet, daß er die menschliche Not nicht verharmlost, sondern sie bis zur »letzten Krisis« (132) verschärft - und gerade so der Gnade des vergebenden Gottes ansichtig wird. Es ist der Weg »vom Ende zum Anfang, von der Sünde zur Gnade, vom Gericht zur Gerechtigkeit, vom Tode zum Leben, vom Menschen zu Gott, von der Zeit zur Ewigkeit« (136). Das Ungenügen, das Barth bei diesem ethischen Ansatz, der eben nicht der vom Evangelium zum Gesetz, sondern der umgekehrte ist, schon 1922 empfand, wird allerdings nicht nur durch den christologischen Schlußteil bezeugt. Gleich zweimal bittet Barth seine Hörer, nicht zu große Hoffhungen an die Dialektik zu knüpfen: Sie könne ja auch eine bloße Denkfigur sein, und daß im »Nein« tatsächlich ein »Ja« liege im Sinne einer »Realität«, sei Gott vorbehalten (115; 139). Was also später für Barth zu einem entscheidenden Vorzug der christologischen Grundlegung wird, der Bezug auf einen realen und nicht bloß gedachten archimedischen Punkt, klingt hier im Sinne selbstkritischer Äußerungen bereits an. Um so deutlicher ist jedoch, daß der Hauptteil des Vortrage eben auf einem anderen als dem späteren Fundament aufbaut. In der Ethik-Vorlesung, die Barth in Münster konzipiert und 1930/31 in Bonn wiederholt hat, hat er am zuletzt genannten Punkt weitergedacht. Einschlägig ist insbesondere ein längerer Abschnitt des zweiten Teils, in dem Barth sich mit der »idealistischen« Ethik und Theologie auseinandersetzt (vgl. Ε Π, 82-129). Wer die Argumentationsweise von Barths »dialektischer« Theologie vor Augen hat, wird in dem, was Barth hier »Idealismus« nennt, seine eigene Position wiedererkennen - und wird darin durch die ausdrückliche Kritik an einem Gottesverständnis als des »ganz Anderen« (ΕΠ, 115f), also an einem der Schlagworte des zweiten »Römerbriefs«, bestätigt. Barth spricht nicht zuletzt von sich selbst, wenn er bemerkt: »Die unvermeidliche theologische Dialektik kann das trojanische Pferd sein, in dem der Feind sei-

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Barth, Problem, 142f. Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diesen Vortrag. Barth - Thumeysen Π, 100 (Brief Barths vom 28.9.1922).

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nen Einzug in Ilion hält« (Ε Π, 113).45 Daß Barth nun in diesem Rahmen dem »idealistischen« Gesetz das »Gesetz der Offenbarung Gottes« als das »Gesetz Jesu Christi« (ΕΠ, 118) entgegenstellt und daß dabei gerade die konkrete Realität des Christusgeschehens die entscheidende Rolle spielt, wurde oben bereits referiert. Ist also in dieser Vorlesung bereits die Position der »Kirchlichen Dogmatik« hinsichtlich der Grundlegungsfrage erreicht? Nein! Der Unterschied besteht darin, daß in der Vorlesung die Auseinandersetzung mit einer »idealistischen« - und notabene auch mit einer bestimmten »realistischen«, nämlich einer am persönlichen Erleben orientierten - Grundlegung der Ethik überhaupt gefiihrt wird. Das Bemühen um Darstellung der Offenbarung und ihrer ethischen Implikate ist bereits leitend, aber in die Darstellung fließen stärker argumentative Passagen ein. Deren Funktion ist begrenzt: Sie sollen nicht beweisen,46 und sie sollen nicht die »Gründe des Glaubens [...] durch Überredung solchen eindrücklich [...] machen, die sich mit ihrem Denken und Reden nun einmal neben den Glauben [...] stellen wollen« (Ε Π, 124). Die Ethik-Vorlesung ist bereits »kirchlich« in dem Sinn, in dem Barth seine spätere Dogmatik als »kirchliche« ausgehen ließ: Ihr scheint »alle Apologetik [...] zum vornherein ein künstliches, dürftiges, unzureichendes und aussichtsloses Beginnen« (E II, 122), und sie setzt eingestandenermaßen die Wirklichkeit des Offenbarungsgeschehens voraus47. Appelliert wird nicht an Vernunft oder Erfahrung, sondern einzig an die Wirklichkeit der Offenbarung selbst (vgl. E I , 153; 164; 173). Eine menschliche Begründung der göttlichen Begründung der Ethik würde eine höhere Warte verlangen und damit die Positionen von Gott und Mensch vertauschen (vgl. Ε Π, 123). Das Urteil, es handle sich hier um »unwürdigen Heteronomismus« (E II, 124), um einen »Rückfall in überwundene Sphären« (Ε Π, 125), ist nach Barth argumentativ

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Die idealismuskritische Passage von Ε Π bestätigt somit die These, die ich trotz des Widerspruchs Bruce McCormacks (vgl. ders., Rezension, 130) festhalten möchte: daß der zweite »Römerbrief« eine in Barths späterer Sicht idealistische und nicht realistische Position vertritt. Vgl. Ε Π, 111: »Wir haben nicht bewiesen, daß es ein solches Gesetz Gottes gibt, und wir werden uns wohl hüten, dies beweisen zu wollen.« Vgl. E II, 122f: Im Gespräch mit dem seinerseits auf einem »Axiom« beruhenden Idealismus »gibt es keine Antwort als die, daß wir sehr deutlich machen, daß wir unsererseits ebenfalls von einer noch in ganz anderem Sinne vor aller Diskussion feststehenden Voraussetzung herkommen.« Zum Bezug dieser Voraussetzung der Ethik auf die Kirche vgl. Barth, Halten der Gebote, 106: »Die hier bezogene Stellung zum ethischen Problem ist sachlich vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie es als >ProblemWirklichkeitWirklichkeit«Naturrecht< kennen, sich und Andere an ihm ausrichten und messen zu sollen meint.« Weiter unten arbeitet Barth dann allerdings selbst mit dem Rekurs auf die Natur des Menschen: Die Sünde ist »Perversion seiner [sc. des Menschen] eigenen Natur, [...] radikale Problematisierung der Bestimmung seines geschöpflichen Seins« (ebd.). Die Differenz zu Anhängern des Naturrechtsgedankens ist also offenbar nicht das Argumentieren mit dem menschlichen Wesen als solches, sondern die inhaltliche Bestimmung und Bewertung dieses Wesens. Vgl. IV/1, 65 (Die Naturrechtslehre setzt den aufklärerischen Gedanken »des von Natur guten und so mit Gott [...] verbündeten Menschen«, voraus.); 1/2, 467 (Der christliche Humanitätsgedanke »unterscheidet sich vom stoischen« u. a. »dadurch, daß er sich nicht etwa auf die Erkenntnis und Wertschätzung einer sog. >Natur< des Menschen gründet«.). Demgegenüber Barth: »Eben darin folgen wir (Heidelb. Kat. Fr. 5) der Neigung unserer Natur - der verkehrten Menschennatur, die wir mit Adam gemeinsam haben -[,] Gott und unseren Nächsten zu hassen, wo wir sie lieben sollten.« Vgl. II/2, 739 (»Es geht also nicht an, daß wir uns dem Gebot Gottes gegenüber in der Weise einen Vorsprung sichern, daß wir es zwar als allgemeine Regel verstehen und gelten lassen, dessen Anwendung aber, d. h. dessen konkrete Erfüllung für die Sache unseres Urteils und Handelns halten.«); 741 (»Es [sc. das Gebot Gottes] bedarf keiner Interpretation: darum nicht, weil es durch sich selbst bis aufs Kleinste und Letzte interpretiert ist.«); 759 (Gerade wer in der Bibel »die Proklamierung ethischer Prinzipien« findet, geht mit ihr willkürlich um.). Vgl. II/2, 790: Es geht um »Gehorsam gegen die Schrift«.

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zismus hat Barth - glückliche Inkonsequenz - allerdings abgelehnt.58 Die »Bestimmtheit« des Gebotes bedeutet für Barth nicht nur, daß es konkret, situationsbezogen und »geschichtlich«59 ergeht, sondern auch durch inhaltliche Einheit ausgezeichnet ist.60 Er spricht freimütig von »Substanz« und »Zentrum« der Bibel (vgl. IV/2, 425) - wobei er sich fragen lassen muß, wie diese zu bestimmen seien, wenn nicht durch eine irgendwie auch vernünftig abwägende Interpretationsleistung. Auch die Rede von »Jesus Christus selbst« als dieser Substanz und ihre Entgegensetzung gegen jede »aprioristische Theologie oder Anthropologie oder auch Christologie«61 hilft hier nicht weiter. Denn soll mit Barth eine wenig befriedigende »Kairosethik« ebenso wie eine »gesetzlich-kasuistische« Ethik vermieden werden,62 so bleibt nur die Reflexion auf axiomatische Grundbestimmungen, die das ethische Urteil leiten. Und diese Reflexion ist immer eine Art von »-logie«. Das Gute ist eben nicht »direkt wahrnehmbar« (1/2, 875) - ein Einwand, den Barth gegen eine Verselbständigung der Ethik von der Dogmatik vorbringt, den man aber auch gegen ihn selbst wenden kann. Die Theologie kann, so gern sie das auch will, niemals einfach nur »berichten«. Daß dabei auch außertheologische Denkmuster eine Rolle spielen, hat Barth in anderem Zusammenhang durchaus reflektiert.63 Er hat es aber bei seiner - auch gegen den Naturrechtsgedanken gerichteten - Rede von »Jesus Christus selbst« und der als solcher klaren »Bestimmtheit« des biblischen Gebots außer Acht gelassen. Nur so und durch die Verkennung der Komplexität sowohl von ethischen Problemstellungen und Güterabwägungen als auch der Frage, was in einer konkreten Situation als Gebot Gottes zu gelten hat, ist die fragwürdige These erklärbar, das Gebot

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Vgl. ζ. Β. III/4, 495: »Kann man den Geist des göttlichen Gebotes nur aus seinem biblischen Buchstaben erkennen, [...] so darf man doch dessen [sc. des Neuen Testaments] Buchstaben nicht dazu mißbrauchen, seinen Geist zu dämpfen, so ist doch von seinem Buchstaben her immer wieder nach seinem Geist, der der frei befehlende Geist des Herrn ist, zu fragen.« Vgl. II/2, 762: »die prinzipielle Geschichtlichkeit des Gebotes Gottes«. Vgl. Π/2, 787: »Nicht als Zettelkasten also, nicht zerrissen und aufgelöst in eine Vielheit von zeit- und geschichtslos gemachten göttlichen Willenserklärungen und Anweisungen, sondern gerade in der geschichtlichen Einheit ihres Inhalts ist die Bibel Quelle, Norm und Richter materieller Ethik [...].« Barth, Das christliche Leben, 43. Neuerdings hat Manfred Rohloff mit ausdrücklichem Anschluß an Barth Jesus Christus als Kriterium der Ethik geltend gemacht (vgl. Rohloff, 107) - wie Barth ohne die hier nötigen hermeneutischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen. A.a.O., 6. Vgl. 1/2, 815-825.

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Gottes bedürfe »keiner Interpretation«, »weil es durch sich selbst bis aufs Kleinste und Letzte interpretiert« sei (Π/2,741). 3. Beide Aspekte der Kritik kommen zusammen, wenn Barth vom Naturrecht als Musterfall für ein nur »vermeintlich entdecktes, in Wirklichkeit ersonnenes, entworfenes und konstruiertes Gesetz« spricht (IV/2, 424f): Es ist unklar, insofern sich der Mensch darin lediglich in einem »Selbstgespräch« befindet (IV/2, 425), und es ist Zeugnis der Hybris, insofern er einen solchen Konstruktionsversuch überhaupt unternimmt. Demgegenüber bleibt Barth beim Gesetzesbegriff der Ethik-Vorlesung im Sinne einer von außen kommenden AutoritätMit all diesem ist natürlich erst recht das Urteil über eine naturrechtliche Grundlegung der christlichen Ethik gesprochen. In dem die Gedankenführung der ersten Bände der »Kirchlichen Dogmatik« weithin bestimmenden Auseinander von Gott und Mensch gehört das Naturrecht auf die Seite des Menschen. Deshalb gilt als programmatisches Urteil für jedwede naturrechtlich fundierte Ethik: »Was mit dem Selbst des Menschen anfängt, das kann nun einmal nicht mit der Erkenntnis Gottes und seines Gebotes endigen« (II/2, 601). Das Festhalten der Reformatoren und der altprotestantischen Orthodoxie an der »naturrechtlichen Begründung der Ethik« (1/2, 878) hatte daher nach Barth die schicksalhafte Verselbständigung der theologischen Ethik im Neuprotestantismus zur logischen Folge. Die schlichte Frage lautet: »Jesus Christus oder Naturrecht?«64 Nun ist aber die exklusive Auffassung der Offenbarung Gottes zwar die von Barth immer wieder beschworene und von daher auch sein Bild in der theologischen Öffentlichkeit bestimmende - sie ist aber nicht die einzige. In der »dialektischen« Periode und dann wieder seit Barths tieferer Beschäftigung mit der Erwählungslehre - unter dem Signum einer »christologischen Expansion«65 - tritt eine versöhnlichere an ihre Seite,66 die auch im Bereich der Ethik Auswirkungen hat. Kennzeichnend ist folgende Passage: Die christliche Gemeinde sieht im menschlich-weltlichen Recht »denselben Herrn am Werk, der ihr im Unterschied zur Welt offenbar ist [...]. Sie rechnet damit, daß es auch dort - eben von der Mitte her, die auch und zuerst ihre eigene Mitte ist - ein Rechtsempfinden und einen Weg vom schlechteren zum besseren Recht tatsächlich gibt« (IV/2, 819). In solchen Aussagezusammenhängen

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Barth, Ein Brief, 192. S. o. Anm. 13. Bekanntestes Beispiel dieser Auffassung ist die »Lichterlehre« in KD IV/3. Vgl. aber auch die Lehre vom »objektiven Bekanntsein Gottes« (Barth, Das christliche Leben, 197206) oder den Anschluß an Oscar Cullmanns Verständnis der Geschichte Jesu Christi als »Generaltaufe« (IV/4, 34).

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erscheint auch die menschliche Natur in einem anderen Licht: in ihrer in Christus sichtbar gewordenen Bestimmung für Gott.67 Auf solcher Basis kann Barth dann auch im Sinne der klassischen Naturrechtslehre von der Natur des Menschen her argumentieren: Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot ist Verstoß gegen die natürliche Bestimmung und daher eigentlich gar nicht möglich.68 Weiterhin ergibt sich eine andere Einschätzung der nichtchristlichen, auf Vernunft und Erfahrung zurückgehenden Ethik. »Vernunft, Erfahrung und Selbstbestimmung« sind gar keine selbständigen Größen, sondern gehören auch zum Reich Christi (II/2, 584). Deshalb darf sich die theologische Ethik nicht von einer derartigen Ethik isolieren, sondern sie hat sich »komprehensiv« zu verhalten: sie ernsthaft-kritisch zu hören und - »insofern [...] als diese ihre Herkunft von Gottes Gebot verleugnen und verdunkeln [...], als sie Autonomien und Heteronomien proklamieren wollte« - sie »nicht ernst nehmen« (a.a.O., 585).69 Jede wahrhaft menschliche Ethik ist in Wahrheit christliche Ethik. Die christliche Ethik hat bei Barth zwar einen partikularen Ausgangspunkt - die Offenbarung Gottes in Jesus Christus - sie beansprucht jedoch universale Gültigkeit.70 Von diesen eigenen Überlegungen her müssen Barths kritische Äußerungen zum Naturrecht spezifiziert werden: Sie richten sich nicht gegen den Gedanken, daß die menschliche Natur und ihre Bestimmimg Aussagekraft für die Ethik haben, sondern allein gegen eine Naturrechtslehre, die sich insofern absolut setzt, als sie »die Theonomie des menschlichen Seins und Handelns in Frage stellen [...] wollte« (ebd.). Einer solchen autonom begründeten Ethik gegenüber bleibt von theologischer Seite nur die Exklusion, denn - dies bleibt Barths Axiom - ohne Kenntnis der Offenbarung ist gutes Handeln ebensowenig wie dessen Theorie möglich.71-

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Vgl. Barth, Das christliche Leben, 236: »Die der menschlichen Natur in und mit ihrer Erschaffung gegebene Bestimmung für Gott, nämlich zur Bruderschaft mit seinem Sohne [...].« Vgl. II/2, 678f: »Der Ungehorsam, der mir ihr [sc. der göttlichen Verpflichtung] gegenüber übrig bleibt, kann nur die völlige Unnatur, das durch meine eigene Existenz (nämlich durch die in Jesus Christus geschehene Beantwortung meiner Existenzfrage) ausgeschlossene Unmögliche sein.« Vgl. im übrigen den entsprechenden Abschnitt der Ethik-Vorlesung (E I, 38-44) - dort bezeichnenderweise noch ohne christologischen Bezug. Auf diese »>praktische< Universalität« insbesondere der späten Barthschen Ethik hat Eberhard Jüngel hingewiesen (vgl. ders., Anrufung, 328-331, Zitat: 329). Vgl. Barths Auslegung von Rom 2: Die έθνη, die das Gesetz von Natur halten, sind Heidenchristen (W/4, 8f).

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Barths Aussagen zum Naturrecht fuhren somit auf die generelle, strikt offenbarungsbezogen-christologische Grundlegung seiner Ethik zurück, wie er sie mit beeindruckender Konsequenz ausgearbeitet hat. Es ist Barths bleibendes Verdienst innerhalb der Geschichte der evangelischen Ethik, (1) überhaupt auf die Bedeutung der Grundlegungsfrage für die christliche Ethik hingewiesen zu haben, (2) den Zusammenhang von Grundlegung, Aufbau und Inhalt der Ethik - etwa gegen Herrmann, der ja keineswegs die Besonderheit der christlichen Ethik leugnet, aber gleichwohl meint, mit allgemeinen Erwägungen beginnen zu können - eingeschärft zu haben, (3) den besonderen Anspruch der christlichen Ethik im Gegenzug zu den vorausgehenden apologetischen Kompromiß- oder Syntheseversuchen im Stile Herrmanns bzw. der »allgemeinen Ethik« Troeltschs betont zu haben. Die vorliegende Analyse hat bei aller inneren Kohärenz gleichwohl auf zwei Probleme dieses Ansatzes aufmerksam gemacht: (1) das Verständnis der Ethik als strikte Gebotsethik gibt ihr einen gesetzlichen Zug und (2) in der Frage danach, wie heute konkrete ethische Maßstäbe aus dem Wort Gottes gewonnen werden können, bleibt Barths Antwort trotz des emphatischen Bekenntnisses zur »Bestimmtheit« des biblischen Gebotes unbefriedigend. Beide Probleme hängen zusammen, indem sie beide eine unzureichende Reflexion der geschichtlichen Wirklichkeit des faktischen Menschen widerspiegeln. Genau an dieser Stelle hat Barths ehemaliger Mitstreiter Emil Brunner versucht, den christologisch fundierten Ansatz der Ethik immanent fortzubilden.

4. Emil Brunner 4.1. Brunners Stellung in der Frage nach der Grundlegung der christlichen Ethik Die Gemeinsamkeiten und Differenzen, wie sie für das fundamentaltheologische Gegenüber von Karl Barth und Emil Brunner charakteristisch sind, lassen sich in der jeweiligen Ethik problemlos wiederfinden. Zunächst die Punkte, in denen Brunner mit den eben referierten Überlegungen Barths übereinstimmt! Dies gilt als erstes für die strikte Forderung nach einer theonomen Ethik,1 die wiederum die nach einem Rekurs auf die göttliche Offenbarung mit sich bringt.2 Die christliche Grundlegung des Sittlichen liegt ausdrücklich »jenseits der menschlichen Vernunft« (GO, 36)3. Dies gilt auch - gegen das zeitgenössische Luthertum - fur den Bereich der Ordnungsethik.4 Positiv impliziert der Offenbarungsbezug die zentrale Bedeutung des Christusgeschehens,5 und zwar besonders in seiner soteriologischen Zuspitzung als Gnaden- bzw. Rechtfertigungsgeschehen,6 wobei herausgestellt wird, daß es sich um ein tatsächliches Geschehen und nicht etwa nur eine menschliche

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Vgl. ζ. B. die programmatischen Sätze in GO, 39: »Gut ist, was Gott tut und will; böse ist, was gegen Gottes Willen geschieht. Das Gute hat einzig in Gottes Willen seinen Grund und Bestand.« Die Sigel in diesem Kapitel stehen für Brunner, Gebot (= GO), und Brunner, Gerechtigkeit (= Ger.). Vgl. ζ. B. den Beginn des Leitsatzes GO, 99: »Gottes Willen erkennen wir nur durch seine Offenbarung, in seinem eigenen Wort.« GO, 31, statuiert Brunner einen Widerspruch zwischen transzendent - d. h.: in der göttlichen Offenbarung - und immanent begründeter Sittlichkeit und bestimmt den Bezug auf Offenbarung als Wesensmerkmal jeder theologischen Ethik. Zum angeführten Zitat vgl. GO, 310f, wo Brunner gegen den Gedanken einer Vernunftethik die grundsätzliche Irrationalität des christlichen Liebesgedankens betont. Vgl. GO, 202: »Es ist ein unheilvolles Dogma eines gewissen Luthertums, daß die >Ordnungen< nicht dem Gebot Jesu Christi, sondern lediglich der Vernunft unterstellt seien.« Vgl. außer dem Zitat in der letzten Anmerkung z. B. GO, 275 (Es geht darum, »Gottes Willen [...] als den in Christus offenbarten Willen des Schöpfers und Erlösers« zu erkennen.); 311 (»[D]as Opfer des Christus ist die Grundlage alles christlichen Ethos und darum der Opfergedanke sein >Prinzipnatürlichen< Menschen. Darum ist aber auch das Innerste dieses Kampfes der Kampf gegen die Werkgerechtigkeit oder Gesetzlichkeit und der Sieg des Evangeliums: die Rechtfertigung allein aus Gnaden.« Vgl. GO, 64: »Das neue Leben ist das Leben im Indikativ, statt im Imperativ Gottes, im von Gott her Sein, nicht mehr im zu Gott hin Streben.« Vgl. GO, 70: »>Gott in seinem Handeln erkennen< kann man nur im Glauben.« Vgl. z. B. GO, 446: »Wir sprechen diese Sätze nicht von einem kulturphilosophischen, sondern vom theologischen Standpunkt aus.« Vgl. GO, 349 Anm. 1: »Ich darf daran erinnern, daß diese Ethik in erster Linie für die Kirche, d. h. für die, die sich dem Christus gehörig wissen, geschrieben ist, nicht für die >Heidenchristologischen Begründung< von Recht und Staat« versucht hat, ist eindeutig, ebenso wie Brunners Urteil darüber: »Die Phantastik dieser Ableitung ist jedem Unvoreingenommenen ohne weiteres klar [...].«

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Hinweis [,] der das Gebot Gottes nach seinem Was genauer bestimmt, ist gegeben in der Erkenntnis, daß es Gott der Schöpfer und der Erlöser ist, der uns in seinen Dienst ruft« (ebd.). Dieser prinzipielle Bezug auf die Zweipoligkeit des Handelns Gottes Schöpfung und Erlösung - läßt Brunners Herkunft aus der reformierten Tradition erkennen.15 Er überrascht an dieser Stelle insofern, als Brunner in seinem Buch bereits zuvor auf sie hingewiesen hatte: Das 12. Kapitel steht unter dem Titel: »Das Gebot des Schöpfers und Erlösers«, und es beschreibt, wie das christliche Handeln als »gehorsame Nachahmimg« (GO, 106) des Handelns Gottes im Kontext dieser beiden Pole einen sowohl weltbejahenden wie -verneinenden, konservativen wie revolutionären Zug erhält. Wenn also Brunner an der zitierten späteren Stelle nochmals auf diesen Zusammenhang zu sprechen kommt - und zwar bei der konkreten Frage nach der Norm des Handelns - , so muß dem eine besondere Zuspitzung zugrunde liegen. Diese Zuspitzung besteht nun darin, daß der Akzent innerhalb des Zweiklangs von Schöpfungs- und Erlösungshandeln Gottes nunmehr auf das erstere fällt. Dies zeigen schon die unmittelbar auf die zitierte Passage folgenden Sätze: »Das Gebot Gottes ist nicht ein Gesetz, das über der gegebenen Wirklichkeit schwebt, ohne Zusammenhang mit ihr; sondern es ist das Gebot des Gottes, der diese Wirklichkeit geschaffen hat. Nicht etwas, das der Existenz des Nächsten gegenüber ein Neues und ihr Fremdes ist, sollen wir an ihm tun, sondern wir sollen an ihm, soviel an uns liegt, das, was Gott mit eben dieser Schöpfung meint, erfüllen« (GO, 192f). Hingegen erfolgt der vom Erlösungsgeschehen ausgehende Hinweis, daß das schöpfungsgemäße Handeln zwar das erste, nicht aber das letzte Wort der christlichen Ethik sei und das konservative Annehmen der gegebenen Wirklichkeit vom widerstrebenden Protest konterkariert sei, erst einige Seiten später (vgl. GO, 198-203). Der Vorrang des Schöpfungsgedankens wird auch daran deutlich, daß der Begriff der »Ordnungen«, der die folgenden ethischen Konkretionen bestimmt, von Brunner mit der Tradition schöpfungstheologisch verortet wird.16 Die parallele Konkretion aus dem Erlösungshandeln Gottes ist die Liebesforderung, deren Ungenügen zur Antwort auf die konkrete Frage nach dem, was zu tun sei, Brunner ja zuvor durch die Wiederholung der Frage indirekt eingeräumt hatte. Wohl ergänzt, ja bestreitet die Liebesforderung die nach dem

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Vgl. die zwei Wege der Gotteserkenntnis bei Calvin. Vgl. GO, 198: »Ehrfurcht vor dem Schöpfer, dessen Werk trotz aller menschlichen Entstellung die uns gegebene Wirklichkeit ist, fordert als erstes den Gehorsam gegen das Gegebene, und das dankbare Annehmen der Schöpfergüte in den Ordnungen, durch die er uns den Dienst am Nächsten, wie überhaupt das Leben, erst möglich macht.«

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Respekt vor den gegebenen Ordnungen - nicht aber hinsichtlich des Inhalts, sondern allein des Motivs des menschlichen Handelns.17 In diesem Sinn von Inhalt und Motiv hatte Brunner bereits im Kapitel, das die Unterscheidung zwischen dem Gebot des Schöpfers und dem des Erlösers einführte, ihre Bezogenheit aufeinander bei bleibender Differenz, ohne daß es zu einer Neutralisierung oder Trennung käme, beschrieben (vgl. GO, 113). Durch diesen Rückgriff auf eine die »Agape-Ethik« ergänzende »Ordnungs-Ethik«,18 der seinerseits Brunners Bemühen um Wirklichkeitsnähe seiner Ethik entspringt, erklärt es sich, daß er hinsichtlich der Grundlegung der Ethik auch zu ganz anderen Aussagen als den bisher angeführten im Sinne eines strikt offenbarungstheologisch-christologischen Modells kommt. Schon die Bezugnahmen auf die Christologie erhalten ein anderes Gefalle als bei Barth, indem die Inkarnation als entscheidendes Offenbarungsereignis mindestens gleichberechtigt neben das Geschehen von Kreuz und Auferstehung tritt (vgl. GO, 175). Die Inkarnation aber offenbart nach Brunner nicht nur Gott, sondern auch den »Sinn der göttlichen Menschenschöpfung« (ebd.), woraus sich folgern läßt: Mit der Betonung, daß gerade die Inkarnation das grundlegende Offenbarungsgeschehen sei, stellt Brunner die Brücke her zwischen seiner Forderung nach einer christologischen Fundierung der Ethik und den scheinbar anderslautenden Aussagen in der zweiten Hälfte seiner Ethik. Denn diese sprechen sich für eine schöpfungstheologische19 bzw. anthropologische20 Grundlegung aus.21

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Vgl. GO, 200f: »Da [sc. wo die Liebesforderung erkannt wird] wird aber auch erst der Sinn der Ordnungen erkannt. Sie müssen - der Sache, dem >Was< nach - >an und für sich< innegehalten werden. Aber ihr Sinn, ihr >Warum< ist kein >an und für sichBeweis< werden kann, während der Unglaube hier über ein unbestimmtes Ahnen, dem er sich immer wieder zu entziehen vermag, nicht hinauskommt« (329). Vgl. GO, 473: »Auch der Theologe, der denkt, ja sogar der Gläubige, der betet, ist in diesen Akten gebunden an die Gesetzmäßigkeit der Vernunft; ohne sie würde der Theologe nicht denken, sondern phantasieren, und der Gläubige nicht beten, sondern unvernünftig und unverständlich lallen. Der Schöpfer, der uns die Vernunft nicht nur als Angebinde, sondern als Wesenskern gegeben hat, will es nicht anders haben.« Vgl. GO, 319 (»Dementsprechend gibt es Ehe, Familienleben und Kindererziehung auch außerhalb des Einflußkreises der geschichtlichen Christusoffenbarung. Aber die klare Erkenntnis der >rechten< Ehe, die rechte Wertschätzung des Kindes, die rechte Zielsetzung der Erziehung ist kein Allgemeingut menschlicher Vernunft.«); 471f (»Gott ist nicht Feind der Vernunft, da er ja ihr Schöpfer ist; aber er ist allerdings der Feind der in sich ruhenden, sich absolut setzenden Vernunft [...].«). GO, 473, wird die Vernunft als »unerläßliche Voraussetzung, nämlich eben die formale Bedingung des Glaubenkönnens« herausgestellt, zugleich aber ihre Ambivalenz wegen ihrer Anfälligkeit für die Sünde betont. Zweite, »materiale«, Bedingung des Glaubenkönnens ist das Wort Gottes.

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Außer dem christologischen und dem schöpfiingstheologischen läßt sich noch ein dritter Strang in Brunners Position zur Grundlegungsfrage der Ethik erkennen. Ein entscheidender Zug seines ethischen Hauptwerks ist die Wendung gegen Gesetzlichkeit in jeder Form. Terminologisch drückt er dies damit aus, daß er fur die Weisung Gottes nicht den Begriff des Gesetzes, sondern den des Gebots verwendet. »Gebot« steht dabei gegenüber dem allgemein einsichtigen »Gesetz« nicht nur fur den Bezug auf Offenbarung.26 Wichtiger ist die Gegenüberstellung von abstraktem, bindende Prinzipien setzendem Gesetz27 und dem konkreten Gebot als »Gebot des Augenblicks« (GO, 303), »Gebot hier und jetzt« (GO, 387) oder »Gebot der Stunde« (GO, 452; 544). »Augenblick« und »Entscheidung« werden auf dieser Basis zu Leitworten.28 Wie die Christusoffenbarung ein unverfügbares Geschehen ist, so gibt es kein theoretisch rekonstruierbares »Prinzip« christlicher Ethik.29 Was im Leben jeweils zu tun ist, ist unableitbar und nicht im Voraus zu wissen (vgl. GO, 120). Das Gebot ist individueller Anspruch Gottes; diesen zuvor wissen zu wollen, ist Zeichen von Gesetzlichkeit und »eine Antastung der göttlichen Ehre« (GO, 103). Die Liebe - und sie ist das oberste Gebot der christlichen Ethik - entscheidet nicht logisch-deduzierend, sondern via »Eingebung« (vgl. GO, 118f). Die Freiheit der individuellen Entscheidung und so die »Reichsunmittelbarkeit der Kinder Gottes unter ihrem Herrn« zu bewahren, ist »erstes, wichtigstes Anliegen« gerade einer protestantischen Ethik (GO, 122f). Auch hier gilt es freilich, Spitzensätze Brunners im Sinne einer ausschließenden Alternative zwischen »Gesetz« und »Gebot« durch andere zu relati-

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Vgl. GO, 97: »Das Gesetz, die Gesetze der Bibel und des >Gewissens< kann jeder vernehmen; das Gebot aber nur der, zu dem Gott selbst sein Wort spricht, im Glauben.« Vgl. z. B. GO, 120: »Die Gebote der Bibel haben nicht den Sinn, die ethische Spannung des Lebens durch Einfassung in ein Allgemeines, in ein unpersönlich vorhandenes, verfugbares Gesetz, das bis ins Einzelne hinein normiert, zu sichern [...].« Vgl. z. B. GO, 107: »Genau in der Grenze zwischen diesem Woher und diesem Wohin steht: der Augenblick, der Moment der Entscheidung.« Vgl. GO, 53f: »Der christliche Glaube ist, was er ist, als Antwort auf das göttliche Wort, als Glaube an die Tatsache der Offenbarung, als wirkliches Hineingestelltwerden in die Wirklichkeit des göttlichen Erlösungshandelns. Darum stellt er kein Prinzip auf, das sich zu einer zeitlosen Rekonstruktion der Wahrheit eignete; vielmehr kann er, wenn er nicht selbst sich verkehren will, niemals theoretisch, sondern nur im Akt der Entscheidung und des ETgriifenwerdens >da< sein. Nicht eine Idee, sondern das im Glauben erkannte göttliche Handeln ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Ganzen, und darum ist auch die christliche Ethik nicht in einem Prinzip, sondern eben in diesem wiederherstellenden göttlichen Handeln begründet, dessen Sinn sich kundgibt in der »Rechtfertigung allein aus GnadenAbleiten< aus dem Prinzip der Liebe, das >Vorauswissen< des Guten, ist nicht überhaupt, sondern nur als Letztes verwerflich.« Vgl. GO, 78 (»Wie das Gesetz die Bedeutung hat, die freie Entscheidung oder das Hören des göttlichen Gebotes vorzubereiten, so auch die Ethik.«); 116 (»Die Ethik kann nur die Entscheidung vorbereiten, nicht aber sie vorwegnehmen.«). Vgl. GO, 123: »In diesem Ineinander von bestimmter Forderung und ihrer Begrenzung, von Unmittelbarkeit der Bindung an Gott-selbst und den Nächsten-selbst, und Mittelbarkeit der Bindung durch das Gesetz: in diesem vor jedem Problem erneuten und neuen Mittenhindurchgehen zwischen Gesetzlichkeit und Schwärmerei [...] besteht die Aufgabe einer evangelischen Ethik, die allerdings keine so stattliche Figur macht, wie ihre katholische Halbschwester, dafür aber - wenn sie denn ihre Sache recht macht - die Eigenart hat [,] mit der Wirklichkeit des Menschen und der Wirklichkeit Gottes ernstlicher zu rechnen.«

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4.2. Kritische Würdigung von Brunners Position Der letzte Satz führt zu dem zurück, was Brunner in seiner Ethik gegen Barth geltend gemacht und was ihn über dessen Programm einer allein christologisch grundgelegten Ethik hinausgeführt hat: das Interesse, der Lebenswirklichkeit gerecht zu werden. Dieses Interesse gründet sich bei Brunner nicht allein auf das Bemühen um Verständlichkeit bei den - möglicherweise dem Christentum entfremdeten - Zeitgenossen, obwohl diese Richtung der gesamten Theologie Brunners35 auch in seiner Ethik zur Geltung kommt.36 Für Brunner ergibt sich die Notwendigkeit des Wirklichkeitsbezugs vielmehr bereits aus dem Schöpfimgsglauben.37 Der Schöpfungsglaube ist es auch, der bedingt, daß in Brunners Ethik auf die Wirklichkeit mehr als nur Bezug genommen wird. Durch die Schöpfung hat Gott der Welt eine Ordnung mitgegeben, die die Wirklichkeit bestimmt und der zu entsprechen die Aufgabe des Menschen ist.38 Die Wirklichkeit - in dieser Sicht als Schöpfungsgabe Gottes - erhält daher in Brunners Ethik grundlegende Funktion. Eine zweite Linie in Brunners Behandlung der Grundlegungsfrage stellt der Hinweis auf den Willen Gottes dar, wie er in Jesus Christus offenbart ist. Und drittens kommen bei Brunner von Existenzphilosophie und Personalismus gespeiste Überlegungen zu Wort, wonach gar nicht allgemein, sondern lediglich individuell zeit-, orts- und personbezogen - begründet werden kann, was als das Gute zu gelten hat.39

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Vgl. besonders: Brunner, Aufgabe. Vgl. ζ. B. den als »rein phänomenologisch« (GO, 6; 37) apostrophierten ersten Abschnitt von »Das Gebot und die Ordnungen«, den Brunner anmerkungsweise selbst mit dem seinen Ansatz seit dem genannten programmatischen Aufsatz kennzeichnenden Stichwort »Eristik« verbindet (vgl. GO, 554 Anm. 1), sowie 326 (»Es kann aber von einer theologischen Ethik auch verlangt werden, daß sie ihre Sätze nicht unbekümmert um die menschliche Wirklichkeit als apodiktische Doktrinen hinstelle, sondern sie im Blick auf die Wirklichkeit, und das heißt auf die heutige [!] Wirklichkeit entwickle.«). Vgl. GO, 192: »Das Gebot Gottes ist nicht ein Gesetz, das über der gegebenen Wirklichkeit schwebt, ohne Zusammenhang mit ihr; sondern es ist das Gebot des Gottes, der diese Wirklichkeit geschaffen hat.« Dieser Ordo-Gedanke, der seinerseits den positiven Bezug auf »Schöpfungsordnungen« im Plural erst ermöglicht, durchzieht insbesondere Brunners Schrift »Gerechtigkeit«. Vgl. aber schon GO, 21 (»Der einfache Satz: Suum cuique, der in der Tat das ganze Wesen der Gerechtigkeit erfasst [...], weist auf eine ursprüngliche, von keinem Gesetzgeber gesetzte Urordnung der Gehörigkeit hin.«); 219 (»Die religiöse Heimatlosigkeit reisst den Menschen aus dem metaphysischen Gefüge seiner Existenz; er ist nicht mehr in einer ewigen Ordnung verwurzelt.«). Auch dieser »personalistische« Zug ist nicht etwa nur für die Ethik Brunners konstitutiv. Er durchzieht von den Anfangen an (vgl. ζ. B. Brunner, Erlebnis, 128: »Er [sc. der Glau-

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Es dürfte im vorigen Abschnitt deutlich geworden sein, wie diese drei von Brunner angeführten Instanzen miteinander konkurrieren: Spricht der Rekurs auf den Schöpfungsgedanken fiir eine positive Bewertung der menschlichen Vernunft bei der Urteilsfindung, so der Bezug auf die Christusoffenbarung dagegen·, impliziert die Orientierung an der »Urordnung« ein statisches Verständnis des Ethischen, so der Situationsbezug ein dynamisches; begründet der Schöpfungsglaube einen konservativen Respekt von dem Gegebenen, so ist der christologische Bezug notwendig mit dem revolutionären Bewußtsein von der Erlösungsbedürftigkeit der Welt verbunden; ergibt sich von der Schöpfung her der Rekurs auf fur alle Menschen gleichermaßen bindende Schöpfungsordnungen, so fuhrt der Personalismus zu einer Betonung des individuellen Moments in der Ethik. Brunner hat versucht, dieser gegenläufigen Tendenzen durch den Verweis auf den Zusammenhang zwischen der Inkarnation Christi und dem Schöpfungsgedanken, vor allem aber durch die Rede von dem einen Gebot Gottes, des Schöpfers und Erlösers, Herr zu werden,40 wobei dem Erlösungshandeln der Primat zukommen soll: »Den Schöpfer und Erlöser, den wir kennen, kennen wir allein durch Jesus Christus« (GO, 108).41 Für die Ethik wirkt sich diese Verhältnisbestimmung, verbunden mit dem Imitatio-Gedanken,42 vor allem darin aus, daß die Liebe Gottes, wie sie im Christusgeschehen offenbar ist,43 zum obersten Maßstab auch des menschlichen Handelns erklärt wird.44

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be] ist aber auch nicht lehrbares Wissen, sondern der kühne Sprung, letztes, höchstes, in jedem Moment unerhörtes Wagnis der ihren Halt und Gehalt suchenden Seele.«) bis zu den späteren wahrheitstheoretischen und ekklesiologischen Gedanken Brunners gesamte Theologie. Vgl. z. B. GO, 387: »Der in seinen Schöpfungsordnungen und in seiner Erlösungsverheißung dem Glauben bekanntgegebene Gotteswille muß auch hier die Richtschnur unseres Handelns sein.« Vgl. GO, 110 (»Der Schöpfer aber, den wir erkennen, ist ein anderer, als der, den das Heidentum kennt. [...] Wo der Schöpfer in Jesus Christus erkannt wird, da wird mit der Gottgeschaffenheit der Welt auch ihre Sündigkeit erkannt.«); 594 (»[W]ir erkennen durch Christus den Schöpfer auch in der Welt [...].«). Vgl. GO, 106: »Da aber der Wille Gottes als fordernder derselbe ist wie als schenkender, kann er uns nichts anderes gebieten als die gehorsame Nachahmung seines Tuns als Schöpfer und Erlöser.« Vgl. GO, 116: »Die Liebe, die Gott gebietet, ist die Liebe, die er selbst ist und gibt.« Vgl. z. B. GO, 104 (Zitat des augustinischen Satzes: »Dilige et fac quod vis«); 299 (»Das Gute ist vollständig umschrieben mit dem einen Wort: Liebe, und zwar so, wie das Neue Testament von Liebe spricht, Nächstenliebe.«).

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Dies gilt ausdrücklich auch für das Handeln im Bereich der Ordnungen.45 Dem gleichen Bemühen um Harmonisierung durch Hierarchisierung dient Brunners Unterscheidung von »Was« und »Warum« des Handelns: Während das Handeln Gottes in Schöpfung und Erlösung unterschiedlich ist in der Sache, ist es identisch in seinem Motiv.46 Dieses übergreifende Motiv ist wiederum die Liebe. Sie ist Sinn und Maßstab auch fiir das Leben in den Ordnungen.47 Dennoch bleibt nach Brunner ein »unauflösbarer Dualismus« bestehen »zwischen dem Ordnungsgesetz und dem Liebesgebot« (GO, 206), d. h. zugleich: zwischen im Schöpfungs- und im Erlösungshandeln Gottes grundgelegter Ethik.48 Der Versuch, aus dem Primat von Erlösung und Liebe ein Ableitungsverhältnis zu konstruieren, führe nicht nur zu einer wirklichkeitsfremden »Phantastik«, sondern auch zu einer gefährlichen »schwärmerischen Vermischung von [...] Liebesbotschaft und Gerechtigkeitslehre«.49Wie sind diese so nochmals zusammengefaßten Aussagen Brunners hinsichtlich der Grundlegung der Ethik zu bewerten? Brunner hat sich eine doppelte Aufgabe gestellt: Theologie und Wirklichkeit sollen in seiner Ethik gegenseitig in Beziehung gesetzt werden. Im Gegenüber zu einem zu simplen und teils gesetzlichen, teils schwärmerischen Biblizismus einerseits (vgl. GO, 325) und einer unkritischen Affirmation des Wirklichen andererseits (vgl. GO, 110) sucht Brunner eine dezidiert »theologische Begründung, d. h. eine Aufweisung des Zusammenhanges dieses Gebotes [sc. Gottes] mit dem biblischen Gottes- und Menschenverständnis überhaupt«, ohne unter Umgehung der Lebenswirklichkeit »apodiktische Doktrinen« zu entwerfen (GO, 326). Dieses vermittelnde Anliegen, das sich auch in einer rückblickenden Äuße-

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Vgl. GO, 202 (»Wie der Christ nirgends vergessen kann, welches .Königs Untertan er ist, so kann er auch nirgends vergessen, daß Gehorsam gegen diesen König Liebe heißt, und vor nichts die Augen und das Herz verschließen, wo durch >Ordnungen< die Liebe verletzt wird.«); 212 (»Aber das Amt ist immer nur der eine Gesichtspunkt, immer nur das Erste und nie das Letzte, immer nur das Gehäuse und nie das eigentliche Leben. Das eigentliche Leben aber ist: das Begegnen in Liebe.«). Vgl. GO, 107: »Gottes Wille, der uns in diesem Woher entgegenkommt, ist ein anderer als Gottes Wille, der vom Ziel aus ruft, nach seinem Was, aber nicht ein anderer nach seinem Warum. Der Schöpfer hat ein anderes Werk als der Erlöser.« S. o. Anm. 17 das Zitat aus GO, 200f. Vgl. GO, 385 (»Aber ebenso gewiß als von der Schöpfung her das Dienen in diesen wirtschaftlichen Ordnungen seine Begründung empfängt, die durch keine Sündigkeit aufgehoben ist, ebenso sind auch von der Erlösung her diese selben Ordnungen irgendwie aufgelockert, von ihrem Ende her bedroht.«); 598 Anm. 7 (»Ein Herr, ein Motiv, aber zweierlei Gebot.«). Vgl. die bereits o. Anm. 14 angeführte, gegen Barths Theorie des Politischen gerichtete Passage aus: Ger., 321.

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rung widerspiegelt, in der Brunner »die mir besonders wichtige Doppelheit von Gebot und Ordnungen« erwähnt,50 zeichnet die Ethik Brunners aus, gerade auch im Kontext der übrigen protestantischen Ethik des 20. Jahrhunderts, die nur zu oft den einen Pol auf Kosten des anderen verabsolutiert hat. Die Art, wie Brunner beide Seiten miteinander verbunden hat, krankt allerdings an entscheidender Stelle. Das Grundproblem läßt sich im Anschluß an obige Zusammenfassung folgendermaßen beschreiben: Es gelingt Brunner nicht, die drei genannten Stränge in der Grundlegungsproblematik schlüssig aufeinander zu beziehen. Zwar nähert er die Sätze, die die Wichtigkeit der individuellen Entscheidung in der Situation betonen, und die Aussagen im Sinne einer christologischen Grundlegung einander bis zur Identität an, indem sich in Brunners Auffassung des Liebesgebots die beiden jeweils entscheidenden Begriffe - dort Gebot im Gegensatz zum Gesetz und hier Liebe als Nachahmung des Handelns Gottes in Christus - verschmelzen. Sprechend ist in diesem Zusammenhang gerade Brunners Verständnis der Liebe als »Eingebung«, was sowohl intuitionistisch als auch offenbarungstheologisch verstanden werden kann.51 Liebe als vorhergewußtes Gesetz würde dem Offenbarungscharakter des Guten nicht gerecht. Zugleich zeigt sich hier eine gefahrliche Einseitigkeit von Brunners Interpretation des Liebesgebots, indem die »Eingebung« im Gegenüber zur abwägend-vernünftigen Entscheidung bestimmt wird. Brunners Interpretation liegt am Ende einer Skala, als deren anderen Pol man Kants Deutung des Liebesgebots als Forderung der vernünftigen Pflichterfüllung frei von jeglichem »pathologischen« Element nennen könnte.52 Gerade so aber, durch die Annäherung auf der einen Seite, verstärkt sich der Gegensatz zur verbleibenden Argumentationslinie, bei der Brunner dezidiert vom Ordnungsgeseiz spricht. Diese Linie soll in Ergänzung der Offenbarungstheologie die Bedeutung der Wirklichkeit geltend machen, doch bleibt hier bei Brunner - wie er selbst einräumt - ein »unauflösbarer Dualismus«. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß Brunner, wie er das direkt offenbarungstheologische Element intuitionistisch dynamisiert, im Gegenzug das Element, das die Tatsachen vertreten soll, durch den Rekurs auf den OrdnungsbegrifFfixiert.53 Beide Pole werden so auseinandergerissen anstatt miteinander verbunden. Betrachtet man den Aufbau von Brunners ethischem

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Brunner, Autobiographische Skizze, 637f. Vgl. zu diesem Zusammenklang z. B. GO, 102: »Nicht du, er selbst allein kann dir sagen, was hier und jetzt lieben heißt.« Vgl. Kant, KprV, A 147-154. Verräterisch ist die Rede von »Schöpfungs-Konstanten« anstelle von Schöpfiingsordnungen, ζ. B. Ger., 105.

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Hauptwerk, so entsteht angesichts der Polemik gegen Gesetz und Vernunft im ersten und ihrer Rehabilitation im zweiten, die angewandte Ethik behandelnden Teil der Eindruck, daß Brunner zwar eine allein christologische Grundlegung vorschwebte, er aber aufgrund der Schwierigkeit, darauf eine konkrete Handlungslehre aufzubauen,54 im Sinne eines deus ex machina die aus der christlichen Tradition bekannten Schöpfungsordnungen ins Spiel bringt, was nicht ohne Brüche gelingt. Brunners Versuche, den hier sichtbaren Widerspruch in der Grundlegung zu überwinden, überzeugen jedenfalls nicht. Der Verweis auf das Handeln und Gebot Gottes als Erlöser und Schöpfer fuhrt, anstatt dem ethischen Dualismus abzuhelfen, eher zu dessen Ausweitung auch auf die Gotteslehre, denn das Neben-, ja Widereinander von liebendem und erhaltend-ordnendem Handeln wird so von Brunner zu einem entscheidenden Charakteristikum auch des Handelns Gottes erklärt. Die christliche Theologie hat in ihrer Geschichte gegenüber solchen Tendenzen, selbst wo sie eine noetische Zweiheit von Glaubens- und Schöpfiingserkenntnis vertrat, stets die ontische Einheit von Schöpfer und Erlöser betont. Und tatsächlich ist ja - entgegen der Schematik der Brunnerschen Aufteilung - das Schöpferhandeln Gottes bereits von seiner Liebe zur Schöpfung geprägt, wie umgekehrt das Erlösungshandeln stets auch ein kontinuierlich-erhaltendes Moment enthält, ja als ein - allerdings entscheidender - Aspekt der göttlichen Erhaltung der Schöpfung verstanden werden kann. Tragfähiger ist der zweite Hinweis Brunners auf ein beide Pole seiner Ethik verbindendes Moment: das gemeinsame (Liebes-)Motiv, das das menschliche Handeln sowohl in der Liebes- wie in der Ordnungsethik auszeichnen soll. Das Liebeshandeln wird so zum eigentlichen Werk, und die Lehre vom opus proprium et alienum Dei für die Ethik umgesetzt. Brunner nähert sich hier Luthers Zwei-Regimenten-Lehre, doch ist gerade ein Vergleich mit Luther instruktiv, um die Schwächen auch dieses Vermittlungsversuchs Brunners zu zeigen. Brunner kann von dem einen Motiv im Zusammenhang mit »zweierlei Gebot« sprechen.55 Das könnte man im Sinne der beiden Regimente, in denen der eine Gott bei Luther seine Herrschaft über

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Vgl. die oben S. 83f zitierte Passage, in der quasi ein Neuanfang mit der Frage nach dem konkreten »Was« eingeleitet wird. Bei Emst Wolf heißt es demgegenüber aus der Sicht der Königsherrschaft Christi und unter Rückgriff auf Bannen Π: »Weil Jesus Christus der Anspruch auf unser ganzes Leben ist, weil wir zu Bürgern seines Reiches berufen sind, weil wir in die Freiheit seiner Gerechtigkeit versetzt sind, hören wir nur einen Herrn, dem wir nachfolgen, nur ein Gebot, dem wir gehorchen sollen, in der Welt und für die Welt« (Ernst Wolf, Königsherrschaft, 229).

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die Welt ausübt, verstehen. Der Bereich beider Regimente ist aber bei Luther charakteristisch verschieden von der Brunnerschen Aufteilung. An der Stelle, wo Brunner dezidiert schreibt: »Ein Herr, ein Motiv, aber zweierlei Gebot«, geht folgender Satz voraus: »Es ist der eine Herr, der mir befiehlt, dem Nächsten in Liebe zu begegnen und nicht zu richten, und der mir befiehlt, sachgemäße, zweckdienliche Politik zu treiben« (GO, 598 Anm. 7). D. h.: Will man bei Brunner von zwei »Reichen«, in denen sich das christliche Leben vollzieht, sprechen, so ist das einerseits das direkte zwischenmenschliche Handeln und andererseits das - ζ. B. politische - Handeln im Rahmen der Ordnungen. Brunner hat denn den zweiten Pol neben der »Ordnungsethik« auch als »Personethik« bezeichnen können.56 Bei Luther hingegen vollzieht sich jegliches innerweltliche Handeln des Menschen im Reich zur Linken. Auch im Verhältnis zum unmittelbar Nächsten handle ich als Weltperson, habe ein »Amt« ihm gegenüber. Das von diesem unterschiedene Reich zur Rechten Gottes ist das Reich der Herzen, in dem Liebe und Gnade sich direkt verwirklichen, das aber - wegen der kontroverstheologisch besonders betonten Differenzierung zwischen Glaube und Werk - nicht als Bereich der Ethik, und sei es als »Personethik«, sondern nur als deren Voraussetzung verstanden werden darf. Den zwei Regimenten Gottes bei Luther - und das dürfte aufgrund der kontroverstheologischen Frontstellung die erste Intention ihrer Unterscheidung sein - stehen als menschliche Verhaltensweisen die von Glaube und Werk gegenüber, wobei das »Werk« unter dem einen Gebot steht, im Sinne des ersten Gebots des Dekalogs Gott zu furchten und zu lieben bzw. schlicht - zu glauben." Von Luther her erweist sich daher nicht nur die Brunnersche Aufteilung in Person- bzw. Liebes- und Ordnungsethik als fragwürdig, sondern generell wird - was bei Brunner mit dem Streben nach einer ordnungsethischen Ergänzung immerhin auch anklingt - eine ImitatioEthik, die sich unvermittelt am Erlösungshandeln Gottes ausrichtet, das ja in den nicht- oder besser: vor-ethischen Bereich gehört, infragegestellt. Zeigt schon dieser Vergleich mit Luther, daß Brunners Verweis auf das verbindende (Liebes-)Motiv die Schwächen in der Grundlegung seiner Ethik nicht bereinigen kann, so kommt hinzu, daß die Trennung zwischen Motiv und Sache des Handelns, die bei Brunner mit diesem Verweis verknüpft ist, ebenfalls fragwürdig ist. Denn einerseits leistet die Vorordnung des Motivs einer gesinnungsethischen Verengung Vorschub und übersieht, daß allein das Motiv noch keine gute Handlung macht, sofern zu dieser zumindest auch eine wohlinformierte, sachlich richtige Wahl gehört. Andererseits ist schon

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Vgl. Ger., 173. Vgl. Luther, Von den guten Werken.

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die Trennung an sich unsachgemäß, weil das Motiv immer auch Konsequenzen für das »Was«, die »Sache« des Handelns haben wird. Das Liebesmotiv wird sich stets auch sachlich auswirken - zumindest insofern es gleichsam als Filter bei der Handlungswahl bestimmte Optionen von vornherein ausschließt. Bei Brunner hingegen wird die Bedeutsamkeit der Liebe fur das Handeln auf den Bereich der Motivation eingeengt. Hier zeigen sich Probleme, die letztlich in Brunners einseitigem Verständnis des Liebesgebots, das einer nüchternen Einbindimg der Liebe in den Prozeß des ethischen Urteils zuwiderläuft, begründet sind.58 Auf dieser Basis erscheint der Rekurs auf die Liebe als »Motiv« nicht nur als Vermittlungsversuch zwischen den beiden von Brunner in ihrer Unterschiedlichkeit so sehr betonten Bereichen der Ethik. Er wirkt vielmehr so, als solle damit der Liebe, wenn sie schon für das Finden der Sache des Handelns zuwenig konkret ist - Brunners Rückgriff auf die Schöpfungsordnungen ergab sich ja, wie gezeigt, aus dem Ungenügen der »Liebesethik« für das konkrete »Was« des Handelns - , überhaupt ein Ort in der vom Ordnungsgedanken bestimmten angewandten Ethik gegeben werden. Als Fazit ergibt sich: Die Rede von dem gemeinsamen Motiv kann ebensowenig wie der Bezug auf den einen Gott den Keil, den Brunner selbst in seine ethische Konzeption getrieben hat, wieder herauslösen. Zusammenfassend ist festzustellen, daß Brunners Bemühen, in seiner Ethik Theologie und Wirklichkeit aufeinander zu beziehen, auf ein wichtiges Problem, dem sich jede theologische Ethik stellen muß, hinweist. Brunners konzeptioneller Lösungsversuch für dieses Problem erweist sich jedoch als unzureichend, da er, anstelle eine Vermittlung schon bei der theologischen Grundlegung anzustreben, stattdessen einen Gegensatz - von Ethik des Liebesgebots und des Ordnungsgesetzes - postuliert. Brunners Versuche, den

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Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 336: »Liebe ist auch nicht die unmittelbare Personbeziehung, das Eingehen auf das Persönliche, auf das Individuelle, im Gegensatz zum Gesetz des Sachlichen, der unpersönlichen Ordnung. [...] Die >Liebe< ist dann ein neben das niedere Ethos des rein Sach- und Ordnungsgemäßen als Vervollkommnung und Ergänzung tretendes höheres Ethos des Persönlichen.« Diese Sätze sind zwar vermutlich gegen O. Dilschneider und nicht Brunner gerichtet (vgl. die Herausgeberanmerkung ebd.); auch besteht insofern Einigkeit zwischen Bonhoeffer und Brunner, als sie beide die Liebesforderung eher situationsethisch (vgl. als Parallele zu Brunners Unterscheidung von abstraktem »Gesetz« und konkretem »Gebot« ζ. B. a.a.O., 260: »Er [sc. der verantwortlich Handelnde] hat kein absolut gültiges Prinzip zur Verfügimg, das er fanatisch gegen jeden Widerstand der Wirklichkeit durchzuführen hätte, sondern er sucht das in der gegebenen Situation Notwendige, >Gebotene< zu erfassen und zu tun.«) und vom Christusgeschehen her verstehen; die Kritik des in seiner Ethik jeglichen Dualismus bekämpfenden Bonhoeffer markiert jedoch treffend ein Grundproblem, das mit Brunners Einteilung der Ethik in Person- und Ordnungsethik verknüpft ist.

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Dualismus nachträglich theologisch zu entschärfen - durch die Rückführung auf das Handeln des einen Gottes in Schöpfimg und Erlösung und durch die Unterordnung des doppelten Gebots unter das eine Motiv der Liebe - , scheitern, weil sie selbst wieder auf unangemessenen Unterscheidungen beruhen. 4.3. Brunners Urteil über das Naturrecht Unter den bekannteren protestantischen Ethikern des 20. Jahrhunderts ist Brunner deqenige, der sich am ausführlichsten mit dem Problem des Naturrechts befaßt hat.59 Sein Buch »Gerechtigkeit« stellt einen umfassenden Versuch dar, den Gedanken eines »christlichen Naturrechts« für die evangelische Theologie wiederzugewinnen.60 Ausführlich heißt in diesem Fall auch differenziert: Im Vergleich mit den übrigen in diesem Teil dargestellten Theologen fallt auf, daß Brunner nicht pauschal vom »Naturrecht« spricht, sondern im Sinne einer Bestandsaufnahme verschiedene Spielarten dieses Themenkomplexes erkennt und herausarbeitet. So unterscheidet er in geistesgeschichtlicher Perspektive »mindestens drei ganz verschiedene Arten des Naturrechts [...]: [d]as objektiv-kollektivistische des vorchristlichen Altertums, das subjektiv-individualistische der Neuzeit, das im spätantik-stoischen wurzelt, und das christliche« (Ger., 100). Allen drei Arten ist nach Brunner gemeinsam: (1) der Gegensatz zu einer Orientierung allein am positiven Recht, und daß (2) die übergeordnete Instanz zum geschichtlich Gegebenen nicht in einem bloß formalen, sondern in einem materialen Prinzip bestehen soll.61 Eine zweite bedeutsame Unterscheidimg, die Brunner einschärft, ist die zwischen Naturrecht und Naturalismus. Der Naturrechtsgedanke dürfe nicht

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Nach Theodor Herr macht Brunner »als einziger protestantischer Theologe im deutschsprachigen Bereich den Versuch, eine theologische Naturrechtslehre zu entfalten [...]« (Herr, Zur Frage nach dem Naturrecht, 166). Vgl. zu Brunners Naturrechtslehre insgesamt, inklusive der Zeit vor »Gerechtigkeit«, die Monographie von Pohl. Pohl kommt zum Ergebnis, daß Brunner eklektisch auf die gesamte Naturrechts-tradition, sei es die antike, die römisch-katholische oder die reformatorische, zurückgegriffen und sie »in modern personalistischen und existentialistischen Bahnen« (Pohl, 194) interpretiert habe. Kritisch wird bemerkt, daß Brunner »trotz klarer Ansätze im biblisch-geschichtlichen Denken oft zu sehr im Einflussbereich idealistischer und aristotelisch-scholastischer Fragestellungen befangen blieb« (a.a.O., 195). Vgl. Ger., 101: »Von der bloßen >Idee der Gerechtigkeit unterscheidet sich aber das Naturrecht in allen seinen drei Hauptformen dadurch, dass es behauptet, nicht bloss eine formale Idee der Gerechtigkeit, sondern gewisse grundlegende materiale Normen gerechter Ordnung in sich zu schliessen.« In der Deutung des Naturrechts als materiales Prinzip kommt Brunner mit Hans Welzel überein (s. z. B. das Zitat u. 8.9. Anm. 175).

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mit Orientierung an Naturtrieb oder Naturgesetz verwechselt werden, sondern habe in seiner Geschichte immer eine anti-naturalistische Spitze gehabt.62 Eine dritte wichtige Differenzierung, die Brunner vornimmt, ist die zwischen dem »objektiven« und dem »subjektiv-erkenntnistheoretischen« Sinn des Wortes »Naturrecht« (vgl. Ger., 106-108). Während ζ. B. Barth das »Naturrecht« - analog zu seinem Verständnis von »natürlicher Theologie« - pauschal als menschliche Anmaßung, auch abgesehen von der Offenbarung das Rechte erkennen zu können, ablehnt, geht Brunner davon aus, daß die Erkenntnisfrage nur einen Teilaspekt des Komplexes »Naturrecht« darstellt. Gerade die von Luther und Calvin gegenüber dem Naturrechtsgedanken eingenommene Position ist in diesem Zusammenhang für Brunner relevant, da sie eine positive Stellungnahme mit einer - und dies ist in Brunners Sicht ihre entscheidende Differenz zur römisch-katholischen Naturrechtslehre - skeptischen Einschätzung der Erkenntnismöglichkeiten der menschlichen Vernunft abgesehen vom Christusgeschehen verbinde. Was nun Brunners eigene Position betrifft, so nimmt sie - wie seine gesamte Ethik - die der Reformatoren zum Vorbild.63 Allerdings möchte er den Begriff »Naturrecht« aufgrund seiner neuzeitlichen Geschichte - Vorherrschen des rational-individualistischen Verständnisses und Gefahr der Ver-

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Vgl. Ger., 102f: »Denn zu allen Zeiten ist unter Naturrecht ein sittliches Prinzip der Gerechtigkeit verstanden worden, das sich den Naturtrieb des Menschen - sei es nun den Machttrieb, den Erwerbs- und Besitztrieb oder den Geschlechtstrieb - unterwirft und ihn normiert, niemals aber als Prinzip des Handelns oder Urteilens anerkennt. Die Naturrechtslehre der europäischen Tradition, sei es nun die des Aristoteles, der Stoiker, der Kirchenväter, der Scholastiker, der Reformatoren oder der Rationalisten, ist nicht naturalistisch, sondern anti-naturalistisch. Der ihr zugrunde liegende Begriff der >Natur< ist immer ein theologischer, religiöser und sittlicher Normbegriff, und der ihm zugrunde liegende Begriff der Lex naturae hat mit dem, was heute >Natur-Gesetz< heisst, nichts zu tun.« Daß Brunner diese Zuspitzung gerade dem christlichen Naturrechtsgedanken zuschreibt, zeigt folgender Satz (Ger., 105): »Eine Ordnung, die der Ungläubige einfach eine Naturordnung nennt, etwas, >das nun einmal so und nicht anders istNaturrechtslehre< der Reformatoren dürfte darum im wesentlichen mit der von uns durchgeführten identisch sein.«

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wechslung mit dem Naturalismus64 - preisgeben. An der Sache hingegen will er festhalten, nicht nur wegen deren theologiegeschichtlicher Legitimität.65 Vielmehr sieht er in ihr die einzig angemessene Begründung zum Widerstand gegen den totalen Staat - Brunners Buch »Gerechtigkeit«, aus dem hier referiert wird, erschien 1943 - , wie dieser umgekehrt die Folge des »Zerfalls der abendländischen Gerechtigkeitsidee«, die fur Brunner gleichbedeutend mit der Orientierung an einem religiös gebundenen Naturrecht ist, darstelle.66 Es gibt fur Brunner nur zwei Alternativen: »Entweder Begründung des Rechtes auf das göttliche Recht oder dann Zwangsordnung des Totalstaates in ihrer faschistischen oder konsequenten kommunistischen Gestalt.«67 Diesen zeitgeschichtlichen Kontext von »Gerechtigkeit« muß man stets vor Augen behalten.68 Wie ist nun das »christliche« Naturrecht, zu dessen Fürsprecher sich Brunner macht, beschaffen? Wie läßt sich der Anschluß an den schon vorchristlichen69 Gedanken einer Verbindlichkeit der Natur für das Rechtssystem

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Als dritten, von der neuzeitlichen Entwicklung allerdings unabhängigen Grund nennt Brunner die gefährliche Tendenz jeden Naturrechts, ein zweites Rechtssystem neben der staatlichen Gesetzgebung zu etablieren (vgl. Ger., 110). Außer auf die Reformatoren verweist Brunner auf Paulus (vgl. Ger., 104). Vgl. zu dieser These Brunners das einleitende Kapitel von »Gerechtigkeit« (Ger., 3-11), ζ. B. Ger., 7: »Der totale Staat ist nichts anderes als der in politische Praxis umgesetzte Rechtspositivismus, die tatsächliche Ausserkraftsetzung der antik-christlichen Anschauung vom göttlichen >NaturrechtNaturNaturrecht< meinten die Christen nichts anderes als die Schöpfungsordnung« (Ger., 106). Hinter diesem von Brunner selbst hervorgehobenen Satz steht die These, daß der Naturrechtsgedanke inhaltlich mit der Forderung des »suum cuique« zusammenfällt,71 dieses aber den Gedanken einer »Urordnung«, der gemäß die geforderte gerechte Zuteilung zu erfolgen hat, voraussetzt.72 Das Beispiel von Luther und Calvin, »die ja viel stärker als die scholastischen Theologen die Verderbtheit der menschlichen Natur durch die Sünde betonten« (Ger., 106), zeigt ihm, daß ein derartiger Appell an »das Recht, das aus der gottgeschaffenen Natur des Menschen ervorgeht« (ebd.), auch für eine bewußt evangelische Theologie möglich, ja sogar geboten73 ist. Noch weiter geht Brunner, wenn er dieses bei den Reformatoren beispielhaft ausgebildete »christliche Naturrecht« auch den zeitgenössischen Juristen anempfiehlt.74 Trotz all dieser positiven Worte über das Naturrecht, insbesondere soweit es christlich, d. h. im christlichen Schöpfungs- und Naturgedanken, verankert ist, bleibt Brunners Urteil über das Naturrecht von Zurückhaltung geprägt. Nicht nur, wie oben bereits zitiert, das Wort, sondern auch die Idee »Natur-

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Auch in GO wird die »Idee eines christlichen Naturrechts« mit der Perspektive auf den »durch den Erlöserzweck bestimmte[n] Schöpferzweck Gottes« identifiziert (vgl. GO, 255) und kann ganz naturrechtlich vom Grund von Kultur, Ehe und Wirtschaft »in der schöpfungsmäßigen Naturanlage des Menschen« gesprochen werden (vgl. GO, 471). Insgesamt ist Brunner in »Das Gebot und die Ordnungen« aber wesentlich skeptischer in bezug auf die Möglichkeit eines Rekurses auf ein wie auch immer geartetes Naturrecht als in der gut zehn Jahre später verfaßten Schrift »Gerechtigkeit«, was, wenn man die Einleitung der späteren Schrift berücksichtigt, mit der Erfahrung des NS-Unrechtsstaats, die Brunner eine Wiedergewinnung des Naturrechtsgedankens dringlich erscheinen ließ, zusammenhängen dürfte. Vgl. Ger., 102: »Man kann geradezu sagen: das Naturrecht ist das Suum cuique.« Vgl. Ger., 105: »Die >Urordnunggerecht< oder >ungerecht< bezeichnet, das >SeinezukommtNaturIdee des christlichen Naturrechts< noch einmal bedeutsam, nicht konstruktiv, auch nicht kritisch im Sinn des Bessermachens - , sondern dadurch, daß sie zeigt, wie alles, was wir tun, nichts ist, gemessen an dem, was getan werden sollte.« Vgl. auch GO, 657 Anm. 22.

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Als ordnungsethisches Element bleibt aber auch in »Gerechtigkeit« das Naturrecht eine sekundäre Instanz. Mehr als das »suum cuique« kann selbst die absolute Gerechtigkeit des Naturrechts nicht fordern. Sie reicht daher an die personale Liebesforderung Jesu nicht heran.79 Diese ist eben nicht natürlich, sondern übernatürlich, in der Offenbarung begründet.80 Eine naturrechtliche Grundlegung der Ethik bleibt bei Brunner, aller Sympathie für die Naturrechtsidee zum Trotz, ausgeschlossen.

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Vgl. Ger., 151: »Die Gerechtigkeit gehört in die Ordnungswelt, nicht in die Personwelt. Darum aber, weil die Person selbst höher ist als alle Ordnungen, in denen sie steht, darum, weil alle Ordnungen um der Personen willen, aber nie die Personen um der Ordnungen willen da sind, ist die Liebe höher als die Gerechtigkeit.« Vgl. Ger., 149: »Sie [sc. die christliche Liebe] ist nicht natürlichen, sondern übernatürlichen Ursprungs.«

5. Emanuel Hirsch 5.1. Hirschs ethisches Programm in den 20er Jahren Auf den letzten Seiten eines als »Auseinandersetzung mit Albert Schweitzer« vorgetragenen Aufsatzes »Zur Grundlegung der Ethik« hat Emanuel Hirsch Mitte der 20er Jahre seine Auffassung darüber, wie diese Grundlegung in seinen Augen auszusehen hat, in bündiger Form wiedergegeben. Als Ausgangspunkt der Überlegungen Hirschs läßt sich dabei folgende These rekonstruieren: »Das Gute darf nicht anders als in einer Wirklichkeit begründet sein« (258).1 Dies betont Hirsch gegenüber einerseits der idealistischen Ethik, die in der Ambivalenz von Idee und Wirklichkeit sich einseitig auf die Seite der Idee stelle, so aber sich einer »Auflösung des Ethos in Geist« (ebd.) schuldig mache, andererseits der »Flachheit der intuitionistischen Ethik« (259), mit der naturalistische Grundlegungsversuche gemeint sind. Schweitzer wird dafür gelobt, daß er in seiner Ethik eine Position zwischen den beiden Extremen einzunehmen gesucht hat, »daß er für das Du sollst eine Anknüpfung in unsrer Lebenswirklichkeit verlangt hat« (ebd.). Nur: diese Anknüpfung ist ihm nicht gelungen, weil er die Ethik laut Hirsch auf den letztlich egoistischtierischen Willen zum Leben begründen wollte. Auf diese Weise wird Schweitzers Ethik für Hirsch trotz allen gesuchten Wirklichkeitsbezugs wieder abstrakt. Auf den allgemeinen Lebenswillen läßt sich, so Hirsch, keine Ethik gründen. Wenn dies bei Schweitzer ansatzweise gelinge, dann nur, weil in seine Auffassung unterschwellig Elemente der christlichen Liebesethik eingeflossen sind (vgl. 257). Hirschs Fazit: »So ist auch dieser Versuch, in einem allgemein gültigen Denken die Ethik zu gründen, als gescheitert anzusehen. Es ergibt sich, daß das Beste an Schweitzer nicht in der denkenden Erfassung von Gegebenheiten unsers inneren Lebens, sondern in einem rational nicht mehr Ergründbaren seine Wurzel hat« (ebd.). Ethik ist also nach Hirsch nicht »in einem allgemein gültigen Denken«, sondern nur in einer Wirklichkeit, die »rational nicht mehr ergründbar« ist, zu fundieren. Welcher Art ist diese Wirklichkeit? Hirsch verweist in der Auseinandersetzung mit Schweitzer auf Luther, nach dessen ethischem Grundgedanken das Gute identisch sei mit dem »freudigen Hingegebensein an die sich den andern dienstbar machende Liebe« (258). Die eben gestellte Frage

Die Seitenzahlen im ersten Teil dieses Abschnitts beziehen sich auf: Hirsch, Grundlegung.

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erhält auf dieser Basis folgende Zuspitzung: »In welcher Erfahrung macht sich der Liebeswille uns verständlich als die Wirklichkeit, der in unserm Herzen regieren will?« (ebd.). Die grundlegende Wirklichkeit wird von Hirsch also gesucht (1) in einem gütigen Willen, der (2) das menschliche »Herz« anspricht und (3) irgendwie erfahrbar ist. Diese Bedingungen findet Hirsch weiter im Anschluß an Luther - erfüllt in der Erfahrung des rechtfertigenden Gottes: »Gott ist die Wirklichkeit jenes reinen, gütigen Willens, der nichts will als sich schenken. Soweit dieser Wille uns verständlich wird, haben wir Erfahrung von Gott - und umgekehrt« (258f). Daraus ergibt sich, daß nur eine theistische Ethik angemessen ist. Denn eine ethische Betrachtung des menschlichen Willens ist eine, die »im Lichte einer uns verpflichtenden Gotteserfahrung« (259) geschieht. Zugleich impliziert der Bezug auf das Rechtfertigungsgeschehen, daß die Ethik - darauf deutet schon die oben zitierte Rede vom »Herz« hin - stets einen individuell-persönlichen Zug hat.2 Beide Momente, der Bezug auf Gott und die Individualität, bedingen sich dabei gegenseitig, da die Gotteserfahrung für Hirsch nur als individuelle denkbar ist. Er faßt seine Überlegungen zusammen: »So steht als letzte Begründung des Ethischen da die Ehrfurcht vor dem uns anredenden majestätischen Willen des Herrn, dem wir das Leben danken« (ebd.). Diese knappen Ausführungen lassen sich vertiefen und ergänzen anhand zeitlich wenige Jahre früher liegender Veröffentlichungen Hirschs. Das Buch »Deutschlands Schicksal«, das auf eine Vorlesung Hirschs im Sommer 1920 zurückgeht und auf der Basis von vor allem geschichtsphilosophischen Gedanken Vorschläge für die Bewältigung der Lage im Nachkriegsdeutschland entwirft, entwickelt breit, was der spätere Aufsatz mehr thetisch formuliert. Dies gilt zunächst für die Hirsch charakterisierende Mittelposition zwischen Idealismus und Naturalismus, nur daß die Schrift die beiden Pole in Gestalt ihrer geschichtsphilosophischen Varianten - absolute (Hegel) und skeptische (Nietzsche, Spengler) Sicht der Geschichte - verhandelt (vgl. 9-25).3 Seine eigene Position bezeichnet Hirsch als theistische (vgl. 25). Ihre Besonderheit ist die Betrachtung der Geschichte als »Doppelwesenheit« (16): nicht nur als immanentes Geschäft der Menschen, sondern auch als fortlaufende Offenbarung des der Geschichte - dies der Unterschied zu Hegel - dennoch transzendent bleibenden Gottes. Was Hirsch später hinsichtlich der Ethik schreibt, gilt hier für die Geschichte: Sie wird solange unzureichend verstanden, solange

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Vgl. 259: »Gottes Liebeswille kann [...] nur in einer Willensbegegnung Gottes mit uns und nur als uns persönlich erzeigte, uns persönlich sich schenkende Liebe Gewalt über uns gewinnen.« Diese und die folgenden Seitenzahlen verweisen auf: Hirsch, Schicksal.

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ihr Bezug auf Gott nicht gesehen wird. Hirsch versäumt auch nicht, dieser seiner Sicht der Dinge die »größere Wahrhaftigkeit« (24), d. h. in diesem Fall: größere Wirklichkeitsnähe, zuzubilligen. Die zweite Parallele zwischen Hirschs Bemerkungen zur »Grundlegung der Ethik« und »Deutschlands Schicksal« betrifft die Skepsis gegenüber der rationalen Ergründbarkeit des Daseins. Das aufklärerische Geschichtsbild, das die Geschichte als Rationalisierungsprozeß versteht, wird abgewiesen, weil es den neben der »Idee« zweiten Pol der Wirklichkeit, das »Leben«, ausblendet (vgl. 25-36). Der Lebensbegriff steht dabei für das irrationale, intuitive und vor allem: individuelle Moment jeder geschichtlichen Wirklichkeit. Hirschs These lautet: »Die Geschichte ist ihrem Wesen nach nicht Verwirklichung der Herrschaft der Idee, sondern Offenbarung und Entfaltung mannigfaltigen individuellen Lebens, das sich durch kritische Beziehung auf die Idee in die Einheit des Menschlichen eingeordnet hat« (31). Es ist bezeichnend für Hirschs Verständnis von Ethik, daß er gerade hier, bei der Erkenntnis der Bedeutsamkeit des Individuell-Eigentümlichen für die Geschichte, auf die Ethik zu sprechen kommt: »Diese einfache Wahrheit bringt ein starkes ethisches Moment in die Geschichtsauffassung hinein. Wenn wir die uns gesetzten Aufgaben erst von innen heraus finden müssen und nicht einfach in einer allgemeinen Idee ablesen dürfen, so erscheint alles geschichtliche Handeln und Wirken als ein Wagnis. Es gilt stets das Dasein kühn an eine Überzeugung zu setzen, die nicht beweisbar ist« (33). Das »ethische[] Moment« besteht nach diesen Sätzen also genau im wagnishaften Handeln gemäß einer nicht allgemein ablesbaren und nicht (rational) beweisbaren, sondern individuell gefundenen Überzeugung.4 Handeln kann nur als Wagnis geschehen, weil das individuelle Leben keine Voraussagen ermöglicht: »Ist die Geschichte wirklich ein unberechenbarer individueller Lebensprozeß, so bleibt es ein unmögliches Beginnen, das geheimnisvolle Dunkel, das über ihrer Gegenwart und Zukunft liegt, aufzuhellen« (ebd.). Romantik und Lebensphilosophie verbinden sich hier bei Hirsch und lassen das Individuelle und Irrationale als bestimmende Kräfte des menschlichen Lebens erscheinen.5 Bestimmend sind sie allerdings nur bei einer immanenten Sicht der Dinge. Treu zu seinem »theistischen« Geschichtsverständnis sieht Hirsch dort, wo

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Anstatt vom Finden kann Hirsch vom »Treffen« des Guten sprechen. Vgl. dazu und zur Rede vom ethischen »Wagnis«: Lobe, 247f. Vgl. 57: »Es [sc. das Leben des einzelnen] ist die eigentliche Wurzel alles geschichtlichen Lebens, ein in das geschichtliche Werden machtvoll einwirkender Faktor, der Mutterschoß aller geschichtlichen Wenden.«

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die menschliche Vernunft entmachtet ist, Gott und seine Vorsehung am Werk.6 Auf dieser Basis werden nun die Kernaussagen von »Deutschlands Schicksal« verständlich. Die erste betrifft das eigentliche Thema. Hirschs »historischefr] Individualismus« (47) bzw. sein »ethisch-individualistischefs] Geschichtsbild[]« (48) führen ihn dazu, klar gegen den hinter dem Völkerbund stehenden Gedanken eines Weltfriedensreiches Stellung zu beziehen.7 Das zu begünstigende Individuelle wird weltgeschichtlich verkörpert durch die einzelnen Völker und Nationen. Der einzelne Staat gleicht einer Persönlichkeit (vgl. 80). Hirsch ist daher entschiedener Vertreter der Nationalstaatsidee. Dies verbindet sich mit dem Vorsehungsglauben zum Gedanken einer göttlich bestimmten individuellen Aufgabe für jedes - gerade auch das deutsche - Volk.8 Noch stärker müssen sich die skizzierten Grundgedanken Hirschs auf dem Gebiet der Individualethik auswirken. Wie bei anderen Ethikern aus der Schule der Liberalen Theologie wird der Begriff der Persönlichkeit ins Zentrum gerückt: »Die Ethik der christlichen Völker steht in der Grundvoraussetzung, daß das Leben der einzelnen menschlichen Persönlichkeit einen unendlichen Wert habe« (50). Diese Einzelpersönlichkeit ist in ihren Handlungsmöglichkeiten freilich nicht Herr ihrer selbst.9 Hirsch versäumt nicht, auch in

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Vgl. 34: »Wer das erkennt, vor dessen Auge steigt die Macht empor, die eigentlich in der Geschichte wirkt und handelt, die göttliche Vorsehung mit ihrem dem Menschengeist verborgenen Rat.« Der Vorsehungsglaube bedeutet bei Hirsch keinen Fatalismus. Gemäß der »Doppelwesenheit« der Geschichte kommt der Freiheit des Menschen ebenso Bedeutung zu (vgl. 45f) wie ein resignativer Schicksalsglaube abgewiesen wird (vgl. 147f). Vgl. 90: »Wenn die Idee des menschheitsverbindenden Rechts die Nationalstaaten bricht und den Frieden des Weltreichs heraufführt, so ist das nicht Fortschritt noch Höherentwicklung, sondern Verflachung und Verarmung des geistigen und sittlichen Lebens. Das aus unergründlichen Daseinstiefen sich gebärende Individuelle löst sich nur zum Schaden des Ganzen auf in den allgemeinen Gedanken.« Vgl. 148: »Gottes klarer Wille an ein großes Volk ist es, daß es sich in einem Staate als Persönlichkeit zusammenfasse und dann mit seinem Eigensten und Besten hinauswirke auf die andern. Es gilt für uns Deutsche, nicht zu weichen zur Rechten und zur Linken und den Blick ausschließend und unwandelbar zu richten auf unsre Pflicht und unser Ziel.« Vgl. auch 91, wo Hirsch von der »weltgeschichtlichen Mission« der großen Völker spricht. Vgl. 50: »Das, was der einzelne in Staat, Gesellschaft und Geschichte bedeutet, ist ihr [sc. der christlichen Ethik] vielmehr immer etwas, was zu seinem Leben und Persönlichkeit erst hinzukommt und nur bedingt mit ihnen zusammenhängt. Alle von uns ausgehende Wirkung ist ja nicht so sehr unser Werk als das der Umstände, die uns hoch tragen oder sinken lassen nach ihrer eignen Gesetzlichkeit. Wir können nur tun, was recht ist, und abwarten, ob es gesegnet wird.«

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diesem Zusammenhang auf den Vorsehungsglauben zu verweisen (vgl. 51). Ist aber das Handeln nach außen dem Einfluß des Individuums weitgehend entzogen, so verschiebt sich der Bereich der Ethik auf das Innere als den Ort der persönlichen Bestimmung: »Das wahre Wesen, das eigentlich Wichtige ist der Ethik die Lebensinnerlichkeit als die Wurzel all unsers Tuns. Wir sollen innerlich etwas werden, nämlich rein, gütig, Gott gehorsam« (50).10 »Deutschlands Schicksal« zeigt, daß das, was im referierten Aufsatz nur anklingt in der Rede vom »Herz« als dem Ort der ethischen Gottesbeziehung, einen entscheidenden Punkt in Hirschs Konzeption von Ethik darstellt. Hirsch konzentriert seine Vorstellung vom in der Innerlichkeit des Menschen befindlichen Zentrum der Ethik in einem Begriff: dem des Gewissens. Das Gewissen ist der Ort der »individuellen Lebensinnerlichkeit«, ohne doch dem Menschen direkt anzugehören, da in ihm der Mensch Gott gegenübersteht." Hier, im Gewissen, liegt die Wurzel der individuellen freien Tat12 - gerade in seiner Gebundenheit an Gott.13 Es steht dem Verstandeskalkül gegenüber (vgl. 3; 119), ist »etwas lebendig Individuelles« und gerade so der »Grundpunkt des frommen Lebens« (136). Hirsch sieht eine enge Verbindung zwischen Sittlichkeit und Frömmigkeit, die durch das Gewissen verbürgt ist. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang seine Äußerungen zur Dialektischen Theologie, denn ein entscheidender Vorwurf an deren Adresse lautet auf eine falsche Verhältnisbestimmung von

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Vgl. 58: »[D]as ethisch Kostbarste« ist »die Einsamkeit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen vor Gott«. Vgl. folgende gegen Hegels Philosophie gerichtete Passage, die mit ihrer Gegenüberstellung von Persönlichkeit und Allgemeinem, Individualität und Gemeinnutz, Eigentümlichem und Sitte, individueller Gewissenhaftigkeit und allgemeiner Vernunft zugleich nochmals die Basis von Hirschs Gewissenstheorie verdeutlicht: »Sie kennt den einzelnen nur als eine leere Subjektivität, die sich ans Allgemeine hinzugeben hat, und nicht als Persönlichkeit mit ewiger und d. h. überstaatlicher Bestimmung. So ahnt sie nichts von jener tiefen auch dem Gehalt nach individuellen Lebensinnerlichkeit, der alle großen geistigen Schöpfungen und alle gewaltigen Werke entquellen, ahnt nicht, daß der Mensch nichts wert ist, der nicht in einsamer Seele seinem Gewissen und seinem Gott gegenübersteht und dabei allein durch ein seelisches Muß und nicht durch einen gemeinnützigen Zweck bestimmt ist. Und darum verkennt sie auch ganz den Sinn des Handelns, das nicht in Sitte und allgemeiner Vernunft, sondern aus individueller Gewissenhaftigkeit oder dem Bedürfnis nach Gestaltung eines Eigentümlichen entsprungen ist« (54f). Vgl. 55 (»das Wagnis der schlechthin von niemand gebotenen freien Tat«); 81 (»Nur zweierlei darf sie [sc. die regelnde Tätigkeit des Staates] nicht antasten, ohne uns mit ihm zu entzweien, das Heiligtum des Gewissens und die Möglichkeit überhaupt eines Handelns nach eigner Einsicht und Entscheidung.«). Vgl. 93: »[...] in der letzten Innerlichkeit des Gewissens, das gebunden ist und gerichtet wird bei äußerlich scheinbar ungebundener Freiheit«.

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Glaube und Sittlichkeit. Der Glaubens- und Offenbarungsbegriff der Dialektischen Theologie mißversteht nach Hirsch das Handeln Gottes als »weltgeschichtliches Ereignis«, während es doch »in Wahrheit bezogen [ist] auf die Innerlichkeit des Gewissens« (160). Umgekehrt wird das Sittliche von den Dialektikern »seiner Beziehung auf Gott und das Ewige entkleidet« (159). Damit aber »ist der Einsatzpunkt verloren gegangen, von dem aus Gott die Hineinbannung in das weltlich-natürliche Leben zerbricht und ein neues Leben gemäß seinen Gedanken und Zielen aufzubauen beginnt« (ebd.). Hirsch gibt den Vorwurf der »Weltseligkeit« an die Dialektischen Theologen zurück, da sie Gott in der Welt und nicht in der ethischen Innerlichkeit wirken sehen.14 Es wäre nun allerdings verkehrt, Hirschs Religion der innerlichen Sittlichkeit atomistisch zu verstehen im Sinne eines: »Gott und der Einzelne - der Einzelne und Gott«. In »Deutschlands Schicksal« sucht Hirsch vielmehr nach einer die Einzelpersönlichkeit transzendierenden Gemeinschaft: »Entweder es gelingt noch, die individuelle Persönlichkeit einem höheren Zusammenhang, einer höheren Einheit, einzuordnen, oder aller uns erkennbare Zusammenhang geschichtlichen Werdens ist nichts als eine dünne Decke über einem Chaos von Zufälligkeit, Dunkel und Geheimnis, und der Gedanke einer inneren wesentlichen Einheit des Menschengeschlechts und seiner Geschichte ist gefährdet« (57). Es kann kaum noch überraschen, daß Hirsch diese Gemein-

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Hirsch hat seine Einschätzung der Dialektischen Theologie bekräftigt in einer Duplik auf Einwände Friedrich Gogartens. Das Gewissen ist ihm zwar nicht, wie von Gogarten insinuiert, »Organ«, wohl aber »Ort« der Offenbarung. »Ich würde damit ausdrücken, daß die Gottesfrage dem [sie] Menschen entscheidend nicht in seinem Glücks- und Lebensverlangen, nicht in seinem Erkenntnisdrang und Schönheitssinn, sondern in seinem persönlichen Verhältnis zum Guten anpackt, daß Gott von uns entscheidend verstanden werden will nicht als der, der uns Glück, Erkenntnis und Schönheit geben will, sondern als der, der uns teilhaben lassen will an seiner heiligen Güte, daß er darum mit uns anfängt zu handeln, indem er uns den Gegensatz unsrer persönlichen Art zu seiner klar macht, d. h. daß er uns ihm verantwortlich macht für uns selbst, daß er zu uns redet eben im Gewissen« (Hirsch, Problem, 55). Wollte Gogarten dagegen auf Jesus Christus als Ort der Offenbarung verweisen, so würde das auf eine »abstrakte Absurdität« (a.a.O., 56) hinauslaufen, solange Jesus »als das Übergeschichtliche« nicht »gläubig verstanden« wird, »und das geschieht eben dadurch, daß er, entscheidend auf seinem Kreuzeswege, mit mir [!] Zwiesprache hält, daß er mir [!] redet von meiner [!] Schuld und Gottes Zorn und Huld« (a.a.O., 55). Hirsch hat damit den Grundgegensatz zwischen Liberaler - zu deren Erben er selbst gehört - und Dialektischer Theologie treffend wiedergegeben. Denn der letzteren Bestehen auf dem ganz anderen, unbekannten und jenseitigen Gott richtete sich entscheidend eben gegen das von Hirsch hier propagierte liberale Bekenntnis zu einem allein innerlichen Gottesverhältnis bis hin zu seiner Steigerung in einem vollmundigen »Gott-in-uns«.

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schaft als »ethisch-religiösef] Intuition« (ebd.) bestimmt, genauer: als »Gemeinschaft der Gewissen« in Gott und zu Gott (59f). Diese Gemeinschaft ist freilich - im Sinne der »unsichtbaren Kirche« - »von rechtlich-äußerlicher Gestaltung ganz unabhängig [...] und rein dem geistigen Leben angehör[ig]« (59). »[Z]wischen dem in den Gewissen werdenden Reich Gottes und den menschlich-irdischen Gemeinschaften« findet zwar »ein Lebenszusammenhang, ein Herüber- und Hinüberwirken«, statt. Es bleibt aber »die innere Scheidung der beiden Reiche« (159) bestehen. Damit gilt also auch für die Gemeinschaft der Gewissen, daß ihr Ort nicht die Welt, sondern die Innerlichkeit ist. Im Hintergrund von Hirschs Theorie zeigt sich die ZweiRegimenten-Lehre Luthers, die - nicht ohne Anhalt bei Luther, aber vor allem im Einklang mit der Luther-Deutung sowohl der eigentlichen RitschlSchule als auch Karl Holls - im Sinne einer Aufspaltung von Innerlichem und Äußerlichem verstanden w i r d Die vorstehende Analyse fuhrt bezüglich der Grundlegung der Ethik im Frühwerk Emanuel Hirschs zu folgendem Ergebnis: Hirsch setzt sich für eine theonome Grundlegung der Ethik ein. Ethik impliziert immer die Gottesbeziehung. Charakteristisch ist nun aber, wie Hirsch diese Beziehung faßt. Denn das Gottesverhältnis seinerseits wird von ihm wiederum ethisch bestimmt, so daß Religion und Sittlichkeit faktisch zu Wechselbegriffen werden.15 Im Zentrum dieser »ethisch-religiösen Intuition« steht das Gewissen. Es kann diese Rolle ausfüllen, weil es (1) tatsächlich eine Intuition und nicht etwa eine Verstandesreflexion darstellt und (2) als Stimme Gottes im Menschen zu beiden gehört und genau die Schaltstelle zwischen beiden markiert.16 Das Gewissen ist »Ort der Offenbarung« - einer Offenbarung, die qua Gewissensspruch stets nur individuell-persönlich und innerlich erfolgen kann. Kriterium des guten Handelns wird die Übereinstimmung mit der im Gewissen sich aussprechenden individuellen Bestimmung. Das - in jedem Fall religiös verstandene - Gewissen ist also eigentliches Fundament der Ethik Hirschs in den 20er Jahren.

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Vgl. Hirsch, Problem, 55: »Darum ist der Gewissensakt für mich am reinsten und vollendetsten im Gebetsakte.« Sittlicher und religiöser Akt par excellence, Gewissen und Gebet, sind also letztlich identisch. Vgl. Hentschel, 132 (als Zusammenfassung der Analyse von Hirschs Gewissensbegriff: »Die vorliegende Rekonstruktion der Genese des Gewissensbegriffs läßt das Gewissen als Einheit einer ethischen und einer religiösen Beziehung in den Blick kommen.«); 180 (»Hirsch stellt zunächst das Gewissen als den Grundakt ethischer Existenz und die zentrale ethische Kategorie heraus. Gewissen ist das Zugleich von unmittelbarem und reflektiertem Bezug des Einzelnen zu Gott und den Menschen und damit die intendierte Einheit einer unendlichen und einer endlichen Beziehung des Menschen.«).

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5.2. Die reife Gestalt von Hirschs Ethik in »Ethos und Evangelium« Wer die Position Hirschs zur Ethik aus den 20er Jahren im Ohr hat, kann sie im 40 Jahre später entstandenen ethischen Hauptwerk Hirschs mühelos wiedererkennen. Nur wird nun alles, bis in die Begrifflichkeit hinein, differenzierter ausgeführt. Methodisch will Hirsch seine Ausführungen als »Rechenschaft« verstanden wissen: Der Autor »spricht von einem ihm persönlich Eigenen, aber er übersetzt dieses in die Form einer Mitteilung, welche sich der allgemeinen wissenschaftlichen Reflexion bedient« (434).17 Das persönliche Moment ist da, wo jemand »den letzten Grund und Kern seines Verständnisses des Menschseins« (ebd.) berührt, unabdingbar. Dies gilt für »Glaubenslehre und Predigt und Seelsorge« (436), aber eben besonders auch für die Ethik. Denn im Ethos hat man »den entscheidenden Träger aller individuellen Durchprägung des menschlichen Daseins« (325) vor sich. Schon diese Bemerkungen zur Methode zeigen: Die persönlichindividuelle Zuspitzung der Ethik wird von Hirsch im Spätwerk entschieden beibehalten und verteidigt. Hirsch selbst spricht vom »wahre[n] personalistische[n] Ethos« (259) bzw. vom »subjektiven Ethos« (401). Gegen das Etikett des »Subjektivismus« will er sich nicht wehren, ist dieser doch »gerade Bejahung der Wahrheit« (436). Persönlichkeit und Gewissen bleiben die Grundbegriffe. Das Verständnis seiner Position als Alternative zu einerseits Naturalismus - in »Ethos und Evangelium« vor allem verhandelt in seiner Variante als Positivismus - und Idealismus wird ebenso beibehalten18 wie die Überzeugung vom notwendigen Bezug der Sittlichkeit auf das Ewige bzw. Gott19 und die in der Rede von der »Doppelwesenheit« der Geschichte im Frühwerk anklingende ambivalente Sicht der Wirklichkeit20. Dies alles wird nun aber, wie bereits gesagt, genauer ausdifferenziert.

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Diese und die folgenden Seitenangaben in den nächsten drei Abschnitten (5.2.-5.4.) beziehen sich auf: Hirsch, Ethos. Vgl. z. B. 299: »Beide [sc. Positivismus und Idealismus] aber verfehlen dabei [sc. bei ihrer Geschichtsdeutung] gerade das dem Ethos wesenhaft Eigene der Gewissensschwebe oder der unabschließbaren Subjektivität.« Vgl. 1 (»Daß Religion und Sittlichkeit untrennlich zusammengehören, [...].«); 393 (»[...] Ethik, die von der ewigen Bestimmung eines jeden Menschen weiß oder doch wissen sollte«); 425 (»Es gibt kein Ethos ohne ein mehr oder weniger klar reflektiertes, wagendes Gottvertrauen.«). Vgl. z. B. 60: »Das Hochziel der sittlichen Entscheidung, welches dem wagenden Gewissen allezeit vorschwebt, ist zugleich wirklichkeitsbestimmt und wirklichkeitsüberschreitend.«

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1. Beginnen wir mit dem Zentralbegriff: dem des Gewissens. In den 20er Jahren galt es Hirsch als die Verbindungsstelle nicht nur zwischen Individuum und Gott, sondern auch zwischen den Menschen untereinander. In »Ethos und Evangelium« hat das stärkere Bewußtsein von der Ambivalenz des Ethischen21 zu einer Aufspaltung des Gewissens- und des Ethosbegriffs geführt: Vom konkreten, auch die Ansprüche der jeweiligen geschichtlichen Gemeinschaft verinnerlichenden Gewissen wird ein Grund des gesamten Bewußtseins unterschieden, dem Hirsch die aus der Scholastik entlehnte (vgl. lf) Bezeichnung »Syntheresis« gibt, und dieser Unterscheidung korrespondiert die von »endlichem« und »unendlichem« Ethos.22 Daß dabei die Syntheresis dem Gewissen zugrunde liegt, wird von Hirsch mehrfach betont.23 Aber nicht nur das Gewissen, sondern das gesamte menschliche Bewußtsein hat in

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Vgl. ζ. B. 63 (Ethos ist »gelebter Widerstreit«); 437 (die Abhängigkeit des ethischen Urteils von den Zeitumständen als Manifestation dafür, daß »zwischen der Gemeinschaft und dem Einzelnen latent stets die Gewissenskrise schwelt«). Vgl. die folgende Schlüsselpassage aus Hirschs eigenem »Rückblick« auf das gesamte Werk: »Die Hilfe, die ich [sc. angesichts der Ambivalenz des sittlichen Bewußtseins] gefunden und die um ihrer Ungewohntheit willen schwer verstanden werden wird, ist die Unterscheidung des endlich Guten und des unendlich Guten. Ich habe sie allein rechtfertigen können, indem ich zur Bezeichnung der Unmittelbarkeit jedes Einzelnen zum Ewigen und Unendlichen die alte ausgestorbene Wortbildung >Syntheresis< wieder aufgenommen habe. Das konkrete Gewissen, welches sich im Einzelnen bildet, entsteht erst aus der Begegnung der endlich-ethischen Ansprüche der Gemeinschaft mit dem uns dem unendlich Guten grundsätzlich zuordnenden syntheretischen Bestimmtsein unsrer Innerlichkeit. Danach ist in jedem individuellen Gewissen ein ewiges, die Wahrheit des Ethos gründendes Moment mit einem zufällig endlich-geschichtlichen Moment verbunden. Wie sich nun in jedem Einzelnen aus dieser Begegnung zugleich eine bestimmte Deutung des unendlich Guten und die Beziehung dieser Deutung auf das aus dem Gemeinschaftsumschluß entspringende endlich Gute vollzieht, das ist das Geheimnis, aus welchem alle Antinomien und Widersprüche des ethischen Bewußtseins sich gebären« (437f). An anderer Stelle nennt Hirsch das geschichtlich bedingte Moment »Nomos« und fahrt fort: »So wäre denn das sittliche Bewußtsein ganz allgemein und vorläufig zu beschreiben als das Sichbegegnen von Syntheresis und Nomos in einem menschlichen Leben, das zugleich geschichtlich und ewigkeitsbezogen, zugleich naturbestimmt und geistbestimmt, zugleich kreatürlich und Gottes inne ist« (2). Entsprechend wird das Gewissen definiert: »Der Begriff des Gewissens bezeichnet das Sichdurchdringen von Nomos und Syntheresis in der Innerlichkeit des Einzelnen als den Ursprungsort des Personseins« (22). Vgl. 70 (»Damit verschließen wir uns der mahnenden Stimme der Syntheresis, die in unserm Gewissen ihre Einleibung erfahren hat.«); 75 (»Das wahre Leben eines Menschen aber hegt in dem Verborgenen, daß er die Stimme der Syntheresis in sich trägt und von ihr aus sich ein Gewissen bildet.«); 193 (»Sie [sc. die Schulkinder] sollen in den syntheretischen Grund ihrer Innerlichkeit tauchen, um zu einem eigenen Gewissen zu erwachen.«).

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ihr seinen Grund. 24 Die Verknüpfung von Religion und Sittlichkeit geschieht nun so, daß Hirsch die Stimme der Syntheresis zugleich als unmittelbare Stimme Gottes versteht. 25 In ihrer göttlich-menschlichen Doppelnatur ist die Ambivalenz des menschlichen Lebens begründet. 26 Daher »entspringt« im syntheretischen Grund das »ethische[] Wesen des Menschen« (vgl. 281). Sofern nun die Syntheresis etwas Innerlich-Individuelles ist, wird verständlich, daß »in echten Konflikten [...] stets die Subjektivität der Auslegungskanon sein müssen [wird]« (400). 27 Gegenüber der Rede v o n einem »Weltgewissen« gilt fur Hirsch das »Königsrecht des einzelnen Gewissens«: »Nur solange der Einzelne unmittelbar zu dem Wahren, aus dem ihm das Heilige und Gute quillt, sich verhält, hat er die ihm von Gott unentrinnlich ins Herz gelegte Grundbestimmung seines Wesens in Ehren gehalten« (97). Eine sich an allgemeinen Sätzen orientierende Ethik wird als gesetzlich und dem Evangelium widersprechend abgelehnt. 28 Treue zu sich selbst und dem einmal gefaßten Entschluß ist ein Zeichen von Gottvertrauen (vgl. 427). »Es gehört zum Schicksal des menschlichen Ethos gerade der zu Größerem Berufenen, daß sie keine andern Sterne haben, nach denen sie steuern können, als die in ihrer Brust« (342). 29 »Ziel des Gottesverhältnisses« im Eschaton ist nicht etwa

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Vgl. z. B. 106 (»das innere Aufleuchten der Wahrheit im syntheretischen Grunde des menschlichen Bewußtseins«); 175 (»aus jenem syntheretischen Grunde unserer Seele«), Vgl. 116 (»Gott nimmt uns als Einzelne wichtig, und diesen seinen, durch die Syntheresis in uns eingebrannten, durch das Evangelium zur lebendigen Wirksamkeit entfalteten Willen haben wir zu ehren.«); 190 (»Die Wurzel alles Ethos, die Unmittelbarkeit zum Ewigen, welche dem Einzelnen in dem syntheretischen Grunde seines individuellen Bewußtseins gegeben ist, [...].«); 192 (die »Unmittelbarkeit eines jeden Einzelnen zu Gott« ist »das Palladium jeder ethisch geprägten Menschlichkeit«); 391 (»ein Ethos, welches dem Einzelnen mit der Syntheresis ein unmittelbares Verhältnis zum Unendlichen und Unbedingten gründet«); 402 (»Gottes Willen kennen, wie könnte ein Herz dies anders als vermöge des der Stimme der Syntheresis sich bedienenden Sprechens zu ihm?«). Vgl. 262: »Der syntheretische Grund des Menschenwesens, welcher das Ethos als eine Geistes- und Seelenschwebe zwischen Endlichem und Unendlichem, Irdischem und Ewigem erzeugt, ist eine niemals aufhörende drängende und treibende Unruhe, ein alle Erdenkrusten durchbrechender Springquell höheren Lebens.« Vgl. 396: »Sittlichkeit und Frömmigkeit leben aus der Gewißheit, daß auf ihrem Gebiete Wahrheit und Unwahrheit alle beide im Subjektiven liegen.« Vgl. z. B. 418 (»Aus alledem folgt, wie verhängnisvoll ethische Normen wären, welche die Menschen allesamt nach dem gleichen Modell kneten und gestalten möchten.«); 433 (»Daß das Ethos selber eine solche [sc. objektive] Norm nicht bietet, ist einer der Leitgedanken dieser Briefe gewesen, den es lediglich in seinem richtigen Sinn zu inngrenzen galt.«). Hirschs Ethik enthält an dieser Stelle einen existenzphilosophischen Zug: Es gibt ein »ewige[s] Gerufensein[] zur Selbstheit persönlichen Wesens« (64). »Jeder Einzelne emp-

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»das eintönige Hallelujah eines Chors zur Unterschiedslosigkeit vollendeter Einzelner«, sondern die Vollendung »in einem von einem individuellen Gewissen getragenen individuellen Ethos« (326).30 Dieser subjektive Zug ist nun aber das Spezifíkum allein des »unendlichen Ethos«. Für das »endliche Ethos« ist demgegenüber gerade die Notwendigkeit des Arrangements mit der Umwelt bezeichnend.31 Auch das Handeln in diesem Bereich hat sich am »Spruch unsers Gewissens« auszurichten (420), aber es läßt dem Verstand - für den Hirsch sonst weitgehend nur Verachtung ausspricht32 - sein begrenztes Recht.33 Noch unterhalb des endlichen Ethos steht - als »harte vorethische Grundlage« - die Sphäre des Rechts, so daß sich eine Hierarchie ergibt, die vom Recht über das endliche zum unendli-

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fángt von dem einen Gott des Gerichts und der Gnade die eine und gleiche Bestimmung, wahrhaft das konkrete individuelle Ich zu werden, als das er im Sinn und Rat des Ewigen gedacht ist. Mit Kierkegaards Formel: unser keinem ist etwas andres gesetzt als die vom Geheimnis des ethischen Entweder-Oder umwallte Wahl seiner selbst in seiner bestimmten Daseinsgestalt und Daseinsgeschichte« (331). Hirschs Begeisterung für Kierkegaard hat hier ihre Wurzel. Das Zitat zeigt überdies, daß auch in »Ethos und Evangelium« der Gedanke einer individuellen Bestimmung des einzelnen Menschen mit dem Glauben an Gottes Vorsehung verbunden ist. Vgl. den ganzen Kontext 325f. Vgl. z. B. 320f: »Gewiß ist in jedem Einzelnen mit dem Ja der Syntheresis zum Wahren und Guten die Spannung zwischen den Pflichten und Nöten der Umschlußwirklichkeit einerseits, der ihn zur Person erhebenden inneren Stimme des dem Wahren und Guten gehörenden Geistwesens anderseits schon angelegt. Darauf beruht das am Beispiel des Sokrates geschilderte Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Einzelnem, welches uns unser inneres Leben in die Möglichkeit einer stets aufbrechen könnenden Krise zwischen endlichem und unendlichem Ethos stellt und unser Innenleben dialogisch durchprägt. Mensch sein heißt stets Glied zweier Reiche sein, wenn ein Heiz, ein Sinn wirklich zur Ganzheit, zur Echtheit strebt.« Der letzte Satz zeigt, daß die Gegenüberstellung von endlichem und unendlichem Ethos wiederum mit Hirschs Interpretation der ZweiRegimenten-Lehre verbunden ist. Vgl. z. B. 189 (»der wahnhafte Aberglaube unsers Geschichtsalters an die Allgewalt des reflektierenden Verstandes«); 290 (Gegenüberstellung von »Ethos« und »Dämonie des wissenschaftlichen Verstandes«), Hirsch differenziert in seiner ablehnenden Haltung nicht zwischen Verstand und Vernunft (vgl. 191: die »zur sittlichen Freiheit sich erhebende[] menschliche[] Vernunft mit ihren Verstandeskünsten und Verstandesträumen«). Vgl. 167: »Wir müssen kraft einer Vermählung des unendlichen und des endlichen Ethos eine Durchleuchtung der Antinomien unsers geschichtlichen Daseins versuchen, welche dem begrenzten irdischen Recht des Verstandes als des Geschichtsgestalters und dem ewigen Recht der Freiheit der Kinder Gottes im Geist je das Gebührende gewährt.«

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chen Ethos aufsteigt.34 Der »Angelpunkt«, an dem das Ethos trotz dieser Aufspaltung zur Einheit kommt, ist die einzelne Persönlichkeit.35 2. Die zweite Differenzierung gegenüber der frühen Ethik Hirschs, auf die hier einzugehen ist, betrifft die Frage nach dem Verhältnis von allgemeiner und christlicher Ethik. Hirsch bezeichnet sie als »Schulfrage« (440), widmet ihr aber doch die letzten Seiten seiner Darstellung, nachdem er schon zuvor und nicht zuletzt im Titel des gesamten Werkes - auf sie Bezug genommen hat. Für seine Antwort beansprucht Hirsch, daß sie »weder mit der naiven Gleichsetzung noch mit der naiven Entgegensetzung früherer Zeitalter etwas zu tun hat« (442). Originell erscheint sie dennoch nicht, denn sie mutet wie eine Variante des klassischen Stufenmodells an. Das natürliche sittliche Empfinden des Menschen kann bis dahin kommen, »die Antinomien des Ethos zu erkennen« (30). Diese Erkenntnis impliziert die Suche nach einem Ziel jenseits der Antinomien. Das natürliche Ethos ist daher ein »Weisen auf ein Verborgenes, die Grenzen des Daseins Überschreitendes« (60). »Das Ewige ist für Erdenkreaturen, wie wir Menschen sie sind, eine offene Wunde« (441). Hier greift das Evangelium ein: »Es besitzt eine Antwort auf die offene Frage unsers ethischen Bewußtseins« (ebd.). Dies gilt besonders hinsichtlich eines Aspekts der antinomischen Struktur des natürlichen sittlichen Bewußtseins: des Schuldbewußtseins, das unlöslich mit dem Gewissen verknüpft ist.36 In beiderlei Hinsicht - als letzter Hintergrund des Rätsels des Daseins und als Lösung des Schuldbewußtseins - greift das Evangelium rettend ein. Der »Glaube an den Gott, welcher Jesus am Kreuze sterben ließ, [wird] zum lö-

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Vgl. 225: »So dürfte man Recht und Gericht, in denen die machtvoll wahrende und wehrende Art der endlichen Gemeinschaft sich darstellt, wohl die Erdenwurzel des endlichen Ethos nennen, welches seinerseits in seiner Blütenknospe das Geheimnis des unendlichen Ethos zu tragen hat. Daß unser gesamtes höheres Bewußtsein ohne diese Erdenwurzel des endlichen Ethos weder keimen noch blühen noch Frucht tragen könnte, ist Ausdruck unsers Daseinswiderspruchs, unsers Schwebens zwischen Natur und Geist, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Begreiflichkeit und sinnzersprengender Geheimnistiefe.« Vgl. z. B. 82 (»Wir dürfen es als die Sinntiefe des Ethos bezeichnen, daß es zugleich endliches und unendliches Ethos in einer spannungsreichen paradox bestimmten Einheit ist. Die Persönlichkeit aber erweist sich als der Angelpunkt des Ganzen.«); 86 (»Wir alle sollen in jenem Angelpunkt stehen, welcher endliches und unendliches Ethos als Einheit gelebten personhaften Lebens sich durchdringen läßt.«). Vgl. 149 (»Ein persönliches sich schuldig Geben ist vom Gewissenserlebnis unabtrennlich, wie es auch im einzelnen sich gestalten möge.«); 62; 74. An dieser Stelle knüpft Hirsch an den im Frühwerk betonten Zusammenhang zwischen Ethik und Rechtfertigungslehre an.

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senden und erlösenden Wunder« in der ethischen Krise (146).37 Insofern plädiert Hirsch fur eine christliche »Vertiefimg« des natürlichen Ethos (vgl. 103119), eine Vertiefung, die vom letzteren selbst gefordert ist, so daß bei aller christlichen Ausrichtung - Hirsch gesteht selbst die Verwurzelung seiner Ausführungen im evangelischen Glauben38 - der Anspruch auf »menschliche Allgemeingiltigkeit« (30) nicht preisgegeben wird.39 Vorausgesetzt ist dabei eine weitgehende Übereinstimmung von sich richtig verstehendem natürlichsittlichem und christlichem Bewußtsein. Wird auf diese Weise das Sittliche von Hirsch als immer schon religiös gedeutet, so richtet sich umgekehrt das

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Vgl. 280 (»Niemals wird die menschlich-geschichtliche Gemeinschaft aufhören, von Widersprüchen, Rätseln und Sinnwidrigkeiten umwallt zu sein, und niemals wird die Verzweiflung des zerquälten Herzens [...] eine echte Freiheit, die sich darüber erhebt, gewähren. Nur die aus den Tiefen des Ewigkeitsglaubens geborene Kraft des Gewissens und des Geistes, die unter den Dunkelheiten und Dämonien des menschlichgeschichtlichen Daseins dennoch dem Guten gehören wollen und, wenn es nicht anders gefügt ist, als Lichtlein in der Finsternis scheinen, ist die wahre Überwinderin, die wahre Trägerin der unzerstörbaren Freiheit, die dem Menschen gebührt.«); 433 (»Das Geheimnis des Evangeliums aber, daß es hier beim Versagen aller Kennmarken des Wahren und Guten dennoch im Herzen Ewigkeitsgewißheit gründen kann, ist die Person seines Trägers, die unwidersprechliche Hoheit des am Kreuz Sterbenden, vor welcher alle Stimmen sonst verstummen. Insofern findet das Ethos im Evangelium, d. h. in Jesus von Nazareth, seinen Halt.«). Vgl. 30: »Es wird Ihnen indes nicht zweifelhaft sein, daß die Art, in der ich das Sittliche und das Religiöse aufeinander bezogen habe, die aus dem Glauben an das Evangelium geborene Gestaltung des Gottesverhältnisses zur Seele hat.« Zu weiteren Belegen für den Allgemeinheitsanspruch der Ethik aus Hirschs übrigen Werken vgl. Lobe, 119; 267, sowie Hentschel, 281-283. Lobe sieht hier einen Vorzug der Ethik Hirschs (vgl. a.a.O., 278: »[...] Hirsch versteht es, die Ethik in einer Weise als Gestalt religiöser Reflexion zur Geltung zu bringen, daß sie zugleich ethische Allgemeingültigkeit besitzt.«), zumal sie - und darin liegt in der Tat eine Differenz Hirschs zum klassischen Stufenmodell - auf die christlichen Gedanken weder als inhaltliche noch als motivgebende Überhöhung der allgemein-menschlichen Ethik rekurriere (vgl. a.a.O., 121f). An dieses Urteil Lobes müßte man allerdings die Anfrage stellen, ob sich hinter dem Vorzug nicht ein gravierender Nachteil verbirgt: nämlich der von Lobe selbst kritisierte (s. u.) formale Charakter der Ethik Hirschs. Denn die Behauptung einer Allgemeingültigkeit der christlichen Ethik beruht bei Hirsch auf einer zweifachen Formalisierung: (1) eben auf der Negation spezifisch christlicher Inhalte der Ethik, denn das christliche Ethos »vertieft« das allgemeine ethische Empfinden lediglich, indem es den (jedermann treffenden) Gewissensruf als Ruf Gottes im formalen Sinne des Unbedingten versteht (womit es in die Gefahr gerät, als Legitimationsmuster jedwedes Gewissensinhalts mißbraucht zu werden); (2) auf der Formalisierung dieses Gewissensrufes selbst, denn so allgemein es ist, daß er ergeht, so individuell verschieden ist sein Inhalt (nur so kann Hirsch ja die Allgemeingültigkeit seines strikt individualistischen ethischen Ansatzes behaupten).

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Evangelium als Antwort gerade an den Menschen, dem die Antinomien des Ethos bewußt geworden sind. Das Verhältnis von Ethos und Evangelium ist ein dialektisches.40 Es besteht eine »Wahlverwandtschaft von Ethos und Evangelium« (263), eine »tiefe ethische Gemeinsamkeit zwischen echter Humanität und christlichem Glauben« (442).All diese Überlegungen aus »Ethos und Evangelium« bringen zwar begriffliche Ergänzungen, stehen von den Grundgedanken her jedoch in uneingeschränkter Kontinuität zu Hirschs Frühwerk. Bei aller Gegnerschaft zum Systemgedanken hat Hirsch eine Ethik von beeindruckender Geschlossenheit vorgelegt.41 Die »Treue zu sich selbst«, die er als einen der obersten ethischen Grundsätze benennt, hat Hirsch selbst praktiziert. 5.3. Zusammenfassung und kritische Würdigung Der zentrale Begriff der Ethik Hirschs bleibt der des Gewissens.42 Hirsch hat sein Modell zur Grundlegung der Ethik selbst zusammengefaßt, indem er als »Wurzel alles Ethos« »die Unmittelbarkeit zum Ewigen, welche dem Einzelnen in dem syntheretischen Grunde seines individuellen Bewußtseins gegeben ist«, bestimmt hat (190).43 Die Betonung gilt dem individuellen Moment, und Hirschs Ethik steht und fällt mit der Bestimmung der Subjektivität als »Auslegungskanon« (400) im ethischen Konflikt. Die Güte eines Handelns besteht in seiner Orientierung an der »persönlichen Eigenart« (vgl. 405-419), während eine Ausrichtung an verstandesmäßigen Überlegungen oder an übergreifenden Normen unter das Verdikt des Moralismus fällt. Gerade der AntiRationalismus ist ein auffälliges Element in Hirschs Ethik. Das Ethos kann nicht abgeleitet werden,44 für die christliche Ethik zählen nicht die dogmatischen »Kunstreflexionen« (130), sondern der »Personalismus« des »lauteren reinen Evangeliums« (260) - und dies eben aus dem Grund, daß der »syntheretische Grund« von Persönlichkeit und damit auch Ethos ein »Geheimnis« ist (327), »unbegreiflich« (330) oft schon für den betrachtenden Mitmen-

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Vgl. 442: »Ethos und Evangelium verhalten sich zueinander in dialektischem Zweiklang. Die Bewegung des Herzens geht von dem einen hinüber zum andern. Diese dialektisch bestimmte teleologische Verbindung zwischen Ethos und Evangelium ist nach alledem der letzte und höchste Gedanke meiner Briefe und hat ihnen den Gesamttitel bestimmt.« Der Eindruck verstärkt sich noch angesichts der schwierigen Entstehungsumstände von »Ethos und Evangelium«, von denen das Vorwort berichtet. Vgl. Hentschel, 3: »Zentrum seiner [sc. Hirschs] theologischen Theorie ist ein bestimmter Subjektivitätsbegriff, nämlich der des Gewissens.« Vgl. 384: »der Kern des Ethos, die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott«. Vgl. 412: »Das Ethos als eine Bestimmung des Verhältnisses zum Ewigen ist eben deshalb unbedingt, weil es nicht begründet und abgeleitet werden kann.«

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sehen. Mit all diesem hängt zusammen, daß Hirschs Ethik einen dezisionistischen Zug erhält: »Augenblick«45 und »Entscheidung«46 werden zu Leitbegriffen. Was dann im gegebenen Moment die richtige oder auch nur bessere Entscheidimg ist, bleibt allein dem Individuimi überlassen und seinem - wie Hirsch selbst einräumt - oft durchaus unklaren Gewissen.47 Richtig ist das Handeln, das aus dem »Ja zu gerade dem individuellen Leben und Sterben« hervorgeht, »das einem von Gott als der besondere Weg verhängt wird« (321).48 Dieser besondere Weg kann innerhalb von Hirschs Konzept wiederum nur gefühlt werden - eine argumentative Abwägung ist ausgeschlossen, da die Vernunft in diesem innersten Bereich kein Zugangsrecht hat. Eine präskriptive Ethik, die ja nicht zuletzt den Sinn hat, Hilfe in Entscheidungssituationen zu gewähren, wird von Hirsch ausdrücklich zugunsten einer allein deskriptiven Ethik abgelehnt.49 Als Beispiel für eine richtig gewagte Entscheidung im Namen Gottes führt Hirsch die Verlobung und Entlobung Kierkegaards an, und es ist bezeichnend, daß er herausstellt, Kierkegaard habe hier

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Vgl. z. B. 290: »[A]uf dem Gebiet des dem Religiösen verwandten unendlichen Ethos« dürfen »allein Geist, Liebe und Augenblick« bestimmend sein. Vgl. z. B. 76 (»Oft muß er [sc. der Einzelne] ins Dunkle hinein, wagend und deutend, eine Gewissensentscheidung treffen.«); 400. Vgl. 427: »Neben dem Wagen im Namen Gottes steht, scheinbar entgegengesetzt und doch innerlich gleich, das Dulden und Leiden und Harren im Namen Gottes.« Es gibt also kein inhaltliches, sondern nur ein formales (persönliches Überzeugtsein von dem gewählten Weg) Kriterium für die Richtigkeit von Handlungen. Hier zeigt sich am stärksten der Einfluß Fichtes auf Hirschs Ethik. Vgl. dazu Hentschel, 23f; 68-74, sowie Lobe, passim, ζ. Β. 37; 104 und bes. 156 (»Der formal-instanzliche Formalismus des dezisionistischen Modells entfernt [...] die Normenbegründung von den inhaltlichen Fragen und spitzt alles auf die Hoheit der fur sankrosankt [sie] erklärten Entscheidungsinstanz zu. [...] Der Inhalt der Gewissenserkenntnis wird damit zweitrangig gegenüber dem Sachverhalt seiner Erzeugung am formal richtigen Ort. [...] In Hirschs Konstruktion des Verhältnisses von endlichem und unendlichem Ethos melden sich damit genau dieselben Schwierigkeiten, welche Fichtes Lehre vom Gewissensurteil gegenüber Kants Theorie des kategorischen Imperativs belasten.«). Daß Hirsch gegen Fichte das Gewissen und dessen Entscheidung nicht in sich selbst, sondern in Gott konstituiert sieht (vgl. a.a.O., 98; s. auch das Zitat vom durch Gott verhängten Weg o. im Text), fällt demgegenüber nicht ins Gewicht, ja steigert noch die Probleme, da dadurch die Entscheidung erst recht sakrosankten Charakter erhält. Zur Kritik am Fehlen von inhaltlichen Kriterien für die Gewissensentscheidung bei Hirsch vgl. auch Herms, Umformungskrise, 134-137 (ζ. B. 137: die Entscheidungssituation ist dadurch eine »Situation [...] einer schwindelerregenden Orientierungslosigkeit«). Zur Kritik am Individualismus Hirschs vgl. Hentschel, 316322 (für Hentschel der größte Mangel von Hirschs Ethik). Vgl. 160: »Wissenschaftlich zureichend und menschlich belehrend ist allein eine in die Tiefe gehende deskriptive Ethik, welche zum Werkzeuge einer das Soll ehrenden personhaft geprägten Gewissenserkenntnis zu werden begehrt.«

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»auf eine vom gewöhnlichen Menschlichen abweichende Weise« gehandelt (425).50 Hirsch ist sich der Strittigkeit dieses Urteils bewußt; es ergibt sich jedoch stringent aus dem Ansatz seiner Ethik.51 Kritik an den in dieser Form zugespitzten Aussagen Hirschs zur Ethik muß von zwei Seiten aus erhoben werden. Zunächst noch unter Absehen von der spezifischen Perspektive des christlichen Glaubens, aus der zu schreiben Hirsch beansprucht: Es besteht Anlaß zur Frage, ob man sie überhaupt als ethisch bezeichnen kann. Dieser Anlaß besteht aus zwei Gründen. Der erste hängt damit zusammen, daß es in der Ethik immer auch um eine Theorie fur das gelingende Zusammenleben der Menschen - und seien es noch so große Individuen - geht. Hirsch hat versucht, diesem Desiderat durch die Aufnahme der Thematik von Recht und »endlichem Ethos« gerecht zu werden. Diese Bereiche bleiben jedoch dem »unendlichen Ethos« strikt nachgeordnet, ohne daß die jeder Ethik gestellte Aufgabe, aus dem Kembereich etwaige Folgerungen für die angewandte Ethik rational zu begründen, gelöst würde. Sie kann auch im Rahmen von Hirschs Ansatz nicht gelöst werden, da der Kernbereich das Innere der Einzelpersönlichkeit ist und von Hirsch gerade im Widerspruch zu dem es umgebenden Äußeren von Recht und Sitte, dem »Nomos«, mit seiner Angewiesenheit auf verstandesmäßige Durchdringung definiert wird. Der zweite Grund zum grundsätzlichen Zweifel an Hirschs ethischer Konzeption greift noch früher ein, nämlich auf der Ebene des Individuums selbst. Versteht man Ethik als Reflexion über das gute Handeln, so liegt ihr Sinn - auch wenn sie sich formal auf Deskription beschränkt - nicht zuletzt darin, zukünftiges Entscheiden und Handeln (1) zu leiten und (2) vor sich selbst und anderen begründbar zu machen. Auch diesen entscheidenden Aufgaben wird nun Hirschs Ethik nicht gerecht. Die Treue zu sich selbst, die er fordert, kann je nach Situation in einem passiven Ausharren oder einem tätigen Wagen bestehen. Höchstes Kriterium zur Entscheidungsfindung ist das eigene Gefühl von der persönlichen Bestimmimg. Mag dieser Maßstab noch zur Rechtfertigung vor sich selbst hinreichen, so bleibt seine Leistung sowohl zur Handlungs/e/i««g - erst im Nachhinein, schreibt Hirsch, wurde

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Dieses Zitat zeigt wie manches andere (vgl. etwa die Ausführungen zu Luther, 415-418) und trotz gegenteiliger Beispiele (vgl. 418 zum Mutter-Kind-Verhältnis) Hirschs Abneigung gegen das Gewöhnliche und seine Sympathie für den romantischen Geniegedanken. Eine Gefahr der Orientierung am Begriff der Persönlichkeit ist eben die Übersteigerung bis hin zum PersönlichkeitsAu/f. Vgl. 426: »Wer über dies Urteil den Kopf schüttelt, für den habe ich meine Briefe über Ethos und Evangelium vergeblich geschrieben.«

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Kierkegaard die Richtigkeit seines Handelns bewußt (vgl. 425) - als auch zur Verständigung52 mit anderen" ungenügend. Man könnte auf die eben ausgesprochene Kritik erwidern, daß ihr eine bestimmte Definition von Ethik zugrunde liegt, die Hirsch eben nicht teilt. Tatsächlich ist dies nicht von der Hand zu weisen: Der ethische Individualismus Hirsch setzt seinerseits ein eigentümliches Ethikverständnis und dies wiederum ein spezifisches »Verständnis[] des Menschseins« (434) voraus. Immanent ist Hirschs Ethikkonzeption kohärent und kaum zu kritisieren. Ein Einwand ließe sich jedoch dennoch aus allgemein-formaler Sicht formulieren. Selbst wenn man ein Maximum von möglichen Konzeptionen von Ethik, das auch individualistische und deskriptive Varianten beinhaltet, zugesteht, bleibt doch eine Minimalforderung an jede Ethik bestehen: Eine Ethik ist per definitionem nur denkbar als allgemein nachvollziehbare Reflexion des Handelns. Dies wird auch von Hirsch nicht anders gesehen. Sein Begriff der ethischen »Rechenschaft« fügt sogar noch das über diese Minimalforderung bereits hinausgehende Attribut der Wissenschaftlichkeit hinzu (vgl. 434; s. o. S. 109). Ist jedoch der Bezug der Ethik auf Reflexion und damit Rationalität konstitutiv, so hebt sich eine Ethik, nach der das »ethische[] Moment« des Menschseins gerade im Irrationalen und Nicht-Allgemeinen besteht,54 selbst auf.55 Ein solcher Entwurf ist dann nicht als »Ethik«, sondern etwa - wie Hirsch das selbst tut (vgl. 434), was ihn vom Vorwurf eines eventuellen Selbstwiderspruchs entlastet - als »Mitteilung« eines persönlichen Ethos anzusprechen.56

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Der deutsche Begriff ist sprechend: Kommunikation hat es eben mit Verstehen und Verstand zu tun. Eine Ethik, die wie die Hirschs beim Irrationalen ansetzt, wird damit zwangsläufig unkommunikativ. Hirsch ist freilich optimistischer: Schon aufgrund der Allgemeinheit des »syntheretischen Grundes« postuliert er die Möglichkeit von »gegenseitigem Sichverstehen« (258). Gerade das von Hirsch gewählte Beispiel aus dem Leben Kierkegaards zeigt die geradezu solipsistischen Folgen seiner Ethikgrundlegung: Die Person Regines und die Auswirkungen, die Kierkegaards Handeln auf sie hatte, bleiben bei Hirschs »ethischem« Urteil völlig unberücksichtigt. Vgl. Hirsch, Schicksal, 33. S. o. S. 104. Das entscheidende Problem von Hirschs Konzeption in allgemeiner Hinsicht besteht also, dies sei nochmals hervorgehoben, nicht in ihrem individualistischen und deskriptiven Zug, und auch nicht in der Bindung des Ethos an das Gewissen, sondern in Hirschs Anthropologie, näherhin ihrer anti-rationalen Frontstellung, mit der all diese Momente verknüpft sind - eine Frontstellung, die sich aus den gleichen geistesgeschichtlichen Quellen speist wie Hirschs Hochschätzung des Sittlichen (s. dazu u. S. 121). Zur strikt subjektiven »Rechenschafts«-Methode Hirschs und ihren Chancen und Problemen vgl. Lobe, 158-163, sowie Hentschel, 25.

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Die spezifischen Implikationen von Hirschs Verständnis des Ethischen und des Menschseins werden noch deutlicher, wenn man Hirschs Ethik aus christlicher Perspektive betrachtet. Denn aus dieser Sicht fällt - neben dem Rekurs Hirschs auf den Vorsehungsglauben und seinem innerlichindividuellen OfFenbarungsbegriff57 - vor allem die Annäherung von Religion und Sittlichkeit bzw. Ethos ins Auge, die Hirsch vollzieht. Das »unendliche Ethos« ist notwendig auf Gott bezogen, und beim Stehen zur eigenen Bestimmung im Sinne des »unendlichen Ethos« steht unweigerlich die Heilsfrage als die nach einem gelingenden Leben auf dem Plan. Dies fuhrt direkt auf die theologisch entscheidende kritische Anfrage an eine derartige sittliche Religion: Wird von Hirsch ein Heil via Ethik vertreten und damit der alte Gedanke einer Gerechtigkeit durch Werke erneuert? Augenscheinlich läge Hirsch nichts ferner. Legt man die Unterscheidung von Glaube und Werken zugrunde, so geht sie mitten hindurch durch das, was bei Hirsch Ethos heißt: Die Unterscheidung zwischen unendlichem und endlichem Ethos ist auch die zwischen Glaube und Werken als menschlichen Verhaltensweisen.58 Die Fundamentierung des endlichen Ethos im unendlichen drückt so gesehen nichts anderes aus als die notwendige Verwurzelung des Handelns in zugrundeliegenden Überzeugungen, christlich gesprochen eben: der Werke im Glauben. Ist also die angedeutete Kritik im Sinne eines zu großen Zutrauens Hirschs zur Ethik wiederum eine bloße Definitionsfrage? Bei einer solchen Inschutznahme Hirschs bliebe allerdings unbeantwortet, warum er für die Ebene des Glaubens explizit von einem unendlichen Ethos spricht. Geht man davon aus, daß er bewußt Glaube und Werke unter dem einen Begriff des unendlichen bzw. endlichen - Ethos zusammenfaßt, so zeigt sich beim Verlassen des Augenscheins doch eine bedeutsame Verschiebung gegenüber der paulinisch-reformatorischen Tradition, in deren Kontinuität zu stehen Hirsch beansprucht. Diese Verschiebung ist insbesondere in der im Anschluß an »Deutschlands Schicksal« mit Friedrich Gogarten geführten Debatte deutlich geworden. Gogarten hatte Hirsch u. a. erwidert: »Denn für Luther ist Gott nicht ein ethisches Prinzip. Und es ist nicht richtig, daß, wie Hirsch meint, der Reformation >gerade im Sittlichen die Ewigkeit Gottes an unser Menschenwesen heran-

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Vgl. 127 (»Und Gott ist wiederum doch der Offenbare. Er läßt uns sein wahres Wesen als Liebe innerlich erfahren.«); 321 (»Damit wird das Leben zu einem Reifwerden für die im Tode sich vollendende, einen ganz vor Gott durchsichtig machende Offenbarung Gottes, die gerade einem selbst und keinem andern bestimmt ist.«); 417 (Bei Luthers ganz von seiner eigenen Person geprägten Bibelübersetzung »handelt [es] sich fast um eine zweite Offenbarungsgeschichte«.). Vgl. 132: »die äußeren Werke im Sinne des endlichen Ethos«.

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tritt und ihm zum Gericht wirdGliederung< so fest eingeschlossen, daß man das Einzelne - sei es in der Methodenlehre, sei es in den Konkretionen - nur von der Theorie-Gliederung aus voll verstehen kann. Das Werk, so kann man vielleicht sagen, ist voll durchstrukturiert und daher als Theorie imponierend geschlossen.«

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rialen Ethik wird von Rendtorff nicht zuletzt damit begründet, daß auf diese Weise betont werde, »worin die Äquivalenz der ethischen Fragestellung in material unterschiedlichen Bereichen der Lebensführungspraxis zu entdecken ist« (Π, 11). Ein ähnliches Bemühen steht offensichtlich hinter den verschiedenen Parallelisierungen, die in Rendtorffs »Methodologie« vorgenommen werden. In beiden Fällen werden freilich auch die Grenzen eines solchen Verfahrens deutlich. So beeindruckend die Architektur der »Ethik« Rendtorffs auf den ersten Blick ist,3 so gewaltsam und willkürlich muten bei näherem Hinsehen nicht wenige der scheinbaren »Äquivalenzen« an. Zunächst zwei Beispiele aus den »Konkretionen«: Ist der Abschnitt [2], (2), der unter der Überschrift: »Erneuerung von Verantwortung« bzw. »Weitergabe von Verantwortungsfähigkeit« (Π, 117) steht, der richtige Ort, um (vgl. Π, 127-130) »Umgangsformen« (deren Parallelisierung mit Tugenden wiederum fragwürdig ist) zu behandeln? Ist es angemessen, die »Reflexivität des Lebens« allein von dessen »Widersprüchlichkeit« und Konflikthaftigkeit her zu konkretisieren? Die Fragen verdichten sich hinsichtlich der »Methodologie«. Insbesondere die Verbindung der Dreiteilung der Ethik in Pflichten-, Tugend- und Güterlehre mit Rendtorffs »Grundelementen« vermag wenig zu überzeugen: Geht es in der Pflichtenlehre nicht zumindest auch um das Aufgegebene? Und bezieht sich die Tugendlehre umgekehrt nicht gerade auf das, was schon gegeben ist? So ist es zumindest bei Schleiermacher, auf den die Dreiteilung maßgeblich zurückgeht.4 Was die Verbindung von Güterlehre und (angelsächsischer) Metaethik betrifft, so muß Rendtorff selbst einräumen: »Aller-

Rendtorffs Schüler Reiner Anselm ist in seinem kommentierenden Aufsatz zu Rendtorffs »Ethik« noch weiter gegangen als - zumindest explizit - dieser selbst, indem er die drei »Grundstrukturen« mit den drei Leitbegriffen der ökonomischen Trinitätslehre - Schöpfung, Versöhnung und Erlösung - verbindet (vgl. Anselm, passim). Vgl. z. B. Schleiermacher, Ethik, 16: »Jede zur Vemunftpotenz erhobene Function der menschlichen Natur ist eine Tugend. [...] Das BegrifFensein einer Handlung aus der Totalität eines Lebens, aus der momentanen Beschränkung heraus gehoben ist das, wodurch sie dem Begriff der Pflicht entspricht [...].« Ähnlich - Tugend als Natur-, Pflicht als Differenzbestimmung - sind die Definitionen bei Hegel. Vgl. Hegel, Grundlinien, § 148 (S. 296f: »Als diese substantiellen Bestimmungen sind sie [sc. die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten] für das Individuum, welches sich von ihnen als das Subjektive und in sich Unbestimmte oder als [das] besonders Bestimmte unterscheidet, hiermit im Verhältnisse zu ihnen als zu seinem Substantiellen steht, - Pflichten, für seinen Willen bindend.«); § 150 Anm. (S. 299: »Die Lehre von den Tugenden, insofern sie nicht bloß Pflichtenlehre ist, somit das Besondere, auf Naturbestimmtheit Gegründete des Charakters umfaßt, wird hiermit eine geistige Naturgeschichte sein.«).

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dings ist die Metaethik an inhaltlichen Fragen, wie sie sich mit der Lehre vom >Höchsten Gut< stellen, nicht interessiert« (1,105).5 Doch sollen die Fragen, die sich anläßlich der von Rendtorff zugunsten des von ihm gewählten Aufbaus postulierten Korrespondenzen ergeben, hier nicht weiterverfolgt werden. Im Sinne der generellen Thematik der vorliegenden Untersuchung soll nun vielmehr das Augenmerk darauf gerichtet werden, worauf Rendtorff seine ethische Argumentation gründet. Die Kontinuität zum Ergebnis dieses einleitenden Abschnitts wird sich daran zeigen, daß auch dabei Korrespondenzen eine entscheidende Rolle spielen. Es empfiehlt sich, bei dem von Rendtorff selbst so bezeichneten »Kernstück« seiner »Ethik«, der Darstellung der drei »Grundelemente«, einzusetzen. Denn dessen Aufgabe ist es gerade, im Rahmen der Ethik »darüber Rechenschaft ab[zu]legen, in welchen Voraussetzungen sie sich gründet und in welcher Weise sie diese Voraussetzungen aufiiimmt« (1,62). 6.2. Die Struktur der ethischen Argumentation bei Rendtorff Wie bereits angedeutet, vollzieht Rendtorff die Analyse der »Grundelemente« jeweils in fünf Schritten, wobei zunächst elementare »Beobachtungen« (1,62) wiedergegeben und systematisiert werden, ehe dann der fünfte Schritt eine explizit theologische Deutung vornimmt bzw. die »spezifisch theologischen Argumentationen« (I, 85) zu den einzelnen Elementen benennt. Dieser Aufbau zeigt, daß auch bei Rendtorff der Frage nach dem Verhältnis von phänomenbezogener und theologischer Argumentation entscheidende Bedeutung zukommt. Rendtorffs Antwort ist komplexer, als es die schematische Abfolge in der Gliederung vermuten läßt. Aufschlußreich sind zunächst zwei Passagen, in denen jeweils zu Beginn eines explizit theologischen Abschnitts auf die zuvor erörterten Grundsätze direkt zurückgegriffen wird (1,69; 151). Rendtorff verwendet dort für deren Beziehung zur theologischen Reflexion folgende Worte: »theologische Korrespondenz«, »Entsprechung«, »religiös-theologische Vertiefung«, »verdichtet sich« (I, 69) bzw. »stellt sich im Christentum [...] dar«, »verweist«, »überführt«, »führt auf« (1,151). Schon dieses Vokabular zeigt, daß die Aufgabe der Theologie in Rendtorffs Konzept über die bloße Interpretation von »Beobachtungen« hinausgeht. Es bestehen grundlegende Übereinstimmungen, eben »Korrespondenzen«. Die »in der Besinnung auf die ethische Reflexivität der Lebenswirklichkeit« gewonnenen »Grundelemente« haben in sich bereits »theologischen Sinn« (I, 69). Und umgekehrt hat etwa das Liebesgebot als

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Vgl. als Kritik an den Verknüpfungen in der »Methodenlehre« auch: Ratschow, 80.

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»Proprium der christlichen Ethik« keinen »exklusiven, dogmatischabgrenzenden«, sondern »einen inklusiven, die Grundelemente ihrer Erfahrungen und Forderungen umfassenden Sinn« (I, 85). Diese für Rendtorffs ethischen Ansatz entscheidende Korrespondenzthese ist äußerst voraussetzungs- wie folgenreich. Sie wurzelt in dem Rendtorffs ganzes Lebenswerk durchziehenden Gedanken, das Christentum sei in der Neuzeit ins allgemeine Bewußtsein eingegangen. Schon Rendtorffs Dissertation bereitet diesen Gedanken vor, indem sie Tendenzen zur Abkapselung der Kirchengemeinden von der modernen »Welt« kritisiert und stattdessen für eine Anpassung der Kirche an die veränderte Gesellschaft plädiert. Das »Ausmaß der Verflechtung der Kirche in die neuzeitliche Entwicklung«6 fuhrt zur These: »Die Kirche kann die moderne Gesellschaft nicht lediglich als das Produkt eines Abfalls betrachten und sich von ihr distanzieren [,..].«7 In den Folgejahren hat Rendtorff dann seine Opposition gegen eine »partikulare Kirchlichkeit«8 durch theoretische9 und historische10 Überlegungen ausgebaut zum Postulat eines fundamentalen Zusammenhangs zwischen neuzeitlichem und nachreformatorischem christlichen Bewußtsein.11

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Rendtoff, Soziale Struktur, 133. Vgl. a.a.O., 19: »Verflechtung der Kirche mit der Welt«. A.a.O., 11. Rendtorff, Kirche und Theologie, 215. Vgl. ζ. B. Rendtorff, Offenbarungsproblem, 118: »Preisgabe eines einheitlichen Weltverständnisses«. Vgl. ζ. B. Rendtorff, Kulturprotestantismus, 9: »Die Gegenüberstellung von Kirche und Gesellschaft ist für den Protestantismus nicht charakteristisch. Sie ist [...] ihm als Thema [...] aufgezwungen worden.« Am deutlichsten ist die These ausgesprochen in der Einleitung zur Aufsatzsammlung »Theorie des Christentums«: »Die hier zusammengefaßten Studien wollen erklären, inwiefern sich eine relevante Theorie der Neuzeit aufbaut aus Elementen christlicher Überlieferung, die sich in der neuzeitlichen Welt entfaltet haben: nämlich so, daß sich die Grundstrukturen der neuzeitlichen Freiheitsthematik in der kritischen Selbstbestimmung und Selbstauslegung des Christentums seit der Reformation in originärer Weise ausgearbeitet haben. Statt einer wie immer zu vermittelnden Außenbeziehung von Christentum und Neuzeit zeigt sich bei genauerem Zusehen, in wie hohem, theologisch explizierten Maße sich alle wesentlichen Momente des neuzeitlichen Bewußtseins vorgängig als Selbsterfassung des christlichen Bewußtseins identifizieren lassen. [...] Theorie des Christentums ist die Formulierung von Einsichten, in denen der Zusammenhang durchsichtig wird, der zwischen der Frage der Theologie nach sich selbst und der religiösen, gesellschaftlichen und politischen Verfassung der neuzeitlichen Welt obwaltet« (Rendtorff, Theorie, llf). 20 Jahre später wiederholt Rendtorff die gleiche Programmatik anläßlich einer neuen Kompilation: »Daß die Neuzeit trotz aller Brüche und tiefgreifenden

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In der Grundlegung von Rendtorffs »Ethik« wirkt sich dieses Postulat außer in der bereits geschilderten Korrespondenzthese an drei Stellen aus: (1) im Verständnis der Ethik als »ethischer Theologie«, (2) in der kriteriologischen Funktion der »Wirklichkeit«, (3) in der Bestimmung von Freiheit als entscheidendem Begriff. 1. Schon im Untertitel des Werks fallt auf, daß nicht wie üblich eine »Theologische Ethik«, sondern eine »Ethische Theologie« entfaltet werden soll. Bei dieser Begrifflichkeit geht es Rendtorff nicht um eine bloß originelle Wortumstellung. Sein theologisches Konzept verlangt vielmehr, daß sich eine theologische Disziplin gezielt mit dem Verhältnis von Christentum und moderner Wirklichkeit beschäftigt. Dies ist die Ethik, denn in der neuzeitlichen »Verselbständigung der Ethik gegenüber der Dogmatik« (1,43) spiegelt sich Rendtorff zufolge die Öffnung der Theologie zur Welt. In Rendtorffs Lesart wird so die »Ethik« im Rahmen der Theologie »zum Titel für die Orientierung der Theologie an den Bedingungen der Moderne« (1,43 f). Oder im Sinne einer Definition: Ethische Theologie ist »die der ethischen Lebenswirklichkeit zugewandte Weise, die Grundfragen der Theologie selbständig zu entfalten« (1,44). Wichtig ist dabei nicht nur der Wirklichkeitsbezug, der im Rahmen des neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses auch eine besondere Zuwendung zum menschlichen Subjekt impliziert (vgl. I, 42; 46), sondern die Selbständigkeit, denn wie das vorausgehende Zitat zeigt, wendet sich Rendtorffs Prägung »ethische Theologie« besonders auch gegen eine Unterordnung der Ethik unter die Dogmatik. Gegen einen Anschluß der Ethik an die Dogmatik macht Rendtorff gleich mehrere Gründe geltend, die hier zusammengefaßt seien, da es bei der Verhältnisbestimmung der beiden systematischen Disziplinen immer auch um die Grundlegung der Ethik geht, wie Rendtorff selbst herausstellt (vgl. 1,43). Ein erstes Argument, das man aus den Ausführungen der »Ethik« herauslesen kann, ergibt sich aus dem vorausgesetzten Dogmatikbegriff (bei dem sich Einflüsse Rothes und Troeltschs kaum verleugnen lassen): Die Dogmatik steht für eine rückwärtsgewandte, exklusive und allein mit sich selbst beschäftigte Theologie.12 Die Ethik hat gerade die entgegengesetzte Aufgabe: »offen sein für die Lebenswirklichkeit« (1,48),13 und kann sich daher schon per definitionem nicht an der systematischen Schwester ausrichten. Die zweite Überlegung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Insofern die Dog-

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Wandlungen als eine Epoche der Geschichte des Christentums zu sehen ist, macht den Leitfaden der hier versammelten Studien aus« (Rendtorff, Theologie, 7). Vgl. außer dem bereits Zitierten noch I, 48: »introvertierte[] dogmatische[] Theologie«. Vgl. I, 55: »reflexive[], ethischef] Offenheit«.

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matik für die christliche Lehre bzw. Weltsicht steht (vgl. 1,41), kann sie Ethik nicht begründen, denn beim Ausgang von einer Weltsicht »[nimmt] [d]ie Auseinandersetzung um ethische Fragen [...] Züge des Kampfes um die richtige Weltanschauung an« (I, 41; vgl. I, 110). Stattdessen plädiert Rendtorff für einen Ausgang bei der »Subjektabhängigkeit ethischer Praxis« (1,42). 2. Theologische Reflexion kann nicht geschehen ohne Bezug auf die sie umgebende Wirklichkeit. Besteht eine so enge Verbindung zwischen Theologie und neuzeitlicher Welt, wie sie Rendtorff voraussetzt, dann wird aus dieser Bezogenheit eine gegenseitige Ausrichtung, insbesondere für die »ethische Theologie«, die ja gerade diesen Aspekt der Öffnung für die Wirklichkeit innerhalb des Kanons der theologischen Disziplinen verwaltet. In Rendtorffs Darstellung wird dies mehrfach deutlich. Zum einen: Das neuzeitliche Freiheitsbewußtsein muß sich messen lassen am reformatorischen, und wo es gegenüber diesem Maßstab zurückbleibt, ist Anlaß zur Kritik. Diese Seite des Verhältnisses wird uns unter dem nächsten Punkt beschäftigen. An dieser Stelle soll die andere Hinsicht in ihrer Bedeutung für Rendtorffs ethisches Konzept herausgestellt werden: Die Wirklichkeit wird nicht nur zum Stoff (vgl. 1,108), sondern auch zum Kriterium der »ethischen Theologie«. »[E]in ethisches Urteil oder eine ethische Lebensführung« müssen »als wirklichkeitsgemäß gelten können« (1,107).14 Rendtorff geht es im Kontext darum, daß eine ethische Forderung kein bloßes Ideal sein darf, »wirklichkeitsfremd [...] und deshalb auch nicht praktikabel« (ebd.), ja kontraproduktiv (vgl.

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Der Begriff »wirklichkeitsgemäß« ist von Josef Pieper mit seiner 1931 erschienenen Untersuchung: »Die Wirklichkeit und das Gute« in die theologisch-ethische Debatte eingeführt worden. Vgl. die einleitenden Sätze (J. Pieper, 11): »Alles Sollen gründet im Sein. Die Wirklichkeit ist das Fundament des Ethischen. Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße.« Allerdings hat die als Thomas-Interpretation vorgetragene These Piepers eine gegenüber Rendtorffs »ethischer Theologie« genau entgegengesetzte Stoßrichtung: Pieper geht es gerade um die Verwurzelung der Ethik in einer theoretischen Weltsicht und den Primat des Objektiven vor dem Subjektiven. Vgl. a.a.O., 47 (Es gilt, »in der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft und in dem diese Einheit begründenden Frühersein der theoretischen Vernunft just die ontische, seinsmetaphysische Fundierung der Ethik zu sehen und den Ausgangspunkt fur eine Rückverlegung des Schwerpunktes aus dem Subjekt in das Objekt, in die objektive Wirklichkeit.«); SO (»Der [praktische] Imperativ gründet in einem [theoretischen] Indikativ [...].«). Schon wenn man nur Rendtorff und Pieper betrachtet (man könnte außer Hirsch - s. o. Kap. 5 - noch Dietrich Bonhoeffer hinzufugen: zu seiner wiederum ganz anders gelagerten Gleichsetzimg von »wirklichkeitsgemäßem« und »christusgemäßem« Handeln s.u. 7.1.), wird deutlich, daß die »Wirklichkeitsgemäßheit« ein in der Ethik gem gebrauchtes, aber letztlich fast beliebig interpretierbares Kriterium ist.

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1,170). Stehen mehrere Möglichkeiten zur Wahl, so gebührt der »realitätsgemäßeren« der Vorzug (vgl. I, 137; 175). Wird das »Realitätsprinzip«15 nicht beachtet, kommt es zu einer »gnostisch-dualistischen Umgehung der gegebenen Wirklichkeit« (1,120).16 Dabei denkt Rendtorff zunächst an die konkrete (vgl. 1,49) und empirische (vgl. 1,107; 175) Wirklichkeit. Der Zusammenhang mit seiner Theorie der Neuzeit wird aber deutlich, wenn er auch die geschichtlich gewachsenen Formen der Sittlichkeit, etwa die Institutionen, in die maßgebliche »ethische[] Wirklichkeit« einbezieht (vgl. I, 112). 3. Die bisher behandelten zwei Punkte blieben eher im BegrifflichFormalen. Wo wird der Zusammenhang von Neuzeit und reformatorischem Christentum inhaltlich konkret? Nicht zufällig verweist die oben in einer Anmerkung zitierte These aus »Theorie des Christentums« auf die »Freiheitsthematik«, denn es ist gerade das Freiheitsbewußtsein der Reformation, das Rendtorff zufolge die Neuzeit entscheidend geprägt hat. Diesen Zusammenhang betont er auch in seiner »Ethik«, denn die »folgenreiche Neubewertung des Subjekts« (1,20) und das »Bewußtsein der Eigenverantwortlichkeit des Menschen« (1,42), mit denen die Reformation die Neuzeit maßgeblich beeinflußt hat, wurzeln ihrerseits im reformatorischen Freiheitsbewußtsein (das selbst wiederum das Proprium schon der neutestamentlichen Ethik zur Geltung bringt, vgl. 1,52f). Freiheit ist der »Zentralbegriff[] evangelischer Theologie und so auch der Ethik« (I, 70). Das Spezifikum dieses Freiheitsbegriffs ist in Rendtorffs Sicht das Verständnis von Freiheit als eine allem menschlichen Handeln zuvorkommende Gabe Gottes.17

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Der polemische Unterton wird deutlich, wenn man bedenkt, daß dieser Terminus bei seinem Schöpfer Freud für die gesunde psychische Reife steht. Den Gnosis-Vergleich verwendet Rendtorff auch in: Kann Freiheit eine soziale Tatsache sein?, 26 lf (Gegenüber Tendenzen zur »Vergleichgültigung und Verflüchtigung der Weltwirklichkeit« »hat sich das christliche Wirklichkeitsverständnis zu behaupten gehabt, das Freiheit nur am konkreten Ort der realen Lebenswirklichkeit und in den realen Abhängigkeiten der Welt religiös identifizierte, und gerade nicht im Stande einer prinzipiellen Weltentnommenheit. [...] Die gnostischen und manichäischen Gefährdungen des Christentums sind insofern das religionsgeschichtliche Übungsfeld gewesen, auf dem sich der Kampf gegen den Wirklichkeitsverlust des Glaubens vollzogen hat.«). In der »Ethik« schreibt Rendtorff auch den neutestamentlichen Christen eine inklusive Wirklichkeitssicht im Gegensatz zu derartigen Tendenzen zu: Sie hätten sich nicht von der Gesellschaft abgegrenzt und keine »exklusive[] Lebensweise« geführt (I, 52). »Jedenfalls« - so fahrt Rendtorff fort, offenbar im Blick auf die vielen anderslautenden Stellen des Neuen Testaments - »ist dies nie die vorherrschende Tendenz« (ebd.). Vgl. Rendtorff, Menschenrechte, 47-49, bes. 47: »Die christliche Freiheit ist empfangene Freiheit, nicht natürliche Freiheit. Sie ist von Gott gegeben und im Glauben empfangen. Das christliche Selbst findet sich insofern begründet in der sozialen Relation zu Gott;

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Diese geschenkte Freiheit impliziert eine Änderung sowohl im Verhältnis des Menschen zu sich selbst - »[s]ie stellt den Menschen frei von dem Zwang zur Selbstverwirklichung« (I, 86) - als auch »im Verhältnis der Menschen untereinander wie im Verhältnis zur Umwelt« (I, 71): nämlich als »Selbstbegrenzung« bzw. »Grenze einer Verfiigung des Menschen über den Menschen« (ebd.). Weiterhin bedeutet sie Eigenverantwortlichkeit, insofern sie den Menschen von der Knechtschaft unter dem Gesetz befreit.18 Beides, Eigenverantwortlichkeit und - entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil Selbstbegrenzung, fordert nach Rendtorff auch der neuzeitliche Autonomiegedanke (vgl. 1,142-145), und gerade hierin erweist sich dessen starke Beeinflussung durch den Geist der Reformation. »Autonomie hat nicht die Bedeutimg von Voraussetzungslosigkeit« (I, 46). Ist allerdings die Begründung der menschlichen Autonomie im zuvorkommenden Handeln Gottes nicht bewußt, droht der Autonomiegedanke in eine »Theorie der Selbstkonstitution des Menschen durch Handeln« (I, 87) umzuschlagen mit zwei gegensätzlichen, aber gleich fatalen Folgen: Verzweiflung angesichts der unvermeidlichen Differenz zwischen Wollen und Vollbringen (vgl. I, 26f) oder Unterordnung aller Zwecke unter die eigene Selbstverwirklichung (vgl. I, 87). Wegen dieser letztlich »lebensfeindliche[n]« (1,27) Gefahren ist es die bleibende Aufgabe der christlichen Ethik, über ihren entscheidenden Gedanken, daß die »Konstitution des Subjekts [...] vormoralischen Charakter [hat]« (ebd.), aufzuklären (vgl. auch I, 87) und die ethischen Wirklichkeiten, denen sie begegnet, an ihm zu messen. Die Kritik an einer selbstherrlichen Deutung von Autonomie durchzieht daher ebenso den ersten Band von Rendtorffs »Ethik«19 wie die am Ideal von Selbstverwirklichung den zweiten.20Es gilt nun, die bisher gewonnenen Ergebnisse bezüglich Rendtorffs »Ethik« zusammenzufassen und auf die hier im Vordergrund stehende Grundlegungsfrage zuzuspitzen. Es ergibt sich das Bild einer doppelt grundgelegten Ethik. Einerseits ist die ethische Theologie die Disziplin der Theo-

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diese Relation hängt völlig ab von dem Vertrauen auf Gottes >gratia praeveniensfremde< Gerechtigkeit, justitia aliena.« Vgl. I, 19: »Die Freiheit soll sich darin bewähren, daß der Christ aus eigenem Entschluß, sua sponte, dem Willen Gottes folgt, nicht erst vermittels der Gesetzesforderung.« Vgl. I, 26; 46; 142-145. Vgl. Π, 19; 49; 59; 63; 78; 100; 186; 197. Vgl. die Zusammenstellung von Zitaten bei Pannenberg, Grundlagen, 116.

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logie, die den Anspruch der natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit zur Geltung zu bringen hat. Eine »Analyse des ethischen Bewußtseins« (I, 39) und der »Grundelemente der ethischen Lebenswirklichkeit« (1,62) ist daher ihre primäre Quelle, und das Wahren des Wirklichkeitsbezugs fungiert als ein entscheidendes Kriterium für das ethische Urteil. Andererseits ist die ethische Theologie eben Theologie, und als solche hat sie »sehr entschieden ihren eigenen Zugang zur Begründung der Ethik zu vertreten« (1,27) und eine kritische Funktion gegenüber Elementen der Wirklichkeit, die der theologischen Wirklichkeitssicht widersprechen, wahrzunehmen. Für Rendtorff bedeutet diese doppelte Grundlegung keinen Widerspruch, weil einerseits die Bewußtseinsanalyse eine theologische Vertiefung nahelegt und andererseits die neuzeitliche Wirklichkeit in ihrer Bestform, dem Gedanken einer sich vorgängig konstituiert wissenden Autonomie, genau dem Proprium der theologischen Ethik entspricht, ja von diesem tief beeinflußt ist. 6.3. Kritische Würdigung All dies bringt mit sich: Rendtorffs Konzept zur Grundlegung der Ethik steht und fällt mit der oben beschriebenen Korrespondenzthese. Eine kritische Würdigung muß daher vor allem deren Berechtigung untersuchen. Und hier ergeben sich von beiden Seiten, (1) dem allgemeinen ethischen Bewußtsein wie (2) der Theologie, gewichtige Anfragen. 1. »Die Ethik als Theorie der menschlichen Lebensführung muß sich in ihrem Ausgang und an jedem Punkte ihrer Entfaltung neu der empirischen, erfahrungsmäßigen Fundamente vergewissern, aus denen sich die ethische Reflexivität speist« (I, 63). Dieser programmatische Satz steht am Beginn von Rendtorffs Analyse der drei »Grundelemente«. Zusammen mit Begriffen wie »Beobachtungen« (1,62), »Sachverhalt« (I, 65; 87) und »Tatbestand« (I, 76) zeigt er, daß die ersten Schritte dieser Analyse vor-theologisch verstanden werden wollen, ganz im Geiste der Forderung, Theologie solle »kommunikativ sein, ohne sich auf Geltungsgründe jenseits allgemein zugänglicher Plausibilität zu berufen« (II, 94). Ist aber Rendtorffs Argumentation, wie sie hinsichtlich der »Grundelemente« jeweils vor dem explizit theologischen Abschnitt entwickelt wird, tatsächlich in dieser Weise allgemein plausibel und empirisch fundamentiert? Sind z. B. die »Appellstruktur des empfangenen Lebens selbst« (I, 65) oder die »Forderung, ein Leben für andere zu führen« (I, 76) in diesem Sinne empirisch eindeutige Fakten? Wohl kaum. Vielmehr ist schon hier - vor dem expliziten Übergang - theologische Wirklichkeits-

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deutung im Spiel.21 Rendtorff gibt denn auch selbst Hinweise, daß die Analyse von Anfang an am Schöpfungsgedanken orientiert ist (vgl. I, 65) und der fünfte, unter der Überschrift: »Der Mensch als Geschöpf Gottes« stehende Abschnitt nurmehr »ausdrücklich« von der »theologischen Dimension der Grundstruktur der Ethik« spricht (I, 68). Ist dies aber der Fall, so wird der ganze Impetus, mit dem Rendtorff eine empirische, allgemein zugängliche Fundamentierung fordert,22 hinfällig. Die behauptete Korrespondenz von Theologie und Wirklichkeit nimmt die bescheidenere Form an, daß explizit und implizit theologisch gedeutete Wirklichkeit einander entsprechen. Wenn man das allgemeine ethische Bewußtsein verläßt und den historisch greifbaren neuzeitlichen Autonomiegedanken betrachtet, dem in Rendtorffs Programm als Vertreter der empirischen Wirklichkeit die Funktion eines Verifikators der allgemeinen Theorie zukommt, so ergeben sich die gleichen Folgerungen. Daß die Kritik am Autonomiegedanken mit dem Vorwurf, »daß der einzelne Mensch sich auf beliebige, ihm jeweils gefallige Weise nur selbst Gesetz sei und nur selbsterwählten Zielen folge, unabhängig von einem allgemeinen ethischen Verpflichtungsgehalt«, »abwegig[]« (I, 26) und etwaige tatsächlich begegnende Auslegungen von Autonomie in diesem Sinne »Verfallsformen« (1,143) seien, setzt bereits eine theologische Deutung des Autonomiebegriffs voraus. Und wenn Rendtorff für sein Einbeziehen der vorgängigen Konstitution des Subjekts in den Autonomiegedanken auf Kant verweist, so ist darauf hinzuweisen, daß dies zwar einen Strang der KantInterpretation aufgreift,23 Kant aber auch durchaus anders gelesen werden kann.24

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Vgl. Pannenberg, Grundlagen, 82-85. Vgl. auch I, 67f: »Pannenbergs These, daß Handlungstheorien abhängig seien von vorgängigen Sinndeutungen, ist ihrerseits vor dem Vorwurf einer bloßen Behauptung nur dann geschützt, wenn diese These an der Struktur des Handelns selbst als notwendig [!] erwiesen werden kann.« Dieser Satz suggeriert, die »Struktur des Handelns« sei von einer neutralen Perspektive aus im Sinne eines allgemein evidenten Faktums zugänglich und als Fundament eines Beweisschlusses verwertbar. Zur Kritik an dieser erkenntnistheoretischen Position s. u., vor allem Kap. 12. Einschlägig ist hier insbesondere Heideggers Schrift »Kant und das Problem der Metaphysik« von 1929, die sich vor allem gegen die am Gedanken einer erzeugendproduktiven Vernunft orientierte Kant-Deutung des Marburger Neukantianismus richtete. Vgl. folgende Zitate: »Der Quellgrund für die Grundlegung der Metaphysik ist die menschliche reine Vernunft, so zwar, daß für den Kern dieser Grundlegungsproblematik gerade die Menschlichkeit der Vernunft, d. h. ihre Endlichkeit wesentlich wird« (Heidegger, Kant, 21). »Zunächst können wir negativ sagen: die endliche Erkenntnis ist nichtschöpferische Anschauung« (a.a.O., 25). »>Erfahrungschöpferische< Handeln des Menschen - ist geworfener, d. h. durch die ihrer selbst nicht mächtige Angewiesenheit des Daseins auf das schon Seiende im ganzen bestimmt« (a.a.O., 235). Heidegger hat im Nachheinein eingeräumt, daß diese Deutung am historischen Kant vorbeigeht (vgl. a.a.O., XTVf). Sie weist zurück auf den späten Natorp (»Philosophische Systematik«: Ausgang beim »Es gibt«), und über Joachim Ritter besteht eine Verbindung zu Hermann Lübbe, den Rendtorff als Gewährsmann seiner Kant-Interpretation nennt (vgl. I, 143). So weist Oswald Bayer gerade auf die tiefgreifenden Differenzen zwischen Kantschem und christlichem Freiheitsverständnis hin (vgl. Bayer, Gesetz). Auch Wolfhart Pannenberg macht auf Unterschiede zwischen Kants vernunfitrechtlich begründetem Freiheitsbegriff und der libertas Christiana aufmerksam (vgl. Pannenberg, Christliche Wurzeln, 68-70; 73f). Zudem ist nach Pannenberg nicht die Kantsche, sondern eine »Idee der Freiheit als im Prinzip unbeschränkte Selbstverfugung«, die der christlichen gerade »entgegengesetzt« sei, die in der Neuzeit dominierende (a.a.O., 73). S.o.Anm.22. S. ebd.

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ein Geschöpf und seine Freiheit ein Geschenk ist. Auch wenn man - schon dies ist diskussionswürdig - zugesteht, daß die Perspektive auf die christlichen Inhalte allein von der Freiheitsthematik her innerhalb einer Ethik sachgemäß ist, fuhrt diese Aufgabenbestimmung fast zwangsläufig zu Umdeutungen und Verkürzungen. Zwar wird das Reich Gottes von Rendtorff als »theologisches Ziel christlicher Ethik« ausdrücklich gewürdigt (1,176-181),27 und zwar gerade in seiner positiven Funktion für die Gestaltung des menschlichen Lebens,28 doch wird dieser Zielbegriff in den ethischen Konkretionen fast ausschließlich als kritisch-orientierender geltend gemacht. Das ja durchaus berechtigte Bedürfiiis Rendtorffs, sich von ethischen Weltverbesserungsprogrammen abzugrenzen, in denen letztlich Selbstherrlichkeit herrscht, fuhrt ihn zu der generellen These, daß »zwischen der Zielvorstellung der Ethik und ihrer Aufgabe hinsichtlich der empirischen Lebensführung unterschieden werden muß« (I, 176).29 Eben hier liege das Proprium der Theologie: »Diese Unterscheidung offenzuhalten und in ihrer Bedeutung inhaltlich zu bestimmen, ist Thema der Theologie« (ebd.). Zu den kritischen Aussagen gegenüber einer selbstherrlichen Deutung des Autonomiegedankens, auf die bereits hingewiesen wurde und die auf ihre Weise den Gedanken einer Ethik als Unterscheidungslehre geltend machen, kommen daher verwandte Aussagen auf theologischem Gebiet. Schon die Definition der Religion als grundlegender »Praxis der Gottesbeziehung« (II, 37) ist von diesem Gedanken geprägt: »Religion ist die Institution der Unterscheidung von Gott und Mensch in der Wirklichkeit des Lebens« (II, 39).30 Ethisch-theologische Kritik setzt genau da an, wo diese Unterscheidung nicht gewahrt wird. Am deutlichsten wird Rendtorff in dieser Richtung gegenüber technikkritischen Appellen unter Berufung auf das biblische Gebot der Bewahrung der Schöpfung.31 Im Bereich der Ethik des Politischen beruft

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Es verwundert in Anbetracht seines eigenen theologischen Ansatzes nicht, wenn Wolfhart Pamienberg diesen Abschnitt bei seiner Würdigung von Rendtorffs Ethik besonders herausstellt (vgl. Pannenberg, Grundlagen, 69-72; 84f). Vgl. den Schlußabschnitt Π, 243-246. Vgl. hierzu insbesondere: Rendtorff, Religion als Thema. Vgl. II, 37: »Mit der elementaren Verbindlichkeit zur Religion wird die Unterscheidbarkeit menschlicher Praxis von der vorgegebenen Gemeinschaft des Lebens mit Gott konkret.« »Damit [sc. mit der diesem Appell inhärenten Betonung der Rolle des Menschen] würde dem Menschen die Fähigkeit zugesprochen, in direkter Konkurrenz zu Gott tätig zu werden und folglich über einen Willen und eine Fähigkeit zu verfugen, die Gott zumindest ebenbürtig und im gegebenen Fall sogar überlegen sind. Das wäre nach Kriterien christlicher Theologie der Fall einer fundamentalen Irrlehre und in der öffentlichen Wirkung eine theologisch illegitime Desorientierung« (1,127). Vgl. Rendtorff, Bewahrung, pas-

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sich Rendtorff bei seiner Kritik - hier vorgetragen »gegenüber dem Anspruch politischer Weltbemächtigung« (Π, 77) - auf das »wichtigstef] Stückf] protestantisch-lutherischer politischer Theologie« (II, 76), die ZweiRegimenten-Lehre. Auch in diesem Zusammenhang wird die Einseitigkeit von Rendtorffs Umgang mit der theologischen Tradition deutlich. Die ZweiRegimenten-Lehre wird von ihm ausschließlich als Beitrag zur »Kunst des Unterscheidens« gewürdigt.32 Dies ist innerhalb seines ethischen Konzepts konsequent, bedeutet aber gegenüber Luther eine entscheidende Verkürzung. Rendtorff kann sich zwar für seine Interpretation auf den zweiten Teil der Obrigkeitsschrift berufen und darauf, daß Luther diesen in der Tat als »Hauptstück« seines Traktats bezeichnet,33 doch darf über diesem die Grenzen der obrigkeitlichen Macht bestimmenden Teil der erste, der die göttliche Einsetzung der Obrigkeit herausstellt, nicht vergessen werden. Wie weit Luther die gestaltende Aufgabe der politischen Autoritäten auch auf den geistlichen Bereich ausdehnte, erhellt ζ. B. aus der Adelsschrift von 1520.34 Sie wird zu Beginn der Erörterungen der Obrigkeitsschrift ausdrücklich als positives Gegenstück genannt.35 Ein weiteres Beispiel für Rendtorffs konsequente Einseitigkeit aus dem Bereich der Ethik des Politischen ist seine Behandlung der Menschenrechte, die er entgegen ihrer Tradition36 fast ausschließlich als Abwehrrechte gegenüber dem Staat versteht: »Sie bestimmen die Grenzen staatlicher Verfügungsgewalt über den Menschen« (Π, 136). Hinsichtlich der Grundrechte bedeutet dies, daß ihre protektive Funktion gegenüber der produktiven, auf die Sozialstaatsaufgaben bezogenen Funktion hervortritt (vgl. II, 140). Auch hier besteht ein Zusammenhang mit der Weise, in der Rendtorff die theologische Überlieferung primär als Unterscheidungslehre in seine ethische Argumentation einbringt. Nachdem er nämlich eingeräumt hat, daß die Menschenrechts-

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sim. Wie weit sich Rendtorff hier von der theologischen Tradition entfernt, wird daran deutlich, daß er das Mandat von Gen 2,15 schlicht übergeht und den Bewahrungsauftrag allein Gott zuschreibt. Ohne der Auslegung dieses Mandats in der von Rendtorff kritisierten theologischen Richtung vorbehaltlos zuzustimmen: Nicht der Versuch, den in der Bibel überlieferten Geboten zu folgen, sondern erst die Verabsolutierung der eigenen Position und das Verteilen von Ketzerhüten an Andersdenkende ist - hüben wie drüben theologisch fragwürdig. Vgl. den vollständigen Titel von Rendtorff, Zweireichelehre. Luther, Oberkeit, 261,27. Vgl. Luther, Adel. Vgl. Luther, Oberkeit, 246,17f. Für weitere kritische Anmerkungen zu Rendtorffs Luther-Interpretation vgl. Wendebourg. Vgl. ζ. B. Huber/Tödt, 80-96: Neben Freiheit auch Gleichheit und Teilhabe als interdependente Bestandteile der »Grundfigur des Menschenrechtes« (80).

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tradition durch Kirche und Theologie ehemals eher abgelehnt wurde, verweist er auf einen immerhin mittelbaren Einfluß der Reformation - just als Hintergrund der Grenzziehung gegenüber dem Staat: »Die Menschenrechte setzten [sie] ein Menschenbild voraus, für das die Autonomie der Person als Geschöpf Gottes, nicht des Staates konstitutiv ist« (Π, 137). Mit diesem Zitat ist der Übergang zum neben der Freiheitsthematik zweiten Bestandteil der christlichen Lehre hergestellt, der in Rendtorffs Ethik unverhältnismäßig große Bedeutung erhält: dem Schöpfungsgedanken. Sein Stellenwert innerhalb von Rendtorffs Ansatz ist bereits mehrfach betont worden37 und erklärt sich ebenfalls aus der kritischen Aufgabe, die die christliche Theologie in Rendtorffs Konzept gegenüber einem sich entgrenzenden neuzeitlichen Bewußtsein wahrzunehmen hat: Es wurde ja oben bereits ausgeführt, daß sie »Zerrformen« des Autonomiegedankens mit der Erinnerung an die vorgängige Konstituiertheit des ethischen Subjekts und seiner Freiheit entgegentritt. Den Bezug auf den Schöpfimgsgedanken kann Rendtorff geradezu als »Besonderheit einer theologischen Ethik« bezeichnen (1,111). Auch hier beansprucht er Kontinuität zur reformatorischen Lehre (insbesondere Luthers), und auch hier besteht Anlaß, diesen Anspruch in Frage zu stellen. Während bei Luther die »Freiheit eines Christenmenschen« erst aus dem kontingenten Geschehen von Vergebung der Sünden und Rechtfertigung entspringt, stellt Rendtorff eine Verbindung schon von Geschöpflichkeit und Freiheit her.38 Bei Rendtorff entsteht das Bild eines kontinuierlichen Ablaufs von Schöpfung bis Eschaton, während bei Luther die biblische Vorstellung einer kontingenten Heilsgeschichte mit den Peripetien Urständ - Sündenfall Christusgeschehen - Geistausgießung - individuelle Zueignung des Christusgeschehens in Wort und Sakrament - Parusie Christi zugrunde liegt. Ein allgemeines »menschliche[s] Wissen um das Gute« (1,98), ein Verständnis von Schuld und Sünde als bloße »Differenz von >Wollen< und >Vollbringen«< (I, 26) oder Verfehlen der Selbstbestimmung durch die Selbsttätigkeit (vgl. I, 72), ein Impliziertsein der Sündenvergebung bereits »in der Schuldanerkenntnis« (I, 83), eine Polemik gegen eine Eschatologie, die »Zukunft als die Negation der bestehenden Welt« (I, 98) versteht, weil dies die »Erwartung einer Zukunft, bei deren Ankunft dem Menschen keine sinnvoll beschreibbare Aufgabe mehr zukäme« (ebd.), wäre - all dies entspricht eher einem auf-

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Vgl. D. Lange, Ethik, 92 (»In diesem Sinn kann man Rendtorffs Konzept als schöpfimgstheologische Ethik bezeichnen [...].«); Ratschow, 65 (»Aber leitend ist in diesem ganzen Erörterungsgang: der Mensch als Geschöpf oder als Mensch Gottes!«). Vgl. ζ. Β. I, 72: »Im Verhältnis zu diesen Grundstrukturen der Geschöpflichkeit läßt sich Freiheit dann als Selbsttätigkeit (und also nicht als Selbstkonstitution!) bestimmen.«

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klärerischen Optimismus als dem Geist Luthers.39 Man denke nur an das Luthersche Sündenbewußtsein im Sinne einer existentiellen Infragestellung, die nur von außen durch den konkreten Zuspruch des vergebenden Wortes Gottes gelöst werden kann. Luthers Theologie liegt ein anderes Wirklichkeitsverständnis zugrunde als es hinter Rendtorffs Ausführungen sichtbar wird. Rendtorffs Anspruch, mit seinen Ausführungen zum Zusammenhang von Geschöpflichkeit und Freiheit in bruchloser Kontinuität zur reformatorischen Lehre zu stehen, erscheint kaum haltbar. Die Erinnerung an die Geschöpflichkeit des Menschen ist zwar zweifellos ein wichtiger Beitrag, den die christliche Theologie im gegenwärtigen ethischen Diskurs leisten kann, doch im Sinne Luthers müßte sie ergänzt werden um die Erinnerung an die Zerstörung der geschöpflichen Natur des Menschen durch die Sünde und an das deren Wirkungen aufhebende Heilshandeln Gottes. Rendtorff mag die »allgemein zugängliche[] Plausibilität« (II, 94) auf seiner Seite haben,40 doch geht sie, auch was die Geschöpflichkeit des Menschen betrifft, mit einer erheblichen Umdeutung des reformatorischen Erbes einherZusammenfassend ergibt sich folgendes Urteil über die Grundlegung von Rendtorffs Ethik. Der Anspruch einer doppelten Grundlegung - auf die einander korrespondierenden Pfeiler allgemein-neuzeitliches und christlichreformatorisches Bewußtsein - wird nicht eingelöst, kann nicht eingelöst werden, weil diese Korrespondenz an entscheidenden Punkten gar nicht besteht. Umdeutungen auf beiden Seiten sind erforderlich, bis eine eigentümliche Sicht von Wirklichkeit entsteht, die wie Maßstab auch Grund des ethischen Urteils ist. Rendtorffs Ethik basiert selbst - auch wenn er dies hinsicht-

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Der gleiche Dissens spiegelt sich in der von Ernst-Wilhelm Wendebourg (vgl. ders., 203209) belegten Differenz zwischen Luther und Rendtorff hinsichtlich der ordinatio Dei als Grundlegung des menschlichen Zusammenlebens im Staat. Nicht einmal das ist zu Zeiten der Postmoderne sicher, denn einer der Punkte, in denen diese sich von der aufklärerischen Neuzeit unterscheidet, ist das Bewußtsein von der Zerrissen- und Zerbrechlichkeit unserer Welt. An anderer Stelle (s. o. S. 134) wurde auf die gleichsam seelsorgerliche Aufgabe, die die Theologie in Rendtorffs Augen hat, hingewiesen: Sie kritisiert »lebensfeindliche Züge« (I, 27) des neuzeitlichen Bewußtseins. Im Umkehrschluß ließe sich sagen - und darin ist Rendtorff Recht zu geben - : Theologische Reflexion dient dem Leben, trägt zum Gelingen des Lebens bei (vgl. II, 243-246). Ist dies aber der Fall, wenn wie bei Rendtorff Schuld und Sünde zwar benannt, aber letztlich verharmlost werden, wenn Gott abstrakt zum »Subjekt aller Wirklichkeit« (I, 74) wird? Der trocken-theoretische und nicht existentielle Charakter, den Carl Heinz Ratschow den Ausführungen Rendtorffs attestiert hat (vgl. Ratschow, 80f: »Rendtorff löst sie [sc. die ethische Aufgabe] entschlossen als reine Theorie, das heißt als Formalstruktur, die weit jenseits von der lebendigen Fülle des Lebens steht [...].«), liegt eben nicht nur in deren Diktion begründet.

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lieh eines Anschlusses der Ethik an die Dogmatik ausdrücklich ablehnt - auf einer spezifischen, nämlich aufklärerisch-christlichen Weltsicht. Dabei hat der neuzeitliche Geist die Führung, doch sind Urteile, daß christliche Aussagen bei Rendtorff hauptsächlich funktionalisiert, also der Neuzeitdeutung angepaßt würden,41 angesichts der christlichen Umdeutungen, die jener Geist in Rendtorffs Konzept erfahrt, zweifellos überzogen. Rendtorff spricht bewußt von Korrespondenz und nicht von Identität.42 Neuzeit und protestantisches Christentum sollen gleichberechtigt aufeinander bezogen werden. Dies gelingt jedoch nicht reibungslos. Im Bilde gesprochen: Rendtorff muß beide Pfeiler, auf die er sich stützen will, zu diesem Zwecke verbiegen. Damit ergibt sich das gleiche Urteil, wie es im ersten Kapitel zu Wilhelm Herrmanns Ethik abgegeben wurde. Man fühlt sich versucht, den von Rendtorff so oft zitierten Ernst Troeltsch zu bemühen und den Vorwurf, den er im Vorwort der »Soziallehren« der Ritschl-Schule macht, zu wiederholen: Im Blick auf Moderne und christliche Überlieferung wurden »Angleichungen vollzogen [...], die der Sachlage nicht entsprachen und die den wirklichen Gegensatz nicht voll zur Geltung kommen ließen«43. 6.4. Rendtorffs Aussagen zum Naturrecht Zum Naturrechtsgedanken hat sich Rendtorff nicht ausfuhrlicher geäußert. Aus den verstreuten Aussagen läßt sich erschließen, daß er der Naturrechtslehre durchaus positiv gegenübersteht, auch sie allerdings in einem spezifisch neuzeitlichen Verständnis: Nicht bestimmte inhaltlich-fixierte Normen sind aus der Natur abzuleiten, sondern der Appell an die Natur des Menschen besagt funktional die Zuständigkeit der personal-autonomen Vernunft.44 Rendtorff nähert sich damit dem Naturrechtsverständnis deqenigen Richtung römisch-katholischer Moraltheologie, die üblicherweise mit dem Stichwort »autonome Moral« verbunden wird - mit dem Unterschied allerdings, daß er

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Vgl. Frey/Dabrock/Knauf, 125. Vgl. Rendtorff, Menschenrechte, 55f: »Wir haben von der Korrespondenz gesprochen, die zwischen dem christlichen Verständnis individueller Freiheit einerseits und der Bedeutung von Menschenrechten als Bürgerrechten andererseits besteht. Diese Korrespondenz fuhrt nicht zu deren Identität.« Vgl. auch II, 137. Troeltsch, Soziallehren, VII. S. auch die Zitate o. Kap. 1 Anm. 30. Vgl. I, 45 (Hinweis auf die »Neubestimmung des Naturrechts als personales Vemunftsrecht« im jüngsten Katholizismus, die dann I, 65f, als spezifisch neuzeitlich gekennzeichnet wird); I, 125f (keine naturrechtliche »Wesenserkenntnis der sittlichen Ordnimg für den Menschen«, aber »Anerkennung eines funktionalen Naturrechts«); I, 141 (Ablehnung des klassisch-naturrechtlichen, inhaltlich fixierten zugunsten des modernen, funktionalen Gerechtigkeitsbegriffs).

Trutz Rendtorff

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der »rationale[n] Erkenntnisordnung« (I, 125) des Naturrechts »die durch Christus vermittelte Offenbarungserkenntnis« (I, 125f) unbedingt überordnen will. Ist also der naturrechtliche Rekurs auf die menschliche Vernunftnatur in Rendtorffs Konzept bloßes Hilfsmittel zur theologisch-ethischen Urteilsbildung, die primär aus anderen Quellen schöpft? Das wird man kaum sagen können, denn die eben zitierte Gegenüberstellung von rationaler und auf Offenbarung bezogener Erkenntnis entspricht der oben breit diskutierten von empirischer Wirklichkeit und Theologie als normierender Instanzen der Ethik. Auch dort sollte die Theologie ja »sehr entschieden ihren eigenen Zugang zur Begründung der Ethik [...] vertreten« (1,27), doch zeigte die obige Analyse, daß dieser Führungsanspruch der Theologie von Rendtorff nicht überzeugend eingelöst wird. Hier wie dort kommt es in Rendtorffs Sicht zu einer Angleichung der beiden Pole, indem die menschliche Vernunftnatur christlich und die Offenbarungserkenntnis vernünftig verstanden werden. Dem Naturrecht kommt in Rendtorffs Programm einer christlichen Neuzeit bzw. eines neuzeitlichen Christentums also durchaus Bedeutung zu, nur wird es anders verstanden als in der Tradition und auch noch im jüngsten Katholizismus: als funktionales Einbeziehen der christlich-neuzeitlichen Vernunft in die die Ethik bestimmende Wirklichkeitssicht.

7. Weitere Modellbeispiele aus der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts Um die Bestandsaufnahme abzuschließen, seien noch einige weitere wichtige Entwürfe kurz präsentiert und in Beziehung zu den bereits vorgestellten Positionen gesetzt. 7.1. Dietrich Bonhoeffer: »Ethik« Die zwischen 1940 und 1943 entstandenen Manuskripte Dietrich Bonhoeffers zur Ethik bezeugen eine starke Beeinflussung durch die Theologie Karl Barths. Dies gilt neben direkten wörtlichen Bezügen1 auch hinsichtlich der Grundlegung der Ethik. Die menschliche Frage nach dem Guten setzt nach Bonhoeffer eine »Entscheidung über die letzte Wirklichkeit« voraus (31). Für diese aber gilt: »Nur sofern die letzte Wirklichkeit Offenbarung, das heißt Selbstzeugnis des lebendigen Gottes ist, ist ihr Anspruch erfüllt« (32f). Da nun die Selbstoffenbarung Gottes keine andere ist als die in Jesus Christus, »so kann die Frage nach dem Guten nur in Christus ihre Antwort finden« (33). Diese Grundlegung der Ethik in »strengste[r] Konzentration [...] auf den Namen Jesu Christi« (338) wird von Bonhoeffer wie von Barth mit Abgrenzungen gegenüber anderen Modellen verknüpft: »Der Ursprung der christlichen Ethik ist nicht die Wirklichkeit des eigenen Ich, nicht die Wirklichkeit der Welt, aber auch nicht die Wirklichkeit der Normen und Werte, sondern die Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung in Jesus Christus« (33). Gegenüber dem Rekurs auf andere »Wirklichkeiten« betont Bonhoeffer: »Gut ist das der Wirklichkeit Jesu Christi gemäße Handeln, christusgemäßes Handeln ist wirklichkeitsgemäßes Handelm (228). Dabei ist wie bei Barth das τετέλεσται des Versöhnungsgeschehens vorausgesetzt,2 und zwar als ge-

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Vgl. ζ. B. Bonhoeffer, Ethik, 33 (die menschliche »Frage« setzt die »Antwort« Gottes in seiner Offenbarung schon voraus); 381 (»allein möglichefr] Gegenstand einer christlichen Ethik«< ist das »Gebot Gottes«); 386 (das Gebot Gottes als »Erlaubnis«). Vgl. a.a.O., 61: »Es kann nach der Erscheinung Christi in der Ethik nur noch um eines gehen, nämlich an der Wirklichkeit des erfüllten Willens Gottes teilzubekommen. Aber auch dieses Teilbekommen ist nur aufgrund der Tatsache möglich, daß in der Erfüllung des Willens Gottes in Christus bereits auch ich selbst mit eingeschlossen und das heißt mit Gott versöhnt bin.«

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schichtliches Ereignis.3 Diese neue Wirklichkeit ist kein theologisches Programm, sondern eben - Wirklichkeit. So erklärt sich dann auch die Fortsetzung der zuletzt zitierten Aussage: »Dieser Satz ist - recht verstanden - keine ideale Forderung, sondern eine Aussage, die aus der Wirklichkeit selbst entspringt« (ebd.). Das menschliche Leben, mit dem die Ethik befaßt ist, ist auf dieser Basis nichts anderes als eine »Antwort« auf das Offenbarungs- und Versöhnungsgeschehen.4 All dies klingt wie eine Paraphrase entsprechender Aussagen Karl Barths. Man würde Bonhoeffers Ethik jedoch gründlich mißverstehen, wenn man sie als bloße Repristination des Barthschen Ansatzes lesen wollte. Zwar findet sich in den Manuskripten Bonhoeffers zur Ethik keine explizite Kritik an Barth. Bonhoeffer hat in ihnen jedoch generell auf das Nennen von Namen zur Bezeichnung von verwandten oder abgelehnten Positionen verzichtet. Auch ist es richtig, daß die kritische Auseinandersetzung, die - nur eben ohne Namensnennung - in Bonhoeffers Ethik beileibe nicht fehlt, ausschließlich mit und nicht gegen Aussagen Barths erfolgt. Dennoch zeigt sich, daß Bonhoeffer um eine Weiterfuhrung des Barthschen Ansatzes bemüht ist, und zwar gerade in der hier interessierenden Frage hinsichtlich der Debatte zwischen Anhängern einer allgemein phänomenbezogenen und einer spezifisch christlichen Ethikgrundlegung. Die oben zitierten Passagen entstammen in erster Linie dem programmatischen Entwurf »Christus, die Wirklichkeit und das Gute«, von dem die akribischen, beispielsweise an der verwendeten Papiersorte orientierten Forschungen der Herausgeber im Rahmen der Gesamtausgabe ergeben haben, daß er das zeitlich erste der erhaltenen Fragmente darstellt. Der Abdruck der Texte in der vermutlichen Reihenfolge ihres Entstehens ermöglicht seither, eine Entwicklung bei Bonhoeffer zu beobachten, die, weit entfernt davon, das Programm einer christologischen Grundlegung aufzugeben, auf dessen Ergänzung durch phänomenbezogene Aussagen hinausläuft. Besonders aufschlußreich ist in dieser Beziehung ein Vergleich zwischen zwei unmittelbar nacheinander verfaßten Entwürfen zum gleichen Thema: »Die Geschichte und das Gute«. Schon die erste Fassung (218-244) beginnt zunächst unter Absehen von der christlichen Perspektive mit allgemeinen Überlegungen zur Geschichtlichkeit des Menschen. Geschichtlichkeit wird

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Vgl. a.a.O., 68: »Dieser Ort liegt nicht irgendwo jenseits der Wirklichkeit im Reiche der Ideen, sondern er liegt mitten in der Geschichte als göttliches Wunder, er liegt in Jesus Christus, dem Weltversöhner.« Vgl. a.a.O., 253: »Wir leben, indem wir auf das in Jesus Christus an uns gerichtete Wort Gottes Antwort geben.«

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von Bonhoeffer mit Verantwortlichkeit verknüpft, und über die Gleichsetzung von verantwortlichem mit wirklichkeitsgemäßem Handeln wird unter ausdrücklichem Hinweis (vgl. 222) die christologisch fundierte Argumentation des ersten Manuskripts erreicht und bis zur bereits zitierten These vom christusgemäßen als wirklichkeitsgemäßen Handeln zugespitzt. Die überarbeitete Version, die ja voraussetzt, daß Bonhoeffer eine Verbesserung seines Gedankengangs für notwendig hielt, verstärkt die Tendenz zur Anknüpfung an allgemeine Erfahrungen. Vor die abgrenzende These, mit der in für Bonhoeffers Ethik-Manuskripte typischer Manier die erste Fassung begonnen hatte,5 wird ein Absatz gerückt, der durch schlichte Beschreibung »unserer« Lebenssituation als einer uns vorgegebenen die These von der Geschichtlichkeit menschlichen Existierens plausibler zu machen sucht. »Die Frage nach dem Guten findet uns immer in einer bereits nicht mehr rückgängig zu machenden Situation vor: wir leben« (245). Es ist kein Zufall, daß Trutz Rendtorff, der den christozentrischen Ansatz der Ethik ablehnt, diesen Satz an prominenter Stelle zitieren und sich den dahinterstehenden Gedanken zu eigen machen kann.6 Noch eine zweite Erweiterung des ursprünglichen Manuskripts »Die Geschichte und das Gute« läßt sich in gleicher Weise interpretieren. Wo zunächst die Verbindung von Verantwortung und Stellvertretung am Beispiel des Familienvaters nur gestreift7 und erst für die Person Jesu Christi direkt ausgesprochen wurde,8 erläutert die neue Fassung den Zusammenhang recht ausfuhrlich an Beispielen aus dem täglichen Leben.9 Dabei bleibt dieser Zusammenhang für Bonhoeffer freilich begründet im Christusgeschehen,10 die-

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Vgl. a.a.O., 218: »Die Abstraktion des isolierten einzelnen Menschen, der sich nach einem ihm zur Verfügung stehenden absoluten Maßstab unaufhörlich und ausschließlich zwischen einem klar erkannten Guten und einem klar erkannten Bösen zu entscheiden hat, eine Abstraktion, die das ethische Denken weithin beherrscht, haben wir nach allem Gesagten hinter uns gelassen.« Vgl. Rendtorff, Ethik I, 63. Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 219: »Der Familienvater zum Beispiel kann nicht mehr handeln als wäre er ein Einzelner.« Vgl. a.a.O., 230: »Jesus Christus ist der verantwortlich Lebende schlechthin. [...] Sein gesamtes Leben, Handeln und Leiden ist Stellvertretung.« Vgl. a.a.O., 256f: »Daß Verantwortung auf Stellvertretung beruht, geht am deutlichsten aus jenen Verhältnissen hervor, in denen der Mensch unmittelbar genötigt ist, an der Stelle anderer Menschen zu handeln, also etwa als Vater, als Staatsmann, als Lehrmeister. [...]« Vgl. a.a.O., 257: »Damit [sc. mit dem Hinweis auf Jesus] aber rühren wir bereits an den tragenden Grund alles bisher Gesagten. Weil Jesus, - das Leben, unser Leben, - als der

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nen die Beispiele also lediglich der Erläuterung der nach wie vor christologisch fundierten These. Die Neufassung des Texts bleibt eine Erklärung für solche Rekurse auf das Alltägliche »als allgemeine Phänomenologie des Ethischen« (379) nicht schuldig. Bonhoeffer postuliert ein »Lebensgesetz[]« (282f) im Sinne der christologischen Wirklichkeit, dessen »Grundzüge«, wenn auch in pervertierter Form, auch das »natürliche Gewissen« wahrnehmen kann (282). Der hier zugrundeliegende Begriff des Natürlichen wird näher ausgeführt im vorausgehenden Manuskript »Das natürliche Leben«. Er kann geradezu vitalistische Züge annehmen,11 immer aber bleibt die christologische Ausrichtung gewahrt,12 auch wenn Bonhoeffer die Wirklichkeits- von der SacÄgemäßheit ausdrücklich unterscheidet (269) und bezüglich der »Sachen« die »ursprüngliche, wesenhafte und zielhafte Beziehung auf Gott und den Menschen« von dem neutralen, ihnen innewohnenden »Wesensgesetz« abhebt (270). In diesem Kontext werden nun auch die Äußerungen Bonhoeffers über das Naturrecht verständlich. Es dominieren eindeutig die kritischen Aussagen, und zwar wiederum von der christologischen Basis her, die nach Bonhoeffer nicht durch ein allgemeines Vernunftgesetz im Sinne der Naturrechtslehre ersetzt werden darf.13 In die Kritik sind die Menschenrechtsdeklarationen ausdrücklich eingeschlossen.14 Gleichwohl attestiert Bonhoeffer eine »relative Richtigkeit« (176) des suum cuique als »allgemeinste Formulierung der mit dem Natürlichen gegebenen Rechte« (174). Denn mit dem Rekurs auf das Natürliche werde der Schöpfer geehrt und auf die Erfüllung des Rechts in Jesus Christus hingewiesen (vgl. 176). Demgemäß läßt Bonhoeffer ein christ-

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Menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben.« Vgl. a.a.O., 169: »Das Leben [...] ist sein eigener Arzt [...].« Vgl. a.a.O., 165: »Das Natürliche ist das nach dem Fall auf das Kommen Jesu Christi hin Ausgerichtete.« In diesen Kontext gehören auch die Aussagen, in denen Bonhoeffer vom eigentlichen »Wesen« des Menschen spricht: »Der Abfall des Menschen von Christus ist zugleich sein Abfall von seinem eigenen Wesen« (a.a.O., 125). Vgl. a.a.O., 359: »Damit ist bestritten, daß die Kirche zu der Welt von der Grundlage irgendwelcher mit der Welt gemeinsamer Vernunft- oder Naturrechtlicher Erkenntnisse her sprechen könnte, also unter zeitweiliger Absehung vom Evangelium. Das kann die Kirche der Reformation im Unterschied zur katholischen Kirche nicht [...].« Vgl. a.a.O., 375f: »Diese Sätze stehen in schroffem Gegensatz zu dem Verständnis des Ethischen als eines allgemeingültigen Vemunftprinzips, das die Aufhebung alles Konkreten, Zeit- und Ortbestimmten, aller Ordnungs- und Autoritätsverhältnisse und die Proklamation der Egalität aller Menschen aufgrund der angeborenen allgemeinen Menschenvernunft in sich schließt.«

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liches Naturrecht durchaus gelten: »Menschen- und Naturrechte gibt es nur von Christus her, das heißt aus Glauben« (363). Alle diese Bemühungen um eine begrenzte Retablierung des Natürlichen, zu denen man auch Bonhoeffers Lehre von den göttlichen Mandaten als Variante der Theorie der Schöpfiingsordnungen auf christologischer15 Basis rechnen muß, lassen sich als Versuch interpretieren, über die bei Barth feststellbare Tendenz zu einer abstrakten Trennung von christologisch bestimmter und »natürlicher« Wirklichkeit hinauszukommen. Bonhoeffers Interesse galt einer konkreten Ethik, die das Ereignis der Menschwerdung16 bei der Einschätzung des Natürlich-Weltlichen bedenkt.17 Ist aber der göttliche Wille in die Welt »hineingesenkt«18, so kann die Theologie an deren stärksten Stellen anknüpfen - in der »Ethik« spricht Bonhoeffer zur Illustration dieses aus den Briefen von »Widerstand und Ergebung« bekannten Gedankens von der »Fülle des Lebens« (ζ. B. 371) - und braucht nicht, wie Barth es intendiert, auf den erläuternden Rekurs auf Momente der irdischen Wirklichkeit zu verzichten. Versteht man Bonhoeffers Kritik an Barth so, dann klärt sich auch ganz zwanglos, ohne Zuflucht zu gekünstelten Argumenten,19 der nunmehr explizite Vorwurf an Barth in »Widerstand und Ergebung« unter dem Schlagwort »Offenbarungspositivismus«: Wenn Bonhoeffer selbst diesen Vorwurf damit erläutert, bei Barth sei die Rede von der Offenbarung mit der Zumutung eines »Friß, Vogel, oder stirb« verbunden,20 dann bezieht er sich

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Vgl. a.a.O., 394: »Die göttlichen Mandate hängen allein an Gottes einem Gebot, wie es in Christus offenbart ist.« Zur Bedeutung der Inkarnation für Bonhoeffers Ethik vgl. ζ. B. a.a.O., 227: »Gut ist das geschichtliche Handeln, das aus der Mitte der Geschichte, aus dem Ereignis der Menschwerdung Gottes, die Gesetze des geschichtlichen Handelns empfängt.« Hinsichtlich der Fundamente der Ethik ist der Rekurs auf die Inkarnation allerdings durch den auf Kreuz und Auferstehung Christi zu ergänzen: vgl. a.a.O., 149. Vgl. die Hinweise auf entsprechende Aussagen Bonhoeffers aus den 30er Jahren bei Feil, Gebot, 451-453; ders., Gottes Wort, 90-93. Dieses Wort verwendet Bonhoeffer auffallend oft: vgl. ders., Ethik, 168; 235; 394; 397; 412. Vgl. Pangritz, 122; 137, wo eine Verbindung zwischen »Offenbarungspositivismus« und Barths Israellehre hergestellt wird. Bonhoeffer, Widerstand, 415 (Brief vom 5.5.1944). Zutreffend schreibt Regin Prenter: »Unter Offenbarungspositivismus versteht Bonhoeffer eine Verkündigung der Offenbarung Gottes, die ihre Wahrheiten zur bloßen Annahme präsentiert, ohne ihre Beziehung zum Leben des Menschen in der mündigen Welt klar machen zu können« (Prenter, 21). Ralf K. Wüstenberg hat darauf hingewiesen, daß Bonhoeffer immer »im Kontext von Barths ReligionsiegrijÇf« (Wüstenberg, 999) den Vorwurf des »Offenbarungspositivismus« erhebt, und daraus gefolgert, daß Bonhoeffer Barths »offenbarungspositive Religionsbetrachtung« (a.a.O., 1001) kritisiert: »Anstelle der nichtreligiösen Interpretation

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auf die bei Barth bewußt unterlassene argumentative Vermittlung der Botschaft. Hinter dieser Kritik an der theologischen Methode steckt freilich eine weitreichende Differenz im Offenbarungs- und Wirklichkeitsverständnis.21 Bonhoeffer versteht die göttliche Offenbarung stärker inklusiv als Barth und sieht sie daher auch die »fleischliche« Wirklichkeit umgreifen. Zweifellos wirkt sich hier die konfessonelle Herkunft beider Theologen - Barth als Reformierter, Bonhoeffer als Lutheraner - aus. Bonhoeffer bleibt auch insofern auf der Linie Luthers, als er den Gedanken der einen Wirklichkeit zwar stärker betont als dieser,22 aber dezidiert von einer »polemischen Einheit« (45) spricht, die Zwei-Regimenten-Lehre im Sinne Luthers rezipiert (vgl. 102) und das Spannungsverhältnis von »Herrschaft Gottes« und bleibender »Weltlichkeit der Welt« thematisiert (223). Von einem »monistischen« Wirklichkeitsverständnis bei Bonhoeffer sollte man daher besser nicht sprechen, auch wenn seine Konzeption zweifellos eine Tendenz in diese Richtung hat.23Bonhoeffer unternimmt also eine christologische Grundlegung der Ethik in der Nachfolge Barths. Wie Brunner will er den Abstraktheiten der

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von biblischen Begriffen tritt bei Barth eine offenbanmgspositive Interpretation von Religioni« (ebd.). Wüstenberg kritisiert auf dieser Basis die Interpretation des Vorwurfs durch Prenter, räumt allerdings ein: »Im weiteren Sinn mag das Ergebnis richtig sein [...]« (a.a.O., 1002). Gegen Pangritz, der eine »nahezu vollständige!] theologische[] Übereinstimmung« zwischen Barth und Bonhoeffer attestiert (a.a.O., 101). Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 43: »Es gibt nicht zwei Wirklichkeiten, sondern nur eine Wirklichkeit, und das ist die in Christus offenbargewordene Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit.« Vgl. Vogel, 450. Oswald Bayer hat die sicherlich vorhandenen spekulativ-monistischen Züge in Bonhoeffers Ethik auf Hegeische Einflüsse zurückgeführt (vgl. Bayer, Christus, 273). Man könnte aber auch an mystische Anteile in Bonhoeffers Theologie denken. Dafür spricht nicht nur die bereits genannte Rede vom »Eingesenktsein«, sondern auch die zahlreichen passivischen Formulierungen. Vgl. ζ. B. Bonhoeffer, Ethik, 138 (»Glauben ist ein Geschehenlassen und erst in ihm ein Tun [...].«); 226 (»Gottes Handeln allein ist gut in der Geschichte und das geschichtliche Handeln des Menschen, sofern Gott es in sein Handeln hineinzieht und er sich Gottes Handeln gänzlich ohne den Anspruch auf irgendeine andere Rechtfertigung ausliefert.«). Auch die scheinbar übersteigerte Forderung (die im Bonhoefferschen wie im mystischen Kontext freilich gar keine Forderung ist), zu sein »wie Christus selbst« (a.a.O., 141), hat - ebenso wie die Ethik der »Nachfolge« - mystische Parallelen. Schließlich ist der Begriff der »Arkandisziplin« zu nennen, auf dessen Bedeutung für die hinter »Widerstand und Ergebung« erkennbare Position bereits Dedo Müller (vgl. ders., 726-730) hingewiesen hat. Es spricht also einiges dafür, Bonhoeffer mit Georg Huntemann als Christusmystiker zu interpretieren (vgl. Huntemann, passim; Huntemanns zweite These, Bonhoeffer sei durch und durch konservativ gewesen, erscheint hingegen äußerst fragwürdig).

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Barthschen Ethik abhelfen, bleibt dabei aber anders als Brunner, der Rekurs auf die Schöpfungsordnungen nimmt, im durch die Christologie bestimmten Rahmen. Das Natürliche wird in die christliche Ethik einbezogen, freilich nur unter der Prämisse eines inklusiven Offenbarungsverständnisses, das die menschliche Wirklichkeit auch in ihrer Weltlichkeit unter dem Vorzeichen des Christusgeschehens sieht, sie als »Vorletztes« zugleich würdigt und relativiert.24 7.2. Helmut Thielicke: »Theologische Ethik« Helmut Thielicke hat unter den evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts den umfangreichsten zusammenhängenden ethischen Entwurf erarbeitet. Unter dem hier allein interessierenden methodischen Gesichtspunkt ist seine insgesamt rund 3000 Seiten umfassende »Theologische Ethik« durch ein energisches Eintreten gegen einen Beginn bei einer neutral-»phänomenologischen« Analyse und fiir eine Ethik, die von vornherein die spezifisch christliche Perspektive zur Geltung bringt, gekennzeichnet. Thielicke bestimmt sein Vorgehen als »theologischen Ansatz« (II/l, 8) und fuhrt namentlich zwei Argumente gegen einen Ausgang bei neutralen Lebensphänomenen, wie ihn gleichwohl »viele theologische Ethiker« (ebd.) bevorzugten, an.25 (1) Den ersten Einwand bezeichnet er als »sachlich« bedingt; besser erscheint allerdings eine Kennzeichnung als erkenntnistheoretisches Argument. Denn es geht Thielicke hier um die Unmöglichkeit einer neutralen »Sicht und Auswahl der Phänomene« (ebd.). Faktisch sei schon hier bei den theologischen Ethikern ihre theologische Weltanschauung im Spiel.26 Die Bedeutsamkeit dieses Arguments für die Ethik Thielickes zeigt

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Zu Bonhoeffers Unterscheidung von »Letztem« und »Vorletztem« vgl. vor allem ders., Ethik, 137-162. Wörtlich lautet Thielickes Beschreibung des konkurrierenden Ethikmodells folgendermaßen: »Im Gegensatz zu diesem theologischen Ansatz, an dessen deutlicher Markierung uns viel liegt, lassen sich viele theologische Ethiker den Aufbau ihrer Arbeit weniger durch eine theologische Fragestellung als vielmehr durch das Gesetz der eben genannten Lebensphänomenologie diktieren: Man stellt die wesentlichen Erscheinungen aus der individuellen und kollektiven Existenz des Menschen zusammen, um sie erst phänomenologisch - mit und auch gelegentlich ohne Hilfe der entsprechenden Fachwissenschaften abzuleuchten und dann in einem zweiten Akt theologisch zu ihnen Stellung zu nehmen. So spricht man über den Leib, über die Gemeinschaft, den Nächsten, den Beruf, über Arbeit und Feier, Genufl und Enthaltung, Volk und Staat, Wirtschaft und soziale Frage« CD/1, 8). Vgl. ebd.: »Die theologische Aktualität jener Phänomene setzt aber nicht erst bei ihrer Kommentierung oder bei der kritischen Würdigung der Kommentare anderer ein, sondern schon bei der Sicht und Auswahl der Phänomene selbst. Denn auch der naivste Sehakt im

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sich nicht zuletzt daran, daß er die von ihm als Beitrag seines Werks zur zeitgenössischen Ethikdebatte besonders herausgestellte »Modell-Methode« (ζ. Β. ΙΠ, XI), die auf eine vollständige Diskussion, wenn nicht gar Lösung der ethischen Probleme zugunsten der Darstellung von paradigmatischen Problemstellungen verzichtet, mit dieser perspektivischen Grundentscheidung in Zusammenhang stellt. Denn wie Thielicke schreibt, sind schon die jeweiligen »Situationsmodelle [...] nach theologischen Gesichtspunkten ausgesucht und nicht im Hinblick auf eine allgemeine Lebensphänomenologie« (II/l, 7). (2) Eine »methodische Fragwürdigkeit« ergibt sich für Thielicke aus der nachgeordneten Stellung der Theologie: Sie solle lediglich reaktivkommentierend auf ihr angeblich von außen gestellte Fragen antworten, während ihre eigenen kritischen »Fragen an die Welt« schon durch den methodischen Ansatz im Keim erstickt würden.27 Das Argument erinnert in der Antithese an Tillich und in der These an Bonhoeffer. Es verdeutlicht zugleich, daß Thielicke bei seinem spezifisch theologischen Ansatz nicht an eine kirchliche Binnenethik denkt. Der programmatische Einstieg des Werks bei »Krisis und Verheißung der christlichen Ethik im Zeitalter des Säkularismus« (I, 1-78) spiegelt vielmehr ein apologetisches Bemühen, bei dem die christliche Ethik das Gespräch mit anderen Weltanschauungen sucht und das Gebiet des dezidiert Nicht-Christlichen betritt.28 Nur soll sie dabei - und deshalb wendet sich Thielicke gegen eine Subsumierung seiner Ethik unter das Stichwort »Apologetik« - nicht konkurrieren oder »widerlegen«, sondern in eine umfassende theologische Perspektive einordnen.29 Die solchen Abgrenzungen entsprechende positive Beschreibung von Thielickes Methode sieht dann so aus: »Wir stellen in den Mittelpunkt gewis-

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Sinne SCHLATTERS oder der scheinbar unbefangenste natürliche Menschenverstand sind in Wirklichkeit gar nicht unvoreingenommen, sondern enthalten, wie das LOTZE wohl ein für allemal deutlich gemacht hat, einen dem Sehen vorangehenden Wertungsakt, der seinerseits eine Werteskala und damit eine Weltanschauung voraussetzt.« Vgl. II/l, 9: »Die methodische Fragwürdigkeit jenes andern Vorgehens besteht darin, daß man immer wieder im Banne der vor-interpretierten Phänomene stecken bleibt [...]. Man beantwortet damit angebliche Fragen an das Christentum, die nie gestellt wurden, und versäumt umgekehrt, Fragen an die Welt zu stellen, die zu stellen wären und bei denen aufgehorcht zu werden pflegt.« I, 63 (Nr. 172), spricht Thielicke geradezu vom »Kampfbrupp der Ethik«. Vgl. I, 66 (Nr. 180). Als Gegeninstanz gegen den Vorwurf einer nur kirchlichen Binnenethik vgl. auch das Vorwort zu H/2, der Ethik des Politischen. Thielicke nennt dort zwei Ziele seiner Arbeit: die »Selbstbesinnung« »intra muros der Kirche« (Π/2, VIII) und darüber hinausgehend das Aufzeigen einer Perspektive für alle, »die ein politisches Mandat haben und sich nach dem erkundigen möchten, was diesem Mandat als Grund, Ziel und Sinn zugrunde liegt« (II/2, X).

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se entscheidende theologische Probleme, die wir in der Prinzipienlehre gefunden haben, und suchen diese dann beispielhaft an konkreten Lebensgebieten zu verdeutlichen« (Π/1, 9). Vergleicht man diesem methodischen Leitsatz folgend Prinzipienlehre und Entfaltung, so stößt man als das entscheidende theologische - und gemäß der zum Schluß des letzten Absatzes wiedergegebenen Überlegungen dem Anspruch nach auch allgemein-menschliche Problem, das im Zentrum von Thielickes ethischem Entwurf steht, auf das Verhältnis von Ich und Welt, das in theologischer Sicht durch das »simul« des Lebens in zwei Äonen, wie es sich aus dem gegenwärtigen »Rechtfertigungsfaktum« einerseits und der noch ausstehenden Vollendung im Eschaton andererseits ergibt, gekennzeichnet ist.30 Die theologische Ethik hat »weitab von allen kasuistischen Fragestellungen die Aufgabe, eine Lehre vom Menschen und von der Welt aufzubauen«.31 Eine derartige Aufgabenbestimmung rückt die theologische Ethik nah an die Dogmatik, und zwar näher, als es bereits die These vom notwendig theologischen Ausgangspunkt impliziert. Denn diese These könnte ja so zu verstehen sein, daß die Ethik die Einsichten der Dogmatik über das, was die spezifisch christliche Wirklichkeitssicht ausmacht, lediglich voraussetzt und anwendet, zum dogmatischen Erkenntnisgewinn aber nichts beiträgt. Ein Beispiel für ein solches Vorgehen liefert Karl Barth im Aufbau der »Kirchlichen Dogmatik«, wo ja auf Gottes-, Schöpfungs- und Versöhnungslehre jeweils Abschnitte mit den entsprechenden ethischen Implikationen folgen. Thielicke geht weiter. Für ihn gilt, daß die theologische Ethik »vor allem selber ein Stück dogmatische Prinzipienlehre zu sein hat« (I, V). Ihre Abgrenzung von der Dogmatik verfolge lediglich »einen methodischen Zweck« (1,49, Nr. 134): »Ihr Terrain hat sich durch die Dazwischenkunft des Säkularismus so erweitert, daß das Schema der herkömmlichen Dogmatik einfach an Platzmangel leidet.«32

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Vgl. einerseits I, 87-89 (»Das Rechtfertigungsfaktum als Voraussetzung der evangelischen Ethik«), andererseits I, 78 (Nr. 212: »Das Thema der Ethik ist dieses >Wandern zwischen beiden Weitem; es ist im strengen Sinne das Thema einer theologia viatorum. Sie lebt unter dem Gesetz des >noch nicht< und unter dem Frieden des >ich komme bald< (Apk. 22,20). Die theologische Ethik ist eschatologisch oder sie ist nicht.«). I, V. Vgl. ebd.: »die wesentlich fundamentalere Aufgabe, die theologische Thematik des In-der-Welt-seins und aller seiner Formen herauszustellen«. I, 49f (Nr. 134). Vgl. die Fortsetzung: »Es ist also nur eine Frage der Benennung und der terminologischen Geschicklichkeit, ob wir den neu entstandenen Sonderkomplex von Fragestellungen als Dogmatik mit einer Zusatzziffer bezeichnen, um so den sachlichen Zusammenhang mit dem christlichen Zentrum anzudeuten, oder ob wir sie mit dem speziellen Terminus einer »Theologischen Ethik< versehen.«

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Ein solcher Satz zeigt freilich, daß Thielicke der theologischen Ethik letztlich doch ein spezifisches Gegenstandsgebiet zuordnet, nämlich die Frage nach dem christlichen Weltverhältnis unter dem besonderen Vorzeichen der neuzeitlichen Säkularisierung (vgl. I, 49, Nr. 133), wie er auch eine Formulierung im Sinne der herkömmlichen Unterscheidimg von Dogmatik und Ethik verwenden kann, wonach jene auf den Glauben und seinen Gegenstand und diese auf das mit dem Glauben gesetzte »Verhalten [!] des Menschen zu sich selbst, zum Nächsten sowie zu der Welt und ihren Ordnungen« reflektiert (I, 64, Nr. 173). Nur wendet sich Thielicke dagegen, dieses mitgesetzte Verhalten und damit auch die es bedenkende Ethik dem Glauben nachzuordnen.M Stattdessen plädiert er - und hierin liegt eine besondere Pointe nicht nur seiner Auffassung des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik, sondern seiner gesamten Theologie - dafür, daß die Ethik der Dogmatik sogar vorgeordnet sein kann. »>Dogmatik< und >Ethik< halten genau übereinstimmende Korreferate über das gleiche Thema. Beide haben ihren gemeinsamen Wurzelgrund in der Rechtfertigungslehre« (ΙΠ, X). Das Spezifikum der Ethik ist dabei ihre induktive Methode, bei der sie den von der Dogmatik verwalteten Theorierahmen der Tradition und die Wirklichkeit permanent in Beziehung setzt.34 Thielicke hält ausdrücklich fest, daß erst auf diesem Wege die dogmatischen Aussagen ihr eigentliches Profil gewinnen,35 ohne daß dies eine subjektivistische Beliebigkeit bedeute, da die Reflexion ja »in einem gegebenen Rahmen«, nämlich dem »Stoffbereich der biblischen Botschaft«, bleibe (Π/2, 761, Nr. 4364). Solche Beschreibungen erinnern, ohne daß dies von Thielicke eigens reflektiert würde, an die erkenntnistheoretischen Debatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so die von Troeltsch herausgestellte zirkelhafte Struktur der

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Vgl. I, 64 (Nr. 174f): Aus dem in sich schon praktischen Charakter des Glaubens ergibt sich, daß das Verhältnis von Dogmatik und Ethik nicht wie das von theoretischem Überbau und »praktische[m] Epilog« (a.a.O., Nr. 174) verstanden werden kann. Vgl. Π/2, 757f (Nr. 4344): »Eine theologische Lehre von der Wirklichkeit, wie sie jeder evangelischen Ethik zugrunde liegt oder innewohnt, kann als eine im Umkreis der Reformation beheimatete Lehre ihre Reflexion nicht deduzierend bei der Erhebung von Grundsätzen und bei der Feststellung naturrechtlicher Axiome einsetzen lassen. Sondern sie muß, mit einer Theologie >im Rücken* und von einer Lehrtradition >herkommendModellmethode< dieser Theologischen Ethik« soll eben ausdrücklich »keine A-priori-Konstruktion eines ethischen Normen-Systems« sein (Π/2, XI). Nach all dem Genannten ist es nicht weiter verwunderlich, daß Thielicke die Naturrechtslehre ablehnt. Vier Argumente lassen sich dem einschlägigen Abschnitt seiner »Theologischen Ethik« entnehmen. ( l ) D i e Vielfältigkeit der bisherigen Naturrechtskonzeptionen spricht gegen ein universales Normensystem.38 (2) Diese Vielfältigkeit ist nicht zufallig, sondern systematisch bedingt: Es gibt nach Thielicke kein naturgegebenes »Wissen um das Wesen des Menschen« (I, 676, Nr. 2088). Deshalb gelte: »Das Naturrecht hängt von dem [willkürlich] vorausgesetzten Menschenbilde ab« (1,677, Nr. 2092). Ist aber allein irgendein Menschenbild die Voraussetzung einer Konzeption von Naturrecht, so haben auch die Menschenfresser eine (vgl. I, 676f, Nr. 2090). »Daher wird es niemals ein konstantes, für >alle< verbindliches Naturrecht

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Vgl. Tillich, 15-18. Vgl. Π/1, 328 (Nr. 1164): »Der Versuch dieser Theologischen Ethik unterscheidet sich von vielen andern Unternehmungen auf diesem Gebiet dadurch, daß der Mensch in ethischer Hinsicht nicht einfach aus der Relation Glaube und Evangelium bzw. Gehorsam und Gebot verstanden wird, sondern daß auch die objektive Wirklichkeit der Welt, innerhalb deren er sich bewegt, innerhalb deren er >istethics< as the investigation and analysis of the good. However, that tradition is marked by deep disagreements that certainly defeat any attempts to make ethics an integral discipline.« Vgl. a.a.O., 12 (dt. 53): »As a result, not only has the moral force of Christian convictions been lost, but the very nature of moral experience has been distorted.«

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entwickeln.47 Daß aus der Betonung der kontextuellen Gebundenheit ein moralischer Relativismus folgen müsse, bestreitet Hauerwas (117, dt. 180). Innerhalb der Gemeinschaft gebe es durchaus bindende moralische Überzeugungen, und in dieser eingeschränkten Form ist Hauerwas bereit, auch den Naturrechtsbegriff für die christliche Ethik zu akzeptieren (120, dt. 183). 2. Die methodische Folgerung für die Ethik besteht im Verzicht auf eine »Grundlegung«.48 Die moralischen Sätze werden nicht deduziert, sondern »entdeckt«49 in ihrer Abhängigkeit von der jeweiligen »narrative« (68, dt. 122). Hauerwas sieht an dieser Stelle durchaus Raum für Rationalität in seinem Verständnis von Moral, denn im durch die »narrative« gesetzten Rahmen könnten die Grundüberzeugungen verständlich und damit »rational« werden (ebd.). 3. Positiv ergibt sich für die christliche Ethik, daß sie sich an ihrer eigenen »Tradition«50 und deren Bild von Selbst, Leben und dessen Zielen auszurichten hat. Ihr Maßstab ist zunächst einmal die »story« von Jesus Christus und seiner Verkündigung des Gottesreichs.51 Der Begriff der Nachfolge spielt daher in Hauerwas' Ethik eine beherrschende Rolle bis hin zu einer Orientierung am Verhalten Gottes.52 Die Nachfolge könne man freilich nicht allein lernen; die Christen brauchen die Gemeinschaft der Kirche, die daher im »Zentrum« jeder christlichen Ethik zu stehen habe.53 Hauerwas kommt hier zu Aussagen, die der römisch-katholischen Ekklesiologie zumindest sehr

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Vgl. a.a.O., 29 (dt. 76: »Christian ethics, therefore, is not first of all concerned with >Thou shalt< or >Thou shalt not.< Its first task is to help us rightly envision the world.«); 33 (dt. 80: »Ethics, as we have said, is not primarily about rules and principles, rather it is about how the self must be transformed to see the world truthfully.«). Vgl. a.a.O., 67 (dt. 121): »Such a morality requires no >foundation< [...].« Vgl. a.a.O., 119 (dt. 182): »A community's moral prohibitions, therefore, are not so much >derived< from basic principles as they exhibit the way the community discovers what its habits and commitments entail.« Vgl. a.a.O., 119 (dt. 182f): »In short, they [sc. die Gebote einer »community«] tell us that if we do this or no longer disapprove of that, we will no longer be living out the tradition that originally formed us.« Vgl. ζ. Β. a.a.O., 67 (dt. 122: »If we have a >foundation< it is the story of Christ.«); 69 (dt. 124: »The task of Christian ethics is imaginatively to help us understand the implications of that kingdom.«). Vgl. a.a.O., 75 (dt. 131): »I will try to show how the very heart of following the way of God's kingdom involves nothing less than learning to be like God.« Der biblische Bezug dieser Aussage ist Mt 5,38-48. Vgl. a.a.O., 95 (dt. 153): »We learn such a truth only by being initiated into it by others. That is why the question of the nature and form of the church is the center of any attempt to develop Christian ethics.«

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nahe stehen, wenn er die Auslegung der biblischen Botschaft im Leben der Kirche, und zwar besonders in dem ihrer Heiligen, zur entscheidenden Vermittlungsinstanz erklärt.54 Was die konkrete Gestaltung der kirchlichen Moral betrifft, so ist es eine logische Konsequenz des strikt partikularistischen Ansatzes in Verbindung mit dem »story«-Konzept, wenn von Hauerwas im Sinne einer Binnenethik gesagt wird, die Kirche solle nicht, etwa auf naturrechtlicher Grundlage, mit Nichtchristen an einer Veränderung der Gesellschaft mitarbeiten, sondern zunächst einmal sie selbst sein - Darstellung des Friedensreichs Gottes auf Erden (99, dt. 158f). 7.4. Dietz Lange: »Ethik in evangelischer Perspektive« Dietz Lange hat 1992 mit seiner bereits in der Einleitung erwähnten und zitierten Studie einen umfangreichen Entwurf zur Grundlegung der evangelischen Ethik vorgelegt. Er räumt darin der Frage, in welchem Verhältnis Allgemeines und Partikulares bei der Grundlegung der christlichen Ethik stehen, besonderen Stellenwert ein. Sie sei das »zentrale[] Problem einer theologischen, speziell einer evangelischen Ethik« (16), heißt es bereits in der Einleitung, und zwar in Gestalt der Frage nach der Bedeutung des Rechtfertigungsgeschehens als dem christlichen Proprium für das Handeln. Oder »ganz einfach« gesagt: »Kann eine Ethik gleichzeitig christlich und natürlichvernünftig sein?« (17). Im Korpus von Langes Werk begegnet die Frage dann mehrfach wieder. Eine »Vorentscheidung« (203) impliziert dabei bereits der methodische Aufbau: Im Blick auf die beiden »[p]rinzipiell[en]« Vorgehensweisen - entweder Beginn mit dem spezifisch Christlichen und von dort aus Reflexion des allgemein Ethischen oder umgekehrt55 - entscheidet sich Lange für die zweite. Folgende Argumente macht er gegen eine spezifisch theologische Grundlegung der Ethik geltend: (1) In der gegenwärtigen, säkularisierten Gesellschaft ist - »um der rationalen Kommunikation willen« (241) - »eine rein rationale ethische Argumentation ohne christliche Voraussetzungen auch für

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Vgl. a.a.O., 71 (dt. 126): »However, the >reason< required is not >extra-theological.< It comes from the very community formed by the memory of God's promises to us. [...] Through the lives of the saints we begin to understand how the images of Scripture are best balanced [...].« Vgl. D. Lange, Ethik, 203: »Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, sich über Wesen und Aufgabe christlicher Ethik klarzuwerden: Man kann entweder von einer Bestimmung des christlichen Glaubens ausgehen und nach Sinn und Grenze des Ethischen innerhalb dieser Voraussetzungen fragen, oder umgekehrt zunächst abgesehen von christlichen Glaubenssätzen allgemein das Phänomen des Ethischen zu erfassen suchen und dann die Qualifikationen beschreiben, die sich aus dem Glauben an Jesus Christus ergeben.«

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Christen unerläßlich« (205); (2) ein spezifisch christlicher Ansatz hat Heteronomie und Gesetzlichkeit zur Folge, denn der Verzicht auf rationale Argumentation führt zum Postulat einer schlichten Gehorsamsforderung (vgl. ebd.); (3) ein solches Vorgehen übersieht »die innertheologische Strittigkeit der Bestimmung des Christlichen selbst« (206); (4) es ist ideologieanfällig (vgl. ebd.); (5) die Leugnung der »theologischefn] Relevanz einer >neutralen< - ζ. B. humanwissenschaftlichen - Anthropologie [...] läuft konsequent auf die flacianische Lehre hinaus, daß die Sünde das Wesen des Menschen sei« (20). Demgegenüber plädiert Lange für ein Einsetzen bei den »menschlichen Grunderfahrungen, die jedem ethischen Handeln zugrundeliegen« (19). So soll ein Weg gegangen werden von dem, was »jedem Menschen als zwar nicht denknotwendig, aber doch plausibel zugemutet werden kann, um dann zu zeigen [...], in welcher Weise der christliche Glaube diesen Zusammenhang neu qualifiziert« (207).56 Der systematische Teil von Langes Arbeit beginnt daher - abgesehen von den »metaethischen« Vorüberlegungen - mit der Beschreibung der allgemein menschlichen »Sollenserfahrung«, die nach dem Ort, an dem sie begegnet, auch »Gewissenserfahrung« genannt werden kann (219-236). Es geht in ihr um nichts weniger als das »Menschseinf] des Menschen« (228). Die »ethischef] Grundforderung« (245) setze sich gemäß der für die menschliche Existenz fundamentalen Bezüge aus drei Momenten zusammen: »Identität« mit sich selbst, »Gemeinschaft« mit den anderen Menschen und »Sorge fiir die Welt«. (228). Da es unter diesen Momenten, aber auch zwischen der Sollens- und der Seinserfahrung an sich, Spannungen gebe, gibt Lange dem Begriff des Konflikts tragende Bedeutung: »Die ethische Grundsituation ist also eine Konfliktsituation [...]« (235). Die Sollenserfahrung wird sodann von Lange in Beziehung gesetzt zu »Strukturelemente[n] [...], die von jeder Ethik, unabhängig von ihrem philosophischen, weltanschaulichen oder religiösen Begründungszusammenhang, berücksichtigt werden müssen« (305). Gemeint sind anthropologische57 Grundbestimmungen wie Geschichtlichkeit, Freiheit oder eben Konflikt, die aber, um ein statisches Mißverständnis zu vermeiden, ebenfalls als Gnmderfahrungen bezeichnet werden. All dies bildet eine »Analyse der allgemein zugänglichen Wirklichkeit« (206). Sie soll »zeigen, an welcher Stelle die Frage nach einer Letztbegrün-

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Vgl. a.a.O., 289: »allgemeine, natürlich-vernünftige Einsehbarkeit der Grundforderung«. Vgl. a.a.O., 305: »Diese Bestimmungen menschlichen Lebens und Handelns sind der anthropologische Stoff, den die Prinzipienlehre der Ethik zugrundezulegen und dessen konkrete Differenzierungen die materiale Ethik zu bearbeiten hat.«

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dung unausweichlich wird, und inwiefern hier die christliche Antwort für den Glauben als die unverzichtbare und einzig mögliche erscheint« (ebd.). Auf die »phänomenologisch^]« (305; vgl. 382) Analyse folgt daher ein theologischer Teil. Der Übergang geschieht dabei so, daß Begriffe des allgemeinen Teils ins Theologische übersetzt werden.58 Die »Aporie« (382) des natürlichen Bewußtseins soll theologisch reflektiert werden. Lange knüpft an die Rede vom »ethischen Grundkonflikt« an,59 wenn er der »Grunderfahrung des anklagenden Gewissens« (402) das »befreite Gewissen« (410), wie es im Glauben an die Rechtfertigung durch Gott geschenkt wird, gegenüberstellt. Gerade im einschlägigen Abschnitt zeigt sich, bis in die Wortwahl hinein,60 die Nähe zur Ethik Wilhelm Herrmanns. Allerdings räumt Lange anders als Herrmann klar ein, daß sich (1) ein bewußt atheistischer Humanismus auch auf diese Weise »nicht argumentativ entkräften« lasse (411) und (2) der Mensch erst dann »die volle Härte der Gewissensverurteilung erfährt [...], wenn er mit der Nähe Gottes konfrontiert ist« (407). Solche Einschränkungen verdecken jedoch nicht, daß die These der Möglichkeit einer Grundlegung der christlichen Ethik auf allgemeine menschliche Erfahrungen Langes Werk bestimmt. Er betont ausdrücklich in bezug auf die Definition der ethischen Grund- als Konfliktsituation, daß »für diese Einsicht keine vorzeitige Eintragung theologischer Prämissen erforderlich ist« (235). Scheinbar gegenteilige Aussagen - Lange spricht von einer »christologischefn] Begründung der Ethik« (290) und einer »theologischen Grundlegung« (522) - beziehen sich darauf, daß ein gutes Handeln im Sinne des »befreiten Gewissens« erst im Glauben an das Christusgeschehen bzw. die gesamten durch dieses betimmten christlichen Glaubenssätze möglich ist. So gesehen, gibt es in der Tat auch bei Lange einen Zusammenhang, ja eine »Durchdringung« (291) von Glaubenslehre und theologischer Ethik. Diesem Zusammenhang geht in Langes Sicht jedoch der Kontext fundamentaler menschlicher Erfahrungen voraus, in den er die Glaubensaussagen als »Antwort« auf eine grundlegende »Aporie« konsequent einordnet. Auch für die »glaubende[] Existenz« gilt, daß »sie sich auf nichts anderes bezieht als auf

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Vgl. a.a.O., 367 (»das Verhältnis zum Unbedingten selbst - theologisch geredet: zu Gott«); 384 (»Die unbedingte Forderung ist das, was in traditioneller theologischer Sprache Gesetz heißt, der Wille Gottes.«). Dies wird von Lange am deutlichsten in der englischsprachigen Zusammenfassung seines Buches ausgesprochen: »Section C views the three forms of conflict [...] from a Christian perspective, i. e. their relation to the doctrines of creation and sin (I) and of atonement (Π)« (528). Vgl. a.a.O., 411: die »Ewigkeit Gottes«, die »in dem Menschen, der das >Wort< von Jesus hört, Vertrauen zu sich weckt«.

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die in der allgemeinen humanen Gewissenserfahrung gesetzte Bestimmung des Menschseins« (252). Auf diese Bestimmung - kurz gesagt: das Aushalten und Überwinden des mit dem menschlichen Dasein verbundenen Konflikts gründet sich nach Lange auch und - siehe die oben genannten Argumente gerade die theologische Ethik. 7.5. Zusammenfassung der Ergebnisse von Teil I Die Analyse der ethischen Hauptwerke von sechs deutschsprachigen evangelischen Theologen aus dem eben vergangenen Jahrhundert hat gezeigt, daß das in der Einleitung wiedergegebene Urteil der neueren Forschung, wonach in der protestantischen Theologie große Uneinigkeit über die angemessene Grundlegung der Ethik besteht, sein gutes Recht hat. So entwickelt Ernst Troeltsch seine Auffassung der »Grundprobleme der Ethik« in direkter Auseinandersetzung mit Herrmanns Entwurf, bestreitet Karl Barth - u. a. gegen Herrmann - energisch einen Ausgang der evangelischen Ethik vom allgemeinen sittlichen Bewußtsein, wendet sich Emil Brunner gegen die »Phantastik« der christologischen Grundlegung des Staats in der Barthschen Ethik und bezieht sich Trutz Rendtorff kritisch auf Barth, wenn er sein Programm einer von der Dogmatik unabhängigen Ethik darstellt. Auch die These, daß sich die Spannungen maßgeblich auf unterschiedliche Sichtweisen hinsichtlich der Partikularität oder Allgemeinheit des christlichen Zugangs zur Lebenswirklichkeit zurückfuhren lassen, hat sich bestätigt. Dabei erweist es sich als ein Kurzschluß, das Aufgreifen dieser Thematik allein mit dem Namen Karl Barths zu verbinden. Schon lange vor Barth ging es in der Kontroverse zwischen Herrmann und Troeltsch ζ. Zt. der Jahrhundertwende maßgeblich um dieses Problem. Und wenn Herrmann seinen Einsatz beim allgemeinen sittlichen Bewußtsein ausdrücklich gegen das Vorgehen in Schleiermachers »Christlicher Sitte« stellt, so zeigt dies die lange Vorgeschichte der Diskussion. Betrachtet man nun die einzelnen Entwürfe unter der Fragestellung: »allgemeine und christliche Ethik«, so lassen sich Herrmann, Hirsch und Rendtorff in eine Gruppe stellen. Alle drei halten einen Zugangsweg zum christlichen über das allgemeine Bewußtsein für möglich, freilich mit gravierenden Unterschieden. Die extremste Position vertritt Hirsch, bei dem (allgemeine) Sittlichkeit und (christliche) Religion beinahe verschmelzen - beinahe, weil Hirsch die christliche Perspektive nicht als Duplikat, sondern als »Vertiefung« des natürlichen Ethos versteht, und weil er am Offenbarungsbegriff festhält. Auch bei Rendtorff werden die beiden Ebenen, in denen der Glaube lebt, nah zusammengerückt, und auch er spricht nicht von Identität, sondern von Korrespondenz zwischen den beiden Polen. Andererseits könnte der Ort,

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an dem diese Korrespondenz wahrnehmbar wird, kaum unterschiedlicher beschrieben werden als bei den beiden: Während es bei Hirsch das irrationale Gewissen ist, ist es bei Rendtorff die autonome neuzeitliche Vernunft. Wilhelm Herrmanns Ansatz ähnelt, wie bereits Troeltsch festgestellt hat, stark dem klassischen, sowohl im römischen Katholizismus als auch im Luthertum vertretenen Modell einer zweistufigen Ethik, in der die christliche Offenbarungswahrheit gegenüber der natürlichen Grundlage keine neuen Inhalte gibt, wohl aber erst die Kraft, das zumindest im Grundzug bereits erkannte Gute auch zu tun. Mit Rendtorff verbindet ihn der vernunftethische Zug seiner Konzeption. Da der prinzipielle Ansatz der Ethik bei allen drei Autoren der gleiche ist, ist auch die gleiche prinzipielle Kritik an sie zu richten. Sie entspricht dem Urteil, das Emst Troeltsch bereits vor bald 100 Jahren gegen Albrecht Ritsehl und die mit seinem Namen verbundene theologische Richtung, der auch Herrmann zuzurechnen ist, gefallt hat: Aus dem Bemühen, christliches und weltliches Bewußtsein miteinander zu vermitteln, entsteht ein Konglomerat, das letztlich keinem von beiden gerecht wird. Die spezifisch christlichen ethischen Aussagen kommen zu kurz, weil sie von Beginn an aus dem Gesichtspunkt ihrer Korrespondenz mit dem, was die Bewußtseinsanalyse ergeben hat, betrachtet werden. Umgekehrt steht das, was als allgemeines Bewußtsein präsentiert wird, mehr oder weniger uneingestanden bereits im Schatten der Glaubensperspektive. Am auffälligsten ist dies bei Herrmann der Fall, der am stärksten die Angewiesenheit auf die rettende und sündenvergebende Kraft der Offenbarung betont. Troeltsch hat hierzu die sehr berechtigte Frage gestellt, ob denn das Christentum seinen Wert nur über den Unwert des Unchristlichen gewinnen könne. Nach ihm hat vor allem Dietrich Bonhoeffer diesen verbreiteten Grundzug schlechter lutherischer Theologie gegeißelt. Zu diesen gemeinsamen Problemen kommen Anfragen, die an die einzelnen Autoren zu richten sind, so bei Hirsch im Zusammenhang mit seinem Irrationalismus, bei Rendtorff im Blick auf seine Neuzeitdeutung, bei Herrmann und Hirsch wegen einer Überhöhung des Sittlichen als Weg zu Gott. Den entschiedenen Gegenpol zur von den drei Genannten bezogenen prinzipiellen Position nimmt Karl Barth ein. Muß man sich bei der Lektüre Hirschs manchmal fragen, ob hier nicht Weltliches und Göttliches identifiziert werden, so droht Barth beides zu stark auseinander zu reißen. Der Bezug der Ethik wie der gesamten Theologie auf die Christologie bietet in Barths Augen den Vorzug, von einer einmal gelegten Grundlage, unabhängig von nur zu oft trügerischen menschlichen Erlebnissen, ausgehen zu können. Außerdem wird sie dem Gefälle, das zwischen Gott und Mensch nun einmal besteht, gerecht. Durch den Einsatz beim Evangelium vermeidet Barth die eben bei Herrmann erwähnte Gefahr einer zu düsteren Sicht des

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Menschseins. Die Nachteile hängen mit diesen vorgeblichen Vorzügen unmittelbar zusammen. Bedingt durch die bewußt vom menschlichen Alltagsleben abgerückte Grundlegung kommt der Mensch nur als gehorsamer Empfänger des göttlichen Gebots, dem er zu »antworten« und zu »entsprechen« hat, in den Blick. Die Ethik Barths erhält so einen heteronomen, gesetzlichen Zug. Beim Menschen und seiner Wirklichkeit ansetzende Modelle geraten sofort unter das Verdikt der sündigen Hybris. Überdies hat Barth durch die allein christologische Grundlage Schwierigkeiten bei den ethischen Konkretionen, zumal er das menschliche Urteilsvermögen auch bei der konkreten Handlungsentscheidung ausklammern will. Der Versuch, dieser Probleme mit der Rede von der vollkommenen »Bestimmtheit« des göttlichen Gebots Herr zu werden, kann kaum überzeugen, da sie entweder zu flächigem Biblizismus oder aber - so der von Barth gewählte Weg - zu einem Rekurs auf das Urteilsvermögen durch die Hintertür in Form einer geforderten Interpretationsleistung des biblischen Gebots nötigt. Emil Brunner hat die zuletzt genannten Schwierigkeiten bei Barth erkannt. Er hat deshalb in seinem ethischen Hauptwerk auf einen christologisch grundgelegten prinzipiellen Teil eine angewandte Sozialethik unter Rekurs auf den Gedanken der Schöpfungsordnungen folgen lassen. Es ist ihm aber nicht gelungen, beide Teile schlüssig miteinander zu verbinden. Im Gegenteil: Brunner hat, ohne daß dies von der christlichen Überlieferung her notwendig gewesen wäre, die christologische und die Schöpfungsethik unter den Gesichtspunkt des Gegensatzes gerückt: hier dynamische Person-, dort statische Ordnungsethik. Die menschliche Vernunft, die zunächst in ihren Möglichkeiten sehr skeptisch beurteilt worden war, wird auf dem Gebiet der Ordnungen zu einem wichtigen Orientierungsinstrument (wenn auch die Erkenntnis aus der Offenbarung weiterhin überwiegt). Brunners Versuche, die hier sichtbaren Spannungen zu kitten, indem er die beiden Teile unter dem Blickpunkt von Erlösungs- und Schöpfungshandeln des einen Gottes sowie durch die Rede vom in beiden gleich bedeutsamen Liebesmotiv verknüpft, gelingen nicht. So macht die Ethik Brunners den Eindruck eines zwar anerkennenswerten, letztlich aber gescheiterten Kompromißversuchs zwischen einer an der Christus- und einer an der Weltwirklichkeit orientierten Ethik. Ernst Troeltsch hat unter den ausfuhrlich behandelten Autoren sicherlich den originellsten Versuch hinterlassen, das allgemeine und das partikulare Moment in der christlichen Ethik zur Geltung zu bringen: indem er mit der christlichen und der allgemeinen zwei Ethiken unterscheidet. Vorbild dafür könnte Schleiermacher sein, auch wenn dieser ganz andere inhaltliche Füllungen mit jener Zweiteilung verbindet. Bei Troeltsch jedenfalls geht die christliche Ethik aus von der Ethik Jesu, wie sie in den Evangelien überliefert ist, und sucht gerade deren Eigentümlichkeiten ins Zentrum zu stellen. Ihr

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Ansatz ist also dezidiert perspektivisch, und Troeltsch konnte so weit gehen, seine Fachgenossen dazu zu ermuntern, den perspektivisch-christlichen Zugang zur Wirklichkeit gegenüber apologetischen Vermittlungsbemühungen stark zu machen. Mehr und mehr hat sich Troeltsch freilich der Ausarbeitung einer »allgemeinen Ethik« zugewandt. Hier ist die Frage nach dem Grundlegenden schwieriger zu beantworten, zumal Troeltschs »allgemeine Ethik« letztlich nur Programm geblieben ist. Als »Geschichtsphilosophie« steht bei ihr das spekulative Element im Vordergrund. Sie geht von der Wahrnehmung der allgemeinen Differenzierung in der Neuzeit aus und strebt auf dieser Basis nach dem »Ideal einer zukünftigen Kultursynthese«. Diese soll zwar vom konkreten Bestand der Einzelkulturen ausgehen und nicht synkretistisch sein, doch bleibt offen, wie dann der Begriff »Synthese« zu verstehen ist. So zeigt sich in der »allgemeinen Ethik« Troeltschs noch einmal das grundsätzliche Problem von partikularem und universalem Zugang zur WirklichkeitInsgesamt ergibt sich, daß alle analysierten Modelle schon an sich mit Problemen und Widersprüchen zu kämpfen haben. Die Probleme steigern sich noch, wenn man die vorgelegten Ethiken an ihrem Anspruch mißt, die christliche Sicht auf die Lebens- und Handlungswirklichkeit authentisch darzustellen. Dies rechtfertigte es, die Untersuchung weiter voranzutreiben und zunächst einen kurzen Blick auf einige weitere Vorschläge und Argumente aus der evangelischen Debatte zu werfen. Bei ihnen allen finden sich wichtige Überlegungen: bei Bonhoeffer der nach Brunner neuerliche Versuch, die Schwächen der christozentrischen Ethikgrundlegung Barths immanent zu beheben, bei Thielicke der Gedanke einer Rückwirkung der Ethik auf die Dogmatik innerhalb eines perspektivisch-christlichen Konzepts, bei Hauerwas die Anbindimg der Ethik an ein durch die Gemeinschaft der Kirche geformtes Verständnis des Selbst als Argument für, bei Lange eine bündige Zusammenfassung der Argumente gegen eine perspektivische Grundlegung der Ethik. Auf dies alles wird - auch kritisch - zurückzukommen sein, wenn in Teil ΠΙ der Faden der theologischen Diskussion wieder aufgenommen wird. Zuvor soll jedoch in Teil Π geprüft werden, ob sich aus der Geschichte und Gegenwart des Naturrechtsgedankens Gesichtspunkte gewinnen lassen, die für die Frage nach einer angemessenen Grundlegung der Ethik im allgemeinen und der christlichen Ethik im besonderen von Belang sind.

TEIL II:

Naturrecht und Menschenrechte

8. Stationen aus der Geschichte des Naturrechtsgedankens In weiten Kreisen gilt die Idee des Naturrechts heute als obsolet. Wenn es nicht einfach als ein Symbol staubtrockener Gelehrsamkeit verabschiedet wurde,1 dann steht es für die ungeschichtliche Fixierung von Ethik und Recht in ein Korsett ewig feststehender Normen - eine seinerzeit erfolgreiche Vorstellung, die aber spätestens nach den Einsichten des Historismus im 19. Jahrhundert aufzugeben sei. Tatsächlich hat der Rekurs auf ein irgendwie geartetes »Naturrecht« eine lange Geschichte in der abendländischen Ethik, wobei - und dies schon ein erstes Haltesignal fur Pauschalurteile - längst nicht immer das Gleiche unter diesem Begriff verstanden wurde. Beides zusammen - die geschichtliche Entwicklung wie die unterschiedlichen Facetten des Naturrechtsgedankens - droht in Vergessenheit zu geraten, wo man den Begriff allein von seinem zweiten Bestandteil her liest und ihn allein als Gegensatz zum Rechtspositivismus, also im Sinne eines Appells an beständige moralische Elemente im Recht, versteht. Dieser Aspekt gehört zwar auch dazu, wesentlich bedeutsamer als die rechtliche Seite ist jedoch der andere Teil des Begriffs, die »Natur«. Gerade sie läßt breiten Spielraum für unterschiedliche inhaltliche Füllungen.2

Vgl. schon die ironische Schilderung in Gottfried Kellers Roman »Der grüne Heinrich« (III, 3, in der ersten Fassung): Der philosophisch ambitionierte Dorflehrer setzt nach mißglückter Brautwerbung »eine lange Denkschrift auf, in welcher er durch philosophische und rechtliche Gründe seine Sache verteidigte, mit großer Logik vom naturrechtlichen Standpunkt aus in die verwickeiteren Verhältnisse unseres Land- und Familienrechtes überging und alle Konsequenzen in Aussicht stellte, welche er zu benutzen oder hervorzurufen wissen werde«. (Natürlich hat er damit Erfolg...) Ernst Bloch hat auf die grundlegende Unterschiedenheit von »erkenntnismäßigen« und »ontologischen« Naturrechtsbegriffen hingewiesen, insgesamt neun verschiedene Naturrechtsbegriffe ausgemacht und sie als »die verschiedenen Äquivokationen unter dem Hut einer scheinbar einheitlichen Kontrast-Kategorie, Natur genannt, und ihrer RechtsNormierung« identifiziert (Bloch, 221). Daß der Zugang zur Problematik über die im Naturrechtsgedanken vorausgesetzten, ganz unterschiedlichen Begriffe von »Natur« und

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Naturrecht und Menschenrechte

Die Rede von dem Naturrecht ist daher in jedem Fall verkürzend, und die Analysen im vorausgehenden Teil haben gezeigt, daß die protestantische Ethik im vergangenen Jahrhundert dieser Gefahr mehr als einmal erlegen ist. Aber auch auf philosophischer Seite wird die Naturrechtstradition oft nur selektiv oder aus zweiter Hand wahrgenommen. So wird etwa die diskussionswürdige These MacPhersons von einem »Besitzindividualismus« bei Locke einfach weitergereicht; die Stammlersche Formel vom »Naturrecht mit wechselndem Inhalt« fehlt in keiner einschlägigen Veröffentlichung, wird jedoch nur selten aus ihrem Kontext bei Stammler heraus betrachtet; das Naturrecht kann vom einen Autor »mit seiner Berufung auf irrationale bzw. arationale Quellen« in Parallele zum zeitgenössischen religiösen Fundamentalismus gesetzt und verworfen werden,3 während eine andere Monographie ausdrücklich an rationale und revolutionäre Strömungen des Naturrechts anknüpfen will.4 Wenn beklagt wird, die Diskussion um Rechtspositivismus oder Naturrecht drehe sich gegenwärtig im Kreis,5 dann könnte das auch daran liegen, daß bestimmte Lösungsversuche gar nicht mehr beachtet werden.6 Heutigen Fürsprechern universaler Menschenrechte ist oft nicht bewußt, in welch langer Tradition sie stehen. Es geht darum, diese Tradition eines ethischen Universalismus kritisch zu würdigen und für die weitere Untersuchung fruchtbar zu machen. Um klarer zu machen, von was beim Naturrecht überhaupt die Rede ist, soll im folgenden Kapitel, bevor die Debatte um die Grundlegung der Menschenrechte aufgenommen wird, zunächst einmal die Geschichte dieses Gedankens nachgezeichnet werden, und zwar anhand einiger bezeichnender

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»Recht« sinnvoll ist, hat Erik Wolf gezeigt, der seine Untersuchimg zum »Problem der Naturrechtslehre« ganz an diesen Begriffen orientiert hat. Wolf unterscheidet 12 Naturund 10 Rechtsbegriffe und untersucht deren Folgen für das jeweilige Naturrechtsverständnis. Die Palette der Naturbegriffe umfaßt dabei durchaus Gegensätzliches (vgl. den Überblick Erik Wolf, Problem, 27-29) und enthält ζ. B. einen vorzivilisatorischen Naturzustand ebenso wie ein Verständnis von Natur gerade als Kultur (vgl. zu letzterem a.a.O., 75-77). Preiss, 166; fast gleichlautend a.a.O., 7. S. Tönnies, Universalismus. S. u. 13.2. Bereits Ernst Bloch hat solche revolutionäre Strömungen, bei aller Kritik am Hauptstrom der naturrechtlichen Positionen, als deren eigentlichen Kem herauszuarbeiten gesucht (vgl. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde). Im gleichen Sinne, mit Bezug auf die Bedeutung des Naturrechtsgedankens insbesondere für die französische Revolution: Habermas, Naturrecht. Vgl. Alwart, 473. In ähnlicher Weise hat Otfried Höffe »Engführungen des Klassiker-Kanons« in der heutigen Debatte kritisiert (Höffe, Erwiderung, 333f). Er denkt dabei allerdings, anders als es hier beabsichtigt ist, vor allem an eine Wiedergewinnung der antiken Tradition (vgl. a.a.O., 334).

Stationen aus der Geschichte des Naturrechtsgedankens

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Beispiele. Ein relatives Schwergewicht fallt dabei auf die Diskussion im 20. Jahrhundert. Für die folgende Darstellung sollen im Sinne einer vorläufigen und weiten Definition solche Positionen als »naturrechtlich« gelten, die im Bereich menschlichen Handelns auf überpositive Normen rekurrieren und dabei Natur oder Wesen des Menschen in Anschlag bringen.7 8.1. Sophokles: »Antigone« In die Geschichte des Naturrechtsgei/anAens gehören auch Werke, in denen der Begriff »Naturrecht« oder »Naturgesetz« keine Rolle spielt. Dies ist der Fall bei der »Antigone« des Sophokles, insofern sie, auch ohne den einschlägigen Begriff zu verwenden, um die fur spätere Debatten um ein Naturrecht wichtige Unterscheidung von geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen kreist. Die Tragödie wurde im Jahr 442 v. Chr. zum ersten Mal aufgeführt, also in der Hochzeit des antiken Athen.8 Es entspricht der dramatischen Struktur des Werkes, daß erst einmal die gegensätzlichen Gesetzesauffassungen, wie sie von Antigone und Kreon verkörpert werden, zur Darstellung kommen, ehe dann mit der Peripetie ein Urteil gesprochen wird, das durch das persönliche Unglück Kreons, seine verspätete Wendung zur Gegenposition und das Schlußwort des Chores eindeutig der zuvor der physischen Gewalt unterlegenen Antigone Recht gibt. Die Darstellung der ursprünglichen Positionen wiederum ist schon insofern kunstvoll gearbeitet, als Antigone und Kreon zunächst getrennt die Bühne betreten, um ihre Auffassung vorzubringen, und erst danach das entscheidende Streitgespräch zwischen beiden stattfindet. Dabei wird deutlich: Beide beanspruchen, im Namen des göttlichen Gesetzes zu handeln, und werfen der

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Pauline C. Westerman hat in den beachtenswerten methodischen Vorüberlegungen ihrer Untersuchung zur Geschichte des Naturrechtsgedankens seit Thomas von Aquin ebenfalls eine Ausgangsdefinition von Naturrecht allem weiteren vorangestellt (vgl. Westerman, 12). Wenn sie dabei allerdings neben der universalen auch die ewige Geltung in die Definition aufnimmt, so ist dies zu eng, denn es würde etwa die Position des Aristoteles, die ausdrücklich ein veränderliches Naturrecht postuliert, ausschließen. Zur Kritik an der gleichfalls gängigen Gleichsetzung des Naturrechtsgedankens mit der These eines Zusammenhangs des Rechts mit moralischen (und nicht, wie oben vorgeschlagen: überpositiven) Normen s. u. Kap. 9 Anm. 20. Was schließlich den oben vorgenommenen Bezug auf die Natur des Menschen betrifft, so steht dem zwar die Definition Ulpians entgegen »Ius naturae est, quod natura omnia animalia docuit; nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium, quae in terra, quae in mari nascuntur, avium quoque commune est«, zit. Bloch, 35 - , doch bleibt Ulpian, der hier möglicherweise durch kynische Vorgänger beeinflußt ist, weitgehend isoliert. Vgl. Sophokles, Tragödien, 981 (Nachwort des Herausgebers).

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Naturrecht und Menschenrechte

Gegenseite vor, das rechte Maß verloren zu haben. Für Kreon hat Antigone, als sie entgegen seiner Weisung den Leichnam ihres Bruders mit Staub bedeckte und so die vorliegenden Gesetze (νόμους τους προκειμένους) übertrat, sich der Hybris schuldig gemacht (V. 480-483). Polyneikes verdient keine Bestattung, denn die »Schlechten« (κακοί), die die Tempel und Gesetze der Götter zerstören, werden von diesen nicht geehrt (V. 284-289), und so sollen sie auch bei ihm keine Ehre finden vor denen, die im Recht wandeln (V. 207f). Demgegenüber rechtfertigt Antigone ihren Verstoß gegen das von Kreon verordnete Gesetz mit folgenden Worten: »Es war ja Zeus nicht, der es mir verkündet hat, noch hat die Gottheit, die den Toten Recht erteilt, je für die Menschen solche Satzungen (νόμους) bestimmt. Auch glaubte ich, soviel vermöchte kein Befehl von dir, um ungeschriebne, ewige, göttliche Gesetze9 zu überrennen als ein Sterblicher. Denn nicht von heut und gestern, sondern immerdar (αεί) bestehn sie: niemand weiß, woher sie kommen sind. Aus Furcht vor eines Menschen Willen wollt' ich mich am Recht (δίκη) der Götter nicht vergehn; ich wußte ja, daß ich einst sterben werde, - warum sollt' ich nicht? hättst du's auch nicht vorher verkündet; doch wenn ich nun vor der Zeit schon sterbe, nenn' ich's nur Gewinn.« (V. 450-462) Antigone stellt also dem Verbot Kreons das göttliche Recht entgegen, das ungeschrieben und ewig ist, und es wäre gerade ein Frevel, Kreon zu folgen. Dem entsprechen die Worte, die sie kurz vor ihrem Ende vorbringt: »Welches Gesetz der Götter10 übertrat ich denn? Wie soll in meinem Leid ich zu den Göttern noch aufblicken, wen um Hilfe bitten, da ich nun als gottlos gelte für mein gottesfìirchtig Tun? Doch wenn die Götter damit einverstanden sind, so muß ich duldend wohl gestehn: ich frevelte; Doch freveln die hier, mögen sie kein größres Leid erdulden, als sie widerrechtlich (έκδίκως) mir getan!« (V. 921-928) Hier wird klar ausgesprochen: Was Kreon mit ihrer Verurteilung tut, ist gegen das Recht - während dieser doch beanspruchte, im Sinne des Rechts zu

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»αγραπτα κάσφαλή θεών νόμιμα«. »δαιμόνων δίκην«.

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handeln.11 Dieser Meinung der Antigone hatte sich schon zuvor Haimon, ihr Verlobter und zugleich Kreons Sohn, angeschlossen.12 Der Kommentar des Chores hingegen steht zunächst ambivalent zu Antigones Handeln: Sie hat an den stolzen Thron des Rechts (Δίκας βάθρον) gestoßen (V. 854f), die Strafe ereilt sie wegen ihres eigenmächtigen Handelns13 - das scheint eher fur Kreon zu sprechen, zumal schon vorher dessen Alternative von Gehorsam oder Anarchie vom Chor als verständig gepriesen worden war (V. 68 lf). Andererseits macht sich der Chor Antigones Überordnung des göttlichen Gesetzes über die Weisung Kreons zu eigen, indem er Haimon bescheinigt, außerhalb menschlicher Satzungen (und also nicht, wie von Kreon beansprucht, außerhalb des göttlichen Gesetzes) zu stehen.14 Die Wendung tritt erst ein, als nach der Wegführung Antigones der blinde Seher Teiresias Kreon das göttliche Urteil verkündigt. Als Frevler erscheint nun Kreon, der mit seinem Bestattungsverbot für Polyneikes und dem Todesurteil über Antigone die Ordnung von oben und unten vertauscht und die Götter zu zwingen versucht hat (V. 1064-1073). Auch der Vorwurf der Maßlosigkeit fallt nun auf Kreon (V. 1052; 1089Í). Kreon zeigt Einsicht, ja bescheinigt sich selbst einen Gesetzesbruch: »Ich fürchte doch, das Beste ist's, bestehende Gesetze (τους καθεστωτας νόμους) zu wahren bis an unsres Lebens Ziel« (V. 1113f). Doch sein Schicksal hat sich bereits erfüllt. Wie ihm der Chor bescheinigt, hat er das Rechte (την δίκην) erkannt, doch zu spät (V. 1270). Kreon ist selbst schuld an seinem Unglück (V. 1259f) - ein Urteil, das von ihm selbst geteilt wird (V. 1319).15 Es bleibt dem Chor vorbehalten, das Schlußwort zu sprechen: »Besinnung (τό φρονείν) ist von den Gütern des Glücks bei weitem das höchste: man frevle nicht gegen Göttergebot (τά γ' ές θεούς)! Je größer der Stolz 11

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Wo Kreon glaubt, die Rechtlichen (Ινδικοί, vgl. V. 208) zu schützen, handelt er nach Antigone gerade gegen das Recht (V. 928: έκδίκως). Vgl. besonders V. 743 zu Kreon: »Seh' ich doch, daß du wider das, was Recht ist (δίκαιο), fehlst!« Vgl. V. 821 (αύτόνομος); V. 875 (αύτόγνιοστος). V. 798f: »έκτός ομίλων θεσμών«. Vgl. auch V. 382 (τοις βασιλείοισιν νόμοις) und andererseits die Frage, ob die Tat Antigones »nicht eine gottgewirkte ist« (V. 279: τουργον τόδ' ή ξύννοια βουλεύει πάλαι) - jeweils in Partien des Chores. Dieses Urteil ist nur konsequent, denn zuvor hatte Kreon gesagt: »Wer sich empört und die Gesetze zwingt (νόμους βιάζεται) und meint, daß er den Führenden befehlen darf, dem wird von meiner Seite niemals Lob zuteil« (V. 663-665). Genau eines solchen Zwingens der Führenden - nämlich der himmlischen Götter - hat sich Kreon nach den Worten des Teiresias schuldig gemacht (V. 1072f: »τοις ανω θεοίσιν [...] έκ σοΰ βιάζονται τάδε«).

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der Vermessenen ist, um so tiefer der Sturz, der die Untat sühnt und lehrt sie im Alter Besinnung.« (V. 1348-1352) Unterstellt man, daß dies auch die Meinung des Autors ist, so scheint er die Position Antigones voll und ganz zu übernehmen: Kreon ist der Frevler, er hat unbesonnen und hybrid gehandelt, während sie sich zu Recht auf die Götter berief. Die Frage des Chorführers zu Beginn, ob die Tat der Antigone »nicht eine gottgewirkte ist« (V. 279), erhält eine bejahende Antwort. Sophokles erscheint so als früher Fürsprecher eines Gedankens, der in der Folge stets als naturrechtlicher begegnet: Es gibt ungeschriebene, ewige, göttliche Gesetze, die über den jeweils aktuellen, auf Menschen zurückgehenden Satzungen stehen, und denen im Falle einer Kollision Folge zu leisten ist. Freilich wird die staatliche Gesetzgebung nicht völlig relativiert, denn auch das bereits genannte Chorwort (V. 68 lf), das Kreon zustimmt, sofern der Gehorsam dem Staat gegenüber in Alternative zur Anarchie den Vorzug verdient, dürfte der Meinung des Dichters entsprechen. Abgelehnt werden jedoch - dies macht der Ausgang des Dramas mehr als klar - die rechtspositivistischen Folgerungen, die Kreon an der genannten Stelle aus der staatlichen Ordnungsfunktion16 zieht: »Wen auch der Staat einsetze, man gehorche ihm im Kleinen selbst, sei's Recht, sei es das Gegenteil!« (V. 666f). Gehorsam gebührt dem Staat vielmehr nur dann, wenn seine Anordnungen dem Recht, und zwar dem göttlichen, entsprechen. Daß dieses göttliche Recht zugleich das der Natur entsprechende ist, wird in der Tragödie nicht gesagt. Sofern allerdings der Verweis auf die Natur im Hauptstrom der naturrechtlichen Tradition für die natürliche Ordnung der Dinge steht, erscheint Sophokles auch hier als Vorreiter. Dafür spricht sowohl die Rede von der Ewigkeit und für Menschen ungewissen Herkunft des göttlichen Gesetzes (V. 456f) als auch die wiederholte Warnung vor Maßlosigkeit und Anarchie bzw. die entsprechende positive Mahnimg zum vernünftigen Handeln (φρονεΐν), die durch ihr gleich doppeltes Vorkommen im Schlußwort des Chores besonderes Gewicht erhält (V. 1348; 1352). Vor allem aber das vernichtende Urteil des Teiresias über Kreons Handeln muß als Warnung vor dem Verstoß gegen die kosmische Ordnimg verstanden werden, wenn es eben mit der von Kreon vorgenommenen Vertauschung des Platzes von Toten und Lebenden begründet wird (V. 1068-1073). Sophokles ist daher als Vorreiter des Naturrechtsgedankens anzusehen. Seine »Antigone« belegt treffend die ursprüngliche Verknüpfimg des Gedankens mit religiösen und kosmologischen Ordnungsvorstellungen.

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Vgl. V. 677: »τοις κοσμουμένοις«.

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8.2. Piaton und Aristoteles Unter den platonischen Dialogen ist der »Gorgias« der interessanteste im Blick auf den Naturrechtsgedanken. In den beiden genannten Hinsichten dem Kreisen um das Verhältnis von menschlichen und göttlichen, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen wie dem Hinweis auf die Natur der Dinge als Maß des Rechten - läßt sich der frühe Dialog Piatons als Weiterfuhrung der in der »Antigone« vorliegenden Sicht verstehen. Piatons ausführlichste Auseinandersetzung mit dem sophistischen Gedankengut verläuft in drei Redegängen. Nachdem bereits die Sophisten Gorgias und Polos von Sokrates ad absurdum geführt wurden, tritt ihr Genösse Kallikles zu ihrer Ehrenrettung an. Sokrates hatte gegenüber Polos die provozierende These aufgestellt, daß das Erleiden von Unrecht besser sei als dessen Tun. Gegen diese These wendet sich nun Kallikles mit einem Argument, das man durchaus als naturrechtliches bezeichnen kann. Dies scheint auf den ersten Blick nicht so, denn in seiner einleitenden Rede spricht Kallikles zunächst von einem Gegeneinander von Gesetz und Natur (482e). Rasch wird jedoch deutlich, daß dieses Gegenüber nur besteht für einen bestimmten Typus von Gesetzen, nämlich denen, die von den Schwachen und der Mehrheit gesetzt sind (483b). Dieser Art von Gesetz, die seiner Ansicht nach tatsächlich das Unrechtleiden beschönigt und so im Widerspruch zur Natur steht, stellt Kallikles nämlich gerade das Naturgesetz bzw. Naturrecht entgegen.17 Die Natur selbst zeige, daß es gerecht sei, wenn der Edlere und der Mächtigere mehr haben als die anderen. Interessant ist, daß Kallikles zum Beleg dieser These nicht nur auf menschliche Gemeinwesen, sondern auch auf »die anderen Lebewesen« verweist.18 Wo also etwa die stoische Naturrechtstradition einen Naturbegriff zugrundelegt, der von dem ausgeht, was die menschliche Natur von den übrigen Lebewesen unterscheidet, fußt die Argumentation des Kallikles auf einem Verständnis von Natur, das nach dem fragt, was allem, was lebt, gemeinsam ist. Darin liegt ihre auffällige Nähe zu Nietzsche begründet.19 Im weiteren Verlauf des Gesprächs mit Sokrates präzisiert Kallikles allmählich sein Verständnis vom der Natur gemäß Gerechten bis hin zur Aussage, daß es im Ausleben der Begierden (έπιθυμίαι) bestehe, wobei Tapferkeit und Vernunft zu Mitteln zu diesem Zweck erklärt werden.20 Das Lob von Ge-

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483e: »κατά νόμον γε τον της φύσεως«; 484b: »τό της φύσεως δίκαιον«. 483d: »έν τοις άλλοις ζφοις«. In der Antike ist der Rekurs auf das Mensch und Tier Gemeinsame außer von einigen Sophisten noch von Demokrit angeregt worden. Direkt in die Praxis umgesetzt haben diesen Gedanken dann die Kyniker (vgl. Heinimann, 145-147). 492a: »δι άνδρείαν καί φρόνησιν«.

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rechtigkeit und Besonnenheit hingegen sei Bestandteil des Versuchs der Schwachen, »die von Natur besseren Menschen zu versklaven« (492a). Kallikles schließt seine Ausführungen zum Naturrecht mit einem Appell an Sokrates: »[D]er Wahrheit nach, o Sokrates, die du ja behauptest zu suchen, verhält es sich so: Üppigkeit und Ungebundenheit und Freigebigkeit, wenn sie nur Rückhalt haben, sind eben Tugend und Glückseligkeit: Jenes andere aber sind Zierereien, widernatürliche Satzungen (τα παρά φύσιν συνθήματα)21, leeres Geschwätz der Leute und nichts wert« (492c). Wie reagiert nun Sokrates auf diese, seiner Ausgangsthese offen widersprechende Auffassimg des Kallikles? Er antwortet selbst mit einer Argumentation, die auf die Natur rekurriert! Es macht einen der Reize des Dialogs »Gorgias« aus, daß Piaton in ihm zwei Modelle von Ethik einander konfrontiert, die beide den Naturbegriff verwenden und doch, weil der Begriff unterschiedlich gefüllt wird, zu gegensätzlichen Folgerungen kommen. Daß die Sympathien des Autors dabei eindeutig seinem Lehrer Sokrates gehören, wird am weiteren Verlauf des Gesprächs deutlich, denn wie schon seine Vorredner muß auch Kallikles immer mehr von seiner Ausgangsthese preisgeben, bis er schließlich frustriert Sokrates das Feld überläßt. Sokrates greift bei seiner Widerlegung des Kallikles u. a. - die ganze Argumentation braucht hier nicht dargestellt zu werden22 - auf eine Unterscheidung zurück, die er bereits in den ersten beiden Teilen des Dialogs anläßlich der Ausgangsfrage - »Was ist Rhetorik?« - vorgebracht hatte: die Unterscheidung von - wie Schleiermacher übersetzt - Geschicklichkeiten und Künsten (έμπειρίαι und τέχναι). Er versteht darunter zwei prinzipiell verschiedene Weisen, sich mit dem Menschen zu beschäftigen, die sich jeweils nochmals aufspalten, je nachdem es um den Leib oder die Seele des Menschen geht. Die Differenz liegt darin, daß sich die Geschicklichkeiten mit einer nur oberflächlichen Kenntnis ihres Objekts - also Leib oder Seele des Menschen - zufriedengeben und allein am Erfolg orientiert sind. Sokrates' Paradebeispiel für den Leib ist die Kochkunst, für die Seele eben die Rhetorik. Sie tun gerade das nicht, was eine Kunst in den Augen des Sokrates auszeichnet: daß sie »die Natur (φύσις) dessen erforscht [...], was sie besorgt, und den Grund (αίτια) dessen, was sie tut, und von jedem einzelnen Rechenschaft (λόγος) geben kann« (501a; vgl. 465a). Während eine Geschicklich-

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Hier zeigt sich am deutlichsten, daß der platonische Kallikles auf der sophistischen Gegenüberstellung von νόμος und φύσις aufbaut (zu ihr vgl. die einschlägige Untersuchung

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Wichtig ist allerdings, daß auch Sokrates der vorliegenden staatlichen Ordnung nicht ohne Vorbehalte gegenübersteht.

von Heinimann)

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keit nur am Angenehmen interessiert ist, richtet sich das Bemühen einer Kunst auf das Beste (βέλτιστον) - im Hinblick auf den Leib oder auf die Seele (465a; 501b). Die vorbildliche Kunst des Leibes ist die Heilkunst, während der Künstler der Seele kein anderer ist als derjenige, der gut ist. Denn der gute Mann (ό αγαθός άνήρ) will dem Besten dienen und zielt auf sein je eigenes Werk (τό αυτών έργον) und dessen Idee (είδος) (503d/e). Was ist nun das Beste im Hinblick auf die Seele, das, was ihrer Natur entspricht und somit mit gutem Grund durch Kunst zu fördern ist? Hier bringt der platonische Sokrates den Ordnungsbegriff (κόσμος, τάξις) ins Spiel: Die Seele ist dann vollkommen (χρηστή), wenn in ihr Ordnung herrscht (504b). Die Bestform der Seele, die Tugend (άρητή), besteht darin, ihrer je eigenen Ordnung zu entsprechen (506d/e; vgl. 506e das Wortspiel mit κόσμος und κοσμία). Je nach Anwendungsfeld fächert sie sich auf in Besonnenheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Tapferkeit, wobei der Bezug auf das, was sich gebührt (τα προσήκοντα), allen gemeinsam ist (507a/b). Ein Kardinalfehler des Kallikles ist es, daß ihm die kosmische Geordnethext der Welt verborgen geblieben ist (508a). Sein Lob des Übeltäters übersieht, daß dieser eine zerstörte Seele hat (51 la). Der Gedanke einer der Seele inhärenten Ordnung bedeutet laut dem platonischen Sokrates nicht, daß diese von Beginn des Lebens an verwirklicht ist. Das Gegenteil ist der Fall, und es ist die Aufgabe der Lebenskunst, durch Bevorzugung der besseren vor den schlechteren Begierden (503 c/d) zur Besserung der Seele im Sinne des Wandels von Unordnung zu Ordnung beizutragen (505b).Auch wenn der Naturbegriff in der hier referierten Argumentation des Sokrates quantitativ keine große Rolle spielt, so ist doch deutlich, daß der Gegensatz zu Kallikles auf einer entgegengesetzten Auffassung von der Natur des Menschen bzw. dessen Seele beruht: Nicht die ungeordneten Begierden, sondern das geordnete Moment machen ihr eigentliches Wesen aus. Deshalb ist kein Ausleben der Begierden, sondern »das besonnene und mit dem jedesmal Vorhandenen sich begnügende Leben« (493c), das auf grundlegende Besserung von sich und Umwelt aus ist, ein gutes Leben. In der »Politeia« hat Piaton dann dieses Modell der Grundlegung von Ethik auf der Basis einer Lehre von der Natur der Seele weiter ausgebaut. Gerechtigkeit zu bewirken, heißt dort in Parallele zur leiblichen Gesundheit,23 »die Regungen in der Seele in ein naturgemäßes Verhältnis bringen des Herrschens und Von-einander-Beherrschtwerdens«, und Tugend wird als »eine Gesundheit und Schönheit und ein Wohlbefinden der Seele« bestimmt (Poli-

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Vgl. die Rede von der »gesunden Seele« im »Gorgias«, 526d.

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teia, 444d/e). Neu ist die Lehre von den Seelenteilen, die eine exaktere Verhältnisbestimmung der vier Kardinaltugenden, bei denen an die Stelle der Frömmigkeit die Erkenntnis tritt, ermöglicht. Bestimmt sich die Gerechtigkeit durch das naturgemäße Miteinander der drei Seelenteile, so werden Besonnenheit, Vernunft und Tapferkeit jeweils einem von diesen zugeordnet, soweit er in geordneter Weise das Seinige tut (Politeia, 441d/e). Auf diesen Überlegungen Piatons fußt dann trotz aller Unterschiede die Grundlegung der aristotelischen Ethik. Wenn dort nämlich das menschliche Gut als Tätigsein der Seele gemäß ihrer Bestform (άρητή) definiert wird (Nik. Eth. 1098al6f), so setzt dies eine Bestimmung des dem Menschen spezifischen Werks (έργον) voraus (1097b22-1098a8), und diese wiederum, sofern sie auf das rationale Element der Seele fuhrt (1098a3f), eine Lehre von der Seele (1102al8f) 24 und deren Natur. Die menschliche Natur wird dabei wie von Piaton nicht als von Beginn an sittlich, wohl aber als aufnähme- und vervollkommnungsfáhig angesehen (1103a23-26).25 Ohne das Gesetz hingegen wäre der Mensch nach Aristoteles schlimmer als die Tiere (Pol. 1253a29ff). Aristoteles greift in seiner Ethik auch die Unterscheidung zwischen natürlichem und gesetztem Recht auf (NE 1134bl8-1135a5), wobei das von Natur Gerechte überall die gleiche (Geltungs-)Kraft habe (1134bl9), aber gleichwohl wie alles Irdische nicht prinzipiell unveränderlich sei (1134b29f).26 Aristoteles nennt als Beispiel einer solchen Veränderung der Natur die Umgewöhnimg von natürlicher Rechtshändigkeit in Beidhändigkeit (1134b3335). Das Natürliche ist bei Aristoteles, anders als bei Sophokles, nicht gleichbedeutend mit dem Ewigen. Trotz dieser Einschränkung will Aristoteles aber an der Unterscheidung von Natürlichem und NichtNatürlichem festhalten (1134b30). Als dahinterstehendes Argument läßt sich erschließen: Auch eine derartige Umgewöhnung ist an das von Natur Mögliche gebunden und nicht willkürlich; zudem müßte sie, um als tatsächliche Veränderung der Natur zu gelten, bei allen erfolgen (1134b34), während das gesetzte Recht lediglich auf Übereinkunft und Nützlichkeit beruht und daher vielfältig ist (1134b35-1135a5). Das eine Naturgemäße gilt Aristoteles als Maß seiner Güte (1135a5).

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Beachte wieder die Parallele zum Arzt als Kenner des Leibes. Vgl. NE 1143b6f (von Natur ist niemand weise, wohl aber hat er die entsprechenden Fähigkeiten); 1144b4-21 (die »natürliche Tugend« [1144bl6: άρητή φυσική] bedarf der Vernunft [νοΰς, φρόνησις], inn zur eigentlichen Tugend zu werden). Hier steht wie schon bei der These der Vervollkommnungsfähigkeit der menschlichen Natur der dynamische Naturbegriff im Hintergrund, wie ihn Aristoteles in Met. V, 4 entwickelt (s. dazu u. Anm. 63).

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Am wirkungsvollsten für die ganze spätere Naturrechtsdiskussion wurde allerdings eine Aussage nicht der aristotelischen »Ethik«, sondern der »Politik«: die nämlich, daß »der Mensch von Natur ein staatliches Lebewesen ist« (Pol. 1253a). 8.3. Cicero: »De legibus« Die Überlegungen der vorchristlichen Antike zu einer Grundlegung der Ethik in der Natur des Menschen finden ihren Höhepunkt und Abschluß in der stoischen Lehre vom Naturrecht. Sie ist von Cicero wirkmächtig zusammengefaßt worden. Aus seiner Schrift: »De legibus« ergibt sich ein schlüssiger Argumentations Zusammenhang. Auf der Suche nach gut und ordentlich gelegten Prinzipien für das Recht (I, 37) - wie sich zeigt, wird dieser Horizont von Cicero überschritten hin zu Grundlagen des gesamten gesitteten Zusammenlebens der Menschheit - gilt es, auf dessen Natur zurückzugehen, was wiederum einen Rückgriff auf die Natur des Menschen erfordert (I, 16f). Die Natur »befestigt« (confirmare; 1,43) nämlich das Recht, weil sie einen intrinsischen (ex ipsius habitu; 1,45) und damit weder subjektiven noch äußerlichen Urteilsmaßstab liefert (1,45) im Gegensatz sowohl zu einer Ableitung des Rechts aus bloßer Meinung (opinio; 1,28) als auch einem rechtspositivistischen Ansatz27. Norm der rechten Gesetzgebung ist allein die Natur des Menschen.28 Was ist nun das Spezifikum der menschlichen Natur, das diese in ihrer normsetzenden Funktion näher bestimmt? Es ist die Vernunft. Sie zeichnet den Menschen vor den anderen Lebewesen aus (1,22).29 Zugleich ist sie der Bestandteil der menschlichen Natur, der sie mit dem Göttlichen verbindet (1,22f). Via der gemeinsamen Vernunft besteht eine Gemeinschaft, ja Verwandtschaft (ζ. Β. I, 24) zwischen Göttern und Menschen, denn »der göttliche Geist kann nicht ohne Vernunft sein«30. Die Naturrechtslehre des Cicero hat eine religiöse Dimension: Wie die Vernunft dem Menschen bei seiner Entstehung mitgegeben wurde (1,22: generatum esse), so entspricht das Be-

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Cicero, De legibus, 1,42: »Iam vero illud stultissimum, existimare omnia iusta esse, quae scita sint in populorum institutis aut legibus. Etiamne si quae leges sint tyrannorum?« Vgl. 1,17 (»natura enim iuris explicanda nobis est, eaque ab hominis repetenda natura«); 1,44 (»Atqui nos legem bonam a mala nulla alia nisi naturae norma dividere possumus.«). Der bekannte stoische Grundsatz: »secundum naturam« begegnet Π, 61. Noch klarer wird dieser Gedanke bei Seneca ausgesprochen. Vgl. Seneca, Ad Lucilium, 76, 8-11: Die »ratio« ist das »proprium« des Menschen; ihre Vollendung ist daher der »finis naturae suae« und Maßstab der Tugendhaftigkeit bzw. Sittlichkeit. Cicero, De legibus, Π, 10: »Neque enim esse mens divina sine ratione potest [...].«

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folgen ihrer Weisungen dem Gehorsam gegenüber der himmlischen Anordnung.31 Der Vernunftbezug sichert überdies die Universalität - und damit zugleich erneut: Nicht-Subjektivität - des aus ihr abzuleitenden Rechtes, weil ja die Vernunft allen gemeinsam,32 wenn auch in ihrer Natur üblicherweise korrumpiert ist (1,33). Zwischen Vernunft und Recht schaltet Cicero allerdings den Gesetzesbegriff ein. Das Gesetz ist nämlich »die rechte Vernunft in Hinsicht auf Befehlen und Verbieten«33. Dabei denkt Cicero nicht an die geschriebenen Gesetze, sondern an das »höchste Gesetz« (summa lex), das jeder staatlich-gesetzgeberischen Ordnimg vorausging (I, 19), das »ewige Gesetz«, das mit Vernunft und göttlichem Geist gleichursprünglich ist als »rechte Vernunft des höchsten Jupiter«34. Das Gesetz ist gleichsam die praktische Vernunft Ciceros, die konkrete Form der Vernunft auf dem Gebiet des Ethischen. Als solche ist es Regel des Rechts.35 Aus all diesem ergibt sich für Cicero, daß die Menschen »zur Gerechtigkeit geboren« sind,36 wobei Gerechtigkeit ausdrücklich nicht den Gehorsam den geschriebenen Gesetzen gegenüber, sondern in bezug auf das eine göttliche Vemunftgesetz meint (1,42). Bisher ist allerdings noch nicht deutlich geworden, was dieses Gesetz konkret fordert. Man könnte die mit der Gerechtigkeit gleichgesetzte Natur- bzw. Vernunftmäßigkeit des Handelns ja rein formal verstehen als wohlüberlegtes Handeln gemäß dem Imperativ: »Handle vernunftgemäß!« Tatsächlich ließen sich einzelne Punkte in Ciceros Darstellung so verstehen, etwa wenn er die Vernunft im Sinne eines logischen Schlußvermögens definiert (I, 30). Genauer betrachtet begegnen aber in Ciceros Abhandlung der Grundlagen des Rechts auch inhaltliche Näherbestimmungen, die sich aus dem hinter seinen Ausführungen sichtbaren weltanschaulichen Hintergrund ergeben. Der Gedanke einer ursprünglichen Verwandtschaft zwischen (1) Gott und dem von ihm erzeugten (I, 22: »generatimi«) Menschen und - daraus resultierend - (2) Mensch und Mensch hat direkte ethische Implikationen: Ehrfurcht und Achtung vor den Göttern sind auf dieser Basis ebenso einsichtige Forderungen wie die Liebe unter den

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1,23: »Parent autem huic caelesti discriptioni [...].« Die Bedeutung der Religion für Cicero geht auch daraus hervor, daß er der religiösen Gesetzgebung höchsten Stellenwert beimißt (vgl. Π, 69). I, 33: »Quibus enim ratio a natura data est, isdem etiam recta ratio data est [...]. Et omnibus ratio: ius igitur datum est omnibus [...].« Vgl. I, 30. I, 33: »ergo et lex, quae est recta ratio in iubendo et vetando«. Π, 10: »ratio recta summi Iovis«. 1,19: »Ea [sc. lex] est enim naturae vis, ea mens ratioque prudentis, ea iuris atque iniuriae regula.« I, 28: »ad iustitiam esse natos«.

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Menschen (1,43). Die natürliche Veranlagung zur Liebe ist wiederum das Fundament des Rechts (ebd.). Doch nicht nur das Recht, sondern eine ganze Lehre vom guten Leben37 läßt sich aus der Natur ableiten. Ist die im Menschen angelegte gute Vernunft meist durch schlechte Gewohnheit und Laster verdeckt (I, 33), und gilt es demgegenüber, bedächtig seiner eigenen Natur zu folgen (I, 56), so ergibt sich als erste Forderung die nach Erkenntnis des eigenen, im Kern göttlichen Wesens: »daß wir uns selbst erkennen sollen«38. Diese Selbsterkenntnis - die göttliche Weisheit - ermöglicht dem Menschen dann gemeinsam mit der Ausrichtung an weisen Vorbildern, sich auf dem Weg der Tugend zu vervollkommnen: Körper, Lust und Furcht zu beherrschen sowie Liebe zu den ihm durch die gleiche Natur verbundenen Menschen und Verehrung den Göttern gegenüber zu praktizieren (I, 60). Im Politischen entspricht nach Cicero dem Naturrecht am ehesten eine Ordnung mit weisungsberechtigten Führern - in Parallele zur Naturordnung unter Gott und dem Menschheitsleben gemäß den Weisungen des höchsten Gesetzes (ΙΠ, 3).Es dürfte deutlich geworden sein, wie stark die stoische Konzeption des Naturrechts auf den genannten Stationen aufbaut: seine Bestimmung als ungeschriebenes Gesetz und seine Ableitung aus der spezifischen Natur des Menschen sind uns bereits ebenso begegnet wie die Verbindung zu Gott und Vernunft. Neu ist neben der systematischen Struktur und der nun auch explizit eingestandenen Orientierung am Naturbegriff vor allem die dezidierte Gleichsetzung von Natur-, Vernunft- und göttlichem Gesetz. Gerade sie aber begründete den anhaltenden Erfolg dieser Konzeption, ermöglichte sie doch eine Anknüpfung von zwei verschiedenen Richtungen her: sowohl von einer rationalistischen, beim Vemunftbegriff ansetzenden, wie von einer theologischen Ethik. 8.4. Thomas von Aquin: »Summa Theologica« Ι-Π, 90-105 Thomas hat der lex naturalis eine eigene Quaestio - im ersten Band des zweiten Teiles seiner »Summa Theologica« - gewidmet. Der engere Kontext dort sind die Ausführungen zum Gesetz. Das Gesetz wiederum begegnet als eines der beiden Mittel - das zweite ist die Gnade - , mit denen Gott die Menschen zum Guten bewegt.39 Thomas definiert es als »eine Anordnung der Vernunft in Richtung auf das Gemeinwohl, die von dem, der die Sorge für die Gemein-

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I, 58: »vivendi doctrina«. I, 58: »ut nosmet ipsos nosceremus«. Vgl. q. 90 intr.: »Principium autem exterius movens ad bonum est Deus, qui et nos instruit per legem et iuvat per gratiam.«

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schaft trägt, bekanntgemacht wurde«40. Wichtig bei dieser Definition ist besonders der Bezug auf das Gemeinwohl, das für Thomas der Inbegriff des letzten Zieles des menschlichen Lebens ist.41 Das Gesetz existiert in mehreren Spielarten. Neben der lex naturalis werden von Thomas noch genannt: lex aeterna, lex humana und lex divina. Das ewige Gesetz ist Gottes Regierungsplan42, die höchste Vernunft43. Das Naturgesetz ist mit ihm durch Teilhabe (participatio) verbunden,44 wie auch sämtliche übrigen Gesetze, »soweit sie an der rechten Vernunft teilhaben«45. Es ist aus den Wirkungen erkennbar,46 zudem besteht eine naturhafte Neigung (inclinatio naturalis) zu ihm aufgrund der angeborenen Tugendanlage des Menschen.47 Das menschliche Gesetz entspricht dem positiven Recht. Soweit es gerecht ist, leitet es sich vom ewigen Gesetz her,48 und zwar über das Naturgesetz. Letzteres ist Maßstab der menschlichen Gesetze, aus dem sie mittels der praktischen Vernunft49 abgeleitet werden.50 Sie sollen durch Zwang und Furcht vom Bösen abhalten.51 Während zwischen lex aeterna, naturalis und humana ein hierarchisches Teilhabeverhältnis besteht, ist die Stellung des göttlichen Gesetzes in diesem Komplex weniger klar. Schon die lex aetema ist ja dezidiert göttliches Gesetz, und ihre Konkretion auf das menschliche Wesen stellt die lex naturalis dar. Thomas stellt denn auch den einschlägigen Artikel unter die Frage, ob zusätzlich zu den genannten Typen überhaupt noch eine zusätzliche lex divi-

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Q. 90,4 resp.: »quaedam rationis ordinario ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata«. Vgl. q. 90,2: »Primum autem principium in operativis, quorum est ratio practica, est finis ultimus. Est autem ultimus finis humanae felicitas vel beatitudo, ut supra habitum est. Unde oportet quod lex maxime respiciat ordinem qui est in beatitudinem. Rursus cum omnis pars ordinetur ad totum sicut imperfectum ad perfectum, unus autem homo est pars communitatis perfectae, necesse est quod lex proprie respiciat ordinem ad felicitatem communem.« Q. 93,4 resp.: »ratio divinae gubemationis«. Q. 93,1 passim: »ratio summa«. Vgl. z. B. q. 96,2 ad 3. Q. 93,3 resp.: »inquantum participant de ratione recta«. Vgl. q. 93,2 passim. Vgl. q. 93,6 resp. Vgl. q. 96,4 resp.: »Si quidem [sc. leges positae humanitus] iustae sint, habent vim obligandi in foro conscientiae a lege aetemae, a qua derivantur [...].« Vgl. q. 94,4 resp.: »ratio practica«. Vgl. q. 95,2; 97,3. Vgl. q. 95,1 resp.

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na - gemeint sind Altes und Neues Testament - notwendig war.52 Die positive Antwort ergibt sich für ihn in erster Linie daraus, daß das letzte Ziel des Menschen über das auf natürliche Weise Erreichbare hinausgeht und damit eine besondere göttliche Leitung notwendig ist.53 Mit dieser Hilfsfunktion steht das von Gott zusätzlich gegebene Gesetz im gleichen Verhältnis zu den übrigen Gesetzestypen wie die Gnade zum Gesetz insgesamt. Diese lex divina steht, wegen ihres Bezugs auf das letzte übernatürliche Ziel des Menschen, über dem Naturgesetz, verdankt ihre Existenz aber nur der Unvollkommenheit des Menschen, dieses Ziel auf natürlichem Wege zu erreichen.54 Thomas kann aber auch von einem gegenseitigen Verweisungszusammenhang zwischen göttlichen Geboten und Naturgesetz sprechen.55 Die Gebote Gottes wären auch wirksam, wenn sie nicht statuiert wären - allein durch den Spruch der natürlichen Vernunft.56 Die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe sind auch - die ersten und gemeinsamen Gebote des Naturgesetzes; sie sind der menschlichen Vernunft per se bekannt, und zwar sowohl über die Natur als auch - und dies ist angesichts des per se überraschend - über den Glauben.57 Daß hier »terminologische[] Probleme[]« vorliegen, ist erst jüngst selbst von

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Q. 91,4: »Utrum fuerit necessarium esse aliquam legem divinam«. Vgl. q. 91,4 resp. Dort fuhrt Thomas als weitere Gründe an: die Unsicherheit des menschlichen Urteils im Kontingenten, die Notwendigkeit der Orientierung auch bezüglich der Motive und die Unmöglichkeit für den menschlichen Gesetzgeber, alle Sünden zu bestrafen. Q. 94,5 ad 1 nennt Thomas noch als Zweck für den Erlaß des göttlichen Gesetzes: eine notwendige Ergänzung des Naturgesetzes und die Korrektur der Korruption »einiger Herzen« (»in aliquorum cordibus«), die das von Natur Schlechte für gut hielten. Vgl. q. 91,5 ad 1: »sicut paterfamilias in domo alia mandata proponit pueris et adultis, ita etiam unus rex Deus in uno suo regno aliam legem dedit hominibus adhuc imperfectis existentibus, et aliam perfectiorem iam manuductis per priorem legem ad maiorem capacitatem divinorum.« Die hier sichtbar werdende Zweideutigkeit hinsichtlich der Überoder Unterordnung des kontingenten göttlichen Gesetzes gegenüber der lex naturalis spiegelt sich auch in Wolfgang Kluxens Interpretation der Ethik des Thomas: Das positive göttliche Gesetz steht »unterhalb« des Naturgesetzes »im formalen Sinne, nicht hinsichtlich der Dignität« (Kluxen, 238 Anm. 25). Daß das göttliche Gesetz laut Thomas nur wegen der Unvollkommenheit der menschlichen Natur nötig ist, wird auch von Kluxen gesehen (vgl. a.a.O., 237). Q. 100,1 resp.: »Sic igitur patet quod, cum moralia praecepta sint de his quae pertinent ad bonos mores; haec autem sunt quae rationi congruunt; omne autem rationis humanae iudicium aliqualiter a naturali ratione derivatur: necesse est quod praecepta moralia pertineant ad legem naturae, sed diversimode«. Q. 100,11 resp.: »Sed praecepta moralia ex ipso dictamine naturalis rationis efficaciam habent, etiam si nunquam in lege statuantur.« Q. 100,3 ad 1: »illa duo praecepta sunt prima et communia praecepta legis naturae, quae sunt per se nota rationi humanae, vel per naturam vel per fidem.«

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dem wohlmeinenden Thomas-Interpreten Markus Gumann eingeräumt worden,58 der aber zugleich mit dem Hinweis auf den Naturbegriff des Aquinaten, der eben die Ausrichtung auf Gott bereits - per se - enthält, einen Lösungsvorschlag anbietet.59 Soviel ist jedenfalls deutlich: In der Summe laufen die Aussagen des Thomas zum positiven göttlichen Gesetz zumindest darauf hinaus, daß es nicht im Widerspruch zum Naturgesetz stehen kann - und umgekehrt. Das natürliche Gesetz nun wird als »Teilhabe des vernünftigen Geschöpfs am ewigen Gesetz« definiert.60 Es bestimmt die »Grundrichtung unserer Handlungen«.61 Insofern alles Handeln auf das Gute zielt, ergibt sich als erstes Gebot des Naturgesetzes: »Das Gute ist zu tun und zu verfolgen, das Böse zu meiden«.62 Gut ist das, was dem Wesen, der Natur, entspricht.63 Zum

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Gumann, 181. Vgl. ζ. B. a.a.O., 187: »Eine >reine< Vernunft ist nicht natürlich vorhanden, sie kann nur das Resultat eines Abstraktionsvorganges sein.« Q. 91,2 resp.: »Et talis participatio legis aeteraae in rationali creatura lex naturalis dicitur.« Q. 91,2 ad 2: »prima directio actuum nostrorum ad finem«. Q. 94,2 resp.: »Hoc est ergo primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum.« Die Gleichsetzung von Natur und Wesen, wie sie bei Thomas und den meisten anderen Naturrechtslehrern im Blick auf den Menschen stillschweigend vollzogen wird, ist nicht so voraussetzungslos, wie es scheint. Christian Wolff unterscheidet dezidiert zwischen Wesen und Natur einer Sache, wenn er in seiner »Deutschen Metaphysik« als Natur eines Körpers definiert: »Und in so weit er ein thätiges Ding ist, eignet man ihm eine Natur zu: daß demnach durch die Natur nichts anders verstanden wird als die wiirckende Kraft, in so weit sie durch das Wesen eines Dinges in ihrer Art determiniret wird« (zit. Schröer, 72; vgl. insgesamt die beiden Abschnitte: a.a.O., 45-80). Im Wölfischen Naturbegriff fallt also gegenüber dem Wesensbegriff der Akzent auf die in der jeweiligen Entität liegende und von ihr ausgehende tätig-bewegende Kraft. Wolff knüpft damit in gewisser Weise an den Ursprung des griechischen Physis-Begriffs an, für den gilt: »Das Substantiv φύσις hat seine ursprüngliche verbale Kraft als >WerdenWachsen< immer beibehalten« (Heinimann, 89). Die Gleichsetzung mit dem Wesensbegriff ist gleichwohl von Beginn an angelegt, indem auch das Ergebnis des Wachsens als φύσις bezeichnet wurde (vgl. a.a.O., 92: »Nun ist aber anderseits φύσις wohl gleich von Anfang an neben dem >Werden< auch das >Geworden-Sein< [...].«). Dafür, daß sich die Identifikation weitgehend durchgesetzt hat, ist dann wohl Aristoteles verantwortlich, der sie in seiner »Metaphysik« an prominenter Stelle vollzogen hat (Met. V, 4, 1014b35ff; vgl. Heinimann, 90; vgl. auch Aristoteles, Pol. 1252b: »Denn die Beschaffenheit, die ein jedes Ding beim Abschluß seiner Entstehung hat, nennen wir die Natur des betreffenden Dinges, sei es nun ein Mensch oder ein Pferd oder ein Haus oder was sonst immer.«) und sie wegen seines dynamischen Wesensbegriffs auch problemlos vollziehen konnte - ebenso wie Thomas von Aquin, während ansonsten von Anhängern wie vor allem auch Kritikern des Natur-

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Naturgesetz gehört folglich »all das, zu dem der Mensch gemäß seiner Natur neigt«.64 Da diese Neigungen in einer Ordnung stehen,65 sofern der Mensch (1) substantielles, (2) Sinnen- und (3) Vernunftwesen ist, fächert sich dieses eine Gebot dreifach auf: (1) menschliches Leben bewahren und das Gegenteil hindern, (2) sinnliche Handlungen wie geschlechtliche Vereinigung oder Kindererziehung vollziehen, (3) die Wahrheit über Gott erkennen und soziales Handeln.66 Da das unter Punkt 3 genannte das spezifische Merkmal des Menschen, also die vernünftige Seele seine eigentümliche Wesensform ist, kann auch gesagt werden: Naturgemäßes, tugendgemäßes Handeln ist vernunftgemäßes Handeln.67 Hierin, in der Bezogenheit des Gesetzes der menschlichen Natur auf die menschliche Vernunft, ist seine Teilhabe am ewigen Gesetz, das ja der göttlichen Vernunft entspricht, letztlich begründet.68 Bemerkenswert ist schließlich, daß Thomas innerhalb des Naturgesetzes höhere und aus diesen abgeleitete sekundäre Gebote unterscheidet.69 Die obersten Grundsätze sind unveränderlich,70 dem Menschen unauslöschlich ins Herz geschrieben71 und natürlich erkennbar.72Die Anknüpfung dieser gesamten Gesetzeskonzeption an die antike Naturrechtstradition ist unverkennbar: Der Dreiklang von Natur, Vernunft und Gott verrät stoischen Einfluß, die dreifach gestaffelte Bestimmung der menschlichen Natur kann man fast gleichlautend bei Aristoteles nachlesen.73 Das be-

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rechtsgedankens wegen der Gleichsetzung von Natur- und (statischem) Wesensbegriff die dem ersteren von seinem Ursprung her eignende Dynamik häufig übersehen wird. Vgl. q. 94,3 resp.: »Dictum est enim quod ad legem naturae pertinet omne illud ad quod homo inclinatur secundum suam naturam.« Vgl. q. 94,2 resp.: »Secundum igitur ordinem inclinationum naturalium est ordo praeceptorum legis naturae.« Vgl. ebd. Vgl. q. 94,3 resp.: »Unde cum anima rationalis sit propria forma hominis, naturalis inclinatio inest cuilibet homini ad hoc quod agat secundum rationem. Et hoc est agere secundum virtutem.« Vgl. auch q. 94,2 resp.: »Sicut ista propositio: Homo est rationale est per se nota secundum sui naturam, quia qui dicit hominem, dicit rationale; [...].« Vgl. q. 97,1 ad 1 (»[...] naturalis lex est participatio quaedam legis aeternae [...] et ideo immobilis perseverai; quod habet ex immobilitate et perfectione divinae rationis instituentis naturam.«) in Verbindung mit q. 93,2 resp. (»Sed omnis creatura rationalis ipsam [sc. legem aeternam] cognoscit secundum aliquam eius irradiationem, vel maiorem vel minorem.«). Vgl. q. 94,6 passim. Vgl. q. 94,5 passim; 97,1 ad 1; 97,3 ad 1. Vgl. q. 94,6 passim. Vgl. q. 90,4 ad 1: »[...] promulgado legis naturae est ex hoc ipso quod Deus earn mentibus hominum inseruit naturaliter cognoscendam.« Vgl. Aristoteles, NE 1097b33-1098a4.

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sondere Anliegen des Aquinaten ist es, diese Tradition mit der christlichen, eine kontingente göttliche Offenbarung voraussetzenden Ethik zu verbinden. Daß dies nicht ohne Probleme abgeht, wurde oben bereits angesprochen, und es ist eine Frage der Gewichtung der verschiedenden Aussagen des Thomas, ob man seinen Syntheseversuch für bahnbrechend74 oder eher mißlungen75 hält. In jedem Fall hat der Aquinate mit dem Verhältnis von geoffenbartem und natürlichem Gesetz eine Problemstellung berührt, die in der weiteren Diskussion des Naturrechtsgedankens eine beherrschende Stellung einnahm. 8.5. Hugo Grotius: »De iure belli ac pacis« (1625) Bei Grotius sind von den vier Arten von Gesetz, die Thomas unterscheidet, drei wiederzuerkennen: natürliches, göttliches und menschliches Gesetz. Es fehlt also das »ewige Gesetz«, an dem bei Thomas alle anderen Anteil haben, wie überhaupt der Teilhabegedanke bei Grotius keine Rolle spielt. Drei weitere Änderungen in der generellen Systematik fallen ins Auge: (1) Anstelle vom Gesetz spricht Grotius vom natürlichen, göttlichen und menschlichen Recht, (2) das offenbarte göttliche Recht wird durch den Oberbegriff der Willkürlichkeit näher an das positive menschliche Recht gerückt; (3) hinzu kommt der Begriff des Völkerrechts, das mit dem Naturrecht vergleichbar ist, jedoch weniger Verbindlichkeit hat, da es nicht aus der Natur der Dinge gefolgert, sondern lediglich Gewohnheitsrecht ist. Das Naturrecht wird von Grotius definiert als »ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, daß einer Handlung wegen ihrer Übereinstimmimg oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Häßlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit innewohnt, weshalb Gott als der Urheber der Natur eine solche Handlung entweder geboten oder verboten

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Vgl. Auer, 209 (»Der vielleicht bedeutendste Vorgang dieser Art [sc. Rezeption außerchristlicher Gedanken in der Theologie] wird wohl darin zu sehen sein, daß die Hochscholastik den Vertikalismus der augustinischen Theologie durch ein horizontales, geschöpfliches Netzwerk< unterbrochen hat, indem sie zwischen Gott bzw der lex aeterna einerseits und dem menschlichen Gewissen andererseits die menschliche Natur eingebaut hat.«); Kluxen, XXX (»Der Thomismus als Ganzes ist eine >Synthese< ganz eigentümlicher Struktur, in welcher der durchgehend maßgebliche Zusammenhang der theologischen Ordnung Elemente philosophischer Herkunft in sich zieht, die doch ihren Bezug auf die eigene Sinnebene und somit Eigenrecht und Eigenbedeutung behalten.«). Vgl. Brunner, Gebot, 82: »ein innerlich unmöglicher Kompromiß zwischen antikeudämonistischem Rationalismus und dem augustinisch-paulinischen Verständnis des Guten«.

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hat«76. Diese Definition zeigt zunächst, daß die Unterscheidung von Recht und Gebot bei Grotius noch nicht konsequent durchgeführt ist. Bezeichnend ist, daß in stoischer Tradition die Natur gleich zweimal mit der Vernunft gleichgesetzt wird. Ebenfalls schon bei Cicero begegnet der Hinweis auf Gott als Urheber. Das Naturrecht kann nach Grotius aufgrund dieses göttlichen Ursprungs göttlich genannt werden (I,1,XV,1). Gerade hinsichtlich dieses Ursprungs unterscheidet es sich aber auch vom willkürlichen göttlichen77, das zwar nicht zeitlich - schon während der Schöpfung hat Gott dem Menschen Gebote gegeben (1,1,XV,2) - , wohl aber darin, daß es der geschaffenen Natur des Menschen eben nicht intrinsisch ist, dem Naturrecht untergeordnet ist. Damit deutet sich bereits der entscheidende Punkt an: Bezüglich des Verhältnisses von offenbartem und natürlichem Recht hat sich zwischen Thomas und Grotius eine Wendimg vollzogen. Dies zeigt schon die oben zitierte Definition: Entscheidende Instanz für die Bewertung der moralischen Güte einer Handlung ist die Übereinstimmung mit der Vernunftnatur; daß Gott die entsprechende Handlung ge- oder verboten hat, ist dann die logische Folge (»consequenter«). Erhellend ist in dieser Hinsicht aber auch die Disposition des Ganzen: Bei der Abhandlung seiner einzelnen Fragestellungen beginnt Grotius stets mit der vernünftigen Argumentation. Die ζ. T. recht ausführlichen Diskussionen von Bibelstellen haben entweder den Zweck, die gefundene Rechtsbestimmung zu untermauern, oder aber, einen scheinbaren Widerspruch auszuräumen. Einen solchen Widerspruch kann es nach den Voraussetzungen von Grotius gar nicht geben, denn Gott würde ja damit sich selbst widersprechen. Denkbar ist hingegen eine Ergänzung des Naturrechts durch göttliche Gebote. Zwar besteht der Grundsatz: »Das Naturrecht ist so unveränderlich, daß selbst Gott es nicht verändern kann.«78 Doch gilt dieser Satz »nur für das, was das Naturrecht gebietet oder verbietet, aber nicht für das, was es erlaubt«79. Eine solche Erlaubnis besteht ζ. B. für das Führen von gerechten Kriegen. In diesem Zusammenhang schreibt Grotius: »Ich erkenne gern an, daß uns in dem Evangelium nichts vorgeschrieben wird, was nicht der natürlichen Sitt-

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1,1,X,1 (lat. S. 34, dt. S. 50): »Ius naturale est dictatum rectae rationis indicane, actui alicui, ex eius convenientia aut disconvenientia cum ipsa natura rationali, inesse moralem turpitudinem aut necessitatem moralem, ac consequenter ab auctore naturae Deo talem actum aut vetari aut praecipi.« I,1,XV,1 (lat. S. 41, dt. S. 54): »Ius voluntarium divinum«. I,1,X,5 (lat. S. 35, dt. S. 51): »Est autem ius naturale adeo immutabile, ut ne a Deo quidem mutari queat.« I,2,V,1 (lat. S. 55, dt. S. 62): »id enim verum est in iis quae ius naturae vetat aut praecipit; non in iis quae iure naturae licent tantum.«

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lichkeit entspricht. Aber ich sehe nicht ein, warum ich zugestehen soll, daß die Vorschriften Christi uns nicht weiter verpflichten als zu dem, was schon das Naturrecht an sich gebietet.«80 Diese Sätze zeigen sehr schön, welchen Stellenwert Grotius den biblischen Geboten und Verboten zubilligt: Sie können dem Naturrecht zwar nicht widersprechen, sie können aber »weiter verpflichten«, es ergänzen im Sinne einer Verschärfung. Die Sätze offenbaren jedoch zugleich unmißverständlich, daß der Primat beim Naturrecht liegt: Wo es eindeutig ge- oder verbietet, kann das »willkürliche göttliche Recht« nurmehr affirmativ eingebracht werden. Für die These eines Primats der vernünftigen vor der religiösen Argumentation bei Grotius kann schließlich noch auf das vielzitierte »etiamsi daremus [...] non esse Deum« in der Einleitung der Schrift verwiesen werden: »Diese hier dargelegten Bestimmungen würden auch Platz greifen, selbst wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, daß es keinen Gott gäbe oder daß er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere. Sowohl die Vernunft wie die ununterbrochene Überlieferung haben uns das Gegenteil eingepflanzt. Viele Beweisgründe und Wunder bestätigen es, welche von allen Jahrhunderten bezeugt werden.«81 Man sollte diese Sätze jedoch nicht überbewerten. Wie der Kontext zeigt, werden sie von Grotius als extreme Bekräftigung in einer Argumentation verwandt, die völlig im Einklang mit der klassischen (auch christlichen) ethischen Tradition steht. Es geht um die Widerlegung des skeptischen Einwands, »[e]in Naturrecht gebe es nicht, denn die Menschen, wie alle lebenden Wesen, hätten von Natur nur den Trieb nach dem Nützlichen«82. Grotius verweist zunächst auf die Sonderstellung des Menschen unter den übrigen Lebewesen,83 auf die »Eigenart der menschlichen Natur«84, den starken, vom Nutzen unabhängigen »geselligen Trieb«, die Sprache und die »Fähigkeit, allgemeine Regeln zu

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1,2,VI,2 (lat. S. 58, dt. S. 64f): »Illud libens agnosco, nihil nobis in Euangelio praecipi quod non naturalem habeat honestatem: sed non ulterius nos obligan legibus Christi quam ad ea ad quae ius naturae per se obligat, cur concedam non video.« Prol. 11 (lat. S. 10, dt. S. 33): »Et haec quidem quae iam diximus, locum aliquem haberent etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana: cuius contrarium cum nobis partim ratio, partim traditio perpetua, inseverint confirment vero et argumenta multa et miracula ab omnibus saeculis testata [...].« Prol. 5 (lat. S. 7, dt. S. 32): »ius autem naturale esse nullum: omnes enim et homines et alias animantes ad utilitates suas natura ducente ferri«. Prol. 6 (lat. S. 7, dt. S. 32): »nam homo animans quidem est, sed eximium animans«. Prol. 7 (lat. S. 9, dt. S. 32): »humanae naturae congruentia«.

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fassen und danach zu handeln«,85 die den Menschen allesamt vom Tier unterscheiden. Er folgert: Nicht Nutzenerwägungen, sondern die »der menschlichen Vernunft entsprechende Sorge für die Gemeinschaft ist die Quelle dessen, was man recht eigentlich mit dem Namen Recht bezeichnet«.86 Die Menschen folgen dem Recht und bemühen sich um gerechte Verteilung der Güter, weil es ihrer geselligen Natur entspricht, und nicht aus Furcht oder Lusterwägungen. Sie würden es auch tun - und nun folgt der bekannte Satz - , wenn wir annähmen, daß es keinen Gott gäbe, der sich um ihre Dinge kümmerte, d. h. im Kontext: mit Belohnungen oder Strafen zum Tun des Guten anhielte.87 Der Gedanke der Nicht-Existenz Gottes wird also von Grotius nur eingeführt (und gleich wieder zurückgenommen), um eine skeptische Negation des in sich moralischen Wesens des Menschen abzuweisen, was keineswegs originell ist, sondern ζ. B. auch schon Piatons Anliegen gegen die Sophisten war. Auch den Gedanken selbst haben schon andere vor Grotius ausgesprochen.88 Zusammen mit dem Wegfall des Teilhabegedankens und der konsequenten Überordnung des natürlichen über das geoffenbarte Gesetz bestätigt er, daß das Naturrecht bei Grotius, zu Zeiten des 30-jährigen Kriegs also, dabei ist, auf eigene Füße gestellt zu werden.89

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Ebd. (lat. S. 8f, dt. S. 32): »Homini vero perfectae aetatis cum circa similia similiter agere norit, cum societatis appetitu excellente, cuius peculiare solus inter animantes instrumentum habet sermonem, inesse etiam facultatem sciendi agendique, secundum generalia praecepta [...].« Prol. 8 (lat. S. 9, dt. S. 33): »Haec vero quam rudi modo iam expressimus societatis custodia humano intellectui conveniens, fons est eius iuris, quod proprie tali nomine appellator [...].« Für diese Interpretation, wonach es Grotius bei seinem »etiamsi daremus [...] non esse Deum« auf den Gedanken Gottes als Belohners des Guten ankommt, spricht insbesondere, daß Grotius, nachdem er den Gedanken der Nicht-Existenz Gottes durch den Verweis auf Vernunft, Tradition und Erfahrung als Ungedanken erwiesen zu haben glaubt, sofort auf den Gehorsam gegenüber Gott und die Belohnungen, die er dem Gehorsam verheißen hat, zu sprechen kommt (vgl. Prol. 11 [lat. S. 10, dt. S. 33]). Auch nach Bernd Ludwig ist das Argument des Grotius mit der Nicht-Existenz Gottes »weit davon entfernt, die Ablösung des Naturrechts von seiner christlichen (d. i. theistischen) Grundlage zu demonstrieren« (Ludwig, 440). Er belegt diese Auffassung allerdings nicht, wie oben geschehen, mit dem Versuch einer textimmanenten Interpretation, sondern verweist vielmehr auf Suarez, Gregor von Rimini und andere, die bereits das gleiche Argument vorgetragen haben (vgl. ebd. und als Beleg das Suarez-Zitat a.a.O., 436f). Auf die spanische Spätscholastik verweist auch Huber, Gerechtigkeit, 31. Emanuel Hirsch spricht von der »Selbstbefreiung des Naturrechts« (Hirsch, Geschichte I, 22) bei Grotius und betont den Epochenwechsel, der mit ihm im abendländischen Denken eingetreten sei (vgl. ebd.: »Grotius gibt den ersten Versuch einer rein ethisch-

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Naturrecht und Menschenrechte 8.6. Thomas Hobbes: »Leviathan« (1651)

Eine ganz andere Definition des Naturrechts als bei Grotius begegnet wenige Jahre später - der »Leviathan«, dem zwei Vorläuferschriften vorausgingen, erschien 1651 - bei Thomas Hobbes. Hobbes hat selbst darauf aufmerksam gemacht, daß die Basis seiner Theorie des Politischen seine Anthropologie ist, 90 und tatsächlich läßt sich die ganze Theorie des »Leviathan« bis hin zum absolutistisch herrschenden »Souverän« - der kein Einzelherrscher sein muß, sondern im Rahmen der Theorie durchaus auch ein mit absoluter Machtfülle regierendes Parlament sein kann91 - schlüssig aus seiner Anthropologie bzw.

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rationalen Grundlegung der leitenden juristischen und politischen Begriffe.«). Vgl. Erik Wolf, Problem, 132 (»Grotius in Holland hat, besonders an die spanische Tradition anknüpfend, den ersten, auf humanistisch-reformatorischer Basis erwachsenen Versuch eines >säkularisierten< Naturrechtssystems unternommen [...].«); 133 (»Eigentliche Rechtsquelle ist also die Natur (oder Vernunft), und zwar die des Menschen [...].«). Etwas anders gewichtet Wolf in seiner Monographie über »Große Rechtsdenker«, die weniger das neuzeitliche Element als die Kontinuität zur christlichen Tradition bei Grotius betont (vgl. Erik Wolf, Rechtsdenker, 255-263). Aber auch dort sieht Wolf mit Grotius eine neue Epoche beginnen (vgl. a.a.O., 263; 313). Auch Bernd Ludwig stellt, trotz aller Kontinuitäten zwischen Grotius und der scholastischen Tradition, fest: »Die >recta ratio< hat allem Anschein nach den ersten Schritt von der Teilhabe an der >lex aeterna< zur [sie] einer - in Antizipation der Hobbesschen Position könnte man hinzufügen: genuin menschlichen - Wissenschaft von dem Guten in Hinblick auf das gesellschaftliche Leben getan [...]« (Ludwig, 441). Gleichwohl sieht er den entscheidenden Schritt zum säkularen Naturrecht erst mit Hobbes' »Leviathan« getan (vgl. a.a.O., 11: Sein Buch soll dienen als »Hinweis darauf, daß das abendländische Naturrecht sich nicht bereits etwa mit Grotius' De Iure Belli ac Pacis oder Hobbes' De Cive, sondern erstmals mit dem Leviathan als ein säkulares behaupten will - und es auch kann«.). Vgl. den Schluß der Einleitung des »Leviathan« (engl. S. 2, dt. S. 7): »He that is to govern a whole Nation, must read in himself, not this, or that particular man; but Mankind: which though it be hard to do, harder than to learn any Language, or Science; yet, when I shall have set down my own reading orderly, and perspicuously, the pains left another, will be onely to consider, if he also find not the same in himself. For this kind of Doctrine, admitteth no other Demonstration.« Der ganze erste Teil des »Leviathan«, der auch die einschlägigen Aussagen zu Naturrecht bzw. Naturgesetz enthält, steht unter der Überschrift: »Of Man«. Zur Bedeutung der Anthropologie Hobbes' für seine Theorie des Politischen vgl. Bartuschat, Anthropologie (a.a.O., 19: »Die Wichtigkeit der Anthropologie für Hobbes' Theorie des Staates steht außer Zweifel.«); Höffe, Widersprüche (a.a.O., 114: »Wie in der Tradition so basiert auch bei Hobbes die Staatsphilosophie auf anthropologischen Bestimmungen.«); Chwaszcza (dies., 83: »Die Gültigkeit des politischen Arguments ist von anthropologischen Voraussetzungen abhängig.«). Vgl. z. B. Hobbes, Leviathan Kap. 17 (engl. S. 89. dt. S. 134): »I Authorise and give up my Right of Governing my selfe, to this Man, or to this Assembly of men [...].«

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Psychologie ableiten.92 Dementsprechend erklärt sich die Differenz zu Grotius am besten aus dem gegensätzlichen Verständnis der Natur des Menschen. Entspricht bei Grotius das Naturrecht der stets gemeinschaftlichen Natur des Menschen, so geht nach Hobbes das natürliche Streben des Menschen nicht nach Gemeinschaft, sondern ist egoistisch bestimmt. Das aristotelische Verständnis des Menschen als ζφον πολιτικόν wird von Hobbes ausdrücklich bestritten.93 Im Hintergrund des ganzen Gedankengebäudes steht dabei seine atomistische Metaphysik bzw. Naturphilosophie.94

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Dies ist 1938 von Alfred E. Taylor und in seiner Nachfolge von Howard Warrender bestritten worden. Die These Α. E. Taylors (vgl. ders., 158: »Hobbes['] eigentliche Ethik, einmal entkoppelt von einer egoistischen Psychologie, zu der sie in keinerlei logisch notwendiger Verbindung steht, erweist sich als eine sehr strikte deontologische Ethik, die merkwürdigerweise, obwohl natürlich interessante Unterschiede bleiben, bereits an einige charakteristische Thesen Kants denken läßt.«) ist wirkungsvoll von S. M. Brown (vgl. ders., passim) widerlegt worden: Hobbes' Philosophie des Politischen ergebe sich widerspruchslos aus seiner egoistischen Psychologie; die Vertragseinhaltung seitens der Bürger sei nicht allein in einem Imperativisch verstandenen Naturgesetz bzw. Gebot Gottes begründet. In die gleiche Richtung geht die Interpretation Chwaszczas, abgesehen vom Egoismus, den sie als für die Begründung entbehrlich einschätzt (vgl. dies., 103f). Ahnlich wie Α. E. Taylor, wenn auch an anderer Stelle - beim Absolutismus des »Leviathan« - ansetzend, hat Otfried Höffe den schlüssigen Zusammenhang von Anthropologie und Staatstheorie bei Hobbes in Frage gestellt, ja sogar einen immanenten Widerspruch gesehen (vgl. ders., Widersprüche, 137f: »Im Gegensatz zu der häufig gerühmten >unerbittlichen Konsequenz< der Hobbesschen Staatskonstruktion - sofern man nur die extrem einseitige anthropologische Basis akzeptiere - , erscheint eher das Gegenteil plausibel. Während sich für die anthropologische Basis methodische Gründe anführen lassen, steht der Absolutismus mit eben dieser Basis, mit dem Prinzip der Selbsterhaltung, im Widerspruch. Hobbes' Staatskonstruktion ist immanent brüchig.«). Gegen diese These Höffes vgl. die überzeugenden Ausführungen von Bartuschat, Aktualität (a.a.O., 170: »Doch ist es die Hobbessche Analyse des Strebens nach Selbsterhaltung, die die besondere Gestalt des Staates zur Folge hat.«), und Kohler (ders., 184f: »Dieselbe Voraussetzung, die dazu nötigt, den Naturzustand als die Epoche größten Unfriedens vorzustellen, und dadurch jedem Vernünftigen und vor allem dem rationalen Egoisten die Einsicht in die Notwendigkeit, eine öffentliche, die Gewalt monopolisierende Herrschaft zu errichten, buchstäblich abpreßt, verlangt auch (weil qua Beweishypothese weiterhin in Geltung bleibend) kompromißlos, daß die Staatsgewalt, wenn sie ihre Funktion zu erfüllen fähig sein soll, als unverzerrbar durch die radikal egoistischen, die Verbindlichkeit vernünftiger Intersubjektivität allemal durchkreuzenden Selbsterhaltungs- oder besser: Selbststeigerungsinteressen konzipiert wird.«).

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Vgl. Hobbes, De Cive 1,2 (dt. S. 75-79). Hobbes hat diese Polemik nicht in die mit dem »Leviathan« vorliegende Endfassung seiner Philosophie des Politischen übernommen; das Problem ist dort bereits »überwunden« (F. Tönnies, 10). Vgl. Chwaszcza, 90: »Die mechanistische Körperphysik bildet nach der Systemarchitektonik Hobbes' auch die Grundlage seiner Gütertheorie, der wiederum eine entscheidende

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Neben dem individualistischen Zug der Hobbesschen Anthropologie wirkt sich auch ihr Pessimismus auf seine Auffassung des Naturrechts aus.95 Denn die Menschen sind im Naturzustand nicht nur vereinzelt, sondern entzweit,96 und wegen des latenten Krieges aller gegen aller - der interessanterweise auf die natürliche Gleichheit aller Menschen zurückgeführt wird97 - lebt der einzelne in »ständiger Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes«.98 Erst daraus ergibt sich die Aufgabe für die Vernunft, Sätze aufzustellen, die ein friedliches Zusammenleben - verstanden als bloßes »Mittel zur Selbsterhaltung«99

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argumentative Bedeutung im Rahmen von Hobbes' kontraktualistischem Argument zukommt.« Chwaszcza zeigt mustergültig, wie die gegenüber der ethischen Tradition umgekehrte Argumentationsrichtung bei Hobbes - anstatt bei einem Höchsten Gut als Zielbegriff knüpft er bei dem an, was schon da ist: dem Selbstinteresse - in seinem mechanistischen, den Bewegungsbegriff altemativlos obenan stellenden Denken begründet ist. Denn dieses führe zwingend eine »subjektivistische[] Theorie des Guten« (a.a.O., 95) herbei und damit einen Ausgang beim Eigeninteresse und nicht bei einem objektiven Gut. Gerne wird der Schulbuchweisheit vom Hobbesschen Pessimismus eine Stelle aus dem Widmungsbrief von »De cive« entgegengestellt, wo das »homo homini lupus« durch ein »homo homini deus« ergänzt wird. Überdies beschreibe bereits Aristoteles den Menschen ohne Gesetz ähnlich drastisch wie Hobbes. Doch gerade der Vergleich mit Aristoteles macht den Unterschied klar: Während der Philosoph aus Stageira ein Zusammenleben in der Polis allein durch Vervollkommnung des in der menschlichen Natur bereits Angelegten für möglich hält, bedarf es nach Hobbes der Übertragimg der Macht an den Souverän, um die konkurrierenden Leidenschaften der Bürger im Zaum zu halten. Die scheinbar optimistische Stelle in »De cive« spricht vom »Bürger«, setzt also diese Zähmung bereits voraus. Schon gegen Ende des Widmungsbriefs ist ganz im Sinne des »Leviathan« vom aus dem gemeinsamen Besitztum im Naturzustand notwendig hervorgehenden Krieg die Rede. Vgl. Hobbes, Leviathan Kap. 13 (engl. S. 65, dt. S. 96): »[...] that Nature should thus dissociate[...].« Vgl. ebd. (engl. S. 63, dt. S. 94f): »From this equality of ability, ariseth equality of hope in the attaining of our Ends. And therefore if any two men desire the same thing, which neverthelesse they cannot both enjoy, they become enemies; and in the way to their End, (which is principally their owne conservation, and sometimes their delectation only,) endeavour to destroy, or subdue one an other.« Dazu Kohler, 179: »Das bellum omnium entspringt und erneuert sich also aus der natürlichen, sowohl rechtlichen als auch faktischen Gleichheit der Menschen [...].« Ebd. (engl. S. 65, dt. S. 96): »continuali feare, and danger of violent death«. Vgl. a.a.O. Kap. 15 (engl. S. 81, dt. S. 120): »These are the Lawes of Nature, dictating Peace, for a means of the conservation of men in multitudes [...].«

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- durch eine einverständliche Regelung ermöglichen und gemeinhin Naturgesetze genannt werden.100 Auf dieser Basis werden von Hobbes Naturrecht bzw. Naturgesetz als Freiheit bzw. Pflicht des einzelnen zur Selbsterhaltung definiert.101 Er legt Wert auf die Unterscheidung zwischen Naturrecht und Naturgesetz, und letzteres erhält zwar programmatisch den Vorrang, insofern nämlich, als die Selbsterhaltung zum Rechtsverzicht verpflichtet. Faktisch aber bleiben die individuellen Rechte im Zentrum, da bei Scheitern der Friedensbemühungen der Verzicht auf sie jederzeit revoziert werden kann.102 Gelingt der Zusammenschluß, so wird das natürliche Recht jedes einzelnen mittels Vertrag auf den Souverän übertragen, um den natürlichen Zustand der Anarchie, in dem das eigene Leben bedroht wäre, aufzuheben. Seine Vertragstheorie der Gesellschaft wird so von Hobbes naturgesetzlich begründet,103 wie überhaupt die Vernunft nach Hobbes einen ganzen Katalog von Verhaltensregeln aus den grundlegenden Definitionen ableiten kann. Sie finden ihre einfachste Zusammenfassung in der Goldenen Regel104 und sind

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Vgl. a.a.O. Kap. 13 (engl. S. 66, dt. S. 98): »And Reason suggesteth convenient Articles of Peace, upon which men may be drawn to agreement. These Articles, are they, which otherwise are called the Lawes of Nature [...].« Die Naturgesetze sind also identisch mit dem bei Vertragsschluß aufgrund vernünftiger Überlegung gesetzten Recht, was die von Hobbes vollzogene Gleichsetzung von positivem und natürlichem Gesetz - sowohl im Blick auf den Inhalt wie den zu leistenden Gehorsam - erklärt: »The Law of Nature, and the Civili Law, contain each other, and are of equall extent [...]. The Law of Nature [...] is a part of the Civili Law in all Common-wealths of the world. Reciprocally also, the Civili Law is a part of the Dictates of Nature [...]. [...] every subject in a Common-wealth, has covenanted to obey the Civili Law, [...] And therefore Obedience to the Civili Law is part also of the Law of Nature« (a.a.O. Kap. 26; engl. S. 141f, dt. S. 205). Vgl. a.a.O. Kap. 14 (engl. S. 66, dt. S. 99): »The Right Of Nature [...] is the Liberty each man hath, to use his own power, as he will himselfe, for the preservation of his own Nature; that is to say, of his own Life; and consequently, of doing any thing, which in his own Judgement, and Reason, hee shall conceive to be the aptest means thereunto. [...] A Law Of Nature [...] is a Precept, or generali Rule, found out by Reason, by which a man is forbidden to do, that, which is destructive of his life, or taketh away the means of preserving the same; and to omit, that, by which he thinketh it may be best preserved.« Vgl. Bielefeldt, 155f. Vgl. insbesondere das zweite (Leviathan Kap. 14 [engl. S. 67, dt. S. 100]: »That a man be willing, when others are so too, as farre-forth, as for Peace, and defence of himselfe he shall think it necessary, to lay down this right to all things; and be contented with so much liberty against other men, as he would allow other men against himselfe.«) und dritte (Leviathan Kap. 15 [engl. S. 74, dt. S. 110]: »That men performe their Covenants made [...].«) Naturgesetz in Hobbes' Zählung. Vgl. Leviathan Kap. 14 und 15 (engl. S. 67; 82, dt. S. 100; 120f).

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unveränderlich und ewig105. Obwohl Hobbes im einschlägigen Kapitel immer wieder von diesen grundlegenden Regeln des Gemeinschaftslebens als von Naturgesetzen spricht, fügt er an dessen Ende hinzu, daß sie diesen Namen strenggenommen gar nicht verdienen: Sie sind Folgerungen der Vernunft aus der grundlegenden Bestimmung zur Selbsterhaltung und können nur dann als Gesetze bezeichnet werden, wenn man sie als Weisungen des göttlichen Weltregenten betrachtet.106 Da solche Weisungen, auch wenn sie als Offenbarungen angesehen werden, der natürlichen Vernunft nicht widersprechen können,107 ergibt sich, daß das Naturrecht Hobbes' durch und durch als Vernunftrecht konzipiert ist - allerdings ein Vernunftrecht sui generis, da die Vernunft bei Hobbes infolge seiner Anthropologie anders als in der klassischen Naturrechtstradition individuell, ohne direkten Bezug zum Göttlichen sowie den Leidenschaften untergeordnet erscheint. In moderner Begrifflichkeit handelt es sich eher um einen folgernden »Verstand« oder eine »Zweckrationalität«,108 die keine vorgegebene Ordnung repräsentiert und dadurch der gesetzgeberischen Willkür breiten Spielraum läßt. So erklären sich die

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Vgl. a.a.O. Kap. 15 (engl. S. 82, dt. S. 121): »The Lawes of Nature are Inmutable and Eternali [...].« Vgl. ebd. (engl. S. 83, dt. S. 122): »These dictates of Reason, men use to call by the name of Lawes; but improperly: for they are but Conclusions, or Theoremes concerning what conduceth to the conservation and defence of themselves; whereas Law, properly is the word of him, that by right hath command over others. But yet if we consider the same Theoremes, as delivered in the word of God, that by right commandeth all things then are they properly called Lawes.« Zugrunde liegt der Gedanke, daß ein Gesetz eine gesetzgebende Person voraussetzt (vgl. a.a.O., Kap. 13 [engl. S. 65, dt. S. 97]: »[...] nor can any Law be made, till they have agreed upon the Person that shall make it.«). Vgl. a.a.O., Kap. 12 (engl. S. 61, dt. S. 91): Der Begriff der übernatürlichen Offenbarung ist möglich, soweit er sich auf die Rede von Überirdischem bezieht, nicht aber, wenn er einen Widerspruch gegen die natürliche Vernunft ausdrücken soll (»which revelation a man may indeed have of many things above, but of nothing against naturall reason«). Vgl. Leviathan dt. S. 32: Vernunft ist Rechnen, Addieren und Subtrahieren. Vgl. Chwaszcza, 89 (»Einschränkung der Vernunft auf logische Überwachung«, sowie in praktischer Hinsicht: »Vernunft ist ein Optimierungsmittel, das wissenschaftliche Erkenntnis von Ursache-Wirkungs-Relationen fur handlungsvorbereitende Zweck-MittelAnalysen fruchtbar macht und den Menschen in die Lage versetzt, seine Umwelt zu seinem Vorteil zu gestalten und seine Zukunft zu planen.«); Ludwig, 447 (»Aber bei Hobbes ist diese >ratio< bloße >ratiocinatio< bzw. >computatio< und damit ein Instrument der Wissenschaft von den menschlichen Leidenschaften im weitesten Sinne [...]. Die epistemisch prekäre >recta ratio< des Stoisch-Christlichen Naturrechts, die Teilhabe an der >lex aetema< [...] ist - so der Hobbessche Anspruch am Ende der vierziger Jahre - endgültig der methodisch gesicherten Wissenschaft von den Bedingungen des Friedens gewichen.«).

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rechtspositivistischen Züge v o n Hobbes' Theorie des Politischen. 1 0 9 A n Hobbes zeigt sich somit beispielhaft, w i e weit sich bei einem entsprechenden Verständnis der zugrunde liegenden menschlichen Natur eine formal mit d e m Naturrechtsgedanken operierende Konzeption v o n der traditionellen Naturrechtslehre entfernen kann. D e n n nicht z u Unrecht gilt der Rechtspositivismus, auf den bei Hobbes alles hinausläuft, üblicherweise als Gegensatz zum naturrechtlichen Denken. 8.7. Samuel v o n Pufendorf: » D e o f f i c i o hominis et civis juxta l e g e m naturalem« ( 1 6 7 3 ) Steht H o b b e s ' Philosophie derart quer zur Tradition, so verwundert es nicht, daß sie v o n seinen Zeitgenossen fast nur i m Widerspruch wahrgenommen wurde. 110 Hobbes blieb in seinem Jahrhundert ein isolierter Denker. Ein ganz anderes Schicksal widerfuhr der Naturrechtslehre Samuel v o n Pufendorfs in Gestalt der 1673 erschienenen Zusammenfassung » D e officio«: Sie erlangte europaweite Verbreitung. 111 Pufendorf knüpft stärker als Grotius und erst recht Hobbes an stoische Gedanken an. D a s Naturrecht ergibt sich »allein aus der rechten Vernunft« 1 1 2 , ist

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Vgl. a.a.O., 450: »An keiner Stelle finden wir im Leviathan die für die christlichen Naturrechtslehrer bezeichnende Behauptung, daß zum Begriff des Gesetzes selbst neben dem gebietenden Willen auch immer schon die >recta ratio< gehöre. [...] Das Tor zum Rechtspositivismus steht bei Hobbes - wie in der Literatur ja schon des öfteren festgestellt wurde - damit weit offen.« Die Ursprünge dieser paradoxen Entwicklung vom Naturrecht zu seinem Gegenpol liegen nach Ludwig weit vor Hobbes: in der bei der christlichen Adaptation des antiken Naturrechtsgedankens erfolgten Ergänzung, ja Verdrängung der »recta ratio« durch den Willen Gottes (vgl. a.a.O., 429: »Der heidnische Gehorsam gegen das vernünftige Gesetz verkehrt sich so [sc. bei dieser Adaptation] in den Gehorsam gegenüber dem allmächtigen Gesetzgeber - und das war allem Anschein nach der historische Preis für die Herausbildung des modernen, abendländischen Willensbegriffs sowie desjenigen Gesetzesbegriffs des Naturrechts, mit dem wir es auch bei Hobbes zu tun haben.«).

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Vgl. Fetscher, LVin, unter Hinweis auf Studien von John Bowle (»Hobbes and his Critics«, 1951) und Samuel I. Mintz (»The Hunting of the Leviathan«, 1962). Vgl. Luig, 231: »Ohne große Übertreibung kann man sagen, daß in dem Jahrhundert zwischen dem Erscheinen dieses Buches und der Publikation von Kants >Metaphysik der Sitten< alle europäischen Juristen und vielleicht sogar überhaupt alle Gebildeten in Europa dieses Werk gelesen oder zumindest Vorlesungen über dieses Werk oder eine seiner Bearbeitungen und Nachahmungen gehört haben.« Bezüglich des Einflusses Pufendorfs auf die nordamerikanische Entwicklung vgl. Welzel, Kapitel, sowie Augat, Aufnahme (Augat relativiert die These eines überragenden Einflusses Pufendorfs). 1,3,13 (lat. S. 24, dt. S. 50): »ex solo rectae rationis«.

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aber nicht etwa vom Menschen erdacht, sondern göttlichen Ursprungs.113 Man durchschaut es am deutlichsten, »wenn man Natur und Geist des Menschen sorgfältig erforscht«.114 Diese Natur wird zunächst einmal wie bei allen anderen empfindungsfähigen Lebewesen, ja stärker noch als bei diesen, durch den Trieb zur Selbsterhaltung dominiert.115 Das Proprium des Menschen ist nun aber neben seinen geistigen Fähigkeiten, daß er als Mängelwesen ohne gegenseitige Hilfe sich gar nicht erhalten könnte. Ergibt sich aus der Bedürftigkeit seine Angewiesenheit auf ein Leben in Gemeinschaft, so aus der Unterschiedlichkeit der einzelnen und dem Vermögen, ja der Bereitschaft, einander zu schaden, die Notwendigkeit, ein solches Gemeinschaftsleben zu regeln. Nichts anderes als die Gesetze der Sozialität sind es, die Naturgesetze genannt werden (1,3,8). Die fundamentale Forderung lautet: »Jeder muß, soweit er kann, die Gemeinschaft pflegen und erhalten.«116 Und zwar muß er dies nicht nur aus vitalem Interesse wegen der mangelhaften Ausstattung des einzelnen gegenüber den Unbilden der umgebenden N a t o und wegen der natürlichen Bosheit vieler Menschen. Die Pflicht zur Gemeinschaft besteht auch, da aufgrund der Konstitution des Menschen gegenseitige Förderung überhaupt möglich ist. Gerade die Mängel disponieren dazu.117 Während im ersten Aspekt die Hobbessche Schilderung des Naturzustands anklingt, so führt das Postulat einer auch fordernden, also gestaltenden Funktion des Naturrechts über Hobbes hinaus. Das Leben in Gemeinschaft stellt keinen Notbehelf zur Überlebenssicherung der Einzelindividuen dar, sondern der Mensch ist ein

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Vgl. 1,3,11 (lat. S. 23, dt. S. 49): »medium non ex arbitrio hominum inventum, ac ex eonim libidine mutabile, sed expresse ab ipso Deo huic fini procurando constitutum«. 114 1,3,1 (lat. S. 21, dt. S. 45): »si quis naturam & ingenium hominis penitius perscrutatus fuerit«. 115 Vgl. 1,3,2 (lat. S. 21, dt. S. 45) und besonders 1,3,7 (lat. S. 22, dt. S. 47: »Sic igitur homo jam est animal sui conservandi studiosissimum [...].«) sowie 11,5,2 (lat. S. 69, dt. S. 159: »Sane enim cum apertum sit, hominem esse tale animal, quod seipsum & suam utilitatem quam maxime amat [...].«) und 11,5,6 (lat. S. 69, dt. S. 160: »Denique nullum homine animal ferocius, aut indomitum magis & quod in plura vitia, pacem societatis perturbare apta, sit proclive.«). 116 1,3,9 (lat. S. 23, dt. S. 48): »Cuilibet homini quantum in se colendam & servandam esse socialitatem.« Erik Wolf hat in seiner Darstellung die Konzeption Pufendorfs als »Naturrecht der Gemeinschaft« bezeichnet (Erik Wolf, Rechtsdenker, 349) und die wechselseitige Beziehung der beiden zentralen Gedanken von »imbecillitas« (Bedürftigkeit) und »socialitas« (Gemeinschaft) hervorgehoben. 117 Vgl. 1,3,7 (lat. S. 22, dt. S. 47): »per se egenum, sine auxilio sui similium servari impotens, ad mutua commoda promovenda maxime idoneum«.

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gerade in seiner Schwäche gemeinschaftliches Wesen.118 Daher ist das Fördern der Mitmenschen, insbesondere derer, die in Not sind, ein zentrales Moment des Naturrechts.119 Pufendorf steht dabei eine dezidiert staatliche Gemeinschaft vor Augen, die er schroff dem Naturzustand gegenüberstellen kann.120 Dabei verhehlt er nicht, daß bei der Staaisgründung das Schutzmotiv die beherrschende Rolle spielte; nach dem staatlichen Zusammenschluß können die Menschen aber auch um so reichlicher die Vorteile genießen, die sie einander zu bieten fähig sind.121 Der grundlegende Bezug von Pufendorfs Naturrecht auf die Sozialität wird auch an einer zweiten Version von dessen Grundregel deutlich, die in unmittelbarem Anschluß an die bereits zitierte Fassung erscheint: »Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in der Gemeinschaft notwendig und nützlich ist; was stört und schadet, ist verboten.«122 Hier wird man an die grundlegende Definition, wie sie bereits der Aquinate überliefert, erinnert, wonach das Naturgesetz gebietet, Gutes zu tun und Böses zu meiden - mit dem wichtigen Unterschied, daß es bei Pufendorf ausdrücklich - ein impliziter Bezug auf das bonum commune ist ja über die Gesetzesdefinition auch bei Thomas gegeben - von der Dienlichkeit für das Gemeinschaftsleben abhängt, ob etwas naturrechtlich ge- oder verboten ist. In jedem Fall hat das Naturrecht Pufendorfs Gebotscharakter. Aus der Grundregel kann direkt oder indirekt ein Katalog von Pflichten (officia) deduziert werden, die dreigeteilt werden in Pflichten gegenüber Gott, sich selbst und anderen Menschen (vgl. 1,3,13). Den religiösen Pflichten kommt dabei der Primat zu, denn die Religion bildet im letzten die Stütze auch für die Pflichten, die zwischen den Menschen untereinander bestehen (vgl. ebd.), »so daß der Mensch nicht gesellig wäre, wenn er nicht durch Religion erfüllt

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Vgl. 1,3,13 (lat. S. 24, dt. S. 50: »sociabilis [...] homo«); Π,5,2 (lat. S. 69, dt. S. 159: »ex socialitate hominis«). Vgl. etwa folgenden Satz aus dem Vorwort (lat. S. 8, dt. S. 19): »Jam quoque jure naturali jubemur succurrere egenis, subvenire iniqua calamitate oppressis, curam habere viduarum, orphanorumque.« Vgl. 11,1,9 (lat. S. 62f, dt. S. 144f): »ibi imperium affectuum, bellum, metus, paupertas, foeditas, solitudo, barbaries, ignorantia, feritas: heic imperium rationis, pax, securitas, divitiae, ornatus, societas, elegantia, scientiae, benevolentia«. 11,5,7 (lat. S. 70, dt. S. 161): »Postquam autem per civitates in talem sunt digesti ordinem homines, ut a mutuis laesionibus tuti esse possent, ultro deinde consecutum fuit, ut eo uberius fiuerentur commodis; quae ex hominibus in homines provenire apta sunt [...].« 1,3,9 (lat. S. 23, dt. S. 48): »omnia, quae ad istam socialitatem necessario & in universum faciunt, jure naturali praecepta; quae eandem turbant aut abrumpunt, vetita intelligi.«

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wäre«123. Die Pflichten gegenüber Gott umfassen als religio naturalis theoretische und praktische Sätze (1,4,1), wobei Pufendorf allerdings streng zwischen den Bereichen von Vernunft bzw. Naturrecht und Offenbarung unterscheidet: Die Vernunft hat im Bereich der Religion nur dort ein Recht, wo diese zur Beförderung der Ruhe und Gemeinschaftlichkeit des Lebens beiträgt, während die Religion, soweit sie für das Heil der Seelen sorgt, von einer besonderen göttlichen Offenbarung ausgeht.124 Die Pflichten gegen sich selbst knüpfen an die religiösen Pflichten an. Sofern sie nämlich über die natürliche Selbstliebe hinausgehen, gründen sie in der Geschöpflichkeit des Menschen, genauer: in der Verpflichtung zur Selbstvervollkommnung, die mit den jedem Menschen mitgeteilten Gaben des Schöpfers verbunden ist (1,5,l).125 Beachtlich ist hierbei, daß und wie Pufendorf individuelle und Gemeinschaftsbildung zusammendenkt. Einerseits ist die Pflicht gegen sich selbst von vornherein auch eine gegenüber der Gemeinschaft,126 andererseits aber erinnert Pufendorf daran, daß die Gemeinschaft kein Selbstzweck ist, sondern dem - auch individuellen - Wohl ihrer

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1,3,13 (lat. S. 24, dt. S. 50): »sie ut sociabilis quoque non esset homo, ni religione foret imbutus«. Ebd.: »Et quia sola ratio in religione ulterius progredì nequit, quam quousque illa inservit promovendae tranquillitati & socialitari hujus vitae. Nam prout religio salutem animarum procurât, ex peculiari revelatione divina provenit.« Vgl. auch das Vorwort, das zu wesentlichen Teilen eine Grenzbestimmung zwischen Naturrecht und Moraltheologie enthält, und zwar im Sinne der thomanischen Abgrenzung von Natur und Übernatur (unterschiedliche Quellen: Vernunft und Offenbarung; unterschiedliches Zielgebiet: äußerer und innerer Mensch; kein Widerspruch [»Nam & socialitas, quam nos pro fundamento juri naturali substravimus, commode in dilectionem proximi resolví potest.«, lat. S. 8, dt. S. 18]). Die gleiche Wichtigkeit hat auch Christian Thomasius der Unterscheidung von natürlicher und theologischer Ethik beigemessen: »Unter anderen Ursachen ist dieses Unglück [daß die Menschen Dinge tun, die sie ins Elend treiben] besonders dem zuzuschreiben, daß der Mensch das natürliche und übernatürliche Licht, die Vernunft und göttliche Offenbarung, miteinander vermischt und dadurch alle Erkenntnis durcheinanderwirft« (Thomasius, Nr. 3 [S. 1]). Bei der Auflösung dieses Durcheinanders habe Grotius einen entscheidenden Schritt getan: »Grotius war das Werkzeug, dessen sich die Weisheit Gottes bediente, um die so lange andauernde Verwirrung des natürlichen und übernatürlichen Lichtes aufzuheben, ihm einen Anfang zu machen« (a.a.O., Nr. 29 [S. 26]). Zum Schöpfungsgedanken vgl. 1,5,4 (lat. S. 28, dt. S. 60): »Quia autem nemo sibi ipse vitam dedit, sed illa pro Dei beneficio est habenda [...].« Vgl. 1,5,2 (lat. S. 27, dt. S. 59): »Et animus quidem ante omnia ad commode tolerandam vitam socialem est formandus, offiique & honesti sensu & amore imbuendus.«

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Glieder dienen soll.127 In einer Notwehrsituation oder in Lebensgefahr - Pufendorf nennt u. a. das bekannte Beispiel von dem einen Brett für zwei Schiffbrüchige (1,5,21) - ist es vom Naturrecht her »gestattet, daß sich jeder selbst der Nächste ist«128. Die naturrechtlichen Pflichten gegenüber anderen Menschen sind entweder absolut oder hypothetisch. Letztere setzen ein Vertrags- oder Rechtsverhältnis voraus, während erstere gegenüber allen Menschen gelten (1,6,1). Die erste und wichtigste absolute Pflicht ist es, einem anderen nicht zu schaden.129 Als zweite folgt der Gleichbehandlungsgrundsatz.130 Bestand die erste Pflicht in einer Unterlassung, so nimmt die dritte positiv wieder den Gedanken der gegenseitigen Förderung auf: »Jeder muß den Vorteil des anderen fördern, soweit er es ohne eigene Einbuße kann.«131 Während Pufendorf die zweite Pflicht mit der gleichen Würde jeden Menschens begründet hatte (1,7,1), argumentiert er diesmal mit dem verwandtschaftlichen Verhältnis aller Menschen untereinander.132 Die drei absoluten Gemeinschaftspflichten Pufendorfs nehmen somit die revolutionäre Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bereits vorweg, erweisen ihn also als Vorreiter der Menschenrechtsidee.133 Die hypothetischen Pflichten, die er anschließend abhandelt, gehen,

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Vgl. 1,5,6 (lat. S. 28, dt. S. 62): »Et quia socialitatis lex ad salutem mortalium spectat, ideo ejusdem talis est facienda interpretatio, quae singulorum salutem non pessumdet.« 128 1,5,4 (lat. S. 28, dt. S. 61): »De caetera tarnen per legem naturae haud quidquam praecipi videtur, ut quivis cujusvis alterius vitam suae vitae praeferat; sed caeteris paribus sibi quisque proximus esse permittitur.« 129 1,6,2 (lat. S. 32, dt. S. 72): »nequis alterum laedat«. 130 1,7,1 (lat. S. 35, dt. S. 78): »Ut quisque alterum hominem aestimet atque tractet, tanquam naturaliter sibi aequalem, seu ut aeque hominem.« 131 1,8,1 (lat. S. 36, dt. S. 82): »ut quilibet alterius utilitatem, quantum commode potest, promoveat.« 132 Vgl. ebd.: »Cum enim cognationem quandam inter homines natura constituent, parum fuerit alios non laesisse aut contemsisse, sed talia quoque in alios conferenda, aut invicerti communicanda, ex quibus mutua inter homines benevolentia ala tur.« 133 Es ist in der gegenwärtigen Pufendorf-Forschung umstritten, ob er auf philosophischer oder christlicher Basis argumentiert (vgl. Mulsow; eine dritte, »soziologische« Variante vertrat Erik Wolf: Pufendorfs Gedanken »gründen überhaupt nicht in einer philosophischen oder theologischen Idee, sondern in der empirischen Beobachtung der Geschichte und des Soziallebens« [Erik Wolf, Problem, 137; vgl. ders., Rechtsdenker, z. B. 372f].). Für die zweite Option reichen jedenfalls die Gedanken einer besonderen Würde des Menschen und einer verwandtschaftlichen Beziehung der Menschen untereinander nicht hin, denn sie begegnen bereits bei Cicero (s. o. 8.3.), was zugleich vor einer einseitigen Herleitung der Menschenrechtsidee aus dem jüdisch-christlichen Gedanken der Gottebenbildlichkeit, wie sie in kirchlichen Kreisen (vgl. z. B. Gestaltung und Kritik, 22: »Dieser Anerkennungs-Universalismus stammt aus der christlichen Überzeugung, daß

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wie bereits gesagt, auf Vertragsverhältnisse zurück. Oberster Grundsatz ist hier, daß Versprechen und Verträge einzuhalten sind (1,9,3). Der zweite Teil von Pufendorfs Werk ist den Pflichten gewidmet, die sich aus den verschiedenen Gesellschaftsständen ergeben. Insbesondere faßt Pufendorf hier die Staatslehre, wie sie sich auf der Basis seiner Naturrechtsauffassung ergibt, zusammen, doch braucht darauf an dieser Stelle, wo es lediglich um Grundzüge geht, nicht mehr eingegangen zu werdenPufendorfs Werk besticht zunächst durch seine übersichtliche systematische Struktur. Es wird der Versuch unternommen, aus einigen wenigen anthropologischen Sätzen ein ganzes ethisches System zu entwickeln. Dabei greift Pufendorf auf ganz verschiedene Denktraditionen zurück. Im Zentrum steht der Pflichtbegriff. Inhaltlich ist herauszustellen, daß er von den beiden Gedanken des Menschen als einem auf die Gemeinschaft angewiesenen Mängelwesen und der verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeit aller Menschen aus nicht nur negative Pflichten im Sinne von Verboten, sondern auch ein positives Gebot gegenseitiger Unterstützung und Förderung ableitet. 8.8. John Locke: Two Treatises of Government (1690) Wegen seiner überragenden Bedeutung für die Entwicklung des neuzeitlichen Menschenrechtsgedankens kann John Locke an dieser Stelle nicht übergangen werden, auch wenn seine Konzeption, wie sich zeigen wird, weitgehend im Rahmen der Tradition bleibt. Lockes (in Gestalt der zweiten Abhandlung) wirkungsvollste Schrift zur Ethik des Politischen enthält keine ausgeführte Naturrechtslehre. Gleichwohl spricht Locke auf fast jeder Seite vom »Gesetz der Natur«, so daß sich einiges über seine Sicht dieses klassischen Lehrstücks erschließen läßt, zumal unter Beiziehung seiner früheren »Essays on the Law of Nature«. Dort werden nicht zuletzt die grundsätzlichen Fragen beantwortet: Ja, es gibt ein Naturgesetz,134 und es steht für die Grundlegung der Moral in einem universalen Guten und nicht im nutzenorientierten Selbstinteresse.135 Die folgende Zusammenfassung folgt aus wirkungsgeschichtlichen Überlegungen - die »Essays« wurden erst 1954 publiziert - weitgehend dem »Second Treatise«.

jeder Mensch Ebenbild Gottes ist.«), aber auch andernorts (vgl. Kirchhof, 162f) verbreitet ist, warnen sollte. Ebenso wichtig für den Gedanken angeborener Menschenrechte sind stoische Wurzeln (auf sie weist hin z. B. Erik Wolf, Problem, 150). 134 Vgl. Locke, Essays, 108-121. 135 Vgl. a.a.O., 204-215. Die Schlußworte lauten: »adeo ut actionis rectitudo non pendet ex utilitate, sed utilitas consequitur ex rectitudine« (a.a.O., 214).

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Wie in der Tradition geht das Naturgesetz jeder staatlichen Gesetzgebung voraus. Das äußert sich in Lockes Theorie darin, daß es bereits im Naturzustand, vor der Gründung jeglichen politischen Gemeinwesens also, gültig ist.136 Danach behält es eine übergeordnete Funktion, insofern es als ungeschriebenes Gesetz137 Maßstab fur die Gerechtigkeit der staatlichen Gesetze ist.138 Auch hinsichtlich der Verbindung des Naturgesetzes mit Gott und der Vernunft bewegt sich Locke in traditionellen Bahnen.139 Ein biblischer Satz kann als Weisung der Natur angeführt werden,140 ebenso wie natürliche Vernunft und Offenbarung als zwei gleichwertige Beleginstanzen.141 Aufgrund seiner Nähe zur Vernunft ist das Naturgesetz allen vernünftigen Wesen verständlich.142 Damit ist zugleich gesagt, daß Minderjährige, deren Vernunft noch nicht ausgereift ist, es noch nicht kennen und ihm nicht unterworfen

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Vgl. z.B. Locke, Two Treatises II, 4 (engl. S. 118; dt. S. 201): Der Naturzustand ist »a state of perfect freedom«, aber »within the bounds of the law of Nature«. Vgl. a.a.O., II, 136 (engl. S. 186; dt. S. 286): »For the law of Nature being unwritten, and so nowhere to be found but in the minds of men [...].« Vgl. a.a.O., Π, 12 (engl. S. 123; dt. S. 207: »[...] the municipal laws of countries, which are only so far right as they are founded on the law of Nature, by which they are to be regulated and interpreted«); Π, 135 (engl. S. 185; dt. S. 285: »[T]he obligations of the law of Nature cease not in society, but only in many cases are drawn closer, and have, by human laws, known penalties annexed to them to enforce their observation. Thus the law of Nature stands as an eternal rule to all men, legislators as well as others. The rules that they make for other men's actions must, as well as their own and other men's actions, be conformable to the law of Nature - i.e., to the will of God, of which that is a declaration, and the fundamental law of Nature being the preservation of mankind, no human sanction can be good or valid against it.«). Hinsichtlich des Verständnisses des Naturgesetzes als göttliche Erklärung vgl. ζ. B. die zweite Belegstelle in der letzten Anmerkung, hinsichtlich seines Verständnisses als Gesetz der Vernunft vgl. ζ. B. a.a.O., II, 57 (engl. S. 143; dt. S. 234): »The law that was to govern Adam was the same that was to govern all his posterity, the law of reason.« Auch die Definition des Naturzustands zeigt die Identifikation von Natur- und Vemunftrecht, vgl. a.a.O., II, 19 (engl. S. 126; dt. S. 211): »Men living together according to reason without a common superior on earth, with authority to judge between them, is properly the state of Nature.« In der anderen Hinsicht fallt auf, daß Locke der Natur einen Willen zuspricht und sie so vergöttlicht, vgl. a.a.O., II, 182 (engl. S. 210; dt. S. 316): »[...] Nature, that willeth the preservation of all mankind as much as is possible [...].« Vgl. a.a.O., Π, 11 zu Gen 9,6 (engl. S. 122; dt. S. 206). Vgl. a.a.O., Π, 25 (engl. S. 129; dt. S. 215); Π, 52 (engl. S. 141; dt. S. 232). Vgl. a.a.O., Π, 124 (engl. S. 180; dt. S. 278f): »For though the law of Nature be plain and intelligible to all rational creatures [...].«

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sind. 143 Hier zeigen sich Parallelen zu Lockes Ablehnung v o n eingeborenen Ideen in der Erkenntnistheorie. 144 Zum Inhalt des Naturgesetzes! Seine grundlegende, über dem Organ der staatlichen Gesetzgebung stehende Forderung ist die Erhaltung der Menschheit 145 bzw. - wenn es zur Staatsgründung gekommen ist - der Gesellschaft und der in ihr lebenden Individuen. 146 D e m Stichwort »Erhaltung« (preservation) kommt in Lockes Ethik besondere Bedeutung zu. Sie allein ist das Ziel der Staatsgewalt. 147 Auch wenn Locke von Frieden, Sicherheit und Gemeinwohl als Staatszielen spricht,148 bleibt doch gleichsam als deren Summe das Hauptziel der bürgerlichen Gesellschaft die »Erhaltung«, und zwar des Eigentums. 149 Die Verknüpfung des Staatsinteresses mit der Sicherung von Eigentum hat dazu geführt, daß Locke von manchen Interpreten als Fürsprecher allein der besitzenden Klasse gewertet worden ist. Dabei wird übersehen, daß Locke einen sehr weiten Eigentumsbegriff hat, zu dem nicht nur der Besitz,

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Vgl. a.a.O., II, 57 (engl. S. 143; dt. S. 234): »For nobody can be under a law that is not promulgated to him; and this law being promulgated or made known by reason only, he that is not come to the use of his reason cannot be said to be under this law [...].« Diese Parallelen werden noch deutlicher in den von Locke kurz nach 1660 geschriebenen »Essays on the Law of Nature«. Locke widmet einen der Essays der Frage, »an hominum nascentium animae sint rasae tantum tabulae, observatione et ratiocinio postmodum informandae, an leges naturae officii sui indices connatas sibique inscriptas habeant« (Locke, Essays, 136). Für seine Ablehnung eines Angeborenseins argumentiert Locke u. a. mit den unterschiedlichen Vorstellungen vom Naturrecht unter den Menschen (vgl. a.a.O., 136-139). Falls es Übereinstimmungen gibt, »non tarnen a natura edocti sunt sed ab hominibus« (a.a.O., 140). Die praktischen werden von Locke mit den spekulativen Prinzipien parallelisiert, und fur jedes von diesen gilt, daß sie entweder aus einem anderen abgeleitet oder - noch besser - via Beobachtung und Induktion gewonnen werden (vgl. a.a.O., 144f). Der folgende Essay bejaht dann die Frage, ob eine Erkenntnis des Naturgesetzes mittels Sinneserfahrung möglich ist (vgl. a.a.O., 146-159). Vgl. z. B. Locke, Two Treatises, Π, 16 (engl. S. 125; dt. S. 209): »[...] the fundamental law of Nature, man being to be preserved as much as possible [...].« Vgl. a.a.O., II, 134 (engl. S. 183, dt. S. 283): »Itself [sc. the first and fundamental natural law which is to govern even the legislative] is the preservation of the society and (as far as will consist with the public good) of every person in it.« Noch allgemeiner ist eine andere Formulierung, vgl. Π, 183 (engl. S. 212; dt. S. 317): »The fundamental law of Nature being that all, as much as may be, should be preserved [...].« Vgl. a.a.O., Π, 135 (engl. S. 185; dt. S. 285): »It [sc. the legislative power] is a power that hath no other end but preservation, and therefore can never have a right to destroy, enslave or designedly to impoverish the subjects [...].« Vgl. ζ. Β. a.a.O., II, 131 (engl. S. 182; dt. S. 281): »And all this to be directed to no other end but the peace, safety, and public good of the people.« Vgl. a.a.O., Π, 85 (engl. S. 158; dt. S. 252): »[...] civil society, the chief end whereof is the preservation of property«.

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sondern auch das Leben und der Genuß der natürlichen Freiheiten gehören.150 Gleichwohl fallt die besondere Stellung, die Locke dem erarbeiteten Besitz zuteilt, ins Auge: Ein Offizier hat Gewalt über Leben und Tod seiner Untergebenen, darf ihnen jedoch nichts von ihrem Besitz nehmen; bei einem Überfall darf der Räuber getötet, aber nichts von seinem Geld genommen werden.151 Daß etwas durch Arbeit aus dem Gemeingut in den Besitz eines einzelnen übergeht, ist ein Naturgesetz.152 Durch Arbeit wird ein Recht an etwas erworben, was im Sinne des Naturgesetzes ist, solange das natürliche Maß, nämlich nicht mehr zu besitzen, als man auch nutzen kann, nicht überschritten wird - eine Gefahr, die erst mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft gegeben ist.153 Daß die »Two Treatises« hinsichtlich des Naturgesetzes abgesehen vom Gesetz der Erhaltung wenig konkret werden, dürfte mit ihrer Ausrichtung auf eine Staatstheorie zusammenhängen. In den »Essays« jedenfalls nennt Locke mehrere Tugenden als Vorschriften des Naturgesetzes: Respekt und Liebe der Gottheit, Gehorsam Höhergestellten gegenüber, das Halten von Versprechen, Wahrhaftigkeit, Güte, Freigebigkeit, keuscher Lebenswandel.154 Diese Vorschriften gelten notwendig, weil sie aus der Natur des Menschen folgen.155 Wirkungsvoller als seine Ausführungen zum Naturgesetz waren Lockes Bemerkungen zu den jedem Menschen von Natur zustehenden Rechten. Außer dem Recht auf Eigentum - im engeren Sinne von Besitz - und Erbbesitz156 sind dies das angeborene Recht jedes Menschen auf Freiheit für seine Person157 und das Recht auf Gleichheit (wie schon der Naturzustand ein Zu-

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Vgl. a.a.O., II, 123 (engl. S. 180; dt. S. 278): »[...] the mutual preservation of their lives, liberties and estates, which I call by the general name - property«. Vgl. a.a.O., Π, 139.182 (engl. S. 188f.211; dt. S. 289.316). Vgl. a.a.O., Π, 30 (engl. S. 131; dt. S. 218). Vgl. a.a.O., Π, 36 (engl. S. 133f; dt. S. 221f). Vgl. Locke, Essays, 126-129. Vgl. a.a.O., 198: »[...] sed cum [homo] ita factus sit, ratione et aliis suis facultatibus instructus, ad hanc vitae conditionem natus, sequuntur necessario ex nativa ipsius constitutione aliqua illius et certa officia, quae aliter esse non possunt. Mihi enim videtur tam necessario sequi ex natura hominis, si homo sit, quod tenetur amare et venerari Deum, et alia etiam praestare naturae rationali convenientia, hoc est observare legem naturae, quam sequitur ex natura trianguli, si triangulus sit, quod tres illius anguli sunt aequales duobus rectis [...].« Auf diese Stelle weist hin: Ashcraft, 20. Vgl. Locke, Two Treatises, II, 190 (engl. S. 214; dt. S. 320). Dieses Recht ist für Locke wichtig, weil es nach Eroberungskriegen für die Bürger des eroberten Landes in Geltung tritt (vgl. a.a.O., II, 192 [engl. S. 214f; dt. S. 321]). Vgl. a.a.O., Π, 190 (engl. S. 214; dt. S. 320).

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stand von Freiheit und Gleichheit ist)158. Diese beiden grundlegenden Rechte sind eng miteinander verwoben: Die Gleichheit steht neben der Gleichbehandlung vor Gericht für die Gleichheit im Blick auf Herrschaft, d. h. das für jedermann gleiche Recht auf Freiheit.159 Das Schwergewicht fällt somit auf das Freiheitsrecht,160 das von Locke ausdrücklich eingegrenzt wird auf die freie Verfügung über das eigene Eigentum - jetzt im weiteren Sinne - im Rahmen der Gesetze.161 Es enthält die Möglichkeit zum freien Rechtsverzicht, von der die Menschen bei einer Staatsgründung Gebrauch machen, indem sie nämlich das im Naturzustand zusätzlich bestehende Recht jedes einzelnen auf Bestrafung der Gesetzesübertreter162 an die Staatsgewalt abtreten.163 Dabei folgen sie nicht nur der Wahrnehmung von Nachteilen des Naturzustands, die letztlich auf die Unvollkommenheiten des menschlichen Wesens zurückgehen,164 sondern auch einem vom Schöpfer in ihre Natur gelegten Drang zur Gemeinschaft.165Wie ist die Lockesche Fassung des Naturrechtsgedankens insgesamt einzuschätzen? Es zeigen sich etliche Kontinuitäten zur Tradition: die Trias von Gott, Natur und Vernunft; der Versuch, die obersten Grundsätze der Moral aus dem Wesen des Menschen abzuleiten; das Gemeinwohl (in Gestalt der »Erhaltung der Menschheit«) als oberstes Ziel. Das Bild vom Naturzustand ist positiver als bei Hobbes. Zwar gehen wie bei Hobbes die Individuen dem Staat voraus, insofern dieser menschliche Schöpfung ist.166 Sie folgen bei der

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Vgl. a.a.O., Π, 4 (engl. S. 118f; dt. S. 201f). Vgl. a.a.O., Π, 54 (engl. S. 142; dt. S. 232f). Vgl. a.a.O., Π, 17 (engl. S. 126; dt. S. 210: »freedom being the foundation of all the rest«) sowie die Doppelung von Freiheit und Unabhängigkeit a.a.O., II, 95 (engl. S. 164; dt. S. 260): »Men being, as has been said, by nature all free, equal, and independent [...].« Vgl. a.a.O., Π, 57 (engl. S. 143f; dt. S. 234): »For liberty is to be free from restraint and violence from others, which cannot be where there is no law; and is not, as we are told, >a liberty for every man to do what he lists.< [...] But a liberty to dispose and order freely as he lists his person, actions, possessions, and his whole property within the allowance of those laws under which he is, and therin not to be subject to the arbitrary will of another, but freely follow his own.« Vgl. a.a.O., Π, 7 (engl. S. 120; dt. S. 203f). Vgl. a.a.O., Π, 87 (engl. S. 158f; dt. S. 253f). Vgl. a.a.O., Π, 124-126 (engl. S. 180; dt. S. 278f). Vgl. a.a.O., Π, 77 (engl. S. 154f; dt. S. 248): »God, having made man such a creature that, in His own judgment, it was not good for him to be alone, put him under strong obligations of necessity, convenience, and inclination, to drive him into society, as well as fitted him with unterstanding and language to continue and enjoy it.« Vgl. a.a.O., I, 6 (engl. S. 5; dt. S. 69): »άνθρώπινη κτίσις«.

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Staatsgründung aber lediglich einer - ihnen wiederum vorausgehenden - höheren Ordnung.167 Man kann daher Lockes Naturrechtslehre - und mit ihr seine gesamte Ethik - durchaus in die klassische abendländische Tradition einordnen.168 8.9. Kant, Fichte und die Historische Rechtsschule Man kann das 17. Jahrhundert als die Hochzeit in der neuzeitlichen Geschichte des Naturrechtsgedankens bezeichnen. Danach kommt es zu einer allmählich fortschreitenden kritischen Abwendung, und zwar europaweit. Die folgenden Abschnitte beschränken sich auf die Entwicklung im deutschsprachigen Raum, da diese auch für die generelle Frage der Grundlegung von Ethik einige interessante Aspekte enthält. Trotz dieser Beschränkung kann auch hier die Darstellung nur schlaglichtartig erfolgenBei Christian Wolff begegnet noch einmal ein ganzes ethisches System auf naturrechtlicher Grundlage.169 Oberstes Kriterium einer Handlung ist dabei die »Vollkommenheit«.170 Die Vollkommenheit wird von Wolff als »Zu-

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Es ist daher die Frage, ob bei Locke tatsächlich »eine individualistische Konzeption der Gesellschaft« (so Bobbio, Zeitalter, 51) im modernen Sinne vorliegt. Dieses Ergebnis entspricht auch zumindest einer Richtung der neueren Locke-Forschung. Nachdem in der Forschung lange Zeit ein uneinheitliches und kritisches Bild überwog (vgl. Wagner, 165: »die schwankende bis widersprüchliche Konzeption von John Locke«), hat die Kenntnis von zuvor unpubliziertem Material, angefangen bei den genannten »Essays« über Manuskripte bis hin zu Tagebuchnotizen, zu neuen Bewertungen geführt. Bahnbrechend für die hier interessierende Linie war die Arbeit von John Dunn, der die Kontinuität Lockes zur klassischen Naturrechtslehre betonte und Lockes Verwurzelung in christlichem Lehrgut wie dem Gedanken einer weise geordneten Schöpfung mit einer charakteristischen Position des Menschen und - für die individualistischen Anteile in Lockes Theorie - dem calvinistischen Berufimgsgedanken herausstellte (vgl. einerseits z. B. Dunn, 87; andererseits a.a.O., 245-261). In der Nachfolge Dürrns, dem er lediglich eine weitgehende Abstraktion von den sozio-ökonomischen Zeitumständen Lockes vorwirft, hat Richard Ashcraft - unter Berufung auf »the massive evidence of Locke's religious convictions contained in these unpublished notebooks, journals, and private correspondence« (Ashcraft, 17) - diese Sicht des weltanschaulichen (vgl. a.a.O., 15: »a worldview, if you like«) Hintergrunds für Lockes gesamte Ethik erhärtet. Vgl. auch Eisenach, der die deistischen Anteile in Lockes Moralphilosophie herausarbeitet (ders., passim). Vgl. Schröer, 158: »Das Fundament der Ethik ist bei Wolff das >Gesetz der NaturGesetzes der Nature Tue, was dich und deinen Zustand vollkommener macht; unterlaß, was ihn unvollkommener macht.« 171 Vgl. ebd. 172 Vgl. a.a.O., 157. 173 Vgl. a.a.O., 177. 174 Vgl. Kant, GMS, 29: »Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit in jenem beliebten Geschmacke ansehen, so wird man bald die besondere Bestimmung der menschlichen Natur (mitunter aber auch die Idee von einer vernünftigen Natur überhaupt), bald Vollkommenheit, bald Glückseligkeit, hier moralisches Gefühl dort Gottesfurcht, von diesem etwas, von jenem auch etwas, in wunderbarem Gemische antreffen, ohne daß man sich einfallen läßt zu fragen, ob auch überall in der Kenntnis der menschlichen Natur (die wir doch nur von der Erfahrung herhaben können) die Prinzipien der Sittlichkeit zu suchen seien [...].« 175 Für Hans Welzel liegt hier »der große Umschwung, der der modernen Ethik das Gepräge gibt: An die Stelle der objektiv-materialethischen Probleme, die das primäre Anliegen der jahrtausendealten ethischen Forschung der Naturrechtslehre war, tritt das Problem der subjektiven Moralität« (Welzel, Naturrecht, 168).

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ligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einemunddemselben Subjekt auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den Abänderungen dieses Gefühls [...]« (ebd.). Hier zeigt sich: Es geht Kant bei der Abweisung materialer Prinzipien neben dem Autonomieprinzip auch um die Universalität der Moral. Nicht nur individuell unterschiedliche Bedürfiiisse, sondern auch ebenso vielfältige Erfahrungen und Kenntnisse kämen ins Spiel, was zusammengenommen die Autonomie des Sittlichen und seine universale Gültigkeit unterminieren würde (KprV, A 64). Kant sucht ein universelles Gesetz, nicht bloß eine generelle, auf zufälliger Übereinstimmung beruhende Regel (KprV, A 63). Und Universalität scheint ihm nur um den Preis der Formalität des obersten Grundsatzes zu haben. Außer Kants Interesse an Universalität und Autonomie der Sittlichkeit ist noch ein drittes Element zu nennen, das mit dem Autonomiegedanken zusammenhängt: die wissenschaftstheoretische Trennung von praktischer und theoretischer Vernunft.176 Das Interesse an einer eigenständigen Ethik bedingt die Ablehnimg jeglicher theoretisch-weltanschaulichen Basis, selbst wenn sie als apriorisch ausgewiesen wäre.177 All dies steht im Hintergrund, wenn Kant die naturrechtliche Grundlegung der Moral auf die Natur des Menschen ablehnt. Kurz: eine anthropologische Orientierung würde die Ethik von zufälligen Kenntnissen und Meinungen abhängig machen.178 Wenn Kant in der »Metaphysik der Sitten« dennoch gelegentlich Sätze als Naturrecht oder Naturgesetz bezeichnet, so versteht er das in seinem formalen Sinne als apriorische Vemunfigesetze.179 So lautet zumindest sein Programm. Ob es auch vollständig durchgeführt ist, kann in Frage gestellt werden. Denn etwa mit dem Gedanken der Menschenwürde180

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Vgl. Schröer, 184: »Aus dieser Bestimmung der Ethik als Wissenschaft erheben sich folglich zwei Forderungen, die Kant an jeden moralphilosophischen Entwurf stellen muß, der den Anspruch erheben will, eine allgemeine Grundlegung der Moralphilosophie zu bieten: Zum einen muß ein der Ethik eigenes Prinzip gefunden werden: dieses wäre ohne Rekurs auf ein materiales Prinzip zu begründen, insofern dies eine Abhängigkeit von Empirie und theoretischer Verstandeserkenntnis bedeuten würde. [...]« Daß die Trennung von praktischer und theoretischer Vernunft selbst eine weltanschauliche Prämisse ist, wird von Kant nicht reflektiert. Vgl. Kant, GMS, 5f: »[...] alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das Mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie), sondern gibt ihm als vernünftigem Wesen Gesetze a priori [...].« Vgl. z. B. Kant, MS, AB 24: »Unter diesen [sc. den äußeren Gesetzen] sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber natürliche Gesetze [...].« Vgl. vor allem die »Selbstzweck«-Formel des Kategorischen Imperativs in Kant, GMS, 52.

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hat Kant doch auch inhaltliche Anleihen bei der Naturrechtstradition und deren Anthropologie gemacht.181 Überdies ist schon die bei Kant allgegenwärtige Orientierung am Gesetzesbegriff der mathematischen Naturwissenschaft eine zeitbedingte Forderung, die den Anspruch auf Universalität untergräbt.182 Letzteres wäre auch Fichtes Ethik vorzuwerfen. Was aber konkrete, im Kategorischen Imperativ versteckte Inhalte betrifft, war Fichte konsequenter als Kant. Ausgehend von der mit Kant übereinstimmenden Forderung, »daß das Sittengesetz lediglich formal, mithin leer sei, und daß ihm ein Inhalt anderwärtsher nicht erschlichen, sondern gründlich deduziert werden müsse«183, reduzierte er das Sittengesetz auf »das Gesetz der absoluten Übereinstimmung mit sich selbst«184 in der Form: »handle nach deinem Gewissen,«185 Außer im Titel seiner ethischen Frühschrift ist damit die Naturrechtslehre

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Diese Kontinuitäten im Widerspruch zum eigenen Programm Kants hat besonders Hans Kelsen hervorgehoben. Vgl. ders., Grundlagen, 76: »Ja, seine >Metaphysik der Sitten< kann geradezu als der vollkommenste Ausdruck der klassischen Naturrechtslehre angesehen werden, wie sie sich während des XVII. und XVIII. Jahrhunderts auf dem Boden des protestantischen Christentums entwickelt hat.« Auch ein wohlwollender Kant-Exeget wie Otfried Höffe stellt fest: »Die angeblich reine Moralphilosophie [sc. Kants] ist in Wahrheit von anthropologischen Annahmen vielfach durchsetzt« (Höffe, Rechtsprinzipien, 103). Nach Höffe ist der Widerspruch jedoch auflösbar, wenn man Andeutungen Kants folgend zwischen einer - rein apriorischen - »Idee des schlechthin Guten« und dem dieser nachgeordneten, durch anthropologische Anleihen nur relativ apriorischen Kategorischen Imperativ unterscheidet (vgl. a.a.O., 111-115). Für eine ausführliche Darstellung der anthropologischen Residuen bei Kant vgl. Rentsch, 311-334. Eine Interpretation, die Kants gesamte kritische Philosophie in die Linie der deutschen Philosophie vor und nach Kant einordnet, hat Max Wundt unter dem Titel: »Kant als Metaphysiker« vorgelegt (vgl. z. B. Wundt, 376: »Das Ziel, das Kant sich gestellt hat, die neue Begründung der Metaphysik, verschiebt sich ihm im Verfolg seines Weges, so daß er, an dessen Ende angelangt, nicht eine neue Begründung der Metaphysik, sondern vielmehr die Begründung einer neuen Metaphysik gewonnen hat. Was ursprünglich nur die alte Metaphysik neu begründen sollte, erweist sich schließlich selber als eine neue Metaphysik.«). 182 Vgl. Scheler, Methode, 75 (= ders., GW I, 255f): »Denn es heisst schon eine ganz bestimmte, und insofern inhaltliche Seite des sittlichen Lebens verabsolutieren, wenn in das Centrum der Ethik die Gesetzlichkeit des Verhaltens überhaupt gestellt wird. [...] Schon Schleiermacher hat in seiner >Kritik aller bisherigen Sittenlehre< mit Recht gezeigt, dass der alleinige Ausgangspunkt vom Begriffe des Gesetzes die Ethik zu einer Einseitigkeit fuhrt, die vom methodologischen Gesichtspunkte aus zum mindesten zu vermeiden ist.« 183 Fichte, Grundlage des Naturrechts, 10. 184 Ebd. 185 Fichte, Sittenlehre, 156.

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verlassen.186 Dem entspricht es, wenn er später auch den Begriff ablehnt: »Naturrecht, das ist Vernunftrecht und sollte es heißen.«187 Gleichwohl bleibt beim »Vernunftrecht« Kants und Fichtes eine strukturelle Parallele zum Naturrechtsgedanken bestehen: der Anspruch, die Moral auf das eigentliche Wesen des Menschen zu gründen, sie transzendental und nicht empirisch aus diesem zu deduzieren.188 Weil sie diesen ihren Anspruch nicht erfüllte, sofern sie auf - »empirische« - Inhalte rekurrierte, verwarf Kant die traditionelle Naturrechtslehre. Seine Kritik an ihr kann durchaus als immanente Kritik gelesen werden. Schon von jeher war das Natur- als Vernunftrecht konzipiert worden, und die entscheidende Entwicklung bei Kant und Fichte besteht nicht im Wechsel zum Vernunftrecht an sich, sondern in der Wende von einem inhaltlich-bestimmten zu einem rein formalen Vernunftrecht. Die Folgen dieser durch Kant und Fichte eingeläuteten Entwicklung hin zu einer rein formalen Grundlegung der Ethik waren nichtsdestotrotz gravierend. Gerade in der Fichteschen Form als Gewissensethik war dem Subjektivismus Tür und Tor geöffiiet, und das Beispiel Emanuel Hirschs zeigt, wie dann in der Folge gegen die Intention Fichtes und dennoch im Anschluß an ihn aus der rationalen eine irrationale Ethik-Grundlegung werden konnte. Unmittelbarer war die Auswirkung auf die rechtsphilosophische Reflexion: Das tatsächliche Recht verlor die Beziehung zur Vernunft, die in der Tradition gerade mit dem Versuch der Ableitung der positiven Rechtssätze aus dem Naturrecht intendiert war.189 In diesem Sinne hat bereits Fichte das Recht ganz der

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Vgl. Zahn, XIX: »Wenn Fichte sein Werk >Naturrecht< nennt, so darf das keineswegs zu der Annahme verfuhren, daß es sich hierbei um den Versuch handle, eine Rechtslehre aus den natürlichen menschlichen Gegebenheiten zu entwickeln.« Ernst Bloch (ders., 81) spricht zutreffend von »Kants und Fichtes Naturrecht ohne Natur«. Zit. Zahn, XIX. Vgl. Kelsen, Rechtslehre, 425: »Es scheint somit, daß er [sc. Kant] - zumindest auf dem Gebiete der Ethik - eine naturrechtliche Argumentation ablehnt. Aber da nach Kant die reine Vernunft, auf die er hier - und nicht auf die praktische Vernunft - hinweist, das Erkenntnisvermögen des Menschen ist und insoferne zu seiner Natur gehört, und da er [...] annimmt, daß die praktischen Grundsätze >in unserer Vernunft liegenSchulbegriff< zusammenzufassen, sondern auch die von ihnen in der >schulinternen< Kontroverse zum Ausdruck gebrachte naturrechts- und rechtspositivismuskritische Zielsetzung« (a.a.O., 186). Stammler wirft Kants Rechtsphilosophie u. a. Wirklichkeitsfremdheit vor: »Wer erfolgreich Rechtsphilosophie treiben will, muß Aktenstaub gerochen haben. Je genauer und schärfer er als technischer Jurist erfahren ist und wirkt, um so treffsicherer kann er in die rechtsphilosophische Methode einlenken« (27). Vgl. ζ. B. 18: »Sachlich verdient der fadenscheinige Empirismus keine eindringliche Überlegung. Es liegt auf der Hand, daß die freiwillige Beschränktheit auf gerade gegebene Einzelaufgaben nur der Scheu vor folgerichtigem Ausdenken entspringt. Der Anhän-

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eigene Position als idealistische gekennzeichnet, zugleich aber - und an diesem Punkt steht Stammler näher bei Kant als etwa Cohen - gegenüber einer spekulativen Metaphysik die Bedeutung des geschichtlich Gegebenen für das idealistische Denken anerkannt.228 Hauptgegner Stammlers ist gleichwohl der Rechtspositivismus, der bei der Analyse des gegebenen Rechts stehenbleibe, sofern er nicht - wie Savigny - inkonsequent auf einen mythischen »Volksgeist« zurückgreife.229 Nein - die Rechtswissenschaft darf nach Stammler nicht nur »technisch« das gegebene Recht analytisch zergliedern und reproduzieren. Dies sei zwar der notwendige Beginn ihrer Arbeit, doch sei die technische durch eine »theoretische«, an einem den einzelnen Fakten übergeordneten Gedanken orientierte Rechtslehre zu ergänzen.230 Hier kommt nun der für Stammler charakteristische Begriff zur Geltung: die Rechtswissenschaft als Lehre von dem »richtigen Recht«. Seine Bedeutung wird u. a. im Vergleich zur traditionellen Naturrechtslehre näher profiliert. Stammler konstatiert durchaus eine Verwandtschaft (vgl. 83), nämlich dann, wenn die Natur nicht naturalistisch, sondern im Sinne von »gesetzmäßigem Wesen« (83)231 verstanden und die »ganz verkehrt[e]« (86) Auffassung, das Naturrecht unterscheide sich vom positiven Recht hinsichtlich der Entstehung und nicht hinsichtlich des Inhalts,232 abgewiesen werde. Gleichwohl ist laut Stammler die Naturrechtslehre durch zwei Fehler gekennzeichnet. Zunächst übernehme sie sich, indem sie auf die »drei Fragen der

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ger einer empiristischen Denkart braucht natürlich auch ein Fundament, das den Aufbau seiner Lehre und seines Tuns trägt, aber er vermeidet es, darüber sich und anderen klare Auskunft zu geben.« Vgl. ζ. B. 144: »Wir haben oben [...] daran erinnert, daß die Idee auch in der rechtlichen Betrachtung nicht schöpferisch ist. Der sinnliche Stoff des Begehrens entsteht im natürlichen Laufe der Dinge: Wir können seiner begrifflichen Bestimmung nachgehen und im Sinne der Idee ihn richten. Die Materie wird uns geliefert, unter den dadurch gegebenen Möglichkeiten haben wir jeweils eine Wahl zu treffen.« Zu Savigny vgl. 30; 112f. Vgl. ζ. Β 59: »Jede Norm eines gesetzten Rechtes (der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) muß nach der Methode der theoretischen Rechtslehre bestimmt werden, wenn sie ihrem grundsätzlichen Wollen, das Richtige anzugeben, Genüge tun soll.« Vgl. Stammler, Rechts- und Staatstheorien, 12: »Als Richtmaß wird [sc. beim Naturrechtsgedanken] die Natur genommen. Dieses Wort wird dabei zweifellos in übertragener Bedeutung gebraucht. Und da es hier nicht im Sinne von Unkultur stehen kann, so ist es als Wesen gemeint. ( Wesen eines Dinges: die Einheit seiner bleibenden Bestimmungen.)« Stammler legt hier die vom gesamten - bis auf die frühen, »physiologischen« Vertreter wie Friedrich Albert Lange - Neukantianismus geteilte Opposition gegen historistische und psychologistische Modelle, die Entstehungs- und Geltungsfragen vermengen, zugrunde (vgl. ζ. B. Windelband, Kritische oder genetische Methode?).

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Rechtsphilosophie« (91) nach Begriff, Sanktion und Inhalt des Rechts zugleich und mit einer einzigen Methode, dem Rekurs auf die Natur, antworten wolle. Demgegenüber strebt Stammlers Begriff des »richtigen Rechts« allein an, die Inhaltsfrage zu klären.233 Auf diesem Bereich, dem ureigenen der Naturrechtslehre,234 ist dann auch der Hauptvorwurf an sie angesiedelt: Sie geht nach Stammler darin zu weit, daß sie absolute, unwandelbare Inhalte fur das Recht postuliere, was der geschichtlichen Bedingtheit der Rechtsstoffe nicht gerecht werde.235 Zum Verständnis dieses Arguments ist es wichtig zu beachten, daß Stammler bei seiner Kritik am naturrechtlichen Absolutheitsanspruch nicht wie der gängige Vorwurf von den Unterschieden, ja Gegensätzen der in der europäischen Geistesgeschichte bis dato vorgetragenen Naturrechtslehren ausgeht. Ein solcher empirischer Nachweis reiche zur Widerlegung allein nicht aus.236 Stammler argumentiert vielmehr kategorisch mit

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Vgl. 94: »Damit ist der erste grundlegende Unterschied ausgeführt, der zwischen der Lehre von dem richtigen Rechte und den Doktrinen des natürlichen Rechtes besteht. Jenes geht in sich nur auf die Methode des richtigen Inhaltes eines bestimmten Rechtes; diese verzehrten sich in dem vergeblichen Unterfangen, zugleich auch den Begriff und den Zwang der rechtlichen Ordnung in einer einzigen Untersuchung abzutun.« Vgl. die grundlegende Definition 82: »Naturrecht ist ein Recht, das in seinem Inhalte der Natur entspricht.« Sie findet sich wörtlich auch: Stammler, Wirtschaft, 159; Rechts- und Staatstheorien, 11. Vgl. 94: »Jener Versuch des Naturrechtes war ein in sich verfehltes Unternehmen. Denn der Inhalt der Rechtsordnung geht auf die Regelung von menschlichem Zusammenwirken, das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtet ist. Alles, was sich aber auf menschliche Bedürfnisse und auf die Art von deren Befriedigung bezieht, ist begrenzt, in stetem Wechsel und unvermeidlicher Veränderung unterworfen. Es ist kein einziger Rechtssatz möglich, der in der Besonderheit seines Inhaltes absolut richtig feststände.« Vgl. Stammler, Wirtschaft, 167; 173; 450; Rechts- und Staatstheorien, 37. Sofern das Naturrecht den genannten Versuch dennoch unternimmt, ist der ideologiekritische Einwand, ein kontingent Gegebenes zu verabsolutieren, nicht mehr fem. Vgl. Cohen, 599: »[...] das Naturrecht bleibt ewig ungeschrieben. So weit es zu schreiben versucht wurde, wurde darin doch nur das positive Recht naiv enthüllt, oder vielmehr verhüllt.« Vgl. Stammler, Wirtschaft, 161: »Es ist für die jetzt interessierende Frage ganz unbeweisend, wenn man sich auf die unzähligen Verschiedenheiten der mannigfachen Rechtsordnungen und auf deren stets unterschiedlichen Inhalt bei den einzelnen Völkern und zu verschiedenen Zeiten berufen will. Denn bloß aus der Tatsache des seitherigen beständigen Wechsels läßt sich ein zwingender Schluß auf eine a priori feststehende Notwendigkeit der örtlichen und zeitlichen Verschiedenheiten der Rechtsordnungen nicht ziehen. Man hätte ja gerade so gut aus der geschichtlichen Tatsache, daß es niemals in Deutschland ein gänzlich einheitliches Privatrecht gegeben hat, die Folgerung auf eine in Ewigkeit unabänderliche Unmöglichkeit einer uniformen Kodifizierung nehmen können. Wenn also jemand die Unmöglichkeit eines Idealrechtes wissenschaftlich beweisen will, so muß er auf anderes und auf mehr Bezug nehmen, als ausschließlich auf den tatsächli-

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dem Hinweis auf den Charakter des Rechts als Regelung des menschlichen Zusammenlebens, dessen Zweck der gegenseitigen Unterstützung der Bedürfnisbefriedigung und der prinzipiellen Wechselhaftigkeit der Bedürfiiisse.237 Im Hintergrund der Kritik steht also die These von der Unmöglichkeit einer apriorischen und allgemeingültigen Anthropologie.238 Es gibt, wie Stammlers vielzitierte Zusammenfassung seiner Kritik lautet, »nur ein Naturrecht mit wechselndem Inhalte« (105). Dieser Erkenntnis entsprechend will das »richtige Recht« anders als das traditionelle Naturrecht der Rechtspraxis keine festen Inhalte vorgeben, sondern gemäß der Unterscheidung von empirischem Stoff und allgemeiner Form (vgl. 155f) ein allein methodisches Prinzip sein, das lediglich die korrekte Form der Rechtssätze fordert.239 Als sol-

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chen Umstand einer bis jetzt nur beobachteten Verschiedenheit der jeweils geltenden Rechtsordnungen. Noch schwächer würde der Einwand aus dem ständigen Wechsel und dem Gegensatze der Ansichten über dasjenige, was idealen Rechtens sein sollte, sich ausnehmen. [...].« S. o. die vorletzte Anmerkung. Vgl. 84: »In der Tat ist das Heranziehen der Natur des Menschen bei dem Bearbeiten der naturrechtlichen Aufgaben methodisch ungeeignet gewesen. Es ist nicht erweislich, daß dem Menschen bestimmte Eigenschaften für das Zusammenleben mit seiner Gattung und gewisse Triebfedern für sein Verhalten in solchem Zustande a priori zukämen. Alle Beobachtungen, die man hier machen kann, sind bedingt und nur von vergleichsweiser Allgemeinheit.« Vgl., insbesondere zur Frage der Allgemeingültigkeit, Stammler, Wirtschaft, 167; 169; 170 (»Sofern man also unter menschlicher Natur eine gleichheitliche und allgemeine Art der Zwecksetzung und Zielverfolgung der Menschen verstehen würde, so ist diese in ihrem wirklichen Geschehen gerade kein Gegenstand, der in allgemeingültiger Einheit angenommen und bestimmt zu werden vermag.«). Es sei angemerkt, daß diese These in der Form, in der Stammler sie vorträgt, (1) selbstwidersprüchlich und (2) als Kritik am traditionellen Naturrecht wenig überzeugend ist. (1) Sie wird daraus gefolgert, daß der Zweck des menschlichen Zusammenlebens die Bedürfnisbefriedigung sei. Diese Zweckbestimmung wird von Stammler unhinterfragt vorausgesetzt. Mindestens einen apriorischen anthropologischen Satz setzt also seine These von der Unmöglichkeit solcher Sätze voraus. (2) Insofern auch andere soziale Zweckbestimmungen denkbar sind, begeht Stammler bei seiner Kritik an den Naturrechtslehrern den gleichen Fehler, den schon Hegel (s. o. 8.10.) diesen selbst vorgeworfen hat: Ein letztlich beliebiger Aspekt menschlichen Seins wird zum obersten Prinzip stilisiert. Zudem ist zumindest bei einem Vertreter der Tradition, Aristoteles, die menschliche Natur nicht so fixiert gedacht wie Stammler unterstellt. Die Differenz zwischen dynamischer Natur und fixem Wesen (s. o. Anm. 63) wird von Stammler übergangen (s. das Zitat o. Anm. 231). Vgl. 95: »Der Fehler des Naturrechtes lag darin, daß es eine absolute Geltung nicht nur für die Methode, sondern zugleich auch für den danach bearbeiteten Stoff behauptete. Konkrete Rechtssätze positiven Inhaltes haben ihre grundsätzliche Eigenart darin, daß sie einen Inhalt besonderen Stoffes tragen. Es ist diese Eigenart, durch welche sie sich von methodischen Grundsätzen unterscheiden. Jenen ist die verarbeitete Einzelheit des empi-

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ches beansprucht es freilich Allgemeingültigkeit, insofern es mit dem Wesen des Rechts an sich zusammenhängt. Stammler formuliert prägnant: Nicht ein »Recht der Natur«, sondern die »Natur des Rechtes« soll Maßstab der Rechtspraxis sein.240 Diese »Natur des Rechtes« besteht nun laut Stammler maßgeblich in zweierlei. Einesteils ist Recht als System von unverletzbaren Regeln ein Gegenbegriff zu Willkür, womit erneut alle »subjektivistischen« Rechtslehren abgewiesen sind.241 Damit hängt das zweite zusammen: Das Recht hat seinen Ort in der Regelung des menschlichen Zusammenlebens. An dieser Stelle kommt der Idealismus zum Zuge, denn laut Stammler ist diese Regelung an einem Ideal auszurichten242: dem »sozialen Ideal«,243 das weitestmögliche

ríschen Materiales begrifflich wesentlich; die letztgenannten Grundsätze charakterisieren sich durch das Fehlen solcher Einzelheiten. Daher gibt es für die Rechtsbetrachtung eine allgemeingültige Lehrart, aber keine konkreten Rechtssätze eines unbedingt geltenden Inhaltes.« Vgl. auch 94: »Statt dessen ist es unsere Absicht, nur eine allgemeingültige formale Methode zu finden, in der man den notwendig wechselnden Stoff geschichtlich bedingter Rechtssatzuungen dahin bearbeiten, richten und bestimmen mag, daß er die Eigenschaft des objektiv Richtigen erhält.« Zu Stammlers Unterscheidung des für die Rechtswissenschaft wegen ihrer Bindung an empirische Gegebenheiten allein erreichbaren objektiv Richtigen vom absolut Richtigen vgl. 26; 105; 136 (die Unterscheidung von Objektivem und Absolutem begegnet in diesem Sinn bereits bei Hegel). Aus seinen übrigen Veröffentlichungen vgl. Wirtschaft, 160 (die rechte »Art einer möglichen material unabhängigen Rechtsbetrachtung«); 450f; Rechts- und Staatstheorien, 37. Eine scharfe Kritik am Stammlerschen Formalismus findet sich in der Dissertation, die Leo Haas 1941 in Fribourg vorgelegt und 1950 veröffentlicht hat (z. B. Haas, 119: »Wie die kantische Ethik, so gipfelt Stammlers Rechtsdenken in einer inhaltsleeren Ordnungsgesetzmäßigkeit aus reiner Vernunft.«). Nach Haas, der auf neuthomistischer Grundlage dafür plädiert, »sich der gesunden Rechts- und Gesellschaftslehre der Philosophie perennis zu erinnern« (a.a.O., 4), entstammen die Rechtsbegründung Stammlers und die des Naturrechts »verschiedenen Geisteswelten« (a.a.O., 2): Hier sei das natürliche Sein die Grundlage, dort das abstrakte, der »zersetzende[n] Lauge« (a.a.O., 122) der Kritik ausgesetzte abstrakte Bewußtsein. 240 Vgl. 85: »Nicht ein Recht der Natur in jenem Sinne [sc. als Deduktion aus der Natur des Menschen, vgl. 83] kann begründet bestehen, wohl aber eine Darlegung methodischer Grundsätze, gegeben mit der Natur des Rechtes.« 241 Vgl. 149 (Willkür entspricht subjektivem Belieben.); 136 (»Auf die Frage nach dem letzten Sinne der hier vorgetragenen Philosophie ist zu antworten: Es ist der grundlegende Unterschied von der Objektivität gegenüber dem Subjektivismus [...].«). Zur Unverletzbarkeit des Rechts während seines Bestehens als Differenz zwischen Recht und Willkür vgl. Stammler, Wirtschaft, 473-507. 242 Hier kommt Stammler die doppelte Bedeutung von »richten« (»Recht sprechen« und »orientieren«) und »Richtigkeit« zupaß.

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Harmonie fordert.244 Das »richtige Recht« ist also das sich am sozialen Ideal orientierende.245 Aus gegebenem Anlaß - siehe unten - betont Stammler nochmals: »Es handelt sich bei der Idee des richtigen Rechtes, die in der Formel des sozialen Ideales definiert ist [...], nicht um einen inhaltlichen Rechtssatz, sondern um eine formale Methode« (145). Die beiden Bestandteile der Rechtsdefinition kommen zusammen in den »Grundsätzen« des »richtigen Rechtes«, die einerseits auf das Achten jedes einzelnen Gliedes der Rechtsgemeinschaft - und eben nicht: subjektiv-willkürliches Verfugen über es - abzielen, andererseits mit dem Gedanken des Teilnehmens aller an der Rechtsgemeinschaft am Harmonieideal festhalten.246 Stammler versucht im dritten Teil seines Buches zu zeigen, daß die hieraus sich ergebenden Grundsätze wie überhaupt das »soziale Ideal« dem Römischen Recht und dem neugeschaffenen Bürgerlichen Gesetzbuch faktisch zugrunde liegen und Wichtiges zur Klärung rechtlicher Streitfälle beitragen können. Doch nicht nur das: Im Schlußteil behandelt Stammler den »Beruf des richtigen Rechtes« und kommt bis zum Gedanken einer umfassenden, an der »Idee einer letzten, allumfassenden Einheit«. (372) orientierten Weltanschauung, der «das Wissen des Richtigen« zugrunde liegt, einer »Orthosophie«, fur die das »richtige Recht« »eine der nötigen Vorstufen« sei (373).Diese sein Werk abschließenden Gedanken zeigen, welche Bedeutung Stammler dem »richtigen Recht«, aber vor allem dem »sozialen Ideal«, an dem es sich maßgeblich orientiert, beimißt. Sie geben aber auch Anlaß zur

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Vgl. 144: »Ein objektiv richtiges Rechtsbegehren liegt, wie wir wissen, dann vor, wenn das besondere Wollen den Gedanken des sozialen Ideals zur prinzipiellen Leitung genommen hat. Das soziale Ideal ist eine Formel für den Begriff der Gesetzmäßigkeit in dem sachlichen Inhalte eines rechtlichen Wollens.« Vgl. 143: »Das soziale Ideal ist der Gedanke von der steten Bewährung einer absoluten Harmonie des je denkbaren sozialen Wollens.« Vgl. noch 263 (Die »Idee der Gerechtigkeit« ist - im Gegensatz zum »subjektivistische[n] Begehren des zur Zeit Mächtigeren« - der »ideale[] Blickpunkt vollendeter Harmonie des rechtlichen Wollens«); Rechts- und Staatstheorien, 40 (»Gerechtigkeit ist das Richten eines besonderen rechtlichen Wollens nach der Idee reiner Gemeinschaft.«). Vgl. 147: »Indem die rechtlich Verbundenen in der Idee als solche vorgestellt werden, die in vollendeter Harmonie ihre Einzelziele verfolgen, so tritt jeder Einzelne als ein zugleich den Anderen unbedingt achtender und von ihm ebenso geachteter Mensch hervor. [...] Da andererseits das Grundgesetz der sozialen Betrachtung auf die Idee eines harmonischen Zusammenlebens und Zusammenwirkens hinausgeht, so muß man auch zu einer Betonung der Zusammengehörigkeit gelangen. [...] Wenn das erste auf das Achten des Einzelnen in seinem besonderen rechten Wollen abzielt, so leitet das andere zu dem Festhalten des Gedankens von dem in Harmonie möglichen Teilnehmen.« Zu den entsprechenden beiden »sittlichen Pflichten« vgl. 281.

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Frage, ob die Differenz der »Lehre vom richtigen Rechte« zum traditionellen Naturrecht so groß ist, wie Stammler behauptet. Der Haupteinwand gegen Stammlers Theorie besteht darin, daß auch sie letztlich, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen, nicht einen methodischen, sondern einen inhaltlichen Maßstab zugrundelegt.247 Stammler spricht denn auch gelegentlich vom »inhaltlich richtigen Recht« (vgl. 204). Daß er die auch inhaltliche Bestimmtheit seines Gedankens von »Richtigkeit« unterschätzte, dürfte maßgeblich an einer Äquivokation im Begriff der »Einheit« liegen. Stammler gelangt zum Begriff der Einheit einerseits über seinen in der Tat methodischen Begriff von Wissenschaftlichkeit:248 Soll die Jurisprudenz wissenschaftlich betrieben werden, so ist ihr Ziel das Ordnen der verstreuten Fakten zu einer weitestmöglichen Einheit. »Richtigkeit« kann von Stammler in diesem Sinne als einheitliche Geordnetheit und Durchdachtheit bestimmt werden (vgl. 20). Andererseits aber - und dies wird für die »Praxis des richtigen Rechtes« bestimmend - begegnet der Einheitsgedanke im »sozialen Ideal«, dem harmonischen Zusammenleben der Menschen, als inhaltlicher Zielbegriff.249 Stammlers These, diesen Zielbegriff durch eine neutrale Analyse des formalen Wesens des Rechts abgeleitet zu haben, überzeugt nicht. Schon die Vielzahl anderer Wesensbestimmungen in der Geschichte der Rechtsphilosophie spricht dagegen. Es läßt sich denn auch zeigen, daß Stammler seinen Rechtsbegriff nicht analytisch, sondern auf der Basis von Aussagen über das Wesen des Menschen gewinnt.250 So gesehen, kommt ein wesentlicher Gedanke des Naturrechts, nämlich die Ausrichtung an anthropologischen Aussagen, auch bei Stammler, wenn auch implizit, zur Geltung.

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Vgl. Radbmch, Grundzüge, 39f. Vgl. 40: »Denn Wissenschaft ist jedes Bewußtsein, das auf Einheit geht und in der Umformung zu ihr sich vollendet. Durch das Streben nach Einheit scheidet sie sich von bloßer Kunde.« Der Übergang zwischen den beiden Bedeutungen von »Einheit« und »Richtigkeit« - hier wissenschaftliche Geordnetheit, dort soziales Ideal - vollzieht sich in Sätzen wie dem folgenden: »Der Gedanke der Richtigkeit besteht in der Vorstellung einer absoluten Harmonie unter allen denkbaren Willensinhalten« (74). Vgl. 70f (»Den Gedanken seines inwendigen Menschen entrinnt keiner, sie haben und halten ihn und lassen ihn nimmer los, - doch auch mit anderen Menschen muß er sich auseinandersetzen. Den gänzlich vereinzelten Menschen gibt es nicht, alle seine Schicksale spielen sich im Zusammenleben mit andern seinesgleichen ab. [...] So ist von dieser einfachen geschichtlichen Tatsache aus der Begriff des sozialen Wollens notwendig und allgemeingültig.«); 133f (»Das wirkliche Erleben des Menschen besteht in lauter Einzelheiten. [...] Es ist eigentlich in sich klar, daß gerade deshalb, weil wir bloß Einzelheiten wirklich erleben, es unerläßlich ist, dieses in sich wilde Getriebe in Ordnung zu halten.«). S. auch o. Anm. 238.

Stationen aus der Geschichte des Naturrechtsgedankens

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8.12. Hans Kelsen: »Reine Rechtslehre« Hans Kelsen ist nicht nur der wohl umstrittenste Rechtsphilosoph,251 sondern auch der namhafteste Kritiker des Naturrechtsgedankens im 20. Jahrhundert. Unter seiner Feder fließen die Einwände, die im Lauf der Zeit am Naturrecht gemacht wurden, zusammen. Daher sollen hier stellvertretend seine Kritikpunkte im Rahmen der Grundzüge seiner Rechtsphilosophie zusammengestellt und auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden. Kelsen hat bei der Konzeption seiner 1934 in erster und 1960 in stark erweiterter zweiter Auflage erschienenen »Reinen Rechtslehre« eingestandenermaßen252 auf den rechtspositivistischen Ansätzen des 19. Jahrhunderts aufgebaut. Der Historischen Rechtsschule wirft er allerdings - mit Recht - vor, mit der Lehre vom Volksgeist selbst wieder auf ein naturrechtliches Element, das aus der zeitgenössischen Metaphysik entnommen sei, zurückgegriffen zu haben.253 Demgegenüber möchte Kelsen die Geltung des Rechts positivistisch-immanent aus sich selbst begründen. Das Adjektiv »rein« steht eben für dieses Interesse: Die Rechtslehre soll eine mit nichtrechtlichen Bestandteilen unvermischte und gerade so wissenschaftliche Beschreibung des geltenden Rechts liefern.254 Die einzige »Grundnorm«, die das positive Recht voraussetzt, ist lediglich eine formale - Kelsen knüpft hier ausdrücklich an

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Die Einschätzungen reichen von »Jurist des Jahrhunderts« bis zu »Rechtsleere« (so Hermann Klenner). Vgl. Schneider, 3f. Vgl. Kelsen, Rechtslehre, 3 (»Sie [sc. Kelsens Theorie] kann als Fortentwicklung von Ansätzen verstanden werden, die sich schon in der positivistischen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ankündigen.«); 209 (»Die Lehre von der Grundnorm ist nur das Ergebnis einer Analyse des Verfahrens, das eine positivistische Rechtserkenntnis seit jeher angewendet hat.«). Die weiteren Bezugnahmen auf die »Reine Rechtslehre« in diesem Kapitel erfolgen unter Angabe nur der Seitenzahl. Vgl. 233; Grundlagen, 40. Vgl. schon die einleitenden Sätze des Vorworts zur ersten Auflage der »Reinen Rechtslehre« (III): »Mehr als zwei Jahrzehnte ist es her, daß ich unternommen habe, eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu entwickeln. Von allem Anfang an war dabei mein Ziel: Die Jurisprudenz, die - offen oder versteckt - in rechtspolitischem Raisonnement fast völlig aufging, auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben. Es galt, ihre nicht auf Gestaltung, sondern ausschließlich auf Erkenntnis des Rechts gerichteten Tendenzen zu entfalten und deren Ergebnisse dem Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als irgend möglich anzunähern.« Zum Ideal einer »wertfreien«, bloß beschreibenden Rechtswissenschaft vgl. 70; 75f; 84; 365.

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Kant an255 -: die Forderung, sich dem gesetzten Recht zu unterwerfen.256 Das mit der historisch ersten Verfassung257 in Kraft gesetzte Recht ist aufgrund

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Vgl. 208 Anm. **: »Die Grundnorm schreibt dem positiven Recht ebensowenig einen bestimmten Inhalt vor, wie die transzendental-logischen Bedingungen der Erfahrung dieser Erfahrung einen Inhalt vorschreiben. Darin liegt ja gerade der Unterschied zwischen der Transzendental-Logik Kants und der von ihm abgelehnten metaphysischen Spekulation, zwischen der Reinen Rechtslehre und einer metaphysischen Rechtstheorie von der Art der Naturrechtslehre.« Vgl. 205: »man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt«. Zur Formalität vgl. 443 (»Die Grundnorm bestimmt lediglich den Geltungsgrwnrf, nicht den Geltungsmhalt des positiven Rechts. Dieser Geltungsgrund ist vom Geltungsinhalt völlig unabhängig.«); Grundlagen, 14 (»Gerade in dem - aus vielen Gründen schweren - Verzicht auf eine absolute, materiale Rechtfertigung, in diesem versagungsvollen Sichbeschränken auf die bloß hypothetische, formale Fundierung durch die Grundnorm liegt das wesentlichste Merkmal des Positivismus gegenüber der Naturrechtstheorie. «). Zu den Problemen einer rechtlichen Grundnorm im allgemeinen und bei Kelsen, Kant und Hart im besonderen vgl. Alexy, Begriff, 154-197. Der Begriff »Grundnorm« begegnet auch bei Husserl. Vgl. ders., Β 45: »Die Grundnorm ist das Korrelat der Definition des im fraglichen Sinne >Guten< und >BesserenVerfassung< habe, daß dieser Beschluß einer Versammlung von Menschen oder dieser Befehl eines Usurpators die normative Bedeutung eines Grundgesetzes habe, das wird von dem positiven Juristen, der über die Grundtatsachen nicht hinausgehen kann, vorausgesetzt. [...] Der Ausdruck für diese Voraussetzung, ihre bewußte Formulierung - und nichts anderes - ist die hypothetische Grundnorm, die den historisch ersten Gesetzgeber als solchen einsetzt. Daß der juristische Positivismus über diese historisch erste Verfassung nicht hinaus zu einer materialen und absoluten Rechtfertigung der Rechtsordnimg greift, daß er bei der historisch ersten Verfassung stehen bleibt, gerade das besagt diese Grundnorm. Sie ist eine unentbehrliche Voraussetzung, weil ohne sie der normative [!] Charakter der historischen Grundtatsache [!] nicht gegeben wäre.«); 65 (Das positive Recht wird »auf einen Grundakt bezogen [...], der - d. i. die Funktion der Grundnorm - als erster rechtserzeugender Tatbestand vorausgesetzt wird«.).

Stationen aus der Geschichte des Naturrechtsgedankens

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dieser Grundnorm gültig ganz unabhängig von den Inhalten, die es fordert:258 Seine Geltung wird schlicht - insbesondere ohne Appell an eine »metarechtlicheQ Autorität« - »vorausgesetzt«.259 An diesem Grundsatz seiner Rechtsphilosophie hat Kelsen, selbst aufgrund seiner jüdischen Abstammung amtsenthoben und zur Emigration gezwungen, auch nach 1945 bewußt festgehalten.260 Insbesondere eine Orientierung an einer inhaltlichen Gerechtigkeitsnorm wird von Kelsen abgelehnt.261 Ein längerer Abschnitt im Anhang der zweiten Auflage der »Reinen Rechtslehre« dient dem Nachweis, daß solche Gerechtigkeitsnormen in der Tradition entweder rational oder metaphysisch abgeleitet wurden, beide Ansätze aber dem mit ihnen verfolgten Anliegen, dem Recht inhaltliche Orientierung zu geben, nicht gerecht wurden und es auch nicht können: Die rationalen Ansätze, verkörpert etwa im »Suum cuique« oder der Goldenen Regel als höchstem Gerechtigkeitspostulat, seien selbst leer und formal, solange sie nicht an der geltenden Ordnung ausgerich-

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Vgl. 200f (»Eine Rechtsnorm gilt nicht darum, weil sie einen bestimmten Inhalt hat, das heißt: weil ihr Inhalt aus dem einer vorausgesetzten Grundnorm im Wege einer logischen Schlußfolgerung abgeleitet werden kann, sondern darum, weil sie in einer bestimmten, und zwar in letzter Linie in einer von einer vorausgesetzten Grundnorm bestimmten Weise erzeugt ist. Darum und nur darum gehört sie zu der Rechtsordnung, deren Normen dieser Grundnorm gemäß erzeugt sind. Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.«); 224 (»Denn [...] aus der Grundnorm kann nur die Geltung, nicht der Inhalt der Rechtsordnung abgeleitet werden. Jede im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung kann als objektiv gültige normative Ordnung gedeutet werden. Keiner positiven Rechtsordnung kann wegen des Inhalts ihrer Nonnen die Geltung abgesprochen werden. Das ist ein wesentliches Element des Rechtspositivismus [...].«); 320 (»Auch eine relativ zentralisierte Zwangsordnung, die autokratischen Charakter hat und bei imbeschränkter Flexibilität keinerlei Rechtssicherheit bietet, ist eine Rechtsordnung [...].«). Die Verfassung als höchste Form des positiven Rechts kann dann freilich auch inhaltlich bindende Normen aussprechen (vgl. 228-230; gedacht ist, wie 230 zeigt, an die modernen Grundrechtskataloge; vgl. auch Grundlagen, 20). Vgl. 203. Kelsen dürfte sich hier an der Lehre des Marburger Neukantianismus von der Grundlegung als »Hypothesis« orientieren. Vgl. bes. Grundlagen, 25: »Hypothesis der Grundnorm«. Vgl. 42: »Nach dem Recht totalitärer Staaten ist die Regierung ermächtigt, Personen unerwünschter Gesinnung, Religion oder Rasse in Konzentrationslager zu sperren und zu beliebigen Arbeiten zu zwingen, ja zu töten. Solche Maßnahmen mag man moralisch auf das schärfste verurteilen; aber man kann sie nicht als außerhalb der Rechtsordnung dieser Staaten stehend ansehen.« Vgl. 443 (»Ob der im Prozeß des positiven Rechts bestimmte Inhalt des Rechts gerecht oder ungerecht ist, kommt für seine Geltung nicht in Frage.«), sowie generell 402 (»Der Begriff der Gerechtigkeit muß von dem des Rechtes unterschieden werden.«).

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Naturrecht und Menschenrechte

tet werden, was aber dem eigentlichen Anliegen widerspreche;262 metaphysische Grundlegungen der Gerechtigkeit wie die platonische wiederum können den wissenschaftlichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht einlösen, da sie mit Transzendenzpostulaten arbeiten. Generell sind laut Kelsen absolute Normen nur religiös-metaphysisch begründbar und muß sich der wissenschaftliche Standpunkt mit einem Relativismus bescheiden,263 der zwar die Geltung von Werten und Gerechtigkeitsforderungen anerkennt, aber »die Möglichkeit entgegengesetzter Werte« nicht ausschließen kann.264 Kelsen hat die Thesen seines Rechtspositivismus im ausdrücklichen Gegensatz nicht nur zu Lehren, die im allgemeinen einen Zusammenhang zwischen positivem Recht und einer inhaltlichen Gerechtigkeitsnorm vertreten, sondern auch gerade zur Naturrechtslehre entwickelt.265 In seiner Sicht kann

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Vgl. die Zusammenfassung 397 (»Ein allgemeiner Begriff der Gerechtigkeit kann in bezug auf die entscheidende Frage: Wie Menschen behandelt werden sollen, wenn die Behandlung als gerecht gelten soll, nur völlig leer sein [...].«), sowie Kelsen, Gerechtigkeit, 18 (»Die Bestimmung der absoluten Werte im allgemeinen und die Definition der Gerechtigkeit im besonderen, die auf diesem [sc. rationalen] Wege erzielt werden, erweisen sich als völlig leere Formeln, durch die jede beliebige gesellschaftliche Ordnung als gerecht gerechtfertigt werden kann.«). Letztlich fuhrt in Kelsens Sicht die Suche der Naturrechtslehrer nach dem Wesen der Gerechtigkeit in die Nähe des Rechtspositivismus: Sie endet »schließlich und endlich bei dem Gedanken der formalen Ordnung, d. i. dem Gedanken des widerspruchslosen Systems, also bei einer Formel [...], die mit jedem positiven Rechte vereinbar ist« (Grundlagen, 69). Vgl. 65f; 403; 441; Gerechtigkeit, 40 (»Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal. Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis gibt es nur menschliche Interessen und daher Interessenkonflikte.«). Ähnlich wie hinsichtlich des Naturrechts (dazu s. u.) begründet Kelsen seine Ablehnung einer absoluten inhaltlichen Wertordnung nicht nur von seinem Wissenschaftsideal her, sondern auch empirisch: »Angesichts der außerordentlichen Verschiedenheit dessen, was die Menschen tatsächlich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten fur gut und böse, gerecht und ungerecht halten, läßt sich aber kein den Inhalten der verschiedenen Moralordnungen gemeinsames Element feststellen« (66). Vgl. 69, sowie 403f; Gerechtigkeit, 43 (»Und in der Tat, ich weiß nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne Traum der Menschheit. Ich muß mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da Wissenschaft mein Beruf ist und sohin das wichtigste in meinem Leben, ist es jene Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissenschaft Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können. Es ist die Gerechtigkeit der Freiheit, die Gerechtigkeit des Friedens, die Gerechtigkeit der Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.«). Seit 1993 liegt eine Dissertation zu Kelsens Naturrechtskritik vor (vgl. Preiss). Sie beschränkt sich allerdings fast ganz auf ein Referat Kelsens und verwandter Positionen und nimmt das Naturrecht auch nur aus dieser Perspektive wahr, so daß es nicht verwundert, daß am Ende 100 % Zustimmung zu Kelsen steht. Wesentlich kritischer und differenzier-

Stationen aus der Geschichte des Naturrechtsgedankens

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nur entweder das positive Recht oder das Naturrecht gelten,266 wobei seine Option eindeutig gegen das letztere ausfállt. Der »Haupteinwand« gegen die Naturrechtsidee ist dabei der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses: Die Ableitung von Rechtssätzen aus der Natur des Menschen bedeute, ein Sollen auf ein Sein zu gründen, was unzulässig sei.267 Zur wissenschaftlichen Reinheit im Sinne Kelsens gehört jedoch nicht nur die Beschränkung des Rechts auf Sollenssätze. Vielmehr darf auch der Wertmaßstab für deren Richtigkeit - allein um diese geht es, und nicht etwa um Gerechtigkeit268 - nur aus dem positiven Recht selbst bezogen werden, um der Forderung der Reinheit als Ideologiefreiheit nachzukommen. Daß dem in der Naturrechtsdoktrin bewußt269 widersprochen wird, indem eine inhaltliche Norm über das positive Recht gestellt wird, bildet daher einen zweiten, ideologiekritischen Grund für ihre Ablehnung.270 Ohnehin treffe dieser Anspruch auf eine natürliche »Schranke«, ist doch »die Verwirklichung des Naturrechts von dem Wissen

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ter ist die Arbeit von Winkler, die jedoch nicht auf Kelsens Stellung zum Naturrecht eingeht. Vgl. Grundlagen, 32: »Neben dem Naturrecht ist ein positives Recht logisch ausgeschlossen.« Vgl. 80 (»Im Rahmen einer wissenschaftlichen Weltanschauung jedoch [zuvor war die Rede von der Naturrechtslehre], innerhalb derer nur eine positivitistische Rechtslehre Platz finden kann, muß der Unterschied zwischen Naturgesetz und Rechtssatz mit allem Nachdruck aufrechterhalten werden.«); 259 (die Naturrechtslehre ist »der aussichtslose Versuch eines logisch unmöglichen Schlusses von dem Sein auf das Sollen«); Gerechtigkeit, 38 (die »rationalistische Naturrechtslehre [...] beruht [...] auf einem Trugschluß«), Vom »Haupteinwand« spricht Kelsen 409. Vgl. Grundlagen, 8: Die neuere positivistische Rechtswissenschaft ist »auf das Ängstlichste darauf bedacht, den Unterschied, ja den Gegensatz von >gerecht< und >recht< aufrecht zu erhalten«. Vgl. 404: »Die sogenannte Naturrechtslehre ist eine idealistisch-dualistische Rechtslehre.« Zu Recht bestimmt Kelsen die Bedeutung als »ethisch-politisches Wertmaß des positiven Rechts« als »die wesentliche Funktion des Naturrechts« (225; vgl. 443). Vgl. VIII: »Nach wie vor stößt eine objektive, ihren Gegenstand nur beschreibende Rechtswissenschaft auf den hartnäckigen Widerstand aller jener, die, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik mißachtend, im Namen jener dem Recht einen bestimmten Inhalt vorschreiben, das heißt, das gerechte Recht und damit ein Wertmaß für das positive Recht bestimmen zu können glauben. Es ist insbesondere die wiedererwachte Metaphysik der Naturrechtslehre, die mit diesem Anspruch dem Rechtspositivismus entgegentritt.« Zum expliziten Ideologievorwurf vgl. l l l f . Das politische Interesse hinter dieser Naturrechts-»Ideologie« ist für Kelsen letztlich ein konservatives: Legitimation der bestehenden Ordnung zugunsten der »herrschenden Gruppen« (Grundlagen, 55). Demgegenüber gilt für den »kritische[n] Positivismus«: »die Reinheit seiner Erkenntnis im Sinne politischer Indifferenz ist ein für ihn besonders charakteristisches Ziel« (a.a.O., 67).

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Naturrecht und Menschenrechte

und Wollen der Menschen abhängig, durch deren Tat allein das abstrakte Naturrecht zu dem konkreten Rechtsverhältnis wird«.271 Zudem kann nach Kelsen eine Naturrechtslehre auf die Frage nach dem Geltungsgrund ihrer Sätze nur unbefriedigend antworten. Auch sie setze eine »Grundnorm« voraus: »man soll den Befehlen der Natur gehorchen«. Die Gültigkeit dieser Norm könne nun entweder als »unmittelbar einleuchtend« behauptet werden, was »unannehmbar« sei, oder damit begründet werden, daß sich in der Natur der Wille Gottes manifestiere, was eine unwissenschaftliche »metaphysische Annahme« sei.272 Ein weiterer Einwand ergibt sich für Kelsen aus der Vielfaltig-, ja Widersprüchlichkeit der in der Geschichte vertretenen Naturrechtsdoktrinen.273 Und sechstens hat Kelsen in einem längeren Vortrag vor der Berliner Kant-Gesellschaft die These aufgestellt, daß die Idee eines über dem

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Grundlagen, 16. In einem Aufsatz von 1928 (Vgl. Kelsen, Idee) hat Kelsen diesen Einwand mit dem ideologiekritischen verbunden. Aus dem an die Platon-Kritik des Aristoteles erinnernden Argument, das ideale Naturrecht müsse positiviert werden, um überhaupt relevant zu werden, und der zweiten Prämisse, daß diese Positivierung Einzelnen überlassen bliebe, die wiederum mit der naturrechtlichen Verbrämung des positiven Rechts staatsstabilisierende Interessen hegten, folgert Kelsen: »Es läßt sich leicht zeigen, daß es sich dabei lediglich um den Versuch handelt, das positive Recht naturrechtlich zu legitimieren, jeden beliebigen Inhalt des positiven Rechtes mit einer naturrechtlichen Ermächtigung der normsetzenden Autorität zu rechtfertigen und so eine autokratischaristokratische Staatsform zu stabilisieren; daß es also nicht Naturrecht, sondern positives Recht, weil eine bestimmte Form des Staates, ist, was damit begründet werden soll« (Kelsen, Idee, 112f). Vgl. zu diesem Argument 227. Letztlich ist die Naturrechtsvorstellung nach Kelsen immer religiös-metaphysischen Ursprungs (vgl. 406f; 409; 414; 434; Grundlagen, 14). Darin stimmt er mit dem Naturrechtsanhänger Weinkauff (ders., 213) überein: »Denn die innere Verbindlichkeit dieser grundlegenden Rechtssätze wird nur einsichtig, wenn man annimmt, daß sie Ausdruck eines metaphysischen Sollens sind. In christlicher Sprache: diese Sätze gelten, weil Gott sie verbindlich gesetzt hat.« Vgl. 226: »Sobald die Naturrechtslehre daran geht, den Inhalt der der Natur immanenten, aus der Natur deduzierten Normen zu bestimmen, gerät sie in die schärfsten Gegensätze. Ihre Vertreter haben nicht ein Naturrecht, sondern mehrere sehr verschiedene und einander widersprechende Naturrechte proklamiert. Dies trifft insbesondere für die fundamentalen Fragen des Eigentums und der Staatsform zu.« 429f bringt Kelsen dieses der Naturrechtsvorstellung »seit jeher« entgegengehaltene Argument in Verbindung mit den verschiedenen GeTechtigkeitsnormen und resümiert: »Mit den Methoden der Naturrechtslehre kann man in bezug auf die Frage der Gerechtigkeit alles und daher nichts beweisen« (430; fast gleichlautend: Gerechtigkeit, 39). Die Uneinigkeit auf der Theorieebene entspricht dem tatsächlichen Verhalten der Menschen: Ein moralischer consensus läßt sich »nur innerhalb lokal begrenzter Gruppen und nur für zeitlich begrenzte Perioden beobachten«, so daß von einem »natürlichen« Verhalten der Menschen im allgemeinen nicht gesprochen werden kann (413f).

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positiven Recht stehenden Naturrechts erkenntnistheoretisch zwingend verbunden sei mit dem dualistischen Transzendenzgedanken von Religion und Metaphysik, der die Wirklichkeit verdopple und von dem es sich durch wissenschaftliche Betrachtung zu emanzipieren gelte.274 Der »Gegensatz« zwischen Naturrechtsdoktrin und Rechtspositivismus sei »in den letzten Tiefen von Weltanschauung und Charakter verwurzelt«.275 Kelsens Resümee fallt dahin aus, »daß der Versuch der Naturrechtslehre, absolute Maßstäbe fur die Beurteilung der Gestaltung positiven Rechts, das heißt absolut gültige Gerechtigkeitsnormen in der Natur zu finden und sohin aus ihr zu deduzieren, gescheitert ist und vom Standpunkt einer nicht metaphysisch-religiösen Anschauung scheitern muß« (434). Mit dem ersten und fünften der genannten Einwände hat Kelsen zwei Standardvorwürfe gegen einen naturrechtlichen Ansatz aufgegriffen. Was die Unterschiedlichkeit der im Lauf der Geistesgeschichte vorgelegten Modelle naturrechtlicher Argumentation betrifft, so zeigt bereits der in diesem Kapitel versuchte Überblick die Berechtigung dieses Einwands, zugleich aber, daß er allein keine Widerlegung darstellt, sofern der Verweis auf die empirisch vorliegenden Ausformungen des Gedankens diesen nicht prinzipiell zu treffen vermag.276. Differenzierter stehen die Dinge hinsichtlich des vermeintlichen naturalistischen Fehlschlusses. Abgesehen davon, daß hier bei Kelsen ähnlich wie bei Kant eine - nur weltanschaulich begründbare! - Trennung von Tatsachen- und Werturteilen im Hintergrund steht: Kelsen selbst räumt ein, daß die traditionellen Naturrechtslehren gar nicht mit der tatsächlichen Natur des Menschen, sondern mit einem idealen Menschenbild operieren.277 Dieses

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Vgl. Grundlagen, 41-60. Dort führt Kelsen aus, daß der vorausgesetzte Dualismus zweier Welten entweder pessimistisch, optimistisch oder vermittelnd sein könne: Bei der ersten Variante erscheint das Jenseits als Ideal, und das Naturrecht hat revolutionären Charakter; der geschichtlich überwiegende zweite Typ behauptet eine Verwandtschaft zwischen Jenseits und Diesseits und führt zu ethischem Konservatismus; die dritte Version geht von einem labilen Gleichgewicht beider Welten aus und führt zu einer resignativen Haltung. Zur Emanzipationsforderung vgl. a.a.O., 44: Der Dualismus in Naturphilosophie und Naturrecht habe die »immanente Tendenz [...], zu einer metaphysikfreien Wissenschaft zu gelangen, indem sich die Naturwissenschaft von der Theologie, die Rechts- und Staatslehre von der Naturrechtsdoktrin emanzipiert«. In der Folge (a.a.O., 60-78) entwirft Kelsen dann das Bild der »wissenschaftlich-kritischen Weltanschauung«, in der die gesuchte Befreiung und Emanzipation (vgl. a.a.O., 61) geschehe und die seinem Rechtspositivismus zugrunde liege. Grundlagen, 78. S. o. Stammlers und u. Radbruchs Kritik an diesem Einwand. Vgl. 413 (»An Stelle der realen Natur, der Natur, wie sie ist, tritt eine ideale Natur, die Natur, wie sie - dem Naturrecht zufolge - sein soll.«); 415 (»Sieht man näher zu, so ist

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trägt jedoch schon in sich Momente eines Sollens, so daß die Konsequenz die Kelsen allerdings nicht zieht - darin bestehen müßte, den Fehlschluß allein den tatsächlich naturalistischen Naturrechtstheorien zu attestieren. Das Argument mit der Angewiesenheit des Naturrechts auf Positivierung ist zu beachten, insofern es auf die Probleme beim Postulat eines absoluten, unveränderlichen und für alle Menschen verbindlich zu machenden Naturrechts hinweist. Es ist jedoch fraglich, ob dieses Postulat - was Kelsen voraussetzt, wenn er das naturrechtliche Prinzip als statisches dem dynamischen des positiven Rechts gegenüberstellt278 und beide als einander ausschließende Alternativen begreift - zwingend mit der Naturrechtsvorstellung verknüpft ist. Ihr Grundgedanke jedenfalls, wonach sich das positive Recht an übergeordneten - und das heißt eben nicht zwingend: absoluten - , mit der Natur des Menschen in Zusammenhang stehenden Nonnen auszurichten habe, wird durch das Argument nicht getroffen. Daher bleiben von Kelsens Kritik am Naturrechtsgedanken neben dem historischen Vielfaltigkeits-Argument allein die drei anderen Einwände, die jedoch deutlich genug selbst wieder weltanschauliche Züge enthalten, insofern sie als Basis einen »wissenschaftlichen« Monismus voraussetzen.279 Dieser hat selbst »ideologischen« Charakter im Sinne des ideologiekritischen Arguments Kelsens gegen das Naturrecht: Er mißt an einer von außen herangetragenen Norm mit Absolutheitsanspruch wissenschaftliche »Reinheit« - , was »Recht« ist bzw. sein darf. Erst aufgrund dieser Norm erscheint der Rekurs auf überpositive oder metaphysische Sätze als illegitim. Auch der Vorwurf an die Naturrechtslehre, das Recht ideologisch zu verfremden, kann nicht als Gegenargument dienen.280

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die Vernunft, aus der das Naturrecht deduziert wird, nicht die empirische Vernunft des Menschen, so wie sie tatsächlich funktioniert, sondern eine besondere Vernunft, die >rechte< Vernunft, die Vernunft, nicht wie sie tatsächlich ist, sondern wie sie sein soll.«); 429 (die Nonnen der Gerechtigkeit werden von den Naturrechtslehrern nicht in der Natur gefunden, sondern vorausgesetzt), sowie 432 Anm. 112 (Thomas von Aquin); 436f (Stoa). Will man hier den Naturrechtlem einen Fehlschluß vorwerfen, dann mit gleichem Recht Kelsen selbst, der hinsichtlich der historisch ersten Verfassung vom »normative[n] Charakter der historischen Grundtatsache« sprechen kann (s. o. Anm. 257). Vgl. Grundlagen, 18f. Kelsen kann selbst von der von ihm vertretenen »wissenschaftlichen Weltanschauung« sprechen (vgl. 80; Grundlagen, 60-78). Zum Monismus Kelsens vgl. 443: »Die Naturrechtslehre ist eine dualistische Rechtslehre; denn es gibt ihr zufolge neben dem positiven Recht ein Naturrecht. Die Reine Rechtslehre ist aber eine monistische Rechtslehre. Ihr zufolge gibt es nur ein Recht, das positive Recht.« Joachim Nocke, der ansonsten dem Naturrecht durch und durch kritisch gegenübersteht, hat auch im Hinblick auf Kelsen recht, wenn er den ideologiekritischen Einwand gegen das Naturrecht als nicht angemessen erklärt, weil dieser selbst einen zeitlosen Standpunkt

Stationen aus der Geschichte des Naturrechtsgedankens

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Kelsens Kritik an der Naturrechtsidee darf zudem nicht den Blick dafür verstellen, daß der Positivismus der »Reinen Rechtslehre« selbst nicht frei von Problemen ist. Auf die Gefahren einer rein formalen obersten Norm wurde oben bei Fichte bereits hingewiesen. Bei Kelsen kommen die für den Positivismus typischen Grundlegungsprobleme hinzu, die sich in der postulierten Orientierung des Rechts an der historisch ersten Verfassung verdichten. Entweder nämlich muß die von der Geschichtswissenschaft als solche eruierte im Sinne eines historischen Faktums zugrunde gelegt werden, was bei ja jederzeit möglichen neuen Überlieferungsfunden eine Neuorientierung der gesamten Rechtswissenschaft erforderlich machen und diese überhaupt gänzlich in Abhängigkeit von jener begeben würde. Im Falle von Kelsens Positivismus mit seiner Trennung von Tatsachen- und Werturteilen käme noch störend hinzu, daß die derartige Sanktionierung einer faktischen Rechtsordnung selbst unter das Verdikt eines naturalistischen Fehlschlusses fiele. Und schließlich - ein Problem, das sich ähnlich auch fur die Vertragstheorie von Hobbes stellt - bliebe unbeantwortet, worauf sich die rechtliche Bindung der Urheber der ersten Verfassung gründen soll, wenn doch das Recht erst in dieser seinen Ursprung hat. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, den regressus ad infinitum via Machtspruch zu beenden und eine möglicherweise hypothetische erste Verfassung zur vorbildlichen Urverfassung zu erklären. Der Geltungsanspruch käme damit auf sichereres Fundament, doch wäre der streng positivistische Ansatz verlassen, indem nach näher zu bestimmenden, jedenfalls nicht immanenten Gründen entschieden würde, mit welcher Verfassung zu beginnen sei. Und drittens kann der Positivismus der Suche nach einer historisch »ersten« Verfassung, was die Letztbegründung betrifft, ganz aufgegeben werden. Während Kelsen zunächst eher im Sinne der zweiten Alter-

voraussetze und somit den Fehler des Naturrechtsgedankens wiederhole (vgl. Nocke, 84). Die Dissertation von Wilfried Schneider ist ganz dem Thema: »Wissenschaftliche Askese und latente Wertepräferenz bei Hans Kelsen« gewidmet. Sie gipfelt in einem Abschnitt »Kelsen: praktischer Phüosoph >wider Willen««. Als Zusammenfassung ihrer These vgl. a.a.O., 122: »De facto stellt Kelsens im kritischen Positivismus positionierte und psychologisch untermauerte Option fur eine eristisch-dialogische Wissenschaft und fur die parlamentarische Demokratie eine Einschränkung des von ihm de verbo vertretenen Werterelativismus, der die verschiedenen Moralvorstellungen nivellieren will, dar.« Schneider deutet allerdings die werthaltigen Momente in Kelsens Werk als »Kompensationstheorien« angesichts der »durch die rigide Rechtslehre entstandenen Defizite praktischer Philosophie« (a.a.O., 13; vgl. 121; 152; 154), während hier die These vertreten wird, daß schon das Eintreten für diese »rigide Rechtslehre« selbst auf bestimmten Wertsetzungen beruht, etwa dem positivistischen »>Fortschrittsglaubenreiner< Vernunft, sondern immer nur ihrer Anwendung auf bestimmte Gegebenheiten - und deshalb niemals allgemein, sondern immer nur für diese Gegebenheiten gültig.«

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für die Prüfung der Existenz »der einen, naturrechtlichen, Wahrheit« gekontert werden (23). Geht die Naturrechtslehre fälschlicherweise von einem inhaltlich richtigen Recht aus, so muß sich die Rechtsphilosophie nach Kant in Radbruchs Augen zum Relativismus bekennen, dazu, »daß in Rechtswerturteilen nur der leeren Form der Rechtsrichtigkeit, aber nicht irgendeinem ihrer Inhalte allgemeine Geltung gebühre« (41). Dies soll aber keine Resignation bedeuten, »die dekadente Blasiertheit, die alle Wertungen für gleich richtig und gleich falsch erklärte« (44). Das Schweigen der theoretischen Vernunft bedeute wie bei Lessings Nathan gerade den stärksten Appell an das individuelle Gewissen (vgl. 45), die eigene Rechtsanschauung wissenschaftlich zu erforschen und, wo nicht mehr Er-, sondern nur noch Bekenntnis möglich sei, dieses in Verhältnis »zu den möglichen anderen« (44) zu setzen. Dieser Relativismus hat nun aber auch rechtspositivistische Implikationen. Da es kein eindeutiges Naturrecht gibt, muß auf anderem Weg als via vernünftiger Deduktion bestimmt werden, welches Recht zu gelten hat. »Da nun aber Vernunft und Wissenschaft diese Aufgabe nicht erfüllen können, so muß der Wille und die Macht sie übernehmen: vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll« (162). Zugunsten der Rechtssicherheit muß innerhalb der das Wesen des Rechts ausmachenden Trias von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit die Idee eines gerechten, richtigen Rechts zurücktreten. Radbruch sieht in diesem seinem ersten rechtsphilosophischen Entwurf zwar die Probleme dieser Option - sie soll nicht die »Gültigkeit jedes >SchandgesetzesGrundnormunrichtiges Recht< der Gerechtigkeit zu weichen hat.«304 Hinsichtlich der sich sofort stellenden Frage, wo die Grenze dieses »unerträglichen Maßes« erreicht ist, wird immerhin so viel deutlich, daß Radbruch besonders an Verletzungen der Gleichheit vor dem Gesetz denkt.305

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und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.« Radbruch, Vorschule, 138. Zum zustimmenden Zitat von Stammlers Formel vgl. Radbruch, Grundzüge, 25; Rechtsphilosophie, 241. Vgl. auch »Neue Probleme in der Rechtswissenschaft« (zit. Kaufmann, 85): »dennoch werden wir uns hüten müssen, das übergesetzliche Recht von heute mit dem früheren Naturrecht zu identifizieren: es teilt nicht die übernationale und überzeitliche Unveränderlichkeit des Naturrechts der Vergangenheit«. Vgl. Schumacher, der außer der Rezeption der Formel in der Lehre auch die in Entscheidungen von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof untersucht. Vgl. Alexy, Mauerschützen; ders., Beschluß; Kaufmann. Radbruch, Gesetzliches Unrecht, 89. Vgl. ders., Gesetz, 99 (»Jedoch hat auch der Positivismus sein gutes Recht gehabt und wir dürfen seine Lehre nicht überhören. [...] Rechtsstaat und Rechtssicherheit fordern die grundsätzliche Bindung an das Gesetz, nur in ganz singulären Ausnahmefällen darf sie gelockert werden, nur in Fällen wie wir sie in der Nazizeit erlebt haben und hoffentlich nie wieder erleben werden.«); Vorschule, 150; 154 (»[...] in gewissen Ausnahmefällen horrend ungerechter Gesetze«), Um die Auslegung der Formel gab es erst in jüngster Zeit, im Zusammenhang mit ihrer Anwendung in den Mauerschützenprozessen, eine Debatte (s. die in der letzten Anm. genannten Texte). Arthur Kauiniann hat dabei - mit der Autorität eines direkten Schülers Radbruchs - auf den genauen Wortlaut des Titels von Radbruchs Text hingewiesen: Es gibt ein positives (»übergesetzliches Recht«) und ein negatives (»gesetzliches Unrecht«) Element, und bei ersterem ist nicht von überposi'rivem Recht die Rede. Dies sei in der gegenwärtigen Debatte nicht ausreichend beachtet worden (s. weiter zu dieser Debatte u. Kap. 9 Anm. 12). Vgl. Radbruch, Gesetzliches Unrecht, 89: »[...] wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung posi-

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A n anderer Stelle bezieht er sich auf die Menschenrechte in toto, sofern das einzelne Rechtssubjekt dem Gemeinwohl untergeordnet wird: »Die völlige Leugnung der Menschenrechte entweder v o m überindividualistischen Standpunkt [...] oder v o m transpersonalen Standpunkt [...] aber ist absolut unrichtiges Recht.« 306 Berücksichtigt man, daß das Naturrecht, wie Radbruch mit Recht als einen seiner drei durchgängigen Wesenszüge bestimmt, 307 v o n seinen Anhängern stets als immer dem gesetzlichen Recht übergeordnete Instanz verstanden wurde, so zeigt sich angesichts des Primats, den Radbruch nach w i e vor der Rechtssicherheit zuordnet, daß der späte Radbruch bei aller Sympathie fur das Naturrecht seiner ursprünglichen, relativistischen Position, die ja auch schon den Konflikt von Recht und »Schandgesetzen« thematisieren konnte und nicht im Sinne eines gleichgültigen Relativismus mißverstanden werden darf, im Grundsatz treu geblieben ist. 308 D o c h auch w e n n die Rede v o n einem »Damaskuserlebnis« 309 bei Radbruch überzogen ist, ist der neue, auf rechtsphilosophische Einsichten zurückgehende 310 Akzent in seinem Denken un-

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tiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur >unrichtiges Rechtklassischer< Positivist« und nie »>klassischer< Naturrechtlicher«. Der von Kaufmann ebd. zitierte Satz aus einem Zeitungsartikel Radbruchs von 1947 spricht freilich dafür, auch nach 1945 dem Positivismus das Schwergewicht zuzuerkennen: »In aller Regel wird auch in der Zukunft der Rechtspositivismus, die Anerkennung des Gesetzes ohne Rücksicht auf die Wertung seines Inhalts, das letzte Wort behalten müssen.« Daß auch Kaufmann dies letztlich so sieht, geht schon aus seinem Insistieren auf einer Auslegung von Radbruchs Formel im Sinne von lediglich übelgesetzlichem Recht hervor (s. o. Anm. 304). Vgl. Hassemer, 6 Anm. 39 (Zitat Fritz von Hippel). Gegen Wagner, 173, der allein die Kontinuität bei Radbruch betont und folgert: »Die nach 1945 ausgerufene Wende zur Erneuerung eines >christlich-abendländischen< Naturrechts geht folglich nicht auf neue rechtsphilosophische oder rechtswissenschaftliche Einsichten zurück; sie baut vielmehr auf einer rechtspolitischen Zielsetzung auf, nämlich

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übersehbar, die Forderung einer »Erneuerung des Rechts«311 nach 1945 untrennbar mit seinem Namen verbunden und seine Vorreiterrolle fur die »Naturrechtsrenaissance« in der entstehenden Bundesrepublik Deutschland nicht zu bestreiten. 8.14. Die Naturrechtsrenaissance nach 1945 Gustav Radbruch war nicht der einzige, der das Versagen der Justiz gegenüber dem nationalsozialistischen Regime mit dem Rechtspositivismus in Verbindung brachte. Es braucht hier nicht geklärt zu werden, ob dieses Urteil historisch richtig ist.312 In jedem Fall dominierte es die rechtsphilosophische Diskussion in den Jahren nach 1945, und allenthalben wurde eine Neubegründung des Rechts auf naturrechtlicher, gegen willkürliche Exzesse wie im Nationalsozialismus vermeintlich gefeiter Grundlage gefordert. Die so eingeläutete Renaissance des Naturrechts war kein typisch deutsches Phänomen, wie schon die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« von 1948 zeigt, bei der implizit, wie in der Einleitung gezeigt, ebenfalls das Naturrechtsdenken im Hintergrund steht. Der Einfluß auf Verfassungsgebung und Rechtsprechung war aber wohl nirgends so groß wie in der entstehenden Bundesrepublik. Wie selbstverständlich hielt eine frühe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die »Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus« für »in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit länge-

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die Gesetzgebung und Rechtssprechung der neu entstehenden Republik durch weltanschaulich bedingte Moral- und Naturrechtsvorstellungen nachhaltig zu beeinflussen.« Zu Radbruchs Sympathie gerade für das christliche - römisch-katholische wie protestantische - Naturrecht vgl. ders., Gesetz, 105f; Erneuerung, 108 (»Die Rechtswissenschaft muß sich wieder auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike [,] des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen [...].«). Eine »rechtspolitische[] Zielsetzung« (Wagner) im Sinne einer katholisierenden Restauration lag dem protestantisch geprägten SPD-Parlamentarier und -Justizminister zu Weimarer Zeiten bei solchen Äußerungen mit Sicherheit fern. Wagners Beitrag läßt bei aller Gelehrsamkeit leider das mindestens für einen Lexikonartikel erforderliche Bemühen um Vorurteilsfreiheit in der Wahrnehmung der Fakten vermissen. Vgl. den Titel von Radbruch, Erneuerung. Die Schuldzuweisimg an den Rechtspositivismus, wie sie auch Emil Brunner energisch vertrat (s. o. 4.3.), ist bestritten worden von Ott, 206-222. Eine abwägende Meinung vertritt Kaufmann, 81 Anm. 1. Sie erscheint plausibel, weil sie genau mit der Beobachtung übereinstimmt, daß der NS-Staat ein »Doppelstaat«, nämlich ein Gemisch von traditionellem »Normenstaat« und unkonventionellem »Maßnahmenstaat«, war (vgl. Jäckel, 124, der sich damit einer bereits 1941 von Emst Fraenkel vertretenen These anschließt). Als »Normenstaat« berief man sich auf das positive Recht, als »Maßnahmenstaat« auf überpositive Grundsätze wie das Wohl des Volkes.

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rem überwunden«.313 Vor Pauschalisierungen muß man sich allerdings hüten. Weder war die Naturrechtsrenaissance ausschließlich katholisch beeinflußt314 noch war sie ausschließlich an der Etablierung fixer Normen orientiert.315 Gleichwohl sind beide Einschätzungen für das Gros der Beiträge zutreffend.316 Charakteristisch war in jedem Fall, daß das Recht auf dem Menschen objektiv vorgegebene Ordnungen bezogen wurde, was in aller Regel zu eher konservativen Folgerungen führte. Außer dem Neuthomismus und einer evangelischen Theologie der Schöpfungsordnungen spielte dabei auch die deutsche Philosophie der ersten Jahrhunderthälfte eine wichtige Rolle. Stellvertretend sei dies an der 1947 erschienenen Schrift »Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts« von Helmut Coing dargestellt. Denn Coing stellt, nach der Absage an den Positivismus gleich im ersten Satz,317 fest, daß die Frage nach dem Naturrecht nicht unter Rückgriff auf die rationalistische Tradition des 18. Jahrhunderts gelöst werden könne (8). Nicht

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BVerfGE 3,232 (zit. Simon, 16). Vgl. außer Radbruch und Brunner noch den BGH-Präsidenten Hermann Weinkauff, der bewußt ein »Naturrecht in evangelischer Sicht« vertrat. Vgl. David, der neben die unwandelbaren auch wandelbare, aus jenen abgeleitete Naturrechtssätze stellt, unter ausdrücklichem Hinweis darauf, »daß wir in der Neuzeit uns der Geschichtlichkeit des Menschen unvergleichlich stärker bewußt geworden sind, als es ζ. B. das Mittelalter war« (David, 487). Auf evangelischer Seite überwogen die skeptischen Stimmen. Vgl. außer den oben bereits dargestellten Einschätzungen von Barth, Hirsch und Thielicke noch Ellul, Fondement, und die im Sammelband »Naturrecht oder Rechtspositismus?« enthaltenen Beiträge von Heinz-Horst Schrey und Ernst Wolf. Helmut Simon hat der vermeintlichen »Katholisierung des Rechtes« eine eigene Abhandlung gewidmet und dabei vor allem einschlägige Entscheidungen von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht aus der Frühzeit der Bundesrepublik untersucht. Er kommt zu einem abwägenden, gleichwohl eher bestätigenden Ergebnis: »Sie [sc. die Untersuchung] bestätigt einerseits den beträchtlichen Einfluß katholischen Rechtsdenkens auf Gesetzgebung und Rechtsprechung der Bundesrepublik. Sie beweist aber doch wohl auch, daß allein deswegen noch kein Grund besteht, in Kulturkampf-Stimmung auszubrechen [...]« (Simon, 50). Ähnlich heißt es schon weiter oben (a.a.O., 18): »Sämtliche naturrechtlichen Erwägungen auf katholische Einflüsse zurückzuführen, wäre eine grobe Vereinfachung, da es die verschiedensten Naturrechtslehren gibt. Wohl wird man sagen müssen, daß diese neuere Rechtsprechung ohne die jahrhundertealte thomistische Naturrechts tradition schwer vorstellbar wäre.« Vgl. Coing, Grundsätze, 7: »Daß die Rechtswissenschaft sich vom Positivismus befreien und wieder einer an die Rechtsidee gebundenen Auffassung vom Recht zuwenden müsse, ist heute eine Selbstverständlichkeit geworden, die man sich beinahe scheut auszusprechen.« Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf diese Schrift Coings.

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um den Begriff der Vernunft, sondern um den des »Werts« kreist seine Argumentation. Coing stellt der neutralen Definition des Rechts die des »echten Rechts« gegenüber und bestimmt dieses als »eine Ordnung der socialen Gemeinschaft, die aus bestimmten sittlichen Grundwerten gestaltet ist« (50). Diese Grundwerte seien »im Rechtsbewußtsein gegeben« (28), welches wiederum die reflektierte Form eines jedem Menschen innewohnenden, wenn auch durch die jeweilige Gemeinschaft unterschiedlich geprägten Rechtsgefühls darstelle (21 f). Der bestimmende Grundwert des Rechtsgefühls sei die Gerechtigkeit, der Coing als »Ergänzungswerte« (36) noch Treue und Wahrhaftigkeit, die Personwürde und »die institutionsbegründenden Werte der Verbände« (47) beigesellt. Aus diesen Werten ergeben sich nach Coing »Rechtsgrundsätze, die unmittelbar aus den sittlichen Werten entspringen, die allem echten Recht zu Grunde liegen« (54). Fragt man nach dem konkreten Inhalt dieser Rechtsgrundsätze, so stehen an der Spitze die »aus dem Maßstabswert der Persönlichkeit« abgeleiteten »>Grundrechtediskursiver Notwendigkeitfür jeden vorteilhaft« (PG, 106). Ein zweiter, teleologischer Naturbegriff

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Vgl. Höffe, Art. Naturrecht, 1306: »Schon um die politische Diskussion philosophisch zu begleiten, empfiehlt es sich, das N[aturrecht]sdenken nicht einfach als eine vergangene historische Gestalt abendländischen Rechts- und Staatsdenkens abzulegen, sondern es systematisch fortzubilden.« Vgl. PGNT, 110, sowie die Quellen- und Literaturangaben a.a.O., 132 Anm. 5. Zur Berechtigung dieses Hinweises auf Aristoteles s. o. S. 174.

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wie der des Aristoteles verzichte »auf die Unterscheidung von deskriptiven und normativen Aussagen« (PG, 107), indem er »unter der Natur des Menschen seine optimale Wesensverwirklichung versteh[e]« (PG, 106). Hiergegen wendet Höffe ein, daß, wenn auch nicht immer, so doch bei der Begründung überpositiver Rechtsprinzipien Deskriptives und Normatives unterschieden werden müsse und die Suche nach einem »genuin normative^] Element« wiederum in die Gerechtigkeitsperspektive münde.13 Ein dritter, moralischer Naturbegriff schließlich sei vor allem von Kant verwendet worden. Hier sei die moralische Natur des Menschen gänzlich von der Empirie getrennt und damit der Vorwurf des empiristischen Fehlschlusses gegenstandslos. Aber: hinsichtlich der Legitimation von Recht und Staat sei der Kantsche Rekurs auf die moralische Vernunftnatur des Menschen mit dem Standpunkt der »Politischen Gerechtigkeit« identisch.14 Höffes allmähliche15 Abkehr von der Naturrechtskonzeption hat somit in der Tat zunächst wie schon bei Brunner »begriffspolitische« Ursachen: Eine Verwechslung mit dem »dogmatischen« Naturrecht sowie einem empirischen Naturbegriff soll vermieden werden.16 Es gibt jedoch auch einen substantiel-

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Vgl. PG, 107: »Dort aber, wo es - wie bei unserer Neuvermessung des Gerechtigkeitsdiskurses - um eine überpositive Rechts- und Staatskritik geht, dort muß man zwischen dem positiv Gegebenen und dem überpositiv Aufgegebenen, also zwischen deskriptiven und normativen Aussagen, unterscheiden und sich bei der Begründung der normativen Prinzipien auf ein genuin normatives Element abstützen. Die Begründung fuhrt aber wieder in die skizzierte Semantik und macht erst bei der Gerechtigkeitsperspektive halt.« Vgl. PG, 109: »Dort, wo man es von vornherein in moralischen Begriffen definiert, entspricht das Naturrecht dem moralischen Standpunkt gegenüber Recht und Staat, mithin der Perspektive der politischen Gerechtigkeit. Das Naturrecht, das dem Sein-SollensFehlschluß am klarsten entgeht, ist nicht etwa mit der politischen Gerechtigkeit verwandt; noch weniger steht es in Konkurrenz zu ihr; es fällt mit ihr zusammen. [...] Das zusätzlich erforderliche genuin normative Element ist entweder wie bei Kant nichts anderes als die politische Gerechtigkeit [...].« Vgl. PGNT, 111, wo das Programm der »Politischen Gerechtigkeit« noch als »Naturrechtstheorie« präsentiert wird: »Im folgenden soll [...] eine Naturrechtstheorie skizziert werden, die den methodisch-grundsätzlichen Einwänden nicht ausgesetzt ist, also tatsächlich von unhintergehbaren Voraussetzungen menschlichen Handelns ausgeht, den naturalistischen Fehlschluss vermeidet und auch der Verkürzung oder Vergewaltigung geschichtlich-gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit entgeht.« Ähnlich: NNF. Vgl. PG, 108 (»Spätestens bei Kant gelangt das Naturrechtsdenken zur Einsicht, daß die Natur, auf deren normgebende Autorität sich eine überpositive Rechts- und Staatskritik in letzter Instanz berufen kann, mit der naturalen Natur, der empirischen Welt, nichts zu tun hat. Insoweit liegt im Naturbegriff eine Äquivokation vor, der sowohl Kritiker als auch Verteidiger des Naturrechts gelegentlich zum Opfer fallen und deretwegen es tunlich ist, auf die Rede vom >NaturGerechtigkeit< vorgezogen.« Als naturrechtliche Tradition gilt Höffe dabei die »einer nichtpositivistischen und zugleich postreligiösen Rechtstheorie«, ebd.). Diese Verbindung zur Naturrechtslehre bildet den Hauptvorwurf der kritischen Rezension Alwarts: Höffe sei ganz »dem Pathos überkommener Naturrechtsappelle verhaftet« (Alwart, 474). Neutraler spricht Günther von Höffes »Beitrag zum Neo-Naturrecht« (Günther, 186) und dem »Pathos der Naturrechtstradition« bei Höffe (a.a.O., 189).

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abstrahiert und das menschliche Leben immer noch von Konflikten bedroht findet« (PG, 292). Wegen der Strittigkeit anthropologischer Aussagen, die auf empirischen Argumenten beruhen, plädiert Höffe dafür, zunächst erfahnaigsunabhängig vorzugehen. Eben für ein solches Vorgehen stehe die Abstraktion eines Naturzustands (vgl. PG, 293). Bei der Durchführung der Abstraktion zur Legitimation von Recht und Staat kommt es nach Höffe darauf an, daß die Beschreibung des Naturzustands - gewissermaßen die Versuchsanordnung - durch letzte Radikalität gekennzeichnet ist. Um eine petitio principii zu vermeiden, gelte es, wirklich alle Momente eines recht- und staatlichen Zusammenlebens vorläufig einzuklammern. So habe etwa Locke das Experiment allzu schnell abgebrochen, indem er den Naturzustand durch das Naturgesetz und die mit ihm gegebenen Rechte bestimmt sein lasse (vgl. PG, 298f). So gelange er aber nur zu einem zwar vorstaatlichen, aber immer noch rechtlichen Zustand, einem »sekundären Naturzustand«, während die Legitimationsaufgabe laut Höffe nur überzeugend gelöst werden kann durch den Rekurs auf einen »primären Naturzustand« der »Koexistenz von Menschen, deren Freiheit in sozialer Hinsicht uneingeschränkt ist« (PG, 300). Auch auf »jede inhaltliche Definition des Glücks« sei vorläufig zu verzichten (PG, 302). Hier erweise sich selbst die Naturzustandsbeschreibung des »Leviathan«, die mindestens an einer Stelle der richtigen Einsicht »sehr nahe gekommen« (PG, 312) sei, noch als zu voraussetzungsreich, da Hobbes mit dem Streben nach Selbsterhaltung und Macht sowie mit der allen Menschen gemeinsamen Todesfurcht auch inhaltliche Momente aufnehme. Der »Vorrang der Freiheit« (PG, 306) sei so zu denken, »daß es im primären Naturzustand letztlich nur auf das (sozial unbegrenzte) Gutdünken ankommt« (PG, 312), da »jeder für sein Leben und Glück selbst zuständig ist« (PG, 311). Die für die Legitimationsaufgabe vorauszusetzende These unbeschränkter Handlungsfreiheit beziehe sich freilich nur auf Einschränkungen sozialer Herkunft, denn »daß es Zwang von seiten der inneren und der äußeren Natur gibt, bleibt unbenommen« (PG, 303). Ist somit die Versuchsanordnung geklärt, so kann nunmehr die entscheidende Frage des Gedankenexperiments gestellt werden: »Was geschieht, wenn das sozial uneingeschränkte Gutdünken der einen Person auf das ebenso uneingeschränkte Gutdünken anderer Personen stößt?« (PG, 328f). Die Antwort ergibt sich, wenn man ein gemeinsames Interesse zweier oder mehrerer Personen an einer Sache unterstellt: Ein Konflikt und die mit ihm gegebene wechselseitige Einschränkung der Handlungsfreiheit sind unvermeidlich. Und insoweit jede beteiligte Person die Einschränkung als von außen kommend erlebt, bedeutet sie einen sozialen Zwang. Höffe faßt zusammen: »Das Gedankenexperiment des Naturzustandes zeigt, daß man bei einer Koexistenz freier Personen ständig mit Konflikten rechnen muß, daß die Kon-

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flikte als solche eine Freiheitseinschränkung und damit einen sozialen Zwang beinhalten« (PG, 332). Mit diesem Ergebnis seien zwar noch nicht institutionelle Regelungen wie Recht und Staat gerechtfertigt, aber immerhin die These eines extremen Anarchismus, wonach ein gänzlich zwangsfreies menschliches Zusammenleben möglich sei, widerlegt (vgl. PG, 334). Und »die Konsequenz des primären Naturzustandes, die natürliche Herrschaft und der latente Krieg«, seien »dermaßen unattraktiv, daß sich deren Überwindung geradezu von selbst aufdrängt« (PG, 342). Ehe Höffe jedoch in der Argumentation gegen den Anarchismus weiterschreitet, will er das bisherige Ergebnis an Befunden einer an den biologischen Phänomenen orientierten Anthropologie bewähren. Aus dem dabei sich ergebenden »neutralen Begriff« (PG, 344) des Menschen - »ein polykompetentes Wesen, dem es an Eindeutigkeit fehlt, dafür eine unbestimmte, aber bestimmbare Mannigfaltigkeit zukommt« (PG, 344f) - lassen sich nun in der Tat Handlungsfreiheit, Gewalt und Tötungsgefahr als bestimmende Faktoren im zwischenmenschlichen Miteinander herleiten. Die anthropologische Analyse Höffes fuhrt aber noch auf ein weiteres für seine Theorie wichtiges Ergebnis: An Beginn und Ende des Lebens ist der Mensch ein hilfsbedürftiges Wesen. »Zur synchronen Perspektive, der unter Erwachsenen bestehenden Symmetrie von Opfer- und Tätersein, tritt eine diachrone Symmetrie, die zwischen der Kindheits- und der Altersphase menschlicher Entwicklung waltet: Hier wie dort ist man bei der Gewalt von Menschen gegen Menschen primär ein Opfer« (PG, 351). Dieses »anthropologische Faktum der Hilfsund Erziehungsbedürftigkeit« (ebd.) ist deshalb wichtig, weil es gegen die liberale Idee eines bloßen Nachtwächterstaates und för eine Legitimität staatlicher Sozialaufgaben spreche. Gegen den Hauptstrom der neuzeitlichen Vertragstheorien betont Höffe allerdings, daß nicht stufenlos von der Analyse des Naturzustands zu einem staatsgründenden Gesellschaftsvertrag übergegangen werden könne. Bisher sei lediglich die Notwendigkeit sozialer Institutionen gerechtfertigt. Bei dieser Rechtfertigung spielt aber nach Höffe - dies nun gegen eine naturalistische Institutionentheorie wie die am Begriff der »sozialen Instinktanalogie« orientierte Gehlens - ein Gerechtigkeitsargument durchaus bereits eine Rolle: Das Vorhandensein natürlicher Asymmetrien wie der von Eltern und Kindern lasse eine Institutionalisierung als distributiv vorteilhaft und damit gerecht erscheinen (vgl. PG, 372-375). Sind aber Gerechtigkeitserwägungen überhaupt legitim? Für Höffe heißt dies: Läßt sich ihre Notwendigkeit aus der Analyse des primären Naturzustands herleiten? Vorausgesetzt werde bei der Gerechtigkeitsperspektive ein Tausch wechselseitiger Freiheitsverzichte zugunsten des distributiven Vorteils. Doch warum sollte ein solcher Verzicht sich für jeden nahelegen? Bisher ist ja nur die Universalität von Handlungsfreiheit erwiesen. Höffes

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zentrales Argument ist ein transzendentales. Auch Handlungsfreiheit sei an eine Bedingung geknüpft: die leibliche Existenz. Ohne diese könne jene nicht wirklich werden. Daher gebe es als »universale Bedingung der Handlungsfreiheit [...] ein >natürlichesöffentliche< Umgrenzung« (PG, 429) der wechselseitigen Freiheitsverzichte gelöst; gegen Trittbrettfahrer agiert der Staat als »öffentliche Rechtsmacht« (PG, 430); und gegen ein Leben einseitig auf Kosten der anderen Generationen tritt die Institutionalisierung der Gerechtigkeit (PG, 431). Gerade so bildet der Staat die Form des Zusammenlebens, die dem Gedanken des distributiven Vorteils am ehesten entspricht. Die Legitimationsaufgabe ist gelöst. Vom primären Naturzustand mit seinem alles andere prävalierenden Freiheitsinteresse führt der Weg mit Notwendigkeit zur Zwangsordnung von Recht und Staat. Höffe beruft sich auf Kant: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Bleibt noch hinzuzufügen, daß die geleistete Legitimation nur als subsidiäre verstanden werden soll, da sie auf der Idee der natürlichen Gerechtigkeit aufbaut, von dieser also abhängig ist. Der Staat ist gedacht als Garant, daß diese Idee auch Wirklichkeit wird, nicht aber als ihr Erzeuger. Bezogen auf die Menschenrechte als Grundfreiheiten heißt dies: Der Staat kann sie »nur gewährleisten, aber nicht gewähren« (PG, 435).

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10.2. Die Begründung universaler Menschenrechte Nach der Publikation des hier - natürlich mit vielen Auslassungen im Detail - wiedergegebenen Entwurfs im Jahre 1987 hat Höffe ihn - abgesehen von der selbstverständlichen Verfeinerung in der Debatte mit Kritikern - in drei Richtungen ausgezogen. Erstens hat er die zuvor eher impliziten Bezüge zur Kantschen Ethik und Rechtsphilosophie explizit gemacht.21 Zweitens hat er bis hin zu seinem bisher umfassendsten Entwurf die rechtlichen und politischen Konsequenzen seiner Theorie, gipfelnd im Gedanken einer demokratischen und föderalen Weltrepublik, ausgearbeitet.22 Und drittens hat er sich konkreter über den Stellenwert der Menschenrechte und ihre Begründungsmöglichkeit in seinem Konzept geäußert. Allein der letztere Punkt soll im Kontext der vorliegenden Arbeit ausführlicher dargestellt werden, ausgehend von einem jüngeren unter den zahlreichen, inhaltlich allerdings weitgehend identischen Aufsätzen, mit denen Höffe seine Menschenrechtskonzeption der Öffentlichkeit dargestellt hat. Die Notwendigkeit und zugleich die allein zureichende Art einer Legitimation der Menschenrechte ergibt sich für Höffe aus deren universalem Anspruch, und dieser wiederum folgt aus der Tatsache, daß die Menschenrechte per definitionem - im Unterschied zu den Grundrechten als ihrer innerstaatlichen Positivierung - für alle Menschen als Menschen gelten. Ein solcher Anspruch ist als legitim auszuweisen, wobei die Begründung nicht zu kurz greifen darf. Letzteres wäre der Fall, wenn die Rechtfertigung lediglich im Rahmen einer bestimmten Kultur bliebe.23 Auch der Hinweis auf bestimmte historische Entstehungsbedingungen, die Ablösung des Absolutismus durch den modernen Verfassungsstaat, genügt Höffe nicht (VuR, 60; TT, 30).24 Gesucht ist »eine ahistorische, besser: genuin systematische Legitimation« (AM, 4). Die Argumentation soll und muß »kulturinvariant«, »kultumeutral[]«

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»Kategorische Rechtsprinzipien«, 1990; »>Königliche Völkerexeundum est e statu naturali< [...] kategorisch aus, zur Disposition eines wie auch immer rationalisierten und universalisierten Selbstinteresses kann und darf es daher nicht stehen.«) Brille. Höffe hat sich über derartige Kritik wie weiland Heidegger weitgehend hinweggesetzt: »Ein philologischer Befund ist nicht schon ein sachliches Gegenargument« (Höffe, Erwiderung, 354; s. auch u. Anm. 92). Seine Verehrung gerade auch für den Friedenspolitiker Kant erhellt aus folgender Äußerung aus dem Jahre 1995, in dem sich die Veröffentlichimg von Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« zum zweihundertsten Mal jährte: »Warum steht auf der Agenda der großen Gedenktage dieses Jahres nicht Kant; warum verbinden sich nicht Philosophie, Medien und Politik und setzen in Kants Namen ein globales friedenspolitisches Zeichen?« (IG, 22).

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Interessen handelt, sondern eben um transzendentale, »logisch höherstufige[]« (AM, 22; TKG, 723) und »elementare« (TKG, 723) Interessen, »auf die keiner, gerade weil er gewisse Interessen verfolgen will, verzichten kann« (ebd.).29 Neuerdings spricht Höffe von »>soziotranszendentalen Interessentranszendental< bezeichnete Interessen«) greift zu kurz.

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an Schwerbehinderten - in den Tausch nichts einbringen« (ebd.; vgl. TKG, 731; VuR, 212). Er fuhrt drei Argumente dafür an, auch sie in die Tauschgemeinschaft einzubeziehen: (1) die Verantwortung, »die Eltern übernehmen, indem sie Kinder in die Welt setzen« (TT, 42); (2) die Auffangverantwortung des Staates; (3) bei Behinderungen, die auf mit der modernen Zivilisation verbundene Risiken zurückgehen: die Verpflichtung, auch deren Nachteile »kollektiv zu tragen« (ebd.). Zwischenstaatlich ergeben sich Rechte auf Entschädigungen »aus ungerechten Tauschbeziehungen der Vergangenheit« (TT, 43) wie Sklaverei und Kolonialismus. Mit dem gleichen Argument lasse sich eine vorübergehende Bevorzugung von Frauen begründen, und mit der ungleichen Verteilung von Erwerbsrisiken deren kollektives Auffangen. Beide einschlägigen Gerechtigkeitstypen, die kommutative wie die korrektive, werden schließlich auch angeführt zur Legitimation staatlicher Aufgaben im Umweltschutz: Einerseits gehe es um einen gerechten Tausch mit den nachfolgenden Generationen, die die Umwelt ererben, andererseits bestehe für den Verbrauch von Ressourcen ein Anspruch auf entsprechende Entschädigungen. Damit ist für Höffe das Ziel erreicht: Durch den Rückgriff auf universale anthropologische Bestimmungen und den ebenso universalen Gedanken des Tauschs transzendentaler Interessen ist ein Katalog von Menschenrechten legitimiert. 10.3. Kritische Anmerkungen Otfried Höffe hat sich einen hohen Anspruch gestellt: Es geht ihm um nichts weniger als eine rational zwingende Begründung universaler Menschenrechte. Er geht dabei anders als Alexy, ja geradezu gegensätzlich vor. Sucht dieser die Menschenrechte als notwendige ethische Elemente im Recht zu begründen, was einen Ausgang bei der Ethik - im konkreten Fall: bei der Diskursethik - bedingt, so positioniert zwar auch Höffe die Menschenrechte an der Schnittstelle von Recht und Moral, indem er sie als Prototyp von »moralischen Rechten« (KR, 246) ansieht. Er betont aber stärker die Differenz zwischen Recht und Ethik, verortet die Menschenrechte im Bereich des Rechtlichen, moralisch bloß Geschuldeten und geht daher den Begründungsweg von der Rechtslehre her.30 Kann dieser Ansatz überzeugen? Höffes Be-

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Folgt man der plausiblen Interpretation Uwe Justus Wenzels, so ist dieser Weg bereits in der Struktur der Ethik Kants präfiguriert: in ihrem »juridische[n] Gepräge« (Wenzel, 178), das sich aus der allgegenwärtigen Orientierung Kants am Gesetzesbegriff ergebe. •»Der allgemeine >MoralbegriffRechtsbegriffindividualistisch< gelten [...].«) beschränkt, wie die Folge des Zitats zeigt, den Individualismus auf die Legitimationsaufgabe. Höffe hat sich noch mehrfach gegen den Individualismusvorwurf mit der Rede von einem lediglich »legitimatorischen« Individualismus zur Wehr gesetzt (vgl. Erwiderung, 336; 349; 351; DZG, 45). Vgl. Alwart, 476 (»Aus philosophischer Sicht erscheint die Konstruktion eines solchen Naturzustandes, auch wenn man sie als Gedankenspiel und nicht als historische Wahrheit nimmt, keineswegs voraussetzungsarm. Exemplarisch seien lediglich die handlungstheoretischen Prämissen genannt, zu denen Höffe nur wenige Andeutungen macht.«); NidaRümelin, Gerechtigkeit, 310 (»Dieses Prinzip des distributiven Vorteils ist jedoch in diesem Kontext kein normatives Prinzip der Begründung moralischer Regeln, sondern anthropologische Grundprämisse.«).

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ins Gespräch gebracht wird.53 Zum anderen ist es ein prämissenschwerer Vorsatz, Legitimation mit universalem Anspruch überhaupt und nur auf der Basis des egoistischen, interessegeleiteten Verstands leisten zu wollen. Höffe kann auf diesen oft geäußerten Einwand54 replizieren, die Konflikt- und

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Daß der Naturzustand, wie ihn Höffe beschreibt, noch in anderer Hinsicht das Weitere vorausbestimmt, hat Klaus Günther gezeigt: Das Ziel, die Legitimation von Zwang, ist in dieser Prämisse bereits enthalten, sofem nämlich die Handlungsfreiheit individuell gedacht wird und dadurch jede Zusammengruppierung Zwangscharakter im Sinne von Freiheitseinschränkung haben muß (vgl. Günther, 196). Ähnlich Bronkhorst, Kontingenz, 231: »Höffe setzt eine - soziologisch strittige - Sanktionstheorie der Vergesellschaftung voraus [...].« Das daraus sich ergebende negative Bild des Soziallebens hält Bronkhorst für »nichts anderes [...] als eine Uberale Fiktion« (a.a.O., 232). Der Marxsche Gedanke einer Ermöglichung von individueller Freiheit erst durch Vergesellschaftung heble daher »mit einem Schlag die gesamte Sozialanthropologie des neuzeitlichen Natuirechtsdenkens von Hobbes bis Höffe aus« (a.a.O., 233). »Denn der Mensch wird nicht schon frei geboren« (a.a.O., 234). Vgl. den Hauptvorwurf Wolfgang Kerstings: Allein von individuellen Nutzenüberlegungen geprägte Ausgangszustände wie der Höffes »sind rechtfertigungstheoretisch eklatant unterbestimmt und führen zu moralisch kontraproduktiven Ergebnissen« (Kersting, Herrschañslegitimation, 49; besonders elegant formuliert ist der Vorwurf a.a.O., 41: »Höffe will mit seiner fundamentalphilosophischen Herrschaftslegitimation offenkundig eine noimativitätstheoretische creatio ex nihilo, eine Argumentation, die das logische Kunststück fertigbringt, nach den Gesetzen präferenzindividualistischer Chemie aus deskriptiven Trauben normativen Wein zu keltern.«). Die mangelnde Legitimationsleistung gilt nach Kersting auch und gerade bezüglich der Menschenrechte: »Universelle und unveräußerliche Menschenrechte lassen sich mit dem Kriterium des distributiven Vorteils nicht begründen« (a.a.O., 54). Inhaltlich gleichlautend hat es Apel als »prinzipielle Illusion« bezeichnet, anzunehmen, »daß ein funktionierender Rechtsstaat [...] unter der alleinigen Voraussetzung der strategischen Rationalität und des radikalen Egoismus der Bürger überhaupt errichtet werden könnte« (Apel, 49). Einen parallelen Vorwurf erhebt Kettner, 267-283, z. B. 279f: »Aus einem egozentrisch begründeten Sollen, auch wenn mehrere egozentrische Perspektiven ineinander verschachtelt werden, ist kein dezentrierbares Sollen, wie es moralisch-nonnativc Verpflichtungen auszeichnet, zu konstruieren.« (Vor dem Atomismus-Vorwurf nimmt Kettner Höffe allerdings in Schutz; vgl. Kettner, 257f.) Auch nach Koller, Höffes Begründung, 297, führt aus einer »moralfreien, von Egoisten bevölkerten Welt [...] kein Weg zu einer Gesellschaft gleicher und freier Menschen«. Poltier hat diesen Vorwurf auf sämtliche von Hobbes inspirierte Vertragstheorien der Gesellschaft ausgedehnt: »En un mot, ils échouent à générer la morale à partir de la rationalité stratégique« (Poltier, 144; vgl. a.a.O., 147; 154; 158). Anders als die genannten Autoren scheint Volker Gerhardt den vom Selbstinteresse geleiteten Vernunftbegriff Höffes für ausreichend zu halten (vgl. z. B. Gerhardt, Paradigma, 85: »In jedem Fall sind Wille und Vernunft miteinander verknüpft, sobald es um die Lösung einer praktischen Frage geht.«). Er vermißt aber die Reflexion auf den diesem Vernunft- und Politikgedanken zugrondeliegenden »Selbstbegriff« (a.a.O., 91 u. ö.).

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Naturrecht und Menschenrechte

Interessenanthropologie sei gar nicht die einzige Basis seines Arguments, sondern gemäß der Formel »Anthropologie plus Ethik« komme noch ein genuin moralisches Moment hinzu,55 die Legitimationsleistung werde also gar nicht allein den Klugheitsüberlegungen aufgebürdet. Diese Replik geht jedoch darüber hinweg, daß das genannte moralische Moment kein anderes ist als die wechselseitige Tauschgerechtigkeit (vgl. STAM, 204), deren Einhaltung seitens der Tauschpartner selbst wiederum einzig auf strategischen Überlegungen gegründet ist. Wie prekär die Menschenrechtsbegründung bei Höffe bleibt, zeigt sich im übrigen gerade an einer Pointe seiner Argumentation. Deren Reiz besteht maßgeblich in der Verschränkung von zwei Legitimationsaufgaben: der von universalen Menschenrechten und der der Zwangsbefugnis von Recht und Staat. Die gedankliche Priorität kommt dabei der ersteren Aufgabe zu, denn die Rechtfertigung des Zwangs geschieht subsidiär: Eine Zwangsordnung ist nicht zuletzt deshalb nötig, weil andernfalls »Schwarzfahrer« sich zwar selbst Rechte genehmigen, die korrespondierenden Pflichten jedoch vernachlässigen würden. Das Phänomen der Schwarzfahrer, das Höffe so in gewisser Weise entgegenkommt, da es ihm die gewünschte Legitimation einer gesellschaftlichen Zwangsbefugnis ermöglicht, ist jedoch für die Überzeugungskraft seiner Theorie durchaus ambivalent. Denn wäre der Zuspruch von Menschenrechten im Sinne eines wechselseitigen Interessentauschs im strategischen Interesse aller Gesellschaftsglieder tatsächlich solide legitimiert, so dürfte es dieses Phänomen gar nicht geben. Stattdessen aber liefern die Vorteilsüberlegungen allein eine prekäre Basis für die Menschenrechte, ist die Mißbrauchsgefahr also systembedingt - eine Legitimationsschwäche hinsichtlich der Menschenrechte, die dann von Höffe für die Legitimation des Staates genutzt werden kann. Daß es für die Anerkennung gegenseitiger Rechte »eine Leistung der Mitmenschen braucht«, wird von Höffe an anderer Stelle als Beleg dafür angeführt, daß die menschlichen Sozialimpulse in seiner Theorie nicht zu kurz kommen (STAM, 200). Obige Überlegungen zum Schwarzfahren fuhren eher zur gegenteiligen Folgerung: Die Leistung wird zwar gebraucht, sie wird aber ohne Anwendung von Zwang nicht erbracht - eben weil die Omnipräsenz der Impulse individueller Nutzenmaximierung nur eine subsidiäre Bedeutung der Sozialimpulse zuläßt. Letztere kommen zu kurz, denn die Menschen »brauchen« sich in Höffes Theorie nicht wie bei Pufendorf und in der christlichen Lehre, um einander über die jeweiligen Mängel hinwegzuhelfen, sondern sie sind aufeinander angewiesen und gewähren sich Rechte, lediglich weil so die Stö-

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Vgl. ζ. B. STAM, 204: »In diesem Vorschlag ist anwesend ein durchaus moralisches, allerdings anspruchslos moralisches Element.«

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rung, die man füreinander bei der Ausübung der individuellen Willkürfreiheit darstellt, wenigstens gerecht verteilt ist. Die Menschenrechte werden so dem Flugsand strategischer Kalküle und der Gewährleistungsmacht des Staats anheimgegeben - eine wahrhaft wacklige Grundlage. Doch zurück zu Höffes oben zitierter Replik auf den Individualismusvorwurf. Ihr ist drittens zu entgegnen, daß sich der Gedanke der Orientierung des Menschen am individuellen Interesse bei Höffe, wie unten noch zu zeigen sein wird, nicht auf das Gedankenexperiment des Naturzustands als Legitimationsgnmdlage der Zwangsbefugnis von Recht und Staat beschränkt, sondern sich über seine gesamte Ethik erstreckt. Es ist auch schwer vorstellbar, wie es anders sein könnte, denn man kann ja nicht innerhalb eines philosophischen Systems zwei unterschiedliche Menschenbilder - und diene das eine auch noch so konkreten Legitimationszwecken - vertreten.56 Und viertens hat Höffe an der genannten Stelle nur den Vorwurf eines individualistischen Menschenbildes zurückgewiesen. Für den »Vorrang der Freiheit« hat er einen weitreichenden Prämissencharakter eingeräumt.57 Daß dieser aber keine Neutralität impliziert, wird vielleicht am handgreiflichsten daran, daß die Rechte derjenigen, die wie Behinderte nichts oder nur wenig in den Freiheitstausch einbringen können, eine besondere Legitimation erforderlich ma-

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Es ist daher kein Zufall und auch nicht bloß »fahrlässig« (Dabrock, Tauschgerechtigkeit, 12), daß in Höffes Thesen zur Gesundheitspolitik der »Hinweis auf die Differenz zwischen Legitimations- und Anwendungsdiskurs« (ebd.), auf den Höffe in seiner oben genannten Verteidigung Wert legt, fehlt: Diese Differenz spielt, wo es um Anwendungsfragen geht, faktisch keine Rolle; Höffes Anthropologie bleibt die gleiche. Vgl. PG, 306: »Wenn dem Naturzustand ein bestimmtes Menschenbild zugrunde liegen soll, so liegt dieses nicht im Individualismus, sondern allenfalls in der Freiheit, die aus legitimationstheoretischen Gründen als unbegrenzt angesetzt wird, bzw. in einem Begehren, das sich auf alles richten darf. In der Tat ist die Freiheit eine Prämisse, deren Bedeutung sehr weit reicht.« Vgl. Sitter-Liver, 86: Die Handlungsfreiheit ist in Höffes Theorie »die alles bestimmende normative Voraussetzung«. Sitter-Liver sieht hier die Gefahr einer petitio principii bei Höffe (a.a.O., 95), sofern nicht implizit auf eine höhere Norm zurückgegriffen werde (s. u. Anm. 63). Die Bedeutung, die Höffe der Freiheit beimißt, geht auch aus einer früheren Äußerung hervor: »Das Recht auf gleiche Freiheit ist das Menschenrecht bzw. das Prinzip aller Menschenrechte« (MLDP, 10), wobei deutliche Anklänge an Kant festzustellen sind (vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung Rechtslehre, AB 45f: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht. - Die angeborne Gleichheit [...] - alle diese Befugnisse liegen schon im Prinzip der angebornen Freiheit [...].«).

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Naturrecht und Menschenrechte

chen.58 Hier zeigt sich: Die »Partialanthropologie« ist nicht so »anspruchslos«, wie sie daherkommt.59 Nach Höffe ist es freilich ein Vorzug seiner Grundlegung, daß sie Rechte nicht allein aus der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, sondern aus der Handlungsfähigkeit begründet (vgl. VuR 77). Auch an anderer Stelle hat Höffe sich mit dem Vorwurf auseinandergesetzt, seiner Theorie liege ein einseitiges, in diesem Fall pessimistisches Menschenbild zugrunde (vgl. TI, 26-28; AM, 16f; VuR, 71f). Aber auch hier verfangen seine Gegenargumente nicht. Was »nur als eine Partialanthropologie in Anspruch genommen« (VuR, 71) wird, wirkt aufgrund seiner grundlegenden Funktion als Weichensteilling fur die gesamte Theorie. Und daß die Schutzbehauptung, er stelle »bloß ein anthropologisches Faktum fest« (VuR, 72), nicht überzeugen kann, wurde oben bereits gesagt. Die genannten Vorwürfe, insbesondere der des Individualismus, sind trotz der Zurückweisungen seitens Höffes nicht spurlos an seiner Theorie vorbeigegangen. In seinem 1999 veröffentlichten Buch »Demokratie im Zeitalter der Globalisierung« finden sich einige Akzentverschiebungen, die allesamt vom Anliegen bestimmt zu sein scheinen, den Individualismus zu dämpfen: Die Konfliktnatur des Menschen wird weniger hervorgehoben; aus dem »bloß distributive[n] Vorteil« wird »der distributiv-kollektive Vorteil« (DZG, 54); die Rede ist von »>soziotranszendentalen Interessenlike a human being< or when we condemn racial discrimination.« Der Titel der deutschen Ausgabe von »Thick and Thin« - »Lokale Kritik - globale Standards« - ist daher irreführend, wenn nicht schlicht falsch. Zwar ist es richtig, daß Walzer Gesellschaftskritik im wesentlichen nur als »lokale« zulassen will (s. u.), doch wenn es ein »globales« Moment der Moral gibt, dann ein kritisches. Umgekehrt ist der »Standard«, aus dem die globale Kritik abstrahiert wird, ein lokaler. Das ist gerade die Pointe von Walzers Argumentation. Wenn das aufgrund der Priorität der internen Gesellschaftskritik bei Walzer nicht selbst mißverständlich wäre, müßte man die Adjektive umdrehen: »Lokale Standards - globale Kritik«. Die Rede von »globalen Standards« läßt Walzer als unbedarften Universalisten erscheinen, der er eben nicht ist. Vgl. ζ. B. TT, 49 (dt. 71): »Social critics mostly work out of a Home Office.« Diese Immanenz wird von Walzer nicht nur auf die Adressaten der Kritik bezogen - die eigene durch die miteinander geteilte Kultur und Moral verbundene Gemeinschaft - , sondern auch auf deren Quelle·. Sie erfolgt als (Neu-)Interpretation eines vorausgesetzten »Textes« - »den Werten, Prinzipien, Codes und Konventionen, aus denen die moralische Welt besteht« (Walzer, Kritik und Gemeinsinn, 40). Durch die Option für die »Interpretation« - gegenüber den beiden anderen »Wegen« in der Moralphilosophie: Entdeckung und Erfindung - erhält Walzers Theorie zusätzlich zum partikularen einen traditionalistischen Zug (vgl. zu den »drei Wegen«: a.a.O., 11-42). Vgl. TT, 60f (dt. 85): »Since I know very little about their society, I cannot foist upon the Chinese this or that set of rights - certainly not my own preferred set.«

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

allem und jedem übergestülpt werde.20 Davon möchte Walzer aber einen »reiterativen Universalismus« unterschieden wissen, der ebenfalls von einer grundlegenden Gemeinsamkeit ausgeht, diese aber eher auf der Basis einer gemeinsamen Erfahrung, die sich in unterschiedlichen Kontexten und unabhängig voneinander wiederholt, verankert (vgl. NW, 144).21 »Was ihn vom >Universalismus des (allumfassenden) Gesetzes< unterscheidet, ist seine partikularistische Blickrichtung und seine pluralisierende Tendenz« (ebd.). Schon dieser letzte Satz zeigt nun aber, daß der »reiterative Universalismus« ebensogut als eine - wenn auch gemäßigte - Variante des Relativismus figurieren könnte. Untersucht man genauer, was Walzer mit ihm verbindet, so stößt man auf eine lediglich formale »gemeinsame Tiefenstruktur« ohne »gemeinsamen Inhalt« (NW, 159). Für die Inhalte hält Walzer auch in diesem Text an ihrer grundsätzlichen Verwurzelung in partikularen Kontexten fest.22 Der »reiterative Universalismus« beschränkt sich auf die Forderung, daß eine Gesellschaftsordnung gerecht sein soll. Das konkrete Was, die inhaltliche Füllung dieser Forderung, ergibt sich - daran hält Walzer fest demgegenüber allein aus dem partikularen gesellschaftlichen Kontext. Ist diese Interpretation richtig, so ergeben sich sofort Anfragen an Walzers Konzept eines »reiterativen Universalismus«. Es ist im Rahmen von Walzers Theorie, die doch mit ihrem Verständnis der Gerechtigkeits- als Gütertheorie gerade den zwingenden Zusammenhang von Moral und substantiellen Inhalten betont, nicht sehr glücklich, auf eine solche formale Vorstellung zurückzugreifen, wie gleich im Anschluß noch näher auszufuhren sein wird. Zunächst aber ist die Frage zu klären, ob das genannte Konzept tatsächlich im Widerspruch zu Walzers partikularistischem Grundbekenntnis steht. Wird dieses dadurch, daß Walzer die Existenz eines »reiterativen Universalismus«

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Vgl. NW, 140 (Walzers Ausgangsbeispiele für beide Arten von Universalismus sind bestimmte prophetische Texte des Alten Testaments): »Der erste Universalismus geht davon aus, daß es einen Gott und - weil und insofern es einen Gott gibt - ein Gesetz, eine Gerechtigkeit, ein richtiges Verständnis des guten Lebens, der guten Gesellschaft oder der guten Regierungsform, eine Erlösung, einen Messias, ein Millennium für die gesamte Menschheit gibt.« Es ist klar, daß die Betonung nicht nur bezüglich Gottes jeweils auf das »ein« fallt. Der Begriff der Reiteration begegnet in diesem Sinne bereits SJ, 314 Anm. (dt. 442 Anm.): »At the same time, it may be the case, as I suggested in chapter 1, that certain internal principles, certain conceptions of social goods, are reiterated in many, perhaps in all, human societies.« Vgl. NW, 160: »Unsere Interpretationen können freilich nicht mehr leisten, als die differenzierten Gemeinsamkeiten der Gerechtigkeit anzudeuten, denn diese gemeinsamen Merkmale sind immer Teil eines bestimmten kulturellen Systems und auf sehr spezifische Weise entwickelt.«

Argumente fur einen perspektivischen Ansatz

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konzediert, revoziert? Auf der Basis der eben gegebenen Interpretation wird man das kaum sagen können. Allein die Forderung nach dem »daß« von Gerechtigkeit reicht nicht aus, um einen ethischen Universalismus überzeugend zu etablieren, wie bereits Hegel in seiner Kritik an der Ethik Kants und Fichtes oder Kelsen in seiner Kritik an der Leerheit gängiger Formeln von Gerechtigkeit gezeigt haben. Weil Walzer im genannten Aufsatz an der Partikularität der moralischen Inhalte ausdrücklich festhält, erscheint es mehr als fragwürdig, wenn er seine Konzeption dort als eine Form des ethischen Universalismus bezeichnet. Dafür spricht auch, daß Walzer selbst den gleichen Gedanken bloß einer universalen Verfahrensregel ohne weiteres im Rahmen des relativistischen Argumentationsgefälles von »Spheres of Justice« einräumen kann, ohne ihn mit der Rede von einem Universalismus zu verbinden.23 (Daß man Walzer gleichwohl, aber in anderer als der »reiterativen« Form, einen moralischen Universalismus unterstellen kann, wird unten zu zeigen sein.) Über das Konzept eines »reiterativen Universalismus« sind wir bei kritischen Anfragen an Walzers Stellungnahme zum Universalismus-Partikularismus-Problem im Ganzen angelangt. Während das eben Gesagte lediglich an Walzers Terminologie Kritik übt, gibt es auch Anlaß zu substantiellen, mit der Rede von Form und Inhalt freilich zusammenhängenden Einwänden. Es erscheint zunächst einmal schwer nachvollziehbar und wenig kohärent, wie aus der durch und durch partikularen »dichten« Moral dann doch universale inhaltliche Forderungen »herausgelöst« werden sollen. Walzer bleibt denn auch vage, wenn es um deren konkrete Bestimmung geht.24 Sucht man nach schärfer formulierten Kriterien für die Ableitung, so werden zwei deutlich: »the very idea of >justice,< which provides a critical perspective and a negative doctrine« (TT, 26; dt. 43), sowie der Autonomiegedanke, der im »principle of consent« (TT, 60 dt. 84) und als Prinzip der »Selbstbestimmimg«25

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Vgl. SJ, dt. 12: »Keine einzelne sachliche Verteilungsregel kann Allgemein-Zuständigkeit beanspruchen, aber dennoch gibt es eine universelle Verfahrensregel: Jedes Gut soll nach den Geltungskriterien seiner eigenen >Sphäre< zugeteilt werden.« Vgl. ζ. B. TT, 39 (dt. 59): »A minimalist view is a view from a distance or a view in a crisis, so that we can recognize injustice only in the large. We can see and condemn certain sorts of boundary crossings, gross invasions of the domestic sphere, for example, like the appearance of the secret police in the middle of the night. But we won't have much to say about the precise boundaries of the home and the family or the character of legitimate action within the kinship system (or anywhere else).« Vgl. TT, 67 (dt. 91): »I doubt that we can find a single rule or set of rules that will determine the form of the separation and the necessary constraints [im Kontext geht es um den Umgang mit separatistisch gestimmten Minderheiten]. But there is a general principle,

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

gegenwärtig ist. Alles läuft letztlich auf dasselbe hinaus, wenn man bedenkt, daß die »Idee der Gerechtigkeit« von Walzer im Sinne einer Autonomie der Einzelsphären verstanden wird. Eine Verletzung des Autonomiegrundsatzes ist für Walzer gleichbedeutend mit Unmoral schlechthin.26 Diese Schlüsselstellung der Autonomie in Walzers Denken erklärt nicht nur, warum gerade die Rechte auf Leben und Freiheit von ihm als Grundbestand der Menschenrechte kenntlich gemacht werden. Sie spiegelt sich auch darin wider, daß in »Spheres of Justice« der Begriff der »Tyrannei« an ganz verschiedenen Stellen gleichsam als Abgrund des Bösen erscheint.27 Und auch die scharfe Ablehnung eines »covering-law«-Universalismus erhält von hier her ihre eigentliche Pointe,28 während der »reiterative Universalismus« umgekehrt auf der gegenseitigen Anerkennung als autonomer »Moralbildner« beruht (NW, 169). Gegner könnten Walzer an dieser Stelle leicht vorwerfen, seine universale »Minimalmoral« reduziere sich somit auf einen typisch westlichen Grundsatz. Gegen diesen Vorwurf ist Walzer allerdings geschützt, da er ja von vornherein klargestellt hat, daß (1) er aus der Perspektive seiner Kultur argumentiert und (2) jede »Minimalmoral« ihre Abkünftigkeit von einer gehaltvollen Weltanschauung nicht verleugnen kann. Walzer hat sich denn auch an anderer Stelle ganz unbefangen zur liberalen Weltanschauung, von innen heraus korrigiert durch den Gemeinschafts- und Institutionsgedanken im Sinne der Sozialdemokratie, bekannt.29 Die Frage ist allerdings, ob mit dem Bekenntnis zur universalen Vorherrschaft des Autonomiegrundsatzes und mit

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which we can think of as the expression of moral minimalism in international politics. The principle is >self-determination.«< Vgl. NW, 172f: »Wir handeln immer dann unmoralisch, wenn wir anderen Menschen den legitimen Anspruch auf das verweigern, was ich künftig die Rechte der Wiederholung nennen werde, nämlich das Recht, autonom zu handeln, und das Recht, Bindungen entsprechend einer bestimmten Auffassung vom guten Leben einzugehen. Anders gesagt, die Unmoral zeigt sich für gewöhnlich in der Weigerung, anderen dieselbe moralische Verantwortung und dieselben schöpferischen Kräfte zuzugestehen, die wir für uns selbst beanspruchen.« Vgl. SJ, 19 (dt. 49: »The regime of complex equality is the opposite of tyranny.«); 62 (dt. 106f: Gewähren die Bürger eines Landes Gastarbeitern, die doch auf gleichem Boden mit ihnen selbst leben, nur einen quasi rechtlosen Status, so heißt dies für die Bürger »to act outside their sphere, beyond their rights. It is a form of tyranny.«); 109 (dt. 169: »the tyranny of the market«); 282 (dt. 400f: die politische Tyrannei als »the most visible form of tyranny«); 316 (dt. 445: »Justice as the opposite of tyranny [...].«). Vgl. NW, 180: »Natürlich ist das allumfassende Gesetz immer ein Deckmantel für Expansionsbestrebungen und Ausbeutung.« Vgl. Walzer, Zivile Gesellschaft, 52; 63; 79f; Kommunitaristische Kritik, 170; 177; 180.

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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seiner Wahl als Kriterium zur Bewertung anderer Gesellschafts- und Gerechtigkeitssysteme noch von einem Partikularismus oder Relativismus Walzers gesprochen werden kann. Man sollte hier vielmehr von einer Form von Universalismus sprechen - allerdings nicht mit Walzer von einem »reiterativen Universalismus«, denn diese Begriffsverbindung ist entweder - sofern sie auf das bloße »daß« einer gerechten Ordnung abhebt - leer oder - falls sie darüberhinaus auf konkrete Inhalte rekurriert, die in Walzers Theorie notwendig partikular sind - ein hölzernes Eisen. Indem der Autonomiegrundsatz zum alles bestimmenden Maßstab erklärt wird, wird er zum »covering law« und Walzers Theorie zu einer Abart des »covering-law«-Universalismus. Man darf diesen nur nicht, wie Walzer selbst das tut, durch die Verbindung mit Tyrannei und Imperialismus zu einer Fratze aufbauen bzw. sich allein an solchen depravierten Formen orientieren.30 Ein Universalismus, der die eigene Perspektivität anerkennt, wird auch keine Schwierigkeit haben, andere Perspektiven auf das Gute anzuerkennen - zumindest als Partner der argumentativen Auseinandersetzung, sofern er ihnen nicht zustimmt. Walzers Position läuft auf einen solchen perspektivisch gebundenen »covering-law«-Universalismus hinaus, denn wenn man mit der oben als zweite Voraussetzung genannten Perspektivität jeder »Minimalmoral« ernst macht und zugleich - was Walzer ebenfalls tut - diese Moral mit übergesellschaftlichem Anspruch versieht, ist gar keine andere Form der moralischen Auseinandersetzung denkbar. Walzers »reiterativer Universalismus« nimmt demgegenüber die eigene Perspektive - und die andere Kultur als potentiellen Partner des Gesprächs, eines Gesprächs, an dessen Ende im übrigen auch die Änderung der eigenen Ansicht stehen kann31 - noch zu wenig wichtig, indem er sich vorschnell an der Übereinstimmung im Formalen erfreut und sich mit einer überwiegend

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Vgl. die von Bronkhorst gegen Walzers Verdammung des »covering-law«-Universalismus ins Gespräch gebrachte Unterscheidung eines »militanten und autoritären Gesetzesuniversalismus« von einem »argumentativ-egalitären« Typ (Bronkhorst, Gesellschaftskritik, 161). Auch Höffes oben dargestellte Differenzierung zwischen dogmatischem und kritischem Naturrecht zielt in die gleiche Richtung. Insofern sich Walzer fur seine zwei Arten von Universalismus auf die alttestamentlichen Propheten bezieht, ist die Kritik Brumliks an Walzers Sicht der Propheten interessant. Insbesondere mit Bezug auf die Völkerspriiche des Amos (Am 1-2) kommt er zu dem Schluß: »Damit scheinen die biblischen Texte systematisch einen mittleren Weg zwischen der älteren, weberianischen Lesart der Propheten als abstrakter, moralischer Universalisten und ihrer Walzerschen Lesart als gemeinschaftsbezogener Teilnehmer-Kritiker zu weisen« (Brumlik, Amos, 15). Vgl. Taylor, Understanding, 131: »Understanding is inseparable from criticism, but this in turn is inseparable from self-criticism.«

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

bloß immanenten Gesellschaftskritik begnügt.32 Daß hierin ein latenter Selbstwiderspruch bei Walzer liegt, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß er selbst einräumt, jede moralische »Geschichte«, wenn auch partikularen Ursprungs, sei mit universalen Wahrheitsanspriichen verknüpft.33 Die Paradoxic, daß jede moralische Argumentation ein Appell an allgemein geteilte Überzeugungen ist, gerade deshalb aber eine nicht-allgemeine Perspektive voraussetzt, hat Walzer klar erkannt.34 Er hat sie allerdings nicht konsequent durchdacht. Vielmehr hat er mit seiner Rede vom »reiterativen Universalismus« harmonistisch verdeckt, was er andernorts festhält: daß der »Streit« zur Ethik hinzugehört. Man kann daher Walzers diesbezüglichem Fazit nur zustimmen: »Die umfassendste Forderung der Moral, das Kernprinzip eines jeden Universalismus, muß darum lauten: Wir müssen einen Weg finden, diese streitbare Tätigkeit auszuüben und zugleich mit den anderen Akteuren in Frieden zu leben« (NW, 168).

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Henry Shue hat weitgehend zu Recht Walzers Kulturverständnis unter den Begriff »Inseldasein« mit den beiden Aspekten »blockinterne Homogenität« und »blocküberschreitende Passivität« subsumiert (Shue, Menschenrechte, 368; ähnlich die Anfrage, die Dabrock, Zugehörigkeit, 59, an den Kommunitarismus im ganzen richtet: »Ist die Rede von der einen identitätsbildenden Tradition, kulturellen Praktik oder Leitstory, aus der heraus das ganze Leben gedeutet werden soll, nicht unterkomplex angesichts von diversifizierten Lebenswelten und individuellen Patchwork-Identitäten?«). Demgegenüber plädiert Shue für die konstruktive Kraft, die ein kulturübergreifendes »Gespräch« haben kann (a.a.O., 372), und folgert: »Im Gegensatz zu dem, was Walzers pessimistisches Bild nahelegt, müssen wir uns keineswegs darauf beschränken, diejenigen Fälle, in denen wir keinen Zweifel haben, miteinander zu vergleichen, um zu sehen, wo wir bereits Übereinkunft vorfinden - und das war's« (a.a.O., 376). Vgl. NW, 162: »Wenn die Wiederholung, wie ich glaube, eine wahre Geschichte erzählt, dann bringt sie in ihrer Erzählung eben jene Art von moralischer Grenzziehung mit sich, von der es fur gewöhnlich heißt, sie stamme allein aus dem Universalismus der allumfassenden Gesetze.« Vgl. SJ, 29 (dt. 61): »It is to these understandings [sc. den von den Bürgern eines Gemeinwesens geteilten Überzeugungen] that we must appeal when we make our arguments - all of us, not philosophers alone; for in matters of morality, argument simply is the appeal to common meanings.« Daß diese Überzeugungen für Walzer bei aller Partikularität nicht individuellen Interessen, sondern »collective values« entspringen, insofern also zwar partikular, aber, wenn sie moralischen Anspruch erheben wollen, zugleich überindividuell, ja übergemeinschaftlich sind, erhellt aus einer Passage wie der folgenden: »But the ultimate appeal in these conflicts [sc. über gesellschaftliche Verteilungen] is not to the particular interests, not even to a public interest conceived as their sum, but to collective values, shared understandings of membership, health, food and shelter, work and leisure« (SJ, 82; dt. 132).

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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12.1.2. Charles Taylor Walzer versucht gelegentlich, seine Metaethik und seine Gesellschaftstheorie mit einer Theorie des Selbst in Verbindung zu bringen. Er möchte allerdings bescheidener lediglich von einem »Bild des Selbst« sprechen,35 und die einschlägigen Überlegungen erwecken den Eindruck, daß bei ihnen Walzers Gesellschaftsmodell einfach auf die Struktur des Individuums übertragen wird.36 In die gleiche Richtung - daß nämlich Walzers Gesellschaftstheorie seinen Überlegungen zum Selbst vorausgeht und diese eher nachträglichlegitimierenden als fundierenden Charakter haben - weist auch ein Satz aus der Einleitung der entsprechenden Schrift.37 Mit Walzers Reflexion auf das Selbst ist eine Verbindung zu Charles Taylor hergestellt, bei dem die Dinge aber zugleich ganz anders liegen: Er betont gerade den fundamentalen Charakter der Auffassung des Selbst fur jede Moral. Auch Taylor streicht die perspektivische Gebundenheit jeder Moral heraus, bestimmt sie aber anders als Walzer erst sekundär in einer bestimmten Auffassung von gesellschaftlichen Gütern. Der Primat kommt bei ihm der bewußt oder unbewußt im Hintergrund stehenden Theorie des Selbst zu. Taylor selbst hat in diesem Sinne sein gesamtes Werk trotz der thematischen Vielfalt als das Werk eines »Monomanen« bezeichnet, das man mit gutem Grund unter dem traditionellen Begriff einer »Philosophischen Anthropologie« zusammenfassen könne.38 Taylors ethische Konzeption - wie schon bei Walzer ist die Vorbemerkung angebracht, daß hier lediglich auf einen Teil seines ganz verschiedenen Themenfeldem gewidmeten Denkens fokussiert wird - macht damit eine Grundlage explizit, die von Walzer wie gesehen erst sekundär reflektiert wird. Taylors Konzept läßt sich daher als Vertiefung des Walzerschen lesen. Dies wird deutlicher, wenn wir in der folgenden Darstellung des Beitrags Taylors zur

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TT, X (dt. 11): »a picture of the seif«. Vgl. ζ. Β. TT, 98 (dt. 128): »There is no linearity, then, and no hierarchy. The order of the self is better imagined as a thickly populated circle, with me in the center surrounded by my self-critics who stand at different temporal and spatial removes (but don't necessarily stand still).« Vgl. TT, X (dt. 11): »And at the end, in the fifth chapter, I will provide a differentiated account of the self that will, I hope, render my defense of difference elsewhere more plausible and persuasive.« Vgl. Taylor, Introduction, 1. Es ist daher überzeugend, wenn Kreuzer das anthropologische Fundament der Ethik Taylors hervorhebt (vgl. Kreuzer, 72: »Charles Taylors Moralphilosophie ist praktische Anthropologie.«), seine Interpretation unter die These stellt: »Das Personenkonzept ist der programmatische Kern des Taylorschen Œuvres« (a.a.O., 11), und die Darstellung der »hermeneutischen Anthropologie« Taylors mit diesem Konzept beginnen läßt (vgl. a.a.O., 71-160).

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

Universalismusdebatte von den drei »relativistischen« Thesen ausgehen, die oben bei Walzer ausgemacht wurden. Denn sie finden sich ebenso bei Taylor. 1. Wo »Spheres of Justice« von der »komplexen Gleichheit« spricht, handelt Taylor von der »diversity of goods«: Es gebe nicht nur ein Gut, sondern mehrere, die untereinander in einem »qualitative contrast« stehen.39 Es verwundert daher nicht, wenn Taylor Walzers Gerechtigkeitstheorie als »brilliant« lobt.40 Taylor stellt seine Gütertheorie dem Utilitarismus und dem Kantschen Formalismus mit ihrem Rekurs auf ein oberstes Prinzip entgegen. Diese Theorien seien reduktionistisch, aber gerade deshalb so beliebt, weil sie den argumentativen Schwierigkeiten, die mit einer komplexen Gütertheorie verbunden sind, aus dem Weg gehen.41 Wenn Taylor trotz dieser Schwierigkeiten für die letztere plädiert, dann nicht zuletzt, weil er die Begründungsprobleme für lösbar hält. Man kann es als eine erste Differenz zu Walzer verbuchen, wenn Taylor seine Theorie eines mit Troeltsch gesprochen »vielspältigen« Guten mit dem Festhalten an der Relevanz der Rationalität in der Ethik verbindet.42 2. Was der oder die Einzelne als Güter definiert, ist zumindest auch von der ihn umgebenden Kultur abhängig.43 Gerade hierin, im Gedanken der prägenden Kraft der »community«, ihrer Unentbehrlichkeit für das Individuum und in der Ablehnung des liberalen »Atomismus«, argumentiert Taylor ganz im Geiste des Kommunitarismus. Er folgert daraus allerdings keine Einschränkung einer kulturübergreifenden Argumentation und Gesellschaftskri-

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Vgl. z. B. Taylor, Diversity, 236f. In »Sources of the Seif« führt Taylor eine Art Güterhierarchie ein, indem er höherstufige, die übrigen definierende Güter hervorhebt, die er »hypergoods« nennt (vgl. Taylor, Sources, 63; dt. 124). Vgl. Taylor, Nature and Scope, 296 (dt. 156). Vgl. Taylor, Diversity, 240: »It [sc. die Attraktivität der genannten ethischen Theorien] is partly because these languages of contrast are so hard to validate once they come into dispute. If some-one does not see that integrity is a goal one should seek, or that liberation is alone consistent with the dignity of man, how do you go about demonstrating this?« Vgl. a.a.O., 241 (»That argument is difficult in this area does not mean that it is impossible, that there is no such thing as a rationally induced conviction.«); Introduction, 12. Vgl. Taylor, Introduction, 8 (»The community is not simply an aggregation of individuals; nor is there simply a causal interaction between the two. The community is also constitutive of the individual, in the sense that the self-interpretations which define him are drawn from the interchange which the community carries on.«); Theories of Meaning, 271 (dt. 86: »It follows from all this, of course, that people with very different cultural vocabularies have quite different kinds of feelings, aspirations, sensibilities, experience different moral and other demands, and so on.«); Atomism, 205f.

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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tik, denn diese müsse kein Überstülpen unserer Auffassungen bedeuten.44 Ein Allgemeingültigkeitsanspruch sei durchaus vertretbar, solange man ihn den anderen auch zugestehe.45 Diversität und Kontextgebundenheit der Moral bedeute nicht, »that we abandon all trans-societal criteria of right«.46 Hinter dieser These steckt eine ganze hermeneutische Konzeption. Im einschlägigen Text Taylors zu diesem Thema begegnet erneut die »language of contrast« sowie zusätzlich der Hinweis auf unser Verstehen der Natur.47 Der zugrundeliegende Gedanke scheint zu sein: Schon innergesellschaftlich - sei es im Gespräch mit anderen Güterauffassungen, sei es beim Erschließen der Natur - sind wir dazu aufgefordert, Gegensätzliches - auch die natürlichen Gegenstände sind ja zunächst etwas uns Entgegenstehendes - in misere Perspektive aufzunehmen und kritisch anzueignen; warum sollte dies beim kritischen und zugleich selbstkritischen48 Gespräch mit anderen Kulturen anders sein? Taylor rezipiert in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Gadamerschen Begriff der »Horizontverschmelzung«.49 3. Ist aber ein Werthorizont fur ein menschliches Wesen unhintergehbar,50 so ist klar, daß dies auch für den Philosophen, der über seine und andere Kul-

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Vgl. Taylor, Understanding, 129: »Unlike the neutralist account, it [sc. die erforderliche »language of perspicuous contrast«] does not involve projecting our own gamut of activities on to the agents of the other society. It allows for the fact that their range of activities may be crucially different from ours, that they may have activities which have no correspondent in ours; which in fact they turn out to do. But unlike the incorrigibility view, it does not just accept that their particular activities will be incommensurable with ours, and must somehow be understood on their own terms or not at all. On the contrary, it searches for a language of perspicuous contrast in which we can understand their practices in relation to ours. This means that their self-understanding is not incorrigible. We avoid criticizing them on irrelevant grounds. We do not see them as just making a set of scientific/technological errors. But we can criticize them. For the separation perspective has in certain respects shown its undoubted superiority over the fusion perspective. It is infinitely superior for the understanding of the natural world.« Vgl. Taylor, Sources, 62 (dt. 122). Taylor, Nature and Scope, 302 (dt. 164). S. das Zitat in der drittletzten Anmerkung. S. o. Anm. 31 das Zitat aus: Taylor, Understanding, 131, sowie ders., Theories of Meaning, 281 (dt. lOOf): »Avoiding anachronism always involves being challenged enough by them to put in question our own terms of self-understanding, whether these are selfcongratulatory, or self-depreciative.« Ähnlich Taylor, Politik der Anerkennung, 68. Taylor, Ethics of Authenticity, 107 (dt. 121), ist die Rede von »struggle«, »contest« und »battle of ideas« im Bereich der Moral. Vgl. Taylor, Theories of Meaning, 281 (dt. 100); Politik der Anerkennung, 63. Vgl. Taylor, Introduction, 3: »In other terms, to be a full human agent, to be a person or a self in the ordinary meaning, is to exist in a space defined by distinctions of worth.«

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

turen reflektiert, gilt. Es gibt nach Taylor keine neutrale Beobachterperspektive. Die Argumentation für diese These fuhrt er von zwei Seiten aus. Zum einen liegen sprachphilosophische Überlegungen zugrunde. Taylor betont »the constitutive dimension of language [...]: We see ways in which the language we use enters into, is an essential part of, our feelings, our goals, our social relations and practices.«51 Sprache sei immer bezogen auf einen »horizon of value«.52 Dies gelte aber auch für den scheinbar neutralen »Beobachter«, der in Wirklichkeit immer schon »Teilnehmer« sei.53 In diesem Zusammenhang kritisiert Taylor die gesamte Repräsentationstheorie von Sprache und schließt sich der »triple-H theory« an, wobei sich hinter den drei H Herder, Humboldt und Hamann verbergen54 - eine Theorielinie, auf die sich Taylor auch in anderen Kontexten immer wieder bezieht.55 Ihr Beitrag zur Theorie der Sprache bestehe gerade in der Entdeckung der beiden über bloße Repräsentation hinausgehenden Dimensionen von Expression und Konstitution.56 Der zweite Argumentationsstrang gegen eine Neutralität des reflektierenden Wissenschaftlern geht von der Bestreitung des dieser Auffassung zugrundeliegenden »Glaubens« an eine »fact-value dichotomy«57 aus. Wenn wir etwas als »gut« empfehlen, so gehe das über eine bloße Gefühlsexpression im Sinne von »I like X« hinaus, insofern an Gründe appelliert werde.58 Diese Gründe der moralischen Wertungen aber, so läßt sich das Argument

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Taylor, Theories of Meaning, 273 (dt. 88). A.a.O., 276 (dt. 94). Vgl. a.a.O., 281f (dt. lOlf). Vgl. a.a.O., 255f (dt. 63). Die Einordnung Hegels, sowohl anknüpfend als auch widersprechend, in die Strömung des durch Herder eingeläuteten »Expressivismus« ist wohl die originellste These von Taylors monumentaler Hegel-Interpretation. Vgl. z. B. Taylor, Hegel, 570 (dt. 747): »Hegel's double relation to this tradition which descends from Herder, both an essential link in it, and yet at odds with it, illustrates his relevance for modem philosophy.« Zur Beschreibung dieser »expressiven« Tradition und ihrer Verwurzelung im Pietismus vgl. a.a.O., 11-29 (dt. 24-49). Eine Art Definition findet sich Taylor, Sources, 375 (dt. 653): »Expressivism was the basis for a new and fuller individuation. This is the idea which grows in the late eighteenth century that each individual is different and original, and that this originality determines how he or she ought to live. Just the notion of individual difference is, of course, not new. Nothing is more evident, or more banal. What is new is the idea that this really makes a difference to how we're called on to live.« Es wird sich unten zeigen, wie stark Taylors Ethik von dieser Individuationsvorstellung geprägt ist. Vgl. die Zusammenfassung Taylor, Theories of Meaning, 273 (dt. 89). Taylor, Neutrality, 84. Vgl. a.a.O., 84: »If there are no grounds, then judgement becomes indistinguishable from expression; which means that there are no more judgements of good and bad, since the distinction is essential to them, as we have seen.«

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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fortführen, sind in ihrer Rationalität denen der beschreibenden Wissenschaften nicht nachgeordnet. Es gibt keine Dichotomie von Fakten und Wertungen. Jede politikwissenschaftliche Beschreibung gehe von einer Rahmenvorstellung dessen aus, was möglich ist und was nicht, und damit implizit von Wertgesichtspunkten.59Schon die bisherige Darstellung hat gezeigt, daß Taylor sich um eine argumentativ überzeugende Begründung der These von der grundlegenden Perspektivität jeder Moral und - der genannte dritte Gesichtspunkt des Wissenschaftlers ist ja auf dem Gebiet der Moral der des Ethikers - Ethik bemüht, wobei es ihm darauf ankommt, der Gefahr eines »milden Relativismus«60 zu entgehen, einer Gefahr, für die, wie sich oben gezeigt hat, Walzers Konzeption recht anfällig ist. Der eigentliche Fluchtpunkt der Argumentation Taylors ist aber die These eines notwendigen Zusammenhangs zwischen einer Theorie des Selbst im Sinne einer Identitätskonzeption und der Moral. Gerade die »exploration of the sources of identity« soll ftir den Bereich der Ethik zeigen, »that the scope of rational argument is much greater than is often supposed«.41 Das Selbst wird von ihm dabei von vornherein bezogen auf Wertfragen definiert.62 Bestimmte Werte sind Bestandteile seines Verständnisses seiner selbst,63 wie umgekehrt eine Veränderung im Identitätsverständnis die

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Vgl. a.a.O., 89. Vgl. Taylor, Ethics of Authenticity, 16 (dt. 24) u. ö.: »soft relativism«. Die Beschreibung dieser laut Taylor unter gegenwärtigen Intellektuellen beliebten Variante von Relativismus erinnert an Walzers Theorie: Er ist gegründet in einer »culture of tolerance« und insofern selbst »powered (at least partly) by a moral ideal«, was einen Selbstwiderspruch darstelle, da andererseits die zugrundeliegende These sei: »the vigorous defence of any moral ideal is somehow off limits« (a.a.O., 17; dt. 24f). Der hier sichtbare Selbstwiderspruch ist nach Taylor der Grund für das »Unbehagen an der Moderne« (so der Titel der deutschen Obersetzung gemäß der kanadischen Originalausgabe - »The Malaise of Modernity« - , während die amerikanische Version unter dem Titel »The Ethics of Authenticity« ausging, was die positive These des Buches betont). Taylor, Ethics of Authenticity, 53 (dt. 64). Vgl. Taylor, Introduction, 3: »A self is a being for whom certain questions of categoric value have arisen, and received at least partial answers.« Vgl. ebd. (»incorporated into his self-understanding«.); 11 (»the background of distinctions of worth we define ourselves by«); Human Agency, 34f (dt. 37: »Our identity is therefore defined by certain evaluations which are inseparable from ourselves as agents. Shorn of these we would cease to be ourselves [...].«).

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

Vorstellung vom guten Leben verändert.64 Die Fähigkeit zur Selbstinterpretation wird dabei als differentia specifica des Menschen verstanden.65 Die in diesem Sinn anthropologisch fundierte These Taylors zeitigt mehrere Konsequenzen in seiner Ethik. Zunächst gründet sich auf sie, wie bereits angedeutet, seine Überzeugung von der Möglichkeit, ja Unhintergehbarkeit rationalen Argumentierens in der Ethik. Wenn ein Werthorizont unabdingbarer Bestandteil der handelnden und wählenden Persönlichkeit ist, dann wird eine dezisionistische Position wie die Sartresche eines »subject of radical choice«66, das, zur Freiheit verdammt, seine Handlungsentscheidungen ohne Rekurs auf Gründe einfach treffen muß,67 gänzlich unplausibel. Denn eine radikale Wahl im Sinne Sartres würde voraussetzen, daß das Subjekt im Moment der Wahl ganz ohne Werthorizont bzw. Identität wäre - für Taylor ein unmöglicher oder zumindest tief krankhafter Zustand.68 In Wirklichkeit erfolge die Wahl bei einer ethischen Entscheidung auf der Basis der rationalen Abwägung zwischen im Selbst begründeten Motivationen, einer »strong evaluation«.69 Es handelt sich bei dieser von Taylor postulierten ethischen Rationalität allerdings, muß man hinzufugen, um eine Rationalität sui generis, hat sie doch notwendig individuell-perspektivischen Charakter. Externe, nicht in der jeweiligen Identität begründete moralische Argumente sind nach Taylor ver-

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Vgl. Taylor, Legitimation Crisis?, 258f (dt. 250): »An identity shift of this kind involves a change in the basic categories of self-understanding and hence experience. For instance, it transforms our understanding of what it is to live a proper or successful human life.« Vgl. Taylor, Self-Interpreting Animals, 45 (»Human beings are self-interpreting animals. This is a widely echoing theme of contemporary philosophy.«); 47 (»the claim is that our interpretation of ourselves and our experience is constitutive of what we are, and therefore cannot be considered as merely a view on reality, separable from reality, nor as an epiphenomenon, which can be by-passed in our understanding of reality«). Taylor, Human Agency, 35 (dt. 38). Vgl. die gesamte Auseinandersetzung mit Sartre, a.a.O., 27-35 (dt. 27-38). Vgl. a.a.O., 30 (dt. 30): »He just throws himself one way.« Vgl. a.a.O., 35 (dt. 38): »The agent of radical choice would at the moment of choice have ex hypothesi no horizon of evaluation. He would be utterly without identity. He would be a kind of extensionless point, a pure leap into the void. But such a thing is an impossibility, or rather could only be the description of the most terrible mental alienation.« Vgl. a.a.O., passim. Hier zeigen sich interessante Parallelen zwischen Taylor und Julian Nida-Rümelins Modell einer strukturellen oder »kohärentistischen« Rationalität. Letztere ist eben durch die »Einbettung in eine Lebensform« (Nida-Rümelin, Rationalität, 172) gekennzeichnet. Dem Verweis Taylors auf starke Wertungen entspricht bei NidaRümelin die Aussage, daß bei der Handlungsentscheidung »von einem gewaltigen Korpus impliziter Hintergrundannahmen Gebrauch gemacht« wird (a.a.O., 124).

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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fehlt.70 Er führt dies im zuletzt zitierten Aufsatz lediglich im Hinblick auf eine adäquate psychologische Persönlichkeitsforschung aus, die sich an den individuellen Maßstäben und nicht an allgemeinen Merkmalen zu orientieren habe.71 Taylor attestiert in diesem Zusammenhang eine Nähe seiner Gedanken zur von Heinz Kohut entwickelten psychoanalytischen Theorie des kohärenten Selbst.72 Auch Taylors These von dem den modernen Zeitgeist prägenden Ideal der »Authentizität« als »Treue zu sich selbst«73 und seine Zustimmung zu diesem Ideal74 klingt zunächst individualistisch. In anderen Veröffentlichungen Taylors wird jedoch deutlich, daß sich für ihn auf der Basis der Überlegungen zur fundamentalen Bedeutung von Identitätsvorstellungen für das menschliche Leben und Handeln über die individuell-psychologische Linie hinaus auch ergibt, welches die im ethischen Sinn vorzugswürdige Theorie des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist. Taylor versteht das sich auf seine jeweilige Identitätsvorstellung gründende Individuum nämlich ganz und gar nicht solipsistisch. Wiederum im Anschluß an Herder betont Taylor »den dialogischen Charakter menschlicher Existenz«75. Das prägende »Selbst« entsteht erst im Gespräch mit den Mitmenschen, ist kulturell verwurzelt.76 Deshalb ist es nach Taylor nützlich und sinnvoll, im Sinne einer Selbstaufklärung den kulturellen und geschichtlichen Hintergründen der modernen Identität und der gegenwärtigen »Malaise« an

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Vgl. Taylor, Sources, 75 (dt. 146): »the wrong, external model of practical reason«. Auch in der Ablehnung eines Modells externer Handlungsbegründung besteht eine Parallele zu Nida-Rümelin. Vgl. Taylor, Human Agency, 43 (dt. 49f): »For if we take the view that man is a selfinteipreting animal, then we will accept that a study of personality which tries to proceed in terms of general traits alone can have only limited value. For in many cases we can only give their proper significance to the subject's articulations by means of >idiographic< studies, which can explore the particular terms of an individual's self-interpretations. Studies exclusively in terms of general traits can be empty, or else end up with baffling inconsistencies.« Vgl. a.a.O., 43f;dt. 49-51. Vgl. Taylor, Ethics of Authenticity, 15 (dt. 22: »The moral ideal behind self-fulfilment is that of being true to oneself, in a specifically modern understanding ofthat term.«); 16 (dt. 23: »[...] I am going to use the term >authenticity< for the contemporary ideal.«). Vgl. a.a.O., 22f (dt. 32): »I think that authenticity should be taken seriously as a moral ideal.« Taylor, Politik der Anerkennung, 21. Vgl. ebd. (»Zu handlungsfähigen Menschen, die imstande sind, sich selbst zu begreifen und insofern auch ihre Identität zu bestimmen, werden wir, indem wir uns eine Vielfalt menschlicher Sprachen aneignen. Ich verwende das Wort Sprache hier in einem sehr weiten Sinne.«); 22 (»Die Genese des menschlichen Verstandes ist kein monologischer Prozefl, nicht etwas, das jeder für sich vollbringt; sie ist dialogisch.«); 24.

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

der Moderne nachzugehen. Als Aufruf und skizzenhafter Versuch zu einer derartigen Selbstklärung, die dann, sofern sie auf Gründe fuhrt, auch die Basis fur die rationale Argumentation in der Ethik liefern soll, ist Taylors »Ethics of Authenticity« zu verstehen. Und nicht umsonst hat Taylor der Darstellung der geistesgeschichtlichen »Quellen« des die Moderne bestimmenden Bildes des Selbst eine umfangreiche Monographie gewidmet.77 Für die Gesellschaftstheorie ergibt sich aus der Einsicht in die Angewiesenheit des Menschen auf eine werthaltige Identitätsvorstellung, für die ihrerseits der Diskurs mit konkurrierenden Vorstellungen unabdingbar ist, die Hochschätzung innergesellschaftlicher Differenz, die von Taylor als bereichernde Komplementarität positiv gewertet wird. In prägnanter Form hat er diesen Gedanken in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1997 umrissen.78 Taylor ordnet dort seine Position in der Mitte zwischen den beiden die heutige Diskussion dominierenden Theorien einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft ein. Sein Hauptaugenmerk gilt einem prozeduralen Liberalismus in der Nachfolge Rawls'. Taylors Vorwurf an diese Adresse besteht in der »Differenzblindheit«, mit der dieses Modell an den inhaltliche Präferenzen hinsichtlich des guten Lebens enthaltenden Identitätsvorstellungen und ihren Differenzen vorbeigehe und über universale formale Bestimmungen wie das demokratische Mehrheitsprinzip Einigung abstrakt herzustellen suche.79 Ja das »Bündnis von egalitärer Freiheit und Differenzierungsverzicht«, wie es bereits von Rousseau ausgearbeitet worden sei, habe in Verbindung mit »eine[r] eng umrissene[n] gemeinsame[n] Zielsetzung« auch »die schrecklichsten Formen homogenisierender Tyrannei« gekennzeichnet.80 Bei dieser Kritik steht die dialogische Anthropologie Herders mit ihrem »Schlüsselbegriff« Komplementarität ausdrücklich im Hintergrund.81

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Vgl. Taylor, Sources of the Self. Vgl. zum folgenden Absatz: Taylor, Liberalismus, passim. Vgl. a.a.O., 4 (»das unterschiedsblinde prozedurale Modell«); 8 (»auf der Grundlage eines differenzblinden Prinzips«); 12 (»Ich würde meinen, daß der prozedurale Liberalismus keine gute Art darstellt, mit Differenzen zu leben, vor allem deswegen, weil er dazu aufruft, von all den vielen Unterschieden zu abstrahieren, sie einzuklammern und von ihnen wegzublicken. Ich möchte noch einmal betonen, daß ich keine ausschließende Alternative im Sinn habe, derart, daß von Differenzen entweder immer abzusehen sei oder sie immer zu berücksichtigen seien. Ich versuche vielmehr, von diesen universalen Prinzipien wegzukommen. Die Wirkung des prozeduralen Liberalismus lag allerdings darin, daß die differenzenblinde Methode ungerechtfertigt weit getrieben wurde.«). Taylor, Politik der Anerkennung, 43. Vgl. Taylor, Liberalismus, 4 (»Die Fülle des menschlich Möglichen wird nicht durch Addition [Im Sinne der Prozeduralismuskritik Taylors wäre an dieser Stelle der Begriff

Argumente fur einen perspektivischen Ansatz

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Taylor verdeutlicht seinen Gegenvorschlag am Beispiel der Diskussion um ein obligatorisches Schulgebet in den USA. Wird der Wunsch nach einem solchen Gebet von Prozeduralisten als grundsätzlich illiberal verworfen, so hat dies nach Taylor mindestens drei negative Konsequenzen: Die Fürsprecher werden beschämt und verärgert, die religiösen Differenzen werden unter den Teppich gekehrt und schwelen dort latent weiter. Demgegenüber plädiert Taylor dafür, in einem horizonterweiternden Gespräch im Sinne Gadamers eine Einigung zu suchen, die dann je nach lokaler Situation ganz unterschiedlich aussehen könne.82 Trotz seiner Kritik ordnet sich Taylor dem Liberalismus zu - nur plädiert er dafür, als Komplement zum Prozeduralismus »ein ganz bestimmtes >staatsbürgerliches< Verständnis der liberalen Gesellschaft« nicht zu vergessen,83 den Anspruch auf kulturelle Neutralität aufzugeben und zu bekennen: »Auch der Liberalismus ist eine kämpferische Weltdeutung.«84 Diese bleibende Nähe zur liberalen Theorie, die auch in ihrer prozeduralen Form immerhin - wenn auch zu einlinig - eine Gesellschaftsorc/nwng anstrebt, wird deutlicher, wenn man die zweite Position berücksichtigt, die Taylor kritisiert: den postmodernen »Multikulturalismus«, der jegliche gemeinschaftliche Bindung negiert, wobei er seinerseits an einen liberalen Gedanken, nämlich »die Festlegung auf eine negative Freiheit, das heißt auf das voluntaristische Verständnis von Freiheit«85, anknüpfen kann. Nach Taylor

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»Subtraktion« angemessener. Entscheidend - egal ob als Addition oder Subtraktion verstanden - ist jedoch der abstrakte Umgang dieses Modells mit Differenzen.] der Unterschiede erreicht, sondern durch Austausch und Gemeinschaft.«); 14 (»Das Modell, das wir brauchen, finden wir, so denke ich, in der von Herder und Humboldt ausgehenden Tradition, in der Komplementarität der Schlüsselbegriff ist und die Leitidee darin besteht, daß wir einander gerade in unseren Unterschieden brauchen, um ganze Wesen zu sein.«). Vgl. a.a.O., 6-8. Im bundesdeutschen Kontext denkt man hier unweigerlich an das umstrittene »Kruzifix-Urteil« des Bundesverfassungsgerichts von 1995. Im Sinne Taylors müßte man es wegen seiner strikten Vorordnung der negativen (keine Störung des Gewissens durch differierende Formen von Religion) vor die positive (Recht auf Ausübung und Darstellung der je eigenen Religion) kritisieren. A.a.O., 1. Vgl. a.a.O., 4: »Ich plädiere nur für eine etwas komplexere und vielschichtigere Auffassung des Liberalismus.« Taylor, Politik der Anerkennung, 57. Taylor, Liberalismus, 12. Vgl. als ausfuhrliche Kritik an diesem Freiheitsbegriff: Taylor, What's wrong. Sie erfolgt entscheidend wiederum von der These her, daß jeglichem, also auch dem »freien« Handeln ein Werthorizont vorausgehe (vgl. Taylor, What's wrong, 227, dt. 141 : »our attributions of freedom make sense against a background sense of more and less significant purposes, for the question of freedom/unfreedom is bound up with the frustration/fulfilment of our purposes.«). Die Konsequenz: »we are forced to abandon the pure opportunity-concept of freedom« (a.a.O., 228, dt. 143).

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ist diese Form des Multikulturalismus »zerstörerisch[]«86 und läuft auf das individualistische Streben nach »Befreiung in einsame Selbstgenügsamkeit«87 hinaus, da sie die vorgegebenen88 Bindungen jedes Menschen, den Zusammenhang von persönlichen Hintergrundüberzeugungen und kultureller Identität, außer Acht läßt.89 Mit der dargestellten gesellschaftstheoretischen Mittelposition Taylors schließt sich der Kreis, und wir können auf die eingangs beschriebenen kulturtheoretischen Überlegungen Taylors zurückkommen. Denn der auch dort entscheidende Gedanke der Horizontverschmelzung spiegelt einen Ansatz wider, der zwischen den Extremen von Gleichmacherei und selbstgenügsamer Isolation angesiedelt ist.90 Der Gedanke der bereichernden Komplementarität wird von Taylor vom individuellen auf den kollektiven Bereich übertragen - wie im Fall des Taylor als Kanadier besonders nahestehenden Quebec-Problems bis hin zur unverhohlenen Sympathie für die Forderung einer staatlichen Unterstützung für Minderheitskulturen, um deren Auflösung zu verhindem.91Zweifellos bleibt in Taylors hier referierter Konzeption manche Frage offen. So bleibt insbesondere ungeklärt, wie das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem in der Ethik näher zu bestimmen ist. Taylor schreibt anläßlich des nicht nur in seinen Augen »niederträchtige[n]bunten Republik< in Deutschland halten das Zusammenleben kulturell unterschiedlich geprägter Menschen für möglich, wenn nur guter Wille und Toleranz vorhanden seien. Aber dies genügt nicht. [...] Viele Vertreter einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland sehen nur die Außenseite der Kultur, die Kultur als Folklore. Aber die kulturelle Prägung eines Menschen - Habermas hat einmal von >eingegrabenen Spuren< gesprochen - reicht bis in den innersten Kern eines Menschen« (Nicklas, 219). Vgl. Taylor, Politik der Anerkennung, 70: »Zwischen der unechten, homogenisierenden Forderung nach Anerkennung einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit einerseits und der Selbsteinmauerung in ethnozentrischen Maßstäben andererseits muß es noch etwas anderes geben.« Zur Diskussion des Quebec-Problems vgl. Taylor, Politik der Anerkennung, 43-56. Taylor, Liberalismus, 9.

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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jedes moralische Urteil in einem geschichtlich und kulturell vorgegebenen Werthorizont begründet ist - und auf nichts anderes als eine Klärung dieses Horizonts läuft die von ihm beschworene Rationalität in der Ethik hinaus - , solche »klare Grenzen« für die Anerkennung konkurrierender Wertmaßstäbe rational definiert werden sollen. Gerade die Theorie der Menschenrechte ist als Versuch einer derartigen überindividuellen Grenzziehung zu sehen, und es ist bedauerlich, daß sich Taylor nicht ausfuhrlicher zu ihr geäußert hat. Einstweilen muß sich auch Taylor wie Walzer fragen lassen, wie er, im Falle, daß die Einigung via horizontverschmelzendem Dialog mißlingt, über die Alternative zwischen dem von ihm beschriebenen »milden Relativismus« und einer ex-cathedra-Entscheidung hinauskommen will.93 Trotz dieses Mankos sind jedoch Taylors Überlegungen zur unhintergehbaren Verknüpfung von weltanschaulich-perspektivischem, in einer Identitätsvorstellung fokussierten Werthorizont und moralischem Urteil von hoher Plausibilität und damit auch, gerade weil sie tiefer greifen als die verwandten Gedanken etwa Walzers, von erheblicher Bedeutung für die ethische Theorie. 12.2. Schleiermacher Taylor beruft sich immer wieder auf Herder als entscheidenden Bezugspunkt nicht nur seiner Theorie, sondern des gesamten modernen Lebensideals. Auch ist es kein Zufall, daß Taylor ausgerechnet über Hegel eine umfangreiche Monographie geschrieben hat, arbeitet er in ihr doch heraus, daß das »principle of necessary embodiment«94, nämlich: des allgemeinen Geistes in individuellen Gestalten, ein bestimmendes Moment der Hegeischen Philoso-

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Vgl. Kreuzer, 159: »Taylors Dilemma besteht aber m. E. darin, daß er mit den Hypergütem, wie er am Beispiel des universalen Respekts verdeutlicht, nun doch selbst kontextunabhängige und kulturübergreifende Werte einführt, deren Geltung er letztlich weder einsichtig noch einklagbar zu machen vermag.« Wenn oben auf Parallelen zwischen Taylor und Nida-Rümelin hingewiesen wurde, so gilt dies auch im Blick auf Schwachstellen der Konzeption. Denn auch bei Nida-Rümelin bleibt hinsichtlich übergreifender moralischer Kriterien ein Vakuum. Die internen Handlungsgründe, die Nida-Rümelin stark machen will, sind letztlich keine anderen als »unsere[] Alltagsintuitionen« (Nida-Rümelin, Rationalität, 15), »unsere moralischen Intuitionen« (vgl. ders., Kohärenz, 234: »Das, was von erkenntnistheoretischen Rationalisten philosophischer Ethik gern diskreditiert wird, nämlich unsere moralischen Intuitionen, bildet das Material, aus dem das Gesamt der moralischen Urteilsfähigkeit entwickelt werden muß.«). Der Verweis auf Intuitionen hat aber weniger argumentative Kraft als Nida-Rümelin und andere (vgl. A. Pieper, Menschenwürde, 29, wo der »Hinweis auf die spontane Reaktion« von Mitgefühl als genügend angesehen wird, um »einen kulturübergreifenden Geltungsanspruch« des abendländischen Menschenwürdekonzepts zu begründen) annehmen. Taylor, Hegel, 83 (dt. 122), sowie ähnlich an vielen anderen Stellen.

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

phie ist. Tatsächlich könnten die Überlegungen dieses Kapitels mit einer Darstellung von einschlägigen Gedanken Hegels fortfahren, wenn diese nicht schon oben in bezug auf das Naturrecht erfolgt wäre. Hegel wiederum knüpft bei seiner Kritik an den Abstraktionen der Ethik Kants und Fichtes unverkennbar an Aristoteles und dessen Argumente gegen die platonische Ideenlehre an. Ein Name wird jedoch in der philosophischen Debatte über eine perspektivische oder allgemeine Grundlegung der Ethik so gut wie nie genannt, obwohl er einen wesentlichen Beitrag zu ihr geleistet hat: Friedrich Schleiermacher. Auch Taylor erwähnt ihn nur als Vertreter der romantischen Kunstreligion,95 obwohl doch eine klare Verbindung zwischen Herders Individualitätskonzept und Schleiermacher besteht.96 Da man Taylor anders als manch anderem Philosophen keine Berührungsängste gegenüber Schleiermacher unterstellen kann, bloß weil dieser im Hauptberuf Theologe war - Taylor stellt gelegentlich ganz sachlich den christlichen Ursprung seiner dialogisch-komplementären Anthropologie fest97 - , bleibt als Erklärung nur die Vermutung, daß Taylor, der ansonsten in der deutschen Geistesgeschichte außerordentlich bewandert ist, den wichtigsten Text, in dem sich Schleiermacher um eine philosophische Vertiefung des Herderschen Konzepts bemüht, die Vorlesung zur Dialektik, nicht kennt. Es ergeben sich im Kontext der vorliegenden Arbeit zwei Funktionen für das folgende Referat zu Schleiermacher: Zum einen gilt es, sein philosophisches Argument vorzustellen, zum anderen ist Schleiermacher, dessen Philosophie und Theologie untrennbar miteinander verknüpft sind, wie kein zweiter geeignet, die Rückkehr zur in Teil I dargestellten theologischen Debatte vorzubereiten. Für Schleiermachers Denken ist die Frage nach dem Verhältnis von Individuell-Perspektivischem und Allgemeinem von großer Bedeutung. Schon die »Reden über die Religion« thematisieren diese Frage. Einschlägig ist natürlich besonders die fünfte Rede, in der sich Schleiermacher mit dem Gedanken einer »natürlichen Religion«, wie er in der Aufklärungszeit populär geworden war, auseinandersetzt. Dieser Gedanke bestand maßgeblich darin, im Gegenzug gegen skeptisch-relativistische Assoziationen, wie sie sich im Umfeld sowohl der konfessionellen Streitigkeiten als auch der immer größer

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Vgl. Taylor, Sources, 378 (dt. 658). Vgl. ζ. B. als Beleg für den von Taylor hervorgehobenen Gedanken der Komplementarität: »Denn nur alle diese [sc. individuellen] Abänderungen zusammengenommen erschöpfen das Denken des menschlichen Geistes [...]« (Schleiermacher, Dialektik, 16). Vgl. Taylor, Liberalismus, 4: »Eine der geschichtlichen Quellen dieser Auffassung liegt in einem bestimmten theologischen, genauer christlichen Verständnis vom menschlichen Leben.« Für weitere Belege, insbesondere aus dem Schlußteil von »Sources of the Seif«, und eine Diskussion von Taylors Bezügen zum Christentum vgl. Kreuzer, 245-310.

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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werdenden Kenntnisse über die nichtchristlichen Religionen nahelegten, einen Grundbestand religiöser Inhalte, der allen Religionen gemeinsam sei, zu behaupten. Schleiermacher sieht ihn in den »Reden« mit Recht durch die »Negation alles Positiven und Charakteristischen in der Religion« (A 277)98 geprägt. Darin sei die natürliche Religion »das würdige Produkt des Zeitalters, dessen Steckenpferd eine erbärmliche Allgemeinheit und eine leere Nüchternheit war, die mehr als irgend etwas in allen Dingen der wahren Bildung entgegenarbeitet« (ebd.). Im letzten Satz spricht sich bereits die generelle Opposition Schleiermachers gegen die nicht nur seinerzeit philosophisch opportune Bevorzugung des Allgemeinen vor dem Individuellen aus. In den »Reden« geht es allerdings nur um den Gedanken einer allgemeinen Religion, und die Gegenargumentation wird dieser Einschränkung gemäß fast ausschließlich vom Wesen der Religion aus gefuhrt. Kurz zusammengefaßt: Religion ist, so Schleiermachers Definition, »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« (A 52); sie ist »Anschauung« und als solche notwendig individuell-perspektivisch geprägt." Will man daher die Religion verstehen, so gilt es, von einem allgemeinen Religionsbegriff wie auch vom Gedanken, daß es nur eine wahre Religion gebe, Abschied zu nehmen und sich den positiven Religionen zuzuwenden (vgl. A 242). Es ist »nichts irreligiöser« als die Forderung nach »Einförmigkeit« (A310). Für die wissenschaftliche Behandlung der religiösen Phänomene folgt daraus - neben der Ablehnung des Konstrukts einer »natürlichen Religion« - , daß das Charakteristikum einer bestimmten Religion weder via Induktion aus ihren bloß additiv zusammengeklaubten einzelnen Inhalten100 noch via Deduktion aus einem ihr von außen übergestülpten

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Die Seitenverweise auf die »Reden« Schleiermachers beziehen sich auf die Paginierung der Erstauflage. Vgl. A 249: »Weil nämlich jede Anschauung des Unendlichen völlig für sich besteht, von keiner andern abhängig ist und auch keine andere notwendig zur Folge hat; weil ihrer unendlich viele sind und in ihnen selbst gar kein Grund liegt, warum sie so und nicht anders eine auf die andere bezogen werden sollten, und dennoch jede ganz anders erscheint, wenn sie von einem andern Punkt aus gesehen oder auf eine andere bezogen wird, so kann die ganze Religion unmöglich anders existieren, als wenn alle diese verschiedenen Ansichten jeder Anschauung, die auf solche Art entstehen können, wirklich gegeben werden, und dies ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedener Formen, deren jede durch das verschiedene Prinzip der Beziehung in ihr durchaus bestimmt und in deren jeder derselbe Gegenstand ganz anders modifiziert ist, das heißt, welche sämtlich wahre Individuen sind.« Vgl. A 250: »Es ist überall nicht leicht möglich, das eigentliche Charakteristische und Individuelle einer Religion mit Sicherheit zu finden, wenn man es so aus dem Einzelnen abstrahiert [...].«

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

allgemeinen Begriff101 zu erschließen ist. Dennoch hat »jede positive Religion [...] eine sehr markierte Physiognomie« (A 243), eine »Zentralanschauung«, in Beziehung auf die »alles gesehen und gefühlt wird« (A 261). Nur hat diese selbst einen positiv-individuellen, ja willkürlichen Ursprung: das Auftreten eines Religionsstifters (vgl. A 261). Die Religionswissenschaft kann daher nicht die Wahrheit einer Religion »andemonstrieren« wollen (vgl. A 275), sondern sie kann sich lediglich das jeweils leitende Prinzip »klar machen« und gegebenenfalls eine immanente Kritik üben (vgl. A 242). Im Sinne dieses Programms hat Schleiermacher dann auch die christliche Religion zu behandeln versucht - in Ansätzen schon in den »Reden« (vgl. A 291-310), in umfassender Form in seiner Glaubens- und Sittenlehre. Zweck der Glaubenslehre ist »die Darstellung des eigentümlich christlichen Bewußtseins«102, wie es als »Glaubensweise« dadurch bestimmt ist, »daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung«103. Diese Innenperspektive sollen ausdrücklich auch die dogmatisch-theologischen Sätze einnehmen.104 Es geht - wie Schleiermacher gegenüber Mißverständnissen ausdrücklich festhält - um Darstellung, nicht Beweis.105 Das gleiche Konzept bestimmt die Vorlesungen zur »Christlichen Sitte«. Auch sie nehmen ihren Ausgangs- und ständigen Bezugspunkt im »Spezifisch Christlichen«, der »durch den Act der Erlösung durch Christum« geschenkten »Gemeinschaft mit Gott«, und verstehen sich als »Darstellung«

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Vgl. A 255: »Ihr werdet wissen, daß wenn man einen Begriff einteilt so viel man will und bis ins Unendliche fort, so kommt man doch dadurch nie auf Individuen sondern immer nur auf weniger allgemeine Begriffe, die unter jenen enthalten sind, auf Arten und Unterabteilungen, die wieder eine Menge sehr verschiedener Individuen unter sich begreifen können: um aber den Charakter der Einzelwesen selbst zu finden, muß man aus dem allgemeinen Begriff und seinen Merkmalen herausgehen.« Schleiermacher, Zweites Sendschreiben, 142. Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 11 (S. 74). Vgl. a.a.O., § 17 (S. 113): »In allen vollständig ausgedrückten dogmatischen Sätzen muß also auch die Beziehung auf Christum als Erlöser in dem Maß mit erscheinen, wie sie in dem frommen Bewußtsein selbst hervortritt.« Vgl. Schleiermacher, Erstes Sendschreiben, 129 (»Für diese [sc. die ein christliches Selbstbewußtsein haben] nun bleiben immer wir andern, und suchen ihnen ohne Beweis und Ideen, mittelst des alten λόγος άναπόδεικτος, ihre Frömmigkeit klar zu machen und zu befestigen [...].«); Zweites Sendschreiben, 154f (»Und wahrlich, ich will lieber jenen ganzen Ruhm verlieren, als so damit mißverstanden werden, als ob ich das Kunststück hätte machen wollen, das Christentum irgend woher zu deduzieren!«).

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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bzw. »Beschreibung«, nur diesmal nicht des durch diesen Akt bestimmten Glaubens, sondern der spezifisch christlichen »Handlungsweise«.106 Bisher wurde nur die Begründung eines perspektivischen Ansatzes fur das Gebiet der Religion referiert. Schleiermacher geht jedoch weiter. Seiner Auffassung nach ist jedes Wirklichkeitsgebiet nur über eine individuelle Perspektive zugänglich. Schon in den »Reden« finden sich solche allgemeineren Formulierungen. So, wenn Schleiermacher die Verfechter einer »natürlichen Religion« daran erinnert, daß man nur als »Dieser und Jener« und nicht als »Mensch überhaupt« zur Welt komme.107 Die Einzelnen sind dabei freilich

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Vgl. Die christliche Sitte, 32 (»Das specifisch christliche aber ist, daß alle Gemeinschaft mit Gott angesehen wird als bedingt durch den Act der Erlösung durch Christum.«); 32f (»Sie [sc. die christliche Sittenlehre] wird die Darstellung der durch die Gemeinschaft mit Christo, dem Erlöser, bedingten Gemeinschaft mit Gott sein müssen, sofern dieselbe das Motiv aller Handlungen des Christen ist; sie wird nichts sein können, als eine Beschreibung derjenigen Handlungsweise, welche aus der Herrschaft des christlich bestimmten religiösen Selbstbewußtseins entsteht.«). 107 A 279: »Erinnert Euch, was die Dichter von einem Zustande der Seelen vor der Geburt reden: wenn sich eine solche gewaltsam wehren wollte, in die Welt zu kommen, weil sie eben nicht Dieser und Jener sein möchte sondern ein Mensch überhaupt; diese Polemik gegen das Leben ist die Polemik der natürlichen Religion gegen die positiven, und dies ist der permanente Zustand ihrer Bekenner.« Eine bemerkenswerte Parallele zu diesem Satz findet sich bei Karl Löwith: »Aber auch >als Deutschen kommt man nicht schlechthin zur Welt, sondern als dieser und jener, ζ. B. als Bayer oder als Preuße, als Herr Meier oder Hen Müller« (Löwith, Einheit, 255). Die Stoßrichtung ist bei Löwith allerdings genau umgekehrt wie bei Schleiermacher: Wendet sich dieser gegen eine Orientierung allein am Allgemeinen, so gehört der Satz Löwiths in eine Argumentation gegen die Verabschiedung des Gedankens einer allgemeinen Menschheit bei Scheler, Carl Schmitt und dem Heidegger der Rektoratsrede. Folgt man dem kulturellen bzw. nationalen Individualismus der drei, so landet man nach Löwith beim »factum brutum des nackten, je eigenen Seins« (ebd.) eines Meier oder Müller unter völliger Nachordnung des sie Verbindenden. »Die >Menschheit< scheint dann nur noch eine formale und abstrakte Verallgemeinerung von je konkreten, nationalen und individuellen Existenzen zu sein, das farblose Insgesamt der verschiedenen Individuen und Nationen unter Abzug ihrer Verschiedenheiten« (ebd.). »Ja, man könnte die Menschen überhaupt nicht im Hinblick auf ihre Verschiedenheit unterscheiden und vergleichen, wenn nicht inmitten aller Verschiedenheit und Gleichartigkeit etwas bestünde, was ein und dasselbe bleibt, nämlich der Mensch als Mensch, das Menschsein als solches und somit als Einheit« (a.a.O., 243). Löwith plädiert daher wie Schleiermacher für den Gedanken einer organischen Verbindung von Individuellem und Allgemeinem im einzelnen Menschen: Die Einheit könne nur Bestand haben »inmitten der allerverschiedensten Menschen. Nur so ergibt sich eine philosophische und zugleich menschliche Perspektive, anstelle der allzu nahen Froschperspektive und der allzu fernen Vogelperspektive, in denen man nur die formale Eigenheit oder die leere Allgemeinheit erblickt, aber nicht diesen bestimmten und zugleich allgemeinen Menschen« (a.a.O., 258). Schon in seiner Habilitationsschrift kündigt sich dieser Gedanke Löwiths an in der

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

nicht als abgesonderte Atome gedacht, sondern sie sind jeweils für sich Verkörperungen des Unendlichen.108 Deutlicher ausgeführt hat Schleiermacher seine Gedanken zum Verhältnis von Individuum und Allgemeinem in den zu Lebzeiten unveröffentlichten Vorlesungen zur Dialektik, Schleiermachers Bezeichnung für die Wissenschaft vom Denken, seinem transzendenten Grund und seinem Fortschritt, die auf die Zusammenfuhrung von Metaphysik und Logik im Sinne einer »Wissenschaftslehre« (D 91) gerichtet ist. Aufschlußreich ist schon die Einleitung, denn mit dem § 2 ist ein ganzer Abschnitt der Ausführung der These gewidmet, es gebe keine allgemeine Dialektik, sondern sie habe in verschiedenen »Sprachkreisen« ein jeweils unterschiedliches Gesicht.109 Schleiermachers Dialektik beschränkt sich daher ausdrücklich auf »unsere Sprachgenossen« (D 15) und enthält sich der Behauptung, »eine Darstellung geben zu können, welche für alle Zeiten ausreichte und auch im Räume überall hin sich verbreiten und in allen Sprachen anerkannt werden würde« (D 16). Nach Schleiermacher »ergibt sich« angesichts der Vielfältigkeit der Völker und ihrer Sprachen »schon von selbst, wie sehr wir uns jedes Anspruchs auf Allge-

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These einer lebendigen »Mitwelt«, in der sich Ich und Du gegenseitig konstituieren anstatt sich in einem abstrakten Ich-Umwelt-Verhältnis gegenüberzustehen. Vgl. ζ. B. Löwith, Individuum, 189 (»[...] weil das menschliche Dasein immer schon Mitsein ist und sich kein Individuum für sich setzen könnte, wenn es sich nicht andern entgegensetzte«) sowie den eigenen Rückblick Löwiths in ders., Curriculum vitae, 452 (»Die personhafte Mitwelt von Ich und Du, worin jeder [...] verhältnismäßig durch den andern bestimmt ist, diese uns auch als >In-dividuen< konstituierende Mitwelt, schien mir damals unsere maßgebliche Welt zu sein [...].«.). Die Bezüge dieser Theorie Löwiths zurück zu Hegel, Marx und Feuerbach sowie in die Zukunft über die Rollentheorie George Herbert Meads bis hin zu Habermas (»Individuierung durch Vergesellschaftung«) können hier nicht geklärt werden. Wichtig ist nur: Schleiermacher und Löwith kommen von entgegengesetztem Ausgangspunkt - hier Polemik gegen den »Mensch überhaupt«, dort Plädoyer für die »Menschheit« - zu einer gleichlautenden, zwischen einseitigen Abstraktionen vermittelnden Verhältnisbestimmung von Individuellem und Allgemeinem. Vgl. A 99 (»Ihr selbst seid ein Kompendium der Menschheit, Eure Persönlichkeit umfaßt in einem gewissen Sinn die ganze menschliche Natur, und diese ist in allen ihren Darstellungen nichts als Euer eigenes vervielfältigtes, deutlicher ausgezeichnetes, und in allen seinen Veränderungen verewigtes Ich.«); A 165 (»Jede unendliche Kraft, die sich erst in ihren Darstellungen teilt und sondert, offenbart sich auch in eigentümlichen und verschiedenen Gestalten.«). D 13: »Die Dialektik kann sich nicht in einer und derselben Gestalt allgemein geltend machen, sondern muß zunächst nur aufgestellt werden für einen bestimmten Sprachkreis; und es ist im Voraus zuzugeben, daß sie in verschiedenem Maß werde anders gestellt werden müssen für jeden anderen.« Verweise auf die Dialektik Schleiermachers erfolgen im folgenden mit dem Kürzel D.

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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meingültigkeit entsagen müssen« (D 18). Dabei handle es sich nicht um ein schlichtes Kommunikationsproblem, das sich durch eine künstliche Universalsprache lösen ließe (D 16). Das Mißlingen aller Versuche, eine solche Universalsprache zu oktroyieren, habe tiefere Ursachen, denn die unterschiedlichen Sprachen bildeten sich nicht zufallig, sondern seien ein Reflex der zugrundeliegenden Differenzen in den Denkformen.110 Zwar liege allen Sprachkreisen »dasselbe zum Grunde«, doch werde dies letztere jeweils »von einer anderen geistigen Eigentümlichkeit aus« betrachtet (D 16). m An den Sprachdifferenzen zeige sich: »[D]ie Identität der Konstruktion des Denkens ist nichts Allgemeines, sondern in Grenzen eingeschlossen« (D 374). Diese Grenzen faßt Schleiermacher mit dem Begriff der »Organisation« zusammen (vgl. D 167f). Von den beiden »Polen« (D 138) des menschlichen Denkens, Vernunft und Organisation, ist sie es, die für »das Geöffiietsein des menschlichen Seins für das andere Sein« (D 140) steht. Während die Vernunft dasjenige ist, »wodurch das Denken bei allen möglichen Gegenständen immer dasselbe bleibt« (ebd.), kommt durch das Angewiesensein des Denkens auf die ganz verschiedenen Eindrücken ausgesetzte Organisation ein individuelles Moment hinein. Nun ist aber die Rede von den beiden »Polen« wörtlich zu nehmen. Das zuletzt Referierte könnte im Sinne der Kantschen Erkenntnistheorie und des Zusammenspiels von Sinnlichkeit und Verstand als den beiden »Stämmen« menschlicher Erkenntnis verstanden werden.112 Während aber nach Kant das Denken zwar das individuell Gegebene der Anschauung als Ausgangsmaterial braucht, dann aber von ihm zugunsten von allgemeingültigen Grundsätzen der »reinen« theoretischen oder praktischen Vernunft abstrahieren kann, ist dies nach Schleiermacher nicht möglich. »Wir haben Organisation und intellektuelle Funktion gleich zusammengefaßt« (D 405).113 Das Allgemeine ist

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Vgl. D 168: »Denn die Verschiedenheit der Sprache beruht nicht bloß auf den Tönen, sondern auch auf den verschiedenen Sprachformen. Diese aber hängen mit den verschiedenen Denkformen am nächsten zusammen. Die Denkformen selbst müssen also verschieden sein. Die Differenz der Sprache setzt eine Differenz des Denkens selbst voraus. Es kann keine größeren Differenzen geben wie zwischen denen, welche verschiedene Sprachen reden, und zwar nach Maßgabe dieser Verschiedenheit.« Schleiermachers Argumentation gegen eine Universalsprache verläuft also genau parallel zu der gegen die »natürliche Religion«. Umgekehrt besteht eine Parallele zwischen den »Sprachkreisen« der Dialektik und den positiven Religionen in den »Reden« - vgl. nur die Ausführungen zu einem von einem »Einzelwesen« ausgehenden neuen Sprachkreis (D 18) mit denen zur stets möglichen Stiftung einer neuen Religion (A 261f). Vgl. Kant, KrV, A 15/B 29; A 835/B 863. Vgl. D 144 (»Wollen wir die organische Funktion ganz vernichten, so haben wir auch kein Denken mehr. Umgekehrt werden wir nicht eher ein Denken haben, bevor wir nicht

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

»nicht außerhalb des Einzelnen gesetzt, sondern darin enthalten« (D 371). Das Denken vollzieht sich permanent zwischen den beiden »Polen«; es ist »eine Oszillation zwischen der Bestimmtheit des Einzelnen und der Unbestimmtheit des allgemeinen Bildes« (D 372). Deshalb bedeutet Zunahme des Wissens für Schleiermacher nicht Abstraktion vom Individuellen, das als Klotz am Bein des Fortschritts diesem nur negativ wäre. Es soll vielmehr die Regel gelten: »Es ist überall soviel Annäherung an das wirklich gewußte Wissen, als das Verfahren des Induktionsprozesses begleitet ist von einem kritischen Verfahren, welches das Individuelle aufsucht und es in seinem Positiven [!] und in seinen Grenzen zu verstehen sucht« (D 378). Ist diese Regel zutreffend - und für Schleiermacher ist sie das - , »so können wir hieraus sehen, wie es eigentlich mit der Forderung der Allgemeingültigkeit in der Wissenschaft steht. Absolute Identität des Wissens kann nur entstehen, wenn der individuelle Faktor ganz eliminiert wäre. Das aber ist« - und hier schließt sich der Kreis - »nur unter der Voraussetzung einer absolut allgemeinen Sprache möglich« (D 379). »Die absolute Lösung aber liegt im Unendlichen« (D 456). »[I]m wirklichen Denken« (D 171) herrschen Differenz, Gegensatz und Streit, weshalb sich die Dialektik Schleiermachers nicht nur wie die traditionelle Metaphysik mit dem Absoluten als Grund und Ziel menschlichen Denkens, sondern auch mit den logischen Formen der Argumentation beschäftigt. Auch in seiner philosophischen Ethik hat Schleiermacher den Gedanken vom notwendigen In- und Miteinander von Individuellem und Allgemeinem ausgesprochen. Die Stoßrichtung wird dort sogar noch deutlicher, indem er anstatt von der »Organisation« von der »Natur« spricht. Ein Satz wie der folgende ist unschwer als gegen die Kantsche Ethikkonzeption gerichtet erkennbar: »Als spéculatives zwar, aber doch reales Wissen hat es die Ethik nicht zu thun mit einer reinen Vernunft im Gegensaz gegen die Natur, noch mit einer reinen Natur im Gegensaz gegen die Vernunft« (E 12). Schleiermacher richtet sich dabei gegen den Gedanken der »Reinheit« und das Verständnis des Gegensatzes als eines ausschließenden. Denn daß Vernunft und Natur einen - relativen - Gegensatz bilden, hält auch er fest. Er setzt jedoch voraus, daß in der Realität, auf die sich die Ethik bezieht, Vernunft und Natur

organisch affiziert werden; und sobald dies geschieht, denken wir zuerst daran, daß uns ein Ding affiziert und unterscheiden dann am Dinge. So sind organische und intellektuelle Seite des Denkens unzertrennlich, und unsere Antwort ist eine ganz allgemeine.«); D 176 (»Es gibt kein Denken ohne organische Tätigkeit; und so wird freilich jeder Gegenstand durch die Rede.«).

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

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in ihrem Gegensatz immer schon gemeinsam vorkommen:114 als »vernünftige Natur und natürliche oder organische Vernunft« (Ε 13).115 Da auch in der Ethik die Vernunft für das Allgemeine und Natur bzw. Organisation für das Individuelle stehen,116 ergibt sich bei Schleiermacher auch für die ethische Betrachtung der Wirklichkeit, daß das Allgemeine nur als Individuiertes und das Individuelle immer schon in der Ausrichtung auf das Allgemeine zu sehen ist. Schleiermachers Ablehnung eines Allgemeingültigkeitsanspruchs bedeutet keine Hinwendung zu einem skeptischen Relativismus. Schon in den »Reden« warnt er sowohl vor religiösen Alleswissern als auch vor »seichten Indifferentisten« (A 286). Und die »Dialektik« nimmt neben den »Helden der Vernunft« (Reden, A 81) auch den Skeptizismus aufs Korn, der fatalistisch jeden Geisteszustand eines Individuums als »das unvermeidliche Ergebnis der jedesmaligen Umgebungen in seinem Dasein« erklärt (D 10) und so kulturrelativistisch jede gemeinsame Suche nach Wahrheit in Frage stellt. Ihm gegenüber wäre von Schleiermachers Seite aus zu betonen, daß das Denken eben auch Vernunft ist, die jenseits der Unterschiede der Organisation für das auch kulturübergreifend Gleiche im Denkprozeß steht. Dieser Prozeß vollzieht sich als argumentativer »Streit« nach den Regeln der Kunst und hat zwei Voraussetzungen: einerseits ein »kunstlos entstandenes Denken [...], welches durch Ausübung der Kunst des Streites berichtigt werden soll«, andererseits »ein gemeinsames Wissen, von welchem man zu jedem möglichen Gedanken kommen kann« (D 96). Wahrheitsansprüche werden durch Schleiermachers Theorie also nicht ausgelöscht, da es im Streit um ein »letztes Wissen« (ebd.) geht. Schleiermacher wehrt sich lediglich dagegen, die eigene kulturelle Herkunft zu vergessen, seine Position vorschnell zu verabsolutieren und die argumentative Auseinandersetzung mit anderen zu meiden. Man könnte sagen: Gerade weil der jeweilige Ausgangspunkt »mit der besonderen

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Vgl. E 13 (»Die Ethik beginnt mit einem Minimum des Gewordenen, d. h. mit einem Sezen der Natur, in welcher die Vernunft schon ist, und mit einem Sezen der Vernunft, welche schon in der Natur ist, welches Ineinandersein unter jeder Gestalt auf ein früheres zurückgeführt wird.«); E 210 (»Alles ethische Wissen also ist Ausdruck des immer schon angefangenen, aber nie vollendeten Naturwerdens der Vernunft.«). Das Kürzel E steht in diesem Abschnitt für die von Hans-Joachim Birkner herausgegebenen Ethik-Manuskripte Schleiermachers. Vgl. E 211: »Reine Vernunft also und seliges Leben kommen in der Sittenlehre nirgend unmittelbar vor, sondern nur natürliche Vernunft und irdisches widerstrebendes Leben.« Vgl. E 20: »Denn ohne den Charakter der Allgemeinheit kann das Sein kein Vernünftiges, und ohne den der Besonderheit das Handeln kein Natürliches sein, sondern in jedem nur das Eine hervortretend, das Andere zurückgedrückt erscheinen.«

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

Denkgeschichte des Wählenden zusammenhängen muß« (D 37), ist das in das Gespräch mitgebrachte Individuelle im Sinne der oben zitierten Regel (vgl. D 378) zu reflektieren, ist aber auch garantiert, daß der Dialog als engagierter Streit und nicht bloß intellektuelles Gedankenspiel betrieben wird. Durch den Bezug auf Vernunft und »letztes Wissen« wird in Schleiermachers Theorie der Relativismus seinerseits relativiert. Genau hierin ist sie den dargestellten Überlegungen von Walzer und Taylor überlegen. Beide betonen mit gutem Grund die Verwurzelung des Denkens in individuellen bzw. kulturellen Kontexten, haben aber, wie sich zeigte, keinen überzeugenden Weg gefunden, das Postulat kulturübergreifender Werte schlüssig in ihre Konzeption einzubauen. Es droht bei ihnen die Gefahr, daß die Ethik in einer traditionalistischen Binnenperspektive verharrt.117 Zumal Taylor präsentiert ein Modell praktischer Vernunft, das ganz und gar am status quo orientiert ist.118 Schleiermacher hingegen reflektiert außer dem Ausgangs- auch einen Zielpunkt des weltanschaulichen Streits, der dem Aussein des Denkens auf Allgemeinheit Rechnung trägt. Dieser Zielpunkt wird zwar erst im Eschaton erreicht, doch gibt er gerade so der Ethik Schleiermachers ihr Gepräge.119 In Bezug auf unsere Fragestellung lassen sich mindestens zwei Dinge von ihm aussagen. (1) Er ist durch die Verbindung mit Denken, Vernunft und Wissen klar genug konturiert, und zwar als regulative Idee rationalen Argumentierens, während die Taylorsche Einigung durch »Horizontverschmelzung« bezüglich des Wegs zu dem auch in ihr vorausgesetzten Erkenntnisgewinn der Diskurspartner in der Schwebe bleibt, da die auch von Taylor eingeklagte

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Vgl. hinsichtlich Taylors die Zusammenfassung, die Kreuzer seiner Arbeit gibt (ders., 356): »Meine Lesart der Arbeiten Charles Taylors war eine wohlwollende Interpretation und Rekonstruktion seiner Theorieelemente und eine behutsame Kritik an den Punkten, in denen sie in bloßen Traditionalismus umzuschlagen drohte.« Für Walzer s. o. Anm. 18 zu seiner internen Gesellschaftskritik als »Interpretation«. Vgl. Taylor, Sources, 72 (dt. 140): »The argument fixes on the nature of the transition from A to B. The nerve of the rational proof consists in showing that this transition is an error-reducing one. [...] This form of argument has its source in biographical narrative.« Vgl. Miller, 231 (»Da es die Einheit der sittlichen Tätigkeit mit dem von Gott beherrschten menschlichen Sein umfaßt, erhält das Reich Gottes die Schlüsselstellung in dem Inbegriff des Sittlichen. [...] Auf diese Weise liegt im Reiche Gottes die Lösung des ethischen Problems überhaupt.«); Herms, Reich Gottes, 192 (»Diese Perspektive über den ethischen Prozeß hinaus ist es, die ihm selber Gewicht gibt.«). Die fehlende Einbeziehung deses eschatologischen Horizonts stellt das Manko von Peter Dabrocks Modell einer »Transpartikularisierung« (vgl. Dabrock, Zugehörigkeit, 61-65) dar, das ansonsten, bedingt durch die das Unternehmen jeweils leitende Suche nach einem dritten Weg zwischen abstraktem Universalismus und Partikularismus, dem hier vorgelegten Modell durchaus ähnelt.

Argumente fur einen perspektivischen Ansatz

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Rationalität der Argumentation sich letztlich auf bloße Selbstklärung beschränkt, im hiWmiibergreifenden Dialog also versagt. (2) Er ist als Fluchtpunkt jeder Weltanschauung inhärent. Es ist daher nicht konsequent, wenn Schleiermacher, wie oben aus der »Dialektik« zitiert, Allgemeinheitsansprüche ausschließen will. Zwar kann im Hier und Jetzt jede Argumentation ihre allgemeine Wahrheit nicht beweisen, sie kann aber - ja muß sogar, da sie auf ein »letztes Wissen« zielt - allgemeine Gültigkeit bis auf bessere Belehrung beanspruchen. Hier zeigt sich, daß trotz Schleiermachers Bemühen, Individuelles und Allgemeines in ihrer unaufhebbaren Bezogenheit gleichermaßen zur Geltung zu bringen, faktisch dem ersteren in seiner Theorie das größere Gewicht zukommt. Seine Vorliebe für das Individuelle - wie sie sich auch in seiner Religionstheorie findet - droht so die eigentliche Pointe seiner »Dialektik« zu verschleiern: die Unhintergehbarkeit der Perspektivität jedes Denkens darzutun, ohne dessen Bezug auf das Allgemeine preiszugeben. 12.3. Religiöse Wurzeln Bleibt noch die Frage nach der Herkunft von Schleiermachers Theorie des »individuellen Allgemeinen«120! Schon zu Lebzeiten Schleiermachers wurde um die Frage gestritten, ob er eher als Philosoph oder als Theologe zu lesen sei, und seine theologische Wirkungsgeschichte ist durch diese Frage bestimmt worden. Seine eigene Antwort ist relativ klar und mit dem Referierten völlig kongruent. Schon oben bei der Interpretation der »Reden« zeigte sich, daß dort religiös-theologische und allgemein-philosophische Begründungen ineinanderfließen. Schleiermacher selbst hat sich am deutlichsten in einem Brief an Jacobi zu dieser Frage geäußert. Er verwendet dort zwei Bilder, um seine Position zu kennzeichnen: zum einen das einer Ellipse mit Philosophie und theologischer Dogmatik als Brennpunkten, zum anderen das einer galvanischen Säule mit Verstand und Gefühl - die fur die beiden Disziplinen stehen - als den beiden Polen.121 Gerade dieses zweite Bild erscheint besonders treffend, nimmt es doch den auch in diesem Brief von Schleiermacher genannten Zentralbegriff der spannungsvollen Oszillation auf.122 Verstand und

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Vgl. den Titel von Manfred Franks Schleiermacher-Monographie, die Schleiermachers Theorie der »Interaktion des Individuellen und des Allgemeinen« (Frank, Das individuelle Allgemeine, 11) für die hermeneutische Debatte der Gegenwart fruchtbar machen will. Schleiermacher, Brief an Jacobi, 117; 119. Vgl. a.a.O., 117: »die Oszillation istja die allgemeine Form alles endlichen Daseins«. Im Begriff der »Oszillation« verkörpert sich, was Frank als »Grundtheorem des Schleiermacherschen Denkens, das sich allerorten angewandt findet«, bezeichnet hat (Frank, Das individuelle Allgemeine, 92 Anm. 8): »daß keine in der Analyse isolierte Funktion in dieser methodischen Abstraktion sich halten läßt, ohne sich auf ihr anderes hin zu überschreiten,

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

Gefühl wären dann als Platzhalter für Vernunft und Organisation, den beiden Denkmomenten in der »Dialektik«, anzusehen. In der Tat lassen sich der Schleiermachersche Gefühls- und sein Organisationsbegriff gut parallelisieren: Das religiöse Gefühl ist wie dieser durch Rezeptivität als »Sinn« gekennzeichnet. Schleiermacher würde somit durch das Bild nahelegen, seine Theorie als Synthese von individueller christlicher Religiosität und allgemein-philosophischer Vernunfteinsicht zu lesen, wobei beide Momente durch die oszillierende Bewegung zwischen ihnen nur noch in der Abstraktion zu trennen sind. Diese Selbstinterpretation Schleiermachers findet Anhalt in seinen übrigen Texten. Die Einleitung der »Christlichen Sitte« bemüht sich um eine Abgrenzung zwischen philosophischer und christlicher Ethik und findet die Differenz allein in der Form der Darstellung; ist die Form »vollkommen ungleich«, so der Inhalt »vollkommen gleich«.123 Seine These, daß der Zugang zum Allgemeinen stets individuell bedingt sei, in seinem Fall also: die Philosophie aus christlicher Perspektive zu betreiben sei, bewahrheitet sich an seinen eigenen philosophischen Äußerungen - die Dialektik nennt das religiöse Bewußtsein und letztlich Gott als transzendenten Grund des Wissens (vgl. D 91; 281), in der Ethik spricht Schleiermacher in einer Randbemerkung von der »Christlichkeit unserer Philosophie« (E 147). Ja die These selbst als Zentralgedanke von Schleiermachers Philosophie könnte in einem christlichen Gedanken begründet sein: Wie in anderer Form für Hegel scheint die Verendlichung Gottes in der Inkarnation auch für die Methode des Philosophen Schleiermacher bestimmende Wirkung gewonnen zu haben.124 (Schleiermachers Hochschätzung des Individuellen dürfte freilich auch schlichte biographisch-zeitgeschichtliche Gründe haben: den Einfluß des Herrnhuter Pietismus' und Herders.) Andererseits wird man kaum abstreiten können, daß manche Aussage des Theologen Schleiermacher umgekehrt eher in der Philo-

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derart, daß alle Gegensätze, die in seinem [sc. des Bewußtseins] Selbstverständigungsprozeß auftreten, nur als jeweiliges Vorherrschen oder Zurücktreten der einen in Beziehung auf die andere beschrieben werden können« (a.a.O., 92). Schleiermacher, Die christliche Sitte, 28. Vgl. Schleiermacher, Reden, A 280: »Aber, daß Dir ja auch auf das Menschliche seht, was die [sie] Göttliche annehmen mußte; daß Ihr ja nicht aus der Acht laßt, wie sie überall die Spuren von der Bildung jedes Zeitalters, von der Geschichte jeder Menschenart an sich trägt, wie sie oft in Knechtsgestalt einhergehen mußte, an ihren Umgebungen und an ihrem Schmuck die Dürftigkeit ihrer Schüler und ihres Wohnsitzes zur Schau tragend, damit Ihr gebührend absondert und scheidet; daß Ihr ja nicht übersehet, wie sie oft beschränkt worden ist in ihrem Wachstum, weil man ihr nicht Raum ließ, ihre Kräfte zu üben, wie sie oft in der ersten Kindheit kläglich vergangen ist an schlechter Behandlung und an Atrophie.«

Argumente fur einen perspektivischen Ansatz

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sophie als in genuin theologischen Überlegungen fundiert ist - ein eklatantes Beispiel ist die Trennung der Gottes- von der in den Anhang des »Christlichen Glaubens« verwiesenen Trinitätslehre, wo doch Joh 1,14, mit seiner Rede vom λόγος ein locus classicus ebendieser, »der Grundtext der ganzen Dogmatik«125 sein soll. Einerlei, wie man nun im einzelnen die Einflüsse auf Schleiermachers Denken von hüben und drüben bewerten will, so ist doch deutlich, daß Schleiermacher gerade mit dem Gedanken vom »individuellen Allgemeinen« tief im Christentum verwurzelt ist. Die von ihm so in den Vordergrund gerückte Aussage Joh 1,14 - »das Wort ward Fleisch« - und der Inkarnationsgedanke, den sie ausspricht, läßt sich ja ganz in diese Richtung deuten. Im weiteren Sinne ist es, wie Taylor am Ideal der Komplementarität gezeigt hat, der Glaube an die Wichtigkeit jedes einzelnen Lebens vor Gott, die inspirierend hinter dem Gedanken steht. Es ist daher kein Zufall, daß neben Schleiermacher auch die beiden anderen in diesem Kapitel als Vertreter dieses Gedankens Genannten Inspiration aus der Religion beziehen: Taylor hat sich selbst einmal als glaubenden Christen bezeichnet,126 und Walzer ist, wie schon seine häufigen Bezüge auf die alttestamentlichen Propheten zeigen, im Judentum verwurzelt. Im Bereich der christlichen Theologie, genauer: im Protestantismus, finden sich ähnliche Aussagen über ein spannungsvolles Miteinander von partikularer Perspektive und universaler Zielrichtung auch noch nach Schleiermacher. Ernst Troeltschs ganzes Schaffen steht latent unter dieser Spannung, wie er sie besonders in der Absolutheitsschrift zum Thema einer eigenen Abhandlung hat werden lassen. Die dort vertretene These von einer »relativen Höchstgeltung« der christlichen Religion findet sich der Sache nach bereits in einer früheren Veröffentlichimg über die »Selbständigkeit der Religion«. Die beiden Pole der Spannung werden dort prägnant zusammengefaßt. Einerseits heißt es: »Als absolute Wahrheit ist keine einzige Religion wissenschaftlich zu erweisen.«127 Andererseits gilt für das Christentum: »Diesen Anspruch [sc. »eine endgiltige und für das menschliche Bedürfiiis erschöpfende Offenbarung des göttlichen Heilswillens zu sein«] kann es nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben.«128 Auch hier bei Troeltsch fuhrt also wie bei Taylor und Schleiermacher die Einsicht in die Unmöglichkeit absoluter Begründungen nicht in den Relativismus, weil das Allgemeine in anderer Form gegenwärtig

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Schleiermacher, Zweites Sendschreiben, 144. Vgl. Taylor, Comments, 241: »I am a believer [...]. I am a Christian [...].« Troeltsch, Selbständigkeit, 206. A.a.O., 211.

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

ist: in der Brechung durch die eigene Perspektive. Es läßt sich allerdings zeigen, daß er die hier enthaltene Spannung nach und nach abgeschwächt hat bis hin zu einem »kosmologischen Kulturrelativismus«.129 In jüngster Zeit haben sich Ellert Herms und Wolfgang Huber, wenn man so will, wieder stärker an der Perspektivitätstheorie Schleiermachers ausgerichtet. Herms betont die notwendige Partikularität von Gewißheiten, die zugleich mit einem universalen Wahrheitsanspruch verbunden seien, ohne daß dieser freilich exklusiv zu vertreten sei.130 Huber entwickelt in einer Stellungnahme zu Hans Küngs »Projekt Weltethos« den Gedanken einer »relativen Universalität«. Er bejaht die Suche nach einem Konsens in der Menschenrechtsfrage, will diesen Konsens aber »[n]ur durch die Besonderheiten hindurch, nicht an ihnen vorbei« entwickeln.131 »Wer die Religionen oder kulturellen Traditionen auf das gemeinsam Aussagbare reduzieren würde, würde gerade die Quellen verstopfen, aus denen allein ein planetarisches Ethos fließen kann.«132 Huber spricht pointiert vom »Reichtum der Differenz« und einer »Hermeneutik des Fremden«.133 Es wäre freilich verfehlt, ausgehend von den in diesem Kapitel genannten Beispielen den Gedanken einer nichtrelativistischen Perspektivität religiös oder gar christlich zu vereinnahmen. Ein prominentes Gegenbeispiel bildet Jean-François Lyotard, der den Gedanken ebenso wie sein deutscher Fortschreiber Wolfgang Welsch weitgehend ohne expliziten Bezug auf religiöse Voraussetzungen vorgetragen hat.134 Auch ohne das Pluralitätskonzept Lyotards und Welschs ausfuhrlich zu diskutieren, gerade auch im Blick auf die bei Lyotard trotz allem als gedanklicher Hintergrund aufweisbaren religiösen Anteile,135 fallt allerdings ein Punkt ins Auge, der es mit religiösem Denken verbindet: der Gedanke einer endlichen menschlichen Vernunft. Eine perspektivenfreie »Reinheit« ist im Hier und Jetzt nicht zu erreichen - diesen 129

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135

Vgl. die Bemerkungen zur ersten und zweiten Auflage der Absolutheitsschrift in: Rendtorff, Einleitung, 37f; 43f. Zitat: a.a.O., 44. Vgl. Herms, Theologie und Politik, 121. Huber, Planetarisches Ethos, 89. Ebd. A.a.O., 86; 89. Es ist die Kernthese der Postmoderne-Interpretation Welschs, daß von einer relativistischen Postmoderne der Beliebigkeit eine »präzise Postmoderne« zu unterscheiden ist. Für die letztere steht namentlich Lyotard. Inhaltlich ist sie durch das anti-universalistische Bekenntnis zu Pluralität gekennzeichnet (vgl. z. B. Welsch, 182: »Eine universalistische Begründung ist allgemein ein widersprüchliches, durch die Struktur der Sprache, der Wirklichkeit, der Differenzen ausgeschlossenes Unterfangen.«), ohne in die genannte relativistische Depravationsform der Postmoderne abzugleiten. Vgl. dazu Lohmann, Wahrheit.

Argumente für einen perspektivischen Ansatz

373

Einwand, den mit religiösem Hintergrund Hamann gegen Kant und Karl Barth gegen den Neukantianismus erhoben haben,136 haben sich nun die Vertreter einer »präzisen Postmoderne« in ihrer Opposition gegen neuzeitliche Konzepte einer totalen Vernunft zu eigen gemacht, ohne dabei für Irrationalität und Beliebigkeit Stellung zu beziehen. Sie treffen sich darin mit den übrigen in diesem Kapitel vorgestellten Positionen, die allesamt mehr oder weniger deutlich, aber im Tenor übereinstimmend postulieren, daß eine Betonung der perspektivischen Gebundenheit der ethischen Überzeugungen beileibe keinen Relativismus generieren muß, sondern, sofern ein universales Ziel im Blick ist, die Grundlage gibt, um in einen produktiven Streit der Weltanschauungen zu treten.

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Vgl. zu Barth folgende Passage aus dem zweiten »Römerbrief«: »Wir wiederholen: auch das Denken spielt sich in der Sphäre der Relativität ab, [...] zu jener Teilnahme am reinen Denken kann man also den Menschen nicht ermahnen« (a.a.O., 460).

13. Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus Nachdem die Analysen von Teil II die großen Probleme, mit denen die Konzeption einer Ethik auf universaler Grundlage behaftet ist, vor Augen geführt haben, haben im Gegenzug die Überlegungen im Anschluß an Walzer, Taylor und Schleiermacher die Plausibilität einer perspektivischen Ethikgrundlegung vor Augen gefuhrt. Gleich von drei philosophischen Gebieten aus erscheint sie als die angemessene Form: Erkenntnistheoretisch erweist sich eine neutrale Beobachterposition, von der aus dann eine allgemeine Ethik entworfen werden könnte, als Fiktion; von der metaethischen Theorie her fuhrt die notwendige Bindung einer Konzeption des guten Handelns an eine substantielle Weltanschauung - konkret: an eine bestimmte Anthropologie - zur gleichen Folgerung; und metaphysisch - dies das zusätzliche Argument im Anschluß an Schleiermacher, das aber ebenso gut von Hegel oder der Metaphysik des Aristoteles aus hätte gefuhrt werden können - scheint nur über die Einbeziehung der individuellen Perspektive eine Orientierung an einem Allgemeinen möglich zu sein, soll dieses nicht in eine lebensferne Abstraktheit abgleiten. Bevor nun die in Teil I dargestellte theologische Diskussion wieder aufgegriffen wird, sollen noch einige Argumente aus der aktuellen philosophischethischen Diskussion zu Wort kommen, um an ihnen das vorgeschlagene Modell zu überprüfen und näher zu profilieren. 13.1. Transzendentaler Universalismus: Thomas Rentsch Besonderes Interesse verdienen zunächst die Überlegungen von Thomas Rentsch in seinem Buch: »Die Konstitution der Moralität«.1 Er wurde oben bereits als dezidierter Fürsprecher einer anthropologischen Grundlegung der Ethik erwähnt. Die Wege scheiden sich allerdings in dem Moment, in dem er die Meinung vertritt, daß sich eine universale Anthropologie und auf ihrer Basis dann auch eine universale Moral schlüssig konstituieren ließen. Darin liegt eine Parallele zu Höffe; beide versuchen zudem, die gesuchte Universalität über eine transzendentale Anthropologie herzustellen. Jenseits dieser Übereinstimmung in der Methode könnte der Gegensatz zwischen Rentsch und Höffe allerdings kaum größer sein. Denn Rentsch wendet sich in einer

Vgl. Rentsch, Konstitution. Die Seitenangaben im Text des folgenden Abschnitts (13.1.) beziehen sich auf dieses Werk.

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus

375

Auseinandersetzung mit Ernst Tugendhat dezidiert gegen einen Ausgang der transzendentalen Konstruktion der Moral beim vereinzelten Individuum und seinen Interessen (28f); die Analyse der »faktischen Grundsituation« des Menschen, mit der seine »kritische philosophische Anthropologie in praktischer Absicht« (40) beginnt, fuhrt vielmehr auf die unhintergehbar kommunikative Struktur der menschlichen Lebenswelt. »[Konstitutiv für menschliche Sinnentwürfe sind immer bereits die möglichen Formen gemeinsamen [!] Lebens« (148). Der Übergang zur Ethik, bei dem in der transzendentalen Analyse »von der faktischen zur praktischen Grundsituation« (195) fortgeschritten wird, geschieht dann mittels »Analyse der Rede von der Bestimmung der Menschen« (ebd.). Daß dabei nicht wie üblich von der Bestimmung des Menschen gesprochen wird, geschieht mit vollem Bewußtsein, denn wie Rentsch - ganz im Einklang mit einer oben dargelegten These der vorliegenden Arbeit - darlegt, trägt diese Formel einen überindividuellen Impuls.2 Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur These eines universalen Horizonts der Ethik.3 Das an dieser Stelle Interessante an Rentschs Ausführungen ist nun, daß er diese These in kategorischer Form vorträgt4 und jegliche relativistische Einschränkung des Allgemeingültigkeitsanspruchs als »ethnologischen Fehlschluß« (286) verwirft. Weder von der »Lokalität unserer Überlegungen« (279) her - wie Taylor ist Rentsch der Meinung, daß Sinnentwürfe, wie sie der Ethik zugrunde liegen, nur auf der Basis von vorausgesetzten gemeinschaftlichen Orientierungen möglich sind5 - noch durch den Hinweis auf die »verschiedene[n] praktizierte[n] Ethosformtn, die in der Tat eine diachrone und synchrone Pluralität aufweisen« (281), sei die ethische, seinerseits auf einen anthropologischen Universalismus zurückgreifende Allgemeingültig-

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Vgl. Rentsch, 206: »Die dianoietisch-praktische Verwendung von >Bestimmung< in der Formel Bestimmung des Menschern hat eine allgemeine Tendenz, die subjektive und auf Individuen allein bezogene Verständnisse bereits in der Grammatik transzendiert.« Vgl. a.a.O., 215: »Die Konstitutionsanalysen schließen eine universale Perspektive ein, wie sie auch in der Rede von der Bestimmung des Menschen zu Autonomie und kommunikativer Solidarität angelegt ist. Gemeint ist die Bestimmung der, nämlich aller Menschen.« Vgl. a.a.O., 281: »Das Wesen der Moralität ist unbedingt und universal, egalitär und ethostranszendierend.« Vgl. a.a.O., 190 (»Ohne einen - nicht erst zu konstruierenden, sondern unsere konstruktiven Entwürfe bereits vorgängig tragenden - unstrittigen Kembestand von Orientierungen gäbe es keine Rationalität.«); 224 (»Wir sind mit unseren Sinnentwürfen je bereits in eine gemeinsame Praxis und deren normative Modi - deren Erfüllungsgestalten - eingelassen. [...] Ohne die Kenntnis kommunikativer Erfüllungsgestalten ist persönliche moralische Orientierung von vorneherein unmöglich.«).

376

Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

keit der Analyse infragezustellen. Rentsch glaubt also, trotz des Zugeständnisses der unvermeidbaren Perspektivität eine universale, interkulturell gültige Ethik schlüssig begründen zu können. Dies mutet nach den bisherigen Analysen dieser Arbeit wie die Quadratur des Kreises an. Aber ist die These auch stichhaltig? Um dies zu prüfen, ist eine nähere Untersuchung der Argumente, die Rentsch für seine These bzw. gegen eine relativistische Ethik vorbringt, erforderlich. Vier wesentliche Argumente sind zu unterscheiden. Sie sind kategorischer Art, während eine empirische Widerlegung des Relativismus - durch den Aufweis eines transkulturell akzeptierten Kanons an sittlichen Orientierungen - von Rentsch zu Recht wegen ihrer Bindung an »unmöglich einlösbare empirische Beweislasten« von vornherein fur aussichtslos erklärt wird (vgl. 283). 1. Rentsch bringt ein Argument vor, das dem Verweis auf das transzendentale Apriori seitens der Diskursethik gleicht: »Sowohl einklagbar als auch entscheidbar sind auch die kritisch gegen die universalistische Orientierung erhobenen Einwände nur auf dem Boden eines rationalen Universalismus der Erörterung und Diskussion. Bereits intern und methodologisch verlassen relativistische Überlegungen also keineswegs allgemeine Vemunftorientierungen« (279). Das erinnert an Alexys These vom rationalen Diskurs als »allgemeinster Lebensform«. Und wenn Rentsch dezidiert den westlichen Ursprung der kulturrelativistischen Einwände hervorhebt,6 so läßt dies an einen Beitrag Habermas' zur Debatte denken, in dem diese Einwände als Konstrukt westlicher Intellektueller, das erst sekundär von den Vertretern der anderen Kulturen übernommen worden sei, erscheinen.7 Der Vorwurf der Konstruiertheit begegnet auch bei Rentsch, wenn er den Universalismuskritikern als hermeneutischen Ausgangspunkt einen wirklichkeitsfremden »kulturelle[n] Hermetismus« unterstellt.8

6 7

8

Vgl. a.a.O., 279: »Sie haben ihren Sitz in einem Diskurs der okzidentalen Rationalität.« Vgl. Habermas, Der interkulturelle Diskurs, 219: »Westliche Intellektuelle sollten ihren Diskurs Aber ihre eigenen eurozentrischen Befangenheiten nicht mit den Debatten verwechseln, die andere mit ihnen fuhren. Gewiß, auch im interkulturellen Diskurs begegnen uns Argumente, die die Wortführer der anderen einer europäischen Vernunft- und Machtkritik entlehnt haben, um zu zeigen, daß die Geltung der Menschenrechte dem europäischen Entstehungszusammenhang trotz allem verhaftet bleibt.« Habermas geht zwar in der Folge auf »jene Kritiker des Westens, die ihr Selbstbewußtsein aus eigenen Traditionen ziehen« (ebd.), ein, doch scheint er die radikale Kritik allein auf westliche Insinuationen zurückführen zu wollen. Rentsch, 280. Vgl. Shues Kritik an Walzer: Shue, Menschenrechte, 366-377.

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus

377

2. Wie gesagt, gesteht Rentsch die Kontextgebundenheit jeder, auch seiner transzendental-anthropologischen Grundlegung der Moralität zu.9 Dies ist im Rahmen seines lebensweltlichen Ansatzes, der keine Letztbegründungen geben, sondern »Erinnerung an das Selbstverständliche im gemeinsamen Leben« sein will (253), auch nur konsequent. Rentsch meint nun aber, man könne gerade aufgrund der Unvermeidbarkeit und Universalität der »lokale[nj Begrenztheit unserer tatsächlichen Analysemöglichkeiten« (283) darauf verzichten, diesen Ausgangspunkt nochmals explizit zu benennen.10 3. Die bisherigen Argumente waren eher methodischer Art. Rentsch geht aber weiter, wenn er den Universalismuskritikern einen »grundlegenden Kategorienfehler« (287) vorwirft. Die kulturübergreifend identische Konstitution der Moralität werde unsachgemäß nicht von der »Pluralität praktizierter Ethosformen« (281) unterschieden.11 4. Wird diese Unterscheidung getroffen, so zeigt sich eine weitere Verwechslung, die den Kulturrelativisten unterlaufe: Aus dem praktischen Problem des Umgangs mit Differenzen werde ein theoretisches gemachtIn ihrer Summe sind diese Argumente sicherlich beeindruckend. Es läßt sich aber zeigen, daß keines wirklich verfangt. Ad 1: Auf die Probleme, die sich ergeben, wenn man mit Alexy und der übrigen Diskursethik das rationale Argumentieren zur unhintergehbaren Form der gedanklichen Auseinandersetzung erklärt, wurde oben bereits hingewiesen. Die These, in der Eurozentrismusdebatte werde lediglich eine innerokzidentale Scheindiskussion globalisiert, ist schon empirisch zu widerlegen, da zwar sicher nicht alle, aber doch eine genügende Zahl unter den Kritikern nicht-westlicher Herkunft auf der Basis ihrer eigenen Kultur argumentieren. Und was die Universalität der »allgemeine[n] Vernunftorientierungen« (279) betrifft, so genügt schon der Hinweis auf das afrikanische Palaver, um zu zeigen, daß eine Debatte auch ganz anders als nach dem Muster

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11

Vgl. a.a.O., 279: »Wir müssen mit unseren Begriffen leben: Das besagt auch für die transzendentale Konstitutionsanalyse der Moralität, daß sie nur vom jeweils erreichten Standort aus (>historischrelativWegfallen höherer Wahrheiten< präjudiziert bereits auf systematische Weise die halb-utilitaristische, egozentrische Perspektive, von der her nun einzig noch praktische Orientierungen in den Blick zu treten vermögen.« Vgl. a.a.O., 201 (»Feststellungen und Einsichten sind in der alltäglichen Rede und in der Praxis verklammert. Aus diesem Grunde stellt die philosophische Anthropologie in praktischer Absicht auch nicht zuerst einen Feststellungszusammenhang auf, >aus< dem dann mormative Konsequenzen >gefolgertabgeleitet< oder >deduziert< würden.«); 271 (»(Vir können >reine Feststellungen daher in den wichtigen moralischen Redezusammenhängen gar nicht analytisch von den Werturteilen trennen.«).

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalisants und Relativismus

379

bestimmen, doch in Rentschs Konstitutionsentwurf wird die unhintergehbare »Interexistenz« von vornherein positiv gewertet.14 Daß dies keine zwingendtranszendentale Folgerung ist, zeigen etwa Höffes Überlegungen zum Naturzustand oder die die »Interexistenz« ganz anders einschätzende Philosophie Sartres. Wie Höffe gelingt es auch Rentsch nicht, seine Anthropologie als wirklich wertungs- und kulturneutral auszuweisen. Das kann nach seinen Einsichten in die lebensweltliche Basis jeder Argumentation auch gar nicht sein Ziel sein. Dann ist es aber gänzlich unplausibel, weshalb bei ihm gleichzeitig mit der These von der Unmöglichkeit neutraler »Feststellungen« die Rede von einem »anthropologischen Universalismus« (vgl. 190-269) und einer »apriorischefn] [!] Konstitution aller menschlicher Praxis« (280) ist. Nur eine Erklärung bietet sich an, um hier einem Selbstwiderspruch zu entgehen: Der Universalismus soll sich allein auf das »daß« einer anthropologisch-lebensweltlichen Konstitution von Moralität beziehen. Er beschränkt sich auf das formale Faktum des Zusammenlebens überhaupt von Menschen in der Lebenswelt.15 Dem entspricht es, wenn Rentsch ihn als » Universalismus der Negativität« (252) kennzeichnet: »Die Bestimmung des Menschen erhält ihre Pointe gerade, indem alle empirischen Prädikate hier nicht mehr relevant sind und alle materialen Menschenbilder und inhaltlichen Vorstellungen zurückgewiesen werden« (ebd.). Als »Grundeinsicht des anthropologischen Universalismus« bleibt übrig »die praktische Einsicht, daß ich zur Menschheit gehöre« (256). Das ist aber entweder eine rein formale Bestimmung, die, um eine Bemerkung Rentschs zum Relativismus zu zitieren, »praktisch irrelevant« und »spekulativ leer« (280) ist, oder sie enthält versteckt - im Begriff der »Menschheit« nämlich - bereits inhaltliche Wertungen. Daß eher letzteres der Fall ist - und allein dies ist auch im Rahmen von Rentschs Bemerkungen zur unhintergehbaren Perspektivität konsequent - erhellt ζ. B. aus folgender Umformulierung der zitierten »Grundeinsicht«: »Ein würdiges Leben ist für den einzelnen nicht möglich, wenn er sich nicht

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15

Vgl. ζ. B. a.a.O., 229: »Wir Menschen werden in der kommunikativen Interexistenz zu uns selbst [!], kommen aus den interexistentiellen Verhältnissen auf uns zu und entwerfen unsere praktischen Sinnentwürfe im gemeinsamen Leben auf kommunikative Erfullungsgestalten hin.« In diese Richtung läßt sich folgende Passage deuten: »Vielmehr müssen wir - auch als Relativisten - die entsprechenden Lebensformen als solche von Menschen in der primären Welt bereits unterstellen, um dann auch bestimmte Differenzen feststellen zu können. Damit ist die Konstitution der primären Welt bereits hermeneutische Möglichkeitsbedingung der Thematisierung interexistentieller Alterität. Die apriorische Konstitution aller menschlicher Praxis muß notwendig in die Beschreibungen und Deutungen alteritärer Praxis eingehen« (280).

380

Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

über die Interexistentiale der Menschheit versteht« (256). Die Menschheit wird also noch auf der vorgeblich universalen Konstitutionsebene mit dem Begriff der Menschenwürde verknüpft - unzweifelhaft ein inhaltlich gefüllter moralischer Begriff. Arbeiten die Überlegungen zur Konstitution der Moral aber bereits mit bestimmten inhaltlichen Vorgaben, dann sind sie auf diese relativ und können Universalität nur noch für die beanspruchen, die bereit sind, diese Vorgaben sich selbst zu eigen zu machen. Damit gelangen wir jedoch auf der Basis von Rentschs Analysen zu genau dem, was im letzten Kapitel bereits als einzig mögliche Form eines ethischen Universalismus postuliert wurde: lediglich ein universaler Anspruch, dessen Gültigkeit nicht mit Notwendigkeit erwiesen werden kann, sofern er eine bestimmte Grundorientierung schon voraussetzt. Ad 4: Wenn die von Rentsch intendierte Unterscheidung von Konstitution und Praxis der Moralität hinfallig ist, dann läßt sich auch das Problem der ethischen Differenzen nicht allein der Praxis zuordnen. Die Unterschiede der Moralen hängen mit denen der weltanschaulichen Theorien zusammen, auf die sie sich gründen. Daher ist es durchaus sinnvoll, das Problem des Relativismus bereits auf der Theorieebene anzusiedelnAlles in allem ergibt sich, daß Rentschs Versuch, trotz der Einsicht in die Bindung der Moral und ihrer ethischen Theorie an lebensweltliche Orientierungen einen anthropologischen Universalismus im Vollsinn zu etablieren, auf dessen Basis dann relativistische Einwände entschärft werden können, nicht überzeugend gelingt. Mit der These von der Unmöglichkeit, zwischen Feststellungen und Wertungen zu unterscheiden, sowie mit dem dezidiert lebensweltlichen Ansatz liefert Rentsch vielmehr Bestätigungen fur die oben im Anschluß an Walzer, Taylor und Schleiermacher entwickelte Theorie eines perspektivisch gebrochenen, mit der »Lokalität« auch die Relativität seines Ausgangspunkts eingestehenden Universalismus. 13.2. Rationaler Universalismus: Sibylle Tönnies Während Rentsch den Universalismus transzendental neu zu begründen sucht, gründet sich Tönnies unter dem Titel: »Der westliche Universalismus«16 auf die geschichtlich gewachsene Form, die er in der abendländischen Geistesgeschichte erhalten hat, und verteidigt ihn auf dieser Basis gegen aktuelle Kritiker. Dabei geht sie auch auf das Argument mit der Angewiesenheit jeder Moral auf eine lebensweltlich-perspektivische Grundlage ein. Allerdings macht es sich Tönnies - darin, wie oben eingangs von Abschnitt

16

Vgl. S. Tönnies, Universalismus. Seitenzahlen im Text des folgenden Abschnitts (13.2.) beziehen sich auf dieses Werk.

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus

381

12.1. bereits einmal gesagt, nicht allein unter den Anhängern des Universalismus - an dieser Stelle etwas zu leicht, indem sie den Einwand mit dem Schlagwort »Kommunitarismus« verbindet und diesen wiederum vor allem in der zugegeben nicht sehr überzeugenden Lesart von Alasdair Maclntyre zu Wort kommen läßt. Hier haben die Gegenvorwürfe des Traditionalismus (236), der Verkennung des weltgeschichtlichen Wandels von übersichtlichen Gemeinschafts- zu differenzierten Gesellschaftsstrukturen (240-245) sowie einer romantischen »Sucht nach Gemeinschaft« (249) zweifellos ihr Recht. Walzer und Taylor, die Tönnies eher am Rande erwähnt, wären hier anspruchsvollere Gesprächspartner gewesen, deren komplexe Gütertheorie der Struktur der modernen Gesellschaft durchaus entspricht. Gleichwohl hat sich oben gezeigt, daß zumindest der Traditionalismusvorwurf bei beiden eine gewisse Berechtigung hat. Letztlich spielt es innerhalb der Konzeption von Tönnies auch gar keine Rolle, wer konkret als Vertreter eines perspektivischen Ansatzes erwähnt wird, da ihr Programm von Ethik diesem prinzipiell widerspricht. Die Frage muß also diesem Programm selbst gelten, ob es nämlich den Universalismus auf eine überzeugende Grundlage stellen kann. Zur Klärung ist es zunächst wichtig, die oben gemachte Aussage, wonach Tönnies von dem vorliegenden Modell eines »westlichen Universalismus« ausgeht, zu differenzieren. Denn sie will dabei keineswegs an die gesamte abendländische Tradition anknüpfen; der größere Teil dieser Tradition wird vielmehr ausdrücklich verworfen. Es handelt sich um eine Variante des Naturrechtsgedankens. Tönnies unterscheidet das rationale und zugleich revolutionäre Naturrecht der Aufklärungszeit, das ihrer Vorstellung von »Universalismus« entspricht, von einer »konservativ-apologetische[n] Richtung« (17), die am bestehenden Sein orientiert sei. Insofern gerade dieser letztere Zweig durch den Rekurs auf die Natur als ein der Ethik vorgegebenes Sein gekennzeichnet ist und so die Rede von einem Naturrecht bestimmt, sind es demnach nicht nur die inzwischen bekannten begriffspolitischen, möglichen Mißverständnissen ausweichenden Gründe, die ihr den Begriff »Universalismus« gegenüber dem Naturrechtsbegriff vorzugswürdig erscheinen lassen. Vielmehr kommt ein sachlicher Einwand hinzu (16f). Was nun genauer die Differenz zwischen den beiden von Tönnies innerhalb der Naturrechtstradition verorteten gegenläufigen Strängen ausmacht, wird deutlich, wenn man ihre Kritik an der Naturrechtsrenaissance nach 1945 betrachtet: »Wenn auch zunächst mit aufklärerischem Impetus, wurden doch nicht-rationalistische, nicht an ratio, sondern im Gegenteil an den Stoff, an die angeblich dem Sein innewohnenden Gebote anknüpfende >Naturrechtstheorien< vorgetragen, die die Begriffe verwirrt haben« (17). Tönnies' Theorie des Universalismus geht also von einer Trennung zwischen Materie und ratio aus und will nur die letztere als Fundament einer Ethik gelten las-

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

sen. Auf dieser Basis begrüßt sie ausdrücklich die Individualisierung (18) und die »Kälte und Anonymität der modernen Gesellschaft« (56), da sie die notwendigen Korrelate seien fur die Herausbildung eines rationalen Universalismus, in dem man nicht mehr »den Menschen in die ihm angestammten Kollektive eingebunden denkt« (18), gerade so aber erst »>Gleichheit«< (18) und »universalistische Solidarität« denken könne. Der gegen das klassische Naturrecht gerichtete Vorwurf ist also mit dem an die Adresse der Vertreter der These, Ethik sei immer an die Perspektive einer orientierungsstiftenden Lebensform gebunden, identisch: In beiden Fällen geht man nach Tönnies von einem - sei es seinshaft, sei es kollektiv - partikular-»stofflich« Vorgegebenen aus und beschränkt so »die Macht des Geistes über den Stoff« (56), die allein eine wahrhaft universale Ethik begründen könne. In der Tradition der Aufklärung gelte es, »die universalistischen Forderungen als externe Vorgegebenheiten hinzunehmen« (12) und sie nicht - was im übrigen auch der Diskursethik vorgeworfen wird - in einer empirisch vorfindlichen Lebensform zu fundieren.Auch wenn hier nur eine knappe Zusammenfassung gegeben werden konnte, dürfte doch soviel deutlich geworden sein: Der Universalismus, wie ihn Tönnies propagiert, atmet den Geist des Idealismus. Nur auf rein rationaler Basis sei die Forderung plausibel, »daß die Menschen frei und gleich sind und unverletzbare Menschenrechte besitzen« (16). Auch Tönnies geht es also wie Höffe und Alexy um eine Grundlegung des Universalismus als Universalismus der Menschenrechte. Während die beiden Genannten jedoch - anthropologisch bzw. diskurstheoretisch - die Menschenrechte zu begründen suchen, möchte Tönnies sie als schlicht hinzunehmende Vernunftforderungen verstehen. »Der Universalismus stellt sich ungeschützt als gewolltes Produkt des menschlichen Geistes dar« (14). Ist dies in sich und in zweiter Linie dann auch in seiner Kritik an einem perspektivischen Ansatz eine überzeugende Konzeption? Der grundlegende Einwand wird von Tönnies selbst vorweggenommen: der der Abstraktheit. Sie räumt freimütig ein, daß ihrem Universalismus eine Abstraktion zugrunde liegt: »Der Universalismus hat nicht empirischen, sondern rationalen Charakter. Er löst die Menschen geistig aus ihren Kollektiven, er hat individuierenden und gleichzeitig nivellierenden Charakter. Er macht den Einzelmenschen als ens rationale zum Ausgangspunkt aller Betrachtung« (41). Tönnies macht dann aber aus der Not eine Tugend, indem sie diese abstrakte Vereinzelung zum notwendigen Korrelat universaler Forderungen erklärt. Ist dies aber der Fall? Warum sollte ausgerechnet die »abstraktef] Ethik« (186), die »das Ergebnis von Individuation« (ebd.) und »von dem gemeinschaftlichen Zusammenhalten und Zusammenstehen polar entfernt« (187) ist, die Basis von gesellschaftlicher Solidarität sein? Ist nicht

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus

383

vielmehr die Erfahrung jenes Zusammenhaltens erst die Voraussetzung für die Bildung von Kompetenz zu solidarischem Handeln? Wie soll das im luftleeren Raum schwebende Individuum auf den Gedanken der universalen Menschheit kommen? Tönnies führt abstrakte Trennungen ein, wo gar keine sind: Individuum und Gemeinschaft, Gemeinschaft und Gesellschaft, Vernunft und Sein, aufklärerisches und klassisches Naturrecht. Mindestens im Fall von Gemeinschaft und Gesellschaft räumt sie denn auch ein, hier seien »Idealtypen bezeichnet, zu deren Natur es gehört, empirisch nicht in reinen Formen aufzutreten« (189). Es gäbe »kreuzweise Verknüpfungen« (ebd.). Warum werden dann aber erst dichotomische Idealtypen konstruiert? Der Grund scheint die These zu sein, daß nur auf dieser abstrakten Ebene, nicht aber auf der der gelebten Gemeinschaft, universale Forderungen ohne Selbstwiderspruch denkbar seien. Dieser These liegt aber selbst wieder eine polarisierende Abstraktion zugrunde: die eines grundlegenden »Dualismus zwischen dem, was wirklich ist, und den darüberschwebenden Sätzen, wie es sein soll« (lOf). Auch dieser Dualismus wird jedoch von Tönnies selbst nicht durchgehalten. Sie stellt die Ideengeschichte ihres Universalismus dar und begründet dies in ironisierender Weise: »Wir sind so fraglos ethisch hochstehend, daß wir uns nicht dessen bewußt sind, daß wir nicht aus angeborener natürlicher Neigung, sondern aufgrund von benennbaren Kultureinflüssen universal-humanistische Ideen haben« (62). Diese »benennbaren Kultureinflüsse« - was sind sie anderes als wirkliche gemeinschaftliche Orientierungen? Und wenn schon im Titel dezidiert vom »westlichen« Universalismus die Rede ist, dann die genannte Ideengeschichte seine spezifisch abendländischen Wurzeln herausarbeitet, andererseits aber seine Forderungen als reine und universale Vernunfiforderungen gelten sollen, so zeigt auch dies die Inkohärenzen der Theorie. Wie kann man deutlicher am Bestehenden anknüpfen, als wenn man sich darauf beruft, daß »eine Weltkultur ansatzweise besteht« (242)? Doch genug der Fragen! Tönnies' Programm geht in die Richtung eines Universalismus der reinen Vernunft, und die Abstraktionen und Widersprüche, in die sie sich dabei verwickelt, zeigen einmal mehr die Schwächen einer solchen Konzeption, wie sie bereits Schleiermacher und Hegel gegenüber Kant und Fichte herausgearbeitet haben. Es ist daher kein Zufall, sondern in der Natur der Sache begründet, wenn der Kantianer Habermas seinen ethischen Universalismus durch den Rekurs auf die Sprachlichkeit empirisch unterfüttert. Tönnies fällt mit ihrer Argumentation hinter all diese immanenten Weiterentwicklungen des idealistischen Ansatzes zurück, ja letztlich bereits hinter Aristoteles. Denn schon dieser hat gegen die Abstraktionen der platonischen Ideenlehre eingeschärft, daß forma und materia aufeinander verwiesen sind. Hier zeigt sich auch, daß Tönnies' Kritik am klassischen Na-

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

turrecht und seine Gegenüberstellung zum rationalen und revolutionären Naturrecht der Aufklärungszeit - Tönnies denkt zweifellos an das »rein formale« Naturrecht Kants und Fichtes - unangemessen ist. Denn die »Natur«, auf die man sich berief, ist in der Tradition gar nicht mit dem schlicht Bestehenden gleichzusetzen. Es wurde oben bereits dargestellt, daß der Naturrechtstradition in der Regel der Naturbegriff des Aristoteles, der in sich bereits ideale Momente enthält, zugrunde liegt. Daher hat auch der Appell an das Naturrecht schon längst vor Kant revolutionäre Anliegen stützen können. Umgekehrt hat gerade die Veijenseitigung des Naturrechts bei Kant und Fichte im Umkehrschluß, wie etwa in der Historischen Rechtsschule, die Restauration mittels eines nun tatsächlich empirisch und historisch fundierten Rechtsbegriffs stützen können. Das Anliegen, eine Position zu formulieren, die dem relativistischen Verbot, »allgemeine, kulturübergreifende Maximen aufzustellen« (13), entgegentritt, ist aller Ehren wert. Durch die unhinterfragte Gleichsetzung eines perspektivischen Ansatzes mit dem »>Gang zu den Müttern< in die Höhle der konkreten Gemeinschaft« (11) werden dessen Potentiale jedoch nicht ausgeleuchtet und die Lösimg in einer dualistisch der Wirklichkeit bloß fordernd gegenüberstehenden Vernunft gesucht. Daß sich Tönnies dabei in Widersprüche verwickelt, verdeutlicht die Probleme eines Universalismus, der von der gelebten Sittlichkeit zu abstrahieren sucht. Tönnies muß einräumen, daß auch ihr Universalismus auf einem ganz bestimmten, »okzidentalen« Verständnis von Rationalität und einer ganz bestimmten Ideengeschichte beruht. Das ist insofern symptomatisch, als auch andere neuere Vertreter eines ethischen Universalismus ähnliche Zugeständnisse machen. Tönnies kommt mit ihrem »westlichen« Universalismus letztlich selbst nicht über einen perspektivisch gebrochenen Universalismus hinaus. Dann aber erscheint es doch konsequenter, diese Perspektive von vornherein einzugestehen und auf Polemik gegen Ansätze, die in diesem Sinn den kulturellen Hintergrund jedes Universalismus betonen, zu verzichten. 13.3. »Vermeintlicher« und echter Relativismus: Klaus Peter Rippe Klaus Peter Rippe hat seine Göttinger, bei Günther Patzig geschriebene Dissertation ganz dem Thema des »ethischen Relativismus« gewidmet.17 Er arbeitet in ihr außer der philosophischen auch insbesondere die ethnologische Debatte um dieses Thema im englischsprachigen Bereich auf. Die Arbeit stellt daher eine wichtige Ergänzung zum hier vorliegenden Versuch dar,

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Vgl. Rippe, Relativismus. Die folgenden Zitate entstammen diesem Buch.

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus

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zumal Rippe inhaltlich zu ganz ähnlichen Folgerungen kommt als sie hier auf eher ideengeschichtlicher Basis gezogen wurden. Die Theoriediskussion Rippes fuhrt zu einem »non liquet«: »Der ethische Relativismus kann nach dem jetzigen Stand der Diskussion nicht bewiesen werden, aber er kann auch nicht widerlegt werden« (268).18 Dennoch wendet sich Rippe gegen ein »anything goes«. Einige moralische Forderungen seien schon von ihrem empirischen Fundament her, etwa einer verquasten Rassentheorie, rational zu widerlegen (270). Zwar finde die Vernunft »ihre Grenzen, wenn sie sich den fundamentalen Werten und Wertorientierungen eines Menschen oder einer Gruppe zuwendet« (278). Dennoch sei aber ein ethischmoralischer Diskurs möglich: »Auch wenn Wertorientierungen nicht zu widerlegen sind, sind sie doch nicht unwandelbar« (ebd.). Überzeugungsversuche seien daher »keineswegs aussichtslos« (279) und der Diskurs befruchtend. Auf dieser Basis verwundert es nicht, wenn Rippe in den Schlußsätzen das Bild einer wünschenswerten Gesellschaft entwirft, das Taylors Vorstellung von Multikulturalität als wechselseitiger Komplementarität entspricht.19 Dabei steht nicht zuletzt der Gedanke im Hintergrund, daß jede Moral, auch die relativistisch den anderen Moralen ihr Recht zugestehende, zunächst einmal von der Richtigkeit ihrer Überzeugungen ausgeht und diese im Konfliktfall auch gleichsam universalistisch zu vertreten hat. Rippe erläutert diesen Gedanken an einem sehr eindrücklichen Beispiel, das von einer Ethnologin aus Neuguinea berichtet wird. Sie beobachtete eine junge Mutter, die, offenbar im Einklang mit den sittlichen Überzeugungen ihres Stammes, ihr Neugeborenes im Dschungel aussetzt, nachdem sie festgestellt hat, daß es ein Mädchen ist. Die unter dem Gesichtspunkt der Relativismusdebatte entscheidende Frage ist nun, ob die Forscherin berechtigt ist, »die Handlung der Mutter zu verurteilen« (274). Rippe bejaht diese Frage. Denn die Alternative einer »Ethik der Inkonsequenz« hieße, abgesehen von der Konsequenz, in mehreren Moralsystemen leben zu müssen, »daß der Forscher [...] seine eigenen Moralvorstellungen nicht mehr ernst nehmen würde, und dies kann auch der methodenbewußteste Ethnologe nicht wollen« (275). Eine Verurteilung sei rechtens, sofern - und dies entspricht der in der vorliegenden Arbeit erhobenen Forderung eines seine eigene Perspektivität reflektierenden Universalismus - eingestanden werde, daß sie »auf der Grundlage der eigenen Moral«

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Vgl. Patzig, Relativismus, 90: »Der Relativismus ist also nicht widerlegbar; aber sein Anspruch, bewiesen zu sein, ist zurückgewiesen worden.« Vgl. Rippe, 279: »Die Existenz unterschiedlicher Kulturen mit unterschiedlichen Entwürfen des Lebens sind ebenso zu begrüßen wie ein lebhafter moralischer Diskurs innerhalb einer Gesellschaft. Nicht eine Einheit ist wünschenswert, sondern eine sich gegenseitig befruchtende Vielfalt unterschiedlicher Konzeptionen menschlichen Lebens.«

386

Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

(ebd.) erfolge. »Dabei besteht kein Unterschied, ob meinen moralischen Urteilen wirklich Universalität zukommt oder ob ich dies nur meine. Sobald man die Geltung einer bestimmten Moralvorstellung akzeptiert hat, ist man dazu verpflichtet, diesen Richtlinien jederzeit zu folgen« (ebd.). Hier liegt offenbar die gleiche Einsicht zugrunde, die oben bei der Darstellung der Konzeption Walzers als Paradox der Ethik bezeichnet wurde: Je stärker ich die Perspektive einer Moral als die meinige anerkenne, je mehr ich also von ihrer Richtigkeit überzeugt bin, um so mehr werde ich für sie Universalität beanspruchen.20 Außer der Absicht, eine philosophische Einschätzung des ethischen Relativismus durch Darstellung und Diskussion verschiedener relativistischer Positionen zu ermöglichen, wird noch ein zweites Ziel von Rippes Studie deutlich: Es geht ihm darum, »die bisherige Sprachverwirrung zu entwirren« (220). Tatsächlich laufen ganz unterschiedliche Definitionen von Relativismus um, und Rippe versucht, hier Klarheit zu schaffen, indem er verschiedene Varianten von Relativismus unterscheidet. Rippe zeigt, daß es plausibel ist, eine individuelle, soziokulturelle, kognitive, sprachliche, prinzipielle, eingeschränkte, deskriptive, normative und metaethische Spielart jeweils einzeln zu definieren. Er räumt allerdings zugleich ein, daß eine solche Aufteilung wegen der vielfachen Überschneidungen »künstlich« ist (ebd.). Als entscheidend erweist sich letztlich nur eine Unterscheidung: die zwischen vermeintlichem und eigentlichem ethischen Relativismus. Beide gehen - in der soziokulturellen Form - von der gleichen Prämisse aus: »Ein moralisches Urteil ist gültig, wenn es mit den Normen, Werten und Prinzipien jener Gesellschaft übereinstimmt, zu welcher der Urteilende gehört« (ebd.). Die Differenz besteht in der Antwort auf die Frage, ob es möglich ist, »die Handlungen von Menschen moralisch zu beurteilen, die zu anderen Gesellschaften gehören« (ebd.). Der »vermeintliche« Relativist verneint, während der eigentliche ethische Relativismus diese Möglichkeit bejaht. Die letztere ist nun aber genau die Position, die Rippe am Ende des Buches selbst vertritt. Hier besteht Anlaß zu einer Anfrage an die Terminologie Rippes, die zugleich zur Klärung beiträgt. Die von ihm als »ethischer Relativismus« bezeichnete und akzeptierte Position erkennt universale Werte an, nur mit der Einschränkung, daß deren Gültigkeit nicht als universal bewiesen, sondern nur aus der jeweiligen Perspektive heraus postuliert werden kann. Damit ist

20

Vgl. die von Rippe, 275, zitierte Aussage von Linda A. Bell: »To condemn another [...] on the basis of my moral values - is to take my moral values seriously. Insofar as my moral values and principles are universal and insofar as they are my values and principles, I cannot logically do otherwise.«

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus

387

jedoch klar, daß hier die Möglichkeit einer universalen Moral, wenn auch nur über langwierige Diskurse, als ZielbegrifF präsent ist. Erst der »vermeintliche« ethische Relativismus ist bei Rippe die Position des »Anything goes«, die üblicherweise mit dem relativistischen Etikett versehen wird. Berücksichtigt man beides, den üblichen Sprachgebrauch und die Tatsache, daß der von Rippe befürwortete Relativismus in eingeschränkter Form eine universale Moral anerkennt, so erscheint es sinnvoller, den letzteren als eingeschränkten oder auch perspektivisch gebrochenen Universalismus zu bezeichnen und die Bezeichnung »Relativismus« allein für Positionen aufzusparen, die keinerlei über den eigenen Horizont hinausreichendes, also überindividuelles bzw. interkulturelles moralisches Urteil für möglich halten. Eine solche Nomenklatur erscheint nicht nur sachgerechter, sondern sie vermeidet auch die etwas künstliche Unterscheidung eines »vermeintlichen« und eigentlichen Relativismus, von denen der »vermeintliche« eigentlich der relativistischere ist. In der hier vorliegenden Arbeit, die hinsichtlich der Möglichkeit von universalen moralischen Forderungen mit Rippe übereinstimmt, wird jedenfalls in diesem Sinne von einem eingeschränkten Universalismus gesprochen. Daß dieser auch - in Gestalt der These von der Relativität eines moralischen Urteils auf eine spezifische Weltanschauung - Übereinstimmungen mit dem Relativismus im landläufigen Sinn hat, bleibt dabei unbenomme. Durch die Bezeichnung als »perspektivischer Universalismus« wird auch die Verwechslung mit einem der beiden Relativismen, die Julian NidaRümelin jüngst dargestellt und kritisiert hat, ausgeschlossen. Der »Rl« bei Nida-Rümelin ist dabei kein anderer als der »vermeintliche« Relativismus Rippes, wird er doch vor genau das von Rippe geschilderte Problem gestellt, gegebenenfalls mehrere divergierende Moralen als gleich-gültig anerkennen zu müssen.21 Der »R2« hingegen, »den man besser Perspektivismus oder perspektivischen Relativismus nennen sollte«22, kommt der hier umrissenen Konzeption insofern nahe, als er zunächst einmal von der Richtigkeit der eigenen moralischen Überzeugung ausgeht. Die Differenz besteht darin, daß »R2« die »Annahme objektiv bestehender normativer Tatsachen« bestreitet und daher zu Recht von Nida-Rümelin unter das Verdikt eines »Subjektivismus«, der »Toleranz als Indifferenz« mißverstehe, gestellt wird.23 Demgegenüber wird hier eine solche Annahme gemacht. Nur gelten die objektiven »Tatsachen« der Moral als im Hier und Jetzt nur perspektivisch erkenn- und

21

22 23

Vgl. Nida-Rümelin, Vereinbarkeit, ζ. B. 108: »Rl verhält sich, Willensstärke vorausgesetzt, wie ein extremer Konformist und verlangt von anderen, sich ebenso zu verhalten.« Ebd. A.a.O., 111.

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

damit nicht beweisbar, was eben genau die Haltung von Toleranz als Mitte zwischen den Extremen von Indifferenz und Verabsolutierung der eigenen Position impliziert. Es handelt sich daher im Kern nicht um eine relativistische, sondern eine wenn auch eingeschränkt universalistische Position, wie gerade der Vergleich mit den beiden Relativismen Nida-Rümelins offenbart. 13.4. Die paradoxe Struktur der Moral: Wilhelm Lütterfelds Unter den hier ausgewählten Beiträgen zum Thema aus den letzten Jahren entsprechen die Überlegungen, die Wilhelm Lütterfelds in einem Aufsatz vorgetragen hat, am ehesten der hier vorgeschlagenen Konzeption.24 Der Autor attestiert eine »paradoxe Struktur der Moral« (194), genauer bestimmt durch »das Paradox der kontingenten und pluralen Absolutheit« (195). Darunter versteht er ganz im Einklang mit den oben im letzten Kapitel gezogenen Folgerungen das offenbare Faktum, daß universale moralische Ansprüche nur zulässig sind, wenn sie zugleich ihre eigene partikulare Herkunft reflektieren.25 Die eigenen Maßstäbe seien im gesellschaftlichen und interkulturellen Diskurs mit universalem Anspruch, aber zugleich selbstkritisch vorzubringen.26 Es bestehe geradezu eine »Verpflichtung [...], den Anderen von der möglichen Unkorrektheit seines Verständnisses zu überzeugen« (199), wie umgekehrt aber auch »dessen Überzeugungsversuche zu akzeptieren« seien (ebd.). Die metaphysische Basis seiner metaethischen Position wird von Lütterfelds immerhin angedeutet, wenn er die »dialektische Praxis« (198) mit dem »Hegelsche[n] Konzept einer dialektischen Entwicklung des moralischen Selbstbewußtseins« (199) in Verbindung bringt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was den Vorschlag Lütterfelds' eigentlich von dem Modell eines »eigenzentrischen Universalismus«,

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25

26

Vgl. Lütterfelds, Universalität und Kontingenz. Dort finden sich auch die folgenden Zitate. Vgl. Lütterfelds, 195f: »Moralische Überzeugungen von Personen, Gesellschaften und Kulturen sind darin ebenso fallibel, an objektiven moralischen Maßstäben zu messen und in einem Prozeß moralischer Entwicklung zu verorten, wie sie zugleich selber jene moralischen Paradigmen in ihrer Lebensform vorgeben, die Maßstab der Prüfung sind, so daß sie ihrerseits nicht fallibel sein können. Sie verfugen über den Begriff ihrer eigenen moralischen Relativität und Korrigierbarkeit und messen doch fremde Moralverständnisse asymmetrisch an eigenen moralischen Paradigmen.« Vgl. a.a.O., 199: »Dies bedeutet, konträre Moralverständnisse zwar nicht zu akzeptieren, sie aber auch nicht zu verwerfen, was jedoch keine skeptische >Enthaltung< ihnen gegenüber besagt. Denn positiv formuliert besagt es, die universalen Geltungsansprüche der eigenen Überzeugung selbstkritisch vorzutragen und darin konträre Moralverständisse und deren Korrekturpotential dennoch nach den eigenen Maßstäben zu beurteilen.«

Argumente aus der aktuellen Debatte um Universalismus und Relativismus

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wie er es zuvor diskutiert und abgewiesen hat (187f), trennt.27 Denn auch dieses ist dadurch gekennzeichnet, daß es »das eigene Moralverständnis asymmetrisch mit der universalen objektiven Moral identifiziert« (187), zugleich aber »für das eigene Moralverständnis den fallibilistischen Vorbehalt macht« (ebd.), also eine »Relativierung und Selbstkorrektur des Gewissens« (188) zuläßt. Die Einwände, die Lütterfelds gegen diese Position formuliert, laufen alle auf eine Auflösung der paradoxalen Spannung in die eine oder andere Richtung hinaus (vgl. 188). Aber ist nicht auch der dialektische Entwicklungsgedanke ein solcher Lösungsversuch? Auch hier schlägt jedenfalls das Pendel in die Richtung des Universalismus aus: Wenn er auch im Hier und Jetzt nur als universalistischer Horizont gegenwärtig ist, so ist doch, in Gestalt des Gedankens einer dialektischen Entwicklung zu einer allgemeinen Anerkennung des objektiv Guten, die Möglichkeit seiner Realisierung im Blick. Will man seine eigene Typologie aufgreifen, so kann man Lütterfelds' Modell demnach ohne weiteres dem »eigenzentrischen Universalismus« zurechnen. Damit ist jedoch auch ein Ansatzpunkt für einen kritischen Einwand formuliert. Denn die durchaus berechtigte Kritik Lütterfelds' an vorschnellen Auflösungen der Paradoxie kann auch gegen den Entwicklungsgedanken geltend gemacht werden, setzt er doch eine - wenn auch allmähliche - Verringerung der moralischen Konflikte im Lauf der Geschichte voraus. Die Stärke dieses Gedankens besteht darin, daß er einen gleichsam eschatologischen Horizont benennt, der überhaupt erst das Aushalten der Konflikte ermöglicht. Es wurde ja oben als der große Vorzug der Theorie Schleiermachers vor der Taylors und Walzers genannt, daß sie mit dem Bezug auf ein »letztes Wissen« genau einen solchen Horizont im Blick hat. Bei Hegel - und Lütterfelds, der sich für seinen Entwicklungsgedanken ja ausdrücklich auf Hegel beruft - muß die Betonung aber auf gleichsam eschatologisch gesetzt werden, denn die Verwirklichung der Lösung wird innergeschichtlich ge-

27

Insgesamt werden sechs »[traditionelle Erklärungen des moralischen Dissenses und Konfliktes« (182) von Lütterfelds zu Beginn seines Aufsatzes in einem luziden Überblick diskutiert und als ungenügend verworfen (vgl. 182-191): »skeptischer Relativismus«, »Pluralismus ohne Relativismus« (damit ist eine Position gemeint, die allen Moralen einen universalen Anspruch zugesteht, ohne - auch nicht fur die eigene Moral - die Existenz von tatsächlichen »moralische[n] Universalien zu unterstellen«, 184; es bestehen starke Ähnlichkeiten zum »R2« bei Nida-Rümelin), »Problemeliminierung«, »moralischer Monismus« (der traditionelle Universalismus), »eigenzentrischer Universalismus« und »Kontextualismus« (nach dieser Position sind universale Normen wie das Tötungsverbot zwar vorhanden, werden aber in den verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedlich ausgelegt).

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

dacht. Gegen diesen Einwand ist auch Schleiermacher nicht ganz gefeit. Zwar ist er durch seine gesamte Konzeption davor gesichert, das Reich Gottes, dem das »letzte Wissen« der »Dialektik« korrespondiert, als Produkt einer immanenten Menschheitsentwicklung zu denken.28 Er hat sich aber mit dem Gedanken eines sich geschichtlich vollziehenden allmählichen Vernunftwerdens der Natur, gipfelnd in einem »Reich Gottes auf Erden«, noch zu stark an die optimistische Geschichtsphilosophie der Aufklärung29 angeschlossen. Demgegenüber besteht die traditionelle christliche Eschatologie darauf, daß die Realisierung der »Kultursynthese« - man kann hier durchaus Troeltsch zitieren, dessen Kulturphilosophie von seiner dynamischen Geisttheorie her ebenfalls die genannte »eschatologische« Dimension hat - ganz allein einem kontingenten Handeln Gottes vorbehalten bleibt. Sie kann nur erhofft werden; die menschlichen Ahnungen von einem Sinn der Geschichte und einem - auch moralischen - Fortschritt bleiben Stückwerk. Diese Einsicht allein gibt die notwendige Gelassenheit, um im Alltag fruchtbar und ohne Rückfall in Skepsis oder Überheblichkeit mit den Spannungen des Lebens umzugehen, zu denen eben auch die Paradoxie von gleichzeitiger Universalität und Relativität der moralischen Vorstellungen gehört.30 Wenn in der Einleitung der vorliegenden Untersuchung nach der Möglichkeit einer gegenseitigen Befruchtung von philosophischer und theologischer Grundlagendiskussion gesprochen wurde, dann liegt der positive Beitrag der christlichen Theologie zur allgemeinen Debatte genau hier: in der recht verstandenen Eschatologie als gedanklichem Ermöglichungsgrund für einen konsequenten perspektivischen Universalismus. Damit sind wir schon mitten im Gebiet der christlichen Theologie sensu stricto, der nun die folgenden Überlegungen zu gelten haben.

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29 30

Vgl. Miller, 236 (»Denn Schleiermacher hat das Reich Gottes eben nicht einfach mit dem Fortgang der Weltgeschichte identifiziert; er hat das Reich Gottes von der weltgestaltenden Tätigkeit der Menschen nach Ort und Art der Wirksamkeit unterschieden.«); Heims, Reich Gottes, 180 (»Nun haben wir gesehen, daß die vier genannten beharrlichen Vollzugsaspekte des ethischen Lebens ihren Grund in den vorethischen Ursprungsbedingungen des ethischen Lebens haben, die den gesamten ethischen ProzeB dauernd tragen. Und dementsprechend richtet sich für Schleiermacher nun auch die beharrliche Zielstrebigkeit dieses Prozesses auf eine Vollendung, die nicht mehr in ihn selber fällt.«). Zu ihr vgl. als informativen Überblick: Taylor, Sources, 351-354 (dt. 614-618). Wenn Herbert Schnädelbach in seinem Abgesang auf das Christentum (vgl. DIE ZEIT Nr. 20, 11.5.2000, S. 41f) der christlichen Eschatologie den genau entgegengesetzten Sinn zuschreibt, so beruht dies - wie der ganze Artikel - auf (1) selektiver Sicht, (2) ganz unzureichender Quellenkenntnis und (3) Verwechslung von Wirkungsgeschichte und eigentlicher Intention.

14. Die christliche Anthropologie als Bezugspunkt der christlichen Ethik Führt man die Argumentationsschritte der drei letzten Kapitel zusammen, so ergibt sich als logische Folgerung aus (1) dem Bezug von Ethik und Anthropologie sowie (2) der unhintergehbaren Perspektivität moralischer Urteile der Vorschlag, die christliche Ethik auf die christliche Anthropologie zu gründen. Diesen Vorschlag gilt es nun in den Kontext der zehn im ersten Teil dargestellten Modelle theologisch-ethischer Grundlegung zu stellen. Zwei prinzipielle Grundlegungsmöglichkeiten hatten sich ja durch die betrachteten Modelle hindurch abgezeichnet: der Ausgang entweder bei einem allgemeinen ethischen Bewußtsein oder aber beim spezifisch christlichen Christus- bzw. Rechtfertigungsgeschehen. Zwischen diesen beiden Alternativen nimmt der hier unterbreitete Vorschlag eine Mittelposition ein, und seine Fruchtbarkeit könnte nicht zuletzt darin liegen, daß sich mit seiner Hilfe zeigen läßt, daß die die innerevangelische Debatte um die Grundlegung von Ethik dominierende »Alternative« keine strikte ist, vielmehr beide Ansätze eine partícula veri enthalten. Andererseits muß eine zwischen zwei Extremen angesiedelte Position auf Kritik gleich von beiden Seiten antworten. Das sei im folgenden als erstes getan. Zunächst gilt es, auf die Argumente einzugehen, die von Seiten der Fürsprecher einer Grundlegung der christlichen Ethik in allgemein wahrnehmbaren Phänomenen gegen den Ausgang bei spezifisch christlichen Überzeugungen angeführt werden. Sie seien hier nochmals in der Form, in der sie Dietz Lange in seiner »Ethik in evangelischer Perspektive« bündig zusammengefaßt hat, genannt: (1) In der gegenwärtigen säkularisierten Gesellschaft ist »um der rationalen Kommunikation willen« (241) - »eine rein rationale ethische Argumentation ohne christliche Voraussetzungen auch für Christen unerläßlich« (205); (2) ein spezifisch christlicher Ansatz fordert Gehorsam und hat Heteronomie und Gesetzlichkeit zur Folge (vgl. ebd.); (3) er übersieht »die innertheologische Strittigkeit der Bestimmung des Christlichen selbst« (206); (4) er ist ideologieanfällig (vgl. ebd.); (5) die Leugnung der »theologische[n] Relevanz einer >neutralen< - z. B. humanwissenschaftlichen Anthropologie [...] läuft konsequent auf die flacianische Lehre hinaus, daß die Sünde das Wesen des Menschen sei« (20).

392

Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

Ad 1 : Das Argument mit der Kommunikationsfáhigkeit wird an dieser Stelle auch von anderen genannt.1 Es hat einen Wahrheitskern darin, daß theologische Reflexion neben der Aufgabe der Selbstklärung nicht zuletzt betrieben wird, um die Aussagen des christlichen Glaubens und ihren Zusammenhang auch für Außenstehende durchsichtig zu machen. Darauf wird unten zurückzukommen sein. Die Frage ist nur, ob dieser Aspekt die Reflexion von Beginn an bestimmen darf. Die Gefahr dabei ist doch, daß die vorgeblich allgemeine Perspektive auf die anschließende Darstellung des spezifisch Christlichen zurückwirkt, indem mehr oder weniger Anstößiges unter den Tisch fällt oder ein Proprium gewählt wird, das ihm nur zum Teil gerecht wird. Oder es wird umgekehrt verdeckt doch schon von Beginn an aus der christlichen Perspektive argumentiert, und die Darstellung der »Phänomene« ist nur scheinbar neutral. Daß diese zweite Gefahr tatsächlich virulent ist, hat sich oben bei Herrmann, Hirsch und Rendtorff gezeigt. Und auch bei Lange ist Anlaß zur Frage, ob die Konflikthaftigkeit wirklich als das offensichtlich bestimmende Moment in der menschlichen Erfahrung wahrgenommen werden kann, wenn man nicht schon den christlichen Rechtfertigungsglauben vor Augen hat. Es bestätigt sich auch hier, was sich als Problem aller absolut universalistischen Ethiken herausgestellt hat: Es ist nicht möglich, eine neutrale Perspektive in Abstraktion von den eigenen Überzeugungen einzunehmen. Aber auch die umgekehrte Gefahr wirkt sich in Langes Ethik aus: Nachdem im Gewissenskonflikt zwischen Bestimmung und tatsächlichem Sein des Menschen ein Anknüpfungspunkt gefunden ist, wird auch die Darstellung der spezifisch theologischen Aussagen von diesem Punkt aus entwickelt. Das hat zwar eine gute christliche Tradition über das Luthertum bis zurück zu Paulus in Rom 7, greift aber doch nur einen Aspekt der christlichen Lehre vom Gesetz heraus. Die Freude am Gesetz, wie sie die alttestamentliche Frömmigkeit, aber durchaus auch Teile des Neuen Testaments auszeichnet, droht in dieser Perspektive zu kurz zu kommen. Mit gutem Grund hat daher außer Troeltsch, dessen ähnlich gelagerte Kritik an Herrmann uns schon begegnet ist, vor allem Dietrich BonhoefFer ein solches Anknüpfen der christlichen Ethik an negative Konflikterfahrungen kritisiert.2

1

2

Vgl. Auer, 12 (»Wenn das Sittliche mit der Entfaltung menschlicher Freiheit und Würde zu tun hat, muß es kommunikabel sein. Es ist tatsächlich kommunikabel, weil es in der menschlichen Vernunft begründet ist. Aus eben diesem Grunde muß die Reflexion über ethische Fragen autonom ansetzen, sie muß Vorstellungen entwickeln, die von bestimmten Glaubenshorizonten unabhängig sind und doch ein sinnvolles und fruchtbares Zusammenleben der Menschen gewährleisten«.); 161; 182 (mit ähnlich lautendem Zitat von Trillhaas); Rendtorff, Ethik Π, 94 (s. o. S. 135). Vgl. z. B. Bonhoeffer, Ethik, 310-315.

Die christliche Anthropologie als Bezugspunkt der christlichen Ethik

393

Wird aber in dieser Weise sowohl die Sicht des allgemeinen Bewußtseins als auch das spezifisch Christliche verzerrt, dann löst sich das Argument mit der Kommunikationsfähigkeit auf. Denn gelingende Kommunikation setzt ja voraus, daß beide Seiten von Beginn an ihre Perspektive offenlegen und zunächst kompromißlos ihre Sicht der Dinge darstellen. Gerade dies macht das Wesen der bereichernden Komplementarität aus, von der Taylor und auch Schleiermacher in ihrer Theorie des argumentativen Streits ausgehen. Daß dabei die Rationalität nicht zu kurz kommt, sollte klar sein. Eine »rein [!] rationale ethische Argumentation« im Sinne Langes und der anderen Fürsprecher dieses Ansatzes erscheint jedoch als menschenunmögliche Abstraktion. Ad 2: Hier wird erstmals deutlich, daß Lange bei seiner Kritik die Ethik Karl Barths vor Augen hat.3 Es hat sich oben bei der Interpretation der Ethik Barths ergeben, daß diese tatsächlich einen heteronom-gesetzlichen Zug hat. Es ist jedoch fraglich, ob jeder Versuch einer spezifisch christlichen Ethikgrundlegung zu solchen Konsequenzen fuhren muß. Für einen Ansatz bei der christlichen Anthropologie sind sie jedenfalls weitgehend ausgeschlossen. Denn deren Ausgangspunkt besteht darin, daß der Mensch zur Gottebenbildlichkeit bestimmt ist. Wenn er dem Willen Gottes gemäß lebt, so verwirklicht er gerade sein eigentliches Wesen, handelt also im spezifischen Sinn autonom: seiner Bestimmung gemäß. Und ein »Autoritätsglaube^« 4 ist nicht zu befürchten, wenn die theologische Ethik ihre Aufgabe erfüllt und die Forderungen der christlichen Moral argumentativ verantwortet. Dietrich Bonhoeffer hat gezeigt, daß eine Argumentation, die von einem dezidiert christlichen Standpunkt ausgeht, auf den Hinweis auf Phänomene des Alltagslebens nicht zu verzichten braucht. Bonhoeffer hat sich ja unter dem Stichwort »Offenbarungspositivismus« selbst gegen die latent autoritären Züge der Barthschen Dogmatik und Ethik gewandt, ohne deren grundsätzliche Argumentationsrichtung preiszugeben. Er ist zwar an anderer Stelle selbst der Gefahr der Abstraktheit nicht entgangen, wie unten noch zu zeigen ist; seine Weiterentwicklung des Barthschen Ansatzes stellt jedoch eine Verbesserung dar. Ad 3: Man ist versucht zu antworten: Wenn schon die »Bestimmung des Christlichen selbst« strittig ist, wieviel mehr dann die des allgemeinen sittli-

3

4

Lange, Ethik, 205, heißt es: »im Sinne der dialektischen Theologie«. Damit macht er sich das weitverbreitete Vorurteil zu eigen, das die Dialektische Theologie im Sinne des Theologieverständnisses, wie es Barth in KD 1/1 vorträgt, interpretiert. Es läßt sich an Brunner, Bultmann und dem Barth der 20er Jahre zeigen, daß die Dialektische Theologie keineswegs global eine Diastase von theologischer und natürlich-philosophischer Grundlegung vertreten hat. Lange, Ethik, 205.

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

chen Bewußtseins? Es ist doch eine Illusion zu glauben, die »Phänomene«, auf die Lange und andere sich berufen, lägen aller Welt unstrittig vor Augen. Doch eine solche Gegenkritik nach dem Motto »Angriff ist die beste Verteidigung« macht sich die Sache zu leicht. Tatsächlich wäre es eine ebensolche Illusion, von der Möglichkeit auszugehen, die christliche Ethik auf die ein für allemal feststehende christliche Anthropologie gründen zu können, wenn nicht gar auf diesem »unstrittigen« Fundament eine ebenso eindeutige Ethik aufbauen zu wollen. Auch innertheologisch führt der Weg zur Wahrheit nur über den argumentativen Diskurs. Auf diesem Weg kann die spezifisch ethische Reflexion sogar hilfreich sein. Bei der Frage nach der Grundlegung der christlichen Ethik geht es immer auch um die nach dem Verhältnis von Dogmatik und Ethik. Im hier vorgeschlagenen Modell steht die christliche Anthropologie stellvertretend für die gesamte christliche Dogmatik, in der alle Glaubensaussagen miteinander zusammenhängen und so auch die Anthropologie christologische, rechtfertigungstheologische, schöpfungstheologische etc. Aussagen in sich aufnimmt. Die Grundlegung der christlichen Ethik auf die christliche Anthropologie bedeutet nun aber nicht, daß das Verhältnis beider Disziplinen als Einbahnstraße vorzustellen wäre. Gerade angesichts der Strittigkeit mancher dogmatischer Aussage würde dies ein fixes Fundament vortäuschen, das gar nicht vorhanden ist. Mit Heidegger ist hier bewußt von einer »Grundlegung« und nicht »Grundlage« zu sprechen. Der Widerspruch Thielickes gegen eine Vorstellung, bei der die Dogmatik immer nur gibt und die Ethik immer nur empfängt, ist völlig berechtigt. Der Versuch, auf der christlichen Anthropologie eine Ethik zu gründen, kann zu neuen anthropologischen Einsichten führen. Ein Beispiel für eine solche Rückwirkung der Ethik bildet das im gleichnamigen Buch von Robert Spaemann entwickelte Konzept von »Personen«, das ganz offensichtlich ein Reflex auf die ethische Debatte um den Status von ungeborenem, schwerstbehindertem oder debilem Leben ist. In diesem Zusammenhang ist auch das von Trillhaas in die Debatte gebrachte Schlagwort von der Ethik als »angewandter Anthropologie« abzuweisen,5 denn es setzt einen fixen Bestand an anthropologischen Aussagen voraus, die dann nur noch »anzuwenden« wären. Nein, das Verhältnis ist komplexer, und deshalb hat auch der Einwand Langes sein gutes Recht. Gleichwohl bezieht sich doch alle christliche Theologie und also auch Anthropologie zurück auf das Christusgeschehen. In ihm, in zweiter Linie

5

Vgl. Trillhaas, VII; 19 (»Ethik ist in jedem Sinne angewandte Anthropologie.«); 29. Jüngst hat sich Thomas Kreuzer diesen Gedanken mit Bezug auf Trillhaas zu eigen gemacht: »Ethik ist angewandte, praktische Anthropologie« (Kreuzer, 25).

Die christliche Anthropologie als Bezugspunkt der christlichen Ethik

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dann in der biblischen Überlieferung und schließlich in der theologischen Tradition hat sie ein Maß, das auf einige doch wohl weitgehend unstrittige Punkte führt. Deshalb erscheint ein Ausgang bei der christlichen Anthropologie, was die Verständigungsmöglichkeit über geteilte Grundüberzeugungen betrifft, chancenreicher als die Deutung der »Phänomene«, auf die Lange sich beruft. Ad 4: Nach dem zuletzt Gesagten ergibt sich eigentlich schon, daß auch der ideologiekritische Einwand Langes ausgeräumt werden kann. Es geht Lange darum, daß »durch Berufung auf eine absolute Autorität« die Gefahr besteht, daß eine »einfache Identifikation gegenwärtiger oder angestrebter gesellschaftlicher Strukturen mit einer göttlichen Setzung« vorgenommen wird.6 Auch hier könnte man mit einer Riposte reagieren: Stellt die Berufung auf allgemein einsichtige »Phänomene« nicht auch einen Appell an eine scheinbar unwiderlegbare Autorität dar? Wer möchte sich schon nachsagen lassen, daß seine Theorie der Wirklichkeit nicht entspricht? In diesem Sinne hat ja etwa Rendtorff suggestiv vom »Realitätsprinzip« gesprochen, dem die theologische Ethik gerecht werden müsse. Solche Aussagen gehen darüber hinweg, daß auch das, was jeweils als »Wirklichkeit« mit gleichsam unhinterfragbarem Anspruch vertreten wird, auf eine perspektivische Sicht zurückgeht und bewußt oder unbewußt zur Legitimation »gegenwärtiger oder angestrebter gesellschaftlicher Strukturen« dienen kann. Wenn man einige der sich in dieser Weise auf die »Wirklichkeit« berufenden theologischen Entwürfe betrachtet, wird das deutlicher. So ist bei Herrmann der Einfluß der spezifischen Wertvorstellungen des wilhelminischen Bürgertums unverkennbar, am handgreiflichsten, wenn im Schlußparagraphen seiner »Ethik« von der »sittlich erlaubten Erholung« gehandelt wird. Und Hirschs Ethik ist unverkennbar von den Idealen einer deutschnationalen Romantik geprägt. Solche Bezugnahmen sind unvermeidlich, wird Ethik doch nicht im luftleeren Raum, sondern von einem konkreten Individuum in einer konkreten gesellschaftlichen Situation betrieben. Sie sind jedoch immer wieder kritisch zu hinterfragen. Diese Aufgabe besteht für jede Ethik, egal von welchem Standpunkt aus sie argumentiert. Dennoch hat ein bewußt perspektivischer Zugang hier, anders als Lange vermutet, sogar Vorteile. Denn Selbstkritik ist doch - hier kommen wir zu Punkt 1 zurück - am ehesten möglich, wenn man seine spezifische Wirklichkeitssicht von Beginn an offenlegt. Und daß sie auf dieser Basis durchaus zu einer Änderung in den eigenen Fundamenten führen kann, wurde zum letzten Punkt bereits ausgeführt.

6

Lange, Ethik, 206.

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

Ad 5: Der Flacianismus ist wie die Wirklichkeitsfremdheit ein Schuh, den man sich nur äußerst ungern anziehen läßt. Auch hier ist Lange mit seiner Kritik ein gutes Stück Recht zu geben. Wieder bezieht er sich unverkennbar auf Karl Barth und dessen antithetische Aussagen zum Verhältnis von theologischer und »natürlicher« Wirklichkeitssicht, die in der Tat fragwürdig sind. Schon bei Barth selbst finden sich jedoch auch andere Aussagen, und es wäre vollends überzogen, aus Spitzensätzen eines Theologen abzuleiten, daß die ganze Methodik, fur die er einsteht, verfehlt ist. Unangemessen ist auf jeden Fall der Vergleich mit Flacius in dem von Lange gemeinten Zusammenhang. Daß Barth Vorbehalte gegenüber den Wahrheitsansprüchen scheinbar neutraler Wissenschaften hat, hat mit »Flacianismus« nur wenig zu tun. Oder will Lange auch Luther diesen Vorwurf machen, der doch in seiner »Disputatio de homine« in der Sache im Einklang mit Barth auf den Primat der theologischen vor der »philosophischen«, d. h. zu Luthers Zeit: humanwissenschaftlichen Anthropologie hingewiesen hat? Doch wie immer Langes Kritik an Barth zu bewerten ist: Der Ansatz bei der christlichen Anthropologie jedenfalls will ja ganz bewußt bei der menschlichen Natur ansetzen und dabei auch - gegen Flacius - ihre Auszeichnung, die in der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit und in der Menschwerdung Jesu Christi besteht, reflektieren. Ebenso muß er freilich ihre Verdorbenheit durch das Faktum der Sünde hervorheben. Für das Verhältnis zu den außertheologischen Wissenschaften ergibt sich aus beidem - Auszeichnung und Verdorbenheit des Menschen - , daß sie ohne weiteres - und zwar auch kritisch - in die theologisch-ethische Argumentation eingehen können, ja daß ihre Einbeziehung sogar gefordert ist. In diesem Sinn kamen sie ja auch im vorliegenden Entwurf, vor allem in Gestalt von Philosophie und Jurisprudenz, recht ausführlich zu Wort. Auch ihre Arbeit steht freilich unter den Auswirkungen der Sünde. Auch sie ist daher kritisch zu hinterfragen und keineswegs als die reine Wahrheit einfach nur zu rezipieren. Genau die letztere Gefahr besteht nun aber, wenn die theologische Ethik mit wissenschaftlichen Erkenntnissen beginnt, die sie nicht vorher in den anthropologischen bzw. rechtfertigungstheologischen Kontext von Sünde und Vergebung eingeordnet hat. Es entsteht so der Eindruck neutraler »Fakten«, die die Theologie nur noch zu bewerten, interpretieren oder übersetzen hätte. Nicht zuletzt die Opposition gegen ein solches positivistisches Wissenschaftsverständnis hat Karl Barth umgetrieben und auch ganz anders gerichtete Theologen wie Thielicke und Pannenberg zur Forderung einer theologischen Vernunft- und WissenschaftskritikbewogenAuf diese Weise scheinen die Argumente von Seiten der Anhänger einer »phänomenbezogenen« Ethikgrundlegung ausgeräumt, ja die Überlegenheit einer offen eingestandenen Grundlegung in der spezifisch christlichen

Die christliche Anthropologie als Bezugspunkt der christlichen Ethik

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Anthropologie dargelegt werden zu können. Ein gut Teil der Argumente haben jedoch ihr Recht, sofern sie sich auf eine christologische Grundlegung beziehen. Die innerevangelische Debatte um die Grundlagen der Ethik ist gerade deshalb in den letzten 100 Jahren so unversöhnlich geführt worden, weil sich Vertreter zweier Extrempositionen gegenüberstanden: hier die positivistisch an Fakten und Phänomenen orientierten Theologen, dort diejenigen, die die ganz andere christologische Wirklichkeit ins Zentrum ihrer Überlegungen stellten. Eine Mittelposition nahmen die unter den lutherischen Theologen ein, die wie Paul Althaus die Ethik auf Schöpfungsordnungen bezogen: Im Schöpfungsbegriff ist der Bezug auf die gegebene Natur impliziert, diese jedoch von vornherein theologisch gedeutet. Durch die Vermischung dieses Ansatzes mit deutsch-christlichem Gedankengut in der NS-Zeit sowie durch immanente Probleme - der Bezug auf die Schöpfung im Sinne einer Protologie gibt der ganzen Konzeption eine unangemessene Statik, auch wenn Althaus dem in seiner »Theologie der Ordnungen« durch einen dynamischen Ordnungsbegriff zu entgehen suchte - konnte er jedoch in der Debatte nach 1945 keine Wirkung mehr entfalten. Um so interessanter ist es, daß mit den ethischen Fragmenten Dietrich Bonhoeffers ein Versuch vorliegt, die genannten Richtungen zu integrieren: Einerseits wird mit der Rede von der alles umfassenden neuen christologischen Wirklichkeit die Christozentrik der Theologie Karl Barths noch übertroffen, andererseits kommen mit der Zwei-Regimenten-Lehre, dem Abschnitt über das »natürliche Leben« und der Mandatenlehre spezifisch lutherische Theologumena zur Sprache.7 Und auf die Anknüpfimg Bonhoeffers an allgemein wahrnehmbare Erfahrungen wurde oben bereits hingewiesen. Dominierend ist freilich das christologische Fundament, wie von den genannten Themen am deutlichsten die Mandatenlehre zeigt, steht sie doch in der Absicht, die lutherischen Schöpfungsordnungen als Konkretionen der »Beziehung der Welt auf Christus«8 zu interpretieren. Bonhoeffers Ethik ist daher als Versuch zu lesen, den von Barth inaugurierten christozentrischen Ansatz der Ethik immanent zu verbessern, indem gerade bezüglich des Welt- und Naturverhältnisses die Dualismen Barths vermieden werden. Gleichwohl bleiben die grundsätzlichen Probleme, die die Ethik Barths belasten, bestehen. Sie weisen auf die grundlegenden Schwächen einer christologischen Grundlegung der theologischen Ethik hin.

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Vgl. zur Zwei-Regimenten-Lehre: Bonhoeffer, Ethik, 102; zum »natürlichen Leben«: a.a.O., 163-217; zur Mandatenlehre: a.a.O., 54-60; 392-412. A.a.O., 54.

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

Die grundsätzliche Frage, die immer wieder an das christozentrische Modell von Ethik gestellt worden ist, und die auch Emil Brunner veranlaßte, die Ethik auf christologischer Grundlage durch eine Ethik der Schöpfungsordnungen zu ergänzen, besteht darin, wie nur unter Bezug auf Jesus Christus eine Ethik, die auf die konkreten Probleme des menschlichen Zusammenlebens eingeht, formuliert werden kann. Barths Antwort besteht hier im Hinweis auf die »Bestimmtheit« des göttlichen Wortes, doch es zeigte sich oben, daß das ein sehr unscharfes und letztlich gerade unbestimmtes Kriterium ist. Einziges Maß bleibt demzufolge unvermittelt das Christusgeschehen. Wird aber das »Gesetz«, an dem die Ethik sich auszurichten hat, allein aus dem »Evangelium« abgeleitet, so besteht die Gefahr, daß aus letzterem ein neues Gesetz wird, indem es den wirklichen, weiterhin unter den Bedingungen der Sünde existierenden Menschen am wahrhaften, sündlosen Menschen Jesus Christus mißt. Wie ist nun Bonhoeffers Ethik unter diesen Gesichtspunkten zu bewerten? Bonhoeffer radikalisiert Barth, indem er dessen Rede vom Christusgeschehen als zentralem und alles Weitere bestimmenden Ereignis der Geschichte ausweitet zu einem neuen Wirklichkeitsbegriff: Das Christusgeschehen wird konsequent inklusiv verstanden. »Die Welt, das Natürliche, das Profane, die Vernunft ist hier von vornherein in Gott hineingenommen, all dies existiert nicht >an und für sichNachahmer Gottes< folgen wir der Vision einer neuen, von der Liebe veränderten Lebenseinstellung und zu einem neuen Gemeinschaftsleben.«). Ein einfaches Beispiel für einen solchen Akt stellt die Leitfrage Martin Niemöllers dar: »Was würde Jesus dazu sagen?« Genau hier setzt die Aufgabe der theologischen Ethik an.

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Ein Vorschlag zur Grundlegung der christlichen Ethik

lung in scheinbarem Widerspruch zum Wortlaut des Evangeliums steht. Unterbleibt diese Reflexion, wird aus Nachfolge ein simples Gesetz. Das wird bei Hauerwas noch viel deutlicher als bei Bonhoeffer und Barth, denn seine Sprache wimmelt geradezu von Appellen in der 1. Person Plural im Stil einer schlechten Predigt (»Wir müssen...«). Der zweite Kritikpunkt betrifft den Traditionalismus, der mit der Gemeinschaftsbindung eng verknüpft ist. Eine Ausrichtung des Lebens am Beispiel der Heiligen (71, dt. 126), moralische Verbote als Setzungen der »community« (119, dt. 182f), Wahrheit als Konsistenz mit der Tradition (120, dt. 183) all dies setzt die kirchliche Gemeinschaft und ihre Tradition in unzulässiger Weise an die Stelle der unmittelbaren Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Evangelium. Ebenfalls setzt es - und dies ein weiterer Kritikpunkt die innergemeindliche Orientierung absolut gegenüber dem Gespräch mit anderen Weltanschauungen. Bei Hauerwas wird der Perspektivismus zu einem Partikularismus, einer Binnenethik, die dem Weltbezug des christlichen Glaubens nicht gerecht wird.23 Wenn es richtig ist, daß in Christinnen und Christen das Wirken des Heiligen Geistes erst angefangen hat, daß sie also selbst noch ein gut Teil »Fleisch« in sich haben, dann ist eine Trennung wie sie Hauerwas vornimmt - hier die christliche »community«, dort die »Welt« - gänzlich unsachgemäß. Die moralischen Orientierungen, mit denen man aufwächst, sind doch selbst im vormals christlichen Abendland nicht nur christliche, eine von politisch-weltlichen Einflüssen isolierte christliche Existenz gar nicht denkbar, und so stellt sich ganz automatisch die Frage nach aktiver Mitwirkung im nichtkirchlichen Bereich und nach rationaler Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen. Damit ist ein weiterer Dissenspunkt genannt: das Verständnis von Rationalität und ihrer Bedeutung für die christliche Theologie. Hauerwas lehnt ausdrücklich die Frage nach einer »Grundlegung« der christlichen Ethik, wie sie im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, ab: »Such a morality requires no >foundation