Ethik der Empathie: Eine Grundlegung 9783161614835, 9783161614842, 3161614836

Empathie gehört zu den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten sozialen Miteinanders. Zumindest lässt dies die hohe Freq

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Ethik der Empathie: Eine Grundlegung
 9783161614835, 9783161614842, 3161614836

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitendes
Teil I Empathie als Phänomen menschlicher Intersubjektivität
1 Empathie als Thema der Theologie
1.1 Empathie als Barmherzigkeit. Biblische Narrationen einer Grunderfahrung
1.1.1 Das Empathisch-Sein Gottes
1.1.2 Empathisch-Sein und Empathisch-Handeln des Menschen
1.2 Empathie als Exzentrizität . Theologische Anthropologie eines humanen Spezifikums
2 Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen
2.1 Sympathy als sozialregulativer Mechanismus. Die Moralphilosophie David Humes und Adam Smiths
2.2 Verstehen als empathische Transposition. Die Hermeneutik Friedrich Schleiermachers und Wilhelm Diltheys
2.3 Einfühlung als konoriginäres Erleben. Die Phänomenologie Edith Steins
2.4 Mitgefühl als sittlicher Wert. Die Phänomenologie Max Schelers
3 Empathie im interdisziplinären Diskurs
3.1 Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion. Psychologie und Neurowissenschaften
3.1.1 Psychologie der Empathie
3.1.1.1 Entwicklungspsychologie der Empathie
3.1.1.2 Positive Psychologie der Empathie
3.1.1.3 Allostase. Eine Grauzone der Empathie
3.1.1.4 Trait und State Empathy. Natürliche Varianzen der Empathie
3.1.1.5 Klinische Psychologie der Empathie
3.1.2 Soziale Neurowissenschaft der Empathie
Exkurs: Spiegelneurone
3.2 Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie
3.2.1 Empathie als kognitive Bedingung für Identität und Sozialität
3.2.2 Empathie als affektive Form des resonanten Weltverhältnisses
3.3 Empathie als intentionaler Prozess verkörperter Intersubjektivität. Philosophische Perspektiven
4 Kritik der reinen Empathie . Eine Auswertung
Teil II Ethik der Empathie
1 Einleitendes zu einer (theologischen) Ethik der Empathie
2 Empathie. Eine definitorische Skizze
3 Empathie im Horizont menschlicher Würde
3.1 Von der Achtung menschlicher Würde. Der theologische und philosophische Diskurs des 21. Jahrhunderts
3.1.1 Menschenwürde als gottgegebener Wesenswert. Die ökumenische Position der christlichen Kirchen in Deutschland (BILAG)
3.1.2 Würde als Anrecht auf Achtung. Wilfried Härle
3.1.3 Menschenwürde als Gestaltungsauftrag. Franz-Josef Wetz
3.1.4 Menschenwürde als Recht, nicht gedemütigt zu werden. Ralf Stoecker
3.1.5 Würde als verkörperte Selbstachtung. Arnd Pollmann
3.1.6 Würde als Haltung. Eva Weber-Guskar
3.1.7 Würde als Lebensform. Peter Bieri
3.2 Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen
3.2.1 Empathie und Würde im Selbstverhältnis
3.2.2 Empathie und Würde in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen
3.2.3 Empathie und die Gestaltung Würde entsprechender Räume
4 Empathie unter nicht-idealen Bedingungen
5 Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie
5.1 Empathie in güterethischer Perspektive
5.1.1 Das Höchste Gut
5.1.2 Güter der Empathie
5.1.2.1 Das Gut einer stabilen Beziehung zum Anderen
5.1.2.2 Das Gut des stabilen Selbstverhältnisses
5.1.2.3 Das Gut empathischer Räume
5.2 Empathie in pflichtenethischer Perspektive
5.2.1 Pflichten der Empathie im Selbstverhältnis
5.2.2 Pflichten der Empathie im Verhältnis zum Anderen
5.2.3 Pflichten der Empathie in Raumstrukturen
5.2.4 Über das Recht auf Empathie
5.3 Empathie in tugendethischer Perspektive
5.3.1 Ethische Urteilskraft als Metatugend der Empathie
5.3.2 Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl als Tugenden im Selbstverhältnis
5.3.3 Soziale Kompetenz und Emotionale Intelligenz als Tugenden der Empathie im Verhältnis zum Anderen
5.3.4 Globales Mitgefühl als Tugend der Empathie in Raumstrukturen
Schluss
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

Citation preview

Perspektiven der Ethik herausgegeben von

Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth

19

Kerstin Krauß

Ethik der Empathie Eine Grundlegung

Mohr Siebeck

Kerstin Krauß, geboren 1988; Studium Ev. Theologie und Germanistik (Gymnasiallehramt); Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Jena; 2020 Promotion; seit 2021 im Thüringer Schuldienst. orcid.org/0000-0003-1549-072X

ISBN 978-3-16-161483-5 / eISBN 978-3-16-161484-2 DOI 10.1628/978-3-16-161484-2 ISSN 2198-3933 / eISSN 2568-7344 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©  2023 Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer aus der Minion gesetzt, von Druckerei Laupp und Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Für André und Hanna

Vorwort Diese Arbeit ist unter dem gleichen Titel im Sommersemester 2020 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommen worden und liegt hier in geringfügiger Überarbeitung vor. Der Entstehungsprozess dieser Schrift wurde von verschiedenen Menschen unterstützt und begleitet – Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank: Allen voran danke ich Prof. Dr. Miriam Rose, die meinen Weg in beeindruckender Weise in zutrauender Freiheit und orientierender Unterstützung begleitet hat. In allen gemeinsamen Denk‑ und Arbeitskontexten ist sie mir stets mit Professionalität, Wertschätzung, Wohlwollen sowie zwischenmenschlicher Achtung und Achtsamkeit begegnet. Zeit und Raum für Gespräche, Texte und Ideen habe ich in dankbarer Erinnerung; offener Austausch, leidenschaftliche Ermutigung und konstruktive Kritik haben mir so manch neuen Blickwinkel ermöglicht. Das „Denken ohne Geländer“, wie es durch Hannah Arendt immer wieder in unsere gemeinsame Arbeit eingetragen wurde, ist eine eindrückliche Prägung, die ich Miriam Rose zu verdanken habe. Eine interdisziplinär angelegte Arbeit muss sich am Dialog nach außen bewähren. Für den fachlichen Austausch und die Übernahme des Zweitgutachtens danke ich Prof. Dr. Martin Leiner. Matthias Bolz und dem Max-Planck-Institut für Kognitions‑ und Neurowissenschaften in Leipzig danke ich für die Offenheit und die einzigartigen Einblicke in neurowissenschaftliche Forschung. Der Deutschen Gesellschaft für Positiv-Psychologische Forschung verdanke ich vor allem die Erfahrung und das Verständnis von die Grenzen der eigenen Forschung überschreitender Interdisziplinarität. Den Publikationsprozess begleitet haben Tobias Stäbler, Markus Kirchner und Ilse König beim Verlag Mohr Siebeck – ihnen danke ich für die professionelle Zusammenarbeit sowie den Reihenherausgebern für die Aufnahme in die Reihe „Perspektiven der Ethik“. Mein besonderer Dank gilt den persönlichen Wegbegleitern meiner Promotionszeit. Im Besonderen danke ich Dr. Katharina Wörn und Dr. Volker Rabens für die fachlich-theologischen Gespräche, das konkurrenzlose und unmaskierte Miteinander und vor allem: ihre Freundschaft. Meiner Mutter habe ich ihre unvergleichliche Gefährtenschaft durch das Leben zu verdanken – ihre Liebe, ihr Wesen und ihre Empathie prägen so manchen Gedanken in diesem Buch.

VIII

Vorwort

Empathie zeigt sich schließlich in ihrer gesamten Komplexität und Reichweite vor allem da, wo jeder Moment von Leben geteilt wird: Dort ist sie in ihrer Notwendigkeit allgegenwärtig, dort wird sie stetig neu herausgefordert, in ihrer Bedeutung aktualisiert und in ihrem Vermögen erwiesen. Insofern danke ich meinem Mann André nicht nur für die empathische Selbstzurücknahme insbesondere in der Schlussphase der Arbeit, sondern vor allem für das gemeinsame Wachsen an, mit und angesichts aller Herausforderung gemeinsamen Lebens. Und so hoffe ich auch, meiner Tochter Hanna stets all das in ihre Entwicklung einfließen lassen zu können, worüber hier theoretisch reflektiert wird. Ihnen beiden ist dieses Buch gewidmet. Im Sommer 2022

Kerstin Krauß

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Teil I

Empathie als Phänomen menschlicher Intersubjektivität 1 Empathie als Thema der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Empathie als Barmherzigkeit. Biblische Narrationen einer Grunderfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Das Empathisch-Sein Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Empathisch-Sein und Empathisch-Handeln des Menschen . . . . . 1.2 Empathie als Exzentrizität. Theologische Anthropologie eines humanen Spezifikums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 15 20 26

2 Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen . . . 35 2.1 Sympathy als sozialregulativer Mechanismus. Die Moralphilosophie David Humes und Adam Smiths . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Verstehen als empathische Transposition. Die Hermeneutik Friedrich Schleiermachers und Wilhelm Diltheys . . 2.3 Einfühlung als konoriginäres Erleben. Die Phänomenologie Edith Steins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Mitgefühl als sittlicher Wert. Die Phänomenologie Max Schelers . . . . .

36 44 55 61

3 Empathie im interdisziplinären Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.1 Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion. Psychologie und Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.1.1 Psychologie der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1.1.1 Entwicklungspsychologie der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . 74

X

Inhaltsverzeichnis

3.1.1.2 Positive Psychologie der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.3 Allostase. Eine Grauzone der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.4 Trait und State Empathy. Natürliche Varianzen der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.5 Klinische Psychologie der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Soziale Neurowissenschaft der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Spiegelneurone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie 3.2.1 Empathie als kognitive Bedingung für Identität und Sozialität . . 3.2.2 Empathie als affektive Form des resonanten Weltverhältnisses . . 3.3 Empathie als intentionaler Prozess verkörperter Intersubjektivität. Philosophische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86 98 101 104 117 135 137 139 143 148

4 Kritik der reinen Empathie. Eine Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Teil II

Ethik der Empathie 1 Einleitendes zu einer (theologischen) Ethik der Empathie . . . . . . . . . . . 171 2 Empathie. Eine definitorische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3 Empathie im Horizont menschlicher Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3.1 Von der Achtung menschlicher Würde. Der theologische und philosophische Diskurs des 21. Jahrhunderts . . . 3.1.1 Menschenwürde als gottgegebener Wesenswert. Die ökumenische Position der christlichen Kirchen in Deutschland (BILAG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Würde als Anrecht auf Achtung. Wilfried Härle . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Menschenwürde als Gestaltungsauftrag. Franz-Josef Wetz . . . . . . 3.1.4 Menschenwürde als Recht, nicht gedemütigt zu werden. Ralf Stoecker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Würde als verkörperte Selbstachtung. Arnd Pollmann . . . . . . . . . 3.1.6 Würde als Haltung. Eva Weber-Guskar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.7 Würde als Lebensform. Peter Bieri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen . . . . . . . . . . . 3.2.1 Empathie und Würde im Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Empathie und Würde in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Empathie und die Gestaltung Würde entsprechender Räume . . .

180 182 185 187 189 191 193 195 200 202 206 211

Inhaltsverzeichnis

XI

4 Empathie unter nicht-idealen Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5 Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.1 Empathie in güterethischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Das Höchste Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Güter der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.1 Das Gut einer stabilen Beziehung zum Anderen . . . . . . . . 5.1.2.2 Das Gut des stabilen Selbstverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.3 Das Gut empathischer Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Empathie in pflichtenethischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Pflichten der Empathie im Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Pflichten der Empathie im Verhältnis zum Anderen . . . . . . . . . . . 5.2.3 Pflichten der Empathie in Raumstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Über das Recht auf Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Empathie in tugendethischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Ethische Urteilskraft als Metatugend der Empathie . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl als Tugenden im Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Soziale Kompetenz und Emotionale Intelligenz als Tugenden der Empathie im Verhältnis zum Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Globales Mitgefühl als Tugend der Empathie in Raumstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

226 226 228 229 230 231 232 236 239 242 247 250 252 257 260 264

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Einleitendes In den Mokassins des Anderen. Relevanz und Problematik einer Kategorie der Intersubjektivität Gehört man einer indigenen nordamerikanischen Volksgruppe an, wird einem von jeher eine Weisheit mit in die Wiege gelegt: „Urteile nie über einen anderen, ehe du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist“. Sich selbst die Bedingungen und Gegebenheiten der Situation eines Anderen anzuziehen und dessen Weg samt seinen Herausforderungen und Konsequenzen, Empfindungen und Gedanken sich so zu vergegenwärtigen, als würde man ihn selbst gehen – das ist es, was in dieser indianischen Weisheit zur sittlichen Bedingung erklärt wird, wenn Menschen sich zu anderen geistig (hier urteilend) ins Verhältnis setzen und damit sozial interagieren. Zwei Aspekte werden hieran besonders deutlich: 1.) Das soziale Miteinander von Menschen besteht ganz wesentlich aus einem Geschehen, das wir heute mit Empathie bzw. empathischen Menschen oder Verhaltensweisen beschreiben würden. Damit meinen wir im Allgemeinen die wohltuende Eigenart von Menschen, sich in die Lage anderer hineinversetzen, ihre Situation, ihre Empfindung, ihr Handeln nachvollziehen bzw. verstehen zu können. 2.) Es tritt die fundamentale Bedeutung klar hervor, die Empathie für das gesellschaftliche Zusammenleben von Menschen zukommt; und zwar unabhängig davon, wie dieses gesellschaftliche Zusammenleben formiert ist. Besonders auffällig ist daran, dass dieser Überzeugung offenbar geschichtlich weit vor allen aufklärerischen, demokratischen, menschenrechtlichen, politisch verfassten Werten und Normierungen einer neuzeitlichen modernen Welt mit Nachdruck Gültigkeit zugesprochen wurde. Nehmen wir Empathie heute wissenschaftlich in den Blick, so haben wir es mit einem äußerst komplexen sozialen Phänomen zu tun: Empathie gehört als natürliche Disposition zum menschlichen Wesen und meint grundlegend die geistige Befähigung, sich mentale Zustände anderer Menschen, d. h. Gefühle, Gemütslagen, Erleben oder auch Intentionen, auf bestimmte Weise, d. h. denkend, fühlend, wahrnehmend und vorstellend, zu vergegenwärtigen und diese als Zustände eines anderen zu erfahren.1 Empathie sorgt also dafür, dass Menschen 1  Diese Beschreibung von Empathie darf nicht als ein definitorischer Konsens der Wissenschaftslandschaft verstanden werden. Dass dies aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist,

2

Einleitendes

bewusst aufeinander bezogen sind. Die soziale Bedeutung dieser menschlichen Befähigung kann kaum überschätzt werden: Empathie hat ihren Sitz im Gehirn. Zu den Grundbedingungen also, dass Menschen zu Empathie fähig sind, gehört ein Zusammenspiel sozial-kognitiver und sozial-emotionaler Operationen, die sich bei gesunden Menschen innerhalb der ersten fünf Lebensjahre entwickeln und fortan immer weiter ausreifen. Darunter fällt ganz basal die Unterscheidung der eigenen und der anderen Person, die Entwicklung einer Innen‑ und einer Außenperspektive auf die eigene Person sowie die Herausbildung eines Bewusstseins von sich selbst. Auf dieser Basis können Menschen anderen Menschen mentale Zustände zuschreiben, sie vorhersagen und so die inneren Prozesse anderer erkennen und verstehen. Perspektivwechsel und Rollenübernahme stellen dann bereits höhere Formen dar, ein Verhältnis zur außersubjektiven Welt, einen geistigen Zugang zum anderen Menschen und dessen Erleben zu finden. Diese Fähigkeiten, die sich schließlich zu komplexen Formen der Empathie entwickeln, sind damit nicht weniger als die geistige Grundbedingung für menschliche Identität einerseits und menschliche Sozialität andererseits. Worin aber besteht die besondere soziale Reichweite dieser Entwicklungen und mithin von Empathie? 1. Empathie stiftet spezifische soziale Umgangsformen: Zum einen ist es soziale Sensibilität, d. h. die emotionale Fähigkeit, vom Zustand eines anderen in der sozialen Umwelt berührt, ergriffen, affiziert zu werden und angemessen darauf zu reagieren. Zum anderen ist es die kognitive Fähigkeit, das Erleben anderer zu erkennen, zu verstehen und dann mitfühlend mit Geschehnissen um andere Personen umzugehen. Hieraus entsteht prosoziales Verhalten, altruistisches Handeln, kooperative Einstellungen, ja sogar moralisches Denken, Entscheiden und Handeln ist durch empathische Prozesse überhaupt erst möglich. 2. Empathie ist Qualitätsmerkmal von Beziehungsgestaltung: Gegenseitige Erfahrungen wie etwa prosoziales Engagement, Fürsorgeverhalten, Perspektivübernahme, Mitgefühl und Betroffenheit befördern die Wahrnehmung des Anderen um seiner selbst willen, die Würdigung von dessen individuellem Erleben, wertschätzende Kommunikation und konstruktives Konfliktverhalten. Empathie kann deshalb verstanden werden als ein spezifischer Modus, mit anderen in Beziehung zu sein. Sie stellt damit ein individuelles und soziales Kapital dar. Das gilt für Beziehungsgefüge und soziale Situationen auf allen Ebenen zwischenmenschlicher Interaktion: Persönliche Nahbeziehungen, soziale Beziehungsgeflechte in Gruppen sowie institutionelle, innergesellschaftliche und gesellschaftsübergreifende Strukturen.

wird im Folgenden deutlich werden. Vielmehr bildet diese Arbeitsdefinition von Empathie bereits eine summarische Form aus der Befundlage, die im ersten Hauptteil dieser Arbeit erst im Detail zu entfalten ist.

Zum Anliegen der vorliegenden Arbeit

3

Zum Anliegen der vorliegenden Arbeit In all diesen Aussagen über Empathie artikulieren sich zahlreiche Befunde, die insbesondere seit drei Jahrzehnten in einem weiten interdisziplinären Diskurs erforscht werden. Sie beschreiben, was im Detail unter Empathie verstanden werden kann, wie sie beschaffen ist und welchen sozialen Wert sie hat. Dabei geht es also primär um das Phänomen Empathie. Ein solches Vorhaben ist begrifflich wie konzeptuell verschiedenen Schwierigkeiten unterworfen. Insbesondere die Abgrenzung zu benachbarten Phänomenen wie Sympathie, Mitgefühl, Einfühlung oder Verstehen steht dabei im Vordergrund. So wird einerseits von Empathie gesprochen, wo unterschiedliche Dinge konzeptualisiert sind oder andererseits ein anderer Begriff genutzt, wo konzeptuell von derselben Sache gesprochen wird. Erschwerend kommt hinzu, dass der Terminus Empathie per se mit dem beginnenden 20. Jahrhundert überhaupt erst Einzug in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch erhält. Seither dagegen benennt der Begriff zwar präzise eine Erfahrung, die aber in Gestalt, Grad und Unmittelbarkeit stark variieren kann. So ist das Phänomen Empathie insgesamt durch eine hohe semantische und phänomenale Heterogenität gekennzeichnet, die sich durch die Pluralität der Reflexionsebenen, die Spezifik von Methoden und Theoriesprache sowie die Diversität der disziplinären Kontexte noch potenziert. Aus dieser Heterogenität gehen die verschiedenen Definitionen und Perspektiven, aber auch Dichotomien hervor, die als Kategorisierungsversuche in verschiedenen Fach‑ und Triviallexika durchaus weit verbreitet sind, etwa state-trait empathy, kalte-warme Empathie, kognitive-affektive Empathie. Das Verdienst solcher Arbeiten liegt darin, das Phänomen Empathie in seiner Beschaffenheit, in seinen Funktionen, in seinem positiven Potenzial und seinen negativen Facetten immer noch eingehender zu verstehen. Sich selbst in diesen Diskurs einzuschreiben, ist ausdrücklich nicht das Ziel dieser Arbeit.2 So wird hier nicht eine Positionierung innerhalb der Debattenlage um Definitionen oder anthropologische Grundbedingungen von Empathie angestrebt.3 Doch haben die so ausgerichteten Forschungsarbeiten für die vorliegende Arbeit eine spezifische Bedeutung: Sie werden in diachroner sowie synchroner Weise reflektiert und bilden damit die Befundgrundlage für das zentrale Vorhaben dieser Arbeit:

2  Diese Arbeit hat in überzeugender Weise geleistet etwa: Breyer, Thiemo: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, Frankfurt/M. 2015. 3 Siehe dazu etwa Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Freiburg/ München ²2016; Hackermeier, Margaretha: Einfühlung und Leiblichkeit als Voraussetzung für intersubjektive Konstitution, Hamburg 2008; Klein, Rebekka A.: Sozialität als conditio humana. Eine interdisziplinäre Untersuchung zur Sozialanthropologie in der experimentellen Ökonomik, Sozialphilosophie und Theologie, Göttingen 2010.

4

Einleitendes

Auf einer ganz anderen Ebene nämlich begegnet uns Empathie in ihrem moralischen Wert. Sie tritt auf als Bedürfnis, als Erwartung oder als Forderung und stellt uns vor die konkrete Frage: Was bedeutet es, soziale Begegnungen und Beziehungen empathisch zu gestalten? In dieser Weise wird sie vor allem thematisch in alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungssituationen, ist aber auch in wissenschaftlichen Theoriekontexten häufig implizit enthalten bzw. vorausgesetzt – die Friedensethik, die Konflikt‑ und Versöhnungsforschung, das Strafrecht oder die Erforschung internationaler Beziehungen sind nur einige wenige solcher Beispiele. Daran ist problematisch, dass die alltägliche Geläufigkeit des Begriffs und die Unmittelbarkeit der Erfahrung eine ebenso große Klarheit der moralischen Bedeutung und Reichweite von Empathie suggerieren. Tatsächlich aber hat es Empathie als Kategorie in dieser sittlichen Perspektive schwer, ihren rechten und festen Platz im menschlichen Zusammenleben zu finden. In ihrer sozialen Bedeutung evident, als Narrativ en vogue – doch zeichnen Beobachtungen und Erfahrungen in allen Sphären sozialer Interaktion häufig ein ganz anderes Bild: In persönlichen Nahbeziehungen erleben wir etwa immer wieder, wie wir selbst darauf achten, unser eigenes Verhalten mit einer empathischen Grundhaltung zu gestalten; die gleiche Erwartung haben wir an unser Gegenüber, während dieses über die Option empathischen Denkens und Verhaltens noch nie nachgedacht zu haben scheint. Oder wir selbst werden durch unsere eigene Empathie überfordert und fühlen uns dann belastet von den Problemen eines Freundes, die eigentlich nicht unsere eigenen sind. Ein anderes Mal spüren wir, dass unser Gegenüber ein Bedürfnis nach empathischer Zuwendung, Verständnis und mitfühlendem Gespräch hat und bemerken zugleich an uns selbst, wie wenig wir in diesem Moment in der Lage sind, jenem Bedürfnis einen Raum zu geben. Vor ein anderes Problem ist Empathie in professionellen, institutionellen, unternehmerischen Zusammenhängen sowie in politischen Debatten und öffentlicher Kommunikation gestellt: Dort kommt es nicht selten vor, dass erfahrene Empathie mit Entblößung oder gar Erniedrigung vor dem Anderen bezahlt werden muss. Auch kann man den Eindruck gewinnen, dass man sich Empathie auch leisten können muss: Zu ernst und zukunftsrelevant erscheint etwa die Lage bestimmter Dinge, so etwas wie empathisches Sprechen, Denken, Entscheiden dagegen als unangemessener, unrentabler oder emotionalisierter Idealismus. Empathie ist dann schlicht fehl am Platz. In eine aussichtslos marginalisierte Position gerät Empathie dagegen, wenn gesellschaftliche Strukturen oder auch Konflikte komplexer, globaler oder andauernder Natur sind. Ihre konstruktive Kraft muss sich dann oftmals den harten Fakten der Situation sowie ihrer eigenen Rollenzuweisung beugen. Kurzum: In unserer gesellschaftlichen Erfahrungswelt erreicht Empathie trotz vermeintlicher Selbstverständlichkeit einen eher diffusen Status zwischenmenschlicher Kür, eines gehobenen Extras menschlichen Miteinanders. Im konkreten Kontext persönlicher Überforderung und Pflichtenkollisionen oder aber

Zum Anliegen der vorliegenden Arbeit

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wirtschaftlicher, institutioneller oder politischer Realitäten wird sie in ihrem Potenzial zumeist nicht wahrgenommen oder sogar bewusst negiert. Die Gründe für diese marginalisierte Position sind je nach Betrachtungsebene sehr verschieden, doch führt diese als solche dazu, dass Empathie ihr Eigenrecht als sittliche Kategorie weitgehend genommen, so aber auch letztlich jenes soziale Kapital verschenkt wird. Hieran wird umso deutlicher: Eine ethische Debatte ist notwendig – wissenschaftlich wie gesellschaftlich. Stellen sich doch diverse Fragen, die eine dezidiert ethische Entfaltung von Empathie erfordern. Aus der Perspektive eines Menschen, der sich einer Leidsituation gegenübersieht, sind diese Fragen etwa: Können wir Empathie von anderen erwarten, allein weil wir ihrer bedürfen, oder belästigen wir unsere Mitmenschen mit Sorgen, die sie ohne uns eigentlich nicht hätten? Und andersherum: Lässt uns die Empathie anderer selbst noch auf eigenen Füßen stehen oder riskieren wir, sie mit Ohnmacht, Entblößung oder gar Erniedrigung vor dem Anderen zu bezahlen? Auch aus der Perspektive desjenigen, der einer leidenden Person mit Empathie entgegentritt, ließe sich fragen: Sind wir verpflichtet, mit anderen Menschen mitzufühlen, oder ist es eine gute, aber letztlich wählbare Option, sich anderen gegenüber zu verhalten? Gehört zur Befähigung zur Empathie auch die Freiheit, nicht empathisch zu sein? Spielt es eine Rolle, ob wir beim empathischen Handeln auch empathisch empfinden oder kommt es letztlich auf das bloße Handeln für den Anderen an? Wie verhält es sich dann überhaupt mit den Motiven, empathisch zu sein? Erweisen wir mit Empathie wirklich anderen einen Dienst oder sind wir eigentlich um unserer selbst willen empathisch? Jenseits dieser spezifischen Blickwinkel stellen sich schließlich ganz grundsätzlich die Fragen: Ist Empathie immer mit einer positiven Konsequenz verbunden? Oder kann sie übergriffig sein, vielleicht sogar schaden? Ist Empathie ein egoistisches Bedürfnis oder gibt es eine Art objektive Berechtigung für Empathie, die sich mit einem sozialen Erfordernis verbindet? Ist sie ein soziales Schmiermittel oder verkompliziert sie letztlich soziale Beziehungen? Ist sie ein Zweck oder ein Instrument? Und schließlich stellen sich auf metaethischer Ebene die Fragen: Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Antworten für Ethik selbst? Kann je einem Menschen vorgeschrieben werden, wie er wann zu empfinden hat? Kann etwas überhaupt zum Gegenstand von normativer Ethik gemacht werden, das im Raum des subjektiven Erlebens liegt und sich der vollständigen Beeinflussbarkeit, erst recht aber der Operationalisierbarkeit entzieht? Ist dann jemand, der sehr empathisch ist, moralisch höher qualifiziert? In diesen spezifisch auf den moralischen Wert von Empathie bezogenen Fragen artikuliert sich bereits die grundlegende Einsicht der vorliegenden Arbeit: Einer Ethik der Empathie kann es nicht genügen, normativ festzulegen, dass und dass möglichst viel Empathie aufzubringen ist. Ein solches Beispiel stellen etwa die Ausführungen von Emmanuel Levinás dar, die vollständige, selbstlose und

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aufopfernde Empathie auf dem christlichen Nächstenliebepathos begründen.4 Doch gerade angesichts diverser inhärenter Ambiguitäten, sittlicher Kollisionen und kontextueller Begrenzungen muss stattdessen differenziert ausgelotet werden, welche Rolle unter welchen Bedingungen Normen der Empathie zukommen und wie diese konkret aussehen können. Ein Entwurf nun, der systematisch und differenzierend 5 auslotet, wie Empathie als Gegenstand von Ethik gedacht werden kann, damit sie ihre positive soziale Wirkkraft entfalten kann, bildet ein Desiderat gegenwärtiger Empathieforschung und zugleich das grundlegende Anliegen der vorliegenden Arbeit. Dass dabei Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und Universalität nicht erreicht werden können, sollte nicht zum Anlass genommen werden, die grundsätzliche Möglichkeit einer Ethik der Empathie zu verneinen. Vielmehr ist diese Arbeit als eine ethische Grundlegung zu verstehen, die einen lebendigen und weiter auszudifferenzierenden Diskurs erst anregen und befördern möchte. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass der sittliche Wert von Empathie bislang in einem Vakuum zwischen diagnostizierbarer sittlicher Defizienz und ethischer Supererogation liegt. Sie zielt insofern darauf ab, jenseits der hohen suggestiven Kraft, die beiden Tendenzen innewohnt, jenen sittlichen Wert von Empathie zunächst freizulegen und einer differenzierten ethischen Bewertung zu unterziehen. Dabei soll die Kultivierung der Empathie als Grundbegriff bewussten Lebens eingeführt werden, der selbst aber schon die realistischen Grenzen und Möglichkeiten von Empathie konstitutiv berücksichtigt und schließlich daraus normative Schlüsse zieht. In diesem Vorhaben artikuliert sich auch ein spezifisches Verständnis von der Aufgabe normativer theologischer Ethik, die hier kurz zu reflektieren ist: Anders als im Falle vieler materialethischer Fragen, etwa der Sterbehilfe oder der Präimplantationsdiagnostik, in denen der ethische Diskurs angehalten ist, primär Lösungen für drängende juristische Fragen zu finden, stellt theologische Ethik hier aus einem anderen Blickwinkel die Frage nach dem guten Leben. Dabei geht es ihr ganz grundlegend um Hermeneutik und Ausdeutung von Leben und mithin um Selbstverständigungsprozesse, die sich in aller Regel auf ganz alltägliche Lebensführung beziehen.6 Dies aus spezifisch theologischer Perspektive vorzunehmen, kann fundamentaltheologisch begründet werden: Theologische 4 Vgl. Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München 1995. 5 Mit differenzierend ist spezifisch gemeint, dass diese Arbeit die verschiedenen begrifflichen, konzeptuellen und wertspezifischen Komplexitäten zur Grundlage für eine ethische Betrachtung zu nehmen beabsichtigt, sodass eine verkürzte ethische Forderungshaltung vermieden wird. 6 Ethische Arbeiten, die alltägliche Lebensführung und dabei nicht-spezifische, aber genauso dringende Notwendigkeiten wissenschaftlich in den Blick nehmen, nehmen deutlich zu. Ein besonders aktuelles Beispiel ist die 2019 erschienene Ethik der Wertschätzung von Corine Pelluchon (vgl. Pelluchon, Corine: Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt, Darmstadt 2019).

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Ethik versteht sich dann aus ihrer christlichen, exzentrischen Identität, „die ihr Dasein aus dem Vertrauen in den unendlich treuen Gott und durch die Liebe zu dem und den Nächsten zu gestalten sucht“7. Sie muss sich dabei einer ethischen Aufgabe in Freiheit und Verantwortung zugleich gegenübersehen. Diese meint einerseits eine affirmierte Grundannahme menschlichen In-Beziehung-Seins angesichts der Dialektik von Freiheit und Interdependenz und andererseits die über das reine Bekenntnis hinausgehende Anerkennung und Reflexion von Gegebenheiten und Zusammenhängen der modernen Wirklichkeit.8 Hieraus ergeben sich methodische Aufgaben, die für die vorliegende Arbeit von erheblicher Bedeutung sind: 1. Theologische Ethik ist partikular, d. h. sie setzt ein spezifisches Menschen‑ und Weltbild voraus, was den Hintergrund ihres ethischen Sprechens bildet. Zugleich ist sie nicht auf diese partikulare Sicht beschränkt. Vielmehr kann sie ihre Partikularität anerkennen und ist zugleich in der Lage, ihr Sprechen auf das Allgemeingültige auszurichten und so den partikularen Blickwinkel auszuweiten.9 Daraus resultiert die grundlegende methodische Aufgabe, theologische Gehalte so zu reformulieren, dass sie ihr Proprium produktiv in sittliche Diskurse einbringt. Zugleich muss theologische Ethik aus eigener Initiative Anschlussstellen in außertheologischen Diskursen finden, um tatsächlich ihre konstruktive Kraft einbringen zu können.10 2. Theologische Ethik findet Normen durch das weite Überlegungsgleichgewicht. Dabei strebt sie eine möglichst große Kohärenz an zwischen moralischen Urteilen, ethischen Prinzipien, Sachinformationen und individuellen und kollektiven Identitäten.11 Die Bestimmung dieser Prinzipien wirkt sich unmittelbar auf das Verständnis von Normativität aus. Normative theologische Ethik, wie sie hier verstanden wird, hebt auf eine normgebende Theoriebildung ab, die aber zudem spezifisch charakterisiert ist: Es kann in Fragen der Gestaltung guten Lebens überhaupt nur um eine Gewichtung gehen, die Perspektiven erhebt, Komplexitäten reflektiert und auslotet und Möglichkeiten exploriert. Darin kommt das grundlegende Selbstverständnis zum Ausdruck, dass Theologie und im Besonderen theologische Ethik nicht Antwortgenerator für Probleme und Fragen des Lebens sein, sondern aus ihren eigenen Grundlagen Möglichkeiten der Ausdeutung von Leben schöpfen will. Dabei muss sie oftmals auch Ambiguitäten und das Fehlen von Letztbegründungen aushalten. Dies aber kann für den Diskurs auch konstruktives Fortkommen bedeuten. Überall da, wo sie den Anspruch hat, als  7 Dabrock, Peter: Konkrete Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive, in: Roth, Michael/Held, Marcus (Hgg.): Was ist Theologische Ethik? Grundbestimmungen und Grundvorstellungen, Berlin 2018, 19–40, hier 21.  8  Diesen Aspekt nennt Dabrock Modernitätssensibilität (vgl. Dabrock, Konkrete Ethik, 22).  9  Vgl. Dabrock, Konkrete Ethik, 31. Diesen Wesenszug theologischer Ethik nennt Dabrock Transpartikularität und unterscheidet ihn begrifflich von Universalität. 10 Vgl. Dabrock, Konkrete Ethik, 27. 11  Vgl. Dabrock, Konkrete Ethik, 25 ff.

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Antwortgeber aufzutreten, läuft sie dagegen Gefahr, einen Diskurs normativ zu begrenzen, statt zu eröffnen und zu befördern. Eine solche Gewichtung spielt sich dann also innerhalb eines „normativen Korridors“12 ab, der jene Ambiguitäten aushält und nicht deren Beseitigung, sondern deren Einbettung intendiert. Ein solches Verständnis von Normativität wirkt schließlich vor allem einer verkürzten, unterkomplexen ethischen Forderung entgegen.13 In eben dieser Weise ist in der vorliegenden Arbeit zum einen theologische Ethik und zum anderen Normativität zu verstehen, wie sie sich im obigen Vorhaben artikulieren.

Zu Methodik und Aufbau der Arbeit Dieses Grundverständnis nun manifestiert sich in der methodischen Grundbewegung der Zweiteilung: Der erste Teil der Arbeit zielt darauf ab, verschiedene Zugänge zum Phänomen der Empathie zu reflektieren. Dabei wird auf einer diachronen geistesgeschichtlichen und auf einer synchronen interdisziplinären Achse die Komplexität der Empathieforschung dargestellt. Dieser Teil legt das Phänomen Empathie frei für eine ethische Begutachtung im zweiten Teil der Arbeit. Damit verfolgt der erste Teil ein hermeneutisches Ziel. Insbesondere in der interdisziplinären Auseinandersetzung mit der naturwissenschaftlichen Empathieforschung geht diese Arbeit über die übliche interdisziplinäre Weite hinaus und leistet einen Beitrag zur interdisziplinären und mithin ganzheitlichen Diskursführung. Kernanliegen des zweiten Teils ist dann, auf Basis der stabilen interdisziplinären Befundlage eine Ethik der Empathie zu entwerfen. Dabei wird es vor allem darum gehen, Empathie in ihrem ethischen Wert umfassend zu begründen und anschließend in der Tradition protestantischer Ethik zu entfalten. Damit erhält die Arbeit eine normative Zielsetzung, die zugleich ihr zweites Proprium darstellt. Empathie soll damit in ihrem Wert für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen evident werden. Diese Zielsetzung wird nun in den folgenden Schritten erarbeitet: In einem ersten Schritt wird Empathie als Gegenstand theologischer Ethik in den Blick genommen (Kapitel 1). Dabei wird zum einen aus biblisch-theologischer Perspektive das biblische Narrativ der Barmherzigkeit als theologische Schlüsselfigur für das Verständnis von Empathie deutlich. Zum anderen wird Empathie im Lichte einer Methodik reflektiert, welche in exemplarischer Weise durch die theologische Anthropologie Wolfhart Pannenbergs durchgeführt wurde. Im nächsten Schritt werden geistesgeschichtliche Zugänge vorgestellt, die sich um verschiedene Phänomene des Empathischen bemühen (Kapitel 2). Diese 12 Dabrock,

Konkrete Ethik, 33.  So auch Dabrock, Konkrete Ethik, 35.

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Zu Methodik und Aufbau der Arbeit

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Bezeichnung begründet sich durch die Tatsache, dass die betrachteten Phänomene Kernmerkmale von Empathie bilden, während dieser Ausdruck selbst aber erst jüngeren Datums ist. Konzepte von Sympathie, Verstehen, Einfühlung, Nachfühlen und Mitfühlen geben einen ersten Eindruck von der semantischen Weite, die im Ausdruck Empathie liegt. An diese Betrachtung schließt sich ein Kapitel an, das interdisziplinäre Zugänge der aktuellen Empathieforschung reflektiert (Kapitel 3). Dieser interdisziplinäre Teil bildet den Schwerpunkt des ersten Hauptteils. Dass das Fundament einer theologischen Arbeit die Reflexion interdisziplinärer Befunde bildet, ist dabei nicht selbsterklärend. In dieser Methodik drückt sich die Überzeugung aus, dass der komplexe Empathiediskurs sich konstituiert durch Perspektiven aus verschiedenen Disziplinen, die am Gegenstand Empathie disziplinspezifische Fragen behandeln und zu beantworten versuchen. Das geht, weil und nicht obwohl jede ihre eigene Methodik einsetzt, um jeweils relevante, valide und reliable Befunde zu generieren. Eine Ethik der Empathie, welche diese nicht-theologischen Befunde außer Acht lässt, muss sich die Frage gefallen lassen, welchen praktischen Nutzen sie sich selbst zuspricht. Theologische Ethik muss dagegen in einen konstruktiven Diskurs mit nicht-theologischen Perspektiven treten, um eine gesamtdiskursive Anschlussfähigkeit herzustellen und dabei selbst über den binnentheologischen Diskurs hinaus Relevanz beanspruchen zu können. Dabei muss Theologie konstitutive Befunde anderer Disziplinen würdigen, indem sie die Grenzen ihrer Binnenhermeneutik überschreitet, sich um das Verstehen jener disziplininternen Forschung bemüht und sie als sachorientierte Notwendigkeit anerkennt. Mit dieser hermeneutischen Kompetenz kommt sie dann einer ihrer eigenen disziplinären Bestimmungen nach und bringt dabei bereits jenes theologische Proprium ein, wie es oben beschrieben wurde. Für Empathie nun spielt die empirische Forschung von Psychologie und Neurowissenschaften eine besondere Rolle, insofern Empathie als Phänomen der menschlichen Psyche in diesen Disziplinen einen Heimatort hat. Empathie als Phänomen sozialen Handelns wird soziologisch reflektiert, während das Phänomen in seiner eigentümlichen Beschaffenheit klassischerweise philosophisch behandelt wird. Die Perspektiven dieser Wissenschaften sind konstitutiv für das Verstehen von Empathie und werden deshalb in diesem Teil eingehend betrachtet. Eine Auswertung der Befundlage schließt den ersten Hauptteil ab (Kapitel 4). Hier werden die bisherigen Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt resümiert, welche Konsequenzen diese für einen differenzierten Blick auf das Phänomen Empathie haben. Daran wird auch deutlich werden, welche kritischen Aspekte eine Ethik der Empathie zu berücksichtigen hat. Um nun im zweiten Hauptteil der Arbeit eine Ethik der Empathie in ihren Grundzügen zu entwerfen, ist zunächst erforderlich, Empathie in ihren strukturellen Merkmalen zu definieren, die durch die vorherigen Reflexionen begründet werden und mit Blick auf eine Ethik der Empathie relevant sind (Kapitel 2).

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In einem nächsten Schritt ist die Relevanz einer Ethik der Empathie zu begründen (Kapitel 3). Insofern die vorliegende Thematisierung von Empathie nicht ohne Weiteres an bestehende Ethikentwürfe angegliedert werden kann, muss methodisch ein anderer Weg eingeschlagen werden, um eine Empathieethik auf stabilen Grund zu stellen. Dabei kommt eine ethische Leitkategorie in den Blick, die als Referenz für den Empathiebegriff fungiert. Diese Kategorie ist der Begriff der Menschenwürde. Anhand der Entwicklung ihrer Dogmatik kann zunächst die Bedeutungserweiterung nachvollzogen werden, die Menschenwürde nicht nur als rechtlichen Grundbegriff, sondern auch als Beschreibung einer Lebensform expliziert. Hieran kann dann der Zusammenhang von Empathie und Menschenwürde entfaltet werden. Dabei werden bereits in Vorbereitung auf die Entfaltung der Empathieethik drei grundlegende Verhältnisse bestimmt, in denen der Mensch sich vorfindet und die eine Achse der ethischen Betrachtung darstellen. Daran schließt sich eine formalethische Begründung an, welche die dann folgende Ethik der Empathie als nicht-ideale Theorie ausweist (Kapitel 4). Diese Einordnung drückt die Ausrichtung ethischen Sprechens aus und bildet insofern den selbstrelativierenden Hintergrund spezifischer nicht-idealer Bedingungen. Das darauffolgende Kapitel bildet den Schwerpunkt des zweiten Hauptteils, in dem nun eine Ethik der Empathie systematisch entfaltet wird (Kapitel 5). Dabei wird Empathie in der für moderne protestantische Ethik richtungsweisenden Dreiteilung güterethischer, pflichtenethischer und tugendethischer Perspektive sowie jeweils in den drei Subjektverhältnissen aus Kapitel 3 reflektiert. Auf diese Weise entsteht ein dichtes Cluster, das die Komplexität und Differenziertheit von Empathie als Kategorie der Ethik darstellt. Der zweite Teil der Arbeit wird durch eine Auswertung und einen Ausblick abgeschlossen, der zwei Ebenen berücksichtigt: Zum einen wird noch einmal auf die gesellschaftliche Relevanz sowie Funktionen von Empathieethik einzugehen sein. Zum anderen werden Möglichkeiten theologischer und außertheologischer Forschungsperspektiven aufzeigt, die den Erwägungen dieser Arbeit nachfolgen könnten (Schluss). Mit dieser Arbeit wird eine ethische Grundlegung vorgelegt, die breite interdisziplinäre Empathieforschung rezipiert, Empathie aus einer spezifischen Hermeneutik der Menschenwürde begründet und im Horizont protestantischer Ethiktradition ganzheitlich entfaltet.

Teil I

Empathie als Phänomen menschlicher Intersubjektivität

1  Empathie als Thema der Theologie 1.1  Empathie als Barmherzigkeit. Biblische Narrationen einer Grunderfahrung Empathie ist gewiss kein genuin dogmatisches, nicht einmal ein genuin theologisches Thema. Zumindest, insofern es nicht immer schon als Kategorie der Exegese, der kirchengeschichtlichen oder der theologiegeschichtlichen Tradition zu theologischem Nachdenken gehört. Es ist die Frage berechtigt, mit welcher Motivation Empathie zum Gegenstand einer systematisch-theologischen Arbeit gemacht wird und welche Relevanz eine theologische Stimme für den Diskurs über Empathie birgt. Wenn Empathie als nicht klassisch theologische Kategorie bezeichnet wird, so artikuliert sich darin jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn was wir heute als Empathie bezeichnen, bringt eine menschliche Grunderfahrung auf einen Begriff, die gleich einer ganzen Reihe theologischer Kategorien, Themen und Diskurse in unterschiedlichen Explikationsgraden inhärent ist. Diese Grunderfahrung verflicht sich mit theologischen Topoi und so gewinnt das Phänomen erst Rolle und Funktion für theologisches Nachdenken – dogmatisch wie ethisch. Theologische Orte der Empathie sind damit nicht nur zahlreich, sondern auch ausdeutungswürdig und sollen im Folgenden dargestellt werden. Dass dazu die biblische Überlieferung herangezogen wird, hat seinen Grund freilich in der protestantischen Verpflichtung gegenüber dem reformatorischen Schriftprinzip als Grundlage theologischer Aussagen. Vor allem aber ist die biblische Überlieferung als umfassendes Zeugnis kultureller Prozesse und eben menschlicher Grunderfahrungen gefragt, das als Produkt und Anlass jahrhundertelanger Theologie die heutige (christliche) Welt in kaum zu überschätzender Weise prägt. In diesem initialen Kapitel ist dabei zumeist noch von dem Empathischen die Rede, anstatt von Empathie. Das ist nicht unbeabsichtigt – der Begriff der Empathie wird erst mit dem darauffolgenden Kapitel in seiner historischen Entwicklung und semantischen Komplexität schrittweise auszudifferenzieren sein. Hier soll es dagegen um eine erste Vermessung der Wege gehen, auf denen man sich theologisch dem Thema Empathie nähern kann. Für diese erste Betrachtung wird Empathie bzw. das Empathische vorerst als die Erfahrung des Angerührt-Seins angesichts eines personalen Anderen in dessen gegenwärtiger

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1  Empathie als Thema der Theologie

Situation verstanden. Durch jene Wortwahl also soll der phänomenalen Weite der Erfahrung Rechnung getragen und so eine mögliche begriffliche Festlegung oder Engführung vermieden werden. Empathie nun wird zumeist als eine Eigenschaft verstanden, die im Erfahrungsbereich des Menschen zu verorten ist, insofern der eine Mensch einem anderen gegenüber empathisch sein kann. Mit Blick auf die biblische Überlieferung wird Empathie aber nicht nur als menschliche Grunderfahrung thematisch, sondern als Träger des Empathischen kommt zum einen der Mensch und zum anderen Gott in Frage. Das Wesen Gottes nun mit dem Attribut der Empathie zu verbinden, verweist auf eine grundlegende Problematik: Diese Zuschreibung steht unter dem Verdacht, als Anthropomorphismus interpretiert zu werden, also als Wesensbeschreibung Gottes mithilfe anthropologischer Kategorien. Das führt unmittelbar zu mindestens zwei gedanklichen Schwierigkeiten: Erstens besteht die grundsätzliche Frage, ob sich das Wesen Gottes in menschlichen Kategorien überhaupt hinlänglich ausdrücken lässt und damit zwangsläufig eine zu starke Wesensgleichheit zum menschlichen Wesen formuliert wird. Das daran anknüpfende Problem wäre zweitens, ob die Reflexion von Empathie als Wesensmerkmal Gottes und des Menschen durch die gleiche Kategorie (wie es in diesem Kapitel geschieht) nicht ebenso anthropomorphe Konzepte einer göttlichen Empathie aufruft, sodass dann auch die Grenze zwischen Empathisch-Sein und Empathisch-Handeln unscharf wird. Folgende Ausdifferenzierung soll auf diese Schwierigkeiten Antwort geben: Aus menschlicher Perspektive das Wesen Gottes zu beschreiben, bringt grundlegend eine Form der Sprachnot mit sich. Im menschlichen Kognitionsvermögen sind unzählige Varianten analytischer Beschreibung, Kategorisierung und Konzeptbildung gegeben, mit denen sich der Mensch ein Bild von all dem machen kann, das sich in seinem Wahrnehmungshorizont befindet. Nun gehört es aus theologischer Perspektive aber auch zur menschlichen Disposition, nach eben jenem fragen zu müssen, das sich seinem Wahrnehmungshorizont entzieht, nach jenem unendlichen Gegenüber also.1 So steht der Mensch nun vor der Notwendigkeit, sich der eingeschränkten Möglichkeiten zu bedienen, die ihm zur Verfügung stehen. Das biblische Sprechen von Gott bildet dieses Dilemma ab. So wird hier stets unter der Voraussetzung der relativen Unzulänglichkeit des Redens von Gott von Gott geredet. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden das Empathische in Empathisch-Sein und Empathisch-Handeln differenziert. Im Falle des Sprechens von der Empathie Gottes sind diese beiden Formen nur begrifflich getrennt, fallen aber tatsächlich zusammen. Im Falle des 1  In dieser Einsicht kommt die Überzeugung von der Gottoffenheit zum Ausdruck, die Wolfhart Pannenberg als Begriffserweiterung von Weltoffenheit als Grundzug des menschlichen Wesens beschreibt (vgl. Pannenberg, Wolfhart: Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 1972, 5 ff.).

1.1  Empathie als Barmherzigkeit

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Menschlich-Empathischen bedarf es dieser Differenzierung dagegen sowohl begrifflich als auch phänomenal. Darin wird zumindest auf begrifflicher Ebene der Gefahr des Anthropomorphisierens entgegengewirkt. 1.1.1  Das Empathisch-Sein Gottes Das Wesen Gottes als empathisch zu beschreiben, ist gewiss nicht ohne Weiteres möglich, nimmt man sowohl den Begriff Empathie in seiner eigenen Semantik als auch die Theologie in ihrem wissenschaftlichen Anspruch ernst. Ein modernes Begriffskonzept, das gemeinhin eine menschliche Eigenschaft beschreibt, für die Beschreibung des Wesens Gottes fruchtbar zu machen, ist ein hermeneutisch-interpretatives Aufzeigen narrativer Zusammenhänge, in denen Empathie als Attribut und Wirkungsgrundlage Gottes biblisch thematisch wird.2 In einem ersten, schöpfungstheologischen Narrativ kann das Schöpfungshandeln Gottes als empathischer Akt interpretiert werden. Die christliche Lehre von der creatio ex nihilo beschreibt das Schöpfungshandeln als kontingentes, aus dem absolut freien Willen Gottes entstandenes und damit voraussetzungsloses Geschehen.3 Der in dieser Weise wirkende Gott lässt zugleich eine feste Beziehung zu seiner Schöpfung entstehen.4 In dieser Abhängigkeitsbeziehung bedarf ein dauerhaftes Fortbestehen jener geschaffenen Welt einer fortdauernden Zuwendung Gottes, der seine Schöpfung durch sein Handeln begleitet.5 Dies wird in der christlichen Theologiegeschichte als erhaltende Schöpfung (creatio continua) beschrieben.6 Der Gedanke, dass ein Fortbestehen der Welt auf die Beziehung zu Gott angewiesen bleibt, in der Gottes fortdauernde wirkende Präsenz in Form seines geschichtlichen Handelns vorausgesetzt wird, lässt theologisch den Schluss zu, dass Gottes Handeln ein empathisches Handeln ist, das sich in jener fortwährenden Teilnahme, Mitwirkung und Lenkung bekundet. Diese als Schöpfungsprämisse formulierte Wesensbeschreibung findet ihre Konkretion in einem zweiten Narrativ: der biblischen Tradition der Bezeichnung Gottes als Vater. Das Schriftzeugnis insbesondere des Neuen Testaments verwendet zur Bezeichnung Gottes und dessen Wesensumschreibung in besonders hoher Anzahl das Bild Vater. Das Konzept dieser zum nomen proprium gewordenen Metapher7 lässt sich für die Frage nach dem Merkmal der Empathie fruchtbar ausdeuten: Gott wird konzeptualisiert als liebend, sorgend, zugewandt, untrennbar und einzigartig verbunden mit seinem Gegenüber, dem 2 Zur Identifizierung des Empathischen in seinen Implikationen in der Theologie dient hier die Überblicksdogmatik von Härle, Wilfried: Dogmatik, Berlin ³2007. 3 Vgl. Härle, Dogmatik, 421. 4 Vgl. Härle, Dogmatik, 411 ff. 5  Vgl. Härle, Dogmatik, 423 f. 6  Vgl. Härle, Dogmatik, 423 f. 7  Vgl. Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011, 51.

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1  Empathie als Thema der Theologie

Kind. Biblisch zeigt in besonders exemplarischer Weise die Parabel vom verlorenen Sohn den empathischen Gehalt dieses Metaphernkonzepts narrativ auf: Der jüngere von zwei Söhnen bittet den Vater, ihm seinen Erbanteil vorzeitig auszuzahlen, zieht fort und verlebt das Geld in kurzer Zeit. In eine Hungersnot geraten, kehrt er zum Hof des Vaters zurück und bittet darum, als Tagelöhner des Vaters geduldet zu werden. Dieser aber nimmt ihn als seinen Sohn wieder auf, kleidet ihn prachtvoll ein und veranstaltet anlässlich seiner Rückkehr ein großes Fest. Die in dieser Parabel beschriebene Situation unterliegt einer besonderen Qualität, die durch eine starke Kontrastierung im Verhalten der Protagonisten gegeben ist. Die sogenannte Abschichtung von Vermögen ist in dieser Zeit ein rechtlich prinzipiell legitimer Prozess und bezeichnet die vorzeitige Auszahlung eines erbberechtigten Sohnes, der im Gegenzug auf Erbansprüche nach Verscheiden des Vaters verzichtet. Der ausgezahlte Sohn wird mit diesem Akt zugleich vom Vater sozial unabhängig. Das volle Erbrecht geht auf den verbleibenden Bruder über, der zu Lebzeiten des Vaters unter dessen Verfügungsmacht bleibt. Neben der rechtlichen Legitimität ist mit einer solchen Abschichtung jedoch durchaus eine soziale Dimension verbunden: Der vorzeitig ausgezahlte Erbteil bildet zu Lebzeiten des Vaters dessen eigenes Vermögen und damit dessen Versorgungssicherung, die sich durch eine Abschichtung erheblich reduziert. Mit der hier in der Parabel vom Sohn geforderten Abschichtung entzieht sich der jüngere Bruder also der sozialen Verantwortung für den Vater. Das aber tut er nicht etwa, weil er selbst in existenzieller Bedrängnis wäre, sondern schlicht, um entgrenzt seinem eigenen Genuss nachzukommen, um ein hier als sündig bezeichnetes Leben zu führen.8 Dieses Extrem führt lediglich in ein gegenteiliges Extrem; der jüngere Sohn fällt in eine erbärmliche Existenznot, die nicht nur in Hunger, sondern auch in anderen Abhängigkeiten, Ungeborgenheit und sogar Identitätsverlust besteht und vor allem selbst verschuldet ist.9 Die ganze Dramatik seiner Situation kulminiert schließlich in der Selbstbewertung „Ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu sein“, die deutlich macht, dass nicht einmal mehr eine reuige Bitte um Vergebung angemessen ist,10 sondern es hier nur noch um die Bewahrung vor würdelosem Tod gehen kann. Das Verhalten des Vaters nun wird ab Vers 20 zentral und beginnt mit der Information: „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn.“ Was hier den Nebensatz bildet, ist eine implizite Referenz auf die vorherige Information, dass der jüngere Sohn sich weit von seinem Zuhause und seinem Vater entfernt hat. Dies meint einerseits eine tatsächliche räumliche Distanzierung des Sohnes in unbekanntes Land hinein, verweist aber zugleich auf  8 Vgl. Landmesser, Christof: Die Rückkehr ins Leben nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 99/2002, 239–261, hier 246 f. So auch Bovon, François: Das Evangelium nach Lukas (Lk 15,1–19,27), EKK III/3, Düsseldorf 2001, 46.  9  Vgl. Landmesser, Rückkehr, 248; vgl. Bovon, Lukas III/3, 49. 10  Vgl. Landmesser, Rückkehr, 252.

1.1  Empathie als Barmherzigkeit

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der Bildebene auf die innere Distanzierung und Abkehr von Vater, Herkunft und Wertekanon in das Gebiet der Sündhaftigkeit hinein. Und eben diese Distanz ist es, in der ihn der Vater bereits wahrnimmt.11 Doch wie gestaltet sich die Reaktion des Vaters? Ein verletztes Ehrgefühl, Bestrafungswille, Triumph über ein Rechtbehalten oder einfach Enttäuschung wären erwartbare und menschlich naheliegende Reaktionsweisen auf den wiederkehrenden Sohn. Doch der Vater ist von einem anderen Affekt bestimmt – er hat Mitgefühl.12 Aus seiner Perspektive ist es ganz gleich, was schließlich den Weggang des Sohnes verursacht hat – es war ein subjektives Unwohlsein, etwa ein Gefühl der Minderwertigkeit gewesen, das den jüngeren Sohn dazu veranlasst hat, die familiäre Bindung, die Heimat, das Bekannte zu verlassen und eine für ihn als besser antizipierte Situation in der Fremde und Unabhängigkeit zu suchen. Der Blick des Vaters ist auf den Sohn in einer für diesen als leidvoll erlebte Situation gerichtet und lässt sein Herz ergriffen sein. Der Vater entscheidet, dass sein Sohn nicht wieder unter einer solchen Leidsituation stehen soll und so will er vor allem anderen die Würde des Sohnes rehabilitieren. Die Handlungen des Entgegenlaufens, Küssens, Umarmens sowie die Kleidung, das Kalb, das Fest und der Siegelring sind Symbole der Wertschätzung, der Anerkennung und des Angenommen-Seins als sein geliebtes Kind. Auf diese Weise nimmt der Vater die Situation des Verlorenseins und der Hilflosigkeit vom Sohn weg.13 Zugleich drücken sie aber die Bedingungslosigkeit14 des Vaters aus, mit der er – als Objekt der Verfehlung(!) – auf die selbst verschuldete, desaströse Situation des Sohnes reagiert. Dass er auf diese Weise seinen Sohn wiederfinden und lebendig machen kann, ist ihm allein durch sein empathisches Empfinden möglich und markiert hier gleichsam einen Akt der Neuschöpfung.15 Das Wesen Gottes als Vater also realisiert sich in dieser Parabel in jenem Mitleiden des Vaters „an der selbstverschuldeten und selbstzerstörerischen Verirrung seiner Kinder […], ein Mitleiden, aus dem die Möglichkeit der Heimkehr und damit neues Leben erwächst“. Das griechische Lexem, das diesen zentralen mitleidenden Affekt ausdrückt, der das Verhalten des Vaters ermöglicht, ist σπλαγχνίζομαι.16 An diesem Ausdruck sind über dieses Gleichnis hinaus zwei Aspekte besonders interessant: Dieses ausschließlich im Neuen Testament vorkommende Lexem findet sich insgesamt zwölf Mal bei den Synoptikern. In elf Fällen bezeichnet es ein Mitleidig-Werden Gottes bzw. Jesu, auf den – in der Natur Gottes stehend – dieser Affekt in den urchristlichen Schriften übertragen wurde. Einzige Ausnahme bildet das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, dessen Regung ebenfalls mit 11 Vgl.

Landmesser, Rückkehr, 252. Drewermann, Eugen: Das Lukas-Evangelium. Bilder erinnerter Zukunft, Bd. 2, Düsseldorf 2009, 246 ff. 13  Vgl. Drewermann, Lukas-Evangelium, 246 ff. 14  Vgl. Landmesser, Rückkehr, 253. 15 Vgl. Landmesser, Rückkehr, 256 f. 16  Feldmeier/Spieckermann, Gott, 76. 12 Vgl.

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1  Empathie als Thema der Theologie

σπλαχνίζομαι bezeichnet wird. Hier wird der Ausdruck zwar einem Menschen zugeordnet, „der [aber] an Gottes Erbarmen ‚Maß nimmt‘“17. Insgesamt kann hier also von einem exklusiven Gebrauch des Verbs zum Ausdruck einer mitfühlenden Affizierung Gottes die Rede sein. Daran schließt sich ein zweiter Aspekt an, der die Semantik der Übersetzung betrifft: Eine Möglichkeit der Übersetzung ist schlicht sich erbarmen18. Andere Möglichkeiten explizieren zudem das hinter dem Erbarmen liegende affizierende Geschehen besonders deutlich, etwa die Übersetzung es jammert jmdn.19, durch Mitleid bewegt werden20 oder auch an die Nieren gehen21. Σπλάγχνον (= urspr. Eingeweide) meint in übertragener Bedeutung Herz oder Gemüt22. Aus dieser lexikalischen Verwandtschaft lässt sich dann sogar eine Art inneres Geschehen für das göttliche Wesen ausmachen, das sich in jenem σπλαχνίζομαι artikuliert und das barmherzige Wesen Gottes beschreibt.23 Mitfühlen als Form des empathischen Affekts kann also als Wesensattribut Gottes benannt werden, das als jene Teilnahme am Leben seiner Geschöpfe im Sinne der erhaltenden Schöpfung interpretiert und damit in den weiteren Bedeutungszusammenhang von Gottes Erbarmen/Barmherzigkeit gestellt werden kann. Die Form der affektional-empathischen Regung lässt sich daneben jedoch in den Kontext eines weiteren Narrativs stellen: Empathie als Konnotat der währenden Liebe Gottes. Der spezifisch empathische Gehalt der Liebe Gottes wird in seiner ambivalenten Wesensbeschreibung des einerseits zornigen und des andererseits liebenden Gottes evident: Allein aus dieser korrespondierenden Gegensätzlichkeit wird Gottes Wesen als empathisch-einlenkend lesbar.24 So wird vor allem im Alten Testament vielfach erzählt, dass im Moment des Einlenkens ein Sinneswandel Gottes geschieht:25 Das Ansehen seiner Geschöpfe unter einer Leidsituation ruft einen mitleidenden Affekt hervor und bewirkt eine Sinnesveränderung Gottes, die in der Forschung unter dem Begriff der Reue Gottes verhandelt wird. Diese Reue über sein Handeln an der Schöpfung bewegt Gott und lässt ihn sich erbarmen. So deutet es auch Pinnock: 17 Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 3, hg. v. Balz, Horst/Schneider, Gerhard, Stuttgart ²1992, 634. 18 Bauer, Walter: Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. Aland, Kurt/Aland, Barbara, Berlin 61988, 1523. 19 So übersetzt von Luther, etwa Mt 9,36; Mt 20,34 u. a. 20 Schmoller, Alfred: Handkonkordanz zum griechischen Neuen Testament, Stuttgart 151973, 460. 21  Feldmeier/Spieckermann, Gott, 76. 22  Aland/Aland, 1523. 23 Vgl. dazu auch Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 7, hg. v. Friedrich, Gerhard, Stuttgart 1964, 553–559. 24  Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 126. 25 Vgl. Hos 11,8; Amos 7,3; Joel 2,13 f.; Jer 18,7 f. (Vgl. Maas, Wilhelm: Unveränderlichkeit Gottes. Zum Verhältnis von griechisch-philosophischer und christlicher Gotteslehre, München 1974, 167); vgl. Jes 54,7 ff. (vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 147).

1.1  Empathie als Barmherzigkeit

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Gods transcendence over the world does not prevent him from interacting with the world or from being affected by the world. […]. What we should say is that God sympathizes in his relationship with us. […]. Change occurs in the world and affects God when he becomes aware of it.26

Aus der Deutung dieser alttestamentlichen Perikopen ist ein eigener Diskurs über die Veränderlichkeit Gottes entstanden. Der Bewertung des göttlichen Sinneswandels als unmöglichem, seiner Unveränderlichkeit widersprechendem Prozess ist mit Maas entgegenzuhalten, dass sich in eben diesem Reuemoment die währende Liebe Gottes zeigt, von der er im Moment des Zornes abgewichen ist, schließlich aber, sich erbarmend, in der Liebe zur Schöpfung beständig bleibt.27 Dieses empathische Verhalten lässt sich somit als Beständigkeit von Gottes Liebe denn als Wesensveränderung verstehen.28 Vor diesem Hintergrund der Beschreibung des göttlichen Wesens als empathisch lässt sich ein dritter Narrationskontext aufzeigen: Das Schöpfungswerk Gottes per se macht deutlich, dass Gott statt einer Vernichtung29 die Rettung seiner Geschöpfe intendiert. In diesem Lichte lässt sich Gottes Heilshandeln als Realisierung seines empathischen Wesens lesen. Es ist die reformatorische (Gottes‑)Lehre, die das Wesen Gottes so deutlich vom errettenden Handeln Gottes am Menschen und damit von der Beziehung zum Menschen her bestimmt:30 Die Menschwerdung in Christus und dessen Geschichte, die im Kreuzesleiden kulminiert, das Hingeben und Leiden seiner selbst macht das bedingungslose Motiv Gottes deutlich, mit Christus die Sünde der Menschen zu sühnen und damit die gefallene Beziehung zwischen Gott und Mensch wiederherzustellen, zu versöhnen. Die in diesem Handeln stehende Liebe, Barmherzigkeit und Gnade zur Versöhnung der Beziehung mit dem Menschen,31 welcher bis dahin in seiner aussichtslosen Situation gefangen war, lassen erneut einen empathisch handelnden Gott erkennen. Das Empathische manifestiert sich dabei […] in dem einen Bild des Gekreuzigten, in dem die christliche Verkündigung den Gott erkennt, der sich mitten in diesem Leiden und Sterben als Vater und damit als die im Mitleiden den Tod und seine Handlanger überwindende Liebe definiert hat.32 26 Pinnock, Clark H. et al.: The Openness of God: A Biblical Challenge to the Traditional Understanding of God, Downers Grove 1994, 119. 27 Vgl. Maas, Unveränderlichkeit, 166. 28 Vgl. Maas, Unveränderlichkeit, 172. 29 Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 264. 30 Vgl. etwa CA 3 und Großer Katechismus Art. 2. 31  Vgl. Härle, Dogmatik, 315 ff. 32  Feldmeier/Spieckermann, Gott, 384. Es ist ein breiter Forschungsdiskurs, das Kreuzesgeschehen im Christus‑ Victor-Motiv, als Strafersatz oder humanistisch zu interpretieren. Siehe dazu: Beilby, James K./Eddy, Paul R.: The Nature of the Atonement, Westmont 2006 und Green, Joel B./Baker, Mark D.: Recovering the Scandal of the Cross. Atonement in New Testament and Contemporary Contexts, Downers Grove 2000. In allen Deutungen aber lässt sich Empathie als zentrale Deutungskategorie aufweisen.

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1  Empathie als Thema der Theologie

Soteriologisch lässt sich dies weiter spezifizieren. Im Passionsgeschehen hat Gott sich seinen Geschöpfen empathisch-liebend zugewandt. Die Ausgießung des Geistes nun, wie Paulus sie erzählt, ist weiterer empathischer Akt, der die Glaubenden vollständig zu Gottes Kindern macht, ihnen neues Leben schenkt und damit ewige Gottesbeziehung ermöglicht. Damit lässt sich Gott als Träger vollendeter Empathie deuten, die sich im gesamten Rechtfertigungswerk realisiert, Christus als Mittler, der Gottes Mitleiden dem Menschen in absoluter Form spiegelt und der Heilige Geist als Vehikel für Gottes empathisches Handeln.33 1.1.2  Empathisch-Sein und Empathisch-Handeln des Menschen Christlich-theologisch in der menschlichen Wesensbestimmung vom empathischen Menschen zu sprechen, ist ein ambivalentes Unterfangen, das sich am biblischen Zeugnis über den Menschen nachvollziehen lässt: Auf der einen Seite begründen die alttestamentlichen Schöpfungsberichte einen biblischen Anthropozentrismus,34 der dem Menschen als imago dei einen privilegierten Platz in der Gesamtschöpfung Gottes zuweist.35 Die so formulierte Gottebenbildlichkeit des Menschen besteht nun nicht etwa darin, in einem äußeren oder inneren Merkmal Gott besonders ähnlich zu sein, sondern darin, mit Gott in Beziehung zu sein, einer Beziehung, die dem Wesen Gottes als Liebe entspricht und so dem Menschen seine Bestimmung zur irdischen und eschatologischen Gemeinschaft mit Gott in Liebe verleiht.36 Neutestamentlich begründet sich dies christologisch: In Jesu Vollmacht und Stellvertretung verwirklicht sich der göttliche Wille zu jener Beziehung in Liebe konstitutiv, sodass der Mensch durch die Nachfolge Christi schließlich seiner Bestimmung nachkommen kann.37 Die Seele bzw. das Herz als das innere Zentrum des Menschen ist dabei Sitz und damit Befähigung, diesem göttlichen Willen nachzukommen.38 Wie im Bereich der Wesensbestimmung Gottes, so ist also auch hier die Wesensbeschreibung eines empathischen Menschen in den weiteren semantischen Zusammenhang des 33 In

Anlehnung an Feldmeier/Spieckermann, Gott, 227 f.; 232 f.  Als Anthropozentrismus wird in der Theologie seit dem 19. Jahrhundert die Tendenz verstanden, theologische Topoi prinzipiell „vom Menschen her“ zu denken. Das bedeutet etwa für die Anthropologie, das Wesen des Menschen als mit einer natürlichen religiösen Disposition ausgestattet zu beschreiben. So kann die gesamte christliche Theologie als anthropozentrisch bezeichnet werden, insofern ihr Kern in der Heilsgeschichte des Menschen besteht, aber sich im göttlichen Handeln begründet. Hiervon zu unterscheiden ist ein durch den Menschen selbst angemaßter Anthropozentrismus, der das Reden von Gott ausschließlich über das Reden vom Menschen ermöglicht (vgl. Krötke, Wolf: Art. Anthropozentrik, in: RGG4, Bd. 1 (1998), 530). 35 Vgl. Gen 1,26 ff. 36  Vgl. Härle, Dogmatik, 436 f. 37 Vgl. Schnelle, Udo: Neutestamentliche Anthropologie. Jesus–Paulus–Johannes, Neukirchen-Vluyn 1991, 41. 38 In der paulinischen Anthropologie findet sich auffallend häufig der Ausdruck kardίa (Herz), das als innerster Sitz affektiver, volitionaler und emotionaler Bewegungen des Menschen gesehen (vgl. Schnelle, Anthropologie, 121). 34

1.1  Empathie als Barmherzigkeit

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Liebesbegriffs in der besonders originären, fundamentalen Beziehungssituation zu Gott gestellt. Die Ambivalenz dieser Wesensbestimmung liegt andererseits in der Realität des menschlichen Sündendaseins, das sein Wesen korrumpiert und verhindert, seiner Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott in Liebe nachzukommen; jenes fundamentale Beziehungsverhältnis zu Gott und die dem Menschen verliehene Bestimmung ist damit folgenreich verwundet. Insofern nun die menschliche Bestimmung zur Liebe korrumpiert ist,39 fallen das tatsächliche EmpathischSein-Können und die prinzipielle Befähigung zur Empathie auseinander. Dies zeigt sich einerseits in der fehlenden Orientierung auf Gott, was andererseits fehlendes Empathisch-Sein dem anderen Menschen gegenüber impliziert. Der so konstitutive Teil des menschlichen empathischen Wesens oszilliert somit zwischen Befähigung und Ermangelung der geistgewirkten Liebe im Beziehungsverhältnis zu Gott. Dieser Aspekt bildet für die Dogmatik den entscheidenden Knotenpunkt aller daran anschließenden christologischen, soteriologischen und eschatologischen Theoriebildung: Erst durch diese Ambivalenz des menschlichen Wesens werden Existenz und Errettungsgeschichte durch Christus nötig, erst in der Konsequenz der Errettung wird die Neuschöpfung im Geist möglich, zu deren Kennzeichen zuvorderst wiederum Liebe gehört, sodass Gottesbeziehung bis ins Eschaton hinein möglich wird.40 Wurde bisher das Empathische ontologisch betrachtet, das Wesen Gottes in vollkommener Weise als empathisch, das menschliche Wesen zumindest seiner Bestimmung gemäß und nach errettendem Geistwirken, so stellt sich unmittelbar die Frage, wie sich menschliches Handeln in der Konsequenz der geistgewirkten Neuschöpfung in Liebe niederschlägt bzw. wie sich die Befähigung der Empathie theologisch-ethisch ausformulieren lässt. Auf diese Frage soll nun eingegangen werden: Die Qualität des Empathischen in der christlichen Ethik herauszustellen, verweist zunächst auf die Untersuchung der neutestamentlichen Explikationen moralischer Paradigmen und ethischen Verhaltens.41 Der Bedeutungsgehalt des Empathischen wird hier in unterschiedlichen Bezügen thematisch: Paulus stellt den Appell zu einer empathischen Lebensform in den Zusammenhang der Gemeinschaft der Glaubenden, die Evangelisten hingegen dezidiert in den Zusammenhang der ἀγάπη. 39 Vgl.

Härle, Dogmatik, 459; 465 f.  Vgl. Schnelle, Anthropologie, 57. 41  Bei der Verwendung der Begriffe Moral und Ethik folge ich den Definitionen von Johannes Fischer, der mit Birnbacher „Ethik […] als philosophische Reflexion auf Moral“ versteht. Demzufolge bezeichnet Moral diejenigen Werte und Einstellungen, die sich im Lebensvollzug niederschlagen. Ethik meint entsprechend den Vorgang der Reflexion dieser praktisch vorkommenden Moral (vgl. Fischer, Johannes et al.: Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart ²2008, hier: 25). 40

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1  Empathie als Thema der Theologie

Innerhalb der paulinischen Ethik nimmt dabei das Liebesgebot eine zentrale Stellung ein.42 Die Forderung, dem göttlichen Wesen zu entsprechen, ist an die Erfüllung des Gesetzes gebunden und wird von Paulus in der Annahme des Liebesgebotes konkretisiert. In seinen Briefen an die urchristlichen Gemeinden in Rom, Galatia und Korinth formuliert er die Liebe als die Höchste der Geistesgaben;43 der Geist Gottes ist der Geist der Liebe, der als Gnadengabe unter den Glaubenden die κοινωνία, die Gemeinschaft der Glaubenden stiftet. Hierfür entwirft er das Bild vom einen Leib und den vielen Gliedern. Er betont den einen gemeinsamen Ursprung aller Glieder, aus dem Leibeseinheit und Gleichrangigkeit hervorgehen und der die Glaubensgemeinschaft wesensmäßig konstituiert. In der Konsequenz dieses prinzipiellen Selbstverständnisses kann Paulus von jedem Einzelnen ein Verhalten einfordern, das jener Geistesbegabung in Liebe entspricht. Mit dieser Formulierung erhebt Paulus den Geist der Liebe zur Leitkategorie des christlichen Ethos und eines Lebens aus dem Geist.44 Die empathische Dimension besteht hier m. E. jedoch nicht etwa in den paulinischen Ausführungen zur Liebe in ihren Konkretionen in der Gemeinschaft, wie es die semantische Nähe nahelegen könnte.45 Das eigentlich Empathische an Paulus’ Ausführungen zum Geist der Liebe besteht vielmehr in jenem Selbstverständnis als κοινωνία, das er so grundlegend stark macht: Nur unter der Bedingung der Vorstellung als Glied einer einheitlichen Existenz, kann die Situation des Anderen als die eigene vorgestellt bzw. als existenziell mit der eigenen zusammenfallend wahrgenommen werden. In den Evangelien steht die Thematisierung von Empathie – anders als bei Paulus – unmittelbar im Zusammenhang mit dem Doppelgebot der Liebe.46 Unter den Synoptikern ist es Matthäus, der hier eine deutliche ethische Pointierung vornimmt: Das Evangelium prägt der thematische Schwerpunkt des Jünger­ seins, dessen vorrangiges Merkmal die Nachfolge Jesu ist. Die Nachfolge Jesu meint spezifisch, dem göttlichen Willen zu folgen, der noch vor allem anderen Barmherzigkeit ist.47 Vor diesem Hintergrund deutet Matthäus Nachfolge als Nächstenliebe aus, wie es sich im Doppelgebot der Liebe und in der Bergpredigt 42 Wolter, Michael: Die Liebe, in: Horn, Friedrich W. (Hg.): Paulus-Handbuch, Tübingen 2013, 449. 43  Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 129; vgl. Wolter, Liebe, 452. 44 Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 229 ff.; vgl. Wolter, Liebe, 450 ff. 45 Der Liebesbegriff in der paulinischen Ethik impliziert eine Form der Liebe, die in konkreter Tat und Handlung insbesondere gegenüber den Brüdern der Gemeinschaft leiblich wird. Das bedingungslose Einstehen für den Anderen unter den Bedingungen der Selbstaufgabe wird damit zum höchsten aller ethischen Prinzipien (vgl. Schrage, Wolfgang: Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 51989, 219; vgl. Löhr, Hermut: Zur Eigenart paulinischer Ethik, in: Horn, Friedrich W. (Hg.): Paulus-Handbuch, Tübingen 2013, 440–443, hier 443; vgl. Wolter, Liebe, 450 f.). 46 Vgl. Mk 12,28–31; Mt 22, 34–40; Lk 10,25–28. 47  Vgl. Schrage, Ethik, 147; vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 441.

1.1  Empathie als Barmherzigkeit

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manifestiert: Im Rahmen des Doppelgebotes wurzelt der Nächstenliebebegriff zunächst in Levitikus 19,18.34. Liebe zum Nächsten heißt dort in Ableitung aus jüdischer Tradition, die Rechte des Anderen nicht zu verletzen, d. h. im Sinne der Gebote nicht unrecht an ihm zu handeln, etwa durch Lug, Betrug, Verleumdung etc. Aus dem hellenistischen Judentum ist daneben der Begriff der φιλανϑρωπία (Menschenliebe) bekannt, der jedoch nicht unmittelbar mit dem Ausdruck des Nächsten verbunden ist. Erst Matthäus lässt beide Begriffskonzepte verschmelzen und erweitert das Konzept des Nächsten auf den Anderen an sich.48 Es folgt daraus die ethische Forderung nach einer prinzipiellen Liebe zum Anderen, die der Liebe zum Selbst und sogar zu Gott gleichwertig gegenübersteht und schließlich in der Liebe zum Feind kulminiert.49 Das Liebesgebot in dieser Bedeutung wird durch die Anordnung innerhalb der Bergpredigt besonders deutlich: Die Schlussstellung der Feindesliebe in der Reihe der Antithesen und ihre von der vorherigen Dreigliedrigkeit abweichende Form markieren diese Antithese als zusammenfassende Forderung.50 Inhaltlich konzeptualisiert Matthäus zugleich die Liebe als die bessere Gerechtigkeit des Christen und setzt im Schlussvers des Kapitels zur Liebe als bessere Gerechtigkeit einen allgemeinen Appell synonym, der an einen jeden Christen geht: „Seid ihr nun [Hervorhebung K. K.] vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“51 Die in dieser Radikalität literarisierten Ausführungen zeigen die Relevanz dessen, worum es dem Evangelisten im Kern geht: Die matthäische Ethik prägt nicht so sehr der bloße Aufruf zur Gesetzestreue, es geht vielmehr um eine innere Einstellung, eine das Wesen konstituierende Grundhaltung in Bezug auf den Anderen.52 Liebe, wie Matthäus sie zeichnet, ist „ein Verhalten des ganzen Menschen“53 – ein unbedingtes54 inneres und äußeres Grundverhältnis, das sich im modernen Sprachgebrauch durchaus im Bedeutungsfeld des Empathischen verorten lässt. Dieser Aspekt wird später in dieser Arbeit in ethischer Hinsicht noch deutlichere Relevanz gewinnen. Der Evangelist Lukas konkretisiert die so verstandene Liebe zum Nächsten im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37), das als Parabel des Empathischen bezeichnet werden kann. Diese Geschichte wird von der Frage provoziert, wer eigentlich als Nächster anzusehen sei. Die lukanische Literarisierung füllt in ihrer Erklärung das Konzept jener Liebe zum Nächsten aus: Ein Mensch 48  Vgl. Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25). EKK I/3, Zürich/Düsseldorf 1997, 279 f. 49 Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 439 ff. 50 Vgl. Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7). EKK I/1, Zürich/Braunschweig ²1989, 305 f. 51  Vgl. Luz, Matthäus 1–7, 306. 52  Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 439 ff. 53  Luz, Matthäus 1–7, 308. 54  Vgl. Luz, Matthäus 1–7, 311.

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1  Empathie als Thema der Theologie

ist auf einem Fußmarsch überfallen, ausgeraubt und entblößt liegen gelassen worden. Ein Priester und ein Levit, beide angesehenen Ranges, werden des Unglücks gewahr, gehen jedoch vorüber. In chiastischer Weise wird der diesen Ort ebenfalls passierende Samariter beschrieben: Ein Samariter, der einer den Juden verfeindeten Volksgruppe angehört und von dem per se ausschließlich Negatives erwartet wird, ist schließlich derjenige, der hilft.55 Was ist dort Entscheidendes geschehen? Das Partizip ἰδών ist zunächst klassisch mit gesehen habend zu übersetzen.56 Im Unterschied zur Folgehandlung des Vorübergehens von Priester und Levit ist es im Falle des Samariters eine Reihe reflektierter Hilfehandlungen, die seinem Sehen folgen. Es ist also der Form ἰδών ein Wahrnehmungsgeschehen inhärent, welches das einfache Sehen der den Samariter umgebenden Umwelt offenbar übersteigt. Mit dieser Wortform verknüpft sich eine weitere: Die Semantik des Verbs σπλαγχνίζομαι wurde bereits oben eingehend erläutert; das ansonsten exklusiv für Gott oder Jesus verwendete Lexem drückt hier ebenfalls ein inneres Geschehen aus, das in einer mitfühlenden Affizierung besteht und etwa mit bewegt werden oder ans Herz gehen übersetzt werden kann. In Verbindung mit dem Gebrauch von ἰδών lässt sich für den Samariter ein komplexes Geschehen formulieren, das eine kognitive und eine emotional-affektive Komponente enthält: Das aktive Sehen meint dabei ein Erkennen der Situation des Anderen, ein aufmerksames Zuwenden in der Wahrnehmung. Nur so kann sich der Samariter auch emotional berühren und ergreifen lassen und dem Impuls des Fürsorge­affektes Raum geben.57 Das Erbarmen, mit dem häufig σπλαγχνίζομαι zusammenfassend übersetzt wird, drückt sich dann im äußeren Verhalten des Samariters aus.­ Bovon macht fünf konkrete Handlungen aus, die jener Affizierung folgen:58 Er verarztet seine Wunden, bringt ihn in eine sichere Unterkunft, sorgt für seine Beherbergung, finanziert seine Verpflegung. Schließlich „[begrenzt er die] Abhängigkeit des Verwundeten [ihm] gegenüber“, indem er zusagt, noch einmal nach ihm zu sehen, wenn er seinen eigenen Belangen nachgekommen ist und ihn derweil in die Hände des Wirtes übergibt. Mit diesem äußeren Verhalten führt der Samariter das aus, was die Situation des Anderen erfordert. Die hier erzählte Nächstenliebe besteht damit erneut nicht in einem Gefühl von Liebe, sondern bedeutet mitmenschliches In-Bezug-Sein zum Anderen. Dabei wird diese Liebe als ein Modus erzählt, in dem es gelingt, über hier etwa ethnische Beschränkungen hinweg, das Verhalten dem Anderen gegenüber an dessen Situation zu bemessen und wahrzunehmen, was konkret von 55  Vgl. Bovon, François: Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51–14,35), EKK  III/2, Zürich/ Düsseldorf 1996, 88 f. 56  Vgl. Bovon, Lukas 9–14, 90. 57  Vgl. Bovon, Lukas 9–14, 90. 58  Vgl. Bovon, Lukas 9–14, 90 f.

1.1  Empathie als Barmherzigkeit

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der eigenen Mitmenschlichkeit gefordert ist.59 Liebe ermöglicht faktisch, „sich in die Situation dessen zu versetzen und mit dem zu identifizieren, der auf Hilfe angewiesen ist“60. An dieser Stelle wird dieses Verhalten so spezifisch empathisch, dass sogar das Konzept des Mitleidig-Werdens unzureichend wird, wie es Bovon u. a. beschreibt.61 Der Samariter leidet nicht gemeinsam mit ihm, indem er etwa selbst leiden würde. Er wird Teil der Situation, insofern er den Anderen in seiner Leidsituation wahrnimmt und sein eigenes Verhalten danach ausrichtet, ohne dass er sich selbst aufgibt oder sich seine eigene Situation substanziell verändern würde. Was hier Entscheidendes geschieht, ist die Entstehung eines Bezuges zwischen dem, der leidet und dem, der wahrnimmt. Dieser Zusammenhang drückt sich schließlich auch in der spezifisch lukanischen Formulierung in der Frage nach dem Nächsten aus τίς τούτων τῶν τριῶν πλησίον δοκεῖ σοι γεγονέναι τοῦ ἐμπεσόντος εἰς τοὺς λῃστάς; (Wer von diesen Dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen ist?). Es bleibt damit nicht exklusiv bei der Frage Wer ist mein Nächster?, sondern es wird viel spezifischer noch die Frage verhandelt Wem bin ich Nächster?.62 Erst diese erweiterte Perspektive stellt den empathischen Bezug63 so deutlich heraus, der sich zwischen beiden erst ergibt. Liebe in dieser Weise ermöglicht und besteht entsprechend in der empathischen, beziehungsstiftenden Wahrnehmung des Anderen, unabhängig von äußeren Gegebenheiten, vorbehaltlos und unbedingt, wie es der Ausdruck der Entsprechung Gottes meint. So wird hier noch einmal deutlich, dass diese geistgewirkte Liebe nicht eine Emotion der Liebe oder gar Begehren, die Erwartung der Gegenliebe oder Nutzenkalkül meint, sondern im Sinne der ἀγάπη64 in besonderer Nähe zum Bedeutungsgehalt des Empathischen steht. Erst in dieser empathischen ἀγάπη wird der Feind Freund, losgelöst von anderen denkbaren Nebenrechnungen.65 „Werdet mitleidig, wie euer Vater mitleidig ist“, so muss das griechische Lexem οἰκτίρμων übersetzt werden, was auch in der lukanischen Feldrede zum ethischen Grundsatz in der Entsprechung Gottes gemacht wird.66 An dieser Stelle erhält die obige Frage nach dem Nächsten noch eine weitere ethische Zuspitzung: Wird die Frage nach dem Nächsten in der Gestalt Wem bin ich Nächster? gestellt, lässt sich ein entscheidender Aspekt der Nächstenliebe generalisieren: Es ist nicht eine Gruppe besonders nahestehender Menschen, die den Kreis der  Vgl. Schrage, Ethik, 81 ff.  Schrage, Ethik, 79. 61 Vgl. Bovon, Lukas 9–14, 90. 62 Vgl. Schrage, Ethik, 79. 63  Bovon bezeichnet Nächster als „Beziehungsbegriff “, Bovon, Lukas 9–14, 92. 64  Vgl. Schrage, Ethik, 82 ff. 65  Mit dieser Interpretation des Empathiekonnotats entfällt auch das Argument, dass eine Entgrenzung des Liebesbegriffs bis hin zum Feind die Liebe zu den auch emotional Nächsten wie etwa Familie, relativiert, wie es Schrage ins Feld führt (siehe dazu Schrage, Ethik, 83). 66  Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 78. 59 60

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1  Empathie als Thema der Theologie

Nächsten einer Person bilden. Der Begriff des Nächsten bezieht sich primär auf eben diese Person selbst. Er impliziert ein Ad-hoc-Geschehen, das sich aus der gegebenen Situation des Anderen konstituiert, eine spontane Bewegung der Person auf eine andere zu, die diese Person zum Nächsten jenes Anderen macht. Ein ethischer Appell der neutestamentlichen Erzählung liegt also nicht darin, „Nächste zu ‚haben‘, sondern anderen zu Nächsten zu ‚werden‘, insbesondere Unglücklichen“67. Im ersten Petrusbrief wird der empathische Affekt des Mitleids noch einmal in einer weitergehenden spezifischen Funktion thematisch: In 1 Petr 3,8 f. ermahnt der Verfasser die gesamte Gemeinde, mitleidig und brüderlich zu sein. Gewiss ist hier nicht ausschließlich der Appell zur Bruderliebe gemeint, wie ihn Paulus ausspricht und dezidiert die Gemeinschaft der Glaubensbrüder meint. Vielmehr ist hier über die Ermahnung zur Bruderliebe hinaus die prinzipielle Ausrichtung des Christen auf einen barmherzigen Umgang mit dem Anderen angesprochen, wie es vor allem die Verbindung mit Folgevers 9 verrät.68 In Vers 8 wird der Appell ausgesprochen, mitleidig und brüderlich zu sein. Die Semantik dieser Verben meint offenkundig etwa, an der Situation des Anderen mit-zu-leiden, „am Geschick des anderen Anteil [zu] nehmen“69. Im gleichen Atemzug wird jedoch auch barmherziges (hier wieder mit griech. σπλαγχνίζομαι ausgedrückt!) Verhalten auch denjenigen gegenüber gefordert, für die eine feindliche Reaktion naheliegen würde. So wird hier zugleich eine Art Feindesliebe gefordert, die hier aber erheblich deutlicher mit Verben des Wortfeldes Mitleid ausgedrückt wird, als es mit der Liebe zum Nächsten in Verbindung gebracht wird, wie es im Rahmen der Evangelien interpretiert wurde.

1.2  Empathie als Exzentrizität. Theologische Anthropologie eines humanen Spezifikums Bleibt man hinsichtlich des biblischen Zeugnisses auf die dem Empathischen inhärente Semantik von Liebe und Barmherzigkeit verwiesen, lässt sich die Verflechtung von Theologie und dem Thema der Empathie im Blick auf die moderne theologische Anthropologie auch aus einer methodischen Perspektive aufzeigen: Was sich heute als moderne theologische Anthropologie bezeichnen lässt, begründet sich in einer Zeit erheblichen theologiegeschichtlichen Umbruchs. Wenn diese mit Troeltsch als „Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode

 Bovon, Lukas 9–14, 99.  Schrage, Ethik, 282. 69  Schrage, Ethik, 282. 67 68

1.2  Empathie als Exzentrizität

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der europäischen Kultur und Geschichte“70, mit Hirsch als „Umformungskrise“71 oder mit Koselleck als „Sattelzeit“72 bezeichnet wird, so ist eine Zeit gemeint, innerhalb derer sich auch die evangelische Theologie im Kontext sich insgesamt verändernder europäischer Geistesgeschichte in einem weitreichenden Transformationsprozess befindet73  – das Zeitalter der Aufklärung.74 Innerhalb der Theologiegeschichte ist die sogenannte anthropologische Wende75 als besonders markante, bis in die Gegenwart reichende Entwicklung zu bezeichnen, die sich mit diesem Transformationsprozess vollzieht. Drei Aspekte sind für anthropologische Fragestellungen von nachhaltigem Einfluss: (1) Kritik ist das philosophische Paradigma der Aufklärung, das die Autorität von Lehrtraditionen infrage stellt und zum Instrument des eigenständigen Verstandesgebrauchs wird. Eine kritische Aufarbeitung biblischer, dogmatischer und kirchlicher Tradition bedeutet, Glaubenswahrheiten an Vernunftwahrheiten zu messen. Durch Kritik vollzieht sich die „Ambivalenz von Ablehnung und Bewahrung“, deren Ergebnis das kritische Urteil ist. Wissen und Erkenntnis auf der Grundlage des kritischen Urteils zu gewinnen, bildet das eklektische Vorgehen jener Systemkritik.76 In Gestalt dieser Epistemologie wird der Mensch 70  Troeltsch, Ernst, zit. n. Beutel, Albrecht: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung: ein Kompendium, Göttingen 2009, 21. 71  Köpf, Ulrich: Die Theologiegeschichte der Neuzeit in der Sicht Emanuel Hirschs, in: Ringleben, Joachim (Hg.): Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewusstsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin 1991, 63–97, hier: 65. Hirschs Ausdruck Umformungskrise ist ambivalent: Einerseits bezeichnet er aufklärerische Prozesse in Wissenschafts‑ und Wirklichkeitsverständnis, die sich von der allgemeinen Aufklärungsbewegung auch in der Aufklärungstheologie niederschlagen, andererseits bezeichnet er dies als krisenhaftes Geschehen, insofern einem solchen Transformationsprozess zugleich natürlicherweise Angst und Abwehr inhärent sind und diesen zu einem nicht-linearen Prozess machen. Zudem muss sich nach Hirsch innerhalb dieser Umformung auch eine Abschwächung der inneren Verbundenheit zum christlichen Glauben mitverzeichnen lassen (vgl. Köpf, Theologiegeschichte, 68; 83). 72 Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1 A–D, Stuttgart 41992, XV. Koselleck markiert in der Einleitung seines Lexikons diejenige Zeit als Sattelzeit, in der sich Begriffsbedeutungen deutlich von ihrer „Herkunft zu unserer Präsenz wandel[n]“. Eine Synopse dieser Begriffsgeschichten zeigt den Epochenumbruch zur Neuzeit an. 73 Vgl. Köpf, Theologiegeschichte der Neuzeit, 67. 74 Beginn und Ende der Aufklärung zu markieren, ist selbstverständlich nicht hermetisch möglich und abhängig von der disziplinären Perspektive. Ich folge hier den Angaben Beutels, der das Zeitalter der Aufklärung und damit die hier gemeinte Umbruchzeit zwischen Mitte des 17. und Ausgang des 18. Jahrhunderts verortet. 75 Der Begriff der anthropologischen Wende wird in der modernen Geistesgeschichte zur Bezeichnung unterschiedlicher Entwicklungen verwendet, die in je spezifischer Weise den Menschen zum Zentrum wissenschaftlicher Betrachtung gemacht haben (vgl. Beutel, Aufklärung, 247). 76  Diese Ausführungen in vgl. Beutel, Zeitalter der Aufklärung, 21. Das gewissermaßen konkurrierende Prinzip wissenschaftlicher Intention in der Aufklärung bildet die Systembildung. Durch G. W. Leibniz, Chr. Wolff und J. H. Lamberts war ein Wissenschaftsverständnis eingeleitet worden, das bei I. Kant programmatisch wird: Es verbindet sich der Anspruch, komplexes

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1  Empathie als Thema der Theologie

zum Träger des aufklärerischen Kritikprinzips, in dem der menschliche Geist selbst als Vollzugsraum für Kritik und Urteil fungiert. Die Beobachtung Beutels, dass mit jenem Lob der Kritik den geistigen Fähigkeiten des Menschen auch zugleich die Kompetenz zur Erkenntnis der Welt attestiert wurde,77 lässt sich genau als Ausdruck dessen lesen. (2) Zur Aufklärungsbewegung insgesamt gehört auch das Programm von Religionsfreiheit und ‑mündigkeit. Dies schlägt sich nieder in der Erscheinung von Religion als Privatphänomen. So tritt neben die Gestalt von Religion als allgemeine, institutionell-normierte Form eine individuelle, persönlich-innerliche Form.78 Die Betrachtung des Menschen in einer sich so individualisierenden Form kann unbestreitbar als deutliches Kennzeichen der Moderne angesehen werden. (3) Diese Entwicklung bringt ein verändertes menschliches Selbstverständnis mit sich: Die zugeschriebene Befähigung des Geistes und die Vorstellung des sich individuell entwickelnden und entwicklungsfähigen Menschen lässt das menschliche Wesen als Zusammenspiel von Anlage und Bildung annehmen.79 Der durch das Kritikprinzip evozierte Versuch einer zeitgemäßen Aktualisierung von Traditionsgehalten und deren Bedeutung für den praktischen Lebensvollzug80 bis schließlich zur „Ethisierung des Christlichen“81 lassen sich allesamt als Konkretionen jener Annahme der Bildungsfähigkeit verstehen. Diese seit der Hochaufklärung auszumachende anthropologische Wende lässt sich insgesamt also als Entwicklung verstehen, in der der Mensch sich selbst zum Gegenstand wird: Reflexionen „neuzeitliche[r] Subjektivität“82 und das Menschsein in Anlage und Bildung bilden die zentralen Diskurse dieser Zeit. Gegenstand anthropologischer Fragen ist seither der ganzheitliche Mensch in seiner wesensmäßigen Beschaffenheit zwischen Geist, Gefühl, Kognition und  – Religiosität.83 So hat sich mit der anthropologischen Wende die Theologie in ihrer Methode, nach dem Menschen zu fragen, zu anderen Disziplinen Wissen unter einer Leitidee zu bündeln, mit dem Ziel, es vollständig und ganzheitlich zu systematisieren. Innerhalb der Aufklärung insgesamt bewegt sich die theologische Aufklärung zwischen den Formen von Systemkritik und Systembildung (vgl. Sparn, Walter: Theologische Aufklärung. Kritik oder System?, in: Beutel, A./Nooke, M. (Hgg.): Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie, Tübingen 2016, 22–41, hier: 22 f. 77  Vgl. Beutel, Zeitalter der Aufklärung, 22. Aus dieser Kompetenzzuschreibung lässt sich nach Beutel auch der sich entwickelnde Rationalismus sowie Überzeugung und Intention zu Perfektibilität des Menschen verstehen. 78 Vgl. Beutel, Zeitalter der Aufklärung, 23; vgl. Beutel, Albrecht: Art. Aufklärung, in: RGG4, Bd. 1 (1998), 929–951, hier: 947. 79  Vgl. Beutel, Zeitalter der Aufklärung, 22. 80  Vgl. Beutel, Zeitalter der Aufklärung, 22; vgl. Beutel, Art. Aufklärung, 942. 81  Beutel, Zeitalter der Aufklärung, 23. 82  Beutel, Art. Aufklärung, 947. 83  Vgl. Beutel, Art. Aufklärung, 949.

1.2  Empathie als Exzentrizität

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gewissermaßen parallelisiert, wenngleich die inhaltliche Beantwortung anthropologischer Fragen häufig noch immer zu (vermeintlich) unüberbrückbaren Oppositionen zwischen Theologie und der übrigen Wissenschaftslandschaft führt. Im 20. Jahrhundert erweitert sich das theologische Nachdenken über anthropologische Kategorien methodisch ein weiteres Mal. Hierfür ist die Herausbildung einer Denkströmung zentral, die innerhalb der Philosophie insbesondere mit den Werken Max Schelers, Helmuth Plessners und Arnold Gehlens84 verbunden ist: die Philosophische Anthropologie85. Dieser Denkansatz impliziert eine methodische Vorgehensweise, die das Wesen des Menschen in seiner ganzheitlichen, allgemeinen Verfasstheit und unter Berücksichtigung empirischer Befunde zu beschreiben versucht.86 Anthropologische Entwürfe dreier Jahrzehnte dehnen die Bedeutung dieses Denkansatzes so weit aus, dass unmittelbar der Boden für einen interdisziplinär geführten Anthropologie­ diskurs bereitet ist. Diese Entwicklung beeinflusst auch das theologische Nachdenken über den Menschen: Neben einer traditionsgestützten, rein binnentheologischen Begründung des menschlichen Wesens wird in den sechziger Jahren nun auch eine solche disziplinübergreifende Form theologischer Anthropologie entworfen. Als 84  In seiner Anthropologie Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) formuliert Max Scheler den Menschen artspezifisch als Geistwesen, das zu sich selbst in Distanz zu treten vermag. Qua Geist kommt der Mensch zu einem Selbst-, Welt‑ und Gottesbewusstsein und verhält sich als „Resonanzkörper“ zur Welt. Darin besteht die weltoffene Existenz des menschlichen Wesens. Aufgabe der Philosophischen Anthropologie ist nach Scheler, vor diesem Hintergrund anthropologisch spezifische Phänomene zu ergründen. – Zeitgleich zu Scheler veröffentlicht Helmuth Plessner sein Werk Stufen des Organischen und der Mensch (1928). Im Unterschied zu Scheler geht Plessner nicht phänomenologisch vor, sondern konzipiert eine philosophische Biologie, in der sich der Mensch im Grad der Distanzierungsfähigkeit zu seinem Leib von anderen Lebewesen maßgebend unterscheidet. Aus diesen Ausführungen resultiert der Begriff der exzentrischen Positionalität, nach welcher der Mensch gesetzt bleibt in den Grenzen seiner Leiblichkeit, zugleich aber über diese Positionalität hinausgeht, die „Korrelationsverhältnisse zwischen Organismus und Umwelt“ in dreierlei Hinsicht durchbricht: zur Außenwelt, zu seiner eigenen Innenwelt und zu seiner Mitwelt. Im Erleben der Gleichzeitigkeiten von Zentralität und der Durchbrechung auf diesen drei Ebenen besteht die menschliche Existenzaufgabe. – Zwölf Jahre später legt Arnold Gehlen einen „Neueinsatz in derselben Denkrichtung“ vor: Das Wesen des Menschen ist nach Gehlen zu verstehen als eine Antwort auf seine dispositionelle Ausstattung als biologisches Mängelwesen. Im Gegensatz zum Tier biologisch unvollständig geboren, ist der Mensch dazu gezwungen, mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Existenzbedingungen die natürlichen Mängel in Potentiale zur Lebensbewältigung zu transformieren. Diese Handlungen nennt Gehlen kulturbildend (vgl. Hampe, Michael: Art. Anthropologie, in: RGG4, Bd. 1 (1998), 521 f.; vgl. Fischer, Joachim: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München 2008, 65 ff.; 73 ff.; 77 ff.; 135; 167 ff.). 85  Die Philosophische Anthropologie als methodisch neuer Denkansatz ist terminologisch von der philosophischen Anthropologie als Teilbereich philosophischer Reflexion insgesamt zu unterscheiden (vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie, 9. 86  Vgl. Hampe, Art. Anthropologie, 521.

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1  Empathie als Thema der Theologie

dies begründender Theologe hat Wolfhart Pannenberg (1928–2014) zu gelten. In seinem umfassenden Entwurf theologischer Anthropologie87 reflektiert er zunächst jenseits dogmatischer und metaphysischer Denktradition im interdisziplinären Dialog das menschliche Wesen unter dem Gesichtspunkt seiner geschöpflichen Existenz. Als Begründung dieser über den Anthropozentrismus hinausgehenden, notwendig gewordenen methodischen Verschiebung führt Pannenberg selbst drei Entwicklungsmomente an:88 (1) Philosophisches Moment – Entwicklung vom kosmologischen zur subjektivitätstheoretischen Begründung der Wirklichkeit: Auch angesichts der physikalischen Begründung der weltlichen Wirklichkeit in der Neuzeit hat sich eine Begründung der Wirklichkeit Gottes zunehmend im Rahmen des Verhältnisses Gott-Mensch denn des Verhältnisses Gott-Welt vollzogen. Dabei wird die Wirklichkeit Gottes im Horizont menschlicher Erfahrung von Welt und Selbst betrachtet, worin Gott als notwendiger Urheber der eigenen Existenz und Handlung gedacht ist. Insofern denkt „die neuzeitliche Philosophie [Gott] vom Menschen her, nicht mehr von der Welt her“. (2) Als das theologische Moment führt er die Entwicklung zur Individualisierung der christlichen Heilsfrage an: Im Verlauf der gesamten Theologiegeschichte von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert verschiebt sich zunehmend der genuin soteriologische Fokus der christlichen Theologie. Die Frage des religiösen Heils wurde weniger auf die gesamte Menschheit, Gottes Heilswirken weniger auf die ganzheitliche Schöpfung und das Eschaton bezogen; stattdessen ist der SündeGnade-Zusammenhang mehr und mehr zum religiösen Thema des Einzelnen geworden. (3) Das sozialgeschichtliche Moment meint die Entwicklung zur Privatisierung von Religion: Die religiöse Neutralität des Staates hat Religion insbesondere in der Zeit des Pietismus zu einer Angelegenheit der persönlichen „Innerlichkeit“ gemacht und damit in einen subjektiven Privatraum gestellt, in dem sie jedoch den Status der „humanen Allgemeingültigkeit“ hat. Vor diesem Hintergrund ist auszumachen, dass die „geistige Einheit der Gesellschaft“ zunehmend nicht mehr in der christlichen Religion per se lag. Einheitsstiftendes Moment bildete vielmehr die Verhandlung von human Allgemeingültigem, d. h. die Auffassung vom Menschen in Beschaffenheit, Werten, Rechten etc. zu beschreiben, wurde aus unterschiedlichsten Perspektiven in Anspruch genommen. Damit ist die Anthropologie zum zentralen Diskursforum geworden, in dessen Rahmen auch die christliche Theologie notwendig zur Legitimierung der ihrerseits humanen Allgemeingültigkeit angehalten ist. Nur auf dieser anthropologischen Diskursbasis kann sie dann Anspruch auf Begründbarkeit und Allgemeingültigkeit ihres „Redens von Gott“ erheben. Der Diskursboden dieser 87 Wolfhart

Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983.  Das Folgende sowie wörtliche Zitate: Pannenberg, Anthropologie, 11 ff.

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1.2  Empathie als Exzentrizität

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sog. neuen Anthropologie ist ein von aller dogmatischen und metaphysischen Argumentationstradition prinzipiell (zunächst) losgelöster und geht der überdisziplinären, „verselbstständigten“ Frage nach: Was ist der Mensch? Bei der Beantwortung dieser Frage ist nach Pannenberg der Religiosität des Menschen als einer sein Wesen konstituierenden Dimension eine separate und marginalisierte Position zugewiesen worden – christliche Lehraussagen haben in der Neuzeit kaum eine Relevanz für anthropologische Aussagen. Aus dieser Abseitsposition der Theologie ergibt sich nun ihre schwierige Aufgabe: Einerseits kann es nach Pannenberg nicht zielführend sein, mit dieser Separation außertheologische Perspektiven zur Anthropologie schlicht hinzunehmen, zu adaptieren und theologische Gedanken daran anzuschließen. Andererseits aber ist ebenso nichts gewonnen, dieser Separation trotzend, sich grundsätzlich jeder außertheologischen Stimme zu verschließen und damit an ausschließlich binnentheologische Reflexionen anthropologischer Inhalte verwiesen zu sein. Vielmehr ist die Aufgabe eine „kritische Aneignung“ außertheologischer Perspektiven auf anthropologische Zusammenhänge, d. h. diese auch angesichts zu erwartender Ambiguitäten nicht-theologischer Beiträge des Diskurses „theologisch in Anspruch zu nehmen“. Das setzt für Pannenberg eine flexible Prozesshaftigkeit der anthropologischen Auffassungen und ihrer Bedingungen voraus: Eine nicht-theologische Beschreibung eines anthropologischen Phänomens wird dann „kritisch verwandelt und durch solche Verwandlung hindurch theologisch angeeignet“ und schließlich erweitert, insofern ein theologischer Gehalt daran aufgezeigt wird. Dabei erweisen die theologisch-anthropologischen Grundbegriffe Gottebenbildlichkeit und Sünde – undogmatisch konzeptualisiert als Gottesnähe und Gottesferne – zu grundlegenden Kategorien der theologischen Inanspruchnahme nicht-theologischer Befunde. Die theologischen Aspekte werden anders beschreibbar, indem der Mensch unter nicht-theologischen Perspektiven in den Blick genommen wird. Schließlich leistet aber auch der theologische Begriff zugleich einen konzeptuellen Beitrag zur Perspektivenbildung selbst. Zentrale Bedingung ist auf beiden Seiten, eine Vorläufigkeit der Ergebnisse zu wahren. Auf theologischer Seite bedeutet dies, die traditionell-dogmatische Aufladung eines Begriffs nicht bindend und vermeintlich abgeschlossen in den Diskurs einzubringen. Übergeordnetes Ziel dieser Ausrichtung ist jene oben genannte ganzheitliche Beschreibung des Menschen, in der „dem öffentlichen Bewusstsein von der Natur des Menschen [auch] seine religiöse Dimension zurück[ge]geben“ wird.89 Vor diesem Hintergrund beschreibt Pannenberg den Menschen also in seiner artspezifischen Natur, seiner Existenz als individuelles Selbst und als Teil sozialer Strukturen und kulturbildender Gemeinschaft. Als Grundlage nutzt er Befunde  Pannenberg, Anthropologie, 7.

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1  Empathie als Thema der Theologie

anderer anthropologischer Wissenschaften, etwa der Humanbiologie, der Psychologie, der Soziologie, der Geschichte und der Pädagogik und weist an den jeweiligen Aspekten des spezifisch Menschlichen religiöse Dimensionen auf. Mit dieser bisher singulär gebliebenen Arbeit zeigt Pannenberg methodisch nicht nur eine neue Anschlussfähigkeit der Theologie an andere Wissenschaftsdisziplinen auf, sondern holt zugleich alle potenziell denkbaren Kategorien und Phänomene des Anthropologischen in den Reflexionsbereich der Theologie hinein, indem er religiöse und theologische Bedeutungsgehalte an diesen Phänomenen aufzeigt. Empathie als Merkmal menschlicher Wesensbeschreibung wird dabei von Pannenberg nicht als eigenständiges Phänomen reflektiert. Ein exemplarischer Zusammenhang, in dem es jedoch thematisch wird, ist die von Pannenberg beschriebene unmittelbare „Konstitution des Ich aus der Beziehung zum Du“:90 Aus der Identitätstheorie G. H. Meads rezipiert er den Begriff der Entwicklung des eigenen Selbst als reflektiertes Bewusstsein über das eigene Ich, das durch permanentes Hineinversetzen in die Wahrnehmung des Anderen gewonnen wird.91 Diese Fähigkeit ist bei Pannenberg eine Ausprägung menschlicher Exzentrizität, als das Über-sich-selbst-Hinausgehen, wie es des Menschen Welt‑ bzw. Gottoffenheit impliziert.92 Auf diese Weise gewinnt das Phänomen der Empathie für die theologische Anthropologie spezifische Relevanz; eine eingehende Untersuchung von Empathie als Gegenstand theologischer Anthropologie aber fehlt bislang und bildet ein theologisches Forschungsdesiderat. Zwischenfazit Was hat nun also Theologie mit Empathie zu tun? Dieser Frage sollte hier in einem ersten Schritt nachgegangen werden. Mit der Differenzierung des Empathischen als Wesensmerkmal einerseits und als Handlungsparadigma andererseits wurde versucht, dem Phänomen des Empathischen im göttlichen und im menschlichen Wesen nachzugehen. Drei biblische Narrationskontexte ermöglichen auf der Seite des göttlichen Wesens einen Zugang: 1. Schöpfungstheologisch lässt sich im Begriff der creatio continua von einer fortwährenden Zuwendung Gottes an seiner Schöpfung sprechen, die auf Begleitung und Erhaltung der durch die Schöpfung entstandenen Beziehung zwischen Gott und Mensch abhebt und zu diesem erhaltenden Schöpfungshandeln einen empathischen Gott voraussetzt. 2. Das Metaphernkonzept des Vaters ruft nicht nur eine emotionale Verbindung in liebender, sorgender Zuwendung zum Kind in den Sinn, sondern stiftet auch – exemplarisch im Gleichnis vom verlorenen Sohn literarisiert – den Sinngehalt des bedingungslos annehmenden, lebendig machenden Gegenübers, der trotz selbst verschuldeter Misere und eigener Betroffenheit ganz selbstverständlich  Pannenberg, Anthropologie, 173 ff.  Pannenberg, Anthropologie, 179 ff. 92  Pannenberg, Anthropologie, 181; 230 f. 90 91

1.2  Empathie als Exzentrizität

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reagiert – aufgrund einer empathischen Affizierung. 3. Die Gestaltung der Beziehung zum Menschen, wie sie sich in allem heilsgeschichtlichen Handeln zeigt, lässt auf eine mitleidend-empathische Zuwendung Gottes im Begriff der Barmherzigkeit schließen. Insofern auf der Seite Gottes das Empathische als implizites Konzept seiner einfühlenden Mitwirkung, seiner mitleidenden Annahme, seiner Liebe und seines barmherzigen Gnadenhandelns thematisch wird, weist sich Empathie als gleichsam moderner Begriffscode auf, der in anderen herkömmlichen, aber zentralen biblischen Begriffen wie Gottes Liebe oder Barmherzigkeit konzeptuell bereits enthalten ist. Aus der Untersuchung des Empathischen auf der Seite des Menschen ist daneben zweierlei zu gewinnen: 1. Die Situation der menschlichen Existenz zwischen der Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott in Liebe einerseits und deren Korrumpierung unter der Sünde andererseits zeigt nicht nur die existenzielle Zerrissenheit, sondern auch das, woran der Mensch existenziell krankt: zum liebenden Gottes‑ und Weltverhältnis grundsätzlich befähigt, aktual aber nicht fähig zu sein. Diese Liebe ist gottebenbildliche Liebe, die – wie für das göttliche Wesen beschrieben  – empathische Barmherzigkeit meint. 2. Aufgrund dieser existenziellen Ambivalenz wird im Neuen Testament Liebe auch als zentrales normativ-ethisches Handlungsparadigma für den Menschen thematisch: Paulus formuliert geistgewirkte Liebe als das entscheidende Ethos, das die κοινωνία stiftet, in der sich ein jeder als Teil des Leibes, als Teil einer Existenz sieht und damit auf empathische Perspektive angewiesen ist. Die Evangelisten binden das Gebot der Liebe an das Doppelgebot der Liebe bzw. Feindesliebe. Liebe wird hier als ἀγάπη konzeptualisiert und meint eine besondere Form der Grundhaltung bzw. der Wahrnehmung als In-Bezug-Sein zum Anderen, was den wohl deutlichsten Konnotationsrahmen zur Empathie aufspannt. Diese Haltung wird vom Verfasser des 1. Petrusbriefes als mitleidend konkretisiert, was sich in einer brüderlichen Teilnahme am Leben des Anderen ausdrücken soll und insofern als mit-fühlend zu verstehen ist, jedoch eindeutig auf empathischen Umgang mit dem Anderen abhebt. Sind bis hierher theologische Kontexte zum Phänomen der Empathie durch eine semantische Nachbarschaft des Empathiebegriffs und biblischer Konzepte wie Liebe und Barmherzigkeit bedingt, ist es die Entwicklung der modernen theologischen Anthropologie, die durch einen spezifischen methodischen Zuschnitt alle denkbaren Phänomene des Menschlichen in den Reflexionshorizont der Theologie hineinholt. Das methodische Vorgehen der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs wurde hierfür als wegweisend vorgestellt. Das Empathische – freilich in anderer begrifflicher Fassung – kommt dabei als anthropologisches Spezifikum zum Tragen, insofern es als Form menschlicher Exzentrizität die Gottoffenheit des Menschen bezeugt. Wurde in diesem Kapitel noch das Empathische in seinem erweiterten Konnotationsspektrum in einen theologischen Kontext gestellt, so soll in einem

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1  Empathie als Thema der Theologie

nächsten Schritt eine Spezifizierung des Gegenstandes vorgenommen werden, die dem Konzept des Empathischen, wie es in der modernen Anthropologie unter dem Terminus Empathie gebraucht wird, auf die Spur zu kommen versucht.

2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen Gehen wir nun weiterhin zunächst von dem bisherigen phänomenal weit gefassten Begriff des Empathischen aus, der im vorigen Kapitel als intersubjektive Erfahrung des Angerührtseins angesichts eines Anderen in dessen Situation angenommen wurde. Wenngleich die Etablierung des Begriffs Empathie sehr jungen Datums ist (siehe dazu Kapitel 3), spielte aber jene intersubjektive Erfahrung eine bedeutende Rolle in den Weltreligionen und wurde in der Philosophie seit der Antike theoretisch zu erfassen versucht.1 Dabei reicht das begriffliche und konzeptuelle Spektrum nahezu uneinholbar weit. Für eine Darstellung geistesgeschichtlicher Zugänge zum Empathischen ist daher von besonderer Bedeutung, eine Eingrenzung des betrachteten Spektrums vorzunehmen; in einer umfassenden begriffs‑ bzw. ideengeschichtlichen Aufarbeitung von Empathie liegt indes ein lohnendes Desiderat geisteswissenschaftlicher Forschung. In dieser Arbeit soll aber der ethische Wert eines in sich hybriden und fluiden Phänomens erhoben werden. Dazu ist eine Ausdifferenzierung phänomenaler Facetten vonnöten, die in Empathie, wie wir sie heute verstehen können, liegen. Die Bedeutung der mit der Aufklärung beginnenden Theoriebildung für heutige Anthropologie wurde bereits im vorigen Kapitel eingehend erläutert. Der begrenzende Fokus der geistesgeschichtlichen Betrachtung liegt insofern auf der neuzeitlichen Theoriebildung des Empathischen, die mit der britischen Moralphilosophie beginnt und weiter die Hermeneutik, die Phänomenologie und die Philosophische Anthropologie umfasst. Das phänomenale Spektrum, das dabei in den Blick kommt, reicht von Einfühlung über Mitgefühl, Sympathie, Nachfühlen und Einsfühlung bis hin zum Verstehen. Mit diesen semantischen Kategorien sind nicht je vollständig verschiedene Phänomene beschrieben, sondern in ihnen kommt vielmehr ein spezifischer Blickwinkel auf das Empathische zum Ausdruck, der durch einen je eigenen theoretischen Kontext bedingt ist. Auf diese Weise kommt die in der Einleitung dieser Arbeit erläuterte Komplexität auf begrifflicher, konzeptueller und kontextueller Ebene zustande.

1 Siehe dazu auch die religionsgeschichtliche und philosophische Überblicksdarstellung bei von Harbou, Frederik: Empathie als Element einer rekonstruktiven Theorie der Menschenrechte, Baden-Baden 2014, 23–103.

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Das konkrete Ziel der folgenden Darstellung ist nun, die phänomenale Reichweite des Empathischen, wie sie in Theorien der neuzeitlichen Geistesgeschichte zum Ausdruck kommt, darzustellen. Dabei sollen die ausgewählten Entwürfe in ihrer inneren Geschlossenheit zu Wort kommen; zugleich sollen Reflexionsfragen durch die Darstellung orientieren: 1. In welchem theoretischen Kontext tritt die Konzeptualisierung des Empathischen in Erscheinung? 2. Mit welchem Begriff und Konzept wird das Empathische theoretisch erfasst? Diese Kategorie wird hier als Semantik des beschriebenen Phänomens bezeichnet. 3. Was geschieht genau bei dem beschriebenen Phänomen? Hier wird nach der Wirkungsweise gefragt. 4. Welchen Zweck, welche Funktionalität erfüllt das jeweilige Phänomen? 5. Welchen spezifischen Ertrag erbringt das betrachtete Phänomen für Empathie im heutigen Sinne?

2.1  Sympathy als sozialregulativer Mechanismus. Die Moralphilosophie David Humes und Adam Smiths Geistesgeschichtlicher Hintergrund für die Ausführungen David Humes (1711– 1776) zu einem dem Empathiephänomen nahen Konzept bildet der sogenannte Moral-Sense-Diskurs der britischen Moralphilosophie.2 Vor dem Hintergrund eines sich grundlegend herausbildenden eigenständigen, von Offenbarung und christlichem Glauben unabhängigen Ethikdiskurs wird in der Moral-SenseTheorie ein spezifischer moralischer Sinn formuliert, der dem Menschen naturgemäß zu eigen ist und ihn befähigt, zwischen moralisch Gutem und Schlechten zu differenzieren. Moralisches Urteil steht damit in Zusammenhang von Sinnen und Sinneserfahrung.3 Die Herausbildung eines moral sense rückt Hume nun in die Nähe nicht nur der Sinnlichkeit, sondern gar der Gefühlswelt:4 Der Denkrichtung Humes zufolge basiert moralische Differenzierung nicht auf rationalem

2 Vgl. Landweer, Hilge: David Humes Grammatik der Gefühle. Sympathy, Vergleich und Moral Sense, in: Das Achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Wolfenbüttel 1/2015, 160–175, hier: 160. 3 Vgl. Garrett, Aaron V.: Hutcheson. Leidenschaften und Moral Sense, in: Landweer, Hilge/ Renz, Ursula (Hgg.): Handbuch Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin 2012, 371–392; hier 379 ff. 4 Hilge Landweer hat zurecht darauf hingewiesen, dass es zu terminologischen Missverständnissen führen kann, die Begriffe Affekt, Emotion, Gefühl, Passion ohne weiteres synonym zu gebrauchen. Für Hume ist es durchaus üblich, von affect zu sprechen, wo in der heutigen Forschung vielmehr von Emotionen bzw. Gefühlen die Rede ist, weil sie intentional sind. Ein Affekt hingegen meint heute eher einen spontanen, starken ad-hoc Impuls. Ich folge in diesen Ausführungen Landweer in ihrer Methodik, auf den heutigen Sprachgebrauch zurückzugreifen, um konzeptuell präzise zu sein. Sind nicht zuletzt doch auch Übersetzungen des englischen in deutschen Sprachgebrauch für die Begriffskonfusion verantwortlich.

2.1  Sympathy als sozialregulativer Mechanismus

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Urteil, sondern auf Gefühl.5 In seinem Werk A Treatise of Human Nature aus dem Jahre 1739/40 konzipiert David Hume eine komplexe Emotionstheorie, innerhalb derer der Begriff sympathy einen zentralen Platz einnimmt:6 Darin differenziert Hume in Vorstellungen und Eindrücke. Die Vorstellungen sind eine schwächere, die Eindrücke eine intensivere Form von Bewusstseinsinhalten. Für den vorliegenden Zweck ist die Seite der Eindrücke maßgebend: Hier stehen sich primäre und sekundäre Eindrücke gegenüber. Primäre Eindrücke sind Sinneswahrnehmungen wie etwa Farbeindrücke, denen keine weitere Wahrnehmung vorgelagert ist. Sie entstehen aus einem natürlichen Impuls oder Instinkt, sind sinnlich-körperlich wahrnehmbar und somit unmittelbar im Bewusstsein. Tatsache und Modus ihres Auftretens entziehen sich entsprechend rationaler Nachvollziehbarkeit. Sekundär sind hingegen solche Eindrücke, die aus primären Eindrücken oder den schwächeren Vorstellungen entstehen und als komplexeres Geschehen im Bewusstsein wirken. Hierin wiederum verortet Hume alle Emotionen. Zwei Gruppen von Emotionen lassen sich differenzieren: Direkte Emotionen kommen unmittelbar durch Erlebnisse zustande. Positive Erlebnisse rufen angenehme Gefühle hervor, etwa Freude, Begehren oder Hoffnung, negative Erlebnisse bedingen entsprechend unangenehme Gefühle, etwa Trauer, Angst, Verzweiflung oder Abneigung. Indirekte Emotionen unterliegen vielschichtigen Bedingungen, sie stehen etwa in einem intersubjektiven Kontext. Solche indirekten Emotionen sind Stolz, Liebe und Hass und gruppieren sich anhand ihrer konstitutiven Komponenten: Es gibt stets ein Objekt der Emotion (Träger des Stolzes), eine Ursache (eine gute Leistung) und eine Empfindung (Lust). Unter den Ursachen einer solchen indirekten Emotion besteht wiederum die Möglichkeit einer primären bzw. einer sekundären Ursache. Die hier entscheidenden sekundären Ursachen zeichnen sich durch ihre intersubjektive Bedingtheit aus. Das heißt, die Ursache für eine solche Emotion liegt etwa in Annahmen, Ansichten und den Gefühlen des/der anderen Menschen. An dieser Stelle findet nun die sympathy ihren Platz. Was bis hierher aufgrund der weit ausdifferenzierten Verzweigung in der emotionstheoretischen Klassifikation Humes sehr spezifisch und als marginales Phänomen erscheinen mag, lässt sich unter Betrachtung von Funktionsweise und Reichweite der humeschen sympathy weiter plausibilisieren: Unter sympathy versteht Hume „that prospensity we have to receive by communication [the] inclinations and sentiments of [others], however different from, or even contrary

5 Vgl. Vitz, Rico: The Nature and Functions of Sympathy in Hume’s Philosophy, in: Russel, Paul (Hg.): The Oxford Handbook of Hume, Oxford 2016, 312–332, hier: 322. 6 Die folgenden Ausführungen in vgl. Landweer, Sympathy, 162–167 sowie in vgl. Kemp Smith, Norman: The Philosophy of David Hume. With a New Introduction by Don Garrett, Hampshire 2005, 164–168.

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

to our own“7. Wenngleich das Phänomen im Kontext seiner Emotionstheorie erörtert wird, ist sympathy nach Hume also nicht selbst eine Emotion. Vielmehr ist es ein als natürliche Disposition im menschlichen Wesen bestehendes, nonverbales Kommunikationsprinzip, durch das Emotionen anderer mitvollzogen, weil miterlebt werden.8 Sympathy ist zunächst immer dann gegeben, wenn eine Person wie eine andere fühlt, weil die andere so fühlt:9 Konkret stellt sich dieses Prinzip ein, indem etwa eine Person unter einem bestimmten Gefühl steht, dessen eine andere Person über den körperlichen Ausdruck des Empfindenden gewahr wird. In einem ersten Schritt bildet die wahrnehmende Person eine Vorstellung vom Gefühl des anderen heraus, indem Kraft und Lebhaftigkeit des eigentlich fremden Gefühls übermittelt werden. Dieser als Vorstellung existierende Gefühlszustand des anderen wird in einem zweiten Schritt in einen sekundären Eindruck (also in eine eigene Emotion!) transformiert und so im eigenen Erleben vollständig erschlossen. Dieser Transformationsprozess per se geschieht zwangsläufig und in vollem Umfang, insofern eine generelle Ähnlichkeit in der Beschaffenheit des geistigen Apparates mit Emotionen, Überzeugungen, Stimmungen und Haltungen gegeben ist. Der Grad der sympathy hängt jedoch vom Grad der Nähe und der Ähnlichkeit der jeweiligen Personen ab: Je näher also zwei Personen einander stehen bzw. je ähnlicher sie sich sind, desto leichter kommt der sympathetische Prozess zustande bzw. desto intensiver findet er seinen Niederschlag im Erleben der wahrnehmenden Person.10 Dies bildet den grundlegenden Teil des sympathetischen Prozesses. Zu unterscheiden ist dieser humesche Sympathiebegriff allerdings von einer bloßen Annahme des fremden Gefühlszustandes wie auch von einer Vorstellung, sich selbst an der Stelle des anderen zu sehen. Sympathy im Sinne Humes trägt so weit über eine bloße Vorstellung hinaus, dass die fremde Emotion in originaler Qualität empfunden wird, als ginge sie genuin vom eigenen Wesen aus.11 Ebenso wenig aber ist sympathy mit instinktiver Reaktion zu verwechseln, insofern dieser emotionsbeeinflussende Effekt der sympathy einen komplexeren Wahrnehmungsprozess durchläuft, der qua Vorstellung in einer reflektierenden Beurteilung der Ursachen und Folgen einer fremden Emotion besteht.12

 7 Hume, David: A Treatise of Human Nature, hg. v. Norton, David Fate/Norton, Mary J., New York ²2003, II, 1, 11.  8 Vgl. Landweer, Sympathy, 160 f.; vgl. Kemp Smith, David Hume, 170; vgl. Taylor, Jacqueline: Sympathy, Self and Others, in: Ainslie, Donald C./Butler, Annemarie (Hgg.): The Cambridge Companion to Hume’s Treatise, Cambridge 2015, 188–205, hier: 189.  9  Vgl. Sayre-McCord, Geoffrey: Hume and Smith on Sympathy, Approbation and Moral Judgement, in: Schliesser, Eric (Hg.): Sympathy. A History, Oxford 2015, 208–246, hier: 212. 10  Vgl. Kemp Smith, David Hume, 170; vgl. Sayre-McCord, On Sympathy, 215; vgl. Taylor, Sympathy, 189 f. 11 Vgl. Taylor, Sympathy, 189 ff. 12  Vgl. Taylor, Sympathy, 192.

2.1  Sympathy als sozialregulativer Mechanismus

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So ist nach Hume sympathy also zunächst als ein natürlicher „Mechanismus“13 zu bezeichnen, bei dem die Gefühle eines anderen für die Entstehung eigener Gefühle ursächlich sind. Dieser natürliche Mechanismus, von dem Hume selbst sagt „[that n]o quality of human nature is more remarkable, both in itself and in its consequences, than that propensity we have to sympathize with others […]“14, hat nun zwei entscheidende Funktionen:15 1. Sympathy ermöglicht Handeln, das wir heute prosozial nennen würden; die Gefühle des jeweils anderen und damit sich gegenseitig zu verstehen, wird dann zur Grundlage des Verhaltens innerhalb einer sozialen Gemeinschaft. Unter der sogenannten first sympathy differenziert Hume einen eingeschränkten (limited), d. h. sich ausschließlich auf den Moment beziehenden sympathetischen Prozess einerseits und einen umfassenden (extensiven) Prozess andererseits, der auch das über den Moment hinausgehende, zukünftig zu erwartende Ergehen antizipiert. 2. Der oben beschriebene Sympathieprozess endet nicht mit der Transformation der Vorstellung in eine eigene Emotion, sondern setzt sich reziprok fort: Das sympathisierte Gefühl geht in verstärkter Form wiederum auf den eigentlichen Träger des Gefühls zurück, insofern dieser seinerseits mit dem ursprünglich eigenen Gefühl sympathetisch umgeht. Es entsteht eine Angleichung der Gefühle im Sinne einer Verhältnisbestimmung von Gefühl und Situation, die eine „angemessene Emotion“16 entstehen lässt. Die von diesem Mechanismus ausgehende zweite Funktion besteht demnach in einem doppelten Regulierungseffekt: Einerseits ergibt sich eine soziale Regulierung, insofern ein soziales Maß angemessener Emotionen austariert wird. Andererseits entsteht eine subjektive Regulierung, die ein subjektives Maß angemessener Emotion herausbildet, also eine Art

13 Landweer, Sympathy, 166. Die Kategorie (1) des Mechanismus als Bezeichnung für sympathy nutzt auch Rico Vitz in seinen Erläuterungen zur Natur der sympathy bei Hume. Daneben stellt er jedoch auch die Zuordnungen (2) sympathy als „sympathetic conversion“ sowie (3) das „sentiment of sympathy“, sodass er von einem dreigliedrigen Begriffskonzept der sympathy bei Hume sprechen kann. Dem ist jedoch hinzuzufügen, dass es sich nur vermeintlich um drei Rollen eines Phänomens handelt: Hume kategorisiert grundlegend sympathy im Kontext seiner Emotionsklassifikation. In ihrer Wirkungsweise aber ist sie als den eigentlichen Emotionen übergeordnet anzusehen, insofern sympathy selbst andere Emotionen zum Gegenstand haben kann. Insofern ist sie ausschließlich ein emotionsbezogener Mechanismus, deren Wirkungsweise schlicht eine sympathetische Konversion einschließt. Die drei hier aufgemachten Dimensionen fallen also in eins. Vgl. so auch bei Taylor, Sympathy, 189 sowie Kemp Smith, David Hume, 169 f. 14 THN, II, 1, 11. 15  In der Literatur werden unterschiedliche Funktionsdifferenzierungen eröffnet. Rico Vitz, Sympathy, 320 ff. unterscheidet fünf verschiedene Funktionen, von denen drei einen breiteren Stellenwert in der Humeforschung einnehmen. Die dritte von Vitz genannte kann aufgrund ihrer Ähnlichkeit als Spielart der zweiten gesehen werden, sodass zwei Funktionen hier wiederum zu nennen sind. Diese so auch bei Sayre-McCord, On Sympathy, 210; vgl. Taylor, Sympathy, 202 f. und in Teilen bei Landweer, Sympathy, 167. 16  Landweer, Sympathy, 166 f.

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Selbstbeherrschungseffekt nach sich zieht.17 Damit ist sympathy bei Hume ein übergeordnetes Gefühlsphänomen, das konstitutiver Teil des Emotionsapparates ist, insofern demnach emotionale Abläufe von diesem intersubjektiven Emotionsmechanismus abhängen.18 Und insofern Emotionalität damit zu einer intersubjektiven Angelegenheit wird,19 hat sympathy einen sozial-regulativen Charakter. Rückgebunden an den moraltheoretischen Kontext kann sympathy als Quelle für die veredelte moralische Beurteilung von Handlungen und Charakteren gelten, welche abgeleitet werden von denjenigen Gefühlen, die durch das Prinzip der sympathy entstehen.20 Damit drückt der humesche SympathyBegriff eine Regulation und Formung moralischer Identität aus,21 die sich aber innerhalb eines automatischen Mechanismus ausformt und nicht etwa intentional in Form einer ethischen Handlungsmaxime herausgebildet wird. Der beschriebenen Funktionalität nach zum gleichen Typus gehört auch der Entwurf Adam Smiths (1723–1790). Ebenfalls unter dem Terminus sympathy beschreibt Smith in seinem Werk The Theory of Moral Sentiments (1759) eine natürliche, grundlegend altruistisch ausgerichtete Disposition im menschlichen Wesen, die erstens den Wunsch begründet, sowohl an der Situation des Anderen Anteil zu nehmen als auch zum Objekt solcher entgegengebrachten Anteilnahme zu werden22 und diesem Wunsch entsprechend zweitens zum prinzipiellen Mitfühlen-Können mit wiederum allen denkbaren Affekten einer anderen Person befähigt.23 Anders als bei Hume ist diese Anteilnahme nicht in der Weise des unmittelbaren Mit-Erlebens fremder Affektzustände konzeptualisiert, insofern weder das originale Gefühl selbst noch dessen Qualität zu empfinden möglich ist: Though our brother is upon the rack, as long as we ourselves are at our ease, our senses will never inform us of what he suffers. They never did, and never can, carry us beyond our own person, and it is by the imagination only that we can form any conception of what are his sensations. Neither can that faculty help us to this any other way, but by representing to us what would be our own, if we were in his case. It is the impressions of our own senses only, not those of his, which our imaginations copy. By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the same torments, we enter as it were into his body, and become in the same measure the same person with him, and 17 In

Anlehnung an die Beobachtungen Landweers, Sympathy, 167.  Vgl. Landweer, Sympathy, 167. 19 So auch Landweer, Sympathy, 166. 20 Vgl. Vitz, Sympathy, 322 f. sowie vgl. Kemp Smith, David Hume, 174. 21 Vgl. Taylor, Sympathy, 189. 22  Vgl. Andree, Georg Johannes: Sympathie und Unparteilichkeit. Adam Smiths System der natürlichen Moralität, Paderborn 2003, 36 ff. 23  Vgl. Rühl, Ulli F. H.: Moralischer Sinn und Sympathie. Der Denkweg der schottischen Aufklärung in der Moral‑ und Rechtsphilosophie, Paderborn 2005, 177; vgl. Broadie, Alexander: Sympathy and the Impartial Spectator, in: Haakonssen, Knud (Hg.): The Cambridge Companion to Adam Smith, Cambridge 2006, 158–188, hier: 164. 18

2.1  Sympathy als sozialregulativer Mechanismus

41

thence form some idea of his sensations, and even feel something which, though weaker in degree, is not altogether unlike them.24

Jene Anteilnahme kann bei Smith also ausschließlich über eine wahrnehmende Konfrontation mit der Situation des Anderen, nicht mit dessen Affekt, funktionieren, bei der die eigene Phantasie eine Vorstellung hervorbringt, wie man sich fühlen würde, wenn man selbst in eben dieser Situation wäre.25 Durch diese imaginative Projektion kann sich eine Person in eine andere hineinversetzen: Ein Hineinversetzen meint dabei jedoch weder nur eine Vorstellung von der betreffenden Person und ihrem Gefühl unter deren Situation, noch die von der eigenen Person unter schlicht den Situationsbedingungen der anderen, sondern die von der eigenen Person in der gesamten fremden Person, Rolle und Situation.26 Der hier stattfindende Prozess ist der sympathetische Prozess, ist ganz eigentlich Sympathie. Das durch diesen sympathetischen Prozess beim Sympathisierenden entstehende Gefühl ist dann aber ein vom Gefühl des Empfindenden verschiedenes – dem Grade nach oder aber gänzlich der Art nach. Insofern nämlich das sympathetische Gefühl aus der Betrachtung der Situation und nicht des originalen Gefühls resultiert, ist es schließlich ein dem sympathetischen Prozess entsprechendes Gefühl, nicht eines, das dem originalen Gefühl selbst entspricht. So ist es für die zuschauende Person möglich, sympathetische Gefühle zu haben, ohne aber das Gefühl des Betroffenen zu teilen:27 In every passion of which the mind of man is susceptible, the emotions of the by-stander always correspond to what, by bringing the case home to himself, he imagines should be the sentiments of the sufferer. [E. g.] Pity and compassion are words appropriated to signify our fellow-feeling with the sorrow of others. Sympathy, though its meaning was, perhaps, originally the same, may now, however, without much impropriety, be made use of to denote our fellow-feeling with any passion whatever.28 (Kursiv.: K. K.)

Trotz dieser Unterscheidung in Semantik und Wirkungsweise der Sympathie ist bei Smith die Nähe zur funktionalen Bestimmung der sympathetischen Disposition bei Hume deutlich erkennbar: Die Sympathiefähigkeit des Menschen gilt Smith nicht etwa schlicht als Motiv moralischen Handelns,29 sondern als Quelle moralischer Urteilsfähigkeit. Die moralische Beurteilung fremder Affekte bzw. fremden Verhaltens ist für Smith unmittelbar gebunden an die Begriffe Billigung und Missbilligung; jene moralische Beurteilung wird also vollzogen, indem Affekte/Verhalten gebilligt, also als gut, tugendhaft, angemessen, bei Smith 24 Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments. The Glasgow Edition of Works and Correspondence of Adam Smith, hg. v. Raphael, D. D./Macfie, A. L., Indianapolis 1982, I.i.1.2. 25 Vgl. TMS I.i.1.10; vgl. Andree, Sympathie, 39. 26  Vgl. Sayre-McCord, On Sympathy, 217; vgl. Broadie, Sympathy, 163. 27  Vgl. Broadie, Sympathy, 166 ff. 28 TMS, I.i.1.4 f. 29  Vgl. Broadie, Sympathy, 165.

42

2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

selbst als schicklich oder missbilligt, also als schlecht, lasterhaft, unangemessen, hier: unschicklich bewertet werden. Als Beurteilungsgrundlage dient bei Smith nicht eine theoretisch ableitbare oder durch rationale Abwägung zu findende Maßgabe, sondern gründet in eben jener dispositionellen Fähigkeit der Sympathie:30 Durch die Grundfähigkeit zu imaginierter Projektion der Situation des Anderen auf die eigene Person ergibt sich ein Abgleich eigener Affektregungen mit denen des Anderen. Stimmen diese überein, beurteilt die wahrnehmende Person billigend Affekt/Verhalten der anderen Person, divergieren jene Affekte, wird die zu beurteilende Person in Affekt/Verhalten entsprechend missbilligt.31 Dieses sympathetisch gewonnene und über Billigung/Missbilligung ausgedrückte moralische Urteil über Schicklichkeit bzw. Unschicklichkeit von Affekt oder Verhalten eines Anderen bildet ein Prinzip sozialer Regulation, insofern es erstens die unmittelbare Situation regulativ gestaltet und sich dadurch zweitens übergeordnet ein allgemeines System sittlicher Gesetze aufbaut.32 Die komplementäre Seite dieses Regulationspotenzials in Smiths Sympathiebegriff wird dabei deutlich, wenn der Blick auf die zu beurteilende Person gerichtet wird: Einerseits hält Smith fest, dass der affektive Zustand einer Person nicht in seiner originalen Qualität von der wahrnehmenden Person empfunden werden kann,33 andererseits ist gerade eine Übereinstimmung der Empfindungen beider Personen Voraussetzung für ein billigendes moralisches Urteil. Im Wissen um diese Problematik greift der zu Beurteilende seinerseits in den sympathetischen Prozess ein, indem er die eigene Gemütsbewegung so reguliert, dass ein sympathetisches Annähern seitens des Wahrnehmenden möglich ist.34 Diese Denkfigur ist aus den Ausführungen Humes bereits bekannt; eine hiermit verschränkte, über Hume aber hinausgehende Zuspitzung bezüglich der sozialen Regulationskraft der Sympathie lässt sich besonders exemplarisch anhand der von Smith formulierten bedingten Sympathie (conditional sympathy) verdeutlichen: A stranger passes by us in the street with all the marks of the deepest affliction; and we are immediately told that he has just received the news the death of his father. It is possible 30 Vgl.

TMS I.i.3.9. TMS I.i.3.1 f.; vgl. Andree, Sympathie, 45 ff.; vgl. Sayre-McCord, On Sympathy, 229. 32 Vgl. Andree, Sympathie, 74. 33 Vgl. Andree, Sympathie, 39. 34 Vgl. TMS I.i.4.7; vgl. Andree, Sympathie, 55; vgl. Rühl, Moralischer Sinn, 182; vgl. SayreMcCord, On Sympathy, 231 f. Es soll an dieser Stelle nicht übergangen werden, dass diese Generierung moralischen Urteils bei Smith verschiedenen Dimensionen unterliegt, die diesen Prozess beeinflussen. So sind etwa Art und Grad des Sympathisierens sowie Ausrichtung und tatsächliche Bedingungen sympathetischer Gefühle abhängig von der Kategorie, der ein Affekt zugehörig ist, welche bei Smith nach körperlichen sowie unterschiedlichen psychischen Affekten klassifiziert sind. Hieraus kann Smith dann auch entscheidende handlungstheoretische Annahmen des menschlichen Sozialverhaltens ableiten. Für eine prägnante und zugleich übersichtliche Darstellung dieser Zusammenhänge sei auf die Ausführungen von Andree, Sympathie, 59 ff. verwiesen. 31 Vgl.

2.1  Sympathy als sozialregulativer Mechanismus

43

that, in the case, we should not approve of his grief. Yet it may often happen, without any defect on humanity on our part, that, so far from entering into the violence of his sorrow, we should scarce conceive the first movements of concern upon his account. Both he and his father, perhaps, are entirely unknown to us, or we happen to be employed about other things, and do not take time to picture out in our imagination the different circumstances of distress which must occur to him. We have learned, however, from experience that such a misfortune naturally excites such a degree of sorrow, and we know that if we took time to consider his situation, fully and in all its parts, we should, without doubt, most sincerely sympathize with him. It is upon the consciousness of this conditional sympathy, that our approbation of his sorrow is founded, even in those cases in which that sympathy does not actually take place […].35

Situative Bedingungen wie etwa fehlende Zeit, Lust, Aufmerksamkeit o. Ä. können dazu führen, dass ein sympathetisches Gefühl nicht unmittelbar zustande kommt. Dies führt jedoch nicht dazu, dass ein sympathetischer Prozess und darüber gewonnenes moralisches Urteil ausbleiben müsste. Vielmehr kann der Sympathisierende in diesem Fall auf frühere Erfahrung zurückgreifen und Affekte/Verhalten des Anderen billigen oder missbilligen, weil er weiß, wie sich die eigene Sympathie erfahrungsgemäß gestaltet.36 Der Sympathieprozess selbst und damit das sozial-regulative Potenzial der Sympathie wird bei Smith also noch über den spontanen, unausweichlichen Mechanismus (vgl. Hume) hinaus komplexer konzeptualisiert: Der Sympathisierende kann bewusst und intentional auf den Sympathieprozess einwirken, sodass dieser sich schließlich aus der natürlichen Disposition zur Sympathie einerseits und aus kognitiv-reflektierenden Anteilen andererseits konstituiert.37 Sympathie in dieser Gestalt wird erst bei Smith so deutlich als Prinzip sowie Bedingung der Möglichkeit harmonischen sozialen Miteinanders in der Gesellschaft formuliert. Unter Rückbezug auf die Natürlichkeit der Disposition zur Sympathie kann Smith schließlich sogar jenes Bemühen auf beiden Seiten als ebenso natürliches Streben des Menschen zur sozialen Harmonie bezeichnen.38 Insofern Smiths Konzept der sympathy nicht ein bloßes Phänomen der menschlichen Natur ist, sondern als das dispositionelle Grundprinzip menschlicher Handlungsmotivation in Stellung gebracht wird,39 bildet es für Smiths moraltheoretische Überlegungen das Grundprinzip aller durch den Menschen hervorgebrachten Dimensionen von Moralität. So ist neben dem moralischen Urteil über Schicklichkeit und Unschicklichkeit auch das über Verdienst/Missverdienst bzw. über Dankbarkeit/Vergeltung aus der menschlichen Sympathiefähigkeit 35 TMS

I.i.3.4.  Vgl. Andree, Sympathie, 47; vgl. Rühl, Moralischer Sinn, 179 f.; vgl. Sayre-McCord, On Sympathy, 230. 37  Vgl. Andree, Sympathie, 76 f. 38  Vgl. TMS I.i.4.7 f.; vgl. Andree, Sympathie, 56 f.; vgl. Rühl, Moralischer Sinn, 180; vgl. SayreMcCord, On Sympathy, 210. 39  Vgl. Rühl, Moralischer Sinn, 170. 36

44

2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

unmittelbar generierbar.40 Die weitere Bedeutung der hier beschriebenen Funktionalität der Sympathie für die Ökonomie‑ und Staatstheorie Smiths ist entsprechend kaum zu überschätzen.

2.2  Verstehen als empathische Transposition. Die Hermeneutik Friedrich Schleiermachers und Wilhelm Diltheys Der zweite Typus, der als Theoriezugang zu Empathie hier einbezogen werden soll, lässt sich unter anderen Vorzeichen formulieren als der erste: Wird der Zugang zu Empathie in neuzeitlichen Konzeptionen der Hermeneutik gefunden, so ist damit freilich kein eigener Typus von Theorien des Empathischen benannt; intendiert doch die Hermeneutik nicht, eine Theorie des Empathischen, sondern eine der Interpretation. Doch ist mit dem Verstehensphänomen, welches in der neuzeitlichen Hermeneutik in den Fokus rückt, ein Moment gegeben, um dessen theoretische Konzeptionen einerseits das Empathische von erheblicher Bedeutung ist und andererseits dem Empathischen vice versa nachhaltig die Dimension des Verstehens zugetragen wird. Die Nähe des Empathischen zur Hermeneutik, die diesen zweiten Typus legitimiert, nimmt ihren Anfang mit dem Grundanliegen der Hermeneutik, in einer Rede eine hermeneutische Wahrheit aufzufinden. Dieses Auffinden der hermeneutischen Wahrheit meint das Verstehen des kompositorischen Prozesses eines Verfassers, womit sich in Verfasser einerseits und Analytiker andererseits grundlegend zwei Gegenüber eines Verstehensprozesses formulieren lassen.41 Jene Nähe lässt sich weiter nachzeichnen, wenn der Blick im Folgenden auf zwei hermeneutische Positionen gerichtet wird, in deren Beschreibung des Verstehensprozesses sich implizit Empathisches konzeptualisiert. Es ist Friedrich Schleiermacher, der im Kontext des Bemühens um eine systematische Form eines allgemein-hermeneutischen Regelwerks grundlegend formuliert: „Hermeneutik [ist] die Kunst, sich in den Besitz aller Bedingungen des Verstehens zu setzen“42. Konkret liegt dieser Definition die Annahme zugrunde, dass „jeder Akt des Verstehens […] die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewusstsein kommen muss, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen“43. Ganz entsprechend kann er die Aufgabe der Hermeneutik darin erkennen, „aus der Sprache […] den bestimmten Sinn einer gewissen 40 Für

weitere Ausführungen siehe Andree, Sympathie, 77 ff.  Vgl. Grondin, Jean: Einführung in die Philosophische Hermeneutik, Darmstadt ²2001, 80. 42 Schleiermacher, zit. n. Rohls, Jan: Schleiermachers Hermeneutik, in: Arndt, Andreas/Dierken, Jörg (Hgg.): Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven, Berlin 2016, 27–56, hier: 30. 43  Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik, nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Heinz Kimmerle, Heidelberg ²1974, 76. 41

2.2  Verstehen als empathische Transposition

45

Rede zu finden“44. Dieses Verstehen von Sinn aus der Sprache geschieht bei Schleiermacher durch zwei Komponenten der hermeneutischen Interpretation, insofern jede Rede in zweifacher Weise Ausdruck ist:45 Alle Rede ist erstens überindividueller Ausdruck, der den sprachlichen Konventionen einer Sprechergemeinschaft folgt. In dieser Weise ist Rede ein Produkt aus Sprache. Die hiermit verbundene hermeneutische Aufgabe ist, diesen Ausdruck aus dem Kontext des Sprachgebrauchs zu verstehen und zu erklären. Für diese grammatische Interpretation46 bedarf es dem Sprachgebrauch der Gemeinschaft entsprechender Sprachkompetenz. Rede ist aber zweitens zugleich individueller Ausdruck, insofern sie sprachliche Konkretion und Produkt des Inneren eines Individuums ist.47 Diese Interpretationsseite, die Schleiermacher zunächst als technische, später als psychologische Interpretation bezeichnet, erfordert ein Gespür für den Menschen, um Rede als aus einer individuellen Seele hervorgehend zu verstehen.48 Der Prozess dieser Interpretation beinhaltet im Einzelnen, sowohl die Komposition als auch die der konkreten Komposition vorausgehende impulshafte Meditation zu erschließen:49 „Den Menschen nachzuconstruiren und aus seinen Aeußerungen zu wissen, wie ihm zu Muth ist […]“50 meint eine vollständige Rekonstruktion der individuellen gedanklichen, affektionalen und geschichtlichen Bedingungen des Entstehens von Rede: Es ist die Aufgabe, […] einen Schriftsteller welcher Art er auch sei in seiner Composition [zu] belauschen […] und zu diesem Ende sich möglichst seine ganze Art zu sein vergegenwärtig[en] um selbst die Momente der Begeisterung und der Conception […], dann aber auch alles was irgend auf den Gang der Erfindung im einzelnen mit Einschluß sogar der für die Idee des Ganzen gleichgültigen Nebengedanken sich bezieht lebendig an[zu]schauen […] um richtig zu schäzen, wie sich in ihm das ganze Geschäft der Composition zu seinem gesammten Dasein verhält[…]51 wie [also] der bestimmte einzelne Mensch zu den Gedanken, aus dem das Ganze sich entwickelt, gekommen ist, das heißt, welche Beziehung es zu seinem ganzen Leben hat und was es als Moment seines Lebens in Verbindung mit allem andern bedeutet.52 Hier ist der Gegenstand das wovon der Verfasser zur Mittheilung in Bewegung gesetzt wird.53  Schleiermacher, Hermeneutik, 57. Hermeneutik, 76. 46  Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, 86 ff. 47  Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, 103. 48 Vgl. Grondin, Philosophische Hermeneutik, 105; vgl. Joisten, Karen: Philosophische Hermeneutik, Berlin 2009, 102; vgl. Rohls, Schleiermachers Hermeneutik, 28 f. 49 Vgl. Rohls, Schleiermachers Hermeneutik, 49. 50 Schleiermacher, Friedrich: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, in: KGA, II. Abt. Bd. 4, hg. v. Virmond, Wolfgang, Berlin 2012, 202. 51  Schleiermacher, Hermeneutik, 148 f. 52  Schleiermacher, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, 893. 53  Schleiermacher, Hermeneutik, 103. 44

45 Schleiermacher,

46

2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

So zielt die psychologische Interpretation schließlich insgesamt darauf ab, aus seiner Sprache den Menschen im Moment der Komposition zu verstehen, um wiederum dessen Rede zu verstehen.54 Keiner der beiden Interpretationskomponenten kommt prinzipielle Priorität zu, in jedem hermeneutischen Akt sind beide zu vollziehen.55 Eine situative Priorität einer Interpretationsseite aber ergibt sich aus Bedingungen wie etwa der Textsorte.56 Um diese zweiseitige Interpretation umzusetzen, braucht es, so Schleiermacher, einen Habitus der strengeren Interpretationspraxis: Das Missverstehen, das zuvor als exponierte Stelle hermeneutischer Praxis gesehen wurde, formuliert Schleiermacher nun als die selbstverständliche Grundsituation, in der sich der Rezipient gegenüber der Rede befindet. Im Bewusstsein der ständigen Missverständnissituation muss dann das Verstehen permanent aktiv gesucht werden.57 Der hermeneutische Akt, den Schleiermacher fordert, ist dann eine umfassende Rekonstruktion: „Die Aufgabe der Hermeneutik […] besteht [darin], den ganzen innern Verlauf der componirenden Thätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden.“58 Das Ziel der Rekonstruktion muss sein, die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntniß dessen haben, was in ihm ist, so müssen wir vieles zum Bewußtsein zu bringen suchen was ihm unbewußt bleiben kann außer sofern er selbst reflectirend sein eigener Leser wird.59

Diese vollständige rekonstruktive Arbeit erfordert vom Interpreten einen Akt, der ermöglicht, dass der Interpret seinen eigenen Platz geschichtlicher Bedingungen verlässt und die des Autors übernimmt,60 um eine Deckung mit dem Autor und eine darüber hinaus gehende reflektierte Zutageförderung dessen zu erreichen, was im Kompositionsprozess des Autors enthalten ist.61 Was hier 54 Es ist ein in der Forschung uneiniger Diskurs, ob Schleiermacher als Einfühlungshermeneutiker zu bezeichnen ist. Gewiss überzieht diese Bezeichnung den Grad von Einfühlung, den Schleiermacher mit der Formulierung seiner hermeneutischen Prinzipien beabsichtigte und verschiebt auf ungünstige Weise, welche Funktion Schleiermacher hier einer Art der Einfühlung gibt: Der Zweck des Einfühlens in den Autor ist hier nicht der soziale Zweck des Einfühlens selbst, sondern bleibt stets der des Gesamtverstehens von Rede: „Die Kenntniß des einzelnen Menschen als solchen ist auch das Ziel dieser Seite unserer Aufgabe sondern nur das Mittel um uns eben der Täthigkeiten desselben welche uns auch zu jener objectiven Betrachtung aufregen desto vollständiger zu bemächtigen.“ (Schleiermacher, Hermeneutik, 151). Dies ist für Schleiermacher unumgehbar nicht mit sprachlicher Untersuchung allein getan, sondern braucht zugleich schlicht die Seite des komponierenden Individuums hinter einer Rede. 55 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, 77. 56 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, 79; vgl. Rohls, Schleiermachers Hermeneutik, 32. 57  Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, 82; vgl. Joisten, Hermeneutik, 100. 58  Schleiermacher, Hermeneutik, 135. 59  Schleiermacher, Hermeneutik, 83 f. 60  Schleiermacher, Hermeneutik, 84. 61  Vgl. Joisten, Hermeneutik, 105.

2.2  Verstehen als empathische Transposition

47

als hermeneutische Aufgabe umschrieben wird, erfordert de facto einen Akt des Hineinversetzens und – insofern es um das individuelle Innere des Autors geht – ein Hineinfühlen im Sinne eines Erspürens des kompositorischen Potenzials. So ist für den hermeneutischen Akt auf der Ebene psychologischer Interpretation m. E. von nichts weniger als einem empathischen Verstehensprozess zu sprechen. Eine Präzisierung dieser Behauptung kann erfolgen, wenn auf die zwei methodischen Prinzipien geblickt wird, die Schleiermacher jeweils auf die grammatische und die psychologische Interpretation anwendet: 1. Das komparative Prinzip meint eine schrittweise Annäherung vom bereits Verstandenen auf das weniger Verstandene zu mittels eines Vergleichs zu anderen Beispielen des Sprachgebrauchs. Diese Methode findet sich nicht ausschließlich, doch aber mit einem Schwerpunkt innerhalb der grammatischen Interpretation.62 2. Das divinatorische Prinzip ist als Akt des Imaginationsvermögens dagegen hauptsächlich innerhalb der psychologischen Interpretation relevant.63 Es meint ein unmittelbares, intuitives Aufspüren von Wissen, um das Individuelle der Rede zu durchdringen.64 Dabei muss der Rezipient gleichsam zum Autor werden, um das aus der individuellen Seele stammende zu verstehen:65 „Gewißheit, […] die daraus entsteht, daß der Ausleger sich in die ganze Verfassung des Schriftstellers möglichst hineinversetzt […]“66. Dieses zweite methodische Prinzip der Divination sowie die psychologische Interpretation per se sind Schleiermacher von Herders Ausführungen bekannt. Schleiermacher bringt das historische Verstehen erstmals mit dem Begriff des Einfühlens in Verbindung,67 was verschiedene Dimensionen eines empathischen Prozesses zeigt: 1. Schleiermachers hermeneutischer Prozess trägt dialogischen Charakter, insofern der Prozess des Verstehens einem Gespräch zwischen Geschriebenem bzw. dem, was aus dem Geschriebenen extrahiert werden kann und dem Rezipienten gleicht. Schleiermachers Anwendung der hermeneutischen Zirkularität auf die methodische Zweiteilung von überindividueller und individueller Seite bildet die Hauptintention des hermeneutischen Prozesses ab: „das Sprachliche […] als Mitteilungsversuch einer Seele zu verstehen“68. 2. Ziel des psychologischen Verstehensaktes ist die Seele des Autors als Ort individueller Gedanken, Gefühle, Situationsbedingungen. 3. Der Akt selbst überschreitet  Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, 138, 152. Schleiermacher, Hermeneutik, 151; vgl. Scholtz, Gunter: Schleiermacher im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung, in: Arndt, Andreas/Dierken, Jörg (Hgg.): Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven, Berlin 2016, 1–26, hier: 18. 64 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, 138. 65  Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, 105; vgl. Joisten, Hermeneutik, 104. 66  Schleiermacher, Hermeneutik, 132. 67  Vgl. Scholtz, Hermeneutik-Entwicklung, 19. 68  Grondin, Philosophische Hermeneutik, 111. 62

63 Vgl.

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

einen rein kognitiven Verstehensprozess um die Dimension des umfassend verstehenden Rekonstruierens aller individuellen Begebenheiten, die den Autor haben ausdrücken lassen, was als versprachlichtes Medium vorliegt. Verstehen meint damit ein ganzheitliches Erfassen der anderen Individualität. 4. Bedingung der Möglichkeit dieses Verstehens ist eine Transponierung der eigenen Person in Bedingungen einer anderen Person qua Imagination. Die Bedeutung der schleiermacherschen Konzeption der Hermeneutik liegt gewiss in zwei Aspekten: Erstens erreicht er eine Überschreitung der Spezialhermeneutik und eine Ausweitung des Betrachtungsbereichs des Verstehens von biblischer oder literarischer Rede auf jede mögliche Form der Rede; vor allem aber gelingt ihm zweitens die Ausweitung des Verstehensbegriffs selbst auf die universale Betrachtung von Verstehensbedingungen.69 Darin liegt schließlich zugleich die Bedeutung Schleiermachers für eine Konzeptualisierung des Empathischen. Eine erhebliche Zuspitzung der Bedeutung der empathischen Komponente des Verstehens erfährt die Hermeneutik durch Wilhelm Diltheys Theorie des Verstehens. Diese ist einer Voraussetzung unterlegen, die zu berücksichtigen entscheidend sind, um der Gefahr einer Verkürzung zu entgehen: Die kontextuelle Verzweigung des Verstehensbegriffs bei Dilthey bedingt die Tatsache, dass seine Theoriebildung zum Verstehen über eine zeitliche Spanne von etwa 20 Jahren und in unterschiedlichen thematischen Abhandlungen nachvollzogen werden muss. Es soll nun hier der Versuch unternommen werden, das Verstehen, wie Dilthey es in dieser Streuung theoretisiert hat, zu bündeln, um schließlich empathische Gehalte daran aufzuzeigen. Den zentralen Kontext seiner Bemühungen um das Verstehensphänomen bildet ein begriffliches Dreieck aus Hermeneutik, methodologische Begründung der Geisteswissenschaften und Verstehen:70 Entgegen der hermeneutischen Tradition, die sich über eine 2000-jährige Geschichte hinweg um Regeln für gelingende Auslegung und Interpretation bemüht und diese an einem je spezifischen Problem orientiert hat, das als für eine gelingende Interpretation hemmend formuliert werden konnte, hat sich Hermeneutik für Dilthey einer veränderten Fragestellung zu widmen: Insofern Hermeneutik die Aufgabe hat, „die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch [zu] begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruht“71, stellt sich für ein hermeneutisches Verfahren die Frage, wie allgemeingültige Erkenntnis von Individuellem gelingen kann. Diese Frage führt im skizzierten Dreieck ausschließlich über den Begriff 69 Vgl.

Joisten, Hermeneutik, 98.  Dieses Begriffsverhältnis findet sich in ähnlicher Weise bei Lessing, Hans-Ulrich: Wilhelm Dilthey. Eine Einführung, Köln 2011, 106 f. 71  Dilthey, Wilhelm: Die Entstehung der Hermeneutik, in: GS V, hg. v. Misch, Georg, Stuttgart/Göttingen 1974, 317–338, hier 331. 70

2.2  Verstehen als empathische Transposition

49

des Verstehens, welcher jedoch eine „erkenntnistheoretische, logische und methodische Analyse“72 erfahren muss. Eine erkenntnistheoretische Analyse zum Verstehensphänomen liefert Dilthey bereits 1890 in seiner Abhandlung Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und ihrem Recht. Zentral formuliert er im Satz der Phänomenalität: Alles, was für mich da ist, [steht] unter der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewußtseins zu sein; auch jedes äußere Ding ist mir nur als eine Verbindung von Tatsachen oder Vorgängen meines Bewußtseins gegeben; Gegenstand, Ding ist nur für ein Bewußtsein und in einem Bewußtsein da.73

Was Dilthey hier als grundlegende erkenntnistheoretische These formuliert, beschreibt die elementare, primäre Grundsituation, unter der sich das menschliche Ich in seiner Wahrnehmung befindet. Diese Grundsituation besteht zunächst im unmittelbaren Erleben, wie es im Bewusstsein des Ich vorhanden ist. Erfahrungen von äußerer Wirklichkeit, die also jenseits des unmittelbaren Erlebens stattfindet, kann nur eine vermittelte Erfahrung von Realität sein. Diese Vermittlung geschieht nach Dilthey jedoch nicht durch denkerische, verstandesgeleitete Operationen, sondern durch das „psychische Grundgesetz“74, die sinnliche, gefühlsbasierte Erfahrung von Impuls und Widerstand, welche dem Menschen als Grunderfahrung seit dem embryonalen Stadium zu eigen ist: Ein Bewegungsimpuls etwa stößt auf einen Widerstand und bedingt die Erfahrung von der eigenen gegenüber einer äußeren Realität.75 Ein so entstehendes Bewusstsein von der Außenwelt ist dabei dem Bewusstsein vom Anderen an sich vorgelagert; erst ein rudimentäres Bewusstsein einer dem Ich gegenüberstehenden Welt ermöglicht ein sich bildendes Bewusstsein vom Anderen.76 Der so beschriebene Prozess menschlicher Bewusstseinsbildung von äußerer Wirklichkeit in Dingen einerseits und dem Anderen andererseits bildet das erkenntnistheoretische Fundament, das den menschlichen Zugang zur Wirklichkeit beschreibt und in dessen Ableitung Dilthey das Prinzip des Verstehens als „humanspezifische[s] Wirklichkeitsverhältnis“77 formulieren kann. Eine logische Analyse trägt dem Verstehensbegriff die Semantik der operativen Tätigkeiten ein. Dies bedeutet einerseits die Induktion aus sinnlichen Vorgängen vor dem Hintergrund des Zusammenhangs der Struktur der seelischen 72 Dilthey,

Entstehung der Hermeneutik, 333. Wilhelm: Beiträge zur Lösung der Frage nach dem Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt, in: GS V, hg. v. Misch, Georg, Stuttgart/Göttingen 1974, 90–138, hier: 90. 74 Dilthey, Realität der Außenwelt, 95. 75  Vgl. Dilthey, Realität der Außenwelt, 98 ff. 76  Vgl. Schloßberger, Matthias: Die Erfahrung des Anderen. Gefühle im menschlichen Miteinander, Berlin 2005, 78 f. 77  Jung, Matthias: Hermeneutik zur Einführung, Hamburg ³2007, 72. 73 Dilthey,

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Lebendigkeit und andererseits die Betrachtung grammatischer, syntaktischer und semantischer Strukturen sowie Vergleiche zu anderen Singularitäten. Eine methodische Analyse schließlich reichert das Verstehen durch gebietsspezifische Auslegungsmethodik an, d. h. etwa spezifische Methodenschritte zum Verstehen (bzw. Auslegen) von Dichtung.78 Nun ergibt sich im obigen Verhältnisdreieck für Dilthey das weitere Anliegen, in Abgrenzung von den methodologisch übermächtig gewordenen Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften selbst methodologisch zu begründen. Jener erkenntnistheoretisch begründete Begriff des Verstehens gewinnt dabei nun methodologische Relevanz: Verstehen als humanspezifisches Wirklichkeitsverhältnis strukturiert nach Dilthey den gesamten menschlichen Raum individueller und sozialer Kultur. Diese Art des verstehenden Bezugs zur Wirklichkeit bedarf entsprechend eines Wissenschaftszweiges, der jene Strukturen ergründet.79 Gegenstand der Geisteswissenschaften sind dann solche Strukturen, aus denen Verstehbares entsteht und die der übergeordneten Grundstruktur Leben entstammen:80 An jedem Punkt der Geschichte ist Leben. Und aus Leben aller Art in den verschiedensten Verhältnissen besteht die Geschichte. Geschichte ist nur das Leben, aufgefaßt unter dem Gesichtspunkt des Ganzen der Menschheit, das einen Zusammenhang bildet.81

Aufgabe geisteswissenschaftlicher Arbeit ist dann also, „Singuläres“ in seinen Lebensvollzügen zu erfassen und „allgemeine gesetzliche Verhältnisse und umfassende Zusammenhänge ab[zu]leiten“82. Methodisch bedeutet das konkret, aus der Erschließung individueller historischer Lebensvollzüge, und das meint auch individuellen Erlebens, geschichtliche Vergegenwärtigung und geschichtliches Verstehen hervorzubringen.83 Dilthey plädiert zu diesem Zweck für das methodische Vorgehen einer verstehenden Psychologie. Entgegen dem Vorgehen einer erklärenden Psychologie, wie sie durch die naturwissenschaftliche Psychologie angewendet wird und die versucht, Phänomene der menschlichen Psyche aus ihren Ursachen zu erklären, indem jene als Produkt der Zusammenwirkung klar identifizierbarer Elemente der Psyche analysiert werden, hebt eine verstehende  Vgl. Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, 334 ff. Jung, Hermeneutik, 72 f.; vgl. Lessing, Dilthey, 106 f. 80 Vgl. Jung, Hermeneutik, 79. Die hiermit weiter verknüpfte Philosophie des Lebens im Denken Diltheys ist über den vorliegenden Zusammenhang hinausgehend nachzulesen etwa bei Anz, Heinrich: Hermeneutik der Individualität, in: Birus, Hendrik (Hg.): Hermeneutische Positionen. Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, Gadamer, Göttingen 1982, 59–88 und Rütsche, Johannes: Das Leben aus der Schrift verstehen. Wilhelm Diltheys Hermeneutik, Bern 1999. 81 Dilthey, Wilhelm: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: GS VII, hg. v. Groethuysen, Bernhard, Göttingen 1990, 252–292, hier: 256. 82 Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, 317. 83  Vgl. Anz, Hermeneutik der Individualität, 60. Insofern nun diese Aufgabe wiederum von der hermeneutischen Frage abhängt, wie nun dieses „Singuläre zur Objektivität erhoben werden könne“ (Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, 317), kann Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften als eine hermeneutische bezeichnet werden (vgl. Lessing, Dilthey, 107). 78

79 Vgl.

2.2  Verstehen als empathische Transposition

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Psychologie darauf ab, das menschliche Seelenleben, wie es sich im ganzheitlichen Kontext des Erlebens darstellt, wahrzunehmen und insofern zu verstehen.84 Doch wie ist nun jenes Verstehen historischer, individueller (Er‑)Lebensprozesse in Diltheys Denken, semantisch genau zu fassen? Was geschieht beim Verstehen im Detail? Dilthey selbst formuliert in seinem Text Die Entstehung der Hermeneutik (1900): „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen.“85 In dieser Definition Diltheys lässt sich deutlich ein spezifischer hermeneutischer Dreischritt herausstellen: 1. Das Erleben als individuell empfundene, sinnlich wahrgenommene, leibliche Erscheinungen im Bewusstsein einer Person, 2. Der Ausdruck als die Ausformung dieses Erlebten in einer dem Erleben entsprechenden Symbolform, 3. Insofern das andere Sein ausschließlich als äußere Zeichenhandlungen gegeben ist,86 meint Verstehen das Wahrnehmen des Zeichenhaften als Ausdruck von Erleben durch eine andere Person.87 Verstehen selbst, wie es hier prozesshaft integriert ist, macht also ein Inneres über seinen Ausdruck zugänglich und kommt damit nicht etwa durch ein unmittelbares Erleben des Erlebens des Anderen zustande,88 sondern besteht in einer dem Ausdrücken des Inneren gegenläufigen Bewegung vom Ausgedrückten zum Innern. Verstehen braucht dazu einen Akt des Hineinversetzens, der von Dilthey selbst Transposition genannt wird, und des Nachbildens: Eine „Übertragung des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen“89 meint, das durch äußere Wahrnehmung Gegebene um ein Inneres anzureichern. Dieser innere Anteil entstammt dabei jedoch den Ressourcen der eigenen inneren Erlebenswelt: [Das höhere Verstehen] ist nur möglich, indem der Zusammenhang, der im eigenen Erleben besteht und in unzähligen Fällen erfahren ist, mit all den in ihm liegenden Möglichkeiten immer gegenwärtig und bereit ist. Diese in der Verständnisaufgabe gegebene Verfassung nennen wir ein Sichhineinversetzen, sei es in einen Menschen oder ein Werk […] Die Seele geht die gewohnten Bahnen, auf denen sie einst von verwandten Lebenslagen aus genoß und litt, verlangte und wirkte.90

Die äußerlich wahrnehmbaren Zeichen des Anderen werden also mithilfe eigenen inneren Erlebnismaterials betrachtet, das als dem Fremden ähnlich bekannt ist.91 Auf diese Weise kann das fremde Erleben nachgebildet und mithin auch nacherlebt werden.92 84 Vgl.

Grondin, Philosophische Hermeneutik, 125 f.  Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, 318. 86 Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, 318. 87 Vgl. Jung, Hermeneutik, 85 f. 88 Vgl. Jung, Hermeneutik, 83. 89  Dilthey, Wilhelm: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen, in: GS VII, hg. v. Groethuysen, Bernhard, Göttingen 1990, 191–251, hier: 214. 90  Dilthey, Verstehen anderer Personen, 213 f. 91  Vgl. Lessing, Dilthey, 111 f. 92  Vgl. Dilthey, Verstehen anderer Personen, 214; vgl. Anz, Hermeneutik der Individualität, 78. 85

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Dieses Verstehen fremden individuellen Erlebens ist aufgrund der gemeinsamen allgemein-menschlichen Natur möglich, die in ihrer Art und Struktur gleich ist; individuelle Eigenheiten seelischer Prozesse sind lediglich dem Grade nach gegeben, sodass das Nachbilden durch Wiederfinden innerhalb ähnlicher Strukturen im eigenen Innern möglich wird.93 Bei gleichem Erlebnispotenzial, durch das ein Erleben nachgebildet wird, entsteht dabei jedoch nicht dasselbe Erleben, wie es im ursprünglich Empfindenden auftrat, sondern ein „ideales“94 Erleben, das dann dem Verstehenden entspringt. Originär Erlebtes und Nacherlebtes sind somit qualitativ unterschiedliche Modi des Erlebens.95 Der Verstehensprozess, wie er hier geschildert wird, beschreibt den grundlegenden Vorgang des Verstehens aller Arten von Lebensäußerungen,96 insofern „derselbe menschliche Geist zu uns [spricht] und […] der Auslegung [bedarf ]“97. Doch bildet diese komplexe Form des Verstehens durch Transposition und Nachbildung eine höhere Form des Verstehens, von der Dilthey erst in einer späteren Schrift eine elementare Form differenziert: Die elementare Form des Verstehens umfasst dabei praktische Lebensäußerungen und wird durch eine Notwendigkeit zu verstehen gekennzeichnet. Die Äußerung selbst und das in ihr Ausgedrückte sind so stark konventionalisiert, dass Verstehen nicht erst durch den beschriebenen Prozess zustande kommen muss, sondern sich aufgrund des eindeutigen Bewusstseins um die Bedeutung der geäußerten Zeichen einstellt. Eine Äußerung wird verstanden, auch ohne dass weitere individuelle Hintergründe hinzugezogen werden müssten, und ist insofern individualitätsentbunden. Ein Gruß etwa ist ein solches Beispiel.98 Dieses elementare Verstehen vollzieht sich vollständig in der „Welt des objektiven Geistes“99, dem

93 Vgl.

Anz, Hermeneutik der Individualität, 78. Dilthey, 120. 95 Vgl. Anz, Hermeneutik der Individualität, 79. 96 Vgl. Lessing, Dilthey, 111 f. 97  Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, 319. 98 Vgl. Dilthey, Verstehen anderer Personen, 207 ff.; vgl. Lessing, Dilthey, 115 f. 99 Dilthey, Verstehen anderer Personen, 208 f.: „Ich verstehe unter ihm [dem objektiven Geist] die mannigfaltigen Formen, in denen die zwischen den Individuen bestehende Gemeinsamkeit sich in der Sinneswelt objektiviert hat. In diesem objektiven Geist, ist die Vergangenheit dauernde beständige Gegenwart für uns. Sein Gebiet reicht von dem Stil des Lebens, den Formen des Verkehrs zum Zusammenhang der Zwecke, den die Gesellschaft sich gebildet hat, zu Sitte, Recht, Staat, Religion, Kunst, Wissenschaften und Philosophie […] Aus dieser Welt des objektiven Geistes empfängt von der ersten Kindheit ab unser Selbst seine Nahrung. Sie ist auch das Medium, aus welchem sich das Verständnis anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen vollzieht. Denn alles, worin sich der Geist objektiviert hat, enthält ein dem Ich und dem Du Gemeinsames in sich […] Ehe es [sc. ein Kind] sprechen lernt, ist es schon ganz eingetaucht in das Medium von Gemeinsamkeiten. Und die Gebärden und Mienen, Bewegungen und Ausrufe, Worte und Sätze lernt es nur darum verstehen, weil sie ihm stets als dieselben und mit derselben Beziehung auf das, was sie bedeuten und ausdrücken, entgegenkommen. So orientiert sich das Individuum in der Welt des objektiven Geistes.“ 94 Lessing,

2.2  Verstehen als empathische Transposition

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gleichsam überindividuellen kulturellen Bedeutungssystem.100 Das von Dilthey hingegen als höhere Form bezeichnete Verstehen findet statt, wenn kein eindeutiges Verstehen des Verstehenden gegenüber einer Äußerung gegeben ist und die Äußerung im „Ganze[n] des Lebenszusammenhangs“ betrachtet werden muss. Verstehen bezieht sich dann vornehmlich auf das Verhältnis des Ausdrucks zum Ausdrückenden und verlangt etwa, „das Wissen vom seelischen Leben und seinen Beziehungen zwischen Milieu und Umständen“101. Der Prozess von Transposition und Reproduktion entspricht dabei jenem Verstehen des Lebenszusammenhangs des Anderen, das dann die gleichsam ganzheitlichste Form des Verstehens darstellt.102 Um nun die Funktionalität des Verstehens bei Dilthey herauszustellen, ist man erneut auf die obige Kontextualisierung verwiesen, aus der sich entsprechend Funktionen des Verstehens ableiten lassen. So lassen sich drei unterschiedliche Funktionen benennen, die das Verstehen als jenes beschriebene Erschließen individuellen Erlebens im Denken Diltheys aufweist: 1. Die philosophische Funktion von Verstehen ist, historische Wirklichkeit zu erschließen. Dies geht aus der methodologischen Begründung der Geisteswissenschaften hervor. 2. In einer erkenntnistheoretischen Funktion, die sich unmittelbar aus dem Verstehensbegriff selbst ergibt, gibt Verstehen Aufschluss über „Bedingungen geschichtlichen Bewußtseins“; Dilthey kann unter dieser Voraussetzung eine Kritik der historischen Vernunft anstreben, die als Fundament der Geisteswissenschaft, aller „Wissenschaft des handelnden Menschen“ und der „geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit“103 dienen soll und gleichsam Parallelentwurf zu Kants Kritik der reinen Vernunft ist, die als begründendes Traktat aller naturwissenschaftlicher Methodologie gilt. 3. Das Individuelle zu verstehen, hat bei Dilthey schließlich eine übergeordnete, im eigentlichen Sinne hermeneutische Funktion, die über das historisch-epistemologische Verstehen von Geschichte hinausstrebt auf die Sicherung von Geschichte: Die Betrachtung der Bedingungen objektiven Verstehens durch und zugleich über das Individuelle hinaus.104 Inwiefern konzeptualisiert sich nun aber Empathisches mit einem so weitverzweigten und vielschichtigen Begriff des Verstehens? Zwei Aspekte sind dabei zu benennen: Zum einen lässt sich im Prozess des Verstehens das empathische Element des Hineinversetzens, die Transposition, ausmachen. Darin liegt zugleich ein gewisses Potenzial zum Missverständnis, das Dilthey zuweilen das unzutreffende Prädikat der Einfühlungshermeneutik105 eingebracht hat: Ein 100 Vgl.

Anz, Hermeneutik der Individualität, 80 f. Verstehen anderer Personen, 211; vgl. Lessing, Dilthey, 117 f. 102 Vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 92. 103  Jeweils Dilthey, zit. n. Anz, Hermeneutik der Individualität, 61; vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 90. 104 Vgl. Anz, Hermeneutik der Individualität, 62. 105  Vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 77. 101 Dilthey,

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Hineinversetzen in den Anderen als empathischer Akt könnte gewiss als Prozess verstanden werden, in dem der Verstehende in einem einfühlenden Akt sich selbst in das Erleben des Anderen hineinbegibt und ggf. durch unmittelbares Nachfühlen den Anderen versteht. Diese Semantik des Hineinversetzens liegt Dilthey jedoch gänzlich fern; hier sei an die obige Erklärung Diltheys erinnert: Hineinversetzen meint eine Übertragung des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen, eine Bewegung also auf das sich in einem Ausdruck objektivierende fremde Erleben mithilfe eigener innerer Erlebenspotenziale. Gleichwohl ist hierin ein nicht weniger empathisches Geschehen zu erkennen, insofern durch diese Semantik des Hineinversetzens lediglich ein Verbleib des Verstehenden im Erlebnisraum der eigenen Person betont wird, das Ziel des Verstehens durch die Bewegung auf die Äußerung des Anderen zu jedoch trotzdem gegeben ist. Zum anderen liegt in einer Konsequenz seines Verstehensbegriffs ein weiterer empathischer Gehalt: Verstehen ist dabei ein konkret empathischer Akt, insofern es als nachbildendes Bewusstsein der Realität und des Empfindens des Anderen die Voraussetzung bildet, mit dem Anderen mitzufühlen.106 So schreibt Dilthey: Ich erblicke eine menschliche Gestalt, das Antlitz von Tränen überströmt. Es bedarf zunächst schon ineinandergreifender Apperzeptionsprozesse, die allgemeinen Bestandteile in diesem Eindruck festzustellen. Ebenso schnell und unmerklich als diese Vorgänge verlaufen auch die nächstfolgenden; vermöge ihrer weiß ich, daß hier ein Schmerz gefühlt wird, und ich fühle ihn mit.107

Dilthey beschreibt hier in einem konkreten Beispiel die Abfolge der verstehenden Vorgänge: Zunächst findet ein komplexer Wahrnehmungsprozess statt, innerhalb dessen sich Diltheys eigentlicher Verstehensprozess als nachbildendes Bewusstsein der Realität und Empfindung des Anderen vollzieht. Im Anschluss daran findet sich dann das Potenzial des Mitgefühls, welches das Nachfühlen als Konsequenz des Nachbildens umfasst. Damit bildet das nachbildende Verstehen die nicht trennbare, wohl aber hiervon differenzierbare Voraussetzung des Mitgefühls, das schließlich als konsequenzieller Zustand des vorangehenden Verstehensprozesses zu denken ist. Nachbildendes Verstehen und Mitgefühl, das in Anlehnung an Diltheys erkenntnistheoretische Herleitung als Anerkennung der anderen Realität in ihrem „Selbstzweck“108 zu denken ist, zeigen somit zwei Seiten einer gleichsam empathischen Medaille.109 Die aus dieser Anerkennung fremder Realität sich ableitende Grundfähigkeit zu sozialer, mitfühlender Teilhabe am Leben des Anderen entsteht aus einer Vielzahl so stattfindenden verstehenden Nacherlebens, insofern sie langfristig  Dies in vgl. zu Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 81 f.  Dilthey, Realität der Außenwelt, 110. 108  Dilthey, Realität der Außenwelt, 111. 109  Vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 81 f. 106 107

2.3  Einfühlung als konoriginäres Erleben

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die „Überzeugung ihrer ‚kernhaften wertvollen Existenz‘, die Achtung vor ihrer ‚Selbstständigkeit‘ und doch ein Bewußtsein von Verwandtschaft und ‚Solidarität‘ mit ihnen“110 hervorbringt.111 So kann für Dilthey schließlich formuliert werden: Aus der notwendig stattfindenden Erfahrung des Ich von der Außenwelt geht ebenso notwendig seine moralische Grunderfahrung und damit Grundfähigkeit zur empathischen Teilhabe am Leben des Anderen hervor.

2.3  Einfühlung als konoriginäres Erleben. Die Phänomenologie Edith Steins Ein weiterer Zugang zu einem Phänomen des Empathischen stammt aus der Tradition der Phänomenologie. Als Schülerin Edmund Husserls legt Edith Stein (1891–1942) im Jahre 1916 ihre Dissertationsschrift vor, in der sie sich dem Problem der Einfühlung112 zuwendet. Sie selbst begründet ihr Vorhaben so: Ein Freund tritt zu mir herein und erzählt mir, daß er seinen Bruder verloren hat, und ich gewahre seinen Schmerz. Was ist das für ein Gewahren? Worauf es sich gründet, woraus ich den Schmerz entnehme, darauf [kommt es mir hier nicht an]. Vielleicht ist sein Gesicht blaß und verstört, seine Stimme klanglos und gepreßt, vielleicht gibt er auch in Worten seinem Schmerz Ausdruck. […] Nicht auf welchen Wegen ich dazu gelange, sondern was es selbst, das Gewahren, ist, das möchte ich wissen.113

Was Stein hier als Ziel ihrer Schrift formuliert, beschreibt im Kern zugleich die methodische Form, in der sie dieses Ziel erreichen will – die spezifische Methode der phänomenologischen Reduktion:114 Um zu diesem Ziel zu gelangen, schaltet sie [die phän. Red.] aus ihren Betrachtungen alles aus, was irgendwie ‚bezweifelbar‘ ist, was sich irgend beseitigen lässt […] ich kann bezweifeln, ob das Ding, das ich vor mir sehe, existiert, es besteht die Möglichkeit einer Täuschung, darum muß ich die Existenzsetzung ausschalten, darf von ihr keinen Gebrauch machen; aber was ich nicht ausschalten kann, was keinem Zweifel unterliegt, ist mein Erleben des Dinges (das wahrnehmende, erinnernde oder sonstwie geartete Erfassen) samt seinem Korrelat, dem vollen ‚Dingphänomen‘ (dem in mannigfachen Wahrnehmungs‑ oder Erinnerungsreihen sich als dasselbe gebenden Objekt), das in seinem ganzen Charakter erhalten bleibt und zum Objekt der Betrachtung gemacht werden kann […] Es gilt nun aber nicht nur sie als einzelne zu erfassen und alles in ihnen implizierte […], sondern zu ihrem Wesen vorzudringen.115

110 Dilthey,

Realität der Außenwelt, 112. Dilthey, Realität der Außenwelt, 111 f.; vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 81 f. 112 Stein, Edith: Zum Problem der Einfühlung, in: Edith Stein Gesamtausgabe 5, hg. v. Karmel Maria zum Frieden zu Köln, Freiburg/Br. 2008. 113  Stein, Einfühlung, 14. 114 Vgl. Heise, Theologie der Empathie, 88. 115  Stein, Einfühlung, 11. 111 Vgl.

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Als ein solches Phänomen sieht Stein nun die Erfahrung an, dass die Welt aus psychophysischen Individuen besteht, die unserer Wahrnehmung über deren physische Körperlichkeit hinaus als je empfindender Leib und damit als Orientierungszentrum einer in sich phänomenalen Welt gegeben sind.116 Was für uns an anderen Individuen in Erscheinung tritt, sind entsprechend nicht bloß deren physische Ausdrucksformen, sondern auch das, was sich hinter dem physischen Ausdruck befindet. Das Wesen dieses Phänomens wiederum, dass der Andere uns als erlebender Leib gegeben ist, erschließt sich nun über „eine Grundart von Akten, in denen fremdes Erleben erfaßt wird und die wir nun […] als ‚Einfühlung‘ bezeichnen wollen“117. Das Phänomen, das Edith Stein als Voraussetzung ihrer Betrachtung benennt, ist also jenes untilgbare, nicht bezweifelbare Erleben, dass unserer Wahrnehmung fremde, andere Subjekte in deren Erleben gegeben sind, und zwar, indem sie uns als erlebender Leib gegeben sind. Dieses Gegebensein ist zu beschreiben durch zwei Modi, in denen nach Stein die Welt unserem Bewusstsein überhaupt gegeben sein kann: Sie unterscheidet den Modus der Originarität und den Modus der Nicht-Originarität: originär ist dem Bewusstsein etwas leibhaftig, gegenwärtig gegeben. Das meint alles eigene gegenwärtig stattfindende Erleben. Nicht-originär ist dagegen etwas, das dem Bewusstsein nicht leibhaftig als eigenes, gegenwärtig gegeben ist. An dem Eingangsbeispiel des Freundes, der seinen Bruder verloren hat, lässt sich das verdeutlichen: Als gegenwärtig stattfindendes Geschehen und eigenes Erleben ist mir der physische Körper meines Freundes originär gegeben und daran weiter etwa ein sich verziehendes Gesicht, Wassertropfen oder Röte im Gesicht. Nicht-originär dagegen ist mir sein Schmerz gegeben, insofern er nicht mir selbst leibhaftig erlebbar zugänglich ist. Dass ich wiederum aber den Schmerz des Anderen dennoch gewahre, liegt laut Stein an einem eigentümlichen Effekt, nämlich dem Effekt der Konoriginarität. Dieser bewirkt, dass mir die abgewandte, an sich nicht-originäre Seite des Geschehens in der originären Seite mitgegeben ist, sodass sie selbst als originäre Wirklichkeit erscheint.118 Analog zu dieser Begriffsdifferenzierung kann nun erklärt werden, wie uns der Andere als empfindender Leib gegeben ist: Voraussetzung dafür, dass der Andere als empfindender Leib wahrgenommen wird, ist die Wahrnehmung des eigenen Leibes als Leib: Der Begriff Leib ergibt sich aus der Beschreibung Steins über die psychophysische Konstitution eines Individuums, die in der Einheit von physischem Körper und Bewusstsein 116 Vgl. Raschke, René: Edith Stein – ander(e)s sehen, in: Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara/ Kaufmann, René/Sepp, Hans Rainer (Hgg.): Europa und seine Anderen. Emmanuel Levinas, Edith Stein, Józef Tischner, Dresden 2010, 33–42, hier: 36 f.; vgl. Raschke, René: Einfühlung, in: Knaup, Marcus/Seubert, Harald (Hgg.): Edith Stein-Lexikon, Freiburg/Br. 2017, 87; vgl. Heise, Theologie der Empathie, 94. 117  Stein, Einfühlung, 13. 118  Vgl. Stein, Einfühlung, 15.

2.3  Einfühlung als konoriginäres Erleben

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besteht, in der beide Teile in eins fallen und eine Leib-Seele-Einheit bilden: „Der Leib [nun] ist gegenüber dem Körper dadurch charakterisiert, dass er Träger von Empfindungsfeldern ist, sich im Nullpunkt der Orientierung der räumlichen Welt befindet“119. Diese eigenen Empfindungsfelder, so bezeichnet Stein alles subjektive Empfinden, also Empfindungen, Gefühle, Erleben, sind uns im Modus der Originarität gegeben. Dass wir nun überhaupt den fremden Leib als Leib wahrnehmen, hat seinen Grund einerseits in dieser Tatsache, dass wir uns selbst als Leib wahrnehmen und zudem in jenem beschriebenen Effekt der Konoriginarität: Unsere rein äußere Wahrnehmung lässt uns den fremden Körper zunächst als Körper wahrnehmen; die Empfindungsfelder des Anderen, die nur dem Anderen in originärer Weise, uns aber an sich in nicht-originärer Weise gegeben sind, sind uns dann konoriginär mitgegeben, sodass ganz analog zum Schmerzbeispiel auch der Körper des Anderen konoriginär als Leib wahrgenommen wird. Mit der inhaltlichen Seite der fremden Empfindungsfelder aber verhält es sich nun anders als im Falle der eigenen Leibwahrnehmung: Dadurch, dass ich meinen eigenen Leib nicht als Körper, sondern eben als Leib wahrnehme, sind mir automatisch eigene Empfindungsfelder originär gegeben. Im Falle der konoriginären Gegebenheit des fremden Leibes als Leib und damit von fremden Empfindungsfeldern überhaupt, ist „ihre originäre Erfüllung hier prinzipiell ausgeschlossen […]. Die einzige Erfüllung, die hier möglich ist, ist die einfühlende Vergegenwärtigung“120. Empfindungsfelder des Anderen „originär sich zur Gegebenheit zu bringen“, also in einer unmittelbaren Weise selbst erlebbar wahrzunehmen, wie es für die eigenen Empfindungsfelder der Fall ist, ist für Stein also an sich selbst unmöglich, die einzige Annäherung an eine solche Wahrnehmungsmöglichkeit und damit den einzigen echten Zugang, den wir zum Empfindungsraum des Anderen haben, gewinnen wir ausschließlich, indem wir sie einfühlend vergegenwärtigen.121 Wie aber ist diese Einfühlung in ihrer Beschaffenheit zu verstehen? Edith Stein verdeutlicht den Gegebenheitsmodus dieser einfühlenden Vergegenwärtigung durch die Analogizität zu anderen Bewusstseinsakten, von denen hier nur exemplarisch die Erinnerung erläutert wird: Eine Erinnerung ist ein Bewusstseinsakt, in dem das Erinnern an eine Empfindung, z. B. Freude, originär gegeben ist, insofern das Erleben des Erinnerns selbst gegenwärtig und als Eigenes stattfindet. „Ihrem Gehalt“ nach, so formuliert Stein, ist das Erinnerte jedoch in nicht-originärer Gegebenheit da, insofern ihm ein originärerlebendes Subjekt von damals korrespondiert und damit Originarität, Gegenwart und erinnerndes Subjekt einerseits und Nicht-Originarität, Vergangenheit 119 Stein,

Einfühlung, 74.  Stein, Einfühlung, 75. 121 Vgl. Yu, Xin: Edith Stein and Max Scheler on Einfühlung and Einsfühlung, in: Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara/Kaufmann, René/Sepp, Hans Rainer (Hgg.): Europa und seine Anderen. Emmanuel Levinas, Edith Stein, Józef Tischner, Dresden 2010, 155–165, hier: 158. 120

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

und erinnertes Objekt andererseits miteinander assoziiert werden können. Es besteht also ein „Bewusstsein der Selbigkeit“122 des gegenwärtigen Subjektes und des vergangenen Objektes, ohne dass aber die Differenz zwischen Subjekt und Objekt in den Modi des Gegebenseins aufgehoben wäre. Ganz analog lässt sich nun für Stein auch die Einfühlung als Bewusstseinsakt skizzieren: Als gegenwärtiges Erlebnis des Einfühlens selbst ist Einfühlung originär gegeben. Ihrem Gehalt nach aber ist Einfühlung nicht-originär, denn das was einfühlend vergegenwärtigt wird, ist nicht-originär gegeben, so wie es im Falle des Schmerzes aus dem Anfangsbeispiel der Fall war. Der entscheidende Unterschied zum Erinnerungsakt jedoch ist, dass das einfühlende Subjekt und das eingefühlte Objekt keine Selbigkeit besitzen, insofern sie nicht in einer Erlebniskontinuität stehen, schlicht also unterschiedliche Individuen sind. Ein eingefühltes Erlebnis ist also jeweils die nicht-originäre Entsprechung eines originären Erlebens durch eine andere Person.123 Den Verlauf nun des Einfühlungsaktes kann Stein ebenfalls ganz analog zum Akt der Erinnerung beschreiben: Indem es mit einem Schlage vor mir auftaucht, steht es mir als Objekt gegenüber […]; indem ich aber den implizierten Tendenzen nachgehe, [indem ich] mir die Stimmung, in der sich der andere befindet, zu klarer Gegebenheit zu bringen versuche, ist es nicht mehr im eigentlichen Sinne Objekt, sondern hat mich in sich hineingezogen, ich bin ihm jetzt nicht mehr zugewendet, sondern in ihm seinem Objekt zugewendet, bin bei seinem Subjekt, an dessen Stelle; und erst nach der im Vollzug erfolgten Klärung tritt es mir wieder als Objekt gegenüber.124

Im Falle des Freundes ist es das Voraugensein einer traurigen, verzweifelten etc. Mimik, der ich zunächst mit-gewahrwerde (Schritt 1), sodann erfolgt das intensive Nachgehen dessen, was ich sehe, um zu ergründen, wie das Erleben des Anderen ist. Dies geschieht, indem mich seine Erscheinung regelrecht in sich hineinzieht, Besitz von mir ergreift, ich dem Schmerz gegenüberstehe, als hätte ich genuin selbst diesen Schmerz (Schritt 2), schließlich geschieht eine Art Reobjektivation, durch welche ich mich wieder distanzieren und als Gegenstand betrachten kann, was ich auf der Reise gleichsam ins andere Subjekt miterlebt habe.125 Bei der Einfühlung fühlt der Einfühlende keinen originären Schmerz, der Träger des originären Schmerzes ist der Andere. Der Einfühlende dagegen ist Träger nicht-originären Erlebens, das sich aber geleitet fühlt vom originären  Stein, Einfühlung, 16.  So auch bei Rieß, Wolfgang: Der Andere im Selbst. Edith Steins Weg zur Gemeinschaft, in: Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara/Kaufmann, René/Sepp, Hans Rainer (Hgg.): Europa und seine Anderen. Emmanuel Levinas, Edith Stein, Józef Tischner, Dresden 2010, 119–132, hier: 123. 124  Stein, Einfühlung, 19. 125  Vgl. Heise, Theologie der Empathie, 97. 122 123

2.3  Einfühlung als konoriginäres Erleben

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Erleben, insofern es sich „im nicht-originären Erleben bekundet“126. Einfühlung ist dann eine ganz eigene Form, das Erleben des Anderen zu erfahren und damit jener Erfahrungsakt sui generis,127 der das erfahrende Gewahrwerden des „Seelenlebens seines Mitmenschen“ umfasst. Um diesen Gesamtverlauf noch einmal zu verdeutlichen, gibt Stein das folgende anschauliche Beispiel: Die Hand, die auf dem Tische ruht, liegt nicht da wie das Buch daneben, sie ‚drückt‘ sich gegen den Tisch (und zwar mehr oder weniger stark), sie liegt schlaff oder gestreckt da, und ich ‚sehe‘ diese Druck‑ und Spannungsempfindung in der Weise der Konoriginarität; indem ich den Erfüllungstendenzen nachgehe, die in diesem ‚Miterfassen‘ liegen, schiebt sich meine Hand (nicht realiter, sondern ‚gleichsam‘) an die Stelle der fremden, in sie hinein, nimmt ihre Lage und Haltung ein und empfindet nun ihre Empfindungen – nicht originär und nicht als eigen, sondern ‚mit‘, […]. Während dieses Hineinversetzens ist die fremde Hand ständig als Glied des fremden Körpers wahrgenommen, die eigne als Glied des eignen Leibes gegeben, so daß die eingefühlten ständig in Kontrast zu den eignen Empfindungen sich als fremde abheben (wenn ich auch nicht auf diesen Kontrast in der Weise der Betrachtung gerichtet bin).128

Aus diesen Ausführungen lassen sich zwei funktionale Bestimmungen ausmachen, die aus der Theorie Edith Steins resultieren und sich auf die Beziehungsqualität zum Anderen beziehen: 1. Eingefühltes Verstehen: Aus der Wesensbeschreibung der Einfühlung, in der die Empfindungsfelder des Anderen zu Bewusstsein gebracht werden können, ergibt sich die Möglichkeit eines spezifischen intersubjektiven Begegnungsprozesses: Denn aus allein leiblichem Ausdruck des Anderen kann dessen Psychisches, dessen Seelenzustand verstanden werden. Das ist prinzipiell möglich, weil Ausdruck und Erleben des Anderen ein Ganzes bilden: Das ‚Mitgegebensein‘ der Trauer in der traurigen Miene ist ein anderes: die traurige Miene ist eigentlich gar kein Thema, das zu einem anderen [nur] überleitet, sondern eins mit der Trauer, aber so, daß sie selbst ganz in den Hintergrund treten kann. Die Miene ist die Außenseite der Trauer, beide bilden eine natürliche Einheit.129

Stein sagt nun weiter: Das Verständnis des leiblichen Ausdrucks baut sich auf auf das Erfassen des fremden Leibes, der bereits als Leib eines Ich aufgefaßt ist. Ich versetze mich hinein in den fremden Leib, vollziehe das Erlebnis, das mir mit der betreffenden Miene bereits leer mitgegeben war, und erlebe, wie es in jenem Ausdruck endet.130

126 Stein,

Einfühlung, 20.  Rieß, Der Andere im Selbst, 122. 128  Stein, Einfühlung, 75. 129 Stein, Einfühlung, 95. 130  Stein, Einfühlung, 100. 127

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Damit ist das Verstehen, das sich durch den Einfühlungsakt ergibt, eingefühltes Verstehen, das mich erleben lässt, wie beim Anderen ein Ausdruck aus dem Ausgedrückten hervorgeht.131 Hierbei kommt eine Form der nonverbalen, auf leiblichem Ausdruck basierenden Kommunikation zustande, bei der ein Subjekt einen erlebenden Zugang zum Seelenleben des Anderen bekommt: „So werde ich durch das Phänomen des Ausdrucks hineingeführt in die Sinnzusammenhänge des Psychischen [meines Gegenübers].“132 In einer Reihe solcher Momente eingefühlten Verstehens „konstituiert sich uns das [andere] Individuum nach allen seinen Elementen“, auf diese Weise also werden uns Eigenschaften, Charakter und Wesen des Anderen nicht nur erlebbar, sondern auch bekannt im eigentlichen Sinne. Eingefühltes Verstehen ist zugleich ein täuschungsfreies, unzweideutiges Verstehen, ein Verstehen verborgenen inneren Befindens, ein durchschauendes, durchdringendes Verstehen, ein Verstehen preisgegebener Eigenschaften, ein Verstehen, welches das Wesen des anderen zu erfassen in der Lage ist. 2. Dignität: Stein formuliert einen entscheidenden Aspekt, der als funktionale Bestimmung von Einfühlung über andere Entwürfe ihrer Zeit hinausgeht: Die Hand, in die ich mich eingefühlt habe, steht mir am Ende des Einfühlungsprozesses, wie er soeben erläutert wurde, in anderer Weise gegenüber: Während die Hand auch zuvor zumindest bereits als empfindende Hand wahrgenommen wurde, erhält sie nun als diese empfindende Hand für mich „eine […] neue Dignität, weil das Leervorgestellte seine Erfüllung gefunden hat“133. Durch einfühlende Vergegenwärtigung geht also eine Leervorstellung, ein bloßes Sehen des anderen erlebenden Leibes zu einem Leib über, der in der eigenen Wahrnehmung eine substanzielle Füllung erhält, der von mir empfindend als empfindender Leib erfahren wird. Eine spezifische Qualität, ein Wert tritt in dieser Füllung mit hinzu. Weitet man das erkenntnistheoretisch angelegte Beispiel der empfindenden Hand auf jedwede unmittelbare Begegnungssituation zwischen Subjekten aus, kann dies analog formuliert werden: Einfühlung verleiht der eingefühlten Person in der Wahrnehmung der Einfühlenden in jenen nicht-originären Leerstellen eine erfüllende Dignität, die sich durch eine spezifische Grenzüberschreitung ergibt: Diese besteht ebenso wie im Beispiel der Hand im Übergang zur erlebenden Erfahrung des fremden erlebenden Bewusstseins. Dies lässt ein neues Verhältnis zwischen Subjekten entstehen, indem der Andere in der eigenen Wahrnehmung als Träger von Dignität, als Träger menschlicher Würde und mehr noch, als erfüllte Personifizierung menschlicher Würde als Gegenüber existiert. Diese Existenz des Anderen besteht nicht nur für den Einfühlungsmoment selbst, wie es etwa durch eine momenthafte Einfühlung in ein momentanes Empfinden der Fall wäre. Hier geht es um eine  Vgl. Stein, Einfühlung, 100.  Stein, Einfühlung, 103. 133  Stein, Einfühlung, 77. 131 132

2.4  Mitgefühl als sittlicher Wert. Die Phänomenologie Max Schelers

61

prinzipielle, überdauernde Kennzeichnung des Anderen innerhalb der eigenen Wahrnehmung, die eine Begegnung grundlegend prägt und dem Individuum Erfahrungen von Begegnung und Beziehung ermöglicht, nämlich die Erfahrung innerer Beteiligung eines Anderen an der eigenen erlebten Wirklichkeit.

2.4  Mitgefühl als sittlicher Wert. Die Phänomenologie Max Schelers Eine letzte hier zu betrachtende Theorie ist die Sympathietheorie Max Schelers. Dass diese als phänomenologischer Entwurf beschrieben wird, mag zunächst verwundern; ist doch Max Scheler in erster Linie als Begründer der in den 1920er Jahren aufkommenden Philosophischen Anthropologie geläufig. Der Titel seiner Theorie aber gibt jenen theoretischen Rahmen zu erkennen: Wenn Scheler in seiner Schrift Über Wesen und Formen der Sympathie (1923)134 spricht, geht es ihm im Kern um die Beschaffenheit und Ausdifferenzierung von Grundlagen möglicher Erfahrung. Mit diesem Anliegen ist der Kernbereich der Phänomenologie beschrieben.135 Sympathie nun  – und damit nutzt er den gleichen Begriff wie Hume und Smith, wenngleich in anderer Bedeutung  – wird bei Scheler als übergeordnete Bezeichnung für alle gefühlsbasierten Begegnungen zwischen Menschen verwendet.136 Unter diesem Begriff der Sympathie werden nun verschiedene idealtypische Formen von Mit-Gefühl zusammengeordnet, die im menschlichen Miteinander vorkommen, in ihrer Phänomenalität aber voneinander zu unterscheiden sind. Scheler selbst unterscheidet vier Formen, die aber von Schloßberger sinnvoll zu einer Trias gefasst werden:137 1. Die Gefühlsansteckung bzw. Einsfühlung, 2. das verstehende Nachfühlen und 3. das echte Mitgefühl. Unter Gefühlsansteckung versteht Scheler kein Mitgefühl im eigentlichen Sinne, sondern die Ansteckung des eigenen Erlebens mit einem freudigen oder leidenden Gefühl eines Anderen, ohne dass aber ein unmittelbares Wissen um die Quelle des eigenen Erlebens. Dieses angesteckte Gefühl muss nicht notwendigerweise durch ein Gefühl einer anderen Person ausgelöst sein, sondern kann auch durch eine Stimmung oder Atmosphäre sowie durch objektive Reize übertragen werden. Dabei tritt häufig ein Effekt zwischen Ursprungsempfinden und angestecktem Empfinden ein, durch den das Empfinden sich gegenseitig aufschaukelt und aneinander angleicht. Dieser Prozess ist unbewusst, insofern weitgehend unverfügbar und führt zu einer starken Entsprechung etwa von  Scheler, Max: Über Wesen und Formen der Sympathie, hg. v. Frings, Manfred S., Bonn

134

1999.

 Vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 152.  Vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 192. 137  Darin kommt Schloßbergers ganzheitliche, werkgeschichtliche Arbeit zum Ausdruck, die Schelers beginnende Theoriebildung von 1913 und die von 1923 integriert. 135 136

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Leid und übertragenem Leid.138 Dies funktioniert über das Mitvollziehen des Ausdrucks des Anderen, das aber distanzlos als das ursprünglich eigene Erleben empfunden wird.139 Eine besondere Ausprägung ist nach Scheler die echte Einsfühlung. In dieser extremen Ansteckungsform wird das fremde Erleben durch einen vollständigen Identifikationsprozess von Ich und Anderem als eigenes erlebt, sodass sich Menschen als eins fühlen. Solche Formen der Einsfühlung liegen in ganz unterschiedlichen Szenarien vor: Formen des Ahnenkults, Ekstaseerfahrungen, Hypnose, Selbstunterwerfung, Masochismus und pathologische Bewusstseinsspaltungen, aber auch kindliches Rollenspiel, das für Kinder oftmals Echtheitsqualität hat, Verschmelzungsphänomene zwischen Liebenden oder auch Gruppen sowie Momente innerhalb der Mutter-Kind-Liebe stellen für Scheler sämtlich diese Art der Einsfühlung dar.140 Das verstehende Nachfühlen will Scheler mit besonderer Deutlichkeit vom eigentlichen, echten Mitfühlen unterschieden wissen. Unter Nachfühlen versteht er einen Prozess, in dem verstehend, erfassend, wahrnehmend das fremde Erleben vergegenwärtigt wird. Diese Vergegenwärtigung macht es möglich, sich auch ohne das spezifische Mitgefühl das Erleben des Anderen zur Gegebenheit zu bringen. Dabei kommt ein zentraler Aspekt in Schelers Theorie zum Tragen, der sich auf die Möglichkeitsbedingungen jenes Verstehens bezieht: Während andere Phänomenologische Einfühlungstheoretiker seiner Zeit eine Zerlegung der wahrgenommenen Komponenten in physische und psychische Ausdrucksanteile postulieren, geht Scheler davon aus, dass der Ausdruck einer Person mit dem ausgedrückten Erleben eine leibliche Ausdruckseinheit bildet. In dieser Ausdruckseinheit ist das Wesen von Erleben und Ausdruck konstitutiv verfasst. Eine nachfühlende Person hat das Erleben des Anderen unmittelbar in dieser psychophysischen Indifferenz. Nicht dagegen bedarf es nach Scheler des Nachahmens oder des Mitvollzugs des Erlebten. Eine universale Grammatik des Verstehens bewirkt, dass die nachfühlende Person nicht fühlen muss, was der Andere fühlt, um zu verstehen, wie er sich fühlt.141 Davon zu unterscheiden ist nun das Mitgefühl im eigentlichen Sinne. Mitgefühl ist bei Scheler ein eigener Gefühlszustand, der bei der nachfühlenden Person als Konsequenz des Nachfühlens entstehen kann. Im Mitgefühl artikuliert sich das Wissen um die Tatsache und auch um „Natur und Qualität“142 des fremden Erlebens, ohne aber das fremde Gefühl selbst zu empfinden. In dieser Weise bezieht sich das Mitfühlen auf das Fremderleben, tritt aber ausschließlich zum Nachfühlen hinzu als unintendierte, gleichsam authentische Teilhabe am 138 Vgl.

Scheler, Formen der Sympathie, 25 ff.  Vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 193. 140  Vgl. Scheler, Formen der Sympathie, 29 ff. 141  Vgl. Scheler, Formen der Sympathie, 20 ff.; vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 151 f.; 158. 142  Scheler, Formen der Sympathie, 19. 139

2.4  Mitgefühl als sittlicher Wert. Die Phänomenologie Max Schelers

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Erleben des Anderen. Dass dieses echte Mitgefühl aber vom Erleben des Anderen sich phänomenal unterscheidet, macht Scheler anhand einer Unterscheidung deutlich: Als mitfühlend lassen sich auch zwei Eltern am Grab ihres gemeinsamen Kindes beschreiben. Diese Art mitzufühlen meint ein Miteinander-Fühlen desselben Schmerzes, indem die Eltern miteinander fühlen und miteinander erleben. Gefühl und Qualität des Gefühls sind prinzipiell gleich, Leid und MitLeid sind dasselbe, zudem ist das Erleben des Einen nicht die Ursache für das Erleben des Anderen. Scheler bezeichnet dies als mitfühlen mit jemandem.143 Davon unterscheidet sich das, was Scheler mitfühlen an etwas nennt. Hierunter fasst er das Mitfreuen an der Freude des Anderen und das Mitleiden am Leid des Anderen. Mitgefühl ist damit Oberbegriff für Mitfreude und Mitleid und meint ein intentionales Fühlen „am Erlebnis des Anderen“144. Dabei wird das fremde Erleben als ein fremdes gegenwärtig, Leid und Mit-Leid (Mitgefühl) stellen dann zwei verschiedene Phänomene dar. Das Mit-Leiden ist ein Gerichtetsein auf den Anderen als Anderen und in dieser Alterität spielen Nachahmen oder Reproduktion des ursprünglichen Leides keine Rolle. Stattdessen wird der leidende Andere in dessen Individualität in das eigene Mitfühlen konstitutiv einbezogen.145 In seiner Theorie von den verschiedenen Formen des Sympathisierens macht Scheler nun ein internes Prinzip deutlich. Sympathie unterliegt dem Fundierungsgesetz, d. h. er ordnet in der Steigerungslogik eines Stufenmodells die einzelnen Formen des Sympathisierens zueinander. Nur wo die jeweils vorherige Form als Fundament gegeben ist, kann die nächstfolgende Form darauf aufbauen.146 Dabei ist das Prinzip des Einsfühlens die basale Form, die hier entgegen den obigen Beispielen konkreter Einsfühlung, eher als gefühlsmäßige Verbundenheit zu verstehen ist (ähnlich wie es der Sprachgebrauch „sich mit der Welt/seinen Mitmenschen eins fühlen“ ausdrückt). Dieses basale Einsfühlen ist die Grundlage für das Nachfühlen. Nur auf der Grundlage der gefühlsmäßigen Reaktion also kann ein komplexeres Verstehen erfolgen. Dabei merkt Scheler interessanterweise bereits an, was im folgenden Kapitel noch eine Rolle spielen wird: Das Einsfühlen geht auch entwicklungspsychologisch dem verstehenden Nachfühlen voraus. Wie es bereits in der Differenzierung von Nachfühlen und Mitfühlen angeklungen ist, bildet jenes Nachfühlen die Grundlage für das echte Mitfühlen. Während also das Nachfühlen auch ohne das echte Mitgefühl auskommt, ist echtes Mitgefühl nur auf der verstehenden Basis möglich. Damit erhebt Scheler das Mitgefühl zu einer gehobenen Form der Sympathie, der eine Schlüsselfunktion zukommt. Er macht an einem Beispiel deutlich, dass das Mitgefühl das entscheidende Quantum sozialen Miteinanders ist: Ein Mensch, der  Vgl. Scheler, Formen der Sympathie, 23 f.; vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 197.  Scheler, Formen der Sympathie, 24. 145  Vgl. Scheler, Formen der Sympathie, 24; vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 195; 198 f. 146  Vgl. Schloßberger, Erfahrung des Anderen, 199. 143 144

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

sich am Leid des Anderen Lust verschafft, beherrscht besonders gewandt die Fähigkeit des Nachfühlens. Auf diese Weise weiß er, was zum Leid des Anderen überhaupt führt und für ihn einen Lustgewinn bedeutet. Deutlich sichtbar aber ist auch, dass eben jenem in der Konsequenz das Mitgefühl fehlt, sodass eben hierin die Verderbnis der Situation liegt.147 Wo Mitgefühl aber entsteht, da kommt seine eigene Bedeutung besonders deutlich zum Vorschein: „Der andere ist dir als Mensch, als Lebewesen gleichwertig, der andere existiert so wahr und echt wie du; Fremdwert ist gleich Eigenwert.“148 Mitgefühl also  – und darin ähnelt Scheler den Ausführungen Steins zur Dignität – führt dem Menschen vor Augen, dass der Andere überhaupt in gleicher Realität da ist und zudem von gleichem Wert ist wie er selbst. Damit markiert Scheler Mitgefühl als Kernprinzip menschlichen Miteinanders, in der die eigentliche Funktionsbestimmung von Mitgefühl erkennbar wird: Schelers Ziel ist, mit der Theorie über das Mitgefühl „die Einseitigkeit der Rationalität aufzudecken und die Ergänzungsbedürftigkeit der Vernunft durch die Funktion des Herzens [zu] erweisen“149. Dem Mitgefühl, wie er es in seiner Phänomendifferenzierung entfaltet, kommt dabei ein sittlicher Wert zu, solange es nur konsequent von Gefühlsansteckung und Einsfühlung unterschieden wird. Anderenfalls erfährt das Mitgefühl eine verzerrte Wertung für die menschliche Sozialität. Scheler schafft es, den durch Schopenhauer und Nietzsche dominierten Diskurs um den Mitleidsbegriff zu entzerren, indem er das eigentliche konkrete Mitleidsphänomen von Erscheinungsformen der Sympathie trennt, die zuvor sämtlich unter dem Mitleidsbegriff geführt wurden.150 Damit erreicht er auch, jene Phänomene der Sympathie einer differenzierten Wertung zu unterziehen. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Scheler in dieser frühen Phase des Jahrhunderts bereits verschiedene Ambivalenzen erkennt, die mit dem undifferenziert betrachteten Mitgefühl zusammenhängen können und die deshalb konkreter Kriterien für die Formulierung ethischer Anforderungen bedürfen, um das Potenzial des echten Mitgefühls evident zu machen: 1. Mitgefühl muss in seiner „Dienstfunktion [erkannt werden], einen Anderen besser zu verstehen und ihm weiterhelfen zu können“151. Mitgefühl ist ein dienstbares Mittel um des Anderen willen. 2. Der Mitfühlende darf sich nicht im Leid des Anderen verlieren, indem er im fremden Empfinden aufgeht. Auf diese Weise ist kein echtes Mitgefühl möglich, weil der Mitfühlende nicht er selbst bleibt: „Das Aufgehen in einem allgemeinen Leidensbrei schließt echtes Mitleid aus“152, so Scheler und 147 Vgl.

Scheler, Formen der Sympathie, 25. Formen der Sympathie, 71. 149 Koffler, Joachim: Mit-Leid. Geschichte und Problematik eines ethischen Grundwortes, Würzburg 2001, 138. 150  Vgl. Koffler, Mit-Leid, 141. 151 Koffler, Mit-Leid, 141. 152  Scheler, Formen der Sympathie, 66. 148 Scheler,

2.4  Mitgefühl als sittlicher Wert. Die Phänomenologie Max Schelers

65

verweist dabei erneut auf das Nachbarphänomen der Einsfühlung. 3. Damit setzt Mitgefühl notwendig das Alteritätsbewusstsein voraus, dass also der Andere in seiner Andersheit und in seiner Individualität als Anderer wahrgenommen wird.153 Wenn diese Kriterien erfüllt sind, so spitzt er die Funktion des Mitgefühls zu, dient Mitgefühl der ontischen Transzendierung des Egozentrismus. Der Mensch lebt in der Annahme von der reinen Bezogenheit des Anderen auf das eigene Ich und von der Entsprechung der eigenen Welt mit der Welt an sich; darin kulminierten Egoismus, Solipsismus und Autoerotismus.154 „Und eben hierin besteht die ‚metaphysische Täuschung‘. Sie wird überwunden in der sich in Mitgefühl wesensgerichteter Art bekundende Gesinnungswandlung, Herzenswandlung des Seins der seelischen Realität selbst, keineswegs in bloßen Bewußtseinserscheinungen, in denen sich die Wandlung nur spiegelt und kundgibt“155.

In dieser Gesinnungswandlung versteht der Mensch sich selbst als mit anderen Menschen wesenhaft verbunden und „über die immanenten Beziehungen hinaus [in] seine[r] transzendenten Verwiesenheit auf seinen Schöpfer“156. Was Scheler mit dieser Funktion formuliert, kommt nicht einem naiven Liebespathos gleich, sondern weist die komplexe Herausforderung des Mitfühlens aus, so wie es beide Seiten des Mitgefühls betrifft und was von Schloßberger als Kern zwischenmenschlicher Anerkennung rekonstruiert wird.157 Damit formuliert Scheler sehr wohl aber die im Mitgefühl ebenso gegebene Fundierung einer allgemeinen Menschenliebe (humanitas) als Liebe zum Mitmenschen qua seines Menschseins und bindet daran ein ebensolches Bewusstsein von der prinzipiellen Gleichheit des Anderen.158 Zwischenfazit Was tragen nun die hier reflektierten Theorien für das Nachdenken über Empathie aus? Sympathie, so lässt sich zunächst mit den Theorien der britischen Moralphilosophen Hume und Smith sagen, ist zu verstehen als grundlegender Prozess von Intersubjektivität. Insofern intersubjektives Verstehen ein grundlegendes Wirkungsprinzip darstellt, bildet Sympathie die Grundlage von Gemeinschaft. Sympathie scheint zudem, so lernen wir insbesondere von Hume, mit situativer Angemessenheit zu tun zu haben. Bei Hume selbst geht es um eine Angleichung zu angemessenen Gefühlen. Freilich kann es aus heutiger Sicht als problematisch erscheinen, von an sich angemessenen bzw. unangemessenen 153 Vgl.

Koffler, Mit-Leid, 142 ff. Scheler, Formen der Sympathie, 69 f.; vgl. Koffler, Mit-Leid, 145 f. 155  Scheler, Formen der Sympathie, 70. 156  Koffler, Mit-Leid, 146. 157 Vgl. Schloßberger, Formen der Sympathie, 207 ff. 158  Vgl. Scheler, Formen der Sympathie, 105 ff. 154 Vgl.

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2  Geistesgeschichtliche Zugänge zu Phänomenen des Empathischen

Gefühlen zu sprechen. Doch liegt vielleicht hierin dem Prinzip nach ein nicht unbedeutender Aspekt auch für das Nachdenken über Empathie. Eine erste Intuition an dieser Stelle könnte folgende sein: Angemessenheit spielt durchaus eine Rolle für beide beteiligte Personen einer Situation, in der Empathie stattfindet. Diese Angemessenheit bemisst sich aber weder an dem Empfinden des Empathiebedürftigen noch an dem Empfinden des Empathisierenden allein. Vielmehr tariert sich die Angemessenheit im Geschehen selbst aus und erweist sich auch darin als ein zutiefst interdependenter Prozess. Sympathie schließlich, so kommt in beiden Ansätzen besonders deutlich zum Ausdruck, hängt nicht nur mit Moral zusammen, sondern ist sogar Quelle für moralische Urteilsfähigkeit. Aus der Reflexion der hermeneutischen Positionen Schleiermachers und Diltheys lässt sich für Empathie der Begriff des Verstehens gewinnen. Für Schleiermacher ist Verstehen die Interpretation von Sinn aus Sprache und Ausdruck und hat dabei die Aufgabe, das ganze Individuum in dessen Erleben hinter einem Ausdruck zu rekonstruieren. Bei Schleiermacher und Dilthey gleichermaßen wird dabei deutlich: Beim Verstehen geht es nicht um den Verstehenden selbst, sondern um den Anderen, um dessen innere Prozesse, um eine Bewegung auf den Anderen zu, indem der Verstehende ihn in seiner Ganzheitlichkeit und Individualität erfasst. Zugleich aber – und das lernen wir spezifisch von Dilthey – ist das Verstehen ein grundlegendes humanspezifisches Wirklichkeitsverhältnis. Es wird dabei zum Schlüssel für das Erleben von Alterität zwischen dem eigenen und dem fremden Leib. Für den Verstehensprozess ist damit die Aufgabe verbunden, in jener Bewegung auf den Anderen zu das eigene Erlebnismaterial zu nutzen und sich selbst in dessen Lebensäußerungen zu übertragen (hineinzuversetzen), ohne aber den eigenen Erlebensraum zu verlassen. Unter diesen Bedingungen kommt dem Verstehen das Potenzial zu, den Anderen in dessen Wert, Selbstzweck und Autonomie anzuerkennen und Solidarität zu zeigen. Diese Semantik von Verstehen lässt Empathie als Kippfigur erscheinen, die in der Ambiguität für den Anderen und distanziert zu ihm verfasst ist. Auf diesen Aspekt wird später eingehend zurückzukommen sein. Ein interessanter Aspekt in der Hermeneutik Schleiermachers ist zudem die Bedeutung des Missverstehens, das er als selbstverständliche Grundsituation und sogar als Ausgangslage eines Verstehensprozesses einführt. Für das Nachdenken über Empathie lässt sich hieraus lernen, dass das ihr inhärente Verstehen nicht auf Harmonisierung ausgerichtet sein muss, sondern auch von Nicht-Verstehen, Missverstehen oder Dissonanz begleitet oder sogar ausgelöst sein kann. Mit den beiden phänomenologischen Ansätzen Edith Steins und Max Schelers werden die Phänomene des Empathischen in ihrem zwischenmenschlichen Wert in den Blick genommen. Durch die begriffliche Unterscheidung von Originarität, Nicht-Originarität und Konoriginarität macht Stein ebenfalls den Alteritätsaspekt deutlich und erklärt daraus das Phänomen der Einfühlung zur

2.4  Mitgefühl als sittlicher Wert. Die Phänomenologie Max Schelers

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einzigen Möglichkeit des echten Zugangs zum Erleben des Anderen. Der soziale Wert der Einfühlung liegt nach Stein aber vor allem darin, dass sie das bloße Verstehen qualitativ anreichert, sodass der Einfühlende nach dem Einfühlungsprozess einen veränderten Blick auf den Anderen in neuer Dignität gewinnt. In diese Richtung schließlich gehen auch die Ausführungen Schelers, der nicht Einfühlung, sondern Mitgefühl phänomenologisch untersucht. Er zeigt vor allem auf, dass das echte Mitgefühl, verstanden als von anderen Sympathiephänomenen zu differenzierende Form des Mitfühlens, eine kaum zu überschätzende eigene Qualität und Schlüsselfunktion im zwischenmenschlichen Miteinander hat, die über verstehendes Nachfühlen hinausreicht und das Potenzial hat, im Menschen einen tatsächlichen Wandel zu einer anderen Form der Liebe einem jeden Anderen gegenüber anzustoßen. Dabei ist vor allem aber seine Argumentation interessant, die zu diesem Schluss führt. Was ihn zur Notwendigkeit der phänomenalen Differenzierung veranlasst, ist die Erkenntnis, dass mit dem Mitfühlen auch verschiedene Schwierigkeiten verbunden sein können, etwa die Diffusion von eigenem und fremdem Erleben. Mit der Differenzierung und Problemanzeige bahnt Scheler bereits entscheidende Dimensionen des Sprechens von Empathie an, wie es im Verlauf dieser Arbeit noch an verschiedenen Stellen eine Rolle spielen wird und die sich auch im interdisziplinären Empathiediskurs der heutigen Zeit wiederfinden lassen. Diesen Diskurs gilt es im nun folgenden Kapitel zu betrachten.

3  Empathie im interdisziplinären Diskurs Im vorangehenden Kapitel wurden zunächst Theorien rekonstruiert, welche die menschliche Grunderfahrung des verstehenden Zugangs zu fremdem Erleben thematisieren. Diese sprachlich ein wenig umständlich anmutende Formulierung ist bis hierher der Tatsache geschuldet, dass diesen Theorien zunächst einmal nur das Thema dieser Grunderfahrung gemein ist. Jeder dieser Entwürfe benennt einerseits und konzeptualisiert andererseits die Wirkungs‑ und Funktionsweisen einer Erfahrung, für die heute die zuweilen überstrapazierte Kategorie Empathie verwendet wird. Das folgende Kapitel nun trägt einem komplexen Entwicklungsprozess im 20.  Jahrhundert Rechnung, mit dem der Empathie zu einem konjunkturellen Aufschwung verholfen wird: Zum einen erhält der Begriff Empathie Einzug in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Es gilt als wahrscheinlich, dass er als Entlehnung des englischen Begriffs empathy in die deutsche Sprache zu verstehen ist. Dieser war seinerseits durch die englische Übersetzung des Begriffs Einfühlung im Werk von Lipps und Freud durch Edward B. Titchener und James Strachey entstanden. Durch diese begrifflichen Transferbewegungen ist auch die wissenschaftliche Betrachtung des Phänomens selbst komplexer geworden.1 Der prominenter werdende Rang als Forschungsgegenstand bildet sich interessanterweise ganz analog auch im gesamtgesellschaftlichen Sprachgebrauch ab. Die untenstehende Grafik zeigt den schriftsprachlichen Wortgebrauch von Empathie an, wie er in digitalisierten Textkorpora im Zeitraum von 1900 bis heute erfasst worden ist. Bis 1950 ist das Wort Empathie lange Zeit kein einziges Mal, später dann nur ganz vereinzelt nachweisbar; erst zwischen 1950 und 1960 zeigt die Verlaufskurve einen vermehrten Wortgebrauch, der dann aber eklatant ansteigt. Es lässt sich vermuten, dass dieser Verlauf nicht unerheblich durch die politisch-gesellschaftliche Kriegssituation Deutschlands bis 1945 und dann durch die soziale Bewegung der 68er beeinflusst ist. So dürfte sich insbesondere mit der Begründung der Menschenrechte und den zivilen und spezifisch feministischen Emanzipationsbewegungen innerhalb der westlichen Gesellschaften Empathie erst in dieser Deutlichkeit etabliert haben. 1  Vgl. von Harbou, Frederik: Empathie als Element einer rekonstruktiven Theorie der Menschenrechte, Baden-Baden 2014, hier 29 f.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

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Basis: Referenz- und Zeitungskorpora (aggregiert, frei) Empathie: Gesamt

Abb. 1: DWDS-Verlaufskurve Empathie, Zeitraum 1900–2018.2

Zum anderen sind es die Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen und der damit einhergehende Fortschritt technischer und methodischer Möglichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die den bis dahin primär philosophischen Gegenstand Empathie zu einem interdisziplinären Forschungsgegenstand erheben. Durch unterschiedliche Fragen und methodische Zugänge einzelner Disziplinen wird Empathie zu einem breiten interdisziplinären Diskurs über die Sozialität des Menschen.3 Mit der Entwicklung zu dieser Komplexität ist aber auch verbunden, dass Empathie als wissenschaftlicher Gegenstand zunehmend seine definitorische Trennschärfe bzw. Eindeutigkeit eingebüßt hat. Immer wieder zeigt sich die 2 DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; DWDS-Wortverlaufskurve für „Empathie“, erstellt durch das Digitale Wörter­ buch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/r/plot?view=1&corpus=public&norm=​d​a​t​e​ %2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=10&prune=0&window=3&wbase=​0​&​l​o​ gavg=0&logscale=0&xrange=1900 %3A2018&q1=empathie, abgerufen am 13. 1. ​2020. 3  Innerhalb der sich ausdifferenzierenden Disziplinlandschaft ist auch der Forschungszweig der Genderforschung entstanden, aus dem wiederum in den 1980er Jahren die Care-Ethik hervorgegangen ist. Die intuitive Nähe zu diesem Bereich, die eine ethische Thematisierung von Empathie vermuten lässt, ist ein vielversprechendes Forschungsunternehmen, das aber in dieser Arbeit nicht in Angriff genommen wird. Eine Ethik der Empathie soll hier zunächst in ihrem eigenständigen Wert ausgelotet werden, um der Gefahr zu entgehen, dass Empathie letztlich in Care, Empathie-Ethik schließlich in Care-Ethik aufgeht.

3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

71

Notwendigkeit, Empathie zu anderen Phänomenen in Bezug zu setzen, die theoretisch abzugrenzen, in semantischer Nachbarschaft zu verorten oder gar synonym zu verwenden sind. Das Feld solcher begrifflichen Nachbarschaften ist zu allen Seiten hin offen, sodass das zu betrachtende Phänomen förmlich der Entgrenzung preisgegeben ist. In einer unmittelbaren Nachbarschaft jedoch liegen die Phänomene Mitgefühl, Einfühlung, Sympathie, Gefühlsansteckung und Mitleid, die von Empathie abzugrenzen unumgänglich sind.4 Das Ziel der folgenden Darstellung ist nun, Perspektiven jenes interdisziplinären Diskurses über Empathie einzuholen, die zum einen eine dominante Position im Diskurs einnehmen und insofern eine unverzichtbare inhaltliche Perspektive aktueller Forschung zu Empathie repräsentieren. Zum anderen versprechen diese betrachteten Perspektiven einen je spezifischen Ertrag für die Frage nach der moralischen Valenz von Empathie, die im zweiten Teil dieser Arbeit normativ-ethisch ausgelotet werden soll. Zu diesem Zweck geht nun dieses Kapitel also von der diachronen Darstellung zu einer synchronen Darstellung über. Eine solche legt nahe, die Forschung nach einzelnen Wissenschaftsdisziplinen sortiert darzustellen. Wenngleich sich eine solche Einteilung auch hier nicht ganz vermeiden lässt, um sich auf wissenschaftlich gesichertem Boden zu bewegen, so soll die Komplexität des Gegenstandes doch aber darin zum Ausdruck kommen, dass Empathie im Horizont ihrer jeweiligen thematischen Rahmung zur Darstellung gebracht wird. Insofern wird Empathie zunächst als Phänomen menschlicher Kognition und Emotion betrachtet. Diese Perspektive hat ihren Ort in empirischen Wissenschaftsbereichen, die sich mit dem psychischen Innern des Menschen befassen, das sind ganz traditionell die Psychologie und als jüngste Disziplin die Neurowissenschaften, welche die neuronalen Strukturen dabei in den Blick nimmt. In einem zweiten Schritt wird Empathie als Phänomen dargestellt, das in sozialem Handeln eine Darstellung dieses Innern erfährt. Dabei befinden wir uns im Bereich der soziologischen Forschung, die sich mit den sozialen Bedingungen menschlichen Handelns beschäftigt. Im dritten Teil wird dann Empathie als Phänomen menschlicher Intersubjektivität betrachtet; dabei wird Empathie in ihrer eigenen Beschaffenheit als Erfahrung thematisch, sodass sich hier zugleich ein Bogenschluss zum Ausgang des historischen Kapitels ergibt.

4  Bezeichnend für diese Situation ist, dass etwa das Historische Wörterbuch für Philosophie keinen eigenen Eintrag für das Lexem Empathie kennt, das Phänomen aber im Kontext benachbarter Lexeme wie Mitleid, Sympathie, Einfühlung beschreibt (vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried, Basel, 1971–2007).

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion. Psychologie und Neurowissenschaften Der erste thematische Rahmen also, in dem Empathie darzustellen ist, ist der Bereich von sozialer Kognition und Emotion. Soziale Kognition wie auch soziale Emotionen umfassen kognitive Wahrnehmungs‑ und Verarbeitungsprozesse bzw. affektive Reaktionsprozesse, die in sozialen Bezügen eines Subjekts eine Rolle spielen.5 Empathie in diesem thematischen Horizont kann nun aus zwei unterschiedlichen disziplinären Perspektiven betrachtet werden: aus der Perspektive der Psychologie und der Neurowissenschaften. Wenngleich sprachlich und wissenschaftstheoretisch von zwei voneinander unterschiedenen Disziplinen zu sprechen ist, die ihre je eigene Zielsetzung und Methodik behaupten, so sollen diese Perspektiven hier jedoch als zwei Seiten der gleichen Medaille verstanden werden: Beide untersuchen innere Prozesse und ausgedrücktes Verhalten bei Empathie. Die neurowissenschaftliche Seite erforscht dabei aber spezifisch, in welchen neuronalen Strukturen sich das abbildet, was sich in beobachtbarem Verhalten zeigt. Es wird das Ziel verfolgt, diese Perspektiven in größtmöglicher Differenzierung und dabei in größtnötigem Zusammenhang darzustellen.6 5  Vgl. K. A.: Art. Soziale Kognition, in: Dorsch Lexikon der Psychologie, hg. v. Wirtz, Markus Antonius, Göttingen 192020, online verfügbar: https://portal.hogrefe.com/dorsch/soziale-kog​ nition/, abgerufen am: 14. 1. ​2020. 6  Psychologie und Neurowissenschaften gehören zur Gruppe der empirischen Wissenschaften. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden generiert, indem fachspezifische und sachrelevante Messverfahren eingesetzt werden. Erhobene Daten und statistische Berechnungen zeigen Korrelationen an, die im Anschluss an die Datenerhebung fachbezogen interpretiert werden. Mit dieser methodischen Grundanlage sind insbesondere im Falle der Forschung am Menschen immer auch ethische Sensibilitäten verbunden, die im Rahmen fachspezifischer Forschungsethik empirische Datenerhebung begleiten. Innerhalb der psychologischen Empirie stellt etwa die Forschung an sogenannten vulnerablen Personen, also Kindern, Menschen mit Behinderungen oder Demenzpatienten, eine besondere ethische Herausforderung dar; in neurowissenschaftlicher Forschung ist es zudem vor allem die Forschung am menschlichen Gehirn, das als Sitz physischer und psychischer Individualität eine besondere Rolle im menschlichen Organismus spielt. Die besondere Sensibilität dieses Themas ist zudem durch die Forschungsgeschichte bedingt, in der zuweilen dauerhafter Schaden oder Tod von Probanden billigend in Kauf genommen wurde, die oft gar nicht wussten, dass sie überhaupt Probanden waren. – Insofern sei hier ein Blick auf die ethischen Parameter gerichtet, die für die Forschung am Menschen konstitutiv sind: Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen Heilversuchen, deren primärer Zweck eine Situationsverbesserung des individuellen Patienten ist und Humanexperimenten, deren primärer Zweck in einer wissenschaftlichen Erkenntnis liegt. Diese Zweckbestimmungen schließen einander nicht aus und dürfen als zusätzlicher Nutzen des jeweils anderen gegeben sein. Humanexperimentelle Forschung betrachtet unhintergehbar den Menschen als Träger von Würde. Das schließt grundsätzlich aus, dass Menschen als ausschließlich instrumentelle Forschungsobjekte angesehen werden und die drei Grundprinzipien der Selbstbestimmung, des Nichtschadens und der Gerechtigkeit zum Maßstab konkret ethischer Bestimmungen gemacht werden. Im Falle von Humanexperimenten sind alle drei Prinzipien potenziell gefährdet, sodass aus ihnen drei entsprechende Grundbedingungen hervorgehen: (1) Mit der informierten

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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3.1.1  Psychologie der Empathie Für die psychologische Erforschung sozialer Kognition und Emotion, die von Beginn an den wohl größten Raum des Diskurses behauptet hat, können sehr Einwilligung ist verbunden, dass Probanden schriftlich und mündlich die eigene und freie Entscheidung zum Experiment treffen unter der Bedingung der vollständigen, allgemein-verständlichen Informiertheit über Wesen, Bedeutung und Tragweite des Experiments sowie des Rechts der Rücknahme der Einwilligung zu jeder Zeit und ohne Angabe von Gründen. Einwilligungsunfähige Personen, also Kinder etwa, bilden einen besonderen Schwierigkeitsbereich für die Ethik, der über zusätzliche Schutzmaßnahmen zu regeln versucht wird: A. Ausschließlich müssen diese Personen als Probanden infrage kommen, B. Es darf nur ein minimales Maß an Risiko und Belastung gegeben sein und C. Die Probanden müssen möglichst an der Entscheidung via Zustimmung beteiligt werden. (2) Die Schaden-Nutzen-Abwägung sorgt dafür, dass die psychophysische Belastung des Probanden in ausgewogenem Verhältnis stehen muss zum Erkenntnisgewinn, der durch methodische Unbedenklichkeit zu erreichen ist und nicht dauerhafter Schaden oder Tod riskiert wird; auch muss jene Belastung des Probanden in ausgewogenem Verhältnis zum erwarteten individuellen und wissenschaftlichen Nutzen stehen. Experimente mit vulnerablen Personen müssen besonders sorgfältig und als Einzelfall eingeschätzt werden. Formal muss diese Abwägung zwischen Belastung und Schaden unterscheiden und vor Beginn des Experiments erfolgen. Nicht vollständig auszuschließende Schäden sind zu versichern. Prinzip (1) und (2) begrenzen sich gegenseitig. (3) Die gerechte Probandenauswahl ist sachorientiert zu fällen, d. h. es kommen exakt die Probanden in Frage, die für den Zweck der Sache entscheidend sind. Das bedeutet im Falle vulnerabler Personen, dass nach dem Subsidiaritätsprinzip ausgewählt wird, d. h. diese kommen nur dann als Probanden infrage, wenn keine anderen Personen als Probanden ebenso eingesetzt werden könnten. – Im Falle der Neurowissenschaften spitzt sich die ethische Beurteilung zu, die innerhalb der Neuroethik verhandelt wird und mit der spezifischen Durchführung und Auswertung neurowissenschaftlicher Forschung zusammenhängt. A. Da inzwischen die Technik bildgebender Verfahren (s. Kap. 3.1.2) weit fortgeschritten ist, ist die überwiegende Forschung nicht-invasiv. Andererseits bestünde mit psychochirurgischen Verfahren, wie sie noch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts praktiziert wurden, die große Gefahr, dass sich die Persönlichkeit bzw. personale Identität nachhaltig verändert. B. Die Gefahr beim Einsatz von Placebos in Medikamentenstudien liegt in schwankenden oder belasteten Zuständen der Probanden. Dies wird über das Prinzip des klinischen Gleichgewichts geregelt: Randomisierte Studien, in denen Probanden wechselnde Therapeutika erhalten, sind nur unter der Bedingung zulässig, dass über die Effektivität der Therapieformen im Zeitraum der Erhebung noch keine Klarheit existiert. C. Das Prinzip der Kosten-NutzenAbwägung ist hier in Bezug auf vulnerable Personen besonders zu bedenken. MRT-Studien sind zwar nicht-invasiv, bedürfen aber eines ruhigen Probanden, damit Ergebnisse eindeutig sein können. Kinder zu wissenschaftlichen Zwecken unter sedierende Medikamente zu setzen, ist entsprechend besonders problematisch und müssen sehr genau abgewogen werden. Ein schlichtes Verbot wäre dabei nicht zwingend zielführend, denn eine geringe Befundlage bringt zwangsläufig geringere Therapiemöglichkeiten mit sich. D. Schließlich ist die Neuroethik noch vor die Herausforderung gestellt, welche Möglichkeiten mit Befunden über den eigentlichen Zweck hinaus verbunden sind: Es stellt sich dabei zum einen die Frage nach dem ethischen Umgang mit Neuroenhancing, also der Verbesserung mentaler Leistungen, auch wenn keine Indikation vorliegt, etwa durch Medikamente zur Steigerung von Konzentration, Wachheit, Aufnahmefähigkeit etc.; zum anderen stellt sich die Frage, wie mit der Durchbrechung der Grenzen der Privatheit umzugehen ist, die durch Studien über Einstellungen, Neigungen und Charakteristika einer Person entsteht. Unter dem Begriff Brain Privacy wird neben dem Thema der Intimität bei der Datenerhebung auch das sog. Neuromarketing für die Wirtschaft oder das das Brain Fingerprinting für die Kriminologie diskutiert. Dabei stellt sich nicht zuletzt die Frage nach dem interpretativen Wert der erhobenen Daten, sodass Überinterpretation eine Gefahr

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

verschiedene Fragen das Erkenntnisinteresse leiten, je nachdem, im Rahmen welches psychologischen Forschungsbereiches auf das Phänomen geblickt wird. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf drei Binnenperspektiven, die für eine spätere ethische Betrachtung von spezifischer Bedeutung sind und zugleich zentrale psychologische Grundlagen von Empathie reflektieren: 1. Die Entwicklungspsychologie fragt nach den psychologischen Bedingungen von Empathie: Wie entwickeln sich Fähigkeiten sozialer Kognition insbesondere im Kindesalter, in jüngerer Forschung auch über die Lebensspanne hinweg? Welche Entwicklungsschritte sind zu beschreiben bzw. notwendig, damit sich Kinder überhaupt zu empathischen Menschen entwickeln? 2. Die noch jüngere Forschung der Positiven Psychologie fragt grundsätzlich nach psychologischen Bedingungen und Einflussfaktoren gelingenden Lebens und in Bezug auf soziale Kognition entsprechend nach dem Einfluss empathischen Wahrnehmens und Handelns auf Wohlbefinden und Resilienz. 3. Aus der Perspektive der Klinischen Psychologie werden – dem Anliegen der Positiven Psychologie entgegengesetzt  – Zustände erforscht, in denen eine vorübergehende oder dauerhafte Einschränkung oder Pathologie sozial-kognitiver Fähigkeiten vorliegt. Unter welchen psychischen Umständen kann Empathie als eingeschränkt oder gänzlich verunmöglicht betrachtet werden? Beginnen wir also mit einer besonders grundlegenden Perspektive, mit der Entwicklungspsychologie. 3.1.1.1  Entwicklungspsychologie der Empathie Wenn in der Entwicklungspsychologie von Empathie die Rede ist, kann zunächst von dem gleichen Verständnis ausgegangen werden, das wir in den Neurowissenschaften kennenlernen werden. Dieses artikuliert sich in der folgenden Definition:7 Empathie [ist] die Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage oder auch der Intention eines Anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz dieser Teilhabe bleiben Gefühl bzw. Intention aber anschaulich dem Anderen zugehörig.8

darstellt bzw. die Frage, auf welchem Boden eigentlich Schlüsse über Verantwortlichkeit oder persönliche Integrität gezogen werden (vgl. Fuchs, Michael et al.: Forschungsethik. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2010, 56–76; 176–194). 7 Unzählig sind freilich die konkreten Definitionen, die in der psychologischen Forschungslandschaft ein Bild von Empathie zu zeichnen versuchen. Die hier verwendete Definition ist weder als konsensuelle Synthese innerhalb der Forschung zu werten noch als eine Entscheidung der Autorin zwischen gänzlich unterschiedlichen Alternativen. Vielmehr ist sie als besonders exemplarische Formulierung zu lesen, die 1. viele relevante definitorische Elemente vereint und damit eine einseitige Darstellung überwindet (sachliche Ebene) und 2. mit der größtmöglichen Präzision und zugleich mit der größtnötigen definitorischen Offenheit operiert (semantische Ebene). 8 Bischof-Köhler, Doris: Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bindung, Empathie, Theory of Mind, Stuttgart 2011, 261.

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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Empathie in dieser Art zu definieren, hat nicht den Zweck einer positionellen Entscheidung bezüglich definitorischer Komponenten oder der Funktionsweise von Empathie, sondern hier wird zunächst grundlegend Empathie phänomenal als menschliche Erfahrung der (zunächst unbestimmt gearteten) Teilhabe am Erleben des Anderen als eines Anderen betrachtet. Dabei wird zunächst auf eine Vorentscheidung verzichtet, welche konkrete Form die genannte Teilhaftigkeit hat bzw. auf welche spezifischen Reize sich diese Erfahrung bezieht. Stattdessen werden zwei Aspekte konstitutiv formuliert: Von Empathie ist zu sprechen, wenn 1. eine Teilhabe am Erleben des Anderen gegeben ist, die dem Empathisierenden 2. ein intersubjektives Verstehen eröffnet und 3. stets die Unterscheidung zwischen Ich und Anderem vergegenwärtigt. Die psychologische Perspektive einzunehmen, bedeutet nun zu fragen, wie es zu dieser Erfahrung der Teilhabe kommt bzw. in welchen inneren Prozessen das empathische Erleben gründet und selbst besteht. Darin wird der Schwerpunkt nicht auf die neuronalen Vorkommnisse gelegt, sondern auf die damit assoziierten Prozesse des Wahrnehmens und Denkens, die oben bereits Erwähnung gefunden haben. Diese inneren Prozesse lassen sich darstellen, wenn auf die Erstentwicklung einzelner Teilprozesse geblickt wird – das ist das Feld der Entwicklungspsychologie. Wenngleich sich die Entwicklung empathischer Fähigkeiten über die gesamte Kindheit und Jugend erstreckt und auch über die gesamte Lebensspanne in prozesshafter Entwicklung bleibt,9 ist die Herausbildung jener entscheidenden inneren Prozesse aber bereits auf das Kleinkindalter zu datieren.10 Die Entwicklungspsychologin Doris Bischof-Köhler nennt drei innere Prozessbereiche, in denen sich die empathische Erfahrung manifestiert und die zu betrachten notwendig sind: 1. Das Teilhaftig-Werden eines anderen Gefühls meint die Erfahrung, dass die von den eigenen sich unterscheidenden Gefühle anderer Personen in das eigene Erleben transferiert werden. Diese affektive Erfahrung menschlicher Sozialität entwickelt sich bereits innerhalb des ersten Lebensjahres und enthält verschiedene Entwicklungsschritte, von der reinen emotionalen Resonanzfähigkeit zu zunehmend vorkognitiven Formen des Empfindens. 2. Soziale Erkenntnis ist ein komplexer Entwicklungsbereich, in dem nun vornehmlich kognitive Erkenntnisfähigkeiten eine zunehmende Rolle spielen. Dabei geht es um das Erkennen, dass das teilhaftig gewordene Gefühl ursprünglich einer anderen Person angehört und die Perspektive des Anderen neben der eigenen existiert. Innerhalb dieses Bereichs entwickeln sich Fähigkeiten, die  9  Vgl. hierzu Blanke, Elisabeth S./Rauers, Antje/Riediger, Michaela: Weißt du, was ich fühle? – Empathie im Lebensverlauf, in: The Inquisitive Mind, 1/2016, online verfügbar auf: https://de.in-mind.org/article/weisst-du-was-ich-fuehle-empathie-im-lebensverlauf, abgerufen am: 13. 12. ​2019. 10 Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 261; Light, Sharee/Zahn-Waxler, Carolyn: Nature and Forms of Empathy in the First Years of Life, in: Decety, Jean (Hg.): Empathy. From Bench to Bedside, Cambridge/Mass. 2014, 109–130.

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mit der sogenannten Theory of Mind (ToM) und deren konkreten kognitiven Vorformen bezeichnet werden. Diese entwickeln sich maßgeblich zwischen Abschluss des ersten und des vierten Lebensjahres. 3. Der Bereich (pro)sozialer Verhaltensweisen, die als Folge von Teilhabe und sozialer Erkenntnis auf der Handlungsebene auftreten können, bildet den motivationalen Prozessbereich und setzt entsprechend mit den je entwickelten Fähigkeiten des affektiven und kognitiven Bereichs ein.11 Diese drei Prozessbereiche lassen sich über den Prozess der kindlichen Entwicklung betrachten und werden im Folgenden in dieser Trias erarbeitet. Innerhalb des ersten Lebensjahres also macht ein Säugling die Erfahrung, dass Gefühle anderer auf ihn selbst übertragen werden. Bei diesem Verstehen handelt es sich zunächst um ein Wissen, das noch nicht auf Basis rationaler geistiger Operationen stattfindet. Vielmehr können erste „soziale Bezugnahmen“12 beobachtet werden, die als intuitives Resonanzgeschehen zu verstehen sind: 1. Schon nach der Geburt kann das Phänomen der Gefühlsansteckung (auch: sharing of emotion oder Stimmungsübertragung) beobachtet werden. Unter Gefühlsansteckung kann ein natürlicher Mechanismus verstanden werden, bei dem sich die Gemütsverfassung von einem Individuum auf ein anderes überträgt. Entscheidend ist, dass ein akustischer oder visueller Emotionsausdruck von einem Individuum ausgeht, der eine entsprechende Emotion auch beim zweiten Individuum auslöst, ohne dass das erste Individuum aber als Urheber der Übertragung bewusst identifiziert wird. Ein besonders geläufiges Beispiel ist das ansteckende Weinen von Säuglingen.13 Es bestehen verschiedene Theorien darüber, wie dieser Ansteckungsweg im Detail funktioniert. Die Assoziationstheorie sieht in der Gefühlsansteckung einen assoziativen Effekt: Der zweite Säugling nimmt das Weinen des ersten wahr, assoziiert mit dem Weinen eine von ihm selbst gemachte Erfahrung, die ihrerseits ein Weinen ausgelöst hat. So stellt sich eine der Erfahrung des Weinens entsprechende Emotion auch beim zweiten Säugling ein und führt zum Ausdruck des Weinens. Ursache für die Emotion beim zweiten Säugling ist also nicht eine unmittelbar gemachte eigene Erfahrung, sondern die im Weinen ausgedrückte, assoziierte Gefühlslage des Anderen. Die Nachahmungstheorie geht auf Theodor Lipps zurück, der im obigen Kapitel der historischen Zugänge bereits vorgestellt wurde und dessen theoretische Idee sich in heutigen Theorien unter den Begriffen Ideomotorisches Gesetz, Carpenter-Effekt und motor mimikry erhalten hat. Hier wird angenommen, dass ein Gefühlsausdruck des einen Säuglings durch den zweiten wahrgenommen wird und durch Imitation zu einer unmittelbaren „Ausdrucksmotorik“ des zweiten Säuglings führt. Dabei reproduziert sich  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 260 ff.  Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 248. 13  Vgl. Light, Forms of Empathy, 111; vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 241. 11 12

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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der nachgeahmte Ausdruck selbst, indem die kinästhetische Propriozeption des nachgeahmten Ausdrucks eine Emotion aktiviert, die ihrerseits wiederum in der nachgeahmten Ausdruckshandlung mündet. Die Induktionstheorie nimmt einen direkteren Weg der Emotionsauslösung an als die Imitationstheorie, indem eine Emotion beim zweiten Säugling direkt durch den von ihm wahrgenommenen Ausdruck des ersten induziert wird und in der Folge dieses Auslösemechanismus den gleichen Ausdruck hervorbringt. Im Rahmen dieses letzten Ansatzes lässt sich auch die noch verhältnismäßig junge Idee der Spiegelneuronen verorten. Funktionale MRT-Untersuchungen am menschlichen Gehirn haben gezeigt, dass dieselben Hirnareale, die eigene Schmerzempfindungen repräsentieren, auch aktiv sind, wenn eine andere beobachtete Person schmerzauslösende Reize erfährt. Verantwortlich für dieses Phänomen werden die sogenannten Spiegelneuronen gemacht, die in der Art eines Spiegels diesen direkten Einfluss auf das eigene Empfinden nehmen. Zur Einordnung sei dieser Verweis ausreichend; im nächsten Kapitel wird die Spiegelneurontheorie als Grundlage von Empathie einer ausführlichen Begutachtung zu unterziehen sein.14 2. Das Social Referencing (Soziale Rückversicherung) entwickeln Kinder etwa im Alter von neun Monaten. Es beschreibt das typische Verhalten, den Blickkontakt zur primären Bezugsperson zu suchen, wenn eine Veränderung in der Umweltsituation des Kindes stattgefunden hat und das Kind verunsichert und deshalb ängstlich nach Ausgleich seiner Verunsicherung sucht. Hierbei handelt es sich um eine ratiomorphe Erkenntnis des Kindes über die Bewertung der Situation, die sich von der Bezugsperson auf das Kind überträgt. 3. Joint Attention (Geteilte Aufmerksamkeit) beginnt sich zur gleichen Zeit auszubilden wie das Social Referencing. Im letzten Viertel des ersten Lebensjahres unternimmt ein Kind erste Versuche, seine Aufmerksamkeit zu lenken. Bei dieser Joint Attention folgt es dem Blick der Bezugsperson auf ein Objekt oder lenkt den Blick der Bezugsperson auf ein Objekt (triadische Interaktionskompetenz). Auch hierin ist eine frühe Vorform sozialer Referenzialität zu erkennen. 4. Eine weitere Form bildet das mit dem sechsten Monat sich entwickelnde intuitive Verstehen von Zielgerichtetheit, d. h. Kinder verstehen Objekte als Ziele und Personen als Träger einer zielgerichteten Handlung. Dieses teleologische Verständnis richtet sich in dieser frühen Form aber ausschließlich darauf, dass Objekte überhaupt Ziele sein und Personen durch Handlungen etwas bewirken können. Damit richtet sich das Verständnis auf ein registriertes Wissen über eine verursachte Veränderung der Umwelt. Dagegen kann das Kind in diesem Stadium noch nicht Intentionen des Handelnden im Sinne einer Theorie über Intentionen mental repräsentieren und insofern verstehen.15  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 241 ff.

14

15 Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 248 ff.; vgl. Sodian, Beate et al.: Entwicklung der

Theory of Mind in der Kindheit, in: Förstl, Hans (Hg.): Theory of Mind. Neurobiologie und

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

5. Eine zentrale Entwicklung sozialer Kognition besteht in der Herausbildung des Ichbewusstseins. Im ersten Lebensjahr bilden sich hier ebenfalls zunächst intuitive Vorformen der subjektiven Selbstempfindung (sense of self ) aus. Bis zum dritten Monat verfügt das Kind dabei über das unreflektierte Selbstempfinden, eine „Sensibilität für selbst-organisierende Prozesse“16. Sodann entwickelt sich ein körperliches Selbstempfinden, das als Vermögen gilt, den eigenen Körper als von der Bezugsperson getrennt und so sich selbst als Urheber von Handlungen zu erleben. Dieses Selbsterleben ist das körperbezogene Kern-Selbst. Mit dem siebten bis neunten Monat bildet sich dann das subjektive Selbst heraus, das die grundlegende Erfahrung von Intersubjektivität mit sich bringt: Hiermit ist nun erstmals das Erleben verbunden, dass es die Anderen überhaupt gibt, die auch fühlen und handeln und sich wiederum auf eigenes Fühlen und Handeln beziehen. Die Entwicklung dieser intuitiven Vorformen sozialer Kognition lässt sich dem I zuordnen, welches sich als erste Form des Selbst bildet. Es umfasst jene beschriebenen Formen unreflektierten Selbstempfindens, das „von innen erfahrbar[e]“17 Ich gleichsam. Insofern hier jedoch noch jenes Resonanzerleben die emotionale Welt des Kindes ausmacht, in der es noch keine Trennung von der es umgebenden Stimmungswelt gibt, wird die Erlebenswelt des Kindes durch die Stimmungslagen der Umwelt jeweils gefärbt.18 Auch kann diese Vorphase nachvollzogen werden, wenn auf das Verhalten von Kleinkindern gegenüber ihrem eigenen Spiegelbild geblickt wird. Seit den 1970er Jahren wurde vielfach das Experiment mit 15–bis 24-monatigen Kindern durchgeführt, bei dem die Kinder ein erstes Mal ihrem eigenen Spiegelbild ausgesetzt wurden und dann, nachdem ihnen unauffällig ein Rougefleck ins Gesicht aufgetragen worden ist, ein weiteres Mal. Am Verhalten der Kinder gegenüber ihrem eigenen Spiegelbild sollte ablesbar sein, wie weit die Entwicklung des kindlichen Bewusstseins über sich selbst und die differenzierte Perspektive von innen (subjektiv) und von außen (objektiv) bereits fortgeschritten ist. Es zeigt sich, dass Kinder nicht abrupt zu einem spezifischen Zeitpunkt ihr Spiegelbild als ihr eigenes erkennen, sondern dass sie auch schon vor dem Erkennen ihrer selbst auf das Spiegelbild in spezifischer Weise reagieren: Es lassen sich Unterschiede in der Aufmerksamkeit für eigene bzw. fremde Bewegungen im Spiegel sowie in der Reaktion auf das eigene bzw. fremde Gesicht beobachten. Was hier noch nicht als vollständige sozial-kognitive Fähigkeit zu sehen ist, ist doch aber ein erstes einfaches Verstehen der eigenen Urheberschaft und der Differenz von Ich und Anderem, was sich insbesondere im sog. Playmateverhalten vor dem Spiegel ausdrückt. In dieser Phase wird das Spiegelbild als fremde Person Psychologie sozialen Verhaltens, Berlin/Heidelberg ²2012, 61–78, hier: 65 f.; vgl. Light, Forms of Empathy, 110 ff. 16  Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 147. 17  Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 148. 18  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 269.

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zugeordnet und im realen Raum gesucht, der Rougefleck wird vom Spiegelbild abzuwischen versucht und das eigene Spiegelbild wird als fremder Interaktionspartner eingebunden.19 Der zweite innere Prozessbereich, der nach Bischof-Köhler Empathie ermöglicht, setzt nun mit dem vollendeten ersten Lebensjahr ein. Kognitive Fähigkeiten rücken hier besonders in den Fokus, wenn die sogenannte Theoryof-Mind (ToM) sich ausbildet. Die ToM bezeichnet die vom Kleinkind erst zu entwickelnde „Fähigkeit, sich selbst und anderen mentale Zustände zuzuschreiben“20. Diese Fähigkeit beinhaltet einerseits, aus der Perspektive des unmittelbaren, subjektiven Erlebens sich selbst mentale Zustände zuzuschreiben sowie aus den Ausdrucksgehalten des Anderen dessen mentale Zustände zu rekonstruieren und ihm zuzuschreiben.21 Für diese Entwicklung muss präzise unterschieden werden zwischen intuitiven, prärationalen Formen sozial-kognitiver Leistungen, wie sie innerhalb des zweiten Lebensjahres entwickelt werden und solchen, die auf fortgeschrittenen, rationalen Einsichten beruhen, wie es erst mit etwa drei bis dreieinhalb Jahren der Fall ist. In der ersten Teilphase sind die Verstehensleistungen des Kindes implizit, d. h. es kann von der Dauer und Bewegung von Blicken des Kindes auf ein Objekt rückgeschlossen werden, welche Ansätze von Erwartungen bzw. Informationen im Kind verarbeitet werden. Insofern bilden diese Leistungen kognitive Vorformen der ToM. Die zweite Phase dagegen ist als Kernentwicklung der ToM zu bezeichnen, insofern hier explizite Verstehensleistungen vom Kind selbst ausgedrückt werden.22 In beiden Phasen der ToM-Entwicklung jedoch beziehen sich Wissen bzw. Verstehen und Zuschreibung auf sogenannte intentionale Zustände einer Person. Intentionale Zustände sind in einem weiten Sinn Zustände, welche „die Welt in bestimmter Weise repräsentieren“23 und werden differenziert nach ihrer jeweiligen Ausrichtung. Kognitive intentionale Zustände umfassen Wahrnehmungen und Überzeugungen einer Person, repräsentieren die Welt also in der Weise, wie  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 146 ff.; vgl. Sodian, Theory of Mind, 66. Theory of Mind, 62. Wann immer in dieser Arbeit von Theory of Mind bzw. ToM die Rede ist, ist diese Fähigkeit der Zuschreibung mentaler Zustände gemeint, also die Fähigkeit, eine Theorie über den mentalen Zustand eines Anderen auszubilden. Nicht gemeint ist hier dagegen ein Bezug zur Philosophie des Geistes, welche mit diesem Ausdruck zur Bezeichnung einer Fähigkeit verwechselt werden könnte. 21 Vgl. Elsner, Birgit/Pauen, Sabina: Vorgeburtliche Entwicklung und früheste Kindheit (0–2 Jahre), in: Schneider, Wolfgang/Lindenberger, Ulman: Entwicklungspsychologie, Weinheim 7 2012, 162–187; hier: 182. 22 Vgl. die begriffliche Differenzierung des engen und weiten Kognitionsbegriffs bei BischofKöhler, Soziale Entwicklung, 37; 237 ff. sowie Sodian, Theory of Mind, 63 f. 23 Haun, Daniel/Rakoczy, Hannes: Vor‑ und nichtsprachliche Kognition, in: Schneider, Wolfgang/Lindenberger, Ulman: Entwicklungspsychologie, Weinheim 72012, 347–371, hier: 349. 19

20 Sodian,

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sie für ein Subjekt ist. Konative intentionale Zustände beinhalten Wünsche oder Absichten und repräsentieren damit die Welt so, wie sie sich ein Subjekt wünscht und fiktionale intentionale Zustände sind etwa Träume, Fantasien und fiktive Vorstellungen, die die Welt in einer von ist und soll entbundenen, potenziellen Weise repräsentieren.24 Es beginnt also zunächst eine Phase des impliziten Verstehens, die etwa bis zum Alter von dreieinhalb Jahren reicht. Nun sind Entwicklungen auf den verschiedenen genannten Kognitionsebenen zu erwarten. Auf der Ebene der konativen Intentionalität können Kinder mit einem Jahr klar differenzieren zwischen intentionalen und nicht-intentionalen Handlungen. Ab dem 14. Monat entwickelt sich auf der Ebene der kognitiven Intentionalität das Verständnis, dass etwa jemand anderes etwas sehen kann, das das Kind selbst nicht sieht. Diese Sichtweise wird als level-1-perspective taking bezeichnet und verweist auf das Wissen um die Verschiedenheit zwischen eigener und fremder Wahrnehmung. Dies markiert die Phase, in der sich die sogenannte Ich-Andere-Unterscheidung entwickelt, die über die bereits im ersten Jahr entwickelte körperliche Differenzierung hinausgeht, und eine „psychische Abgrenzung“ meint, in der „Ich und Ich-eigenes Erleben“ sowie Anderer und dem Anderen-eigenes Erleben einander zugeordnet werden.25 Diese psychische Abgrenzung von I und You bildet die eigentliche Grundlage empathischen Erlebens und liegt in der Herausbildung des Me begründet, welches die zweite Form des Selbst bildet und als reflektiertes Ichbewusstsein verstanden werden kann, das von außen erfahrbare Ich, um in Bischof-Köhlers Terminologie zu bleiben.26 Wiederum lässt sich dies nachvollziehen, wenn auf die Entwicklung im Umgang mit dem Spiegelbild geblickt wird: Das Kind beginnt, vor dem Spiegel die Funktion der Reflexion zu verstehen und kann so das Spiegelbild von Gegenständen im realen Raum verorten. Auch können unterschiedliche Gesten dem eigenen Spiegelbild gegenüber beobachtet werden, wie etwa die Vermeidung des eigenen Blickkontaktes oder das verlegene Abwenden des Blickes vom Spiegelbild, Perplexität oder Erstarren angesichts des Spiegelbildes. Ein erstes Verstehen des Kindes deutet sich hier an, dass es von anderen beobachtet werden kann, was das Verstehen einer Objektivperspektive ausweist. Bis zum 18. Monat hat in der Regel die tatsächliche Selbst-Erkennung im Spiegel und damit die Phase der sogenannten Selbstobjektivierung begonnen: Das Kind realisiert eindeutig den Rouge­fleck als Merkmal des eigenen Außens, es bindet den Fleck aktiv ein, indem es im Gesicht wischt oder andere selbsterkundende Posen vor dem Spiegel macht. Parallel entwickelt sich das Unterscheidungsvermögen zwischen eigenen und fremden Gefühlen, sodass anderen Personen Gefühle zugeschrieben  Vgl. Haun, Kognition, 349.  Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 265 f. 26  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 266; 269. 24 25

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werden, statt sie ganz automatisch sich selbst zuzuschreiben. Ganz analog kann das Kind auf konativer Ebene zwischen eigenen und fremden Wünschen unterscheiden und Intentionen in uneindeutigen Situationen erkennen. Nicht viel später, bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr kann es dann das Spiegelbild dem eigenen Namen zuordnen und sich selbst flexibel wiedererkennen, etwa wenn es andere Foto‑ oder Filmaufnahmen von sich selbst sieht.27 Die Entwicklung der Ich-Andere-Unterscheidung bzw. des Selbsterkennens im Spiegel weist eine signifikante Korrelation auf zu beobachtbarem Verhalten in Empathie erfordernden Situationen: Kinder, die sich selbst im Spiegel erkannten, zeigen mit deutlicher Mehrheit empathisch-helfendes Verhalten, Spiegelbild vermeidende Kinder, die sich also noch in der Phase vor dem tatsächlichen Erkennen befinden, zeigten indifferentes oder ratloses Verhalten, das Spiegelbild nicht erkennende Kinder reagierten mit unbeteiligtem Verhalten.28 Hieran lässt sich der entscheidende Entwicklungsschritt zu tatsächlicher Empathie sehr deutlich sehen: Das vom Kind empathisierte Gefühl kann als eine sich von der primären eigenen Form des Gefühls unterscheidende Gefühlsqualität erkannt werden.29 Eine deutliche Veränderung lässt sich nun im Alter zwischen drei und vier Jahren erkennen. Diese Zeit bildet den Übergang zum expliziten Verstehen mentaler Zustände und damit zu einer expliziten, repräsentationalen ToM.30 Als empirische Erhebung dieser expliziten ToM hat sich das false-belief-Versuchsparadigma etabliert. Erhoben wird konkret, ob Kinder in verschiedenen Altersgruppen falsche Überzeugungen bei sich selbst und bei anderen Personen verstehen, die diese über eine Situation haben und wie sich dieses Verständnis auf die Prognosen auswirkt über die zu erwartende Handlung der anderen Person. Hierbei sind zwei Versuchsszenen besonders prominent: Als klassischer Versuch gilt die sogenannte Maxi-Aufgabe. Hier wird einem Kind mithilfe von Puppen die folgende Szene gezeigt: Maxi deponiert Schokolade an einem Ort und verlässt den Raum. Es kommt eine zweite Figur hinzu und deponiert die Schokolade an einen anderen Ort um. Das Kind wird sodann gefragt, wo Maxi wohl die Schokolade vermuten wird und wo Maxi eine weitere Person hinführen wird, welche 27 Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 150 ff.; vgl. Elsner, Birgit/Pauen, Sabina, Früheste Kindheit, 179 f. 28 Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 268. 29 Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 270. 30 Vgl. Sodian, Theory of Mind, 65. Die Datierung der einzelnen Entwicklungsschritte einer ToM ist durchaus strittig und wird von verschiedenen Forschungsgruppen unterschiedlich beantwortet. Dabei ist jeweils entscheidend, durch welche experimentellen Paradigmen eine kognitive Leistung erhoben wird (methodische Divergenz) und was unter dem Konzept der ToM verstanden bzw. was nur als Vorstufe der ToM deklariert wird (konzeptionelle Divergenz). In dieser Arbeit wird anhand für die ToM zentraler Fähigkeiten das Kontinuum an Entwicklungsschritten zur ToM und der ToM selbst dargestellt und auf eine Positionierung verzichtet. Einen differenzierten Überblick zu den binnentheoretischen Verschiedenheiten der ToM-Datierung bietet Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 328 ff.

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die Schokolade nicht finden soll. Ein zweites klassisches Versuchssetting ist die Smarties-Aufgabe.31 Hier wird einem Kind eine Smarties-Verpackung gezeigt und erfragt, welchen Inhalt es vermute. Beim Öffnen der Packung stellen sich dem Kind Bleistifte als Inhalt dar. Das Kind soll sodann sagen, welchen Inhalt ein anderes Kind wohl vermuten würde, wenn es die verschlossene Packung sieht. Zusätzlich wird erfragt, was sie selbst zuvor glaubten, was in der Schachtel sei. In verschiedenen Varianten dieser false-belief-Paradigmen zeigt sich in signifikanter Stärke, dass das Verständnis falscher Überzeugungen bei anderen Personen und bei sich selbst bis zum Alter von dreieinhalb Jahren noch nicht gegeben ist; ein signifikanter Teil der Kinder unter dieser Altersgrenze antwortet, dass Maxi am tatsächlichen Ort nach der Schokolade suchen und ein anderes Kind Bleistifte in der Smartiesverpackung vermuten wird, so wie es selbst auch Bleistifte vermutet habe. Erst ab dreieinhalb Jahren nimmt die Anzahl der richtigen Antworten signifikant zu, im Alter zwischen vier und fünf Jahren antworten die meisten Kinder korrekt.32 Diese Befunde werden erhärtet durch Untersuchungen, welche die Fähigkeiten von Kindern erheben, mit Absicht Wissen zu verbergen, zu lügen, strategisch zu täuschen bzw. zu sabotieren. Unterschiedliche Settings von Täuschungs‑ und Sabotageaufgaben) werden zu diesem Zweck konstruiert wie etwa die Aufgabe, den Willen gegenüber einer anderen Person auszudrücken, von der das Kind weiß, dass sie jeweils den gleichen Willen bekunden wird wie das Kind. Gibt ein Kind seinen tatsächlichen Wunsch an, gilt dies als Indiz für die noch nicht entwickelte Fähigkeit, andere strategisch zu täuschen, um das eigene Ziel zu erreichen. Die entwickelte Fähigkeit dagegen lässt sich vermuten, wenn das Kind absichtlich einen Wunsch äußert, den es eigentlich nicht hat, um das eigene Willensziel zu erreichen. In diesen Experimenten zeigt sich eine parallele Entwicklungsstruktur wie in false-belief-Paradigmen: Ab einem Alter von etwa dreieinhalb Jahren schaffen es Kinder, solche strategischen Verhaltensweisen zu zeigen, ab vier Jahren zeigen es die meisten der untersuchten Kinder. Dagegen zeigen junge Dreijährige nur sehr selten solche Fähigkeiten.33 Mit dieser Entwicklung geht einher, dass Kinder verstehen, dass auf denselben Gegenstand unterschiedlich geblickt werden und eine subjektive Wahrnehmung darüber existieren kann (level-2-perspective taking). Damit ist in der kognitiven Entwicklung ein Prozess zu verzeichnen, der in der mentalen Kategorisierung und Konzeptbildung objektiver Entitäten besteht. Etwa das Verstehen von Objekt-Begriff-Zugehörigkeiten in unterschiedlichen hierarchischen Ebenen (das Objekt Hase als zugehörig zu ‚Kaninchen‘ und ‚Tier‘) oder eben das 31 Das Versuchsparadigma der Maxi-Aufgabe wurde erstmals von Wimmer/Perner 1983 durchgeführt, die Smarties-Aufgabe geht auf Hogrefe et al. im Jahre 1986 zurück (vgl. Sodian, Theory of Mind, 62 f.). 32  Vgl. Sodian, Theory of Mind, 62 f. 33  Vgl. Sodian, Theory of Mind, 63 f.

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metarepräsentationale Verständnis (Konzept der Subjektperspektivität) reifen dann heran.34 Eine Phase komplexeren Verstehens intentionaler Zustände beginnt, das sich maßgeblich in jenen rationalen Handlungsformen und dem Verständnis subjektiver Überzeugungen manifestiert.35 Frühestens mit fünf bis sechs, in aller Regel aber erst im Grundschulalter zwischen sieben und acht Jahren, beginnt eine fortgeschrittene ToM-Entwicklung, die als ToM zweiter Ordnung bezeichnet wird. Hier wird das Verständnis intentionaler Zustände vermehrt genutzt, um mit einem ganzen Netzwerk komplexerer Vorstellungen über intentionale Zustände Handlungen und Verhaltensweisen Anderer zu verstehen und vorherzusagen. Sprachliche Phänomene wie Ironie, Witz oder Metaphorizität werden dann genau darin verstanden, dass die Intentionen verstanden werden, die ihrerseits aus bestimmten Annahmen des Sprechers über mentale Zustände des Adressaten entstehen. Ironie wird deshalb als Ironie verstanden, weil das Kind erkennt: Dem Sprecher ist zuzuschreiben, dass dieser weiß, dass wiederum der Adressat seines Sprechens der Aussage nicht glauben wird und seine eigene Sprechintention an diesem Wissen ausrichtet. Diese Entwicklung geht einher mit der Vorstellung von der Kontinuität, der Unkontrollierbarkeit und dem Entziehen von Bewusstseinsinhalten.36 Neben den hier skizzierten kindlichen Entwicklungsschritten sozial-kognitiver Fähigkeiten, welche die inneren Möglichkeitsbedingungen von Empathie umfassen, sei nun noch auf äußere Möglichkeitsbedingungen eingegangen, die ihrerseits das Zustandekommen von Empathie bedingen; hier stellt sich die Frage, wie Empathie ausgelöst bzw. vermittelt sein kann, die Frage nach dem Komplementär zu sozialkognitiven Prozessen innerhalb des Empathisierenden. Dazu gibt es zwei Varianten zu berücksichtigen: Empathie, wie sie hier verstanden wird, kann einerseits ausdrucksvermittelt sein; in diesem Fall wird das Ausdrucksverhalten des Anderen durch das Kind wahrgenommen und bildet die Grundlage für empathisches Erleben. Ein trauriger Gesichtsausdruck, Tränen oder Seufzen einer Person, in denen sich ihre momentane Verfassung spiegelt, können dann etwa Auslöser für Empathieerleben sein. Andererseits kann empathisches Erleben auch situationsvermittelt sein und fußt dann auf der wahrgenommenen Situation des Anderen. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Person nicht auf wahrnehmbare Weise ihr Befinden ausdrückt oder auch wenn ihr ausgedrücktes Befinden aufgrund eigener physischer Abwesenheit der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen ist. Dann wird Empathie durch die mentale Vergegenwärtigung der Situation des Anderen ausgelöst. Dies wiederum ist etwa der Fall, wenn ein Kind erzählt bekommt, dass seinem Spielkameraden das Fahrrad gestohlen wurde oder es einen Igel im Garten sieht, der ohne Nahrung  Vgl. Sodian, Theory of Mind, 72.  Vgl. Haun, Kognition, 351. 36  Vgl. Sodian, Theory of Mind, 67 f. 34 35

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im Regen sitzt. Ganz analog gilt dies auch für den komplexeren Bewusstseinshorizont einer erwachsenen Frau in Zentraleuropa, die aufgrund eines Radioberichtes mit syrischen Müttern empathisiert, die im Krieg ihre Kinder verloren haben oder der Vorgesetzte erfährt, dass sein Mitarbeiter nicht in gewohnter Weise zur Arbeit erscheinen kann, weil er sich einer Chemotherapie unterziehen muss. Entgegen der Funktionsweise ausdrucksvermittelter Empathie, die auf der Übertragung des Gefühls basiert, findet bei situationsvermittelter Empathie eine synchrone Identifikation statt, bei welcher der Andere als prinzipiell gleich zur eigenen Person wahrgenommen wird. Durch die Konfrontation mit der Situation des Anderen wird dem Anderen ein inneres Erleben zugeschrieben, das dem eigenen prinzipiell gleicht.37 Auf diese Weise erlebt der Empathisierende die Situation, als wäre er selbst an des Anderen Stelle. Es entsteht ein Erleben im Empathisierenden, das aber der Situation des Anderen entspricht.38 Ausdrucksvermittelte wie auch situationsvermittelte Empathie bedürfen der Ich-Andere-Unterscheidung, wie sie aus der Selbstobjektivierung hervorgeht. Erst durch die Unterscheidung von I und Me (Innen und Außen in der Selbstobjektivierung) können analog I und You (Innen‑ und Außenperspektive in der Intersubjektivität) und damit auch verschiedene Erlebensräume differenziert werden. In der ausdrucksvermittelten Empathie wird der ausgedrückte Gemütszustand als ein fremder, d. h. als auf den Anderen bezogen, erlebt. In situationsvermittelter Empathie bewirkt die Ich-Andere-Unterscheidung, dass in der Identifikation, dass die Situation als die eines Anderen erkannt wird. Insofern kann vor der Entwicklung der Selbstobjektivierung nicht von Empathie im eigentlichen Sinne die Rede sein.39 Ab eben dieser Zeit sind dann auch soziale Verhaltensweisen zu beobachten, die aus dem empathischen Erleben resultieren bzw. in denen sich die empfundene Empathie manifestiert. Es lassen sich sogenannte prosoziale und dissoziale Verhaltensweisen differenzieren. Diese bilden den dritten von BischofKöhler genannten Prozessbereich empathischen Erlebens. Erste prosoziale Verhaltensweisen sind 1. kooperative Formen des Spiels bzw. kooperatives und 37 An dieser Stelle lässt sich die Frage beantworten, ob eine Voraussetzung für Empathie ist, die empathisierte Situation selbst erlebt zu haben. Kern der synchronen Identifikation ist eine prinzipielle Entsprechung von I und You. Diese prinzipielle Entsprechung bezieht sich auf das Artgenossenschema, das ein Kind mit der Selbstobjektivierung auszubilden beginnt (‚Der andere sieht so aus, wie ich mich selbst empfinde und das ist ein Mensch‘) sowie auf die Wesensverwandtschaft, welche durch die Assoziation von subjektivem Empfinden und objektiven Verhaltensoptionen erkannt wird (‚Mein Empfinden korrespondiert mit den Verhaltensweisen, die meine Bezugsperson mir zeigt‘). Voraussetzung für ein empathisches Empfinden ist also nicht der selbst erlebte Erfahrungsgehalt, sondern die in der prinzipiellen Entsprechung liegende Möglichkeit, an des Anderen Stelle zu sein (situationsvermittelte Empathie); vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 275 ff. 38  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 260 f. 39  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 271 f.

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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stellvertretendes Problemlöseverhalten aufgrund einer unvollendeten oder für das eine Kind unlösbaren Situation, 2. Arbeitsteilung und Rollenwechselverhalten, 3. Regelbefolgung und koordinierende Kommunikation, 4. Mitfühlendes Helfen zur Veränderung der leidauslösenden Ursachen, 5. Mitfreude als stellvertretendes Erreichen von Zielen durch identifikatorischen Vollzug oder Antizipation von Freude bzw. Schaden bei entsprechendem Verhalten wird in spielerischen oder authentischen Situationen erprobt.40 Daneben bzw. entgegen den prosozialen Verhaltensweisen können sich jedoch auch Verhaltensweisen ausprägen, die in der Qualität der Reaktion oder ihrem beabsichtigten Ziel als dissozial bezeichnet werden. Prosoziale und dissoziale Verhaltensweisen werden noch einmal weiter unten Gegenstand sein, wenn auf positive und negative Ausläufer von Empathie eigens geblickt wird. Zwischenfazit In diesem Teilkapitel sollten vor allem zwei Dinge herausgearbeitet werden. Zum einen sollten aus der entwicklungspsychologischen Perspektive die Möglichkeitsbedingungen von Empathie abgesteckt werden, indem die initiale Entwicklung dieser Prozesse im Kindesalter betrachtet wurde. Anhand der kindlichen Entwicklungsstufen wurde dabei erläutert, in welchen Schritten Empathie überhaupt im Menschen zur Entfaltung kommt. Hieraus sollte sich zum anderen herauskristallisieren, aus welchen innerpsychischen Anteilen sich Empathie entsprechend konstituiert. Dabei zeigte sich ein komplexer Fächer sozial-kognitiver und sozial-emotionaler Fähigkeiten, die konstitutive Rollen einnehmen für das, was Empathie genannt werden kann. Diese sind funktional zu differenzieren, in dieser Trennung aber nur bedingt zu betrachten, wenn auf Empathie als ganzheitliches Phänomen geblickt wird. Zu Empathie gehören die folgenden Komponenten: 1. Emotionale Anteile von Empathie bilden sich bereits in den ersten Lebenswochen und damit am frühesten heraus. Hier handelt es sich um die rudimentäre Erfahrung des Kindes, dass das eigene Erleben von dem eines Anderen beeinflusst wird, indem Gefühle oder Zustände sich auf das eigene Erleben übertragen. Diese zu Beginn des Lebens noch intuitiven „sozialen Bezugnahmen“41 bilden fortan eine grundlegende emotionale Komponente menschlicher Intersubjektivität. 2. Ein zweiter Komplex sozialer Fähigkeiten bildet sich mit dem Kernbereich der sozialen Kognition im Alter von drei bis fünf Jahren heraus, die Theory of Mind. Diese bezeichnet die Fähigkeit, anderen Personen mentale Zustände zuzuschreiben. In kognitiven Entwicklungsprozessen von der Selbstobjektivierung 40 Vgl.

Haun, Kognition, 351; vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 283 ff.; 289 ff.  Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 248.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

bis zur Metakognition des subjektiven Perspektivenkonzepts lernen Kinder dabei schrittweise, die mentalen Prozesse anderer als von den eigenen verschieden zu erkennen, zum Gegenstand ihres Denkens und Sprechens zu machen und diese insofern zu verstehen. 3. Dieser soziale Kognitions-Emotions-Komplex, dessen Herausbildung die frühkindliche Entwicklung maßgebend prägt, ist konstitutiv, wenn von Empathie im eigentlichen Sinne gesprochen werden soll. Das heißt um Empathie handelt es sich genau dann, wenn erstens emotionale und kognitive Anteile zusammenwirken und dies zweitens in der Weise geschieht, dass der Unterschied zwischen dem eigenen Erleben und dem Erleben des Anderen vergegenwärtigt wird. 4. Aus den so verstandenen inneren Prozessen von Empathie gehen je entwicklungsgemäße prosoziale (mitunter auch dissoziale) Verhaltensweisen hervor, die als empathisch, d. h. aus einem empathischen Prozess resultierend, bezeichnet werden können und die insgesamt in der weiteren Entwicklung an Komplexität gewinnen. 5. Diese verschiedenen Anteile des Phänomens bilden die Grundeinsicht darüber, was geschieht, wenn ein Mensch empathisiert. Zu dieser empathisierenden Seite tritt jedoch auch eine Komplementärseite, auf der das auslösende Moment der Empathie liegt. Durch die Komplexität des Ausdrucks des Anderen oder aber durch die Situation des Anderen, die vergegenwärtigt wird, kann der eigentliche empathische Akt vermittelt sein. Damit ist – wiederum ganzheitlich betrachtet – von Empathie ausschließlich als einem empathischen Geschehen zu sprechen, an dem mindestens zwei Subjekte beteiligt sind, ein primär erlebendes, empathisiertes Subjekt und ein sekundär erlebendes, empathisierendes Subjekt. Vor dem Hintergrund dieser Grundbestimmung wird nun in den folgenden zwei Teilkapiteln versucht, ein differenziertes Bild von der Bedeutung der Empathie darzustellen, wie es aus der sozialpsychologischen Forschung hervorgeht. Dazu wird die Betrachtungsebene der kindlichen Erstentwicklung verlassen und auf Empathie in ihren positiven Bedeutungsdimensionen einerseits (3.1.1.2) und in ihren negativen Bedeutungsdimensionen andererseits (3.1.1.3–3.1.1.5) geblickt. 3.1.1.2  Positive Psychologie der Empathie In der Betrachtung von Empathie nun unter dem spezifischen Blickwinkel der Positiven Psychologie fortzufahren, ist gewiss ungewöhnlich und insofern erklärungsbedürftig. Das Grundanliegen der Positiven Psychologie nimmt psychologische Bedingungen, Faktoren und Konsequenzen gelingenden Lebens in den Blick. Damit ist sie dem klassischen Erkenntnisinteresse der Klinischen Psychologie an Faktoren, die gelingendes bzw. gesundes Leben einschränken, entgegengesetzt und trägt damit auch dem grundsätzlichen Paradigmenwechsel Rechnung, den Blick von der Pathogenese auf die Salutogenese zu richten,

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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die ressourcen‑ und kompetenzorientiert vorgeht.42 Mit diesem Anliegen wird also durchaus auch nach der Entwicklung des Menschen gefragt. Dabei liegt der Fokus des Erkenntnisinteresses aber nicht auf einzelnen Schritten in den Entwicklungsstadien des Menschen, sondern auf der Frage nach konkreten Bedingungen positiver Entwicklung über die Lebensspanne. In diesem Erkenntnisinteresse trägt sie auch immer schon die Frage mit sich, was anzustreben ist, 42  Vgl. Rönnau-Böse, Maike/Fröhlich-Gildhoff, Klaus: Resilienz und Resilienzförderung über die Lebensspanne, Stuttgart 2015, 22. Das Konzept der Salutogenese geht zurück auf den amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky. Zeit seiner Forschungstätigkeit setzte er sich ein für eine salutogenetische Orientierung in der Medizin ein. Diese geht von der grundlegenden Annahme aus, dass der Grundzustand aller lebenden Organismen natürlichen Schwankungen und Dynamiken unterliegt (Heterostase). Gesundheit ist dann nicht der Zustand der Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen und der Normalzustand, von dem der Krankheitszustand als Abnormalität zu lesen wäre. Vielmehr bilden die Begriffe Gesundheit-Krankheit die Pole eines Kontinuums heterostatischer Zustände. Daraus resultiert, dass jeder Mensch in diesem Kontinuum verortbar ist und nicht in der Dichotomie von gesund und krank aufgeht. Damit verbindet sich auch die Möglichkeit, den Aufmerksamkeitsfokus zu verschieben von der Suche nach Stressoren, die als Krankheitsursachen zu bekämpfen sind, auf das Verstehen einer ganzheitlichen Geschichte eines Menschen, in der Stressoren als allgegenwärtig angenommen und stattdessen Copingressourcen als Einflussmöglichkeiten ins Zentrum gerückt werden (vgl. Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997, 21–30). Von der WHO wird Gesundheit aktuell verstanden als „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (Verfassung der WHO, Stand 2014, online verfügbar auf: https://www.admin.ch/ opc/de/classified-compilation/19460131/201405080000/0.810.1.pdf; eingesehen am: 22. 3. ​2020). Gesundheit nicht nur als Gegenbegriff zu Krankheit zu definieren, sondern als balanciertes Wohlbefinden, ist insbesondere der interdisziplinären Gesundheitsforschung des Soziologen Klaus Hurrelmann zu verdanken, dessen Verständnis die vorliegende Arbeit folgt. Hurrelmann macht acht Maximen für die Definition von Gesundheit und Krankheit aus: „1. Gesundheit und Krankheit ergeben sich aus einem Wechselspiel von sozialen und personalen Bedingungen, welches das Gesundheitsverhalten prägt. 2. Die sozialen Bedingungen (Gesundheitsverhältnisse) bilden den Möglichkeitsraum für die Entfaltung der personalen Bedingungen für Gesundheit und Krankheit. 3. Gesundheit ist das Stadium des Gleichgewichts, Krankheit das Stadium des Ungleichgewichts von Risiko‑ und Schutzfaktoren auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene. 4. Gesundheit und Krankheit als jeweilige Endpunkte von Gleichgewichts‑ und Ungleichgewichtsstadien haben eine körperliche, psychische und soziale Dimension. 5. Gesundheit ist das Ergebnis einer gelungenen, Krankheit einer nicht gelungenen Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen. 6. Persönliche Voraussetzung für Gesundheit ist eine körperbewusste, psychisch sensible und umweltorientierte Lebensführung. 7. Die Bestimmung der Ausprägungen und Stadien von Gesundheit und Krankheit unterliegt einer subjektiven Bewertung. 8. Fremd‑ und Selbsteinschätzung von Gesundheits‑ und Krankheitsstadien können sich auf allen drei Dimensionen – der körperlichen, der psychischen und der sozialen  – voneinander unterscheiden.“ So definiert Hurrelmann Gesundheit schließlich als „Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet.“ (Hurrelmann, Klaus: Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung, Weinheim 72010, 7; 139 ff.).

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

um an dem produktiv mitzuwirken, was sich empirisch als Faktor gelingenden Lebens erwiesen hat. Dabei muss sie sich der Frage ausgesetzt sehen, die bereits seit der aristotelischen Ethiktradition das zirkuläre Problem der Bestimmbarkeit darstellt: Was ist für den individuellen Menschen gelingendes Leben, was macht Glück aus? Die Perspektive der Positiven Psychologie ist dabei aber nicht normativ geprägt, d. h. sie setzt sich nicht das Ziel, normativ darüber zu entscheiden, was unter gelingendem Leben und insofern unter Glück verstanden werden soll. Vielmehr nimmt sie die Aufgabe ernst, das Gelingen von Leben an Wohlbefinden zu binden und von dort aus zu erforschen, welche Faktoren einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Menschen zu ihrem individuellen gesteigerten Selbst nehmen. Was im individuellen Fall als positive Entwicklung bewertet wird, kann auch so gewendet durchaus variieren. Individuelle Deutungen, historische und biografische Dynamiken, aktuale Kontingenzen und lebensbedingte Anforderungen können dies für die individuelle Wahrnehmung unterschiedlich prägen. Für die Erforschung dieser Zusammenhänge aber wird eine überindividuelle Perspektive eingenommen. Dies ermöglicht das sogenannte PERMASchema, welches fünf Faktoren (Positive Emotions, Engagement, Relationship, Meaning, Accomplishment) benennt, welche sich eindeutig als positive Einflüsse auf Entwicklung kennzeichnen lassen, weil sie drei definitorische Kriterien erfüllen:43 Jeder einzelne Faktor muss das Wohlbefinden steigern, Strebenziel ausreichend vieler Menschen um seiner selbst willen und je einzeln definiert sowie empirisch erhebbar sein. Das inhaltliche Feld zu erhebender Einzelaspekte reicht dann von individuellen Entwicklungsfaktoren über soziale und intersubjektive Dynamiken bis zu strukturellen Mechanismen in Organisationen und wird durch Methoden der empirischen Sozialforschung erhoben.44 Blickt man nun aus der Perspektive Positiver Psychologie auf Empathie, so interessiert zum einen der Zusammenhang von Empathie und individueller Konstitution. Hier ist konkret zu fragen, ob und wie sich Empathie auf die Resilienz von Individuen auswirkt (s. o. Positive Emotion, Meaning). Zum anderen ist der hierin bereits implizite Zusammenhang von Empathie und Sozialität explizit zu behandeln. Dabei wiederum ist zu fragen, welche Funktion Empathie für soziale Beziehungen und auf diesem Wege für das Wohlbefinden hat (s. o. Relationship). Es wird hieran in jener positiven Weise deutlich werden, welche Relevanz und welches spezifische Potenzial Empathie für ein Individuum selbst und seine

43  Seligman, Martin E. P.: Flourish. A Visionary New Understanding of Happiness and WellBeing, New York 2011, 16. 44  Vgl. Seligman, Flourish, 16 ff.; vgl. Brohm-Badry, Michaela/Berend, Benjamin: Positive Psychologie. Grundlagen, Geschichte, Elemente, Zukunft. Trier 2017, online verfügbar: https:// www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PAD/BW2/Berend/G​r​u​n​d​l​a​g​e​n​_​P​o​s​i​t​i​v​e​_​P​s​y​c​h​o​l​o​g​i​e​_​0​ 1​.pdf; abgerufen am 25. 4. ​2020.

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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sozialen Beziehungen hat und welche Möglichkeiten in Anschluss daran bestehen, auf diese Prozesse Einfluss zu nehmen, sie konkret zu fördern also. Eine Perspektive nun, die über diese positive Bedeutung und Funktion von Empathie Auskunft gibt, ist die der Resilienzforschung.45 Ihr Forschungsgebiet ist entstanden aus der grundlegenden Frage, aus welchen Gründen Menschen trotz verschiedener, lang andauernder oder tief greifender Hindernisse des Lebens, eine gesunde, stabile oder immerhin nicht nachhaltig gebrochene, psychische Konstitution haben, während andere Menschen an weniger fundamentalen oder auch schlicht gänzlich anderen Erschütterungen zu zerbrechen drohen.46 So macht sich Resilienzforschung zur Aufgabe, Beschaffenheit und bedingende Einflüsse „psychische[r] Widerstandsfähigkeit“47 von Individuen zu untersuchen. Resilienz kann dabei grundlegend verstanden werden, als Fähigkeit von Menschen […], Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen.48

Wenn hier von Krisen die Rede ist, so sind nicht ausschließlich fundamentale Lebenskrisen oder hochgradig belastende Einzelereignisse gemeint. Mit Krisen werden krisenhafte, d. h. für die Entwicklung in einer bestimmten Hinsicht potenziell riskante Herausforderungen, sogenannte Entwicklungsaufgaben bezeichnet, vor die das Individuum durch das alltägliche Leben stetig gestellt wird und deren Bewältigung seine kontinuierliche Aufgabe ist. Was alltagssprachlich als Krise bezeichnet wird, ist lediglich eine Form dessen.49 Resilienz meint dann also die Nutzung von Ressourcen psychischer Widerstandskraft zur Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben. Bewältigte Aufgaben wirken dann ihrerseits auf den sogenannten Resilienzstatus zurück, aus dem das Individuum für das Kontinuum an Entwicklungsaufgaben auch an anderer Stelle schöpfen kann.50 Um der zu starken Festlegung der Entwicklungsaufgaben auf abgegrenzte Altersspannen vorzubeugen,51 können Entwicklungsaufgaben auch zu Entwicklungsthemen 45 Zu verweisen ist in diesem Rahmen auch auf das interdisziplinäre DFG-Forschungsprojekt Resilience in Religion and Spirituality an der Universität Bonn unter der Leitung von Cornelia Richter hingewiesen. Aus verschiedenen disziplinären Perspektiven werden fachspezifische Bedeutung und Diskurspraxis von Resilienz erforscht mit dem Ziel einer interdisziplinären Resilienztheorie und einer sensibilisierten Resilienzpraxis. Vgl. dazu: https://www.etf.uni-bonn. de/de/ev-theol/einrichtungen/systematische-theologie/personen/lehrstuhl-richter/resilienz-i​n​ -​r​e​l​i​g​ion-und-spiritualitaet. 46 Vgl. Burleson, Mary H./Davis, Mary C.: Social Touch and Resilience, in: Kent, Martha/ Davis, Mary C./Reich, John W. (Hgg.): The Resilience Handbook. Approaches to Stress and Trauma, New York 2014, 131–143, hier: 131. 47 Wustmann 2004, zit. n. Rönnau-Böse, Resilienz, 14. 48 Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, zit. n. Rönnau-Böse, Resilienz, 14. 49  Vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 17. 50  Vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 36. 51  Es wird zurecht eine Schematisierung moniert, die abgeschlossene Entwicklungsstufen vorsieht, in denen jeweils spezifische Entwicklungsaufgaben auf Altersperioden fallen. Diese

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

geordnet werden, die sich unabhängig von der jeweiligen Altersgrenze über die gesamte Lebensspanne stellen und damit eine dauerhafte und überindividuelle Herausforderung bilden. Rönnau-Böse et al. machen insgesamt drei Bereiche von Entwicklungsthemen aus: 1. Im Bereich der aktiven Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen stellen sich Aufgaben, die mit dem Aufbau, dem Erhalt oder auch der Beendigung von Beziehungen verbunden sind. Sie konfrontieren das Individuum jeweils mit der Bewältigung der Spannung zwischen Bindungsbedürfnis einerseits, d. h. dem Bedürfnis nach Bindung und sozialem Netz sowie Autonomiebedürfnis andererseits, also das Bedürfnis nach individueller Entwicklung sowie Unabhängigkeit von anderen Menschen. 2. Die Sicherung und Stärkung des eigenen Selbstwertes beinhalten die Erfahrung, aus eigener Kraft Dinge bewältigen und Erfahrungen entsprechend bewerten zu können. 3. Die Entwicklung und Modifikation von Lebenszielen und Lebenssinn meint die dauerhafte Aufgabe, Lebensziele aufzustellen, diese bei Bedarf anzupassen und ein der eigenen Identität entsprechendes, überdauerndes Sinnempfinden zu kultivieren.52 Die Fähigkeit zur Bewältigung, wie es in der obigen Definition heißt, kann dabei Verschiedenes bedeuten: Zum einen kann Resilienz als Resistenzfähigkeit gegen sog. Stressoren verstanden werden, dann liegt die Fähigkeit in der NichtBelastung angesichts einer an sich stressverursachenden Situation. Zum anderen kann als Resilienz aber auch eine zügige Regenerationsfähigkeit bezeichnet werden, bei welcher der Fokus auf dem Zurückfinden in alltägliche Abläufe nach einer belastenden Situation liegt. Ein zentraler Aspekt ist dabei auch die Fähigkeit, angesichts belastender Bedingungen das grundsätzliche und langfristige Empfinden von Sinn und Lebensmut nicht einzubüßen. In einer dritten Lesart schließlich meint Resilienz eine Rekonfigurationsfähigkeit, also die Fähigkeit, eigenes Verhalten und sozial-kognitive Schemata angesichts eines Erlebnisses neu anzuordnen. Hier liegt der Fokus auf der Anpassung an geänderte Anforderungen, die durch die Belastung entstanden sind.53 Resilienz als Fähigkeit zu bezeichnen, birgt jedoch auch ein grundlegendes Missverständnis: Es ist nicht von einer allgemeingültigen Fähigkeit auszugehen, die der eine Mensch hat und ein anderer nicht und die sich in bestimmten Handlungen oder Verhaltensweisen darstellt. Vielmehr ist von Resilienz als einem Geschehen zu sprechen, das in Reziprozität zwischen Individuum und Umwelt stattfindet, das sich in Abhängigkeit von individuellen Bewältigungsanlässen gestaltet, das über die Lebensspanne Schwankungen unterliegt und das bei ein und Kritik trägt der Erkenntnis Rechnung, dass eine solche Schematisierung zur Voraussetzung hat, dass menschliche Entwicklung generalisierbar, überkulturell und überindividuell in gleicher Weise stattfinden könnte. In jüngeren Längsschnittstudien wird diese Kritik empirisch untermauert (vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 38 f.). 52  Vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 39 f. 53  Vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 14 f.

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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demselben Individuum in verschiedenen Bereichen unterschiedlich ausfällt.54 Wann immer also von Resilienz als Widerstandsfähigkeit die Rede ist, so handelt es sich um einen „dynamischen Anpassungs‑ und Entwicklungsprozess“55. Es verbleibt der Begriff der Ressourcen, die gemäß der obigen Definition zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben herangezogen werden können. Diese Ressourcen sind nicht auf einen Kanon bestimmter Handlungen festzulegen, sondern sind als Faktoren zu benennen, die als psychisches „Bewältigungskapital“56 gelten können. Unter diesen Faktoren behaupten stabile Beziehungen einen besonderen Rang: Ihr Einfluss auf die Resilienzentwicklung ist kaum zu überschätzen, wie es vor allem an persönlichen Nahbeziehungen wie Freundschaften, Partnerschaft oder familiären Beziehungen deutlich wird, in denen Interaktionserfahrungen gemacht, soziale Verbundenheit und Nähe erlebt werden können. Die positive Tragkraft dieses gleichsam übergeordneten Resilienzfaktors resultiert dabei nicht aus einer spezifischen Bezugsperson selbst, sondern aus der Ausgestaltung dieser Beziehung. Qualitätsmerkmale wie Wertschätzung, Unterstützung, Vertrauen, Sicherheitsempfinden, Ermutigung, Bestärkung und auch Einfühlsamkeit kennzeichnen eine solche stabile Beziehung, die insofern als die gesamte Lebensspanne überdauernde Variable von Resilienzentwicklung zu lesen ist.57 Empathie also, so lässt sich zunächst hieraus schlussfolgern, kann als ein solches Qualitätsmerkmal stabiler Beziehungen gekennzeichnet werden. Was daran alltagspsychologisch auf der Hand zu liegen scheint, muss sich jedoch einer genaueren Beurteilung unterziehen lassen. Wie also wirkt sich Empathie positiv auf Beziehungen und insofern auf Gesundheit und Wohlbefinden aus? Empathie als Qualitätsmerkmal wird nun empirisch beschreibbar, indem Interaktionserfahrungen in ihren Bedingungen und Folgeprozessen ausgewertet werden.58 Zu diesem Gefüge gehören situative und charakterliche Dispositionen sowie konkrete prosoziale Verhaltensweisen. Letztere sind etwa prosoziales Engagement, Hilfsbereitschaft, Fürsorgeverhalten, Perspektivübernahme, Mitgefühl und Betroffenheit. Ermöglicht werden diese wiederum durch bestimmte charakterliche Dispositionen, etwa Extraversion, Selbstsicherheit, subjektive Kontrollüberzeugung, eine mitfühlend-altruistische, soziale Grundeinstellung, Solidarität, Zivilcourage oder auch ethische bzw. religiöse Überzeugungen. Daneben kommen aber auch Faktoren zum Tragen, die in der situativen intersubjektiven Konstellation liegen: Soziale Nähe, Kontakthäufigkeit, Kooperation, Sympathie und Identifikation etwa haben dann in empathischen Interaktionen 54 Vgl.

Rönnau-Böse, Resilienz, 14 ff.  Rönnau-Böse, Resilienz, 16. 56  Fingerle 2011, zit. n. Rönnau-Böse, Resilienz, 15. 57  Vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 16 f. 58 Vgl. Brandtstädter, Jochen: Positive Entwicklung. Zur Psychologie gelingender Lebensführung, Berlin/Heidelberg ²2015, 215. 55

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

katalysatorische Wirkung. In einer Beziehung, die als empathisch bezeichnet wird, kommt ein spezifisches Wirkprinzip zum Tragen: Diese Dispositionen und Verhaltensweisen ermöglichen konkrete Formen der Empathie und werden ihrerseits durch Empathie intersubjektiv gefördert. In dieser Reziprozität liegt nach Brandtstädter die „sozialintegrative Funktion“59 dieser empathischen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die eine zwischenmenschliche Beziehung prägen und für beide beteiligte Personen zu einem besonders wichtigen Bewältigungskapital im obigen Sinne werden. Umso deutlicher wird dabei auch, welcher spezifische Mangel zu kennzeichnen ist, der eine für empathische Interaktionen benachteiligende Wirkung hat: Als negative charakterliche Dispositionen nennt Brandtstädter mangelnde Motivation und Bereitschaft zu Hilfeleistungen, diskriminierendes oder anderweitig aggressives Verhalten sowie negative Vorurteile. Negative Faktoren, die innerhalb der aktualen Interaktion liegen, sieht er in mangelnder Fairness, einem geringen Grad an Vertrautheit, persönlicher Distanziertheit oder unerkannten Konfliktstrukturen.60 Neben Empathie als Qualitätsmerkmal stabiler Beziehungen, das einen Resilienzertrag für die Beziehung als solche hat, ist auch empirisch nachweisbar, wie sich empathische Beziehungen auf die psychophysische Konstitution des Einzelnen auswirken. In einer enormen Bandbreite unabhängiger Studien konnten spezifische positive Wirkzusammenhänge zwischen empathischen Dispositionen und Verhaltensweisen und individueller Gesundheit benannt werden, die sich auf den Empathisierten einerseits und auf den Empathisierenden andererseits in spezifischer Weise beziehen: Ein hohes Maß an entgegengebrachter Empathie wirkt sich für die empathisierte Person signifikant positiv aus, indem ihr die Konsequenzen prosozialer Zuwendung zugutekommen. Ihr wird die Bereitschaft zu unmittelbarer, langfristiger, sensibler und bedürfnisorientierter Hilfe entgegengebracht mit dem Ziel, ihr Leid zu lindern. Dabei wird tendenziell ein hohes Maß an kooperativem Verhalten aufgebracht, das auf einen Profit für beide beteiligten Personen abzielt. Konfliktsituationen, dissoziale Haltungen und Verhaltensweisen sowie Vorurteile sind dagegen stark verringert. In professionellen Kontexten werden Abläufe durch Empathie positiv beeinflusst, indem Mitarbeitern mehr Wertschätzung zukommt, was sich in mehr Motivation und Leistungsbereitschaft niederschlägt. Studien belegen einen solchen Effekt freilich auch für persönliche Beziehungen. So gibt es einen signifikanten Zusammenhang von entgegengebrachter Empathie und partnerschaftlicher Zufriedenheit, die sich im Empfinden von Nähe, Vertrauen und Unterstützung niederschlägt. Ein besonders starker Positiveffekt  Brandtstädter, Positive Entwicklung, 215. Brandtstädter, Positive Entwicklung, 213 ff.; siehe auch die Entsprechung in der kindlichen Entwicklung bei Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 287 ff. 59

60 Vgl.

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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von Empathie wurde zudem bei krebserkrankten Kindern beobachtet, deren Eltern sich stark empathisch gegenüber deren Leid verhielten. Bei diesen Kindern war deutlich zu erkennen, dass ihr subjektives Leiderleben nicht so immens war, wie es von außen einzuschätzen wäre und im Vergleich zur Kontrollgruppe zu sehen war. Wenngleich in den einzelnen Studien kein vollständig einheitlicher Begriff von Empathie zugrunde gelegt wird und auch Varianzen in Methodik und Operationalisierung von Empathie jeweils bestehen, kann insgesamt aber ein deutlich positiver Zusammenhang von empathiebasiertem prosozialen Verhalten und den beschriebenen Effekten reliabel nachgewiesen werden.61 Empathie in ihren positiven Ausläufern aber betrifft nicht allein denjenigen, der sie empfängt. So konnte ebenso gezeigt werden, dass Menschen mit empathischen Eigenschaften und Verhaltensweisen, etwa Fürsorglichkeit, Altruismus, Hilfsbereitschaft, Interesse an Mitmenschen, Umwelt und Zukunft sowie konkrete Hilfeleistungen und karitative Tätigkeiten in besserer gesamtgesundheitlicher Verfassung sind. Konkret bedeutet dies signifikant weniger Stresssymptome, wie Angst oder Depression, weniger gesundheitsgefährdendes Verhalten wie Rauchen oder Alkoholkonsum und eine insgesamt bessere Regulation empfundenen Stresses. Auch konnte dabei gezeigt werden, dass sich diese Empathie positiv auf die lang fristige individuelle Resilienz auswirkt.62 Was aber können empathische Menschen besser als solche, die etwa eine Tendenz zur Selbstfokussierung haben und denen es an sozialem Engagement fehlt? Welche Fähigkeiten braucht Empathie konkret, um sich positiv auszuwirken? Aus der Resilienzforschung von Rönnau-Böse et al. geht hervor, welche individuellen Bedingungen zu dieser resilienteren Bewältigung von Aufgaben und Herausforderungen des Lebens beitragen. Dort werden insgesamt sechs konkrete Resilienzfaktoren ausgemacht, die als personengebundene Kompetenzen zu einer resilienteren Bewältigung von Aufgaben und Herausforderungen des Lebens beitragen. Die folgende Grafik (s. Abb. 2) zeigt diese sechs Resilienzfaktoren, von denen zwei (hier hervorgehoben) mit empathischen Fähigkeiten in direktem Zusammenhang stehen.63 Insofern alle sechs aber als Fähigkeiten im Umgang mit Herausforderungen zu verstehen sind, die nur zugunsten der Darstellbarkeit zu trennen und bei Individuen unterschiedlich in Umfang und Ausprägung gegeben sind, sollen zunächst kurz die übrigen Komponenten Erwähnung finden, bevor die zwei für Empathie unmittelbar relevanten Komponenten eingehender betrachtet werden. Unter Selbststeuerung werden Fähigkeiten verstanden, Gefühls‑ und Erregungszustände zu kontrollieren. Darunter fallen aktivierende, aufrechterhaltende 61 Vgl. Konrath, Sara/Grynberg, Delphine: The Positive (and Negative) Psychology of Empathy, in: Watt, Douglas F./Panksepp, Jaak (Hgg.): Psychology and Neurobiology of Empathy, New York 2016, 63–108, hier: 64 ff. 62  Vgl. Konrath, Psychology of Empathy, 69 ff. 63  Die folgenden Ausführungen sowie die Übersicht in vgl. zu Rönnau-Böse, Resilienz, 17 ff.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs Entwicklungsaufgaben, Anforderungen

Selbst‑ und Fremdwahr‑ nehmung

Soziale Kompetenz

Selbst­ steuerung

Selbstwirk­ samkeit

Aktive Bewältigungs­ kompetenzen

Problem­ lösung

Bewältigung

Abb. 2: Sechs Resilienzfaktoren; vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 17 ff.

und dämpfende Regulationsstrategien. Selbstwirksamkeit beschreibt die Überzeugung, aus eigener Kraft Dinge zu bewältigen. Sie umfasst auch die damit verbundene Erwartungshaltung zur Wirksamkeit eigenen Handelns sowie die realistische Attribuierung von Ursachen. Aktive Bewältigungskompetenzen meinen einen individuell stimmigen Umgang mit Anforderungen. Dazu zählen die Einschätzung und Bewertung von subjektiv empfundenem Stress und eigenen Möglichkeiten und Strategien zur Bewältigung. Problemlöseverhalten meint, das eigene Wissen zu aktivieren, um das gedanklich erfasste und verstandene Problem erfolgreich zu bewältigen. So nimmt Empathie nun einen zentralen Platz im Rahmen zweier Resilienzfaktoren ein, nämlich in Selbst‑ und Fremdwahrnehmung einerseits und der sozialen Kompetenz andererseits. Mit Selbst‑ und Fremdwahrnehmung werden Fähigkeiten bezeichnet, eigene und fremde Kognitions‑ und Emotionsvorgänge angemessen wahrzunehmen und zu bewerten, sich dabei selbst zu reflektieren bzw. sich in andere hineinzuversetzen. Hierin kommen die kognitiven und affektiven Aspekte zum Tragen, die bereits innerhalb der entwicklungspsychologischen Ausführungen erläutert wurden. Damit hängt aufs Engste auch die soziale Kompetenz zusammen. Hinter dieser Fähigkeit verbergen sich verschiedene Umgangs‑ und Verhaltensformen von Individuen in konstruktiven sozialen Beziehungen, etwa den Aufbau und Erhalt von Nahbeziehungen, empathische Einfühlung in und die aktive Zuwendung zu anderen sowie eine der jeweiligen Situation angemessene Kommunikationsgestaltung und Konfliktlösung. Diese komplexe Fähigkeit wird innerhalb der ethischen Entfaltung dieser Arbeit noch einen spezifischen Platz einnehmen. An diese Benennung von innerpsychischen Merkmalen, die empathische Interaktionen begünstigen bzw. einschränken und durch Empathie wiederum weiter stabilisiert werden, schließt sich nun die Frage an, wie jene begünstigenden Eigenschaften und Verhaltensweisen gefördert werden können.64 Von Geburt 64  Die Förderung von Empathie ist freilich nicht auf den Erziehungsbereich durch die primären Bezugspersonen beschränkt. Vielmehr ist sie zentraler Bestandteil frühpädagogischer

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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an kann Empathie – erfasst als jene Kompetenz von Selbst‑ und Fremdwahrnehmung bzw. soziale Kompetenz  – auf verschiedenen Ebenen erzieherisch gefördert werden und dies orientiert sich an den Entwicklungsanforderungen, denen sich eine Person in einer bestimmten Entwicklungsphase ihres Lebens gegenübersieht. Auf einer ersten Achse kann Förderung darin bestehen, dass das Kind selbst Erfahrungen macht, durch die es Empathie erlebt. Solche Formen der Förderung stellen in allen Entwicklungsphasen die entscheidenden Weichen, damit Kinder sich selbst zu empathischen Menschen entwickeln können. Konstruktive und unmittelbare Responsivität nehmen dabei eine besondere Rolle ein. Dies sind etwa mimische, gestische und lautliche Spiegelungen als Reaktion auf und Deutung von kindlichem Ausdrucksverhalten, Signale gegenüber dem Kind, dass es genau wahrgenommen und verstanden wird, positive Körper‑ und Sinneserfahrungen sowie kontinuierliche und klare Bezugspersonen sind nur einige wenige dieser Möglichkeiten, eine differenzierte Wahrnehmung des Kindes von sich selbst und vom Anderen zu fördern. Dabei lernt es, dass es wertvoll ist, Eigenes zu teilen, zu trösten, zu helfen, Gefühle ausdrücken und teilen zu können, auf ein Fehlverhalten anderer empathisch zu reagieren und einen Verlust an Anerkennung und Würde zu vermeiden; es lernt auch, dass es durchaus wichtig ist, wie andere denken, fühlen und leiden und dass es ebenso wichtig ist, ihnen Zuneigung und Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen.65 Dies gilt auch für eine weitere Spielart dieser erfahrungsbasierten Förderung, die darin besteht, Kindern zu einem beobachtbaren verkörperten Vorbild zu werden. Durch eigene prosoziale Verhaltensweisen bzw. durch die Sichtbarkeit von Teilhabe, Mitteilung, Mitgefühl und Hilfe im Verhalten anderen gegenüber werden die noch zu entwickelnden Fähigkeiten explizit vorgelebt. Eine zugewandte, wertschätzende, verständnisvolle Grundhaltung der Erziehungspersonen wirkt bei der Entwicklung dieser Fähigkeiten essenziell mit. In gleicher Weise aber vermitteln auch der verbale und nonverbale Ausdruck von Verärgerung, von Grenzen und Regeln sowie Konfliktlösung durch Aushandlungsprozesse relevante Fähigkeiten der Fremdwahrnehmung und sozialer Beziehungen. Diese Form bleibt eine erzieherische Aufgabe auch in der Adoleszenzphase, in der die Förderung empathischer Fähigkeiten durch die Förderung von Peer-Beziehungen, das Zulassen von Räumen, in denen Jugendliche eine eigene Kultur finden Förderung oder schulischer kompetenzorientierter Curricula. In diesen Bereichen knüpft sich die Förderung von Kompetenzen in aller Regel an spezifische Lernkontexte und Methoden. Diese Förderung umfasst damit einen so spezifischen und zugleich weiten Bereich, dass er an dieser Stelle bewusst ausgeklammert wird. Damit ist dieser Förderbereich aber keinesfalls von geringerem Stellenwert. 65  Vgl. Grotberg, Edith H.: Anleitung zur Förderung der Resilienz von Kindern – Stärkung des Charakters, in: Zander, Margherita (Hg.): Handbuch Resilienzförderung, Wiesbaden 2011, 51–101, hier 61; 65; 73; 83; 85 f.; vgl. Demetriou, Helen: Empathy, Emotion and Education, Cambridge 2018, 2 f.; vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 55 ff.

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und Werte, Stil sowie Identitätsmerkmale ausbilden können. Auch hier ist eine anerkennende, die Individualität eines jeden wertschätzende, offene Haltung der Bezugsperson, die aber auch geregelte Strukturen verwirklicht, von fundamentaler Bedeutung. Durch vertrauensvollen Austausch mit Gleichaltrigen, aber auch mit Erwachsenen sowie die Bereitschaft zu sozialen Aushandlungsprozessen sind besonders zielführende Möglichkeiten gegeben, die so zentral werdende Selbstwahrnehmung in Wechselbeziehung mit sozialen Prozessen zu fördern.66 Neben diesen Formen der Förderung sind schließlich auf einer zweiten Achse explizite Impulse der Erziehungsperson zur Beförderung empathischen Verhaltens beim Kind mögliche Förderungsmaßnahmen zur Etablierung einer Kultur der sozialen Sensibilität, in der das Kind umfassende Prinzipien und Umgangsformen lernt, die in sozialen Beziehungen zielführend sind und die eigene Resilienzentwicklung positiv beeinflussen.67 Diese Kontexte sind für die Förderung empathischer Fähigkeiten vor allem relevant, wenn es ein erziehungsbedingtes Gefälle zwischen Erwachsenem und Kind/Jugendlichem gibt. Daneben jedoch ist auch eine Förderung jenseits erzieherischer Absichten denkbar, die eine in der Regel bereits erwachsene Person an sich selbst vollzieht. Hintergrund einer solchen Selbstförderung ist, dass im Erwachsenenalter vornehmlich Ressourcen herangezogen werden, die in Kindheit und Adoleszenz ausgebildet wurden und die nun als jenes Bewältigungskapital für Lebensanforderungen zur Verfügung stehen. Im Falle weit ausgeprägter Bewältigungskapazitäten kann eine Bewältigung von Lebensanforderungen wiederum die Kraft dieser und auch verwandter Kapazitäten stärken („Schneeballeffekt“).68 Im Falle aber, dass die Aktivierung des bisherigen Bewältigungskapitals nicht ausreicht, kann Training spezifischer Kompetenzen helfen, das eigene Kapital zu stärken und damit die Resilienzfähigkeit zu erhöhen, unabhängig vom derzeitigen Alter. Brandtstädter führt verschiedene Bereiche an: Ein Training in Selbstmanagement, in der Flexibilisierung von eigenen und fremden Bedürfnissen, in der Sensibilisierung des Gewahrens Empathie erfordernder Situationen bzw. spezifisch von Notsituationen anderer, in der Bereitschaft, sich anderen zuzuwenden, helfend, zivilcouragiert und solidarisch zu handeln, stärkt solche Kompetenzen, die im Subjekt selbst verortet sind; aktives Zuhören, Kommunikationskompetenzen, das Wahrnehmen und Deuten verbal und nonverbal ausgedrückter Empfindungen sowie Konfliktmanagementstrategien können im Bereich der Interaktion trainiert werden.69

 Vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 89 ff.; 106 ff.  Vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 89 ff.; 106 ff. 68  Vgl. Rönnau-Böse, Resilienz, 132. 69  Vgl. Brandstädter, Positive Psychologie, 215 f. 66 67

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Zwischenfazit Nachdem entwicklungspsychologisch die Möglichkeitsbedingungen von Empathie markiert werden konnten, lässt sich mit dem Blickwinkel der Positiven Psychologie über die positive Relevanz und Funktion von Empathie reflektieren. Positive Psychologie fragt grundsätzlich nach Bedingungen und Faktoren gelingender, d. h. für Gesundheit und persönliches Wohlbefinden positiver Lebensführung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Bedeutung Empathie zukommt, was sie in Bezug auf Gesundheit und Wohlbefinden spezifisch leisten kann. Unter zwei Gesichtspunkten nun können Relevanz und Funktion von Empathie positiv-psychologisch ausgemacht werden: 1. Im Rahmen der Resilienzforschung zeigt sich, dass Empathie einen bedeutenden Einfluss hat auf die Resilienz, also die psychische Widerstandkraft von Menschen gegenüber alltäglichen und besonders kritischen Herausforderungen. Dies erweist sich anhand von Resilienzfaktoren, die überindividuell als Faktoren positiver Entwicklung gekennzeichnet werden können. Dabei lässt sich zum einen ein kontinuierlicher und überdauernder Resilienzfaktor ausmachen, der als Indikator für Relevanz und Potenzial von Empathie gelten kann: stabile Beziehungen. Stabilität formuliert dabei eine Qualität von Beziehung, die sich in deren Ausgestaltung manifestiert. Sie entsteht in Beziehungen nicht durch einzelne prosoziale Handlungen, sondern durch bestimmte Erfahrungen von Empathie, die von beiden Seiten eines empathischen Geschehens in konkreten Interaktionen gemacht werden und sich wesentlich durch spezifische Merkmale auszeichnen: Interaktionen werden wertschätzend, unterstützend, vertrauensvoll und einfühlsam gestaltet, in ihnen kommen prosoziales Engagement, Hilfsbereitschaft, Fürsorgeverhalten, Mitgefühl und die Bereitschaft zum Tragen, die Perspektive des je Anderen einzunehmen. Zuträglich sind Charaktereigenschaften wie etwa Extraversion, Selbstsicherheit, subjektive Kontrollüberzeugung sowie grundlegende Haltungen wie eine mitfühlend-altruistische soziale Grundeinstellung, Solidarität, Zivilcourage oder auch ethische bzw. religiöse Überzeugungen. Die konkreten Auswirkungen einer so gestalteten Beziehung sind vor allem für die empathisierte Person in der Interaktion unmittelbar erfahrbar. Sensible und bedürfnisorientierte Hilfe um ihrer selbst willen oder Wertschätzung sind solche konkreten Formen, die sich langfristig auf das Wohlbefinden positiv auswirken. Zufriedenheit, ein Empfinden von Nähe und Vertrautheit und auch ein verringertes subjektives Leidempfinden zeigen dies an. Aber auch bei der empathisierenden Person konnte empirisch gezeigt werden, dass die Empathie, die sie anderen entgegenbringt, zu einer besseren eigenen gesundheitlichen Verfassung deutlich beiträgt und auch langfristig auf die Resilienz Einfluss nimmt. So weisen empathische Menschen gegenüber selbstzentrierten Menschen weniger Symptome stressbedingter Erkrankungen auf, wie etwa Burn-out.

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Neben stabilen Beziehungen sind zudem bestimmte empathische Kompetenzen entscheidend, die als Resilienzfaktoren zu benennen sind. So kommt es bei der Fähigkeit zur Empathie vor allem darauf an, wie ein Individuum sich selbst und andere wahrnimmt und wie seine soziale Kompetenz beschaffen ist. In dieser Weise empathisch zu sein, bezieht sich dabei zum einen auf die Art, wie eigene und fremde Kognitions‑ und Emotionsvorgänge wahrgenommen, bewertet und reflektiert werden und wie gut ein Individuum sich in eine fremde Wahrnehmung hineinversetzen kann. Empathie als Teil der komplexen sozialen Kompetenz meint dabei empathische Umgangsformen, empathische Zugewandtheit, Kommunikations‑ und Konfliktlösungskompetenzen. 2. Empathische Wahrnehmungs‑ und Handlungsformen mit ihren entsprechenden charakterlichen Dispositionen machen einen erheblichen Teil des menschlichen Bewältigungskapitals aus, aus dem geschöpft werden kann, um Entwicklungsaufgaben erfolgreich zu meistern. Als solche sind sie aber nicht einfach selbstverständlicher und vollständig ausgebildeter Teil der menschlichen Anlage. Vielmehr bedarf Empathie, verstanden als empathische Kompetenzen oder als Qualität von Beziehung, der Formung bzw. Ausgestaltung durch beteiligte Personen. Das bedeutet zugleich auch, dass Empathie formbar und förderbar ist – ob als erzieherischer oder als selbstbildender Prozess. Ob und wie ein Mensch Empathie aufbringt, ist nicht kontingent und entzieht sich deshalb der Beeinflussbarkeit, sondern über die spezifische Förderung von Kompetenzen, Verhaltensweisen, Haltungen und Wahrnehmung stellt sich Empathie als eine weitgehend zumindest relativ steuerbare Ressource dar. Wenngleich nun gegen dieses positive Potenzial von Empathie und insofern gegen ihre Relevanz kaum ein ernsthafter Zweifel erhoben werden kann, so unhintergehbar ist auch die allgemein-menschliche Erfahrung, dass Empathie in dieser Gestaltbarkeit Grenzen unterworfen ist. Machen wir doch täglich die Erfahrung, dass wir selbst nicht in der Weise empathisch sein können, wie wir es zu einem anderen Zeitpunkt können, dass wir in gleicher Weise aber auch die Erwartung von Empathie immer wieder unterschreiten oder dass uns die Empathie, derer wir selbst bedürften, entzogen bleibt. Diesem insofern relativen, zuweilen auch negativen Potenzial von Empathie sei die Aufmerksamkeit in den folgenden drei Teilen gewidmet. 3.1.1.3  Allostase. Eine Grauzone der Empathie Während auf der einen Seite Empathie eine Ressource für Gesundheit und Wohlbefinden beider an ihr beteiligter Personen darstellt und insofern in ihrer positiven Bedeutung zu würdigen ist, stehen psychologisch seit je her auch solche Fälle im Fokus der Aufmerksamkeit, die diagnostisch vom Normbereich abweichen und in einer spezifischen Weise eine Pathologie darstellen. In solchen Erkrankungsbildern lassen sich entsprechend negative Bedeutungspotenziale

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von Empathie erkennen, insofern diejenige Pathologie negative Auswirkungen für mindestens eine der beteiligten Personen hat. Die Betrachtung solcher Fälle liegt im Bereich der Klinischen Psychologie, die im späteren Teil zur Darstellung kommt. Nun bleibt durch diese klassische Differenzierung Positiver und Klinischer Psychologie jedoch die überwiegende Anzahl an Fällen unberücksichtigt, bei denen Empathie durchaus auch zu einem dysfunktionalen Faktor werden kann, ohne dass dabei aber ein klinisches Erkrankungsbild vorläge. Eine eigene Reflexion sei diesen Fällen zwischen Positiver und Klinischer Psychologie und damit zwischen einer positiven und negativen Bedeutung von Empathie gewidmet. Entsprechend ist dann ein Bereich berührt, der für alle gesund entwickelten Menschen zum Erfahrungshorizont des alltäglichen Lebens gehört. Dieser kann dennoch Gegenstand psychologischer Betrachtung sein, insofern es zu den obigen Entwicklungsaufgaben gehört, diesen Erfahrungen zu begegnen. In dieser Weise wird zusätzlich der Einsicht Rechnung getragen, dass oftmals der begrifflich nicht-klinische Zustand von dennoch pathologischen oder pathogenetischen Zügen nur schwer trennbar ist, dass dem Begriffspaar Gesundheit–Krankheit eher ein Kontinuum als eine Dichotomie eignet, wie es Antonovsky formuliert hatte. Die hier gemeinte Grauzone kommt näher in den Blick, wenn der psychologische Begriff der Allostase hinzugezogen wird. Allostase bezeichnet einen „adaptive[n] Prozess, durch den der Körper unter Stress durch physiologische und psychologische Anpassungsleistungen Stabilität zu erreichen versucht“70. Diese Fähigkeit psychophysischer Verhaltensanpassung ist zunächst eine Ressource des Körpers, entgegengebrachten Stress auszugleichen. Eine Person nun, die mit dem leidvollen Erleben einer anderen Person konfrontiert wird, ist einem solchen Stress ausgesetzt. Durch seine körpereigene Allostase werden die Auswirkungen dieses Stresses abgefedert, indem eine komplexe psychophysische Anpassung stattfindet. Die genannte Person verfügt also über ein normales oder auch besonders hohes Maß an Empathie und verhält sich entsprechend auch in einer sozialen Situation der anderen Person gegenüber erlebbar empathisch. Es ist zunächst davon auszugehen, dass Empathie in diesem Falle eine Ressource für beide an einer Situation beteiligten Personen ist. Aus der eigentlichen Ressource kann aber auch eine Belastung werden, die allostatische Last genannt wird.71 Wenn eine solche empathische Stresskonfrontation und entsprechendes Anpassungsverhalten dauerhaft oder in besonders intensiver Weise vorkommt, kann dies als sogenannte compassion fatigue in Erscheinung treten. Häufig geschieht dies, wenn Menschen im Rahmen von 70 Ehlert, Ulrike: Verhaltensmedizin, Berlin/Heidelberg ²2016, 358. online verfügbar auf: https://lehrbuch-psychologie.springer.com/lexikon/444, abgerufen am: 14. 3. ​2020. 71 Raglan, Greta B./Schulkin, Jay: Introduction to Allostasis and Allostatic Load, in: Kent, Martha/Davis, Mary C./Reich, John W. (Hgg.): The Resilience Handbook, Approaches to Stress and Trauma, New York 2014, 44–52, hier: 46.

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beruflicher Verpflichtung (z. B. Sozialarbeit), freundschaftlicher oder privater Inanspruchnahme (z. B. aufopfernde Begleitung in Verlustsituationen oder häusliche Pflege von Angehörigen) ein erhöhtes Maß an Empathie aufbringen wollen, sollen oder müssen, das schnell zur Belastung der eigenen psychophysischen Konstitution wird oder sogar Gefahr läuft, in altruistische, selbstopfernde Rettung des Anderen aus dessen Leidsituation überzugehen. Dabei gerät der empathisch Handelnde unter akut erhöhten oder chronischen Stress, der je nach Grund für das empathische Handeln zu schweren und andauernden Ermüdungs‑ und Belastungserscheinungen führen kann. Dieser erlebte Stress, der sich in erhöhtem Cortisolausstoß manifestiert, wird empathic distress genannt. Auf diese Weise kann Empathie zunächst negative Auswirkungen für das empathisierende Subjekt selbst haben. Als Folgeeffekt eines erlebten empathischen Distresses ist dann aber zusätzlich oftmals zu beobachten, dass die empathische Person sich aus der stressverursachenden Situation zurückzieht, um die empfundene Stressauswirkung zu verringern oder ihr ganz zu entfliehen. In diesem Falle hat die eigentliche Ressource Empathie sich in ihr Gegenteil verkehrt; sie ist zur Belastung geworden und führt in letzter Konsequenz sogar zum Abbruch der empathischen Situation. Der ambivalente Charakter der Empathie ist hier deshalb von so besonderer Tragweite, weil er lange Zeit latent seine Wirkung entfaltet, bevor Menschen spürbare Anzeichen ihrer eigenen Belastungsgrenze wahrnehmen oder diese als solche bewerten. Zudem kann er anlässlich unzähliger Situationen des alltäglichen Lebens zutage treten. So sind etwa Menschen in den oben genannten sozialen, verantwortungsreichen beruflichen Tätigkeiten oder solche mit einem besonders feinfühligen, sozial ausgerichteten Wesen oftmals einer gesteigerten Gefahr ausgesetzt, letztlich Opfer ihrer eigenen Empathie zu werden. Dieser Effekt wird im Rahmen der depressiven Störung im folgenden Kapitel eine entscheidende Rolle spielen; ist es doch kein Zufall, dass bei Menschen mit starker empathischer Reaktionsfähigkeit nicht selten Erkrankungen entstehen, die z. B. unter dem Namen Burn-out gefasst werden und eine besondere Nähe zu depressiven Störungen haben.72 Empathie, so lässt sich hieraus resümieren, trägt in ihrer Rolle als Ressource immer schon zumindest das Potenzial zu ihrem eigenen Gegenteil mit sich, sodass sie zum Vorteil des Anderen und zugleich zum eigenen Nachteil gereichen kann. Empathie, die in solchen negativen Konsequenzen in Erscheinung tritt, ohne aber durch klinische Zustände bedingt zu sein, rücken Schattenseiten von Empathie in bedrängende persönliche Nähe eines jeden Einzelnen. Daran wird besonders deutlich, wie sich Empathie mit dem oben erläuterten Kontinuum von Gesundheit und Krankheit zusammenbringen lässt. So wie die Bezeichnungen Gesundheit und Krankheit keine dichotome Entscheidung verlangen, sondern  Vgl. Konrath, Psychology of Empathy, 72 ff.

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eine Verortung im fluiden Kontinuum, so verhält es sich auch mit dem Potenzial der Empathie: Mit den Polen des positiven Potenzials einerseits und dem destruktiven Potenzial andererseits ist ein Kontinuum aufgespannt, innerhalb dessen das aktuale Potenzial von Empathie stets situativ zu verorten ist. Auch hier aber kann im Hinblick auf die Gestaltbarkeit von Empathie in Analogie zu jenem Kontinuum von einem Schieberegler gesprochen werden, den ein Subjekt bedienen kann, um das Maß und damit das konstruktive Potenzial von Empathie zu beeinflussen. 3.1.1.4  Trait und State Empathy. Natürliche Varianzen der Empathie Eine zweite Relativierung von Empathie in ihrem positiven Potenzial wird evident unter den Vorzeichen einer Grundunterscheidung, nämlich der zwischen trait empathy und state empathy. Diese Unterscheidung spielt in der Forschungsliteratur immer wieder eine Rolle, wird aber verhältnismäßig selten explizit benannt. Empathie als trait zu behandeln, nimmt Empathie als Eigenschaft in den Blick. Dabei erscheint Empathie in aller Regel als grundsätzliche Fähigkeit des Menschen, am Erleben des Anderen teilzunehmen. Diese Dimension wird in der bisherigen psychologischen Abhandlung dieser Arbeit primär betrachtet mit Ausnahme der Bemerkungen zur Allostase. Davon zu unterscheiden ist der Blick auf Empathie als state.73 Hier wird Empathie als aktual erlebbare Teilnahme am Erleben des Anderen gedacht, weitestgehend unabhängig davon, welche Ausprägung die grundsätzliche Empathiefähigkeit der betreffenden Person hat. Diesen Unterschied zu vergegenwärtigen, ist nicht unerheblich, liegt doch hierin eine der Komplexitäten des Phänomens, die unabdinglich ist für das ganzheitliche Verstehen von Empathie. Während im Rahmen der Allostase Empathie ein negatives Potenzial für die empathisierende Person entwickeln kann, können aus der Divergenz von trait und state empathy deutliche Varianzen und damit oftmals negative Effekte für die empathisierte Person entstehen. Dieser Bereich von Erfahrungen mutet gewiss als besonders trivial an, ist aber deshalb nicht weniger bedeutungsvoll. Durch verschiedene empirische Versuchsparadigmen konnten solche potenziellen Negativeffekte bzw. auch qualitative Abstufungen erlebbarer Empathie belegt werden: Ein besonders allgemeingültiger, subjektiv für jeden Menschen nachvollziehbarer Effekt ist ein pragmatischer. So zeigen Erwachsene etwa unter bestimmten Umständen eingeschränkte ToM-Fähigkeiten, insbesondere eine eingeschränkte Perspektivübernahme. Dies ist etwa der Fall, wenn Menschen unter erhöhter kognitiver oder zeitlicher Belastung stehen.74 Die Untersuchungen von Bischof73  Vgl. Nezlek, John B./Schütz, Astrid/Lopes, Paolo/Smith, C. Veronica: Naturally Occuring Variability in State Empathy, in: Farrow, Tom F. D./Woodruff, Peter W. R. (Hgg.): Empathy in Mental Illness, Cambridge 2007, 187–200, hier: 187 ff. 74  Vgl. Samson, Dana/Michel, Caroline: Theory of Mind: Insights from Patients with

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Köhler zeigen zudem sogar, dass situative Faktoren ausgemacht werden können, die sich auf die aktuale Empathiereaktion auswirken. Mindestens fünf dieser Faktoren lassen sich benennen: 1. Es spielt eine Rolle, wie hoch die Kosten sind, die mit dem Aufbringen von Empathie einhergehen und im Verhältnis zum eigenen Bedürfnis abgewogen werden. 2. Die subjektive Stimmungslage beeinflusst, ob Empathie situativ überhaupt und in welchem Maße sie zur Entfaltung kommt. Es zeigt sich eine klare Tendenz: Je besser die allgemeine Stimmungslage ist, desto größer ist die aufgebrachte Empathie. 3. Autonomie und Kompetenzüberzeugungen des Empathisierenden entscheiden über das Maß an entgegengebrachter Empathie; ist das Subjekt von der eigenen sozialen Kompetenz überzeugt, ist tendenziell auch das aktuale Maß an Empathie höher. 4. Der Grad der Vertrautheit ist der stärkste Faktor, der sich auf Empathie auswirkt. Dieser Faktor funktioniert über die Ähnlichkeit, die zur eigenen Person ausgemacht werden kann und damit über Identifikation. Dabei spielt geografische Nähe, Vertrauenswürdigkeit und der evolutionär bedingte Überlebensmechanismus eine Rolle, der Menschen eine ähnliche, vertraute Person einer entfernten, fremden Person vorziehen lässt. In diesem Aspekt formuliert sich die allgemeinmenschliche Erfahrung, dass es leichter fällt, dem Angehörigen wegen eines gestohlenen Gegenstandes mehr Empathie entgegenzubringen als einer vor Krieg flüchtenden Familie aus dem Nahen Osten. Nicht, weil es auf einem theoretisch reflektierten Urteil beruhen würde. Sondern weil ein Familienmitglied in unmittelbarer Nähe einen Verlust zu beklagen hat, der ganz parallel auch der eigene Verlust sein könnte, während eine Familie fremder Herkunft mit einem fremden Erfahrungshorizont und ebenso unvorstellbarer Kriegssituation nur mit größerem Imaginationsaufwand Objekt unmittelbarer Empathie werden kann. Eine ethische Bewertung sei an dieser Stelle noch ausgespart, psychologisch aber findet dies hierin seinen Grund. Damit können 5. auch Rationalisierungsprozesse zusammenhängen. Diese machen den Unterschied zwischen Ich und Anderem so stark, dass eine Abgrenzung die Folge sein kann und den Anderen im eigenen Empfinden für dessen Situation selbst verantwortlich sein lässt.75 Ein weiterer Effekt, durch den zuweilen Varianzen für aktuale Empathie ausgemacht werden können, ist ein paradoxer. So konnte gezeigt werden, dass Empathie auch gegenüber Personen möglich ist, von denen eine Gefahr ausgeht; Studien zeigen, dass unter gewissen Umständen empathische Reaktionen gegenüber Sexualstraftätern gezeigt wurden, zuweilen sogar ist prosoziales Verhalten möglich.76 Empathie kann zudem gruppenspezifisch tendenziös sein. Im Acquired Brain Damage, in: Baron-Cohen, Simon et al. (Hgg.): Understanding Other Minds. Perspectives from Developmental Social Neuroscience, Oxford University Press, Oxford ³2013, 164–177, 164. 75  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 287 ff. 76  Diese Form des Empathieparadoxes verweist auf das Grundproblem, dass bei erschütternden Ereignissen der Fokus der Betrachtung unverhältnismäßig stark auf Tätern statt auf Opfern

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Falle der Sexualstraftäter kommt es etwa darauf an, welches Geschlecht bei empathisierter und empathisierender Person vorliegt oder welche Vorerfahrungen gemacht wurden. Ein weniger brisanter, aber durchaus häufig auftretender Fall dieser Paradoxie liegt vor, wenn sich die aktuale Empathie an subjektiven Empfindungen bemisst, etwa wer von zwei Personen der eigenen Person hilfloser, attraktiver, sympathischer oder niedlicher erscheint. Auch kann Empathie für eine bestimmte Person utilitaristische moralische Entscheidungen in Dilemmasituationen nach sich ziehen und dabei auch andere moralische Werte korrumpieren wie etwa Gerechtigkeit. Schließlich kann Empathie auch Aggression hervorbringen, die sich gegen eine andere Person richtet, um eine dritte Person zu beschützen o. Ä.77 Ein weiterer Bereich, in dem Empathie mit einem negativen Potenzial verbunden sein kann, wird deutlich, wenn auf konkrete Verhaltensweisen geblickt wird, die ganz zu Anfang dieses Kapitels entwicklungspsychologisch reflektiert und als motivationale Ausläufer von Empathie vorgestellt wurden: Prosoziale bzw. in diesem Falle dissoziale Verhaltensweisen. Was hier als ein unvereinbarer Gegensatz erscheint, ist tatsächlich aber auf den gleichen empathischen Mechanismus zurückzuführen, wie jene prosozialen Verhaltensweisen, nur dass hierbei negative Ausläufer aus dem Empathieprozess hervorgehen. Dazu zählt z. B. Schadenfreude, bei der aus dem empathisierten Zustand des Anderen Genuss entsteht. Ein ganz ähnlicher Genuss entsteht bei Sensationslust: Hier ergibt sich dieser aber über die vermutete Gefahr des Anderen. Neid oder Missgunst entstehen aus dem Nebeneinander von empathisierter Freude des Anderen und dem Abgleich mit eigenen Bedürfnissen. Schließlich zählt ein schädigendes Aggressionsverhalten dazu, bei dem das eigene Verhalten erst eine Schädigung des Anderen hervorbringt, aber aus empathischem Empfinden resultiert.78 Besonders extremen Beispielen dieser Empathie widmet Fritz Breithaupt ein ganzes Buch und betrachtet dabei obsessive Formen jener Empathie, etwa Sadismus, Vampirismus und sogar Terrorismus.79 liegt. Dieses Problem hat nicht nur Auswirkungen auf den juristischen Umgang mit Straftaten und weitreichenden Verbrechen. Die gesellschaftliche Wahrnehmung und Anerkennung von Ereignissen wie den Anschlägen in Berlin, Halle und Hanau wird dabei in einer Weise geprägt, dass sich oft die eigentlichen Opfer der Tat in ihrem Schmerz und Verlust im Verhältnis zum Täter nicht ausreichend gewürdigt fühlen. In dieser Weise hat Empathie nicht unwesentliche Implikationen für die Debatte über eine gesellschaftliche Gedenkkultur. 77 Vgl. Konrath, Psychology of Empathy, 77 ff. 78  Vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 289 ff. 79  Breithaupt beschreibt in seinem zweiten Werk über Empathie Facetten von Empathie, die im allgemeinen Sprachgebrauch nicht mit Empathie in Verbindung gebracht würden, aber von ihm als „hoch problematische […] menschliche Verhaltensformen“, als eben dunkle Seiten der Empathie dargestellt werden. Vorgetäuschtes Mitleid, schikanierendes oder manipulatives Verhalten, Demütigung und Bloßstellung als Spielarten des empathischen Sadismus, stellvertretendes Erleben durch andere als Formen des Vampirismus bis hin zu Akten des Terrors – all diese Verhaltensweisen, so Breithaupt, tragen einen empathischen Kern in sich und sind

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Was sich zusammenfassend an diesen Beispielen besonders deutlich zeigen lässt, ist zweierlei: 1. Empathie als Phänomen muss wesentlich unterschieden werden in die grundsätzliche und die aktuale Fähigkeit zur Empathie. Empathie ist damit situativ; wie jede andere Fähigkeit oder Leistung auch, ist mit einer hohen prinzipiellen Fähigkeit zur Empathie noch nicht ausreichend darüber gesagt, ob und in welchem Maße Empathie in einer tatsächlichen Situation entsteht (trait vs. state empathy). Über die aktuale Empathie entscheiden nicht zuletzt situative Faktoren wie Kosten, Vertrautheit und Stimmungslage. 2. Mit Empathie ist nicht in jedem Fall ein positiver Output verbunden. Dissoziale Verhaltensweisen wie Aggression, Neid oder Sadismus oder Paradoxien wie etwa Täterempathie resultieren aus dem gleichen empathischen Mechanismus wie ihre prosozialen Gegenläufer. Sie werden bedingt durch personengebundene Motive, Vorerfahrungen und Kontextbedingungen und können negative Konsequenzen insbesondere für den Anderen mit sich bringen. Empathie ist insofern individuell. Für den Blick auf die Gestaltbarkeit, von der im positiv-psychologischen Teil die Rede war, bedeutet dies nicht, dass Empathie nicht trotzdem gestaltbar wäre. Nur liegen in Situativität und Individualität zwei weitere Bedingungen vor, die das aktuale Empathiegeschehen und insofern die Gestaltbarkeit dessen mit bedingen. 3.1.1.5  Klinische Psychologie der Empathie Insofern nun die Fluidität des Übergangs zur manifesten Erkrankung durch jene Grauzone der Empathie verdeutlicht wurde, können nun Situationen und Zustände in den Blick genommen werden, bei denen die Fähigkeit zur Empathie pathologisch eingeschränkt oder auch in übersteigertem Maße vorhanden ist. In all diesen Fällen liegt ein spezifisches Störungsbild vor, das vorübergehender Natur sein oder auch dauerhaft zum Betroffenen gehören kann und für die Abweichung von Empathie verantwortlich ist. Damit bewegt man sich im Forschungsfeld der Klinischen Psychologie.80 Klinische Fälle, bei denen spezifisch symptomatisch eine Veränderung empathischer Fähigkeiten zu beobachten ist, sind äußerst zahlreich. Das liegt zum einen daran, dass an allen neuronalen Aktivitäten des menschlichen Gehirns ein ganzer Komplex feingliedriger Prozesse beteiligt ist, die durch fortgeschrittene technische Möglichkeiten zwar für die Analyse zugänglich sind, jedoch einen insofern spezielle Arten, empathisch „Einsicht in andere Wesen“ zu erhalten und daraus in bestimmter Weise zu handeln. Dies ist nicht möglich trotz, sondern weil wir Empathie haben. Zuweilen ist sogar davon zu sprechen, dass für solche Verhaltensweisen eine besonders ausgeprägte Empathie notwendig sei (vgl. Breithaupt, Fritz: Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017, 7; 22 f. u. a.). 80 Vgl. Petermann, Franz: Art. Klinische Psychologie und Psychotherapie, in: Dorsch, Lexikon für Psychologie, online verfügbar auf: https://m.portal.hogrefe.com/dorsch/gebiet/klinische-psychologie-und-psychotherapie/, abgerufen am 4. 3. ​2020.

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noch immer verhältnismäßig geringen Teil des Gesamtkomplexes Gehirn transparent machen. Zum anderen liegt dies an der Komplexität des Phänomens Empathie, das in seinen unterschiedlichen definitorischen Facetten auch eine Vielzahl möglicher Pathologien enthält. Wenngleich auch in der psychologischen Betrachtung nicht von einer vollständig einheitlichen Definition von Empathie die Rede sein kann, gelten mindestens zwei Aspekte des Phänomens durchgängig als konstitutiv: Erstens hat Empathie eine kognitive Dimension. Diese umfasst alle Fähigkeiten, die mit dem Erkennen und der kognitiven Verarbeitung von wahrgenommenen Informationen über das Erleben des Anderen zusammenhängen. Das beinhaltet etwa, was oben als Theory of Mind vorgestellt wurde. Zweitens hat Empathie eine affektive Dimension. Hierzu zählen eigene affektive Reaktionen auf das wahrgenommene Erleben des Anderen, wie etwa Betroffenheit, Mitgefühl, Mitleid, aber auch die unmittelbare Ansteckung mit dem fremden Gefühl. Die Entwicklung solcher affektiven Anteile ist oben als der kognitiven Entwicklung vorgelagerte Erstentwicklung erläutert worden. Im weiteren Verlauf der Entwicklung nehmen beide Anteile einen gleichen Rang ein, erweisen sich aber als hilfreich, um die klinischen Indikationen, die je ein spezifisches Defizit bzw. ein Übermaß an empathischen Fähigkeiten aufweisen, vor dem Hintergrund dieser Differenzierung zu beschreiben. Es sei mit den pathologischen Empathiedefiziten begonnen. a. Autismus-Spektrum-Störungen.  Zu den klassischen klinischen Beispielen, in denen einschränkende Auswirkungen auf empathische Fähigkeiten vorliegen, gehören Störungen des Autismus-Spektrums. Hierzu zählt eine durchaus sehr heterogene Menge an Krankheitsbildern, wie etwa der klassische Autismus, der Asperger-Autismus oder der hochfunktionale Autismus.81 Jeder 150. Mensch ist von einer Variante der Autismus-Spektrum-Störung betroffen, etwa 70 % der Betroffenen gehören mit einem IQ von weniger als 70 dem sogenannten low-functioning-Bereich an und zeigen vor allem geistige und sprachliche Retardierung. Etwa 30 % haben einen IQ von 70 oder mehr und bilden den high-functioningBereich. Diese Menschen zeichnen sich häufig durch eine hohe Begabung in logischem und analytischem Denken aus.82 Für Menschen mit Autismus sind viele Verhaltensweisen typisch, die etwa in eingeschränkten Interessen, in repetitivem Verhalten, im langen Befassen mit 81 Die Unterschiede der Störungsbilder sind durchaus bedeutend und werden unter Fachwissenschaftlern je in dieser Heterogenität erforscht. Diese Unterschiede betreffen jedoch eher andere Felder, wie etwa den Intelligenzquotienten, nicht aber in nennenswerter Weise die empathischen Fähigkeiten. Insofern wird hier allgemein von Autismus-Spektrum-Störungen gesprochen (vgl. Gillberg, Christopher: Non-autism Childhood Empathy Disorders, in: Farrow, Tom F. D./ Woodruff, Peter W. R. (Hgg.): Empathy in Mental Illness, Cambridge 2007, 111–125). 82 Vgl. Keysers, Christian: Unser empathisches Gehirn. Warum wir verstehen, was andere fühlen, München ²2013, 202 f.

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einer einfachen Tätigkeit, in stark ritualisierten Abläufen, manchmal in Inselbegabungen sichtbar werden. Das offenkundigste Merkmal einer jeden Ausprägung von Autismus aber sind Besonderheiten im Sozialverhalten. Während in früheren Zeiten vermeintlich gefühlskalte Mütter für vermeintlich gefühlskaltes Verhalten der Betroffenen verantwortlich gemacht wurden, weiß man heute: Autismus ist eine genetisch vorbestimmte Entwicklungsstörung mit einer Symptomatik in Verhalten und Kognition.83 Spezifisch formuliert dies „[the] innate inability to form […] affective contact with people. [They seem] not to attend […] nor even to recognize [other people] as beings with whom [one] could become emotionally engaged“84. Zu beobachten mag dabei etwa sein, dass Betroffene Schwierigkeiten haben, sich zu anderen Menschen in ein Verhältnis zu setzen, verbal und nonverbal bzw. auch zweckfrei zu kommunizieren und mit Erwachsenen ein Gespräch zu führen, ihre Aufmerksamkeit überhaupt auf soziale Prozesse auszurichten und sich in soziale Kontexte einzubringen. Oft entsteht der Eindruck, dass Menschen mit Autismus die Fähigkeit zur sozialen Reziprozität vollständig fehlt. Auffällig ist auch fehlende Gestik und Augenkontakt, fehlender Ausdruck von eigenen Emotionen, Insichgekehrtheit und Unbetroffenheit von emotionalem Ausdruck anderer, sodass der Eindruck entsteht, sie seien gehörlos. Ihr sprachlicher Ausdruck ist häufig sehr eigentümlich und kann kontextunsensibel sein. Resultat ist in der Regel ein offenkundig geringes oder vollständig fehlendes soziales Netzwerk.85 In der neuropsychologischen Erforschung dieser beschriebenen Symptomatik von Menschen mit Autismus, wie sie in den vergangenen 25 Jahren stattfand, haben sich verschiedene Theorieansätze etabliert, die unterschiedliche Rollen bei der Erklärung der erläuterten Symptomatik spielen: Der Ansatz der zentralen Kohärenz und der Ansatz der exekutiven Funktionen führen die Ursache der Symptomatik auf Probleme in der Informationsverarbeitung und der Handlungsregulation zurück. Damit erklären beide Ansätze den Teil der Symptomatik, der in sogenannten exekutiven Funktionen liegt, also die ersten genannten Symptome des repetitiven und ritualisierten Handelns. Ein dritter Ansatz dagegen konzentriert sich auf diejenige Symptomatik im Bereich der sozialen Interaktion, die auf Schwierigkeiten in der sozialen Kognition und Emotion zurückgeführt werden.86 Wodurch aber unterscheidet sich so grundlegend die soziale 83 Vgl. Matanova, Vanya L./Stoyanov, Drozdstoy St.: Theory of Mind and Autism Spectrum Disorders, in: Sherwood, Elizabeth (Hg.): Theory of Mind. Development in Children, Brain Mechanisms and Social Implications, New York 2015, 145–170, hier: 148. 84 Hobson, Peter: Empathy and Autism, in: Farrow, Tom F. D./Woodruff, Peter W. R. (Hgg.): Empathy in Mental Illness, Cambridge 2007, 126–142; hier: 127. 85 Vgl. Hobson, Empathy and Autism, 127 ff.; vgl. Keysers, Empathisches Gehirn, 203 ff.; vgl. Dziobek, Isabel/Fleck, Stefan: Soziale Kognition und Emotion bei Autismus, in: Degner, Martin et al. (Hgg.): Autismus. Besonderes Denken – Förderung mit dem TEACCH-Ansatz, Nordhausen 2008, 37–67, hier: 51. 86  Vgl. Dziobek, Autismus, 37 f.

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Kognition und Emotion von Menschen mit Autismus von derjenigen gesund entwickelter Menschen? Für ein differenziertes Verständnis des so deutlich zu Buche schlagenden Empathiedefizits ist es sinnvoll, die beiden anteiligen Bereiche der kognitiven und der affektiven Empathie zu bemühen, die in der bisherigen Darstellung bereits angeklungen sind. Entgegen des auf jener beobachtbaren Symptomatik beruhenden Eindrucks, es handele sich bei Menschen mit Autismus um gefühlskalte Menschen, die selbstbezogen und sich selbst genug seien, kann valide empirisch belegt werden: Es sind nicht eingeschränkte oder gar fehlende Empfindungen und Emotionen, die Menschen mit Autismus den Zugang zu anderen Menschen so massiv erschweren. Als Reaktion auf Affektzustände anderer Menschen zeigen von Autismus Betroffene genauso, häufig sogar besonders starke eigene affektive Reaktion, die anderen Menschen unerwartet vorkommen, weil sie durchaus inkongruent zur gegenwärtigen Situation sein können.87 Woran es ihnen aber sehr wohl mangelt, sind Mechanismen der mentalen Repräsentation von Konzepten der Emotion und insofern dann auch von Motiven, zu helfen.88 Bei Autismus handelt es sich also um Beeinträchtigungen der kognitiven Wahrnehmung und Verarbeitung und Regulation von Emotionen, nicht aber der affektiven Responsibilität per se. Damit wird unmittelbar auf jene Fähigkeiten verwiesen, die oben als entwicklungspsychologische Prämissen erläutert wurden, um das Erleben von anderen Menschen zu verstehen: Aspekte, die für die frühkindliche Kognitionsentwicklung so bedeutsam sind, wie etwa Augenkontakt, Blickverfolgung und geteilte Aufmerksamkeit (joint attention), die Wahrnehmung sozialer Reize, das Erkennen von Emotionsausdrücken anderer in deren Gesicht, die Wahrnehmung und Interpretation abstrakter Informationen oder Bewegungen, die Imitation von Gestik und schließlich die spezifischen Theory-of-Mind-Fähigkeiten (ToM), also die Fähigkeiten zur Zuschreibung mentaler Zustände bei Anderen:89 Die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung und die Erkenntnis, dass es einen Unterschied gibt zwischen Ich und Anderem; dass andere Menschen Intentionen, Wünsche, Haltungen etc. haben. In der Folge kann sich nicht das mentale Konzept herausbilden, dass andere Menschen nicht nur eine spezielle Art von Ding sind, sondern erlebende Subjekte mit Individualität in der Art und Weise, sich fühlend und denkend zur Welt ins Verhältnis zu setzen und es für die eigene Person nicht nur um die Reaktion auf andere, sondern um die Reaktion auf Gefühle der Anderen als deren Gefühle geht, ohne dabei aber mit dem Anderen zu verschmelzen. Dieses Problem des eingeschränkten Selbstbewusstseins zieht also eine Einschränkung in der Identifikationsfähigkeit und im Verstehen von Perspektiven und Rollen  Vgl. Dziobek, Autismus, 51 ff.  Vgl. Matanova, ToM and ASD, 159 f. 89  Vgl. Dziobek, Autismus, 39 ff. 87 88

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nach sich;90 die Erwartung schließlich, ein Mensch mit Autismus könnte sich ohne Weiteres zu Hilfeleistung oder Trost veranlasst sehen, ist dann eine maßlos übersteigerte.91 Dagegen ist es nicht überhöht, wenn Keysers von einer fehlenden sozialen Intuition und fehlendem Gefühl von sozialer Verbundenheit spricht.92 Die Ursachen für diese Einschränkungen liegen nicht im Einflussbereich des Betroffenen, sondern in Besonderheiten der Hirnphysiologie: Neuronale Prozesse, etwa die Funktion der Spiegelneurone, sind weniger stark entwickelt und die Vernetzungsaktivität in Hirnarealen, die für diese kognitiven Empathiefähigkeiten zuständig sind, ist vermindert. b. Psychopathische Persönlichkeitsstörung.  Ein weiterer Fall, der klassischerweise mit starker Empathiedysfunktion verbunden wird, ist von ganz anderer Art als Störungen des Autismus-Spektrums, bietet aber für die Analyse der Dysfunktionalität einen anschaulichen Gegenpart zu denselben: die Psychopathie. Psychopathie ist eine Form der dissozialen Persönlichkeitsstörung und damit eine Entwicklungsstörung. Sie zeichnet sich durch emotionale Defizite und ein erhöhtes Risiko dissozialen Verhaltens aus. Beobachtbare Symptomatik bei Menschen mit diesem Erkrankungsbild ist ein vermindertes Schuldgefühl, sie strahlen Kälte und Emotionslosigkeit aus und zeigen meist Verhaltensweisen, die von Mitmenschen als arrogant, trügerisch, narzisstisch, impulsiv oder unverantwortlich empfunden werden.93 Als Voraussetzung für die folgenden Erläuterungen sei noch einmal die funktionale Differenzierung von Empathie in kognitive Prozesse einerseits (Erkennen und Verarbeiten von affektiven Zeichen, mentale Repräsentation des Zustandes des Anderen, Perspektivübernahme/ToM) und emotionale Prozesse andererseits (eigene affektive Reaktion auf Ausdrucksverhalten) vergegenwärtigt. Anhand dessen lässt sich nun die Dysfunktion von Empathie nachvollziehbar darstellen: An dem, was als Empathie bezeichnet wird, sind ganz unterschiedliche Hirnregionen beteiligt. Die kognitive Empathie, die kognitiven Wahrnehmungs‑ und Verarbeitungsprozesse also, wird in einem neuronalen System von medialfrontalem Cortex, temporoparietalem Übergang, posteriorem Cingulum und Temporalpol abgebildet. In diesem Bereich haben empirische Studien keine Einschränkung bei Menschen mit psychopathischer Indikation ausmachen 90 Vgl.

Hobson, Empathy and Autism, 129; 136 ff. Dziobek, Autismus, 39 ff.; 53 ff. 92  Vgl. Keysers, Empathisches Gehirn, 203 ff. 93 Vgl. Blair, James/White, Stuart F.: Social Cognition in Individuals with Psychopathic Tendencies, in: Baron-Cohen, Simon et al. (Hgg.): Understanding Other Minds. Perspectives from Developmental Social Neuro-Science, Oxford 2013, 364–379; vgl. Krollner, Björn/Krollner, Dirk M.: ICD 10, hg. v. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, online verfügbar: https://www.icd-code.de/icd/code/F60.-.html, eingesehen am 30. 1. ​2020. 91 Vgl.

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können.94 Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn Teilsysteme betrachtet werden, in denen die affektiven Prozesse abgebildet sind. Dabei kommt es jedoch auf die Art des affektiven Impulses an: Die sich unbewusst in motorischen Gesten ausdrückende affektive Empathie wird durch die Aktivität von Spiegelneuronen synchronisiert. Sie ist im Teilsystem von superiorem Temporalcortex, posteriorem Parietalcortex, inferior-frontalem Cortex und Insula zu lokalisieren und insgesamt verhältnismäßig funktional ausgeprägt.95 Die empathische Responsivität dagegen zeigt die größten abnormen Prozesse. Emotionale Ausdrücke anderer Personen können verstanden werden als nonverbale Kommunikationsakte, die in der empathischen Responsivität als ein Prozess der Übersetzung von Signalen vorstellbar ist: Über kortikale und subkortikale Wege wird eine Kommunikation mit Hirnregionen ermöglicht, die für die Produktion einer affektiven Reaktion bzw. für einen weitergehenden Lernprozess wie moralische Bewertung und Entscheidung zuständig sind, nämlich Amygdala, Insula sowie orbital‑ und ventrolateral-frontaler Kortex.96 Für den angstvollen und traurigen Ausdruck fällt dieser Verarbeitungsprozess auf die Amygdala. Aus Studien, welche die Hautreaktionen testeten, die auf angstvolle und traurige Reize zu verzeichnen waren, geht hervor, dass eine äußerst geringe Hautreaktion eine nicht adäquate Verarbeitung dieser beiden Arten von Ausdruck bezeugt. Insofern ist in der Psychopathie von einer Dysfunktion der Amygdala auszugehen, was sich in fMRT-Aufnahmen durch eine Verminderung von Aktivität und Volumen der Amygdala zeigt.97 Ganz ähnlich verhält es sich mit der emotionalen Reaktion auf Schmerz anderer. Auch hier sind verringerte Hautreaktionen zu beobachten und auch hier ist ein Teilsystem aktiv, bei dem die Amygdala eine zentrale Rolle einnimmt.98 Die Art der Dysfunktion der Empathie, die sich insgesamt also in der affektiven Indifferenz gegenüber Angst und Trauer anderer Menschen ausdrückt, weist damit eine den Autismusstörungen entgegengesetzte Indikation auf: Die kognitiven ToM-Fähigkeiten sind ohne Einschränkungen vorhanden, die emotionale Empathie aber fehlt. Die ebenfalls fehlenden moralischen Lernprozesse, dass etwa inadäquate Überschreitungen als schlecht zu bewerten und insofern entsprechende Handlungen zu vermeiden sind, die andere in einer bestimmten Weise schädigen,99 zeigen zudem die besondere moralische Problematik dieses Störungsbildes deutlich an. Ein Mensch mit psychopathischer Störung verfügt nicht über die affektiven Mechanismen, die der eigene Körper als Reaktion auf 94 Vgl.

Blair, Psychopathic Tendencies, 366 f. Blair, Psychopathic Tendencies, 367 f. 96  Vgl. Blair, James: Empathic Dysfunction in Psychopathic Individuals, in: Farrow, Tom F. D./Woodruff, Peter W. R. (Hgg.): Empathy in Mental Illness, Cambridge 2007, 3–16, hier: 9; vgl. Blair, Psychopathic Tendencies, 368 f. 97  Vgl. Blair, Psychopathic Tendencies, 368 f.; vgl. Blair, Empathic Dysfunction, 10 f. 98 Vgl. Blair, Psychopathic Tendencies, 370.  99  Vgl. Blair, Psychopathic Tendencies, 373 f. 95 Vgl.

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den traurigen oder angstvollen Ausdruck anderer hervorbringt und es kann ihm deshalb nicht klar sein, dass es problematisch ist, Handlungen zu generieren, die diesen Ausdruck übergehen und der anderen Person schaden. Zugleich aber – und das gilt bei diesem Störungsbild genauso wie in allen anderen hier erwähnten – liegt es in der Natur einer Pathologie, dass die damit einhergehende Dysfunktion nicht durch einen bloßen willentlichen Entschluss des Betroffenen gesteuert oder gar behoben werden könnte. Eine solche Dysfunktion ist damit gleichsam physiologisch festgeschrieben und kann allenfalls im Rahmen individueller Möglichkeiten therapeutisch behandelt und begleitet werden. Dieses Empathie-Dilemma ist nicht nur Kern der Psychopathiestörung,100 sondern lässt auch ein tieferes Verständnis über die Reichweite der empathischen Prozesse zu, wie sie in dieser Deutlichkeit durch die Betrachtung ihres Mangels in diesem Störungsbild zutage tritt. c. Zugezogene Schädigungen des Gehirns.  Ein dritter Bereich, in dem von symptomatischen Defiziten der menschlichen Empathiefähigkeit zu sprechen ist, umfasst solche Pathologien, die durch physische Läsionen bestimmter Hirnareale zustande kommen, wie etwa durch Schlaganfall, Hirnblutung oder Unfall. Anders als in den bisher betrachteten klinischen Bildern haben bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein gesunder Zustand und eine normale Funktionalität des Gehirns vorgelegen. Durch ein Ereignis sind neuroanatomische Strukturen erst beschädigt worden und eingeschränkte Funktionen treten auf. Sichtbar werden solche Einschränkungen, wenn betroffene Menschen etwa impulsives, unangemessenes Verhalten und eine Veränderung in der Persönlichkeit zeigen, apathisch sind oder kognitive Schwierigkeiten haben. Diese Einschränkungen sind aber so selektiv, wie die gegebene Läsion einen entsprechenden spezifischen Bereich betrifft. So kann beispielsweise ein solches selektives Defizit innerhalb der sozialen Kognition auftreten: das mentale Zurückstellen der eigenen Perspektive zugunsten der fremden oder das Rückschließen von der Beobachtung des situativen Kontextes auf den Inhalt eines mentalen Zustandes einer anderen Person sind Beispiele, wenn der rechte präfrontale Kortex bzw. die temporoparietale Verknüpfung geschädigt wurde. Läsionen des dorsolateralen Kortex schränken die Funktion der kognitiven Flexibilität ein oder auch das Arbeitsgedächtnis, das die vorübergehende Repräsentation mentaler Zustände anderer unterstützt.101 Die Selektivität von Defiziten empathischer Teilfähigkeiten macht sichtbar, worin sich diese klinischen Bilder etwa von Entwicklungsstörungen unterscheiden.  Vgl. Blair, Empathic Dysfunction, 12 f.

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101 Vgl. Samson, Theory of Mind, 166 ff.; vgl. Shamay-Tsoory, Simone G.: Impaired Empathy

Following Ventromedial Prefrontal Brain Damage, in: Farrow, Tom F. D./Woodruff, Peter W. R. (Hgg.): Empathy in Mental Illness, Cambridge 2007, 89–110, 95 ff.

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Besondere empirische Evidenz für eine Dysfunktion empathischer Fähigkeiten haben jedoch die Untersuchungen Shamay-Tsoorys et al., welche nicht nur erheben, welche Einschränkungen bei bestimmten Läsionen auftreten, sondern mit dieser Benennung in systematischer Weise zeigen, welche Rückschlüsse für die neuroanatomische Organisation des komplexen Prozesses von Empathie daraus gezogen werden können. Es zeigt sich bei diesem Unternehmen, dass der präfrontale Kortex, insbesondere der rechten Hemisphäre eine besondere Rolle einnimmt, insofern Läsionen in diesem Bereich zu besonders starken Einschränkungen der Empathie führen. Schädigungen im orbito-frontalen Kortex sind etwa für Veränderungen im Sozialverhalten und der Persönlichkeit verantwortlich, Läsionen im medialpräfrontalen Kortex äußern sich in verminderten ToM-Fähigkeiten, in moralischem Denken und sozialer Wahrnehmung.102 Einem spezifischen Teil des medialen präfrontalen Kortex wiederum kommt für diesen komplexen Prozess eine besondere Rolle zu. Anlass zu dieser Vermutung gaben empirische Ergebnisse, die zeigten, dass bei Patienten mit Läsionen im ventromedialen Bereich des präfrontalen Kortex besonders deutliche Einschränkungen zu verzeichnen waren und sowohl kognitive als auch affektive, d. h. emotionsverarbeitende Empathiefähigkeiten betrafen, deren vollständige Trennbarkeit nur schwierig anzunehmen war.103 Weitere, voneinander unabhängige Untersuchungen, die sich auf die Beschaffenheit der Einschränkungen in diesem Bereich konzentrierten, ergaben, dass besonders auffällige Einschränkungen in der Zusammenführung kognitiver und affektiver Komponenten zeigten (z. B. die Assoziation von Situation und angemessener Emotion) oder kognitive Defizite in der Affektverarbeitung (z. B. eingeschränkte Entwicklung von Erwartungen gegenüber den Gefühlen anderer). Daraus wurde geschlossen, dass der ventromediale präfrontale Kortex insbesondere der rechten Seite im neuronalen Netzwerk die Aufgabe hat, die verschiedenen kognitiven und affektiven Anteile von Empathie integrierend zu verarbeiten. Eine Schädigung in diesem Areal führt entsprechend zu besonders umfassenden Einschränkungen empathischer Fähigkeiten und es kommt zu Enthemmung, Fehlinterpretationen sozialer Situationen, sozial unverträglichem Verhalten und Problemen in moralischem Denken und Entscheidungsfindung.104 Anhand dieser Ergebnisse kann etwas Entscheidendes über die Neuroanatomie von Empathie ausgesagt werden: Kognitive und affektive Komponenten von Empathie sind in ihren Bestandteilen auf einer theoretischen Ebene differenziert beschreibbar, auch kann durch die funktionale Bildgebung ausgemacht werden, welche Bereiche des Gehirns aktiv sind, wenn ein Mensch empathisiert bzw. darin eingeschränkt ist. Um die Architektur des Phänomens aber in seinen  Vgl. Shamay-Tsoory, Impaired Empathy, 93.  Vgl. Shamay-Tsoory, Impaired Empathy, 95; 97 ff. 104  Vgl. Shamay-Tsoory, Impaired Empathy, 97 ff.; 101 ff. 102 103

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neuronalen Prozessen zu erfassen, muss mit einem komplexen Prozess gerechnet werden, der neurobiologisch nur bedingt mit der kristallinen Differenzierung kognitiver und affektiver Empathie auskommt. Dies drückt sich aus in dem Vorschlag Shamay-Tsoorys, die neurobiologischen Prozesse von Empathie in einem core-extended-Integrationssystem zu erfassen, das innerhalb der rechten Hemisphäre zu verorten ist. Zum erweiterten (extended) Bereich gehören jene Teilsysteme, die auf einzelne Prozesse am Komplex Empathie spezialisiert sind und in denen Läsionen zu entsprechenden selektiven Einschränkungen der damit assoziierten Fähigkeiten führen. Diese Teilsysteme sind im Einzelnen der rechte parietale Kortex, in dem Emotionswahrnehmung Emotionsverarbeitung, Verständnis für Gefühle anderer, Imitation und Identifikation liegen, ein Netzwerk aus Cingulum, temporalem, posteriorem und präfrontalem Kortex, in dem die Reaktivierung eigener biografischer Erfahrungen stattfinden, das limbische System, vor allem die Amygdala, in der Emotionen repräsentiert sind, physiologische Erregung aus dem autonomen Nervensystem, und dem dorsolateralen präfrontalen Kortex, in dem kognitive Flexibilität und exekutive Funktionen verortet sind. Den Kernbereich im Modell105 bildet jener ventromediale präfrontale Kortex. Dorthin werden aus den Teilsystemen des erweiterten Bereichs Informationen geleitet, sodass in diesem Teil kognitive und affektive Anteile integrierend verarbeitet werden. Dieses Modell gibt kein vollumfängliches Bild der empathischen Prozesse wieder. Weder sind einzelne Aspekte auf das zugehörige Zentrum beschränkt, noch sind hier die ausschließlichen an Empathie beteiligten Areale erfasst. Doch gibt dieses Modell eine wertvolle Vorstellung von der neuronalen Grundorganisation der Empathie.106 d. Neurodegenerative Erkrankungen, exemplarisch: Chorea Huntington. Bei dieser Gruppe von neurologischen Erkrankungen ist weder die Fehlentwicklung noch eine zugezogene Läsion die Ursache für Einschränkungen von Empathiefähigkeiten, sondern neurodegenerative Prozesse. Besonders bekannt für diese Art von Krankheit ist die Gruppe der Demenzerkrankungen sowie Morbus Parkinson und Chorea Huntington, welche hier exemplarisch erläutert wird. Die Huntington-Erkrankung tritt selten auf, ist aber eine unheilbare genetische 105 Wenn hier im Folgenden von Modellen die Rede ist, kommt darin eine für die naturwissenschaftlichen Disziplinen besonders typische Methodik in den Blick, einen Gegenstand, einen Zusammenhang oder eine Idee etwa in visualisierter Form zu repräsentieren. Dass der Begriff Modell zunehmend für alles gebraucht wird, was mit „Konzeption, Konstruktion [oder] System“ beschrieben werden kann, veranlasst Bernd Mahr zur Bildung einer allgemeinen Modelltheorie, indem er Elemente um die Formulierung einer Modelldefinition kritisch in den Blick nimmt (siehe dazu: Mahr, Bernd: Modelle und ihre Befragbarkeit. Grundlagen einer allgemeinen Modelltheorie, in: Erwägen Wissen Ethik  – Streitforum für Erwägungskultur 3/2015, 329–342). 106  Vgl. Shamay-Tsoory, Impaired Empathy, 104 ff.

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Erkrankung, die nach ca. 10–15 Jahren nach ihrem Ausbruch zum Tod führt. Bei Betroffenen setzt vor allem nach dem Ausbruch ein striataler und unspezifisch kortikaler Schwund in Okzipital-, Parietal‑ Superior-temporal‑ und SuperiorFrontallappen ein und führt auf diese Weise zu zunächst in der Regel motorisch unwillkürlichen Bewegungen und im weiteren Verlauf zu kognitiven Einschränkungen. Klassische Theorien gehen von einem massiven Einbruch von ToM-Fähigkeiten und Sozialverhalten aus.107 Während dies für Demenz und insbesondere die Alzheimer-Demenz zutrifft, insofern dabei degenerative Erkrankungen des Frontallappens vorliegen,108 stellt sich im Falle der Huntington-Krankheit ein differenzierteres Bild dar. Trinkler beschreibt verschiedene neuronale Wege, auf denen Reize zu einer empathischen Resonanz im Sinne der Teilnahme am Erleben des Anderen führen können. Sie beschreiben die Teilprozesse der empathischen Reaktion, die hier bereits mehrfach erläutert wurden. Für Huntington-Patienten kann sehr differenziert ausgemacht werden, dass Teilprozesse wie motorische Imitation, die Repräsentation von emotionalen Gesten und insofern die Erkennung von fremden Emotionen in der Regel schwerer beeinträchtigt ist, nicht aber die direkte affektive Reaktion und Interozeption, also das Verstehen und das Teilen von Emotionen auf verbaler und kognitiver Ebene.109 In diesem Krankheitsfall ist also eine spezifische Facette des empathischen Geschehens betroffen, verschließt aber nicht prinzipiell den Weg zum Verstehen des Anderen. e. Williams-Beuren-Syndrom.  Während in den bisher betrachteten Erkrankungsbildern die Störung darin liegt, dass ein Defizit an Empathie die Symptomatik kennzeichnet, sollen nun noch zwei Beispiele erläutert werden, bei denen ein Übermaß an Empathie symptomatisch ist. Diese Beispiele haben eine integrale Funktion für ein differenziertes Bild des Phänomens Empathie, zeigen sie doch unmissverständlich auf, dass auch ein besonders hohes Maß an Empathie mit negativen Konsequenzen verbunden sein kann. Das erste Erkrankungsbild, dessen Dysfunktion in einem Übermaß an Empathie besteht, ist das Williams-Beuren-Syndrom. Bei dieser Erkrankung liegt eine Besonderheit in der genetischen Ausstattung vor: eine Gendeletion auf dem Chromosom 7 geht einher mit mentaler Retardierung und einem auffälligen Aussehen, insbesondere des Kopfes.110

107 Vgl. Trinkler, Iris: One but Not All Doors Closed to Empathy. Impaired Resonance Induction in Patients with Huntington’s Disease, in: Watt, Douglas F./Panksepp, Jaak (Hgg.): Psychology and Neurobiology of Empathy, New York 2016, 349–376, hier: 358 ff. 108  Vgl. Shamay-Tsoory, Impaired Empathy, 99 f. 109  Vgl. Trinkler, Not All Doors Closed, 355 ff. 110 Vgl. Meyer-Lindenberg, Andreas: Neuronale Mechanismen sozialer Kognition unter genetischem Einfluss, in: Förstl, Hans (Hg.): Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens, Berlin ²2012, 80–87, hier: 80 f.

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In Bezug auf soziales Verhalten sind bei betroffenen Personen besondere Verhaltensweisen zu beobachten, wie etwa eine übermäßige soziale Aufgeschlossenheit, Freundlichkeit, vorbehaltlose Nähe fremden Personen gegenüber und die Tendenz, sie als vertrauenswürdig einzuschätzen. Sie zeigen kein natürliches Fremdeln oder die Berücksichtigung natürlicher sozialer Distanz und ein deutlich erhöhtes Maß an Empathie.111 Neuronal zeigt sich bei Untersuchungen von Menschen mit Williams-Syndrom, dass im Vergleich zu gesund entwickelten Menschen die für Signale sozialer Angst zuständige Amygdala nicht auf entsprechende Reize anspricht. Diese Dysfunktion liegt jedoch nicht genuin in einem Defekt der Amygdala, zeigen Betroffene doch übersteigerte Angstreaktionen auf nicht-soziale Reize, was eher eine Überfunktion der Amygdala anzeigt. Das Problem besteht aber in einer Dysfunktion in der Verarbeitung sozialer Angstreize durch andere Areale des präfrontalen Kortex: Der orbitofrontale Kortex ist in seinem Volumen vermindert und die Verbindung zur Amygdala fehlt, sodass auch die Bewertungsfunktion von Reiz-Antwort-Assoziationen und deren Anpassung an die Situation fehlt. Besonders deutlich aber ist eine Dysfunktion im medialen präfrontalen Kortex: In diesem Areal wird das Signal der Amygdala reguliert, insbesondere in Form einer Dämpfung des angstauslösenden Reizes. Die Überaktivität in diesem Verarbeitungsbereich führt zu einer übermäßigen Dämpfung des Angstreizes bei gleichzeitiger Verstärkung von Reizen, die im sozial-kompetenten Bereich liegen, also etwa eine empathische Reaktion. Der dorsolaterale präfrontale Kortex weist zudem ebenfalls keine unmittelbare, sondern nur eine mittelbare Verbindung zur Amygdala auf, sodass eine Dysfunktion in der situationsangemessenen Kontrolle kognitiver Prozesse und anderer Areale besteht.112 Insgesamt stellt das starke Ungleichgewicht in den neuronalen Netzwerken für den Betroffenen selbst ein Problem dar, insofern auf diese Weise ein gesundes Abstandsverhalten fremden Personen gegenüber oder auch ein verantwortliches Verhalten gegenüber Gefahrensituationen nicht gegeben ist.113 f. Depressive Störung. Ein Erkrankungsbild, dessen Dysfunktion ebenfalls in einem Übermaß an Empathie besteht, ist die depressive Störung. Die Depression gehört zu den affektiven Störungen, d. h. als Hauptmerkmal liegt eine Störung der Stimmung vor. In aller Regel handelt es sich um eine episodische Störung des Affektsystems, die nach einigen Wochen bis wenigen Monaten wieder abklingt und eine vollständige Genesung eintritt. Typische Symptome sind neben Hauptsymptomen wie Stimmungsschwankungen, Freudlosigkeit und 111  Vgl. Meyer-Lindenberg, Neuronale Mechanismen, 81; vgl. Konrath, Psychology of Empathy, 72 f. 112 Vgl. Meyer-Lindenberg, Neuronale Mechanismen, 84 ff. 113  Vgl. Konrath, Psychology of Empathy, 72 f.

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Antriebsschwäche diverse Zusatzsymptome, wie eingeschränkte Konzentration, Pessimismus, Verzweiflung, und starke Schuldgefühle.114 Die Dysfunktion der Empathie, um die es hier geht, besteht nun in einer Reihe von Verhaltensweisen und innerpsychischen Mechanismen, die mit diesen Symptomen zusammenhängen. Häufig zu beobachten ist bei betroffenen Menschen, dass sie ohnehin grundsätzlich dazu neigen, viel in soziale Beziehungen zu investieren, ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft haben, starke Gefühle der Betroffenheit über das Leid anderer zeigen sowie eine starke Identifikation mit anderen, die eine Ich-Andere-Unterscheidung deutlich erschwert. Zudem verfügen sie tendenziell über geringe Fähigkeiten zur Selbstfürsorge. In einer Depression sind diese Verhaltenstendenzen und ‑muster nun zusätzlich affektiv verzerrt: Ein gesundes Maß an Empathie ist auf ein korrektes Kausalitätsverständnis und Attribuierungsmuster angewiesen. Das heißt, eine Person ist in der Lage, ein ggf. unerwartetes oder unangenehmes Geschehen auf seine realistischen Ursachen zurückzuführen. Bei depressionserkrankten Personen dagegen zeigt sich häufig, dass ein Geschehen in seinen Ursachen fehlinterpretiert wird. Durch diese Fehlattribuierungen kommt es häufig zu einer ungünstigen Verkettung von Folgeerscheinungen: Das Potenzial eigener Hilfskapazitäten für andere wird überschätzt, sodass vergebliche Hilfeleistungen dann zwangsläufig zu großer Enttäuschung führen und fälschlicherweise auf die eigene Person zurückgeführt werden. Betroffene ziehen sich zurück, versuchen übermäßige und oftmals unrealistische Sorgen in sich selbst zu bewältigen, geraten in Verzweiflung über das eigene Unvermögen bzw. die eigene vermeintliche Verantwortung, es entstehen unrealistische Schuldgefühle, insbesondere für das Leid anderer, weil das Moralsystem des Betroffenen überaktiviert und automatisiert ist.115 Ein starker Distress und übertriebene affektive Reaktionen begleiten diese Zirkel. Jene Dysfunktion von Empathie besteht also in einer übermäßigen Responsivität sowohl kognitiver als auch affektiver Teilprozesse, die für Empathie zentral sind.116 Diese übermäßige Responsivität lässt sich neuronal durch verschiedene Beeinträchtigungen nachvollziehen: Das limbische und paralimbische System zeigt eine emotionale Überaktivität durch eine überaktivierte und vergrößerte Amygdala. Zudem besteht eine Dysfunktion in der Verbindung des limbischen Systems zum präfrontalen Kortex, wodurch die Verarbeitung und Regulation von Emotionen eingeschränkt ist, sodass es zu Verzerrungen in moralischer Beurteilung und Entscheidung sowie des Schuldgefühls kommt. Zudem schrumpft 114 Vgl. Krollner, Björn/Krollner, Dirk M.: Depressive Störung, in: ICD 10, hg. v. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, online verfügbar: https://www. icd-code.de/icd/code/F32.1.html, eingesehen am: 2.2.2020. 115  Vgl. O’Connor, Lynn E. et al.: Empathy and Depression: The Moral System on Overdrive, in: Farrow, Tom F. D./Woodruff, Peter W. R. (Hgg.): Empathy in Mental Illness, Cambridge 2007, 49–75, hier: 49 ff.; 56. 116  O’Connor, Empathy and Depression, 69.

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der Hippocampus unter der übermäßigen Belastung durch Stresshormone, sodass auch das Gedächtnis eingeschränkt ist.117 Das gleichsam Fatale an dieser Situation tritt zutage – ähnlich wie im Falle des Williams-Syndroms –, wenn man auf den sozialen Wert blickt, der dieser übersteigerten Empathie tatsächlich zukommt. Zum einen bringt eine solche Übersteigerung von Empathie eine Belastung für den Empathisierenden mit sich, die je nach Schweregrad der Depression die Indikation der eigenen Erkrankung massiv verstärken kann (Strudeleffekt). Zum anderen aber – und darin liegt ein Paradox – kommt dem Anderen, dem diese starke Empathie entgegengebracht wird, keine tatsächliche Empathie zu, die ihre prosoziale Wirkkraft zugunsten des Anderen wirklich entfalten könnte. Gerade weil sie mit erhöhtem Belastungspotenzial verbunden ist, führt diese Art der Empathie eher dazu, dass der Empathisierende versucht, der belastenden Situation zu entkommen und den eigenen Distress damit zu reduzieren. Damit steht aber der Andere in seinem Erleben gar nicht im Fokus, sondern dort wird Empathie zu einem auf sich selbst fokussierten Geschehen. Diesen aufgezeigten Effekt teilt die hier betrachtete depressive Störung mit der zuvor erläuterten compassion fatigue. Zwischenfazit Neben allen Dimensionen, die Empathie zweifelsfrei in positiver Weise für Menschen aufweist, existieren aber auch Bereiche, an denen die Tragweite der Pathologie von Empathie deutlich wird. Vorübergehende oder auch dauerhafte klinische Zustände, die durch eine spezifische Einschränkung oder Überaktivität von Empathie gekennzeichnet sind, bedeuten in erster Linie für die Betroffenen eine besondere Hürde für soziales Wahrnehmen, Empfinden und Handeln und bedeuten im schwerwiegenden und chronischen Fall eine soziale Behinderung. Auch für das Umfeld der Betroffenen ist der Umgang mit dieser Einschränkung stark erschwert, insbesondere, weil sich die klinische Situation der eigenen Verstehbarkeit und Handhabbarkeit im Alltag oftmals entzieht. Insofern hat die Vergegenwärtigung dieser Zusammenhänge einen Nutzen für die sach­gemäße Anerkennung der Situation, in der sich diese Menschen befinden. Diese Betrachtung ist aber zudem von Bedeutung, um Empathie zum einen in ihrer Beschaffenheit genauer zu verstehen und zum anderen zu einer differenzierten Evaluierung des Potenzials von Empathie zu gelangen. Denn durch sie wird via negativa deutlich, was nicht selten durch das Pathos des offenkundig Positiven oder als Einzelfallphänomen auf eine marginalisierte Position verwiesen wird. Es ist die Klinische Psychologie, die diesen Blick auf Empathie ermöglicht. An bestimmten Störungsbildern, etwa der Autismus-Spektrum-Störung einerseits und der Psychopathie andererseits, kann dabei die Beschaffenheit von Empathie  Vgl. O’Connor, Empathy and Depression, 50; 68 f.

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als differenzierte Einheit deutlich gemacht werden. Was sich bereits als verschiedene empathische Komponenten, d. h. als kognitive und affektive Anteile in der frühen Kindheit entwickelt, kann in jenen Erkrankungen in unproportionaler Weise fehlen bzw. eingeschränkt sein. Diese spezifischen Funktionsdefizite innerhalb der neuronalen Teilsysteme machen deutlich: Empathie ist ein Mehrkomponentenkomplex, der in verschiedenen Hirnarealen zu verorten ist; dabei lassen sich mit relativer Genauigkeit neuronale Zuständigkeiten ausmachen, die eine funktionale Differenzierung der Komponenten rechtfertigen. Zugleich aber wird die Komplexität deutlich, die auch neuroanatomisch bei Empathie vorliegt und die ihre vollständige Funktionalität nur in der Einheit entfalten kann. Mit dem Aufzeigen partieller Defizite bei klinischen Fällen von Empathie wurde nun bereits das Terrain der Hirnforschung berührt. Die Empathieforschung der sozialen Neurowissenschaften konzentriert sich auf die neuronale Abbildung des sozialen Phänomens Empathie und damit auf ein Organ, in dem diese ihren Sitz hat – das menschliche Gehirn. Diese neurowissenschaftlichen Befunde darzustellen, ist das Ziel des folgenden Teilkapitels. 3.1.2  Soziale Neurowissenschaft der Empathie Die Neurowissenschaften bilden eine Gruppe empirischer Teildisziplinen, die sich vornehmlich mit dem Aufbau und den Funktionsweisen des menschlichen Nervensystems bzw. dem Nervensystem nicht-humaner Primaten beschäftigen. Dabei wird aus der Perspektive des physikalistischen Funktionalismus geblickt, welcher von der Grundüberzeugung ausgeht, dass „Vorkommnisse mentaler Phänomene […] durch Vorkommnisse neuronaler Phänomene konstituiert [werden] (bzw. miteinander identisch sind)“118. Alle real vorkommenden Gehalte menschlichen Erlebens haben demzufolge eine physikalische, gleichsam stoffliche Abbildung, ein neuronales Korrelat. Ein Erlebensgehalt wie in unserem Fall Empathie wird als mentales Phänomen durch neuronale Aktivitäten im Gehirn abgebildet bzw. ist selbst in neuronalen Aktivitäten verfasst. Dieses neuronale Korrelat ist der Kerngegenstand der neurowissenschaftlichen Forschung. Ihr Anliegen liegt dabei auf verschiedenen Betrachtungsebenen: Auf der Ebene der zerebralen Aktivierung werden neben dem Aktivierungsgrad bei relevanten Reizen vor allem die „funktionale[n] Rollen“119 beteiligter Hirnareale untersucht. Welche Hirnareale sind also beteiligt und auf welchen Pfaden der Zusammenarbeit geschehen die Prozesse, die letztlich als Empathie bezeichnet werden? Auf der Ebene der Zytoarchitektonik interessiert dagegen vor allem die

118  Newen, Albert/Vogeley, Kai: Menschliches Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Zuschreibung von Einstellungen, in: Förstl, Hans (Hg.): Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens, Berlin/Heidelberg ²2012, 161–180, hier: 173. 119  Newen, Menschliches Selbstbewusstsein, 174.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

zelluläre Arbeitsweise. Wie also sind spezifische Neuronen, Hormone bzw. Neurotransmitter am Empathieprozess beteiligt? Die Erforschung neuronaler Prozesse ist methodisch an bestimmte technische Messverfahren gebunden. Denn im Gegensatz zur Untersuchung bei Tieren sind beim Menschen ausschließlich nichtinvasive Verfahren zulässig. Verschiedene Messtechnik ermöglicht die immer präziser werdende Abbildung jener neuronalen Prozesse: Elektroenzephalografie (EEG) und Magnetoenzephalografie (MEG) sind Verfahren, mit denen mit hoher zeitlicher Auflösung die Neuronenaktivität gemessen werden und so vor allem die Zeitpunkte spezifischer Aktivitäten im Gehirn ermittelt werden können.120 Die Computertomografie (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRT) dagegen sind bildgebende Messverfahren, die mit einer hohen räumlichen Auflösung Aufschluss über Ort und Umfang von Läsionen der Hirnanatomie geben. Anhand des Vergleichs zu gesunden Gehirnen lassen sich entsprechende Rückschlüsse auf Beeinträchtigungen bestimmter Funktionen ziehen. Eine weitere Gruppe von bildgebenden Messverfahren ist in der Lage, die Aktivität in bestimmten Hirnarealen abzubilden. Dazu zählen Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und die funktionale Magnetresonanztomografie (fMRT). Hierbei werden Signalstärken gemessen, welche sich an der veränderten Durchblutung in aktivierten Hirnarealen ausmachen lassen. Auf diese Weise können physiologische Funktionen von Arealen abgebildet und auch komplexe Prozesse wie Sprache oder Bewusstsein erforscht werden. Soll Empathie als hirnphysiologischer Prozess abgebildet werden, so können etwa Echtzeit-fMRT-Untersuchungen eingesetzt werden, d. h. Probanden im MRT-Gerät werden einem relevanten Reiz ausgesetzt oder mit einer Aufgabe konfrontiert und währenddessen wird via funktionale Bildgebung die Hirnphysiologie untersucht.121 Eine Kombination schließlich aus technischen Messverfahren und Fragebögen zur Selbstauskunft der Probanden unterstützt häufig die Validität und Reliabilität der neurowissenschaftlichen Untersuchung. Für die Darstellung der neurowissenschaftlichen Empathieforschung insbesondere der vergangenen zwei Jahrzehnte ist es nun sinnvoll, zunächst das Phänomen Empathie von anderen sozialen Phänomenen der Kognition oder Emotion zu unterscheiden. Dies dient der Definition von Empathie, wie sie neurowissenschaftlichen Studien in aller Regel zugrunde liegt und zugleich der Abgrenzung von zumindest einigen Grenzphänomenen, die im Kapitel über 120 Vgl. Büchel, Christian/Karnath, Hans-Otto/Thier, Peter: Methoden der Kognitiven Neurowissenschaften, in: Karnath, Hans-Otto/Thier, Peter (Hgg.): Kognitive Neurowissenschaften, Berlin/Heidelberg ³2012, 9–32, hier: 10 ff.; 24 ff. 121 Vgl. Büchel et al., Methoden, 10 ff.; vgl. Fuchs, Michael et al: Forschungsethik. Eine Einführung, Metzler, Stuttgart/Weimar 2010, 179 f.; vgl. Frevert, Ute/Singer, Tania: Empathie und ihre Blockaden. Über soziale Emotionen, in: Gruss, Peter/Bonhoeffer, Tobias: Zukunft Gehirn: neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen. Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft, München 2011, 121–146, hier: 134.

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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historische Zugänge schon eine Rolle gespielt haben. Zunächst ist Empathie zur einen Seite hin von Gefühlsansteckung bzw. englisch emotional contagion abzugrenzen. Bei der Gefühlsansteckung teilt ein Individuum das Gefühl eines anderen, weil es von dessen affektivem Zustand angesteckt wurde. Der Andere wird im Bewusstsein des angesteckten Individuums aber nicht als Quelle des eigenen Gefühls ausgemacht, sodass das entstandene Gefühl für ein ureigenes gehalten wird. Diese Form des sozialen Affekts liegt etwa vor, wenn Babys vom Weinen eines anderen Babys angesteckt werden. Zur anderen Seite hin ist Empathie zu unterscheiden von Mitgefühl (compassion, empathic concern) oder Sympathie (sympathy). Dabei wiederum handelt es sich selbst um konkrete soziale Emotionen, als deren Quelle der Andere durchaus erkannt worden ist, die aber der Ursprungsemotion des Anderen nur entspricht und in einem abgestuften Grad auftritt, nicht aber die gleiche Emotion von gleicher Intensität ist. Solches Mitgefühl impliziert dann etwa die Sorge um den Anderen, Betroffenheit oder empfundene Wärme und geht mit der Motivation einher, die Situation des Anderen zu verbessern. Empathie dagegen meint einen Prozess des einfühlenden Verstehens, was eine andere Person erlebt, indem man fühlt, wie der Andere fühlt. Zum einen befindet sich das empathisierende Individuum in einem emotionalen Zustand, der von gleicher Art ist wie der des Anderen. Dieses Merkmal unterscheidet Empathie von Mitgefühl. Zum anderen ist der Emotionszustand durch den Anderen ausgelöst und der Ursprung im Anderen ist dem Empathisierenden bewusst. Dies wiederum unterscheidet Empathie von Gefühlsansteckung.122 Diese Differenzierung auf Phänomenebene werden wir am Ende dieses Teilkapitels wieder aufgreifen, für den Moment soll diese basale Unterscheidung als Vorstellungshorizont genügen, um vor diesem Hintergrund nun auf die neuronalen Prozesse der Empathie zu blicken. Wo also findet Empathie im Gehirn statt? Zwei integrale Erkenntnisse können als in der neurowissenschaftlichen Forschung anerkannt gelten, die aus Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren hervorgehen: 1. Bei initialen fMRT-Untersuchungen zur neuronalen Abbildung von Empathie mit dem Schmerz einer anderen Person konnte gezeigt werden, dass beobachteter Schmerz, der durch eine andere Person erlebt wird, das gleiche neuronale Netzwerk aktiviert wie eigener, gleichsam tatsächlich empfundener Schmerz. Hirnareale, die in diesen Prozess im Falle von Schmerzempathie eingebunden sind, sind vor allem der anteriore Bereich der Insula (AI) sowie das anteriore Cingulum (aACC). Je nach Schmerzsituation sind auch 122  Vgl. Frevert, Empathie und ihre Blockaden, 135 f.; vgl. Singer, Tania: Empathie und Mitgefühl aus der Perspektive der sozialen Neurowissenschaften, in: Singer, Tania/Ricard, Matthieu (Hg.): Mitgefühl in der Wirtschaft. Ein bahnbrechender Forschungsbericht, München 2015, 40–58, hier: 41 f.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

somatosensorische Areale beteiligt. Diese shared-network-hypothesis hat sich in Folgeuntersuchungen in gleichen oder ähnlichen Versuchsparadigmen breit belegen lassen und lässt zunächst den folgenden Schluss zu: Neuronal ist es für das Erleben eines aversiven Reizes unerheblich, ob dieser Reiz selbst erlebt oder bei anderen beobachtet wird; ein empathisierter Schmerz und ein eigener Schmerz unterscheiden sich neuronal nicht. Empathie ermöglicht also, das Erleben des Anderen zu teilen, als wäre es das eigene Erleben.123 2. Ebenso eindeutig konnte gezeigt werden, dass Empathie aber aus verschiedenen Prozesskomponenten besteht,124 die unterschiedliche Funktion für den Gesamtprozess haben. Überall, wo Menschen in sozialen Bezügen stehen, verfügen sie über verschiedene Fähigkeiten, soziale Reize zu verarbeiten. Sozioaffektive Fähigkeiten und sozio-kognitive Fähigkeiten wirken zusammen, wenn Menschen soziale Reize verarbeiten, konkret: wenn sie empathisieren.125

123  Vgl. Singer, Tania/Lamm, Claus: The Social Neuroscience of Empathy, in: Miller, Michael B./Kingstone, Alan (Hgg.): The Year in Cognitive Neuroscience 2009. Annuals of the New York Academy of Sciences, New York 2009, 81–96; hier 86 f.; vgl. Singer, Tania/Hein, Grit: Human Empathy through the Lens of Psychology and Social Neuroscience, in: de Waal, Frans/Ferrari, Pier Francesco (Hgg.): The Primate Mind. Built to Connect with Other Minds, Cambridge/ Mass. 2012, 158–174, hier 164 ff. 124  Bereits an dieser Stelle sei auf eine Grundunterscheidung hingewiesen, die zum herkömmlichen Darstellungsrepertoire innerhalb der verhaltenswissenschaftlichen Forschung gehört, die sich mit dem Phänomen des Fremdverstehens beschäftigen. Drei Theorieansätze können dabei unterschieden werden: 1. Simulationstheorie: Dieser Ansatz geht beim Empathiegeschehen davon aus, dass der Empathisierende sich selbst wahrnimmt und Erkenntnisse über den mentalen Zustand des Anderen mithilfe eines Analogieschlusses gewinnt. Dabei wird der Zustand des Anderen auf der Basis des eigenen in der Vorstellung simuliert, es findet ein stellvertretender Vollzug in der Vorstellung statt. 2. Theorie-Theorie: Aus einem Korpus an Wissen werden Zuschreibungen über den mentalen Zustand eines anderen abgeleitet. Dabei wird der Empathisierende gleichsam als Wissenschaftler skizziert, der eine Theorie über den Anderen ausformt. Besondere Nähe besteht hier zur sogenannten Theory of Mind (ToM), die weiter oben eingehend reflektiert wurde. 3. Modularitätstheorie: Hier geht man davon aus, dass beim Fremdverstehen Kompetenzmodule sichtbar werden, die genetisch vorprogrammiert sind und sich unterschiedlich entwickeln (vgl. Bischof-Köhler, Soziale Entwicklung, 320 ff.). Während dieses Cluster in der Sekundärliteratur zu Empathie noch immer eine erstaunlich prominente Rolle bei der Darstellung von Empathietheorien spielt, wird hier auf eine eingehende Darstellung dezidiert verzichtet. Denn: Keine dieser Theorietypen wird dem Phänomen Empathie gerecht, wie es sich in aktueller neurowissenschaftlicher und psychologischer Forschung darstellt. Zwar spielen einzelne Mechanismen dieser Theorien durchaus auch darin eine Rolle und werden auch hier wiederzufinden sein. Das hier vorgezogene Mehrkomponentenmodell aber geht über die reduktionistische Einordnung in Rahmentheorien hinaus und nimmt damit die Tatsache ernst, dass sich ein so komplexes Phänomen nicht in eine theoretische Form gießen lässt und dessen Fluidität anzuerkennen ist. Dies erwähnen auch Zaki, Jamil/Ochsner, Kevin: The Cognitive Neuroscience of Sharing and Understanding Others´ Emotions, in: Decety, Jean (Hg.): Empathy. From Bench to Bedside, Cambridge/Mass. 2012, 207–226, hier: 207 f. 125 Vgl. Preckel, Katrin/Kanske, Philipp/Singer, Tania: On the Interaction of Social Affect and Cognition. Empathy, Compassion and Theory of Mind, in: Current Opinion in Behavioral Sciences, 19/2018, 1–6, hier: 1. Online verfügbar: https://reader.elsevier.com/reader/sd/pii/

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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So sind am Gesamtphänomen Empathie also zum einen affektive Prozesskomponenten zuständig für die automatische Aktivierung der emotionalen Empfindungen, die durch den wahrgenommenen Reiz ausgelöst werden. Dabei kommt es zu einer automatischen Reizunterscheidung in aversive bzw. appetitive Reize und einer unmittelbaren Kopplung zwischen Wahrnehmung und Reaktion, die sensorisch gesteuert und affektinduziert abläuft. Dieser affektive Erregungszustand umfasst verkörperte emotionale, sensomotorische, nicht-gedankliche Akte, die eine unwillkürliche somatosensorische Resonanz darstellen. Ansteckendes Weinen oder die automatische Imitation von Gesichtsausdrücken bei einer Reizkonfrontation sind Beispiele für diese intersubjektive Resonanz. Sie bildet die Grundlage für die Fähigkeit zu sozial geteilten Empfindungen, für sozialen Austausch und soziales Lernen. Neuronal sind an diesem affektiven bottom-up-Prozess vor allem Amygdala, AI und anteriores mittleres Cingulum (aMCC) beteiligt, welche die affektive Bedeutung aus somatosensorischen Reizinformationen ausmachen. Die affektive Verarbeitung, etwa die Ausbildung emotionaler Erinnerungen, geschieht dann durch die Weiterleitung zum orbitofrontalen Kortex (OFC) und superior temporalen Sulcus (STS).126 Nun ist die affektive Resonanz als Erfahrung geteilter Gefühle allein nicht ausreichend, um den Anderen in dessen Erleben tatsächlich auch zu verstehen. Dies gewährleistet ein weiterer Prozessbereich, in dem kognitive Verarbeitungsprozesse top-down stattfinden. Hierzu zählen wiederum zwei Prozesse, die sich neuronal unterschiedlich darstellen, Prozesse des kognitiven Verstehens einerseits und der kognitiven Regulation andererseits. Das kognitive Verstehen braucht mentale Repräsentationen der Zustände des Anderen. Solche mentalen Repräsentationen meinen ein bewusstes Wissen über mentale Zustände und Emotionen, das Wissen über eigene im Unterschied zu fremden Emotionen, das Erkennen emotionaler Ausdrücke bei anderen Personen sowie der Gebrauch eigener Emotionsausdrücke, das Wissen über Ursachen und Folgen mentaler Zustände und Emotionen sowie die Fähigkeit zur Perspektivübernahme. In diesen Bereich gehören auch Fähigkeiten, die als Theory of Mind (ToM) bezeichnet werden. Hierbei werden anderen Personen sogenannte intentionale Zustände zugeschrieben (s. auch Kapitel 3.1.1.1). Voraussetzung hierfür ist die Unterscheidung von Ich und Anderem und die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Dieser Fähigkeitsbereich wurde im entwicklungspsychologischen Teil dieses Kapitels eingehend betrachtet. Neuronal beteiligt sind am kognitiven Verstehen vor allem der mediale Präfrontalkortex (mPFC), der posteriore STS, der temporoparietale Übergang (TPJ) sowie die Temporalpole. Dieser Teil der S2352154617300700?token=C105D2F2402635D7450323A93D911EF9C53EBDC92​B​9​9​1​D​2​B​5​5​4​ B​F​6​7​A​1​7​B​0​9E4973A3AB12628DB90CBE6004BB1F9DBA04; abgerufen am: 17.  2. ​2020. 126 Vgl. Lamm, Social Neuroscience, 88; 91; vgl. Decety, Jean/Michalska, Kalina J.: How Children Develop Empathy. The Contribution of Developmental Affective Neuroscience, in: Decety, Jean (Hg.): Empathy. From Bench to Bedside, Cambridge/Mass. 2014, 167–190, hier 170 ff.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

Empathiefähigkeit hat die Funktion, basale wie komplexe Gefühlszustände verstehend zu ergründen und hängt maßgeblich mit der Entwicklung von Sensibilität für emotionale Zustände zusammen, die wiederum Grundlage auch für moralische Sensibilität ist.127 In diesen top-down-Prozessbereich gehören aber auch solche kognitiven Operationen, die als Mechanismen kognitiver Regulation die Aufgabe haben, kognitive und affektive Reaktionsanteile zu vermitteln. Dazu zählen die kontextuelle Bewertung affektiver Impulse und die Regulation von Emotionen, sodass eine sozial verträgliche und zugleich mental flexible Reaktion möglich wird. So konnte empirisch etwa gezeigt werden, dass eine positive Korrelation besteht zwischen der Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit zielgerichtet zu fokussieren und der Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen, ohne dass es das mitfühlende Individuum belastet. Dies ist möglich, weil es in der Lage ist, negative empathische Emotionen und die damit einhergehende Anspannung zu regulieren. Am neuronalen Netzwerk, das diese Prozesse steuert, sind vor allem kortikale Areale beteiligt, insbesondere der ventrale und dorsale Präfrontalkortex (vPFC und dPFC), der ventromediale Präfrontalkortex (vmPFC) sowie das anteriore Cingulum (ACC).128 Diese evaluativen Regulationsprozesse sind metakognitive Fähigkeiten, die dem Individuum eine gewisse Unabhängigkeit einräumen von der Totalität der Wirkung affektiver Reize. Insgesamt ist für die Entwicklung dieser Fähigkeiten eine Tendenz zu erkennen, die sich von limbisch gesteuerten Erregungszuständen (also etwa durch die Amygdala, die für die affektiven Reaktionen zuständig ist) hin zu evaluativen Reaktionen, die in PFC-Regionen gesteuert werden. Dies ist bedingt durch den Reifungsprozess des PFC und geht auch mit einer Verbesserung in der Internalisierung und Integration moralischer Werte und Normen mit anderen sozialen Informationen einher.129 Empathie in diesen drei Anteilen neuronal zu betrachten, bedeutet, drei Aspekte zu bedenken: Zum einen entwickeln sich die empathischen Anteile schrittweise; erst ab einem Alter von zwei Jahren beginnt die Entwicklung, alle Anteile sind erst mit einem Alter von vier bis fünf zu erwarten. Die volle Ausreifung zieht sich aber über die gesamte Kindheit und Jugend hin und bleibt über die gesamte Lebensspanne ein Prozess, der altersspezifischen Schwankungen unterliegt. Zum zweiten ist Empathie situativ verfasst; verschiedene interne und externe Faktoren wirken darauf ein, wie in einer spezifischen Situation Empathie zu erlebbarer Entfaltung kommt. Empathie als komplexer Prozess „includes bottomup processing of affective sharing and top-down processing in which the perceiver’s motivation, intentions, and attitudes influence the extent of an empathic  Vgl. Decety, How Children Develop Empathy, 173 ff.  Vgl. Lamm, Social Neuroscience, 88; vgl. Decety, How Children Develop Empathy, 175 ff. 129  Vgl. Lamm, Social Neuroscience, 88; vgl. Decety, How Children Develop Empathy, 180 f. 127 128

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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experience and the likelihood of prosocial behavior“.130 Diese beiden Aspekte haben in der psychologischen Reflexion eine eingehendere Rolle gespielt. Schließlich sind die drei Anteile, die hier skizziert wurden, nur funktional zu unterscheiden. Diese Unterscheidung resultiert aus den neurowissenschaftlichen Untersuchungen, die unterschiedliche neuronale Netzwerke für die verschiedenen Fähigkeitskomponenten feststellen konnten. Diese nehmen eine je spezifische funktionale Rolle am Empathieprozess ein und in dieser funktionalen Rolle können sie je auch eingeschränkt sein (siehe klinische Fälle weiter oben im Kapitel). Im realen Vorkommen von Empathie bei gesund entwickelten Menschen allerdings interagieren die einzelnen Anteile sehr viel stärker miteinander, als es diese funktionale Unterscheidung zunächst vermuten lässt.131 Alle Komponenten aktivieren zwar unterschiedliche neuronale Netzwerke, die auch jeweils separat abbildbar sind, in allen relevanten Situationen aber finden alle Komponenten eine Form des Zusammenspiels. Empirisch konnte dies mithilfe des EmpaToM132-Versuchsparadigmas der Singer-Forschungsgruppe herausgestellt werden: Aufgabenformate, die beide Netzwerke parallel aktivierten, konnten spezifische Korrespondenzen zwischen den Netzwerken sichtbar machen. Beteiligte Netzwerke verhalten sich dabei koaktiv zueinander in komplexeren empathischen Situationen, etwa beim Akt des Schlussfolgerns über Gefühle anderer; dabei ist in der Bildgebung sichtbar, wie sich einzelne Netzwerke gegenseitig beeinflussen. Wird etwa ein negativer Affekt einer anderen Person wahrgenommen, hemmt die Insula die TPJ-Aktivität, die für die ToM zuständig ist.133 Anhand zweier für Empathie besonders relevanter Phänomene lässt sich diese Zusammenarbeit besonders deutlich ausmachen: Zum einen zeigt sie sich an der Ich-Andere-Unterscheidung; dabei ist durch Bildgebung darstellbar, ob eigene und fremde Zustände unterschieden oder als geteilte Zustände identifiziert werden. Im Falle sogenannter egozentrischer oder alterozentrischer Verzerrung werden eigene Zustände in eine andere Person projiziert bzw. fremde Zustände als eigene Zustände wahrgenommen. Dies kann durch eine besonders starke Aktivierung der spezifischen Areale nachvollzogen werden. Zum anderen zeigt sich jene Koaktivität bei sozialer Entscheidungsfindung; so ist die Kooperation zwischen AI und TPJ besonders aktiv, wenn beispielsweise intraindividuell über die Bereitschaft zu einer Spende entschieden wird.134

130 Decety,

How Children Develop Empathy, 169 f. Decety, How Children Develop Empathy, 170. 132  Abkürzung eines Versuchsparadigmas, das verschiedene empathische Fähigkeiten und die Koaktivität der entsprechenden neuronalen Netzwerke erhebt. Empa steht für affektive Empathie-, ToM für Theory of Mind-Fähigkeiten, die wiederum je für unterschiedliche Empathiekomponenten stehen. 133 Vgl. Preckel, On the Interaction, 3. 134  Vgl. Preckel, On the Interaction, 3 f. 131 Vgl.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

Insgesamt ist also die Aktivität unterschiedlicher neuronaler Netzwerke abbildbar, die zu spezifischen Zwecken in je situativ relevante Koaktivität treten und sich wechselseitig beeinflussen. Gleichwohl weisen aber Preckel et al. darauf hin, dass jene Koaktivität in zweifacher Hinsicht individuell ist: Sowohl interindividuell als auch intraindividuell lassen sich Unterschiede in der situativen Aktivierung feststellen, was den obigen Aspekt der Situativität auch in dieser Hinsicht unterstützt.135 Bottom-Up-Prozesse

Top-Down-Prozesse

Mentale Repräsentation, ToM-Fähigkeiten

Bewertung Regulation

Affektive Resonanz, emotionale Reaktion

Empathie

Abb. 3: Prozessbeteiligte Komponenten der Empathie; K. K.

Mit der Unterscheidung dieser neuronalen Komponenten von Empathie, wie sie hier visualisiert sind, haben wir uns bis hierhin der Beantwortung der Frage gewidmet, was aus neurowissenschaftlicher Perspektive unter Empathie zu verstehen ist, was neuronal stattfindet, wenn Menschen empathisieren und welche Rückschlüsse daraus für konstitutive Merkmale von Empathie zu ziehen sind. Nun wird dabei Empathie als ein Phänomen evident, das in unterschiedlichen neuronalen Netzwerken abläuft und in verschiedener Hinsicht situativ und individuell verfasst ist. Diese Beobachtungen über die neuronale Innenseite finden ihre Deckung in einer grundlegenden Erfahrung, die Menschen tagtäglich machen, dass nämlich die eigene empathische Reaktion auf eine soziale Situation 135 Vgl.

Preckel, On the Interaction, 3. An dieser Stelle sei mit Zaki/Ochsner noch einmal auf einen methodischen Einwand hingewiesen: Bei der Darstellung von Empathie als getrennte Komponenten muss berücksichtigt werden, dass die Komponentenunterscheidung, die auf der empirischen Erhebung getrennter neuronaler Netzwerke fußt und zu dieser funktionalen Unterscheidung führt, Laborsituationen entnommen ist, die eine künstliche, eindimensionale Situation darstellen. In authentischen Situationen sind Menscheneiner erheblich komplexeren Reizsituation ausgeliefert, sodass sich unter natürlichen Bedingungen eine solche funktionale Unterscheidung nicht in dieser Eindeutigkeit beobachten ließe. Es muss bei einem natürlichen Empathiegeschehen mit einer multiplen Koaktivierung neuronaler Netzwerke gerechnet werden, weshalb die authentische Orchestrierung von Empathie in einer empirischen Erhebung nicht zu dieser kristallinen Darstellung kommen kann. Auf diese Fragen muss sich nichtsdestoweniger zukünftige Empathieforschung konzentrieren (vgl. Zaki, Understanding Others’ Emotions, 213, 218).

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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oder das soziale Gegenüber variiert. Manchmal kommen empathische Empfindungen gar nicht auf, manchmal kommen sie vor, fallen aber in sehr unterschiedlicher Intensität aus. Manchmal finden empathische Empfindungen ihre Entsprechung in Hilfeleistungen oder zumindest Hilfsbereitschaft, manchmal bleiben sie als Empfindungen im subjektiven Innenraum, ohne in eine Konkretion im Handeln zu münden. Und manchmal ist empfundene oder in Handlung überführte Empathie asymmetrisch zur Reizsituation, fällt unverhältnismäßig stark oder auch unverhältnismäßig schwach aus. Kurzum: Jeder Mensch kann für sich feststellen, dass die eigenen empathischen Reaktionen nicht aus einem Guss sind, sondern unterschiedliche Qualitäten haben. Diese Erfahrung ist ein weiteres Feld neurowissenschaftlicher Empathieforschung und findet ihren Ausgangspunkt in jener Feststellung über die unterschiedlichen Netzwerke, die bei Empathie aktiviert werden: Es gibt offenbar Anteile am empathischen Geschehen, die automatisierten Prozessen unterliegen und solche, die mit eigener gleichsam aktiver Regulation zu tun haben. Aufgrund der breiten Untersuchungsergebnisse zu den beteiligten neuronalen Netzwerken stellten Singer et al. die Hypothese über die zwei Arten von empathischen Reaktionen auf. Damit nehmen wir die initiale Grundunterscheidung empathischer Phänomene aus der obigen Darstellung wieder auf: Zum einen kann die empathische Reaktion den Typ des empathic concern annehmen. Dieser wurde oben als Zustand vorgestellt, bei dem nicht das auslösende Gefühl geteilt wird, sondern beim Empathisierenden ein anderes Gefühl entsteht, ein Gefühl etwa von Sorge um den Anderen in dessen Situation, von Liebe oder Wärme. Mit diesem Gefühl für jemanden ist die Motivation verbunden, dessen Leidsituation zu vermindern. Diese Form der empathischen Betroffenheit ist eine am Anderen und dessen Situation orientierte Reaktion und bildet in der ergänzten Darstellung unten den linken Bereich, als dessen Grenze das Konzept Mitgefühl (Compassion) verortet wurde. Dieser Reaktionsbereich lässt sich neuronal durch die einbezogenen Netzwerke erklären, die mit Belohnung und Bindung assoziiert sind. Zum anderen kann die empathische Reaktion auch als empathic distress ausfallen. Dabei wird das auslösende Gefühl tatsächlich geteilt, die Ich-AndereUnterscheidung ist zwar gegeben, aber durchaus brüchig. Neuronal sind vor allem Areale betroffen, die aversive Reize und Gefühle repräsentieren, sodass dem auf diese Weise Empathisierenden die Motivation zu helfender Unterstützung fehlt. Stattdessen wird er der nun selbst empfundenen Belastung entgehen wollen und tritt mit hoher Wahrscheinlichkeit den Rückzug an, um sich vor aversiven Reizen zu schützen. Diese Form des Gefühls mit jemandem ist dann eine vielmehr selbst-orientierte, weil sich selbst schützende und vom Anderen im Ergebnis abgewandte Empathie.136 Dies bildet die Grenze zur emotional 136  Vgl. Singer, Tania/Klimecki, Olga: Empathy and Compassion, in: Current Biology 24/18 Special Issue, 2018, R875–R878, hier 875.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

contagion, bei der die Ich-Andere-Unterscheidung gänzlich aufgehoben ist. Die folgende Abbildung zeigt dies: Bottom-Up-Prozesse

Top-Down-Prozesse

Mentale Repräsentation, ToM-Fähigkeiten

Bewertung Regulation

Affektive Resonanz, emotionale Reaktion

Empathie

Mitgefühl, Sympathie

Empathic Concern

– am Anderen orientiert – mehr prosoziales Verhalten – Motivation: Leid des Anderen reduzieren

Empathic Distress

Gefühls­ ansteckung

– selbstorientiert – weniger prosoziales Verhalten – Motivation: dem Stress entkommen

Abb. 4: Prozessbeteiligte Komponenten, ergänzt um Varianten der empathischen Reaktion; K. K.

Angesichts dieser Unterscheidbarkeit stellte sich für die Forschungsgruppe die konkrete Frage, ob die Form der Ausprägung der Steuerbarkeit durch den Empathisierenden untersteht, ob man also selbst in der Hand hat, in welchem Modus man empathisch reagiert. Zu diesem empirischen Zweck wurde in einer Reihe von Untersuchungsdurchgängen zunächst erneut auf die neuronalen Netzwerke geblickt, die an Empathie beteiligt sind. Dieses Mal aber wurden jene Netzwerke gegenübergestellt, von denen man annahm, dass sie die beiden genannten Reaktionsformen repräsentieren dürften. Dazu wurden nun fMRT-Aufnahmen von buddhistischen Meditationspraktizierenden gemacht, die bereits viele Jahre ein Training in Mitgefühl und Liebender-Güte vollzogen (Empathietyp I), um die Aktivität der bei Mitgefühlsreaktionen angesprochenen Areale zu überprüfen. Das Ergebnis: In der mittleren Insula wurde eine gesteigerte Aktivität gemessen, als die Probanden mit einem distressenden Reiz konfrontiert wurden. Sodann wurden Meditationsanfänger vor und nach einem Kurzzeittraining in Mitgefühlsmeditation untersucht. Hier war das Ergebnis eine gesteigerte Aktivierung von mOFC und Striatum. In diesen Arealen werden positive Emotionen abgebildet. Diese Ergebnisse zeigen einerseits die Plastizität, also die Formbarkeit der Hirnanatomie an und andererseits das aktivierte neuronale Netzwerk. Zum

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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Vergleich wurden dann Probanden in einem Empathie-für-Schmerz-Paradigma (Schmerzempathie steht dabei für die Variante des empathic distress) untersucht. Das Ergebnis gleicht den obigen Ausführungen; anteriore Insula und anteriores mittleres Cingulum sind aktiviert, in denen empathischer Distress repräsentiert wird. Somit ist zunächst bestätigt, dass die beiden Arten der empathischen Reaktion in unterschiedlichen Netzwerken repräsentiert werden.137 Um nun die Beeinflussbarkeit der empathischen Reaktionen zu bestimmen, wurden Probanden erst einem Training unterzogen, das die einfühlende Resonanz trainiert. Anschließende Untersuchungen zeigten, dass dasjenige Netzwerk stärker aktiviert war und zudem in Fragebögen die empfundenen Veränderungen signifikant mit negativen Gefühlen verbunden waren. Dann wurden die Probanden einem Mitgefühlstraining unterzogen. Bei den anschließenden Untersuchungen zeigte sich eine gesteigerte Aktivierung des Netzwerks, das empathic concern repräsentiert (mOFC und ventrales Striatum) und zudem wurde berichtet, dass nicht nur die assoziierten positiven Gefühle gesteigert, sondern auch die negativen Gefühle abgemildert worden waren.138 Diese Ergebnisse zeigen drei Dinge in signifikanter Weise: 1. Die Ausgangshypothese über die zwei unterschiedlichen neuronalen Repräsentationen von Empathiereaktionen hat sich bestätigt: „Empathic emotional responses include both matching emotional responses – you feel sad, so I feel sad – and compatible responses – you feel pain, so I feel anxiety, or you feel anxiety, so I feel compassion.“139 2. Empathie in diesen beiden Varianten ist formbar. Diese Formbarkeit ist nicht als direktive Steuerbarkeit zu verstehen, die sich als willentlicher Entschluss unmittelbar auf die Handlungsebene auswirken würde. Vielmehr besteht die Möglichkeit, auf die konkrete Form empathischen Reagierens einzuwirken, indem Reaktionen gezielt trainiert werden, etwa durch spezifische Meditationstechniken. Signifikante Veränderungen sind nicht nur für die Probanden spürbar, sondern zeichnen sich auch in Veränderungen der Hirnanatomie ab.140 Empathie ist damit keinesfalls als kontingenter Gefühls‑ oder Empfindungszustand zu betrachten, sondern als psychisches Geschehen, auf das der Einzelne durchaus aktiv Einfluss nehmen kann. 3. Vor diesem Hintergrund kann differenziert auf das Potenzial von Empathie geblickt werden: Es gibt eine Art von Empathie, die sich für beide Individuen positiv auswirkt (empathic concern). Der Empathisierende empfindet selbst positive Gefühle und ist so auch in der Lage, dem Anderen tatsächlich beizustehen und prosoziales Handeln zu aktivieren, 137 Vgl.

Singer, Empathy and Compassion, 877.  Vgl. Singer, Empathy and Compassion, 877. 139 Marsh, Abigail A.: Empathy and Compassion. A Cognitive Neuroscience Perspective, in: Decety, Jean (Hg.): Empathy. From Bench to Bedside, Cambridge/Mass. 2014, 191–206, hier: 192. 140 Vgl. Davidson, Richard: Die neuronalen Grundlagen des Mitgefühls, in: Singer, Tania/ Ricard, Matthieu (Hgg.): Mitgefühl in der Wirtschaft. Ein bahnbrechender Forschungsbericht, München 2015, 59–69, hier: 62 ff. 138

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

weil es um den Anderen in dessen Situation geht. Darüber hinaus hat diese Form der Empathie ein über die Situation hinausgehendes Potenzial: Durch das Hervorbringen positiven Erlebens wird auch das grundsätzliche Befinden verbessert, sodass sich empathic concern positiv auf den Umgang mit Stress (Coping) und damit auf die Resilienz auswirkt. Dies findet seine Entsprechung im positiv-psychologischen Teil dieser Arbeit. Daneben gibt es aber auch eine Form der Empathie, die sich für beide beteiligten Personen negativ auswirkt (empathic distress). Der Empathisierende ist in dem Fall so distanzlos negativen Emotionen ausgesetzt, dass es ihm selbst schlecht geht, ohne dass sich für den Anderen etwas verbessern würde. Dieser bleibt vielmehr mit seinem Leid allein, weil der Empathisierende sich zurückzieht. Mit Bezug zu den Ausführungen zur Resilienz (Kap 3.1.1.2) kann mit Hein diese neurowissenschaftliche Position auf den Punkt gebracht werden: Empathie kann grundsätzlich resilienzförderlich sein. Es kommt aber darauf an, ob ein Individuum in der Lage ist, Empathie in empathic concern statt in empathic distress zu transformieren.141 Angesichts dieser Befunde kommen Singer et al. nun selbst zu einer Bewertung, die auch eine normative Implikation enthält: Auf der Seite der Empathie, verstanden als einfühlende Resonanz mit dem Leid anderer Menschen kann es zu stark aversiven Emotionen auf der Seite des Empathisierenden kommen, was „als überwältigend erlebt werden“142 kann, was insbesondere in beruflichen Kontexten zum Tragen kommt, die eine entsprechende Disposition dafür aufweisen (Medizin, Pflege, soziale Arbeit u. a.). Singer et al. geben aber zu bedenken, dass „solch quälende[n] Erlebnisse […] nicht auf Krankenhäuser und Pflegeheime beschränkt [sind] – jedem von uns fällt sicherlich ein Verwandter oder enger Freund ein, der gerade unter einer schweren Krankheit oder unter stark aversiven Gefühlen leidet. Tatsächlich kann jeder an seinem Arbeitsplatz oder in seinem Privatleben von einer zu starken Resonanz mit dem Leid anderer überwältigt werden“143. So gilt den Neurowissenschaftlern diese Form der Empathie als Potenzial aversiven Erlebens und insofern als „Risikofaktor“144 für Schäden in Gesundheit und Wohlbefinden. Mitgefühl dagegen, als die andere Variante der Empathie, führt zu verstärktem prosozialen Verhalten, je länger das Mitgefühlstraining durchgeführt wurde, sowie zu einer spürbaren Steigerung des Wohlbefindens und zu einer 141 Vgl. Singer, Empathy and Compassion, 877 f.; vgl. Hein, Grit: Empathy and Resilience in a Connected World, in: Kent, Martha et al.: The Resilience Handbook. Approaches to Stress and Trauma, New York 2014, 144–155, hier: 152. 142 Klimecki, Olga/Ricard, Matthieu/Singer, Tania: Empathie versus Mitgefühl. Erkenntnisse aus der Forschung mit Erster-Person‑ und Dritter-Person-Methode, in: Singer, Tania/ Bolz, Matthias (Hgg.): Mitgefühl in Alltag und Forschung, München 2013, 282–297, hier: 289, online verfügbar: http://www.compassion-training.org/?page=download&lang=de, abgerufen am: 18. 2. ​2020. 143  Klimecki, Empathie vs. Mitgefühl, 289. 144  Klimecki, Empathie vs. Mitgefühl, 291.

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

129

mitfühlenden Haltung, die sich auch auf den Empathisierten und die von seinem Leid ausgehenden Reize übertrug.145 Damit scheint Mitgefühl „nicht zu einer Verleugnung von Leid [zu führen], sondern […] Menschen [zu befähigen], trotz der Schwierigkeiten einer anderen Person positive Emotionen zu erleben“146 (Kurs.: K. K.). Mitgefühl wird in diesen Eigenschaften gegenüber dem Risikofaktor Empathie als konstruktive Bewältigungsstrategie gedeutet, insofern über das ohnehin gegebene Leiderleben des Anderen kein zusätzliches Leid beim Empathisierenden entsteht und der Andere auf diese Weise tatsächliche und dabei positive Zuwendung in Form von Liebe und Wohlwollen erfährt.147 Im Duktus dieser Bewertung wurde von Singer et al. ein Forschungsprojekt durchgeführt, das als weltweit einzigartig gilt: das ReSource-Projekt. Über einen mehrjährigen Erhebungszeitraum wurde neurowissenschaftlich untersucht, wie sich buddhistische Praktiken von Meditation und Kontemplation auf psychisches Wohlbefinden und Gesundheit auswirken. Dabei spielte Mitgefühl148 eine besondere Rolle. Der empirische Befund, dass mitfühlende Empathie die konstruktivere der empathischen Varianten in Bezug auf das Wohlbefinden des Empathisierenden und dann auch des Empathisierten ist, kann in ein Deckungsverhältnis gebracht werden mit den Erkenntnissen über die Kraft des Mitgefühls, die kontemplative Praktiken buddhistischer Traditionen schon seit vielen Jahrhunderten einüben. In diesem Verständnis ist Mitgefühl nicht so sehr als ein konkreter emotionaler Zustand aufgefasst, sondern als Seinsweise gegenüber der Wirklichkeit, die, wenn sie kultiviert wird, als überdauernde Haltung einer Person angehört.149 So kann die ReSource-Studie als Mitgefühls-Studie verstanden werden, insofern die Fähigkeit zu Mitgefühl Wohlbefinden befördert. Das übergeordnete Erkenntnisinteresse der Studie lag nun darauf, wie Fähigkeiten durch kontemplative Meditation beeinflusst bzw. trainiert werden 145 Vgl.

Klimecki, Empathie vs. Mitgefühl, 290 f.; 295. Empathie vs. Mitgefühl, 294. 147  Vgl. Klimecki, Empathie vs. Mitgefühl, 289. 148 Dass in den folgenden Ausführungen von Mitgefühl gesprochen wird, ist der Exaktheit in der Wortwahl der Studie gegenüber geschuldet. An anderer Stelle (Kapitel 5 in diesem Teil) wird zu der Wortwahl explizit Stellung genommen. Gemeint ist hier aber jene beschriebene Variante von Empathie, die als empathic concern bezeichnet wurde und dem Mitgefühl besonders nahekommt. 149 Vgl. Bornemann, Boris/Singer, Tania: Das ReSource-Modell des Mitgefühls. Eine kognitiv-affektive neurowissenschaftliche Perspektive, in: Singer, Tania/Bolz, Matthias (Hgg.): Mitgefühl in Alltag und Forschung, München 2013, 184–198, hier: 185 f. Anhand dieser Definition von Mitgefühl verdeutlicht sich auch der Projektname Re­Source, der ausdrückt, dass durch Meditation menschliche Kapazitäten, die prinzipiell angelegt, aber überdeckt sind von anderen, oftmals gegenläufigen Verhaltensmustern, kultiviert werden können und damit eine Wiederentdeckung ursprünglicher Anlagen erreicht werden kann, die zugleich als Ressourcen des menschlichen Umgangs mit der Wirklichkeit in Erscheinung treten (vgl. Singer, Tania et al.: The ReSource Project. Background, Design, Samples and Measurements, Dresden ²2016, 12). 146 Klimecki,

130

3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

können, die eine mitfühlende, ausgeglichene alltägliche Lebensführung begünstigen. Dazu wurden drei Module entwickelt, die als Komponenten einer solchen Lebensführung ausgemacht werden können und die je spezifische Fähigkeiten enthalten. Diese Module heißen Präsenz, Affekt und Perspektive.150 Die Konzeption dieser Module wurde inspiriert durch erstellte und erprobte mentale Trainingsprogramme, etwa das MBRS-Achtsamkeitsprogramm des Psychologen Jon Kabat-Zinn, das Self-Compassion-Programm nach Neff/Germer oder das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg sowie durch traditionelle buddhistische Meditationsübungen wie der Liebende-GüteMeditation. Prominente Emotionsforscher wie Paul Ekman und Paul Gilbert sowie Gespräche mit buddhistischen Mönchen wie Tenzin Gyatso (Dalai Lama) beeinflussten ebenfalls die Erstellung der Konzeption.151 1. Das Modul Affekt beschreibt den Fähigkeitsbereich des emotionalen Umgangs mit einem aversiven Reiz. Drei Teilfähigkeiten sind hierin enthalten: Die Erzeugung von Wohlwollen und Herzenswärme meint die Aktivierung eines Systems, das evolutionär mit der Aktivierung von Fürsorge verbunden ist. Belohnungs‑ und Bindungsmechanismen werden durch freigesetztes Dopamin, Oxitocin sowie Opiate aktiviert und bedingen diese affektive Bindung. Akzeptanz meint eine Strategie oder Haltung gegenüber aversiven Reizen. Anstatt von Verdrängung oder Ablenkung von dem aversiven Reiz geht es hier um die Fähigkeit, die damit verbundenen Emotionen „achtsam wahrzunehmen“152, sie wertfrei zu akzeptieren und sich ihnen eher offen und fürsorglich zu widmen. Unter der Fähigkeit zu prosozialer Motivation wird die Empfindung von Betroffenheit verstanden, verbunden mit dem Wunsch bzw. der Bereitschaft, die Situation des Anderen zu verbessern.153 Dieses Affektmodul ist zusammen mit dem Modul Perspektive bereits bekannt aus der obigen Unterscheidung nach empathischen Komponenten. 2. Das Modul Perspektive bezieht sich auf kognitive bzw. metakognitive Fähigkeiten von Mitgefühl. Unter metakognitiven Fähigkeiten wird die „bewusste Wahrnehmung unserer kognitiven Prozesse und Zustände“ verstanden sowie die Einnahme einer bestimmten Perspektive auf diese Prozesse, die eine Entkopplung (Defusion) von beobachteter Kognition und innerer Reaktion darauf ermöglicht. Dies wird klassischerweise mit dem Bild der vorüberziehenden Wolke verdeutlicht, als welche eigene gedankliche Gehalte betrachtet werden sollen, um eine höhere kognitive Flexibilität zu erreichen.154 Die Perspektivübernahme auf das Selbst meint, ein flexibles Konzept über die interdependenten Dynamiken im Selbst zu entwickeln. Dabei wird die innere Diversität wahrgenommen, sodass 150 Vgl.

Bornemann, ReSource-Modell, 186 f.  Vgl. Singer, ReSource Project, 14 ff. 152  Vgl. Bornemann, ReSource-Modell, 192. 153 Vgl. Singer, ReSource Project, 21 ff.; vgl. Bornemann, ReSource-Modell, 189; 192. 154  Vgl. Singer, ReSource Project, 24 f.; vgl. Bornemann, ReSource-Modell, 193. 151

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

131

ein Zurücktreten von der momentan eingenommenen Perspektive des Selbst und Einnehmen einer anderen Selbst-Perspektive möglich wird.155 Perspektivenübernahme bei anderen umfasst das, was als ToM oben kurz erläutert wurde und das kognitive Verstehen anderer durch ein gedankliches Hineinversetzen in Gedanken, Wünsche, Intentionen des Anderen als eines Anderen. Diese kognitive Fähigkeit verhindert, dass die Wahrnehmung des Befindens des Anderen durch eigene Erfahrungen gefärbt und so missverstanden bzw. verzerrt wird.156 3. Das dritte Modul des ReSource-Modells heißt Präsenz und beinhaltet Fähigkeiten, welche eher als Grundlage der anderen Module zu sehen sind. Präsenz meint dabei das Sein im gegenwärtigen Moment, ohne Vergangenheits‑ oder Zukunftsgedanken nachzugehen. Mit diesem Zustand der Präsenz wird verbunden, dass er sich positiv auf das subjektive Wohlbefinden auswirkt. Insofern sind zwei Fähigkeiten entscheidend, um den eigenen Geist im gegenwärtigen Moment zu halten: Zum einen wird als zentral angesehen, die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu richten und stabil im Hier und Jetzt zu halten, konfligierende Geistestätigkeiten aufzudecken, die Aufmerksamkeit zurückzulenken und diese kognitiven Prozesse zu überwachen. Analog gilt das interozeptive Gewahrsein als Fähigkeit, den momentanen Zustand des Körpers von innen her wahrzunehmen (z. B. Anspannung, Atmung etc.), weil diese körperlichen Prozesse zu jeder Zeit die Anbindung an das Hier und Jetzt sind, was bei gedanklichen Prozessen nicht der Fall ist. Darin ist jenes Gewahrsein die Grundlage, um emotionale Vorgänge bei sich selbst und bei anderen zu verstehen.157 Mehr als 300 Teilnehmer wurden drei verschiedenen Kohorten zugeordnet, die ein neunmonatiges Meditationstraining in den drei Modulen (bzw. eine in nur einem Modul), aber in unterschiedlicher Reihenfolge durchliefen und zugleich eine gegenseitige Kontrollkohorte bildeten. Das Trainingspensum bildete 1. ein von Meditationstrainern geleitetes zweistündiges gemeinschaftliches Training pro Woche sowie 2. ein 30-minütiges tägliches eigenständiges Training unter Zuhilfenahme von speziellen Smartphone-Apps und einem Internetportal. Die Trainingsformen variierten je nach aktuellem Modul und umfassten modulspezifische Meditationsübungen.158 Jeweils vor und nach Absolvieren eines Modultrainings wurde gemessen, welche Veränderungen sich im subjektiven 155 Vgl.

Singer, ReSource Project, 25 f.; vgl. Bornemann, ReSource-Modell, 193 f. Singer, ReSource Project, 26; vgl. Bornemann, ReSource-Modell, 194. 157 Vgl. Singer, ReSource Project, 18 ff.; vgl. Bornemann, ReSource-Modell, 187 ff. 158 Präsenzmodul: Atemmeditation und Body Scan, eine Vipassana-Meditation des Theravada-Buddhismus, bei der die innere Aufmerksamkeit systematisch auf Vorgänge in einzelnen Körperarealen gerichtet und so gescannt wird. Affektmodul: Loving-Kindness-Meditation, ebenfalls aus der Theravada-Tradition, die Gefühle von Wohlwollen und Freundlichkeit anderen gegenüber trainiert und Affect-Dyad, eine Interaktionsform, um vor allem das empathische Zuhören zu schulen. Perspektivmodul: Observing-Thoughts-Meditation, eine in vielen buddhistischen Traditionen verbreitete Praxis, bei der die wertfreie Wahrnehmung der Gedanken trainiert wird und 156 Vgl.

132

3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

Erleben, in sozialen Fähigkeiten und in der (Hirn‑)Physiologie feststellen ließen. Dabei wurde ein Methodenkomplex eingesetzt, der die Validität und Reliabilität auf unterschiedlichen Ebenen gewährleisten sollte. Dazu gehörten zehn MRT‑ bzw. fMRT-Versuchsparadigmen, vier Virtual-Reality-Tasks, zwölf Computertasks, fünf (ökonomische) Spiele und neun stressphysiologische Messungen des autonomen Nervensystems, jeweils in Kombination mit Fragebögen.159 Die Ergebnisse dieser Studie sind äußerst vielschichtig; die folgende Grafik160 hat die Forschungsgruppe selbst erstellt, in der die positiven und negativen Korrelationen erfasst sind: Der graue Außenring bildet die Bereiche des subjektiven Empfindens, des Verhaltens/der Gehirnplastizität und der physiologischen Veränderungen ab (a–c), die im Original farbigen Kreise stellen die Module einzeln dar und von der konzentrischen Mitte nach außen wird jeweils die Veränderung selbst erfasst. Insgesamt ist hieraus ersichtlich, dass es zwei signifikante Korrelationen gibt, die je nach Korrelaten unterschiedlich ausfällt: Mit fortschreitendem Meditationstraining steigen die Fähigkeiten einer mitfühlenden Haltung, während zugleich eindeutige Stresssymptome wie subjektives Stressempfinden und Kortisolspiegel reduziert werden. Mit diesen Befunden bestätigt sich zum einen die Ursprungsthese über die zwei Formen der empathischen Reaktion, die sich unabhängig von Lebensphasen beeinflussen und gestalten lassen. Dies schlägt sich nicht nur auf der Ebene des subjektiven Erlebens nieder, sondern auch auf der Ebene des beobachtbaren Verhaltens und der hirnanatomischen Plastizität. Zudem aber wird ersichtlich, welche spezifischen Facetten und Fähigkeiten ausgemacht werden können, in die sich Empathie bzw. empathische Reaktionen weiter ausdifferenzieren. Das zeigt nicht nur die Komplexität des Phänomens an und macht es zugleich operationalisierbar, sondern vor allem wird auch evident, welche Maßnahmen der Förderung zu welchen spezifischen Verbesserungen jener Fähigkeiten führen können.

Perspective-Dyad, die ebenfalls in der Interaktion die Perspektivübernahme auf das Selbst und des Anderen schult. (Vgl. Singer, ReSource Project, 27–34). 159 Vgl. Singer, ReSource Project, 57 ff.; dabei geht es im Einzelnen um: MRT/fMRT: Morphologie der Hirnareale (Volumen, Dicke) sowie Aktivierung und funktionale Parameter; PC-Tasks: Verhalten in sozialen Situationen (z. B. Spendenbereitschaft, Selbst-Perspektive, Emotionale Genauigkeit etc.); Spiele: Soziale und ökonomische Settings und Spielverhalten; Physiologie: Pulsfrequenz, Kortisolspiegel, Biofeedback, Haaranalysen etc. 160  Singer, Tania/Engert, Veronica: It Matters What You Practice. Differential Training Effects on Subjective Experience, Behavior, Brain and Body in the ReSource Project, in: Current Opinion in Psychology, 18/2019, 151–158, hier: 154, online verfügbar: https://reader.elsevier. com/reader/sd/pii/S2352250X18301416?token=B0FDF34D1FF79F741DF8C1ED3394​7​4​3​6​D​B​ 7​1​A​6​F​4​F983062EF2AA8E98C40A787BF64AD0EB2CDD28E4D31233FA41F1F2FA; abgerufen am: 19. 2. ​2020.

133

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

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Abb. 5: Ergebnisse der ReSource-Studie; Singer/Engert, Differential Training Effects, 154.

Zwischenfazit Aus neurowissenschaftlicher Perspektive wurden hier die neuronalen Prozesse und Abläufe im Gehirn betrachtet, die bei Empathie eine Rolle spielen. Hierbei traten vor allem zwei Aspekte besonders deutlich hervor: 1. Empathie wird in unterschiedlichen neuronalen Netzwerken abgebildet, sodass auch hirnphysiologisch von verschiedenen Komponenten auszugehen ist, die bei einem empathischen Geschehen situativ stattfinden und insofern eine konstitutive Funktion für Empathie haben: ein kognitives Netzwerk, ein

134

3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

regulatives Netzwerk und ein affektives Netzwerk. Dies lässt sich aus der Bestimmung der empathischen Anteile erschließen, welche die entsprechenden psychologischen Befunde untermauern bzw. neurowissenschaftlich präzisieren. In der binären Struktur der psychologischen Befundlage können die ersten beiden als top-down-Prozesse, die dritte als bottom-up-Prozess bezeichnet werden. 2. In umfassenden Studien konnte neben der neuronalen Beschaffenheit jener Prozessinnenseite auch gezeigt werden, dass Empathie sich in zwei Reaktionsarten konkretisieren kann: in empathic distress einerseits, einer eher stressbelastenden, deshalb auch oft am Ende selbstorientierten Reaktion und empathic concern andererseits, einer mitfühlenden, positiven, liebenden Reaktion mit dem Bedürfnis zu helfen. Diese Unterscheidung der empathischen Reaktion nimmt die Erfahrung in den Blick, dass aufgebrachte Empathie konstruktiv auf beide beteiligte Personen wirken kann, aber unter bestimmten Umständen eine destruktive Kraft insbesondere für den Empathisierenden hat. Darin ist zunächst das aufgenommen, was hier im Rahmen der psychologischen Ausführungen zum ambivalenten Potenzial von Empathie gesagt wurde. Aufgrund dieser Befunde wurde durch die Forschungsgruppe um Tania Singer schließlich Empathie (empathic distress) als zu vermeidende Reaktion dem Mitgefühl (empathic concern) als zu kultivierende Reaktion gegenübergestellt. Auf diese Schlussfolgerung wird noch eingehend zurückzukommen sein. In Anschluss an diese Untersuchungen aber wurde die weltweit einzigartige ReSource-Studie durchgeführt, die erheben sollte, wie meditatives Training spezifisch Mitgefühl kultivieren kann. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass sich meditatives Training sehr differenziert und präzise zur Förderung von Mitgefühl einsetzen lässt, was sich auch in der neuroanatomischen Hirnplastizität zeigt. So erweist sich Mitgefühl schließlich als Ressource für Wohlbefinden und Gesundheit, für Resilienz also. Bevor wir zu einer weiteren Thematisierung von Empathie übergehen, soll eine ebenfalls neurowissenschaftliche Perspektive Erwähnung finden, die zum einen eine alternative Erklärung neuronaler Prozesse von Empathie darstellt, zum anderen aber durchaus auch in andere Ansätze zu integrieren versucht wird. Die Unschärfe, mit der sich der positionelle Ort dieses Ansatzes beschreiben lässt, zeigt unmissverständlich die ambige Rolle an, die der Ansatz im Empathiediskurs einnimmt. Die Rede ist hier von der sogenannten Spiegelneurontheorie. In einem kurzen Exkurs seien grundlegende Eckpfeiler dieses Ansatzes vorgestellt. Exkurs: Spiegelneurone An dieser Stelle soll ein Theoriezweig Erwähnung finden, der durch einen Zufallsfund Aufruhr in die Debatte um die neuronale Begründung menschlicher Empathie gebracht hat. 1992 wurde von der Forschungsgruppe um den italienischen Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti (Universität Parma) in der Großhirnrinde von Rhesusaffen eine bis

3.1  Empathie als Thema sozialer Kognition und Emotion

135

dahin unbekannte Neuronenart gefunden, die genau dann aktiviert wurden, wenn der Affe entweder selbst nach Futter griff oder dieser den Griff nach Futter nur beobachtete. Diese Neuronen wurden Spiegelneurone (SN) genannt. Durch einen Zufall wurden bei einer Hirnoperation beim Menschen Zellen entdeckt, von dem vermutet wurde, diese seien ebenfalls Spiegelneurone. Schnell wurden parallele Annahmen über menschliche Spiegelneurone und ihre Bedeutung für menschliches Sozialverhalten laut: Überzeugte Befürworter auf der einen Seite brachten mit Euphorie eine maximalistische Theorie hervor, die das Spiegelneuronsystem als neuronale Grundlage menschlicher Empathie‑ und Kommunikationsfähigkeit darstellt und zur epochalen neurowissenschaftlichen Entdeckung in einer Reihe mit Einsteins Relativitätstheorie erheben.161 Vehemente Gegner auf der anderen Seite gehen dagegen von einer minimalistischen Evidenz sowohl der Existenz als auch der Bedeutung dieser Neurone aus.162 In dieser bipolaren Theorielandschaft die Wahrheit ausfindig zu machen, gestaltet sich denkbar schwierig. Nicht zuletzt, weil ein methodisches Problem bisher ungelöst ist: Invasive Studien bei Menschen sind unzulässig und nur dann überhaupt möglich, wenn ein Eingriff neurologisch ohnehin notwendig ist. Bei bis heute auf diese Weise untersuchten Probanden, konnte weder signifikant belegt noch falsifiziert werden, was mit Spiegelneuronen in Verbindung gebracht wird. Mit bildgebenden Verfahren ist auf dieser zytoarchitektonischen Ebene jedenfalls keine Gewissheit zu schaffen. So sei hier nun der Blick auf zentrale Aspekte der Spiegelneurontheorie von Rizzolatti gerichtet  – deren Existenz vorausgesetzt. Rizzolatti selbst also deutet die bildgebenden Befunde als Verifizierung für die Existenz jener Spiegelneurone beim Menschen. In funktionalen MRT-Studien habe man gezeigt, dass Spiegelneurone bei der Beobachtung einer Handlung im vorderen unteren Parietalkortex und im unteren hinteren Frontalkortex bzw. unteren Prämotorischen Kortex aktiviert wurden.163 Der Sitz der Spiegelneurone sei erklärbar aus der Tatsache, dass ihre ursprüngliche Funktion bei nicht-humanen Primaten in der neuronalen Transformation von sensorischen Reizen in motorische Handlungen liege. Dies zu erforschen, war der eigentliche Ansatz in der Untersuchung der Affen.164 Es gehe aus den Befunden deutlich hervor, dass das Spiegelneuronsystem (SNS) des Menschen Resonanzmechanismen zeige, die sogar weiter zu fassen sind als bei nichthumanen Primaten: Sie bilden sowohl auf ein Zielobjekt gerichtete Handlungen ab als auch nicht zielgerichtete Handlungen. Es bildet die Art der Handlung ab wie auch die Abfolge der Handlungen, die eine Bewegung ausmachen und es bezieht sich ebenso auf tatsächliche wie auch auf simulierte Akte. Vor allem aber würden beim Beobachten von Handlungen anderer Personen durch das SNS Areale mitaktiviert, die zuständig sind, wenn diese Handlung durch die beobachtende Person selbst ausgeführt würde, etwa motorische Areale. Dies sei als ein „Verstehen“ von Handlungen anderer zu bezeichnen, das sich aber von reflektierendem kognitivem Verstehen unterscheidet. Denn das Verstehen hier sei nicht Ergebnis von bewussten Denkoperationen, sondern ein Programm von z. B. motorischem Wissen, das sich in einer motorischen Resonanz ausagiere. Insofern dieses Verstehen auf eine ganze Abfolge von zusammenhängenden Einzelhandlungen bezieht 161  Vgl. etwa Bauer, Joachim: Geheimnis der Spiegelneurone, 252016 sowie Zaboura, Nadia: Das empathische Gehirn, 2009. 162  Vgl. etwa Hickok, Gregory, Mythos Spiegelneurone, 2015. 163  Vgl. Rizzolatti, Giacomo/Sinigaglia, Corrado: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt/M. 62018, 130. 164  Vgl. Rizzolatti, Spiegelneurone, 91.

136

3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

und sich spezifisch im SNS abbildet, kann das SNS die Bedeutung von Handlungen intuitiv und kontextunabhängig abbilden.165 Bei spezifischeren fMRT-Untersuchungen, die systematisch die Aktivierungen bei verschiedenen Settings jenes Verstehens erhoben haben (Handlungsverstehen, Kontextverstehen, Intentionsverstehen), konnte sogar ausgemacht werden, dass das SNS in der Lage ist, nicht nur den beobachteten Akt zu kodieren […], sondern auch die Intention, mit der er ausgeführt wird – und das liegt vermutlich daran, daß der Beobachter, wenn er Zeuge der Ausführung eines motorischen Aktes durch einen anderen ist, die möglichen folgenden Akte antizipiert, mit denen dieser Akt verkettet ist.166 Diese Aktivität der Spiegelneurone bediene sich dazu des gesamten potenziellen Wissensrepertoires des Beobachtens, d. h. die ihm speziesgemäß zur Verfügung stehen. Das Bellen eines Hundes führe entsprechend nicht zur Spiegelresonanz. Für die Frage nach dem Potenzial des SNS für unser soziales Wahrnehmungssystem bedeute das, so Rizzolatti weiter, dass im Menschen mindestens zwei Arten des verstehenden Zugangs zum Anderen gegeben sind: Das verstandesgeleitete bewusste Verstehen von Überzeugungen, Wünschen und Intentionen anderer, bei dem die Bedeutung über kognitive Operationen vermittelt ist, und das intuitive, gleichsam automatische Verstehen, das durch Spiegelneurone möglich ist und die Bedeutung durch jene motorische Resonanz unmittelbar vergegenwärtigt. Der besondere Unterschied zwischen beiden Formen des Verstehens bestehe in der Einbeziehung des Beobachtenden: Denn das durch SN bedingte Verstehen fußt auf der Unmittelbarkeit des Erlebens, die zustande kommt, weil der Beobachtende aus der 1.-Person-Perspektive etwas so erlebt, als wäre er selbst die primär erlebende Person.167 Welche problematische Implikation dies für die moralische Bedeutung von einer so verstandenen Resonanz hat, wurde bereits eingehend im Kontext der Ausführungen zum empathic distress verdeutlicht; eine Vergegenwärtigung der IchAndere-Unterscheidung ist hier – zumindest allein auf die SN bezogen – nicht möglich. Neben dieser ursprünglichen Funktion der motorischen Resonanz bzw. dem motorischen Verstehen spielen bei Rizzolatti SN aber eine entsprechende Rolle auch in Bezug auf viszeromotorische Resonanz, also der Resonanz bei Akten, die emotionale Gehalte haben. Sehr gut erforscht seien die neurophysiologischen Abläufe etwa von Primäremotionen wie Angst, Wut, Ekel, Überraschung, Freude sowie die Situationsbewertungen, die das Gehirn aufgrund dessen in der Lage ist, vorzunehmen. Das Gleiche müsse das Gehirn aber leisten, wenn wir Ausdrücke dieser emotionalen Zustände bei anderen wahrnehmen.168 Auch hier habe der Spiegelmechanismus eine zentrale Bedeutung für das direkte Verstehen der Bedeutung von Emotionsausdrücken: Visuelle Reize würden direkt an die Insula geleitet, wo der Spiegelmechanismus aktiviert werde, der entsprechende „emotionale Formate kodiert“.169 Damit sei die Insula, die auch bei Singer zentrales Areal sei, das Zentrum des Spiegelmechanismus und damit das Kortexareal, das innere Zustände zum einen abbildet, in dem zum anderen aber auch die Transformation sensorischer Reize in eine Reaktion stattfindet. Die Handlung muss dazu nicht vollständig in der Ausführung nachgeahmt werden, damit das Verstehen ihrer Bedeutung möglich ist und es 165 Vgl.

Rizzolatti, Spiegelneurone, 130 ff.; 136.  Rizzolatti, Spiegelneurone, 133. 167  Vgl. Rizzolatti, Spiegelneurone, 136 f. 168 Vgl. Rizzolatti, Spiegelneurone, 166 f.; 175 f. 169  Rizzolatti, Spiegelneurone, 188. 166

3.2  Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie

137

scheinen je für das konkrete Erleben auch spezifische Kortexareale mit beteiligt zu sein. SN aber seien der neuronale Code, mit dem Anderen in Resonanz zu sein und bilde den Teil des Verstehens des Anderen, der die emotionale Färbung intersubjektiven Verstehens ausmacht. Somit seien SN nicht der einzige Weg des Verstehens, aber immerhin der Weg für eine Teilhabe am Erleben des Anderen, der über ein rein kognitives, oftmals als kalte Empathie bezeichnetes Verstehen hinausginge. Insofern sei dies als Grundvoraussetzung für empathisches Verhalten zu sehen und auch für Mitgefühl, einer weiteren empathischen Emotion, die sich in der Folge ausbilden könne.170 Mit dieser Anordnung konzeptualisiert Rizzolatti Empathie als Zwei-Wege-Modell: Auf der einen Seite steht der kognitive, kalte, mittelbare Weg des Verstehens des Anderen, auf der anderen der warme, emotionale, unmittelbare Weg der Resonanz, der durch das SNS realisiert wird. Diese zwei Wege werden als trennbar verstanden, sodass der eine auch ohne den anderen gangbar ist, aber auch im Sinne komplementärer Komponenten zu verknüpfen sind. Hinter der Benennung der Resonanz als emotionale Färbung des Verstehens kommt die Bewertung dieser Variante als die gleichsam bessere Hälfte der Empathie zum Vorschein. Das Zwei-Wege-Modell findet eine etwaige Entsprechung im Komponentenmodell von Empathie, das etwa durch Singer et al. vertreten wird. Daran wird deutlich, dass es sich zwar einerseits um ein alternatives Erklärungsmodell für das Phänomen Empathie handelt, dass aber zugleich beide Modelle nicht vollständig auseinanderfallen und sich sogar an mancher Stelle integrativ miteinander verbinden ließen. Ob die abschließende Klärung nun durch ein methodisches, hermeneutisches oder faktisches Problem verhindert wird, lässt sich hier selbstverständlich nicht entscheiden. Solange aber die Spiegelneuronhypothese sich nicht auf gesicherte empirische Füße stellen lässt, wäre es gewiss zielführender, den Diskurs mit weniger euphorischem Pathos auf der einen Seite und weniger Marginalisierungsdrang auf der anderen Seite fortzuschreiben.

Mit dieser starken Fokussierung auf den Resonanzaspekt, den Rizzolatti und Kollegen in der Funktion der Spiegelneuronen erkennen, ist zugleich ein weiterer thematischer Rahmen von Empathie eingeführt, der durch die Soziologie vertreten wird. Empathie wird dabei als soziales Geschehen thematisch. Anders als Psychologie und Neurowissenschaften die Innenseite dieses sozialen Geschehens verstehen wollen, interessiert die Soziologie primär die Außenseite des Geschehens. Damit befinden wir uns in einem Bereich, in dem Empathie als Handeln thematisch wird. Mit dieser Perspektive ist notwendig verbunden, den bisherigen Fokus von intrasubjektiven Prozessen, wie sie für Psychologie und Neurowissenschaften zentral sind, auf intersubjektive Prozesse zu lenken.

3.2  Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie Soziologie, so definiert Max Weber, hat grundlegend zur Aufgabe, soziales Handeln deutend [zu] verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären […]. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln  Vgl. Rizzolatti, Spiegelneurone, 187 ff.; 191.

170

138

3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.171

Dieses wechselseitig aufeinander bezogene Verhalten von Akteuren konstituiert sich durch die Lebenswelt, die sie umgibt, d. h. es speist sich nicht ausschließlich aus der geistigen Innenwelt eines Subjekts, sondern wird durch die aktuale Relationalität bedingt, die aus der Einbettung eines Individuums in seinen sozialen und kulturellen Kontext hervorgeht: Denn die Idee des Soziologischen beginnt dort, wo der Grund des Verhaltens nicht mehr deren innerer Unendlichkeit entnommen wird, sondern den sozialen Kontexten und Gewohnheiten, den Kulturbedeutungen von Zeichen und Praktiken, den sozialen Lagerungen und Zwängen […].172

Empathie in soziologischer Perspektive zu untersuchen heißt, sie im Lichte dieses soziologischen Grundgedankens zu betrachten, als aus der Relationalität eines aktualen sozialen Geschehens hervorgehendes Phänomen. Innerhalb der Soziologie ist eine umfassende Empathie-Theorie bislang noch nicht erschienen, was als Desiderat an dieser Stelle aufzuzeigen ist. Dagegen existiert gleich eine ganze Reihe von Inanspruchnahmen des Begriffs oder auch des Konzepts der Empathie durch sehr unterschiedliche Teilgebiete der Soziologie, die auf Makro-, Mikro‑ oder Mesoebene liegen können. Keine dieser Theorien erhebt den Anspruch, Empathie als solche zu erklären, sondern Empathie bzw. ihre Anteile kommen je in einem eigenen theoretischen Kontext zur Darstellung. Mit der Konsultation spezifischer Theorien wird das Ziel verfolgt, Empathie als jenes relationale Phänomen menschlicher Sozialität eingehender zu verstehen.173 Im Folgenden sollen zum einen drei Theoriekontexte zu kurzer Darstellung kommen, die Empathie als kognitives Phänomen soziologisch betrachten: Die Theorie des Symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead, die Systemtheorie von Niklas Luhmann und die Praxistheorie von Pierre Bourdieu. 171  Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Soziologie, Unvollendet 1919–1920, hg. v. Borchardt, Knut/Hanke, Edith/Schluchter, Wolfgang, Tübingen 2013, 149. 172 Vgl. Nassehi, Armin: Mentalizing Theories oder Theories of Mentalizing? In: Förstl, Hans (Hg.): Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens, Berlin/Heidelberg ²2012, 39–52, hier: 40; 41. 173 Neben den hier konsultierten Theorien hat das Empathiephänomen in einer Vielzahl von Anwendungsfeldern der Soziologie Platz gefunden. Einige wenige sollen dabei genannt werden: 1. Empathie und Politik bzw. Geschichtsbewusstsein (vgl. Pedwell, Carolyn: Affective Relations. The Transnational Politics of Empathy, New York 2014; vgl. Assmann, Aleida: Empathy and Its Limits, New York 2016); 2. Empathie und Social Engineering bzw. KI (vgl. Hadnagy, Christopher: Die Kunst des Human Hacking. Social Engineering, Deutsche Ausg., Heidelberg/Hamburg 2011; vgl. Dumouchel, Paul/Damiano, Luisa: Living with Robots, Cambridge/Mass.; London 2017); 3. Empathie und Ökologie (vgl. Wagner, Helmut J.: Der Homo Empathicus. Ein Leitbild für die humanökologische Neuordnung einer nachhaltigen Gesellschaft, München 2013); 4. Empathie und Fremdkultur (vgl. Rodenberg, Hans-Peter: Interkulturelle Wahrnehmung zwischen Angst, Neugier und Empathie, Gießen 2019).

3.2  Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie

139

Diese drei zeigen zum einen die soziologische Bedeutung von Empathie auf und finden zugleich immer wieder auch Eingang etwa in den entwicklungspsychologischen Diskurs über Empathie, wie er hier bereits dargestellt wurde. Zum anderen soll eine Theorie eingehender betrachtet werden, die eine besondere semantische Nähe zu Empathie hat und eher Empathie als affektives Phänomen in den Blick nimmt: Die Resonanz-Theorie des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa. 3.2.1  Empathie als kognitive Bedingung für Identität und Sozialität a. Symbolischer Interaktionismus.  Ein erster Theoriekontext, in dem Empathie in ihrer kognitiven Form eine zentrale Rolle einnimmt, ist der Symbolische Interaktionismus, eine Denkrichtung, die auf den amerikanischen Sozialpsychologen George Herbert Mead (1863–1931) zurückgeht.174 Als Theorie der Entwicklung menschlicher Identität geht diese davon aus, dass die Identitätsbildung als reflexiver Akt zu verstehen ist, der aber nicht das Subjekt als identitätsbildende Instanz schon voraussetzt. Vielmehr entwickelt sich Identität in kontinuierlicher sozialer Interaktion zwischen I und Me, den beiden Anteilen des Selbst. Das Me ist der Teil des Selbst, der sich aus einer Anzahl von Perspektiven und Rollen konstituiert, die von anderen Personen, d. h. von generalisierten Anderen175 übernommenen werden (soziale Identität). Diese wirken auf das I ein, indem bestimmte Ansichten, Haltungen und Überzeugungen, die diesen übernommenen Perspektiven inhärent sind, angenommen werden.176 Diesem Prozess liegt die Annahme von einer Gruppe jeweils Anderer zugrunde, bei deren übernommenen Perspektiven dieser soziale Prozess einsetzt. Das I tritt dabei aber nicht als ein bewusster Anteil des Subjekts in Erscheinung, sondern ist ein vorreflexives, vorsoziales Ich (emergente Reaktionen), das auf das Me reagiert. In diesem sozialen Prozess zwischen vorreflexivem I und Perspektiven übernehmendem Me bildet sich die Identität heraus und dabei erst das Bewusstsein.177 Im Horizont dieser Theorie fußt die Entwicklung von Identität auf dem Prinzip der ständigen Perspektiv‑ und Rollenübernahme: Eine Person befindet sich selbst in der Rolle der anderen Person, die sie auf diese Weise anregt und beeinflusst […] Diese Übernahme der Rolle anderer […] ist nicht nur zeitweilig wichtig. Die unmittelbare Wirkung dieser Übernahme einer Rolle liegt in der Kontrolle, die der Einzelne über seine eigenen Reaktionen ausüben kann.178

174 Vgl.

Abels, Heinz: Soziale Interaktion, Wiesbaden 2020, 70.  Vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft – aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, hg. v. Morris, Charles W., Frankfurt/M. 2017, 196. 176  Vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 216 f. 177 Vgl. Abels, Soziale Interaktion, 93 ff.; vgl. Nassehi, Mentalizing Theories, 41 ff. 178  Vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 300 f.; vgl. Abels, Soziale Interaktion, 89 f. 175

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

Damit ist jedoch die kognitive Empathie nicht etwa ein Folgeprozess eines existierenden subjektiven Bewusstseins, wie wir es mit dem Spiegelbildexperiment im entwicklungspsychologischen Teil dieser Arbeit kennengelernt haben; dort war vom Selbst-Bewusstsein als kognitiver Voraussetzung für die Fähigkeit zur Perspektivübernahme die Rede. Hier aber wird kognitive Empathie in Form von Perspektivübernahme zur Voraussetzung von Ich-Bewusstsein erhoben. Spitzt man diese Schlussfolgerung weiter zu, so ist kognitive Empathie nicht nur die Voraussetzung von Identitätsbildung, sondern auch für Sozialität als solche, wird, mit der Theorie Meads gesprochen, „als ein stetes wechselseitiges mentalizing von Akteuren [verständlich], die dadurch je füreinander erst Akteure werden“.179 Dieser Prozess des Mentalisierens, als das kognitive Empathie häufig auch bezeichnet wird, durchsetzt gleichsam die Dynamik alltäglichen Handelns, in explizit-bewusster oder implizit-intuitiver Weise. Dabei gibt Nassehi allerdings zu bedenken, dass viele routinierte Handlungsabläufe des empirischen Alltags auf funktionaler Ebene nicht der Mentalisierung bedürfen, um überhaupt stattfinden zu können. Wo immer aber Handeln von diesen Routinen abweiche, sei es die menschliche Geistesbegabung, die aus der Distributionspraxis der Theory of Mind bzw. des Mentalisierens, also der kognitiven Fähigkeit, dem Anderen geistige Zustände zuzuschreiben, Handlung generiert.180 b. Systemtheorie.  Eine Theorie, die von einer ähnlichen funktionalen Reichweite kognitiver Empathie ausgeht, ist die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998). Kerngedanke der Systemtheorie ist die Annahme autopoetischer sozialer Systeme181, als deren strukturelle Verbindung Kommunikation fungiert. Kommunikation, wie sie zwischen sozialen Systemen stattfindet, ist in kommunikativen Ereignissen verfasst. Dabei knüpfen einzelne kommunikative Ereignisse nicht unmittelbar an die inneren Funktionsweisen der sozialen Systeme an, sondern immer nur an andere kommunikative Ereignisse. Was hier also kommuniziert, sind nicht die einzelnen sozialen Systeme, sondern die Kommunikation selbst. Damit ist sie selbst ein strukturell emergentes System, das aus der Systemstruktur der sozialen Welt hervorgeht.182 Bezieht man nun den systemtheoretischen Kerngedanken auf (kognitiv‑)empathische Prozesse einzelner Subjekte, so sind jene kommunikativen Ereignisse zwischen sog. psychischen Systemen zu betrachten. Welche Rolle nimmt dabei nun die kognitive Praxis der Mentalisierung, der kognitiven Empathie also, ein? Nassehi geht davon aus, „dass Mind stets als eine Unterstellung der  Nassehi, Mentalizing Theories, 43.  Vgl. Nassehi, Mentalizing Theories, 44. 181  Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 172018, 59 f.; 602 ff. 182  Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 193; 198 ff.; vgl. Nassehi, Mentalizing Theories, 44 f.: vgl. Abels, Soziale Interaktion, 314 ff. 179 180

3.2  Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie

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Kommunikation innerhalb des sozialen Geschehens vorkommt“183. Die gleichsam autopoetische Substanz psychischer Systeme sind also zunächst Bewusstseinsinhalte. Diese werden, entsprechend dem Kerngedanken der Systemtheorie, nicht selbst Gegenstand von kommunikativen Ereignissen, insofern sie je in ihrer autopoetischen Verfasstheit für andere beteiligte psychische Systeme unzugänglich sind. Diese Intransparenz der Systeme unterliegt in Situationen, in denen zwei Akteure sozial handeln, der Funktionslogik der doppelten Kontingenz: Das Verhalten beider Parteien ist kontingent, weil der Geist des jeweils Anderen für den eigenen Geist intransparent ist und Geist insofern als jene Unterstellung von Kommunikation zu betrachten ist.184 Für soziales Handeln aber sind beide Seiten auf die Berechenbarkeit des an sich kontingenten Verhaltens des Anderen angewiesen. Soziales Handeln setzt also eine Theory of Mind voraus, wie sie oben als Zuschreibung von Wünschen, Motiven, Intentionen etc. beschrieben wurde; subjektive Gehalte des Bewusstseins (in der psychologischen Darstellung war von mentalen Zuständen die Rede) müssen dem jeweils Anderen zugeschrieben werden, damit das eigene Verhalten sich daran anschließen bzw. jenes einbeziehen kann. Damit hat die ToM in der Logik der Systemtheorie subjektkonstituierende Bedeutung. Dies umfasst zwei Funktionsaspekte: 1. Die ToM bzw. Mentalisierung ist Instrument zur Attribuierung und Antizipation, insofern durch sie soziales Wissen generiert und soziales Handeln daran angepasst wird. 2. Die ToM ist kommunikatives Instrument zur Ambiguitäts-, Komplexitäts‑ und Kontingenzbewältigung sozialer Prozesse. Der Andere erscheint in seiner „intransparenten inneren Unendlichkeit“, die durch die ToM zu „eingeschränkter Uneindeutigkeit“ wird, sodass kommunikative Ereignisse nicht vor die Totalität jener inneren Unendlichkeiten gestellt sind. Kognitive Empathie ist damit im Kontext der Systemtheorie ein hermeneutischer Algorithmus systemverbindender Kommunikation.185 c. Praxistheorie.  Ein Theorieansatz, der sich dagegen mit der umgekehrten Auswirkung sozialer Strukturen auf menschliches Handeln auseinandersetzt, ist die Praxistheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1939–2002). Die Grundidee dieser Theorie ist, dass soziales Handeln nicht im subjektiven Innenleben eines Individuums gründet und aus diesem als Ergebnis hervorgeht, sondern aus der verkörperten Beteiligung von Akteuren an sozialen Praxen. Dasjenige Wirkungsprinzip, das diese Praxis bedingt, nennt Bourdieu Habitus, ein immanentes Muster, das Akteure in ihrer Abstimmungspraxis prägt.186 Dieses entsteht innerhalb sozialer Räume, indem Formen des Wahrnehmens und  Nassehi, Mentalizing Theories, 45.  Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 560; vgl. Abels, Soziale Interaktion, 317 ff. 185  Vgl. Nassehi, Mentalizing Theories, 45 f. 186  Vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 9 2015, 97 f.; vgl. Abels, Soziale Interaktion, 351 ff. 183 184

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

Handelns habitualisiert, d. h. durch verkörperte Praxis gefestigt werden. Ein Habitus ist präreflexiv, ihn „findet der Akteur […] immer schon vor, weil er sich immer schon irgendwie und irgendwo vorfindet“187: Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs‑ und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken […] vorauszusetzen […], ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein […].188

Der soziale Sinn eines solchen Habitus ist dabei nicht inhaltlicher Natur, es geht nicht um Aushandlung von inhaltlichen Standpunkten, sondern sein Sinn besteht funktional in der praktischen Reproduktion von Praxis selbst. In Praxis sieht Bourdieu also einen sozialen Ort, an dem sich beteiligte Akteure notwendigerweise auf eine solche habituelle Herausbildung verwiesen sind, um die gegebene Situationspraxis zu reproduzieren.189 Wenn nun soziales Handeln einzelner Akteure dem je vorfindlichen Habitus nachgeordnet ist, weil die Akteure selbst sich erst aus diesem konstituieren, welche Konsequenzen hat dies für eine Theory of Mind? Während nach intuitivem Verständnis soziales Handeln als Ergebnis einer Theory of Mind erscheinen könnte, ist es in Bourdieus Theorie genau umgekehrt: Die ToM bzw. Mentalisierungsprozesse spielen durchaus eine zentrale Rolle in der subjektiven Wahrnehmung von sozialem Geschehen, insofern Akteure einander eine Motiv‑ und Überzeugungswelt unterstellen. Die Zuschreibung mentaler Zustände wird aber nicht durch eine ToM generiert. Vielmehr ist sie Produkt der habitualisierten, also auf Habitus basierenden und eingeübten Praxis und wird dann als unterstellte Erlebenswelt des Anderen im Individuum repräsentiert.190 Mentalisierungsprozesse sind damit für Bourdieu keine Konstituenten sozialen Handelns, sondern haben ihren Platz in der Erfahrbarkeit sozialen Handelns. Sie stellen damit kein hermeneutisches Instrument dar, wie es bei Luhmann deutlich wurde, sondern erscheinen als Vorgang, in dem sich habitualisierte soziale Praxis selbst ausweist und mithin als eine Manifestation sozialer Praxis.191 Alle drei hier in gebotener Kürze vorgestellten soziologischen Theoriekontexte haben auf menschliches soziales Handeln geblickt. Empathie wurde dabei in ihrer Rolle einer kognitiven Geistesfunktion dargestellt: In der Theorie Meads als konstituierendes Prinzip von Identitäts‑ und Bewusstseinsentwicklung, als 187 Nassehi,

Mentalizing Theories, 49.  Bourdieu, Sozialer Sinn, 98 f. 189  Vgl. Nassehi, Mentalizing Theories, 48 f. 190 Vgl. Abels, Soziale Interaktion, 363 f. 191  Vgl. Nassehi, Mentalizing Theories, 49 f.; vgl. Abels, Soziale Interaktion, 357; 361 f. 188

3.2  Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie

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hermeneutischer Algorithmus von Kommunikation bei Luhmann und schließlich als Ergebnis sozialer Praxis bei Bourdieu. Neben diesen kognitiven Funktionen soll nun eine Theorie eingehender beleuchtet werden, die Empathie in ihrer affektiven Form thematisiert. Dabei soll ihre qualitative Rolle für die Beziehung von Individuen zur Welt im Fokus stehen. 3.2.2  Empathie als affektive Form des resonanten Weltverhältnisses Eine Theorie, die eine besondere Nähe zum Thema der Empathie hat, ist die Resonanztheorie des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa. Ihnen ist grundlegend gemein, dass sie die Frage nach dem guten Leben stellen192 und dabei ein Phänomen in den Blick nehmen, das im sozialen Beziehungsraum liegt, nämlich zwischen Subjekt und Welt; ein anderes Subjekt wird dabei verstanden als Teil dieser Welt. Wenn zunächst Resonanz und Empathie als zwei Konzepte mit besonders großer Schnittmenge wahrgenommen werden, hat dies einen fundierten Grund: Der theoretische Zugang zum Resonanzphänomen ist freilich von einem zunächst primär deskriptiv orientierten soziologischen Motiv getragen. Das Gelingen von Leben wird dabei an das Gelingen, also die Qualität der Beziehung zwischen Subjekt und Welt gekoppelt und nicht etwa an die Menge oder Potenz hinsichtlich der Akkumulation von Ressourcen.193 Mit den Begriffen Resonanz und Entfremdung wird in der Tradition Kritischer Theorie versucht, gelingende Weltbeziehung am „Grad der Verbundenheit mit und der Offenheit gegenüber den Menschen (und Dingen)“194 auszumachen. Dagegen ist der in dieser Arbeit versuchte theoretische Entwurf letztlich normativ-ethisch orientiert. Das Phänomen der Empathie wird dabei als intersubjektives Gewahren des Erlebens eines Anderen konzeptualisiert und umfasst dabei eine bestimmte innere Ausrichtung auf das intersubjektive Verhältnis. Von dort aus werden normative Implikationen von Empathie exploriert werden. In der Betrachtung der Art, mit Welt bzw. dem Anderen in Beziehung zu sein, finden beide Phänomene und Theorien ihre inhaltliche Schnittmenge. Diese näher zu bestimmen, wird Aufgabe der folgenden Darstellung sein mit dem Ziel, Empathie selbst noch präziser zu verstehen und aus dem Verhältnis von Resonanz und Empathie in einem späteren Schritt auch normative Schlüsse abzuleiten. Zunächst aber sei der Blick auf den Resonanzbegriff selbst gewendet. Resonanz, wie sie als soziologisches Phänomen betrachtet wird, bildet eine metaphorische Entlehnung aus der Betrachtung von Resonanz als physikalischem 192  Vgl. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Wissenschaftliche Sonderausgabe, Berlin 2018, 58. 193  Vgl. Rosa, Resonanz, 53; 58. 194  Rosa, Resonanz, 53.

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

Phänomen. Resonare ist der lateinische Ausdruck für widerhallen, ertönen und beschreibt einen gegenseitigen Vorgang zwischen zwei schwingungsfähigen Körpern, die jeweils die eigentätige Schwingung des Anderen evozieren und ihrerseits auf diese antworten (Responseresonanz). Eigentätig meint, dass die jeweils antwortende Resonanz in der jeweils eigenen Frequenz erfolgt und fortan eigenständig hervorgebracht wird. In der Folge können dann verschiedene Effekte entstehen: Beide Körper können sich auf eine gemeinsame Frequenz einschwingen (Synchronresonanz), sie können sich wechselseitig verstärken (Resonanzverstärkung) oder eine Reaktion kann stärker sein als der Auslöser. Dieser Modus physikalischer Relationalität, wie er etwa bei Metronomen oder Stimmgabeln zu beobachten ist, wird von Rosa für einen soziologischen Resonanzbegriff entlehnt:195 Von Resonanz ist nach Rosa dann zu sprechen, wenn die Bezugnahme eines Subjekts zur Welt bzw. zum anderen Subjekt einen besonderen Modus annimmt: zwei schwingungsfähige Körper, d. h. hier Subjekte bzw. Entitäten, treten in eine Beziehung gegenseitiger Responsivität. Dabei wird – ganz analog zur physikalischen Resonanz  – das Schwingen jedes beteiligten Subjekts einerseits durch den Resonanzpartner evoziert und ist insofern von ihm beeinflusst, kommt andererseits fortan aber in seiner „eigenen Stimme“ zur Geltung (s. o. Eigentätigkeit). Diese Entwicklungsmöglichkeit des eigentätigen Schwingens liegt im Resonanzraum begründet, einem Raum, in dem sich dieser Beziehungsmodus aus sich selbst heraus entwickeln kann, ohne erzwungen zu werden. Resonanz ist damit sowohl von Echo bzw. mechanischer Ursächlichkeit zu unterscheiden, bei denen das Phänomen durch den schlicht gleichen Widerhall oder die lineare Verursachung einer Folgehandlung durch den auslösenden Körper zustande kommt, als auch von bloßen Gefühlszuständen. Resonanz, wie Rosa sie versteht, ist ein Beziehungsmodus, „eine spezifische Art und Weise des In-Beziehung-[Seins] zwischen Subjekt und Welt (aus der […] beide erst ihre Gestalt gewinnen)“. Die spezifisch resonante Relationalität wird aus der Perspektive des erlebenden Subjekts vor allem aber als besondere Qualität des InBeziehung-Seins erfahren, die als existenzielles Angesprochensein, als unbedingte Intensität oder auch als Ergriffenheit paraphrasiert werden kann.196 Dabei ist unerheblich, ob dieses Angesprochensein/In-Schwingung-Kommen eine positive oder eine negative Ausprägung annimmt. So ist gleichermaßen eine Resonanz eingetreten, wenn jemand vor Freude oder aber aus Verzweiflung weint. Unabhängig zunächst von einer situativen Emotion, welche die Resonanzerfahrung begleitet, liegt Resonanz in diesem Beispielgeschehen im Dass des Angesprochenseins von einem Teil der Wirklichkeit. In diesem Angesprochensein ist dann

195 Vgl.

Rosa, Resonanz, 282 ff.  Rosa, Resonanz, 283 f.; 285 f.; 288 f.; 291; 296.

196

3.2  Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie

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ein „momenthafter Dreiklang aus konvergierenden Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt“ gegeben.197 Resonante Weltbeziehungen bilden sich in spezifischen Resonanzsphären aus, die man alltagssprachlich als Lebensbereiche reformulieren kann. Verstetigen sich Resonanzerfahrungen in spezifischen Sphären, so spricht Rosa von Reso­ nanzachsen, in denen Individuen eine relativ stabile Resonanzgewissheit haben. Resonanzsphären und ‑achsen sind dabei grundsätzlich zum einen individuell und zum anderen dynamisch: So ist es durchaus unterschiedlich, mit welchen und mit wie vielen Ausschnitten der Welt ein Individuum Resonanzerfahrungen macht, was nicht zuletzt in Abhängigkeit vom kulturellen Kontext geschieht; zugleich sind dabei aber auch verstetigte individuelle Resonanzachsen Schwankungen und Veränderungen unterlegen, die durch alle denkbaren Veränderungen auf beiden Seiten, der Seite des Subjekts und der Seite der Welt, bedingt sein können. Bei dem Versuch einer Systematisierung macht Rosa durchaus aber überindividuelle Achsen und Sphären aus: Auf der horizontalen Achse (soziale Beziehungen) liegen die Sphären Familie, Freundschaft und Politik, auf der diagonalen Achse (Dingbeziehungen) Objektbeziehungen, Arbeit, Schule sowie Sport und Konsum und auf der vertikalen Achse (Beziehungen zur Welt als Ganzer) Religion, Natur, Kunst und Geschichte.198 Über den Aspekt der überdauernden Resonanzachsen hinaus stellt Rosa jedoch die phänomenale Momenthaftigkeit von Resonanz als besonders zentral heraus. Denn Resonanz, so Rosa, erhelle sich nur im Lichte ihres eigenen Gegenteils. Als dieses Andere führt er den Begriff der Entfremdung ein. Während Resonanz das unbedingte Angesprochensein in der Subjekt-Welt-Beziehung meint, das ein Subjekt mitschwingen lässt, ist im gegenteiligen Falle der Entfremdung von einer ausbleibenden Responsivität, von der Unverbundenheit oder sogar von der Beziehungsverweigerung bzw. gegenseitigen Abstoßung (Repulsion) zwischen Subjekt und Welt zu sprechen.199 Diese Situation der Entfremdung beschreibt Rosa als charakteristisch für die gegenwärtige Realität. In seiner Rekonstruktion der Krise der Moderne weist er resonanztheoretisch auf, wie mit der Steigerungslogik dynamischer Stabilisierung ein „Weltverstummen“ einhergeht, das sich in erheblicher Weise in zentralen Resonanzsphären beobachten lässt.200 Resonanz und Entfremdung nun hängen nicht einfach als Gegenbegriffe zusammen, sondern stehen in dialektischem Verhältnis:201 Während der Zustand der Entfremdung einen überwiegenden Teil der Weltverhältnisse kennzeichnet, ist Resonanz das „momenthafte Aufscheinen, das Aufleuchten einer Verbindung  Vgl. Rosa, Resonanz, 288; 291.  Vgl. Rosa, Resonanz, 296; 331 f. 199  Vgl. Rosa, Resonanz, 306. 200  Vgl. Rosa, Resonanz, Kapitel 15.1. 201  Vgl. Rosa, Resonanz, 315. 197 198

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

[…] in einer überwiegend schweigenden, oft repulsiven Welt“202. Resonanz braucht für ihre eigene Entfaltung die grundlegende, deutlich häufigere Erfahrung stummer Weltverhältnisse. Auf diese Weise wurzelt Resonanz in Entfremdung im Moment der Aufhebung, in dem sie als solche überhaupt wahrnehmbar wird.203 Jene momenthafte Aufhebung des Verstummens impliziert zugleich aber ein „Moment der Unverfügbarkeit“, das der Resonanzerfahrung grundlegend eingeschrieben ist. Eine Erfahrung gleichsam echter Resonanz ist nur möglich, wenn sie sich der Kontrolle des Subjekts auf diese Weise entzieht; anderenfalls gleicht die Resonanzerfahrung einer Resonanzsimulation. Resonanzerfahrungen sind vielmehr als „Ausdruck gelingender Anverwandlung von Welt“204 zu betrachten, nicht aber deren aktive, gesteuerte Inanspruchnahme. Insofern ist Resonanz nicht zu verwechseln mit herbeigeführter Harmonie, Ordnung oder Einklang.205 Neben einem natürlichen Resonanzbegehren, das Rosa für die menschliche Existenz konstatiert, ist es die Grundhaltung des Resonanzvertrauens als Akzeptanz jener Unverfügbarkeit, die unabdingbar ist, um Resonanz zu erfahren.206 Damit stellt sich zugleich aber unmittelbar die Frage nach der angelegten normativen Dimension der Resonanztheorie. Wozu will sie uns auffordern angesichts dieser konzeptuellen Beschreibungen von Resonanz und Entfremdung? Durch die beschriebene Dialektik beider Begriffe geht es Rosa nicht darum, ein düsteres Entfremdungsszenario einer heilsbringenden Resonanz gegenüberzusetzen und in dessen Folge ein Votum für die Hervorbringung möglichst zahlreicher und umfassender Resonanzerfahrungen auszusprechen, die sich dann letztlich der kritischen Betrachtung ob ihrer Individualität und Unverfügbarkeit entziehen. Vielmehr ist die Resonanz‑ und Entfremdungsdiagnose die Beschreibung einer Grundstruktur der Moderne, vor deren Hintergrund es normativ darum geht, soziale und individuelle Bedingungen der Verstetigung von Resonanzachsen in den Blick zu nehmen. Dabei wird analysiert, „ob und in welchem Maße, mit welcher Stabilität und bis zu welcher Tiefe eine soziale Formation oder ein institutionelles oder kulturelles Arrangement die Herausbildung und Sicherung von Resonanzachsen ermöglicht und fördert oder hemmt, verhindert und blockiert“.207 Damit stehen vor allem Resonanzfähigkeiten im Fokus der analytischen Betrachtung: Es kommt etwa Resonanz‑ und Entfremdungssensibilität in den Blick, die gefördert werden kann, das oben erwähnte

202 Rosa,

Resonanz, 317. Rosa, Resonanz, 322. 204  Rosa, Resonanz, 318. 205  Vgl. Rosa, Resonanz, 295 f.; 319. 206 Vgl. Rosa, Resonanz, 294; 325. 207  Rosa, Resonanz, 297. 203 Vgl.

3.2  Empathie im Kontext sozialen Handelns. Perspektiven der Soziologie

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Resonanzvertrauen als hoffnungsvolle Offenheit für Resonanzerfahrung oder dispositionelle Resonanz als Grundhaltung zu Resonanzerfahrungen per se.208 Inwiefern hilft uns aber nun Rosas Resonanztheorie beim Verstehen von Empathie? Wie es eingangs bereits angeklungen ist, haben die Phänomene Empathie und Resonanz vor allem gemein, dass sie beide eine Art darstellen, mit der Welt bzw. dem Anderen in Beziehung zu sein. Ihre genaue Verhältnisbestimmung vermag nun, Empathie als Beziehungsqualität auch von soziologischer Seite aus zu betrachten. Mit einem vergleichenden Blick auf die Phänomenebene sind Empathie und Resonanz von gleicher Art, insofern beide eine spezifische Art des Zugangs zum Anderen bzw. zur Welt bezeichnen. In beiden drückt sich eine Beziehungsqualität aus, die mit besonderer Intensität verbunden ist und von der in Rosas Theorie nicht weniger als das Gelingen von Leben abhängt. Zudem nennt Rosa selbst beide Phänomene Prädispositionen „gegenüber allem, was als Welt begegnen kann [und so bilden sie die] Grundlage der Herausbildung von Subjektivität, Erkenntnisfähigkeit und Handlungsfähigkeit“209. Diese funktionale Zuschreibung ist bereits in der obigen Definition angeklungen und konkretisiert neben der intersubjektiven Bedeutung auch die subjektkonstituierende Bedeutung von Resonanz und Empathie und weist ihnen damit einen anthropologischen Rang zu, dessen grundsätzlicher Wert kaum zu überschätzen ist. Im Verhältnis zueinander sind beide Phänomene gleichgerichtet, d. h. in relevanten Situationen gehören Empathie und Resonanz bzw. Empathielosigkeit und Entfremdung semantisch und faktisch zusammen, ohne dass sie aber notwendig immer zusammen auftreten müssten oder sich gar proportional zueinander verhielten. In der chiastischen Betrachtung also schließen Empathie und Entfremdung bzw. von Resonanz und Empathielosigkeit einander aus – ist doch keine Situation denkbar, in der es Empathie und eine verstummte Beziehung oder von Resonanz und vollständiger Empathielosigkeit gäbe.210 In der parallelen Betrachtung lässt sich dann Empathie als eine Form von Resonanz, spezifisch von resonanter Intersubjektivität verstehen: „In Form von Sympathie‑ und Empathiefähigkeit erzeugt und signalisiert Resonanz Interaktions‑ und Kooperationsverlangen und mithin soziales Kapital.“211 Zwischenfazit Bei dem Versuch Rosas, gelingendes Leben soziologisch, d. h. unter Betrachtung der Wirkzusammenhänge sozialer Beziehungen, auszuloten, nimmt Rosa den Modus in den Blick, mit der Welt bzw. anderen in Beziehung zu sein. Dabei  Vgl. Rosa, Resonanz, 294 ff.; 324 f.  Rosa, Resonanz, 593. 210  So ist auch Rosa zu verstehen, vgl. etwa 371; 664. 211  Rosa, Resonanz, 58. 208 209

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

leitet er aus dem physikalischen Phänomen der Resonanz von Körpern ab, was Resonanz zwischen Subjekt und Welt (darin ist der Andere enthalten) bedeutet: Subjekte bzw. Entitäten treten in eine Beziehung gegenseitiger Responsivität, die durch das jeweilige Gegenüber ausgelöst wird, wobei aber fortan jede Entität in Eigentätigkeit schwingt. In dieser Responsivität realisiert sich ein bestimmtes existenzielles Angesprochensein von einem Teil dieser Wirklichkeit; in der Verstetigung dieser Responsivitätserfahrung können sich stabile Resonanzachsen ausbilden. Das Resonanzphänomen als solches aber wird erst durch die dialektische Beziehung zu ihrem eigenen Anderen, der Entfremdung verständlich. Entfremdung, die nach Rosa als Charakteristikum der modernen Wirklichkeit zu gelten hat, beschreibt die nicht-responsive, d. h. beziehungslose oder auch konkret repulsive Beziehung des Subjekts zu einem Teil der Wirklichkeit. Im Moment der Aufhebung treten momenthaft Resonanzerfahrungen auf, die vor dem Hintergrund einer weitgehend als stumm erfahrenen Welt aufscheinen. Empathie und Resonanz sind nun in ein spezifisches Verhältnis zu bringen, insofern ein Beziehungsmodus beschrieben wird, der eine Qualität von Beziehung einerseits und eine Prädisposition der Subjektkonstitution andererseits bezeichnet. Im Horizont der parallelen Gerichtetheit beider Phänomene lässt sich Empathie schließlich als Ausprägung resonanter Beziehung verstehen. Resonanz als Modus des In-Beziehung-Seins ist auch ein zentraler Begriff, wenn der Versuch unternommen wird, das Phänomen Empathie in seiner eigenen Beschaffenheit in den Blick zu nehmen. Um diese Perspektive soll es nun im Folgenden gehen.

3.3  Empathie als intentionaler Prozess verkörperter Intersubjektivität. Philosophische Perspektiven Empathie philosophisch zu reflektieren, gleicht – so ließe sich intuitiv vermuten – der berühmten Quadratur des Kreises, ob der verschiedenen philosophischen Disziplinen, in denen in der Philosophiegeschichte auf dieses Phänomen geblickt wurde. Zu denken wäre etwa an dezidiert ontologische, erkenntnistheoretische, phänomenologische, anthropologische oder sprachphilosophische Perspektiven. Ungeachtet der Fülle möglicher interessanter Blickwinkel soll hier ein spezifischer Entwurf zur Darstellung kommen, der von besonderer Aktualität ist. Dieser Entwurf stammt vom Kölner Philosophen Thiemo Breyer und trägt den Titel Verkörperte Intersubjektivität und Empathie.212 Die Stärke dieser Arbeit liegt in der Komplexität der sachorientierten, gleichsam unaufgeregten Analyse, in der phänomenologische und philosophisch-anthropologische Betrachtungen zusammenlaufen. Auf diese Weise schließt sie unmittelbar an das historische  Breyer, Thiemo: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, Frankfurt/M. 2015.

212

3.3  Empathie als intentionaler Prozess verkörperter Intersubjektivität

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Kapitel an und bietet zugleich einen dichten grundlegenden Ertrag für das Vorhaben der vorliegenden Arbeit. Die von Breyer vorgenommene Untersuchung also nimmt Empathie als Phänomen in den Blick, das konstitutiver Teil des menschlichen Wesens ist. Sein Vorhaben ist damit grundsätzlich philosophisch-anthropologisch motiviert, insofern er Empathie in das kontextuelle Gerüst philosophisch-anthropologischer Grundbegriffe stellt. Nun definiert er Empathie nicht als Gefühl, als Affekt oder Verhalten, sondern als „die Erfahrung des Bewusstseinslebens Anderer“.213 In dieser Definition spiegelt sich der Einfluss phänomenologischer Tradition: Zur einzigen Voraussetzung der Betrachtung eines so definierten Phänomens wird die menschliche Erfahrung gemacht, dass das Erleben anderer Menschen für das eigene Erleben zugänglich ist. Die Frage, die er auf dieser Grundlage als zu behandeln ansieht, ist nun, wie der Andere in der eigenen Erfahrung erscheint, wie also das Phänomen der Erfahrung des fremden Bewusstseins strukturell beschaffen ist.214 Einen ersten Schritt macht Breyer, indem er die phänomenalen Bedingungen der empathischen Erfahrung herausstellt. Dabei kommen zwei Aspekte zum Tragen. Zum einen bildet die Leiblichkeit des Menschen die Möglichkeitsbedingung von Empathie. Unter Leiblichkeit versteht Breyer den Leibkörper des Menschen als „psychophysische Einheit“, in der sich eine 1.-Person‑ und eine 3.-PersonPerspektive vereinen. Die 1.-Person-Perspektive ist dabei die Welt der inneren Subjektivität, die 3.-Person-Perspektive die physische Außenperspektive. Dies nennt er die psychophysische Doppelgestalt von Subjekten, die zusammen ein intersubjektives Geschehen bilden.215 Beide Subjekte sind einander dann im Modus der Zwischenleiblichkeit gegeben, mit der „sich eine wechselseitige leibliche Konstitution in der Spannung von Präsenz und Kompräsenz zwischen Eigenheit und Andersheit ereignet“.216 Eine zweite Bedingung ist mit der leibkörperlichen Expressivität gegeben. Sie bildet den Gestaltungsmodus des zwischenleiblichen Erlebensraumes. Er bedingt das Fremdverstehen und ist so für Intersubjektivität unabdingbar. Dabei wird aber nicht von physisch gezeigten Ausdrücken des Anderen auf einen inneren Gehalt des Ausdrucks geschlossen, sondern es wird immer schon eine expressive Einheit wahrgenommen, in der der Ausdruck mit dem dahinterliegenden Sinn zusammenfällt.217 Die Annahme dieser Einheit ist für Breyer notwendig, um „phänomenale Qualitäten“ der empathischen Situation zur Geltung zu bringen und die Gefahr einzudämmen, dass Empathie in einem kognitivistischen Mechanismus aufgeht und damit auch der Dynamik der Interaktion 213 Breyer,

Empathie, 189.  Vgl. Breyer, Empathie, 190. 215  Vgl. Breyer, Empathie, 42 ff. 216 Breyer, Empathie, 43. 217  Vgl. Breyer, Empathie, 45. 214

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nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Insofern erscheint es ihm dann als sinnvoll, eine 3.-Pers.-Perspektive zugunsten der Integration von 1.‑ und 2.-Pers.Perspektive für die Beschreibung dieses Erlebens aufzugeben.218 Wie aber ist das Phänomen Empathie selbst beschaffen? Breyer unterscheidet drei Ebenen, in die sich das Phänomen gliedern lässt: 1. Ebene – Leibliche Resonanz.  Auf einer ersten Ebene liegt Empathie als leiblichaffektive Resonanz. Hier wird die Empathieerfahrung fassbar unter Zuhilfenahme der Begriffe Atmosphäre und Gestimmtheit: „Die Gestimmtheit ist […] ein Medium, durch das uns die Welt erscheint und durch das wir auch intersubjektive Begegnungen erleben.“219 Dabei sind eine existenzielle, gleichsam grundsätzliche Gestimmtheit und eine situative Gestimmtheit in jedem Moment gegeben. In der situativen Gestimmtheit kommen der umgebende atmosphärische Raum und intersubjektiv entstehende Stimmungen zum Ausdruck. Die oben erläuterte Expressivität ist dabei ein Grundprinzip des zwischenleiblichen Raumes, in welchem der Ausdruck eines jeden Beteiligten spezifisch konstituierende Wirkung hat. Dieser Expressivität eignet auf der je anderen Seite eine „unmittelbar leibliche […] Ausdruckswahrnehmung“ (physiognomische Perzeption).220 Diese unmittelbare Wahrnehmung geht einem kognitiv vermittelten Verstehen von Ausgedrücktem voraus und bildet dessen Grundlage. Sie fußt auf einer leiblichen Resonanzfähigkeit, durch die jene Stimmungen in die Eigenresonanz übersetzt werden. Diese phänomenologisch begründete Resonanzfähigkeit, wie sie Breyer bereits formuliert, ist die exakte Entsprechung zur Resonanz, die Rosa in seiner soziologischen Theorie ausarbeitet, nämlich ein „Sich-affizieren-lassen, dann aber sogleich ein […] Mitschwingen und Sich-Einschwingen auf Wahrnehmungsgestalten und Andere in ihren jeweiligen Ausdruckscharakteren“221 (Synchronisierung).222 Integrale Bestandteile der zwischenleiblichen Resonanz sind das gemeinsame Bezogensein auf ein Thema sowie der Wechsel von Rollen und Perspektiven in der Resonanzkommunikation. Empathie ist auf dieser Ebene also ein Geschehen, das in einem intersubjektiven, genauer in einem zwischenleiblichen  Vgl. Breyer, Empathie, 46 f. Empathie, 48. 220 Breyer, Empathie, 49. 221  Breyer, Empathie, 49. 222  Synchronisierung enthält ein Potenzial zum Missverständnis. Gemeint kann damit nicht sein, dass Interaktionspartner in tatsächlich gleicher Weise wahrnehmen, ausdrücken oder agieren. Vielmehr ist Synchronisierung als Bezeichnung des aufeinander abstimmenden Prinzips zu verstehen, wie Individuen innerhalb des gemeinsam erlebten Interaktionsraumes aufeinander Bezug nehmen, sich insofern synchronisieren. In ihr liegt eine prosoziale Funktion (vgl. Breyer, Empathie, 51). Rosa hat dies nur wenig später ausdifferenziert in Responseresonanz, Synchronresonanz und Resonanzverstärkung. 218

219 Breyer,

3.3  Empathie als intentionaler Prozess verkörperter Intersubjektivität

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Erlebensraum stattfindet, nicht im abgeschlossenen subjektiven Innenraum; „Der Leib dient [dabei] als Mittel einer teilnehmenden Sinnerzeugung.“223 Es zeigt sich an dieser Formulierung Breyers, dass es sich hierbei zugleich aber um eine nicht-reflexive, nicht-intentionale Form des Verstehens handelt, ganz ähnlich also, wie es in der Entwicklungspsychologie und den Neurowissenschaften als intuitive Gefühlsübertragung bzw. als affektive Empathie bezeichnet wurde.224 2. Ebene – Ausdrucksverstehen.  Auf einer zweiten Ebene siedelt Breyer Empathie als das „Verstehen leiblicher Ausdrücke“225 an. Verstehen und Ausdrücke sind dabei näher zu beschreiben: Ob eine Person eine andere versteht, liegt dabei nicht bzw. nicht ausschließlich im subjektiven Empfinden der Beteiligten, sondern ist als hochgradig situatives Produkt zu beschreiben, das phänomenologisch durch spezifische Charakteristika gekennzeichnet ist. Durch sie bestimmt sich die Beschaffenheit des aktualen empathischen Verstehens: a) Das Bezugsobjekt (der Sinngehalt) des empathischen Geschehens ist für beide Beteiligten das Gleiche, d. h. es ist zugleich der Grund für den Ausdruck des Anderen und das Bezugsobjekt des Ausdrucksverstehens. b) Bei den beteiligten Subjekten gibt es in Bezug auf den Sinngehalt ein unterschiedliches Empfinden. c) Das Bezugsobjekt kann den Beteiligten unterschiedlich gegeben sein. Der Empathisierende kann entweder selbst Zeuge des Auslösers sein, der den Ausdruck beim Anderen bedingt oder den Auslöser nur mittelbar vor Augen haben, etwa durch eine Erzählung. Zudem kann die Nähe der Beteiligten zum Bezugsobjekt unterschiedlich sein, etwa die Nähe zu einem verstorbenen Menschen. d) Eine besondere Bedeutung kommt zudem der Kontextualität des Geschehens zu. Diese Kontextualität stiftet den empathischen Horizont, an dem sich das Verstehen und mithin die aktuale Empathie mit formiert. Zu diesen kontextuellen Bedingungen gehören der jeweilige bisherige Erfahrungskontext der beteiligten Personen, das Erfahrungsspektrum miteinander sowie die Informationen, die die Beteiligten über den situativen Kontext haben.226 Unter Ausdrücken versteht Breyer die im zwischenleiblichen Raum gelegenen Gegenstände von Verstehen. In ihnen kommen unterschiedliche individuelle Sinngehalte zum Ausdruck, sodass das Verstehen zum einen den Zustand des Anderen, zum anderen die diesem Zustand zugrunde liegende Situation umfasst. Er unterscheidet drei Arten von Ausdrücken, die Verstehen zugrunde liegen und

 Breyer, Empathie, 50.  Vgl. Breyer, Empathie, 48 ff. 225  Breyer, Empathie, 52. 226  Vgl. Breyer, Empathie, 52 ff. 223 224

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darüber entscheiden, auf welchen konkreten Gehalt des Ausdrucks sich das Verstehen bezieht: Universelle Ausdrücke sind solche Ausdrücke, denen das Erleben von starken Emotionen zugrunde liegt und die sich unmittelbar in einem entsprechenden Ausdruck artikulieren. Dieser Prozess entzieht sich weitestgehend der Beeinflussbarkeit durch den Erlebenden, sodass für den Verstehenden der leiblichaffektive Gehalt, also der Zustand des Anderen und die auslösende Ursache unmittelbar evident wird. Unter sozialen Ausdrücken versteht Breyer Ausdrücke, die auf die Wahrnehmung durch andere angewiesen sind, die als solche bereits sozial verfasst sind. Sie bilden sich durch fortlaufende soziale Vermittlungsprozesse, wie sie Mead für die Identitätsbildung oder auch Bourdieu für den Habitus beschreibt, und manifestieren sich in Haltungen. Wenn also etwa eine Person vor Scham errötet oder mit Stolz geschwollener Brust umherläuft, bezieht sich das Verstehen solcher Ausdrücke nicht so sehr auf den affektiven Gehalt von subjektiv empfundener Scham oder Stolz als solchem, sondern auf den sozialen Gehalt dieses Ausdrucks, d. h. auf die soziale Bedingung oder den auslösenden Gegenstand des Schamgefühls, welche beide sozial verfasst sind. Unter kulturellen Ausdrücken werden kommunikative Ausdrücke verstanden, die kulturell konventionalisiert sind. Verstehen funktioniert dabei nicht unmittelbar durch die Rückführung auf einen zugrundeliegenden Zustand des Anderen, sondern über den Zwischenschritt der interkulturellen bzw. intrakulturellen und mithin kontextuellen Decodierung. Als Beispiel führt Breyer Zeigegesten an, etwa die Geste des nach oben gerichteten Daumens. Innerhalb der Tauchkultur drückt diese Geste das Wiederauftauchen aus, was wiederum auf einen bestimmten Zustand des Tauchers schließen lässt. Dieser Zustand ist aber ein anderer, wenn diese Geste außerhalb der Tauchkultur etwa als Ausdruck der Zustimmung oder des Wohlbefindens genutzt wird. Verstanden wurde also zunächst der kulturelle Gehalt der Geste und darüber der zwischenleiblich-soziale Gehalt des Ausdrucks.227 3. Ebene – Explizites Fremdverstehen.  Auf der dritten Ebene liegt nach Breyer Empathie als ein Komplex von kognitiv verarbeitenden Verstehensprozessen. Anders als auf den beiden Ebenen zuvor werden diese „vom Subjekt bewusst initiiert, durchlaufen und gesteuert“.228 Er verortet dort kognitive Prozesse, wie sie uns bereits in Begriffen wie kognitive Empathie, Perspektivübernahme oder Mentalisierung in den vorangehenden Kapiteln begegnet sind, gehen aber durch den Aspekt der Explikation zugleich über sie hinaus. Dabei sind, so Breyer, jene kognitiven Prozesse als zwei Modi zu unterscheiden, die in unterschiedlichen 227 Vgl.

Breyer, Empathie, 54 ff.  Breyer, Empathie, 56.

228

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intentionalen Sphären das Verstehen ermöglichen: Im Modus der Simulation werden intentionale Zustände des Anderen durch die imaginative Sphäre der Fantasie vergegenwärtigt, im Modus der Theoretisierung dagegen geschieht dies in der Sphäre des Denkens und Urteilens. Wiederum zwei gleichsam methodische Bewegungen stellt Breyer für beide Sphären bzw. Modi der Vergegenwärtigung gegenüber: die egozentrische (Wie würde ich mich an der Stelle des Anderen fühlen?) und die allozentrische Verstehensbewegung (Wie fühlt sich der Andere in dieser seiner Andersheit unter dessen Situation?). Auf diese Weise eröffnen sich also insgesamt vier Modi, in denen eine bewusste kognitive Vergegenwärtigung des Zustandes des Anderen erfolgen kann. Auf dieser Ebene gilt es nun, den konkreten Inhalt des mentalen Zustandes des Anderen in seiner Art, Ursache und Konsequenz zu verstehen.229 Mit Breyers bisheriger Konzeption der drei Ebenen von Empathie lässt sich eine Kohärenz zu den Befunden der anderen Disziplinen bilden: Die im entwicklungspsychologischen Kapitel gezogene Unterscheidung von reiner Resonanz in den ersten Lebenswochen (vgl. Stufe 1: Leibliche Resonanz), über kognitive Vorformen der Theory-of-Mind, der Fähigkeit, anderen mentale Zustände zuzuschreiben (vgl. Stufe 2: Ausdrucksverstehen), hin zu komplexem Verstehen (vgl. Stufe 3: Explizites Fremdverstehen) und damit von implizit-intuitivem Wissen zu explizit-bewusstem Wissen über den Anderen wird durch Breyer deutlich unterstrichen. Ebenfalls ganz analog fügen sich die neurobiologischen Befunde ein: Diese drei phänomenologisch und psychologisch herausgestellten Komponenten von Empathie werden in drei unterschiedlichen neuronalen Netzwerken abgebildet, die sich durch die pathologischen Fälle teilweisen Fehlens einzelner Komponenten bestätigen. Das Phänomen Empathie kann damit als differenzierte Einheit ausgewiesen werden, deren Komponenten von verschiedenen disziplinären Befunden bestätigt und in inhaltlicher Entsprechung benannt werden. Nun liefert Breyer in seinem Entwurf weitere phänomenologische Befunde, die sich als substanziell erweisen für den ganzheitlichen Begriff der Empathie: Mit der Bestimmung der Ebenen, also der Ausformungen, die Empathie annehmen kann, ist eine horizontale Achse bestimmt, um es der Verdeutlichung halber mathematischer auszudrücken, als Breyer seinen Entwurf verstanden wissen will. Auf einer vertikalen Achse lassen sich zudem drei Strukturelemente bestimmen, die den drei erläuterten Ausformungen von Empathie eine strukturelle Prägung geben. 1. Transzendentalität.  Empathie wurde hier nun schon mehrfach im Kern als die Erfahrung beschrieben, dass der Andere in dessen Erleben unserer eigenen Erfahrung zugängig ist, phänomenologisch ausgedrückt: uns gegeben ist. Dass wir  Vgl. Breyer, Empathie, 56 f.

229

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in unserem Bewusstsein den Anderen in dessen Erleben vergegenwärtigen und wir nicht unser eigenes Erleben und das des Anderen für dasselbe halten, hat als notwendige erkenntnistheoretische Voraussetzung, dass wir die eigene Person und ihr Erleben und den Anderen in dessen Erleben unterscheiden. Alterität ist dabei also strukturell „ein apriorisches Moment des intentionalen Bewusstseins selbst; schon die Form der subjektiven Weltwahrnehmung und der Eigenleiblichkeit beinhalten als notwendige Bestandteile eine Perspektivenpluralität und eine basale Reflexivität, die auf einen möglichen Anderen verweisen.230

Alterität und mithin Perspektivität sind also die transzendentalen Voraussetzungen von Empathie. Damit liegt im Wesen der Empathie das Bewusstsein, dass subjektives Erleben originäres Erleben ist, während das Erleben des jeweils Anderen für die eigene Person konoriginäres Erleben ist, um die begriffliche Entlehnung Breyers aus der Phänomenologie Edith Steins zu gebrauchen. Dieser Erfahrung des fremden Erlebens eignet also eine „unhintergehbare Differenz“231 von eigenem und fremdem Erleben, sodass der Andere uns immer schon in dieser Differenz gegeben ist.232 Empathie braucht also – ob ihrer Transzendentalität – vor allem vergegenwärtigendes Bewusstsein der Alterität des Anderen. Dabei merkt Breyer mit Husserl an, dass in dieser Alterität verschiedenartige Grenzen für Empathie stecken können, die etwa durch Unterschiedlichkeit in Generation, Biologie oder Kultur bedingt sein können.233 Daneben aber lässt sich Empathie kategorial bestimmen. Ebenfalls mit Edith Stein bezeichnet Breyer Empathie als Erfahrung sui generis, eine Erfahrung von eigener Art, in der Alterität das zentrale Kriterium ist.234 2. Interaffektivität.  Mit (Inter‑)Affektivität ist ein Strukturmerkmal beschrieben, das als Vollzugsprinzip der Resonanz zu verstehen ist, in dem nicht-intentionale Teile der Interaktion stattfinden. Die bereits angeführten Prozesse von Gefühlsansteckung und leiblicher Resonanz sind Beispiele für das unmittelbare Wechselspiel, in welchem die Zwischenleiblichkeit verfasst ist. Konstituenten dieser Interaffektivität sind „Affekt, Gefühl, Stimmung und Atmosphäre“235; sie bilden das atmosphärische Klima der empathischen Interaktion und wirken sich als außerindividuelle Faktoren auf die situative Resonanzfähigkeit innerhalb der Interaktion und mithin auf die aktuale Ausprägung von Empathie aus.236 230 Breyer,

Empathie, 191. Empathie, 190. 232 Vgl. Breyer, Empathie, 191 ff. 233  Vgl. Breyer, Empathie, 192 f. 234  Vgl. Breyer, Empathie, 192. 235  Breyer, Empathie, 194. 236  Vgl. Breyer, Empathie, 193 ff. 231 Breyer,

3.3  Empathie als intentionaler Prozess verkörperter Intersubjektivität

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3. Intentionalität.  Was in Breyers Beschreibungen bereits immer wieder angeklungen ist, bildet ein eigenständiges drittes Strukturmerkmal von Empathie: Intentionalität. Intentionalität bezeichnet in der Phänomenologie die Gerichtetheit des menschlichen Bewusstseins und meint als Strukturmerkmal von Empathie das Gerichtetsein auf den Anderen in dessen Zustand auf den Ebenen von Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Vorstellen. Empathie als intentional zu beschreiben, verlangt die umfassende Bestimmung, wie jenes Bezogensein beschaffen ist bzw. sein kann. Das umfasst die Beschaffenheit des Aktes der Bezugnahme, die gleichsam innere Beschaffenheit des bezugnehmenden Subjekts und die der Bezogenheit selbst. Der Akt der Bezugnahme kann auf verschiedenen Ebenen des menschlichen Geistes stattfinden. Auf der Ebene des Fühlens kann Empathie dabei verschiedene phänomenale Formen annehmen, die Breyer aus Schelers Theorie übernimmt: Einsfühlung beschreibt die empathische Einswerdung beider Subjekte; Gefühlsansteckung und emotionale Diffusion sind allerdings häufig hiermit verbunden, was in den vorliegenden Ausführungen als äußerste Grauzone bezeichnet wurde und als Empathie zu bezeichnen strittig ist. In Form von Nachfühlen oder Mitfühlen findet empathisches Empfinden zeitversetzt bzw. zeitgleich mit dem Anderen statt; im empfindenden Nachvollzug kommt zum Ausdruck, dass ein Primärerleben aus distanzierter, gleichsam sekundärer Position stattfindet. Empathie ist in diesen Formen also durchaus ein Gefühlsgeschehen, das aber zu differenzieren ist in nichtintentional-affektive und intentional-emotionale empathische Gefühle, um den erwähnten Grenzbereich bestmöglich zu markieren. Der Akt der empathischen Bezugnahme kann darüber hinaus auch im Wahrnehmen bestehen. Empathie ist dann eine unbestimmt komplexe Erfassung des angesprochenen Ausdrucksverhaltens des Anderen. Eine Person empathisch wahrzunehmen bedeutet dann, deren Zustand in der „Einheit des expressiven Ganzen“237 wahrzunehmen, ein Ausdruck, den Breyer aus der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners entnimmt. Empathische Bezugnahme kann schließlich als intentionaler Vorgang des Vorstellens und Denkens stattfinden: Empathie ist dabei eine vor allem kognitive Bezugnahme, insofern der Zustand des Anderen in expliziten und komplexen kognitiven Operationen vergegenwärtigt wird. Operationen wie die Perspektivübernahme, die gedankliche Simulation oder eine Theoriebildung über den Zustand des Anderen, wie sie oben für das explizite Verstehen erläutert wurden, sind dabei typische Prozesse.238 Der Intentionalität von Empathie, wie sie für den Akt der Bezugnahme beschrieben wurde, eignen in Breyers phänomenologischer Betrachtung habituelle und volitionale Haltungen im Bezug nehmenden Subjekt. Sie sind Spezifika des 237 Helmuth

Plessner, zit. n. Breyer, Empathie, 196.  Vgl. Breyer, Empathie, 195 ff.

238

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empathischen Bezogenseins, insofern durch sie Empathie von anderen fremdverstehenden Phänomenen unterschieden werden kann: Zum einen impliziert Empathie eine Würdigung des Empfindens des Anderen. Dabei spielt die schon vielfach genannte Unterscheidung von Ich und Anderem eine entscheidende Rolle. Denn nur durch ein Bewusstsein der Unterscheidung zwischen Ich und Anderem, ist es möglich, eine würdigende Haltung gegenüber dem in seiner subjektiven Qualität empfundenen Erleben des Anderen einzunehmen und in die eigene Empathie mit einzubeziehen. Wenn eigene Empfindungen, Erfahrungen oder Interpretationen der Situation des Anderen die Deutungshoheit für die entgegengebrachte Empathie gewinnen, geht es unweigerlich um das eigene Erleben; das Erleben des Anderen kommt dabei nicht zu seinem Recht. Empathie ist in ihrer intentionalen Struktur also durch das habituelle Moment von würdigend-anerkennender Differenzierung und „hermeneutischer Bescheidenheit“ charakterisiert, in der das behutsame Angebot zur Empathie steht, nicht aber die übergriffige Ausdeutung des Anderen.239 Entgegen anderen Formen des Fremdverstehens, für die eine Wir-Intentionalität charakteristisch ist (Zwei Personen teilen eine Empfindung oder ein Bezugsobjekt), weist Empathie eine Du-Intentionalität auf. Diese, so Breyer, „thematisiert […] den Anderen als Anderen in seiner Jeseinigkeit“240. Damit sind zwei Aspekte verbunden: Zum einen geht es nicht um ein gemeinsames Empfinden oder das Empfinden des Empathisierenden, sondern um das allozentrische Verstehen des Empfindens des Anderen. Zum anderen kann eine solche du-intentionale Empathie aber eben auch entstehen, wenn der Empathisierende nicht in die Situation, den Erfahrungshorizont, das Empfinden oder eine Beziehung zur empathisierten Person involviert ist. In der Du-Intentionalität „wird [der Andere] um seiner selbst willen als er selbst thematisiert. Er ist nicht […] Instrument, sondern Selbstzweck“.241 Damit ist unmittelbar auch eine volitionale Haltung vonseiten des Empathisierenden verbunden, die zum einen ein aktives Einlassen auf ein so verstandenes Geschehen und zum anderen das aktive Einbringen aller relevanten empathischen Fähigkeiten in das Geschehen erfordert.242 Diesen habituellen und volitionalen Aspekten kommt in Bezug auf eine Ethik der Empathie besondere Bedeutung zu, sind damit doch Haltungen beschrieben, die als Dispositionen im Subjekt tugendethisch zu bedenken sind. Was phänomenologisch nun als Drittes zu bestimmen ist, ist die Beschaffenheit der Bezogenheit. Von welcher formalen Art also ist diese Erfahrung der Empathie? Breyer differenziert dabei zwei Formen, in denen eine solche  Breyer, Empathie, 206 f.  Breyer, Empathie, 215. 241  Breyer, Empathie 216. 242  Vgl. Breyer, Empathie, 216. 239 240

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empathische Bezogenheit vorkommen kann: Zum einen kann Empathie ein Zustand sein. Dabei liegt sie als Ergebnis eines Verstehensprozesses vor. Dagegen spricht Breyer von Empathie als Prozess, wenn der Weg zum Verstehen im Blick ist. Das empathische Erleben bei einer gedanklichen Simulation ist ein solches Beispiel, bei dem in der gedanklichen Verfolgung der Frage Wie muss sich der Andere in seiner Lage jetzt wohl fühlen? das empathische Erleben stattfindet. Zur Frage nach der Beschaffenheit der Bezogenheit gehört für Breyer noch eine weitere phänomenologische Beschreibung: Was ist der pragmatische Rahmen der empathischen Bezogenheit? Diese Frage bezieht sich auf das Setting eines empathischen Geschehens und bringt eine Theorie über Empathie nicht unerheblich in konzeptionelle Bedrängnis, hängt von ihrer Beantwortung doch so vieles ab, was insbesondere normativ-ethisch zu Empathie zu sagen wäre. Es kann insofern verwundern, dass Breyer diesem Aspekt nur einen kleinen Raum gibt. Denn als phänomenalen Ort der Empathie markiert Breyer die situierte Interaktion. Sie stellt den kommunikativen Rahmen, in dem psychische Gehalte beiderseits artikuliert und insofern vergegenständlicht werden. Artikulation umfasst dabei das Angebot zur Empathie, also das Erkennen, Einschätzen und den ggf. verbal explizierten, aktiv verfolgten Willen, psychische Zustände zu verstehen und nachzuempfinden einerseits sowie Ausdrucksverhalten andererseits; daneben ist sie nach Breyer nicht unwesentlich auch der Raum, um Hemmnisse empathischen Geschehens miteinander zu bewältigen. Zum Gegenstand von Empathie, so Breyer weiter, können nicht nur die psychischen Gehalte werden, die im Vorhinein der situierten empathischen Interaktion als solche vorliegen, sondern ein nicht unbedeutender Teil wird erst in der Interaktion und insofern von beiden Intersubjekten hervorgebracht.243 Insbesondere dieser Aspekt macht deutlich: Empathie als intentionaler Akt ist ein in sich selbst dynamisches, ja emergentes Geschehen, das sich nicht ausschließlich anhand festgeschriebener Kriterien vermessen lässt. Es muss dagegen ganz wesentlich auch mit der Spontaneität des Phänomens gerechnet werden. Diese Ortsbestimmung der Empathie, die Breyer vorschlägt, ist hier nun insgesamt aber kritisch zu betrachten: Mit dieser Darstellung von Empathie als Phänomen der leiblichen Präsenz, ist der Ort der Empathie bei Breyer entsprechend das persönliche Gespräch, das als mündliche Interaktion stattfindet. Es kann gewiss kaum bestritten werden, dass Empathie, wie sie auch hier verstanden wird, besonders häufig als spontaner Akt in Erscheinung tritt, als dessen Ort der mündliche Dialog von Angesicht zu Angesicht auszumachen ist. Es stellt sich aber durchaus die Frage, ob dieser prototypische Rahmen der einzig denkbare ist, um von Empathie zu sprechen oder ob durch diese Reduktion nicht bedeutsame Leerstellen entstehen. Dass dies eine Relevanz besitzt für die Normativität, die von Empathie ausgeht, wurde soeben schon erwähnt. Einige  Vgl. Breyer, Empathie, 199 ff.

243

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Gedanken sollen hier in Thesenform skizzieren, in welche Richtung sich eine solche Perspektive aufspannen ließe. Insbesondere in der gegenwärtigen sozialen Welt, die in ihrer globalisierten und digitalisierten Verfasstheit auf Kommunikationsrahmen angewiesen ist, die außerhalb des persönlichen Gesprächs liegen, muss die Ortserkundung von Empathie ggf. erweitert werden. Zu diesem Zwecke sei nun ein Begriff verwendet, der in der ethischen Betrachtung noch eingehend entfaltet wird: Raum. Raum ist spätestens seit der Raumsoziologie Martina Löws eine Kategorie, die sich durch eine hohe semantische Flexibilität als geeignet erweist, um jene Orte zu beschreiben. So lassen sich zahlreiche Settings beschreiben, in denen Empathie einen phänomenalen Raum hat. Dabei sei vorausgeschickt, dass der soziale und zwischenmenschliche Wert dieser Räume variiert und durchaus streitbar ist. Im Sinne einer Deskription aber können einige wenige exemplarische Räume beschrieben werden, deren Ortscharakter bezüglich der Empathie im Detail erst noch zu erheben wäre. 1. Der digitale Raum erweitert sich kontinuierlich und verschiebt einen bedeutenden Teil von Kommunikation in den Cyberspace. WhatsApp, Facebook, Instagram etc. sind dabei aber durchaus Räume, in denen sich Empathie ereignen kann. 2. Nonverbale semiotische Räume ermöglichen Empathie, die nicht verbal verfasst ist, aber über andere Zeichen zum Ausdruck kommt. Emoticons wie Smileys oder metaphorische Bildgehalte wie ein trauriger Hundeblick sind Beispiele für diese Räume. 3. Empathie hat auch einen Raum in symbolischen Akten. Eine Kranzniederlegung am Volkstrauertag ist ein solches Symbol, in dem sich Empathie symbolhaft bekundet. 4. In prosozialem Handeln, das hier bereits häufig Erwähnung gefunden hat, ist ein empathischer Raum eröffnet. Empathie liegt dabei oft nicht so sehr im Gespräch, sondern in der Umsetzung einer pragmatischen Hilfe. Die unterstützende Sorge um Kinder, wenn ihre Mutter plötzlich ins Krankenhaus muss, hat etwa diesen Charakter. 5. Der Ort von Empathie kann aber auch in einem Raum der Stellvertretung liegen. Hier wird besonders deutlich, dass der Ort von Empathie nicht allein das Gespräch zweier Personen ist und nicht einmal zwingend den Anderen als bewussten Empfänger von Empathie voraussetzt. Wenn der Kniefall Willy Brandts vor der Gedenktafel des Warschauer Ghettos als ein Akt der Empathie bezeichnet wird, hat dies zwei Gründe: Die eigentlichen Adressaten seiner Empathie sind verstorben, die Menschen, die den empathischen Akt wahrnehmen können, sind die mittelbar oder gar nicht Betroffenen. Zugleich war es nicht Willy Brandt persönlich, der in diesem Akt Empathie als Verantwortlicher zeigt, sondern als politischer Funktionsträger, dessen Volksgruppe einst eine humane Katastrophe verschuldet hat. Im Akt des Kniefalls findet Empathie einen Raum

3.3  Empathie als intentionaler Prozess verkörperter Intersubjektivität

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der Stellvertretung. Ähnliche Beispiele sind das Kippa-Tragen durch Nicht-Juden am Jahrestag der Anschläge von Halle, wodurch empathische Anteilnahme und Solidarität gegenüber einer ganzen Religionsgruppe ausgedrückt wird. Die Anteilnahme für Charlie Hebdo oder die #MeToo-Debatte sind weitere Beispiele, die einen solchen Raum oftmals erst schaffen. Was sich als Gemeinsames dieser Erweiterungen zeigt, ist, dass Empathie in ihrem Ort definitorisch nicht reduzierbar ist. Rechnet man – wie Breyer es zu Recht tut – mit einem Empathiebegriff, der Fühlen, Wahrnehmen und Denken als Modi der Bezogenheit umfasst, dann kann sie ihren Ort nicht allein im persönlichen Gespräch haben. Dies erweist sich als eine unerwartete Verengung der Perspektive, die Breyer so breit angelegt hatte und hat zur Konsequenz, dass ein erheblicher Bedeutungsgehalt von Empathie als Phänomen unberücksichtigt bleibt. Dass freilich solche Empathieräume in ihrer Beschaffenheit von der persönlichen Begegnung abweichen, ist offensichtlich. Zudem hat eine erweiterte Ortsbestimmung wiederum begriffliche Konsequenzen, etwa für das Verständnis von Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit oder Verkörperung. Als umso bedeutsamer erweist es sich im Hinblick auf die Normativität von Empathie aber, zukünftig diese Räume möglichst umfassend zu benennen und die Konsequenzen für das ethische Potenzial theoretisch zu bedenken. Aus allzu physikalischen Raumgründen muss diese Perspektive auch im Umfang dieser Arbeit uneingelöst und auf die eigentliche ethische Grundlegung beschränkt bleiben. Zwischenfazit Wie ist Empathie als Phänomen beschaffen? Dieser Frage geht der Philosoph Thiemo Breyer nach und schlägt eine phänomenologisch geprägte, philosophisch-anthropologisch ausgerichtete Betrachtung von Empathie vor: Die phänomenalen Möglichkeitsbedingungen sieht er zum einen in der Zwischenleiblichkeit, die aus leiblicher Präsenz und Kompräsenz der beteiligten Subjekte besteht. Zum anderen ist der Gestaltungsmodus der so verstandenen Intersubjektivität die leibkörperlichen Expressivität, d. h. Subjekte nehmen das zwischenleibliche Geschehen als expressive Einheit von Ausdruck und Sinn wahr, aus der Verstehen hervorgeht. Dieses Verstehen bezieht sich jedoch auf sämtliche phänomenale Qualitäten der gegebenen Situation, sodass hier bereits deutlich wird, was schon vielfach zuvor verdeutlicht wurde: Empathie lässt sich nicht auf kognitive Prozesse reduzieren, sondern vereint verschiedene phänomenale Momente in sich. Mit dem Blick auf diese Beschaffenheit von Empathie nun, nennt Breyer drei phänomenale Ebenen, die zusammenkommen: 1. In der leiblichen Resonanz liegt eine leiblich-affektive Responsivität, die als unmittelbare, nicht-reflexive Ausdruckswahrnehmung Atmosphäre und Gestimmtheit der Situation einbezieht und diese in die Eigenresonanz übersetzt. Entscheidende Elemente sind das

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3  Empathie im interdisziplinären Diskurs

Bezogensein auf ein Thema und der Wechsel von Rollen und Perspektiven. 2. Im Ausdrucksverstehen werden in der Zwischenleiblichkeit gelegene Gegenstände und deren zugrunde liegende Situation verstanden, d. h. es bestehen unterschiedliche Empfindungen über das gleiche Bezugsobjekt unter Einbezug des individuellen Erfahrungshorizonts. 3. Das explizite Fremdverstehen meint kognitivverarbeitetes Verstehen durch simulierte oder theoretisierte Vergegenwärtigung intentionaler Zustände des Anderen. Zudem erfasst Breyer drei Strukturmerkmale, die diese Anteile von Empathie kennzeichnen: 1. Als Merkmal der Transzendentalität bezeichnet er transzendentale Voraussetzungen der Empathie, die in Alterität und Perspektivität bestehen. Alterität ist das zentrale Kriterium, das Empathie zur Erfahrung sui generis macht. 2. Interaffektivität heißt das Vollzugsprinzip der Resonanz, in dem nicht-intentionale Teile der Interaktion ablaufen, etwa Stimmungen oder Atmosphären sind, konstituieren diese Interaffektivität. 3. Empathie ist durch Intentionalität gekennzeichnet, also durch die Bezogenheit eines Subjekts auf ein anderes. Die Art der Bezogenheit liegt in Nachfühlen oder Mitfühlen (Fühlen), im Erfassen der expressiven Einheit (Wahrnehmen) oder in Perspektivübernahme, Simulation oder Theoriebildung (Denken). Sie wird begleitet durch die habituellen Merkmale der Würdigung und der Du-Intentionalität, also der Thematisierung des Anderen in seiner Jeseinigkeit sowie durch die volitionalen Merkmale des aktiven Einlassens und Einbringens. Im Rahmen des Modus der Bezogenheit kann Empathie als Zustand oder als Prozess vorkommen, je nachdem, ob sie Ergebnis oder Weg des Verstehens bezeichnet. Schließlich benennt Breyer als Ort der Empathie in erster Linie die persönliche Interaktion, in der vor allem die Spontaneität der Empathie kennzeichnend sei. Diese Ortbestimmung wurde hier etwa um digitale, semiotische, symbolische Räume erweitert. Aus dieser Fülle der phänomenalen Merkmale von Empathie, die Breyer in seiner Theorie berücksichtigt und aus den dichten Befunden, welche jede Einzelne der zuvor reflektierten Disziplinen über Empathie eingetragen haben, kann interdisziplinär und integrativ abgeleitet werden, was unter dem Komplex Empathie verstanden werden kann. Diese Synthese soll im Folgenden vorgenommen werden, begleitet von einem kritischen Blick über die daraus resultierenden Vorzüge und Schwierigkeiten der Empathie. Dabei wird auch zu thematisieren sein, auf welcher Grundlage, nach welchen Parametern und mit welchem Ziel eine Ethik der Empathie erarbeitet werden kann, wie es im zweiten Teil der Arbeit geschehen soll.

4  Kritik der reinen Empathie. Eine Auswertung Womit also haben wir es zu tun, wenn von Empathie die Rede ist? Dieser Frage wurde in vielen einzelnen Schritten auf einer Reise durch den interdisziplinären Empathiediskurs nachzugehen versucht. Bildet sie doch die sachinformative Grundlage, auf der das zentrale Vorhaben dieser Arbeit fußt, eine Ethik der Empathie in ihren Grundzügen anzulegen. Bevor dieses Vorhaben im zweiten Teil der Arbeit auch auf eine ethisch-legitimierende Grundlage gestellt wird, soll hier nun eine auswertende Zwischenbilanz gezogen werden. Aus der Synopse der interdisziplinären Befunde soll differenziert und kritisch evaluiert werden, welche Sachlage eine normative Ethik der Empathie zu berücksichtigen hat. Weil Empathie eine positive Eigenschaft und insofern „gut“ ist, ist ein möglichst hohes Maß an Empathie ethisch wertvoll und insofern normativ zu fordern. So etwa könnte rein intuitiv der normative Schluss aus dem alltäglichen Wortgebrauch oder auch aus öffentlichen Suggestionen über Empathie lauten, wenn Jeremy Rifkin die Menschheitsgeschichte unter dem Schlagwort der empathischen Zivilisation rekonstruiert und Empathie zum globalen Rettungsprogramm erklärt oder Barack Obama in zahlreichen Auftritten vor und während seiner Amtszeit ein gesellschaftliches Empathiedefizit diagnostiziert. Hieran wird deutlich: Empathie ummantelt begrifflich und eher in metaphorischer Funktion eine diffuse Semantik des Guten und Wünschenswerten und bildet damit ein sprachlich erfasstes Gegenprogramm zu Missständen und dem offenkundig Falschen. Dass es sich mit dem Phänomen der Empathie und ihren moralischen Implikationen deutlich komplexer verhält, sollte durch die bisherigen Ausführungen schon zu erkennen möglich geworden sein. Inwiefern aber ist jene so formulierte Annahme über den normativen Wert von Empathie unzutreffend und unter welchen Vorzeichen könnte dieser erhoben werden? Drei Thesen sollen im Folgenden die interdisziplinären Befunde bilanzieren und zur ethischen Betrachtung von Empathie hinführen. (1) These über die Beschaffenheit: Empathie ist ein Komplex.  Empathie, so wurde es aus verschiedenen disziplinären Perspektiven erarbeitet, meint ein komplexes Geschehen, in dem das Erleben einer anderen Person vergegenwärtigt wird. Es besteht zum einen aus verschiedenen innerpsychischen Anteilen. In der Gesamtschau der Befunde können insgesamt zwei Grundkomponenten ausgemacht werden: Der affektive Anteil, der bottom-up die unmittelbare emotional-affektive

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4  Kritik der reinen Empathie

Reaktion darstellt, wird von Breyer und Rosa (leibliche) Resonanz genannt. Daneben umfasst der kognitive Anteil verschiedene Top-down-Prozesse, zu denen das Ausdrucksverstehen, die kognitive Emotionsverarbeitung und ‑regulation sowie explizite Verstehensoperationen gehören, die psychologisch als Theory of Mind 1, phänomenologisch als explizites Fremdverstehen bezeichnet werden. Entscheidend ist bei der Benennung dieser Komponenten, dass sie als differenzierte Einheit verstanden werden. So ist von Empathie im eigentlichen Sinne nur zu sprechen, wenn alle Komponenten in ihrer je differenzierbaren Weise, aber als Einheit zusammenwirken. Um von Empathie  – und nicht von einem verwandten Phänomen – sprechen zu können, ist zudem ein Entwicklungsschritt entscheidend, der auch fortan ein zentrales Kriterium von Empathie bleiben wird: das Bewusstsein vom eigenen Selbst in Unterscheidung zur anderen Person. Zum anderen gehört zu Empathie ein intersubjektives Geschehen. Dies ist gekennzeichnet durch einen zwischenleiblichen Erlebensraum, in welchem sowohl Expressivität als auch Interaffektivität die zentralen Prozessmodi darstellen. Empathie wird dabei durch Ausdruck oder die Situation einer Person vermittelt. Freilich sind hiermit die innerpsychischen Prozesse notwendig verbunden, die dies bedingen. Dennoch ist Empathie als Phänomen nicht erfasst, wenn es als Prozess im abgeschlossenen subjektiven Innenraum gedacht wird. Vielmehr hat Empathie innerpsychische Prozessanteile, findet aber im intersubjektiven Raum in der Spontaneität der Interaktion statt. Dort kann sie als Zustand oder auch als Prozess vorkommen, ist dabei aber immer stets der Situativität des aktualen Geschehens unterworfen. Empathie ist strukturell verfasst durch die Kennzeichen der Alterität und der Du-Intentionalität und ist notwendig mit einem aktiven Einlassen und Einbringen beider Personen verbunden. Empathie ist deshalb nicht ausreichend differenziert, wenn sie als Sammelbegriff des Guten dient, sondern muss in ihrer eigenen Art und Beschaffenheit anerkannt werden. Eine Ethik der Empathie hat dies zu berücksichtigen, um überhaupt valide Aussagen über ihr ethisches Potenzial machen zu können. (2) These über das Potenzial: Empathie ist ambivalent.  Aus den psychologischen Befunden ist auch ein differenziertes Bild über Bedeutung und Potenzial der Empathie entstanden. Dieses ist von besonderer Bedeutung, insofern sich alles normative Sprechen von Empathie daran auszurichten hat. So kann auf der einen Seite deutlich festgehalten werden: Empathie wirkt sich positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden von beiden Personen aus, die an Empathie beteiligt sind. Insbesondere kommt dabei ihr positives Potenzial in der Gestaltung sozialer Beziehungen zur Entfaltung: Durch Empathie werden Beziehungen von Fürsorge, Engagement und Mitgefühl geprägt. In Form von Geben und Empfangen 1  Theory of Mind bezeichnet einen Fähigkeitsbereich, anderen Personen mentale Zustände zuzuschreiben. Siehe dazu insbesondere Kap. 3.1.1.1.

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empathischer Hilfe, durch empfundene Nähe und Zufriedenheit, durch Steigerung der Stresstoleranz und Verringerung stressbedingter Erkrankungsrisiken, durch die Sensibilisierung von sozialen Kompetenzen und schließlich durch die Form‑ und Förderbarkeit empathischer Kompetenzen stellt Empathie eine grundlegende Bedingung für menschliche Sozialität und eine Ressource für individuelle Resilienz dar, sodass von Empathie als sozialem Kapital die Rede sein kann. Auf den ersten Blick also ließe sich die obige Annahme zunächst bestätigen. Es ist zu vermuten, dass dieser Blick auf Empathie in aller Regel das alltägliche Verständnis prägt und die Konsequenz des zuweilen inflationären, zuweilen auch verzerrten Gebrauchs nach sich zieht. Denn zugleich ist auf der anderen Seite aus verschiedenen Blickwinkeln auszumachen, durch welche Faktoren diese rein positive ressourcenorientierte Bewertung von Empathie eine Dämpfung erfährt. Empathie kann auch mit negativem oder zumindest ambigem Potenzial verbunden sein. Schließlich ist es der Mensch selbst, von dem erlebbare Empathie abhängt. Insbesondere anhand klinischer Beispiele ist dabei deutlich geworden, dass aus der Einschränkung, Einseitigkeit oder der Übersteigerung eines empathischen Anteils Probleme von erheblicher Reichweite entstehen können, die in Leichtsinn und übermäßigem Vertrauen, sozialer Unverträglichkeit und Isolation liegen können. Zudem kann Empathie – auch jenseits klinischer Fälle – mit sich bringen, dass derjenige, der sie aufbringt, die Allostase, also das psychophysische Anpassungsverhalten des eigenen Körpers, überstrapaziert, indem sie dauerhaft oder zu stark beansprucht wird. So kann sich die Ressource der Allostase zu einer allostatischen Last für die eigene Person verkehren und am Ende der Entwicklung zu Erkrankungsformen wie Burn-out oder Depression führen. Schließlich – und spätestens das gilt für jeden Menschen – ist mit der grundsätzlichen Fähigkeit zur Empathie noch nicht zwingend verbunden, dass Empathie in einer konkreten Interaktion zur Entfaltung kommt, und ist damit immer schon auf die Überführung der Fähigkeit in ein aktuales Geschehen angewiesen (state-trait empathy). Empathie ist damit immer situativ. Empathie, so ist hieraus zu ersehen, ist nicht das schlechthin Gute; eine Ethik der Empathie kann entsprechend keine bloße Forderung nach Empathie sein. Vielmehr muss sie mit der inhärenten Ambivalenz der Empathie produktiv umgehen, um den Boden der Wissenschaftlichkeit nicht zu verlassen und vor allem praxisrelevante Ethik sein zu können. Eine Ethik der Empathie, die dieses ambivalente Potenzial unberücksichtigt lässt, muss sich dagegen die Frage gefallen lassen, ob sie sich ausreichend von idealisierender Schönfärberei unterscheidet. (3) These über das doppelte Gleichgewicht: Empathie braucht Maß.  Im Falle der exemplarischen Forderung zu Beginn des Kapitels würde eine Ethik der Empathie zu bestimmen versuchen, ob oder wie stark wir aufgefordert sind, mit anderen zu empathisieren oder wie das Empathisieren im Detail ablaufen

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müsste. Dass dies aber ein zielloses Unterfangen wäre, resultiert unmittelbar aus der vielgestaltigen Verfasstheit von Empathie: Zu komplex ist ihre Beschaffenheit, als dass sich dies mit einer normativen Richtungsanzeige erfassen ließe, zu ambivalent in sich selbst, zu situativ das Geschehen als Ganzes, zu unverfügbar die innerpsychischen Prozesse, als dass sie sinnvoll solch konkreten Handlungsnormen unterworfen werden könnte. Wie aber kann vor diesem Hintergrund eine Ethik der Empathie ihren Gegenstand und damit sich selbst verstehen? Eine Ethik der Empathie muss die Komplexität und innere Differenziertheit des Gegenstandes ernst nehmen und ihr eigenes Ziel entsprechend daran bemessen. Dies erfordert die Auslotung eines Maßes, einer Balance, eines Gleichgewichtes und setzt an dem Punkt des gesicherten Minimums an: Die grundsätzliche Fähigkeit zur Empathie ist in jedem gesund entwickelten Menschen angelegt. Neben aller Begrenztheit und Unverfügbarkeit haben die Befunde auch die Beeinflussbarkeit von Empathie aufgezeigt. So liegt es etwa in der Hand eines jeden Einzelnen, die eigenen empathischen Fähigkeiten bzw. auch die anderer zu fördern oder auch auf die Ausgestaltung des aktualen Empathiegeschehens Einfluss zu nehmen. Vorausgesetzt ist dabei, dass diese Ausgestaltung nicht in einer willentlichen Entscheidung oder im Hervorbringen einer Emotion besteht, sondern in einem Prozess des gesteigerten Bewusstseins und der willentlichen Kultivierung liegt. Dies schließt ein Bewusstsein über den Wert von Empathie und über den Wert ihrer Kultivierung ein, aber auch über die problematischen Aspekte von Empathie sowie über die realistischen Möglichkeiten und Grenzen der eigenen individuellen Kapazitäten. Empathie braucht, wie Resonanz auch, einen Raum, um als tatsächliche Empathie bzw. Resonanz zur Entfaltung zu kommen. So wie Resonanz „die Begegnung mit einem Anderen als Anderem, nicht die Verschmelzung zu einer Einheit“2 meint, was sich im Fall von Resonanz in Eigentätigkeit ausdrückt, so bedeutet auch Empathie nicht eine verschmelzende Diffusion zweier Personen, die mit dem Subjekt einfach geschieht und die sich dann in der Tat von Gefühlsansteckung nicht unterscheiden würde. Vielmehr ist Empathie notwendig darauf angewiesen, dass jene Eigentätigkeit gewahrt bleibt, die hier als Unterschied von eigenem und fremdem Erleben zu denken ist. So bedeutet Maß für das empathisierende Individuum, dass Empathie in einem ständigen Balanceakt neu situativ gefunden werden muss. Empathie sollte dabei, so das entscheidende Kriterium, stets einen konstruktiven sozialen Sinn bedeuten für beide an der Interaktion beteiligten Personen. Ganz analog dazu bedeutet dies für die Normativität ethischer Reflexion, dass es nicht um die normative Forderung nach Empathie, sondern um einen normativen Auftrag zu Empathie gehen kann. Dieser Auftrag betrifft jeden Menschen, d. h. von dessen Verantwortung muss sich ein jedes Individuum selbst angesprochen fühlen. Zugleich aber hat dieser Auftrag immer schon dieses nötige  Rosa, Resonanz, 743.

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Gleichgewicht zu berücksichtigen und findet entsprechend in der differenzierten Normativität selbst ihr Maß. Damit nimmt Empathie als ethischer Gegenstand einen Platz ein, der flexibel zwischen Freiheit und Verantwortung rangieren muss. Was dies im Einzelnen bedeutet, wird im folgenden Teil eingehend zu betrachten sein. Vor diesem Hintergrund lässt sich vorab nun aber auf jenen Gewichtungsakt blicken, der jene Aufgabe exemplarisch aufzeigt: Ein zentrales Ergebnis der neurowissenschaftlichen Forschungsgruppe um Tania Singer ist, dass sich Empathie in zwei verschiedene Reaktionsweisen differenzieren lässt, in empathic concern einerseits (verbunden mit positivem, warmem Gefühl und prosozialem Verhalten) und empathic distress andererseits (verbunden mit belastenden Gefühlen und der Tendenz zur Distanzierung; siehe dazu Kapitel 3.1.2). Aus diesen in sich durchaus plausiblen Ergebnissen, in denen zunächst die Ambivalenz von Empathie zum Ausdruck kommt, zieht die Forschungsgruppe selbst aber auch eine normative Schlussfolgerung: Empathic distress als destruktive Empathie sei in ihrer Rolle als Risikofaktor tendenziell zugunsten des empathic concern zu vermeiden, der als konstruktives Mitgefühl dagegen zu kultivieren, d. h. etwa durch Meditation zu fördern sei. Was auf den ersten Blick nach einer logischen Konsequenz aus der breiten Befundlage zu resultieren scheint und nicht zuletzt durch die ausgedehnte ReSource-Studie durchaus reliable Bestätigung findet, ist jedoch noch einmal näher zu betrachten, liegt doch hierin die Gefahr, die so umfassenden und bedeutenden Befunde einem Fehlschluss preiszugeben. Diese Überlegung erweckt den Eindruck, dass die beiden Reaktionsweisen eine begriffliche Dichotomie bilden. Damit läuft man Gefahr, der Komplexität der empathischen Situation und der Fluidität, in der auch die empfundene Belastung verfasst ist, nicht ausreichend Rechnung zu tragen. Dies wäre ein gegenläufiger Eindruck zu dem, was durch die Forschergruppe selbst immer wieder betont wird: die interdependente Komplexität. Diese begriffliche Trennung kann letztlich als funktional interpretiert werden, insofern die dichotom gegeneinandergestellten Begriffe als zwei Formen von Empathie und nicht als zwei völlig unterschiedliche Phänomene konzipiert werden. Dennoch entsteht hierdurch der Eindruck, die destruktive Empathie wäre verzichtbar und könnte schlicht durch das konstruktive Mitgefühl ersetzt werden. Sind doch Wohlwollen, Sorge und Zugewandtheit erstrebenswert, Belastung und Bedrängnis dagegen unerwünschte Begleiterscheinungen. Dieser differenzierte Blick auf die möglichen Konsequenzen empathischer Reaktionen ist prinzipiell ausdrücklich zu unterstützen und wurde hier auch bereits an verschiedenen Stellen angemerkt. Nur sollte vermieden werden, auf diese Weise gleichsam auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen und als Konsequenz aus jenen Befunden vor Empathie zu warnen. Empathie ist trotz der Möglichkeit ihrer destruktiven Seite in erster Linie als eine Fähigkeit zu bewerten, die uns in besonders naher, intensiver Weise das Erleben des Anderen vergegenwärtigt und uns zu den sozialen Wesen macht,

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die wir sind. Empathie schlicht gegen Mitgefühl einzutauschen ist damit ethisch weder sinnvoll noch notwendig. Vom Resonanzbegriff Rosas ist zu lernen, dass unser Weltverhältnis existenziell davon abhängt, Resonanzerfahrungen zu machen. Die resonante Form der Empathie ist insofern ein unverzichtbares Element dieser menschlichen Fähigkeit. Was im Zusammenhang mit empathischem Distress vor allem als Gefahr gewertet wird, lässt sich resonanztheoretisch sogar in ein anderes Licht stellen: Starke Resonanz im Sinne des empathischen Distresses muss nicht kategorisch vermieden werden. Selbstwirksamkeitserwartungen, so macht es Rosa deutlich, helfen uns dabei, diesen Stress auszuhalten bzw. konstruktiv mit den empathischen Erfordernissen umzugehen. Es darf also jeder Person zunächst zugemutet und zugetraut werden, dass sie Empathie aushält, auch wenn damit eine gewisse Belastung verbunden ist. Die menschliche Psyche verfügt über verschiedene Fähigkeiten und Toleranzen, eine potenzielle Belastung selbstwirksam zu bewältigen, ohne dass unmittelbar größere Gefährdungen der Gesundheit zu erwarten wären. Vorausgesetzt ist dabei nur, dass eine empathische Belastung nicht dauerhaft, zu häufig oder auch zu stark die Grenze der individuellen Belastbarkeit übersteigt oder aber eine Schieflage entsteht, in welcher der Empathisierende letztlich durch seine aufgebrachte Empathie in eine Leidsituation gerät. Empathie braucht dazu, wie Resonanz auch, einen gewissen Raum, um als tatsächliche Empathie bzw. Resonanz zur Entfaltung zu kommen. So wie Resonanz „die Begegnung mit einem Anderen als Anderem, nicht die Verschmelzung zu einer Einheit“3 meint, was sich im Fall von Resonanz in jener beschriebenen Eigentätigkeit ausdrückt, so bedeutet auch Empathie nicht eine verschmelzende Diffusion zweier Personen, die sich dann in der Tat von Gefühlsansteckung nicht unterscheiden würde. Vielmehr ist Empathie darauf angewiesen, dass die Eigentätigkeit gewahrt bleibt, die hier als Unterscheidung von eigenem und fremdem Erleben zu denken ist. Wo immer das gegeben ist, ist Empathie keine Gefahr, sondern ein Gewinn. Wo dieser Raum, man könnte von Frei-Raum im ganz eigentlichen Sinne sprechen, verunmöglicht wird, da muss die Möglichkeit bestehen, diesen Raum selbst zu schützen: Gleichsam lässt sich in dieser Richtung ein weiterer Aspekt resonanztheoretisch ableiten. Nicht nur Resonanz selbst, sondern auch Entfremdung als das notwendige Andere der Resonanz, stellt resonanztheoretisch ein ebenso hohes Gut dar, das zu schützen wichtig ist, insofern nur aus der Grundlage der Entfremdung momenthaft Resonanz hervorgehen kann. In Analogie zu dieser vermeintlichen Paradoxie kann man auch im Falle von Empathie davon sprechen, dass wahrhaft empathische Zuwendung nur vor dem Hintergrund einer Grundsituation nicht-allgegenwärtiger Empathie normatives Gewicht hat. Freilich ist von Empathie nicht per se abzuraten. Doch muss es – so wird es in dieser Arbeit vertreten – eine ethische Deckung geben, die zumindest ein Ausbleiben allgegenwärtiger Empathie, im  Rosa, Resonanz, 743.

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Zweifel aber auch die konkrete Empathieverweigerung erlaubt und sogar wertvoll macht. Für den Fall etwa, dass eine Person ein Empathiebedürfnis bei einer anderen bemerkt, das aber beim Empathisierenden selbst ein Repulsionsverhältnis an anderer Stelle entsteht, gehört es zur moralischen Anforderung, ein Empathieverhältnis auszuloten. Zwischen der Zumutung resonanter Empathie und legitimierter Empathieverweigerung, so lässt sich schließlich sagen, muss jenes Gleichgewicht gefunden werden.

Teil II

Ethik der Empathie

1  Einleitendes zu einer (theologischen) Ethik der Empathie Eine Ethik der Empathie, wie sie hier beabsichtigt ist,1 zielt nun nicht auf eine rein handlungsethische Entfaltung eines spezifisch benannten Phänomens ab. 1 Auf theologischer Seite existieren einige wenige Entwürfe, die Empathie mit Ethik überhaupt in Verbindung bringen, Empathie dabei aber nur in einer bestimmten Hinsicht geltend machen: (1) Die Monografie Einführung in eine Theologie der Empathie von Irene Heise reflektiert ausführlich die Einfühlungstheorie Edith Steins aus dem sie eine Theologie der Einfühlung entwickelt, die aber auf den praktisch-theologischen Bereich der Seelsorge sowie auf therapeutische Zusammenhänge ausgerichtet ist. (2) Die Monografie Empathie und Wertkommunikation von Hanspeter Schmitt konzentriert die Untersuchung auf den Zusammenhang zwischen Empathie und Kommunikation und schließt lediglich einige Gedanken zum Verhältnis von Empathie und Moral an. Dabei reflektiert er viele plausible Aspekte zum Phänomen der Empathie. Eine Ethik der Empathie allerdings leistet er entgegen dem expliziten Anspruch nicht, sondern beleuchtet Empathie nur ethisch, insofern er aufweist, dass sie ihren Platz im Rahmen benachbarter Ethikformen wie Diskursethik, Kommunikationsethik oder Medienethik nicht findet. Bei seinen eigenen ethischen Erwägungen dagegen bleibt unklar, um welche Art der Ethik es ihm eigentlich zu tun ist. Es scheint eher um die Bezeichnung Empathie zu gehen, welche die Ethik der Kommunikation bzw. Kompetenzorientierte Ethik, wie Schmitt begrifflich sprunghaft formuliert, in ihrer konzeptionellen Struktur beschreibt. Warum er aber von Ethik der Empathie spricht, wenn diese nur in den Strukturmerkmalen eines bestimmten Konzepts von Ethik per se enthalten ist, ist bis zuletzt nicht klar erkennbar. Problematisch ist an diesen beiden Entwürfen vor allem, dass der Titel verspricht, ein theologisches bzw. ethisches Gesamtverständnis zu explizieren, dass aber die jeweilige Durchführung aus den genannten Gründen zumindest hinter diesem Vorhaben zurückbleibt. (3) Die rechtswissenschaftliche Monografie Empathie als Element einer rekonstruktiven Theorie der Menschenrechte von Frederik von Harbou fragt neben einer ausführlichen begriffsgeschichtlichen Darstellung nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Empathie und Moral, thematisiert die Problematik, Empathie zur Grundlage von Moral zu machen und rekonstruiert Möglichkeiten und Grenzen einer Menschenrechtstheorie, die auf dem Empathiebegriff basiert. Diese Arbeit enthält viele erhellende Aspekte zum Verhältnis von Empathie und Moral, die auch in dieser Arbeit eine Rolle spielen, ist aber eine spezifisch rechtstheoretisch, nicht so sehr ethisch ausgerichtete Arbeit. (4) In der englischsprachigen Literatur thematisiert Michael Slote in The Ethics of Care and Empathy die Rolle von Empathie in der Care-Ethik, sodass eine explizite Empathieethik hier gar nicht sein Ziel ist (Siehe dazu: Heise, Irene: Einführung in eine Theologie der Empathie. Aus Theologie, Philosophie, Psychologie und Mystik und Empathische Problemanalyse, Wien ³2012; Schmitt, Hanspeter: Empathie und Wertkommunikation. Theorie des Einfühlungsvermögens in theologisch-ethischer Perspektive, Freiburg/Schw. 2003; von Harbou, Frederik: Empathie als Element einer rekonstruktiven Theorie der Menschenrechte, Baden-Baden 2014; Slote, Michael: The Ethics of Care and Empathy, New York 2007). Diverse Aufsätze nehmen dagegen zwar das grundsätzliche Verhältnis von Empathie und Moral in den Blick, reflektieren aber im Rahmen ihrer gebotenen Kürze ausschließlich einen

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1  Einleitendes zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Das wäre nicht nur ein verkürztes, sondern auch in verschiedener Hinsicht problematisches Unterfangen. (vgl. Kapitel 4 im ersten Teil). Vielmehr geht es ihr im Kern um die normative Reflexion eines Prozesses der Bewusstseinsbildung, der in seiner Konsequenz eine Kultivierung von Empathie befördern will. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich alle Ethik nicht in Handlung und damit normative Ethik nicht in handlungsethischem Impetus erschöpft, sondern sich in bewusstem Leben realisiert. Der Begriff des bewussten Lebens ist maßgebend geprägt worden durch den Philosophen Dieter Henrich, der in seinem gleichnamigen Buch unter bewusstem Leben „eine Bewegung, eine Verlaufsform des Lebensganges [versteht], in der wir uns finden und die wir zu verstehen suchen“.2 Auf der Basis eines überhaupt gegebenen Wissens von sich selbst als von sich selbst (Selbst-Bewusstsein) nimmt bewusstes Leben die Verfasstheit des Lebensganges reflektierend wahr, greift aktiv in den Prozess des Lebensganges ein und deutet ihn aus, begründet selbst eigene Ziele und geht diesen unter Berücksichtigung der eigenen Konstitution nach. Sich auf diese Weise ins Verhältnis zum eigenen Lebensgang zu setzen, nennt Henrich Lebensführung. In ihr hängt auch die „Art, wie wir uns selbst verstehen, […] mit der Weise, in der wir uns verhalten, unmittelbar zusammen“.3 Dieser von Henrich beschriebene Zusammenhang von Selbstverständigung und Verhalten bzw. Handlung ist es, der für das hier zugrunde liegende Verständnis von Ethik entscheidend ist: Wie also ein jeder Mensch sich selbst versteht, wie er im Sinne bewussten Lebens auf den Gang seines Lebens einwirkt und sich selbst ausdeutet, so bildet er auf der Ebene seiner Handlung eine spezifische Kultur seines Lebens heraus, die nicht nur aus jenem Selbstverständnis hervorgehende Normen und Wertvorstellungen enthält, sondern aus der sich dann auch konkrete handlungsethische Imperative ableiten können. Ziel normativer Ethik ist vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses von bewusstem Leben, jene Prozesse der Selbstverständigung zu prägen, die dann in der Herausbildung einer spezifischen Kultur münden. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Zielformulierung normativer Ethik soll nun im Folgenden versucht werden, den Begriff der Empathie normativ-ethisch zu entfalten. Dies kann unter einer formalen und einer inhaltlichen Voraussetzung geschehen: Die formale Voraussetzung bezieht sich auf die Reichweite der ethischen Ausführungen, die vor allem durch die Form der Intersubjektivität bestimmt ist. So nehmen die folgenden Ausführungen ausschließlich den Modus der persönlichen Begegnung in den Blick. Medial spezifischen Aspekt jenes Verhältnisses. Siehe dazu etwa die Aufsätze zu Empathie und Moral in Maibom, Heidi L. (Hg.): The Routledge Handbook of Philosophy of Empathy, New York 2017 sowie in Roughley, Neil/Schramme, Thomas (Hgg.): Forms of Fellow Feeling. Empathy, Sympathy, Concern and Moral Agency, Cambridge 2018. 2  Henrich, Dieter: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, 12. 3  Henrich, Bewußtes Leben, 17.

1  Einleitendes zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

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vermittelte Intersubjektivität, wie sie etwa durch Kontakt über Telefon, Post, E-Mail, Videokonferenzen wie Skype, TV oder soziale Medien gegeben ist, entbehrt selbstverständlich nicht der Möglichkeit eines zumindest entsprechenden Empathiegeschehens und zeigt in ihrer Vielfalt vor allem die Notwendigkeit einer gesonderten ethischen Reflexion an. Vor allem verändert sie aber die Mittelbarkeit des Erlebens auf beiden Seiten des Geschehens auf so vielen Ebenen, dass es sich einer inkludierenden ethischen Aussage an dieser Stelle entzieht. Inhaltliche Voraussetzung ist, dass die an der Differenzierung der Phänomene orientierte Sichtweise weitestgehend aufgegeben wird, insofern in der empirischleiblichen Vollzugsrealität eine solche phänomenale Trennbarkeit zumindest stark relativiert oder sogar aufgehoben ist. Vielmehr werden die empathischen Einzelphänomene, die im ersten Teil der Arbeit an verschiedenen Stellen zum Tragen kamen, in Form von Anteilen an einem Gesamtprozess betrachtet. Dieser Wechsel der Betrachtungsebenen ist notwendig, weil normative Ethik per se ausschließlich konkret menschliche Vollzugsrealität zum Gegenstand hat und hier dem Spektrum der empathischen Varietäten gerecht werden will und darüber hinaus Phänomene selbst nur unzureichend normativ in den Blick nehmen könnte. So soll nun schrittweise eine ethische Grundlegung der Empathie vorgenommen werden: Dazu ist in einem ersten Schritt notwendig zu skizzieren, was unter dem intersubjektiven Akt vorstellbar ist, der hier als Empathie bezeichnet wird (Kapitel 2). Dabei kommen Schlussfolgerungen zum Tragen, die aus den Ergebnissen des ersten Teils dieser Arbeit resultieren und im weiteren Verlauf im Detail zu erschließen sind. In einem zweiten Schritt ist umfassend zu begründen, warum es sinnvoll und notwendig ist, Empathie als Thema normativer Ethik ernst zu nehmen. Zu dieser Begründung wird methodisch ein weiterer Begriff herangezogen, dem in modernen ethischen Diskursen in Theologie und Philosophie nicht nur eine erhebliche Bedeutung zukommt, sondern der in seiner Spezifik oftmals die Funktion einer ethischen Metakategorie einnimmt: Im Horizont des Begriffs menschlicher Würde soll aufgezeigt werden, welche Reichweite Empathie für alles intersubjektive Geschehen zukommt. Dabei werden zugleich die Koordinaten ihrer ethischen Reflexion sichtbar (Kapitel 3). Anschließend ist herauszustellen, welchen natürlichen Begrenzungen Empathie unterliegt. Was bereits im ersten Teil eingehend betrachtet wurde, weist an dieser Stelle Konsequenzen für die Ausrichtung von normativer Ethik auf, die von nichtidealen Bedingungen auszugehen hat (Kapitel 4). Vor diesem Hintergrund gilt es schließlich zu erheben, welche Güter, welche Pflichten und welche Tugenden mit Empathie verbunden sind. Auf diese Weise wird systematisch entfaltet, wie sich eine normative Ethik der Empathie konkretisieren kann (Kapitel 5). In einem letzten Schritt werden exemplarisch einige theologische und außertheologische Forschungsperspektiven in Anschluss an eine Ethik der Empathie aufgezeigt.

2  Empathie. Eine definitorische Skizze Eine den folgenden Ausführungen zugrunde liegende definitorische Skizze des Begriffs Empathie muss nun unter der Voraussetzung aufgestellt werden, dass Empathie nicht als ein weiteres neben die bestehenden gestelltes Phänomen zu denken ist, das einen intersubjektiven Zugang zum Anderen in einem spezifisch linearen Ablauf realisiert sieht. Empathie, wie sie hier verstanden wird, ist die Bezeichnung eines 1. aktiven, 2. komplexen und 3. ganzheitlichen Geschehens, dessen Grundstruktur das Gewahren des Erlebens einer anderen Person ist. Ganzheitlichkeit bezieht sich dabei auf beide beteiligte Personen. Aufseiten des Empathisierenden meint dies eine innere Bewegung auf den Anderen zu, indem er sich in ein Resonanzverhältnis zum Anderen begibt. Dabei können ganz unterschiedliche kognitive und affektive Anteile aktiviert werden. Dies kann etwa ein Lesen, Verstehen, Deuten dessen sein, was der Andere von dessen Erleben leiblich ausdrückt, reaktivierte eigene Erfahrungshorizonte und hiermit assoziierte Emotionen, die erinnert oder präsent erlebt werden, Gefühle von Betroffenheit und Bedauern über die Tatsache, dass der Andere etwas aushalten muss, ein atmosphärisches Spüren freigesetzter Emotionen des Anderen, kognitive Vorstellungen von Situation, Bedingungen und Konsequenzen oder auch Übertragungsmomente auf die eigene Person sein. In diesen Anteilen sind als menschliche Vermögen wiederum Elemente aller empathischen Phänomene enthalten, die zuvor auf Phänomenebene beschrieben wurden: empathische, einfühlende, mitfühlende, verstehende, ansteckende Elemente. Ganzheitlichkeit in Bezug auf den Anderen, den primär Erlebenden, meint, dass dieser seinerseits als momentanes leibliches Produkt am Geschehen beteiligt ist. Dies umfasst sein ganzheitliches kognitives und affektives Erleben und ist in eben dieser ganzheitlichen Weise in verbalem, non‑ und paraverbalem Ausdruck, in atmosphärischer Freisetzung konkreter Emotionen oder in Verhalten wahrnehmbar.1

1  Soll für eine Theoriebildung zu Empathie das Merkmal der Ganzheitlichkeit stark gemacht werden, kann sich die hier betrachtete Reichweite der Intersubjektivität zunächst ausschließlich auf den Modus persönlicher Begegnung beziehen. Medial vermittelte Intersubjektivität durch etwa Telefon, Brief, Skype, TV oder soziale Medien entbehrt zwar gewiss nicht grundsätzlich der Möglichkeit eines zumindest entsprechenden Wahrnehmungsgeschehens, dennoch verändert die Mittelbarkeit des Erlebens auf beiden Seiten das Wahrnehmungsgeschehen auf so

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2  Empathie. Eine definitorische Skizze

Als komplex ist Empathie zu bezeichnen, insofern phänomenal nicht abgrenzbar ist, was, zu welchem Grad und in welchem Teilmoment bzw. Ablauf stattfindet, wie es etwa bei den konkreten Phänomenen Empathie, Sympathie, Mitgefühl etc. vorausgesetzt wird. In der Vollzugsrealität muss mit der Hybridität und der Fluidität des konkreten empirischen Geschehens gerechnet werden, sodass immer nur von jeweils phänomenalen Anteilen zu sprechen ist, wie es auch durch die oben erläuterte Ganzheitlichkeit vorgegeben ist. Auch ist damit die Konsequenz verbunden, dass ein solcher Prozess in seiner Ganzheitlichkeit und Komplexität nicht vollständig messbar sein kann und sich damit einer durchgängigen wissenschaftlich-empirischen Operationalisierbarkeit entzieht. Anderenfalls wäre eine künstliche Trennung innerhalb einer phänomenalen Gemengelage gegeben, die schließlich für eine ethische Betrachtung nicht zielführend sein kann. Während die Merkmale der Ganzheitlichkeit und der Komplexität Empathie eher in zwei Grundbedingungen wahrnimmt, formuliert das Merkmal der Aktivität nicht allein eine Möglichkeitsbedingung für das empathische Geschehen überhaupt, sondern nimmt bereits normativ in den Blick, welche Merkmale Empathie haben müsste, wenn sie zum ethischen Gegenstand wird. Insofern hier Empathie im Horizont bewusster Lebensführung ethisch erfragt wird, sind für ein solches intersubjektives Geschehen drei Aspekte unter Aktivität zu verstehen: 1. Es muss eine für Empathie offene, affirmative Grundhaltung der Bereitschaft gegeben sein. Verdrängende, verschließende, abgestumpfte, ignorante oder gleichsam bequeme Grundhaltungen behindern natürlicherweise ein empathisches Geschehen. Aktivität besteht hier im Willen zur Empathie, der sich einerseits als affirmative Haltung zu einer so geprägten Kultur manifestiert und der andererseits auch die Bereitschaft zu einem individuellen Entwicklungsprozess impliziert, in dem ein Erlernen oder Stärken spezifischer empathischer Anteile möglich ist. 2. Ein empathisches Geschehen braucht die Annahme zur Voraussetzung, dass grundsätzlich asymmetrische Konstellationen als symmetrische gestaltbar sind. So steht nahezu jedes intersubjektive Geschehen unter den Bedingungen situativer Asymmetrie, die ganz unterschiedliche Gründe und Dimensionen haben kann, etwa Bildung, Verdienst, beruflicher Status, momentane Gemütsverfassung, Krankheit u.v.m. Asymmetrie bildet damit eine Grundkonstante von Intersubjektivität überhaupt. Hier wird die Grundannahme stark gemacht, dass jenseits dieser natürlichen Asymmetrien aber eine prinzipiell gleichrangige Wahrnehmung des Anderen möglich ist, die aus der prinzipiellen Gleichheit als Menschen hervorgeht. 3. Das bewusste Gestalten empathischen Geschehens kann dann als Merkmal jenes aktiven Prozesses bezeichnet werden. Bewusst meint hier die Grundvoraussetzung, dass ein intersubjektives verschiedenen Ebenen, dass es sich einer generalisierten theoriebildenden Aussage zumindest an dieser Stelle entzieht und einer gesonderten Untersuchung bedarf.

2  Empathie. Eine definitorische Skizze

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Geschehen von zwei Personen gestaltet wird, die sich der Situation bewusst, reflektierend und entschlossen sind, das Geschehen gestalten. Soll Empathie als moralischer Begriff in den Blick genommen werden, ist jede kontingente Form empathischen Verhaltens oder Geschehens von der Betrachtung ausgeschlossen, in welchem die beteiligten Personen unbewusst oder auch mit Willkür handeln und dabei gleichsam versehentlich empathisch sind. Vor dem Hintergrund dieser Merkmalsbestimmungen von Empathie ist es das bezeichnete Gewahren selbst, das hier als ein bestimmtes zu charakterisieren ist, wenn es Gegenstand einer ethischen Betrachtung werden soll. Drei Strukturmerkmale lassen sich formulieren, die hierfür konstitutiv sind: (1) Ich-Andere-Unterscheidung: Während der gesamten komplexen Situation bleibt die Unterscheidung von Ich und Anderer unverbrüchlich bestehen und dem Wahrnehmenden für sein Erleben präsent, sodass ein sogenannter Erlebnisshift zwischen eigenem Erleben und dem Erleben des Anderen ausbleibt. Das schließt nicht aus, dass nicht auch anteilig stark einfühlende Wahrnehmungsanteile enthalten sein können. (2) Alteritätsfokus: Im Fokus von Empathie steht der Andere in seinem Anderssein. Dieses Anderssein äußert sich hier als dessen individuelles Erleben. Wie dagegen der Wahrnehmende sich selbst erlebt, weil er sich z. B. in den Anderen eingefühlt hätte und nun auch dasselbe Gefühl bzw. eine quantitativ oder qualitativ abgestufte Form dessen selbst erlebt oder wie er sich fühlen würde, wenn er in der Situation des Anderen wäre, können – wie oben erläutert – Anteile des gesamten Wahrnehmungsprozesses sein. Vorstellbar wären diese etwa als Vehikel auf dem Weg, den Anderen in seinem Erleben zu begreifen. Empathie im eigentlichen Sinne bleibt aber darauf angewiesen, das Erleben des Anderen als fremdes Erleben als zentralen Gegenstand der Wahrnehmung zu behalten. Insgesamt ist einerseits das ursprüngliche Erleben durch den Empathisierten selbst und andererseits das Erleben des erlebenden Anderen durch den Empathisierenden am Geschehen beteiligt, welche sich also in formaler Ursächlichkeit, nicht aber in inhaltlicher zueinander verhalten. (3) Relative Steuerbarkeit: Das empathische Geschehen ist nicht in absoluter, wohl aber in spezifischer Weise steuerbar: Eine Steuerung von Empathie kann nicht in Form des unmittelbar willentlichen Einsatzes anteiliger Komponenten bzw. in deren tatsächlicher Wirksamkeit bestehen. Steuerbarkeit, wie sie hier verstanden wird, hängt eng mit dem Aktivitätspotenzial zusammen, wie es oben erläutert wurde. Eine Haltung der Offenheit und der Bewusstseinsbildung für empathische Prozesse per se bringt in zweierlei Hinsicht Potenzial für Steuerbarkeit hervor: 1. Eine Steuerungsoption liegt in der Verstärkung bestimmter erwünschter Anteile. Im Rahmen der Darstellung der Resilienzförderung ist auf erzieherische oder auch selbstbildende Maßnahmen zur Förderung empathischer Kompetenzen hingewiesen worden; auch durch das ReSource-Projekt konnte gezeigt werden, dass die Beteiligung der in einem empathischen Geschehen

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2  Empathie. Eine definitorische Skizze

auftretenden Reaktionskomponenten, des empathischen Stresses einerseits und der mitfühlenden Fürsorgereaktion andererseits, durch individuelle Förderung in Form von Meditationspraxis so veränderbar ist, dass eine Reaktionsweise signifikant verstärkt wird. Diese beiden empathischen Reaktionsweisen können als Entsprechung gesehen werden zu einem stark empathisch-einfühlenden Anteil einerseits und einem Anteil andererseits, wie er hier durch die ersten beiden Kriterien skizziert wird. Eine weitere Steuerungsoption, die sich aus dem obigen Credo der Bewusstwerdung ergibt, besteht 2. in einer situativen mentalen Regulation, die etwa eine zu starke emotionale Gefangenheit einschränken oder das Bewusstsein der Alterität verstärken kann, also das Bewusstsein, nicht selbst die primär betroffene Person zu sein.

3  Empathie im Horizont menschlicher Würde Empathie einer ethischen Betrachtung zu unterziehen, stellt eine zusätzliche methodische Herausforderung: Empathie als solche ist kein ethischer Grundbegriff, der sich in einschlägigen Werken theologischer oder philosophischer Ethik finden lassen und so zur Referenz werden könnte.1 Empathie, Mitleid, Mitgefühl oder vergleichbare Phänomene selbst ethisch zu untersuchen, ist zwar etwa im Falle von Mitleid in der Philosophiegeschichte vielfach versucht worden, soll aber hier gerade nicht geschehen. An welchen methodischen Parametern kann sich also ein Untersuchungsgang orientieren, der nach dem ethischen Potenzial eines zuvor konturierten intersubjektiven Geschehens fragt? Zu diesem Zweck wird in der vorliegenden Arbeit ein ethischer Grundbegriff herangezogen, der eine besondere Rolle für ethische Diskurse einnimmt – der Begriff der Menschenwürde. Zwei Aspekte lassen sich anführen, Würde als Referenzbegriff begründen: Zum einen liegt im Begriff der Menschenwürde eine besonders hochrangige Kategorie vor, über die hinaus wohl kein Begriff von größerer Wirkmacht für ethisches Denken ist. Zum anderen ist er ethisch unzweideutig positiv besetzt. Beides wird deutlich im fortwährenden Ringen um die Dogmatik des Würdebegriffs selbst und um ethische Konsequenzen, die eine jeweils gefundene Bedeutung aufwirft, das seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts interdisziplinär stattfindet: Würde tritt als Begriff höchster ethischer Beschreibbarkeit in Erscheinung, als eine wirkmächtige Instanz, der argumentativ universale Bedeutung zukommt, sodass mitunter bereits von Krisen der Inflation des Würdebegriffs gesprochen wird.2 Zudem bleibt unabhängig davon, was Gegenstand der jeweiligen Debatte um den Begriff der Würde ist, immer eindeutig: Das Bestehen, Erhalten, Schützen von Würde ist positiv, ihre Gefährdung oder Relativierung, ihr Verlust ist negativ. 1 Vgl. dazu die theologischen Ethikkonzeptionen von: Stock, Konrad: Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, Gütersloh 1995; Kreß, Hartmut/Müller, Wolfgang Erich: Verantwortungsethik heute. Grundlagen und Konkretionen einer Ethik der Person, Stuttgart 1997; Körtner, Ulrich H. J.: Freiheit und Verantwortung. Studien zur Grundlegung theologischer Ethik, Freiburg/Br. 2001; Haspel, Michael: Sozialethik in der globalen Gesellschaft. Grundlagen und Orientierung in protestantischer Perspektive, Stuttgart 2011; Rendtorff, Trutz: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Tübingen 2011; Härle, Wilfried: Ethik, Berlin ²2018; Leonhardt, Rochus: Ethik. Lehrwerk Evangelische Theologie, Bd. 6, Leipzig 2019. 2  Vgl. Baldus, Manfred: Kämpfe um die Menschenwürde. Die Debatten seit 1949, Berlin 2016.

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

Diese für sich betrachtet gewiss simple Beobachtung gilt wohl aber für kaum einen anderen Begriff ethischer Reflexion. Zur eindeutigen Bestimmung des Würdebegriffs selbst hat diese Diskurslage insgesamt zwar nicht beigetragen, sodass im Rückblick auf die jahrzehntelangen Debatten Würde mitunter als ein entgrenzter, inhaltlich letztlich unterbestimmt bleibender Terminus bewertet werden kann. Würde erscheint dabei oftmals in der Funktion einer Rezeptionsnorm, die als Maßstab oder letzte Begründung in Debatten um andere moralische Fragen und Zusammenhänge eingesetzt wird.3 Zugleich zeigt diese Diskurslage jedoch auch genau jene allzu schwere Handhabbarkeit eines Begriffs an, die nicht nur in der Debatte um seine angemessene Konturierung besteht, sondern vor allem in jener beschriebenen Rolle als hochrangige Instanz ethischer Reflexion. Eben darin begründet sich die kaum zu überschätzende ethische Relevanz des Begriffs. Insofern sich nun zudem die philosophische und theologische Beteiligung in jenem Ringen um den Würdebegriff in den letzten zwei Jahrzehnten stark reetabliert hat, erscheint es insgesamt als sinnvoll, Würde als Referenzbegriff heranzuziehen, um das ethische Potenzial von Empathie anhand ihres spezifischen inhaltlichen Zusammenhangs zum Würdebegriff und somit in dessen Horizont zu begründen. Dabei soll explizit nicht versucht werden, eine systematische Konturierung des Begriffs von Menschenwürde zu leisten; auch ist selbstverständlich, dass wiederum der Würdebegriff nicht in der Thematik der Empathie aufgehen kann. Zum vorliegenden Zweck eines fundierten Umgangs mit dem komplexen Würdebegriff wird aber im Zuge der ethischen Begründung von Empathie zumindest eine Lesart des hier zugrunde gelegten Würdebegriffs deutlich werden. In zwei Schritten wird nun also im Folgenden der Zusammenhang von Empathie und Würde begründet: Zunächst wird der Diskurs um den Würdebegriff der vergangenen zwei Jahrzehnte in den Blick genommen. Dabei ist der Frage nachzugehen, was es in der Lesart der jeweiligen Würdekonzeptionen bedeutet, die Würde des Menschen zu achten? Vor diesem Hintergrund wird dann der inhaltliche Zusammenhang beider Begriffe expliziert.

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde. Der theologische und philosophische Diskurs des 21. Jahrhunderts Der Begriff der Menschenwürde ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges politisch, juristisch und ethisch unverzichtbar geworden. Beinahe unüberschaubar komplex tritt der gewaltige Gesamtdiskurs in Erscheinung, der zu Begriff, Normgehalt und thematischen Anwendungen zahlreiche Binnen‑ und Unterdiskurse ausgebildet hat.  Vgl. Baldus, Menschenwürde, 246; 250 ff.

3

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

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Sehr grob lassen sich drei Phasen ausmachen, in denen sich in der Diskursgeschichte der Menschenwürde Betrachtungsschwerpunkte ausgebildet haben:4 Die erste Phase umfasst die Nachkriegszeit bis etwa Ende der fünfziger Jahre; in dieser Zeit stand zunächst hauptsächlich der juristische und politische Einsatz einer grundlegenden Norm im Vordergrund, die in der Distanzierung von der Gewaltherrschaft des Krieges als Minimalrecht menschlicher Existenz etabliert wurde. Zentrale Aspekte waren dabei, Menschenwürde als übergeordnetes Normprinzip und als Grundlage für Menschenrechte zur rechtlichen Priorität zu erheben. Darüber hinaus wurde in dieser Zeit Würde als dem Menschen inhärentes Merkmal verstanden, als gesellschaftlicher Wert näher bestimmt und mit den Begriffen Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Achtung verbunden. Die zweite Phase erstreckt sich auf eine lange Periode zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren. Hier wurden grundlegende Konkretisierungen der gefundenen Norm vorgenommen; zentral waren die Fragen, wer bzw. was die Menschenwürde schützt, was sie verletzt, welcher Geltungsbereich und welche Gültigkeit ihr zukommt, aber auch die methodische Frage nach der Gewinnung entsprechender Kriterien von Menschenwürde. Daneben sind in dieser Zeit vor allem zahlreiche Anwendungsdebatten entflammt, etwa um die Rolle der Menschenwürde in der Humangenetik, beim Thema staatlicher Überwachung, in der Sterbehilfe oder im Tierschutz. Die dritte Phase, die von den neunziger Jahren bis heute reicht, stellt vor allem eine Begriffserweiterung dar, welche die Form der ethischen Kategorie von Würde betrifft. Würde, die bis dahin als Wesensmerkmal des Menschen klassifiziert wurde, wird von nun an auch als Merkmal des Verhaltens, als Haltung oder Lebensweise diskutiert. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Bestimmung von Trägern oder Qualität von Würde.5 Die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts sind dabei geprägt von philosophischen und theologischen Theoriebildungen, die je eine spezifische Hermeneutik des Würdebegriffs vorschlagen. Dabei ist auch versucht worden, verschiedene Fragen‑ und Problemfelder um den Würdebegriff produktiv zu überwinden, etwa um die Konsequenz der Unantastbarkeitsformel oder die Absolutheit ihrer normativen Gültigkeit. Im Folgenden sollen Entwürfe der dritten Phase dargestellt werden. Diese sind als prägende Stimmen im philosophischen und theologischen Diskurs der vergangenen zwei Jahrzehnte auszumachen. Vor allem aber führt ihre Darstellung schrittweise zu einer Hermeneutik des Würdebegriffs, welche die spezifische  Vgl. die geschichtliche Gesamtdarstellung von Manfred Baldus, Menschenwürde.  Für eine kleinschrittige Darstellung der Geschichte des Menschenwürdebegriffs siehe vor allem Baldus, Menschenwürde; Paul Tiedemann, Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt ²2014; Marcus Düwell et al. (Hg.) The Cambridge Handbook of Human Dignity. Interdisciplinary Perspectives, Cambridge 2014. Eine grundlegende Aufarbeitung sowie Darstellung des Zusammenhangs von Menschenwürde und theologischer Ethik liefert Lydia Lauxmann: Die Entstehung der Menschenwürde in der theologischen Ethik (im Erscheinen). 4 5

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

Nähe von Würde und Empathie verstehbar macht. Dazu sollen theoretische Grundzüge der einzelnen Entwürfe dargestellt werden, die erschließen, was es jeweils bedeutet, die Würde des Menschen zu achten. Um jene Konzepte in einer entwickelnden Logik darzustellen, sollen zwei Grundausrichtungen von Theorien unterschieden werden, die durch die Richtung gekennzeichnet sind, in der Würde jeweils gedacht wird: So wird auf der einen Seite menschliche Würde als Wesensmerkmal/Wert des Menschen gedacht, das a priori dem Menschen zukommt und als Grund und Quelle für weitere rechtliche und ethische Ableitungen bezeichnet werden kann. Diese theoretische Perspektive nimmt die klassische theologische Argumentation ein, die in langer christlich-theologischer Denktradition auch aktuell kirchlicherseits formuliert wird. Auf der anderen Seite – hierunter sind aktuelle philosophische Entwürfe zu fassen  – wird Menschenwürde als Gestaltungsziel a posteriori formuliert und ist damit nicht nur Ziel, sondern auch Ergebnis rechtlichen und ethischen Handelns. 3.1.1  Menschenwürde als gottgegebener Wesenswert. Die ökumenische Position der christlichen Kirchen in Deutschland (BILAG)6 Die christlich-theologische Perspektive auf den Begriff der Menschenwürde, die sich in der Erarbeitung der BILAG herausgebildet hat und unter dem Titel Gott und die Würde des Menschen7 veröffentlicht wurde, formuliert Würde als „unverlierbare[n], dem Menschen immer zukommende[n]“8 Wesenswert, der, weil er in Gott begründet ist, nicht aufgehoben, verloren oder abgestuft werden kann und unbedingte Geltung hat, d. h.: „der Mensch [besitzt] Würde in allen seinen Lebenssituationen“.9 Dieser Interpretation liegt das als klassisch theologisch-anthropologisch zu bezeichnende Menschenbild zugrunde, das sich wesentlich aus drei theologischen Grundgedanken (Schöpfung-Sünde-Erlösung) konstituiert. Hieraus wird zunächst deutlich, warum dem Menschen Würde zugeschrieben werden kann: 1. Der Mensch ist zu Gottes Ebenbild geschaffen. Gottebenbildlichkeit meint, dass er in ein besonderes Verhältnis zu Gott gestellt ist, in dem er als „zur Gemeinschaft mit Gott berufen“10, also zu einem Leben in Entsprechung  6  Bilaterale Arbeitsgruppe, eine Arbeitsgruppe, die als ökumenisches Gremium in Auftrag von Deutscher Bischofskonferenz auf katholischer Seite und Vereinigter Evangelisch-Lutherischer Kirche Deutschlands (VELKD) auf protestantischer Seite in einer Zusammensetzung kirchlicher und wissenschaftlicher themenspezifischer Dokumente erarbeitet. Der dritte Durchlauf dieser Arbeitsgruppe hat für die Erarbeitung einer ökumenischen Position das Thema Menschenwürde in den Blick genommen.  7  Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Gott und die Würde des Menschen, Leipzig 2017.  8  BilAg, Würde, 104.  9  BilAg, Würde, 111, 119. 10  BilAg, Würde, 105.

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

183

zu Gott bestimmt ist. Zwar ist die Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit des Menschen a priori durch die Schöpfung gegeben, impliziert jedoch nicht, dass sich diese durch ihr Gegebensein an sich realisiert.11 Die Gottebenbildlichkeit des Menschen beinhaltet zugleich den Auftrag, „in seinem Verhalten gegenüber der Welt Gottes Bezogenheit auf die Welt zu entsprechen“12, d. h. er ist in die Verantwortung gestellt, Gott entsprechend, respektvoll-bewahrend und verantwortlich mit der Welt und ihren Geschöpfen umzugehen.13 2. Der Mensch befindet sich in existenzieller Sünde. Denn de facto vollzieht der Mensch sein Leben in Gottesferne und Selbstbezogenheit und ist zudem selbst nicht imstande, von der Sündhaftigkeit an sich abzulassen.14 3. Durch das Erlösungshandeln Gottes in Jesus Christus ist der Mensch auch als Sünder nicht aus der Beziehung zu Gott entlassen, sondern wird aus Gnade in die Freiheit zu neuem Leben gestellt, in dessen Folge sich die Dankbarkeit des Menschen gegenüber Gott im Leben mit dem Anderen manifestiert.15 Die Spezifik dieses Ansatzes besteht nun allerdings darin, dass über die klassische Begründung durch das theologisch-anthropologische Menschenbild hinaus Menschenwürde zusätzlich in einer theologischen Komplementärargumentation als unverlierbarer, in Gott gründender Wesenswert begründet wird, indem in dreierlei Hinsicht aufgezeigt wird, worin die so beschriebene Würde spezifisch begründet liegt: So ist schöpfungstheologisch zu argumentieren, dass die Würde des Menschen in dem jedem Menschen zugesprochenen Auftrag zur Gottebenbildlichkeit liegt und Menschenwürde damit ausnahmslos jedem Menschen zukommt. Christologisch lässt sich begründen, dass die Würde des Menschen in der Menschwerdung Gottes in Christus liegt, in der sich die bedingungslose Annahme und Identifikation Gottes mit dem Menschen in jeder Situation ausdrückt. Soteriologisch besteht die Würde des Menschen spezifisch in der gnadenvollen Erlösung des Menschen trotz seiner Gebrochenheit unter der Sünde, eschatologisch lässt sich Würde in der in Christus schon jetzt begonnenen und zur Vollendung im Eschaton bestimmten Heilstat sehen, die dem Menschen hoffnungsvolle Perspektive bietet.16 Alle diese Begründungen laufen in komplementärer Weise daraufhin zu, dass die Würde des menschlichen Wesens Geschenk Gottes ist und damit jenes unverlierbare, unzerstörbare, allen Menschen unter allen Umständen gleichermaßen zukommende Wesensmerkmal.17

11 Vgl.

BilAg, Würde, 105 f. Würde, 106. 13 Vgl. BilAg, Würde, 106. 14  Vgl. BilAg, Würde, 107 f. 15  Vgl. BilAg, Würde, 108 f. 16  Vgl. BilAg, Würde, 111 ff. 17  Vgl. BilAg, Würde, 118 f. 12 BilAg,

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

Was aber bedeutet es im Rahmen dieser Argumentation konkret, die Würde von Menschen zu achten? Die BILAG selbst formuliert hierzu eine übergeordnete Aussage: Christinnen und Christen hoffen darauf, dass alle Menschen dereinst mit Gott leben. Aus dieser Hoffnung speist sich der Auftrag von Christen und Christinnen gegenüber dieser Welt. Sie wollen diese Welt so gestalten, dass alle Menschen schon jetzt so leben können, wie es ihrer Würde entspricht.18

Damit formuliert sie in prinzipieller Form, was sich aus der christlich-theologischen Konzeption des Würdebegriffes nicht in konkreten, unmittelbaren Handlungsimperativen ableiten lässt. Da der Begriff der Menschenwürde ein an sich begründungsoffener, d. h. auf eine ausfüllende Begründung angewiesener Begriff sei, welche durch ganz verschiedene Weltanschauungen und Deutungen möglich ist, beansprucht die BILAG selbst lediglich, eine solche christlich-theologische Deutungsperspektive anzubieten und sieht sich in unterschiedlichen ethischen Kontexten dazu aufgefordert, in Auseinandersetzung mit derselben „zu entdecken, wie ein der biblischen Tradition entsprechendes Handeln und Verhalten aussehen kann in Bezug auf die hochkomplexen und in sich mehrdeutigen empirischen Sachverhalte“.19 Was es also im einzelnen Fall bedeutet, die Würde von Menschen zu achten, ist in argumentativer Auseinandersetzung im Diskurs erst situativ zu finden. Die Stärke dieser Argumentation liegt in der Komplementarität und damit in der Dichte der theologischen Begründung. Hierin zeigt sich, dass Würde als Wesensmerkmal theologisch eine starke Evidenz hat, was die Annahme einer prinzipiell unverlierbaren Würde in besonderer Weise festigt und als unumstößlichen Wert des Menschen manifestiert. Mit der gleichzeitigen Formulierung eines dem Menschen zukommenden Auftrags, der sich aus dem Wesenswert ableitet, wird deutlich, dass sich diese beiden Denkrichtungen von menschlicher Würde nicht ausschließen, sondern einander vielmehr voraussetzen. Die Stärke der dichten theologischen Argumentation gereicht diesem Ansatz jedoch auch zugleich zur diskursiven Schwäche: Will eine theologische Argumentation für innerhalb eines interdisziplinär geführten Diskurses weiterhin eine Stimme behaupten, muss sie für andere Disziplinen anschlussfähig, d. h. rezipierbar sein. Insofern kann sich Theologie nicht auf eine rein binnentheologische, wenn auch dichte Begründung beschränken, sondern muss einen Übersetzungsprozess theologischer Begründungsparadigmen in interdisziplinär anschlussfähige Denk‑ und Sprachcodierungen ihrerseits befördern.

18 BilAg,

Würde, 119.  BilAg, Würde, 119.

19

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

185

3.1.2  Würde als Anrecht auf Achtung. Wilfried Härle Die Konzeption Würde. Groß vom Menschen denken (2010)20 des Theologen Wilfried Härle versucht, den konzeptionellen Spagat zwischen Wesenskonzepten und Gestaltungskonzepten produktiv aufzunehmen und im Sinne eines Anrechtes auf Achtung in zentralen Konkretionen von Würde explizit zu machen. Härle unterscheidet zum ersteren Zweck zwischen zwei Begriffen von Würde: Immer dann, wenn das Wort Würde genutzt wird, um auszudrücken, dass jemandem aufgrund einer Begabung, Anstrengung, Leistung, Bereitschaft oder Engagement ein bestimmtes Ansehen (im Sinne von Ehre) zuteilwird, dass eine Person trotz einer existenziellen Herausforderung in Erscheinung, Verhalten oder Haltung Würde bewahren kann oder etwa, dass jeder Mensch zeitlebens unter der Aufgabe steht, Würde als eine moralische Größe in sich/für sich zu kultivieren, dann ist von differenzierter Würde die Rede. Differenzierte Würde ist ihrer Gestalt nach in ihren Formen und Graden unterschiedlich, insofern sie von individuellen und äußeren Bedingungen sowie von der Anerkennung durch andere Menschen abhängig ist und damit dynamisch ist, d. h. vorhanden oder nicht-vorhanden, berechtigt oder unberechtigt sein kann bzw. erworben, anerkannt, herab‑ und heraufgestuft, verletzt, verloren, wiedererworben werden kann. Differenzierte Würde stellt damit eine Menschen unterscheidende Größe dar.21 Davon zu unterscheiden ist dagegen Menschenwürde. Unter diesem Begriff versteht Härle in klassischer Tradition einen Wert des Menschen, der ihm qua Menschsein gegeben ist, die er „in sich trägt […], dem Menschen selbst eignet, sozusagen innewohnt“.22 Menschenwürde wird damit nicht durch Menschen selbst verliehen, genommen, abgesprochen o. Ä., sondern „die Würde liegt im Würdenträger selbst begründet und fordert von seinem Gegenüber, dem ‚Würdeadressaten‘, ‚nur‘ Anerkennung“.23 Insofern nun sowohl mit dem Begriff Würde als auch mit dem der Menschenwürde das Moment der Achtung untrennbar verbunden ist, kann Härle dann Menschenwürde definieren als „das mit dem Dasein als Mensch gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch (kurs.: K. K.)“.24 Unter dem hier genannten Anrecht versteht Härle, dass es jedem Menschen qua Menschsein zusteht, Anerkennung und Respekt zu erfahren. Anerkennung und Respekt, in denen jene Achtung als Mensch besteht, konkretisieren sich für Härle in und beginnen bereits mit „Wertschätzung […], Wahrnehmen, Ernstnehmen und Rücksichtnehmen“.25 Diese Implikationen von Achtung beschreiben bereits 20 Härle,

Wilfried: Würde. Groß vom Menschen denken, München 2010. Härle, Würde, 9 ff. 22  Härle, Würde, 12 f. 23 Härle, Würde, 13. 24  Härle, Würde, 14. Der Begriff Anrecht auf Achtung ist eine von Härle modifizierte Form der Formel Recht auf Achtung, insofern ein Anrecht der rechtlichen Einklagbarkeit entbehrt, die für gewöhnlich ein jedes Recht durchaus hat. Hierzu ebenso vgl. Härle, Würde, 14. 25  Härle, Würde, 20. 21 Vgl.

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

eine feingliedrige Wahrnehmungsebene, eine Ebene der inneren Auseinandersetzung, des Verhältnisgewinnens zum Anderen, die in der Begegnung oder Beziehung zum Nächsten26 ihren Ort hat. Diese Ebene wird uns zu einem späteren Zeitpunkt noch intensiv beschäftigen. Die Konkretionen dazu, was es bedeutet, Menschenwürde zu achten, sind bei Härle durchaus klassische, lassen sich aber vor dem Hintergrund seiner Beschreibung von Achtung in besonders großer Bedeutungsreichweite lesen:27 1. Selbstzweck des Menschen: Achtung, wie sie oben beschrieben wird, impliziert die Behandlung eines Menschen im Verständnis, dass ihm zumindest immer auch ein Zweck in sich selbst zukommt und er nicht ausschließlich als Mittel zu einem außerhalb von ihm liegenden Zweck gesehen wird. 2. Personhaftigkeit: Die Achtung der Würde des Menschen bringt in rechtlichen Zusammenhängen unter der Objektformel klassischerweise mit sich, dass der Mensch nicht zu einem austauschbaren Objekt degradiert werden darf, über das von außen im Sinne eines Eigentums verfügt wird und dessen Wert von außen zuschreibbar und verhandelbar ist. In abstrahierter Form kann hier dem Objektbegriff der Begriff der Person gegenübergestellt werden. Die menschliche Würde zu achten, meint dann, einen Menschen in seiner Personhaftigkeit wahrzunehmen. 3. Selbstbestimmung: Der Aspekt der Selbstbestimmung gerät für Härle in ethischen Einzelfragen auf sehr dünnes, mitunter gefährliches Eis. Dennoch sind Raum und Möglichkeit zur Selbstbestimmung mit menschlicher Würde in der Regel verknüpft, insofern dort Menschenwürde verunmöglicht wird, wo grundsätzlich Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung ersetzt wird. 4. Entscheidungsfreiheit: Den Willen eines Menschen zu missachten oder zu brechen, indem Zwangsmaßnahmen angewendet werden, ist mit der Achtung der menschlichen Würde nicht vereinbar, ganz gleich, ob es emotional nachvollziehbar erscheint oder zu einem vermeintlich besseren Zweck geschieht. 5. Intimität: Die Würde des Menschen zu achten, bedeutet Achtung und Schutz der Intimsphäre, sodass die Person selbst über die Preisgabe seiner Privatheit in andere Räume entscheiden kann. Das gilt sowohl für den Bereich von Beschämung und Demütigung, als auch für geringfügigere Formen von Beschämung oder schlicht den Schutz des Eigenen. 6. Gleichberechtigung: Menschliche Würde wird geachtet, wo Menschen Gleichberechtigung erfahren. Auch dies lässt sich auf existenzielle Bereiche (etwa Ethnie, Geschlecht, Religion) beziehen oder aber ganz grundlegend auf alle menschlichen Räume, in denen die Erfahrung gleicher 26  Dieser Verweis auf den Nächsten dient in Härles Darstellung der Vorbeugung gegen den Einwand, dass Achtung auf dieser Wahrnehmungsebene nicht stetig in der Begegnung mit jedem anderen Menschen möglich und empirisch auch nicht umsetzbar wäre. So bezieht sich die hiermit verbundene Würde auf solche Begegnungen, „wo es zwischen Menschen zu einem Näheverhältnis kommt“, was biblisch mit dem Begriff des Nächsten bezeichnet werden kann (vgl. Härle, Würde, 20 f.). 27  Die folgenden Ausführungen in vgl. Härle, Würde, 35 ff.

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

187

Wahrnehmung, Anerkennung und Behandlung gemacht werden kann und sich Menschen als gleichberechtigt erleben. Mit dieser Konzeption leistet Härle in dreierlei Hinsicht einen konstruktiv vorgehenden Ansatz des Denkens über Menschenwürde: Zum Ersten versucht er mit der selbst erklärten Absicht, groß vom Menschen zu denken, den negativen Blick auf den Menschen, welcher der protestantischen Anthropologie eingeschrieben ist, zu überwinden. Zum Zweiten gelingt ihm eine konzeptionelle Synthese, Würde einerseits als statisches Wesensmerkmal und andererseits als graduelle, dynamische Größe systematisch zu begründen und damit interdisziplinär anschlussfähig zu sein. Zum Dritten erweitert Härle die Hermeneutik von Würde und eröffnet damit die Möglichkeit, Menschenwürde nicht allein als rechtlich zu sichernde, existenzielle Minimalrechte des Menschen zu verstehen, sondern auch auf einer feingliedrigen, alltäglichen Ebene anzusiedeln, für die bereits die Wahrnehmung entscheidend ist. 3.1.3  Menschenwürde als Gestaltungsauftrag. Franz-Josef Wetz Franz-Josef Wetz skizziert in seiner Monografie Illusion Menschenwürde (2005)28 eine grundlegend anders orientierte Position als sie aus den beiden theologischen Positionen ersichtlich wird. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Ausformung des Menschenwürdebegriffs bildet eine gegenwartsdiagnostische These, vor deren Hintergrund allein ein ernst zunehmendes und tragfähiges Konzept von Menschenwürde überhaupt möglich sei. „Die Fragwürdigkeit des abendländischen Anthropozentrismus im kulturellen Leben, die Vorherrschaft der Naturwissenschaften in der heutigen Zeit“ und der europäische Anspruch an „weltanschauliche Neutralität im öffentlichen Leben“29 bilden für Wetz die zentralen Bedingungen, die das Nachdenken über einen Würdebegriff konstituieren. Bestimmbarkeit und Begründbarkeit des Würdebegriffes aus irgendeiner Form metaphysischer Weltanschauung gewinnen zu wollen, kann damit weder der modernen Wirklichkeit entsprechen noch zielführend für eine allgemeine Anerkennung sein.30 Zugleich zeigen jedoch die verschiedenen Formen und die Größenordnung von Leid in der Welt unmissverständlich die Existenz von Würde sowie die Unverzichtbarkeit und Verantwortung auf, sich einen Begriff von Würde zu machen.31 Leitende Frage eines solchen Begreifens von Würde kann für Wetz nur sein, „was wir uns selbst wert sein möchten; wir müssen einen Weg ausfindig machen, der nichts von dem beseitigt oder unterdrückt,

28  Wetz, Franz Josef: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart 2005. 29  Wetz, Illusion Menschenwürde, 190. 30  Vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, 190; 217. 31  Vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, 192 f.

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

was für menschliche Selbstachtung und Würde wesentlich ist“.32 Das hat zur Konsequenz, dass man sich von der Idee der unverlierbaren Wesenswürde verabschieden muss, die als Quelle und Grund von Menschenrechten anzusehen ist, zugunsten eines Begreifens von Würde allein als Gestaltungsziel konkreter Lebensvollzüge.33 Damit ist Würde nicht aus sich selbst heraus gegeben, sondern kann nur das Ergebnis sein, das aus dem „Umgang des Einzelnen mit sich und seinesgleichen sowie des Staates mit seinen Bürgern“34 hervorgeht. Mit dieser Formulierung verbindet sich für Wetz ein konkreter Gestaltungsauftrag eines jeden, der sich auf das ganzheitliche menschliche Dasein bezieht.35 Drei Dimensionen formuliert Wetz, in denen sich dieser Auftrag zur Gestaltung des Lebens in Würde manifestieren muss: Unter Gelungener Selbstdarstellung sieht Wetz Würde durch Selbstachtung, körperliche Unversehrtheit und geistige Selbstbestimmung verwirklicht, Achtung der Bürger voreinander impliziert Rücksicht, Toleranz, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft für den Mitmenschen und schließlich ist auch materielle Sicherheit, die bei Wetz nur vage als Oberbegriff für medizinische Versorgung, Nahrung und Obdach auszumachen ist, notwendige Grundlage eines Lebens in Würde. Insofern kein Mensch von dem Anspruch auf die Achtung dieser drei Dimensionen auszuschließen ist, ist auch in seinem Ansatz jeder Mensch potenzieller Träger menschlicher Würde.36 Die Würde eines jeden Menschen zu achten bedeutet entsprechend, für jeden Menschen Bedingungen zu schaffen, unter denen jene drei Dimensionen des Lebens gewahrt werden können.37 Damit Menschenwürde als ein so gefasster Gestaltungsauftrag allgemeine Geltung und vor allem Verbindlichkeit beanspruchen kann, müssen nach Wetz jene Aspekte eines Lebens in Würde in einklagbare Rechte transformiert werden.38 Wetz führt in seiner Theorie in diesem Zusammenhang noch einen weiteren Aspekt ein: Die Möglichkeit zur Gestaltung eines Würde entsprechenden Lebens liegt nicht nur in der Herstellung und Bewahrung jener drei Würdedimensionen, sondern ist auch möglich in Situationen, in denen diese Bedingungen gerade nicht gegeben sind. Diese Gestaltungsmöglichkeit liegt dann beim Individuum selbst und fordert von ihm, angesichts nichtwürdiger Bedingungen die „persönliche Existenzwürdigkeit“39 stark zu machen. Dies bleibt bei Wetz ein andeutungsweiser Aspekt, wird aber in den weiteren hier darzustellenden Würdekonzeptionen eine gewichtigere Rolle spielen. 32 Wetz,

Illusion Menschenwürde, 205. Wetz, Illusion Menschenwürde, 205 f.; 210. 34 Wetz, Illusion Menschenwürde, 216. 35  Wetz, Illusion Menschenwürde, 210. 36  Vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, 214 f.; 235. 37  Vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, 232. 38  Vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, 254. 39  Wetz, Illusion Menschenwürde, 232 f. 33 Vgl.

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

189

Aus der Position von Wetz ist zu lernen, welche besondere Bedeutung in der Dimension der Gestaltbarkeit liegt. Würde ist dabei als überhaupt gestaltbare Angelegenheit menschlichen Daseins so deutlich hervorgehoben, dass daran auch deutlich wird, welche enorme Relevanz und Verantwortung in der ethischen Reflexion dieser Gestaltbarkeit liegen. Zwei Aspekte sind jedoch in dieser Konzeption problematisch: Zum einen ist bereits die grundsätzliche Einsicht vorausgesetzt, dass es notwendig, sinnvoll und wünschenswert ist, dass das Ziel menschenwürdiger Behandlung bzw. menschenwürdiger Verhältnisse für alle Menschen gleichermaßen gilt. Durch den Verzicht auf die Voraussetzung der Wesenswürde fehlt diese prinzipielle Ausgangslage und wird zusätzlich zur Verwirklichungshürde. Zum anderen ist die Absicherung eines allgemeinen Menschenwürdeethos durch einklagbare Rechte nur sehr bedingt möglich, insofern diese immer nur einen relativ geringfügigen Bereich abdecken könnten, in dem in kristallinerweise Menschenwürde bzw. deren Bedrohung erkennbar ist. Der gesamte Bereich, in dem Würde jedoch thematisch werden kann, ist um ein Vielfaches größer und fluider. 3.1.4  Menschenwürde als Recht, nicht gedemütigt zu werden. Ralf Stoecker Der Würdekonzeption von Ralf Stoecker, die er in seinem Artikel Selbstachtung und Menschenwürde (2004)40 entwirft, geht eine öffentliche Debatte voraus, die durch Äußerungen des Philosophen Julian Nida-Rümelin angestoßen wurde: Nida-Rümelin hatte in einem Artikel zum Schutz von Embryonen die Menschenwürde für Embryonen verneint, mit der Begründung, dass Menschenwürde in linearem Zusammenhang mit der Wahrung von Selbstachtung stünde, sodass Würde überall dort gegeben sei, wo Selbstachtung ermöglicht ist und andersherum Würde dort missachtet sei, wo die Möglichkeit zur Selbstachtung fehle. Insofern Embryonen nicht über die Fähigkeit zur Selbstachtung verfügten, könne dort auch keine Menschenwürde verletzt werden.41 Die in jener Position Nida-Rümelins skizzierte Linearität zwischen Menschenwürde und Selbstachtung bildet den Anlass für Stoecker, den Sachverhalt umfassend zu differenzieren, indem Selbstachtung statt als Möglichkeitsbedingung für Menschenwürde vielmehr als Haltung gegenüber der eigenen Würde behauptet wird. Im Zuge dieses Differenzierungsversuchs unterscheidet Stoecker zwischen zwei Begriffen von Würde: In Anschluss an Luhmann formuliert er zunächst eine individuelle Würde, „die Würde, die [ein Mensch] als individueller Mensch, als Person hat“.42 Diese individuelle Würde entwickelt sich aus der Anforderung an das Individuum, mit den verschiedenen sozialen Rollen, mit denen sich jedes  Ralf Stoecker, Selbstachtung und Menschenwürde, in: Studia Philosophica 63/2004, 107–

40

119.

 Der Artikel Nida-Rümelins, zit. n.: Stoecker, Selbstachtung und Menschenwürde, 107.  Stoecker, Selbstachtung, 111.

41 42

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

Individuum konfrontiert sieht, umzugehen, was nur unter der Herausbildung der zusätzlichen Rolle einer individuellen Person/Selbst möglich ist, die jene unterschiedlichen sozialen Rollen bekleidet.43 Das Gelingen dieser Rolle und damit der Identität ist nun von deren Achtung bzw. Missachtung durch die eigene oder durch andere Personen abhängig; ein Verhalten, welches das eigene Selbst beschädigt, ist ein Angriff auf die individuelle Würde dieses Menschen.44 Mit dem Begriff der individuellen Würde wird der Begriff der Selbstachtung unmittelbar verständlich, ist aber als von diesem zunächst unabhängig zu verstehen: Selbstachtung ist eine schützende Grundhaltung gegenüber der eigenen individuellen Würde gegen Missachtung durch andere oder durch sich selbst.45 Wer also über eine Grundhaltung der Selbstachtung verfügt, bemüht sich darum, Verletzungen, Entwürdigungen und Missachtung vom eigenen Selbst fernzuhalten bzw. mit ihnen in einer das Selbst nicht schädigenden Weise umzugehen. In solchen Fällen würde Stoecker also von Angriffen auf die individuelle Würde sprechen, die aber nicht zugleich eine Gefahr für die Selbstachtung bedeuten. In besonders intensiver oder anhaltender Form hingegen können Missachtungen der individuellen Würde dazu führen, dass die Grundhaltung der Selbstachtung, also der schützenden Fürsorge der individuellen Würde, aufgegeben wird. Nicht jeder Angriff auf die individuelle Würde also ist gleichbedeutend mit dem Verlust der Selbstachtung oder bedeutet umgekehrt, dass die Würde durch eine verunmöglichte Selbstachtung leiden würde.46 Während also individuelle Würde ein verletzliches und verlierbares Gut ist, das durch Selbstachtung geschützt werden kann, ist bei Stoecker Menschenwürde ein davon zu unterscheidendes Merkmal eines jeden Menschen, das durch keinerlei Missachtung oder Entwürdigung überhaupt gefährdet, vermindert oder verloren werden kann. Gleichwenn eine Missachtung oder Unwürdigkeit also ein Angriff auf die individuelle Würde darstellt und zumindest eine Herausforderung oder gar Gefährdung für die Selbstachtung bedeutet, so bleibt die Menschenwürde als solche hiervon völlig unberührt. Dies begründet Stoecker allerdings nicht im Sinne der a priori vorhandenen, etwa gottgegebenen Wesenswürde, sondern in Anschluss an den Würdebegriff Avishai Margalits47 als ein „spezielles Menschenrecht […], nicht gedemütigt zu werden, d. h. nicht in seiner individuellen Würde  Vgl. Stoecker, Selbstachtung, 111 f. Stoecker, Selbstachtung, 112 f. 45 Vgl. Stoecker, Selbstachtung, 113. 46  Vgl. Stoecker, Selbstachtung, 113 f. 47  Avishai Margalit zeichnet in seinem Werk The Decent Society (dt.: Politik der Würde) einen Begriff von Würde, der sich vor allem im Lichte des Gegenbegriffes der Demütigung erhellt: Demütigung meint dabei „Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen“ (Margalit, zit. n. Bethge, 319.). Seine ethischen Ausführungen beziehen sich auf die Makroebene einer anständigen Gesellschaft (dem korrespondiert würdige Gesellschaft), die als anständig gelten kann, wenn gesellschaftliche Institutionen Menschen nicht demütigen bzw. vor einer so verstandenen Demütigung schützen 43

44 Vgl.

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

191

verletzt zu werden“.48 Dieses Recht zumindest bleibt unverbrüchlich erhalten, ganz gleich, welcher Missachtung die individuelle Würde (und die Selbstachtung) ausgesetzt ist.49 Hierin liegt nach Stoecker auch der normative Wert der Menschenwürde: Wir verstehen uns als individuelle Menschen, deshalb liegt es nahe, die Bedingungen der Möglichkeit dieser individuellen Existenz normativ stark zu schützen. Das ist es, was wir tun, wenn wir die Würde des Menschen als unantastbar bezeichnen. Die Würde des Menschen besteht aus dieser Sicht nicht in einer bestimmten individuellen Würde, wohl aber darin, überhaupt eine individuelle Würde zu haben, an ihr festzuhalten und sie weiterzuentwickeln.50

Was es bedeutet, die Würde von Menschen zu achten, formuliert Stoecker als ein daraus resultierendes Gebot. Menschenwürde zu achten, meint zweierlei: Es meint einerseits, die individuelle Würde des Anderen nicht zu missachten, zu demütigen etc.; es meint andererseits aber zugleich, die individuelle Würde des Anderen aktiv zu unterstützen. Selbstverständnis, Rollenentfaltung, Identität zu akzeptieren und zu stützen oder Freiräume der Ausdeutung des Selbst zu tolerieren sind Formen, die individuelle Würde des Anderen zu stärken.51 Was hier von Stoecker vor allem für Bedingungen verunmöglichter Selbstachtung stark gemacht wird (etwa Krankheit, Degenerativität), wird im nächsten Kapitel auch für alltägliche Bezüge noch eine prominentere Rolle spielen. Aus diesem Verständnis menschlicher Würde geht vor allem ein Aspekt als innovativ hervor: Menschliche Würde zu wahren meint nicht nur die ‚negative‘ Gestaltung durch Unterlassung von deren Missachtung, sondern auch Formen ‚positiver‘ Gestaltung, durch die individuelle Würde geschützt bzw. aktiv gestärkt wird. Der Aspekt der aktiven Gestaltung Würde entsprechender Verhältnisse ist auch für das vorliegende Vorhaben eine grundlegende Lesart von Würde. 3.1.5  Würde als verkörperte Selbstachtung. Arnd Pollmann Was Ralf Stoecker mit der begrifflichen Differenzierung von verlierbarer individueller Würde und unantastbarer Menschenwürde versucht zu entlasten, bildet in der Konzeption Würde nach Maß (2005)52 von Arnd Pollmann das Ausgangsproblem: Wenn Menschenwürde als dem Menschen immer schon zukommender und deshalb unverlierbarer Wesenswert formuliert wird, zugleich aber in jedem Moment der Wirklichkeit erfahrbar ist, dass de facto nicht für (vgl. Hannah Bethge, Avishai Margalit, in: Gisela Riescher (Hg.): Politische Theorie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen von Adorno bis Young, Stuttgart 2004, 319–322). 48 Vgl. Stoecker, Selbstachtung, 115. 49 Vgl. Stoecker, Selbstachtung, 115 f. 50  Vgl. Stoecker, Selbstachtung, 116. 51  Vgl. Stoecker, Selbstachtung, 117. 52  Arnd Pollmann, Würde nach Maß, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53/2005/4, 611–619.

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

jeden Menschen Würde in vollem Maße realisiert und deshalb rechtlich und ethisch zu schützen ist, warum muss dann das geschützt werden, was seinem Wesen nach ohnehin unverlierbar ist?53 Um dieses Paradox produktiv zu überwinden, entwirft Pollmann einen Würdebegriff, der in der Grundausrichtung eher dem zweiten oben genannten Konzeptionstypus angehört, welcher Würde erst a posteriori gestaltend verwirklicht sieht, ohne aber die grundsätzliche apriorische Voraussetzung völlig zu verabschieden. So führt Pollmann insgesamt fünf Merkmale zur Definition des Würdebegriffes ins Feld: 1. Seine Gattungszugehörigkeit ermöglicht dem Menschen überhaupt, Anteil an Menschenwürde zu haben, sodass Menschenwürde zunächst als Potenzial in der menschlichen Natur vorhanden ist. Dieses Potenzial menschlicher Würde gewinnt vollständig realisierte Gestalt, wenn 2. in Form von sozialer Anerkennung, d. h. Achtung dem Menschen das Gefühl zuteilwird, als gleichgestelltes Wesen unter anderen angesehen zu sein, aus dem 3. ein Gefühl von Selbstsicherheit entsteht, das ein „spezifisches Selbstverhältnis“ der Selbstachtung hervorbringt, welche 4. nicht nur als innere, sondern auch als dargestellte, d. h. verkörperte Form des gewonnenen Selbstverhältnisses Ausdruck findet, etwa in Körperhaltung oder Gang und 5. entsprechende Lebensbedingungen den Raum eröffnen, sich in jener verkörperten Selbstachtung zu bewegen bzw. diese zu bewahren.54 In der Perspektive dieser Konzeption wird der Aspekt zentral, der bei Wetz nur angedeutet wurde: Die Ermöglichung bzw. Bewahrung von Würde ist in entscheidender Weise abhängig davon, ob es dem Individuum selbst gelingt, seine Selbstachtung zu wahren (und zu verkörpern). Damit soll nach Pollmann nicht ausgesagt sein, dass eine verlorene oder beschädigte Würde eigenes Verschulden sei, jedoch wird eine Fokusverschiebung vorgenommen für die Frage, was es bedeutet, die Würde von Menschen zu achten, sodass nun zwei Komponenten in den Blick genommen werden: Die Würde des Einzelnen kann durchaus attackiert werden und so ist umgekehrt zentral, dass Bedingungen und Räume geschaffen, erhalten und geschützt werden, die eben jene verkörperte Selbstachtung ermöglichen und dass zugleich alles verhindert wird, das den Menschen daran hindert, in verkörperter Selbstachtung zu leben. Entscheidend für Besitz oder Verlust von Würde ist jedoch die Erhaltung der verkörperten Selbstachtung selbst, was Pollmann als Lesart der Unantastbarkeitssemantik menschlicher Würde kennzeichnet: Solange dem Individuum verkörperte Selbstachtung gelingt, ist Würde gegeben.55 Menschenwürde zu achten, bedeutet dann nicht, Menschenwürde selbst zu gewähren, sondern „deren bestmöglichen sozialen Schutz“56 zur Gewährleistung eigener verkörperter Selbstachtung zu ermöglichen. Damit ist Menschenwürde  Vgl. Pollmann, Würde, 611.  Vgl. Pollmann, Würde, 615 f. 55  Vgl. Pollmann, Würde, 616 f. 56  Pollmann, Würde, 617. 53 54

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

193

jedoch ebenfalls als Ziel begriffen, das dann erfüllt ist, wenn Würde (als verkörperte Selbstachtung) geschützt ist.57 Die Erkenntnis, dass menschliche Würde überhaupt und in erheblichem Maße mit verkörperter Selbstachtung zusammenhängt, ist als Verdienst dieser Konzeption zu würdigen. Denn in dieser Perspektive kommt besonders zum Ausdruck, dass das Individuum nicht schlicht als Spielball und Opfer seiner Verhältnisse und sozialen Bedingungen ist, sondern auch ein Dasein in Würde unter an sich in irgendeiner Weise unwürdigen Bedingungen möglich ist und für Würde auch ein selbstbestimmbarer Raum zentral ist. In der Linearität der Formulierung liegt jedoch auch eine Problematik: Wenn Würde dort gegeben ist, wo verkörperte Selbstachtung gegeben ist, fehlt Würde dort, wo es keine bzw. eine eingeschränkte verkörperte Selbstachtung gibt. Das ist in der Kohärenz der Theorie zwar evident und stimmig; dass aber ein Mensch zu jeder Zeit mit einer vollständigen verkörperten Selbstachtung existiert, markiert nicht den Normalfall menschlicher Existenz. Ein so eingeschränkter Würdebegriff verliert bereits für Fälle wie etwa Demenz, Bewusstlosigkeit, Koma oder Depression seine Tragfähigkeit, insofern zwar soziale Bedingungen würdiger Existenz gegeben sein mögen, aber schlicht die Fähigkeit zur verkörperten Selbstachtung fehlt. 3.1.6  Würde als Haltung. Eva Weber-Guskar Eine Konzeption, die verschiedene Topoi der bereits dargestellten Konzeptionen etwa von Stoecker oder Pollmann aufnimmt, aber unter den Anspruch stellt, diese umfassend und unter Ausschluss der Doppeldeutigkeit des Würdebegriffs58 zu systematisieren, ist die von Eva Weber-Guskar. In ihrer Monografie Würde als Haltung (2016)59 entwickelt sie einen Begriff von Menschenwürde, der ebenfalls als ein zu gestaltendes, nicht als ein apriori gegebenes Merkmal des Menschen in Erscheinung tritt. Dabei ist unter Würde jedoch nicht schlicht ein Ziel von Gestaltung zu verstehen, das durch ein Verhalten oder Selbstachtung verwirklicht wäre, sondern das sich im Individuum selbst realisiert. Die von ihr gewählte Bezeichnung, mit der sich Würde grundlegend denken lässt, ist Haltung. Unter einer Haltung versteht Weber-Guskar zunächst eine „Welt-Bezogenheit einer Person […], die in einem Selbstverhältnis gründet […], in dem man Emotions‑ und Handlungsdispositionen gestaltet, sodass man sich in seinem Sein und im Umgang mit den Dingen der Welt in bestimmter Hinsicht eine gewisse, relativ stabile Ausrichtung gibt“.60  Vgl. Pollmann, Würde, 619.  Unter der Doppeldeutigkeit des Würdebegriffs versteht Weber-Guskar die begriffliche Differenzierung von Würde als Wert/Eigenschaft und Würde als Gestaltung. 59  Eva Weber-Guskar, Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde, Münster 2016. 60  Weber-Guskar, Würde als Haltung, 111. 57 58

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

Um nun von einer Haltung der Würde zu sprechen, erhält jenes Selbstverhältnis ein spezifisches Strukturmerkmal: Verfügt eine Person über eine Haltung der Würde, ist sie bestrebt, Übereinstimmungen bzw. Entsprechungen innerhalb ihrer Emotionen und Handlungen herzustellen. Diese Übereinstimmungen beziehen sich einerseits auf die Ebene der Reflexion der inneren Stimmigkeit, d. h. die Person ist sich ehrlich bewusst über das und identifiziert sich mit dem, was sie ist und tut, andererseits auf das Verhältnis von Innen und Außen, d. h. innere Prozesse (Gedanken, Gefühle) und Ausdrücke (Reaktionen, Handlungen, sprachliche Äußerungen) entsprechen einander.61 Was hier für eine als Person mit würdevoller Erscheinung gilt, lässt sich nach Weber-Guskar auf die Ebene des würdigen Verhaltens einer Person ausweiten: Mit sich übereinzustimmen heißt dann, seinem eigenen Selbstbild zu entsprechen, das sich aus all dem konstituiert, was sich an Normen, Vorstellungen und Wichtigkeiten individuell herausgebildet hat; „dieses Selbstbild […] repräsentiert den Raum des möglichen Verstehens seiner selbst“.62 Eine Person hat demzufolge dann Würde, wenn sie in ihren Emotionen, Einstellungen, Handlungen dem entspricht, was zu ihrem entwickelten Selbstbild gehört. Umgekehrt geht Würde entsprechend verloren, wenn eine Entsprechung mit dem Selbstbild nicht gegeben ist.63 Aus diesem Verständnis des Würdebegriffs folgen nach Weber-Guskar zwei Aspekte: 1. Würde kann in unterschiedlichen Graden vorhanden bzw. ausgeprägt sein; Würde als Haltung stellt ein Kontinuum dar, das eines kristallinen Grenzwertes von Würde/Nicht-Würde entbehrt. 2. Zumindest immer zu einem geringen Anteil ist der Mensch selbst verantwortlich dafür, ob er Würde hat oder nicht. Das ist ein Gedanke, der bereits bei Pollmann eine entscheidende Rolle spielt. Denn für das Vorhandensein von Würde kommt es jeweils darauf an, wie mit einem Angriff auf die Entsprechungsmöglichkeit mit dem eigenen Selbstbild umgegangen wird. Eine Entwürdigung ist nicht per se in einer Missachtungshandlung mitgegeben, sondern entscheidet sich wesentlich in der Haltung selbst, je nachdem, ob das Selbstbild verteidigt bzw. angepasst oder aufgegeben werden muss.64 Was bedeutet es nach diesem Würdebegriff, die Würde von Menschen zu achten? Menschenwürdige Lebensumstände bedeuten, dass ein Mensch mit einer Haltung der Würde leben, d. h. diese „ausbilden, behalten oder wiedererlangen“65  Vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, 126 f. Würde als Haltung, 147. 63 Vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, 149. Die Frage, woraus sich ein Selbstbild konstituieren kann, sodass es als Grundlage für die Selbstentsprechung dienen kann, beantwortet Weber-Guskar mit dem umfassenden, prozesshaften Zustandekommen des Selbstbildes in sozialen Bezügen, d. h. ein Selbstbild bildet sich ganz wesentlich auch unter der Bewährung im sozialen Raum. Einen Mörder als würdig zu beschreiben, insofern sein Handeln in Übereinstimmung mit seinem Selbstbild steht, erweist sich dann entsprechend als eine unplausible Schlussfolgerung (vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, 164 f.). 64  Vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, 152 ff. 65  Weber-Guskar, Würde als Haltung, 190 f. 61

62 Weber-Guskar,

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

195

kann. Insofern die Voraussetzung hierfür ist, dass ein Mensch in seinen Gefühlen, Handlungen und Normen mit sich selbst übereinstimmt und diese in sich selbst entsprechender Weise nach außen tragen, damit sich selbst entfalten und als Person unter anderen sein kann, lassen sich konkrete Bedingungen formulieren, ohne die eine so beschriebene Haltung der Würde nicht möglich ist: Garantierte physische Integrität, materielles Existenzminimum und soziale Anerkennung. In allen drei Aspekten wird im Falle ihres Fehlens eine Übereinstimmung mit sich entweder von außen unterbunden oder eingeschränkt oder aber, wie im dritten Falle, nicht anerkannt, ignoriert und marginalisiert; sind sie dagegen gegeben, so ist eine Stabilität in der inneren und ausgedrückten Einheit der Person mit sich selbst ermöglicht, welche die Erhaltung dieser Übereinstimmung weiter stützt.66 Damit ist von einem Gebot zu sprechen, diejenigen konkreten Bedingungen, die eine Haltung der Würde bedeuten, nicht nur nicht zu verunmöglichen oder gezielt zu attackieren, sondern positiv gewendet zu ermöglichen und/oder zu bestärken.67 Indem Weber-Guskar schließlich Würde als „konstitutives Element guten Lebens“68 herausstellt, liefert sie nicht nur eine Begründung für Würde als Notwendigkeit in existenziellen Grenzsituationen, sondern als immer weiter ausdifferenzierbares Ideal69 für Lebensgestaltung ganz allgemein. Wenngleich diese Bedeutungsausweitung in ihrem Entwurf keine größere Aufmerksamkeit erhält und eher implizit bleibt, wird sie für die vorliegende Untersuchung im folgenden Kapitel eine prominentere Rolle spielen. In der systematischen und konsistenten Ausarbeitung von Würde als eine Haltung liegt das Verdienst dieses Ansatzes. Auch die Anordnung der Ausführungen zu Haltung, der Aspekt der Förderung sowie der letztgenannte Aspekt der Ausweitung auf den allgemeinen Bereich von Lebensgestaltung bilden für das vorliegende Vorhaben relevante Referenzen. Insofern jedoch diese Aspekte der Idee nach bereits in den vorangehenden Konzeptionen liegen und der bei Pollmann kritisierte Aspekt des Geltungsbereichs von Würde hier nicht ausgeräumt ist, ist dies auch für diese Konzeption eine bleibende kritische Nachfrage. 3.1.7  Würde als Lebensform. Peter Bieri Der 2013 erschienene Entwurf Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde70 von Peter Bieri verfolgt in der Darstellung von Menschenwürde ein anders orientiertes Ziel: Eher in einer empirisch ausgerichteten Methodik macht sich Bieri nicht zum Ziel, einen systematischen Entwurf des Würdebegriffs vorzulegen, sondern sich verstehend auf das zuzubewegen, was Menschen in 66 Vgl.

Weber-Guskar, Würde als Haltung, 191 ff.  Vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, 195. 68  Weber-Guskar, Würde als Haltung, 202. 69 Vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, 203. 70  Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013. 67

196

3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

Situationen erleben, in denen es um Würde geht. Würde wird dann verstanden als „eine bestimmte Art und Weise, menschliches Leben zu leben. Sie ist ein Muster des Denkens, Erlebens und Tuns“.71 Drei Dimensionen formuliert Bieri, die in der Beleuchtung von Würde als Lebensform immer wieder in Erscheinung treten: Der Umgang anderer mit der eigenen Person (Welche Art anderer Menschen mit mir umzugehen, gibt mir das Gefühl von Würde?), der eigene Umgang mit anderen Personen (Welche eigene Art des Umgangs ermöglicht Würdeerfahrung?) und der Umgang mit sich selbst (Welche Art des Umgangs im Selbstverhältnis ermöglicht Würdeerfahrung?).72 Aus diesen von Bieri dargestellten Erfahrungshorizonten menschlicher Würde lassen sich jedoch ebenso deutlich Bedingungen herauslesen, die markieren, was die Achtung von Würde bedeuten kann.73 Es sind hier Bedingungen gemeint, die, hier als abstrahierte Prinzipien formuliert,74 die Erfahrung von Würde ermöglichen. An ihnen wird auch deutlich werden, dass ein Versuch, diese Würdeerfahrung zu ermöglichen, sowohl im Unterlassen schadhafter Angriffe oder Missachtungen von Würde bzw. das Wahren und Beschützen vorhandener Würde besteht, aber auch zu einem nicht unerheblichen Teil darin, Menschen in einer bestimmten Hinsicht Würde zu geben, Würde aktiv zu kultivieren, Würde zu einer positiven Bezeichnung gelungener subjektiver und intersubjektiver Verhältnisse auf feingliedrigen, durchaus auch nicht-existenziellen Ebenen werden zu lassen: 1. Die Achtung von Würde im Sinne von Selbstständigkeit von Personen umfasst die Erfahrung, als erlebendes Subjekt mit einem in sich selbst gegebenen Zweck75 wahrgenommen und behandelt zu werden. Dazu können ferner etwa auch Selbstbestimmung, innere Autorität, das Recht auf ein Dasein als Rechtssubjekt, Mündigkeit (des zur Mündigkeit Fähigen), innere Unabhängigkeit in Denken, Urteil, Willen und Emotion, Selbsterkenntnis und innere Freiheit sowie Selbstverständigung und Selbstübereinstimmung gehören. 2. Würde in einer Begegnung zu achten, bedeutet näherhin, diese überhaupt zu einer wahrhaften Begegnung werden zu lassen, indem eine Intimität durch gedankliche und emotionale Verschränkung entsteht, eine engagierte Nähe, in der resonante Partner 71 Bieri,

Eine Art zu leben, 12; 16. Bieri, Eine Art zu leben, 12 f. 73 Ich wähle hier die Potentialisform kann, da in Bieris Entwurf gerade nicht definitorische Bedingungen von Würde herausgearbeitet werden, sondern Situationen, in denen der Begriff Würde um diese als Bedingungen bezeichneten Erfahrungen auftritt. Je nach Perspektive und möglicher Kehrseite ist damit aber keineswegs eine Garantie formuliert, Würde zu generieren, wie es in den Ambiguitäten der von Bieri geschilderten Geschichten immer wieder deutlich wird. Insofern ließe sich hier eher von Bedingungen sprechen, die tendenziell die Erfahrung von Würde ermöglichen (vgl. hierzu etwa 54 f.). 74  Durch die abstrahierten Formulierungen aus den beschriebenen Erfahrungshorizonten soll keinesfalls der Eindruck eines summarischen Ideals erweckt werden, um den es Bieri hier ginge. Vielmehr ist hierdurch ein Facettenreichtum markiert, in der sich Würde achten lässt. 75  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 20 ff.; 29 ff.; 34 ff.; 37 f.; 38 ff.; 55 ff.; 81 ff.; 88 f. 72 Vgl.

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

197

einander als erlebende Subjekte ernst nehmen. Sie kann in Situationen entstehen, wo Anerkennung sich durch aufmerksame Wahrnehmung und wertschätzende Bewertung ausdrückt und sich im gesamten Umgang widerspiegelt oder wo Gleichberechtigung sich in vorausgesetzter Symmetrie der Personen manifestiert. Würde zu achten, kann auch in der Achtung der Personhaftigkeit und Individualität eines Menschen bestehen, der eine Autorität und Souveränität als Person hat oder schlicht in der Beachtung und Reaktion auf Äußerungen und Bedürfnisse des Anderen. Ferner formuliert Bieri als Achtung von Würde die Ermöglichung von Transparenz und Verstehen, von Durchdringen und Nachvollziehbarkeit von Geschehen, die Wahrung der Autorität über Selbst‑ und Weltbild, das Wahren eines Schutzraumes für individuelle Entwicklung, die Offenheit für eine Prozesshaftigkeit der eigenen und auch der anderen Person, eine reflektierte Gestaltung intersubjektiver Begegnung und Beziehung sowie ein Geltenlassen von Personen, Situationen und Geschehen.76 3. Würde zu achten, kann sich in verschiedener Weise auf die Achtung von Intimität beziehen. Darunter versteht Bieri den intimen Erlebensraum von Personen zu wahren, zu achten und zu schützen, der sich in individueller Grenzziehung absteckt und natürlicherweise durch Erfahrungen von Schuld, Scham, Makel und seelischer Blöße bedroht sein kann. Dieser Innenraum hilft, sich in einem empfundenen Defizit zu schützen oder aber eigene innere Unabhängigkeit zu gewinnen, um einen eigenen denk‑ und handlungsleitenden Maßstab zu finden und ermöglicht eine aufrechte Haltung vor sich selbst. Jene Achtung ermöglicht dann eine Intimsphäre, in der sich eine Person in einer inneren Sicherheit empfinden kann und ihre Identität in ihrer selbstbestimmten Privatheit, Diskretion und Verborgenheit vor Selbstverlust und Selbstentfremdung geschützt ist. Dies kann in gleicher Weise den Schutz „geteilter Intimität“ in ihrer Einzigartigkeit und in ihrer Fragilität und Vorläufigkeit bedeuten.77 4. Würde zu achten, kann bedeuten, Wahrhaftigkeit zuzulassen. Dies meint etwa den Mut zu Echtheit und Aufrichtigkeit der eigenen Person vor anderen und sich selbst, Mut zu Reflexion und Eingeständnis, „geteilte Aufrichtigkeit“, Mut zur Verbalisierung von Ungesagtem oder auch zur „Anerkennung von Tatsachen“ und tatsächlichen Zusammenhängen.78 5. Im Sinne der bereits häufig vorgekommenen Selbstachtung kann das Achten menschlicher Würde im Kümmern um die Übereinstimmung mit dem eigenen Selbstbild und die Achtung vor den eigenen Grenzen bedeuten, aber auch Verantwortung zur Selbstfürsorge, Treue zur eigenen Person und couragierte Positionierung, Bewusstsein für den eigenen Wert sowie die Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Person in ihrer Entwicklung.79 6. Würde zu achten, kann 76  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 97 f.; 98 ff.; 105 ff.; 108 f.; 109 ff.; 116 ff.; 121 ff.; 127 ff.; 137 f.; 153 f.; 151 f.; 154 ff. 77  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 157 ff.; 174 ff.; 177 ff.; 194 ff. 78  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 215 ff.; 221 ff.; 228 ff.; 235 ff. 79  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 242 ff.; 259 ff.; 262 f.; 263 f.

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

sich auch im Sinne der Wahrung der moralischen Integrität auf die eigene Person beziehen und sehr unterschiedliche Dimensionen betreffen. Dabei kann etwa die Bereitschaft zu „moralischer Intimität“ gemeint sein, die daraus entsteht, dass Subjekte in gedanklicher und emotionaler Weise einander präsent sind, Anteil am Leben des Anderen nehmen und sich so auf verschiedenen Ebenen miteinander verschränken. Aus ihr entsteht Sensibilität für Moral. Achtung der eigenen moralischen Würde kann zudem meinen, den Anderen ganz konkret in seinen Bedürfnissen zu achten, die dessen Würde betreffen. Moralische Würde wird aber auch geachtet, indem verschuldetes oder bedauertes Leid anerkannt und eingestanden wird, der Situation verantwortlich begegnet wird, ggf. um Vergebung gebeten und der Emotionalität standgehalten wird bzw. Reflexion und Weiterentwicklung der eigenen Person daraus folgt. Bezieht sich die Achtung der Würde auf zu Tätern gewordene Personen, meint Achtung, Strafe von Würdeverlust und menschlicher Entrechtung frei zuhalten, Tätern eine zwischen Tat und Person differenzierende und damit würdeerhaltende Einstellung entgegenzubringen, welche die Erfahrung von Würde nicht verhindert und damit Strafe nicht aus dem Motiv der Vergeltung generiert.80 7. Würde kann sich auch als Sinn für das Wichtige ausdrücken. Die Achtung einer so verstandenen Würde meint bei Bieri, Sinngehalte des eigenen Lebens zu finden, in Denken, Handeln und Erleben eine eigenständige Identität zu entwickeln und diese zur Priorität zu erheben. Damit schafft ein Mensch Raum, in echter Weise bei sich selbst zu sein. Zudem kann jene Achtung bedeuten, den „Sinn für Proportionen“ zu behalten, etwa in Bezug auf Relevanzen oder Verhältnismäßigkeiten, eine „momentane Verengung des Geistes“ zu lösen und ein Gleichgewicht (Gleichmut) im eigenen Erleben herzustellen. Damit kann auch zusammenhängen, einen Blick für naheliegende Notwendigkeiten zu haben, die eine Sache/Situation objektiv erfordert, frei von jedweder Selbstfokussierung oder auch eigene Gewichtungen in einem Prozess der Selbstverständigung zu überprüfen und anzupassen.81 8. Schließlich besteht die Achtung der Würde als Anerkennung der Endlichkeit darin, den Anderen trotz Verfallsprozesse als vollständige, vollwertige Person und Gegenüber zu behandeln und in dessen Selbstständigkeit zu unterstützen, auch darin, die Kontingenz des Schicksals anzuerkennen. Bereitschaft zur Akzeptanz und eine Anpassung der Betrachtungsweise können darin impliziert sein. Auch meint diese Achtung, Respekt vor dem Wunsch einer Person zu haben (ggf. wie sie früher gewesen ist) bzw. vor dem – tatsächlichen – Willen über das eigene Ende und schließlich auch die einstmalige Person im verstorbenen Zustand in den überdauernden Wünschen, Werten, Vorstellungen zu schützen. Dies meint eine Form der Achtung von Würde, die um ihrer selbst willen besteht.82  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 265 ff.; 270 ff.; 274 ff.; 283 ff.; 290 f.; 294 ff.  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 309 ff.; 312 ff.; 316 f.; 321; 322; 324; 326; 328. 82  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 331 ff.; 343 ff.; 353 ff.; 372 f. 80 81

3.1  Von der Achtung menschlicher Würde

199

Bieris Entwurf bereichert den Würdediskurs in erster Linie durch die Komplexität von Würdeerfahrungen, die durch seine Hermeneutik von Würde eingefangen wird. Wenngleich zu der als nicht systematisch intendierten Methodik die Kritik erhoben werden könnte, dass diesem Entwurf der systematisch konzipierte, eindeutige Würdebegriff fehlt, sodass keine unmittelbare Grundlage vor allem rechtlicher Ableitung gegeben ist, so ist Bieris Herangehensweise als gleichsam notwendig zu bezeichnen, um jene hermeneutische Komplexität erst zu erreichen. So ist erst in Bieris Entwurf nicht nur ein besonders großes Spektrum inhaltlicher Dimensionen von Würde aufgezeigt, sondern sind auch verschiedene Ebenen von Würdekultur erfasst worden, die etwa in stellvertretender Würde oder auch Würdekultur zum Zweck ihrer selbst bestehen. Auch ist durch diese Reichweite der Würdeerfahrung ein Aspekt so deutlich aufgezeigt: Die Erfahrung von Würde ist auf die aktive gestaltende Kultivierung ihrer relevanten Bedingungen angewiesen. So lässt sich dann auch zwar mittelbar, aber in diskursiver Herausbildung durchaus ethische und rechtliche Absicherung menschlicher Würde gewinnen. Betrachtet man die hier vorgestellten Konzeptionen von Würde, so werden mindestens zwei Dinge deutlich, die für die weitere Ausarbeitung von Bedeutung sind. (1) Was Würde tatsächlich bedeutet, ist nicht abschließend entscheidbar, insofern alle Konzeptionen in ihrer Entstehungs‑ und Begründungslogik konsistent und nicht objektiv, sondern allenfalls positionell anfechtbar sind. Eine solche Entscheidung kann hier aber ohnehin nicht Ziel der Untersuchung sein. Vielmehr soll diese Unentscheidbarkeit für den hier vorliegenden Zweck methodisch produktiv genutzt werden. Denn die oben erläuterten Konzeptionen in ihrer Diversität und die dabei herausgestellten Aspekte zur Achtung menschlicher Würde zeigen (2) etwas ganz Entscheidendes: Menschliche Würde erschöpft sich nicht in menschlichen Grundrechten, die die Wahrung einer menschenwürdigen Existenz ermöglichen. Dass die Erfahrung von Würde auf weit feingliedrigere Ebenen alltäglicher Lebensbewältigung bezogen werden kann und muss, zeigen in impliziter Weise Härle, Pollmann und Weber-Guskar, in expliziter Deklination aber vor allem Bieri. Je größer die Reichweite des Würdebegriffs dabei wird, desto stärker wird auch deutlich: Eine rechtliche Perspektive (die sich zweifelsohne immer auch aus ethischen Perspektiven erst generiert),83 muss letztlich Würde auf menschliche Existenzbedingungen begrenzen, die durch die Form von Gesetzen einklagbar sind. Das Grundverhältnis, das dabei angesprochen ist, ist das zwischen Individuum und Staat, insofern der Staat den Schutz der Würde des Menschen rechtlich sichert und verantwortet. Damit stellt jene rechtliche Perspektive nur eine Variante dar, wie menschenwürdige Verhältnisse einzufordern sind. Umso deutlicher wird die steigende Relevanz einer Lesart von Würde, die neben die rechtliche Perspektive tritt und Würde als  Vgl. Härle, Würde, 31.

83

200

3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

moralisch-zwischenmenschliche Kategorie versteht. In dieser Differenzierung von Recht und Moral drückt sich menschliche Würde aus als der Würde des Menschen entsprechende Lebensverhältnisse.84 Der Begriff der Würde erfährt hier eine semantische Erweiterung und versteht Würde als a) übergeordnetes Ziel von Gestaltung aller denkbarer Lebensbereiche, b) zwischenmenschliche Verhältnisse betreffend und c) in jedem Kontext zugegen seiende Herausforderung und Möglichkeit menschlicher Lebensgestaltung.85

3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen Um Empathie als ethischen Begriff fruchtbar zu machen, der sich aus der oben eingeführten übergeordneten Idee bewussten Lebens generiert, bietet ein so verstandener Begriff menschlicher Würde eine Referenzgröße für die hier angestrebte ethische Betrachtung. In den folgenden Ausführungen wird nun in drei Dimensionen aufzuzeigen versucht, inwiefern Empathie und menschliche Würde in spezifischem Zusammenhang stehen, was die ethische Relevanz und Qualität von Empathie begründen soll. Diese drei Dimensionen leiten sich ab aus drei Verhältnisbestimmungen, in denen sich der Mensch grundlegend vorfindet: 1. die Dimension des individuellen Selbstverhältnisses (Verhältnis des Menschen zu sich selbst), 2. die Dimension der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen (Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen) und 3. die Dimension der Gestaltung eines Würde entsprechenden Raumes (Der Mensch in der Welt).86 Die Grundthese, die in den nachfolgenden Ausführungen 84 So

auch Härle, Würde, 31 ff. kommt die grundlegende Überzeugung zum Ausdruck, dass dem Menschen Würde durchaus als Wesenswert zugeschrieben werden kann, der sich in dem unverlierbaren bedingungslosen Recht auf ein menschenwürdig gestaltetes Leben ausdrückt, dass ihm genau deshalb aber zugleich die Gestaltung Würde entsprechender Verhältnisse als seine Bestimmung, sein Auftrag fortwährend neu zum Ziel seines gestaltenden Daseins wird. Diese grundsätzliche Auffassung von einer begrifflich differenzierten Würde teile ich etwa mit Stoecker, Pollmann und Härle. Damit wird menschliche Würde zu einer Medaille mit zwei Seiten: Die eine Seite, die das Privileg eines bedingungslosen, unverlierbaren Rechts meint, die andere, in der sich der Auftrag der Würde in jedem Moment neu realisiert finden will und insofern eben auch nicht-realisiert, verspielt, verloren werden kann. So impliziert Würde stets beide Facetten, die sich gegenseitig bedingen und zugleich notwendig machen. Eine momenthaft verspielte/verlorene Würde kann dabei nicht dazu führen, dass die menschliche Würde an sich verloren geht, hat wohl aber zur Konsequenz, dass die Notwendigkeit, Würde zu realisieren, nicht erfüllt ist, sodass Würde als Qualität immerhin mehr oder weniger stark beschädigt ist. 86  Eine klassisch theologische Bestimmung menschlicher Verhältnisse würde die drei Verhältnisse des Menschen 1. zu sich selbst, 2. zur Welt und 3. zu Gott in den Blick nehmen. Diese Verhältnisbestimmung ist hier nicht grundlegend aufgelöst, wohl aber einer bewussten Modifizierung unterzogen: Das Verhältnis des Menschen zur Welt meint klassisch auch das Verhältnis zum Anderen. Hier ist jedoch diese nicht-subjektive Dimension deutlich zu differenzieren, insofern zum einen das intersubjektive Verhältnis zum anderen Menschen eine sehr zentrale 85 Dahinter

3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen

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weiter entfaltet werden soll, lautet dabei: Empathie im oben skizzierten Verständnis trägt auf vielfältige Weise zur Gestaltung und damit zum Leben in der menschlichen Würde entsprechenden Verhältnissen zu sich selbst, zum Mitmenschen und in der Welt bei, insofern sie Erfahrungen ermöglicht, die für ein Leben in Würde zentral sind. Zu dieser Grundthese bedarf es zweier begrifflicher Erläuterungen: 1. Das Ziel, positive Wirkungsweisen von Empathie für Verhältnisse in Würde zu entfalten, bringt die Notwendigkeit mit sich, auf Begriffe Bezug zu nehmen, die jeweils bereits in ihrer semantischen bzw. diskursiven Weite eigene Forschungs‑ und Diskursfelder von erheblichem Ausmaß eröffnen. Es ist eine methodische Grundentscheidung dieser Arbeit, jene Begriffe und Diskurse nicht eigens in ihrer Komplexität aufzuarbeiten, insofern dies notwendig zu einer unterbestimmt bleibenden Reflexion oder aber zu einer Entgrenzung der Arbeit führen würde. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, das Feld eines ethisch bisher nicht systematisch reflektierten Begriffs explorativ zu vermessen, um eine ethische Grundlegung vorzunehmen. Eine Aufarbeitung jener Grenzdiskurse trägt für dieses Ziel substanziell nichts aus; das Aufrufen derselben kann stattdessen jedoch als Einladung gelesen werden, in einer weiteren Phase der ethischen Systematisierung von Empathie, Möglichkeiten und Grenzen, Zusammenhänge und Verhältnisbestimmungen zwischen empathischer Fremdwahrnehmung und ihren Grenzbegriffen diskursiv auszuloten. 2. Wenn in diesen Ausführungen von der Ermöglichung spezifischer Erfahrungen durch Empathie die Rede ist, so ist hier grundlegend gemeint: Empathie befördert in positiver Weise, dass jene Aspekte Würde entsprechender Subjektverhältnisse gegeben sind. Damit sollen zwei Dinge explizit nicht ausgesagt sein: Zum einen, dass solche Würde entsprechenden Verhältnisse grundsätzlich verunmöglicht sind, wenn Empathie nicht in absoluter, idealer Weise gegeben ist. Vor dem Hintergrund der hier eingenommenen Perspektive nicht-idealer Bedingungen ist die Annahme einer idealen Realisierung ohnehin für eine ethische Betrachtung nicht tragfähig. Zum anderen impliziert Ermöglichung, dass Empathie durchaus als eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung von Würdeerfahrung in Erscheinung tritt. Darin kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass ein Subjekt für die Erfahrung von Würde darauf angewiesen ist, dass ihm Empathie zuteilwird, dass alle Würdeerfahrung jedoch nicht in Empathie aufgehen kann, sondern ebenso komplementärer Bedingungen bedarf, Weltbeziehung ist und hier für sich genommen untersucht wird und zum anderen entstehende Verhältnisse von Subjekten in der Welt als Weltverhältnis thematisch werden. Das Verhältnis zu Gott wird aus zwei Gründen nicht eigens thematisiert: 1. Das Verhältnis des Menschen zu Gott liegt auf einer eigenen, die beiden anderen Verhältnisse zu sich selbst und zur Welt begründenden Ebene und 2. ist hier eine allgemein begründbare und interdisziplinär anschlussfähige Ethik angestrebt, sodass das menschliche Verhältnis zu Gott nicht als theoretisch konstitutiv vorausgesetzt wird.

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etwa einer rechtlichen Absicherung menschlicher Grundrechte oder materielle Grundsicherung, um nur wenige zu nennen. Im Bereich menschlicher Sozialität jedoch kommt Empathie so erhebliche Bedeutung für die Erfahrung von Würde zu, insofern durch ihre Kultivierung ein erheblicher Teil die würdegefährdender Handlungen ausgeschlossen ist. 3.2.1  Empathie und Würde im Selbstverhältnis Empathie ermöglicht dem Anderen die Erfahrung, als Person anerkannt zu sein Die Erfahrung von Würde kann auf das Engste mit dem Erleben als Person verknüpft sein. Darunter lässt sich zugleich mehreres fassen: Zunächst definiert sich das Erleben eines Menschen als Person dadurch, dass er sich als Zentrum von Erleben, als Wesen mit Bewusstsein und Identität vorfindet. Grundlegend gehören hierzu körperliche und sinnliche Empfindungen, Emotionen und Wünsche, die sich auf dem Terrain seines subjektiven Inneren abspielen. Weiter verfügt das erlebende Subjekt aber auch über ein bestimmtes Weltbild und Selbstbild, trägt sich in Verhalten und Handlung aus, verfügt über das Bewusstsein, intentionaler Urheber von Handlung sowie Ziel‑ und Sinngebung zu sein sowie über Sprach-, Reflexions‑ und Selbstdistanzierungsfähigkeit. In dieser Verfasstheit liegt seine Unterscheidung zu Objekten und Dingen.87 Die Achtung von Würde in dieser Weise meint die Anerkennung des Anderen als ein solches erlebendes Zentrum, als Person. Insofern diese Anerkennung bereits auf der Ebene der Wahrnehmung eines jeden Anderen beginnt, erhält Empathie hierfür eine besondere Relevanz: Empathie wurde oben als ein spezifisches Gewahren des Erlebens des Anderen vorgestellt, bei dem ein Komplex verschiedener Anteile von empathischen Phänomenen (Einfühlung, Mitgefühl etc.) beteiligt sein kann. Durch diese verschiedenen wahrnehmenden Anteile wird jenes Erleben des Anderen überhaupt zum Gegenstand von eigener erfassender Aufmerksamkeit und Betrachtung. In affirmativer Offenheit im wahrnehmenden Zugehen auf den Anderen bekennt sich der Wahrnehmende bereits implizit zur Ernsthaftigkeit des Erlebens des Anderen. Im Sinne des Alteritätsfokus kann seine Wahrnehmung in diesem Ernstnehmen des fremden Erlebens verbleiben, indem das Erleben des Anderen in dessen Individualität im Fokus seiner Aufmerksamkeit bleibt und jene mitfühlenden, einfühlenden, verstehenden Anteile als Mittel dienen, den Anderen in dessen Erleben zu erfassen. Auf diese Weise kann ein Resonanzverhältnis entstehen, das die Möglichkeit für den Anderen schafft, sich in dessen erlebendem Personsein anerkannt zu wissen.

 Vgl. Härle, Würde, 38 ff.; vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 20 ff.

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3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen

203

Empathie ermöglicht die Erfahrung, in seinem individuellen Selbstzweck anerkannt zu sein Mit der Erfahrung von sich selbst als Person ist eine weitere Erfahrung unmittelbar verbunden, die entscheidend dafür ist, ob eine Situation als Würde entsprechend erlebt wird. Diese besteht darin, im individuellen Selbstzweck anerkannt zu sein. Die sogenannte Objektformel schließt für menschenwürdige Verhältnisse grundsätzlich aus, dass Menschen als Mittel zu einem über sie selbst hinausgehenden Zweck angesehen, behandelt, eingesetzt werden, sich damit in einer Objektfunktion befinden und ihnen das Selbstverständnis eines anerkannten Selbstzwecks temporär oder dauerhaft entzogen ist. Konstitutives Kriterium menschenwürdiger Verhältnisse ist entsprechend, dass einem Menschen ein individueller Zweck in sich selbst zukommt, indem ihm dieser in der Behandlung seiner Person zuerkannt wird. Diese Anerkennung ist gegeben, wenn der Andere in seiner Existenz als erlebendes Subjekt im zuvor erläuterten Sinne im Vordergrund steht.88 Auf der der Behandlung vorausgehenden Ebene der Wahrnehmung bedeutet das, den Anderen grundlegend und prioritär als ein erlebendes Subjekt zu verstehen, dessen individuelle Gedanken, Emotionen und Wünsche das Zentrum seiner Existenz bilden und damit um ihrer selbst willen den Zweck seiner Existenz ausmachen. In jenem beschriebenen Gewahren des Erlebens des Anderen, wie es für Empathie formuliert wurde, ist dieses grundsätzliche Verständnis des Anderen bereits prinzipiell angelegt. Dass der Andere ein spezifisches Erleben hat und wie dieses in bzw. an ihm zur Entfaltung bzw. zum Ausdruck kommt, bildet den Grund der empathischen Situation und erhält damit um seiner selbst willen Wichtigkeit in der eigenen Wahrnehmung, einen Selbstzweck also. Auch der Zweck der empathischen Wahrnehmung des anderen Erlebens liegt nicht in einem außerpersonalen Zweck und auch nicht in einem selbstbezogenen Zweck des Wahrnehmenden, sondern allein darin, den Anderen in dessen Erleben wahrnehmend zu erfassen und damit den Akt der intersubjektiven Verständigung an sich zu vollziehen; nicht also, weil es einen gesonderten Nutzen hätte, sondern allein, weil es in sich wertvoll ist. Hierbei kommt auch dem formulierten Alteritätsfokus besondere Bedeutung zu: Er stellt die Möglichkeitsbedingung dar, um jenen Selbstzweck des Anderen in dessen Erleben als zentrale Zweckbestimmung von Empathie zu behalten. Zwei weitere oben erläuterte Merkmale von Empathie kommen dabei zusätzlich zum Tragen: Erstens ist es die Erscheinung des Anderen in seiner ganzheitlichen inneren und ausgedrückten Erlebenswelt, die hier in ihrem Selbstzweck ernst genommen ist. Und es ist zweitens die aktive, offen-affirmative  Vgl. Härle, Würde, 36 f.; Bieri, Eine Art zu leben, 23 ff.

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Grundhaltung, in der das couragierte Zugehen auf die Erlebenssituation des Anderen, die Auffassung einer symmetrischen Begegnung und die Bereitschaft zu einem bewussten Prozess liegen und die dem Anderen die Erfahrung ermöglicht, dass ihm der Wert zukommt, in seinem individuellen Erleben ausreichender Zweck der Situation zu sein. Empathie ermöglicht das Empfinden innerer Selbstbestimmung und Autonomie Eine weitere Erfahrung von Würde, die sich auf das Selbstverhältnis bezieht, konnte oben als Erleben von innerer Autorität, von Unabhängigkeit in Denken, Urteil und Erleben herausgestellt werden. Dabei erscheint die Erfahrung jener Autorität als Form der aktiven Selbstbestimmung und Unabhängigkeit im Innern: Sie kann konkret verstanden werden als ein innerer Raum etwa eigenständigen Denkens und Urteilens, eigenständiger Willens‑ und Handlungsmotive oder auch als Raum, in dem ein Subjekt fähig ist, sich seinen Urteilen und Emotionen gegenüber zu verhalten, mitunter zu distanzieren, in dem es die Autorität über Selbstbild und Deutungsvollzüge hat, in dem eine Entwicklungs‑ und Entfaltungsoffenheit besteht.89 Es ist eine weitere Konsequenz der zwei vorangehenden Abschnitte, dass Würde, wie sie in dieser Form besteht, durch Empathie positiv unterstützt wird: Einerseits wird der Andere in seinem Erleben in der eben erläuterten Weise ernst genommen, in seinem Selbstzweck anerkannt und macht die Erfahrung, dass sein Erleben beachtet und aktiv wahrgenommen wird. Es wird andererseits aber auch das Merkmal der Ich-Andere-Differenzierung zentral, der zugleich das Erleben des Anderen als ein fremdes Erleben markiert. In der Gleichzeitigkeit von empathischem Sein beim Anderen und erhaltener Ich-Andere-Distanz liegt die Möglichkeit der Erfahrung für den Anderen, in seinem Erleben Relevanz für den Empathisierenden zu haben, ohne seine innere Selbstbestimmung im beschriebenen Sinne einzubüßen. Hierin liegt dann auch ein doppeltes Potenzial erlebter Eigenständigkeit: Zum einen ist es die Erfahrung aufseiten des Anderen, ambiges oder leidvolles Erleben als eine solche eigenständige Person tragen zu können. Zum anderen ist es die Erfahrung des Empathisierenden selbst, die eigene Selbstbestimmung angesichts der Konfrontation mit dem Leid des Anderen nicht zu verlieren, diesen zugleich aber in empathischer Weise wahrzunehmen. Empathie ermöglicht Erkennen und Wahren eines intimen Erlebensraumes Als zentral für das Erleben von Würde kann das Achten von Intimität gelten, wie es in der obigen Darstellung in verschiedenen Konzeptionen von Würde thematisiert wird. Hierunter kann vornehmlich der Verzicht auf aktive Missachtung der Intimität durch Bloßstellung oder Demütigung verstanden werden,  Vgl. Bieri, Würde, 35 ff.; 66 ff.; 48 ff.

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3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen

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sodass Intimität als offensichtliche, allgemein verständliche Grenzziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit thematisch wird. Darüber hinausgehend lässt sich diese Intimität aber auch als Schutz des Eigenen per se generalisieren.90 Die Erfahrung von Intimität bezieht sich auf einen Raum intimen Erlebens, der ganz verschiedenes in sich fassen kann: Er kann sich durch individuelle Grenzziehung konstituieren, einen Raum innerer Unabhängigkeit, eines inneren Maßstabs markieren, in dem eine aufrechte Haltung vor sich selbst möglich ist oder auch einen Schutz-, Sicherheits‑ oder Diskretionsraum für Identität und Selbstbild meinen;91 ein in den Konzeptionen nicht eigens thematisierter, aber hier ebenfalls zugehöriger Aspekt ist der intime Erlebensraum der Sexualität. Die Grade der Prekarität sind sehr verschieden, durch die jener intime Erlebensraum zum Thema von Würde werden kann. Entsprechend ist es bereits eine Frage der Wahrnehmung des Anderen, diesen Raum zu schützen. Die Rolle von Empathie ist für diesen Aspekt ähnlich vielschichtig wie im vorangehenden Aspekt: Zum einen ist es von zentraler Bedeutung, den individuellen intimen Erlebensraum des Anderen überhaupt zu erkennen und ihn als einen solchen zu berücksichtigen. Durch nichts anderes als ein komplexes und ganzheitliches Gewahren des Anderen kann ein Eindruck von dessen individuellen Grenzen und dem Bedürfnis nach innerer Konsolidierung gegeben sein, bei welchem mitfühlende, verstehende, einfühlende Anteile den Anderen in dessen ganzheitlichem Ausdruck aktiv wahrnehmen. Zum anderen kann aber auch hier Empathie den Anderen in dieser Intimität gelten lassen, indem dem Anderen die Möglichkeit und Offenheit gegeben ist, sich selbst aus diesem Privatraum heraus in Denken, Empfinden und Handeln zu verstehen und zu entwickeln. Auch hier wird dies durch jenen Alteritätsfokus und jene Ich-Andere-Unterscheidung geleistet, die stetig den intimen Raum des Anderen berücksichtigen und so behaupten. Empathie ermöglicht Prozesse der Selbstverständigung Das Erleben von Situationen als Würde entsprechend kann in unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden mit der Erfahrung von Selbstentsprechung und Selbstübereinstimmung. Diese meint die innere und äußere Entsprechung von Denken, Überzeugungen und Handeln mit dem eigenen Selbstbild.92 Als Voraussetzung für die Herausbildung eines Selbstbildes können u. a. Aspekte gelten, die als Prozesse der Selbstverständigung zu bezeichnen sind. Hierunter können verschiedene Dialog‑ und Verständigungsakte eines Subjekts im Verhältnis zu sich selbst verstanden werden, die etwa im Aufbau einer Sinnarchitektur,  Vgl. Härle, Würde, 44 ff.  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 157 ff.; 174 ff. 92  Vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, 126 ff. 90 91

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in der Setzung von Prioritäten, in Findung, Reflexion und Aushandlung von Bewertungen, Gewichtungen und Proportionen bestehen können.93 Empathie, wie sie hier beschrieben wird, nimmt für diese Prozesse eine zentrale Rolle ein, insofern Bedingungen geschaffen werden, unter denen für die Entwicklung eines Selbstbildes zentrale Prozesse der Selbstverständigung stattfinden können: Insofern es bei Empathie um die Erfassung des anderen Erlebens in seiner Andersheit geht, wird neben das eigene Erleben ein weiteres gestellt, das eine natürliche Reflexionsfläche für eigene Bewertungen, Sinnbildungen, Prioritäten bildet. Dies betrifft zunächst die Selbstverständigung des Wahrnehmenden selbst. Durch die prinzipielle Reziprozität des Wahrnehmungsaktes und die reziproke Dynamik, die in jenem angestoßenen Resonanzverhältnis selbst liegt, geschieht ein beidseitiger Selbstverständigungsprozess in Auseinandersetzung mit dem jeweils anderen, bei dem aber trotzdem die Eigenständigkeit und individuelle Entwicklungsoffenheit beider Beteiligter gewahrt bleibt. In der letzten These ist bereits ein Zusammenhang angesprochen, der für den gesamten Bereich des subjektiven Selbstverhältnisses deutlich gemacht werden kann: Die Erfahrungen von anerkanntem Personsein, Selbstzweck, innerer Souveränität, Intimität und Selbstverständigung, die bereits auf der Ebene der Wahrnehmung durch Empathie in spezifischer Weise ermöglicht oder unterstützt werden, stellen Möglichkeitsbedingungen dar, dass die individuelle Würde eines Anderen im Sinne des entfalteten und akzeptierten Selbstbildes94 unterstützt wird bzw. der Andere in Entsprechung oder Übereinstimmung mit sich selbst, also mit einer Haltung (verkörperter) Selbstachtung leben kann.95 3.2.2  Empathie und Würde in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen Die zweite Dimension, in der Empathie Würde entsprechende Verhältnisse befördert bzw. gestaltet, bezieht sich auf den Bereich intersubjektiver Begegnung. Würdeerfahrungen, die in diesem Bereich liegen, werden in Würdekonzeptionen zumeist im Zusammenhang mit dem Begriff der sozialen Anerkennung gesehen, ohne dass aber spezifischer ausgeführt würde, worin soziale Anerkennung und die entsprechende Erfahrung von Würde besteht. Es wird hier zu zeigen sein, dass Empathie auf spezifische Weise die erlebbare Qualität von Begegnungen und Beziehungen prägt, in welcher in verschiedener Hinsicht die Würdeerfahrung der intersubjektiven Begegnung liegt. Im Folgenden werden fünf solcher Qualitäten erläutert. Diese Qualitäten haben, das sei vorausgeschickt, prinzipiellen Charakter. Worin spezifisch diese Qualitäten dann erlebbar werden, hängt in einer konkreten Situation aber von dem grundlegenden Rollenverhältnis ab,  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 309 ff.  Vgl. Stoecker. 95  Vgl. Pollmann und Weber-Guskar. 93 94

3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen

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in dem sich Individuen begegnen. Zum einen ist der Beziehungsstatus zweier Individuen entscheidend. Es macht einen strukturellen Unterschied für eine konkret erlebte Qualität von Beziehung, wenn auf die Begegnung zweier langjähriger Freunde oder etwa von Prüfer und Prüfling geblickt wird. Zum anderen entscheidet die Zweckbestimmung der momentanen Situation über das konkrete Erleben einer bestimmten Qualität. Der Zweck einer Begegnung der beiden Freunde kann die Zuwendung in einem intimen Vertrauensverhältnis sein, die in der Begegnung von Prüfer und Prüfling nicht zu erwarten ist. Hier ist es der Zweck, eine Prüfung vorzubesprechen oder gar abzuhalten. Die konkret erlebbare Qualität dieser Begegnung besteht gewiss in sehr verschiedenen Dingen, das Vorkommen der Qualität an sich jedoch bleibt davon unbeeinflusst. Empathie ermöglicht authentische Begegnung Würde, wie sie in einer besonders alltäglichen Form erlebbar ist, resultiert aus der Art und Weise, wie sich Menschen begegnen. Begegnung kann dabei in an sich schon engen Beziehungen stattfinden, genauso wie auch in einem professionellen Berufsverhältnis; konstitutiv für eine intersubjektive Begegnung sind zwei aufeinandertreffende subjektive Erlebenswelten, die in einen Prozess von Ausdruck und Verstehen von Motiven, Handlungen, Verhalten des jeweils anderen Subjekts treten. Der Zugang zum Innenleben des Anderen ist dabei naturgemäß beschränkt, insofern er einem Filter von Selbstbildern, Intentionen, Bewertungen, Bewusstseinsgrenzen und psychischen Mechanismen unterstellt ist.96 Es ist jedoch eine Frage der Gestaltung von Begegnung, wie sich diese an sich natürliche Beschränkung für die erlebte Authentizität der gesamten Begegnung auswirkt. Auch hier liegt entscheidendes Potenzial bereits auf der Ebene der Wahrnehmung. Empathie für den Anderen kann einer Begegnung eine solche authentische Qualität verleihen: Das beim Anderen verharrende und zugewandte Gewahren desselben in dessen momentanem Erleben schafft eine intersubjektive Atmosphäre des Vertrauens, in der keine Notwendigkeit besteht, innere Schutzräume oder Darstellungsstrategien um das eigene Erleben bzw. die eigene Person zu behaupten. Es kann das Gefühl entstehen, sich in seinem tatsächlichen Erleben zeigen zu können und mit der Resonanz einer entsprechenden Echtheit rechnen zu können. Es kann dann ein intersubjektiver Schutzraum entstehen, der in der Gegenseitigkeit selbst liegt und nicht im schützenden Rückzug in innere Mauern bestehen muss. Ein solcher authentischer Begegnungsmodus schafft einen Erfahrungsraum von Echtheit und Wohlwollen, der alle weitere situative Kommunikation, aber auch die Qualität der gesamten Beziehung überdauernd konstituieren kann. Es ist dann die Qualität würdiger Begegnung, die sich auf das weitere Beziehungsgeschehen legt.  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 96 f.

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

Empathie ermöglicht geteilte Intimität Ein mit den vorangehenden Ausführungen zur Authentizität von Begegnung verbundenes Geschehen kann als intersubjektive Verschränkung bezeichnet werden. Diese kann zustande kommen, wenn zwei Menschen sich in ihrer jeweiligen Erlebenswelt kennenlernen. Sie begegnen jenen Selbstbildern, Motiven, Überzeugungen, Bewertungen des Anderen, werden mit ihnen vertraut, messen ihnen Bedeutung bei. Die Erlebenswelten verschränken sich auf gedanklicher und emotionaler Ebene, indem Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse des Anderen zu den eigenen ins Verhältnis gesetzt, beeinflusst, bewegt werden. Diese seelische Verschränkung kann zur Erfahrung geteilter Intimität werden, die als Begegnung in Würde erlebt wird.97 Dieses Geschehen, das einer Begegnung grundsätzlich potenziell inhärent ist, wird durch Empathie in spezifischer Weise unterstützt: Das so beschaffene Erleben des jeweils Anderen ist grundlegender Gegenstand des Gewahrens und bildet damit den Fokus des weiteren Geschehens. Insofern der je Andere in seiner ganzheitlichen momentanen Erscheinung wahrgenommen wird und die Wahrnehmenden selbst von dem gesamten Komplex ihrer aktivierten empathischen Anteile geleitet sind, kann eine solche Verschränkung beider Erlebenswelten geschehen. Was für das hier vertretene Verständnis von Empathie allerdings missverständlich ist, ist ein semantischer Gehalt des Begriffs Verschränkung: Für eine gelungene intersubjektive Verschränkung kann nicht zur Voraussetzung gemacht werden, dass die Beteiligung verstehender, mitfühlender, einfühlender Anteile im Gewahren des anderen Erlebens im Sinne der Verschränkung zu verwischten Erlebensgrenzen führt. Vielmehr ist auch hier eine bleibende Differenzierung zwischen dem Erleben von Ich und Anderem zum einen sogar Voraussetzung für die Erfahrung intersubjektiver Verschränkung und damit echter geteilter Intimität; nur eine solche Differenzierung macht eine tatsächlich intersubjektive Erfahrung überhaupt möglich, bei der nicht eigentlich schlicht emotionale und gedankliche Diffusion stattfindet, in der jeder vielmehr bei sich selbst ist und die die Gefahr von Abwehr und Rückzug bedeuten würde, wie es weiter oben beschrieben wurde. Zum anderen liegt die positive Erfahrung geteilter Intimität gerade in dem Erleben einer Verschränkung des eigenen Erlebens mit dem des Anderen als das eines anderen und nicht in einer vermeintlichen Gleichheit im Erleben, die lediglich durch jene Diffusion zustande kommt. Mit dem positiven Geschehen von Verschränkung und geteilter Intimität einer Begegnung entstehen weitere Potenziale, die das Erleben von Begegnung und Beziehung als Würde entsprechend ausmachen: Ist erst eine Ebene zwischen Subjekten entstanden, in der eine gemeinsame Intimität besteht, kann überhaupt die Erfahrung echter Nähe gemacht werden, die diese Begegnung von  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 97.

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3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen

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jenen alltäglichen Begegnungen des bloßen Nebeneinanders unterscheidet. Die besondere Würde solcher Nähe-Begegnungen liegt darin, dass sich ein überdauernder Status von Vertrauen und Loyalität entwickeln kann, der in einer Begegnung oder Beziehung Tiefe und Festigkeit erfahrbar macht. Empathie schafft Wahrnehmungsformen sozialer Anerkennung Damit eine Begegnung zwischen Menschen als würdig erfahren wird, ist ein besonders weitreichendes intersubjektives Geschehen bedeutsam, das von allen erläuterten Konzeptionen zur Menschenwürde zentral thematisiert, dabei aber zugleich mit zahlreichen Begriffen ausgefüllt wird:98 Des Anderen gewahr zu werden, ihn zu beachten, auf seine Ausdrücke und Bedürfnisse überhaupt zu reagieren, ihn damit zu berücksichtigen, eine innere Auseinandersetzung einzugehen, zu ihm ein Verhältnis zu gewinnen, markiert den Bereich eines entstehenden Resonanzverhältnisses. Den Anderen ernst nehmen und wertschätzen meint einen inneren wertenden Blick; den Anderen in seinem Selbstverständnis zu tolerieren, zu akzeptieren, ihn in seinem Sosein anzuerkennen, ihn gelten zu lassen, Achtung vor seiner Individualität aufzubringen, eine Offenheit der individuellen Entwicklung vorauszusetzen, formulieren Geisteshaltungen der anderen Person gegenüber. All diese Aspekte, die hier zum Zwecke des besseren Verständnisses unter der Bezeichnung der sozialen Anerkennung zusammengenommen werden, stellen Formen und Ausprägungen dar, die im inneren Raum der Wahrnehmung ihren Ort haben und entsprechend hier beginnen. Empathie, wie sie hier vorgestellt wurde, kann für eine Würdeerfahrung im Sinne der sozialen Anerkennung erhebliche Bedeutung annehmen, insofern diese Formen sozialer Anerkennung bereits Implikationen bzw. unmittelbare Konsequenzen von einer empathischen Wahrnehmung des Anderen sind: Es sind zum einen präzise die soeben beschriebenen Aspekte eines entstehenden Resonanzverhältnisses, die gegeben sind, wenn mit einem Komplex von empathischen Anteilen eine innere Zuwendungsbewegung zum Anderen vollzogen wird und dieser Andere in seiner ganzheitlichen Erscheinung zum Fokus der eigenen aktiven und bewussten Wahrnehmung wird. Zum anderen liegt hierin bereits die Basis für einen wertschätzenden Umgang, der den Anderen als Subjekt und Person in seinem situativen Dasein ernst nimmt. Eine solche Wertschätzung beruht nicht auf einer persönlichen Sympathie oder Bewertung des Anderen, sondern im Bekunden eines grundsätzlich wohlwollenden Blickes auf den Anderen als Person, wie es auch oben erläutert wurde. Eine deutliche Trennung zwischen eigenem und fremdem Erleben sowie ein bleibender Fokus auf der Alterität des 98 Vgl. Härle, Würde, 20 f.; vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, 214 f.; vgl. Stoecker, Selbstachtung, 117; vgl. Pollmann, Würde nach Maß, 615; vgl. Weber-Guskar, Würde als Haltung, 191 f.; vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 105 ff., 117 ff., 154 ff.

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Anderen ermöglicht dann eine Haltung, die das Erleben des Anderen in seiner individuellen Berechtigung wahrnimmt, gelten lässt und den Raum individueller Entwicklung offenhält. Empathie macht vorausgesetzte Symmetrie erfahrbar Im Zusammenhang von Menschenwürde wird klassischerweise unter dem Begriff der Gleichberechtigung von der Notwendigkeit gesprochen, eine Gleichheit von Rechten für menschliche Gruppierungen herzustellen, die etwa eine Diversität in Geschlecht, Ethnie, Religion oder Bildung aufweisen. Damit ist das Ziel verbunden, Erfahrungen von Diskriminierung, Demütigung und Ohnmacht zu vermeiden, welche die Gefahr der Einbuße menschlicher Würde bedeutete.99 Die für das Erleben von Würde wertvolle Erfahrung von Individuen, in einer gleichen, d. h. untereinander symmetrischen Weise behandelt zu werden, beginnt jedoch erheblich früher als mit der Anerkennung gleicher menschlicher Rechte. Auch sie beginnt bereits auf der Ebene der gegenseitigen Wahrnehmung. In Empathie ist diese Erfahrung symmetrischer intersubjektiver Verhältnisse bereits eingelöst: Insofern eine empathische Wahrnehmung des jeweils Anderen meint, des Gegenübers in dessen ganzheitlicher Erlebenswelt gewahr zu werden und im Sinne des Alteritätsfokus dessen ganze Individualität im Zentrum von Aufmerksamkeit, Verstehen und eigenem weiterem Verhalten steht, ist der Andere in seinem Personsein als Individuum bereits als Gleicher unter Gleichen anerkannt und vorausgesetzt. So ist der Schritt über eventuelle oder tatsächlich situativ vorhandene Asymmetrien hinaus längst getan, die durch Diversitäten in Gruppenzugehörigkeiten bestehen mögen; diese können dann faktisch keinerlei Rolle für das weitere intersubjektive Geschehen mehr spielen, insofern eine asymmetrische Gestaltung durch die bereits eingelöste Symmetrie der Empathie ausgeschlossen ist und damit zugleich der Erfahrungsbereich von Diskriminierung, Ohnmacht oder Demütigung. Hierin liegt die Erfahrbarkeit von Würde im Sinne symmetrischer Begegnung, wie sie durch eine rechtliche Verbürgung allein nicht ermöglicht werden kann. Empathie stärkt die Integrität von Beziehung Für unterschiedliche situative Zusammenhänge kann eine Art von Würdeerfahrung beschrieben werden, die abhängt von etwas, das hier mit dem Begriff der Integrität erfasst werden soll. Hierunter kann eine bereits reflektierte, bewusste Gestaltung von Beziehung verstanden werden, bei der die Einhaltung und Umsetzung bewusst gemachter Werte und Maximen eine Integrität der Beziehung erhält. Zentrale Rolle spielen hier vor allem drei Aspekte: Zum Ersten ist die bewusste Achtung der Bedürfnisse des Anderen gemeint. Diese umfasst nicht die  Vgl. Härle, Würde, 47 f.; vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 108 f.

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3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen

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Berücksichtigung aller möglichen Bedürfnisse des Anderen, wohl aber solcher, die mit dessen Würde unmittelbar verbunden sind.100 Zum Zweiten ist entscheidend, was unter dem Begriff der Wahrhaftigkeit verstanden und als Mut zur Aufrichtigkeit und zur Anerkennung von Tatsachen beschrieben werden kann. Reflexion, Eingeständnis oder Verbalisieren von Unausgesprochenem kann dann etwa zu einer geteilten Aufrichtigkeit voreinander werden.101 Zum Dritten betrifft diese Integrität etwas, das Bieri moralische Intimität nennt. Diese erfordert, einander präsent zu sein, an der Situation des Anderen Anteil zu nehmen. Hieraus entsteht auch eine Sensibilität dafür, was in derjenigen Beziehung moralisch geboten oder untersagt ist.102 Empathie unterstützt auch diese Dimension in einer Weise, die durch sie selbst gegeben ist: Eine Grundhaltung, die eine solche Wahrnehmungs‑ und Begegnungskultur affirmiert, schafft ein grundsätzliches Bewusstsein für die Relevanz ihrer Gestaltung. Innerhalb dieser Gestaltung sind es jene mitfühlenden, verstehenden, einfühlenden Anteile, die ein Empfinden von Vertrautheit mit dem echten Anderen in dessen Denken und Empfinden herstellen. In diesem zwischenmenschlichen Raum der Vertrautheit werden Bedürfnisse des Anderen evident und können auch die eigenen evident werden, kann Mut zum aufrichtigen Miteinander entstehen und eine individuelle moralische Sensibilität für das, was in diesem Raum erlaubt, geboten und verboten ist. Dass stets zwischen Ich und Anderem bewusst differenziert wird und zudem der Fokus auf dem Erleben des Anderen gehalten wird, ermöglicht, diese Sensibilität für die jeweilige Beziehung zu entwickeln, in der beide beteiligten Individuen in ihrem Erleben anerkannt sind. 3.2.3  Empathie und die Gestaltung Würde entsprechender Räume In den zwei vorangehenden Dimensionen wurde betrachtet, inwiefern Empathie die Würde entsprechende Gestaltung zweier Verhältnisse des Menschen ermöglicht: das Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen einerseits und zu sich selbst andererseits. Die Auswirkungen von Empathie, die dort beschrieben werden, sind unmittelbarer Natur, insofern sie das Verhältnis selbst in direkter Weise gestalten und verändern können. In einer dritten Dimension wirkt sich Empathie in einer mittelbaren Weise aus, insofern intersubjektive Bedingungen geschaffen werden, unter denen Würde entsprechende Verhältnisse von Subjekten in der Welt erst entstehen. Gemeint ist hier die Entstehung spezifischer Räume, in denen sich eine Kultur bestimmter würderelevanter Merkmale realisiert. Zur Entfaltung dieses Aspektes bedarf es zusätzlich zu den oben dargestellten würdetheoretischen Ausführungen eines begrifflichen Hintergrundes zum  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 270 ff.  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 215 ff.; 221 ff.; 228 ff.; 235 ff. 102  Vgl. Bieri, Eine Art zu leben, 265 ff. 100 101

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Terminus des Raumes, wie sie durch die Soziologin Martina Löw herausgearbeitet worden ist. Dies soll zunächst kurz dargestellt werden, bevor dann Thesen zur Entstehung Würde entsprechender Räume durch Empathie entfaltet werden können. In ihrer Monografie Raumsoziologie103 (2012) geht Martina Löw insbesondere der Frage nach, wie sich Räume konstituieren. In Auseinandersetzung mit absolutistischen und relativistischen Konzeptionen104 von Raum formuliert Löw selbst eine relationale Theorie von Raum. Räume sind nicht in einer physischen Materialität105 vorhanden, sondern entstehen nach Löw in einem dynamischen Prozess durch „eine relationale An(Ordnung) sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten“.106 Während in dieser Formulierung soziale (d. h. materielle, gegenständliche) Güter und Menschen als konstitutive Elemente von Raumkonstitution angenommen werden können,107 besteht die entscheidende Spezifik des Ansatzes in der Formulierung der relationalen An(Ordnung). Hierin kommt zweierlei zum Ausdruck: Zum einen bestehen Räume aus den an ihnen beteiligten Elementen und zugleich aus deren Relationen zueinander (relationale Ordnung).108 Zum anderen sind Räume nicht aus sich selbst heraus gegeben, sondern stellen menschliche Produktionen dar, die durch aktive Handlungsprozesse der beteiligten Menschen entstehen, welche als Spacing und Synthese bezeichnet werden (relationale Anordnung). Spacing bezeichnet dabei die Setzung konstituierender Elemente (also materieller Güter und Menschen) zu einem Raum, unter Synthese werden „Vorstellungs-, Wahrnehmungs‑ und Erinnerungsprozesse [verstanden, durch die] soziale Güter und Lebewesen zu Räumen zusammengefaßt [werden]“.109 Synthese und Spacing sind als raumkonstituierende Handlungen durch verschiedene Parameter vorstrukturiert bzw. stehen unter dem prozesshaften Einfluss verschiedener Komponenten: So verläuft 1. der Prozess der Raumkonstitution nicht permanent im Modus des reflektierten, verständigten Bewusstseins. Vielmehr sind Menschen zumeist vom Prinzip des praktischen Bewusstseins geleitet, das sich aus erlerntem, routiniertem, habitualisiertem Alltagshandeln ableitet. Dies hat zur Folge, dass es Raumkonstruktionen gibt, die im Sinne jener Repetition zu überindividuellen Räumen werden, als 103 Löw,

Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/Main, 92017. Hier insbesondere Kapitel 5. Raumkonzeptionen verstehen Raum als ontologisches Behältnis, in dem Körper handeln. Räume sind insofern lokal bzw. territorial gedacht; Körper und Raum sind voneinander getrennt. Relativistische Konzeptionen denken dagegen Raum als jeweils sich aktualisierendes Ergebnis der Anordnungen von Körpern. Raum unterliegt damit einer stetigen Prozesshaftigkeit und konstituiert sich je aus der Relation von Körpern (vgl. Löw, Raumsoziologie, 17 ff.; 35). 105 Vgl. Löw, Raumsoziologie, 228. 106  Löw, Raumsoziologie, 224. 107  Vgl. Löw, Raumsoziologie, 153 ff.; 198 ff. 108  Vgl. Löw, Raumsoziologie, 155 f. 109  Vgl. Löw, Raumsoziologie, 158 ff.; 225. 104 Absolutistische

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institutionalisierte Anordnungen die fortwährende Raumkonstitution ihrerseits beeinflussen und wiederum repetitiv reproduziert werden.110 Gleiches gilt für die nächsthöhere Ebene institutionalisierter räumlicher Strukturen, die als eine Form gesellschaftlicher Strukturen raumkonstituierendes Handeln ermöglichen und prägen und zugleich durch jenes Handeln reproduziert werden.111 Eine weitere, die Konstitution von Raum beeinflussende Komponente liegt 2. im Habitus vor, der als verkörperte Internalisierung von „Wahrnehmungs-, Bewertungs‑ und Handlungsschemata“112 das praktische sowie diskursive Bewusstsein formt und so raumkonstituierendes Handeln prägt. Faktoren, die in den Habitus eingehen, sind in besonderer Weise Geschlecht und Klasse, aber auch Machtstrukturen und Hierarchien, die Verteilung sozialer Güter, sozialer Status und Zugehörigkeit.113 Eine dritte Komponente stellt das Prinzip der Veränderung dar. Nicht jede Raumkonstitution ist in der beschriebenen Weise durch Handeln bestimmt, das den Routinen des praktischen Bewusstseins folgt. Sachliche Notwendigkeit, körperliches Begehren, Handlungsweisen anderer Menschen und Fremdheit werden von Löw als Faktoren bestimmt, die Veränderung, Aushandlung oder Umgestaltung von Handlungsroutinen motivieren. Die Konstitution von Räumen kann sich auf diese Weise verändern. Dies geschieht zunächst partiell in Bezug auf spezifische Räume, kann aber in regelmäßiger, umfassender und langwieriger Form auch institutionalisierte Räume bzw. räumliche Strukturen betreffen, was dann auf der Ebene sozialen Wandels läge. Entscheidende Kraft von Veränderung ist dabei insbesondere Reflexivität, welche jene Routinen des praktischen Bewusstseins aufbricht und im Modus des diskursiven Bewusstseins andere Handlungsmuster bereitstellt. Solche Prozesse der Veränderung sind in ihrer Möglichkeit als prinzipiell, immer aber auch als relativ zu verstehen, insofern Veränderungen trotzdem eingebettet bleiben in andere Strukturen, die weiterhin reproduziert werden und auch das diskursive Bewusstsein nicht in absoluter und linearer Weise handlungsstrukturierend ist.114 4. Raumkonstitution ist durch die symbolische Wirkung von Handeln beeinflusst. Während die materielle Seite von Handeln durch materielle, offenkundige Elemente der Handlungssituation gegeben ist (etwa Personen, die auf einem Fußboden stehen), besteht die symbolische Seite in einer zeichenhaften Bedeutung bzw. Wirkung, die der materiellen Seite mitgegeben ist (die Wirkung der zu einem geschlossenen Kreis aufgestellten Personen).115 Diese Komponente deutet bereits auf die fünfte Komponente hin, die der Wahrnehmung: Alle Aspekte einer Situation, die sinnlich wahrnehmbar sind, beeinflussen die Wahrnehmung 110 Vgl.

Löw, Raumsoziologie, 161 ff. Löw, Raumsoziologie, 167 ff. 112  Bourdieu, zit. n. Löw, Raumsoziologie, 177. 113  Vgl. Löw, Raumsoziologie, 177 ff.; 214 f. 114 Vgl. Löw, Raumsoziologie, 185 ff. 115  Vgl. Löw, Raumsoziologie, 191 ff. 111 Vgl.

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

als Ganze und gehen ein in das raumkonstituierende Handeln. Das können sichtbare, hörbare, riechbare, schmeckbare oder spürbare Eindrücke sein und auch hier basiert schließlich Raumkonstitution auf der Außenwirkung ihrer beteiligten Elemente.116 Eine letzte Komponente, die Raum nicht als Element, wohl aber als Folgedynamik konstituiert und ebenfalls aus den vorangehenden beiden hervorgeht, ist nach Löw Atmosphäre. Atmosphären entstehen aus jenem Wechselspiel der an der Raumkonstitution beteiligten Elemente und Relationen sowie deren Außenwirkung, wie sie oben beschrieben wurde. Sie stellen die eigentlich „stofflich wahrnehmbar[e]“117, stimmungshafte Potenzialität der Raumbildung in der Wahrnehmung dar. Sie treten zunächst als dieses Epiphänomen auf, wirken jedoch zugleich zurück auf die Wahrnehmung und von dort auf die Handlungsebene, indem sie wieder in die Syntheseleistungen Eingang finden.118 Diese raumbegrifflichen Ausführungen mögen zunächst reichen, um vor diesem Hintergrund nun einen konkreten Zusammenhang zu Empathie aufzuzeigen: Empathie – so die erste These – kann zur Gestaltung von Räumen beitragen, insofern sie auf spezifische raumkonstituierende Komponenten einwirkt und so selbst zu einer raumkonstituierenden Kraft wird. Empathie wurde beschrieben als ein Gewahren, was eine andere Person erlebt, indem unter der Beteiligung verschiedener empathischer Anteile das ganzheitliche Sein des Anderen in der Situation wahrgenommen wird. Befindet sich eine Person nun mit dem empathischen Bewusstsein in einer Situation, so ist ein entscheidender Gegenstand ihrer empathischen Wahrnehmung nichts anderes als jene symbolische Wirkung, die vom Anderen (als materielles Raumelement) in seinem Erleben ausgeht. Diese symbolische Wirkung ist es, die die Wahrnehmung einer Situation entscheidend prägt, insofern ihr ein besonderer Fokus der Aufmerksamkeit zukommt. Dies geschieht über jene sinnlich wahrnehmbaren Eindrücke, die durch empathische Anteile erfasst werden. Dieser Wirkungsverlauf wird maßgebend für den fortlaufenden Prozess raumkonstituierenden Handelns. Ganz im Sinne Löws kann sich aus dieser Wahrnehmungsweise eine spezifische Atmosphäre herausbilden, die als intersubjektiv nah, intensiv, als resonant erlebt wird und die sich ebenfalls auf die weitere Raumbildung auswirkt. Nun wird der Wirkungsverlauf von Raumkonstitution von Löw als ein fluider, dynamischer Prozess beschrieben, der in einem Wechselspiel von Handlung und Struktur besteht; Strukturen ermöglichen raumkonstituierendes Handeln, welches nach repetitiven, routinierten Handlungsmustern abläuft und so institutionalisierte Strukturen reproduziert. Für die Möglichkeit der gestaltenden Einwirkung von Empathie ist deshalb anzunehmen, dass Aspekte derselben zunächst als punktuelle Veränderungsimpulse reflexiven Bewusstseins in die  Vgl. Löw, Raumsoziologie, 195 ff.  Löw, Raumsoziologie, 204. 118  Vgl. Löw, Raumsoziologie, 204 ff.; 229. 116 117

3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen

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natürlichen Abläufe der Raumkonstitution eingetragen werden müssen, die eigentlich zumeist im Modus des praktischen Bewusstseins, also nach praktischen Handlungsroutinen, verlaufen, wie es Löw beschreibt. Erst im ebenso wiederkehrenden bewussten Einsetzen können Routinen umcodiert und in veränderter Weise habitualisiert, auf theoretischer Ebene sogar institutionalisiert werden. Ein solcher Prozess beschreibt ganz präzise das, was weiter oben als Kultivierung von Empathie beschrieben wurde. Während bis hierher das Wirkungspotenzial von Empathie auf Raumbildung erläutert wurde, ist nun eine zweite These auszuführen: Empathie gestaltet jene Räume zu Würde entsprechenden Räumen. In jeder Weise, wie oben die Entstehung Würde entsprechender Verhältnisse durch Empathie aufgezeigt wurde, ist auch dort bereits ein Raum im beschriebenen Sinne entstanden, der sich durch die jeweiligen benannten Aspekte auszeichnet, also etwa ein Raum, in dem sich ein Individuum als Person anerkannt erleben kann oder ein Raum, in dem sich zwei Menschen in authentischer Weise begegnen usw. Was hier nun aber unter der Entstehung Würde entsprechender Räume verstanden wird, geht über dies hinaus, insofern nicht etwas Würde Beförderndes geschieht, sondern sich Räume als Ganze zu Würde entsprechenden Verhältnisgebilden entwickeln, in denen eine spezifische Kultur vorherrschend ist, die sich aus der Gesamtheit jener Wirkungsweisen von Empathie in Selbstverhältnis und Verhältnis zum Anderen gestalten kann. In gleicher Weise, wie es oben für intersubjektive Begegnungen formuliert wurde, sind auch die folgenden Ausführungen zu Würde entsprechenden Räumen in prinzipieller Formulierung gefasst. Für die konkretisierte Ausgestaltung aber ist zu berücksichtigen, dass sich die beschriebenen Potenziale jeweils in sehr unterschiedlicher Weise realisieren lassen, bedingen doch neben Empathie zu viele weitere raumkonstituierende Komponenten das Geschehen. So sind die prinzipiellen raumkonstituierenden Potenziale von Empathie etwa für den schulischen Raum anders zu denken als für einen Gerichtssaal, für eine dienstliche Konferenz anders als für eine therapeutische Sitzung. So lassen sich nun dem Prinzip nach in mindestens vier Hinsichten solche Räume benennen, die durch Empathie befördert werden: Empathie gestaltet einen Raum des intersubjektiven Engagements In einem Raum des intersubjektiven Engagements verwirklicht sich eine Kultur, die von einem umfassenden aktiven Interesse geprägt ist: In diesem kommt zum einen ein grundlegendes Interesse am Anderen als einem Anderen zum Ausdruck sowie ein Interesse an der Teilnahme am Anderen und zum anderen das Interesse am intersubjektiven Austausch. Dieser Austausch meint nicht einen, der durch das Teilen von Informationen gegeben ist, sondern der sich durch Dynamiken intersubjektiven Verstehens ergibt. In diesem Austausch ist eine Grundlage, dass Inneres hörbar werden kann/darf, sodass subjektives Erleben

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zu einem geteilten Gegenstand und das Erleben einer resonanten Beziehung zum gleichsam gemeinsamen Projekt wird. Zu einer solchen intersubjektiven Kultur sind auch die oben entwickelten spezifischen Einzelaspekte zu zählen, etwa die Wahrnehmung der Bedürfnisse des Anderen, das Ernstnehmen des Anderen in seinem Erleben sowie Symmetrie oder Integrität von Beziehung. Empathie, wie sie hier verstanden wird, tritt als gestaltende Kraft eines Raumes in Erscheinung, in dem sich eine Kultur des intersubjektiven Engagements realisiert: Jenes umfassende Interesse am Anderen ist bereits grundlegend durch die vorausgesetzte Affirmation einer Auseinandersetzung mit dem Anderen gegeben. Auch hier ist es die Gleichzeitigkeit von Alteritätsfokus und Ich-AndereUnterscheidung, die einen interessierten Umgang mit dem Anderen als einem Anderen ermöglicht. Am Anderen teilzunehmen, d. h. an seinem Erleben, an seinem situativen Setting und damit auch an ihm als so sich konstituierende Person, kann allein durch die Komplexität der empathischen Anteile ermöglicht werden, durch die ein Maximalgrad überhaupt möglicher Teilnahme an Nicht-Eigenem erreicht wird. Ein intersubjektiver Austausch, wie er hier formuliert wird, entsteht dann vor allem durch die ganzheitliche Wahrnehmung der ganzheitlichen Ausdruckseindrücke am Anderen mithilfe des Komplexes empathischer Anteile. Dabei entsteht eine situative, individuelle Dynamik von Fremdverstehen, die das Erleben eines teilenden Austauschs von Innerem bereithält. Es ist diese Erfahrung, die ermöglicht, dass Subjekte in ebenso affirmativer Weise erneut aufeinander zugehen und in der Folge sich dieses situative Handeln als routiniert entwickeln kann. Empathie gestaltet einen Raum der individuellen Freiheit Ein Raum individueller Freiheit meint hier einen Raum, in dem ein Mensch als Individuum anerkannt, d. h. in seinem individuellen Erleben wahrgenommen und als ein solches akzeptiert wird. Mit dieser Anerkennung ist aufseiten des Individuums das Empfinden einer Existenzberechtigung als individuelle Person verbunden, ein Gefühl des Sein-Dürfens, der voraussetzungslosen Geltung in der Wahrnehmung anderer beteiligter Individuen. Wird ein Individuum in dieser Weise wahrgenommen, so geht hiermit auch einher, dass es nicht durch eine bestimmte Wahrnehmung festgelegt ist, sondern sich in der Freiheit einer Offenheit in Erleben und Empfinden, in Denken und Fühlen, in Entwicklung weiß und erlebt. So verstanden fokussiert die Bezeichnung individuelle Freiheit dann nicht die Vereinzelung im Dasein einer Person oder gar eine absolute, willkürliche Freiheit, sondern meint gerade eine Freiheit, die aus der intersubjektiven Kontextualität des Individuums ihre Gestalt gewinnt, weil ein Individuum als Individuum wahrgenommen wird. Empathie gestaltet solche Räume, indem sie insbesondere mit dem Fokus der Alterität grundsätzlich immer das Anderssein des Anderen würdigt und bewusst

3.2  Empathie in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen

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zum Gegenstand der ganzheitlichen Wahrnehmung macht. Auf diese Weise schafft sie die Möglichkeitsbedingung für einen Raum, in dem sich das Individuum in seiner Existenzberechtigung erfährt. Der für Würde entsprechende Subjektverhältnisse zentrale Aspekt der Entwicklungsoffenheit, wie ihn auch Bieri starkmacht, wird dadurch gewahrt, dass der Andere immer wieder neu wahrgenommen werden muss. Dies liegt in der Ganzheitlichkeit von empathischer Wahrnehmung begründet, die in einem fluiden Prozess jene Veränderungen in den wahrgenommenen Eindrücken vom Anderen mitgehen muss, wenn das Ziel ein intersubjektiver Verstehensprozess, ein Wahrnehmen des Anderen in seiner Andersheit bleiben soll. Das schafft einen Raum der Freiheit, in welchem dem Individuum nicht nur anfänglich, sondern über den Prozess hinweg ganz zentral jene Geltung als ein Individuum zukommt. Empathie gestaltet einen Raum der Proportionalität Ein Raum der Proportionalität ist von etwas durchzogen, das als Verhältnismäßigkeit bezeichnet werden kann. Verhältnismäßigkeit bildet dabei das balancierte Produkt eines Gewichtungs‑ und Bewertungsprozesses, bei dem Individuen Bedeutungsvolles von relativ gesehen weniger Bedeutungsvollem unterscheiden, indem sie es zueinander ins Verhältnis setzen. Dieser Prozess kann auf das Individuum selbst gerichtet sein und bezieht sich dann auf einen gewichtenden und bewertenden Umgang mit dem eigenen Erleben. Verhältnismäßigkeit meint dann nicht einen Maßstab, an dem sich per se die Berechtigung von individuellem Erleben bemisst, sondern eine natürlich gewichtete Relativität des eigenen Erlebens angesichts anderer Erlebensgehalte und Verhältnisse, die innerhalb oder außerhalb der eigenen Person liegen. Daneben kann sich jener Gewichtungsprozess auch auf von der eigenen Person unabhängige Verhältnisse beziehen und meint dann ein ganzheitliches Ins-Verhältnis-Setzen von Geschehen in der Welt. Verhältnismäßigkeit meint einen aus der Relativität hervorgehenden, angemessenen Grad zwischen Ernstnehmen und Distanzierung in der einen Richtung und Ernstnehmen und Beherrschtwerden in der anderen Richtung. Vom Gelingen einer solchen Proportionalität kann das Erleben von Würde abhängen.119 Durch Empathie werden Räume gestaltet, in denen eine balancierte Proportionalität gewahrt bleibt. Die grundsätzliche affirmative Ausrichtung auf das Erleben des Anderen, das in einer ganzheitlichen Weise wahrgenommen wird, ermöglicht überhaupt die Relativität zu erfassen, die zwischen eigener und anderer Erlebenswelt bzw. innerhalb von Geschehen in der Welt liegt. Die Beteiligung des Komplexes empathischer Anteile ermöglicht einen ebenso komplexen und intensiven Prozess des Ins-Verhältnis-Setzens und der Gewichtung.  Diese Ausführungen in Anlehnung an Bieri, Eine Art zu leben, 309 ff.

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3  Empathie im Horizont menschlicher Würde

Alteritätsfokus und Ich-Andere-Unterscheidung unterstützen dabei gerade ein Ins-Verhältnis-Setzen, die von der Differenzierbarkeit von Geschehen und Erlebensgehalten lebt; zugleich wird das Bewusstsein für Gewichtungsprozesse zugunsten der Proportionalität befördert. Empathie befördert einen Raum reflektierter Würdekultur Für Subjektverhältnisse in Würde ist nicht nur von erheblicher Bedeutung, Würde durch die Realisierung ihrer spezifischen Unterformen zu ermöglichen, sondern auch, dass es ein Metabewusstsein für die Wichtigkeit ihrer Kultivierung gibt. Mit einem Raum reflektierter Würdekultur ist gemeint, dass sich aus dem eigenen Erleben Würde entsprechender Verhältnisse und Räume Erkenntnisse ergeben, die als reflektierte Überzeugungen zu einer über sich selbst hinausgehenden Würdekultur führen. Diese Reflexion enthält die auf der eigenen Würdeerfahrung basierende Einsicht, dass es notwendig und sinnvoll ist, in den erörterten Verhältnissen Erfahrungen von Würde machen zu können, weil die eigene Person und zugleich jeder andere würdig ist, würdig zu leben. Diese Einsicht ist für ihre Wirksamkeit begründungsunabhängig: So ist es unerheblich, ob diese Erkenntnis in die Notwendigkeit würdiger Subjektverhältnisse näherhin mit menschlicher Würde als Wesensmerkmal, Gestaltungsziel, Haltung usf. begründet wird. Vielmehr kommt hierin die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Achtung von Würde ihren Zweck in sich selbst hat, insofern es unabhängig von Begründungen und Zweckbestimmungen wertvoll ist, in einer Kultur geachteter Würde zu leben und diese zu befördern. Auch auf dieser Metaebene gestaltet Empathie Verhältnisse in Würde, indem sie jene Reflexion der Würdekultur in spezifischer Weise befördert: Das ganzheitliche Gewahren, welches mithilfe des Komplexes empathischer Anteile ermöglicht, dass Menschen einander in ihrer Erlebenswelt erfassen und in tief gehender Weise verstehen können, wird nicht nur der anderen, sondern auch der eigenen Person zuteil. Hierin liegen jene beschriebenen positiven Erfahrungen von Würde begründet, welche die Grundlage des Erkenntnismoments über die Wertigkeit einer Würdekultur bilden. Die allseitige Dynamik der Wirkungsweise von Empathie, die insbesondere der Fokussierung der Alterität und der Differenzierung von Ich und Anderem geschuldet ist, führt dabei das Potenzial ebenso allseitig erlebbarer Würdekultur vor Augen. Es sind schließlich Affirmation und relative Steuerbarkeit, in denen dann die Erkenntnis zur Gestaltbarkeit liegen kann.

4  Empathie unter nicht-idealen Bedingungen Das vorangehende Kapitel spannt in explorativer Weise ein Feld auf, in welchem Empathie Subjektverhältnisse in Würde ermöglicht und befördert. Dies ist in positiver Formulierung geschehen, um Relevanz und Tragweite von Empathie umfassend zu begründen. Bevor nun aber im nachfolgenden Kapitel systematisch aufgezeigt werden kann, wie Empathie normativ-ethisch gedacht werden kann, sollen einige Ausführungen zur theoretischen Grundausrichtung dieser ethischen Grundlegung einem Missverständnis vorbeugen, das in jener positiven Ermöglichungssemantik liegt und sich auf die Differenzierung von Idealer und Nicht-idealer Theorie bezieht. Es ist John Rawls, der in seinem Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit diese Unterscheidung für ethische Theoriebildung explizit macht: Im Rahmen einer Idealen Theorie werden zunächst ethische Grundsätze als erstrebenswert angenommen und verbindlich aufgestellt. Unter der Annahme „vollständiger Konformität“ wird davon ausgegangen, dass alle Menschen diese Grundsätze annehmen und befolgen (können). Abweichungen von dieser Ordnung werden als Ausnahmen deklariert und haben weiterhin eine marginale theoretische Funktion. Damit betrachtet die Ideale Theorie in einer spezifischen Form erstrebenswerte Verhältnisse stets unter günstigen Bedingungen, unter denen diese angestrebten Verhältnisse sich auf bestimmte zeitliche Sicht in vollkommener Weise realisieren. Diese theoretische Ausrichtung fokussiert so das Ziel gesellschaftlicher Veränderungen. Die Nicht-ideale Theorie fragt dagegen nach Grundsätzen anzustrebender Verhältnisse, die unter weniger günstigen Bedingungen, unter nicht-idealen Bedingungen, formuliert werden können. In einem solchen Theorierahmen formulierte Grundsätze beziehen also die Tatsache mit ein, dass natürliche, dauerhafte oder temporäre Beschränkungen, geschichtliche und soziale Kontingenzen die Bedingungslandschaft ihrer Realisierung maßgeblich bestimmen. Damit wird das als Regel angenommen, was in der Idealen Theorie als zu marginalisierende Ausnahme gewertet wird. Der Fokus liegt hier nicht allein auf dem Ziel des Ideals, sondern auf einem angesichts seiner realen Bedingungen formulierten Ziel.1 Für den hier grundzulegenden ethischen Gegenstand der Empathie kann in Bezug auf diese beiden theoretischen Ausrichtungen Folgendes ausgesagt  Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 202017, 277 f.

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4  Empathie unter nicht-idealen Bedingungen

werden: Im Rahmen einer Idealtheorie würden Grundsätze formuliert, welche Maximen von Empathie umfassen. Es wird angenommen, dass in vollständiger Konformität alle Menschen diese Grundsätze befolgen (können). Die dabei vorausgesetzten günstigen Bedingungen beinhalten dann, dass jeder Mensch in jedem Moment, d. h. an jedem Ort und zu jeder Zeit, in vollkommener Weise die Möglichkeit, die Priorität, den Willen und das Bewusstsein hat, eine intersubjektive Situation empathisch, d. h. nach den Grundsätzen gelungener Empathie zu gestalten. Die hier vorzunehmende ethische Grundlegung folgt dagegen dem Paradigma einer Nicht-idealen Theorie. Darin kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass Empathie unter einer Vielzahl situativer nicht-idealer Bedingungen steht, die nicht eine randständige Ausnahmeerscheinung bilden, sondern vielmehr die Realität intersubjektiven Geschehens abbilden und insofern zur Grundlage einer Vermessung des ethischen Potenzials von Empathie gemacht werden müssen. Eine Theorie, die eine solche Perspektive auf Empathie einnimmt, ist etwa Marshall B. Rosenbergs Konzeption der Gewaltfreien Kommunikation, in der Empathie eine zentrale Rolle spielt: Empathie wird als Ermöglichungsfaktor für gelingende Kommunikation im Allgemeinen, aber auch in kommunikativen Sackgassen, Stillesituationen, kommunikativen und existenziellen Extremsituationen beschrieben, als mitunter einzige Möglichkeit für Kommunikation überhaupt.2 Wenngleich Rosenbergs Theorie freilich nicht an sich eine ethische Theorie darstellt mit dem zentralen Ziel, den Begriff der Empathie zu reflektieren, und so liegt doch aber in seiner Kommunikationstheorie ein Grundverständnis von Empathie vor, das als Ausgangslage zu einer nichtidealen Ethik der Empathie angesehen werden kann, wie sie hier konzipiert werden soll. Denn es kommt hierin ein zentraler Aspekt zum Ausdruck, der die Relativität des Nicht-idealen spezifisch zur Geltung bringt: Empathie ist eine menschliche Fähigkeit, von der angenommen werden kann, dass sie nicht unter ohnehin schon idealen Bedingungen realisiert werden kann und muss, sondern gerade trotz nicht-idealer Bedingungen realisierbar ist, dann aber immer in einer bestimmten, nämlich der situativen Bedingungslandschaft angepassten Form. Das Moment der Relativierung, das in der nicht-idealen Theorie liegt, bezieht sich dann nicht auf die normative Kraft von Empathie per se, sondern auf die Form der aktualen Empathie. Damit werden nicht-ideale Bedingungen von der negativen Bestimmung entbunden (nicht-ideale Bedingungen schränken Empathie ein) zugunsten einer positiven Bestimmung (nicht-ideale Bedingungen generieren eine der Situation entsprechende Empathie). Entsprechend hat diese nicht-ideale Anlage ethischer Theorie für den Einzelnen zur Folge, dass nicht nicht-ideale Bedingungen als Erklärung für fehlende Empathie herangezogen

2  Vgl. Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, Paderborn 112013, 136 ff.

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werden, sondern dass stets nach den Möglichkeiten empathischen Wahrnehmens und Handelns angesichts der situativen Bedingungen zu fragen ist. Es sind mindestens zwei Bereiche nicht-idealer Bedingungen zu nennen: Der eine Bereich umfasst strukturell-pragmatische Kontingenzen. Hier sind vor allem zwei Aspekte zentral: Empathie gegenüber dem Anderen kann temporär durch Zeitbedrängnis eingeschränkt sein. Getriebenheit und alltägliche Beschleunigung lassen tatsächliche oder empfundene Zeit fehlen, sich auf den Anderen einzulassen oder innere Ruhe, um der Wichtigkeit der Situation Raum zu geben. Die Wahrnehmung ist dann von anderen zeitlich naheliegenden Dingen besetzt, es besteht die Gefahr, dass die Notwendigkeit gar nicht in die Wahrnehmung vordringt und der Andere in seinem Erleben unter der Grenze der bewussten Wahrnehmung hindurchgleitet. Das Hindernis liegt hierbei in der grundsätzlich fehlenden äußeren Möglichkeitsbedingung eines Momentes empathischen Gewahrens. Ähnlich verhält es sich im Falle von Pflichtenkollisionen. Es mögen die Grundbedingungen einer bewussten affirmativen Haltung gegeben sein und auch situativ Wille und Bereitschaft, möglicherweise sogar eine eingeübte EmpathiePraxis des Mitmenschen. Nehmen parallel aber andere, ggf. von der eigentlichen Situation ganz verschiedene Erwartungen und Erfordernisse Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Handlungen in Anspruch, so kann Empathie zu einem Grad eingeschränkt oder auch gänzlich verunmöglicht sein. Auch hier liegt das Hindernis in äußeren Möglichkeitsbedingungen, bestimmt aber die tatsächlich erlebbare Empathie. Der zweite Bereich umfasst individuell-personale Kontingenzen, die als nichtideale Bedingungen des empathischen Geschehens auftreten können: Die erste nicht-ideale Bedingung liegt in der Individualität und Komplexität der Wahrnehmungsorganisation: In jedem Moment durchläuft eine Vielzahl gleichzeitiger, überlagernder, voneinander unterschiedener Reize das Kontinuum sensueller, kognitiver und emotiver Perzeption, die sich bewusst und unbewusst vollzieht. Von der einen empathischen Wahrnehmung zu sprechen, ist für die theoretische Betrachtung auf begrifflicher Ebene zwar zweckdienlich, soll aber realiter nicht zu der Vorstellung eines kristallinen Gegenstandes führen. Insofern ist jeder Moment empathischen Gewahrens immer eingebettet in ein ganzes Setting perzeptiver Prozesse, deren momentane Kulmination den Ort quantitativ bestimmen, den eine Empathie erfordernde Situation einnehmen kann. Zudem ist von einer individuellen Varianz auszugehen, die jenen Ort qualitativ bestimmt: Diese Varianz kann durch die individuelle Hierarchisierung einzelner Perzeptionen, Fehleinschätzungen/Fehldeutungen in der kognitiven Verarbeitung der Perzeptionen oder durch die eigene Bewertung des Wahrgenommenen vor dem Hintergrund bisher gemachter Erfahrungen entstehen und Maßgabe sein, welche Relevanz, welche Intensität und welche Angemessenheit der Empathie erfordernden Situation aus der Sicht des Empathisierenden eignet.

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Eine zweite nicht-ideale Bedingung kann in der emotionalen Situation des Empathisierenden liegen: So ist denkbar, dass eigene Bedürfnisse oder emotionale Zustände eine momentan so dominante Rolle spielen, dass sie dem Bedürfnis des Anderen nach Empathie entgegenlaufen. Die Möglichkeit oder der Grad der Empathie ist dann abhängig davon, wie viel empathische Kapazität der Empathisierende in den Grenzen seiner eigenen emotionalen Situation aufzubringen in der Lage ist. Diese eigenen Grenzen können etwa durch eine eigene seelische Belastungssituation, durch spezifische akute Emotionen wie Angst, durch das eigene situative Bedürfnis nach Empathie oder durch den Impuls zum Schutz des Selbst abgesteckt sein. Eine weitere Facette dieses Aspekts liegt in verschiedenen Ausprägung der Persönlichkeitsstruktur des Empathisierenden: Möglichkeit und Grad der aufzubringenden Empathie konstituiert sich dann entlang der individuellen Dispositionen, die durch grundlegende Tendenzen der Persönlichkeit vorgegeben sind: So sind erhebliche Unterschiede im empathischen Vermögen von Menschen mit tendenziell egozentrischem Aufmerksamkeitsfokus auszumachen, mit der Neigung zur Abschottung in die sicheren Mauern ihrer Person, mit rationalistisch-nüchternen ausgerichteten Charaktereigenschaften gegenüber solchen Menschen, die ohnehin zu emotionalisiertem Umgang mit Lebenssituationen, zu hoher Sensibilität für die sie umgebende Welt und einem nach außen gerichteten Aufmerksamkeitsfokus tendieren. Eine dritte nicht-ideale Bedingung von Empathie liegt auf der Seite des Empathisierten. Dort können es verschiedene Kontraindikationen sein, durch deren simultanes Auftreten der Eindruck vom Anderen als empathiebedürftig konträr beeinflusst wird. Zu denken ist hier an bewusste oder unbewusste Strategien der Verschleierung, Verharmlosung, Verschiebung, Beschönigung oder auch an ein eingeschränktes verbales Ausdrucksvermögen des Empathisierten durch emotionale Ergriffenheit. Eine letzte nicht-ideale Bedingung für ein empathisches Geschehen liegt im großen Feld pathologischer Zustände entweder beim Empathisierenden oder beim Empathisierten. In diesen Bereich fallen Erkrankungszustände, wie sie in Teil I im Rahmen der klinischen Psychologie behandelt wurden. Diese konstitutive Wirkung kommt verschiedenen Störungsbildern in besonderer Weise zu: Sowohl bei psychogenen Störungen wie etwa Persönlichkeitsstörungen, Affektiven Störungen (z. B. Depression), Entwicklungsstörungen (z. B. Autismus-SpektrumStörung, ADHS, Störung der Sprachentwicklung), Kommunikationsstörungen (z. B. Mutismus) oder akute Belastungsreaktionen (ein psychischer Schock nach einem belastenden Erlebnis) als auch bei somatogenen Störungen wie akuten Notfallzuständen (z. B. Schock, Bewusstlosigkeit), Bewusstseinsstörungen (z. B. Koma), neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. Demenz-, Parkinson‑ oder Huntington-Erkrankung) und anatomischen Störungen (z. B. Läsionen spezifischer Hirnareale oder der Gehörorgane) können je nach Auftreten episodisch

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oder chronisch die Fähigkeit zur Empathie beeinflussen und je nach Schwere der Störung auch qualitativ bedingen. An dieser Stelle wäre nun der Einwand möglich, dass Situationen politischen, juristischen, militärischen oder gesellschaftlichen Unrechts etwa durch Diktaturen, Folter oder Terrorismus einen Platz unter den nicht-idealen Bedingungen finden müssten. Ist doch ein erheblich größerer Teil der Welt mit undemokratischen, ungerechten oder unmenschlichen Bedingungen verhaftet. Dass solche Bedingungen hier nicht erfasst werden, findet seinen Grund in der wörtlichen Semantik des Nicht-Idealen. Hier sollen Bedingungen erfasst werden, die eine Formulierung idealer Maximen beschränkt. Derartige Umstände beschränken gewiss ein empathisches Geschehen. Das tun sie jedoch in so eklatanter Weise, dass von vollständig un-empathischen Bedingungen auszugehen ist. So ist der Anteil der Bedingungen, die Empathie ermöglichen, schwindend gering oder fehlt vollständig gegenüber dem Anteil an Bedingungen, der Empathie erschwert bzw. verunmöglicht. Es lassen sich beeindruckende Beispiele finden, in denen es Menschen in einzelnen Situationen gelingt, auch unter derartig prekären Bedingungen empathisch zu sein. In dem Film Das Leben ist schön3 etwa schafft es der Protagonist, die reale menschenfeindliche Situation der KZ-Inhaftierung vor seinem kleinen Sohn in ein Spiel umzukehren, das er zu dessen Geburtstag organisiert habe, weil er die angstfreie kindliche Welt um jeden Preis erhalten will. Ein anderes Beispiel dieser Art ist die in dem Dokumentarfilm Black Christmas4 dargestellte Szene, in der eine Überlebende des rassistischen Bombenanschlags in Südafrika 1996 in einer späteren Begegnung mit dem Täter in einem Moment der versöhnenden Empathie die Hand des Täters berührt. Diese Beispiele menschlicher Empathie unter Bedingungen vollständig fehlender Empathie sind beeindruckendes Zeugnis menschlicher Liebe bzw. versöhnender Begegnung. Diese aber theoretisch einzuholen, erfordert eine Reflexion unter gesonderten Gesichtspunkten und wird deshalb im Rahmen dieser Arbeit unberücksichtigt gelassen.

3 Benigni,

Roberto: Das Leben ist schön, 1997.  Gobodo-Madikizela, Pumla/Kaplan, Mark: Black Christmas, 2016.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie Bis zu diesem Punkt wurde also das menschliche Vermögen der Empathie ethisch reflektiert, indem zunächst definiert wurde, was hier angesichts der begrifflichen und phänomenalen Weite unter Empathie verstanden werden kann, um sodann im Horizont der ethischen Leitkategorie menschlicher Würde die ethische Relevanz von Empathie umfassend zu begründen und ihr intersubjektives Potenzial zu erfassen. Als ein dritter Schritt wurde die theoretische Ausrichtung ethischen Sprechens von Empathie unter nicht-idealen Bedingungen festgelegt und diese spezifisch expliziert. Dieser Argumentationsgang bildet den Hintergrund, vor dem in einem nächsten Schritt grundlegende normative Maximen formuliert werden sollen, die aus dem bisherigen theoretischen Vorlauf über Empathie resultieren. Dazu soll eine konzeptuelle Dreiteilung den weiteren Untersuchungsverlauf gliedern, die sich in der neuzeitlichen Ethik im Anschluss an die Ethik Friedrich Schleiermachers etabliert hat: So wird in diesem Kapitel zunächst eine güterethische Reflexion erfolgen (5.1), die mit der initialen Formulierung des höchsten Gutes einerseits und spezifischer Güter andererseits die Ebene der überindividuellen Landschaft von Zielsetzungen des sittlichen Lebens in den Blick nimmt. Angesichts der hier formulierten sittlichen Güter ergeben sich spezifische als moralisch gut zu qualifizierende Handlungen eines jeden Individuums, welche pflichtenethisch entfaltet werden sollen (5.2). Insofern der Erfüllung einer jeden normativen Pflicht eine spezifische dispositionelle Ausrichtung im Menschen eignet, werden schließlich tugendethisch Haltungen und Grundzüge erschlossen, welche die menschliche Disposition zur Erreichung der formulierten Güter durch spezifische Handlungen bilden (5.3). Empathie nun in dieser Dreigliedrigkeit ethisch zu beleuchten, erweist sich in zweifacher Hinsicht als sinnvoll: Zum einen ist sie ein besonders stabiles Reflexionsgerüst, welches einer ethischen Grundlegung, wie sie hier versucht wird, in besonderer Weise eignet, insofern sie über die nötige Allgemeinheit verfügt, um Grundlage einer diskursiven Weiterentwicklung zu sein. Zum anderen bietet sie die größtmögliche Ganzheitlichkeit in der Betrachtung eines begrifflich, phänomenal und disziplinär so komplexen Gegenstandes, ohne dabei einen Anspruch auf Abgeschlossenheit, Ausnahmslosigkeit oder Vollständigkeit zu erheben.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

So kann Empathie in komplementärer Weise auf in sich sehr verschiedenen, aber sich gegenseitig notwendig ergänzenden Ebenen ethisch entfaltet werden, indem die jeweilige Spezifik herausgestellt wird, in der normativ-ethisch von Empathie zu sprechen ist. Es ist jeweils ausführlich zu explizieren, inwiefern sich Empathie bzw. was an einem empathischen Geschehen sich als Gut, als Pflicht und als Tugend erweist und wodurch dies theoretisch, d. h. durch die theoretischen Vorläufer des ersten Teils dieser Arbeit, zu begründen ist. Zudem ist zu differenzieren zwischen normativen Forderungen, die den Empathisierenden betreffen und solchen, die den Empathisierten betreffen. Hierin kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass Empathie nicht unidirektional von empathischem Subjekt zu empathischem Objekt stattfindet; vielmehr ist von einem empathischen Geschehen als einer intersubjektiven Dynamik zu sprechen, an der beide Akteure in spezifischer Weise beteiligt sind und für die entsprechend ganzheitlich auf ihre ethischen Implikationen zu blicken ist.

5.1  Empathie in güterethischer Perspektive 5.1.1  Das Höchste Gut Güter können seit Aristoteles grundsätzlich verstanden werden als Ziele, nach denen menschliches Handeln strebt.1 Das Höchste Gut als Ziel allen Strebens sieht Aristoteles noch in der Eudaimonia und verlegt damit das Problem der Individualität von Strebenszielen auf die einzelnen Güter zur Erlangung der Eudaimonia. Friedrich Schleiermacher dagegen sieht es zunächst als notwendig an, eine güterethische Betrachtung überhaupt als konstitutiven Teil von Ethik zu begründen, insofern die Formulierung von Gütern die „wohlgeordnete Ganzheit“2 stifte und ein jedes Handeln sich stets auf ein zuvor formuliertes Gut beziehe. In diesem artikuliert sich „einerseits […] die „Totalität der Vernunft in der Natur, andererseits [der] Zielpunkt dieses Prozesses, als Höchstes Gut“.3 Das Höchste Gut besteht für Schleiermacher also nicht im überindividuellen Streben nach Glück, sondern lässt sich nur im Verweis auf die überindividuell-menschliche Vernunfttätigkeit bestimmen: Im Menschen ist bereits ein ursprüngliches Minimum einer Einheit aus Natur und Vernunft gegeben, von der aus sich ein Prozess der organisierenden und erkennenden Durchdringung der menschlichen und der außermenschlichen Natur durch die Vernunft vollzieht und damit eine „Erweiterung und Steigerung“ der ursprünglichen keimhaft angelegten Einheit 1 Vgl.

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Stuttgart 2013, I,1,5.  Moxter, Michael: Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers, Kampen 1992; 61. 3  Heesch, Matthias: Philosophische Ethik, in: Ohst, Martin (Hg.): Schleiermacher Handbuch, Tübingen 2017, 267–280, hier: 275. 2

5.1  Empathie in güterethischer Perspektive

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und ein „Hineinbilden des Erkennens in die Natur“ darstellt. Die organisierende Funktion der Vernunft besteht in jener Prozesshaftigkeit selbst, die erkennende Funktion konkretisiert sich in darin enthaltenen Akten in der Natur, in der sich die Vernunft „als combinatorisches Vermögen unter dem Schema des Oscillierens zwischen Allgemeinem und Besonderem manifestirt“.4 So lässt sich das Höchste Gut bei Schleiermacher also in dem menschlichen Streben erkennen, die Natur mittels Vernunft vollständig zu durchdringen, mit dem Ergebnis der vollständigen Einheit von Natur und Vernunft. Damit ist es der „Inbegriff sowohl dessen, was durch freies und vernünftiges Handeln der Personen hervorgebracht wird, als auch dessen, was das Ziel dieses Handelns darstellt.“ Es ist weder Summe aller einzelnen Güter noch ein höchstes Maß eines Gutes, sondern eine verbundene „Gesamtheit menschlicher Handlungsziele und ‑ergebnisse“.5 Soll Empathie bzw. ein empathisches Geschehen güterethisch betrachtet werden, so kann dies in Anschluss an jene metaethische Bestimmung des Höchsten Gutes6 in Anschluss an Schleiermacher erfolgen. Dies geschieht jedoch unter einer spezifischen Voraussetzung: Wenn Schleiermacher vom Höchsten Gut als Vernunftdurchdringung der Natur spricht, versteht er Vernunft als abstrakte überindividuelle Vernunft. Wenn nun einzelne Güter wie auch das Höchste Gut als Strebensziele verstanden werden, die eine vernünftige Durchdringung der Natur bedeuten, bleibt die konkretisierende Bestimmung dessen, was als vernünftige Durchdringung verstanden werden kann, zumindest deutungsoffen. Insofern muss für die hier vorzunehmende ethische Entfaltung das Verständnis Schleiermachers von der überindividuellen Vernunft in das einer individuellen Vernunft transformiert gedacht werden. Dies ist möglich, wenn die Kategorie des Höchsten Gutes konkretisiert, d. h. inhaltlich näher bestimmt wird. Mit Blick auf die menschheitsgeschichtliche Entwicklung zu einer modernen, aufgeklärten und demokratischen7 Gesellschaft, wie sie in West‑ und Mitteleuropa vorfindlich ist, kann ein sittlicher Grundkonsens8 angenommen werden, der 4  Diese Zitate sämtlich in: Schleiermacher, Ethik, Einleitung § 1–6; II,I,1,§ 1; II,II,1,§ 110; I,§ 26. 5 Feil, Michael: Die Grundlegung der Ethik bei Friedrich Schleiermacher und Thomas von Aquin, Berlin 2005, 121; so auch bei Moxter, Güterbegriff, 182 ff. 6 Vgl. Moxter, Güterbegriff, 177. 7 Demokratie bzw. demokratisch wird hier nicht allein verstanden als eine politische Staatsform, sondern mit Günter Dux darüber hinaus als „Verfassungsform, die dazu bestimmt ist, allererst die gesellschaftlichen Bedingungen einer selbstbestimmten Lebensführung des Subjekts als einer von Sinn bestimmten Lebensführung zu schaffen“. Als strukturelle Möglichkeitsbedingung für selbstbestimmtes Leben ist Demokratie in ihrer Bedeutung erweitert zu einer sinntragenden Lebensform mit Aufgabe, „den Bildungsprozess der Gesellschaft in seinen naturwüchsigen Bedingungen bewusst zu gestalten“. Damit findet Empathie über das Ethos des bewussten Lebens in Demokratie ihre gesellschaftsstrukturbildende Entsprechung (Dux, Günter: Demokratie als Lebensform. Die Welt nach der Krise des Kapitalismus, Göttingen 2013). 8  Ein solcher Grundkonsens der Gesellschaft wird hier als Produkt ihrer historischen Genese verstanden, der sich aus christlichen, humanistischen, reformatorischen und aufklärerischen

228

5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

sich in der Grundordnung manifestiert, in der eine Gesellschaft verfasst ist und sich in Form von Gütern zu erheblichen Teilen bereits in ihr realisiert. In dieser Entwicklung nun hat sich Menschenwürde als oberste Norm etabliert, weil sie als oberste Errungenschaft der Vernunft von zumindest hinreichend vielen Individuen anerkannt wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich Menschenwürde wiederum als eine konkrete Bestimmung des Höchsten Gutes setzen, die Schleiermachers Definition der vernünftigen Durchdringung folgt, zugleich aber von einer zunächst individuellen, in einem zweiten Schritt dann aber generalisierbaren, überindividuellen Vernunftwahrheit ausgeht. Menschenwürde als Höchstes Gut zu bestimmen, wird dem Vorhaben einer Ethik der Empathie allerdings nur gerecht, wenn Würde selbst in der oben bereits theoretisch hergeleiteten und mit dem Begriff der Empathie in einen Zusammenhang gebrachten Weise verstanden wird. Das Höchste Gut, wie es hier zu benennen ist, meint also eine Art der Lebensgestaltung und darin konkret das fortwährende Streben nach Subjektverhältnissen, die der Menschenwürde entsprechen. An dieser Vorstellung vom Höchsten Gut als einem den einzelnen Gütern übergeordneten Gut sind die folgenden Güterbestimmungen zu bemessen. 5.1.2  Güter der Empathie Die nun zu benennenden Güter sind als Zielbestimmungen demnach nicht im Sinne statischer, abgeschlossener Errungenschaften zu denken. Vielmehr liegen einzelne Güter der Empathie dem höchsten Gut entsprechend in einem gelingenden Lebensvollzug und formulieren insofern anzustrebende Prozesse bzw. graduelle Zustände, in denen sich eine Kultur der Empathie realisiert. Grundlegend sind dabei in der vertikalen Achse zwei Kategorien von Gütern zu unterscheiden: Die erste Kategorie formuliert Güter erster Ordnung im Sinne zu erstrebender Ziele angesichts des genannten höchsten Gutes, die zweite Kategorie umfasst Güter zweiter Ordnung, wie sie im Sinne von strukturellen Möglichkeitsbedingungen der jeweils korrespondierenden Güter erster Ordnung bestimmbar sind. Insofern menschenwürdige Subjektverhältnisse sich in den obigen Ausführungen in drei Verhältnissen eines Subjekts ausdifferenziert haben – dem zu sich selbst, dem zum Anderen und denen in der Welt – werden auch hier in der horizontalen Achse die Güter jeweils in den drei Subjektverhältnissen betrachtet. Es ergibt sich eine güterethische Anfangsübersicht, die diesen zwei Achsen gerecht wird:

Werteparadigmen konstituiert. Alle Güter, die hier formuliert werden, gewinnen hieraus ihre inhaltliche Legitimität, sind für andere staatliche Gesellschaften aber nur teilweise, unter anderen Bedingungen oder auch überhaupt nicht übertragbar.

229

5.1  Empathie in güterethischer Perspektive

Güter

Formal‑ bestimmungen

Im Verhältnis zu sich selbst

Im Verhältnis zum Anderen

Verhältnisse in der Welt

Güter erster ­Ordnung: Ziel­ bestimmungen

Stabiles Selbst­ verhältnis

Stabile ­Beziehungen

Empathische Räume

Güter zweiter Ordnung: ­positivierte, strukturelle gesellschaftliche Grundbedingun­ gen

Manifestierte Rechte auf ­Freiheit, ­Autonomie, Selbst­ bestimmung

Gleichheitsrechte aller Menschen

Staat: Positivierte Rechtstaatlich­ keit, Demokratie, Menschenrechte Menschenbild: Einheit von Sozialität und Individualität als conditio humana

Abb. 6: Ethische Normmatrix I (Güterethik); K. K.

Grundsätzlich kann Empathie selbst als Gut erster Ordnung angenommen werden, insofern Bewusstsein, Bejahung und jeweils maximal mögliche Umsetzung einer Kultur der Empathie für sich betrachtet ein erstrebenswertes Ziel sind, wie es sich aus den Ausführungen des Ermöglichungsspektrums unmittelbar ergibt. Für eine normative Bewertung dieses Befundes besteht jedoch die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses, dass nämlich das natürliche Vermögen von Empathie unmittelbar bedeute, dass mit steigendem Maß derselben auch die Qualität des sittlichen Handelns proportional ansteige, deshalb schließlich normativ einzufordern sei. Diese formallogische Konsequenz zu ziehen, stellt jedoch eine verflachte ethische Bewertung dar (s. Kapitel 5 des ersten Teils), sodass es einer Ausdifferenzierung bedarf, inwiefern Empathie selbst als ein Gut zu bezeichnen ist. Dazu lassen sich drei Güter erster Ordnung formulieren, die als Zielbestimmungen unmittelbar aus den drei betrachteten Ebenen der Subjektverhältnisse hervorgehen: Empathie ist erstrebenswertes Ziel, insofern 1. ein stabiles Selbstverhältnis, 2. eine stabile Beziehung zum Anderen und 3. empathische Räume erstrebenswerte Ziele darstellen. Ihnen eignen jeweils Güter zweiter Ordnung, die in ihrem spezifischen Verhältnis als strukturelle gesellschaftliche Grundbedingungen für die Primärgüter zu bestimmen sind. 5.1.2.1  Das Gut einer stabilen Beziehung zum Anderen Das Gut einer stabilen Beziehung zum Anderen ist gekennzeichnet durch eine authentische, vertrauensvolle, symmetrische Grundstruktur, in der Anerkennung, Teilhabe, Interesse und Engagement erlebt werden und in der eine Resonanzbeziehung entstehen kann. In einem empathischen Geschehen liegen diese Potenziale für die empathisierte Person, insofern sie sich als unter ihre

230

5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Situation gestellte und als solche erlebende Person wahrgenommen fühlen kann. Sie kann Erfahrungen intersubjektiver Nähe, Tiefe und Integrität machen. Für die empathisierende Person bestehen dieselben Erfahrungspotenziale: Sie erlebt sich in dieser Situation als ein relevantes Gegenüber, dessen individuelle Resonanz als wertvoll empfunden wird und damit sinnstiftenden Charakter für jene selbst annimmt. Zugleich kann sie sich aber auch der umgekehrten Situation gewiss sein, in der wiederum ihr als empathisierter Person Erfahrungen jener Beziehungsqualität zuteilwerden. Dieser Zusammenhang wurde in den obigen Ausführungen zum Ermöglichungsspektrum von Empathie ausführlich expliziert. Das korrespondierende Gut im Sinne einer gesellschaftlichen Grundbedingung stabiler Beziehungen bildet die bereits politisch durch Verfassung und Menschenrechtscharta realisierte Gleichheitsstruktur aller Menschen. Allein unter der gesellschaftlichen Bedingung der anerkannten prinzipiellen Gleichheit aller Bürger, die vor allem politisch und juristisch manifestiert ist, kann sich symmetrisch gestaltete Intersubjektivität situativ konkretisieren und können schließlich Anerkennung, engagierte Teilhabe und authentisches Interesse von Einzelnen unter Gleichen eine Beziehung langfristig prägen. Insofern diese Symmetrie jedoch stetig reflektiert, aktualisiert, gewahrt und aktiv gestaltet werden muss, bildet sie zugleich ein bleibendes Prozessziel und somit ein Gut intersubjektiven Wahrnehmens und Handelns. 5.1.2.2  Das Gut des stabilen Selbstverhältnisses Auch das Gut eines stabilen Selbstverhältnisses in einem empathischen Geschehen ist unmittelbar aus den Ausführungen zum Potenzial von Empathie abzuleiten und lässt sich durch mindestens fünf Merkmale kennzeichnen: Das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst kann als stabil gelten, wenn es sich als Person mit einem individuellen Erleben und als solche mit einem individuellen Zweck in sich selbst wahrnimmt, die über ein Recht auf einen persönlichen Intimitätsbereich verfügt, der seinerseits von innerer Autonomie und Selbstbestimmtheit geprägt ist und wenn die Person sich in Prozessen der Selbstverständigung immer wieder neu zu sich selbst ins Verhältnis setzen kann. Für ein empathisches Geschehen ist dieses Selbstverhältnis abhängig von der entstehenden Dynamik des intersubjektiven Geschehens selbst und damit von dem, was dem Subjekt von außen zukommt. Aufseiten der empathisierten Person bedeutet ein stabiles Selbstverhältnis, dass sie sich in ihrem Erleben empathisch wahrgenommen und anerkannt empfindet und dabei aber ihre eigene Autonomie und Selbstbestimmtheit vor dem Empathisierenden behält. Für das stabile Selbstverhältnis der empathisierenden Person ist es dagegen zentral, im Prozess des Empathisierens seine eigene Autonomie und Selbstbestimmung sowie seinen persönlichen Intimitätsbereich mit seinen individuellen Grenzen zu wahren und zu schützen und sich auf diese Weise selbst als Person mit eigenem Erleben im Prozess zu behaupten.

5.1  Empathie in güterethischer Perspektive

231

Die Grundbedingungen der Gesellschaftsstruktur, die dann als Güter zweiter Ordnung zu benennen sind, sind die ebenso prinzipielle Realisierung von Freiheit und selbstbestimmter Autonomie durch gesetzliche Manifestierungen auf politischer, juristischer und gesellschaftlicher Ebene. Nur im Rahmen der Prämisse, dass sich ein Bürger im Staat, vor dem Gesetz und innerhalb der kulturellen und sozialen Gemeinschaft als freies und selbstbestimmtes Individuum sowie als keiner unterdrückenden Instanz und keinem Zwangssystem unterstehend verstehen kann, ist überhaupt Raum gegeben, in welchem das stabile Selbstverhältnis eines jeden Subjekts überhaupt einen Platz als Gut einnehmen kann. Wenngleich diese Bedingungen in einem west‑ und mitteleuropäischen Staat politisch und gesellschaftlich bereits grundlegend verwirklicht sind, insofern sich diese durch eine demokratische, rechtsstaatliche Verfassung und die Anerkennung der UN-Menschenrechtscharta begründen und dies gesetzlich verbürgen, sind die Definitionsrahmen der Begriffe von Freiheit und Selbstbestimmung hybride und ihre Reichweite nicht eindeutig festzulegen. So sind Freiheit und Selbstbestimmung in Bezug auf ein intersubjektives Geschehen stetig neu als Gut zu bedenken. So ließe sich dazu auch umgekehrt formulieren: Damit eine Interaktion freiheitlich und selbstbestimmt gestaltet werden kann, ist ein stabiles Selbstverhältnis als Gut zu exponieren. 5.1.2.3  Das Gut empathischer Räume Das dritte zu benennende Gut bezieht sich auf Verhältnisse in der Welt und nimmt Raumstrukturen in den Blick, wie sie oben eingehend entfaltet wurden. An jener Stelle wurde die besondere ethische Relevanz von Empathie raumtheoretisch begründet: Durch Empathie, so das Ergebnis, werden Würde entsprechende Räume gestaltet, wenn diese ihrerseits als dynamische, von Menschen produzierte Prozesse relationaler An(Ordnung) von sozialen Gütern und Menschen verstanden werden, die ein sich permanent aktualisierendes Ergebnis von Spacing (Setzung der raumkonstituierenden Elemente) und Synthese (Zusammenfassungsprozesse zu Räumen aus Vorstellung-, Wahrnehmungs‑ und Erinnerungsprozessen) sind. Hieraus leitet sich unmittelbar das Gut empathischer Räume ab, insofern sich in ihnen eine Kultur der Empathie realisiert. Diese empathischen Räume wurden spezifiziert als (1) Raum des intersubjektiven Engagements (Interesse und Teilnahme am Anderen, intersubjektiver Austausch inneren subjektiven Erlebens), (2) als Raum individueller Freiheit (Anerkennung und Geltung als Individuum, Offenheit in individueller Entwicklung), (3) als Raum der Proportionalität (Verhältnismäßigkeit als gewichtete Relativität eigenen und fremden Erlebens) und (4) als Raum reflektierter Empathiekultur (Metabewusstsein aus Erkenntnisprozessen über Relevanz und Selbstzweck einer Kultur der Empathie). Auch die Realisierung dieser als empathische Räume bezeichneten Primärgüter steht unter weiteren drei strukturellen Grundbedingungen, die eine

232

5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

derartige Kultur überhaupt erst ermöglichen: Es sind wiederum erstens die politisch-gesellschaftlichen Strukturen, die das notwendige Fundament bilden. Diese sind explizit positivierte Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte. In ihnen artikulieren sich diejenigen Errungenschaften von Gesellschaften, die den Rahmen des Zusammenlebens von Menschen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene grundlegend festlegen und die ihrerseits unverhandelbare, aus Geschichtserfahrung und Werteentwicklung historisch gewachsene Kulturgüter darstellen. Sie bilden die Voraussetzung, insofern kein gesellschaftliches Setting vorstellbar ist, welches diese Bedingungen politisch und juristisch entbehrt, aber eine Kultur empathischer Räume als Zielbestimmung intersubjektiven Handelns anerkennt. Diesen Rahmen gebenden Errungenschaften menschlicher Kultur korrespondiert zweitens ein weiteres bedingendes Gut, das in einem spezifischen Menschenbild zu erkennen ist. In diesem kommen Grundüberzeugungen über den Menschen zum Ausdruck, die in der Einheit von Sozialität und Individualität die zentrale conditio humana erkennen und die historische Werteentwicklung von Aufklärung und Emanzipation ernst nehmen. Im Sinne der ganzheitlichen güterethischen Betrachtung kann resümiert werden: Empathie selbst als Gut und damit als erstrebenswertes Ziel zu formulieren, ist nur sinnvoll, wenn das damit verbundene Gut stabiler Beziehungen als gleichwertig zum Gut des stabilen Selbstverhältnisses gedacht wird und aus dem ausgewogenen Verhältnis von beiden empathischen Räumen angestrebt werden. Nur in der Gleichzeitigkeit der relativen Stabilität aller dieser Verhältnisse ist Empathie selbst ein Gut. Klassischerweise ist mit der Frage nach einem Gut auch die Frage nach dem Recht auf dieses Gut auf das Engste verbunden. Insofern hier nun Empathie, zumindest unter spezifischen Bedingungen, als Gut bezeichnet worden ist, stellt sich unmittelbar die Frage: Haben Menschen ein Recht auf Empathie? Zugunsten einer stringenteren Betrachtung wird die Behandlung dieser Frage auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, wenn die pflichtenethische Perspektive erschlossen sein wird.

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive Es ist im Folgenden darzulegen, welche konkreten Handlungen ein möglichst ganzheitliches und ausgewogenes Verhältnis der benannten Primärgüter ermöglichen und deshalb als moralisch gut zu qualifizieren sind. Dies ist Gegenstand der pflichtenethischen Betrachtung. Die mit den güterethischen Erwägungen begonnene Matrix kann in folgender Weise pflichtenethisch ergänzt werden (s. Abb. 7). Das pflichtenethische Sprechen von Empathie steht unter drei formalen Voraussetzungen: Zum Ersten können im Fall normativ-ethischer Erwägungen

233

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

Güter

Pflichten

Formal‑ bestimmungen

Im Verhältnis zu sich selbst

Im Verhältnis zum Anderen

Verhältnisse in der Welt

Güter erster Ordnung: Ziel­ bestimmungen

Stabiles Selbst­ verhältnis

Stabile ­Beziehungen

Empathische Räume

Güter zweiter Ordnung: positivierte, strukturelle gesellschaftliche Grundbedingun­ gen

Manifestierte Rechte auf ­Freiheit, ­Autonomie, Selbst­ bestimmung

Gleichheitsrechte Staatl. Bedingun­ aller Menschen gen: positivierte Rechtsstaatlich­ keit, Demokratie, Menschenrechte

Prima facie, vollkommen

Bleibendes intentionales Bezogensein (Verantwortung)

  Gestaltung

Selbstfürsorge, Selbstbegren­ zung

Aus der Ver­ antwortung resultierende Aufgaben, ­ unvollkommen   Reflexion

Menschenbild: Einheit von Sozialität und Individualität als conditio humana

Authentische und angemes­ sene Empathie, Explizite Kom­ munikation, Verständnis

Einräumen und Befördern institutioneller Strukturen einer empathischen Kultur

Selbstreflexion und Prozessreflexion Selbstbeob­ achtung, ­Selbstbindung, Motivation, Selbstbildung

Sensibilisierung für empathisches Bedürfnis, Erfordernis und Angemessenheit von Empathie

Evaluations‑ und Bildungs­ prozesse, Metakommuni­ kation

Abb. 7: Ethische Normmatrix II (Güterethik und Pflichtenethik); K. K.

zu einer phänomenal hybriden Kategorie wie Empathie keine statischen und a priori festgelegten Pflichten prima facie formuliert werden, aus der eine spezifische empathische Handlung oder gar Empfindung aus dem moralischen Gesetz zur Empathie abzuleiten wäre. Ein solches Unterfangen wäre in vielfacher Weise problematisch (s.  Teil I, Kapitel 5). Vielmehr ist hier zwischen einer übergeordneten, vollkommenen Pflicht sich selbst und zugleich anderen gegenüber und verschiedenen spezifischen, unvollkommenen Pflichten9 sich 9 Vollkommene und unvollkommene Pflichten bilden eine Grundunterscheidung, die Immanuel Kant in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten vornimmt. Damit führt er eine Unterscheidung des Verbindlichkeitsgrades ein: Vollkommene Pflichten haben eine unbedingte

234

5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

selbst bzw. dem Anderen gegenüber zu differenzieren. Die unvollkommenen Pflichten formulieren zwar durchaus explizite und präzise Handlungsmaximen, dabei liegen aber konkret ausagierte Form und Grad der formulierten Pflicht in der klugen und vernünftigen Abwägung des Handelnden, welche wiederum aus der Konfrontation mit der spezifischen Situation hervorgeht. Zum Zweiten handelt eine Person nicht aus Pflicht, wie es Kant selbst noch als Voraussetzung für das wahre moralische Handeln hervorhebt,10 sondern weil sie sich in einem Prozess dafür sensibilisiert hat und situationsbezogen ihr Handeln ausrichtet. Die hier formulierten Pflichten beziehen sich also grundlegend auf einen Bewusst­werdungs‑ und Gestaltungsprozess mit dem Ziel, durch die empathische Gestaltung singulärer Situationen selbst eine empathische Wahrnehmung zu entwickeln und eine solche Kultur zu befördern. So handelt es sich zum Dritten nicht um Rechtspflichten, die über gegebene Gesetze eingefordert und garantiert werden könnten, sondern um Tugendpflichten, deren Einforderung und Zwecksetzung im eigenen Bewusstsein liegen. Für die Bestimmung empathischer Pflichten bilden die güterethischen Ausführungen Schleiermachers den Ausgangspunkt: Güter wurden oben erläutert als Ziele menschlichen Strebens, die wiederum ausgerichtet sind am höchsten Gut der vollständigen Durchdringung der Natur durch die Vernunft. Eine Pflicht kann hier deshalb grundlegend verstanden werden als eine moralisch unbedingt gebotene Einzelhandlung, die zum Ziel hat, das sittliche Gesamtziel zu erreichen, das selbst das höchste Gut ist. Dies drückt Schleiermacher aus in der sogenannten allgemeinen Pflichtformel: Verbindlichkeit. Unvollkommene Pflichten sind auch verbindlich, in der praktischen Umsetzung sind sie aber auszudeuten möglich (vgl. Kant, AA IV, GMS, 421). 10 Kant, AA IV, GMS, 399; Die Setzung Kants, dass das Handeln ausschließlich aus Pflicht Voraussetzung für wahre Moralität ist, muss hier deutlich relativiert werden: Die faktische lebensweltliche Erfahrung zeigt, dass in nur wenigen Einzelfällen ausschließlich deshalb moralisch gehandelt wird, weil dieses Handeln eine Pflicht darstellt. So sind die konkreten Motive moralischen Handelns de facto so vielfältig und individuell wie deren Träger und haben als jeweils aktuales Produkt ihren Grund im Zusammenwirken persönlicher, sozialer und situativer Einflussfaktoren. Empathisches Wahrnehmen und Handeln ist nicht allein durch Überzeugung und Entschluss realisiert, wie es etwa im Falle vegetarischer Ernährung oder ökologischer Mülltrennung gelagert ist. Hier genügt es etwa, eine spezifisch handlungsgenerierende Überzeugung herauszubilden: Wer Fleisch essen will, muss sich der notwendigen Tatsache des Tötens von Tieren bewusst sein; ist man der Überzeugung, dass für den Konsum von Fleisch keine Tiere sterben dürfen, ist die notwendige Konsequenz, kein Fleisch essen zu dürfen. Dazu gibt es wenige Handlungen, die eine Zwischenposition bilden und man kann sich immer wieder allein aus Pflichtempfinden dazu entschließen, in dieser Weise zu handeln. Was es aber für konkretes Handeln bedeutet, wenn man von Empathie als Handlungsorientierung überzeugt und entschlossen ist, Empathie zu einer Leitkategorie zu erheben, lässt sich nur erstens im aktualsituativen Prozess und zweitens in einem extensiv-biografischen Prozess erst finden. In dieser doppelten Prozessualität ist empathisches Wahrnehmen und Handeln immer schon verfasst. Allein aus Pflicht empathisch zu sein, mag für auf Prinzipien insistierende Einzelsituationen denkbar, für den realen Regelfall allerdings idealistische Abstraktion sein.

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

235

Jeder einzelne bewirke jedesmal mit seiner ganzen sittlichen Kraft das möglich größte zur Lösung der sittlichen Gesammtaufgabe in der Gemeinschaft mit allen.11

Als dieses sittliche Gesamtziel, von dem Schleiermacher hier spricht, wurden im Rahmen der güterethischen Betrachtungen von Empathie Prozesse des fortwährenden Strebens nach menschenwürdigen Lebens‑ bzw. Subjektverhältnissen bezeichnet. So kann es entsprechend als die unbedingte, vollkommene Pflicht eines jeden Einzelnen bezeichnet werden, sein Möglichstes zu tun, um seinerseits jener Gesamtaufgabe zu entsprechen. Der Gegenstand dieser ethischen Forderung kann dabei nicht eine spezifische empathische Handlung, Empfindung oder ein empathisches Gefühl sein, sondern allein das bleibende, intentionale Bezogensein der eigenen Person auf das Gesamtziel. Darunter ist ein grundlegendes Positionsverhältnis vorstellbar, das ein Individuum in Bezug auf das höchste Gut einnimmt und das sich durch zweierlei konstituiert: Zum einen braucht dieses intentionale Bezogensein das Bewusstsein, als individueller Teil einer gemeinschaftlichen Ganzheit in intersubjektive Bezüge gestellt zu sein, in denen sich eigenes Erleben jeweils als Eigenes unmittelbar und alles Erleben außerhalb des eigenen mittelbar als ein fremdes Erleben gibt. Aus der eigenen Bedürftigkeit und dem Rückschluss auf die Bedürftigkeit des Anderen wird die Notwendigkeit erkannt, Prozesse des intersubjektiven Verstehens zu kultivieren. Dem eignen zum anderen die Einsicht in die zugewiesene Rolle des aktiv gestaltenden und verantwortenden Akteurs ebendieser Prozesse sowie Bereitschaft und Wille, die dadurch gestellten Aufgaben einzugehen. Ein so beschriebenes intentionales Bezogensein lässt sich auch durch den Begriff der Verantwortung ausdrücken, die nach Ulrich Barth verstanden werden kann als frei entschlossene Übernahme von „Aufgaben, die aus interpersonalen Beziehungen, sozialen Rollen, vertragsähnlichen Abmachungen oder gesetzlichen Verpflichtungen erwachsen“.12 Entgegen der in der Ethik üblichen Bestimmung von Pflicht und Verantwortung als Gegenbegriffe hängen im Sinne dieser Definition von Verantwortung die Begriffe Pflicht und Verantwortung unmittelbar zusammen: Insofern Verantwortung hier als Übernahme von aus Verpflichtung entstehenden Aufgaben gedacht wird, ist hier eine prospektive Verantwortung gemeint, die zwar aus Pflicht resultiert, aber nicht darin aufgeht. Was hier zudem besonders deutlich zum Ausdruck kommt, ist der Charakter der Übernahme von Verantwortung, der in dem gleichen Dreischritt besteht, wie es für jenes intentionale Bezogensein ausgesagt werden kann: Selbstverständnis, Anerkennung, Handlungsentschluss.

11  Schleiermacher, Friedrich: Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs (1824), in: KGA I,11, hg. v. Rößler, Martin, Berlin 2011, 426. 12 Barth, Ulrich: Die religiöse Dimension des Ethischen. Grundzüge einer christlichen Verantwortungsethik, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 315–344, hier: 334.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Aus diesem als Verantwortung benannten Bezogensein gehen nun spezifischer zu formulierende Aufgaben hervor, die sich jeweils mit Blick auf die drei behandelten Subjektverhältnisse stellen und die Aufgaben der konkreten Gestaltung einerseits und reflektierende Aufgaben auf der Metaebene andererseits beinhalten. 5.2.1  Pflichten der Empathie im Selbstverhältnis Eine junge Frau Anfang dreißig befindet sich in der Situation, ein Kind zu erwarten. Sie ist bereits im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft und hat körperlich unter einigen Unannehmlichkeiten zu leiden, die ihre Kräfte zunehmend beanspruchen. Zudem sieht sie sich mit der seelischen Belastung ausgesetzt, dass der Kindsvater sie beide verlassen hat, ihr Traum von Partnerschaft und Familie in unerreichbare Weiten gestellt zu sein scheint und sie nun das Dasein der alleinerziehenden Mutter angstvoll auf sich zukommen sieht. Ihre Freundin, bereits Ende dreißig, befindet sich in einer langjährigen, harmonisch funktionierenden Beziehung. Sie wiederum muss die Situation akzeptieren, dass nach vielen Jahren missglückter Versuche ihr gemeinsamer Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Ein zweiter Freund der jungen Frau, männlich, ebenfalls Anfang dreißig, lebt bewusst ein Leben als glücklicher Single und kann weder den Wunsch nach fester Partnerschaft noch einen sehnlichen Kinderwunsch überhaupt nachvollziehen.

Soll ein Subjekt das erläuterte Gut des stabilen Selbstverhältnisses zum Ziel seines intersubjektiven Wahrnehmens und Handelns haben, so ist es sich selbst gegenüber darauf verwiesen, zwei leitende Gestaltungsbereiche ernst zu nehmen: Selbstfürsorge und Selbstbegrenzung. Die Pflicht zur Selbstfürsorge stellt die beiden beteiligten Personen eines empathischen Geschehens vor unterschiedliche Ansprüche: Für die empathisierte Person ist Selbstfürsorge eine Empathie generierende Pflicht. Sie ist dabei fürsorglich mit sich selbst, wenn sie sich als Person mit unbedingter Würde, einem Zweck in sich selbst, einer individuellen Identität, und mit freiheitlicher Selbstbestimmung versteht und aus einem solchen Selbstverständnis heraus die Berechtigung erkennt, empathisiertes Gegenüber einer anderen Person zu sein, der gegenüber ein empathisches Bedürfnis artikuliert und eingefordert wird. Für die schwangere Freundin des obigen Beispiels bedeutet dies, dass sie eine für sie leidvolle Situation erlebt, die für keine andere beteiligte Person als in dieser Weise leidvoll gegeben ist. Es kommt ihr zu, dass sie diese Situation in ihrem individuellen Erleben als leidvoll empfinden, vor der Zukunft Angst haben und um ihrer selbst willen als diese Situation erleidend wahrgenommen werden darf. Es ist also zunächst zwischenmenschlich berechtigt, im Sinne der Selbstfürsorge sogar geboten, das für sie unerträgliche Leid zu artikulieren und auf diese Weise Empathie für sich zu erwarten. Mit dieser Berechtigung im Sinne der Selbstfürsorge korrespondiert auf der Seite der empathisierten Person zugleich aber eine weitere Pflicht, die als Pflicht zur Selbstbegrenzung zu bezeichnen ist und eine Empathie limitierende

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

237

Pflicht darstellt.13 Denn das Einfordern der am eigenen Bedürfnis orientierten Empathie ist an der situativen empathischen Kapazität des Gegenübers zu bemessen. Dabei ist die reflexive Frage leitend, was vom Gegenüber eigentlich an Empathie erwartet werden kann, wenn dessen eigener situativer Kontext berücksichtigt wird. So ist für die schwangere Freundin bei aller Berechtigung zur eingeforderten Empathie für sich als Leidtragende aber gleichermaßen zu hinterfragen, wie stark eine empathische Anteilnahme durch die ältere Freundin tatsächlich angesichts der Tatsache erwartet werden kann, dass eine Schwangerschaft, die zwar unter ungünstigen Bedingungen, aber zumindest überhaupt im Bereich des Möglichen liegt, für diese wohl ein besonders sensibles Thema darstellt, das mit eigenem negativem Erleben verbunden ist. Es ist dann eine Frage der Selbstbegrenzung, diese vulnerable Grenze der eigenen Erlebenswelt nicht eigenmächtig zu überschreiten. Zur gleichen Zeit bedeutet für die empathisierende Person dagegen Selbstfürsorge eine Empathie limitierende Pflicht. Sie impliziert Achtsamkeit für die eigene Person, das eigene Erleben, die eigenen Gefühle, Kräfte und Grenzen in einem empathischen Geschehen. An dieser Stelle tritt die wohl stärkste gegenläufige Herausforderung des empathischen Geschehens zutage, der sich ein Empathisierender gegenübersieht: Aus der neurowissenschaftlichen Forschung ist zu lernen, dass dieselbe Empathie, die dem Empathisierten in positiver Weise zukommt, für den Empathisierenden selbst in einen gegenteiligen Effekt umschlagen kann, wenn dieser sich mit seiner eigenen Wahrnehmung so stark in die Situation des Anderen hineinbegibt, dass die fremde leidvolle Situation als eigene erlebt werden kann. Dieser Effekt kann in letzter Konsequenz zu einem Rückzug der eigentlich empathisierenden Person führen, um dem leidvollen Erleben zu entgehen. So kann sich das eigentlich intersubjektive empathische Geschehen zu einem selbst fokussierten Geschehen transformieren, sodass Empathie, wie sie hier verstanden wird, eher gänzlich verhindert als befördert wird. Insofern ist es für das Gelingen eines empathischen Geschehens von zentraler Bedeutung, dass die empathisierende Person im Sinne der Selbstfürsorge ihr eigenes situatives Vermögen zur Empathie an ihren Kapazitätsgrenzen auslotet. Für die Freundin der Schwangeren bedeutet dies: Weil sie selbst zwar in einer funktionierenden Beziehung lebt, die per se eine tragfähige Voraussetzung für einen Kinderwunsch darstellt, dieser aber biologisch verunmöglicht ist und für sie selbst eine kaum erträgliche Bürde darstellt, kann es im Sinne der Selbstfürsorge ihrerseits geboten sein, sich vor der Situation zu schützen, dass die 13  Anhand der Dialektik, die durch das Begriffspaar generierend  – limitierend im Bezug auf Empathie aufgeworfen wird, wird besonders deutlich, dass eine Empathiesituation immer schon nicht-ideal verfasst ist. Es sind also nicht einfach kontingente Bedingungen, die sich in nicht-idealer Weise auf aktuale Empathie auswirken können, sondern Empathie kann in ein‑ und derselben Situation ganz Unterschiedliches bedeuten. So lässt sich das ethisch Richtige oftmals gar nicht objektiv entscheiden.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Grenzen des eigenen und des fremden Leides verflüssigen und sie wegen des situativen Leids ihrer Freundin ein gesteigertes eigenes Leid erlebt. Es wäre also an dieser Stelle für sie geboten, zugunsten ihrer eigenen seelischen Gesundheit die bedurfte Empathie der Freundin ihrerseits de facto zu begrenzen. Auch für die empathisierende Person ist diese Pflicht zu vermitteln mit der Pflicht zur Selbstbegrenzung verbunden. Selbstbegrenzung meint in diesem Falle die Empathie generierende Pflicht, aus der grundsätzlich erkannten Notwendigkeit und Relevanz empathischen Wahrnehmens und Handelns situativ zu schließen, dass hier und jetzt Empathie ihrerseits in einer für diese Situation spezifischen Form gefragt ist und deshalb die seine Wahrnehmungswelt anderweitig fordernden Reize dieser Priorität nachzuordnen sind. Es gilt dann, die eigene Rolle im empathischen Geschehen zu vergegenwärtigen und sich dieser Rolle entsprechend zum Wahrnehmen und Handeln aufgefordert zu sehen. Diese Berücksichtigung der situativ prioritären Bedürfnisse einer anderen Person bildet die nicht schon natürlich gegebene, aktiv erst herzustellende Ausrichtung der empathisierenden Person. Während die kinderlose Freundin der Schwangeren also im Sinne der Selbstfürsorge angehalten ist, sich ggf. vor dem eigenen negativen Erleben zu schützen, das die erwartete Empathie für sie selbst bereithalten könnte, bleibt zugleich die eine zu vermittelnde Pflicht: Die Klarheit in sich wach zu halten, dass die Leidsituation der Freundin nicht die eigene ist, dass beide Leidsituationen unabhängig voneinander im je individuellen Erleben ihre Berechtigung haben und empathische Reaktionen für die Leidsituation der Freundin in dieser jetzigen Situation eine akutere Notwendigkeit haben als die eigene grundsätzliche Leidsituation. So besteht also für beide Seiten die Aufgabe, eine Ambiguität zu vermitteln: Für die empathisierte Seite liegt diese im Verhältnis von eigenem Bedürfnis nach Empathie einerseits und der Rücksicht auf situativ erwartbare empathische Kapazitäten des Gegenübers andererseits. Für die empathisierende Seite wiederum ist es das Verhältnis von situativ angezeigter Notwendigkeit zur Empathie und eigener Vulnerabilität, die hier zu vermitteln sind. In den Ambiguitäten dieser Situation zwischen zu generierender und zu limitierender Empathie wird die Aushandlungsdynamik erkennbar, die sich erst aneinander und in der konkret gelebten Situation entwickeln kann. Beide Pflichtformulierungen sind jedoch entscheidend für das tatsächliche Maß an Empathie, das in einer Situation gegeben sein kann. Ein so komplexes, vielschichtiges und dynamisches Geschehen, das sich zudem in aktualer Geschwindigkeit und Spontaneität vollzieht, bedarf zu seinem eigenen schrittweisen Gelingen umso dringlicher verschiedener Prinzipien der Selbst‑ und Prozessreflexion. Vier Aufgaben können für das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst formuliert werden, die für beide Seiten eines solchen Geschehens gelten: Selbstbeobachtung, Selbstbindung, Motivation und Selbstbildung. Selbstbeobachtung meint die stete innere Begleitung der eigenen Bewegungen im

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

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konkreten empathischen Geschehen und im Entwicklungsprozess als Ganzem. Sie umfasst zum einen die Einsicht und Anerkennung der Wirkungszusammenhänge eines empathischen Geschehens und der Relevanz einer Kultur der Empathie und zum anderen ein sich ständig aktualisierendes Bewusstsein für die eigene Rolle und die Selbstwirksamkeit im Prozess. Daran schließt sich unmittelbar die Selbstbindung an, welche eine innere Verbindlichkeit herstellt von selbstbeobachtenden Aktivitäten zu den als Strebensziele formulierten Gütern und damit den entscheidenden Punkt der inneren Übernahme jener Verantwortung markiert, die oben formuliert wurde. Weil, so könnten beide Freundinnen reflektieren, sie in einer Kultur empathischen Miteinanders leben möchten, ist die einzige Möglichkeit, sich selbst verbindlich als verantwortlich für konkretes empathisches Geschehen zu sehen. Motivation bildet in diesem Prozess die implizite, langfristige Aufgabe, insofern sie die antreibende Kraft des Subjekts im Prozess darstellt und im Modus der wiederholenden Selbsterinnerung und Selbstaufforderung das Prozessbewusstsein wachhält. Schließlich ist unter Selbstbildung14 eine Aufgabe verstanden, die sich aus dem stetig fortlaufenden kulturellen Gestaltungsprozess ergibt und sich auf die herausbildende und optimierende Entwicklung individueller Fähigkeiten bezieht, die ein Subjekt durch Selbstbeobachtung für sich erkennt und für den empathischen Umgang in sozialen Zusammenhängen als relevant bewertet. 5.2.2  Pflichten der Empathie im Verhältnis zum Anderen Wiederum ausgehend von dem erkannten Gut stabiler Beziehungen sind hier Aufgaben zu bestimmen, die sich aus der Verantwortung des Subjekts ergeben und unmittelbar im Verhältnis des Subjekts zum Anderen liegen. Diese sind parallel zum ersten Subjektverhältnis nicht in spezifisch vorzuzeichnenden Handlungen zu sehen, sondern in Handlungsrahmen, innerhalb derer das Subjekt auf situative Gestaltung verwiesen ist: Zunächst gehört es zur grundlegenden Pflicht eines jeden, von seiner Disposition zur Empathie Gebrauch zu machen. Dies begründet sich unmittelbar aus der Vielfalt der oben entfalteten Ermöglichungen, welche die grundsätzliche Relevanz einer empathischen Kultur bezeugen sowie aus den psychologischen Darlegungen über die menschliche Disposition und Entwicklungsfähigkeit von Empathie bzw. die wesensgemäße individuellmenschliche Bedürftigkeit nach Empathie. Im Sinne eines differenzierten Blickes auf diese ethische Forderung sind aber zwei substanzielle Kriterien zu benennen, an denen sich das aktuale Gewähren von Empathie formiert. Dies sind die Kriterien der Authentizität einerseits und der Angemessenheit andererseits. Zu authentischen empathischen Regungen verpflichtet zu sein, schließt wiederum zwei Aspekte ein: Ganz grundlegend ist es zum einen überhaupt ein zentrales 14  Selbstbildung wird in der protestantischen Tradition insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Einsicht in Selbstbildung verhandelt.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Anliegen, dass Beziehungen authentischen Charakter haben, um als Würde entsprechende Verhältnisse gelten zu können (s. Kapitel 3.2.2). So ist Authentizität zugleich entscheidendes Kriterium für die Maxime der zu gewährenden Empathie. Zum anderen berücksichtigt Authentizität sämtliche nicht-ideale Bedingungen, die in Kapitel 4 erläutert wurden und bedeutet für das konkrete empathische Geschehen, dass die aktuale Empathie immer nur angesichts bestimmter situativer Beschränkungen aufgebracht werden kann. Damit ist diese Relativität nicht als qualitatives Defizit einer eigentlich vollkommenen Empathie zu bewerten, sondern als natürliche Relativität, die in Empathie immer schon angelegt ist. Was bedeutet dies nun für das konkrete Geschehen? Konsultiert die Schwangere ihren männlichen Freund mit ihrer Leidsituation, so ist von diesem keine vollkommene Empathie zu erwarten. Sein biologisches Geschlecht und seine soziale Rolle als überzeugter Single bilden den Kontext, in dem das Leid der schwangeren Freundin für sich selbst nie als Leid bewertet werden würde. Insofern kann er nur sehr eingeschränkt und unter Aufwendung besonderer fremdverstehender Operationen das Leid, wie es für die Freundin besteht, gewahren. Es kann entsprechend für ihn nur als Pflicht gelten, sich um dieses hypothetisch-übertragende Verstehen zu bemühen. Wendet sich die schwangere Frau an ihre kinderlose Freundin, beinhaltet die Pflicht zu authentischen empathischen Regungen durchaus anderes: Sie müsste sich unter Berücksichtigung der eigenen Selbstfürsorge nur so weit der Leidsituation der Freundin nähern, dass ihre eigene seelische Stabilität nicht gefährdet wird. Sie ist genau darin authentisch, dass ihre eigene Situation ihr Ausmaß an Empathie einschränkt. Auf der Seite der schwangeren Freundin selbst gilt die Pflicht, die authentische Bedürftigkeit ihrerseits zum Ausdruck zu bringen. Die Tatsache, dass eigenes Leid in der vollen Qualität nur im eigenen Erleben stattfinden und von jeder anderen Person ausschließlich in transformierter Weise wahrgenommen werden kann, darf die leidtragende Person nicht dazu veranlassen, das eigene Leid in übersteigerter Qualität oder von anderen als den authentischen Erlebensäußerungen begleitet darzustellen, sondern hat auf die Kraft des empathischen Gewahrens selbst zu vertrauen, die ihr das ersehnte Beistehen der Freunde sichert. Korrespondierendes Kriterium der beschriebenen Authentizität ist Angemessenheit. Von der schwangeren Freundin ist in analoger Weise nicht zu erwarten, dass sie mit ihrem leidvollen Erleben allein bleibt und sich aus Rücksicht auf die kinderlose Freundin oder aus fehlender Hoffnung auf Verständnis des ganz anders lebenden Freundes in ihrer Bedürftigkeit nicht zu erkennen gibt. Vielmehr ist es aber als empathische Pflicht ihrerseits zu verstehen, dass sie ihre Bedürfnisse in angemessener Weise in das Geschehen einbringt, d. h. die aktuale Bedürftigkeit und die realen Bedingungen des empathischen Geschehens in ihre Erwartungen einbezieht. Die kinderlose Freundin und der alleinstehende Freund sind zugleich in der Pflicht, die in ihrem jeweils individuellen Rahmen des Möglichen liegenden, insofern angemessenen empathischen Regungen der

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

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Freundin zum Ausdruck zu bringen, auch wenn zeitweise gegenläufige Impulse in ihnen wirksam sind. An dieser Stelle kommt eine weitere Pflicht aller am empathischen Geschehen Beteiligten in den Blick. Mit der Relativität der aufzubringenden Empathie ist eine Pflicht zu formulieren, die ihrerseits ermöglicht, dass die Bedingtheit der aufwendbaren Empathie kompensiert wird und etwaige daraus entstehende Hürden für das weitere Geschehen beseitigt werden. Explizite Kommunikation wird dort zu einer besonders zentralen Pflicht, wo individuelle Beschränkungen für die aufzuwendende Empathie gegeben sind und durch die betreffende Person nicht konstruktiv aufgelöst werden können. So ist für die schwangere Freundin erheblich leichter zu verstehen, sofern sie es nicht aus sich selbst heraus bereits einberechnet hat, dass ihr die erwartete Empathie nicht in vollem Ausmaß oder auch vollständig verwehrt bleibt, wenn die kinderlose Freundin die in ihr liegende Hürde kommuniziert oder der alleinstehende Freund die natürlichen Leerstellen in seiner empathischen Wahrnehmung offenlegt. So kann explizit thematisch werden, dass nicht Desinteresse, Geringschätzung oder fehlende Sensibilität der Grund fehlender Empathie ist, sondern ein außerhalb der Beziehung liegendes Hemmnis besteht, das vielmehr im Selbstverhältnis liegt. Die Stabilität der Beziehung, die als Gut angestrebt wird, bleibt dadurch aller Wahrscheinlichkeit nach unversehrt. Eine dritte Pflicht, die sich komplementär zur expliziten Kommunikation verhält, ist das jeweils größtmögliche Verständnis. Die Kommunikation über situative Hürden von Empathie setzt voraus, dass der jeweils Andere empathisches Verständnis aufbringt für diese Beschränkungen, auch wenn dieses Verständnis dem eigenen Bedürfnis zuwiderläuft und die Ambiguität selbst durch die Kommunikation nicht aufgelöst werden kann. Es gehört zu jener Pflicht, diese Ambiguität auszuhalten und das aufzubringende, immer größtmögliche Verständnis an dieser Ambiguität zu bemessen. Auch in diesem Subjektverhältnis liegt eine entsprechende Pflicht auf der Metaebene, die als prozesshafte Sensibilisierung zu verstehen ist. Darin kommt die Notwendigkeit zum Ausdruck, schrittweise ein sich verfeinerndes Situationsempfinden zu entwickeln, um jener situativen Bedingtheit des Geschehens entsprechend empathisch wahrnehmen und handeln zu können. Diese Sensibilisierung bezieht sich vor allem unmittelbar auf den Anderen, insofern dessen vielschichtig ausgedrückte empathische Bedürfnislage einzuschätzen ist. Zugleich bezieht sie sich aber auch auf die eigene Bedürfnislage, die mit der des Anderen zu vermitteln ist. Daneben kann jedoch auch unabhängig von dem unmittelbar zum Ausdruck kommenden Bedürfnis ein objektives Erfordernis empathischer Zuwendung gegeben sein und die Angemessenheit empathischer Zuwendung bedingen. In beiden Fällen liegt die pflichtgemäße Leistung des Empathisierenden zum einen darin, die Empfänglichkeit der eigenen Sensorik zu schulen, ohne, dass diese schutzlos einer Affizierung durch ggf. leidvolle Situationen ausgesetzt wird und zum anderen darin, die verschiedenen empathischen

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Anteile, d. h. verstehende, deutende, einfühlende, mitfühlende Anteile, in ihrer Verfügbarkeit wach zu halten, zugleich aber der eigenen aktiven Selbsttätigkeit zu unterstellen und zu dosieren. Auf diese Weise kann eine ausgewogene Sensibilisierung gelingen, die dem differenzierten Blick auf Empathie und dem Aspekt der Angemessenheit gerecht wird. Für die empathisierte Person bedeutet jene ausgewogene Sensibilisierung eine schrittweise Verfeinerung der Sensorik hinsichtlich der gewichteten beidseitigen Bedürfnislage im empathischen Geschehen. Hier wird vor allem die Fähigkeit zur Einschätzung zentral, die die Angemessenheit der eigenen Bedürfnisse einerseits und der erwartbaren Reaktionen andererseits ins Verhältnis setzt. 5.2.3  Pflichten der Empathie in Raumstrukturen Eine besonders hybride Form der Pflichtformulierung liegt im Verhältnis aller Subjekte mit jeweils allen anderen, im Verhältnis des Subjekts in der Welt also. Zum einen ist es der situativen, spontanen Dynamik des empathischen Geschehens geschuldet, dass nicht spezifische Pflichthandlungen, sondern vielmehr Verfahrensprinzipien normativ formuliert werden können. Zum anderen liegt die Schwierigkeit aber auch darin, dass die Beschreibung des Miteinanders in überindividuellen, institutionellen Strukturen sich der kristallinen Bezeichnung noch stärker entzieht und so Gefahr läuft, einer verflachten, undifferenzierten und idealistischen Normativität anheimzufallen. Soll normativ über empathische Pflichten in solchen institutionellen Strukturen nachgedacht werden, die aus der formulierten Verantwortungspflicht resultieren, kann dies über den Begriff empathischer Raumstrukturen gelingen, die zu befördern es je einer Vielzahl Einzelner bedarf, die den Anspruch an sich und andere stellen, Empathie sprichwörtlich einzuräumen. Was hierunter verstanden werden kann, geht aus den Ausführungen zur Empathie als raumkonstituierender Kraft hervor (Kapitel 3.2.3): Empathie, so wurde dort erhoben, konstituiert Räume, insofern erstens aus dem empathischen Geschehen einzelner Situationen empathische Wahrnehmungs‑ und Handlungsweisen repetitiv reproduziert werden. Zweitens geht von ihr in doppelter Weise eine raumkonstituierende symbolische Wirkung im empathischen Geschehen aus, nämlich vom Ausdruck des Empathisierten als empathischem Gegenstand des Empathisierenden einerseits und von der ggf. nonverbal und ohne spezifische empathische Handlung, aber trotzdem gegebene, symbolisch ausgedrückte Empathie des Empathisierenden. Drittens ist eine daraus resultierende Atmosphäre formuliert worden, die als empathisch bezeichnet werden kann und raumkonstituierend fortwirkt. In der Generalisierung dieser situativ umgesetzten Gestaltung empathischen Geschehens durch jene repetitive Reproduktion zu einem festen, habitualisierten Verhaltensmodus liegt nun das Potenzial Einzelner, empathische Räume, eine empathische Raumkultur bottom-up zu gestalten. Es sind hier insofern

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

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prinzipielle Umgangsformen zu benennen, die als allgemein verpflichtend gelten können, wenn sich Einzelne einer Kultur der Empathie verschreiben wollen: Grundlegend ist, dass eine empathische Kultur nicht als softe, marginale und optionale Kosmetik des intersubjektiven Umgangs angesehen, sondern anerkannt wird als ethisches Anliegen von Menschen, die sich selbst als Träger menschlicher Würde verstehen und deshalb grundlegend willens sind, diesem Privileg in Wahrnehmung und Handeln Ausdruck zu verleihen. Damit erhält Empathie den Status der als verbindlich anerkannten Umgangsform menschlichen Miteinanders. Aus dieser Grundhaltung ist dann abzuleiten, dass sich Empathie in sozialen Gefügen und Situationen jedweder Art als ein leitendes Prinzip von Kommunikation und Umgang zu etablieren hat. Das bedeutet, dass zu jeder Zeit des situativen Geschehens das Bemühen um einen empathischen Modus erkennbar sein muss, der sich etwa in Situationssensibilität und Wertschätzung ausdrückt. Es wird so die eine Person in ihrem und die andere Person in deren Erleben ernst genommen und anerkannt. Diese Umgangsform besteht als normative Forderung ganz unabhängig davon, ob die sachliche Ebene der Interaktion befriedigend gelöst werden kann. Das folgende Beispiel aus dem Drama Tod eines Handlungsreisenden von Arthur Miller soll dies verdeutlichen.15 Willy, ein von den Mühen und der Erfolglosigkeit seiner Arbeit ermatteter Vertreter im Außendienst bittet seinen Chef, Howard, für seine letzten Arbeitsjahre um die Versetzung auf eine Innendienststelle. Willy: Hätte gern mal mit dir geredet, Howard. Howard: Entschuldige einen Augenblick; bin gleich für dich da. Willy: Was ist das, Howard? Howard: So was noch nie gesehen? Ein Tonbandgerät. Willy: Oh. Hast einen Moment Zeit? Howard: Nimmt Töne auf. Gestern erst geliefert worden. Macht mich ganz verrückt. Willy (während Howard ganz auf die Spielerei mit seinem Gerät fokussiert ist): Möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten, wenn du … … Das ist ein fabelhafter Apparat. Können wir … … Um ganz offen zu sein, Howard: Ich habe den Entschluss gefaßt, nicht mehr herumzureisen … … Es ist so, Howard: Die Jungs sind erwachsen, ich brauche nicht mehr viel zum Leben. Wenn ich, sagen wir 65 Dollar die Woche heimbrächte, käme ich gut über die Runden. Howard: Ja, aber versteh doch, Willy … Willy: Ich sag dir auch, warum: Ganz unter uns und geradeheraus, du verstehst schon: Ich bin einfach ein bißchen müde. Keiner kennt mich mehr … Howard: Es gibt beim besten Willen keine Stelle … Willy: Wenn ich vierzig Dollar die Woche hätte – das ist alles, was ich brauche. Vierzig Dollar, Howard. Howard: Junge, woher nehmen und nicht stehlen …? 15  Diese literarische Veranschaulichung verdanke ich den Ausführungen Peter Bieris im Kontext des Würdebegriffs.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Willy Loman befindet sich in einer äußerst prekären persönlichen Lage. Er bemerkt, dass er nicht weiter arbeiten kann wie bisher und von Antriebslosigkeit und Sinnfragen geplagt wird. Er tritt den schweren Gang zu seinem Chef an, um diesen um Hilfe zu bitten. Howard aber gibt ihm zu verstehen, dass dessen Aufmerksamkeit nicht etwa durch Willys Leidsituation, sondern durch das triviale und in dieser Situation sinnlose neue Tonbandgerät eingenommen wird. Diese missachtende Dysbalance versucht Willy seinerseits, mit flehendem Bitten um Aufmerksamkeit auszugleichen: Er bringt in verzweifelter Ehrlichkeit seinen inneren Leerlauf zum Ausdruck und ist in seiner Not sogar bereit, das wirtschaftliche Existenzminimum hinzunehmen. Floskelhaft täuscht Howard Willen und Bemühen vor und lässt Willys persönliche Offenbarungssituation vermeintlichen ökonomischen Verunmöglichungen anheimfallen. Dass diese Kommunikation jede Empathie entbehrt, ist offensichtlich. Was aber wäre angezeigt gewesen, wenn Howard sich über die Dauer seiner Firmenleitung einen habitualisierten empathischen Verhaltensmodus angenommen hätte? Zu erwarten wäre gewesen, dass Howard seine Aufmerksamkeit unverzüglich von seinem Tonbandgerät ab‑ und Willy zugewandt hätte, um diesem die Priorität der Situation zu geben. Die persönliche Krisensituation seines langjährigen Mitarbeiters erfordert das Zurücktreten von egozentrischem Interesse am Lustgewinn und die aktive, interessierte Zuwendung Howards. Er hätte Verständnis zum Ausdruck gebracht, weil er Willys Situation und dessen Erleben wahrnimmt und als für diesen leidvoll bewertet. Es hätte seinem Selbstverständnis als Unternehmensleiter entsprochen, an dem Wohlbefinden seines langjährigen Mitarbeiters interessiert zu sein. Er hätte es deshalb als wertvoll erachtet, dass seine Mitarbeiter sich offen an ihn wenden. Hätte er dann ökonomisch tatsächlich keine Möglichkeit gesehen, Willy zu helfen, hätte er zum Ausdruck gebracht, dass er es bedaure, Willys Bedürfnissen in dieser Weise nicht nachkommen zu können, weil entsprechende ökonomische Bedingungen fehlten. Weil er aber seine Lage verstanden hätte, hätte er sich um eine andere, für beide gangbare Lösung bemüht. Auf diese Weise wäre Willy in seinem Erleben wahrgenommen und ernst genommen worden, ohne dass Howard an den ökonomischen Gegebenheiten vorbeigesehen hätte. Empathisch mit einer als leidvoll erlebten Situation umzugehen, bedeutet nicht, dem Willen eines Anderen nachkommen zu müssen oder nachvollziehbare Bitten nicht abschlagen zu dürfen, weil darin eine vermeintliche Anerkennung des Leidempfindens des Anderen bestünde. Vielmehr ist Empathie als Wert eine Relevanz in intersubjektiven Bezügen zu geben und als grundsätzlicher Handlungsmodus dauerhaft in den eigenen Regelkanon zu übernehmen, der das Verhalten leitet. Neben dieser auf das Individuum selbst bezogenen Verallgemeinerung ist für die Gestaltung institutioneller Strukturen als empathisch eine weitere Facette entscheidend, die ihrerseits ebenfalls eine Generalisierung situativer Verhaltensweisen darstellt. Hierfür sei das Vertreterbeispiel einer Umformung unterzogen:

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

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Statt des Gesprächs unter vier Augen ist der Rahmen jenes Gesprächs die Dienstberatung eines ganzen Teams unter Howards Leitung. Es werden Aufgaben besprochen und den einzelnen Mitarbeitern zugeteilt. Wer was zu tun hat, ist für alle Mitarbeiter eine wichtige Angelegenheit und wird genau beäugt  – schließlich möchte keiner zurückgesetzt sein, aber auch nicht mit Arbeit überschüttet werden. Da ist der Außendienst für alle eine Belastung, muss aber getan werden. Bei der aktuellen Lagebesprechung wird Willy der Bezirk zugeteilt, den er schon viele Jahre hat und der nicht besonders beliebt ist. Willy, der seinen Ermattungszustand bislang noch niemandem zu erkennen gegeben hat, kann nicht mehr an sich halten. Unkoordiniert bricht es aus ihm heraus, bis er Howard schließlich einfach fragt, ob er nicht in den Innendienst versetzt werden könnte. Sofort kommentieren alle anderen Mitarbeiter seine Anfrage süffisant mit unerbetenen Antworten: Also, es habe doch wohl jeder sein Päckchen zu tragen; woher er sich das Recht nehme, eine Bevorzugung zu erfragen; andere würden auch lieber Innendienst machen, das sei ein Verkaufsbetrieb und kein Streichelzoo und so fort. Nachdem Willy niedergeschlagen die Dienstberatung verlassen hat, wendet sich Howard, entsetzt über den Denk‑ und Handlungshorizont der anderen, an das verbleibende Team: Ruhig, aber bestimmt weist er darauf hin, dass er selbst es sei, der darüber entscheide, welcher Umgang in dieser Firma gepflegt werde. Er dulde keine derartige Kommunikationsform, sondern erwarte, dass sich alle erst einmal mit Urteilen zurücknähmen, vielleicht mal Willy selbst nach seiner Situation und seinem Befinden fragten und zunächst versuchten, Verständnis für ihn in dessen Situation aufzubringen, bevor sie über ihn herfielen wie unzivilisierte Tiere. Und mehr noch: Sollte sich dieser „Ton“ nicht spürbar verändern, würde sich die Arbeitsweise in der Firma grundlegend verändern. Er verstünde sich als modernen Unternehmer und erwarte, dass alle wertschätzend miteinander umgingen.

Wenngleich ein solches Verhalten von dem Howard des echten Dramas gewiss nicht zu erwarten ist, zeigt diese veränderte Version deutlich auf: Sollen normative Forderungen zur Gestaltung empathischer institutioneller Strukturen erhoben werden, die sich nicht durch die soeben beschriebene Einsicht aller Einzelner in diese Strukturen einstellen oder durch andere strukturelle Gegebenheiten und Vollzüge behindert werden, liegt die entscheidende Gestaltungsmöglichkeit bei demjenigen, der in einem sozialen Zusammenhang die Macht hat, den von ihm formulierten Willen, die Vorstellung oder Überzeugung unter Aufzeigen von Konsequenzen durchzusetzen. Auf diese Weise kommt diese Macht habende Person ihrer Verantwortung nach, wie sie als vollkommene Pflicht formuliert wurde. Es werden dann empathische Raumstrukturen top-down vorinstalliert; diese prägen Menschen in einem sozialen Zusammenhang in ihren Funktions‑ und Verhaltensweisen, welche diesen Raum ihrerseits wieder reproduzieren. Für die Realisierung einer so bestimmten Kultur von oben besteht jedoch eine Problematik: Während bei einzelnen Handlungen konkrete Anordnungen formulierbar und bei ausbleibender Realisierung mit Konsequenzen belegbar sind, wird das Anordnen einer empathischen Kultur nicht durch schlichte sprachliche Anweisung vollzogen, sondern ist mit einer besonderen Herausforderung verbunden: Zum einen muss diejenige Person, welche eine empathische Kultur von oben installieren möchte, selbst über eine umfassende empathische Bildung

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

verfügen, um nicht nur in direkter Anordnung von der eigenen Person entbundene Forderungen auszudrücken, sondern diese selbst im eigenen Handeln darzustellen und so indirekt schrittweise zu etablieren. Zum anderen muss die anordnende Person durch einen angemessenen Modus des Anordnens berücksichtigen, dass im Akt des Anordnens nicht zugleich das Angeordnete selbst unterlaufen wird. Theorien etwa zum sogenannten Mindful Leadership stellen einen Versuch dar, diese praktische Paradoxie zu überwinden. In beiden Fällen enthält dieser Umgangsmodus die überindividuelle Affirmation als unabhängig vom Inhalt der spezifischen Situation bestehende Wertschätzung einer Kultur der Empathie. Diese hat verbindliche Bedeutung und wird in persönlichen wie professionellen, in emotionalen wie sachlich-pragmatischen, in privaten wie öffentlichen Situationen zu einem zentralen allgemeinen Kriterium von Kommunikation und Sozialität gemacht. Insbesondere bei der Pflichtbeschreibung in diesem Subjektverhältnis kommt eine Pflichtformulierung auf der Metaebene hinzu, die für beide beschriebenen Einwirkungen auf Strukturen von umso größerer Bedeutung ist: Im Sinne der Verantwortung empathischer Raumstrukturen können als eine Implikation der Selbst‑ und Prozessreflexion hier Evaluations-, Bildungs‑ und Metakommunikationsprozesse gelten. Evaluation bedeutet hier eine regelmäßige Sichtung und Einschätzung der jeweils gegebenen institutionellen Strukturen sowie der notwendigen Optimierungen. Dies kann durch informelle oder formelle Gespräche innerhalb des sozialen Zusammenhangs geschehen und durch jedes Individuum in der sozialen Gruppe initiiert werden. Je nach Reichweite des sozialen Zusammenhangs fällt dies jedoch in die primäre Verantwortung von beteiligten, über entsprechende Macht verfügenden Personen. Mit Bildungsprozessen ist einerseits die individuelle Bereitschaft gemeint, sich selbst in den Entwicklungsprozess zu begeben und die eigenen empathischen Fähigkeiten am sozialen Kontext zu schulen. Entscheidend ist neben dieser individuellen Reflexions‑ und Lernbereitschaft jedoch, so geht es aus der entwicklungspsychologischen Empathieforschung hervor, dass bereits ein gesteigerter Wert auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen gelegt wird, die durch ihre gesamte Entwicklung hindurch mit der Aufgabe konfrontiert sind, empathische Kompetenzen zu erwerben. Im schulischen und außerschulischen Kontext bestehen verschiedene Ebenen der Vermittlung: Schulische Räume sehen empathische Fähigkeiten als soziale Kompetenz, die in den Kern‑ und schulinternen Curricula einen festen Platz hat. Im außerschulischen Bereich bilden Vereine, Kirchgemeinde, Ehrenamt oder Minijobs soziale Milieus, die fortwährend empathische Fähigkeiten fordern und so zugleich beständig fördern. Umso bedeutender ist es, dass die entsprechenden Erwachsenenrollen (Eltern, Lehrer, Pfarrer, Trainer, Betreuer etc.) explizit empathische Fähigkeiten in ihren Tätigkeiten schulen und selbst darin geschult werden, empathisch zu sein und empathische Kompetenzen zu vermitteln.

5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

247

Unter Metakommunikation ist alles Sprechen und Austauschen über empathische Raumstrukturen zu verstehen, die den Zweck haben, den als gemeinschaftlich verantworteten Sozialraum in einer empathischen Weise zu prägen und sich dazu über Ziele und Zustände zu verständigen. 5.2.4  Über das Recht auf Empathie Klassischerweise ist mit der Frage nach einem Gut auf das Engste auch die Frage nach dem Recht auf dieses Gut verbunden. Insofern hier nun Empathie, zumindest unter spezifischen Bedingungen, als Gut bezeichnet worden ist, stellt sich unmittelbar die Frage: Haben Menschen ein Recht auf Empathie? Woraus gewinnt ein solches moralisches Recht, das im Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion liegt und sich ja damit gerade von positiviertem Recht unterscheidet, seine Legitimität und Geltung? Eine Antwort lässt sich im Anschluss an die oben vorgenommene Güterbestimmung formulieren: Es existiert kein unbedingtes Recht auf das Gut der Empathie, insofern dieses ja als stabiles Subjektverhältnis beschrieben wurde, in denen verschiedene Bedürfnisse zu vermitteln sind. Zudem ist Empathie kein äquivalentes Gut zu Gütern wie etwa Bildung, leibliche Sicherheit oder medizinische Versorgung. Sie unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass das Gut der Empathie nicht durch manifestierte Rechtsetzungen einklagbar und sein Entzug nicht anhand objektiver Kriterien ausweisbar und mit etwa strafrechtlichen oder zivilrechtlichen Konsequenzen belegbar wäre. Sie stellt selbst ein vielmehr fluides, prozesshaftes zwischenmenschliches Geschehen dar, das sich jeder kristallinen Festlegung entzieht und für das es keine dieses Recht garantierende Instanz gibt. Somit gibt es keine unmittelbare Evidenz für ein Recht auf Empathie. Es lässt sich zwar sehr wohl sagen, dass es ein unbedingtes, unmittelbar evidentes Recht auf die als strukturelle Bedingungen benannten Güter gibt, welche fundamentaler Teil des Grundgesetzes sind und die Qualität von Grundgütern haben. Da mit dem Recht auf diese Grundgüter aber nicht zugleich ausgesagt ist, wodurch diese zu verwirklichen sind, kann auch die Formulierung eines relativierten, mittelbaren Rechts auf Empathie keine tragfähige Option sein. Die einzige Weise, überhaupt von einem Recht auf Empathie sprechen zu können, bedarf zweier Überlegungen: Zum einen muss Recht selbst als zwischenmenschlich-gesetzliche Sphäre statt als juristisch-gesetzliche Sphäre verstanden werden. Der Unterschied zwischen beiden liegt in eben jener Grundlage, aus der die normative Geltung gewonnen wird: Während in positivem Recht das als Recht formuliert werden kann, was durch Gesetze manifestiert ist, so muss sich ein moralisches Recht als begründeter und deshalb „gültige[r] Anspruch“ erweisen (Herv.: K. K.).16  Fischer, Ethik, 189.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Der Anspruch auf Empathie schließlich gewinnt seinen Geltungsgrund durch die Verbindlichkeit, in der Menschen zueinanderstehen. Diese Verbindlichkeit kann sich auf die individuelle Beziehung zwischen zwei Personen beziehen. Dann begründet sich der Geltungsanspruch durch die spezifische beziehungskonstituierende Position, die zwei Individuen zueinander haben. Es liegt etwa in der spezifischen Konstellation der Freundschaft selbst begründet, dass eine Person die Erwartung an ihren Freund hat, von diesem empathisch wahrgenommen zu werden als eine Person, die eine Situation als leidvoll erlebt und bestimmte Bedürfnisse nach empathischer Zuwendung hat. Diese Verbindlichkeit drückt sich aus, wenn man alltagssprachlich von einem Gebot der Freundschaft spricht: Weil sich zwei als Freunde bezeichnen und für Freundschaft an sich bestimmte implizite Normen als konstitutiv angenommen werden, in diesem Falle ein zugewandtes, teilnehmendes, empathisches Miteinander, ist ein bestimmtes empathisches Wahrnehmen und Handeln geboten und bedeutet zugleich das Recht, unter Bezug auf diese Verbindlichkeit eine entsprechende Behandlung zu erfahren. Ganz analog ist auch von einer Verbindlichkeit zu sprechen, welche die Geltung eines solchen Anspruchs begründet und im überindividuellen Verhältnis von Menschen zueinander liegt. Es ist dann die Verbindlichkeit, die daraus entsteht, wie Menschen ihr Verhältnis der Sozialität ausdeuten.17 Weil sich also Menschen in einer Gemeinschaft etwa als Geschwister verstehen, kann es gleichsam als Gebot der Brüderlichkeit gelten, sich in empathischer Weise zu verhalten. Bei einem terroristischen Anschlag auf ein Volksfest einer französischen Großstadt etwa verlangt das Selbstverständnis als Brüder eines friedlichen Europas von anderen europäischen Nationen, Bestürzung und Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen und in Konsequenzen und politischem Umgang mit dem Erlebten, Solidarität und Unterstützung zu signalisieren. Auch in diesem Beispiel ist es das entsprechende Recht des französischen Volkes auf einen so gestalteten Umgang mit dem, was es erleben muss. Diese Rede von Gebotenem drückt zum anderen ein grundlegendes Verhältnis aus, das näher zu bestimmen ist, wenn von einem gültigen Anspruch auf Empathie, also von einem moralischen Recht auf Empathie gesprochen werden soll: das Verhältnis von Rechten und Pflichten. Das grundlegende Verhältnis beider ist korrelativ, d. h. mit der Formulierung eines Rechts auf der einen Seite verbindet sich die Pflicht zur Anerkennung dieses Rechts auf der anderen Seite. Es ist jedoch durchaus verschieden, wie diese Korrelation sich ausgestaltet. Während manche Pflichten das entsprechende Recht auf der Gegenseite mitformulieren, ist in anderen Pflichten nicht zugleich das korrelierende Recht mitgegeben. Grundsätzlich lässt sich also insgesamt sagen: Ein jedes Recht beinhaltet eine korrelierende  Vgl. Fischer, Ethik, 193.

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5.2  Empathie in pflichtenethischer Perspektive

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Pflicht, aber nicht jede Pflicht impliziert ein korrelierendes Recht.18 In welcher Weise korrelieren nun Rechte und Pflichten im Falle von Empathie? Moralische Rechte auf Empathie sind in strikter Analogie zu den oben entfalteten Pflichten der Empathie zu formulieren: Aus der formulierten Verbindlichkeit der Verantwortungsposition, in denen sich einzelne oder auch Menschen an sich zueinander befinden, resultiert für beide Seiten eines empathischen Geschehens das jeweils korrelierende Recht, das sich je nach Bezugssubjekt als Abwehr‑ oder als Anspruchsrecht ausprägt. Die verpflichtende Verantwortung zur Selbstfürsorge korreliert mit dem Recht auf dieselbe und ist aufseiten der empathisierenden Person ein Abwehrrecht, insofern das Recht darin besteht, die Selbstfürsorge einschränkende Bedingungen abzuwehren. Aufseiten der empathisierten Person dagegen bildet das korrelierende Recht zur Selbstfürsorge ein Anspruchsrecht, insofern der Anspruch an den Anderen gerichtet ist, Empathie aufzubringen. Im Falle des Rechtes auf Selbstbegrenzung ist für beide Seiten ein Anspruchsrecht gegeben. Es ergeht der Anspruch an den jeweils Anderen, sich in den eigenen Bedürfnissen zu begrenzen. Das Recht auf ein authentisch und angemessen empathisches Geschehen ist dagegen wiederum ein Abwehrrecht und Anspruchsrecht zugleich: für den Empathisierenden, insofern er in der situativen Weise des Empathisierens nicht beschränkt werden darf und den Anspruch haben kann, dass der Empathisierte nichts anderes als die aktuale Empathie erwartet. Für den Empathisierten sind es der Anspruch auf authentische, entgegengebrachte Empathie und zugleich das Recht, im Zu-erkennen-geben der eigenen Bedürftigkeit nicht grundsätzlich beschnitten zu werden. Gleiches gilt für das Recht auf Kommunikation durch den jeweils anderen bzw. das Recht, kommunizieren zu dürfen, wenn bestimmte Veranlassung im oben genannten Sinne dazu besteht. Das Recht auf entgegengebrachtes Verständnis dagegen ist ein Anspruchsrecht dem jeweils Anderen gegenüber, insofern das berechtigte Verständnis von diesem ausgeht. Schließlich ist das Recht aller auf empathische Räume und Strukturen wiederum Anspruchsrecht und Abwehrrecht zugleich. Es ist der Anspruch eines jeden an eine empathische Kultur sozialen Umgangs, der dieser Kultur entsprechende Umgangsformen und Strukturen von sich selbst und den jeweils individuellen oder kollektiven Anderen einfordern darf und das Recht hat, in der Beförderung ebensolcher Strukturen nicht eingeschränkt zu werden. So ist schließlich eine Relativität der einzelnen Rechte mit dieser Analogizität zu den entsprechenden Pflichten mitgegeben und damit auch in der Vermittlungsaufgabe der Pflichten in den jeweiligen Subjektverhältnissen enthalten. In dieser Relativität und in der zusätzlichen Abhängigkeit des Gesamtgeschehens von der grundsätzlichen Affirmation einer solchen Kultur des zwischenmenschlichen Umgangs, wie sie hier skizziert wird, wird schließlich  Vgl. Fischer, Ethik, 189 ff.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

der Gegenbegriff des bedingten Rechts auf Empathie vorgeschlagen, das hier insofern gewiss behauptet werden kann.

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive Es wurde bis zu dieser Stelle ethisch bestimmt, welche Ziele für eine empathische Kultur erstrebenswert sind (Güterethik) und welche Pflichten für den Einzelnen aus dieser Zielbestimmung erwachsen (Pflichtenethik). Die dritte Perspektive, in der Empathie ethisch zu bestimmen ist, nimmt nun schließlich den Menschen selbst in seinen charakterlichen Dispositionen in den Blick: die Tugendethik. Die oben eingeführte Übersicht kann in der folgenden Weise tugendethisch ergänzt werden (s. Abb. 8). Es bedarf eines kurzen Vorlaufs zum Begriff der Tugend, ist es doch sehr verschieden, was in tugendethischen Moraltheorien die Begriffe Tugenden, Tugendhaftigkeit und Tugendethik spezifisch bezeichnen. Ohne ihren Darlegungen zu Tugenden als ethischer Grundlage von Erkenntnis weiter zu folgen, kann aber für eine präzise Definition von Tugenden Linda Trinkaus Zagzebskis Pure Virtue Theory herangezogen werden: A virtue, then, can be defined as a deep and enduring acquired excellence of a person, involving a characteristic motivation to produce a certain desired end and reliable success in bringing about that end.19

Unter Tugenden sind also nicht allein Fertigkeiten, unter Tugendhaftigkeit nicht allein die bestimmte Ausführung einer einzelnen Handlung zu verstehen. Vielmehr handelt es sich bei Tugenden um vortreffliche moralische Tauglichkeiten, also Qualitäten einer Person. Diese Qualitäten können verschiedentlich paraphrasiert werden als für ein Ziel für tauglich befundene Haltungen, Einstellungen, Charakterzüge oder Dispositionen, die sich eine Person nachhaltig und über eine längere Zeit selbstständig zu eigen gemacht hat und für die einerseits eine spezifische Motivation zu einem bestimmten Handlungsziel in der Person selbst sowie andererseits die erwartbare Chance auf das erfolgreiche Erreichen dieses Ziels besteht.20 Dieser Prozess der Aneignung von Qualitäten ist dabei aber nicht als systematische Selbstvervollkommnung zu lesen, sondern als druckentlasteter Prozess, der schließlich auch nicht vollständig in der eigenen Macht steht. In heutigen, in aristotelischer Tradition stehenden tugendethischen Moraltheorien ist nun aber verschieden konzipiert, unter welchen Vorzeichen sich Tugenden bestimmen lassen. Zwei Typen tugendethischen Sprechens können unterschieden werden: Orientiert sich Tugendethik konzeptionell primär an 19  Linda Trinkaus Zagzebski: Virtues of the Mind. An Inquiry into the Nature of Virtue and the Ethical Foundations of Knowledge, Cambridge 1996, 137. 20  So auch bei Fischer, Ethik, 177 f.

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5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

Güter

Pflichten

Formal‑ bestimmungen

Im Verhältnis zu sich selbst

Im Verhältnis zum Anderen

Verhältnisse in der Welt

Güter erster Ordnung: Ziel­ bestimmungen

Stabiles Selbst­ verhältnis

Stabile ­Beziehungen

Empathische Räume

Güter zweiter Ordnung: positivierte, strukturelle gesellschaftliche Grundbedingun­ gen

Manifestierte Rechte auf ­Freiheit, ­Autonomie, Selbst­ bestimmung

Gleichheits­ rechte aller Menschen

Staatl. Be­ dingungen: positivierte Rechtsstaatlich­ keit, Demokratie, Menschenrechte

Prima facie, vollkommen

Bleibendes intentionales Bezogensein (Verantwortung)

  Gestaltung

Selbstfürsorge, Selbstbegren­ zung

Aus der Ver­ antwortung resultierende Aufgaben, ­unvollkommen   Reflexion

Menschenbild: Einheit von Sozialität und Individualität als conditio humana

Einräumen und Befördern institutioneller Strukturen einer empathischen Kultur

Selbstreflexion und Prozessreflexion Selbstbeob­ achtung ­Selbstbindung Motivation, Selbstbildung

Tugenden

Authentische und angemes­ sene Empathie, Explizite Kom­ munikation, Verständnis Sensibilisierung für empathisches Bedürfnis, Erfordernis und Angemessenheit von Empathie

Metatugend (Typ II)

Ethische Urteilskraft

Menschliche Qualitäten (Typ I)

Achtsamkeit und Soziale (Selbst‑)Mitgefühl ­Kompetenz und Emotionale Intelligenz

Evaluations‑ und Bildungs­ prozesse, ­Metakommuni­ kation

Globales ­Mitgefühl

Abb. 8: Ethische Normmatrix III (Güter-, Pflichten‑ und Tugendethik); K. K.

dem, was als gutes Leben bezeichnet wird, so sind diesem guten Leben entsprechende menschliche Fähigkeiten und deren optimale Entfaltung tugendethisch zu bestimmen. Orientiert sich eine Konzeption dagegen an der menschlichen

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Natur, so formuliert sie die Erkenntnis vorab als primäre menschliche Tugend bzw. Kompetenz und bestimmt davon ausgehend weiterhin, was wiederum diese Erkenntnis des Richtigen und deshalb Guten befördert.21 Für die tugendethischen Erwägungen zu Empathie spielen beide Konzeptionstypen eine spezifische Rolle, insofern Tugenden zu formulieren sind, die der Kategorie nach in Teilen dem ersten und in Teilen dem zweiten Typus entsprechen. Das Sprechen von menschlichen Kompetenzen wiederum erfordert für beide konzeptionelle Typen jedoch eine Spezifizierung. Unter Kompetenzen kann zum einen kompetentes Verhalten verstanden werden, das in spezifischen Situationen auftritt; dann kann sich dieselbe Person in ähnlichen Situationen kompetent oder nicht-kompetent verhalten, je nach dem, welche anderen situativen Faktoren das jeweilige Verhalten noch beeinflussen. Unter Kompetenzen können jedoch auch Potenziale des menschlichen Verhaltens verstanden werden; dann ist nicht das situative Verhalten ausschlaggebend für die Kompetenzzuschreibung, sondern die prinzipielle Disposition zu einem kompetenten Verhalten.22 Gemäß der Grundüberzeugung, dass sich ein empathisches Geschehen immer unter nicht-idealen Bedingungen vollzieht und das insofern in hohem Maße individuell und situativ ist, orientieren sich die folgenden Ausführungen an dieser zweiten Lesart. So werden hier jeweils Tugenden beschrieben, die als prinzipielle menschliche Befähigungen zu lesen sind, unabhängig davon, ob ein Individuum in jeder denkbaren Situation de facto in der Lage ist, ein in dieser Weise kompetentes Verhalten zu zeigen. 5.3.1  Ethische Urteilskraft als Metatugend der Empathie Die Tugend, die für das Subjekt im Verhältnis zu sich selbst zentral formuliert werden kann, gehört der Kategorie nach dem zweiten Konzeptionstypus an, insofern jene Tugend notwendige Möglichkeitsbedingung ist, um die am höchsten Gut ausgerichteten Pflichten zu erkennen und schließlich zu erfüllen. Als diese Erkenntnis generierende Tugend fungiert die ethische Urteilskraft. Was für die beiden Seiten des empathischen Geschehens konkreter darunter zu fassen 21 Unter den tugendethischen Konzeptionen des guten Lebens lassen sich weitere Ansätze unterscheiden: Innerhalb der Ethik des guten Lebens geht der relativistisch-kommunitaristische Ansatz des guten Lebens davon aus, dass diejenigen Tugenden in einer Gemeinschaft anerkannt sind, die dem in dieser Gemeinschaft bestimmten Gut dienen und insofern kulturabhängig sind (z. B. MacIntyre 1981). Dagegen gehen universalistisch-gerechtigkeitsorientierte Ansätze davon aus, dass Tugenden universal für alle Menschen bestimmbar sind (z. B. Nussbaum 1988, Höffe 1998, O’Neill 1996). Innerhalb der Ethik der menschlichen Natur geht der naturalistische Ansatz von objektiven Kriterien für ein gelingendes Leben aus, die in der menschlichen Natur gegeben sind (z. B. Foot 1998), der eher metaethische Ansatz von der zentralen Tugend des Wissens um die moralische Relevanz einer Situation (z. B. McDowell 1979) und der hermeneutische Ansatz von der Tugend als Fähigkeit zur ethischen Beurteilung (z. B. Pfafferott 1989) (vgl. Rapp, Christof: Aristoteles zur Einführung, Hamburg ³2007, 79 f.; Fischer, Ethik, 180 ff.). 22  Uwe Peter Kanning, Diagnostik sozialer Kompetenzen, Göttingen ²2009, 11 ff.

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

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ist, erhellt sich, wenn auf definitorische Merkmale menschlicher Urteilskraft geblickt wird, wie sie Pfafferott (1989) und Kulenkampff (2000) aus ihrer KantInterpretation gewinnen. Dieser wiederum beschreibt in seinem Werk Kritik der reinen Vernunft die Urteilskraft des Menschen als eine Funktion des Verstandes, welcher seinerseits überhaupt „das Vermögen von Regeln“ sei. Grundlegend formuliert Kant Urteilskraft [als] das Vermögen unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel […] stehe, oder nicht […]. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs Neue eine Unterweisung der Urteilskraft, und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.23

Aus dieser Definition sind zunächst zwei Aspekte entscheidend: 1. Als Entscheidungsprozess, ob ein Fall unter eine gegebene Regel zu fassen sei, markiert die Urteilskraft den Übergangsmoment von einer theoretisch-allgemeinen zu einer praktisch-speziellen Fallebene und bildet selbst das instrumentelle Vehikel dieses Übergangs. Nimmt man vor diesem Hintergrund ethische Urteilskraft in den Blick, kann dieses Übergangsmoment als auf sittliche Gegenstände bezogen verstanden werden und dabei näherhin als der Akt von Abwägung, Bewertung und Entscheidung, ob im speziell gegebenen Fall das eigene Handeln angesichts der vorformulierten Ziele eine korrespondierende Folge erwartbar macht.24 2. Ethische Urteilskraft als Tugend zu bezeichnen, entspricht der kantischen Bezeichnung der Urteilskraft als durch Übung anzueignendes besonderes Talent. Es ist nicht bloß, so könnte man heute wohl sagen, eine kognitive Operation, sondern eine komplexe Befähigung des Menschen. Zudem kann niemand durch andere Wissenschaften in den Kriterien der Fallunterscheidung methodisch unterwiesen werden, weil sich die Notwendigkeit zur Urteilskraft jedes Mal selbst reformuliert, sobald eine solche Belehrung gegeben ist. Insofern kann jeder Einzelne sich nur selbst darin einüben und so schrittweise das Vermögen zur Unterscheidung der Fallzugehörigkeit und damit der treffenden Anwendung der theoretischen Regel auf den praktischen Einzelfall in sich kultivieren.25 Zugleich aber ist die ethische Urteilskraft kein optionales Talent, das bestimmten Menschen exklusiv ist, sondern eines, das notwendigerweise jeden Menschen betrifft, in Form des unmittelbaren Fallunterscheidens oder in mittelbarer Form, nämlich zwischen treffenden äußeren Belehrungen zu unterscheiden. Die Frage nach jenem Talent ist also nicht, ob jemand diese Tugend in sich trägt oder nicht, sondern vielmehr, 23  Kant KrV, zit. n. Kulenkampff, Jens: Nicht belehrt, nur geübt?, in: Enskat, Rainer: Erfahrung und Urteilskraft, Würzburg 2000, 165–180, hier: 165. 24  In Anlehnung an Pfafferott, Gerhard: Moralprinzip und Autonomie. Über die Bedeutung der sittlichen Urteilskraft bei der Anwendung sittlicher Normen, in: Seebohm, Thomas M. (Hg.): Prinzip und Applikation in der praktischen Philosophie, Mainz 1990, 139–152, hier: 147. 25  Vgl. Kulenkampff, Nur geübt, 166 ff.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

in welchem quantitativen Rahmen sich jemand in Akten ethischer Urteilskraft als in dieser Weise tugendhaft ausweist bzw. welchen qualitativen Grad die allgemeine Einsicht in eine Regel einerseits und die konkrete Fallunterscheidung andererseits hat.26 Damit ist ethische Urteilskraft ein „besonderes, wenngleich nicht selbständiges Erkenntnisvermögen“.27 Innerhalb der so gefassten Urteilskraft kann – so hat es bereits Kant beschrieben  – zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft unterschieden werden. Die bestimmende ethische Urteilskraft orientiert sich dann an einer allgemein gegebenen Regel und bestimmt ableitend, was sittlich geboten ist. Die gegebene allgemeine Regel liegt dem Menschen immer schon vor, insbesondere als normative Setzungen der ihn umgebenden sozialen Kultur. Die reflektierende ethische Urteilskraft dagegen findet das Besondere, Konkrete vor und reflektiert von dort aus die adäquate allgemeine Regel. Diese Prozesskomponente findet statt, wenn das Subjekt darauf verwiesen ist, in freier Selbsttätigkeit und unter Berücksichtigung geltender normativer Rahmenbedingungen des äußeren und inneren Wertekanons ein ethisches Prinzip erst zu finden.28 Im Sinne dieser beiden kantischen Dimensionen der Urteilskraft sieht Pfafferott in der teleologisch ausgerichteten Vermittlung der vorgegebenen und als solche anerkannten Normstrukturen einerseits und der selbstbestimmt reflexiv gefundenen andererseits die konkreter zu fassende Aufgabe der Urteilskraft.29 So kann er schließlich sagen: „Die[se] im lebenspraktischen Umfeld in ihrem ureigenen Element befindliche Urteilskraft befähigt das Individuum, innerhalb seiner Konstellationen das jeweilig Richtige zu tun […] Sittliche Urteilskraft macht zum Handeln erst tauglich“.30 In dieser Befähigungsfunktion stellt ethische Urteilskraft eine Metatugend dar, insofern die beschriebene Aufgabe eine Syntheseleistung darstellt, was schließlich in einem spezifischen Geschehen das sittlich Gebotene ist. Ein solches Verständnis ethischer Urteilskraft setzt zugleich das Verständnis voraus, dass Moralität stets im Werden begriffen ist und sich durch das Betätigen der Urteilskraft selbst erst herausbildet. Damit trägt sie ein schöpferisches Potenzial in sich, „insofern mit der inhaerenten teleologisch reflektierten Verfasstheit – nicht apriorisch, sondern sich in actu betätigend – eine Orientierung im Handeln, ein Zurechtfinden in konfliktträchtiger Welt möglich wird“.31 Insofern korreliert der Prozess als Ganzer mit zunehmender ethischer Urteilskraft und werdender geistiger Reife.32

26 Vgl.

Kulenkampff, Nur geübt, 170. Nur geübt, 172. 28 Vgl. Pfafferott, Moralprinzip und Autonomie, 144 f. 29  Vgl. Pfafferott, Moralprinzip und Autonomie, 150. 30  Pfafferott, Moralprinzip und Autonomie, 150; 146. 31  Pfafferott, Moralprinzip und Autonomie, 146. 32  Vgl. Pfafferott, Moralprinzip und Autonomie, 145. 27 Kulenkampff,

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

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Es ist nicht die Befähigung allein, welche die Tätigkeit der Urteilskraft bedingt. Vielmehr gilt es für die beiden Seiten des empathischen Geschehens, durch Akte der Beurteilung das in ihrer jeweiligen Rolle angemessene, d. h. das einer moralisch in dieser Situation relevanten Norm entsprechende Handeln auch in praktischem Urteil hervorzubringen.33 Wie also vollzieht sich praktische Urteilskraft? Handeln in einem konkreten Geschehen praktisch zu beurteilen, vollzieht sich durch die Methode des Analogisierens, die eine empirische Situation mit der dahinterstehenden moralischen Norm ins Verhältnis setzt mit dem Ziel, einen Typus angemessenen Handelns zu eruieren, in welchem beide vermittelt sind. Dieser Typus bildet den Maßstab der konkreten Einzelhandlungen, den Geltungsanspruch gleichsam. Aus dem Bestand bisher gemachter Erfahrungen und diesem kristallisierten Geltungsanspruch wird dann also erhoben, welche konkreten Handlungen daraus abzuleiten sind. Dies wiederum ist als Realutopie zu entwerfen; als leitend kann die Frage gelten, welches konkrete Handeln normgerecht und zugleich als realistisch umsetzbar einzuschätzen ist.34 Für den Fall eines empathischen Geschehens bedeutet das für beide Seiten in ganz prinzipiellen Zügen Folgendes: Als anerkannte moralische Norm, von der eine Beurteilung ausgeht, sei gesetzt, dass ein Subjekt in Würde entsprechenden Subjektverhältnissen leben möchte, diese grundlegende Norm also anerkannt hat. Der situative Sachverhalt sei dann gegeben durch die Annahme, dass menschenwürdige Verhältnisse zu gestalten nicht nur legislative und judikative Angelegenheit eines Staatsgebildes, sondern auch Angelegenheit der Gestaltung zwischenmenschlichen Umgangs sei, welche die Wahrnehmung und das Handeln in intersubjektiven Bezügen betrifft und die in der Verantwortung eines jeden Einzelnen liege. Dann ergibt sich hieraus ein bestimmter Typus angemessenen Handelns, der in dem Geltungsanspruch formuliert werden kann: Damit zwischenmenschliche Bezüge als Würde entsprechend gestaltet werden können, muss Empathie zum Handlungsparadigma in intersubjektivem Geschehen erhoben werden. Aus dem Bestand bisheriger Erfahrung ergebe sich nun etwa, dass intersubjektives Geschehen häufig mangelnde Empathie aufweist, während zugleich in anderen Fällen die intersubjektive Situation für die empathisierende Person stark belastend wird, weil sich diese zu stark in die Situation der anderen Person hineingefühlt hat. Unter dem Geltungsanspruch nun, dass es wertvoll sei, Empathie zum leitenden Handlungsschema zu machen, ergibt sich für die Urteilskraft die Aufgabe zu ermitteln, welche Art von 33  Pieper weist zu Recht auf die Schwierigkeit hin, die sich für jene Beurteilung ergibt, wenn diese sich auf ethisches Handeln bezieht, das nicht nach Maßgabe schriftlich fixierter, einklagbarer Rechtsnormen, sondern ungeschriebener, moralischer Normen zu beurteilen ist, die einer manifestierten Objektivierbarkeit entbehren (vgl. Pieper, Annemarie: Praktische Urteilskraft. Zur Frage der Anwendung moralischer Normen, in: Seebohm, Thomas M. (Hg.): Prinzip und Applikation in der praktischen Philosophie, Mainz 1990, 153–167, hier: 160). 34  Vgl. Pieper, Praktische Urteilskraft, 162 ff.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

empathischer Regung für wen, in welchem Maß in der hier und jetzt gegebenen Situation als angemessen beurteilt werden kann. In diesem  – gewiss schematisierten – Ablauf findet dem Prinzip nach jene komplexe Syntheseleistung statt, die oben bereits mit Kant beschrieben wurde und hier mit den Komponenten eines empathischen Geschehens für beide Seiten gleichermaßen in folgender Weise gedacht werden kann: Auf kognitiver Ebene sind es reflektierende, ab­ strahierende, vergleichende, differenzierende Operationen, auf emotiver Ebene sind es Anteile von Basisemotionen (Angst, Ärger, Freude, Traurigkeit, Ekel, Verachtung und Überraschung),35 Anteile eines Gefühlsspektrums (etwa Mitleid, Sorge, Dankbarkeit, Liebe usf.)36 und Anteile von Stimmungen (etwa Fröhlichkeit, Optimismus oder Melancholie),37 die in die Syntheseleistung der Urteilskraft eingehen und die Bedingungslandschaft bilden für zusätzliche Anteile, die oben als empathische Anteile vorgestellt wurden: Anteile von Prozessen des Verstehens, der Einfühlung, von Mitgefühl oder Einsfühlung. Schließlich bildet der gesamte psychosoziale Kontext des Individuums den Gesamtrahmen eines solchen Geschehens, in dem etwa psychosoziale Entwicklung, Sozialisierung und situativer sozialer Kontext enthalten sind. All diese Komponenten bedingen die Urteilskraft und entscheiden als solche schließlich darüber, wie Empathie in Wahrnehmen und Handeln zur Entfaltung kommt. Kehrt man noch einmal zurück zu der kinderlosen Freundin aus dem Freundschafts-Trio, so sieht sich diese mit einer komplexen Beurteilungsaufgabe konfrontiert: Als Mensch, der besonderen Wert auf die Pflege inniger, tief greifender und anteilnehmender Freundschaftsbeziehungen legt, ist es für sie eine wertgeschätzte Selbstverständlichkeit, sich gegenseitig in freudvollen und leidvollen Situationen zu begleiten. Empathisches Mitgefühl gilt in ihrer Freundschaft als unverzichtbarer Wert. Sie wird nun im Speziellen konfrontiert mit der konkreten Situation, wie sie oben geschildert ist. Sie wird gleichsam intuitiv etwa die Perspektive der Freundin einnehmen, und ihre Situation mit der eigenen vergleichen, Ähnlichkeiten und Paradoxien feststellen, differenzieren müssen. Es wird sie etwa unerwartet eine große Traurigkeit ergreifen, die sie zunächst gar nicht einzuordnen weiß, etwas ist in ihr getriggert worden. Verschiedene Gefühle kommen in ihr auf, sie ist betrübt und in Sorge um die Freundin unter der belastenden Situation, spürt selbst Angst und Traurigkeit ob ihrer eigenen 35 Vgl. Merten, Jörg: Art. Basisemotionen, in: Dorsch Lexikon für Psychologie, online verfügbar: https://m.portal.hogrefe.com/dorsch/basisemotionen/, abgerufen am 2. 4. ​2020. 36 Gefühle werden verstanden als subjektive Erlebnisqualitäten von Emotionen (vgl. Puca, Rosa Maria: Art. Gefühl, in: Dorsch Lexikon für Psychologie, online verfügbar: https://m. portal.hogrefe.com/dorsch/gefuehl/, abgerufen am 2. 4. ​2020). 37 Stimmungen unterscheiden sich von Gefühlen dadurch, dass hierbei der konkrete Anlass nicht notwendigerweise bewusst ist und dass sie meist länger andauern als Emotionen, dabei aber weniger stark ausgeprägt sind (vgl. Neumann, Roland: Art. Stimmung, in: Dorsch Lexikon für Psychologie, online verfügbar: https://m.portal.hogrefe.com/dorsch/stimmung, abgerufen am 2. 4. ​2020).

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

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Situation und ihrer ungewissen Zukunft. Sie merkt, dass sie in eine depressive Lethargie verfällt, es ihr irgendwie den Hals zuschnürt. An dieser Schwelle wird die zentrale Rolle der ethischen Urteilkraft sichtbar für die Frage, wie sie sich nun konkret als Freundin dazu verhält: Sie wird etwa für sich feststellen, dass es ihr leidtut, dass ihre Freundin in dieser Lage ist, weil sie wahrnehmen kann, dass es aus deren Perspektive ein Leid bedeutet. Grundsätzlich möchte sie der Freundin beistehen, aber sie erkennt, dass sie emotional ihre eigene Situation nicht von der Situation der Freundin abgrenzen kann und sie es in ein starkes, aber diffuses Unwohlsein versetzt, von dem es ihr nicht möglich ist, sich zu distanzieren. Sie erkennt weiter, dass sie aus dieser Position heraus ihrer Freundin nur sehr bedingt tatsächlich ein empathisches Gegenüber sein kann, weil es sie selbst unter zu starke negative Emotion setzt. Sie entscheidet, dass sie ihr gegenüber explizit ihre Bereitschaft kommuniziert und ihr in pragmatischen Anforderungen auch zur Seite stehen kann, aber aufgrund ihrer eigenen Situation nicht in der Lage ist, sich dem unkontrollierten negativen Erleben mehr als nötig auszusetzen. Sie erweist sich dann genau darin als tugendhaft, diese beurteilenden Reflexions‑ und Erkenntnisprozesse in sich zu vollziehen, welche die grundsätzliche Notwendigkeit und Bereitschaft zur Empathie einerseits und die aktual mögliche Empathie andererseits vermessen. 5.3.2  Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl als Tugenden im Selbstverhältnis Die Bestimmung der Tugenden, wie sie im Folgenden vorzunehmen ist, geschieht unter einer geringfügigen Modifizierung der differenzierten Darstellung in drei Subjektverhältnissen, wie sie bisher erfolgt ist: Zwar wird noch immer zwischen Tugenden in den drei Subjektverhältnissen unterschieden, nun aber unter der Annahme, dass sich die zu bezeichnenden Tugenden nicht auf das zugeordnete Subjektverhältnis begrenzen lassen, sondern jeweils relevante Dimensionen einer phänomenalen Einheit bilden. Die Zuordnung zu einem spezifischen Subjektverhältnis bemisst sich allein daran, welches primäre Bezugsobjekt die einzelnen Tugenden aufweisen. Diejenigen Tugenden, die im Verhältnis des Subjekts zu sich selbst im empathischen Geschehen von zentraler Bedeutung sind, bilden gemeinsam eine zweiseitige Medaille: Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl. Diese Bestimmung entspricht dem ersten der oben differenzierten Typen tugendethischen Sprechens, insofern sie selbst eine Fähigkeit bezeichnet, die für die Förderung eines als gut bestimmten Lebens eine tragende Rolle einnimmt. Dies erhellt sich, wenn auf die definitorischen Koordinaten des Begriffs der Achtsamkeit geblickt wird: Eine in der populär gewordenen Achtsamkeitsforschung der vergangenen drei Jahrzehnte besonders prominent rezipierte Definition stammt von Jon Kabat-Zinn. In seinen epochalen Studien zur Auswirkung von Achtsamkeit auf Wohlbefinden und Gesundheit definiert er „Achtsamkeit […] als die Bewusstheit, die sich

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt“38. Achtsamkeit ist demnach eine erspürende Form von Bewusstsein als ein Gewahrsein für jede äußere und innere Erfahrung des räumlich und zeitlich gegenwärtigen Moments, die ohne Bewertung registriert und akzeptiert wird. Dies impliziert auch die Achtsamkeit gegenüber der Tatsache, dass wir nicht stetig achtsam sind. „Dieses Gewahrsein und diese Achtsamkeit verlangt […] von uns, dass wir ganz in der Gegenwart zu Hause sind und sorgsam mit dem umgehen, was uns auf dem Weg an Gefühlen, Erfahrungen und Einsichten begegnet (kursiv: K. K.).“39 Auf diese Weise unterscheidet sich Achtsamkeit von rein gedanklichem, kognitivem, intellektuellem Wissen und dessen Prozessen und macht dieselben vielmehr zum Gegenstand ihres Gewahrseins.40 Im Modus der Beobachtung jener erlebenden Bewusstseinsinhalte wird Bewusstheit erreicht, eine Metaaufmerksamkeit des Geistes für das erlebende Geschehen, in der das Subjekt zu seiner Erfahrungswelt, zu sich selbst also, in Kontakt kommt, und seine Bewusstheit immer noch mehr erweitert.41 In diesem Kontakt zum eigenen Erleben findet der Geist Ruhe und eine Festigung in sich selbst. Destruktive Gedanken, Emotionen und geistige Handlungen werden in ihrer Wirkung abgemildert. Der Geist tritt aus einer Verengung, einem Widerstand, aus einer Unfähigkeit oder Beschränkung heraus.42 Achtsamkeit bezeichnet so verstanden, zum einen eine praktische Methode, situativ mit emotionalem Stress umzugehen. Zum anderen aber bezeichnet Achtsamkeit ein grundlegendes Verhältnis, das ein Subjekt zu seinem Erleben gewinnen und immer weiter einüben kann.43 In dieser doppelten Weise des verändernden inneren Blickes bedeutet Achtsamkeit eine innere Wandlung. Es trainiert sich selbst in jener dauerhaften Bewusstheit seines Erlebens, gewinnt an Klarheit und Ruhe in Bezug auf dasselbe und nimmt schrittweise eine gütige, verständnisvolle, akzeptierende und würdigende Haltung sich selbst gegenüber ein. Diese Haltung kann als Selbst-Mitgefühl (self-compassion) bezeichnet werden und umfasst das bewusste Wahrnehmen eigener Erlebensgehalte sowie mitfühlende Reaktionen sich selbst gegenüber.44 In analoger Weise ist jene Achtsamkeit auch die Grundlage, auf der das Subjekt auch in der Intersubjektivität Mitgefühl für den Anderen aufbringen 38 Kabat-Zinn, Jon: Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR, München 2013, 29. 39 Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, 29. 40 Vgl. Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, 29; vgl. Ekman, Paul/Dalai Lama: Gefühl und Mitgefühl. Emotionale Achtsamkeit und der Weg zum seelischen Gleichgewicht, Heidelberg 2009, 70 f. 41 Vgl. Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, 36; vgl. Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 211 ff., 232. 42 Vgl. Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 74 ff.; 214; vgl. Neff, Kristin: Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden, München 2012, 115 ff. 43  Vgl. Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 80 ff. 44  Vgl. Neff, Selbstmitgefühl, 110 f.

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

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kann.45 Mitgefühl für sich selbst und für andere besteht dann zum Ersten im Erkennen von Leid und zum Zweiten im eigenen Bewegtsein durch Leid. Dieses Bewegtsein wiederum besteht in gütiger Wärme, Fürsorge sowie dem Bedürfnis zu helfen. Zum Dritten gehört zu diesem Mitgefühl, Leid als allgemeinmenschliche, gleichsam geteilte Herausforderung menschlichen Lebens zu vergegenwärtigen.46 Das so skizzierte Mitgefühl ist in Bezug auf eine andere Person diejenige Variante empathischer Zuwendung, die Fürsorge für den Anderen zulässt, ohne dass der Empathisierende selbst leidet oder die eigentlich fremde Belastung übernimmt. Sie entspricht der fürsorglichen, effektiven Form von Empathie, die von Singer et al. als compassion bezeichnet wird und in buddhistischer Tradition stehend, den Gedanken der unterscheidenden Bewusstheit47 mit einbezieht: Während das Leid des Anderen erkannt, anerkannt und ein mitfühlender, fürsorglicher Umgang gefunden wird, muss der Empathisierende sich klar die Unterscheidung zwischen Ich und Anderem vergegenwärtigen. Nur so kann es gelingen, dass aus der sachten emotionalen Distanz heraus eine produktive, in gewisser Weise tatsächliche Form des Seins beim Anderen entsteht. Wird der Empathisierende dagegen vom Leid des Betroffenen überschwemmt, besteht vielmehr die Gefahr, dass dieser verstockt, sich aus der zur eigenen gewordenen Leidsituation zu befreien versucht und schließlich im Bezug auf den Anderen untätig bleibt. Ein Sein beim Anderen ist dann deutlich behindert oder gar verunmöglicht. Dies wiederum gilt für die andere Variante empathischer Zuwendung, bei der eher von emotionaler Resonanz die Rede ist.48 Diese Variante wiederum entspricht dem, was in einem vorangehenden Teil dieser Arbeit als Einfühlung bezeichnet wurde; auch Einsfühlung und Gefühlsübertragung sind weitere Ausprägungen hiervon. Zugleich entspricht es der Form von Empathie, wie sie durch Singer et al. als empathical distress gekennzeichnet wurde, der für den Empathisierenden tendenziell belastend ist und schließlich ein Ausbleiben eines tatsächlich empathischen Geschehens erwarten lässt. Blickt man noch einmal auf den Ausgangspunkt, so sind schließlich Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl diejenigen Tugenden, die im Selbstverhältnis liegen, aber zentral sind für das empathische Geschehen des Mitgefühls für den anderen, das dann schließlich in der Sozialität des Subjekts, also im Verhältnis zum Anderen seinen Platz einnimmt.

45 Es wäre ein unzutreffendes Verständnis, wenn ein proportionales Wachstum von Selbstmitgefühl und Mitgefühl für andere angenommen würde. In dieser Signifikanz kann dieser Zusammenhang nicht ausgesagt werden. Dennoch haben Studien gezeigt, dass Menschen, die schaffen, sich selbst gegenüber mitfühlend zu sein auch anderen gegenüber das Herz öffnen und Mitgefühl zeigen können (vgl. Neff, Selbstmitgefühl, 245 ff.). 46  Vgl. Neff, Mitgefühl, 22 f. 47  Vgl. Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 220. 48  Vgl. Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 225 f.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Was aber machen beide zu Tugenden für ein empathisches Geschehen? In psychologischen Studien zur Wirksamkeit von Achtsamkeit konnte breit belegt werden, dass Achtsamkeit nicht nur eine Art und Weise des Seins im Hier und Jetzt darstellt, wie es in Anschluss an Kabat-Zinns Ausführungen zum sorgsamen Umgang mit dem gegenwärtigen Erleben in zahlreichen Lebensratgebern formuliert wird. Sondern es zeigt sich auch, dass eine regelmäßige und dauerhafte Einübung von Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl in signifikantem Zusammenhang zu den Auswirkungen von Stressoren auf biologische Zellprozesse und insofern auf Alterungsprozesse, auf Gesundheit und Wohlbefinden stehen. Entscheidend ist dabei, dass durch Achtsamkeit nicht Quellen von Stress beseitigt werden, sodass sich Wohlbefinden verbessern würde. Vielmehr geht es bei dieser Praxis um die schrittweise Herausbildung und Veränderung der inneren Haltung, mit der ein Subjekt auch an sich unveränderlichen Gegebenheiten begegnet und die sich auf diese Weise positiv auf sein Wohlbefinden auswirken kann.49 Insofern diese dauerhafte Einübung von Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl als lebenslanger Selbstbildungsprozess begriffen werden kann und die Behauptung einer achtsamen Haltung gegenüber allem Erleben eine ebenso anhaltende Herausforderung des Subjekts ist, um das eigene Wohlbefinden positiv zu beeinflussen, handelt es sich bei Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl um Tugenden. 5.3.3  Soziale Kompetenz und Emotionale Intelligenz als Tugenden der Empathie im Verhältnis zum Anderen Auch für das Verhältnis eines Subjekts zum Anderen lassen sich Tugenden formulieren, die dem ersten der beiden oben erläuterten konzeptionellen Typen von Tugendethik angehören. Analog zu den Ausführungen zur Achtsamkeit kann hier eine Kultur empathischen Miteinanders als das bezeichnet werden, was im Sinne eines guten Lebens die Ausgangslage tugendethischen Sprechens bildet. Zu bestimmen sind nun also menschliche Fähigkeiten, die in diesem Subjektverhältnis mit einem so bestimmten guten Leben in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Dieser Zusammenhang ist jedoch nicht als kausaler Zusammenhang von Empathie und den zu beschreibenden Kompetenzen zu denken, sodass das Eine gegeben sein müsste, damit das Andere möglich wäre. Vielmehr beschreiben die folgenden Kompetenzbereiche schlicht diejenige Ebene der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung, die für ein empathisches Geschehen als relevant und in sich selbst als lebenslanger Entwicklungsprozess zu betrachten ist. Als diese Fähigkeiten bzw. Kompetenzbereiche sollen hier Soziale Kompetenz und Emotionale Intelligenz eingeführt werden. Mit den Begriffen Soziale Kompetenz bzw. Emotionale Intelligenz kommen zwei Theoriekomplexe der empirischen Sozialpsychologie in den Blick, die zwar  Vgl. Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, 30 f.

49

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

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nach ihren definitorischen Eckdaten und ihrer Entstehungsgeschichte voneinander differenziert werden können und müssen, ohne selbst jedoch vollständig Unterschiedliches zu bezeichnen. Vielmehr ließen sich einander bedingende oder sich überschneidende Charakteristika ausmachen, aufgrund derer nicht zuletzt eine komplexe kritische innerfachliche Debatte über Erhebung und Validität der empirischen Daten sowie Definition und Bedeutung der Konzepte existiert. Auf diese Debatte sei an dieser Stelle verwiesen.50 Für die vorliegenden Ausführungen kann sie jedoch vernachlässigt werden, kommt es hier doch nicht auf eine vollständige Anwendung einer empirischen Theorie und ihrer Methode an, für welche die präzise kritische Reflexion des so Bezeichneten von größerer Bedeutung wäre, sondern um den inhaltlichen Kern dessen, was durch diese Konzepte bezeichnet wird. Der Begriff der Sozialen Kompetenz dient im allgemeinen Sprachgebrauch zumeist als Synonym für jede Art von menschlicher Fähigkeit, die in Bezug auf soziale Situationen positiv bewertet ist. So wird ein Mensch mitunter als sozial kompetent angesehen, wenn er nach dem Befinden einer Person seines Umfeldes fragt, wenn er hilfsbereit auftritt oder die Regeln der Höflichkeit beherrscht. Auch im Kontext von Wirtschaft und Arbeit gehört Soziale Kompetenz zu den sog. soft skills, die neben den hard skills wie der Fachkompetenz und dem intellektuellen Wissen einen zunehmend gleichen Rang einnehmen, wenn es um die tatsächliche Befähigung für eine bestimmte Berufstätigkeit geht. Bei dem Versuch aber, soziale Kompetenz terminologisch und empirisch einzuholen und zu klassifizieren, stößt die sozialpsychologische Theoriebildung auf ein Problem, das in der Operationalisierbarkeit jener soft skills zu konkret beschreibbaren Fähigkeiten sowie deren Erhebung liegt. Weil auch wissenschaftlich grundsätzlich „jede einzelne Fähigkeit oder Fertigkeit bzw. jeder Aspekt des Wissens, der […] die Qualität sozialen Verhaltens erhöht, […] als eine eigenständige soziale Kompetenz definiert werden“51 kann, ist ein fester Kanon spezifischer sozialer Kompetenzen nur unzureichend auszumachen. In Anschluss an Thorndikes erste Definition sozialer Kompetenz (dort zunächst soziale Intelligenz) als Fähigkeit, in menschlichen Beziehungen klug zu 50 Vgl. Neubauer, Aljoscha C./Freudenthaler, H. Harald: Modelle Emotionaler Intelligenz, in: Schulze, Ralf et al. (Hgg.): Emotionale Intelligenz. Ein internationales Handbuch, Göttingen 2006, 39–59; vgl. Kang, Sun-Mee/Day, Jeanne D./Meara, Naomi M.: Soziale und Emotionale Intelligenz. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Schulze, Ralf et al. (Hgg.): Emotionale Intelligenz. Ein internationales Handbuch, Göttingen 2006, 101–115; vgl. Austin, Elizabeth J./ Saklofske, Donald H.: Viel zu viele Intelligenzen? Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen sozialer, praktischer und emotionaler Intelligenz, in: Schulze, Ralf et al. (Hgg.): Emotionale Intelligenz. Ein internationales Handbuch, Göttingen 2006, 117–137; vgl. Rost, Detlef H.: Soziale Intelligenz, Emotionale Intelligenz, Praktische Intelligenz: Alternativen zum IQ?, in: Ders.: Intelligenz, Hochbegabung, Vorschulerziehung, Bildungsbenachteiligung, Münster 2010, 37–83; vgl. Rost, Detlef H.: Intelligenz. Fakten und Mythen, Weinheim 2009. 51  Kanning, Diagnostik 17.

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5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

handeln,52 wurden zahlreiche empirische Versuche angestellt, ein solches kluges Handeln zu operationalisieren und zu kanonisieren, was es präzise bedeutet, sozial kompetent zu sein. Mitte der 1990er Jahre definieren Schneider et al. in der retrospektiven Analyse dieser Forschungslandschaft soziale Kompetenz zunächst als sozial erfolgreiches Verhalten samt seiner kognitiven, affektiven und konativen Vorläufer. Die Innovation dieser Theorie besteht dabei darin, dass sie nicht auf die Bestimmung eines Kanons sozialer Kompetenzen abzielt, sondern mit der Bestimmung von Dimensionen bzw. Kontinua sozialer Kompetenzen eine zunächst überindividuelle Taxonomie entwirft, mit der dann auch individuelle Sozialkompetenz empirisch beschreibbar wird.53 Die in dieser Theorie realisierte Idee der Dimensionen sozialer Kompetenz wird von Kanning einige Jahre später aufgegriffen und mit anderen Bestimmungsvorschlägen zu einem Strukturmodell von Dimensionen allgemeiner Sozialkompetenz synthetisiert.54 Diese dort erfassten Dimensionen umfassen mitunter den kognitiven, den emotionalen oder den verhaltensbezogenen Bereich und lassen sich in vier Ausprägungsformen klassifizieren: Die erste Form, in der sich soziale Kompetenz ausprägt, wird als Soziale Orientierung bezeichnet. Hierunter werden zum einen charakterliche Grundhaltungen wie etwa Prosozialität und Wertepluralismus gezählt und zum anderen instrumentelle Fertigkeiten der Perspektivübernahme oder des Zuhörens, in denen diese Haltungen zum Ausdruck kommen und mit denen ein Subjekt ein empathisches Geschehen gestalten kann. Im frühen Modell von Kanning findet eine Kernkompetenz explizit und weiter ausdifferenziert Platz, die im jüngeren Modell unter Zuhören subsummiert wird: der Kommunikationsstil. Noch breiter, als es durch das Zuhören ausgedrückt ist, umfasst dies etwa unterstützende, expressive und eben zuhörende Kommunikationsweisen.55 Unter der Ausprägungsform Selbststeuerung werden etwa Fähigkeiten der Selbstkontrolle oder der Handlungsflexibilität gefasst, die das Subjekt sich selbst als rationalen und flexiblen Akteur der Situation verstehen lassen. Für ein empathisches Geschehen bilden dies grundlegende Annahmen über die Aktivität und Motivation der eigenen Person, auch in belastenden Situationen zu einem selbstbestimmt-aktiven und situativ angemessenen Umgang fähig zu 52 Vgl. Thorndike, Edward Lee: Intelligence and Its Uses, in: Harper’s Magazines 140/1920, 217–235. 53 Vgl. Schneider, Robert J. et al.: To „Act Wisely in Human Relations“: Exloring the Dimensions of Social Competence, in: Personality and Individual Differences, 21/1996/4, 469–481, hier 469 ff. 54  Vgl. Kanning, Diagnostik, 15. Die erfassten Dimensionen werden von Kanning zunächst in einem Schema gesammelt, das drei Bereiche differenziert, den kognitiven, den emotionalen und den behavioralen Bereich. In weiteren Arbeiten synthetisiert er vier Formen sozialer Kompetenzen. Dies stellt jedoch ausschließlich eine andere Sortierung unter anderem Gesichtspunkt dar, die der empirischen Operationalisierung dient, und wird hier verwendet, insofern an dieser die Anschlussfähigkeit an das Empathiethema evidenter wird. 55  Vgl. Kanning, Diagnostik, 21.

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

263

sein. Unter der Form der Reflexivität werden etwa Selbstaufmerksamkeit und Personenwahrnehmung gefasst, die metakognitive Fähigkeiten des Beobachtens, Wahrnehmens und Reflektierens der eigenen und der anderen Person beinhalten. Damit bilden sie ein Bündel an grundlegenden handlungsleitenden Mustern, mit denen ein Subjekt intersubjektive Bezüge gestaltet. Diese wurden hier im Rahmen der pflichtenethischen Betrachtung als metakognitive Pflichten im Empathieprozess bereits gekennzeichnet. Der vierte Bereich markiert mit der Offensivität einen intersubjektiven Handlungsmodus, der hier aber nicht von unmittelbarer Bedeutung für ein empathisches Geschehen ist und insofern für die ethische Betrachtung zurückgestellt werden kann. Das Modell in seiner Gesamtheit wird in der folgenden Grafik dargestellt: Soziale Orientierung

Selbststeuerung

Prosozialität Wertepluralismus Perspektivenübernahme Kompromissbereitschaft Zuhören

Selbstkontrolle Emotionale Stabilität Handlungsflexibilität Internalität

Reflexivität

Offensivität

Selbstdarstellung Direkte und indirekte Selbstaufmerksamkeit Personenwahrnehmung

Extraversion Konfliktbereitschaft Durchsetzungsfähigkeit Entscheidungsfreudigkeit

Abb. 9: Dimensionen sozialer Kompetenz; vgl. Kanning, Diagnostik, 21.

Ein weiterer Kompetenzbereich, der mit Sozialer Kompetenz eng verwandt ist, der der sogenannten Emotionalen Intelligenz. In den 1990er Jahren wurde von den US-amerikanischen Psychologen John D. Mayer und Peter Salovey auf Basis der Theorie Howard Gardners über die multiplen menschlichen Intelligenzen eine Theorie vorgelegt und in den Folgejahren weiter entwickelt, welche Fähigkeiten der Wahrnehmung, der kognitiven Nutzung, des Verstehens und des Umgangs mit eigenen und fremden Emotionen theoretisch erfasst und empirisch erhebt.56 Die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Emotionen beinhaltet das Erkennen eigener und fremder Emotionen, den Ausdruck von Emotionen und dahinterliegender Bedürfnisse sowie die Unterscheidung von wahren und falschen Gefühlen. Unter der kognitiven Nutzung wird die Fähigkeit verstanden, Denken 56  Vgl. dazu die Operationalisierung durch den MSCEIT (Mayer-Salovey-Caruso Emotional Intelligence Test), dargestellt in Mayer, John D./Salovey, Peter/Caruso, David R.: The Positive Psychology of Emotional Intelligence, in: Snyder, C. R. et al. (Hgg.): Oxford Handbook of Positive Psychology, Oxford 2009, 237–248.

264

5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

aufgrund von Emotionen zu steuern, Emotionen hervorzubringen, welche die Urteilsbildung und Entscheidungsfindung begünstigen, Stimmungsschwankungen für die Wahrnehmung verschiedener Perspektiven sowie die Emotionen für Problemlösung und Kreativität zu nutzen. Das Verstehen von Emotionen meint Fähigkeiten des Verstehens von Zusammenhängen verschiedener Emotionen, der Wahrnehmung von Ursachen und Folgen von Emotionen, des Verstehens von komplexen, vermischten und widersprüchlichen Gefühlszuständen sowie Gefühlsübergängen. Schließlich umfasst der Umgang mit Emotionen die Fähigkeiten, für angenehme und unangenehme Gefühle offen zu sein, Emotionen zu beobachten und zu reflektieren, sich auf Emotionen einzulassen bzw. sich von ihnen zu distanzieren sowie eigene und fremde Emotionen zu regulieren. In dieser als emotionale Intelligenz bezeichneten Befähigung bündeln sich neben den physiologischen auch psychologische Befähigungskomponenten, die in Bezug auf das empathische Geschehen als Instrumentarium des inneren Handlings von Emotionen und Emotionalität verstanden werden können und damit die faktische Dispositionslage des Subjekts bilden, mit der es in intersubjektiven Bezügen handelt. So ist insgesamt sowohl für Soziale Kompetenz als auch für Emotionale Intelligenz nicht von tugendhaften Fertigkeiten zu sprechen, die einem Subjekt – einmal erlernt – als gleichsam gute Verhaltensform zur Verfügung stünden und gegenüber einer schlechten bloß gewählt werden müssten. Als tugendhaft können vielmehr jene grundlegenden Haltungen, Einstellungen, Kommunikationsformen, Handlungsmuster oder Instrumente gelten, die dem Potenzial nach einem jeden Subjekt gegeben sind, aber durch fortwährendes Erlernen und Einüben beeinflusst werden können und als lebenslange Prozesse der charakterlichen Bildung zu betrachten sind. Einzelne Handlungen und Verhaltensweisen sind dann situativ im Kontinuum einer so verstandenen Tugendhaftigkeit zu bewerten. 5.3.4  Globales Mitgefühl als Tugend der Empathie in Raumstrukturen Über welche Tugenden muss ein Mensch verfügen, damit er möglichst dauerhaft und ganzheitlich empathische Räume gestaltet? Unendlich und zugleich diffus oder sogar beliebig erscheinen die Möglichkeiten, auf diese Frage zu antworten. Vor allem stellt sich aber zunächst die vorgelagerte Frage, wonach man eigentlich sucht, wenn man nach solchen Tugenden fragt: Muss es eine bestimmte Form sozialen Engagements, von Hilfsbereitschaft sein, damit sich solche Strukturen ausbilden lassen? Muss ein bestimmter Lebensstil, ein Regelkanon von Verbrauch und Verzicht oder das Verschreiben eines Ideals sich durchsetzen, damit Subjekte in tugendhafter Weise aktiv für empathische Räume sorgen? Ließen sich konkrete Handlungsformen als tugendhaft, andere als schwach ausmachen bei der gemeinsamen Arbeit an diesen Strukturen? Oder geht es schließlich im Kern darum, alles Handeln und Verhalten möglichst altruistisch auszurichten

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

265

und das Maximum an Tugendhaftigkeit zu erreichen, indem jeder in dieser Weise sein Bestes tut? Ein zielführender Zugang zu Tugenden im Verhältnis von Subjekten in der Welt, wie es hier in Form von Räumen vorgestellt wurde, lässt sich nicht gewinnen, indem konkrete Handlungen als tugendhaft gekennzeichnet werden, die dann durch jeden Einzelnen in der Welt umgesetzt und so schlicht quantitativ ausgeweitet werden würden. Tugendethisch solche generalisierten Verhaltensformen oder Handlungen zu normieren, ist inhaltlich verkürzt und läuft Gefahr, in Worthülsen oder – im schlimmsten Fall – in Populismus aufzugehen. Ein zielführender Zugang lässt sich stattdessen finden, wenn auf ein bestimmtes Bereitwerden des Subjekts geblickt wird, das sich dann in situativ zu findenden Handlungen ausagiert. Dazu ist noch einmal auf die Ausführungen zur Tugend der Achtsamkeit zu blicken, aus der die hier zu bestimmende Tugend unmittelbar hervorgeht. Achtsamkeit wurde bestimmt als ein Gewahrsein für Bewusstseinsinhalte des gegenwärtigen Moments, in dessen Folge sich Bewusstheit für gegenwärtige innere Prozesse und ein sorgsamer Umgang mit dem Gegebenen einstellen kann. Dies wurde als Mitgefühl sich selbst und in der Folge auch anderen gegenüber bezeichnet. Für das Verhältnis vieler Subjekte in der Welt kann im Anschluss an jene Begriffsbestimmung Globales Mitgefühl57 als Tugend benannt werden. Analog zur bisherigen Verwendung des Begriffs Mitgefühl wird auch der Begriff des Globalen Mitgefühls von jedem naiven Konnotationsgehalt entbunden und als eine Bewusstheit des Gegenwärtigen bestimmt, die über den unmittelbar-persönlichen Erfahrungsbereich hinausgeht und sich auf globale Zusammenhänge in der Welt bezieht. Bewusstheit ist dabei nicht gleichbedeutend mit dem theoretischen Wissen über Zusammenhänge, sondern meint eine spürbar gewordene innere Klarheit des Bewusstseins, indem Subjekte über das eigene Selbst hinaus das Dasein in der Welt betrachten, zu diesem innerlich in Kontakt stehen und so ein Verhältnismaß zu ihrem eigenen Erleben gewinnen. Dieser geöffnete Blick der insofern globalen Perspektive lässt wiederum einen anderen Blick auf das Eigene zu und Zusammenhänge werden entsprechend bewertet.58 Im Forschungsdialog zwischen dem Emotionsforscher Paul Ekman und dem Dalai Lama wird präziser deutlich, welche Spielart diese globale Bewusstheit haben kann:59 (1) Die Bewusstheit von der Einheit der Menschheit meint eine verinnerlichte Erkenntnis, dass alle Menschen eine humane Einheit bilden, unabhängig davon, welche weiteren Zugehörigkeiten zu kulturellen, religiösen, nationalen oder ethnischen Gruppierungen existieren. Für die Bewältigung des menschlichen Daseins ist die Erkenntnis zentral, dass alle Menschen an dieser 57 Vgl.

Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 235 ff.  Vgl. Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 246. 59 Diese Ausführungen in vgl. Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 235–252. Die vorgenommene Klassifizierung stammt nicht von Ekman selbst, sondern stellt den Versuch dar, die paraphrasierten Aspekte von Bewusstheit im Dialog zu benennen. 58

266

5  Systematische Überlegungen zu einer (theologischen) Ethik der Empathie

Einheit teilhaben. Daraus geht (2) die Bewusstheit der globalen Interdependenzen hervor und beschreibt die Erkenntnis, dass die Menschheit gegenwärtig in einer globalisierten Welt lebt, die aus interdependenten Funktionsgefügen besteht und im Begriff ist, sich in eben dieser Weise weiterzuentwickeln. Mit der Erkenntnis der Tatsache, dass Prozesse in einem Bereich der Welt zwangsläufig mit Prozessen in einem anderen einhergehen, ist der Transfer dieser Interdependenzverhältnisse in das individuelle menschliche Selbstverständnis verbunden: Interdependenzen bestehen und wirken nicht nur in profitablen Zusammenhängen, sondern aufgrund dieser Vernetztheit der Welt betrifft alles in ihr Geschehende auch grundsätzlich alle Menschen bzw. birgt eine Verantwortung des Einzelnen in sich. (3) Die Bewusstheit für die Differenz von Person einerseits und Handeln/ Geschehen/Strukturen andererseits meint die Erkenntnis, dass Erfahrungen mit dem Handeln einer Person nicht gleichbedeutend sind mit der Person an sich. Eine gegenwärtige Begegnung mit einer Person oder Gruppe wird von vergangenen Erfahrungen entbunden, die mit destruktiven Emotionen und behindernder Ablehnung verknüpft sind. Ein besonderer Fall dieser Bewusstheit stellt etwa die Überwindung destruktiver Emotionen gegenüber der jeweils anderen Volksgruppe dar, die sich mit der eigenen in der Vergangenheit im Krieg befunden hat. Gegenwärtig leben beide Nationen in Frieden miteinander und müssen sich nun einer gegenwärtigen politischen Problematik gemeinsam widmen. Für die gegenwärtige Lage ist zielführend, diese vergangenen Entscheidungen und Konflikte, Situationen und Feindschaften loszulassen, entsprechende Emotionen und deren Gefühlslogik zu überwinden, die eine solche Bewusstheit einschränken oder gänzlich verhindern. (4) Die Bewusstheit realistischen Daseins meint das verinnerlichte Begreifen, dass das Dasein auf der Welt nicht ausschließlich Glück, Gesundheit, Lebendigkeit, Erfolg und Leichtigkeit bereithält, sondern in jedem Moment die jeweiligen Kontinua von Glück – Leid, Gesundheit – Krankheit, Lebendigkeit  – Tod, Erfolg  – Scheitern, Leichtigkeit  – Schwere. Diese gewiss trivial anmutende Erkenntnis über menschliches Dasein stellt eine besonders große Herausforderung an das Selbstverständnis dar, insofern das bloße theoretische Wissen um die allgemeine Gültigkeit dieser Tatsache auch in die tatsächlich verinnerlichten Annahmen über die eigene Person integriert werden muss. Zu diesen Annahmen gehört dann ganz grundsätzlich etwa, dass der persönliche Mangel an oder eine eigene Einschränkung in etwas nicht unzumutbare Bürden, sondern Gegebenheiten des normalen Lebens darstellen und die eigene Person betreffen können wie jeden anderen Menschen. Allein überhöhte Erwartungen sorgen für die Problematik dieser an sich evidenten Tatsache; eine veränderte Sichtweise darauf ist aber Angelegenheit eines jeden Einzelnen. Durch den geöffneten Blick dieser Bewusstheit, wie sie hier in verschiedenen Facetten dargestellt ist, erlangt ein Subjekt diejenige Ruhe des Geistes, die im Rahmen der Achtsamkeit bereits erläutert wurde, eine innere Befriedung gleichsam, in der sich geistige Konzepte verschieben und weiten: Öffnendes,

5.3  Empathie in tugendethischer Perspektive

267

erweitertes, globales Denken, ein „globales Gefühl“,60 zielführendes, langfristiges, konstruktives Denken, das sich am gegenwärtigen Moment orientiert, kann sich entwickeln. Destruktive Anteile von Emotionen wie empfundenes Unrecht, das aus der Vergangenheit wirksam ist, können abgebaut, engstirniges, verkürztes Denken kann überwunden, innere Kampfhaltungen können aufgegeben werden. Was hier beschrieben wird, ist eine besonders grundlegende und umfassende innere Entwicklung, bei der sich schrittweise Wahrnehmung und Bewertung, die Anschauung gegenwärtiger Erfahrung verändert, sodass das Subjekt im Sinne einer Wandlung in der inneren Ausrichtung ein anderes Verhältnis zu Prozessen in der Welt, zur Welt an sich gewinnt. Dieses Geschehen lässt sich nicht als einzelnes Ereignis, sondern als andauernden Bildungsprozess des menschlichen Innern begreifen, in dem sich eine Anschauung des Mitgefühls im vorangegangenen Sinne61 schrittweise herausbildet.  Ekman, Gefühl und Mitgefühl, 244. dieser Stelle wäre durchaus die Verwendung eines Begriffes denkbar, der in der Geschichte der Sozialethik einen festen Platz einnimmt: Solidarität. Tatsächlich haben beide Begriffe eine semantische Nähe. Bedeutungsgehalte von Solidarität als praktische Einsatzbereitschaft für gemeinsame oder fremde Ziele, als soziales Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb einer Gemeinschaft (vgl. Art. Solidarität in: Hist. WB d. Phil., 1004; 1009) oder als ein Wert im Zusammenleben können auch zum Begriff des globalen Mitgefühls in ein logisches Verhältnis gebracht werden. Hier wurde jedoch aus zwei Gründen von der Verwendung dieses Ausdrucks für den hiesigen Zweck Abstand genommen: 1. Solidarität ist selbst ein so weit verzweigtes Konzept, dass ein erheblicher Bedeutungsanteil für den hiesigen Zusammenhang unzutreffend ist, während ein durchaus treffender Bedeutungsanteil aber nicht die Ganzheit des so Bezeichneten deckt an für sich betrachtet doch unterreflektiert bleiben müsste. 2. Solidarität hat eine politische bzw. politisierte Konnotation. In verschiedenen Zeiten ist der Begriff für spezifische politische Kontexte entlehnt oder sogar für ideologisch motivierte Kämpfe vereinnahmt worden. Infolge dessen steht er im alltäglichen Sprachgebrauch vermeintlich paradigmatisch und diffus zugleich für sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Politik. Wenngleich eine ethische Grundlegung selbstverständlich ein weiteres Anwendungsfeld im Politischen hat, soll aber ein tendeziös-politischer Bedeutungsgehalt hier dezidiert ausgespart werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Care-Begriff, der in den letzten drei Jahrzehnten innerhalb der Ethiktheorie prominente Bedeutung angenommen hat und an dieser Stelle assoziiert werden könnte: 1. Zwar besteht zum Care-Begriff durchaus eine erhebliche semantische Nachbarschaft, wenn dieser verstanden wird als auf spontaner Wahrnehmung beruhende Zuwendung, intuitives Fürsorgeverhalten bzw. emotionale Kompetenz (vgl. Globig, Christine: Care als Konzept der theologischen Ethik, in: Waidelich, Waltraud/Baumgarten, Margit (Hgg.): Um-Care zum Leben. Ökonomische, theologische, ethische und ökologische Aspekte von Sorgearbeit, Hamburg 2018, 107–119, hier: 113 ff.) oder auch als Bezogenheit im Rahmen interrelationaler Dynamiken (vgl. Conradi, Elisabeth: Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt/M. 2018, 164 ff.). Grundanliegen im genuinen Diskurs der Care-Ethik ist jedoch die Arbeit an konkreten Praktiken der Fürsorge in Bereichen von Hilfe, Erziehung, Pflege und Versorgung und fordert politische und wirtschaftliche Bedingungen, die eine Gesellschaft der Fürsorge fördern, etwa eine wirtschaftliche Gleichberechtigung von Erwerbs‑ und Fürsorgetätigkeiten. 2. In diesem Diskurs sind Stimmen feministischer Ethik besonders stark und vielfach fester Bestandteil einer ethischen Betrachtung. Ohne deren besondere Perspektive und Bedeutung für den Care-Diskurs zu marginalisieren, so versteht sich aber die vorliegende Arbeit von dem spezifischen Fokus feministischer Theoriebildung als grundsätzlich unabhängig. 60

61 An

Schluss Ethik der Empathie. Eine Auswertung Das Ziel dieser Arbeit war, Empathie einer diskursiven Aufarbeitung zu unterziehen und auf dieser Basis eine normative Ethik der Empathie in ihren Grundzügen zu entfalten. Die besondere Herausforderung dieses Vorhabens lag zum einen darin, die Heterogenität und Komplexität des Empathiebegriffs einzuholen, um eine reliable Grundlage für eine ethische Betrachtung zu gewinnen. Während der Ausdruck Empathie erst spät in die wissenschaftliche Betrachtung Einzug gehalten hat, ist die Grunderfahrung, einen verstehenden Zugang zum Erleben des Anderen zu haben, schon bedeutend früher erforscht worden. Aus der neuzeitlichen Geistesgeschichte waren insofern unterschiedliche Theorien diachron zu reflektieren, die ein Phänomen untersuchen, welches aus heutiger Perspektive in das semantische Feld des Empathischen eingeordnet werden kann. Daraus ergab sich bereits eine besondere semantische und phänomenale Komplexität. Aber auch in synchroner Perspektive erweitert sich die Komplexität von Empathie, insofern sie in der gegenwärtigen Forschungslandschaft ein Gegenstand von interdisziplinärem Interesse ist. Insbesondere durch die Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen im 20. Jahrhundert ist Empathie zum Gegenstand empirischer, gesellschaftswissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Forschung avanciert, sodass zu den bisherigen Perspektiven noch eine disziplinäre und mithin notwendigerweise eine methodische Komplexität hinzukommt, die den Gesamtdiskurs zu Empathie nahezu entgrenzt. Zum anderen aber ergaben sich verschiedene Herausforderungen, die aus der interdisziplinären Reflexion hervorgingen und in ihrer konstitutiven Bedeutung für eine Ethik der Empathie produktiv aufzunehmen waren: 1. Empathie ist eine grundlegende kognitiv-affektive Kompetenz eines jeden gesund entwickelten Menschen. Ob und in welcher Weise Empathie aber in einer konkreten Situation entsteht, ist hoch individuell und von verschiedenen Faktoren abhängig. 2. Mit Empathie ist ein ambivalentes Potenzial verbunden, das sich positiv, aber auch in verschiedener Hinsicht negativ auswirken kann. Während Empathie einerseits zu Gesundheit, Wohlbefinden und Resilienz beiträgt und durch das Subjekt in verschiedener Weise gestaltbar ist, kann ihr Fehlen oder ihre Übersteigerung für das betroffene Subjekt fundamentale persönliche und soziale Konsequenzen haben. 3. Empathie ist als zweiseitige, spontane Interaktion verfasst und findet

270

Schluss

nicht ausschließlich im Innern des empathisierenden Subjekts statt. Damit ist Empathie nicht einfach als Gefühl oder als Eigenschaft kategorisierbar, sondern ist vielmehr ein Geschehen, dessen Gelingen verschiedene Anforderungen auf beiden Seiten mit sich bringt und nicht zuletzt der Spontaneität der Beteiligten und Dynamik der Situation unterliegt. Empathie nun normativ-ethisch zu entfalten, musste schließlich noch zwei formalen Aspekten Rechnung tragen: Das Subjekt findet sich zum einen in verschiedenen Verhältnissen vor,1 aus denen sich unterschiedliche normative Konsequenzen ergeben und die für eine ethische Grundlegung zu berücksichtigen waren. In der Tradition protestantischer Ethik hat sich seit Schleiermacher zum anderen eine Dreigliedrigkeit von Güter-, Pflichten‑ und Tugendethik bewährt, aus der ebenfalls je Konsequenzen für normatives Sprechen ergeben und in angemessener Weise aufgenommen werden mussten. Die Ergebnisse der hier entwickelten Ethik der Empathie sind in Abb. 10 aufgeführt. Aus der Gesamtkomplexität der oben formulierten Aufgabe wurde schließlich eine normative Matrix zum Phänomen der Empathie erstellt, die auf der einen Achse spezifische Güter, Pflichten und Tugenden jeweils für drei Verhältnisse auf der anderen Achse benennt, in denen das am empathischen Geschehen beteiligte Subjekt sich vorfindet. Es wurde dabei jeweils auch reflektiert, welche spezifischen Implikationen die formulierten Parameter für die empathisierende und die empathisierte Person haben. Anhand dieses Ergebnisses können mindestens drei Beobachtungen gemacht werden: (1) Empathie selbst lässt sich nicht allein in nur einer Dimension normativ beschreiben, insofern dies eine Verkürzung und inhaltliche Verzerrung mit sich bringen würde. Eine Ethik der Empathie muss stattdessen jene Vieldimensionalität konstruktiv aufnehmen, indem ein Abwägungsprozess zwischen aktual relevanten Komponenten erfolgt und als konstitutive Aufgabe besteht. Damit hängt aufs Engste zusammen, was Normativität in Bezug auf Empathie bedeutet: Normatives Sprechen von Empathie hängt dabei konstitutiv davon ab, 1 Eine klassisch theologische Bestimmung menschlicher Verhältnisse würde die drei Verhältnisse des Menschen 1. zu sich selbst, 2. zur Welt und 3. zu Gott in den Blick nehmen. Diese Verhältnisbestimmung ist hier nicht grundlegend aufgelöst, wohl aber einer bewussten Modifizierung unterzogen: Das Verhältnis des Menschen zur Welt meint klassisch auch das Verhältnis zum Anderen. Hier ist jedoch diese nicht-subjektive Dimension deutlich zu differenzieren, insofern zum einen das intersubjektive Verhältnis zum anderen Menschen eine sehr zentrale Weltbeziehung ist und hier für sich genommen untersucht wird und zum anderen entstehende Verhältnisse von Subjekten in der Welt als Weltverhältnis thematisch werden. Das Verhältnis zu Gott wird aus zwei Gründen nicht eigens thematisiert: 1. Das Verhältnis des Menschen zu Gott liegt auf einer eigenen, die beiden anderen Verhältnisse zu sich selbst und zur Welt begründenden Ebene und 2. ist hier eine allgemein begründbare und interdisziplinär anschlussfähige Ethik angestrebt, sodass das menschliche Verhältnis zu Gott nicht als theoretisch konstitutiv vorausgesetzt wird.

271

Ethik der Empathie. Eine Auswertung

Güter

Pflichten

Formal‑ bestimmungen

Im Verhältnis zu sich selbst

Im Verhältnis zum Anderen

Verhältnisse in der Welt

Güter erster Ordnung: Ziel­ bestimmungen

Stabiles Selbst­ verhältnis

Stabile ­Beziehungen

Empathische Räume

Güter zweiter Ordnung: positivierte, strukturelle gesellschaftliche Grundbedingun­ gen

Manifestierte Rechte auf ­Freiheit, ­Autonomie, Selbst­ bestimmung

Gleichheits­ rechte aller Menschen

Staatl. Be­ dingungen: positivierte Rechtsstaatlich­ keit, Demokratie, Menschenrechte

Prima facie, vollkommen

Bleibendes intentionales Bezogensein (Verantwortung)

  Gestaltung

Selbstfürsorge, Selbstbegren­ zung

Aus der Ver­ antwortung resultierende Aufgaben, ­unvollkommen   Reflexion

Menschenbild: Einheit von Sozialität und Individualität als conditio humana

Einräumen und Befördern institutioneller Strukturen einer empathischen Kultur

Selbstreflexion und Prozessreflexion Selbstbeob­ achtung ­Selbstbindung Motivation, Selbstbildung

Tugenden

Authentische und angemes­ sene Empathie, Explizite Kom­ munikation, Verständnis Sensibilisierung für empathisches Bedürfnis, Erfordernis und Angemessenheit von Empathie

Metatugend (Typ II)

Ethische Urteilskraft

Menschliche Qualitäten (Typ I)

Achtsamkeit und Soziale (Selbst‑)Mitgefühl ­Kompetenz und Emotionale Intelligenz

Evaluations‑ und Bildungs­ prozesse, ­Metakommuni­ kation

Globales ­Mitgefühl

Abb. 10: Ergebnis-Übersicht zu einer normativen Ethik der Empathie; K. K.

aus welcher personalen Perspektive des Geschehens geblickt wird, auf wen sich die formulierte Norm bezieht und welchen Verbindlichkeitsgrad eine normative Setzung haben soll. (2) Während auf den ersten Blick das Subjekt auf praktischer Ebene mit einer Flut normativer Forderungen konfrontiert zu sein scheint, wird

272

Schluss

bei näherem Hinsehen deutlich: Diese differenzierende normative Perspektive ermöglicht zunächst eine Distanz und entbindet das Subjekt dadurch von der Massivität und einer normativen Last, mit der es sich durch die bloße Forderung nach Empathie konfrontiert sähe. In jener Differenzierung wird stattdessen ein greifbares Verständnis von der eigenen Rolle als Mitmensch erst ermöglicht, in welcher sowohl der Andere als auch das Subjekt selbst gleichermaßen Berücksichtigung finden. (3) Diese normative Matrix lässt das Subjekt als freies, selbstwirksames und sich entwickelndes Wesen zu Wort kommen und ermöglicht ebenso ausdifferenzierte Handlungsspielräume, die der Individualität der Person und der Situativität des Moments entsprechen können. Nur vor dem Hintergrund eines solchen normativen Korridors kann Empathie von ethischer Supererogation einerseits und Defizienzvorwürfen andererseits entbunden werden, als Konkretion bewussten Lebens aber tatsächlich realisiert werden.

Ausblick Einer Ethik der Empathie, wie sie hier konzipiert wurde, kommen Funktionen auf zwei Ebenen zu: 1. Auf gesellschaftlicher Ebene hat eine Ethik der Empathie zum einen Orientierungsfunktion. Sie trägt zur Handlungsorientierung in unterschiedlichen Komplexitäten intersubjektiver Wirklichkeit bei. Diese Orientierung kann a) die Form unmittelbarer Anwendbarkeit annehmen, indem sich konkrete Handlungsoptionen ableiten lassen. Dies ist etwa in Bezug auf das Handeln des einzelnen Individuums relevant, insofern es seine Rolle als Mitmensch in orientierter Autonomie situativ gestalten kann. Eine Überführung empathischer Normen in Einzelhandlungen ist dabei unmittelbar und von weitläufigeren Strukturen unabhängig möglich. Durch Einübungsprozesse können solche konkreten Handlungsformen überdauernd im eigenen Verhalten verstetigt werden. Darüber hinaus kann sie b) eine orientierende Grundlage für das Verstehen, Entwickeln und Kultivieren eines von Empathie geprägten Umgangs in intersubjektiven Strukturen sein. Dabei sei etwa gedacht an die vielfältigen professionellen, institutionellen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Normen der Empathie orientieren dann etwa auf der Ebene kommunikativer oder administrativer Prozesse, in der Art des alltäglichen Miteinanders innerhalb solcher Strukturen, in Entscheidungsverfahren oder in Reflexionsprozessen. c) Selbst zur professionellen Bewältigung in verfahrenen Konfliktformationen kann Empathieethik einen orientierenden Beitrag leisten. Zu denken wäre hier etwa an zivile Konflikte oder politisch konfliktuöse Situationen. Der Bereich solcher Konflikte ist gewiss ein besonders heikles Anwendungsgebiet für Empathieethik. Während ihr konstruktiver Beitrag in individuellen Konflikten verhältnismäßig evident ist, weil hier Normen der Empathie verstehend, entschärfend und differenzierend auf verhärtete Strukturen einwirken können, ist

Ausblick

273

ihre Orientierungsleistung in komplexen politischen, religiösen oder ethnischen Konflikten keineswegs greifbar oder auch nur offensichtlich. Je weitläufiger die Strukturen einer Konfliktformation sind, je anspruchsvoller der einhergehende Versöhnungsprozess ist, desto vielschichtiger sind die weiteren Bedingungen und Einflüsse, die neben und gewiss vor Empathie eine Rolle spielen. Dennoch: Gerade in Zusammenhang mit anderen Formen der Bewältigung liegen auch hier Potenziale von Empathieethik, die aber in weiteren Erarbeitungen explizit zu erschließen sind. Zum anderen kommt Empathieethik eine Diskursivitätsfunktion zu. Ihre Leistung besteht mithin in der Förderung von Bewusstsein und Diskurs darüber, welche Rolle und welchen Stellenwert Empathie innerhalb der Gesellschaft einnehmen soll. Verstehen sich Menschen als mündige Bürger in Freiheit und Verantwortung, so gehört die bewusste Gestaltung individueller und sozialer Lebensvollzüge sowie der Wille zu Entwicklungs‑ und Kultivierungsprozessen unabdingbar dazu. Als Paradigma bewussten Lebens ist Empathie unverzichtbarer Teil individueller Selbstverständigungsprozesse. Wie also ein jeder Mensch sich selbst versteht, wie er auf den Gang seines Lebens einwirkt und sich selbst ausdeutet, so bildet er auf der Ebene seiner Handlung eine spezifische Kultur seines Lebens heraus. In ihr artikulieren sich Normen und Wertvorstellungen, mitunter auch konkrete handlungsethische Imperative. Eine Ethik der Empathie nimmt diese Lebensführung hinsichtlich sozialer Beziehungen und Interaktionen in den Blick. Für jene bewusste Selbstverständigung stellt sich die Grundfrage Wie soll ich leben? dann in der Form Wie möchte ich leben, interagieren, anderen Menschen begegnen? Damit reflektiert eine Ethik der Empathie menschliche Würde auf der Ebene persönlicher Lebens‑ und Beziehungsgestaltung. Sowohl für menschliche Nahbeziehungen, für institutionelle Strukturen und globale Zusammenhänge als auch für den interreligiösen Dialog ist dies von fundamentaler Bedeutung. 2. Auf wissenschaftlicher Ebene bietet diese ethische Grundlegung verschiedene Anschlussmöglichkeiten weiterer theologischer und außertheologischer Forschung. Materialdogmatisch wäre es notwendig, Empathie im Horizont des Gesamtkomplexes der christlichen Heilsgeschichte zu reflektieren und so einen vertiefenden Blick auf Empathie freizulegen. Dabei ließe sich etwa betrachten, wie sich die menschliche Befähigung zur Empathie zu den theologisch-anthropologischen Grundbegriffen von Gottebenbildlichkeit, Sündhaftigkeit und Erlösung verhält. In Anschluss daran wäre lohnend, Empathie als Beziehungsqualität und Entwicklungsmöglichkeit unter den Gesichtspunkten der Topoi von Wandlung, Geist und Gnade zu reflektieren. Zu überlegen wäre dann allerdings auch, wie dogmatisch mit dem Gerichtsbegriff umzugehen ist. Schließlich ließe sich daran auch ausloten, inwiefern Empathie mit dem Begriff evangelischer Freiheit rekonstruierbar ist und welche Konsequenzen dies für das Verständnis etwa des Doppelgebots der Liebe hat. Über die materialdogmatische Kontextualisierung hinaus kann eine Ethik der Empathie aber auch im Kontext verschiedener anderer materialethischer Themen

274

Schluss

Anwendung finden. Ist in vielen vor allem sozialethischen Themenfeldern doch implizit ein Konzept von Empathie oder ein bestimmtes Verständnis sozialer Normen enthalten, die mittelbar oder unmittelbar mit Empathie zusammenhängen, aber bisher nicht explizit erarbeitet wurden. Bei der Benennung einiger exemplarischer Themenbereiche werden jeweils auch Schwierigkeiten deutlich, durch welche die Notwendigkeit einer eingehenderen Verhältnisbestimmung umso deutlicher zutage tritt: Ein Bereich, in dem Empathie eine bedeutsame Rolle einnehmen könnte, ist der weite Bereich der Friedens-, Konflikt‑ und Versöhnungsforschung. Insbesondere in strukturellen oder globalen Konflikten besteht eine besondere Schwierigkeit darin, Empathie überhaupt mit wirtschaftlichen, territorialen oder machtpolitischen Interessen in ein Verhältnis zu bringen. Doch wäre interessant zu untersuchen, wie gerade angesichts dieser Interessenlage erstens Empathie(ethik) und das Verstehen der Konfliktgenese zusammenhängen und welche Rolle zweitens Empathie(ethik) als Bedingung von Verzeihung und Versöhnung oder auch bei Anerkennung und Ausdruck von Vergebungsbitten und Versöhnungszeichen spielen kann. Dabei wäre auch von Bedeutung, welcher Zusammenhang von Empathie, Versöhnung und Resilienz von Individuen ausgemacht werden kann. Ein weiteres Forschungsfeld einer Ethik der Empathie ist der Bereich der Wirtschaftsethik. Insbesondere angesichts der Schwierigkeit, Empathie und Wirtschaft überhaupt zusammenzudenken, wären etwa Bereiche zu sondieren, in denen sich ein begriffliches und praktisches Verhältnis trotzdem ausloten ließe. Unternehmensführung und die Gestaltung von Unternehmenskultur, aber auch Grenzbereiche wie etwa wirtschaftliche Entscheidungsfindung und Ressourcenakkumulation rufen mit besonderem Bedarf dazu auf, Empathieethik in wirtschaftliche Kontexte zu tragen. Ein für die meisten materialethischen Bereiche bedeutsamer ethischer Grundbegriff, der in seinem Verhältnis zu Empathie zu bestimmen notwendig wäre, ist Gerechtigkeit. Hier scheint – anders als im Falle der Wirtschaftsethik – der positive Zusammenhang zunächst evident. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass ausgerechnet Gerechtigkeit oftmals mit einer Ethik der Empathie in einen Wertekonflikt gerät. Dabei ist vor allem nicht eindeutig, ob Handeln nach den Gesichtspunkten der Empathieethik auch gerechteres Handeln hervorbringt oder gerade dazu führt, in bestimmter Weise ungerecht zu handeln. Diese kleine Auswahl empathieethischer Anschlussstellen ist freilich in alle fachlichen und thematischen Richtungen zu erweitern und soll hier lediglich exemplarisch Forschungsperspektiven aufzeigen. Empathie, so lässt sich abschließend sagen, ist ein Menschheitsthema, das in nahezu allem sozialen Beziehungserleben eine Rolle einnimmt: Als anthropologischer Grundzug prägt sie die Personalität, als Beziehungsqualität die Sozialität des Menschen  – freilich in unterschiedlicher Form, Funktion und vor allem

Ausblick

275

Evidenz. Ihrer fundamentalen sozialen Bedeutung eignet jedoch eine moralische Bedeutung, die trotz vermeintlicher Selbstverständlichkeit eines ihr adäquaten Ranges in konkreten sozialen Begegnungen aller Kontexte häufig entbehrt. Ihr sittliches Potenzial differenziert herauszustellen und einen wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Diskurs über eine manifeste Rolle im menschlichen Miteinander anzuregen und zu befördern, war das Ziel dieser Arbeit.

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Personenregister Abels, Heinz ​139–142, 277 Andree, Georg Johannes ​40–44, 277 Antonovsky, Aaron ​87, 99, 277 Anz, Heinrich ​50–53, 277 Aristoteles ​226, 252, 277 Assmann, Aleida ​138, 277 Austin, Elizabeth J. ​261, 277 Baker, Mark D. ​19, 280 Baldus, Manfred ​179–181, 277 Barth, Ulrich ​235, 277 Bauer, Joachim ​135, 277 Bauer, Walter ​18, 277 Beilby, James K. ​19, 277 Benigni, Roberto ​223, 277 Berend, Benjamin ​88, 278 Berry, Jack W. ​283 Bethge, Hannah ​190 f., 277 Beutel, Albrecht ​27 f., 277 Bieri, Peter ​195–199, 202–211, 217, 243, 277 Bischof-Köhler, Doris ​74–81, 84 f., 92, 102 f., 120, 278 Blair, James ​108–110, 278 Blanke, Elisabeth S. ​75, 278 Bornemann, Boris ​129–131, 278 Bourdieu, Pierre ​138, 141–143, 152, 213, 278 Bovon, François ​16, 24–26, 278 Brandtstädter, Jochen ​91 f., 96, 278 Breithaupt, Fritz ​103 f., 278 Breyer, Thiemo ​3, 148–157, 159 f., 162, 278 Broadie, Alexander ​40 f., 278 Brohm-Badry, Michaela ​88, 278 Brunner, Otto ​27, 281 Büchel, Christian ​118, 278

Caruso, David R. ​263, 282 Conradi, Elisabeth ​267, 282 Conze, Werner ​27, 281 Dabrock, Peter ​7 f., 278 Dalai Lama ​130, 258, 265, 279 Damiano, Luisa ​138, 279 Davidson, Richard ​127, 278 Davis, Mary C. ​89, 278 Day, Jeanne D. ​261, 281 Decety, Jean ​121–123, 278 Demetriou, Helen ​95, 278 Dilthey, Wilhelm ​44, 48–55, 66, 279 Drewermann, Eugen ​17, 279 Dumouchel, Paul ​138, 279 Dux, Günter ​227, 279 Dziobek, Isabel ​106–108, 279 Eddy, Paul R. ​19, 277 Ehlert, Ulrike ​99, 277 Ekman, Paul ​130, 258 f., 265, 267, 279 Elsner, Birgit ​79, 81, 279 Engert, Veronika ​132 f., 285 Feil, Michael ​227, 279 Feldmeier, Reinhard ​15, 17–20, 22 f., 25, 279 Fleck, Stefan ​106, 279 Freud, Siegmund ​69 Freudenthaler, H. Harald ​261, 282 Frevert, Ute ​118 f., 279 Fröhlich-Gildhoff, Klaus ​87, 284 Garrett, Aaron ​36 f., 279 Gehlen, Arnold ​29 Gillberg, Christopher ​105, 279 Globig, Christine ​267, 280 Gobodo-Madikizela, Pumla ​223, 280 Green, Joel B. ​19, 280

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Personenregister

Grondin, Jean ​44 f., 47, 51, 280 Grotberg, Edith H. ​95, 280 Grynberg, Delphine ​95, 281 Hackermeier, Margaretha ​3, 280 Hadnagy, Christopher ​138, 280 Hampe, Michael ​29, 280 Härle, Wilfried ​179, 185–187, 199 f., 202 f., 205, 209 f., 280 Haspel, Michael ​179, 280 Haun, Daniel ​79 f., 83, 85, 280 Heesch, Matthias ​226, 280 Hein, Grit ​120, 128, 280, 285 Heise, Irene ​55 f., 58, 171, 280 Henrich, Dieter ​172, 280 Herder, Johann Gottfried ​47 Hickok, Gregory ​135, 280 Hobson, Peter ​106, 108, 280 Hume, David ​36–43, 61, 65, 280 Hurrelmann, Klaus ​87, 280 Husserl, Edmund ​55, 154 Joisten, Karen ​45–48, 280 Jung, Matthias ​49, 280 Kabat-Zinn, Jon ​130, 257 f., 260, 280 Kang, Sun-Mee ​261, 281 Kanning, Uwe Peter ​261–263, 281 Kanske, Philipp ​120, 283 Kant, Immanuel ​27, 53, 233 f., 253 f., 256, 281 Kaplan, Mark ​223, 280 Karnath, Hans-Otto ​118, 278 Kemp Smith, Norman ​37–40, 281 Keysers, Christian ​105 f., 108, 281 Klein, Rebekka A. ​3, 281 Klimecki, Olga M. ​125, 128 f., 281 Koffler, Joachim ​64 f., 281 Konrath, Sara ​93, 100, 103, 114, 281 Köpf, Ulrich ​27, 281 Körtner, Ulrich H. J. ​179, 281 Koselleck, Reinhart ​27, 281 Köster, Helmut ​281 Kreß, Hartmut ​179, 281 Krollner, Björn ​108, 115, 281 Krollner, Dirk M. ​108, 115, 281 Krötke, Wolf ​20, 281 Kulenkampff, Jens ​253 f., 281

Lamm, Claus ​120–122, 285 Landmesser, Christof ​16 f., 281 Landweer, Hilge ​36–40, 281 Leonhardt, Rochus ​179, 281 Lessing, Hans-Ulrich ​48, 50–53, 281 Lévinas, Emmanuel ​5 f., 282 Lewis, Thomas ​283 Light, Sharee ​75 f., 78, 282 Lipps, Theodor ​69, 76 Löhr, Hermut ​22, 282 Löw, Martina ​158, 212–215, 281 Löwith, Karl ​3, 282 Luhmann, Niklas ​138, 140–142, 189, 282 Luz, Ulrich ​23, 282 Maas, Wilhelm ​18 f., 282 Mahr, Bernd ​112, 282 Margalit, Avishai ​190  f. Marsh, Abigail A. ​127, 282 Matanova, Vanya L. ​106 f., 282 Mayer, John D. ​263, 282 Mead, George Herbert ​32, 138–140, 142, 152, 282 Meara, Naomi M. ​261, 281 Meinhardt, Jörg ​285 Merten, Jörg ​256, 282 Meyer-Lindenberg, Andreas ​113 f., 282 Michalska, Kalina J. ​121, 278 Michel, Caroline ​101, 284 Moxter, Michael ​226 f., 282 Müller, Wolfgang Erich ​179, 281 Nassehi, Armin ​138–141, 282 Neff, Kristin ​130, 258 f., 282 Neubauer, Aljoscha C. ​261, 282 Neumann, Roland ​256, 282 Newen, Albert ​117, 283 Nezlek, John B. ​101, 283 Nida-Rümelin, Julian ​189 Nietzsche, Friedrich ​64 O’Connor, Lynn E. ​115 f., 283 Ochsner, Kevin ​120, 124, 286 Pannenberg, Wolfhart ​8, 14, 30–33, 283 Pauen, Sabina ​78, 81, 279 Pedwell, Carolyn ​138, 283 Pelluchon, Corine ​6, 283

Personenregister

Perst, Hannah ​285 Petermann, Franz ​104, 283 Pfafferott, Gerhard ​252–254, 283 Pieper, Annemarie ​255, 283 Pinnock, Clark H. ​18 f., 283 Plessner, Helmuth ​29, 155, 283 Pollmann, Arnd ​191–195, 199 f., 206, 209, 283 Preckel, Katrin ​120, 123 f., 283 Puca, Rosa Maria ​256, 283 Raglan, Greta B. ​99, 283 Rakoczy, Hannes ​79, 280 Rapp, Christof ​252, 283 Raschke, René ​56, 283 Rauers, Antje ​75, 278 Rawls, John ​219, 283 Rendtorff, Trutz ​179, 283 Ricard, Matthieu ​128, 281 Riediger, Michaela ​75, 278 Rieß, Wolfgang ​58 f., 284 Rizzolatti, Giacomo ​134–137, 284 Rodenberg, Hans-Peter ​138, 284 Rohls, Jan ​44–46, 284 Rönnau-Böse, Maike ​87, 89–91, 93–96, 284 Rosa, Hartmut ​139–148, 150, 162, 164, 166, 284 Rosenberg, Marshall B. ​130, 220, 284 Rost, Detlef H. ​261, 284 Roughley, Neil ​172, 284 Rühl, Ulli F. H. ​40, 42 f., 284 Rütsche, Johannes ​50, 284 Saklofske, Donald H. ​261, 277 Salovey, Peter ​263, 282 Samson, Dana ​101, 110, 284 Sayre-McCord, Geoffrey ​38 f., 41–43, 284 Scheler, Max ​29, 57, 61–66, 154, 284 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst ​ 44–48, 66, 225–228, 234 f., 270, 284 Schloßberger, Matthias ​49, 53–55, 61–63, 65, 284 Schmitt, Hanspeter ​171, 284 Schmoller, Alfred ​18, 285 Schneider, Robert J. ​262, 285 Schnelle, Udo ​20 f., 285 Scholtz, Gunter ​47, 285

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Schopenhauer, Arthur ​64 Schrage, Wolfgang ​22, 25 f., 285 Schramme, Thomas ​172, 284 Schulkin, Jay ​99, 283 Seligman, Martin E. P. ​88, 285 Shamay-Tsoory, Simone G. ​110–113, 285 Singer, Tania ​118–120, 123, 125, 127–134, 136 f., 165, 259, 278 f., 281, 283, 285 Sinigaglia, Corrado ​135, 284 Slote, Michael A. ​171, 285 Smith, Adam ​36, 40–44, 61, 65, 285 Sodian, Beate ​77, 79, 81–83, 285 Sparn, Walter ​28, 285 Spieckermann, Hermann ​15, 17–20, 22 f., 25, 279 Stein, Edith ​55–60, 64, 66 f., 154, 171, 285 Stock, Konrad ​179, 285 Stoecker, Ralf ​189–198, 193, 200, 206, 209, 285 Stoyanov, Drozdstoy St. ​106, 282 Strachey, James ​69 Taylor, Jacqueline ​38–40, 285 Thier, Peter ​118, 278 Thorndike, Edward Lee ​261 f., 286 Tiedemann, Paul ​181, 286 Titchener, Edward Bradford ​69 Trinkler, Iris ​113, 286 Vitz, Rico ​37, 39 f., 286 Vogeley, Kai ​117, 283 Von Harbou, Frederik ​35, 69, 171, 286 Wagner, Helmut J. ​138, 286 Walter, Nikolaus ​186 Weber, Max ​137 f., 286 Weber-Guskar, Eva ​193–195, 199, 205 f., 209, 286 Wetz, Franz Josef ​187–189, 192, 209, 286 White, Stuart F. ​108, 278 Wildt, Andreas ​286 Wolter, Michael ​22, 286 Yu, Xin ​57, 286 Zagzebski, Linda Trinkaus ​250, 286 Zahn-Waxler, Carolyn ​75, 282 Zaki, Jamil ​120, 124, 286

Sachregister Achtsamkeit ​237, 251, 257–260, 265 f. Affekt – als Anteil von Empathie ​75 f., 105–109, 111–115, 120 f., 124, 143 150–152 – als spezifischer Gefühlsimpuls ​17 f., 26, 36, 40–43 Allostase ​98 f., 101, 163 Allostatische Last ​99 Allozentrismus ​153, 156 Alterität ​63, 65., 154, 160, 162, 177, 202 f., 205, 209 f., 216, 218 Altruismus ​2, 40, 91, 97, 100, 264 Ambiguität ​6–8, 66, 141, 238, 241 Anderer, siehe Alterität Anerkennung, soziale ​17, 54, 65, 95, 185, 192, 195, 197, 202 f., 206, 209 f., 229 f. Angemessenheit ​65 f., 221, 233, 239–242 Anthropologie ​29–31, 35 – Philosophische ~ ​29, 35, 61, 155 – protestantische ~ ​187 – Theologische ~ ​8, 20, 26, 29 f., 32–34 Assoziationstheorie ​76 Asymmetrie ​125, 176, 210 Ausdrucksverstehen ​151, 153, 160, 162 Authentizität ​207 f., 239 f. Autismus ​105–108, 116 Barmherzigkeit ​8, 13, 18 f., 22, 26, 33 Bewusstes Leben ​6, 172, 272 f., 200, 227 Bewusstsein ​37, 44, 49, 51, 54, 56, 58 f., 118 f., 154, 202 – für etwas Spezifisches ​65, 156, 164, 178, 197, 211, 213 f., 218, 220, 229, 234 f., 239, 258, 273 f. – Selbst-/Ichbewusstsein ​32, 139  f., 162, 172 Beziehung ​32, 61, 91 f. 186 – ~sgestaltung ​2, 91, 197, 273

– ~smodus ​2, 7, 143 f., 147 f. – ~squalität ​59, 97 f., 145, 147 f., 207–210, 216, 229 f., 236, 273 – Gott-Mensch-Beziehung ​15, 19 f., 32 f. – Weltbeziehung ​143, 145, 147 f. Bildgebende Verfahren ​118 f., 135 Care ​70, 171, 267 Compassion fatigue ​99, 116 Dignität ​60, 64, 67 Eigenleiblichkeit ​154 Einfühlung ​3, 9, 35, 55–60, 66 f., 69, 71, 202, 256, 259 – ~shermeneutik ​48, 53 – Vergegenwärtigung, einfühlende ​57, 60, 62 Einsfühlung ​35, 61–65, 155, 256, 259 Emotion, soziale ​2, 72, 85, 119 Emotional contagion, siehe Gefühls­ ansteckung Empathic concern ​119, 125–129, 134, 165 Empathic distress ​100, 125–128, 134, 136, 165 Empathie – als Gegenstand ethischer Reflexion ​ 171–223 – als Gegenstand von Theologie ​13–34 – als Gut ​226–232 – als hermeneutisches Prinzip ​44–55 – als neurologisches Geschehen ​117–137 – als Pflicht ​232–247 – als Phänomen ​55–67, 148–160, 175–178 – als psychisches Geschehen ​72–117 – als Recht ​247–250 – als soziale Kategorie ​36–44, 127–148 – als Tugend ​250–267

Sachregister

Erbarmen ​18  f., 24, siehe auch Barm­ herzigkeit Ethik – protestantische ~ ​10 – theologische ~ ​6–9 – Güter~ ​10, 225–232, 234 f., 250 – Pflichten~ ​232  f., 250 – Tugend~ ​10, 156, 250–252, 257, 270 Exzentrizität ​26, 32  f. Gefühlsansteckung ​61, 64, 71, 76, 119, 126, 154 f., 164, 166 Gut ​166, 190, 212 f., 225–232 Handeln, soziales ​137, 141 f. Hermeneutik ​6, 10, 181, 187, 199 – als Wissenschaftsdisziplin ​35, 44, 46, 48, 66 Ich-Andere-Unterscheidung ​80 f., 84, 123, 125 f., 177 Identität ​139–142 Induktionstheorie ​77 Integrität ​74, 195, 230, 198, 210 f. Intelligenz, emotionale ​251, 260, 264 Intentionalität ​80, 155 f., 160, 162 Interaffektivität ​154, 160, 162 Interaktionismus, Symbolischer ​138  f. Intersubjektivität ​1, 11, 65, 78, 84, 147, 149, 172 f., 175 f., 230 – verkörperte ~ ​148, 159 Joint attention ​77, 107 Kognition ​71, 94, 98, 106 – soziale ~ ​2, 72–74, 78 f., 83, 85 f., 90, 106 f., 110 Kommunikation ​38, 60, 85, 109, 140 f., 207, 222 – als Kompetenz ​96, 98 – als Modus ​2, 150, 220, 262 – als Norm ​233, 241, 243, 246 f., 249, 264 – gewaltfreie ~ ​130, 220 Kompetenz, soziale ​94 f., 98, 246, 260–262, 264 Kompräsenz ​149, 159 Konoriginarität ​56 f., 59, 66

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Lebensführung ​6, 97, 130, 172, 176, 223, 227 Leiblichkeit ​29, 149, 159 Menschenwürde ​179–195, 209 f., 228, siehe auch Dignität Mentalisieren ​140 Mindful leadership ​246 Mitfreude ​63, 85 Mitgefühl​ – als konstruktive Ressource ​119, 125–130, 134, 165 f. – als Phänomen ​3, 17, 35, 54, 61–67, 71, 256 – globales ~ ​251, 264 f., 267 – Selbst-~ ​251, 257–260 Mitleid ​17–20, 25 f., 33, 63 f., 105, 179, 256 Moral Sense ​35  f. Moral ​21, 66, 171, 198, 200 Nachahmungstheorie ​76 Nachfühlen ​9, 35, 54, 61–64, 67, 155, 160 Nächstenliebe ​6, 22–25 Neuroethik ​73 Neurowissenschaft, (soziale) ​71–74, 117 Nichtoriginarität ​56  f., 66 Normativität ​7 f., 157, 159, 164 f., 242, 270 – Korridor, normativer ​8, 272 – theologische Ethik, normative ​5–8, 70, 88, 143, 157, 159, 161 f., 164–166, 172 f., 180 f., 219, 225 f., 271–273 Originarität ​56  f., 66 Partikularität ​7 Perspektivübernahme ​91, 101, 108, 121, 130, 140, 152, 155, 160 Pflicht ​173, 225 f., 233–242, 248 f. Phänomenologie ​35, 55, 61, 154 f. Philosophie ​29 f., 35, 173 Präsenz ​15, 27, 130 f., 149, 157, 159 Praxistheorie ​141 Prosozialität ​39, 84–86, 91–93, 97, 103 f., 116, 126–128 Psychologie – Entwicklungs~ ​74  f., 151 – klinische ~ ​104, 116

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Sachregister

– Positive ~ ​86, 97 Psychopathie ​108–110, 116 Raum ​158–160, 211–218, 231 f., 242, 245–247, 264 f. Recht ​189, 191, 196, 200, 230, 247–249 Resilienz ​88–94, 96–98, 128, 162 Resonanz ​75 f., 78, 121, 127 f., 135–137, 143–148, 150, 153 f., 159 f., 164, 166 Responsivität ​95, 109, 115, 144 f., 148, 159 Rollenübernahme ​2, 139 Salutogenese ​86  f. Selbstbegrenzung ​236–238, 249 Selbstbildung ​238  f. Selbstbindung ​238  f. Selbstfürsorge ​115, 197, 236–238, 240, 249 Selbst-Mitgefühl ​251, 257–260 Social referencing ​77 Solidarität ​55, 66, 91, 97, 159, 248, 267 Sozialität ​2, 64, 70, 88, 138–140, 163, 202, 232 Soziologie ​71, 137 f., 143 f., 147, 158, 212 Spiegelneuronen ​77, 108 f., 134–137 State empathy ​101, 104 Subjektverhältnis ​10, 200, 228, 235, 249, 255, 257 Symmetrie ​176, 197, 204, 210, 216, 229 f. Sympathie/sympathy ​3, 9, 35–44, 61–67, 71, 119, 147, 176 Systemtheorie ​140  f. Theorie, nicht-ideale ​10, 201, 219–223, 237, 252

Theory of Mind (ToM) ​76, 79, 85, 107, 120 f., 133, 140–142, 162 Trait empathy ​3, 101, 163 Transpartikularität ​7 Transposition/Transponierung ​44, 48, 51–53 Transzendentalität ​153  f., 160 Tugend ​173, 226, 234, 250–254, 257, 259 f., 264 f. Urteilskraft – ethische ~ ​251–254 – praktische ~ ​255 Überlegungsgleichgewicht ​7 Verantwortung ​7, 115, 164 f., 183, 187, 189, 197, 235 f., 239, 242, 245 f., 249, 255, 266, 273 Vergegenwärtigung, einfühlende ​57, 60, 62 Verstehen – als hermeneutischer Grundbegriff ​ 44–55 – als empathischer Anteil ​1–3, 35, 59 f., 62, 65 f., 77–80, 83, 121, 150–153, 156–160, 256, 263 f. Wahrnehmung ​24 f., 33, 60–62, 74, 94 f., 98, 155, 159, 186 f., 202–211, 221, 234, 238 Wohlbefinden ​74, 87 f., 91, 97 f., 128 f., 134, 162, 244, 257, 260, 269 Zustände – intentionale ~ ​79 f., 83, 121, 153 – mentale ~ ​1 f., 79, 83, 85, 121, 153 Zwischenleiblichkeit ​149, 154, 159 f.