Zur Sprache bringen statt herrschen: Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik. Hrsg. von Stefan Volkmar Heitzmann [1 ed.] 9783428540419, 9783428140411

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Zur Sprache bringen statt herrschen: Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik. Hrsg. von Stefan Volkmar Heitzmann [1 ed.]
 9783428540419, 9783428140411

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 191

Zur Sprache bringen statt herrschen Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik

Von Robert H. Schmidt Herausgegeben von Stefan Volkmar Heitzmann

Duncker & Humblot · Berlin

ROBERT H. SCHMIDT

Zur Sprache bringen statt herrschen

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 191

Zur Sprache bringen statt herrschen Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik

Von Robert H. Schmidt

Herausgegeben von Stefan Volkmar Heitzmann

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-14041-1 (Print) ISBN 978-3-428-54041-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84041-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort des Herausgebers Der Verfasser dieser Untersuchung war Prof. Dr. phil. Dr. rer. pol. Robert Heinrich Schmidt, ehemals Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Hochschule (nun: Technischen Universität) Darmstadt, geboren am 13. Mai 1924, gestorben am 19. September 2004. Er hatte sie noch kurz vor seinem Tod unter dem von ihm gewählten Titel zur Druckreife gebracht, um sie durch den Verlag Duncker & Humblot veröffentlichen zu lassen, bei dem bereits seine Habilitationsschrift („Saarpolitik 1945–1957“, 3 Bände, 1959 bis 1962) erschienen war. Über seine Studie hatte Robert H. Schmidt selbst im August 2004 geschrieben: „Seit 1954 habe ich wissenschaftliche Untersuchungen veröffentlicht. … Das Manuskript meines sozusagen wissenschaftlichen Lebenswerks habe ich einschließlich Korrekturen und Literaturverzeichnis dieser Tage zum Abschluß gebracht. … Es liegt mir sehr daran, daß die Sache publiziert wird. Während es zwar seit rund zweieinhalbtausend Jahren viele hundert mehr oder weniger gewichtige Theorien über Politik gibt, von Sokrates/Plato die ganze Philosophiegeschichte hindurch, bis Hegel, Marx und Habermas, habe ich den Versuch gemacht, empirisch, kombiniert auf drei Wegen (mittels früher historischer Darstellungen, mittels Vor- und Frühgeschichte und aus dem indogermanischen einschlägigen Sprachmaterial) zu einer Grundlegung des Politischen aus sich heraus zu kommen, unabhängig von jeder Theorie. Der Versuch war extrem arbeitsaufwendig während mehrerer Jahrzehnte, aber sehr erfolgreich. Ergebnis ist eine – wie sich zeigte – Grundlegung der an ihrer Basis miteinander verbundenen Politik  u n d  Publizistik. Dazu bringe ich (am Beispiel der historischen Entwicklung von den fränkischen Stämmen des 1. Jh. n. Chr. über das merowingische Frankenreich, das karolingische FrankenLangobarden-Reich, das mittelalterliche Sacrum Imperium bis zu dessen neuzeitlichen staatlichen Nachfolgegebilden in Italien, Deutschland und Frankreich), wie mit dem Verlust der spezifisch politischen Merkmale der Gemeinwesen Freie zu Untertanen werden. Die aus der Natur der Sache umfangreiche Untersuchung hat etwa 840 Seiten Manuskript (einschließlich Literaturverzeichnis), davon etwa 150 Seiten, auf denen es um das einschlägige alte Sprachmaterial geht, die jeweils nur sehr aufwendig ‚gesetzt‘ bzw. in den Computer ‚eingegeben‘ werden können.“ Dazu hatte Robert H. Schmidt selbst noch ein Personen- und ein Sachregister angelegt. Der Hrsg. überarbeitete die beiden Register (das heißt v. a.: bezog sie auf die neuen Seitenzahlen) und das Literaturverzeichnis und erweiterte sie dabei geringfügig. Außerdem prüfte er fast alle Zitate. Wenn der Verfasser darin – abweichend vom Original – einige Wörter durch Sperrung hervorgehoben hatte, so ist dies wie üblich gekennzeichnet. Nicht angeführt sind für zitierte (v. a. fremdsprachliche) Textstellen verschiedene Schreibvarianten, die sich aus editorischen Diskussionen ergeben.

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Vorwort des Herausgebers

Das Manuskript hatte der Verfasser in zwei gleichen Exemplaren angefertigt. Eines behielt der Hrsg. selbst. Das andere bekamen später Martina und ihr Sohn Frederik Wiese, um daraus eine elektronische Datei zu machen. An den Verlag Duncker & Humblot in Berlin sandte der Hrsg. bereits im März 2005 eine Kopie. Aber weil er berufliche Pflichten zu erfüllen hatte, konnte er die Veröffentlichung lange nicht fertigstellen. Einige (wenige) vom Verfasser gemachte Angaben sind nicht mehr ganz aktuell. So haben in der Politik Inszenierung und Populismus (S. 669) noch zugenommen, bereits mehr als die Hälfte der Haushalte benutzt das Internet zur „Information“ (S. 687 f.). Und die Archäologie hat inzwischen neue Erkenntnisse zutage gefördert. Diese Veränderungen im Forschungsstand sind für den Gang der Untersuchung und ihre Ergebnisse unerheblich, seien hier aber kurz genannt (s. dazu S. 250 f.): Als älteste Höhlenmalereien (S. 231) gelten jetzt spanische und indonesische. Die ältesten Funde von Homo sapiens sind wohl mindestens 300.000 Jahre alt und damit älter als bisher angenommen und stammen auch aus Nordafrika. Was früher als späteste Neandertaler-Funde galt, ist heute umstritten. Und der Beitrag des Neandertalers zum Erbgut des modernen Menschen wurde inzwischen bestätigt und quantifiziert. Der Verfasser hatte allerdings umsichtig argumentiert: Die damals am meisten vertretene These vom Ursprung aus Süd- und Ostafrika hatte er als „nicht unwidersprochen“ bezeichnet. Und im Fall der Erbgutdiskussion hatte er auf wissenschaftstheoretische Weise gezeigt, daß trotz negativen Ergebnisses einer damals publizierten umfangreichen Vergleichsstudie die Möglichkeit der Vermischung weiterhin bestehe. Übrigens zeigte auch der 10. Mitteldeutsche Archäologentag – thematisch scheinbar Kapitel B. I. 9 nahe –, wie wichtig es wäre, mit einem angemessenen Begriff des Politischen zu untersuchen. Folgenden Personen dankt der Hrsg.: Auf der Schreibmaschine fertigte das Manuskript des Verfassers Frau Schmitt an (Schreibweise dem Hrsg. unbekannt). Martina Wiese und ihr Sohn Frederik übertrugen das Manuskript (Typoskript mit vielen letzten handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen durch den Ver­ fasser) per Hand in elektronische Dateiform und wiesen auf erste Corrigenda hin. Lars Hartmann und Birgit Müller vom Verlag Duncker & Humblot stimmten mit dem Hrsg. die Veröffentlichung ab. Klaus Tormählen, ehemals Mitarbeiter am Regionalen Rechenzentrum der Universität Hamburg, zeigte ihm, wie man die benötigten Sonderzeichen findet oder herstellt. Dr. Annegret Holtmann-Mares, Archivarin am Universitätsarchiv der TU Darmstadt, gab Informationen zur beruflichen Vita des Verfassers. Estella Boxell-Hutson und Clive Kewell übersetzten einen Text ins Englische, und Holm Schröder sicherte die Textdateien. Der Hrsg. ist einer der Söhne des Verfassers. Er studierte Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Universität Hamburg und wurde dort im Fach Geschichte promoviert. Hamburg, im Dezember 2017

Stefan Volkmar Heitzmann

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I.

Name der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

II. Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 III. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Unqualifizierte „Methoden“-Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Pseudo-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Organisatorische und andere Verfahren zur Datengewinnung . . . . . . . . . . . . 43 4. Echte Erkenntnismethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Methoden direkter Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 b) Methoden indirekter Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 IV. System der Wissenschaften und Position der Politikwissenschaft darin . . . . . . . 55 V. Erkenntnisziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 VI. Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik und Die politischen Gemeinwesen und ihr Verfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I.

Die Gemeinwesen/Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Politische Gemeinwesen und Das Politische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Germanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 c) Latium/Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 d) Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Bedeutung der Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4. Ziele der frühen Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5. Gewalt; „Freundschaft“ und Friede; Rache und Sühne . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6. Die Glieder der politischen Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

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Inhaltsverzeichnis 7. Struktur der Örter des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 8. Zusammenfassung der Ergebnisse aus B.I. und Die Bindung der Polis angeblich an die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 9. Exkurs zu den Kapiteln von B. I.: Seit wann in der Menschheitsentwicklung und wo zuerst konkrete politische Gemeinwesen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 a) Hominiden-Entwicklung bis zum Ende der Altsteinzeit – Allgemeines . . 249 aa) Die Früh-Homo-heidelbergensis-Gruppe von Bilzingsleben im Mittelpleistozän (dazu Siedlungsplätze des Späten Mittel- und des Frühen Jungpaläolithikums) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 bb) Das magdalénien-zeitliche Gemeinwesen von Gönnersdorf . . . . . . . 257 b) Stand der „Indogermanen“-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 c) Jungsteinzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 aa) Gemeinwesen der Frühen Jungsteinzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 bb) Einwirkungen megalithischer Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 cc) Gemeinwesen vom Ende der Jungsteinzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 dd) Ab etwa 3 000 v. Chr. im Norden, ab etwa 2 300 in der Mitte und im Süden Griechenlands mit der Einwanderung der Griechen neu auftretende Kulturerscheinungen und ihre Entsprechungen bei cc) . . . . . . 298 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 II. Defiziente Modi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Vom politischen Gemeinwesen zum mittelalterlichen Herrschaftssystem – Der Verlust der Politizität im Frankenreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 a) Die Entwicklung ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 b) Verlust der Öffentlichkeit. „Rhetorik“ im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . 368 c) Herrschaft und Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 d) Gewalt; Wahrung von gerechter/guter Ordnung und Frieden; Fehde und Satisfaktion; „Gottesfrieden“ und „Landfrieden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 e) Die Glieder des mittelalterlichen Herrschaftssystems . . . . . . . . . . . . . . . 389 f) Die Örter des mittelalterlichen Herrschaftssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 2. Vom mittelalterlichen Herrschaftssystem zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 a) Das für unser Thema Wichtigste der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 aa) Die Entwicklung zu den italienischen Stadtstaaten . . . . . . . . . . . . . . 402 bb) Die Entwicklung zu den absolutistisch regierten deutschen Territorialstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 cc) Die Entwicklung zum absolutistisch regierten Frankreich . . . . . . . . 461 b) Souveränität – Der Souverän und das Beamtentum . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 c) Monopolisierung von Gewalt – Staatsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Inhaltsverzeichnis

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d) Die Glieder der Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 e) Die Struktur der Örter im frühneuzeitlichen System . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 III. Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 1. Die empirischen Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 a) Die Anfänge von „Gesellschaft“ in frühen germanischen Gemeinwesen am Hof des Anführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 b) Höfische Gesellschaft(en) im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 c) Adlige außerhöfische Gesellschaften im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 d) Gesellschaften in den mittelalterlichen Städten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 e) Gesellschaften im frühneuzeitlichen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 f) Die Glieder/Mitglieder der Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 g) Die Örter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 h) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 2. Das Theorie- und Ideologiegebilde „Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 IV. Lange Wege zur „modernen Demokratie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 V. Annex zu den historischen Teilen: Legitimitätsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 1. Die Befähigung, die alle angehenden Dinge gut zur Sprache zu bringen . . . 589 2. Alter; Autorität, Ansehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 a) Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 aa) Seniorat: Erfahrung der Älteren, Altersweisheit, Ehrfurcht vor dem Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 bb) Primogenitur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 b) Autorität, Ansehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 3. Tugend/Tüchtigkeit, Tapferkeit; Virtù, Fortuna, Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 a) Tugend/Tüchtigkeit, Tapferkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 b) Virtù, Fortuna, Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 4. Rang, Adel; Charisma, „Heil“; Erb- oder Gentil-Charisma, Sippenheil; „Geblütsrecht“ (dazu Designation); Erblichkeit/Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 a) Rang, Adel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 b) Charisma, „Heil“; Erb- oder Gentil-Charisma, Sippenheil . . . . . . . . . . . . 626 c) „Geblütsrecht“ (dazu: Designation); Erblichkeit/Erbrecht . . . . . . . . . . . . 629 5. Abstammung von den Göttern, Einsetzung/Berufung/Erwählung seitens der Gottheit, Gottstellvertreterschaft; kirchliche Sakralisierung; Gottesgnadentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 a) Abstammung von den Göttern, Einsetzung/Berufung/Erwählung seitens der Gottheit, Gottstellvertreterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632

Inhaltsverzeichnis

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b) Kirchliche Sakralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 c) Gottesgnadentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 6. Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 a) Prüfung vorher, auf Qualifikation oder Qualitäten: Schulung mit erster Bewährung, Bildung, Sachverstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 b) Prüfung hinterher (Rechenschaft ablegen): Erfolg, „Heil“, Bewährung – mit Bestätigung oder Wechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 7. „Gleichheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 a) Los: bei – postuliert – hinreichend Gleichheit unter den Auszulosenden . 654 b) „Volkssouveränität“: bei – postuliert – hinreichend Gleichheit der Voraussetzungen auf seiten derer, die wählen/abstimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 8. Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 9. Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 C. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 I.

Ein adäquates Verständnis von „Politik“ und von den „Politikern“ . . . . . . . . . . 668

II. Konsequenzen für ein adäquates Verständnis von Publizistik und Publizisten, für die Publizistikwissenschaft und ihre Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 1. Name der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 2. Gegenstand: Publizistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 3. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 4. Position im System der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 5. Erkenntnisziel und eine andere Aufgabe: „Journalisten“-Ausbildung . . . . . . 698 6. Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 III. Ein anderes Verhältnis zur Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 IV. Mitsprache und Mitwirkung der „anderen Hälfte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783

Abkürzungsverzeichnis Lautzeichen (angelehnt an Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 16. bzw. 23. Auflage) ˉ und ˆ ˘ ´ und ` ˜ . ˛  hinter und  ƀ ȥ gh ̯ æ ë ẹ ә œ und ø ç gˇ ıɜ ř š ṣ ð þ

über einem Vokal bedeuten Länge. über einem Vokal bedeutet Kürze. über einem Vokal bedeuten Betonung. über einem Diphtong bedeutet Betonung. unter stimmhaftem Mitlaut (ḷ, ṃ, ṇ, ṛ) bezeichnet silbischen Wert. unter einem Vokal in baltoslav. Wörtern bedeutet Nasalierung, sonst offene Aussprache. über einem Konsonanten bezeichnen die Erweichung (Palatalisation). bedeutet stimmhaften labialen Reibelaut (w). bedeutet die mhd. Vorstufe des nhd. ß (herkömmliche, aber ungesicherte Aussprache s). bedeutet Aspiration unter i und u bedeutet Halbvokal. bedeutet offenes ä. bedeutet kurzes, offenes e. bedeutet kurzes, geschlossenes e (Umlaut von a). bedeutet gemurmeltes e (wie in Lage). bedeuten ö. bedeutet stimmloses s im Französischen, sonst tsch. bedeutet dsch. bedeutet den velaren Nasal (wie in lang). bedeutet weiches r (im Tschechischen). bedeutet stimmloses sch. bedeutet einen zerebralen (retroflexen) Laut. bedeutet stimmhaften Lispellaut (wie in engl. that). bedeutet stimmlosen Lispellaut (wie in engl. thing). Got. aí wird als ä, got. aú als o, got. ei als ī gesprochen; got. gg = ıɜg, gk = ıɜk.

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Abkürzungsverzeichnis Allgemeine Abkürzungen und Abkürzungen der Sprachbezeichnungen

bedeutet eine erschlossene Form. bedeutet eine hypothetisch erschlossene Form (innere Rekonstruktion usw.). a. auch Abb. Abbildung abgek. abgekürzt Abs. Absatz Abt. Abteilung a. d. an der Adj. Adjektiv adiectivum verbale (Verbaladjektiv) adj. verb. ae. altenglisch afries. altfriesisch afrk. altfränkisch afrz. altfranzösisch ags. angelsächsisch ahd. althochdeutsch ai. altindisch aind. altindisch air. altirisch Akad. f. Akademie für Akk. Akkusativ Akkus. Akkusativ alam. alamannisch allg. allgemein altengl. altenglisch altfries. altfriesisch altfrz. altfranzösisch altind. altindisch altkirchenslav. altkirchenslawisch altkirchenslaw. altkirchenslawisch altlat. altlateinisch altniederfränk. altniederfränkisch altnord. altnordisch altpreuß. altpreußisch altsächs. altsächsisch altslav. altslawisch a. M. am Main Amm. Marc. Ammianus Marcellinus Anf. Anfang anfr. altniederfränkisch Anm. Anmerkung Ann. Annalen anord. altnordisch a. o. außerordentlicher * **

Abkürzungsverzeichnis apreuß. altpreußisch Arch. Korr.bl. Archäologisches Korrespondenzblatt as./ asächs. altsächsisch aslav. altslawisch Aufl. Auflage außergerm. außergermanisch avest. awestisch b. bei balto-slav. balto-slawisch Bd. Band Bde. Bände Bdn. Bänden bearb. bearbeitet Bedeutung bed./ Bed. bes. besonders/besonderen betr. betreffend Bez. Bezeichnung B. G. Bellum Gallicum BI Bürgerinitiative(n) bret. bretonisch brit. britisch burgund. burgundisch bzw. beziehungsweise C-14/ 14-C/ 14C Radiokarbon ca. circa christl. christlich d. der/des/den/das/die/durch dän. dänisch dergl. dergleichen ders. derselbe desgl. desgleichen Dez. Dezember d. h. das heißt dial. dialektal d. J. der Jüngere Dm. Durchmesser d. M. der Mittlere Dr. Doktor/ Drittel EGK Einzelgrabkultur einschl. einschließlich engl. englisch Engld. England entspr. entsprechend Enzykl. Wb. Enzyklopädisches Wörterbuch erg. ergänzt(e) erw. erweitert(e) et al. et alii (und andere) etymolog. etymologisch

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eingetragener Verein e. V. Evang. Evangelisch evtl. eventuell f. femininum/folgende (Seite)/für fasc. fascicolo (Band/ Heft) fem. femininum folgende (Seiten) ff. FH Frühhelladisch finn. finnisch Fr. Fromme fränk. fränkisch franz. französisch fries. friesisch Frkr. Frankreich frz. französisch Führer arch. Dkm. Dtld. Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland Führ. vor- u. frühgesch. Dkm. Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern Fußn. Fußnote G. Germania Gde. Gemeinde geb. geborene gem. gemäß Germ. Germania germ. germanisch Gesch. Geschichte Ges. Schr. Gesammelte Schriften gest. gestorben GG Großgartacher Gruppe GK Glockenbecherkultur got. gotisch Gr. Große gr. griechisch gramm. grammatisch griech. griechisch Grld. Griechenland gt. gotisch H. Hälfte h. heilige(r) H. v. m. Hervorhebung(en) von mir (= Verfasser) hektograph. hektographiert heth. hethitisch Hist. Historien Hrsg. Herausgeber hrsg(g). herausgegeben i. im i. Br. im Breisgau idg. indogermanisch i. e. S. im engen Sinne

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ig. indogermanisch Il. Ilias ind. indisch intrans. intransitiv ion. ionisch i. S. v(on). im Sinne von italienisch it./ ital. im Taunus i. Ts. i. W. in Westfalen i. w. S. im weiten Sinne J. Jüngere Jg. Jahrgang Jh(s). Jahrhundert(s) jmd(n). jemand(en) Jt. Jahrtausend Jtsd. (Jtsds.) Jahrtausend(s) kaiserl. kaiserlich Kap. Kapitel kath. katholisch Königsteiner Konferenz KK Kl. Klammern Kl. 96 Numerierung der Lieder Oswalds von Wolkenstein gemäß der Ausgabe von Karl Kurt Klein klass. klassisch königl. königlich korn. kornisch Kr. Kreis KSVG Kommunalselbstverwaltungsgesetz kymr. kymrisch l. lateinisch Lex Alamannorum LA langob. langobardisch lat. lateinisch Linienbandkeramische Kultur LBK lit. litauisch Lm. Landesmuseum Lomb. Lombardei M./m. maskulinum MA Mittelalter masc./ mask. maskulinum masch. geschr. maschinengeschrieben Mass. Massachusetts md. mitteldeutsch m. E. meines Erachtens mhd. mittelhochdeutsch Mill./ Mio. Million(en) mittelengl. mittelenglisch MK Michelsberger Kultur

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mittellateinisch ml./ mlat. Mlle. Mademoiselle Mme. Madame mnd. mittelniederdeutsch mnl. mittelniederländisch mtDNA mitochondriale DNA myken. mykenisch Mz. Mehrzahl N./n. neutrum nachchristl. nachchristlich Nachdr. Nachdruck n. Chr. nach Christus ndd. niederdeutsch Nikomachische Ethik NE neo-l. neolateinisch neubearb. neubearbeitet(e) neutr. neutrum N. F. Neue Folge nhd. neuhochdeutsch New Jersey N. J. nl. niederländisch nnd. neuniederdeutsch nnl. neuniederländisch nö nordöstlich nördl. nördlich Nov. November Nr. Nummer NS Nationalsozialismus NW/ nw Nordwesten/ nordwestlich o. ä. oder ähnlich obd. oberdeutsch Od. Odyssee österr. österreichisch östl. östlich o. J. ohne Jahr Okt. Oktober Or. Original osö ostsüdöstlich ostfränk. ostfränkisch ostgot. ostgotisch ott. ottobre (Oktober) p. pagina (Seite) PA Pactus Alamannorum part. praet. participium praeteriti (Partizip Perfekt) Pel. Peloponnesisch(en) Phil. Diss. Dissertation der Philosophie photomech. photomechanisch(er) Pind. Pindar

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Plural pl./ plur. PLoS Public Library of Science poet. poetisch Pol. Politik port. portugiesisch Pr. Il Principe preußisch preuß. Prof. Professor prov. provenzalisch PVS Politische Vierteljahresschrift Siegesgesänge (Epinikien) für die Preisträger der Pythischen Pyth. Spiele RGZM Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Forschungsinstitut für Archäologie, Mainz Rössener Kultur RK roman. romanisch russ. russisch S. Seite s. siehe/sur siehe auch s. a. Saarl. Saarland saarld. saarländisch schw./ schwed. schwedisch s. d. siehe dort Späthelladische Kultur SH SK Schnurkeramische Kultur skandinav. skandinavisch slaw. slawisch SO Südosten s. o. siehe oben sog. sogenannte(r) Sp. Spalte Spätant. Spätantike spätlat. spätlateinisch spätmhd. spätmittelhochdeutsch span. spanisch SS Sommersemester StBK Stichbandkeramische Kultur Stud. gen. Studium generale Subst. Substantiv SW/ sw Südwesten/ südwestlich SWR Südwestrundfunk SZ Saarbrücker Zeitung Tac. Tacitus Taf. Tafel TBK Trichterbecherkultur Teilbd./Teilbde. Teilband/Teilbände toch. tocharisch

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trans. transitiv u. und u. ä. und ähnlich u. a. m. und anderes mehr überarb. überarbeitet(e) Ü. d. V. Übersetzung des Verfassers unv. unverändert(er) urspr. ursprünglich us-amerik. us-amerikanisch usw. und so weiter unter Umständen u. U. u. v. a. m. und vieles andere mehr v. vom vor allem v. a. vor Christus v. Chr. venet. venetisch verb. verbessert(e) vgl. vergleiche v. H. vom Hundert (Prozent) viell. vielleicht Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vjh. f. Zeitgesch. volkslat. volkslateinisch vorgerm. vorgermanisch v. u. von unten vor unserer Zeitrechnung v. u. Z. W/w Westen/westlich Wb. Wörterbuch westeurop. westeuropäisch Westf. Westfalen westfränk. westfränkisch westgerm. westgermanisch westgot. westgotisch wgerm. westgermanisch Waldleininger Konferenz WK WS Wintersemester Wz. Wurzel Z. Zeile z. B. zum Beispiel z. (gr.) T. zum (großen) Teil Ziff. Ziffer ztl. zeitlich Ztw. Zeitwort (Verb)

Vorbemerkungen Von 1945 bis 1948 habe ich an der Deutschen Kriegsgefangenenlager-Hochschule Featherstone Parc Camp (Camp 18) in Northumberland, England, Philo­sophie studiert (und andere Fächer, darunter solche, die für das Zustandekommen der hier vorgelegten Untersuchung wichtig wurden und zu denen ich in den Vor­ bemerkungen zu B noch etwas sage), danach in Mainz von 1948 bis 1952 Philo­ sophie im Hauptfach, dazu Psychologie und Vergleichende Kulturwissenschaft (und auch dort noch andere Fächer). Zur Politikwissenschaft bin ich gekommen, weil der Darmstädter Lehrstuhl­ inhaber auf der 1952 geschaffenen Stelle eines Wissenschaftlichen Assistenten jemanden haben wollte, der in Philosophie promoviert war, und weil der von Mainz nach Darmstadt berufene Philosoph Prof. Dr. Karl Schlechta mich ihm vorschlug. Ich begann am 1. Juli 1952 in Darmstadt zunächst mit dem Aufbau einer poli­ tikwissenschaftlichen Lehrstuhlbibliothek und mit einer empirischen Untersuchung für den Lehrstuhlinhaber. Weil ich von der Philosophie kam, lag es nahe, als eigene Schwerpunkte die ja meist philosophischen Theorien zur Politik und die Wissenschaftstheorie des Fachs zu wählen. Mit dieser habe ich um 1955 begonnen. Im Oktober 1958 war ich mit dem Manuskript in allen sechs Teilen fertig: „Die Wissenschaft von der Politik im System der Wissenschaften, ihr deutscher Name, ihr Gegenstand, ihre Methode, ihr Erkenntnisziel und ihre Untergliederung“; maschinengeschrieben, 224 Seiten.

A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft I. Name der Wissenschaft Eine Wissenschaft kann ich benennen, indem ich sage „Wissenschaft vom/von der …“ (folgt Name des Gegenstandsbereichs), so etwa „Wissenschaft vom Recht“. Das ist sprachlich korrekt,1 allerdings umständlich. Handlich ist dagegen der aus e i n e m zusammengesetzten Wort bestehende Name einer Wissenschaft oder Wissenschaftsgruppe. Der erste Wortteil nennt den Gegenstandsbereich, etwa Rechts-, Sprach-, Geschichts-, usw.; im zweiten Teil – wenn Wörter der deutschen Sprache benutzt werden – steht einfach „-wissenschaft“, im Fall mehr oder weniger großer Wissenschaftsgruppen heißt es „-wissenschaften“, etwa „Humanwissen­schaften“, als Wissenschaften vom Menschen und allen seinen Hervorbringungen, oder­ „Naturwissenschaften“ oder, als Beispiel für eine kleinere Gruppe, „Wirtschaftswissenschaften“. In manchen Fällen steht statt „-wissenschaft“ auch „-lehre“, z. B. bei den Gliedern jener Gruppe der Wirtschaftswissenschaften: „Volkswirtschaftslehre“, „Betriebswirtschaftslehre“, „Hauswirtschaftslehre“,2 „Landwirtschaftslehre“, „Forstwirtschaftslehre“. Ganz abgesehen vom nach wie vor verfochtenen Grundsatz der Einheit von Lehre und Forschung an den Wissenschaftlichen Hochschulen Deutschlands haben „-wissenschaft“ und „-lehre“ hier mittlerweile den gleichen Bedeutungsgehalt; die Differenz in der Bezeichnung hat in der Regel lediglich ­wissenschaftshistorische, nicht systematische Gründe. Im zweiten Wortteil kann anstelle von „-wissenschaft“ auch ein griechisches Wort stehen, „-nomie“ oder „-logie“ oder „-graphie“.3 In diesen Fällen ist auch der Name für den Gegenstandsbereich aus antiken Sprachen genommen, meistens aus dem Griechischen, z. B. Anthropologie, Archäologie, Biologie, Demographie, Geographie, Geologie, Historiographie, Kardiologie, Ökologie, Ökonomie, Ontologie, Paläontologie, Physiologie, seltener aus dem Lateinischen, z. B. Soziographie, Soziologie.

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Sprachlich schon nicht mehr korrekt ist „Wissenschaft der/des …“, z. B. „des Rechts“. Streng genommen besagt diese Formulierung, „das“ Recht – und wer ist das? – betreibe Wissenschaft (Wortbildung entsprechend „Wille der Mehrheit“, „Ast des Baumes“). 2 Auf die griechische Oiko-nomia als Lehre vom Zusammenleben im Oikos, im Haus, einschließlich der dafür wichtigen Wirtschaftslehre (die oben nicht gemeint ist), gehe ich hier ebenso wenig näher ein wie auf die Entwicklung der Ökonomie zur „Nationalökonomie“, wie es früher für „Volkswirtschaftslehre“ hieß. 3 Die Philosophie liegt, als sozusagen Wissenschaft der Wissenschaften, nicht ganz überraschend außerhalb dieser Nomenklatur.

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

Die Bezeichnungen „-graphie“ und „-nomie“ deuten auf Methoden-Unterschiede hin. Darauf gehe ich aber erst in Kapitel A.III. näher ein, in dem ich die Methoden bespreche. – Von ihrem Namen her zwar nicht zwingend stehen die Wissenschaften auf „-logie“ unter methodischen Gesichtspunkten in der Regel ebenfalls in der Gruppe der Wissenschaften auf „-nomie“, aber nicht ausschließlich. Die Ursachen für die Abweichungen sind ebenfalls wissenschaftshistorischer Art. In nicht wenigen Fällen wird, gleichsam als Kürzel, nur der Name des Gegenstandsbereichs zur Bezeichnung der Wissenschaft verwendet: Mathematik, Kyber­netik, Mechanik, Physik, Chemie, aber auch Ethik, Politik, Rhetorik/Publizistik, Jus (oder Recht), Technik, Kunst, Sport usw., auch Geschichte. In den von mir zuerst genannten fünf Fällen aus Mathematik, Kybernetik und Naturwissenschaften ist mir noch nie begegnet, daß an den Namen für den Gegenstands­bereich noch „-wissenschaft“ o. ä. angehängt war. Mißverständnisse gibt es dennoch nicht, weil hier nur die Wissenschaft als solche, nicht aber ihr Gegenstandsbereich menschliches Tun ist. Das ist bei allen Wissenschaften anders, deren Gegenstand selber ein Bereich menschlichen Handelns und Hervorbringens, also menschliche „Praxis“ ist (z. B. Politik, Rhetorik/Publizistik, Recht, Technik, Kunst, Sport). Da sich gezieltes menschliches Tun4 nicht ohne ein Mindestmaß an wie immer geartetem Verständnis (einschließlich der Möglichkeit des Mißverständnisses) vollzieht, kann „Wissenschaft“ in bezug auf z. B. die oben genannten Bereiche menschlichen Handelns und menschlicher Hervorbringung sehr verschieden interpretiert werden und ist auch sehr verschieden interpretiert worden. Für die uns thematisch in­teressierenden Disziplinen und für andere, die mit diesen eng verbunden sind, zeige ich das noch. Bei der nach dem Zweiten Weltkrieg an den westdeutschen Wissenschaftlichen Hochschulen mit Lehrstühlen fest installierten Politikwissenschaft gab es zunächst eine Vielzahl verschiedener Namen für das Fach. Das hängt z. T. mit der besonderen Situation Deutschlands in dieser Zeit zusammen (dazu Näheres weiter unten), aber auch mit der älteren Entwicklung wissenschaftlicher Untersuchung von Politik, in Griechenland (und Rom), und mit der sogenannten Aristoteles-Rezeption im Späten Mittelalter. Die sozusagen Geschichte des „Faches“ brauche nicht ich darzustellen. Darüber gibt es bereits Untersuchungen.5 Auf diese gestützt, 4 Mechanische, physikalische und chemische Reaktionen sowie biotische Reaktionen und Aktionen des menschlichen Körpers also nicht mitgerechnet. 5 Für die ältere Entwicklung sind am wichtigsten die beiden folgenden Publikationen von Hans Maier: Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.) (1962), S. 59–116, sowie ders.: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (21980, München); von Interesse sind hier aber auch Maiers Aufsatz „Zur Lage der Politischen Wissenschaft in Deutschland“ (1962) und sein Artikel „Politikwissenschaft“ im Fischer-Lexikon „Staat und Politik“. Für die Zeit seit etwa 1900 und bis in die siebziger Jahre – was für unsere Zwecke reicht – gibt es Kastendiek: Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft (1977).  – 2003 habe ich die 2001 erschienene „Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland“ von Wilhelm Bleek noch lesen kön-

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aber ohne jedesmal einen Einzelnachweis zu bringen, was ungebührlich auftragen würde, bringe ich hier nur die älteren Namen des Fachs, in der Hauptsache in Deutschland, jeweils ganz knapp im Entwicklungszusammenhang. Zur Entwicklung selbst siehe die in der Fußnote genannte Literatur. In der Philosophie des Aristoteles (bzw. bei denen, die in der Antike seine Schriften z. T. zusammengebaut, z. T. überarbeitet und herausgegeben haben) hieß das „Fach“ im Titel des besonders maßgebenden Buchs (und wohl auch im wissenschaftlichen Alltag) „P o l i t i k á “. Dies „Fach“ war eng verknüpft mit der Ethik und auch mit der Ökonomik (dazu noch einmal weiter unten in diesem Kapitel bei „Politische Wissenschaften“). Alle drei zusammen bildeten den „praktischen“ Teil  der Philosophie, wie dieses so mißverständliche, aber gängige Wort lautet. (Nicht dieser Teil der Philosophie ist „praktisch“ und z. B. derjenige Teil, der sich mit den physischen Dingen befaßt, „unpraktisch“, sondern Ethik, Politik und Ökonomie haben es mit dem menschlichen Handeln und so mit menschlicher „Praxis“ zu tun – was etwas anderes ist.) Dieser Name des „Fachs“ erscheint in der spätmittelalterlichen abendländischen Wiederaufnahme des aristotelischen Denkens latinisiert als „P o l i t i c a“, ebenso in der in der Reformation von Melanchthon begründeten protestantischen Ethik (soweit nicht Politik und Ethik im griechischen Urtext studiert wurden wie in den Lehrdarbietungen von Melanchthon selbst und von noch anderen), und so auch noch bis nach dem Dreißigjährigen Krieg als „P r o f e s s i o Ethices vel P o l i t i c e s “. Danach wurde diese Form der Lehre der Politik wegen neuer praktischer Anforderungen, die die deutschen Territorialstaaten stellten, allmählich ersetzt durch eine neue Lehre über Politik (bzw. von dem, was für „Politik“ gehalten wurde), im Zusammenhang mit Praxis von und Lehre über K a m e r a l i s t i k i. w. S. (auch: „K a m e r a l w i s s e n s c h a f t e n “; erste Anfänge allerdings schon im 16. Jahrhundert; zur Aufgliederung siehe weiter unten). Die neuen Disziplinen waren sozusagen Territorialstaats-Wissenschaften für die Zwecke der deutschen territorialstaatlichen Verwaltungen in Sachen Wirtschaft und Wohlfahrt im nunmehr Verwaltungs- und Polizeistaat (zu „Policey“ weiter unten). Parallel dazu verselbständigte sich im 17. und 18. Jahrhundert eine anstelle der christlichen jetzt profane Naturrechtslehre mehr und mehr aus der „praktischen“ Philosophie und dominierte oft deren andere Teile und sprengte den Zusammenhang schließlich, als sie die Ideen der Philosophie der Aufklärung aufnahm, in deren Mittelpunkt das Individuum und das Vertragswesen standen, nicht mehr das Gemeinwesen. Auch die Stellung und der Charakter der Ökonomik („das ganze Haus“ in Deutschland in der Zeit vor dem großen Krieg in den Grundstrukturen dem griechischen oikos in vielem ähnlich, im Territorialstaat seiner Rechtsund Sozialsphäre beraubt und allmählich eingepaßt in eine mehr rationale Landes-Ökonomie) änderten sich in Richtung auf eine moderne Verkehrswirtschaft, nen. Es zeigte sich, daß ich an dem, was ich aus Hans Maier hatte, nichts zu ändern brauchte, wohl aber habe ich danach auf Kastendieks Darstellung der Deutschen Hochschule für Politik für die letzten Jahre der Weimarer Republik wieder verzichtet und dann dazu auf Bleek (S. ­220–228) nur verwiesen, weil für uns anderenfalls zu umfangreich (siehe weiter unten).

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

wenngleich weniger schnell als in Italien, Frankreich und England. Neben der Naturrechtslehre stieg die Landes-Ökonomie auch an den deutschen Universitäten zu einer der wichtigsten Disziplinen auf, während die alten Fächer Ethik und Politik der Vorwurf traf, sie leisteten nichts für die Praxis des (territorial-)staatlichen Handelns in „Politik“ und Wirtschaft. Die oben erwähnte, aus Erfordernissen der fürstlichen Güterverwaltung entstandene Kameralistik (i. w. S.; zur Kameralistik i. e. S. siehe weiter unten) blieb charakteristischerweise lange Zeit außeruniversitär, in von der fürstlichen Verwaltung initiierten oder geförderten Collegien, Akademien oder Kameral(hoch)schulen, als Wirtschafts- und Verwaltungslehre zur Ausbildung von tüchtigen Territorialstaatsbeamten. Die wohl älteste dieser Einrichtungen, das berühmte „Collegium illustre“ Tübingen von 1559, und die aus dem Bedürfnis an einer fundierten Landwirtschaftslehre (was das praktische Interesse ganz besonders deutlich macht) erst im 18. Jahrhundert entstandene, wegen der Kompetenz seiner Professoren aber schnell in ganz Deutschland bekannt gewordene Kameralschule, dann Kameral-Hohe-Schule (Kaisers-)Lautern und noch andere gingen schließlich doch in den Landesuniversitäten auf, die beiden gesondert genannten in denen von Tübingen und Heidelberg. Die ersten UniversitätsProfessuren für K a m e r a l i s t i k (i. w. S.) sind 1727 an den preußischen Universitäten Halle und Frankfurt a. d. O. errichtet worden, andere folgten bald darauf an österreichischen, hannöverschen, sächsischen, bayerischen und anderen Landesuniversitäten. Die Namen lauteten etwa Professio für „O e c o n o m i e , P o l i c e y u n d C a m m e r s a c h e n “, auch „O e c o n o m i s c h e , P o l i c e y - u n d C a m e r a l w i s s e n s c h a f t “ in Preußen oder „P o l i z e y - , H a n d l u n g s - [= Handels-] u n d F i n a n z w i s s e n s c h a f t , a u c h d e r Wo h l r e d e n h e i t “ [= Rhetorik] an der österreichischen Universität Freiburg i. Br. Die Wissenschaft von der „Policey“, die „Polizeywissenschaft“ als Wissenschaft von der guten inneren Ordnung, ist eine spezifisch deutsche Sache.6 (Eine Verengung des Begriffs Polizey auf „Polizei“ i. S. von „Ordnungshüter“ erfolgt erst etwa um 1800). Die P o l i z e y w i s s e n s c h a f t des 18. und noch des 19. Jahrhunderts war, modern formuliert, eine Kombination von Volkswirtschafts-„Politik“ und Verwaltungslehre. Mit der K a m e r a l w i s s e n s c h a f t (i. e. S.) begann die Finanzwissenschaft. Unter den Bedingungen des Territorialstaats sind die neuen Wissenschaften, und so auch die Polizeiwissenschaft trotz ihres Namens, nicht mehr Politikwissenschaft, sondern Wissenschaften von einem defizienten Modus von Politizität, nämlich Territorial-S t a a t s -Wissenschaften gewesen. Neu hinzu kam als Staatenkunde die „Statistik“. 6 Sie hat ihren Namen ursprünglich vom griechischen Wort für das politische Gemein­ wesen, P o l i t e i a (bei Aristoteles: das möglichst gut regierte Gemeinwesen oberster Stufe, das seinen Gliedern das gute/tugendhafte/glückliche Leben ermöglichen soll), das über spätlat. „politia“ zu mlat. „policia“ geworden ist (Kluge, 23. Aufl., S. 639), was etwa „(gute) Ordnung in einem Gemeinwesen“ bedeutet. In den deutschen Sprachgebrauch von Reichskanzlei und Reichsständen ist das Wort (verschiedene Schreibweisen: Pollicey, Pollucy, Pollizey, Policey u. a. m.; Maier, Die ältere, S. 117 f.) wahrscheinlich Ende des 15. Jahrhunderts aus der (vorbildlich organisierten) burgundischen Verwaltung übernommen worden (ebd., S. 121).

I. Name der Wissenschaft

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Im 18. und 19. Jahrhundert gab es viele unterschiedliche Versuche zur Rückverbindung der auseinandergedrifteten und inzwischen längst veränderten Teile der alten „Politik“ und zu deren Wiederbelebung in z. T. anderem philosophischen Gewand. Das ist ein sehr komplexes Geflecht, hier nicht darzustellen.7 Auch der Versuch zur systematischen Zusammenfassung zu einer „G e s a m t e n S t a a t s w i s s e n s c h a f t “ (Lorenz von Stein) – „Staat“ nun schon in einem weiteren Sinn als dem des Territorialstaats absolutistischer Prägung – hat den Niedergang des Fachs Politik an den deutschen Universitäten nicht mehr verhindern können. Die auf Sicherheit und Wohlfahrt im Innern der vergleichsweise kleinräumigen deutschen Territorialstaaten des Absolutismus zugeschnittene Polizeiwissenschaft erwies sich als für den größeren Rahmen, in dem nun gedacht werden mußte, zu eng. Nationalstaat und Außenverhältnisse rückten in den Vordergrund des Interesses. (Die in Deutschland fast drei Jahrhunderte lang abgewehrten Lehren des Machiavell fanden jetzt Interesse.) Andererseits opponierten die am Liberalismus orientierten Gebildeten gegen den Polizeistaat und seine Eingriffe in das Privatleben und überhaupt gegen die alte normative Lehre vom staatlichen Handeln. Die empirisch gegebenen geographischen, ökonomischen und historischen Bedingungen staatlichen Handelns kamen immer stärker ins Blickfeld. Schließlich hat Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ mit ihrer Ablehnung der (aus der aristotelischen Ethik und Politik stammenden) gesamten älteren Sozialethik als „eudämonistisch“ die in solcher Sozialethik fundierten „politischen“ Fächer dieser oder jener Ausprägung unmöglich gemacht. (In Freiburg ist „Polizeiwissenschaft“, schon lange im Niedergang begriffen, zuletzt 1879/80 gelesen worden. Auch das, worin „Policey“ letztlich gründet, ist nicht mehr verstanden worden.) – Die moderne deutsche Ve r w a l t u n g s r e c h t s l e h r e drängte die Verwaltungslehre immer mehr zurück zugunsten einer nur noch rechtsimmanenten Betrachtung; die S t a a t s r e c h t s l e h r e beschränkte sich mehr und mehr auf den „Buchstaben der Verfassung“ und eine ebenfalls immanent juristische Begriffsbildung. Auf der anderen Seite entwickelte sich im 19. Jahrhundert, von Frankreich (Comte) her, eine Wissenschaft 7

Aus Bleek übernehme ich hierzu nur dies: Mit der Entwicklung auf eigenständiges Ö f f e n t ­l i c h e s R e c h t hin „aus dem Schoße der Politiklehre“ hingen auch Entstehung und Etablierung der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t zusammen. Die im 17. Jh. „entstehende Wissenschaft vom Reichsrecht (R e i c h s p u b l i z i s t i k ) [wandte sich] der Reichsgeschichte als der eigentlichen Grundlage und Erklärung der Reichsverfassung“ zu, dabei besonders der Erforschung der historischen Urkunden „als dem Ausgangspunkt rechtswissenschaftlichen Bemühens“. Die Geschichtswissenschaft war zunächst „Hilfswissenschaft“ für das Öffentliche Recht, sukzessive seit Mitte des 18.  Jh. als eine „selbständige, methodenbewußte und professionalisierte Disziplin an den deutschen Universitäten etabliert“ (S.  164). Zwischenstufen (S.  165) übergehe ich. Bleek zeigt dann (S.  165 f.) mit Einzelheiten, wie „an den tradi­ tionsreichen Doppellehrstühlen in Berlin, Bonn und Göttingen“ die Politiklehre ganz in der G e s c h i c h t s ­w i s s e n s c h a f t aufging. „Entgegen diesem Trend“ übernahm der Rechts­histo­ riker Otto Hintze, der sich „auf Vermittlung Gustav von Schmollers … in der preußischen Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte und ihren Quelleneditionen profiliert“ hatte (und auf den ich in A.IV. zurückkomme), 1902 in Berlin „eine neugeschaffene Professur nicht nur f ü r ‚Ve r f a s s u n g s - , Ve r w a l t u n g s - u n d W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e‘, sondern auch f ü r ‚P o l i t i k ‘ “ (S. 166; in diesem Absatz alle H. v. m.).

A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

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von der „Gesellschaft“ (mehr dazu in Kapitel A.IV.), eine Wissenschaft, die die „Gesetze“ ermittele, die die Entwicklung der „Gesellschaft“ (tatsächlich oder vorgeblich) bestimmten (Ablehnung jeder Metaphysik; keine Untersuchung von Sinngehalten, vielmehr nur von „positiven“ Tatsachen der sozialen Verhältnisse; Beginn des „Positivismus“). Seit Durkheim sind besondere Forschungs-Techniken (empirische Sozialforschung) in der als „exakte“ Wissenschaft verstandenen Soziologie entwickelt worden. In dieser Form ist Soziologie in Deutschland weniger schnell übernommen worden, nämlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. (Soziologie als „Gesellschaftswissenschaft“ ist freilich ein Mißverständnis; Näheres siehe Kapitel A.IV.) An den kurz vor bzw. gleich nach dem Ersten Weltkrieg neugegründeten Universitäten Frankfurt und Hamburg gab es Soziologie in Verbindung mit Nationalökonomie und ab 1925 in Leipzig einen Lehrstuhl für (im Verständnis von damals „geisteswissenschaftliche“) Soziologie, den Hans Freyer innehatte. Die im folgenden genannten Namen für wissenschaftliche Untersuchung und Lehre über Gegenstände der Politik bezeichnen nicht mehr bzw. noch nicht Disziplinen Wissenschaftlicher Hochschulen, führen aber bereits auf die Namen solcher dann ab 1948/49 in (West-)Deutschland installierter Disziplinen hin. „Tatsachenforschung“ über Gegenstände der Politik bzw. defizienter Modi, die für Politik gehalten wurden, begann in Einrichtungen, die ab kurz nach 1900 den dann 1919 gegründeten städtischen Universitäten Hamburg und Köln vorausgingen, und noch während des Ersten Weltkriegs ist in Preußen im Hinblick auf die Universitäten die Bedeutung von Auslandskunde erkannt worden, worauf die Einrichtung von Osteuropa-Instituten in Königsberg und Breslau und von diesen entsprechenden, nach Ungarn, nach den nordischen Ländern und nach Übersee ausgerichteten Instituten in Berlin, Greifswald und Kiel folgten. Kritik am Positivismus8 der juristischen Staatslehre oder doch Zweifel daran, daß solcher Positivismus ausreiche, regte sich nach 1900. Richard Schmidt, von der Staatslehre kommend, betonte zwischen 1901 und 1920 immer mehr den Zusammenhang von „P o l i t i k a l s w i s s e n s c h a f t l i c h e r B e t r a c h t u n g s w e i s e d e s S t a a t s “ (sprachlich freilich ganz schlimm) und „Ve r g l e i c h e n d e r S t a a t s r e c h t s l e h r e “. Heller faßte 1934 die S t a a t s l e h r e als Teil (wenngleich irrig als Kernstück) der weiter als die Staatslehre gefaßten p o l i t i c a l s c i e n c e (Name in Hellers Buchmanuskript von ihm s o als nur provisorisch bezeichnet). In der Zeit der Weimarer Republik sind noch keine Forderungen nach Institutionalisierung einer Universitätsdisziplin erhoben worden, deren Gegenstand in Forschung und Lehre eigens die Politik sein sollte. Wohl aber ist damals mit der Formulierung „P o l i t i k a l s W i s s e n s c h a f t “ immer wieder postuliert worden, Politik (bzw. das, was dafür gehalten wurde) könne sehr wohl wissenschaftlich untersucht werden.

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Hier: Orientierung nur am „gesetzten Recht“.

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Der Anstoß zur (zunächst) Lehre über Politik, anfangs als Staatsbürgerkunde gedacht, kam, in Ansätzen schon in wilhelminischer Zeit, danach verstärkt, nun aber eindeutig zur Stützung des demokratischen Staats der Weimarer Republik konzipiert, aus „politischpädagogischen“ Erwägungen. Aus solchen Überlegungen Friedrich Naumanns (fortschrittlich-liberal, DDP), ab 1916, entstand 1918, zunächst als Einrichtung der DDP, eine Partei(hoch)schule, jedoch bereits in der Absicht, diese möglichst überparteilich werden zu lassen. Das geschah dann auch unter Hereinnahme vor allem von Sozialdemokraten, später auch von Parteilosen, in den Lehrkörper der 1920 gegründeten, u. a. auch vom zuständigen preußischen Ministerium geförderten Deutschen Hochschule für P o l i t i k (DHfP) in Berlin, außerhalb der Universitäten. Ziele der DHfP waren Fortbildung und Bildungsergänzung zunächst ohne Reglementierung der Eingangsvoraussetzungen. Die großen Unterschiede in der Zusammensetzung der Hörerschaft zwangen dann aber zu einer solchen Reglementierung. Ab 1922/23 gab es, was zunächst ebenfalls nicht vorgesehen war, die ersten Stellen für hauptamtlich lehrende Dozenten. Die Akademisierung der DHfP wurde in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre verstärkt bis hin zum Anspruch, „P o l i t i k a l s W i s s e n s c h a f t “9 bzw. „P o l i t i s c h e W i s s e n s c h a f t “ zu betreiben, aber aus vielen Gründen konnte die DHfP dem Anspruch nur mehr wenig gerecht werden. Das im einzelnen hier wiederzugeben, würde zu weit führen. Ich verweise auf Bleek, der (S. 198–232) die Entwicklung und das Ende der DHfP darstellt, und zwar hier besonders auf S. 220–228. Jedenfalls ist „knapp die Hälfte der 18 hauptamtlichen Mitarbeiter“ 1933 ins Exil gegangen (S. 224), wie auch sonst viele Sozialwissenschafter, Rechtswissenschafter und andere aus dem Universitätsbereich, vor allem in die USA. Die Verhältnisse in den USA waren, trotz großer Unterschiede zwischen der Universitätsorganisation dort und in Deutschland, für diese deutschen Emigranten doch wenigstens insofern vergleichsweise günstig, als es in den USA seit 1880 eine dort „P o l i t i c a l S c i e n c e “ genannte Disziplin bzw. Departments gab, die sich besonders an deutschen wissenschaftlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts orientiert hatte(n). Das erleichterte den deutschen Wissenschaftern inhaltlich den Einstieg in amerikanische Universitäten und Hochschulen, gleichgültig ob diese Wissenschafter von Hause aus als Rechtswissenschafter, Soziologen oder Nationalökonomen an „politischen“ Themen interessiert gewesen waren. Die Anfänge neuerer universitärer Forschung und Lehre über „Politik“ seitens deutscher Wissenschafter liegen zum großen Teil also sozusagen im Exil, in den USA. Einige dieser Wissenschafter haben amerikanische Behörden beraten,10 die sich nach dem Zweiten Weltkrieg um ein Konzept zur „re-education“ der Deutschen „to democracy“ in den westlichen Besatzungszonen, besonders in der ame 9

Auch in den USA wurde zu jener Zeit entsprechend formuliert: „Politics is the science of the method of social organization.“ (Catlin, The science and method of politics, 1927, S. 338.) 10 Einige andere hatten später an westdeutschen Universitäten Lehrstühle für das Fach inne.

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rikanischen, bemühten. Teil dieses Konzepts war die Schaffung von Lehrstühlen an den deutschen Universitäten, fachlich ähnlich den amerikanischen für Politi­ cience. Die hessische Landesregierung hat als erste entsprechend gehandelt, cal S bereits vor der Konferenz von Waldleiningen und vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland.11 Als nächstes folgte Baden-Württemberg, mit mehr oder weniger großem Abstand kamen auch die anderen Länder nach. Die Namengebung in Hessen, im Frühjahr 1948, nämlich „W i s s e n s c h a f t l i c h e P o l i t i k “, zeigt, daß sich hier, obgleich Hessen in der amerikanischen Zone gelegen und obwohl in den USA „Political Science“ die gängige Bezeichnung war, diejenigen, die zu entscheiden hatten, nicht für  – jetzt auf deutsch  – „Politische Wissenschaft“ entscheiden mochten.12 Das geschah zweifellos nicht, weil der Name sprachlich unmöglich ist13 – denn der Name, für den Hessen sich entschied, ist sprachlich ebenfalls unmöglich –,14 sondern um zu vermeiden, daß das Fach in Deutschland sofort ganz sicher in den Verruf gerate, einer „Politisierung“15 von Wissenschaft Vorschub zu leisten, um nicht eine Einrichtung an Wissenschaftlichen Hochschulen zu schaffen, die ihrerseits doch eigentlich so hehr „politikfrei“15 zu bleiben hätten, eine Einrichtung zugunsten „politischer“15 Indoktrination – was natürlich in Wirklichkeit, im besten Sinn freilich, nach 1949 genau

11 Aus besonderem Grund habe ich das 1963 für die Darmstädter Universität untersucht in „Politikwissenschaft an der Technischen Hochschule Darmstadt …“: Am 28.4.1948 Kabinettsbeschluß zur Errichtung eines ordentlichen Lehrstuhls für Wissenschaftliche Politik; am 20.11.1948 Beschluß, diesen Lehrstuhl mit einer Planstelle im Landes-Etat 1949 zu berücksichtigen (S. 139). Am 21.1.1949 Beschluß der Darmstädter „Fakultät für Kultur- und S t a a t s w i s s e n s c h a f t e n “ (Hervorhebung von mir), die Besetzung des Lehrstuhls in dieser Fakultät zu betreiben. Die Berufungsliste ist am 10.1.1951 dem Rektor und von diesem dann dem Kultusministerium zugeleitet worden. Der Minister berief mit Datum vom 30.5.1951 gemäß den Absichten der Fakultät Dr. Eugen Kogon auf den Lehrstuhl (I) für Wissenschaftliche Politik. Es gab außerdem die Berufungen von Dr. Wolfgang Abendroth (für Marburg) und, zunächst, Dr. Ernst Wilhelm Meyer, später, 1953, nachdem Meyer als Botschafter nach Indien entsandt worden war, von Dr.  Carlo Schmid (für Frankfurt) auf gleichnamige Lehrstühle (Anfänge 1948 und 1949 ebenso wie bei Darmstadt; siehe oben). Die Universität Gießen, im Krieg sehr stark zerstört, war noch nicht wieder eröffnet. Auch dort gab es später das Fach, als Darmstadt, Frankfurt und Marburg jeweils bereits den Lehrstuhl II für Wissenschaftliche Politik bekamen (S. 142 f.). 12 Ausnahme: Der Lehrstuhl, den der Öffentlichrechtler Prof. Dr.  Dr.  Gerhard Leibholz nach seiner Rückkehr aus Oxford nach Göttingen dann dort unter dem Namen „Ö f f e n t l i c h e s R e c h t u n d P o l i t i k “ innehatte, ist später umbenannt worden in „P o l i t i s c h e W i s s e n s c h a f t u n d A l l g e m e i n e S t a a t s l e h r e “. 13 Ihm entspräche „Natürliche Wissenschaft“ statt „Naturwissenschaft“, „Wirtschaftliche Wissenschaft“ statt „Wirtschaftswissenschaft“, „Geschichtliche Wissenschaft“ statt „Geschichtswissenschaft“ usw. Auf deutsch wäre statt „Theologie“ dann „Göttliche Wissenschaft“ zu sagen. Das, so denke ich, genügt an Beispielen. 14 Er würde den Titeln „Wissenschaftliche Wirtschaft“, „Wissenschaftliche Natur“, „Wissenschaftliche Moral“ entsprechen, auch „Wissenschaftlicher Gott“ für Theologie usw. 15 Hier in dem schwammigen Gebrauch des Begriffs Politik, wie er üblich ist.

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die Absicht gewesen ist.16 – „W i s s e n s c h a f t l i c h e P o l i t i k “ hießen dann auch die ersten württembergischen Lehrstühle in Tübingen und Stuttgart. Sprachlich korrekt mit „W i s s e n s c h a f t v o n d e r P o l i t i k “, wenngleich umständlich benannt, waren die ersten Lehrstühle an den Universitäten Freiburg und Hamburg, auch zwei der relativ früh an der Freien Universität Berlin ein­ gerichteten Lehrstühle. Nach vor allem us-amerikanischem Vorbild („Political Science“) benannt wurde das von der Freien Universität Berlin und der inzwischen (zunächst17 erneut als Weiterbildungseinrichtung) wiedergegründeten Deutschen Hochschule für Politik Berlin getragene Forschungsinstitut „Institut für P o l i t i s c h e W i s s e n s c h a f t “ (H. v. m.). Hier war auch der Einfluß der aus der USA-Emigration zurückgekehrten Wissenschafter besonders groß. An Universitäten ist der Name zur Benennung von deutschen Lehrstühlen in der Regel nicht akzeptiert worden, aber eben zweifellos weniger aus sprachlichen als aus jenen oben genannten Gründen. Etwas anderes steckt hinter der Bezeichnung „ P o l i t i s c h e W i s s e n ­ s c h a f t e n “ im Plural. Zwar ist dieser Name sprachlich ebenfalls schlecht, er nimmt aber weniger Bezug auf das vor allem im angelsächsischen Bereich entwickelte moderne Fach Political Science, sondern viel mehr auf die letztlich auf Aristoteles zurückgehende Tradition der Wissenschaften vom menschlichen Handeln (Ethik, Politik, Ökonomie).18 Manche der an den einschlägigen Beratungen in den Nachkriegsjahren a n d e r e n Beteiligten haben freilich für „Politische Wissenschaften“ plädiert – unter welchen die bereits an den Universitäten vorhandenen Wissenschaften vom Menschen insgesamt zu verstehen seien, die es ja doch alle „irgendwie“ auch „mit dem Politischen“ zu tun hätten –, aber um die Installation einer eigenständigen Universitätsdisziplin mit dem Wissenschaftsgegenstand Politik zu verhindern. (Über die Widerstände siehe auch Bleek, S.  278.)  – Die erste Einrichtung mit dem hier infrage stehenden Namen ist die 1950 gegründete „Hochschule für Politische Wissenschaften“ München, an der dann von außerhalb dieser Hochschule kommende Lehrkräfte verschiedener Wissenschaften Lehrdarbietungen zur Fortbildung brachten. Eigene Lehrstühle dieser Hochschule gab es, anders als in Berlin, in München nicht. Besondere Lehrstühle mit dem Namen 16 Näheres in Bleek (S. 265–307 = „Politologie als Demokratiewissenschaft“, bes. S. 305 f.). – Landshut hat 1958 kritisch dazu Stellung genommen, daß dem Fach „von allen Seiten“ von außen Forderungen auferlegt und Fragen gestellt würden, die nicht seine eigenen seien, so, das „Staatsbewußtsein“ der „Bürger zu verbessern“, „die richtige Verteilung der Kräfte zu er­ forschen, die das Funktionieren der Staatsorgane bedingen“, und noch anderes (Empirische Forschung, S. 19). Die Wissenschaft von der Politik müsse sich ihre eigenen Fragen stellen, nämlich ihre Grundbegriffe „auf ihre eigentliche, auf ihre politische Bedeutung hin“ befragen. Nur so könne sie „sich selbst und damit ihrer Zeit dienen“ (S. 20; 1969, S. 323). 17 Über die Veränderung des Ausbildungsziels der DHfP siehe weiter unten bei „Polito­ logie“. 18 Bei manchen Verfechtern des Namens „Politische Wissenschaften“, die aus den USA zurückgekommen waren, kann auch eine sozusagen Gemenge-Lage gegeben gewesen sein.

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„Politische Wissenschaften“ gab es dann aber doch, an den Universitäten Köln, Heidelberg und Saarbrücken. An der DHfP Berlin ist noch ein anderer Name, „ P o l i t o l o g i e “, entwickelt worden. An dieser zunächst wieder Fortbildungseinrichtung  – aber mit eigenen Lehrkräften und mit der These, es gebe sehr wohl eine eigenständige Wissenschaft von der Politik – wuchs die Zahl solcher Hörer, die, mit Hochschulreife ausgestattet, auf der Grundlage eines an der Hochschule vorhandenen breiten Lehrangebots einen speziellen Studiengang verlangten, an dessen Ende im Erfolgsfall ein anerkannter akademischer Abschluß stehe. Die DHfP hat schließlich einen solchen Studiengang eingeführt, mit der Abschlußprüfung des „Diplom-Politologen“. Dieses Wort und ebenso „Politologie“ hat zu seiner Einbürgerung viele Jahre gebraucht, ist inzwischen aber ziemlich selbstverständlich geworden.19 Einige Autoren haben „Politologie“ für sprachlich schlecht gehalten, in der Meinung, Gegenstand dieser „-logie“ seien doch T à P o l i t i k á  – was zutrifft –, weshalb es allenfalls „P o l i t i k o l o g i e “ heißen dürfe. Daß sich „Politikologie“ wohl nie in der Universitätspraxis durchgesetzt haben würde – offenbar hat das auch an keiner Universität jemand ernsthaft verlangt –, wäre selbstverständlich kein Beweis gegen die Korrektheit, aber die Griechen selbst haben zusammengesetzte Wörter gebildet, in denen der zweite Wortteil an den Stamm, hier Polit- und das Bindungs-o angefügt ist, z. B. polīto-kopía, was bei uns etwa mit „Populismus“ wiedergegeben werden würde. Erst am Ende will ich den Namen nennen, der sich schließlich bei weitem mehrheitlich an den Universitäten Deutschlands und im allgemeinen Sprachgebrauch (dort neben Politologie) durchgesetzt hat, z. T. per offizielle Umbenennung: „P o l i t i k w i s s e n s c h a f t “. Er ist sprachlich einwandfrei, kurz und schlicht normal, Ergebnis eines Normalisierungs-Prozesses, den das Fach im Lauf einiger Jahrzehnte an den Universitäten hinsichtlich seiner Stellung im Rahmen der Humanwissenschaften hinter sich gebracht hat.

II. Gegenstand In der Zeit vor und noch Jahre nach der Einrichtung von Lehrstühlen für Politikwissenschaft an deutschen Universitäten ist gerade dort außer den Fragen nach der (oder den) Methode(n) und nach Ziel/Aufgabe dieser Disziplin besonders die Frage nach dem Gegenstand diskutiert worden, die Frage nach dem, was Politik sei. Auf der vom hessischen Kultusminister Dr. Stein einberufenen Konferenz von Waldleiningen im Odenwald, am 10./11. September 1949, auf der über das Fach beraten werden sollte, sagte der Minister, unter „Politik“ solle das verstanden wer 19 Allenfalls nicht bei denen, die den „Diplom-Politologen“ mißverstehen als den per Diplom ausgewiesenen „Politiker“ der Zukunft.

II. Gegenstand

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den, was auch die Griechen darunter verstanden hatten: „‚Ta Politika‘ nannten sie alles, was sich auf die Polis, das öffentliche Gemeinwesen bezog“ (WK, S. 8 f.). Mit dieser Feststellung war allerdings noch nicht mehr als der – ganz richtige – Ansatzpunkt gegeben. Der Minister durfte der Meinung sein, die genauere Bestimmung des Politischen würden die Vertreter dieser Wissenschaft von der Politik besorgen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind sehr viele Definitionen des Politischen an­ geboten worden. Viele gab es außerdem in älterer deutscher Literatur und bei angelsächsischen, vor allem US-amerikanischen, bei französischen und italienischen Autoren; bei den zuletzt genannten waren auch ältere relativ ergiebig, d. h. hier: „relativ ergiebig“, gemessen an dem, was sonst angeboten wurde.20 Nicht selten ist „Gegenstand“ nur gesagt, tatsächlich aber lediglich eine mehr oder weniger unsystematische Untergliederung in Form einer Aufzählung geliefert worden. In jenem Manuskript von 1958 hatte ich (S.  26–103) die Definitionsversuche zusammengetragen und kritisch betrachtet. Sie ließen sich zu größeren Gruppen zusammenfassen, gemäß den Begriffen, die für zentral angesehen worden waren. Alles, was später an Gegenstandsbestimmungen dazugekommen ist, blieb in diesem Rahmen. Wohl aber haben sich dann die Gewichte etwas verschoben. Darauf kommt es jetzt aber nicht mehr an. Ich bringe hier nur die Zusammenfassung und jeweils einige Beispiele. In den „Feststellungen der Berliner Arbeitstagung der DHfP vom 16. bis 18. März 1950“ heißt es unter „3.“ zwar: „Als Gegenstand dieser Wissenschaft [von der Politik] erscheint folglich die Gestaltung des öffentlichen Lebens, …“, aber was dieses „Öffentliche“ ist, blieb offensichtlich ganz uninteressant oder galt als selbst­verständlich; denn es folgte nur: „dessen Grenzen zum Privaten unter den modernen gesellschaftlichen und geistigen Verhältnissen [was immer diese sein mochten] fließend sind.“ Tatsächlich lag das Schwergewicht beim Versuch zur Bestimmung des Gegenstands seitens der Berliner Tagung auf der „Macht“ (ebenda, bei „4.“; Feststellungen, S. 27). Zu einer Gruppe von Versuchen zur Bestimmung dessen, was Politikwissenschaft zu untersuchen habe, gehören Feststellungen wie: es gehe darum, erstens zu untersuchen, was Politik tatsächlich sei, und zweitens, tatsächlich Politik zu untersuchen und nicht etwas anderes, etwa Recht. Man könnte das für selbstverständlich halten, wenn man nicht wüßte, daß ab dem 19. Jahrhundert zunehmend eine rein rechts-immanente Staatslehre (als, mehr und mehr, Staatsrechtslehre)  herrschend geworden war. Auf derselben Linie liegen auch Bestimmungsversuche, 20

Auch die 1950 von der UNESCO herausgegebene Publikation „Contemporary Political Science. A Survey of Methods, Research and Teaching“ enthält Aussagen von Autoren aus aller Welt oft auch zum Gegenstand der Wissenschaft, obwohl der Buchtitel das nicht erwarten läßt. (Hinsichtlich der Methoden ist die Publikation allerdings besonders dürftig.)

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die „den Staat in seinem Leben“, und nicht bloß in Verfassungs-Paragraphen, „in seiner Entwicklung“ oder die Staat und Gesellschaft als „lebendige Wirklichkeit“, als „in Bewegung“, als dem „Gesetz des Werdens“ unterworfen für den Gegenstand der Politikwissenschaft halten. Das alles ist wissenschaftshistorisch sehr wohl relevant, aber auch nur so. Nun waren überhaupt die meisten Versuche zur Bestimmung dessen, was Politik sei, am Begriff der M a c h t oder des M a c h t k a m p f s oder dem der H e r r s c h a f t , der H e r r s c h a f t s o r d n u n g orientiert. Ich bringe hier im Hinblick auf Kapitel B.IV. Beispiele von um 1950 und vom Ende des 20. und vom Anfang des 21. Jahrhunderts. M. Freund: Die „politische Welt ist gekennzeichnet und bestimmt … hauptsächlich durch ihr Mittel: die Macht“ (KK, S. 96). Franz Neumann: „Es ist klar, was der Gegenstand der Wissenschaft der Politik ist: Politik. Politik ist der Kampf um die Macht im Staate und der Kampf der Staaten. Die Ziele, Methoden, Ideologien dieses Kampfes sind der Gegenstand der Wissenschaft“ (1950, S. 14). D. Oberndörfer: „Im Zentrum des Fragens steht daher … die Herrschaftsordnung“ (1962, S. 19). Bei Arno Mohr (S. 6) heißt es: „Die Grundsituation des Geschichtlichen schlechthin: das Streben nach Macht (dazu Schadewaldt, Geschichtsschreibung, S. 266 ff.). ‚Macht‘ ist einer der Grundbegriffe der Politikwissenschaft, nicht wenige meinen: ihr Zentralbegriff. Wer die Frage nach der Macht stellt, fragt, auch heute noch, immer nach dem, was hinter den Phänomenen liegt. Die geistesgeschichtlichen Grundlagen der Frage Carl Schmitts – Wer entscheidet in der Politik? – liegen bei Thukydides.“ (Auch bei Thukydides, 460/455 bis um 400 v. Chr., hieß die Grundfrage bereits „Wer entscheidet?“, im Sinne von „Wer herrscht?“ Ich zeige, anhand der Ergebnisse aus B. I.1.a) und B. I.1.b), in Kapitel B. I.8., daß ebenso Sokrates/Plato und Aristoteles das Wesen des Politischen schon gar nicht mehr kannten.) W. Hennis: „In der Politik geht es um Herrschaft über Menschen“ (Körber-Stiftung: 120. Bergedorfer Gesprächskreis, 21./22.4.2001, S. 41). P. Lösche: „Politik hat immer … mit Macht … zu tun“ (längeres Gespräch mit einer Redakteurin der „Saarbrücker Zeitung“; SZ v. 24.11.2001).21 Sonderfälle in dieser Gruppe sind von der Art: „Politik ist eigentlich nichts anderes als der Kampf um die p o l i t i s c h e Macht“ (WK, S. 29; Hervorhebung von mir). Hier ist mehr instinktiv erahnt worden, daß der Begriff der Macht – ich ergänze: sofern man tatsächlich wüßte, was das ist – wohl zu umfangreich sei, als daß er nur auf die Politik paßte. Deshalb wird mit Hilfe des Adjektivs „politisch“ eingegrenzt. Es ist aber nicht zulässig, einen Begriff mit sich selbst zu „definieren“ und ihn dann für „definiert“ auszugeben. Was „Politik“ und damit auch was „politisch“ ist, wollten wir ja gerade wissen. Andere Autoren, so etwa Flechtheim (1953, S. 8 f.), bemerkten die Tautologie: „Diese Form der Macht nun, mit der es die Wissenschaft von der Politik zu tun hat, sei zunächst tautologisch als politi 21 Es kommt nicht von ungefähr, daß Oberndörfer und Hennis von „Herrschaft“ sprechen („Herrschaftsordnung“ bzw. „Herrschaft über Menschen“); beide orientieren sich an der Theorie des Aristoteles, nicht am neuzeitlich (miß-)verstandenen Macht-Begriff (zu diesem B. I.3.).

II. Gegenstand

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sche Macht von anderen Formen der Macht unterschieden“, woraufhin Flechtheim einen anderen Bezugspunkt als die Macht braucht. Für ihn ist das der S t a a t plus „jenes Machtfeld, [das zwar nicht zum Staat gehört, aber] das den Staat umgibt“. Was dann von diesem Umfeld „als politisch gelten soll, hängt [wiederum] davon ab, wie sehr es den Staat beeinflußt“. Anders als bei Flechtheim und vielen anderen, bei denen letztlich also der S t a a t der Bezugspunkt bei der Bestimmung des Politischen ist, ist es bei wiederum vielen anderen die sog. G e s e l l s c h a f t . Ich nenne, stellvertretend für diese vielen, Stammer (Artikel „Politische Soziologie“, 1955). Auch hier gilt übrigens: Politische Verhältnisse sind immer zugleich Machtverhältnisse. Bei Stammer ist Politik „gesellschaftsgestaltendes soziales Handeln“ oder (kurz darauf im Zug derselben Definition) „soziales22 Handeln …, um bestimmte Interessen und Ziele von einzelnen und Gruppen … durchzusetzen“. (S. 817) Bei Sternberger (1961, S. 18) heißt es: „Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede“. Flechtheim (1953, S. 8 f.) hebt hervor, daß es in der Politik „nicht nur um ‚Streben nach Machtanteil …‘“ gehen muß, um Macht sozusagen um ihrer selbst willen, „sondern möglicherweise auch … um die Realisierung anderer Werte und Ideale“, „wie etwa Ruhe und Ordnung, Frieden und Wohlstand, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Die von Sternberger und Flechtheim genannten Ziele politischen Handelns sind von anderer Art als die von Stammer genannten Interessen Einzelner und von Gruppen in der sog. Gesellschaft; sie sind eher allgemein. Das leitet über zu Versuchen, Politik statt von sozusagen M i t t e l n (die zu „Selbstzwecken“ pervertiert werden können) wie „Macht oder … Herrschaft“ (Flechtheim, 1953, S. 8 f.)23 vom Z i e l der Politik her zu bestimmen: „optimale Verwirklichung des Allgemeinwohls“ (Kogon, WK, S. 95 f.), „Integration der gesellschaftlichen Kräfte auf Allgemeinwohl hin“ (Kogon, Vorlesung „Integrationsprozeß und Allgemeinwohllehre“, SS 58, Darmstadt, unter erklärter Bezugnahme auf Smend,24 jedoch ohne alle Elemente von Smends Integrationslehre zu übernehmen), gemäß „Ordnungsleitbildern“ (Kogon, Die politische Bildung, 1950, S. 17); „le plan politique … est 22 Offenbar werden „sozial“ und „gesellschaftlich“ als Synonyme verstanden. Das geht nicht an; dazu mehr in den Kapiteln von B.III.; s. a. Kap. A.IV., bei Soziologie. 23 Meistens, so wie hier bei Flechtheim und, um noch ein Beispiel zu geben, bei von der­ Gablentz (1954, S. 7 ff.), synonym verwendet. (Es gibt noch mehr – angeblich – Synonyma: „(Befehls-)Gewalt“, „(Verfügungs-)Gewalt“, „Autorität“. Im Angelsächsischen ist das ähnlich: außer „power“ und, wiederum angeblich, synonym „power and authority“, „ruling“ („rulers and ruled“), „control and obedience/submission“, „regulation of the conduct of­ others“ u. a. m. 24 Siehe dazu Smend (1955), S. 220 (Begriff der Integration als Begriff des Politischen). [Der Nachlass von Eugen Kogon liegt im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn. Er ist zur Zeit nicht zugänglich. Das teilte auf telefonische Anfrage der zuständige Archivar dort am 28.8.2013 mit. Der Nachlass von Robert Heinrich Schmidt ist – noch ungesichtet – im Besitz der Familie; der Hrsg.]

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celui de la réalisation du bien commun“ (Pose, 1948, S. 23); „die Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zum Staate selbst und der richtige, vom erkennenden Verstande und [von] der Sorge um die anvertrauten Menschen gelenkte Umgang mit der Macht“ und „die Bemühung um die Wohlfahrt alles dessen, was Menschenantlitz trägt“ (Carlo Schmid, 1953).25 „Der Bereich politischen Handelns“ ist für A. Bergstraesser (1958, S. 221 ff.) der „Bereich verbindlicher, mit Auctoritas und Potestas ausgestatteter Entscheidungen, welche die Stiftung und Erhaltung von Ordnung, Frieden und Sicherheit zum Ziele haben“, und zwar Entscheidungen „für ein soziales Ganzes“, für das „Gemeinwesen“. Potestas und Auctoritas – die lateinischen Termini sollten wohl eine Distanz zum neuzeitlichen Machtbegriff markieren  – sind hier eher bloß sekundär Bestimmungselement. Das spezifisch Politische wird primär im Bereich derjenigen Entscheidungen gesehen, die auf Wohlordnung des Gemeinwesens gerichtet sind. Jetzt noch zu der These einer Gruppe von Autoren, die p o l i t i s c h e s Handeln vom m e n s c h l i c h e n (nützlichen) Handeln/Tun (allgemein) nur durch die G r ö ß e d e r Ta t unterscheiden zu können behaupten. Ich bringe drei Facetten der These. Zuerst Oswald Spengler. Ich löse die Zentralthese aus ihrem schwül­sti­ gen Umfeld im Stil der mißverstehenden Nietzsche-Jünger26 und Sozialdarwi­ni­ sten26 und von „Blut und Boden“: „… der … Drang nach Geltung und Macht, … das Gerichtetsein und Wirkenmüssen ist es, was überall unter h ö h e r e n Menschen als politisches Leben die g r o ß e n Entscheidungen sucht und suchen muß  …. … Der Krieg ist die Urpolitik alles Lebendigen und zwar bis zu dem Grade, daß Kampf und Leben in der Tiefe eins sind …“.26 Nicht der Inhalt der „großen Tat“ interessiert, sondern nur die Größe und Gewalt des Tuns als Tun. Der Politiker, der „große Staatsmann“ heißt folgerichtig „Genie der Tat“.27 Nach der Erfahrung von 1933 bis 1945 muten solche Thesen gespenstisch an. – Bei Benedetto Croce fehlt das sozialdarwinistische Element, der Autor ist auch nicht Nietzsche-Jünger, er redet auch nicht so feierlich und schwülstig wie Spengler – und d a s ist nicht bloß ein äußerlicher, sondern ein materialer Unterschied  –, seine These, die „azione politica“ sei vom normalmenschlichen zweckgerichteten Handeln (Croce sagt „azione utile“) nicht inhaltlich, sondern dadurch unterschieden, daß sie „maggiore rilievo“ habe,28 ist in italienischer Renaissance-Tradition, an deren stadtstaats­wissenschaftlichem Anfang Machiavells „Il principe“ und „Discorsi“ 25 Der Ausdruck (allgemeine) Wohlfahrt, im wesentlichen dem englischen social welfare entsprechend, und der Terminus Allgemeinwohl s i n d formal synonym. Gemäß Unterschieden in den „Ordnungsleitbildern“ (Kogon) kann die inhaltliche Ausfüllung, die etwa Sozialdemokraten dem Begriff Wohlfahrt geben (z. B. mit stärkeren Tendenzen zum „Wohlfahrtsstaat“) und andere Politiker (oder Wissenschafter) dem Wort Allgemeinwohl, dann verschieden sein. 26 Spengler ist sowohl das eine als auch das andere nicht generell, aber an dieser Stelle. – Das oben folgende Zitat aus Spengler (1922), S. 549 f. (Hervorhebungen von mir). Wir sind da in der Zeit von Ernst Jüngers Erleben und Buch „In Stahlgewittern“. 27 S. 548. 28 Croce (1925), S. 10 f.

II. Gegenstand

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stehen. Croce spricht zwar nicht wörtlich von Sozial-Relevanz, wenn er „maggiore rilievo“ sagt, aber „l’azione utile di maggiore rilievo“ ist ja auch ein solches zweckgerichtetes Handeln, das als zweck-gerichtetes, auf Nutzen und Nützlichkeit (utilità) im weitesten Sinn abzielt, auf etwas, das für ein Gut (sowohl im höch­sten Sinn als auch im einfachsten ökonomischen Verständnis) gehalten, für „Wohl“ angesehen wird, und dies eben in bezug auf eine mehr oder weniger große Allgemeinheit (maggiore rilievo). Das bringt diesen Bestimmungsversuch indirekt dann doch in eine gewisse Nähe zur vorgenannten Gruppe. – Ganz deutlich ist das bei einem viel älteren italienischen Autor, Guicciardini. Ganz im Sinn der in der Renaissance gängigen Ansicht bestimmt auch er das Politische vom Wesen der Tat her. Die „politische Tat“ ist die Tat kat’ exochē´ n, sie ist die wesentliche Tat.29 Einzelne Belegstellen zu zitieren, kann ich mir hier schenken. Wichtiger ist, daß Guicciardini doch immer wieder einmal eine Angabe über den Sinn, das Ziel „politischer Tat“ macht. Da heißt es etwa, Ziel sei der „beneficio commune“ bzw. der „beneficio di molti“ (beide C 172) – das ist eindeutig – oder „fare … buona opera pel publico“ (Q 2) bzw. es gehe um „servizî fatti a’ populi e universali“ (B 167), „per interesse de’ populi“ (B 92)30. Auch die Nennung von „giustizia“ und „il ­giusto“ (Q 8, B 8) im gleichen Zusammenhang ist in diesem Sinn zu interpretieren. Zum Schluß fasse ich das zusammen,31 was uns in diesem Kapitel an Aussagen über das Politische begegnet ist bzw. über das, von woher es zu definieren sei, unter den Kategorien (1) Ö r t e r d e r P o l i t i k : Polis, öffentliches Gemeinwesen, Staat, Gesellschaft; (2) Z i e l d e r P o l i t i k : Gemeinwohl/Wohlfahrt/(gute) Ordnung/Wohlordnung, Gerechtigkeit, Friede; (3) „M i t t e l “ 32 d e r P o l i t i k : Macht, Herrschaft. 29

Guicciardini, Ricordi. Guicciardinis Feststellung, daß die Ziele der Wenigen, die wirklich Neues in Gang bringen, also der eigentlich politisch Handelnden, weil Voraussehenden, „sono quasi sempre contrarî a’ fini e appetiti di molti“ (B 30), braucht dazu nicht in Widerspruch zu stehen. Denn es wäre ja theoretisch denkbar, daß es entweder Epochen gebe oder gar stets so sei  – und­ Guicciardini hat, zumindest für seine Epoche so gedacht –, in denen die „Menge“ ihr eigenes „eigentliches“ Wohl selber mißdeute, während diejenigen, die sich auf die wahrhaft politische „Tat“ in der ursprünglichen Schau des Wesens des Wirklichen als des Zukünftigen verstehen, f ü r die Menge das wahre Gemeinwohl herbeiführen könnten. – (Das kehrte, etwas verändert, bei Rousseau wieder und, noch einmal in etwas anderem Gewand, im „Historischen Materialismus“. Das ist aber hier nicht thematisch zu behandeln.) Ich komme an anderer Stelle bei Rousseau darauf zurück. 31 Es bleiben dabei jetzt alle Aussagen außer Betracht, in denen hervorgehoben wird, er­ stens: Gegenstand der Politik müsse wirklich Politik sein (und nicht etwas anderes); zweitens: es müsse Politik dargestellt werden, wie sie wirklich ist (und nicht bloß das, was in der Verfassung steht); drittens: politisches Tun unterscheide sich vom normalen zweckgerichteten menschlichen Tun nicht von der Sache her, sondern nur durch die Größe der Tat. Wir erfahren in all diesen Fällen nichts darüber, was „Politik“ inhaltlich ist (oder angeblich ist). 32 Zum Verständnis von „Mittel“ siehe weiter unten in diesem Kapitel. 30

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

Knapp zehn Jahre nach der Waldleininger Konferenz hat der Hamburger Politikwissenschafter Siegfried Landshut in Tutzing33 in seinem am 2. Mai 1958 gehaltenen Hauptreferat34 zum Begriff des Politischen gesagt, es könne „doch kein Zweifel sein an der großen und allgemeinen Unsicherheit über den eigentlichen Inhalt dieses Begriffes. Während wir wissen, daß Politik der Titel für eine der älte­ sten Bemühungen des abendländischen reflektierenden Bewußtseins ist mit einer fast zweieinhalb Jahrtausende alten Tradition, scheint heute ein einheitlicher und aus sich selbst bestimmbarer Gegenstandsbereich des Politischen schwer identifizierbar zu sein“ (S. 1; 1969, S. 307). Er hat anhand von Hermann Hellers „Staatslehre“ (1934) gezeigt, warum wir inzwischen in dieser Lage sind. Ich gebe die Passage (S. 12 f.; 1969, S. 316–318) wieder.35 „Wie bei der Bestimmung des Politischen als Kampf um Macht, so ist aber überhaupt eine allgemeine Tendenz festzustellen, die Begriffe der Politik aus dem Zusammenhang von Vorstellungen und Erscheinungen zu interpretieren, die nur für den modernen Staat charakteristisch sind – damit aber auch jedes Maß und jedes Kriterium zu verlieren, an dem sich die besondere Eigenart des modernen Staates und seine Bedeutung als [pseudo-] politisches Gemeinwesen ermessen läßt. Was damit gemeint ist, läßt sich am besten an dem Abschnitt aus Hermann Hellers Staatslehre exemplifizieren, der die Überschrift trägt ‚Die Unterscheidung der politischen von andern gesellschaftlichen Funktionen‘ [Heller, S. ­203–208]. Sehen wir darüber hinweg, daß auch hier wieder vom Politischen als einer Funktion gesprochen wird, so geht zunächst so viel aus Hellers Ausführungen hervor, daß er durchaus ein Bewußtsein davon hat, daß das Politische nicht ohne weiteres mit dem Staat identifiziert werden kann, daß das Politische etwas Umfassenderes oder Fundamentaleres meint als den Staat. So meint er: ‚Politik und Staat sind zwar dem Begriff und der Wirklichkeit nach immer aufeinander bezogen, dürfen aber nicht miteinander identifiziert werden‘ [H., S. 205]. Der Versuch, den aber Heller unternimmt, das Besondere des Politischen von dem des Staates zu unterscheiden, stellt sich nur als eine Bestimmung des Politischen an Hand der Merkmale heraus, die für den modernen Staat und nur für ihn bezeichnend sind. Denn nicht nur der Staat, meint Heller, entwickle politische Macht, sondern auch nichtstaatliche Verbände, wie etwa Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände oder die Kirche. Ihre Macht ist aber doch wieder nur insofern politisch, als sie die Tendenz hat, sich, wie Heller sagt, ‚in Staatsmacht umzusetzen‘ [H., S. 205]. Und so endet diese Dar­ legung mit den Worten: ‚In diesem Sinne kann die Politik definiert werden als die Kunst, gesellschaftliche Tendenzen in rechtliche Formen umzusetzen‘ [H., S. 205]. Das heißt aber

33 Tagung von Politikwissenschaftern deutscher Universitäten im Rahmen der „Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik“ in der Evangelischen Akademie Tutzing, Oberbayern, vom 2. – 4.5.1958. 34 Landshut, Empirische Forschung und Grundlagenforschung in der Politischen Wissenschaft; masch. geschr. u. hektographiert, 20 Seiten; wieder in: ders., 1969, S. 307–323. 35 Die Zusätze in eckigen Klammern sind von mir. „H.“ mit Angabe der Seite bezieht sich auf Heller, Staatslehre. Die Erklärung für meinen Zusatz [nur pseudo-] zu „politisches“ ergibt sich aus den Kapiteln von B.II. [Die von Landshut gegebenen Zitate wurden anhand der „Staatslehre“ geprüft und – falls nötig – dem Original angepaßt. Mit der Formulierung „gesellschaftliche Tendenzen in rechtliche Formen umzusetzen“ zitiert Heller, S. 205, „Hartmann, Festschrift für L. Brentano, 1916, S. 220“; der Herausgeber.]

II. Gegenstand

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nur, daß die partikularen Interessen der Gesellschaft im Wettbewerb um ihre Anerkennung als verbindliche Norm für die Gesamtheit bemüht sind, – also eine andere Formulierung der Politik als Kampf um Macht. Ein früherer Absatz in demselben Abschnitt bei Heller beginnt mit den Worten: ‚Nur durch Beziehung des Politischen auf die Polis und ihre entwickeltste Form, den Staat, kann ein klarer Grundbegriff gefaßt werden‘ [H., S. 204]. Diese selbstverständliche Annahme von Heller, daß von der polis bis zum Staat eine Entwicklung stattgefunden habe vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, von der unterentwickelten Form zur vollentwickelten Reife, versäumt es zu sagen, was unter dem Terminus a quo, der polis, zu verstehen ist. Es zeigt sich nur das Bedürfnis, den Begriff des Politischen da anzusetzen, wo er herkommt. Aber im selben Augenblick bestimmt er auch schon die polis wieder vom Staat her als ihrer – wie er meint – entwickeltsten Form. Dies mag insoweit verständlich sein, als der Staat, sobald er geschichtlich in Erscheinung zu treten beginnt, im menschlichen Leben an die Stelle tritt, die der polis ursprünglich zukam. Er soll so etwas wie eine polis sein[,] und bis heute ist unser geheimer Anspruch, den wir an ihn stellen, immer noch, daß er so etwas wie eine polis sein sollte. Und in der Tat ist eigentlich kein menschliches Gemein­ wesen weder denkbar noch lebensfähig, das nicht gewisse Elemente ursprünglicher polis, d. h. politischer Lebensgemeinschaft, noch in sich bewahrte. Aber das Prinzip derjenigen öffentlichen36 Ordnung, die als Staat bezeichnet wird, ist nicht nur nicht eine reifere Fortentwicklung dessen, was der Begriff der polis besagt, sondern in gewissem Sinne gerade das Gegenteil – das Prinzip der Nicht-polis, das Unpolitische zum Prinzip gesetzt. Die Idee der polis – und ich meine damit nicht den griechischen Stadtstaat,37 sondern die in dieser Form aufgefaßte Lebensgemeinschaft  – beruht auf der von Aristoteles formulierten Voraussetzung, daß der Mensch seiner Natur nach ein politisches Wesen sei. Der Staat aber setzt den Menschen als ein seiner Natur nach unpolitisches Wesen, überhaupt als einen einzelnen voraus.“

Gegen Ende des Referats (S. 19; 1969, S. 323) nannte Landshut die Konsequenz: die Politikwissenschaft sehe „sich also heute auf die Klärung ihrer eigenen Grundlagen angewiesen, d. h. auf die Klärung dessen, was es mit dem Politischen eigentlich auf sich habe“; und vom Anfang dieses Kapitels kennen wir den Hinweis des hessischen Kultusministers, unter „Politik“ solle das verstanden werden, was die Griechen darunter verstanden haben. Auf „was es mit dem Politischen eigentlich auf sich habe“ komme ich am Schluß des Kapitels zurück. Zunächst aber eine Bilanz dessen, was wir bisher gewonnen haben. Ich nehme zuerst die Bezeichnungen für die „Örter“ von Politik, also für das, w o sich Politik ereignet(e). Für die Griechen war das die Polis. Bei uns wurden genannt: zum einen Bezeichnungen für Gemeinwesen („Polis“, „öffentliches Gemeinwesen“, „Staat“), zum anderen für das sozusagen Kräftefeld, in dem Gruppen und Einzelne agieren, ihre „Interessen … durchzusetzen“ versuchen, die sog. Gesellschaft. Wenn es richtig sein sollte, wie Landshut sagt, der Staat – als das 36

Von dem her, was nun unmittelbar folgt, dürfte es nur heißen: „angeblich öffentlichen“. Was sowieso eine voreilige Übersetzung wäre, mit ebensolchen Fehlern, wie sie Landshut bei Heller beanstandet (siehe B. I.8.). 37

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

im Verhältnis zur Polis Jüngere – sei „das Unpolitische zum Prinzip gesetzt“ (was noch zu untersuchen ist; siehe B.II.), blieben an Bezeichnungen aus den in unserer Zusammenstellung vertretenen noch übrig: „Polis“ und „öffentliches Gemeinwesen“. Zu „Polis“ meint Landshut, man müsse hier das Augenmerk auf das dieser Art von „Lebensgemeinschaft“ innewohnende „Prinzip“, also auf das für sie Wesentliche richten, nicht auf die konkreten griechischen „Stadtstaaten“. Ob jene konkreten griechischen Gemeinwesen  – (von Landshut offensichtlich gemeint: zur Zeit des Aristoteles)  – sinnvoll überhaupt als „Staaten“ bezeichnet werden dürfen oder als „Herrschaftssysteme“ zu bezeichnen sind, ist hier vorerst noch ungeklärt. (Zu „Staat“ siehe B.II.2. und die dann folgenden Kapitel B.II.2.a)  –  B.II.2.e).) Außerdem ist noch ungeprüft, ob für „Polis“ die Stadt überhaupt die Voraussetzung ist, wie behauptet wird (dazu siehe B. I.8.). Ferner ist hier noch ungeklärt, was „Gesellschaft“ als empirischer Befund ist bzw. als Theoriebegriff (das siehe in den Kapiteln von B.III.). An zweiter Stelle haben wir zur Bestimmung des Gegenstands der Politikwissenschaft Begriffe, die sich am „Ziel“ von Politik orientieren. Dabei werden vor allem genannt: Gemeinwohl/Wohlfahrt (und entsprechende Begriffe anderer Sprachen)/Wohlordnung/(gute)  Ordnung, dann Gerechtigkeit (und entsprechende Begriffe anderer Sprachen), Friede. Hinsichtlich der Ziele verweise ich auf B. I.4. und B. I.5., auf B.II.1.d) und B.II.2.c). Bereits an dieser Stelle können wir fest­halten: Sokrates/Platon kannten in ihrer Theorie als Ziel/Aufgabe des politischen Gemeinwesens die Förderung der Tugend,38 wörtlich: der Gutheit, des Gutseins (aretē´ ) als des einzig wahren Gutes des Menschen, bzw. von Tugend und Glücklichsein (eudaimonéō).39 Aristoteles galt das Glück als das höchste Gut, wobei gutes Leben und gutes Handeln zusammen das Glück ausmachten – erreichbar nur im politischen Gemeinwesen, nicht vom Einzelnen allein, der isoliert hier ganz hilflos sei. Daß in diesem Sinn das Glück das höchste Gut sei, meint Aristoteles,40 darin „stimmen fast alle überein. …. Aber was das Wesen des Glücks ist, ist unsicher“, woran sich bis heute nichts geändert hat. Über Gerechtigkeit – zu Platon siehe Fußnote 38 – sagt Aristoteles: „Wir nennen Gerechtigkeit die Tugend des politischen Gemeinwesens, der die anderen Tugenden folgen müssen“ („Politik“, III, 1283a). Mit anderen Worten etwa: Gerechtigkeit ist Grundbedingung dafür, daß das politische Gemeinwesen das erbringen kann, was es soll. Auch das, was „Gerechtigkeit“ ist, als „Legitimität“ über „Legalität“ hinaus, ist gleichfalls bis heute umstritten. Daß in den Theorien von Sokrates/Platon und dann von Aristoteles zwar noch von politischen Gemeinwesen (pólis, polīteía, koinōnía polītikē´ ) die Rede war, 38 Platon, Nomoi, XII, 962a–964b: die Tugend in ihrer Vierervielfalt (Tapferkeit, Besonnenheit, Weisheit, Gerechtigkeit) und zugleich Einheit. 39 Platon, Nomoi, V, 742d/e („Glück“ noch nicht i. S. v. „fortuna“, sondern eben als Tugendhaftigkeit, aretē´ ). 40 Aristoteles, Nikomachische Ethik I, 2, dazu auch I, 9.

II. Gegenstand

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daß es aber längst um Herrschaftssysteme ging, habe ich oben erst kurz angesprochen. Zwar ist erst noch im einzelnen zu zeigen – und das lässt sich nicht hier vorwegnehmen –, was das Politische und damit das politische Gemeinwesen ausmacht (siehe die Kapitel von B. I.) und wie die Systeme pervertiert wurden (von mir untersucht am Fall der Entwicklung vom Gemeinwesen der frühen germanischen Franken zum frühmittelalterlichen Franken-Langobarden-Reich, zum mittelalterlichen Kaiserreich, dann zum frühneuzeitlichen Staat; siehe die Kapitel von B.II.). Wohl aber kann ich bereits hier belegen, daß es bei Sokrates/Platon und dann bei Ari­ stoteles in Wirklichkeit um Herrschaft, um Herrschaftssysteme ging, unbeschadet jener Überlegungen zu Tugend und Glück und trotz der Weiterverwendung der Bezeichnungen polīteía, pólis und koinōnía polītikē´ . Im Vergleich mit den außerdem inhaltlich wenig ergiebigen Theorien über das Gute, über Tugend, Glück und Gerechtigkeit nimmt sowohl bei Sokrates/Platon als auch bei Aristoteles die Er­ örterung darüber den bei weitem größten Raum ein, wie Herrschaft am besten einzurichten sei bzw. welche Herrschaftsform,41 welche -archie bzw. -kratie welcher anderen -kratie bzw -archie vorzuziehen sei (Vorteile, Nachteile) bzw. wer die Herrschaft ausüben solle bzw. an ihr zu beteiligen sei. Weil diese Diskussion um das richtige Herrschaftssystem bzw. wer „an der ‚Macht‘“ sein soll, bis in unsere Tage geführt worden ist, ist es auch nicht verwunderlich, daß viele Vertreter des Fachs (und weithin Journalisten) „Herrschaft“, „Herrschaftsordnung“ bzw. „Macht“, „Machtkampf“ als das für „die Politik“ Charakteristische, folglich für d e n Gegenstand der Politikwissenschaft halten,42 wobei die meisten dieser Fachvertreter hinzufügen, „Macht“ bzw. „Herrschaft“ dürfe nur „Mittel“, nicht „Selbstzweck“ sein. (In den Kapiteln B. I.3. und B.II.1.c) geht es thematisch um die Begriffe Macht und Herrschaft.) Das Ergebnis der kritischen Betrachtung der vorliegenden Versuche aller drei Gruppen zur Bestimmung des Politischen als des Gegenstands der Politik­ wissenschaft ist ganz unbefriedigend, aber das, was uns Landshut genannt hat 41

In der Literatur darüber wird sehr oft von „Staatsformen“ gesprochen. Das geht nicht an, weil „Staat“ erst auf Systeme viel späterer Zeit paßt. Auch die oft benutzte Bezeichnung „Verfassungen“ ist falsch. „Verfassung“ hat sowohl formal als auch material eine andere Bedeutung. Wir sollten nahe an den Begriffen bleiben, mit denen die Griechen die Systeme bezeichnet und die die griechischen Philosophen verwendet haben: -kratien bzw. -archien (Monarchie, Aristokratie, Oligarchie, Demokratie, Plutokratie, Ochlokratie), also „Herrschaftsformen“. Wann die Diskussion über Herrschaftsformen und den Vergleich dieser Formen in Griechenland aufgekommen ist, s. Kap. B. I.8. 42 In einem anderen Zusammenhang („Zum Begriff und Gegenstand der Politischen Soziologie“, wo Landshut zeigt, wie es wissenschaftshistorisch und historisch dazu kommen konnte, „daß die Sache der Politik [als Politikwissenschaft verstanden] zur Sache der Sozio­ logie [der sog. Politischen Soziologie] geworden ist“ (S. 410) und was in kritischer Betrachtung davon zu halten sei – worauf ich nur verweise) hat der Autor verständlich gemacht, „wie die Meinung entsteht, daß es sich in aller Politik immer nur um das Problem der Macht und des Machterwerbs handle und daß die Politische Wissenschaft zum Hauptthema die ‚Faktoren der Machtbildung‘ habe“ (S. 413).

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

(„Die Idee der polis … beruht auf der von Aristoteles formulierten Voraussetzung, daß der Mensch seiner Natur nach ein politisches Wesen sei“), ist ebenfalls unbefriedigend, weil wir auf Theorie verwiesen werden. In dem in der letzten Fußnote genannten Aufsatz, der ungefähr aus gleicher Zeit (1956) ist wie der Tutzinger Vortrag, heißt es in dieser Sache: „So stellt sich heute das ursprüngliche Thema der Politik von neuem, die Frage nach dem Begriff des politischen Gemeinwesens, nach dem Menschen als Zoon politikon. … Die Besinnung der Politik [hier verstanden als Wissenschaft von der Politik, i. S. v. Aristoteles’ „Tà Politiká“] geht auf den Ursprung und das Wesen politischer Gemeinschaft, sie fragt nach den das Politische konstituierenden Elementen, nach dem Begriff der Herrschaft, der Repräsentation, der Souveränität oder Majestät, der Legalität, der Einheit, der Freiheit in der Zuordnung von Befehl und Befolgung, der Gliederung der politischen Gemeinschaft und ihrem Zusammenhang mit Recht und Gerechtigkeit“ (S. 414). Auch hier sind wir auf Theorie verwiesen und auf Begriffe, die leider nur auf­ gezählt sind, ohne daß ein Konzept erkennbar ist zur „Klärung dessen, was es mit der Politik eigentlich auf sich habe“. Was das Politische ist, wissen wir so also immer noch nicht, am Ende des 2. Jahrtausends n. Chr. Ich habe wegen der Schwäche des nur provisorisch, nur unbefriedigend abgeschlossenen Kapitels A.II. mein Manuskript zur Wissenschaftstheorie der Wissenschaft von der Politik vom Oktober 1958 mehrere Jahrzehnte lang in der Schublade liegen lassen, bis ich vielleicht einen Weg finden würde, das Wesen des Politischen sichtbar zu machen, aber nach zweieinhalbtausend Jahren Herrschafts-Theorien nicht noch einmal mit einer Theorie. Daß bei der Polis anzusetzen wäre, war klar, aber der Rückgriff mußte weiter als bis Aristoteles und weiter als bis Platon/Sokrates reichen, und es durfte nur mit empirischen Befunden gearbeitet werden, damit sich das Politische von sich selbst her zeige, w e n n es sich zeigen würde. Erst nach und nach bin ich dahinter gekommen, daß ich es in Kombination auf drei Wegen versuchen könnte. Die Ergebnisse des überraschend ergiebigen Versuchs lege ich in den Kapiteln von B. I. vor. Dort sage ich zu Anfang, auf welchen Wegen ich vorgegangen bin.

III. Methoden Im 1958 abgeschlossenen Manuskript habe ich auf S. 104–153 ausführlich die Methoden beschrieben, auch hier ausgehend von der Diskussion jener Zeit, in der die Einführung eines Fachs Wissenschaft von der Politik an den Wissenschaftlichen Hochschulen Westdeutschlands und Westberlins erörtert wurde. Der von mir 1967 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt in der Reihe „Wege der Forschung“ herausgegebene Band „Methoden der Politologie“ enthält vorne einen einleitenden Beitrag des Herausgebers unter dem Titel „Methoden und Techniken der Wissenschaft, insbesondere der Politologie“ (S. IX-LXI). Zum einen bringt er einen Überblick über die Entwicklung der Methodendiskussion

III. Methoden

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in der Politologie nach dem Zweiten Weltkrieg, zum anderen ging es mir darum (S. XXI-LXI), die Methodendiskussion zu straffen, nachdem sie zuvor von vielen Seiten ganz offensichtlich ohne oder mit nur geringer Kenntnis von Philosophie, Erkenntnistheorie und Logik geführt worden war, mit sehr viel Verwirrung im Ergebnis. Da es im Teil A der hier vorgelegten Arbeit thematisch um die Wissenschaftstheorie geht, kann ich in diesem Kapitel über die Methoden nicht einfach einen Generalverweis auf jenen Methoden-Band bringen. Ich verfahre so, daß ich Verweise nur vornehme, wenn es um Sonderfälle geht, daß ich die zentralen Sachverhalte des Methoden-Themas aber auch hier darstelle.43 Bevor ich das tun kann, sind einige Vorüberlegungen erforderlich. Jene Verwirrung und der größte Teil der Mißverständnisse in der Diskussion über die Methoden stammen aus Unklarheiten über das, was tatsächlich Erkenntnismethode ist und was nicht. Da mangelt es an Unterscheidung zwischen qualifizierten (echten) Methoden der Erkenntnis einerseits und unqualifizierten Begriffen von „Methoden“ sowie Pseudomethoden andererseits; es mangelt an Unterscheidung zwischen echten Erkenntnismethoden und lediglich Verfahren und „Techniken“, mit deren Hilfe die für ein Vorgehen mit echten Erkenntnismethoden erforderlichen Sachverhalte erst einmal beigebracht werden. 1. Unqualifizierte „Methoden“-Begriffe Unqualifiziert sind „Methoden“-Begriffe, die zur Bezeichnung den Namen einer Wissenschaft oder Wissenschaftsgruppe in adjektivischer Form benutzen: „juridische“, „sozialwissenschaftliche“, „naturwissenschaftliche“, „historische“, „theologische“ Methode usw. Solcherlei Rede – angenommen, sie wäre wenigstens dem Sinn entsprechend qualifiziert – schließt übrigens die Behauptungen mit ein, für eine bestimmte Wissenschaft oder Wissenschaftsgruppe gebe es nur eine Erkenntnismethode, und mit dieser Methode könne nur in dieser Wissenschaft/Wissenschaftsgruppe gearbeitet werden. Fürs erste könnte man theoretisch eine solche Situation vielleicht wenigstens für nicht ausgeschlossen halten, in jedem kon­k reten Fall läge aber die Beweislast bei denen, die die Situation als gegeben behaupten wollten. Auch sie kämen nicht darum herum, für den Fall ihrer Wissenschaft die verwendete Methode (als echte Erkenntnismethode) klar zu bezeichnen. Einen solchen Fall hat es tatsächlich noch nicht gegeben.

43 Eine gute Einführung in „Begriffe“, „Aussagen“, „Theorien“ und „Die Geltung politikwissenschaftlicher Aussagesysteme“ bringen Winkler/Falter (S. 87–115), jeweils mit Beispielen. – In der im Buchtitel explizit auf die Politikwissenschaft bezogenen Publikation Bußhoffs über Methodologie (168 Seiten) gibt es zwar (S. 38–46) ein Unterkapitel speziell zur Methodenlehre, aber selbst dort erfährt man nichts darüber, welche Methoden der Erkenntnis es überhaupt gibt. Das Buch wird beherrscht von Theorienstreit.

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

2. Pseudo-Methoden Außer den genannten unqualifizierten „Methoden“-Begriffen sind Pseudo-­ Methoden in der Diskussion: die „dogmatische“, die „empirische“, die „kritische“, die „spekulative“, die „quantitative“, die „statistische“. Dogmen sind autoritative Setzungen, in Glaubens- oder Rechts- oder Sitten­ fragen. Es hat noch niemand zeigen können, wie man „auf dogmatische Weise“ zu einem Zuwachs an Erkenntnis soll kommen können. Empirie ist nicht Methode der Erkenntnis, sondern Hinwendung des Wissenschafters zu den Phänomenen, in der Erfahrung (dabei im Verständnis des strengen Empirismus: zu den phänomenalistisch aufgefaßten Phänomenen – was hier nicht weiter erörtert werden soll44). Ohne Empirie ist sach-orientierte Wissenschaft nicht möglich. (Kant über den Streit zwischen englischen Empiristen und den Cartesianern in „Kritik der reinen Vernunft“.) Die „Empiriker“ benutzen echte Methoden des Erkennens: die analytische Beschreibung (siehe weiter unten) und auch – zwar versteckt und verschleiert – den Induktionsschluß auf allgemeiner gültige Aussagen hin (ebenfalls weiter unten) oder, wie es auch heißt und was auf dasselbe hinausläuft (bei lediglich stärkerer Betonung der Vorläufigkeit), auf „nomologische Hypothesen“ hin (Näheres siehe bei Induktion in A.III.4.b)); eine besondere „empirische Methode“ ist das jedoch gerade nicht. – Zuweilen wird von „empirischen Methoden“ im Plural gesprochen, in bezug auf die sogenannte Empirische Sozialforschung mittels Fragebogen, halbstrukturierten Interviews und Intensiv-Interviews (und Instrumentarien jeweils als Kombination davon). Das sind nicht echte Erkenntnismethoden, sondern Verfahren zur Materialgewinnung. „Kritik“ ist nicht Erkenntnismethode, sondern meint die in der Wissenschaft stets erforderliche Überprüfung von Aussagen/Ergebnissen. – Allein mittels Spekulation kommt keine wissenschaftliche Erkenntnis zustande. Spekulation, allgemein als Verstandes- oder Vernunftbetätigung schlechthin aufgefaßt, ist dagegen etwas ganz Normales für Wissenschaft. So wie Denken los­ gelöst von Inhalten in sach-orientierten Wissenschaften unmöglich ist, ist Erfahrung ohne Begrifflichkeit wissenschaftlich irrelevant. Dagegen: Spekulation als unverbindliches „Denken über“, ohne Möglichkeit zur Kontrolle durch andere, ist wissenschaftlich wertlos und erst recht nicht eine Methode der Wissenschaft. „Quantifizierung“ ist nichts anderes als „Beschreibung“, hier dessen, was an den den Wissenschafter interessierenden Phänomenen meßbar und zählbar ge 44 Es mögen die Fußnotenhinweise genügen, erstens auf die Kritik von Adorno und Habermas (beide in Topitsch, 1965) am Empirismus und seiner „analytischen“ Wissenschaftstheorie, zweitens auf Husserls (11900) „phänomenologische Reduktion“, die Ausklammerung des Streits über „Ding an sich“ und „bloß Erscheinung“, drittens auf Heideggers (61949) Versuch eines Seins-Verständnisses v o r aller Subjekt-Objekt-Spaltung.

III. Methoden

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macht werden kann. (Es kann dabei auch um Zählung der Häufigkeit von Qualitätsmerkmalen gehen.) Gegen den weit verbreiteten Irrtum, mittels Quantifizierung sei Genauigkeit zu erreichen, hat gerade der in den USA sehr bekannte amerikanische Mathematiker und Spiel-Theoretiker Rapoport in einem Vortrag vor Politikwissenschaftern gesagt: „Für das Opfer an Genauigkeit (die Genauigkeit muß immer geopfert werden, wo Messungen beteiligt sind) erreicht er [der Forscher, etwa der Physiker] Vereinfachung …“ (S. 309 im Methoden-Band). Die mit der Quantifizierung verbundene Vereinfachung kann auch in Vorstadien politikwissenschaftlicher Bearbeitung von Phänomenen unter Umständen unausweichlich sein, wenn nämlich rein verbale Darstellungen unüberschaubar dickleibig würden. Statistik (hier im inzwischen allgemein üblichen Verständnis, ohne Blick auf ihre Anfänge als Territorial-S t a a t s -Wissenschaft) ist lediglich eine besondere Form, zusammengetragenes Material unter den interessierenden Gesichtspunkten übersichtlich anzuordnen, sie ist deshalb nicht mehr als eine Form der Beschreibung. 3. Organisatorische und andere Verfahren zur Datengewinnung Organisatorische und „technische“ (z. T. tatsächlich eher quasi handwerkliche) Verfahren zur lediglich Material-/Daten-Gewinnung gibt es in großer Vielfalt. Die – wenn sie nicht bloß in positivistische Betriebsamkeit münden – ergiebigen Verfahren der „Empirischen Sozialforschung“ habe ich in Kapitel III.2. schon genannt. In der Vor- und Frühgeschichtsforschung sind solche Verfahren: die Dendrochronologie, die sogenannte Radio-Carbon- oder 14C-„Methode“ (zu Kombinationen und Überprüfungen sehr gut Street et al., 1994, S.  9–15) sowie die DNA-(DNS-)Analyse der Molekular-Anthropologie (diese auch noch für andere Disziplinen). Für die Archäologie sind zu nennen etwa das „Schneiden“, das „Planum-Legen“ als solcherart „technische“ Verfahren, mittels derer der Wissenschafter ein von ihm an einer bestimmten Stelle oder in einem bestimmten Areal vermutetes oder für wahrscheinlich oder doch für möglich erachtetes oder mög­ licherweise in anderen Zusammenhängen wichtig werdendes „Faktum“ aufzufin­ den und in den Blick zu bringen sucht. In bezug auf die Medizin können EKG und EEG stellvertretend für sehr viele andere stehen. All das sind Verfahren für das „obtaining data“. Erst danach geht es um echte Erkenntnismethoden.  – In den gleichen Bereich der zunächst einmal Materialgewinnung gehört das Experiment. Viele Wissenschaften, nicht nur die sogenannten exakten45 Naturwissenschaften, aber besonders sie, würden – angesichts der Intentionen dieser Wissenschaften – die Phänomene ihres Interesses auf natürliche Weise zum Teil  überhaupt nicht, 45

Dazu siehe oben bei Rapoport.

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

zum Teil nicht schnell genug in hinreichender Zahl in den Blick bekommen, wenn sie sich diese Phänomene, so wie sie sie haben wollen, nicht in der „experimentel­ len Anordnung“46 selbst „schüfen“. In den Wissenschaften vom Menschen ist das Experiment in diesem Sinn47 von geringerer Bedeutung als in den Naturwissenschaften (in diesen ja besonders seit Galilei). Die Gründe dafür liegen auf sehr verschiedenen Ebenen. Zum einen ist ein Experimentieren mit Menschen, etwa in der medizinischen Forschung mittels Medikamenten und mittels anderer „Therapien“, in der Psychologie und in der Pädagogik, nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Es gibt sehr viele solcher Bedingungen, zum Teil Bedingungen sehr verschiedenen Gewichts, je nach Situation, aber eine Bedingung, die absolut eine Grenze setzt, ist die Würde des Menschen. Um ein krasses Beispiel zu nennen, hier für den Bereich der Politikwissenschaft: Die Würde des Menschen verböte es, sagen wir in Süd- und Mittelamerika, ein paar Revolutionen anzuzetteln, damit wir die Zahl der „Fälle“, deren Abläufe und Ausgänge wir beobachten und miteinander vergleichen wollen, schneller vermehren könnten. Zum anderen sind im HumanBereich die „experimentellen Bedingungen“ oft nicht so leicht herzustellen. Ferner lassen sich menschliche Handlungen sowohl unter dem Aspekt der Kausalität (grob: Verursachung durch anderes) als auch unter dem der Spontaneität (grob: Eigen-Entscheidung) betrachten. Im Normalfall bekommen die Wissenschaften vom Menschen und von menschlichen Hervorbringungen ihr „Material“ sowieso nicht aus Experimenten, sondern auf „natürlichem Weg“, als Ergebnisse menschlichen Handelns, aus dem Geschehen, aus der Geschichte. Damit komme ich zum Kern des Methoden-Themas, d. h. zu den echten Erkenntnismethoden. 4. Echte Erkenntnismethoden Echte Methoden der Erkenntnis bieten entweder direkt oder indirekt Zugang zu Erkenntnis. Etwas Drittes gibt es nicht. Es existieren in beiden Gruppen jeweils nur ganz wenige Methoden.

46 „Experiment“ hier als planmäßig herbeigeführte Anordnung von (meist kontrolliert variablen) Umständen zum Zweck wissenschaftlicher Beobachtung. 47 Etwas anderes ist die Erprobung der Tauglichkeit menschlicher Hervorbringungen für praktische Zwecke. So „probiert“ ein Künstler, etwa ein Maler, mit Farbnuancen, bis er die geeignete gefunden hat. (In ungenauer Rede heißt das zuweilen: „Er experimentiert mit den Farben“.) Eine große Rolle spielen die Erprobungen (oft „Probe-Läufe“ genannt) bei technischen Hervorbringungen (Brücke, Kaffeemaschine, Auto u. a.) auf dem Weg von der Idee über Entwurf, Entwicklung, Proto-Typ bis zur Produktion, schließlich bei der Verbesserung.

III. Methoden

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a) Methoden direkter Erkenntnis48 Auf direktem Weg gewinnen wir Erkenntnis zunächst und primär aus der Beschreibung von Beobachtetem (von Vorgängen/Sachverhalten, die der Wissenschafter selber oder ein aufeinander abgestimmt arbeitendes Team von Wissenschaftern z. B. gleichzeitig an verschiedenen Orten beobachtet hat oder die von Dritten beobachtet wurden  – was dann stets der Quellenkritik bedarf). In den Wissenschaften am meisten angewendet wird die analytische Beschreibung, auch einfach Analyse genannt. Bei ihr werden die „Aspekte“ oder „Teile“ des zu Beschreibenden hintereinander gereiht oder in eine sonstwie geeignete Anordnung gebracht, mit dem Grad von Vollständigkeit, der zu erreichen möglich oder an­ gestrebt ist. Wenn die Beschreibung auf ein Ganzes abzielt, von dem uns aber nur z. B. ein Bruchstück oder wenige Bruchstücke gegeben sind, sprechen wir von synthe­ tischer Beschreibung oder einfach von Synthese,49 desgleichen, wenn wir ein kon 48

Sonderfälle direkter Erkenntnis sind außer Diltheys Methode des Verstehens (zu ihr auch Fußn. 59) die von Husserl entwickelte phänomenologische Methode sowie, mit Einschränkung, die sogenannte dialektische Methode. Bezüglich dieser Varianten genügt es für die Zwecke der hier vorgelegten Untersuchung, auf den Methoden-Band zu verweisen, wo sie auf S. XXXI–XLII aus politologischem Interesse dargestellt sind. Lediglich in bezug auf Dil­ theys „Methode des Verstehens“ möchte ich noch einen anderen Hinweis geben. Einen guten Überblick (mit kritischer Würdigung) dreier im Verhältnis zu Dilthey weiterführender Versuche bringt Habermas, Zur Logik, 1985 bzw. 51982: „Der phänomenologische Ansatz“ (S.  207–240), „Der linguistische Ansatz“ (S.  240–271) und „Der hermeneutische Ansatz“ (S.  271–305), dieser deutlich abgesetzt von den beiden zuerst genannten (s. bes. S.  284). Wer nicht ein Sonderinteresse an einem dieser Ansätze hat, wird damit gut auskommen und braucht hierfür nicht Husserl, Wittgenstein und Gadamer im Original. – Eine große Gefahr birgt allerdings eine der zentralen Aussagen Gadamers, die bei Habermas (S. 285) wiedergegeben ist: „‚Daß das nachkommende Verstehen der ursprünglichen Produktion gegenüber eine prinzipielle Überlegenheit besitzt und deshalb als ein Besserverstehen formuliert werden kann, beruht nicht so sehr auf der nachkommenden Bewußtmachung, die zur Gleich­ stellung mit dem Urheber führt (wie Schleiermacher meinte), sondern beschreibt im Gegenteil eine unaufhebbare Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber, die durch den geschichtlichen Abstand gegeben ist. Eine jede Zeit wird einen überlieferten Text auf ihre Weise verstehen müssen, denn er gehört in das Ganze der Überlieferung, an der sie ein sachliches Interesse nimmt und in der sie sich selbst zu verstehen sucht.‘“ Jene These vom Besserverstehen auf seiten des Interpreten im Vergleich mit dem Urheber und daß „eine jede Zeit … einen über­lieferten Text auf ihre Weise (wird) verstehen müssen“, verführen leicht dazu, an historisch weiter Zurückliegendes mit Begriffen heranzugehen, die auf die Gegenwart und vielleicht auch noch auf weniger weit Zurückliegendes sehr wohl passen, das Verständnis des viel weiter Zurückliegenden aber entscheidend verbauen. Im Teil B. wird das für unser Thema an vielen Stellen akut. – Kritisch zur sog. dialektischen Methode Topitsch (Sprachlogische Probleme, S. 28). – Als „Dialektik“ wird oft auch das „topische Verfahren“, kurz „Topik“ bezeichnet. Das ist etwas anderes als die sog. dialektische Methode. Auf die Topik komme ich in Kap.  A. IV, Ende, u. Kap. B. I.2. zurück. 49 Nicht zu verwechseln mit der Zusammenfassung der Ergebnisse einer Analyse und auch nicht mit der „Substanz-Synthese“ in der Chemie.

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

kretes Seiendes etwa als kreisförmig beschreiben, obgleich dieses Seiende allenfalls eine Annäherung an die Kreisform ist. Das heißt, wir synthetisieren gerade dadurch, daß wir das Seiende als kreisförmig sehen und beschreiben, obgleich Meßgeräte zeigen oder doch zeigen könnten, daß das Seiende von der Kreisform abweicht. Synthese ist eine positive Leistung des Erkennens, nicht identisch mit Täuschung. Selbstverständlich gibt es auch Täuschung, aber das liegt auf einer anderen Ebene. Wenngleich, wie wir wissen, Beschreibung auch mündlich möglich ist, ist sie für Wissenschaft aufs Ganze gesehen und auf Dauer doch nur schriftlich relevant. Die Grundform ist die protokollierte Aussage über die Beobachtung konkreter einzelner Tatbestände und Abläufe (auch etwa von Denkvorgängen), kurz: das Protokoll. Ein Protokoll kann aus fortlaufendem Text bestehen („verbal“ sein), es kann aber auch die Form von Tabellen haben (etwa zur Beschreibung, die ein Chemiker oder Physiker über seine Beobachtung eines von ihm organisierten konkreten einzelnen Versuchs gibt, eines nächsten konkreten einzelnen Versuchs usw., zusammen: einer Versuchsreihe) oder von Kurven (so etwa bei jenem EKG in der Medizin); es kann eine Zeichnung sein (so z. B. die Zeichnungen jener „Schnitte“ oder „Plana“ in der archäologischen Feldforschung) oder ein „Szintigramm“ (der Radiologen, im Computer oder als Leuchtbild sozusagen ausgedruckt), aber auch noch anderes. Allgemein ausgedrückt: alle sach-orientierten Wissenschaften beschreiben, in vielen Formen, zunächst einmal konkretes Einzelnes, sei es, daß das konkrete Einzelne aus seinen „natürlichen“ Bedingungen herausgelöst und unter Versuchs­ bedingungen gebracht worden ist, etwa für jene Versuchsreihen des Chemikers (oder auch eines Botanikers oder Zoologen), oder daß es belassen wird, wie es sich aus der nicht experimentell beeinflußten Entwicklung von selbst ergibt. Die Beschreibung fixiert, was wie wann unter welchen Umständen wo ge­wesen ist. Spätestens beim zweiten Mal wird der Leser dieses Satzes sich sagen: Das ist doch das, was die Geschichtswissenschaft als Geschichtsschreibung, als Historiographie ausmacht. So ist es. Jede wissenschaftliche Arbeit setzt sozusagen mit „Geschichtsschreibung“ ein.50 Jener Chemiker wird sich dessen allerdings, wenn überhaupt, nur selten bewußt sein, daß er Konkret-Einzelnes (wenn auch damit nicht schon Konkret-Individuelles) beschrieben hat, in der Regel abgekürzt und standardisiert, und stets zunächst beschreiben muß, wenn er wissenschaftlich arbeiten will: diesen Versuch mit dieser konkreten Portion Schwefel unter diesen Bedingungen, dann den nächsten konkreten Versuch usw. Er wird sich dessen nicht oder nur selten bewußt sein, weil das Konkret-Einzelne als solches ihn nicht

50 Unabhängig davon, was den Wissenschafter dazu gebracht hat zu sagen: Ich will wissen, wie dies ist!

III. Methoden

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thematisch interessiert,51 sondern nur als Fall.52 Das ist dann ganz anders bei den Wissenschaften vom Menschen und von den menschlichen Aktivitäten und Hervorbringungen, die Konkret-Individuelles beschreiben: bei der Geschichts­ wissenschaft im ganzen und bei den historischen Disziplinen für Einzelsachgebiete (Näheres im folgenden Kapitel). Bei ihnen geht es um das Konkret-Individuelle als solches und nicht bloß als Fall. Weiter oben ist schon gesagt worden, daß die historischen Disziplinen die zu beschreibenden Gegebenheiten in der Regel aus der Entwicklung dieser Gegebenheiten selbst nehmen, außerhalb experimenteller Bedingungen. Weil die Histo­riker aber von alters her (gemeint ist: seit es moderne Geschichtswissenschaft gibt) „hi­ storischen Abstand“ zum zu untersuchenden Ereignis halten, sind sie beim Beobachten in der Regel nicht selbst tätig, sondern auf Dritte angewiesen, auf Dritte, mit denen sie nicht, etwa in einem Team, zur Beobachtung verabredet waren. Wie sie an ihr Material herankommen, zeige ich in Kapitel A.III.4.b), wo ich außerdem ein Schlußverfahren nenne, das die Historiker benutzen.

51 Sonderfälle liegen vor, wenn quasi die „Geschichte“ eines konkreten Tieres oder eines bestimmten Baumes beschrieben wird. Wissenschaftlich eher relevant werden solche Beschreibungen, wenn der Gegenstand ein schon mehr komplexer Biotop ist. (Näheres im folgenden Kapitel, wenn es um Geographie und Ökologie geht.) 52 Zwar ebenfalls kaum wissenschaftstheoretisch thematisiert, aber als Begriff jedenfalls geläufig ist „Geschichte“ in einem anderen Fach: Die Ergebnisse seiner direkt von ihm oder von Mitarbeitern besorgten Beobachtungen, tabellarisch oder in Punkten einer Kurve (oder für eine noch zu zeichnende Kurve) fixierten speziellen Aspekte des Krankheitsverlaufs bei einem Patienten (Körpertemperatur, Herzrhythmus usw.) unter den Bedingungen der Medikament(en)-Gabe oder Nichtgabe, dieser oder jener oder keiner Ernährung, die verbalen Protokollaussagen des Röntgenspezialisten über seine Beobachtungen am Röntgenbild, die Ergebnisse der Untersuchungen chemischer Labors und noch vieles andere mehr, soweit erforderlich, faßt der behandelnde Arzt zusammen zu einer – wie es bezeichnenderweise heißt – Krankengeschichte, übrigens zuweilen auch einschließlich der Geschichte dessen, was vor­ aus­gegangen ist, der Vorgeschichte (in diesem eingeschränkten Sinn), der Anamnese. (Für denselben Mediziner, jetzt nicht als Arzt jenes Patienten, sondern als Wissenschafter, wird die Krankengeschichte auch zum „Fall“, der zusammen mit vielen „Vergleichsfällen“ möglicherweise Grundlage für den Versuch wird, mehr allgemeine Aussagen über den Verlauf einer bestimmten Krankheit unter bestimmten Bedingungen zu machen (Induktion; s. weiter unten), mit der Rückwirkung auf jene andere, ärztliche Ebene, die so gewonnenen jetzt schon mehr allgemeinen Erkenntnisse künftig in der Praxis nutzbar zu machen.) – Wenn der empirisch arbeitende Sozialwissenschafter ein Intensiv-Interview oder die Ergebnisse seiner Beobachtung protokolliert oder einen ausgefüllten Fragebogen liest, hat er in allen Fällen im Prinzip historische Dokumente über Konkret-Individuelles vor sich, unbeschadet zum einen dessen, daß er vielleicht (und das ist ja oft so), vor der Auswertung die Fragebogen und die Interviews anonymisiert (die Identität der Befragten unkenntlich macht), unbeschadet zum anderen dessen, daß ich bisher noch nichts zum Thema „Relevanz“ historischer Ereignisse und Sachverhalte gesagt habe – was hier konkret heißt: von wieviel Relevanz der einzelne Fragebogen für sich, das einzelne Interview für sich ist. Am Individuell-Historischen ändert das aber nichts.

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b) Methoden indirekter Erkenntnis Indirekt erfassen kann ich, was mir nicht direkt zugänglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen mittels der Methoden des Schließens. Diese Voraussetzungen sind erstens ein als richtig erkannter Satz (eine als richtig erkannte zusammengesetzte Aussage), zweitens eine Regel, die es mir erlaubt, „aufgrund“ des ersten Satzes einen anderen, zweiten Satz als richtig zu erkennen (Beispiele siehe weiter unten). Wir unterscheiden bei den Methoden des Schließens: –– Deduktionsschluß (kurz „Deduktion“), –– Reduktionsschluß, dessen wichtigste Form der Reduktionsschluß induktiver Art ist, der Induktionsschluß (kurz „Induktion“), –– Analogieschluß (kurz „Analogie“) oder Reduktionsschluß nicht-induktiver Art. Anders als beim Deduktions- und beim Induktionsschluß (diese siehe in den nachfolgenden Absätzen) wird beim Analogieschluß die Ebene nicht gewechselt. (Die Erklärung anhand von „Analogem“ wird in der Geschichtswissenschaft benutzt.) Bei der Deduktion wird vom Allgemeineren (etwa „alle Menschen“) auf das Spezielle (etwa der konkrete Herr Meier, die konkrete Frau Weiß) geschlossen. Die „als richtig erkannte“ zusammengesetzte erste Aussage (erste Prämisse) lautet im berühmten Beispiel: „Alle Menschen sind sterblich“, der zweite Satz (zweite Prämisse): „Sokrates (oder weniger feierlich, Frau Weiß) ist ein Mensch“, die Schlußfolgerung dann: „Also ist Sokrates (ist Frau Weiß) sterblich“, oder, anders formuliert: „Auch Sokrates (Frau Weiß) wird sterben.“ – Die Deduktion gilt logisch als unproblematisch; denn im ersten Satz steckt bereits das drin, was der Schluß hergibt, wenn ich statt für „alle Menschen“ einen bestimmten Menschen nehme. Gerade deshalb kann man aber auch sagen, daß die Deduktion nur bedingt einen Erkenntniszuwachs bringt. Bei der Induktion wird vom Speziellen (von mehreren, meist zahlreichen Speziellen, nach Vergleich) auf ein Allgemeineres geschlossen. Logisch gilt ein solcher Schluß als nicht zulässig, weil er keine Gewißheit bringen kann. Die Zahl der Fälle, die zur – möglicherweise – Falsifikation herangezogen werden müßten, ist unendlich, die Zahl der Fälle, die wir tatsächlich heranziehen können, aber endlich (Popper, 1959, S. 3 ff. u. 78 ff.). Unbeschadet dessen verfahren die nichthistorio­ graphischen53 Wissenschaften extensiv und intensiv gemäß dieser Methode, sowohl diejenigen Naturwissenschaften, die sich nicht für das Konkret-Einzelne als solches, sondern nur als Fall interessieren, als auch die nichthistoriographischen53 Humanwissenschaften, und zwar überaus erfolgreich. Für die Praxis in 53

Diese noch negative Formulierung wird weiter unten durch eine positive ersetzt.

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teressiert es uns also letztlich nicht – was eine Sache der Entscheidung, nicht der Logik ist –, daß der Induktionsschluß aufgrund von noch so vielen Beobachtungen logisch unzulässig ist, auch den auf den allgemeinen Satz „Also sind alle Menschen sterblich“. Unbeschadet dessen, daß die Falsifikation eines durch Induktion gewonnenen Satzes prinzipiell möglich bleibt, müssen nicht etwa permanent Falsifikationsversuche gemacht werden – Forschungsfortschritte wären sonst blockiert – wohl aber jedesmal bei einem auch nur leisesten konkreten Verdacht. Um Mißverständnisse zu vermeiden, will ich hinzufügen: Logisch ist die Situation beim genannten Beispiel mit der extrem großen Zahl von Beobachtungen konkreter Sterbefälle seit Menschengedenken nicht besser als beim Induktionsschluß eines Chemikers, der nach – sagen wir – nur 20 Experimenten mit Schwefel, die unter gleichen Versuchsbedingungen (Druck usw.) das gleiche Ergebnis geliefert haben, die allgemeine Aussage formuliert: „Schwefel entzündet sich unter Bedingung p (usw.) bei a Grad Celsius“. Sachlich ist es in der Praxis allerdings keineswegs gleichgültig, wie groß die Zahl der beobachteten Fälle ist. Ich zeige das am Grenzfall nach der anderen Seite hin, dem des (in der Grund-Idee gleichwohl genialen) römischen Sprichworts „Tres faciunt regulam“. Nur drei Fälle, das kann selbstverständlich erst der Ausgangspunkt sein. Wir übersetzen wohl besser, etwas mehr zurückhaltend, mit: „Ab drei offenbar (?) gleichen Fällen kann man, mit aller Vorsicht, darauf schließen, hier liege möglicherweise eine Regelhaftigkeit vor“; danach muß, anhand von noch mehr Fällen, überprüft werden. Normalerweise ist die den nichthistorischen Humanwissenschaften zur Ver­ fügung stehende Zahl von Fällen, weil eben meistens nicht im Experiment beliebig vermehrbar, geringer als in den nichthistorischen Naturwissenschaften. Deshalb ist es besonders wichtig, die Bedingungen der Gültigkeit der mehr allgemeinen Aussage vollständig zu nennen – was mehr Aufwand erfordert als in den nicht­historischen Naturwissenschaften. Außerdem wird nur so erkennbar, ob die in­fragestehenden Fälle überhaupt hinreichend gleich sind.54 Die in der Tradition Poppers stehenden Vertreter der „analytischen Wissenschaftstheorie“ bestreiten, daß es eine induktive Methode gibt.55 Hier wird erstens Existenz mit „logisch nicht zulässig“ verwechselt. Die Methode wird ja angewendet. Zweitens hat die „analytische Wissenschaftstheorie“ anstelle der durch Induktionsschluß gewonnenen mehr allgemeinen Aussage (als meistens ebenfalls Element einer Theorie) ihre Theorie auf der Grundlage von Hypothesenbildung und -bestätigung entwickelt. In bezug auf die Induktion bedeutet es aber nur eine Ver 54 Es kommt aber auch in nichthistorischen Humanwissenschaften vor, daß der allgemeineren Aussage die Beobachtung einer sehr großen Zahl von Fällen zugrundeliegt, ohne daß dafür Experimente nötig gewesen wären. Das war z. B. so bei der von der Ökonomie formulierten allgemeinen Aussage „Angebot und Nachfrage regeln den Preis, falls nicht …“ (folgt Angabe der Bedingungen der Gültigkeit). 55 Belege und Näheres dazu in: Schmidt, Robert H., Methoden, S. XLIX f.

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

unklarung, wenn gesagt wird: „Hypothesen können nur einfach aufgestellt werden“; denn, wissenschaftsphänomenologisch gesehen, steckt in jeder Hypothese, auch der frühesten Arbeitshypothese, eine nach Beobachtungen (u. U. noch vorwissenschaftlichen Beobachtungen in noch vagem Erfahrungshorizont mit mög­ licherweise erst ganz wenigen in Zusammenhang miteinander gesehenen Phänomenen/Fällen) formulierte Schlußfolgerung von der Art „nehmen wir (also) einmal an, daß …“. Das bleibt so, auch wenn das „also“ oder „folglich“ weggelassen wird. Das induktive Element wird dabei lediglich entweder übersehen oder überdeckt. Auch die analytische Wissenschaftstheorie entgeht der logischen Problematik ihrer „Basissätze“ nicht. In die Erörterung über die Methode der Induktion gehört auch das, was Hans Albert „nomologische Hypothesen“ nennt. Die beiden wichtigsten Passagen möchte ich auch hier wiedergeben: „Nomologische Hypothesen pflegen in einem bestimmten Sinne hypothetischen Charakter zu haben, d. h. sie behaupten, daß unter bestimmten (allgemein charakterisierten) Bedingungen bestimmte (allgemein charakterisierte) Konsequenzen zu erwarten sind“ (Albert, 1964, S. 24). „Bei den nomologischen Aussagen einer Theorie kann es sich auch um allgemeine statistische Hypothesen handeln, die einem bestimmten Zusammenhang eine Wahrscheinlichkeit zuschreiben. Eine solche Wahrscheinlichkeit kann als objektive Eigenschaft einer bestimmten realen Konstellation aufgefaßt werden, und zwar als eine Eigenschaft, die unter bestimmten Umständen auf die Dauer bestimmte Häufigkeiten von Merkmalen in dem betreffenden Objektbereich hervorruft. Man kann also sagen, daß eine nomologische Hypothese statistischen Charakters einer bestimmten allgemein charakterisierten Bedingungskonstellation die Disposition zuschreibt, bestimmte angebbare Arten von Ereignissen zu produzieren. Auch solche Hypothesen können unter Umständen hinsichtlich ihrer Allgemeinheit und Präzision miteinander verglichen werden. Unter einer Theorie ist üblicherweise eine Menge (System) durch Ableitbarkeitsbeziehungen miteinander verbundener nomologischer Hypothesen zu verstehen, die im Grenzfall aus der Menge aller Folgerungen aus einer nomologischen Hypothese (wozu ja diese Hypothese selbst auch gehört) bestehen kann“ (S. 26 f.).

Wenn man in Erinnerung behält, daß in Wirklichkeit auch der Hypothesenbildung induktives Schließen zugrundeliegt, kann man Alberts Terminologie durchaus akzeptieren. Es geht bei den „nomologischen Hypothesen“ eindeutig ebenfalls um Nomothetik (mehr dazu siehe im Kapitel über das System der Wissenschaften), um die Gewinnung von Aussagen mehr allgemeinen Charakters; das Hypothetische der Nomoi, der mehr allgemeinen Aussagen, wird hier lediglich auf diese Weise besonders betont. Das kann man auch auf andere Weise tun, z. B. so wie weiter vorn oben im Text vor und hinter Index [Fußnotenzahl im Haupttext; der Hrsg.] 53 geschehen. Das „mehr allgemein“ kann vielfach abgestuft sein. Mehr allgemeine Aussagen können sich beziehen auf Vorgänge/Abläufe/Handlungen/Entwicklungen oder auf Begriffe. Wenn es um Abläufe geht, sind die Ergebnisse der Induktion (oder der Bildung „nomologischer Hypothesen“) bei den nichthistorischen Naturwissenschaften

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Gesetzmäßigkeiten (bei den sogenannten exakten Naturwissenschaften „Natur­ gesetze“), bei den nichthistorischen Humanwissenschaften dort, wo die Voraussetzungen dafür jeweils schon erfüllt sind, Ablaufregelhaftigkeiten56, keinesfalls Gesetze57. Wenn es um Begriffe geht, sind die Ergebnisse Allgemeinbegriffe, Allgemeinbegriffe/Oberbegriffe der jeweils zu erreichenden Generalisierungsstufe, und zwar, im Verhältnis zum Zustand vorher (dem Zustand der mehr oder weniger Krypto-Begriffe), besser gereinigte Allgemein- oder Oberbegriffe. Näheres zu beiden, den Ablaufregelhaftigkeiten und den Allgemeinbegriffen, in bezug auf die Politikwissenschaft siehe im Kapitel „Erkenntnisziel“. Auch die Historiker können sehr vieles lediglich erschließen. Das gilt um so mehr, je weiter der zu untersuchende Gegenstand zurückliegt. Die zur Verfügung stehenden Quellen sind mehr oder weniger lückenhaft. Aber aus Anhaltspunkten kann manche Lücke mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit geschlossen werden. Bei dieser Art von Schließen wird, anders als im Fall der Deduktion und dem der Induktion, die Ebene nicht gewechselt. Diese Stelle ist geeignet, sich überhaupt, wenigstens in den Grundzügen, dessen zu versichern, wie die Historiker an das Material ihrer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung herankommen. Normal ist inzwischen58 nämlich, daß sie das, was sie beschreiben, selber nicht beobachtet haben. (Für jüngere Darstellungen über ältere Zeiten versteht sich das von selbst.) Sie sind also auf das angewiesen, was früher von anderen beobachtet und niedergeschrieben oder sonst schriftlich ausgesagt worden ist – soweit erhalten geblieben (Annalen, Biographien/„Vitae“, Chroniken und Gesta, Memoiren, aber auch z. B. Verzeichnisse, etwa von Einnahmen und Ausgaben, Kirchengeschichten, „Reichspublizistik“, Parlamentsakten und noch vieles andere mehr). Die Historiker suchen alle für ihr Thema wichtigen 56 Manche Autoren sprechen – was aber weniger klar ist – von „Strukturen“. Der Begriff ist nur brauchbar, wenn stets gesagt wird: diejenigen Invarianzen, die den Anteil des Regelhaften an den Vorgängen bedingen. 57 Ich erinnere erneut an die Möglichkeit der Betrachtung einer Handlung auch unter dem Aspekt der Spontaneität (Kants „Kausalität aus Freiheit“). – Wissenschaftshistorisch bedingt kam es allerdings (besonders als die „exakten Naturwissenschaften“ so erfolgreich wurden) aus Nachahmungstrieb auch in nichthistorischen Humanwissenschaften zu Voreiligkeiten der Formulierung. Nationalökonomen sprachen seinerzeit vom „Gesetz“ von Angebot und Nachfrage (die den Preis bestimmen), wo wir doch auch hier nicht mehr als eine Regelhaftigkeit vor uns haben. 58 Historiographie ist von Anfang an eine empirische Wissenschaft (griech empeiría = heran­gehen an). Griech. (h)istoréō = „durch eigene Anschauung oder Nachfrage erfahren, durch die Sinne wahrnehmen, erforschen, in Erfahrung bringen“ (Pape, Bd. I, S. 1271, Graz 1954); vgl. auch Schadewaldt (101993), S. 172 (mit S. 169 ff., betr. Empirie). Das Empirische der Geschichtswissenschaft geht also prinzipiell keineswegs verloren, wenn ich bei anderen nachfrage oder etwas (ebenfalls kritisch) auswerte und darstelle, was andere früher beschrieben haben.

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Dokumente, die für sie erreichbar sind, zusammen. Ihre Aufgabe wird erleichtert, wenn und soweit die zur Verfügung stehenden Quellen schon kritisch überprüft und ediert59 sind. Prinzipiell wird aber alles für die geplante Darstellung erhalten gebliebene Relevante60 benutzt, unter quellenkritischer Prüfung, soweit noch erforderlich. Weiter vorn habe ich den „historischen Abstand“ erwähnt, den die Geschichtswissenschafter zwischen sich und ihre Gegenstände bringen möchten. Das hat in der Hauptsache zwei Gründe, die zum Teil miteinander zusammenhängen. Wer, obgleich Wissenschafter und damit zur unverfälschten Darstellung verpflichtet, über beobachtete Vorgänge und Sachverhalte aus einer Zeit schreibt, in der er nicht nur Wissenschafter, sondern auch von den Vorgängen und Sachverhalten Betroffener war, könnte Gefahr laufen, aus der Betroffenen-Perspektive bestimmte Aspekte zu wenig oder zu viel zu berücksichtigen. Aus größerem Abstand werde eine mehr ausgewogene Betrachtung und Darstellung mehr wahrscheinlich. Mit größerem Abstand werde auch die Wahrscheinlichkeit größer, daß mit dem Auffinden von mehr Quellen mehr verschiedene Gesichtspunkte in den Blick kommen. Das eben Gesagte bringt dann auch die Verbindung zum zweiten Hauptgrund der Zurückhaltung der Historiker. Eine bestimmte wichtige Gruppe von Quellen wird in den Staaten, die ein geordnetes Archivwesen kennen,61 in der Regel über-

59 Die großen Quellen-Editionen setzten im 19. Jahrhundert ein. – Diese Quellen-Editionen des 19. Jahrhunderts sind große Leistungen der „positivistischen“ Richtung in der Geschichtswissenschaft gewesen, die außerdem, ähnlich wie die „exakten Naturwissenschaften“, die historischen Vorgänge möglichst im Sinne einer Kausalität zu „erklären“ versuchte. Dagegen entstand an der Wende vom 19.  zum 20.  Jahrhundert eine Gegenbewegung (u. a., aber doch besonders Wilhelm Dilthey), mit der „Methode des Verstehens“: Erfassen von Zusammenhängen, nachvollziehendes Begreifen „seelischer Zustände“, Erfassen von Bedeutungen, dies alles auch als Möglichkeiten des Historikers gegenüber den Gegenständen seiner Untersuchung, d. h. hier aufgrund seiner, des Historikers, Erfahrungen über menschliches Handeln, die es ihm erlauben, auch Handlungen historischer Personen plausibel zu machen (Dilthey, Ges. Schriften, Bd. VII, 21958, S. 86 f.). – Albert hat in mehreren Schriften, vor allem 1968 u. 1971, versucht, ein gefährlich unverbindliches „Verstehen“ den strenger gefaßten Maßstäben des „Erklärens“ näher zu bringen. – Eine andere und ältere „Methode“ des Verstehens („Kunst des Suchens der nötigen Materialien“) auf ganz anderer (Hegelscher) philosophischer Grundlage ist Droysens Heuristik, auf die ich nur hinweisen will (s. vor allem Droysen, 31958, bes. S. 85–91). 60 Was wichtig/bedeutsam ist, kann inhaltlich nicht generell gesagt werden, es ist immer bezogen auf den Gegenstand der historischen Darstellung. Die Qualität des Historikers zeigt sich im Erfassen des Relevanten. (Zum Thema Relevanz der Geschichtswissenschaft für das Gemeinwesen s. Nipperdey, Über Relevanz, in: Nipperdey, 1976.) 61 In z. B. Deutschland haben sowohl der Bund als auch die Länder Staatsarchive. Ihnen gegenüber sind die Bundes- bzw. die Landesbehörden zur Abgabe der Akten verpflichtet, wenn diese dort nicht mehr gebraucht werden, spätestens nach einer bestimmten Frist. Die Archivare sichten die Akten und entscheiden darüber, was zu archivieren, also aufzubewahren sich lohnt. Hauptzweck der Aufbewahrung ist die Zugänglichkeit für die Wissenschaft.

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haupt erst nach Jahrzehnten zugänglich: die staatlichen62 Akten,63 meistens nach 50  Jahren. Daher auch die alte Forderung der Historiker, man solle konkret „50 Jahre Abstand“ halten. Ohne die staatlichen Akten ist von Vorgängen, die sich auf staatlicher Ebene vollzogen haben, nur selten ein vollständiges Bild zu gewinnen. Ein vollständiges Bild gewinnt man aber allein aus den staatlichen Akten ebenfalls nicht. Viele Sachverhalte geraten erst in einer späteren Entwicklungsphase auf die staatliche Ebene. In den Akten fehlen dann oft die für die Entstehung und die Frühphasen wichtigen Gesichtspunkte, was zu groben Fehleinschätzungen führen kann.64 Warte ich 50 Jahre – oft genügen dazu schon viel kürzere Spannen –, leben diejenigen nicht mehr, die ich hätte befragen können und müssen. Es hat lange gedauert, bis die Zeitgeschichtswissenschafter das Mittel der Befragung genutzt haben.65 Inzwischen ist unter Historikern das Zu-Wort-kommen-Lassen der jetzt so genannten „Zeitzeugen“ jedoch schon eine Art Mode geworden und damit gefährlich. Den Historikern, die „Zeitzeugen“ sprechen lassen, fehlt durchweg die Kenntnis der Verfahren der Interview-Technik und die der hier – vor allem, wenn es um seinerzeit kontrovers beurteilte Themen geht – dringend gebotenen Quellenkritik b e s o n d e r e r Art. Manche lassen sich deshalb zu leicht „etwas erzählen“, können Propaganda und Fakten nicht genügend unterscheiden, fallen auf nach-

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An Akten von Privaten – und das sind in der Regel auch die Unternehmen und die Verbände – kann der Wissenschafter selbstverständlich nur einvernehmlich herankommen oder wenn die Privaten ihre (dann meist älteren) Akten einem Staatsarchiv übergeben haben. 63 Die Behörden selbst können allerdings sehr wohl Wissenschaftern bereits Akten zur Einsicht und Auswertung geben, die sich noch bei den Behörden befinden. Für die Untersuchung „Das Deutsch-Französische Hochschulinstitut für Wirtschaft und Technik Saargemünd“ im Rahmen eines Forschungsvorhabens „Grenzräume“ („Staatsgrenze als Hindernis?“) einer Gruppe von Professoren der Universitäten Saarbrücken, Trier, Kaiserslautern und Darmstadt f. d. Akad. f. Raumforschung u. Landesplanung, Hannover (siehe Schmidt, Robert H., 1983), konnte ich die sozusagen noch ganz heißen Akten des Kultusministeriums des Saarlandes über das Projekt, das noch nicht abgeschlossen war, in der Weise benutzen, daß ich jeweils am Freitagnachmittag soviele Leitzordner bis zum Montagvormittag mitnehmen konnte, wie ich meinte, übers Wochenende sichten zu können, mit der Möglichkeit, dann zu kopieren. Mit Hilfe lothringischer Partner bin ich auch an innerfranzösische Akten gekommen, die sich nicht in den Leitzordnern des saarländischen Kultusministeriums befinden konnten. Solches setzt aber voraus, daß der Wissenschafter denen, an die er herantritt, bekannt und als seriös arbeitend bekannt ist. 64 So auch bei jenem Projekt Saargemünd. Obwohl, wie gezeigt, die Aktenlage für diese Untersuchung besonders günstig war, wäre ein sehr falsches Bild entstanden, wenn ich nur die staatlichen Akten als Quellen benutzt hätte. Auch in diesem Fall ist der „Vorgang“ erst nach Jahren auf der staatlichen Ebene aktenkundig geworden. Ohne einige der (insgesamt 14 halbstrukturierten) Interviews wäre außerdem wohl kaum deutlich geworden, daß das, was die Initiatoren 1968 gewollt haben (und für ihre Region brauchten), etwas ganz anderes ist als das, was 1978 zustande kam, daß das Projekt Saargemünd aus der Sicht der Initiatoren von 1968 ein Mißerfolg war, gescheitert ist. 65 Auf die besondere Bedeutung der Auswertung auch der Presse (statt nur der Akten) für die Neuere Geschichte hat dagegen schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts – soweit ich es über­ blicke, als erster unter den Historikern – Martin Spahn aufmerksam gemacht (siehe Spahn, 1908).

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

träglich von Akteuren versuchte Umdeutungen herein und sind prinzipiell „aktengläubig“. Um das zu vermeiden, müssen bei kontroversen Themen möglichst alle besonders aktiv Beteiligten aller Seiten (nicht bloß ein paar gerade erreichbar gewesene) intensiv befragt werden, und falls sich Widersprüche ergeben oder neue Gesichtspunkte, dann noch einmal, so oft wie es nötig ist; es muß also insistiert werden – was durchaus mit Höflichkeit zu vereinbaren ist.66 Wenn Historiker statt der Geschichte der „Haupt- und Staats-Aktionen“ und der „Haupt- und Staats-Akteure“ die Geschichte von „Herrn (und Frau) omnes“, also Geschichte des Alltags oder von Aspekten des Alltags schreiben wollen, sind sie für Zeiten, aus denen niemand mehr lebt, davon abhängig (abgesehen etwa von staatlicherseits veranlaßter Statistik und anderer Verzeichnisse aus Erhebungen67), ob Menschen über diesen ihren Alltag oder über Aspekte davon etwas niedergeschrieben haben oder nicht.68 Vom Historiker aus gesehen, ist die Quellenlage dann im Prinzip vom Zufall abhängig. Leben noch Menschen aus dem zu beschreibenden Zeitabschnitt, läßt sich die Quellen-„Produktion“ noch systematisch organisieren.69 Zum Thema „Historiographie a n d e r s denn als Geschichtsschreibung nur über ‚Haupt- und Staats-Aktionen‘“, und damit zum Thema „Sozialgeschichte“ und was sie ist, läßt sich systematisch erst im folgenden Kapitel A.IV. schreiben. Erst wenn dort auf der einen Seite die Position der Soziologie im System der Wissenschaften

66 Für die Untersuchung „Saarpolitik 1945–1957“ (Berlin 1959–1962) habe ich rund zweihundert Interviews gebraucht, mit fast hundert Personen (Verzeichnis in Band  3, S.  841– 848). Bei den meisten reichte ein Interview, bei den wichtigsten Personen (kontroverse Positionen und/oder kontroverse Darstellungen derselben Sachverhalte oder Vorgänge; neue Aspekte)  brauchte ich mehrere bis viele.  – Anfangs meinten auch hier einige Akteure, sie könnten mir „was erzählen“, und ich würde das wohl „nehmen“ und so wiedergeben, wie sie es gerne dargestellt haben wollten. 67 Z. B. hat Hans Medick „auf der Grundlage einer umfassenden namentlichen Rekonstitution und Verknüpfung der Quellen- und Datenbasis für eine lokale Gesellschaft“ „in einem proto-industriellen ländlichen Ort auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb vom 17. bis zum 19. Jahrhundert“ [Laichingen] „ein Verfahren und eine Darstellungsweise entwickelt, welche es gestatten, das einzelne, in den Quellen aufzufindende gelebte Leben nicht im statistischen Durchschnitt untergehen zu lassen, dabei jedoch die Vorteile einer statistisch-seriellen Analyse durchaus zu nutzen und in der Diskussion umfassenderer Problemstellungen fruchtbar zu machen“ (Medick, Mikro-Historie, in: Schulze (Hrsg.), 1974, S. 45). 68 Als Beispiel nenne ich Dillmann, Edwin (Hrsg.): Erinnerungen an das ländliche Leben. Ein historisches Lesebuch zur dörflichen Welt an der Saar im 18./19. Jahrhundert (SaarlandBibliothek, Bd.  1), St. Ingbert 1991. Dillmann schreibt in „Zur Einführung“ auch zu jener Grundfrage und darüber, an welch sehr verschiedenen „Orten“ die sozusagen „Quellen“, die er zusammengetragen und (für – vielleicht – künftige Regionalgeschichtsschreibung) herausgegeben hat, gesucht werden mußten und zu finden waren. 69 Auch hier ein Beispiel: Kuhn, Bärbel: Haus Frauen Arbeit 1915–1965. Erinnerungen aus fünfzig Jahren Haushaltsgeschichte (Saarland-Bibliothek, Bd. 8), St. Ingbert 1994. Kuhn zeigt einleitend, S. 8, wie sie (systematisch) zu ihren 24 Berichten gekommen ist, die dann die Quellen für ihre Arbeit waren.

IV. System der Wissenschaften

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geklärt ist, läßt sich auf der anderen Seite die Position der Sozialgeschichtsschreibung, kurz „Sozialgeschichte“, (darin auch jener Alltagsgeschichte und „MikroHistorie“) richtig bestimmen.

IV. System der Wissenschaften und Position der Politikwissenschaft darin Im Buchmanuskript von 1958 ist die Position der Wissenschaft von der Politik im System der Wissenschaften auf S. 168–209 dargestellt, im Methoden-Band von 1967 das, was sich von den Methoden her über das System der Wissenschaften ergibt, auf S. LI–LXI. Nachdem ich in Kapitel III. zur Vermeidung begrifflicher Vorbelastungen mit Absicht bei der Darstellung der echten Methoden der Erkenntnis in noch provisorischer Formulierung unterschieden habe zwischen den historischen Humanwissenschaften, die  – wie es im lateinischen Denken, besonders seit der mittelalterlichen Philosophie, heißt  – Konkret-Individuelles beschreiben, und den Wissenschaften, die versuchen, mittels Induktion zu mehr allgemeinen Aussagen zu gelangen (zum einen in bezug auf Abläufe/Vorgänge/Handlungen/Entwicklungen/„Prozesse“, zum anderen in bezug auf Begriffe), kann ich jetzt die am Ende des 19. Jahrhunderts ins Gespräch gebrachte Terminologie auf ihre Tauglichkeit hin kritisch erörtern. Es geht zunächst um Windelbands70 Unterscheidung zwischen den idiographisch vorgehenden Wissenschaften und denjenigen, die in nomothetischer Absicht arbeiten. Wenn ich die beiden Begriffe an dem messe, was das Kapitel über die Methoden erbracht hat, ergibt das: Unter „konkret“ versteht die Philosophie und inzwischen auch der allgemeine Sprachgebrauch das sinnlich Gegebene (im Unterschied zu „abstrakt“), das als zeitlich und räumlich bestimmtes Einzelnes Gegebene (im Unterschied zum Abstrakt-Allgemeinen). „Individuum“ heißt wörtlich „das Unteilbare“, wie griech. átomos, und ist dann eine auf den einzelnen Menschen, später auch überhaupt eine auf einzelne Lebewesen angewendete Bezeichnung. – „Idio-“ in „idiographisch“ geht auf griech. ídios zurück, d. h. „eigen“, „eigentümlich“, dasjenige an einem Seienden, das dieses von anderen unterscheidet, das für es charakteristisch71 ist, unverwechselbar s e i n Wesen (im Sinne von idéa, nicht von eídos), das sein Selbst ausmacht. Wenngleich also das griechische „Idio-“ und das lateinische „individuell“ ursprünglich die Akzente jeweils anders setzten, in der Diskussion über das System der Wissenschaften an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert konnte das eine für das andere stehen, und nur darauf kommt es mir an.

70

Windelband (1894; unveränderter Nachdruck 1910). Und gerade nicht etwa „typisch“, was der Alltagssprachgebrauch oft durcheinanderbringt. 71

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

Wissenschaftlich in nomothetischer Absicht zu arbeiten, bedeutet den Versuch, nómoi72 zu gewinnen, Aussagen von mehr allgemeiner Art zu machen. Die Begriffe idiographisch und nomothetisch sind also, gemessen an den Ergebnissen der Methoden-Überlegungen, s e h r gut brauchbar. Windelband hat, wissenschaftshistorisch bedingt, jedoch – was etwas ganz anderes ist – voreilig zugeordnet (siehe nächsten Absatz). Windelband sind wir nicht scholastisch verpflichtet. Wenn wir richtig zuordnen, gewinnen wir – wie bei allen guten, „­ eleganten“ Aufgabenlösungen – eine sehr einfache Lösung der Frage nach der Gliederung des Systems der Wissenschaften, auch im Verhältnis zu den Methoden. Zur Zeit der Windelbandschen Unterscheidung waren die Naturwissenschaften auf einem Gipfel ihrer Entwicklung und ihrer Wertschätzung in der Welt. Zugleich arbeitete die Psychologie mit  – wie es hieß  – „naturwissenschaftlichen“ Ambitionen (bis hin zur sogenannten Psychophysik) und mit Verfahren ähnlich denen, wie sie in den Naturwissenschaften benutzt wurden. Daraus ergab sich für Windelband die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften als nomothetische und den Geisteswissenschaften73 = Geschichtswissenschaften als idiographische. Diese Zuordnung ist falsch. Die Windelbandsche Unterscheidung fußt außerdem auf der zwischen Natur und Geist. Sie war nicht glücklich, auch weil der Streit darüber, was Geist sei und was nicht, längst vorprogrammiert war. Rickert74 hat die Schwierigkeiten dadurch beheben wollen, daß er statt „Geistes­ wissenschaften“ „Kulturwissenschaften“ sagte, das heißt, daß er zwischen Natur und Kultur unterschied. Das war schon besser, aber nicht gut; denn auch der Kultur-Begriff war hinsichtlich seines Inhalts umstritten, schon in der Zentralfrage, ob das, was wir im deutschen Sprachraum (bloß) „Zivilisation“ nennen, etwas Niedrigeres sei als die (dann vergleichsweise hehre) „Kultur“; worauf, falls ja, der Kultur-Begriff – wie wir gleich dort, wo es unter anderem um die Technik geht, sehen werden – für die Zwecke einer guten Zuordnung ungeeignet würde. Diese Schwierigkeiten75 können wir auf einfache Weise vermeiden. (Ich zeige es weiter unten.) 72 Über die Entwicklung des Begriffs nómos (bei den Griechen) als das, wovon jedes menschlich Seiende in der Polis seine Zuweisungen erhielt, seine und damit a l l e r Ordnung, über (später) „Gesetz“ im Sinne des Rechts bis (schließlich) „Gesetzmäßigkeit“ oder „Naturgesetz“ in den Wissenschaften, siehe Methoden-Band, S. LIV, bei „i“. Betr. nómos in archa­ ischer Zeit aus Christian Meier (1970), S. 15, hier nur dies: „Ordnung, Brauch, Herkommen, Recht (das alles steckt ungeschieden darin)“. In B. I. komme ich darauf zurück. 73 Die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften geht auf Wilhelm Dilthey zurück (Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883, unveränderter Nachdruck 1922). – Zum Aufkommen des Begriffs Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert siehe Rothacker (31948), S. 6 f., zur Gleichsetzung der Geisteswissenschaften (Windelband)  bzw. Kulturwissenschaften (Rickert) mit der Geschichtswissenschaft, S. 11. 74 Rickert (71926; zuerst 1899). 75 Rickert selbst verstand unter „Kultur“ zwar sehr wohl die Gesamtheit der „wertbezo­ genen Wirklichkeit“, aber auch das ist sehr mißverständlich. (Über die Differenzen bei der Definition von Kultur s. a. Brecht (1961), S. 418–424.)

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Im vorigen Kapitel habe ich, ohne es schon besonders hervorzuheben, neutral „Wissenschaften vom Menschen und von den menschlichen Aktivitäten und Hervorbringungen“ gesagt (Kurzform: „Humanwissenschaften“). Wenn man die menschlichen Hervorbringungen (Sprache, Kunst, Architektur, Recht usw.) mitdenkt, bleibt auch die Großgruppe der Technikwissenschaften, die im vorigen Jahrhundert ebenfalls aus wissenschaftshistorischen Gründen ins falsche Lager gerieten (Technikwissenschaften – so bei nicht wenigen ihrer Vertreter – als, angeblich, „Angewandte Naturwissenschaften“),76 an der ihr zukommenden Stelle im System der Wissenschaften. Die Gegenstände der Technikwissenschaften sind nämlich Human-Phänomene, nicht Naturerscheinungen. (Und weil das so ist, können dann technische Hervorbringungen in konkreten Fällen u. U. auch Humanität fördern oder verletzen oder beides zugleich in verschiedenen Hinsichten.) Wenn wir die Wissenschaften von den menschlichen Aktivitäten und Hervorbringungen mitdenken, können wir neben der Kurzform „Humanwissenschaften“ auch die Bezeichnung „Anthropologische Wissenschaften“ verwenden. Der ánthro­pos ist dann, wie später der homo, als ein Seiendes verstanden, das den Bereich des zōon, des Tiers, eben ins spezifisch Menschliche hinein überragt.

76 Im 19. Jh. ist enorm viel gebaut worden, auch von staatlicher Seite. Damit stieg die Bedeutung des Staatsbaudienstes. Im Großherzogtum Hessen (= Hessen-Darmstadt) ist 1861 die Zulassung zu den akademischen Prüfungen von einem dreijährigen Studium an einer Universität abhängig gemacht worden. Die Landes-Universität Gießen hatte auch je einen Lehrstuhl für Architektur und für Ingenieurwesen. Die (1864 verstaatlichte) „Technische Schule“ in Darmstadt war zunächst nur Vorschule für die fachwissenschaftliche Ausbildung der Bautechniker, die dann, besonders in Verbindung mit Rechtswissenschaft, an der Universität zu erfolgen hatte. Die Universität Gießen hat versucht, den Bestrebungen der Technischen Schule in Darmstadt, ebenfalls akademischen Rang zu gewinnen, entgegenzuwirken. Das gelang auch zunächst. Aber es gab zunehmend Bedarf an akademisch ausgebildeten Bautechnikern im Bauwesen und im Maschinenbau außerhalb des staatlichen Bereichs. So kam es 1869 auch in Hessen-Darmstadt zur Gründung einer Großherzoglich Hessischen Polytechnischen Schule zu Darmstadt „als einer technischen Hochschule“ mit planmäßigen Professuren (Ordinariaten und Extraordinariaten), zu einer „der Universität gleichstehende(n) Anstalt“. Aber sehr wohl hatten (allenthalben im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn) die neuen Technischen Hochschulen dennoch ihre Prestige-Probleme gegenüber den „ehrwürdigen“ mehr oder weniger alten Universitäten. Deshalb meinten die Professoren der Technischen Hochschulen, ganz unnötig, die „vollständigste wissenschaftliche Strenge“ ihrer Lehrdarbietungen betonen zu müssen. Dahin passte dann sehr gut die Deklaration der technologischen Fächer als (angeblich) „Angewandte Naturwissenschaften“ – wo doch die Naturwissenschaften im 19. Jh. einen so rasanten Aufschwung genommen hatten und ihrerseits als „exakt“ arbeitende Wissenschaften deklariert worden waren. – Ergebnis ist: Aus falsch verstandenem Prestige-Bedürfnis (angesichts mancherlei Hochmuts im Universitätsbereich), zwar im Grunde unverständlich, aber erklärbar, hat es, und das so gründlich und so langwirkend, die falsche Zuordnung der technologischen Disziplinen gegeben. (In größerem Rahmen des ganzen deutschsprachigen Raums behandelt Manegold (1970) das Thema „Universität, Technische Hochschule und Industrie“ vom Anf. des 19. Jh. bis um 1900. Dort werden die Prestige-Auseinandersetzungen zwischen TH- und Universitätsseite besonders deutlich, und noch andere Bedingungen und Argumente als die, die ich oben genannt habe, waren wichtig.)

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Unter „Naturwissenschaften“ sind also alle Wissenschaften zu verstehen, die sich mit Phänomenen der außermenschlichen Natur befassen: Physik einschließlich Mechanik; Chemie; Biologie, darin Botanik und Zoologie – um zunächst einmal bei diesen (letztlich nomothetisch orientierten) zu bleiben (zu den idiographisch arbeitenden Wissenschaften siehe weiter unten). Da der Mensch aber auch als ein zōon verstanden werden kann, im Sinne von „Was gibt es an Entsprechungen zwischen Mensch und Tier?“, kann er auch – eingeschränkt, das heißt, ohne daß dies allein ausreichte  – aus zoologischer, also naturwissenschaftlicher Warte untersucht werden. Das besorgt die „Naturwissenschaftliche (oder: Zoologische) Anthropologie“. Sie liegt auf der Seite der Naturwissenschaften im Grenzbereich zu den Humanwissenschaften (Anthropologischen Wissenschaften) im beschriebenen Verständnis, die es also mit den Menschen und mit den menschlichen Hervorbringungen und Aktivitäten zu tun haben, insofern das lediglich Biotische gerade überstiegen wird.77 Die Existenz des Grenzbereichs stört nicht die Schlüssigkeit der Gliederung der Wissenschaften, im Gegenteil, nur so ist und bleibt die Gliederung schlüssig. Die Unterscheidung zwischen außermenschlicher Natur und Mensch, bei dem allein es sinnhaftes Handeln gibt („Aussonderung der menschlichen Welt aus der Natur“ heißt das bei Albert, Traktat, 1968, S. 135), muß also nicht schon heißen, „den Menschen und seine Aktivitäten aus dem Wirkungszusammenhang der Natur herauszunehmen“, worauf der Mensch und seine Aktivitäten und Hervorbringungen „nomologischer Deutung entzogen“ seien (S. 153). Daß das nicht so sein muß, auch wenn ich jene sehr hilfreiche Gliederung aufrecht erhalte, zeige ich ja gerade, und da existiert dann auch schon gar nicht ein „künstlicher Graben zwischen Natur und Geschichte“ (S. 152). Fazit ist bisher: Wir haben zwei Wissenschafts-„Blöcke“, die Naturwissenschaften78 und die Humanwissenschaften oder Anthropologischen Wissenschaften. Bevor ich zeige, wo die idiographischen und wo die nomothetischen Wissenschaften zu finden sind, noch einige Bemerkungen zu Rickert. Rickert hat, außer daß er „Geisteswissenschaften“ durch „Kulturwissenschaften“ ersetzte, an die Stelle des Windelbandschen Begriffs „idiographisch“ „individualisierend“ gesetzt und an die Stelle von „nomothetisch“ „generalisierend“. Im zweiten Fall wäre nichts einzuwenden, weil es ja bei nomothetisch ausgerichteter Wissenschaft genau darum geht, nach Möglichkeit zu mehr allgemeinen Aussagen zu kommen, im ersten Fall 77 Zur Unterscheidung von der Naturwissenschaftlichen Anthropologie ist diejenige Wissenschaft vom Menschen, die das Humanum untersucht, insofern es das Biotische gerade übersteigt, auch Philosophische Anthropologie oder auch, weniger glücklich, Kulturanthropologie genannt worden. Auch das ist wissenschaftshistorisch bedingt gewesen. Weil wir das für unsere Zwecke nicht unbedingt brauchen, gehe ich nicht näher darauf ein. Ich verweise nur zum einen auf Max Scheler, zum anderen auf Arnold Gehlen. 78 Auf den Aspekt der Einflußnahme des Menschen auf die Natur und, was das für das Sy­ stem der Wissenschaften bedeutet, komme ich weiter unten zu sprechen.

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wirkt die Umbenennung verfälschend. „Individualisieren“ ist nicht dasselbe wie „das Konkret-Individuelle beschreiben“; „individualisierend“ kann zum einen im Sinn einer bestimmten Metaphysik mißverstanden werden, worauf ich nicht näher eingehe. Für uns wichtiger ist der folgende Sachverhalt. Einige Historiker, die in Logik und Erkenntnistheorie nicht erfahren waren, haben das von Windelband unverwechselbar auf eine echte Erkenntnismethode bezogene „idiographisch“ (gegenüber „nomothetisch“) nach dessen „Latinisierung“ seitens Rickert in „individualisierend“ (gegenüber „generalisierend“) verfälscht zu „individualistisch“ gegenüber nun „gesellschaftlich“ oder zu „individuelles Leben“ gegenüber „Gemeinschaftsleben“ (Otto Hintze, S. 320) oder zu „individualistischer“ gegenüber „kollektivistischer Geschichtsschreibung“ (Winfried Schulze, 1974, S. 24, mit Bezugnahme auf Lamprecht; zu diesem gleich mehr). Schulze selbst (S. 181) spricht aber auch für sich, außerhalb jeder Bezugnahme, wie selbstverständlich von einer „nicht-individualistischen Geschichtswissenschaft“. Diese begrifflichen Unsauberkeiten sind nicht bloß äußerlich, sie bringen die Sachen durcheinander. Zunächst brauchen wir aber noch etwas anderes. Im ganzen ähnlich wie im Fall der technologischen Disziplinen, wenngleich im einzelnen anders, sind gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch Geschichtswissenschafter in einen Streit, hier in einen vor allem, aber nicht nur internen Streit darüber geraten, ob es sich bei ihrem Fach in der gegebenen Form überhaupt um eine Wissenschaft handele. Ich bringe das, was davon für uns wichtig ist, gestützt auf S. 19–27 der Übersicht, die Winfried Schulze 1974 gegeben hat. Kritische Fragen in dieser Sache hatte Johann Gustav Droysen bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts erörtert (S. 20 f.), zugespitzt hat sich die Situation dann aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Karl Lamprecht zum berühmten „Lamprecht-Streit“. Lamprecht hatte die Ansicht vertreten, daß das, was die Historiker für die Erkenntnis vergangener Sachverhalte leisten könnten, sich, trotz der erreichten Fortschritte aufgrund von „‚Intensitätssteigerung unserer Studien‘“ (Quellenforschung und -kritik), zwar „‚sehr wohl‘“ erkennbar, aber dennoch nur relativ von „‚dem früheren Verfahren historischer Sagenbildung‘“ unterscheide. (Lamprechts konkretes Beispiel war die Sage von der Entstehung der Schweizer Eidgenossenschaft.) Die „‚politische Geschichtsschreibung‘“ – (wir müssen, abgesehen davon, daß die Zuordnung des Adjektivs zum Substantiv, „politische -schreibung“, nicht paßt, kritisch anmerken: das, was zu jener Zeit von den Historikern darunter verstanden wurde, die Darstellung der Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen) – werde „‚niemals eines romanhaften Zuges entbehren‘“ und „‚nicht … zum Range einer sogenannten vollen Wissenschaft zu erheben sein‘“. Das, diesen Rang, könne man sich aber für das „‚kulturgeschichtliche Gebiet‘“ vorstellen; denn „‚auf dem Wege psychologisch-induktiver Durcharbeitung eines massenhaften, in sich wesentlich gleichartigen Materials [gelange man] zu vollkommeneren wissenschaftlichen Wahrheiten‘“, und auf diese Weise sei „‚ein neues Zeitalter der Geschichtswissenschaften‘“ zu erwarten (S. 26 f.). Die „‚psychologisch-induktive Durcharbeitung‘“ von massenhaft vorliegendem Material, mit der Psychologie als „‚Mechanik der Geistes-

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wissenschaften‘“ (S. 27) – welche Fehleinschätzung! –, das ist der eine Aspekt, unter dem Geschichtswissenschaft, dann (vermeintlich) ähnlich wie die Naturwissenschaften zu arbeiten in der Lage, zu einer „‚vollen Wissenschaft‘“ gemacht werden sollte und könnte. Zum anderen meinte Lamprecht, die „‚Untersuchung der großen Leistungen der Einzelwillen‘“, anders ausgedrückt: der Leistungen der Haupt- und Staatsakteure, sei einer Untersuchung der „‚kollektivistischen [allenfalls: der ‚kollektiven‘] Verursachungen‘“ erst nachzuordnen, in diese einzubauen, einzubauen in eine Untersuchung der „‚breitesten Geschichte der Zustände‘“. Unter „‚Zustände‘“ verstand Lamprecht die „‚Summe des früher Gewordenen‘“ (sozialer, rechtlicher und wirtschaftlicher Umformungen) und auch noch des „‚täglich Werdenden‘“ (S. 24). So Lamprechts „Versuch, die Geschichte in den Rang einer Wissenschaft zu erheben“, wie Schulze (S. 25) zusammenfaßt. Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es also für die Historiker die Frage, ob auch die sozusagen gestandenen Vertreter der von Ranke (wir dürfen nachträglich sagen: idiographisch) begründeten Geschichtswissenschaft mit einer Methode (Induktion) arbeiten könnten/dürften/sollten/müßten wie die Naturwissenschaften, außerdem die Forderung nach Erforschung der Sozialgeschichte, bei Lamprecht sogar der Erforschung einer solchen v o r aller „individualistischen“ Geschichtsschreibung (über die Haupt- und Staatsaktionen). Die Diskussion in jener Zeit und bis heute über die Geschichtswissenschaft und darin über die Sozialgeschichtswissenschaft litt und leidet noch unter dem Mangel an Klarheit über das System der Wissenschaften und über die Stellung der Geschichtswissenschaft in ihm. Es ist festzuhalten: Die Windelbandsche Unterscheidung zwischen „idiographisch“ und „nomothetisch“ ist ganz ausgezeichnet, wenn wir Windelbands voreilige Zuordnung der Wissenschaften zu diesen Methoden nicht mitmachen; Rickert brauchen wir in dieser Sache nicht. Seine vermeintlich Verbesserungen gegenüber Windelband haben im ganzen mehr geschadet. Die Naturwissenschaften sind nicht a l s Naturwissenschaften nomothetische Disziplinen, die Humanwissenschaften sind nicht a l s solche idiographische Wissenschaften. Ich kann nämlich in bezug auf j e d e n Gegenstand oder Sachbereich der Wissenschaften in idiographischer oder in nomothetischer Absicht wissenschaftlich tätig werden. Das heißt, nicht der Gegenstand der Wissenschaft entscheidet darüber, ob eine Wissenschaft von diesem Gegenstand/Gegenstandsbereich idiographisch oder nomothetisch ist, vielmehr läßt die Intention des Forschers seine Forschungsbemühung jeweils entweder eine idiographische oder eine nomothetische werden. Es kann also gleichzeitig idiographische und nomothetische Wissenschaft von ein und demselben Gegenstand geben und gibt sie auch meistens schon. Das zeige ich weiter unten konkret. Wir wissen aus dem Methoden-Kapitel: Auch der Physiker und der Chemiker beginnt seine Arbeit jeweils mit Beschreibung von Konkret-Einzelnem (nicht

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Konkret-Individuellem), meist schematisiert, wenn das schon möglich ist; er interessiert sich aber eben nicht für das Konkret-Einzelne als solches, sondern nur als Fall.79 In der Regel interessiert sich auch der Biologe (Botaniker, Zoologe) nicht für das Konkret-Individuelle als solches, auch für ihn ist das pflanzliche oder tierische Individuum normalerweise nur ein Fall, etwa innerhalb einer Gattung oder Art.80 Auf thematische Weise idiographisch wird aber sehr wohl auch in Natur­ wissenschaften gearbeitet, prinzipiell in zwei Richtungen. Erstens werden RaumEinheiten beschrieben, Räume mit ihren „Inhalten“: etwa die Erde (und Teilräume der Erde)  seitens der Geographie,81 inzwischen mehr und mehr auch die anderen Planeten, seit die Kenntnisse über sie vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark gewachsen sind, die Fixsterne, die Sternensysteme seitens der Astro­nomie, soweit schon möglich, das Universum seitens der Kosmologie. Zweitens werden Entwicklungen in der Zeit beschrieben: die Entwicklung der Lebewesen auf der Erde seitens der Paläontologie, die Entwicklung der Erde seitens der Geologie, die Entwicklung der anderen Planeten und überhaupt unseres Sonnensystems bis hin zu Entstehung(?) und Entwicklung des Universums, ebenfalls seitens der Kosmologie. Da die Beschreibung von Entwicklungen zwar primär auf die Zeit abstellt, aber ohne die jeweils angemessene „Lokalisierung“82 nicht auskommt, gehen die Betrachtung der Entwicklung und die Betrachtung der RaumEinheit nach Art der Geographie (hier aber unter Umständen „relativiert“) späte­ stens bei der Untersuchung des Universums ineinander über. Daß Physik, Chemie, Botanik und Zoologie in nomothetischer Absicht arbeiten, kennen wir schon. Sie beschreiben ihre Beobachtung von (hinreichend vielen) Einzelnen, die sie aber in der Regel nur als Fälle interessieren, vergleichen die Fälle und generalisieren auf das den Fällen Gleiche/Allgemeine hin. Ihre Ergeb 79 Etwas anderes ist die Geschichte der Wissenschaft Physik, der Wissenschaft Chemie. Eine Wissenschaftsgeschichte gibt es der Möglichkeit nach und de facto dann im einzelnen mehr oder weniger stark entwickelt für jedes Fach. Das hat nichts mit der Windelbandschen (oder Rickertschen) Aufteilung der Wissenschaften auf die idiographischen („individualisierenden“) und die nomothetischen (generalisierenden) zu tun. 80 Bei Exemplaren höherer Tierarten, besonders bei Menschenaffen, sind manchmal auch Individuen als solche Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses, allerdings auch sie letztlich dann doch nur unter allgemeinen Gesichtspunkten. Das wird auch nicht dadurch anders, daß Menschen, die die Tiere beobachten, diesen anthropomorphistisch menschliche Individualnamen geben. 81 Seit dem 20. Jahrhundert haben die Geographen über das hinaus, was seinerzeit, als die „exakten“ Naturwissenschaften wissenschaftlich das Maß aller Dinge zu sein schienen, „Physikalische“ Geographie genannt wurde, ein besonderes Interesse entwickelt an den Veränderungen der Erde seitens der Menschen („Kulturlandschaft“ anstelle der Naturlandschaft) und an den Wechselbeziehungen zwischen Räumen und Menschen. (Dieser Teil der Geographie hieß früher „Kulturgeographie“, er heißt inzwischen meist, und besser, „Anthropogeographie“. Dabei werden auch spezielle Aspekte in den Blick genommen, etwa in der Siedlungsgeographie, der Verkehrsgeographie, der Wirtschaftsgeographie.) 82 So wie wir auch bei Darstellungen seitens der Historiker nach Möglichkeit die Angabe des Wo verlangen.

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nisse, die aber aus den in A.III. genannten logischen Gründen nie absolut gesichert sind, sind Regelhaftigkeiten, bis hin zu den „Naturgesetzen“ (etwa den „Mendelschen Gesetzen“ in der Biologie, etwa den „Fallgesetzen“/den allgemeinen Aussagen über die Gravitation in der (klassischen) Physik, etwa der Gesetzmäßigkeit „Verbinde ich Laugen mit (anorganischen) Säuren, entstehen Salze“ in der An­ organischen Chemie). Auch bei den Humanwissenschaften nenne ich zunächst die auf Idiographie zielenden Disziplinen, zuerst die Geschichtswissenschaft. Das sozusagen Dach aller Einzelgeschichtswissenschaften, aller Einzelhistoriographien, bildet die Gesamtgeschichtswissenschaft, unter Berücksichtigung möglichst aller Facetten menschlichen Lebens. Sie umfaßt der Idee gemäß die Geschichte der Menschheit, die Geschichte aller Menschen als derjenigen Lebewesen, die – und zwar sie allein – durch Geschichtlichkeit („Zeitlichkeit“) ausgezeichnet sind. Insofern ist sie universalhistorisch. Die Gesamtgeschichtswissenschaft beginnt mit dem, was wir über die früheste Entwicklung der „Hominiden“ (Menschenartigen) wissen, deren noch „subhumane“ Anfänge inzwischen auf mehr als 20 Millionen Jahre vor heute angesetzt werden. Sie reicht über das „Tier-Mensch-Übergangsfeld“ (mindestens zwei Millionen Jahre vor heute) und über den „Urmenschen“ (Australopithecus) zum „Frühmenschen“ (Homo erectus). Die Fortschritte der Erforschung dieser frühen Abschnitte der Geschichte der Menschen sind aus der Zusammenarbeit vor allem von Anthropologen, Urgeschichtswissenschaftern und Geologen zustande gekommen. Unsere historischen Kenntnisse für diese Zeiträume haben wir ausschließlich aus „Bodenurkunden“, d. h. aus Bodenfunden und den Befunden dazu. Diese Quellenlage bleibt so für den zwar relativ schon kürzeren, absolut aber immer noch sehr langen „Rest“ der Altsteinzeit, vom Homo erectus über den Homo sapiens neandertalensis bis hin zum Homo sapiens sapiens, dem „Jetztzeitmenschen“ (den es seit grob 40 000/34 000 vor heute gibt), bis etwa 8 000 v. Chr. Nach wie vor auf Bodenurkunden angewiesen sind wir für die ackerbaulich geprägte Jungsteinzeit (diese dann bis etwa 2 250 v. Chr.), und zwar in den meisten Bereichen ausschließlich. In Mesopotamien und Ägypten waren ab etwa 3 000 v. Chr. Lautschriften, Schriften im eigentlichen Sinn des Wortes, in Gebrauch, denen Vorstufen vorausgingen, so z. B. mit Bildern oder Kerbzahlen.83 Das heißt, ab jüngeren Stufen der Jungsteinzeit begann in manchen Gegenden die schriftliche Überlieferung, soweit erhalten geblieben. Sie gewann in den folgenden Zeitaltern, Kupferzeit, Bronzezeit, vorrömische Eisenzeit, mit der Ausbreitung der Schriftlichkeit nach und nach größere Bedeutung auch für die Geschichtswissenschaft, besonders in bezug auf die Erforschung der Geschichte im Mittelmeer-Raum und im Orient. Aber auch dafür ist ohne die Bodenurkunden noch nicht auszukommen. Für Europa nördlich der Alpen wissen wir bis zum Beginn der römerzeitlichen Besetzung sogar annähernd nichts aus Schriften, wes 83 Eine gewissermaßen Vorvorstufe gibt es aus Bilzingsleben in Thüringen freilich schon von etwa 412 000–320 000 vor heute (s. Kap. B. I. 9., Fn. 298).

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halb wir hier immer noch von „Vorgeschichte“ (Geschichte in der Zeit vor den schriftlichen Quellen) sprechen. Für die Römerzeit nördlich der Alpen, für die anschließende Völkerwanderungszeit und für das folgende Frühe Mittelalter ist die Menge der schriftlichen Quellen zwar schon nennenswert, aber doch vergleichsweise noch gering. Ohne die Bodenurkunden bliebe unser historisches Wissen immer noch extrem dürftig. Diesen Zeitabschnitt nennen wir für den Raum nördlich der Alpen „Frühgeschichte“. („Alte Geschichte“ heißen primär die Geschichte der antiken Griechen und die des Römischen Reiches. Für sie ist der Schriftquellenfluß viel stärker als in den Gebieten nördlich der Alpen.) Es folgen die „Mittelalterliche Geschichte“ und die „Neuere Geschichte“, ab Beginn der Neuzeit. Innerhalb der „Neueren Geschichte“ wird oft noch eine „Neueste Geschichte“ ab Französische Revolution oder ab Industrie-Zeitalter, bei uns auch eine „Zeitgeschichte“84 abgetrennt. – Für andere Gegenden der Erde werden die Zeitalter der geschichtlichen Entwicklung den dort gegebenen Verhältnissen entsprechend gegliedert und bezeichnet. Für die Zeiträume, für die die Geschichtswissenschaft auf „Bodenurkunden“ angewiesen ist, hat sich eine inzwischen wissenschaftlich hoch angesehene Disziplin herausgebildet (anfangs zum Teil mit heute Kopfschütteln erregenden Ausbeutungsverfahren), die Archäologie (wörtlich: Altertumswissenschaft). Mit ihren inzwischen sehr verfeinerten Verfahren und in engem Kontakt mit anderen Disziplinen sucht sie die Bodenurkunden möglichst systematisch auf und erfaßt auch die durch andere Umstände zutage gekommenen Funde, untersucht sie möglichst umfassend und wertet sie auf Ur- (bzw. Vor-) und Frühgeschichtsforschung hin aus. Unter das Dach der Gesamtgeschichtswissenschaft gehören (befinden sich aber in der Universitätsgliederung meistens de facto keineswegs) die Geschichtswissenschaften für die menschlichen Aktivitäten und Hervorbringungen besonderer Art: Sprache, Literatur, Musik, Theater, Bildende Kunst, Architektur, Technik, Wirtschaft, Politik, Recht, Sitte, Religion. Dementsprechend gibt es die idiographischen Disziplinen Sprachgeschichte (wie hier statt Sprachgeschichtswissenschaft meistens gesagt wird, entsprechend bei den folgenden), Literaturgeschichte, Musikgeschichte, Theatergeschichte, Geschichte von Spiel und Sport (auch beide getrennt), Kunstgeschichte, Architekturgeschichte (meist „Baugeschichte“ genannt), Technikgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Politikgeschichte, Rechtsgeschichte, Sittengeschichte,85 Religionsgeschichte. Wiederum aus wissenschaftshistorischen Gründen sind fast alle diese Geschichtswissenschaften für bestimmte menschliche

84 Die Zeitgeschichtswissenschaft, nach dem Zweiten Weltkrieg außerhalb und innerhalb der Universitäten konstituiert, ließ den sie interessierenden Zeitraum mit 1917/18 beginnen. Aus der Natur der Sache werden sich die Anfänge mit der Zeit immer wieder einmal (relativ) in jüngere Zeit verlagern. 85 Sitten als nichtkodifizierte Setzungen (nómoi) zur Verhaltensregelung (s. a. Fußn. 72:­ nómoi im dort zuerst genannten Sinn).

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Aktivitäten und Hervorbringungen nicht von einer Gesamtgeschichtswissenschaft her (im Sinne eines dann besonderen Interesses) entstanden, sondern im Kreis von Wissenschaftern in einer primär nomothetisch arbeitenden Disziplin, die aber bemerkt hatten, daß die „gelernten“ Historiographen sich nicht oder zu wenig um dieses besondere Gebiet bemühten.86 „Fast alle“ müßte es heißen. Es gibt eine Ausnahme: die Politik bzw. das und nur das, was zu der Zeit, als die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert in moderner Form entwickelt und rasch auf Höhepunkte geführt wurde, zwar noch als „Politische Geschichte“ galt, aber eben nur noch Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen und der Haupt- und Staatsakteure war. Dazu ist, gerade in einer Untersuchung wie der hier vorgelegten, noch mehr zu sagen, auch in bezug auf das System der Wissenschaften. Ich bitte aber um noch etwas Geduld. Ich möchte der Reihe nach aufbauen. – Die meisten der genannten Einzel-Geschichtswissenschaften sind übrigens ihrerseits vielfältig untergliedert. Das will und muß ich hier aber nicht weiter ausbreiten. Die Gründe dafür, daß die „gelernten“ Historiographen seinerzeit so vieles außer acht ließen, waren zum einen jene oben genannte Verengung der Sicht, zum andern, daß die meisten (größte Ausnahme: Otto Hintze) zwangsläufig zu wenig Kompetenz etwa auf dem Gebiet des Rechts oder dem der Wirtschaft be­saßen, oder sie hätten sich sehr mühsam in die Rechtswissenschaft oder in die Ökonomie einarbeiten müssen, wenn sie, schließlich kompetent, auch die rechts- und die wirtschafts-(usw.)historischen Aspekte in ihre Geschichtsdarstellungen hätten integrieren wollen.87 In bezug auf die Politik bzw. das, was die Historiker für das Politische hielten, meinten sie sachkundig zu sein. Es besteht jedenfalls kein Zweifel daran, daß Geschichtswissenschaft um so besser ist, je mehr sie die Ergebnisse der einzelnen Geschichtswissenschaften jeweils integriert. Das aber ist erst die eine Seite der Sache. Sie alleine bliebe immer noch sozusagen eine inner-idiographische Angelegenheit, die freilich, wegen der Breite des Spektrums der besonderen menschlichen Aktivitäten und Hervorbringungen, wohl meistens nur per Zusammenarbeit mit den aus den in der Regel nomothetisch arbeitenden Wissenschaften kommenden, an ihrem Sachbereich jetzt aber idiographisch interessierten Kollegen bewältigt werden könnte. Die andere

86 Ab Mitte des 19. Jh. hat die „historische Schule“ der Nationalökonomie „Wirtschaftsgeschichte“, auch „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ untersucht und gelehrt. Die Universitätslehrstühle dafür waren dann auch in den Fakultäten mit den Wirtschaftswissenschaften. 87 Weil die Historiker damals sehr viele menschliche Aktivitäten und Hervorbringungen vernachlässigten, entstanden Arbeiten von „Kulturhistorikern“ (darunter von berühmten Leuten wie Jacob Burckhardt), die zum einen die Lücken im idiographischen Bereich zu schließen versuchten, zum anderen von ihrem idiographisch gewonnenen Material her auch nomothetische Ziele verfolgten, was von den sozusagen klassischen Historikern mit Mißtrauen bedacht wurde, um so mehr, als manche dieser Kulturhistoriker in ihrer Praxis z. T. zu schnell bei der Hand waren (so Karl Lamprecht mit seiner „Deutschen Geschichte“) oder auf z. T. gefährlich schwankendem Boden Generalisierungen (und Biologisierungen) vornahmen (so Oswald Spengler).

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Seite der Sache ist das Verhältnis der Geschichtswissenschaft(en) zu den nomo­ thetisch ausgerichteten Humanwissenschaften überhaupt. Weiter vorn habe ich schon kurz erwähnt: Jeder idiographisch ausgerichteten Humanwissenschaft entspricht eine auf Nomothetik abzielende. Entscheidend ist dabei nicht, ob es das Fach unter seinem Namen an den Universitäten gibt – was übrigens sehr wohl meistens der Fall ist; es kommt vielmehr darauf an, ob Wissenschafter auf dem Gebiet tatsächlich mit nomothetischer Zielsetzung arbeiten. Das heißt, das Fach wird durch den Willen der Wissenschafter als Forscher, durch die Fragestellungen und durch die Ergebnisse der Forschung konstituiert. Der Gesamtgeschichtswissenschaft entspricht auf nomothetischer Seite die Allgemeine Anthropologie/Allgemeine Humanwissenschaft, der Sprachgeschichte (eigentlich „Sprachgeschichtswissenschaft“ und sinngemäß bei den folgenden) die Sprachwissenschaft, der Literaturgeschichte die Literaturwissenschaft, der Musikgeschichte die Musikwissenschaft, der Theatergeschichte die Theaterwissenschaft, der Geschichte von Sport und Spiel88 die Sportwissenschaft, der Kunstgeschichte die Kunstwissenschaft, der Architektur- (oder Bau-)geschichte die „Architektur“ als Disziplin meist an Universitäten mit auch technologischen Fächern, der Wirtschaftsgeschichte die Wirtschaftswissenschaften, der Politik­ geschichte die Politikwissenschaft/Politologie, der Rechtsgeschichte die Rechtswissenschaft, der Sittengeschichte die Moralwissenschaft, der Religions­geschichte die Religionswissenschaft. In der Literatur über Ergebnisse (aber nicht selten auch bei den Namen) der Wissenschaften als Universitätsfächer finden wir dem „-wissenschaft“ das für Nomothetik charakteristische adjektivisch verwendete Partizip Präsens „vergleichend“ eigens vorangestellt (obwohl Nomothetik ohne Vergleichen der untersuchten Einzelfälle sowieso nicht möglich ist), zum Beispiel „Vergleichende Religionswissenschaft“, „Vergleichende Literaturwissenschaft“, „Vergleichende Sprachwissenschaft“, „Vergleichende Musikwissenschaft“. (Manchmal steht, um die nomothetische Zielsetzung anzuzeigen, statt „Vergleichende“ auch „Allgemeine“.) Damit auch empirisch kein Zweifel möglich ist, daß es zu jeder idiographischen Humanwissenschaft eine nomothetische gibt,89 habe ich mich im voranstehenden Absatz nicht mit einem summarischen Hinweis begnügt, sondern die nomothe­ 88 Es getraut sich wohl niemand, an einer Universität die Einrichtung einer Disziplin Spielwissenschaft vorzuschlagen, weil er wohl arg verspottet werden würde. (Auch unter Professoren gibt es viele „Kindsköpfe“.) Die Arbeit muß hinter Türen mit anderen Schildchen dran besorgt werden. Forschungsergebnisse liegen längst vor, auch grundlegende Literatur wie „Homo ludens“ (1938) von Johan Huizinga, der von der „kulturhistorischen“ Seite zu seinen allgemeinen Fragestellungen kam. 89 Rothacker, in: Schmidt (Hrsg.) (1967), S.  274: „… daß  … jeder Kulturbereich neben einem historischen Wissenszweig auch einen theoretischen Zweig, d. h. eine P r i n z i p i e n w i s s e n s c h a f t [auf S. 275: „Strukturwissenschaft“] besitzt und daß … auch die … Historiker einer allgemeinen Te r m i n o l o g i e zur Beschreibung der historischen Erscheinungen nicht entraten können.“

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

tischen Humanwissenschaften einzeln mit ihren Namen genannt.90 Den nomothetischen Humanwissenschaften geht es, allgemein formuliert, um die Herausarbeitung von – wie es etwa in bezug auf die Sprach-, die Literatur-, die Musik- und die Kunstwissenschaft heißt – Typen, Formen, Gattungen oder Kategorien oder – wie auch gesagt wird – um die Erkenntnis von „allgemeinen Strukturen“, aber auch von Regelhaftigkeiten von Entwicklungen. Damit das nicht so „trocken“ bleibt, bringe ich ein paar Beispiele (jetzt aber nicht mehr für jede Wissenschaft), Beispiele, die auch den Nichtfachleuten ohne oder mit nur geringem eigenem Aufwand etwas sagen, Beispiele nicht nur aus verschiedenen Wissenschaften, sondern auch sonst verschiedenen Typs. Für die Sprachwissenschaft nenne ich die seit dem 19. Jahrhundert mit der Zeit mehr und mehr erfolgreichen Bemühungen um die Herausarbeitung von Regelhaftigkeiten der Lautverschiebung während der Fortentwicklung von Sprachen, z. B. von der inzwischen recht gut erschlossenen indogermanischen „Grundsprache“ zum Germanischen oder vom Germanischen zum Althochdeutschen, dann die Bemühungen zur Auffindung von „Sprach-Universalien“, von Sachverhalten, die, soweit erforscht, allen Sprachen gemeinsam sind. Für die Musikwissenschaft nenne ich die Regelhaftigkeiten der Harmonie, für die Kunstwissenschaft, bei ihren Bemühungen um die Herausarbeitung von Regelhaftigkeiten in bezug auf „das Schöne“, den „Goldenen Schnitt“. Für die Wirtschaftswissenschaften habe ich in anderem Zusammenhang weiter vorn schon ein Beispiel genannt, das sehr anschaulich ist. Für die Politikwissenschaft bringe ich sowieso dazu mehr im Kapitel V., „Erkenntnisziel“. In bezug auf die Technikwissenschaften sind mir noch vom Gymnasium her unverlierbar in Erinnerung (weil beste Nomothetik auf der Basis von System-Idee und Vergleich) die Zusammenstellung und das Verständnis für die „Elementarmaschinen“, die allen Maschinen zugrunde liegen, in zwei Gruppen: zum einen der Hebel (der für ein kleines Kreissegment, in dem er hebelt, auch schon die Rolle mitentwickelt), Rolle und Wellenrad, zum anderen Schiefe Ebene (als Ablaufbahn aufgefaßt), Keil (Schiefe Ebene mit ihrer Basis) und Schraube (Schiefe Ebene um eine Achse gewickelt). Solches, von der Sprach- und Literaturwissenschaft über die Technikwissenschaften bis hin zu den Wirtschaftswissenschaften und der Politikwissenschaft, hat zur Voraussetzung Vergleich und Vergleich und Vergleich. Das aber heißt, es muß idiographisch gearbeitet worden sein, noch und noch. Damit ist das Verhältnis von nomothetisch orientierter und von idiographisch arbeitender Wissenschaft in der uns schon gut bekannten einen Richtung wieder 90

Publizistikwissenschaft und Publizistikgeschichte habe ich in Tafel 2 zwar schon eingeordnet, die Begründung ergibt sich aber erst aus den Kapiteln von B. I. (siehe dazu außerdem Kap. C.II.2.). Das, was inzwischen modisch als „Kommunikationswissenschaft“ auftritt, kann nicht eingeordnet werden, solange unklar bleibt, was der Gegenstand dieser „Disziplin“ ist (siehe ebenfalls C.II.2.). Eine Einordnung von Ethnographie und Ethnologie ist erst möglich, wenn deren Objekte jeweils von diesen selbst her auf ihre Spezifika hin verstanden und benannt werden, statt mit der unspezifischen Bezeichnung „natürliche“ Gemeinschaften oder „Völker“ oder mit der von außen angebrachten hochnäsigen Bezeichnung „primitive“ Gemeinschaften.

IV. System der Wissenschaften

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im Blick: Voraussetzung für Nomothetik ist jeweils in zur gegebenen Zeit ausreichendem Umfang betriebene Idiographie. Die andere Richtung ist: Idiographische Arbeit steht auf unsicherem Boden, wenn die verwendeten Begriffe von mehr allgemeiner Art nicht hinreichend geklärt sind, also mehr oder weniger kryptisch bleiben. (Die Anfangssituation im Verhältnis von Nomothetik und Idiographie ist natürlich die des Verhältnisses von System-Idee/„nomologischer Hypothese“ und beobachteten Fällen – siehe im Kapitel III. bei „Tres faciunt regulam“ –, wobei man hier genauso darüber streiten kann, was zuerst dagewesen sein muß, wie bei Ei und Henne, die System-Idee von einer möglicherweise Regelhaftigkeit oder die Fälle als Fälle.) Die bessere Klärung der Begriffe mehr allgemeiner Art aber ist jeweils nur der der einzelnen …-Geschichtswissenschaft entsprechenden nomothetisch orientierten Disziplin möglich. Die idiographisch arbeitende und die auf Nomothetik zielende Wissenschaft sind nicht nur sachlich aneinander orientiert, sondern aufeinander angewiesen. Das, was hier für die Einzel-Geschichtswissenschaften und für die nomothetisch orientierten Wissenschaften für bestimmte menschliche Aktivitäten und Hervorbringungen gesagt wurde, gilt entsprechend für das Verhältnis von Gesamtgeschichtswissenschaft und Allgemeiner Humanwissenschaft/Allgemeiner Anthropologie. Wenn sowohl die idiographisch als auch die nomothetisch orientierte Wissenschaft jeweils durch das konkrete Forschungs-Interesse der Wissenschafter,91 durch die konkrete Forschungsarbeit und durch deren Ergebnisse konstituiert wird, ist nicht der jeweils universitätsoffiziell gültige Name des Fachs entscheidend. Nicht selten gibt es an den Universitäten offiziell nur das eine der beiden Fächer, gearbeitet wird in ihm oft aber auch in der anderen Richtung. Meistens sind solche Sachverhalte wiederum entweder allgemein wissenschaftshistorisch oder speziell universitätshistorisch bedingt. Daß etwa viele Kunsthistoriker auf den Lehrstühlen offiziell für „Kunstgeschichte“ zusätzlich, in mehr oder weniger großem Umfang, auch nomothetische Kunstwissenschaft betreiben und daß viele Literaturwissenschafter auch idiographisch arbeiten, ändert nichts daran, daß die verschieden gerichteten wissenschaftlichen Intentionen und dementsprechend das System der Wissenschaften sehr wohl vernünftig und notwendigerweise in idiographische und nomothetische Intentionen und Wissenschaften gegliedert werden. Jetzt zur Soziologie, die die Leser bei der Nennung der nomothetischen Humanwissenschaften wohl schon vermißt haben. Der Wissenschaftsname, zuerst in der französischen Form „sociologie“, stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde geprägt von Auguste Comte (1789–1857). „Soziologie“ wird im Deutschen verstan-

91

Das Forschungs-Interesse kann beim selben Wissenschafter sehr wohl und u. U. sogar oft von der Nomothetik zur Idiographie und umgekehrt wechseln. So hatte auch die in Kapitel III. in Fußn. 63 genannte Untersuchung einen historischen, idiographischen Teil und einen systematischen, mit nomothetischen Zielsetzungen.

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

den als „Wissenschaft von der Gesellschaft“. Das lat. Verb socio heißt aber, ganz allgemein, „vereinigen“. Das Adjektiv ist socius, -a, -um = „teilnehmend an“, „in Verbindung stehend mit“, „gemeinsam mit“, „verbunden mit“, als Substantiv bedeutet es allgemein „Teilnehmer/Teilnehmerin“ (hat aber auch noch Spezialbedeutungen, die für uns nicht wichtig sind); das Adjektiv und Adverb socialis, -e ist nicht klassisch, so wie Seneca (4 v.–65 n. Chr.) es in „De beneficiis“ (7, 1) bei der Übersetzung des aristotelischen zōon polītikón in animal sociale verwendet. Klassisch ist es nur poetisch, lediglich für „ehelich“. (Zu den Abfolgen und Folgen der Übersetzung von koinōnía polītikē´ ins Lateinische und dann ins Deutsche siehe B.III.2.) Die Bedeutung von klassisch lat. societas ist allgemein jede Art Verbindung/Gemeinschaft mit anderen Menschen, jede Teilnahme an. (Aber auch societas kann spezielle Bedeutungen haben, die hier ebenfalls nicht wichtig sind, z. B. Bundesgenossenschaft mit anderen, „auswärtigen“ Gemeinwesen.) In diesem Sinn können wir dann auch das „gelehrte“ Wort Soziologie ohne jeden Zwang als Namen für die Wissenschaft von a l l e n Phänomenen des MitSeins, Zusammenlebens, von Gemeinschaft von Menschen verwenden, und dies nicht nur jeweils für die Soziologien der speziellen Formen/Sachverhalte, der sog. Bindestrich-Soziologien (Betriebs-, Familien-Soziologie usw.), sondern, soweit eine solche schon zu gewinnen ist, für eine Allgemeine Soziologie ü b e r allen speziellen Soziologien, entsprechend der Allgemeinen Anthropologie. „Sozio­ logie“ paßt, ebenso wie „Anthropologie“, mit seinem Inhalt auf alle Zeiten und auf überall im Bereich des Menschlichen. (Zum Verhältnis von Anthropologie und Soziologie komme ich gleich.) Statt als Wissenschaft von allen sozialen Gebilden und Zusammenhängen und vom Ganzen dieser Zusammenhänge ist die  – wie meistens gesagt wird  – von Auguste Comte um 1830 begründete92 Sociologie verkürzt und mißverständlich als Wissenschaft von der société, i. S. v. „Gesellschaft“, in den Blick gekommen. Sie sollte gemäß Comtes Auffassung die Gesetzmäßigkeiten untersuchen/auf­ suchen, denen die Entwicklung der société unterliege. Was es mit dem (historisch 92 Dazu freilich Albert, Die Einheit der Sozialwissenschaften: Die „naturalistische Soziologie“ (S. 63) „beginnt … lange Zeit, bevor der Name ‚Soziologie‘ geprägt wurde. Es ist daher irreführend, diese Wissenschaft im 19. Jahrhundert beginnen zu lassen, mit Comte, Marx und Spencer. Die schottischen Moralphilosophen [18. Jh.] haben soziale Phänomene aller Art in naturalistischer Weise analysiert“ (S. 70, Anm. 32). Dem gehe ich hier aber nicht weiter nach. – Auch die folgende Sache nenne ich nur, lasse sie aber im Detail unerörtert. Manche Zoologen sprechen von „Tiersoziologie“ statt, vorsichtiger, von der Tierverhaltensforschung und manche Botaniker entsprechend von „Pflanzensoziologie“. Die Begründung lautet, es gebe auch im Tier- und Pflanzenreich ein Miteinander sowohl von Exemplaren gleicher Art als auch verschiedener Arten und dabei Beziehungen.  – Unser Interesse richtet sich, was Soziologie betrifft, nur auf menschliches Mit-Sein, das allein geschichtlich ist und bei dem es ein Sich-bilden (oder Defizite) von Menschlichkeit gibt. (Zu Bildung und Bildungswissenschaft/Pädagogik siehe gleich weiter unten.) Im übrigen verbauen Anthropomorphismen wie Ameisen-, Bienen- oder Termiten-„Staat“ bzw. Pflanzen-„Gesellschaft“ wegen Inadäquanz den Erkenntnisfortschritt auf jenen Sachgebieten.

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bedingten) Mißverständnis auf sich hat, läßt sich nur im Zusammenhang darstellen. Im Teil B. bringe ich das sowieso, kann also darauf verweisen. In den Kapiteln von B.III.1. zeige ich dabei, was „Gesellschaft(en)“ konkret war und ist und sich so nannte, auch die Entstehung von Gesellschaft in den frühen germanischen Gemeinwesen, sowie wichtige Etappen der Entwicklung bis in die Neuzeit. – Der Gesellschaftsbegriff der Soziologie ist dagegen ein Theoriebegriff. Die in ihren wissenschaftlichen Folgen besonders unglückliche von mehreren Übersetzungen der aristotelischen gelehrten Umschreibung „koinōnía polītikḗ“ (für „pólis“) ins Lateinische, nämlich „societas civilis“, hat sich schließlich in der humanistischen Literatur des 15./16. Jahrhunderts durchgesetzt. Daraus wurden im 18. Jahrhundert der französische Theoriebegriff „société civile“ und der deutsche Theoriebegriff „bürgerliche Gesellschaft“, der unter den besonderen Bedingungen der deutschen philosophischen Theorie der Wende des 18. zum 19. und im 19. Jahrhundert zum Gegenbegriff von „Staat“ wurde. Im 19. Jahrhundert hat sich in Deutschland vor allem dank Leopold von Ranke eine moderne Geschichtswissenschaft entwickelt, auf der Basis systematischer Quellenforschung und Quellenkritik. Das war allerdings, wie wir wissen, gerade in jener Zeit, in der das Staatliche für das Politische galt und die Haupt- und StaatsAktionen (und Akteure) Gegenstand der „Politischen“ Geschichte waren und das somit eingeengte Blickfeld der Historiker ausfüllten. Die Soziologen nahmen das Gesellschaftliche für das Soziale, nicht bemerkend, daß „Gesellschaft“ zum einen ein konkretes Sozialphänomen ist (B.III.1.), „Gesellschaft“ als Zentralbegriff ihrer Wissenschaft zum anderen ein zweifelhaftes Theorie- und Ideologiegebilde (siehe B.III.2). Allerdings gibt es vereinzelt Soziologen, die ihre Wissenschaft nicht auf den aus der Soziologie-Tradition des 19.  Jahrhunderts stammenden Begriff des „Gesellschaftlichen“ gründeten, so Arnold Gehlen, Anthropologe und Soziologe zugleich: „der unhandliche, fast gespensterhafte Begriff ‚Gesellschaft‘“ könnte „in den Hintergrund treten“, den „wir … zur Definition der allgemeinen Soziologie auch nicht verwendet haben“ (Zur Lage, S. 8). Jedenfalls, eine Anthropologie, die nicht zugleich Soziologie ist, wäre ein Mißverständnis. Das ist zuweilen auf den ersten Blick nicht so deutlich sichtbar. Man könnte etwa fragen, wo denn das Soziologische sei, wenn der Anthropologe Schädelmessungen vornimmt. Kein Zweifel, Schädelmessungen für sich sind nur Verfahren der Datengewinnung, sie stehen aber im Zusammenhang sozialwissenschaftlicher Zielsetzungen, und, was das molekular-anthropologische DNAVerfahren hier zu leisten in der Lage ist, bringt die Erforschung vor- und früh­ geschichtlicher Sozialzusammenhänge besonders voran. Indem die Allgemeine Anthropologie/Soziologie allen nomothetischen Wissenschaften von menschlichen Aktivitäten/Hervorbringungen bestimmter Art (siehe weiter oben) vorgeordnet ist, sind alle Einzel-Humanwissenschaften auch Sozialwissenschaften. Das ist bei manchen (etwa der Kunstwissenschaft, den technologischen Disziplinen) bloß lange Zeit nicht bemerkt worden.

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

Moderne Darstellungen solcher Einzelwissenschaften zeigen deutlich den so­ zialwissenschaftlichen Charakter. Als Beispiel soll Wioras Publikation zur Vergleichenden Musikwissenschaft mit ihrem Abschnitt III. („Musik im Kontext“) für unsere Zwecke genügen. Indem alle menschlichen Aktivitäten/Hervorbringungen als Human-Phänomene auch Sozialphänomene sind, stehen sie auch in sozialer (als humaner) Verantwortung. So wie Allgemeine Anthropologie/Allgemeine Soziologie zwei Seiten der­selben Sache sind, ist dann, auf idiographischer Seite des Systems, Geschichtswissenschaft, als ganze, notwendigerweise „Geschichte“ (Geschichtswissenschaft) aller sozialen Zusammenhänge, also Sozialgeschichte. Weil Geschichtswissenschaft, wie wir wissen, aber lange Zeit nur Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen geboten hat, ist die deshalb nicht zur Geltung gekommene Sozialgeschichtswissenschaft (siehe den aus anderen Gründen in A.I. genannten Otto Hintze, dann, mit unterschiedlichem Ansatz, O.  Brunner, H.  Mommsen, Wehler, Kocka und W. Schulze, dazu Duchhardt, S. 194–201) zum Teil sozusagen in Opposition und – ihrerseits im Mißverständnis und verengt  – als „Gesellschaftsgeschichte“ ent­ wickelt worden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Historiker in bezug auf Gesamtgeschichtswissenschaft, und diese als Sozialgeschichtswissenschaft im vollen Sinn des Wortes, nicht um Aufgabenteilung herumkommen werden. Im günstigen Fall würden die „Teile“ inhaltlich jeweils aufeinander bezogen miteinander verknüpft werden, zu einem Ganzen, das mehr ist als die Summe der Teile. Auch die Pädagogik93 ist nicht eine der Anthropologie/Soziologie nachgeordnete Human- bzw. Sozialwissenschaft oder „Nachbarwissenschaft“, sondern als Wissenschaft davon, wie sich menschliche Wesen (heran-)bilden und wie Eltern, Familie, Freunde, Nachbarn, Kommune, Schule und die politischen Gemeinwesen (bzw. deren defiziente Modi) dazu verhelfen oder hindern, daß sich Menschen heranbilden und immer weiter bilden, ist sie zu Anthropologie/Soziologie deren d r i t t e Perspektive, und auch sie hat ihr idiographisches Pendant, die Wissenschaft von der Bildungsgeschichte („Pädagogik“-Geschichte). An der Spitze aller Einzelhumanwissenschaften haben wir demnach die Trias Anthropologie/Soziologie/Bildungswissenschaft mit dem idiographischen Pendant Allgemeine Geschichtswissenschaft. „Bildung“ ist auch deshalb der bessere Begriff, weil er nicht auf „Erziehung“ abstellt, auf etwas, das andere gegenüber dem Unmündigen besorgen, vielmehr selbst dort, wo es um Hilfen Zweiter und Dritter geht, das menschliche Wesen im Mittelpunkt steht, das sich da (heran-)bildet und immer weiter bildet. Das aber heißt: Gegenstand der Allgemeinen Bildungs­ wissenschaft ist die Ausbildung/Entfaltung von Menschlichkeit, als Ausbildung/ Entfaltung des Selbst in Mitmenschlichkeit. – 93 Im klassischen Griechenland, sehr zeitbedingt, als lediglich Erziehung der Knaben. Unser Wort Bildung ist da nicht nur deshalb besser; ich sage oben im Text noch anderes dazu.

IV. System der Wissenschaften

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Die Psychologie dagegen hat, im Vergleich mit Soziologie und Bildungswissenschaft, eine andere Stellung im System der Wissenschaften. Sie ist „zuständig“ für eine bestimmte Sichtweise auf das Menschliche. Psychologie hatte als Voraussetzung die Annahme, der Mensch sei in drei verschiedenen, etwa einander von „unten“ her aufbauenden, aber von „oben“ überbauenden, damit die „unteren“ von „oben“ her qualitativ verändernden „Schichten des Seins“ beheimatet, denen der Körperlichkeit, der Beseeltheit94 und der Geistigkeit. Je nach den im Lauf der Entwicklung der Wissenschaft vom Menschen gesetzten Schwerpunkten bildete sich eine besondere Art von Anthropologie heraus, zunächst die (später so genannte) „geisteswissenschaftliche“ oder „philosophische“ Anthropologie (siehe weiter oben). Die Psychologie, zunächst ebenfalls vor allem als philosophische Psychologie entwickelt, kam fast gleichzeitig auf. Die „naturwissenschaftliche“ oder „biologische“ Anthropologie ist, wenigstens in breiter Ausgestaltung, erst jungen Datums,95 noch mehr die „naturwissenschaftlich“ orientierte Psychologie (bis hin zur „Psychophysik“, die im 19. Jahrhundert entwickelt worden ist). Die Psychologie als Wissenschaft beruht jedenfalls auf der Vorstellung, man könne das Psychische am Menschen, der dann als „Körper=Seele=Geist-Wesen“ gedacht ist, wenngleich im Zusammenhang mit dem Körperlichen und mit dem (im Verhältnis zum Seelischen noch einmal anders gearteten) Geistigen, so doch prinzipiell thematisch für sich untersuchen. Ob das eine dem Wesen des Menschen angemessene Zugangsweise ist, soll hier dahingestellt bleiben. (Die Psychologie ist jedenfalls eine Wissenschaft der Verlegenheiten.) Auch die Wissenschaft von der ärztlichen Heilkunst/Medizin als – wie sie inzwischen verstanden wird  – Wissenschaft sowohl vom gesunden Menschen als auch von den Möglichkeiten der Heilung im Fall von Erkrankung ist selbstverständlich Anthropologie.96 In der Übersicht über das System der Wissenschaften habe ich sie ohne Untergliederung, die sehr komplex ist,97 bei der Anthropologie mitgenannt. 94 Erste Gedanken über die Psyche sind uns von vorsokratischen Philosophen überliefert, von einigen Sophisten, die sich über Affekte geäußert haben – (zu den Sophisten siehe Kap. B. I.2. betr. Rhetorik) –, dann aber besonders von Sokrates/Platon und Aristoteles sowie von Epikur und dann wieder von Lukrez. 95 Im Rahmen der ärztlichen Heilkunst/Medizin sind sowohl in der Antike als auch im ausgehenden Mittelalter schon Ansätze zu einer Physiologie (in der griechischen Antike schwache Ansätze auch zu einer Anatomie), im Mittelalter mit großem Vorsprung der arabischen Medizin, vorhanden gewesen, aber ärztliche Heilkunst/Medizin fußte doch nicht primär auf einer naturwissenschaftlichen Physiologie (geschweige denn Anatomie)  des Menschen, „naturwissenschaftlich“ im neuzeitlichen Sinn verstanden – um es hier wenigstens grob anzudeuten. 96 Die Tiermedizin ist dementsprechend in der Zoologie verankert. 97 Vor einigen Jahren habe ich mit Hilfe eines an der Systematik seines Gesamtfachs interessierten Mediziners, der sehr abstraktionsfähig war, einen Überblick über dieses sehr große Feld zu gewinnen versucht. Mit dem Ergebnis (unter Einschluß nicht nur der Zusammenhänge der Anatomie und Physiologie mit der naturwissenschaftlichen Anthropologie, sondern auch mit den Anthropologie-Varianten für „Psyche“ und „Geist“) meinten wir schließlich im gan-

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

Relativ jung ist die institutionell aus der Biologie hervorgegangene Ökologie, deren Gegenstand die Wechselbeziehungen zwischen Organismen (pflanzlichen, tierischen und menschlichen) und der unbelebten und belebten Umwelt sind. Sie untersucht einerseits in idiographischer Weise konkrete Topoi. Es gibt andererseits auch Historiographie im Rahmen der Ökologie als Untersuchung der Entwicklung dieser Wechselbeziehungen. Diese Untersuchungen können zeitlich zurückreichen (und tun es de facto auch) bis in die Früh- oder sogar in die Vor- oder Urgeschichte (was von der Vor- und Frühgeschichtswissenschaft bzw. der Archäologie und den von diesen herangezogenen (für sie)  Hilfswissenschaften besorgt wird); sie werden aber besonders akut für die Zeit seit Beginn derjenigen Epoche innerhalb der Eisenzeit, die wir Industrie-Zeitalter nennen, am meisten aber seit der – wie wir dieses Weltzeitalter nach Steinzeit, Kupferzeit, Bronzezeit und Eisenzeit nennen sollten – Kunststoffzeit.98 Die Ökologie zielt aber auch, anhand der konkreten Fälle und dann mittels Vergleich, auf allgemeine Aussagen. Um zunächst relativ einfach gelagerte Beispiele zu nehmen: allgemeine Aussagen über Grenzen der Belastbarkeit von „Ökosystemen“, etwa von Gewässern oder Wäldern, und über Möglichkeiten und „Mittel“ der Wiederherstellung von „Gleichgewichtszuständen“. Um auch ein sehr komplexes zu nennen: allgemeine Aussagen über Grenzen der Belastbarkeit des Menschen seitens Umwelt-Einflüssen. Mit der „Human-Ökologie“, wie sie sehr passend genannt wird, ragt die neue Disziplin, sehr deutlich weitgehend parallel zur Medizin, ebenfalls in die Allgemeine Anthropologie (Allgemeine Humanwissenschaft) hinein, in manchen Hinsichten zum Teil in enger Verbindung mit der Medizin. Die Human-Ökologie ist mit der Allgemeinen Anthropologie sowohl auf die Beiträge der idiographisch arbeitenden Humanwissenschaften (Geschichtswissenschaft und, besonders, Anthropogeographie) als auch auf die der Naturwisssenschaften angewiesen, hier sowohl der idiographisch arbeitenden Zweige der naturwissenschaftlichen Geographie zen zufrieden sein zu können, aber im Rahmen der Zielsetzung der hier vorgelegten Arbeit ist es nicht möglich, diesen Bereich detailliert zu berücksichtigen (was ebenso für die technologischen Disziplinen gilt, mit deren Vertretern ich mehrere Jahrzehnte lang in Darmstadt engen Kontakt hatte, was das Verständnis wechselseitig sehr gefördert hat). Ich möchte nur ein Fazit nennen: Viele der medizinischen Teildisziplinen sind unter methodischen Gesichtspunkten Einrichtungen/Veranstaltungen zur Gewinnung von (in bezug auf Diagnose- und Heilungsmöglichkeiten wichtigen) Daten. 98 Zwar sind bescheidene Anfänge des Übergangs von der Eisenzeit zur Kunststoffzeit bereits im 19.  Jahrhundert zu erkennen, größere Bedeutung (vergleichsweise schon vielfältig verwendbar) gewann Kunststoff („Bakelit“) erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der große Durchbruch für Kunststoff kam dann ab der 2. Hälfte dieses Jahrhunderts. Nun ist es auch diesmal nicht so, als löste Kunststoff jetzt Eisen (und Stahl) ganz ab. Genausowenig haben im 3. Jtsd. v. Chr. Kupfer und bald die Bronze den Stein ganz abgelöst. Damals sind danach immer noch große, in der Antike sogar immer größere Mengen Stein gefördert und verwendet worden, aber nicht mehr für die Zwecke, für die er vorher entscheidend wichtig war. Auch wir produzieren und verwenden noch große Mengen Eisen (und Stahl) und auch von Kupfer, von Bronze und von anderen Kupferlegierungen und ebenso immer noch gewaltige Mengen von Stein (freilich immer mehr „Kunststein“). Jedoch das alte Material verliert mehr und mehr die Dominanz.

IV. System der Wissenschaften

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als auch der auf Nomothetik abzielenden, von der Physik (nicht zuletzt der Physik der Atmosphäre = Meteorologie) über die Chemie bis zu Botanik und Zoologie. – Weil Umweltbelastungen/Gleichgewichtsstörungen, bis hin zu schweren Schädigungen, immer häufiger beobachtet werden, wird „Gegensteuerung“ immer öfter Gegenstand von Entscheidungen bzw. Entscheidungsüberlegungen auf kommunaler, staatlicher und supra- oder internationaler Ebene und von daher dann auch Gegenstand politikwissenschaftlicher Arbeiten (entsprechend von juridischen und ökonomischen Entscheidungen und von daher dann auch von rechts- und von wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen). – Es sind jetzt noch diejenigen Wissenschaften zu nennen, die erstens nicht zu den Human- und nicht zu den Naturwissenschaften gehören und zweitens nicht zu den idiographischen und nicht zu den nomothetischen Disziplinen. Auf Tafel 1 habe ich sie oben im Mittelteil angeordnet. Im Zentrum steht die allen Wissenschaften vorgeordnete Philosophie mit ihren Hauptgebieten Ontologie (soweit phänomenologisch; falls aber spekulativ, dann  = „Metaphysik“), Logik, Erkenntnistheorie, Ästhetik, Poetik und Ethik. – In diesen Mittelteil gehört auch die Mathematik mit, gemäß traditioneller Einteilung, was für unsere Zwecke doch im ganzen99 ausreicht, Arithmetik, Geometrie, Algebra und Analysis. Darunter können wir die Informatik einordnen, die Wissenschaft vom Schnell-verfügbar-Machen und Auswerten großer Datenmengen,100 inzwischen in den meisten Disziplinen unentbehrlich geworden. In den Mittelteil gehört auch die Theologie, die Wissenschaft (hier unbeschadet dessen, woher wir das Wissen gewinnen) von Gott/Göttern, Engeln/Dämonen. Im System der Wissenschaften des Mittelteils hat die Theologie zur Philosophie ihre relativ größte Nähe bei deren Ausprägung als Metaphysik. Jede nomothetische Wissenschaft hat ihre „philosophische Grundlegung“. Das, was man üblicherweise „Geschichtsphilosophie“ nennt, ist101 selbstverständlich zugleich philosophische Grundlegung der allgemeinen Anthropologie, der Wissenschaft vom Menschen als dem einzigen Wesen, das geschichtlich ist. In der Zeit der Diskussion um die Einführung einer Universitätsdisziplin, die wissenschaftlich Politik erforschen und darüber lehren sollte, und in den Jahren danach ist immer wieder betont worden, die neu installierte Wissenschaft solle möglichst eng mit ihren „Nachbarwissenschaften“ zusammenarbeiten. In fast allen Aufzählungen (die durchweg sozusagen „linear“ waren, ohne daß Vorstellungen von einem System der Wissenschaften erkennbar gewesen wären) sind Rechtswissenschaft, auch „die von den Juristen betreute Allgemeine Staatslehre“ 99 Von den vielen inzwischen verselbständigten jüngeren Teilgebieten der Mathematik nenne ich hier nur die für die „Empirische Sozialforschung“, aber nicht nur für diese wichtig gewordene Wahrscheinlichkeitsrechnung. 100 Das Technische dazu gehört zu den Technologischen Disziplinen, hier zur Elektrotechnik, Teilgebiet Elektronik. 101 Soweit nicht sowieso nur pseudowissenschaftliche (etwa biologistische) Spekulation.

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

oder auch „Staatsrecht“, Wirtschaftswissenschaft und Soziologie genannt worden, oft dazu Philosophie, auch „Staatsphilosophie“, und Geschichtswissenschaft, auch „Universalgeschichte“, manchmal Psychologie, vereinzelt Pädagogik. Bei manchen Aufzählungen hing das, was genannt oder nicht genannt wurde, von der wissenschaftlichen Herkunft dessen ab, der sich äußerte, war also alles andere als systematisch. Ein schlüssiges Konzept für ein System fehlte am Ende des 20. Jahrhunderts immer noch. So heißt es z. B. bei von Alemann (Grundlagen der Politikwissenschaft) nach wie vor (S. 44–52) „Politikwissenschaft im Konzert der Nachbarwissenschaften“. Angesichts dessen, was wir über das System der Wissenschaften inzwischen kennen, sind Philosophie, Pädagogik und Psychologie nicht „Nachbardisziplinen“ der Politikwissenschaft, sie stehen an anderen und sehr verschiedenen Positionen des Systems und haben von dort her ihre Bedeutung für die Politologie. Sie ergibt sich aus dem weiter oben Gesagten. Das gilt auch für das Verhältnis von Politikwissenschaft und Soziologie, so wie diese als Allgemeine Wissenschaft vom menschlichen Miteinander zu verstehen ist. (Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Interpretation der Sociologie als „Gesellschaftswissenschaft“102 ist eben nur ein historisch bedingtes Mißverständnis, bei uns und entsprechend in Frankreich.) Auch Geschichtswissenschaft ist nicht „Nachbarwissenschaft“, vielmehr – soweit ihr Gegenstand tatsächlich die Politikgeschichte und nicht bloß die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen ist – die idiographische Komplementärwissenschaft zur nomothetischen Politikwissenschaft. (Zu den Überlegungen bei Historikern, ob nicht die Geschichtswissenschaft ihrerseits bis zu einem „gewissen Grad“ „generalisieren“ solle, nachher noch einige Bemerkungen.) Von den zur Zeit der Einführung der Politikwissenschaft an den westdeutschen Universitäten als „Nachbardisziplinen“ genannten Wissenschaften haben wir jetzt noch die Rechts- und die Wirtschaftswissenschaft, die übrigens fast nie in einer Aufzählung fehlten. Weshalb diese besondere Nähe zur Politikwissenschaft gerade für die Wirtschafts- und für die Rechtswissenschaft postuliert wird, läßt sich besser im Zusammenhang eines bestimmten Themas des folgenden Kapitels A. V. über das Erkenntnisziel der Politikwissenschaft zeigen. Deshalb bringe ich das dort. Es erspart uns Wiederholungen. Zum besonderen Verhältnis von Politik- und Geschichtswissenschaft kann ich das, was noch nötig ist, bereits hier sagen. Aus der Geschichtswissenschaft nimmt 102 In seiner Einschätzung des Verhältnisses von Soziologie und Politikwissenschaft um 1962 schrieb Schwarz, in: Oberndörfer (Hrsg.) (1962), S. 310: Man könnte den Eindruck haben, „als bestünde unter den Soziologen eine Absprache, derzufolge alles, was auch nur entfernt mit politischen Herrschaftsordnungen zu tun hat  …[,] den Politikwissenschaftlern zu überlassen ist. Das entspricht der Faustregel, Soziologie habe es mit der Erforschung von Struktur und Dynamik der ‚Gesellschaft‘ zu tun, während die Politikwissenschaft die staatlichen Ordnungsformen zum Gegenstand habe.“ Das entspräche dann immer noch dem Stand der Theoriebildung von nach etwa 1800.

IV. System der Wissenschaften

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der Politikwissenschafter sein Material, seine Fälle für Vergleich und Induktion. (Braucht er Material, über das die Historiker noch nicht gearbeitet haben, muß er im Rahmen des Möglichen selber idiographisch arbeiten, wie ein Historiker – und das kann man erlernen –, im übrigen wird er sich der Verfahren der „Empirischen Sozialforschung“ bzw. ihrer Ergebnisse bedienen.) Die Ergebnisse seiner Generalisierungen, d. h. seine allgemeinen Begriffe derjenigen Abstraktionsstufe, die jeweils gewünscht oder erreichbar ist, bzw. Ablaufregelhaftigkeiten müssen die Politologen ihrerseits bei Verdacht neu überprüfen. Zur kritischen Betrachtung sind zum anderen die Historiker aufgerufen. Wenn der Politikwissenschafter idiographisch arbeitet, tut er dies als Historiker, in der Regel als Zeitgeschichtswissenschafter, aber je nach Thema unter Umständen sogar als Vor- und Frühgeschichtswissenschafter. Methodisch begeht er dann Grenzüberschreitung. Als Legitimation dafür wird allerdings gefordert, daß er historisch so sauber arbeitet, wie die Umstände vor Ablauf der 50 Jahre es zulassen, falls es um Zeitgeschichte geht. Die verkürzte und deshalb falsche Zuordnung der Naturwissenschaften zu den nomothetischen und der „Geisteswissenschaften“ (sie angeblich gleich Geschichtswissenschaft) zu den idiographischen Wissenschaften seitens Windelband, die Her­ auf­kunft der (falsch als Gesellschaftswissenschaft verstandenen) positivistisch ausgebildeten und, ebenso wie die Psychologie, sich „exakt-naturwissenschaftlich“ gerierenden Soziologie haben viel Durcheinander verursacht,103 außerdem zunächst bei Kulturhistorikern104 (dazu siehe weiter vorn) und bei einigen Ge­ schichts­philosophen, besonders Dilthey, Spranger und Rothacker,105 Diskussionen über den „Typus“ in der Geschichtswissenschaft veranlaßt. Max Weber hat eine breite Diskussion um den „Idealtypus“ ausgelöst; schließlich ist die Diskussion über den „Typus in der Geschichtswissenschaft“ auch bei Fachhistorikern im engeren Sinn geführt worden,106 auch hier mit viel Begriffsdurcheinander. So etwa 103 Th. Schieder (1965), S. 21: Der „Streit …, der die Gemüter seit der Jahrhundertwende [19./20. Jh.] immer wieder erhitzt hat“, „ging um die Frage: Hat es die Geschichte [die Geschichtswissenschaft] mit der Erforschung individueller Phänomene oder mit der Aufstellung von generellen Gesetzmäßigkeiten zu tun? Anders gefaßt: Soll sie die Vorgänge in der ober­ sten historischen Entscheidungszone bei den großen Einzelnen in den Mittelpunkt stellen oder die ‚kollektiven‘ Vorgänge der großen Massen?“ Dies „anders gefaßt“ ist selbstverständlich ganz falsch. Bei der ersten Frage geht es um den Unterschied zwischen idiographisch und nomothetisch, bei der zweiten darum, ob sich die Geschichtswissenschaft auf eine Darstellung der „Haupt- und Staatsaktionen“ der „Haupt- und Staatsakteure“ beschränken dürfe. 104 Unter diesen hat Karl Lamprecht mit seinem geschichtswissenschaftlich nicht geeigneten Vorgehen die Rezeption der Sozialgeschichtswissenschaft, die er fördern wollte, für lange Zeit in Wirklichkeit verhindert. 105 Im Zug der gleichen Diskussion um die Eigenarten der Naturwissenschaften auf der einen und der „Geisteswissenschaften“ (angeblich = „Geschichtswissenschaft“) auf der anderen Seite haben diese Geschichtsphilosophen jene weiter vorn genannte Methode des Verstehens als Methode speziell der Geisteswissenschaften propagiert. „Verstehen“ ist Zugang auf direktem Weg, Zugang zum Verständnis menschlicher Sachverhalte, von Sinnhaftem. – Andere Autoren sprechen von (intellektueller) Intuition. 106 Siehe etwa Schieder (1952) und Zittel (1952).

sachliche Gliederung s. TAFEL 2

ALLG. ANTHROPOLOGIE zugleich als ALLG. SOZIOLOGIE u. als ALLG. BILDUNGS-W: (allg. „Pädagogik“-W.)

HUMANWISSENSCHAFTEN

c

b

a

Zeitgeschichte Neueste Geschichtea Neuere Geschichtea Hoch- u. Spät-MA-Geschichtea Frühgeschichtea Alte Geschichtea Vor- (Ur-)Geschichtea Abstammungsgeschichte a

a

zoolog. A.

Ökologieb

f

e

d

Chemie

Physikc

idiographisch

nomothetisch

Beschreibt die Erdoberfläche (primär: Örter). Untersucht inzwischen auch das Ökosystem Erde – Mensch (s. a. Ökologie). Ziel: Bestimmung von Entstehung und Entwicklung (primär: Zeit).

Geologief mit Paläontologie

Botanik

NATURWISSENSCHAFTEN Zoologie

Geographie mit „physikal.“ G.d und Anthropo-/Sozial-G.e (darin Wirtschafts-, Verkehrs-G. u. andere)

„philosoph.“ A. Psychologie Medizin

Geschichte immer i. S. v. „Geschichtswissenschaft“. Siehe auch bei Anthropo-/Sozialgeographie. Außer der allg. „klassischen Physik“ u. der „Kernphysik“ gibt es – was ich, um Unübersichtlichkeit zu vermeiden, nicht auf der Tafel darstelle – die Geophysik (und aus dieser verselbständigt die Physik der Atmosphäre = „Meteorologie“, die Ozeanographie u. andere), die Astronomie mit Astrophysik, in denen idiographisch und nomothetisch gearbeitet wird, während die Kosmologie aus den von Astronomie mit Astrophysik empirisch gewonnenen Daten geschlossene Theorien über Entstehung, Entwicklung u. Struktur des Universums zu bilden versucht.

idiographisch

THEOLOGIE

(als Metaphysik Ontologie oder phänomenologisch) Poetik Ethik PHILOSOPHIE Ästhetik Erkenntnistheorie Semiotik Logik Geometrie Algebra MATHEMATIK Analysis Arithmetik Datenverarbeitung KYBERNETIK

GESCHICHTE DER MENSCHHEIT für alle Kontinente, Großregionen, Länder und Regionen gemäß deren eigentümlichen Varianten jeweils zeitlich gegliedert, im folgenden Beispiel für Europa

nomothetisch

TAFEL 1

76 A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

c

b

a

Sitten -G.

Religions -G.

Rechts -G.

Rechts -W.

Publizistik -G.

Publizistik -W.

Politik -G.

Politik -W.

Technik -G.

Technologiec

Bau -G.

„Architektur“

idiographische Humanwissenschaften

Wirtschafts -G.

Ökonomieb

nomothetische Humanwissenschaftena

Kunst -G.

Kunst -W. (bildende K.)

In vielen konkreten Fällen der nachfolgend genannten nomothetischen Einzelwissenschaften von menschlichen Aktivitäten und Hervorbringungen ist dem Namen der Wissenschaft „Allgemeine …“ oder „Vergleichende …“ vorangesetzt. Das lasse ich weg, weil mit „nomothetisch“ bereits impliziert. Mit Haus-, Betriebs-, Forst-, Land- und Volkswirtschaftslehre und später wohl einer Wirtschaftslehre in weiterem Rahmen. Mit starker Untergliederung, weit über die traditionelle in Bauwesen, Maschinenbauwesen, Elektrotechnik und Chemotechnik hinaus, was ich aber hier weglasse.

Moral -W.

Religions -W.

TAFEL 2

Musik -G.

Musik -W.

Theater -G.

Theater -W.

Literatur -G.

Literatur -W.

Sprach -G.

Sprach -W.

G. von Spiel und Sport

W. von Spiel und Sport

IV. System der Wissenschaften 77

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

bei Schieder (1952): Die Typen sind bei ihm einerseits größere, „höhere ‚allgemeinere‘ Einheiten“ im Vergleich mit den Individuen (S. 109). Die Idealtypen spricht er andererseits aber auch als „im geschichtlichen Leben … formende Kräfte, als Lebensideale“ an (S. 115). Schließlich versteht er – um, in diesem Stadium ohne Stellungnahme zum Inhalt, ein Beispiel zu nennen – den Staat als „idealtypischen Oberbegriff für [sehr verschiedene] politische Hoheitsformen“ (S. 116).107 Es ist nicht meine Aufgabe, weil für das Anliegen der hier vorgelegten Untersuchung nicht entscheidend, das Durcheinander im einzelnen aufzuklären, was wissenschaftshistorisch sehr wohl möglich wäre. Weil wir wissen, daß es für jeden Sachbereich des Humanen und für die Humanitas im ganzen sowohl idiographische als auch nomothetische Wissenschaft geben kann und fast durchweg tatsächlich auch schon gibt, kann der Streit darüber nun für überflüssig gelten, ob die Historiker wenngleich nicht „so richtig drauflos“ wie etwa die Soziologen, so vielleicht doch wenigstens „ein bißchen“ generalisieren dürfen.108 Kein Historiker, der an Generalisierung interessiert ist, kann an solchem Vorgehen gehindert werden. Wenn er aber mit nomothetischer Absicht arbeitet, auf welcher Genera­ lisierungsstufe auch immer, arbeitet er, wenn der Gegenstand politisch oder ein defizienter Modus des Politischen ist, methodisch als Politikwissenschafter. Die Voraussetzungen dafür sind weiter vorn genannt worden. Ferner muß im Bewußtsein bleiben, daß die Ergebnisse stets für unbegrenzt überprüfungsoffen gehalten werden müssen. Wir haben gesehen, daß die Gliederung des Systems der Wissenschaften in einer Hinsicht von den Methoden bestimmt wurde. Am Ende des Kapitels komme ich nun noch einmal ganz generell auf die Methoden zurück. Induktiv arbeiten sowohl bestimmte Naturwissenschaften als auch bestimmte Humanwissenschaften (die Wissenschaft vom Humanum im ganzen und die nomothetischen Wissenschaften von besonderen menschlichen Aktivitäten und Hervorbringungen). Nicht die Methode unterscheidet demnach die uns thematisch interessierende Politikwissenschaft von der „exakten“ Naturwissenschaft, sondern das, was mit dieser Methode bei den nomothetischen Humanwissenschaften und bei den nomothetischen Naturwissenschaften erreichbar ist. Bei den induktiv vorgehenden klassischen Naturwissenschaften sind es eben Gesetzmäßigkeiten von der Art der Na 107 Im Unterschied zu Schieder hat Hintze in seiner „Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlands“ (1930) unmißverständlich Nomothetik betrieben, er war aber eben Rechts-(Verfassungs-)Historiker. 108 Oder, wie W. Schulze (1974), S. 222, Max Webers Idealtypus einschätzte: als „Mittelweg zwischen individualisierender und ‚naturwissenschaftlich‘ generalisierender Methode“. Tatsächlich ist der Typus bereits Ergebnis von Generalisierung/Nomothetik, ganz unbeschadet dessen, daß Weber seinen Idealtypus dazu benutzen wollte, das historisch Individuelle und Einzigartige im Kontrast zum Typischen noch besser herauszustellen („individualisierendes Vergleichen“). Es ist schon verblüffend, zu sehen, wie jene verkürzte Zuordnung der Wissenschaften zu den Methoden fast ein Jahrhundert lang die Diskussion um das „Vergleichen“ derart verkrampfen konnte.

V. Erkenntnisziel

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turgesetze; bei den induktiv vorgehenden Humanwissenschaften (Wissenschaften vom Menschen und seinen Aktivitäten und Hervorbringungen besonderer Art), also, aristotelisch gedacht, den Wissenschaften im Bereich der „praktischen Philosophie“, sind Aussagen von begrenzter Allgemeinheit möglich, in unserer Sprache: Regelhaftigkeiten. Das hat nichts mit „weniger“ zu tun – der Begriff paßt nicht –, es ist etwas qualitativ anderes. Die Disziplinen, die sich in dieser Weise mit Human-Phänomenen befassen, erreichen damit also sehr wohl echte Wissenschaftlichkeit, eine für sie spezifische, im Unterschied zum allgemeinen Argumentieren, wo nur Topik möglich ist.109

V. Erkenntnisziel Im Manuskript von 1958 war das Erkenntnisziel der Politikwissenschaft auf S. 154–167 behandelt worden, noch vor der Darstellung der Position im System der Wissenschaften. Ich habe das hier umgestellt. In den frühen sechziger Jahren haben, im Anschluß an Arnold Bergstraesser,110 Politikwissenschafter der „Freiburger Schule“ Konzeptionen von Politikwissenschaft vorgelegt,111 die, auf Aristo­ teles zurückgreifend, weitreichende Konsequenzen in bezug auf das postulierte Erkenntnisziel der Wissenschaft von der Politik hatten. Diese Konzeptionen waren, von Aristoteles her, wiederum an eine bestimmte Vorstellung von der Position dieser Wissenschaft in einem Ausschnitt eines Systems der Wissenschaften geknüpft.112 Bevor darüber gesprochen werden konnte, mußte ich selbst zeigen, wie wir uns das System der Wissenschaften zu denken haben. Das ist im vorangehenden Kapitel geschehen. Erst vor diesem Hintergrund kann ich dann, weiter unten, auf jene oben erwähnte Konzeption eingehen. Zunächst aber: Erkenntnisziel einer jeden Wissenschaft ist zuallererst ihr Gegenstand selbst. Dies festzuhalten ist wichtig, wenn wir Wissenschaft davor sichern wollen, daß sie in den Dienst weltanschaulicher Doktrinen jeder Art oder in den Dienst von Separat-Interessen von Gruppen gerät, sei es der Industrie, sei es der Gewerkschaften, sei es in den Dienst solcher Gruppen, die behaupten, sie hätten das gesicherte Wissen darüber, was das „wahre Menschsein“ sei. Die Feststellung, Erkenntnisziel der Wissenschaft sei zuallererst ihr Gegenstand, wird aber schief, wenn man wissenschaftliche Bemühung als „l’art pour l’art“ verstehen wollte oder, mit Hegel, als „Selbstentfaltung des objektiven Geistes“. Ich verstehe Wissenschaft als eine Bemühung, die ihren Bezugspunkt im Menschen hat, im Denkfortschritt, im Sichtbarmachen dessen, was zuvor noch nicht 109

Dazu siehe auch Kuhn, in: Schmidt (Hrsg.) (1967), S. 526 f., 530 u. 539 f. Bergstraesser (1957/58 und 1958). 111 Siehe z. B. in Oberndörfer (Hrsg.) (1962). 112 Vorerst verweise ich auf Kap. A. I., Abs. 6 (bei „Aristoteles“) und auf A. I., drittletzter Absatz (bei „Politische Wissenschaften“); Näheres weiter unten in diesem Kapitel. 110

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

oder noch nicht so zu sehen war, und insofern als „aufklärend“. Die Bemühung gelingt nur, wenn wir stets den jeweils interessierenden Gegenstand möglichst genau von möglichst vielen Standpunkten sehen, was wiederum zur Voraussetzung hat, den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen. Das hier Gesagte gilt für alle Wissenschaft. Die Politikwissenschaft als nomothetisch ausgerichtete Disziplin kann mittels Vergleich und Induktion zu allgemeinen Aussagen auf dem Gebiet der Politik gelangen: zu allgemeinen Begriffen (der Stufe, die jeweils zu erreichen ist) und hinsichtlich Vorgängen, Abläufen, Entwicklungen, Aktivitäten zu Regelhaftigkeiten, die, wenn die Voraussetzungen vorliegen, auch in die Form von Prognosen ge­ kleidet werden können.113 Das kennen wir generell aus dem Kapitel „Methoden“. Hier sind nun Beispiele zu bringen. Als erstes nenne ich ein sehr umfangreiches Thema, das keineswegs neu ist: Revolution. Es demnächst wieder aufzunehmen, wird sich wohl lohnen.114 Zum einen sind einige ältere Theoretiker voreingenommen an das Thema herange­gangen, indem sie, ideologisch (standortgebunden) fixiert, schon vorab bestimmt haben, was allein unter „Revolution“ verstanden werden darf, oder indem sie eine ganz bestimmte Revolution für beispielhaft, als „die Revolution schlechthin“ erklärten. Unvoreingenommenheit ist am ehesten zu erreichen, wenn alles, was als Revolution bezeichnet worden ist,115 zunächst einmal als ein möglicherweise in Frage kommender Fall behandelt wird. Zum anderen ist gerade im 20. Jahrhundert die Zahl der Fälle116 deutlich größer geworden, in Mittelamerika und in ­Mittel- und Osteuropa. Bereits das faszinierende Phänomen der Deutschen Revolution von 1989 (in ihrem Kontext), die ein annähernd totalitäres Regime ohne Blutvergießen zum Sturz brachte, würde schon für sich allein Anlaß zur Neubearbeitung des Themas sein.117 Es wird ferner nützlich sein, gescheiterte Revolutionsversuche sowie der Revolution verwandte Phänomene (Revolten, Aufstände, Umstürze) um der besseren Abgrenzungen willen zum Vergleich mitzuuntersuchen. Die vergleichende Untersuchung der Fälle könnte und sollte in beide Richtungen gehen, in

113

Tatsächlich liegen dazu allerdings schriftlich nur wenige Ergebnisse vor. Ich erinnere noch einmal daran: Die allgemeinen Aussagen (über Begriffe und über Ablaufregelhaftigkeiten) sind sowieso niemals endgültig, sie bedürfen immer wieder, jeweils aus gegebenem Anlaß, der Überprüfung. 115 Etwa die „Glorious Revolution“ (1688) in England, die „Nationalsozialistische Revolution“ von oben (ab 1933) in Deutschland. 116 Nach Puritanischer Revolution (1642) in England, den Revolutionen in Nordamerika (1776) und in Frankreich (1789) und der „Oktober-Revolution“ (1917) in Rußland, bei umstrittener Bewertung (wegen des Ziels der Bewahrung bzw. Wiederherstellung gerade des „a l t e n Rechts“) der Erhebung der Bauern und von Städten im „Bauernkrieg“ (1524/25 und 1526) in Süd- und Mitteldeutschland. 117 Es gab das Diktum, die Deutschen könnten gar keine Revolution machen, und wenn sie eine machen wollten und dabei einen Bahnhof besetzten, würden sie sich vorher Bahnsteig­ karten kaufen. 114

V. Erkenntnisziel

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Richtung auf begriffliche Verbesserung und zur Beantwortung der Frage, ob es Ablaufregelhaftigkeiten gibt. „Ablauf“ würde auch „Zustandekommen“ mit einschließen. Vielleicht lassen sich „Typen“ oder doch wenigstens „Varianten“ unterscheiden. Da ich ja nur Themen nennen will, kommt es hier nicht auf Einzelheiten in der Sache an und nicht darauf, was es dazu schon an Arbeiten und Vorarbeiten gibt. Der Leser wird aber erwarten, daß der Autor etwas über eigene Untersuchungen in nomothetischer Absicht sagt. Ich nenne hier zwei davon, zwei sehr verschiedene. Die erste ist eine auf umfangreiches Material gestützte (als Manuskript noch nicht fertiggewordene)  Untersuchung über Bürger-Initiativen.118 Die zweite ist jene in Kapitel A.III. in Fußnote 63 in anderer Hinsicht schon genannte Fallstudie „Das Deutsch-Französische Hochschulinstitut …“ (mit historischem und mit sy­ ste­matischem Teil), jetzt aber unter dem Gesichtspunkt des Gesamtvorhabens der „Arbeitsgruppe Grenzräume“ der Landesarbeitsgemeinschaft Hessen/RheinlandPfalz/Saarland der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover: „Grenze als Hindernis?“. Um wenigstens ungefähr eine Vorstellung von dem, was konkret in Frage stand, zu vermitteln: Der Leiter der Arbeitsgruppe, Harald Spehl (Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Regionalwissenschaft an der Universität Trier), der die „Einführung“ zur Veröffentlichung119 der Beiträge120 verfaßt hat, schrieb: „Ausgehend von den besonderen Problemen des Saarlandes hat sich die Landesarbeitsgemeinschaft Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 1978 in zwei Sitzungen mit der Frage befaßt, inwieweit die nationalen Grenzen angesichts der erreichten Fortschritte der Integration der Europäischen Gemeinschaft für das Saarland und andere Gebiete an den Binnengrenzen einen negativen oder vielleicht auch positiven Faktor darstellen. Da dieser Problematik sowohl im Hinblick auf das Saarland speziell als auch auf die allgemeinere Fragestellung der Wirkungen von Grenzen von der Landesarbeitsgemeinschaft erhebliche Bedeutung zugemessen wurde, wurde eine Ar 118 Idiographische Grundlagen: Erhebung mittels Fragebogen bei weit über hundert Bürgerinitiativen in Südhessen, Publikationen dieser BI, Presseberichterstattung über sie, halbstrukturierte Interviews mit Gemeinde-, Kreis- und Landespolitikern, dazu älteres historisches Material [Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Materialsammlung Schmidt (O 61 Schmidt); der Hrsg. dieser Publikation]. 119 Akademie für Raumforschung und Landesplanung (1983). 120 Es gab zwei Gruppen von Beiträgen. Während die erste Gruppe, deren Autoren, Hans Kisten­macher (Professor für Regional- und Landesplanung an der Universität Kaiserslautern), Dieter Gust (Regionalplaner, Koordinierungsstelle Südpfalz der Planungsgemeinschaft Rheinland-Pfalz, Landau), Dr. Peter Moll (Ministerialrat, Leiter des Referats Landesplanung und Regionalplanung beim Minister für Umwelt, Raumordnung und Bauwesen des Saarlandes, Lehrbeauftragter im Fach Geographie der Universität des Saarlandes) und der Verfasser, Untersuchungen über (letztlich) staatliches Handeln vorlegten und sich dabei „empirisch auf vorliegende rechtliche Bestimmungen, Planwerke und konkrete Einzelplanungen stützten, fußen diejenigen der zweiten Gruppe („Untersuchung der Auswirkungen auf das Handeln privater Akteure“ (S. 4)) auf statistischen Daten, Zeitungsauswertungen und eigens durchgeführten Erhebungen“ (S. 5).

A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

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beitsgruppe ‚Grenzräume‘ gebildet, die die Diskussion im Rahmen der LAG weiter vertiefte und konkretisierte und ausgewählte Aspekte der Gesamtproblematik in den Jahren 1979 bis 1982 bearbeitete. Innerhalb der Arbeitsgruppe bestand bald Einigkeit, daß die Probleme und Chancen, die mit den nationalen Grenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft verbunden sein könnten, anhand von praktischen Fällen und konkreten Untersuchungsräumen behandelt werden sollten. Nach entsprechenden methodischen und inhaltlichen Vorstudien ergab sich eine Gruppe von empirischen Untersuchungen in den Grenzräumen an der deutsch-französisch-luxemburgischen (Saar-Lor-Lux) und der deutsch-französischen Staatsgrenze am Oberrhein, deren Ergebnisse in diesem Band vorgelegt werden. Es ist nicht das Ziel dieser Arbeiten, eine in sich geschlossene Theorie der Eigenschaften und Wirkungen der Grenze im allgemeinen oder relativ offener, nationaler Grenzen im speziellen zu entwickeln. Die Untersuchungen setzen vielmehr an einzelnen Planungsund Entwicklungsproblemen der untersuchten Grenzräume an. Es wird jeweils das empirische Material zum untersuchten Problem zusammengetragen, analysiert und soweit möglich versucht, daraus verallgemeinerbare Schlussfolgerungen abzuleiten.“121

Die nomothetische Zielsetzung ist eindeutig. Spehl zeigt dann auch, was all­ gemein an Ergebnissen erzielt werden konnte und wo was ungesichert blieb (S. 5 ff.). Das gebe ich selbstverständlich im einzelnen nicht wieder, verweise Interessenten aber auf die Publikation. Zur Ergänzung und wegen eines weiter unten in diesem Kapitel noch zu nennenden Aspekts erwähne ich außerdem als Beispiel die Darmstädter Dissertation (1982) von Michael Mattar, „Die staats- und landesgrenzenüberschreitende kommunale Zusammenarbeit in der Großregion Saarland-Westpfalz-Lothringen-­ Luxemburg-Trier“.122 Auf der Basis zunächst systematisch betriebener schriftlicher Erstbefragung aller Grenzgemeinden,123 dann Erhebung mittels gut gegliederter Fragebogen und, anschließend, Gesprächen an Ort und Stelle in allen betroffenen Gemeinden und aus dort zugänglich gewesenen Unterlagen ist das Material gewonnen124 und danach mittels detaillierten Vergleichs gegliedert worden. Die Haupt-Ergebnisse, allgemeingültige Aussagen verschiedener Verallgemeinerungsstufen, bringt Mattar in seinem Teil „III. Zusammenfassende Betrachtung, mit Vergleich“,125 die wichtigsten davon am Schluß.126 Einiges davon hat indirekt den Charakter von Empfehlungen, etwa der Art: Wenn ihr dies wollt, ist – so hat es sich erwiesen – jenes zu tun besonders nützlich, oder: hilft dies oder jenes keineswegs sicher.

121

Akademie für Raumforschung und Landesplanung (1983), S. 4 f. Mattar (1983). 123 Sicherheitshalber bis zu 50 km Abstand von der Grenze, dazu Kontrollmechanismen, damit möglichst nichts verloren ginge. 124 Mattar, S. 72–78. 125 Mattar, S. 393–418. 126 Mattar, S. 412 (unten)–418. 122

V. Erkenntnisziel

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Eine Zusammenschau der vorstehend genannten Arbeiten (in nomothetischer Absicht, also mit dem Ziel der Generalisierung soweit möglich, nach Vergleich) ergibt hinsichtlich der idiographischen Grundlagen, hinsichtlich der „Empirie“: Verfeinerte Untersuchung über „Revolution“: historische Darstellungen der neuen „Fälle“, eventuell Neubearbeitungen oder Teil-Neubearbeitungen der von Historikern schon dargestellten Fälle. „Bürger-Initiativen“: Erhebungsbogen, Zeitungsberichterstattung, Publikatio­ nen der BI, halbstrukturierte Interviews; in bezug auf ältere BI: historische Darstellungen. Fallstudie „Das Deutsch-Französische Hochschulinstitut  …“: für den histo­ rischen Teil  deutsche und französische Akten, halbstrukturierte Interviews, ergänzend die Zeitungsberichterstattung. Für die anderen Beiträge zum Projekt jener ersten Gruppe der Akademie für Raumforschung und Landesplanung außerdem rechtliche Bestimmungen, Planwerke und konkrete Einzelplanungen. Projekt grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit (jetzt nicht die einschlägige Literatur, sondern nur, was Quellen betrifft): systematisch schriftlich Erstbefragung, dann Erhebung mittels stark gegliederten Fragebogens, schließlich Gespräche zur Klärung und Ergänzung an Ort und Stelle in allen betroffenen Gemeinden sowie dort gewonnene Unterlagen. Nachdem ich gezeigt habe, wie  – grundsätzlich  – die Erkenntnisziele (allgemeine Begriffe und Ablaufregelhaftigkeiten) der Politikwissenschaft geartet sind, wenn ich die Politikwissenschaft an der ihr zukommenden Stelle im System der Wissenschaften (bei den nomothetischen Humanwissenschaften) belasse, von woher dann auch ihre Erkenntnismethode bestimmt ist (Induktion, soweit schon möglich, nach Vergleich empirisch beigebrachter Fälle, mit dem Vorbehalt einer Falsifikation), und nachdem ich konkret Beispiele verschiedener Sorten gebracht habe, möchte ich andere Positionen zum Thema Erkenntnisziel nennen. Die Positivisten (und die Behavioristen)127 ließen in der Soziologie und (besonders) in der (amerikanischen) Political Science nur das als Wissenschaft gelten (im Sinne von „Science“ = Naturwissenschaft), was sich wie in den Naturwissenschaften behandeln lasse, und waren der Meinung, daß es solches auch in Soziologie und Political Science tatsächlich gebe. Man könne „durch exakte Methoden128 die 127

Siehe Kap. A. I., dort, wo es um Soziologie geht (19. Jahrhundert). – Für unsere Untersuchung genügen wohl, in unserem Rahmen, folgende Literaturhinweise: Sigmund Neumann (1960), hier S. 8–13 (auch über die Behavioristen); Sartori (1960), hier S. 13 f. u. 21; Brecht (1961), S.  206–220 u. 643 ff. (auch über Behaviorismus); Kastendiek (1977), S.  268 f., mit Fußn. 2. 128 Immer wenn die Begrifflichkeit unsauber ist, stimmt es auch in der Sache nicht. Es gibt keine „exakten“ und auch keine „unexakten“ Methoden. Es gibt nur die (ganz wenigen) in Kap. III. beschriebenen echten Methoden der Erkenntnis. Das andere ist unverständiges Reden (vgl. darüber Giovanni Sartori (1960), S. 12 (unten) f. u. S. 14, Abs. 3). Und dann gibt es

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

permanenten Kräfte und die zeitlosen Gesetze der menschlichen Gesellschaft“ gewinnen oder „die Uniformitäten menschlicher Verhaltensweisen empirisch … entdecken und möglichst in mathematischer Gültigkeit“129 festlegen – hier in Sigmund Neumanns Wiedergabe (S. 9 und S. 12). Die Beschränkung auf das, was meßbar (tatsächlich nur: zählbar129) ist, war sehr der – wie sie anfangs hieß – Meinungsforschung (Opinion Research)130 förderlich und hat sehr viele „Wahlanalysen“131 hervorgebracht, für deren Erstellung übrigens, auch in Westdeutschland, viel Forscherkapazität anderweitig – soll heißen: für Wichtigeres – verlorengegangen ist. Neumann merkt zu den Ergebnissen der Arbeit der Behavioristen an: „Es ist gewiß nicht ohne Interesse, daß die Behavioristen sich im Gegensatz zu ihrer beabsichtigten Konkretheit tatsächlich in der Konstruktion ihrer wissenschaftliche All­gemeingültigkeit beanspruchenden Modelle immer mehr von der Wirklichkeit entfernen und nach höchst komplizierten, mühsamen Untersuchungen nicht selten zu Schlußfolgerungen kommen, die entweder trivial oder dem nicht Eingeweihten unverständlich erscheinen. … So tendieren sie nicht selten zu einem esoterischen, arroganten, selbstzentrierten Kult, meistens um einen Meister geschart, dessen Stil sie imitieren und dessen Jargon nur den Jüngern vertraut bleibt“ (S. 12 f.). Aus derselben Wurzel stammen die „empirisch-analytische“ Soziologie und Politik­wissenschaft im Sinne von, unter anderen und hier, was Politikwissenschaft betrifft, Wolf-Dieter Narr und Friedrich Naschold. Ich zitiere die kritische Wiedergabe bei Naschold: „Das Erkenntnisziel der empirisch-analytisch ausgerichteten Analysen kann in dem Anspruch gesehen werden, auf der Basis kumulativer empirischer Forschung eine umfassende nomologische Theorie politischen Verhaltens aufzubauen, die beim weiteren Fortschritt der Politischen Wissenschaft in eine einheitliche sozialwissenschaftliche Theorie überführt werden soll. Der Istzustand eines solchen gewaltigen Forschungsunternehmens ist von dieser Zielsetzung noch beträchtlich entfernt. Ein großer Teil der heute vorliegenden Untersuchungen beschränkt sich noch weitgehend auf eine eindimensionale (d. h. in einer Ebene angesiedelte)  Analyse der verschiedenen politikwissenschaftlichen Problembereiche, bleibt also im vortheoretischen Bereich stehen. Andererseits wurden jedoch in einer Vielzahl von Teilgebieten schon einigermaßen bewährte Hypothesen und Theorien mittlerer Reichweite gewonnen. Darüber hinaus zeigen sich im Bereich der Organisations-, Entscheidungs- und Systemtheorie die ersten Ansätze zur übergreifenden Theoriebildung im Sinne einer einheitlichen Sozialwissenschaft. die mit nomothetischen Zielsetzungen arbeitenden Naturwissenschaften, die von manchen – ganz überflüssig – als die „exakten“ bezeichnet werden. Ihre Vertreter sind inzwischen in dieser Sache – ich kenne das von Darmstadt her – von sich aus durchweg wenig feierlich. Sartori sagt zu Recht, „daß Überbewertung der Tatsachen (‚hyperfactualism‘ …) sehr viel mehr eine Erfindung der Sozialwissenschaftler als [= denn] ein Prinzip der Naturwissenschaften ist“ (S. 14). 129 Was sich so hehr nach „Mathematik“ anhört, ist schlicht Auszählen dessen, was (an einer in der Regel viel komplexeren und mittels Auszählen nicht zu verstehenden) Sache zählbar ist. 130 So, in einer Hinsicht, der Anfang dessen, was später Empirische Sozialforschung hieß, aber auch „Demoskopie“. 131 Zum Stellenwert der Wahlanalysen und -prognosen siehe auch Arndt (1980), S. 28.

V. Erkenntnisziel

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Wichtiger als der Hinweis auf die unbestreitbaren Erfolge empirisch-analytischer Unter­ suchungen ist freilich eine Erklärung der beträchtlichen Diskrepanz zwischen Ist- und Sollzustand. Theoretiker der empirisch-analytischen Forschungsrichtung begründen diese Diskrepanz mit dem relativ geringen Alter der neuen Politischen Wissenschaft und sehen in dem defizitären Zustand nur ein notwendigerweise zu durchlaufendes Übergangs­ stadium der Disziplin. Demgegenüber glauben die Kritiker nachweisen zu können, daß das Auseinanderklaffen von Anspruch und Forschungsrealität theoretisch zwingend, weil in der Sache begründet und damit aus dem politikwissenschaftlichen Forschungsobjekt abzuleiten ist. Eine Entscheidung dieser Frage wird indessen wahrscheinlich weniger theoretisch zu erlangen, als vielmehr praktisch zu erfahren sein.“132

Ursprünglich ebenfalls noch aus der gleichen Wurzel stammend, hat sich, unter dem Einfluß von Karl Raimund Popper, Hans Alberts Kritischer Rationalismus entwickelt,133 den Albert auch Kritizismus nennt. Ziel ist es, das soziale Geschehen zu erklären und, stets alternativ, im Sinne von „wenn …, dann …“ vorherzusagen, dies letztlich, indem alle Vorgänge „theoretisch unter einen Hut“ gebracht werden. „Zentrale Bestandteile einer solchen Theorie sind nomologische Aus­ sagen134 – Aussagen über Gesetzmäßigkeiten –, die mit Hilfe des Begriffsapparates der Theorie  – also einer einheitlichen, ganz auf den Erkenntniszweck hin konstruierten theoretischen Sprache – formuliert sind. … Die Erklärung selbst erfolgt durch Anwendung der … Theorie auf das zu erklärende Geschehen, wobei das Geschehen in bestimmter Weise schematisiert werden muß. Die Anwendungs­ situation muß nämlich mit Hilfe des Begriffsapparates der Theorie so beschrieben werden, daß mit ihrer Hilfe die Beschreibung des zu erklärenden Phänomens abgeleitet werden kann.“135 Zu diesem Zweck muß von zu vernachlässigenden Eigenschaften abstrahiert werden (Teil-Idealisierung, Approximation). Was schließlich tatsächlich vernachlässigt werden darf, muß erforderlichenfalls durch Ausprobieren (kritische Prüfung) ermittelt werden. Zu jenem Theoretisch-unter-einen-Hut-Bringen gehört folgendes: „Für die Untersuchung der Konsequenzen des kritischen Rationalismus im Bereich der Wissenschaftslehre kann davon ausgegangen werden, daß man im wissenschaftlichen Denken nach Erkenntnis der Beschaffenheit der wirklichen Welt und damit nach Theorien strebt, die möglichst große Erklärungskraft besitzen und möglichst tief in die Struktur der Realität eindringen, Theorien, von denen wir vermuten dürfen, daß sie der Wahrheit möglichst nahe kommen, obwohl wir niemals Gewißheit darüber erreichen können. Schon daraus geht hervor, daß es grundsätzlich nicht auf die Abstammung solcher Theorien ankommt, sondern auf ihre Leistungsfähigkeit und auf die Möglichkeit, sie zu prüfen.“ Weil es „wichtig ist, möglichst um 132

Naschold (1970), S. 61 f. Zur Fortentwicklung von Alberts Denken siehe Albert (1968), zunächst S. VII, dann die Schrift als ganzes. 134 Über nomologische Aussagen/Hypothesen in Alberts Verständnis siehe in Kap. III. 135 Albert (zuerst 1974, dann wieder) in: Acham (1978), S. 306 bzw. 307. In diesem Beitrag steht, an mehreren Stellen, auch mehr über „Vorhersagen“. 133

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

fassende Theorien von großer Erklärungskraft zu entwickeln“, ist „theoretischer Pluralismus“ geboten, ohne Von-vornherein-Ablehnung metaphysischer Theorien, dies wegen des in ihnen möglicherweise enthaltenen kritischen Potentials, das allerdings seinerseits kritisch zu prüfen ist.136 Im letzten Kapitel seines „Traktats über kritische Vernunft“ zeigt Albert die Möglichkeiten der Lösung politischer Probleme unter kritizistischen Gesichtspunkten. Vorhandene Problemlösungen, auch solche, die von der herrschenden Ideologie dogmatisiert werden, können stets nur als Hypothesen und damit als prinzipiell kritisierbar gelten (S. 173). Es sollen konkrete Alternativen entwickelt werden, die realisierbar sein müssen. Mit ihnen sind die schon vorhandenen Lösungen zu vergleichen. Rationale Sozialkritik „darf nicht den Eindruck erwecken, es gebe keine Einschränkungen für die simultane Behebung aller Mängel und für die Realisierung einer fehlerfreien Sozialordnung und einer Gesellschaft ohne Schwächen. … Die Gesetzmäßigkeiten der theoretischen Realwissenschaften und damit auch die der Sozialwissenschaften sind … in praktischer Hinsicht als Einschränkungen anzusehen, die der praktischen und damit auch der politischen Phantasie für die Lösung von Problemen auferlegt werden müssen. Nomologisches Wissen läßt sich auch hier in technologische Überlegungen transformieren, so daß Fragen der realen Kompatibilität der in Frage kommenden Zielsetzungen gelöst werden können. Die nomologischen Wissenschaften haben also in praktischer Hinsicht vor allem auch die Funktion, Grenzen der Realisierbarkeit  – und damit Beschränkungen politischer Möglichkeiten  – aufzuweisen  …“ (S.  175 f.). Ideale müssen realistisch umgesetzt werden in konkrete Alternativen unter den gegebenen Bedingungen. Das erfordert Phantasie, „aber mehr die produktive und konstruktive Phantasie des Erfinders als die von jeder Einschränkung freie Phantasie des Tagträumers und Illusionärs“ (S. 177). Jede politische Aktion bedeutet „einen Eingriff in mehr oder weniger stark strukturierte soziale Situationen“, weshalb „man daher gut daran tut, das institutionelle Apriori in Rechnung zu stellen, … weil darin auf jeden Fall Einschränkungen für mögliche Änderungen liegen, die eine realistische Politik berücksichtigen muß. Die einer politischen Entscheidung vorhergehende Alternativ-Analyse muß die Struktur der  … Ausgangssituation berücksichtigen, wenn sie auf die Bestimmung realisierbarer Alternativen abzielt. Soweit für die Konstruktion solcher Alternativen nomologisches Wissen irgendwelcher Art in Anspruch genommen wird, setzt seine Anwendung … die Charakterisierung der relevanten Züge der … Anwendungssituation mit Hilfe des theoretischen Instrumentariums voraus, also auch die der in Betracht kommenden Quasi-Invarianzen institutioneller Natur“ (S.  178). Um die Lösungen politischer Probleme zu verbessern, muß vergleichend analysiert werden, unter „Beantwortung von Fragen der folgenden Art …: Was würde geschehen, wenn diese oder jene Maßnahmen ergriffen würden? Unter welchen Umständen könnte dieser oder jener Effekt erzielt werden? Welche Nebenwirkungen wären unvermeidlich, wenn man dieses oder je 136 Albert (1968), S. 47 ff. – Da Albert im wesentlichen Popper folgt und dieser „Die Logik der Forschung“ bereits 1934 geschrieben hat, hätte es nahegelegen, den Kritischen Rationalismus anhand von Popper darzustellen, zumal es von ihm eine knappe Zusammenfassung in 36 Thesen gibt (Referat 1961, publiziert 1962; siehe dort). Ich habe dennoch Alberts „Traktat …“ gewählt, weil er im Schlußkapitel, freilich nur allgemein, auf die Lösung „politischer“ Prob­ leme eingeht – was gut in mein Kapitel „Erkenntnisziel“ der Politikwissenschaft paßt.

V. Erkenntnisziel

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nes Ziel oder diese oder jene Zielkombination erreichen wollte? Alle diese Fragen machen für ihre Beantwortung technologische Erwägungen auf nomologischer Basis erforderlich“ (S. 179). Für die politische Praxis sind dann „vor allem zwei Aspekte zu berücksichtigen: erstens …, daß der Übergang von der Alternativ-Analyse zur Realisierung … den Charakter rationalen sozialen Experimentierens verleiht, wobei … hier wie auch sonst bei Experimenten Ungewißheit und Risiko eine erhebliche Bedeutung haben, daß aber in diesem Falle diese Bedeutung wegen der sozialen Tragweite der in Betracht kommenden Entscheidungen dramatisiert wird; und zweitens …, daß die Alternativ-Analyse selbst in die soziale Praxis eingebettet ist und in gewissem Umfang die Form einer rationalen Diskussion zwischen Verfechtern verschiedener Auffassungen annehmen kann“ (S. 179 f.). „Wo ein … Konsens nicht erreichbar ist, müssen aus praktischen Gründen oft Entscheidungsmechanismen in Funktion treten, bei denen die Zahl der Stimmen … den Ausschlag gibt. Darüber hinaus besteht … [mittlerweile] die Notwendigkeit, die Entscheidungsbefugnis weitgehend an Gremien und Personen zu delegieren, deren Maßnahmen erst nachträglich einer gewissen Kontrolle durch die von ihnen Betroffenen ausgesetzt sind. … Solange man ohne institutionelle Vorkehrungen dieser Art nicht auskommt …, ist eine herrschaftsfreie Gesellschaft137 nicht möglich“ (S. 181).

Alberts Ansatz der Kritischen Prüfung der gewonnenen „Gesetzmäßigkeiten“ kann ich zustimmen – „Regelhaftigkeiten“ wäre allerdings besser –, auch dem, was Albert, freilich erst allgemein, hinsichtlich der Anwendung auf die „poli­ tische Praxis“ ausgeführt hat. Bei Albert fehlt aber die neben der Verbesserung der gewonnenen „Gesetzmäßigkeiten“ ebenso wichtige Verbesserung der zentralen Begriffe. Unabhängig von diesen Überlegungen gilt, daß die Theorie-Bildung, mit daraus folgenden „technologischen Überlegungen“ für die Praxis, in Wirklichkeit doch noch sehr zurückgeblieben ist und daß Popper die Erwartungen bald dahin zurückgeschraubt hat, der Kritische Rationalismus werde auf absehbare Zeit wohl nur „Stückwerkstechnologien“ zustande bringen. Ähnlich steht es, soweit ich es überblicke, mit der praktischen Bedeutung der Umkehrung von Gesetzmäßigkeiten (hier  = Beschränkungen von Möglichkeiten) in alternative Vorhersagen („wenn …, dann …“) für konkrete Fälle. Die Einschränkung „soweit ich das überblicke“ ist besonders geboten, weil möglicherweise auch in dieser Richtung manches verhältnismäßig unauffällig geleistet wird (ähnlich wie das, was ich weiter oben im Text unmittelbar nach Index 126 genau deshalb genannt habe). Ich komme am Ende der jetzt anschließenden Darstellung von Aufgabe und Erkenntnisziel der Politikwissenschaft im Sinne der „Frei­ burger Schule“ noch einmal darauf zurück, und zwar dort, wo es um „Politikberatung“ geht. Zum Erkenntnisziel von Politikwissenschaft, orientiert an der unter anderem aus dem Marxismus entwickelten, ihn aber zum Teil kritisch reflektierenden „Kri 137 Hier im Sinne des Historischen Materialismus.  – Zum Theorie- und Ideologiebegriff „Gesellschaft“ generell s. B.III.2.

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tischen Theorie“,138 möchte ich hier nicht mehr Stellung nehmen. Es trifft sicherlich zu, was schon 1985 einer unserer Darmstädter Philosophie-Kollegen, Helmut Fleischer, in einem Gespräch etwa so formuliert hat: Karl Marx’ Stellung bei uns in der Philosophie und bei Ihnen in der Politikwissenschaft wird sich erst erweisen können, wenn einmal die Maßstäbe des Urteils über Marx überall nicht mehr anders sein werden wie für jeden anderen Philosophen auch. (Inzwischen kann man hinzufügen: Das wird jetzt wohl kommen, wenngleich kaum schnell, wohl erst in einer jüngeren Generation von Philosophen.) Zum Schluß komme ich zu einer Konzeption von Politikwissenschaft (und ihrem Erkenntnisziel), die sich an antik-griechischer Philosophie über Politik orientiert, besonders an der aristotelischen. Aristoteles hat die Wissenschaften in zwei bzw. in drei Gruppen gegliedert: in die „theoretischen“ und in die „praktischen“, wobei er bei der „praktischen“ Vernunftbetätigung neben dem „Handeln“ noch das „Schaffen“ subsumierte, beide aber auch wieder voneinander stärker schied. Das „Schaffen“ bezieht sich bei ihm auf die „Kunst“, d. h. auf das Werk in einem engeren Sinn. (Auf die Schwierigkeiten solcher Einteilung in „theoretische“ und „praktische“ Wissenschaften gehe ich nicht thematisch ein, außer an einem Punkt, der „Politik“ und „Politikwissenschaft“ betrifft, die wir inzwischen voneinander trennen.) Für Aristoteles waren die Wissenschaften vom menschlichen Tun erstens die Ethik als Wissenschaft vom menschlichen Handeln überhaupt, zweitens die Politik als Wissenschaft vom menschlichen Handeln in der pólis, in der Gesamtgemeinschaft, welches Handeln für Aristoteles den höchsten Rang hatte, drittens die Ökonomik139 als Wissenschaft vom menschlichen Handeln im präpolitischen Bereich des Hauses, des oíkos.140 Ziel und Zweck menschlichen Handelns ist, und damit im Mittelpunkt der ari­ stotelischen Ethik (hier NE I, 1–13) steht das Glück als das höchste Gut des Menschen. Es ist zwar auch vom äußeren Geschick abhängig, aber die Ethik stellt nur darauf ab, was der Mensch durch eigenes Handeln gewinnt, durch die dem Menschen eigentümliche Tüchtigkeit. Dem Menschen ist, im Vergleich mit den ande 138 Aus dem 1930 gegründeten und nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründeten „Frankfurter Institut für Sozialforschung“, weshalb die Richtung auch „Frankfurter Schule“ hieß. Wichtigste Vertreter bis 1933, dann in den USA und wieder nach dem Zweiten Weltkrieg waren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, später Jürgen Habermas. 139 Hier ist eine geeignete Stelle, die aus Kap. A.IV. noch offene Frage in bezug auf die Wirtschaftswissenschaft und die Rechtswissenschaft zu beantworten, die praktisch immer bei den als „Nachbarn“ der Politikwissenschaft genannten Disziplinen zu finden waren. Wir sehen jetzt, daß schon bei Aristoteles oikonomía und politiká benachbart waren. Indirekt gilt das im anderen Fall auch: Für die Griechen der archaischen Polis bildeten die nómoi den Rahmen für Handeln und Stellung in der Polis, den Rahmen, innerhalb dessen allein Menschsein für möglich galt. Später wurde nómos als Gesetz von der Art des positiven Rechts verstanden. 140 Vgl. Kapitel A. I., bei Aristoteles. Wir haben in A. I. auch gesehen, daß die enge Ver­ bindung zwischen diesen Wissenschaften an den Universitäten des Mittelalters und noch der Reformationszeit erhalten geblieben ist, danach, allerdings schon mit inhaltlichen Veränderungen, noch bis ins 18. Jahrhundert.

V. Erkenntnisziel

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ren Lebewesen, die Vernunft eigentümlich. Sie aber erwächst nicht von selbst, sondern aus der Erziehung des Willens, sie ist dem Menschen aufgegeben. Wie wir schon wissen, ist Vollkommenheit menschlichen Lebens (entelécheia) für Aristoteles (und schon für Platon) nur im Rahmen des Gesamtgemeinwesens (der pólis) möglich. Das höchste Gut,141 die eudaimonía, ist auch Ziel des politischen Handelns, der „politischen Kunst“ (polītikē´ ) der Politiker (polītikoí). Folglich ist der Zweck der pólis die sittliche Bildung, das sittliche Wohl der Bürger (der polī´ tai). Wenn das so ist, kommt es Aristoteles (und auch schon Platon) zufolge darauf an herauszufinden, wer wie über wen tunlichst herrschen soll. (Darauf muß ich noch zurückkommen.) Die Erneuerung der Politikwissenschaft als „praktische Wissenschaft“ haben an den deutschen Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg die „Freiburger Schule“ (um Arnold Bergstraesser) und, mit ihr, Wilhelm Hennis versucht. Ich zeige es hier anhand von Oberndörfer:142 „Die Konzeption einer praktischen Wissenschaft von der Politik gewinnt den Horizont ihres Forschens nicht aus dem Ziel der Beschreibung von Geschehenem, sondern aus der Frage, was im Licht des Möglichen und wünschbar Guten geschehen solle und könne. Diese Frage entspringt der politischen Grundsituation des Menschen, ‚der Freiheit und der Not[,] entscheiden zu müssen‘ (A. Bergstraesser), also dem Umstand, daß die politische Ordnung und das politisch zu Tuende nicht vorgegeben, sondern aufgegeben, Sache der Gestaltung, der Wahl zwischen Möglichkeiten und der Entscheidung für bestimmte Normen sind. Die Forschung dieser also auf res gerendae bezogenen Wissenschaft richtet sich damit auf mögliches und wünschbares Künftiges. … Und während eine sich deskriptivanalytisch beschränkende Wissenschaft ihre Forschungsmotivationen dem Belieben des einzelnen Wissenschaftlers anheimstellen zu müssen vermeint, bezieht eine praktische Wissenschaft ihr kritsches Ethos und damit zugleich ihre letzten Ziele prinzipiell aus einer Reflexion über das Wohl des Ganzen. Im kritischen Bedenken und Vordenken politischen Handelns soll also wissenschaftliche Arbeit dem Wohl des Gemeinwesens und seiner Menschen dienen, freilich nicht im Sinne der Unterordnung unter Auftraggeber, sondern in der Freiheit des Denkens, als kritisch unabhängige Instanz. Politisch ist potenziell hierbei alles, was das Wohl des politischen Verbandes und seiner Menschen berührt. In dem Grade, in dem Dinge oder Handlungen für das ‚Gemeinwesen‘ relevant werden, sind sie auch ‚politisch‘ beziehungsweise werden sie zum Gegenstand des wissenschaftlichen Bedenkens und Vordenkens. Im Zentrum des Fragens steht daher auch hier die Herrschaftsordnung, ‚kraft deren verbindliche Entscheidungen über das Ganze eines Gemeinwesens, mit Hilfe der Möglichkeit des Zwangs, zur Durchführung gebracht und in der Durchführung erhalten werden‘ (A. Bergstraesser). Insofern sich die Wissenschaft von der Politik dergestalt das Vordenken von Praxis, von Handeln zur Aufgabe macht, kann sie in An­lehnung an die klassisch-aristotelische Wissenschaftseinteilung als eine praktische bezeichnet werden.“ (S. 19 f.)

141

In NE I, 2 sagt Aristoteles zum Inhalt des Begriffs höchstes Gut, daß zwar fast alle darin übereinstimmten, daß das Glück das höchste Gut sei, aber darüber, was unter Glück zu verstehen sei, gingen die Meinungen doch sehr auseinander. 142 Oberndörfer (1962). – Siehe auch Hennis (1963).

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Auch die so verstandene „praktische“ Wissenschaft soll sehr wohl die Wirklichkeit beschreiben (Themenkatalog bei Oberndörfer auf S. 14), aber nicht um ihrer selbst willen. Die Einsicht in die Wirklichkeit soll vielmehr die Basis zur Entwicklung von Alternativmöglichkeiten politischen Handelns bilden, soll dazu verhelfen, politische Programme auf ihre Folgen und auf die Möglichkeit ihrer Verwirklichung hin zu prüfen, unter Umständen aber auch „unter Aufdeckung der Sachzusammenhänge und Motive ein bestimmtes politisches Urteil zu formulieren.“ (S. 20)143 „Da politisches Handeln stets mit der Frage nach dem Rechten und Guten verbunden sein sollte, kann sich eine, das politische Handeln vordenkende Wissenschaft der Frage nach den letzten Zielen und Normen der Politik nicht entziehen. Da aber die höchste und vornehmste Zielsetzung der Politik die schöpferische Gestaltung und Bewahrung einer das ‚gute tugendhafte Leben‘ ermöglichenden politisch-sozialen Ordnung ist, führt diese Frage unmittelbar zu der weiteren nach der guten Ordnung, die der moralisch-geistigen Natur des Menschen gemäß ist. Die damit aufgegebene philo­sophische Reflexion über das Wesen und den Sinn des Gemeinwesens sowie die Umsetzung dieser Reflexion in konkrete politisch-soziale Ordnungsvorstellungen ist hierbei nicht etwa ein für allemal zu leisten, sondern wegen der geschichtlichen Natur des Menschen dauernd neu anzugehen.“ (S. 21)

An zwei der eben zitierten Stellen ist die Aufgabe der Politikwissenschaft schon als „Vordenken von Praxis“ genannt worden. Später im selben Beitrag, im Teil VI, „Mögliche Leistungen, …“, geht Oberndörfer auf Einzelheiten ein. „Die Politikwissenschaft wird kaum imstande sein, Lösungen für verfahrene, ausweglos gewordene politische Situationen zu bieten. Treten solche Situationen auf, wird etwa die Politik zu einem Würfelspiel, bei dem jede Entscheidung in den Abgrund zu führen scheint, so ist dies aber immer noch kein schlagendes Argument gegen die prinzipielle Möglichkeit und Wünschbarkeit eines rationalen Vordenkens der Politik. … Die Politikwissenschaft kann ferner nicht die Grundproblematik politischer Entscheidungen aufnehmen, für die es eben oft nur um die Wahl zwischen dem größeren und dem geringeren Übel geht und bei der jedem Handeln in seiner historischen soziologischen Dimension Schuld zukommt. … All diese Einschränkungen der Leistung einer praktischen Politikwissenschaft schließen jedoch die Möglichkeit einer wissensmäßigen und logischen Klärung der Bedingungen, Alternativen und Ziele des politischen Handelns nicht aus. Obgleich das politische Handeln immer unbekannte Faktoren und daher stets ein Risiko enthält, … können doch viele und wesentliche Faktoren, mit denen es zu rechnen hat, wissensmäßig erfaßt und logisch durchdacht werden.“ (S. 49 f.) „Die komplexen Voraussetzungen moderner politischer Entscheidungen werden dabei sicher heute von vielen Politikern und Publizisten mit Wissens- und Denkleistungen beantwortet, die als wissenschaftliche gelten und bestehen können. … Gesellt sich jedoch die 143

Oberndörfer nennt zum letztgenannten Aspekt einige Beispiele aus der us-amerikanischen Politikwissenschaft von um 1960 und hebt besonders hervor: „Die dabei vor allem von H. Kissinger unterbreiteten Vorschläge sind in Teilen maßgeblich für die Führung der amerikanischen Außen- und Rüstungspolitik geworden.“

V. Erkenntnisziel

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Wissenschaft von der Politik mit ihren Forschungen zu der in ihrer Qualität oft viel zu sehr unterbewerteten Arbeit der Politiker und Publizisten hinzu, so ergibt sich die Chance der Verminderung des Risikos, …. Das Vordenken der politischen Entscheidungen würde dann durch den spezifischen Beitrag der Wissenschaft ergänzt: durch die ihr eigenen Hilfsmittel für eine breite wissensmäßige Fundierung politischer Überlegungen (etwa durch Fachbibliotheken), durch die ihr eigene institutionelle Absicherung der Freiheit und Kontinuität des Forschens, durch die Kontrolle ihrer Aussagen im Gespräch der Wissenschaftler untereinander  …. … Das Gemeinwesen erhält in der Politikwissenschaft eine unabhängige Institution, die durch ihre Vertreter oder die von ihr Ausgebildeten die Zahl der zu einem sachlich begründeten Urteil über komplizierte politische Sachzusammenhänge Fähigen vermehrt … .“ (S. 51 f.) „Häufig wird der Möglichkeit eines wissenschaftlichen Vordenkens auch aktueller politischer Tagesfragen damit widersprochen, daß der Politiker oder Staatsmann den Zugang zu wesentlichen für die politische Entscheidung wichtigen, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit aber nicht einsichtigen Hintergrundsdaten besitzt, zum Beispiel in der Außenpolitik Kenntnisse von geheimen Abmachungen oder durch Spionage ermittelte geheime Kenntnise über wesentliche Faktoren der Dynamik und des Potentials von Verbündeten oder Gegenspielern. Soviel Wahres an diesem Einwand ist, der Politiker und insbesondere die Regierung besitzen zuweilen in der Tat häufig mehr Informationen, als sie der Öffentlichkeit oder der Wissenschaft zugänglich sein können, so wenig sollte er überschätzt werden. …“ (S. 52 f.) „Gerade  … in dem Versuch, aktuelle Fragen aus einer synoptischen Schau des Ganzen und aus der Reflexion über dessen Normen und wünschenswerte Ziele vorzudenken, liegt eine spezifische Chance der Politikwissenschaft. So mag zum Beispiel der Verbandspolitiker über viele Interna seines Verbandes und dessen ‚wahre‘ Politik mehr wissen, als jemals durch noch so exakte und subtile Methoden der politischen Soziologie ermittelt werden kann. Demgegenüber ist es jedoch möglich, daß die wissenschaftliche Erforschung einer ganzen Reihe verschiedener Verbände ein besseres Bild über die allgemeinen Merkmale des Verbandswesens in der modernen Gesellschaft ergibt, als es der einzelne Verbands­ politiker besitzt. …“ (S. 53)

Auch die Vertreter dieser Richtung der Politikwissenschaft sind, wie aus jetzt schon größerem Abstand besser einzuschätzen, in bezug auf das, was erreichbar sein könnte, viel zu optimistisch gewesen, besonders hinsichtlich dessen, was „Vordenken von Praxis“ und Politik-Beratung144 betrifft. Das gilt, mit Einschrän 144 Der Politikwissenschafter Prof. Dr Hans Maier aus der „Freiburger Schule“ ist allerdings über 15 Jahre lang bayerischer Kultusminister gewesen. Dr. Bernhard Vogel, der in Politikwissenschaft promoviert hat (soweit ich weiß, in Heidelberg), war neun Jahre lang rheinlandpfälzischer Kultusminister, danach dort Ministerpräsident, später Ministerpräsident von Thüringen. Der Frankfurter Politologe (u. Erziehungswissenschafter) Thomas Ellwein war in der Politik-Beratung sehr engagiert, außerdem 1970–1974 Dir. d. Inst. f. Erziehung u. Bildung der Bundeswehr in München u. 1974–1976 Präs. d. Bundeswehrhochschule in Hamburg, danach wieder Prof. f. Politikwissenschaft, nun in Konstanz. Hans Eichel hat in Marburg Politikwissenschaft für das Lehramt an Gymnasien studiert, war später Oberbürgermeister von Kassel, dann Ministerpräsident von Hessen, später Bundesminister der Finanzen. Klaus Schütz war nach Ämtern in Berlin und Bonn 1967–1977 Regierender Bürgermeister von Berlin, ­1977–1981 Botschafter in Israel und 1981–1987 Intendant der Deutschen Welle.

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kungen, aber wohl generell und nicht nur für die „Freiburger Schule“. So schreibt Arndt, „daß Politologen in ganz verschwindend geringer Anzahl etwa für die Ausarbeitung der ‚Materialien zum Bericht über die politische Lage der Nation‘ seitens der Bundesregierung herangezogen werden.“145 Weil in einer Publikation von 1980, ist wohl zumindest die Zeit von Bundeskanzler Schmidt (1974–1982) gemeint (SPD-FDP-Koalition). Es gibt (so z. B. bei Bleek, S.  257–260, 296, 382, 393–400, hier auch mit Literatur, und S. 422) zwar allgemeine Nennungen sehr wohl bestimmter Politikberatung durch Politikwissenschafter, aber doch relativ wenig an wirklich konkreten Einzelheiten. Gemäß meinen Beobachtungen zeigt Politikberatung weniger Wirkung, wenn die Initiative von politikwissenschaftlicher Seite ausgeht,146 dagegen am ehesten, 145

Arndt (1980), S. 24. Weil man aber in der wissenschaftstheoretischen Literatur, wenn es um Ziel und Auf­ gaben der Politikwissenschaft geht, selten Einzelheiten erfährt, will ich zwei konkrete Beispiele nennen. Das erste betrifft die traditionsreiche „Saarbrücker Zeitung“ (SZ). Deshalb folgendes kurz voraus: Druckhaus Hofer in Saarbrücken seit 1742; Zeitung 1761–1921 ganz, 1921–1936 noch zu 40 v. H. im Hoferschen Familienbesitz. 1935/36 „Gleichschaltung“ seitens NS-Regime. 1945 unter Verletzung von Besatzungsrecht in französischen Besitz gebracht. Nach dem Saar-Referendum von 1955 gemäß deutsch-französischem Vertrag vom 27.10.1956 „Rück“-Kauf seitens des Landes Saarland. Treuhänderische Verwaltung für das Land seitens dreier Banken (Saarl. Kreditbank/Deutsche Bank Saar, Landesbank, Bank für Gemeinwirtschaft); Verpflichtung der Landesregierung zur Reprivatisierung. Regierung macht Vorschlag, Landtag akzeptiert am 5.11.1969, in Kraft am 1.1.1970. 49 v. H. der Anteile werden verkauft an Holtzbrinck-Gruppe Stuttgart, 26  v.  H. an eine Gemeinnützige Förderergesellschaft (gebildet von den Parteistiftungen von CDU, SPD und FDP), 15 v. H. an die Belegschaft, 10 v. H. an jene drei Banken. – Vor allem 1968 und 1969 war immer wieder auch eine „Stiftungslösung“ in der Diskussion. Ich habe mich damals, von der Universität Darmstadt aus, beim Ministerpräsidenten des Saarlandes, Dr. Franz-Josef Röder, den Ministern, den Landtagsabgeordneten und den Landes-Parteivorsitzenden aus politik- und publizistikwissenschaftlichen Gründen detailliert für eine echte Stiftungslösung, mit unabhängigen Persönlichkeiten in den Stiftungsgremien, eingesetzt, und zwar mit Unterstützung des Darmstädter Kollegen für Verwaltungsrecht, Prof. Dr. Georg Strickrodt, d e s Fachmanns für Stiftungsrecht in Deutschland (und braunschweigischen Staatsministers nach dem Zweiten Weltkrieg), weshalb ich eine ausgearbeitete Stiftungssatzung vorlegen konnte, die hieb- und stichfest war. – Auch sonst wären die Voraussetzungen nicht schlecht gewesen. Meinerseits parteipolitisch ganz ungebunden, war ich jedoch wegen jener rund 200 Interviews (siehe Kap. A.III., Fußn. 66) für meine „Saarpolitik 1945–1957“ (1959–1962) und dann natürlich von dieser Publikation her im Saarland (damals) sehr bekannt. Der Chef der Staatskanzlei im Saarland, Dr. Anton Merz, und ich hatten in Mainz beim selben Doktorvater in Philosophie promoviert und beide am selben Tag im Februar 1952 Rigorosum. Den Ministerpräsidenten Dr. Röder kannte ich schon aus seiner Zeit als Referendar und als Assessor im Französisch-Unterricht am Gymnasium Neunkirchen/Saar, 1934/35 und 1935/36. Besonders aber waren bei Politikern und Wirtschaftsfachleuten im Saarland bestens bekannt, man kann sagen: sogar einigermaßen berühmt, meine Darmstädter Hauptseminare für angehende Wirtschaftsingenieure und Gemeinschaftskunde-Gymnasiallehrer, unter dem Obertitel „Wirtschaftsraum, Technik und Politik“ (beim ersten Mal betr. Berlin, danach, immer etwa im Abstand von vier Seme­ stern, zu Themen aus der Großregion Saarland-Westpfalz-Lothringen-Luxemburg-Trier), zu denen jeweils am Semester-Ende dreitägige Exkursionen in die Großregion gehörten. Das waren Fahrten zu während des Semesters seitens der Seminarteilnehmer sorgfältig vorbereiteten 146

V. Erkenntnisziel

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wenn Politiker von sich aus Beratung wünschen – was wiederum meistens dann der Fall ist, wenn es um ein konkretes Vorhaben geht, dessen Realisierung allein aus eigenen Kräften nicht möglich und deshalb Hilfe anderer (etwa Aufnahme in ein Programm auf höherer Ebene) erforderlich ist, wofür dann das Einholen wissenschaftlicher Gutachten als vielleicht förderlich angesehen wird.147 externen Seminarsitzungen in der Großregion, in der Staatskanzlei in Saarbrücken, bei regionalen Planungsorganisationen in Lothringen und in Trier, bei den Saarbergwerken, bei der Eisen- und Stahlindustrie der Region, bei der weiterverarbeitenden Industrie, bei Hafengesellschaften, Wasser- und Schiffahrtsbehörden, bei Gemeinden und Landkreisen, bei der Europäischen Akademie Otzenhausen, je nachdem, wie die Themen jeweils gerade waren. Organisatorische Hilfe hat der Chef der Staatskanzlei gegeben, hat die geeigneten sachkundigen Gesprächspartner vermittelt, hat es eingerichtet, daß auch der Ministerpräsident den Termin freibekam. Die Partner für unsere externen Sitzungen waren von Mal zu Mal mehr geradezu „spitz“ auf ihre Teilnahme. Wenn die Studenten, selbstverständlich alle schon in höheren Semestern, durch die Bank gut sind und der Seminarleiter sie recht animieren kann, geben umgekehrt auch die Fachleute ihr Bestes dazu. Selbst unter so günstigen Voraussetzungen ist es mir damals nicht gelungen, die an der Umwandlung des Status der „Saarbrücker Zeitung“ Beteiligten zur Realisierung einer echten Stiftungslösung zu bewegen. Die andere Lösung, die den drei Parteistiftungen auf LandesEbene zu Einkünften verhelfen würde (und auch immer noch verhilft), war den drei Parteien und Landtagsfraktionen zu verlockend. – In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten italienische Politikwissenschafter und Politiker eine Regionalisierung des Einheitsstaats Italien angestrebt, mit der sie meinten, die demokratischen Strukturen besser absichern und die regional gegebenen Eigenheiten zur Geltung bringen zu können. Regionalisierungsbestrebungen gab es damals auch im besonders straff unitarisch-zentralistisch organisierten Frankreich. Um die Diskussion zu versachlichen, haben italienische Politikwissenschafter und Publizisten 1963 in der Zeitschrift für Kultur und Politik „Il Mulino“ ihre eigenen Ziele in Sachen Regionalisierung dargestellt und begründet und dazu von einem deutschen Politikwissenschafter das deutsche föderale Sy­stem historisch und systematisch kritisch präsentieren lassen, entsprechend von einem französischen Wissenschafter die ganz anders gearteten französischen Konzeptionen (mein Beitrag war: „Il decentramento regionale nella Repubblica Federale Tedesca“, fasc. 132, Bologna ott. 1963, p. 943–964; der Beitrag von Jean Vergeot hieß „La pianificazione regionale in Francia“, p.  965–975). Die Bemühungen zur Regionalisierung Italiens brachten mit den Föderalisierungsartikeln von 1970 der italienischen Verfassung die Schaffung von Regionen mit Normalstatut und in besonderen Statuten für einige Regionen besonderer Art besondere Lösungen, so etwa 1972 für die Region „Trentino-Tiroler Etschland“ – worauf es hier aber nicht im einzelnen ankommt. (In solchen Fällen sind wissenschaftliche Anteile an politisch erfolgreicher Bemühung sinnvoll überhaupt nicht abzuschätzen, nicht, ob überhaupt, und schon gar nicht, wenn ja, wieviel.) 147 Auch hier ein konkretes Beispiel: Nach der Publikation der Arbeit über das Deutsch-Französische Hochschulinstitut (s.  Kap.  A.III., Fußn.  63; s.  auch Fußn. 120) im Herbst 1983 haben die lothringische Stadt Saargemünd und ihr Umlandverband sowie die für diesen Raum arbeitende Wirtschaftsförderungsgesellschaft CELOR sofort einen zweiten Anlauf genommen, um doch noch zu einem zweisprachigen Universitätsinstitut für Wirtschaft und Technik zu kommen, nachdem der erste Anlauf zwar mit einem in sich guten ganz anderen Ergebnis geendet hatte, aber eben nicht mit dem, das die Initiatoren aus Ostlothringen gebraucht und gewollt hatten. Die Stadt Saargemünd hat eine Professorengruppe um ein Gutachten gebeten (Prof. Gravier, einen durch Untersuchungen über unterentwickelte Gebiete Frankreichs bekannt gewordenen

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

Unbeschadet des Umstands, daß vereinzelt Politikwissenschafter auch als z. B. Minister gearbeitet haben und daß es sehr wohl – wenngleich offenbar doch viel weniger als in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vorab vermutet – Beratung für Politiker verschiedener Ebenen seitens einiger Politikwissenschafter gegeben hat, müssen wir zwischen „Politikwissenschaft“ und „Politik“ (und deren defizienten Modi) als dem Gegenstand der Politikwissenschaft sehr wohl unterscheiden. Jene sprachlich unsaubere Bezeichnung „praktische Wissenschaft“ Wissenschafter aus Paris, Prof. Dr. Reitel, Sozialgeograph der Universität Metz, und mich). Außerdem arbeiteten noch mit der CELOR-Präsident Meysembourg und der Erste Beigeordnete, Herges. Da wir Anfang 1984 über die Aufgabenverteilung schnell einig wurden, konnten wir gleich anfangen. Die Hindernisse und Schwierigkeiten zu zeigen, die den ersten Anlauf aus Saargemünder Sicht hatten scheitern lassen, war die erste meiner Aufgaben. (Dieses Ergebnis – siehe die genannte Fußnote – lag schon vor und wurde nun allen Stadtverordneten und allen anderen Beteiligten zugänglich gemacht.) Die andere war, Geschichte und Entwicklungsstand 1983/84 der für Ostlothringen grenznahen Bildungseinrichtungen im „tertiären Bereich“ (d. h. alles n a c h Abitur bzw. Fachabitur, bis hin zu den Universitäten und Technischen Universitäten) auf deutscher Seite, also im Saarland, in der Westpfalz und im Raum Trier zu untersuchen, damit dann mit Lothringen detailliert verglichen werden konnte. Was „Geschichte“ betrifft, kam es mir besonders auf die Umstände der Entstehung vor allem der Vorläufer der inzwischen „Fachhochschulen“ in damals (1983/84) Saarbrücken, Kaiserslautern und Trier an, wer die treibenden Kräfte waren, woher Unterstützung kam, wo und warum es Schwierigkeiten gab, auch darauf, wie es mit der Bereitschaft stand, sich vielleicht zunächst auf provisorische Lösungen hinsichtlich Gebäuden, Einrichtungen und Personalumfang einzulassen, und wie sich das auswirkte, und schließlich darauf, wo es welche „Vereinigungen von Freunden der …“ gegeben hatte oder noch gab und welche Personengruppen dort erfolgreich hatten angesprochen werden können. Da die Fachhochschul-, die Universitäts- und die Kultusverwaltungen in Saarbrücken, Kaiserslautern und Trier und die Archive der Öffentlichen Hand mein Vorhaben überall intensiv unterstützt haben, ging es zügig voran, entsprechend übrigens auch bei den Kollegen aus Paris und Metz. Inzwischen stand (in Neufgrange/Neuscheuern, einem Vorort südlich von Saargemünd) auf einem für reichlich fünf Abteilungen (Endplanung) ausreichenden Gelände auch ein großes Gebäude noch guter Bausubstanz zur Verfügung. Weil zunächst die Abteilungen „Genie électrique“ und „Administration des entreprises“ eingerichtet werden sollten, sind dann noch je ein Saarbrücker Fachhochschulprofessor für Elektrotechnik bzw. für Betriebswirtschaftslehre mit hinzugezogen worden, um zu beurteilen, ob sich die Räume – auch hinsichtlich ihrer Statik – für die Einrichtung dieser Abteilungen eignen würden – was der Fall war. Am 20.12.1984 haben wir dem Saargemünder Stadtrat unsere Ergebnisse und Beurteilungen mündlich präsentiert, nachdem Gravier sie in einem detaillierten Gutachten mit ganz konkreten Angaben auf französisch schriftlich zusammengefaßt und zum 29.11.1984 vorgelegt hatte (J.-F. Gravier: „Projet de création d’un enseignement superieur à Sarreguemines. Conclusion definitives“, 24 Seiten, hektographiert). Unter solchen Bedingungen, d. h. wenn das Urteil unabhängiger Wissenschafter ausdrücklich gewünscht wird, kann ziemlich rasch und doch solide beraten werden. Stadt und Stadt­ verband Saargemünd sind inzwischen freilich sehr renommiert für effizientes Arbeiten und für Sich-gut-beraten-Lassen. Jüngstes Beispiel ist der Erfolg bei der Groß-Ansiedlung des Mercedes-Hayek-Werks für das (wie es damals noch hieß) „Swatch Mobil“ (inzwischen „Smart“) im Vorort Hambach und wie sich die Saargemünder bei den Verhandlungen verhalten haben, hinsichtlich Rat-Einholen und Auskunft-Geben: „Wir sind vom ersten Tag wegen jeder Frage nach Stuttgart gefahren, …“ („Saarbrücker Zeitung“, 12.12.1994).

VI. Gliederung

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(im Unterschied zu – übrigens sprachlich ebenfalls unsauber – „theoretische Wissenschaft“ statt richtig „Wissenschaft vom menschlichen Handeln“) für Ethik, „Politik“ und „Ökonomik“ hat, wie üblich bei unsauberer Begrifflichkeit, viel Verwirrung gestiftet. Bezeichnungen wie „Politik als Wissenschaft“ und „Wissenschaftliche Politik“ (siehe Kapitel A. I.) liegen in dieser Hinsicht auf der gleichen Ebene. Auch die Vertreter der „Freiburger Schule“ der Politikwissenschaft148 haben sehr wohl gesehen, „daß das Fach in seiner heutigen Form [1962] endgültig über den Sammelbegriff der alten (‚pluralistisch‘ verstandenen) ‚politischen Wissenschaften‘ hinausgewachsen“ und ein Fach „für sich“149 geworden ist, „mit selb­ ständigem Institutsbetrieb“, daß Soziologie und Politikwissenschaft zunehmend voneinander geschieden werden und daß die „Zeitgeschichte in den Kreis der hi­ storischen Disziplinen“ nach und nach zurückgeholt werde – worauf der „Rückzug [der Politikwissenschaft] auf die eigentliche ‚Sache‘ der Politik in nächster Zeit noch deutlichere Formen annehmen“ werde. Maier läßt dem – die Situation deutlich bezeichnend – die Frage folgen: „Worin besteht diese ‚Sache‘ … nun eigentlich?“

VI. Gliederung Jede Wissenschaft muß sich w i s s e n s c h a f t s t h e o r e t i s c h a u s w e i s e n . Ich habe das in den voranstehenden Kapiteln für die Politikwissenschaft versucht. Dabei konnte die Frage nach dem Gegenstand, also was das Politische ist, nicht befriedigend beantwortet werden. Statt einer T h e o r i e d e r P o l i t i k bringe ich eine e m p i r i s c h e G r u n d l e g u n g d e s P o l i t i s c h e n , mit der ich die Lücke in der Gegenstandsbestimmung schließe. Erforderlich ist die U n t e r s u c h u n g u n d D a r s t e l l u n g d e s e i g e n e n S y s t e m s , bei uns also das der Bundesrepublik Deutschland. In der älteren Literatur hieß das oft „Innenpolitik“.150 Für jedes System, überall, heute und in der 148

Ich zeige es im folgenden am Beispiel Hans Maiers (1962, hier Vjh. f. Zeitgesch., S. 243). In der Nachfolge Arnold Bergstraessers sprachen praktisch alle „Freiburger“ wohl noch von der Politikwissenschaft als einer „synoptischen“ Wissenschaft und/oder als einer „Integrationswissenschaft“, die relevante Bereiche anderer Wissenschaften mit einbeziehen müsse. 150 Das betrifft nicht nur den Bund und die Länder, sondern auch die Ebenen darunter. Deshalb habe ich ab 1974 im Durchschnitt alle zwei bis drei Semester auch Proseminare oder Seminare über K o m m u n a l p o l i t i k bzw. Kommunalpolitik und R e g i o n a l p l a n u n g gehalten, mit zur Einführung in die Thematik der Proseminare ausgearbeiteten Umdrucken „Die Aufgaben kleinerer Gemeinden“, „Wirtschaftspolitische Möglichkeiten der Kommunalpolitik“ und „Aufgaben der Landkreise“ sowie der regionalen Planungsgemeinschaft für Starkenburg (= Südhessen). Bei den Proseminaren war Zugangsvoraussetzung die erfolgreiche Teilnahme an einer Anfängerübung zur Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten. Die Proseminarteilnehmer übernahmen die Bearbeitung konkreter aktueller Themen einer kon 149

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A. Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft

Vergangenheit, ist eine entsprechende Darstellung denkbar; in den meisten Fällen gibt es sie oder Teile davon längst. Die Systeme werden miteinander verglichen. Ein solcher Ve r g l e i c h d e r S y s t e m e führt zur Kenntnis von Systemtypen und von Varianten. Es folgen die „ A u ß e n p o l i t i k “ d e r k o n k r e t e n S y s t e m e , jeweils aus der Warte dieser Systeme, die I n t e r n a t i o n a l e n B e z i e h u n g e n , die infolge der „Außenpolitik“ der Systeme entstehen, die „I n t e r n a t i o n a l e P o l i t i k “, etwa aus der Warte eines Betrachters (Wissenschafters) sozusagen ü b e r mehreren, im Idealfall allen Systemen, aber auch im Sinne der Aktivitäten internationaler Organisationen, dann die „S u p r a n a t i o n a l e P o l i t i k “ als, ganz oder partiell, in „Innenpolitik“ nun größerer Einheiten151 umschlagende bisher „Außenpolitik“ und „Internationale Politik“. Schließlich brauchen wir die G e s c h i c h t e d e r P o l i t i k t h e o r i e n . Sie kann gemäß Autoren, gemäß Epochen oder gemäß Themen gegliedert sein. Sie beginnt, was Autoren betrifft, mit Sokrates/Platon. Meine Grundlegung von Politik und Publizistik152 in den Kapiteln von B. I. ist nicht theoretisch. Die Voraussetzungen einer solchen Grundlegung sind in den Vorbemerkungen zu Teil B. genannt.

kreten kleineren Gemeinde in der Nähe Darmstadts (Größenordnung 8 000 bis 15 000 Einwohner), zu deren Bürgermeister ich entweder schon Verbindung hatte oder aufgenommen habe, entsprechend zum Landrat und zum Geschäftsführer der Planungsgemeinschaft: Die mit Wünschen betr. Unterlagen und andere Informationen kommenden Studentinnen und Studenten sollten bei der Kommunalverwaltung und beim Gemeinde- bzw. Stadtrat die Türen offen finden. Das Proseminar und das – wenn günstig – im folgenden Semester anschließende Haupt­ seminar waren bei den Studierenden bald beliebt, weil es um Konkretes ging, und deshalb auch ertragreich. In den Hauptseminaren konnten wir fortschreiten z. B. zur Analyse von Formen der Bürgermitwirkung (Bürger-Initiativen u. a.), aber auch zu ländergrenzen-überschreitender Strukturpolitik im Rhein-Neckar-Raum (Hessen mit Baden-Württemberg) und im Rhein-MainRaum (Hessen mit Bayern). In den Proseminaren hatten wir jeweils kurz vor Semester-Ende eine (oder zwei) vom Proseminar vorbereitete Sitzung(en), an der (denen) wenigstens der Bürgermeister teilnahm, evtl. in der zweiten Sitzung der Landrat oder der Geschäftsführer der Planungsgemeinschaft. Konsequenz aus der guten Erfahrung ist: K o m m u n a l p o l i t i k und R e g i o n a l p l a n u n g , nicht nur das Gesamtsystem, müßten zum Kanon der politikwissenschaftlichen Studien, Studienpläne und Lehrveranstaltungen gehören. Der Einstieg in das Verständnis politischer Zusammenhänge ist dort, an der Basis und auch noch auf einer Stufe darüber, am besten möglich. 151 Zu „Vergrößerung der Einheiten“ s. a. im letzten Kapitel (C.IV.) dieser Publikation den viertletzten Absatz. 152 Das Wieso von „… und Publizistik“ kann nicht inhaltlich vorab genannt werden. Die konstitutive Verbindung von Politik und Publizistik ist Resultat der Untersuchung in B. I.

B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik und Die politischen Gemeinwesen und ihr Verfall Vorbemerkungen Das Ergebnis der Durchsicht der uns vorliegenden Aussagen darüber, was der Gegenstand der Politikwissenschaft, was das Politische sei (Kapitel A.II.), war enttäuschend. Wir haben zwar seit nun rund zweieinhalbtausend Jahren sehr viele Theorien, meistens aus der Philosophie über Politik stammend, die ersten von Sokrates/Platon,1 dann von Aristoteles und so die abendländische Philosophie durch bis z. B. zu Hegel, Marx und zur unorthodoxen marxistischen „Kritischen Theorie“, zuletzt von Jürgen Habermas, oder z. B. zur betont in aristotelischer Tradition stehenden „Freiburger Schule“ der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir wissen aber immer noch nicht, was das spezifisch Politische ist. „Vorsokratisch“ in meiner Grundlegung der Politik, die, wie sich dann zeigte, zugleich, aus der Sache selbst, zu einer Grundlegung der Publizistik wurde, heißt zum einen Verzicht auf die mit Sokrates beginnende Theorie der Politik, zum anderen Rückgriff in die (u. a. griechische) Geschichte möglichst weit in die Zeit vor Sokrates2, heißt also, es empirisch3 zu versuchen. 1 Mit „von Sokrates/Platon“ ist ein komplexer Sachverhalt gemeint, den ich für unsere Zwecke verkürzt wiedergebe; in bezug auf Details verweise ich jeweils auf Praechter (Hrsg.), hier Teil 1, „Altertum“. – Von Sokrates (S. 129–150), der von um 470 bis 399 v. Chr. gelebt hat, gibt es keine Schriften über seine Philosophie, die er selbst verfaßt hat. Was wir dazu wissen, stammt vor allem von seinem wichtigsten Schüler Platon, aber auch von dem mit Platon etwa gleichaltrigen Xenophon (S. 152 ff.). In Sokrates’ Theoriedenken ging es um Herrschaft. Die Unterscheidung zwischen Herrschaftsformen war ihm geläufig (S. 144 f.). (Über den Beginn der Diskussion darüber s. Kap. B. I.8.) Von den frühgriechischen politischen Gemein­wesen besaßen Sokrates/Platon und Aristoteles keine Kenntnis mehr, und das Wesentliche des Politischen kannten sie nicht (ich zeige das ebenfalls in B. I.8.). 2 „Vorsokratisch“ bezieht sich nicht auf die erhalten gebliebenen Fragmente der Schriften der „Vorsokratiker“ i. S. v. Schadewaldt, also der griechischen Philosophen vor Sokrates (die übrigens, wie die Durchsicht in Diels/Kranz und Capelle ergab, für unser Thema nichts hergeben; zu den „Sophisten“ s. Kap. B. I.2.). Mein Versuch stammt auch nicht aus Heidegger, der in mehreren Schriften dem Denken der Vorsokratiker nachgeht. Auch sie bringen für uns nichts, ebensowenig wie Heidegger sonst. Bei Sprache als „das Haus des Seins“ denkt Heidegger anders (Wozu Dichter?, S. 286, und: Über den Humanismus, S. 5). Umgekehrt verbaut er sich schon in „Sein und Zeit“ die Möglichkeit eines Verständnisses des Politischen. Er kennt nur den defizienten Modus von „Öffentlichkeit“ als die Uneigentlichkeit des Daseins,

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Wenn empirisch  etwas über das, was das Politische ausmacht, zu gewinnen wäre, dann vielleicht außer von Althistorikern auch aus der Vorgeschichtswissenschaft, schließlich vielleicht aus altem Sprachmaterial. (Ich habe keinen vierten Zugang gefunden. Es wäre z. B. nicht erlaubt, sich auf rezente Gemeinwesen zu beziehen, von denen Ethnologen vielleicht sagen würden, sie befänden sich auf einer „entsprechenden“ frühen Entwicklungsstufe. Solange nicht geklärt ist, was charakteristisch politisch ist, ist die Vokabel „entsprechend“ nicht zulässig.) 3

Nun liegt es nicht gerade nahe, daß ein Politikwissenschafter auch den zweiten und den dritten jener drei Wege geht. Ich muß folglich dazu und zu den Voraus­ setzungen, die ich dafür mitbrachte, etwas mehr sagen als die Vorbemerkungen vor Kapitel A. Ab der vorletzten Klasse im Gymnasium stand für mich fest, daß ich Natur­ wissenschaften und Mathematik studieren würde, und zwar in Gießen, mit Chemie im Hauptfach und mit dem Berufsziel Kokerei-Chemiker in einem Eisen­ hüttenwerk. Ich kannte das Berufsbild aus der Praxis sehr gut vom Schwager eines viel älteren Vetters von mir. Diese Studienabsicht kam aber nicht aus einem einseitigen Interesse. Ab der Quarta bis zum Abitur 1942 war ich immer im gymnasialen Hauptzweig geblieben, außerdem, weil die Lehrer fachlich und pädagogisch gut waren, mit großem Interesse auch bei den Fächern Deutsch und Geschichte. Ab wohl 1941 gab es statt der fünften oder sechsten von fünf oder sechs Stunden Deutsch wöchentlich (einschl. damals noch samstags) eine Stunde Weltanschauungslehre (ich weiß den Titel des Fachs nicht mehr genau). Gelesen wurde Platons – wie die Übersetzung damals falsch hieß und heute noch heißt – „Der Staat“ („Politeia“), welche Schrift sich, in Teilen, sehr gut für die Zwecke einer NS-Weltanschauungslehre interpretieren ließ. Der uns bis dahin unbekannte Lehrer, der das unterrichtete, war wahrscheinlich speziell dafür geschult worden. Er machte das übrigens etwa so, wie es Kurt Hildebrandt in seiner Einleitung zur KrönerAusgabe von 1939 geschrieben hatte. Ende 1939 oder Anfang 1940 kam in unsere Klasse neu ein etwa drei Jahre älterer Schüler, Eugen Höffner, der 1938 schon ein halbes Jahr lang im „Reichsarbeitsdienst“ gewesen war (damals Pflicht, falls dem die Einberufung zur Wehrmacht

als „alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen“ (S. 126). „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ‚die Öffentlichkeit‘ kennen“ (S. 127). Dorthin gehören das „Gerede“ (§ 35), die „Neugier“ (§ 36), die „Zweideutigkeit“ (§ 37). Es geht um andere Themen als unseres. Das gilt auch für das „Wesensverhältnis des Menschen zur Offenheit (‚Da‘) des Seins als solchen“ (Was ist Meta­ physik?, 5. Aufl., S. 13) und in der Frage „nach der Offenheit, d. h. nach der Wahrheit des Seins“ (Vom Wesen der Wahrheit, S. 28). 3 Zur Geschichtswissenschaft als schon in ihrer griechischen Frühform empirische Disziplin verstanden s. Kap. A.III., Fußn. 58.

B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

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nicht zuvorkam), danach in der Rekrutenausbildung der Wehrmacht, anschließend 1939 im „Polen-Feldzug“, dann aus der Wehrmacht entlassen, damit er das Abitur nachholen konnte. Wir wurden Freunde. Eugen Höffner war Marathonläufer, ich seit etwa 1938 Langstreckenläufer (10 000 m auf der Bahn). Wir haben einmal pro Woche zusammen trainiert, in Wald und Feld, über etwa 15 bis 20 km. – Nach einigen Wochen Platon „Der Staat“ – das war Pflichtunterricht – hat Freund Höffner vorgeschlagen, daß wir für uns in der Philosophie „was Besseres“ machten: ebenfalls einmal pro Woche Kants „Kritik der reinen Vernunft“ lesen. Bedingung: nichts durchgehen lassen, was wir nicht meinten verstanden zu haben. Wir haben uns die Reclam-Taschenbuchausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ gekauft und, kühn wie wir waren, gleich die „Kritik der praktischen Vernunft“ und die „Kritik der Urteilskraft“ dazu. (Ich habe alle drei heute noch, jetzt auch zur Erinnerung an den Freund, der später in Rußland gefallen ist.) In der „Kritik der reinen Vernunft“ sind wir bis S. 179 gekommen, bis zu gut einem Fünftel des Textes. War das außerdem eine gute Denkschulung! (An Ausdauer hat es uns ja auch von unserem Sport her nicht gefehlt.) Das schon für von dem Beginn des Chemiestudiums vorgeschriebene erste Praktikum habe ich 1941 im Kokereilabor eines Eisenhüttenwerks im lothringischen Hagendingen absolviert, mich nach der Einberufung zur Wehrmacht, die bald nach dem Abitur (dieses im März 1942) kam, an der Universität Gießen „fernimmatrikuliert“, außer für Chemie auch für Philosophie, und bin dann dort gleich bis zum Ende des Wehrdiensts beurlaubt worden. Vom Frühjahr 1942 bis April 1945 war ich bei der Kriegsmarine, zuletzt als junger Leutnant der Reserve  – worauf es gleich merkwürdigerweise entscheidend ankommt –, dann in England in Kriegsgefangenschaft, im Camp 18, dem „Featherstone-Parc Camp“ bei Haltwhistle/Northumberland, bis etwa Ostern 1948. Im Camp waren in mehreren Teillagern  – wenn ich die Größenordnung noch recht weiß – damals etwa 6 000 Gefangene, davon vielleicht fünfzehnhundert Offiziere in zwei Teillagern, darunter sehr viele Reserve-Offiziere mit Zivilberufen, unter diesen wiederum Wissenschafter aus vielen Fächern und Studienräte. – Die Mannschaften und Unteroffiziere unter den Gefangenen mußten arbeiten und kamen dafür, unter Bewachung, nach außerhalb des Lagers, die Offiziere durften nicht arbeiten und das Lager nicht verlassen.4 Auf unbestimmte Zeit, womöglich jahrelang, Skat, „Doppelkopf“ oder Bridge zu spielen, ging nicht an. Sehr bald darauf gab es, inoffiziell (Kundgabe per Mundpropaganda) auf Initiative von Wissenschaftern und Studienräten Vorlesungen (anfangs aus der Erinnerung der Vortragenden) und Kurse (anfangs nur Sprachkurse). Zunächst von englischer Seite mißtrauisch beobachtet, bald aber offiziell genehmigt, entstand daraus eine deutsche Kriegsgefangenenlager-Hochschule mit deutscher Studien-

4 Vermutlich gem. Genfer Abkommen von 1929 betr. die Behandlung von Kriegsgefan­ genen.

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leitung (die dann ab Ende des ersten Semesters auch Studien- und Kursbescheinigungen ausstellte).5 Die Bedingungen für ein Chemie-Studium mit meinem Berufsziel waren sehr günstig. Außer Chemie, Physik, Mechanik und der sozusagen normalen Mathematik gab es „Praktische Mathematik“, und sogar die Technische Wärmelehre war vertreten. Bloß das Experimentieren in Labors ermöglichten uns die Engländer begreiflicherweise nicht. Für Philosophie6 gab es nur einen Dozenten, aber er war sehr aktiv. Zum einen nenne ich im folgenden die Namen einiger schon damals oder bald danach sehr bekannter Wissenschafter, die an der Lagerhochschule in Camp 18 lehrten, bei denen ich studiert habe: aus dem Bereich der damals sogenannten Staatswissenschaften den Verwaltungswissenschafter Dr. Willi Brundert, später Professor an der Universität Halle, danach an der Verwaltungshochschule Kassel, die Wirtschaftswissenschafter Prof. Dr. Timm von der Handelshochschule Wien und Herbert Giersch, der 1955–1969 Professor an der Universität des Saarlandes war und zu den „Vätern“ des 1964 gegründeten „Sachverständigenrats“ („Fünf Weise“) gehörte, ab 1969 an der Universität Kiel lehrte und Leiter des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel war. Von der Universität Oxford kam, bis 1946 einschließlich, jede Woche mit der Eisenbahn in den Norden als Gast zu einer Vorlesung und einem Seminar der Staats- und Verfassungstheoretiker, Öffentlichrechtler und Politikwissenschafter Prof. Dr. Dr. Gerhard Leibholz, ab 1947 an der Universität Göttingen und 1951–1971 Richter am Bundesverfassungsgericht (eine Würdigung in PVS, 12. Jg., 1971, S. 660 f.).

5

Meine Testate aus den dann sechs Semestern an der Lagerhochschule habe ich noch von England aus an die Universität Mainz geschickt, mit einem Antrag auf Immatrikulation. (Die Universität Gießen war im Krieg bei einem Bombenangriff zerstört worden und blieb noch viele Jahre danach außer Betrieb.) Zudem wollte ich das Chemie-Studium in Deutschland nicht fortsetzen. Angesichts der drohenden „Re-agrarisierung“ Deutschlands („Morgenthau-Plan“) hielt ich das für unvernünftig. – Weil in Deutschland wohl bald bekannt war, daß das Studium an der Lagerhochschule in Camp 18 eine solide Sache war, sind meine Bescheinigungen von dort in Mainz anerkannt worden, und von den sechs Semestern bekam ich, den Gepflogenheiten an deutschen Universitäten entsprechend, zwei als „Auslandssemester“ anerkannt. 6 Vermutlich ebenfalls auf Grund des Genfer Abkommens von 1929 ist den Offizieren eine geringe Löhnung in Lagerverrechnungseinheiten gezahlt worden, aus der anfangs Zahn­bür­ sten, Rasierapparate und andere Hygiene-Utensilien, dann Kolleghefte und Bleistifte, danach auch Fachliteratur gekauft werden konnten; wobei vor allem Lehrbücher gebraucht wurden, für Naturwissenschaften und Mathematik und für Technische Disziplinen und Mechanik, aber auch für andere Fächer. So konnte ich z. B. einen in den USA besorgten Nachdruck („auf Veranlassung der Kriegsgefangenenhilfe des Weltbundes der Christlichen Vereine junger Männer, Genf“), das berühmte Windelband-Heimsoethsche „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ erwerben, das intensiv von den Anfängen bis ins 20. Jh. durchzuarbeiten noch in England gelungen ist. D. h., als ich 1948 in Mainz anfing, war ich mit der langen Geschichte der Philosophie bereits vertraut.

B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

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Zum anderen nenne ich solches, das schließlich mit Voraussetzung dafür wurde, daß die hier vorgelegte Untersuchung für die Kapitel von B. I. zustande gekommen ist: Ab 1946 hat Prof. Eric Birley7 von der Universität Durham in Camp 18 Vor- und Frühgeschichte geboten, zuerst per Vorlesung einen Überblick über die Vorgeschichte, dann in Vorlesungen und Seminaren mit Schwerpunkt Provinzialrömische Archäologie (dort „Roman Frontier Studies“ genannt), mit Exkursionen und einer Grabung im Bereich des „Hadrianswalls“. Das war ein gutes Angebot für uns, aber auch zum Nutzen für Eric Birley: So konnte er von ihm selbst ausgebildetete junge Leute für die Mitarbeit bei Grabungen gewinnen. – In Mainz habe ich zusätzlich zu den Haupt- und Nebenfächern Philosophie, Psychologie und Vergleichende Kulturwissenschaft noch Vor- und Frühgeschichte weiter­studiert bei Prof. Dr. Herbert Kühn,8 der im „Exkurs“ zu B. I. für unsere Sache Bedeutung hat, im Camp 18 in England in der Sprachwissenschaft im WS 1945/46 und im SS 1946 „Deutsche Sprachgeschichte“ bei Barth gehört (über den ich sonst jetzt nichts mehr weiß), im SS  1947 „Grundfragen der allgemeinen [= vergleichenden (indogermanischen)] Sprachwissenschaft“ und ein „Germanistisches Pro­ seminar ‚Gotisch‘“ bei dem später sehr bekannten Dr. Hans Eggers (Habilitation 1953 in Hamburg, ab 1960 Professor an der Universität in Saarbrücken), außerdem im WS 1946/47 in der Anthropologie eine Vorlesung über die „Abstammung der Menschen“. (Hier hat sich der Kenntnisstand der Anthropologen inzwischen sehr erweitert.)9 Sehr wohl, aber nicht nur aus Interesse an der Sache – als Bub hatte ich mal später Förster werden wollen, und nun war in England mitzukriegen, was ich dann hätte lernen müssen –, sondern um doch auch einmal nach außerhalb des Lagers, des Stacheldrahts zu kommen, bin ich zu den Lehrveranstaltungen mit Praktika der „Forstarbeitsgemeinschaft“ gegangen. Das war nicht universitäre Forstwissen 7 Er war schon vor dem Krieg in Deutschland bekannt und auch nach dem Krieg immer wieder dort, zu Kongressen und aus anderem Anlaß (war auch Dr. h. c. der Universität Freiburg i. Br.), eine Koryphäe – was wir damals natürlich noch nicht wußten. (Der eine Sohn, Robin Birley, ist Archäologe, ebenfalls mit Schwerpunkt Roman Frontier Studies in England, der andere, ältere, Anthony R. Birley, Professor für Alte Geschichte an der Universität Düsseldorf.) 8 Ab 1966 bin ich von Ober-Ramstadt aus für etwa 25 Jahre ehrenamtlich in engen Kontakt mit der staatlichen Bodendenkmalpflege für den hessischen Regierungsbezirk Darmstadt gekommen (einen aus fast allen überhaupt in Frage kommenden vor- und frühgeschichtlichen Kulturen besonders fundreichen Raum – was zu entsprechend breiter Kenntnis dieser Kulturen geführt hat) und in Verbindung mit einer zuvor seitens eines Vorgeschichtswissenschafters der Universität Frankfurt a. M. in Grabungstechnik praktisch geschulten Arbeitsgruppe von vor allem Handwerkern und Ingenieuren aus dem Raum um Ober-Ramstadt. Neben primär Flurbegehungen, Baustellenbeobachtungen, Fundbergungen und -einmessungen (etwa 700 Fundberichte an die staatliche Bodendenkmalpflege) gab es auch planmäßig ausgeführte Grabungen (eine kurze Übersicht in: R. H. Schmidt, 1996, S. 2). 9 Auf diesem Mitschriftheft fehlt mir der Name dessen, der gelesen hat. Die Mitschrifthefte für die Sprachgeschichte und für die Allgemeine Sprachwissenschaft sind, obwohl ein halbes Jahrhundert alt, so, daß man damit noch heute sein Studium gut beginnen könnte, selbstverständlich mit Veränderungen für Veraltetes.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

schaft, sondern Revierförsterausbildung. Die Lehrkräfte waren, soweit ich mich erinnere, Leiter von Forstämtern und ältere, erfahrene Revierbeamte.10 Wenn man kriegsgefangenschaftshalber zum Zeithaben verurteilt ist, kann man, falls viel Gutes angeboten wird, außerdem Versäumtes nachholen. Weil ich im Gymnasium im altsprachlichen Zweig war (und blieb), und dort dann später im naturwissenschaftlichen, statt im fremdsprachlichen Nebenzweig, hatte ich nur Französisch als lebende Fremdsprache erlernt, dazu 1940/41 aus einer besonders sympathischen Situation heraus in einem zweisemestrigen Kurs bei der DanteAlighieri-Gesellschaft Italienisch, mit weitreichenden Konsequenzen für das persönliche Schicksal (im Februar 1944 Abkommandierung von Flensburg-Mürwik zum Admiralstab Adria in Italien bis Anfang Dezember). Englisch habe ich erst in Kriegsgefangenschaft erlernt, dazu Französisch aufgefrischt, hierfür und für Englisch wegen der guten Erfahrungen mit Bezug und Lektüre einer Wochen­zeitung beim Italienisch-Lernen nun der Bezug je einer englischen und einer französischen Wochenzeitung (Bezahlung wie in Fußn. 6). In Sprachkursen für Spanisch und Portugiesisch war ich nur, um gegebenenfalls Fachliteratur unter Zuhilfenahme eines guten Wörterbuchs lesen zu können. (Für Spanisch ist das später akut geworden, für Portugiesisch nie.) Alles in allem: Drei Jahre so vom Leben abgeschnitten zu sein und nie zu wissen, für wie lange, ist menschen-unwürdig, die konkreten Umstände dieser unwürdigen Sache waren eine Gnade. Ich bekam Chancen, die ich anderenfalls nie gehabt hätte. Es gäbe anderenfalls eben auch die „Vorsokratische empirische Grundlegung der Politik und Publizistik“ nicht. – Angesichts der Zielsetzung der hier vorgelegten Untersuchung und angesichts der Breite des Gesamtunternehmens mußte ich mich in den historischen Teilen an 10 Da ging es um Klasseneinteilung der Bestände, Durchforstung, Waldstraßenbau, Aufforstung in besonderen Landschaften, um den Hauungs-Plan, Arbeitseinteilung, Waldarbeiterausrüstung, Technik des Bäumefällens, Organisatorisches und Juristisches – um nur einiges zu nennen. Wegen der Praktika verhandelten die Leitung der Arbeitsgemeinschaft und die Studienleitung der Lagerhochschule über einen Dolmetscher mit der englischen Lagerkommandatur. Die deutscherseits vorgetragene Bitte um Genehmigung wurde mit dem Angebot verbunden, das für die Heizperiode des Lagers erforderliche Holz einzuschlagen, zu zersägen und zu spalten. (Die Baracken wurden mit einer Art Kanonen-Ofen mit Holz geheizt.) Wer die für uns erforderliche Waldarbeiterausrüstung (gemäß Programm der Ausbildung; s. o.), Äxte, Beile, Band- und Bogensägen u. a. m., bezahlt hat, weiß ich nicht. Wir bekamen jedenfalls ganz neues bestes Gerät aus Sheffield, dem „englischen Solingen“, mit dem wir uns, aber genau angeleitet – und Gefahren abgewehrt – endlich mal, aber vergnügt, „ins Zeug legen“ konnten. – Bei jener praktischen ehrenamtlichen Arbeit für die Darmstädter staatliche Bodendenkmalpflege hatte die Mitarbeit in der Forstarbeitsgemeinschaft von Camp 18 sehr günstige Auswirkungen. Vor- und Frühgeschichtsfunde kommen nämlich nicht nur aus Ackerland und Baugruben, was Verhandlungen mit Landwirten und Bauherren erforderlich macht, sondern auch aus Wäldern. Verhandlungen mit Forstleuten der Ämter und Reviere laufen viel besser – auch wenn das nicht die Normalvoraussetzung sein kann –, wenn man die „Sprache der Forstleute“ spricht.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Darstellungen anderer halten, an Darstellungen renommierter Historiker, die zwar nicht zu knapp gefaßt sein durften, aber, alle zusammen, für mich noch zu bewältigen waren.

I. Die Gemeinwesen/Systeme Da ich einen („gelehrten“) Oberbegriff sowohl für politische Gemeinwesen (B. I.1.) als auch für defiziente Modi (B.II.1. und B.II.2.) brauchte, der unverfänglich ist und keine Voreiligkeiten enthält, habe ich das Wort Gemeinwesen verwendet.11 Wem das lieber ist, der kann auch „System“ sagen. Gibt es  – oberhalb des sozusagen Präpolitischen, oberhalb von Familie und Sippe (dazu Aristoteles, Politik, I, 1252b18) – Gemeinwesen auf mehreren Ebenen, wie in föderalen Systemen immer der Fall, wird man zur Vermeidung von Mißverständnissen sowieso die Ebene nennen, z. B. in der Bundesrepublik Deutschland außer und über der kommunalen Ebene die des Landes oder die des Bundes als des bei uns Gesamtgemeinwesens, zur Zeit der freien Friesen z. B. über den vier „buras“ des Brookmerlandes die Landesgemeinde dieses Landes, darüber den nur Notfallbund der „tota Frisia“. Mit dem gelehrten Oberbegriff vermeiden wir begriffliches Durcheinander, das vor allem dann entsteht, wenn zur Bezeichnung älterer Sachverhalte, in unserem Fall (zunächst) älterer Gemeinwesen, inadäquat und unhistorisch Begriffe ver­ wendet werden, die charakteristisch sind für Sachverhalte, hier für Gemeinwesen, spezifisch anderer Art aus historisch jüngerer Zeit.12 So kann „Staat“ ganz unmöglich der benötigte Oberbegriff sein. Der Staat ist ein historisches Phänomen ab der Frühen Neuzeit, mit – wie zu erwarten – Vorstufen in bezug auf einzelne Merkmale schon im Mittelalter. Wir werden also in Teil B. die zentralen griechischen Begriffe stehenlassen, wie sie sind, sie nicht voreilig mit Begriffen aus der Neuzeit „übersetzen“.

11 Das Abstraktum „Gemeinwesen“ ist erst seit dem 17. Jh. belegt, zunächst und noch im 18. Jh. in der Form „das gemeine wesen“ (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3271 f. u. Sp. 3176, betr. 17. Jh.). 12 1939 hat Otto Brunner in „Land und Herrschaft“ gezeigt, daß Versuche scheitern müssen, historisch ältere, noch ganz anders geartete Sachverhalte mit Begriffen erfassen zu wollen, die erst auf historisch Jüngeres passen. (Konkret ging es bei ihm um die kritische Betrachtung von Versuchen eines Verständnisses der Verbände des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mittels Begriffen, die für die Beschreibung der Wirklichkeit zwar des 19. Jahrhunderts angemessen waren, nicht aber für die jener älteren Zeiten.) Die Terminologie solle jeweils den Quellen ihrer Zeit entnommen werden, verlangte Brunner. Für uns wird das im Teil B. schon gleich zu Anfang relevant, wo es um die Polis geht, aber noch bei anderem; es betrifft später in Teil B. noch mehrere zentrale Sachverhalte.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

1. Politische Gemeinwesen und Das Politische a) Griechenland Das Gemeinwesen oberhalb der Familie mit ihrem Oikos und oberhalb der Sippe nannten die Griechen in der Regel Polis, wenn sie ein bestimmtes, oder­ Poleis, wenn sie mehrere bestimmte Gemeinwesen bezeichnen wollten, z. B. Homer (hier nur eine Auswahl), Od., 3, 85, und Il., 2, 29 f.: die Polis der Troer; Od., 6, 3, und 6, 298: die Polis der phäakischen Männer bzw. der Phäaken; Od., 19, 172– 174: die „90“ Poleis auf Kreta; Od., 21, 252: u. a. Poleis in Phrygien und ­Mäonia. – „Polis“ können wir also, ohne daß es zu Voreiligkeiten kommt, allgemein mit „ein (bestimmtes) politisches Gemeinwesen von Griechen“13 in unsere Sprache übertragen.14 Von der Polis her werden wir die Charakteristika des politischen Gemeinwesens empirisch bestimmen. Wenn das geschehen ist, können wir „politisches Gemeinwesen“ auch als „gelehrten“ Begriff verwenden. Sollte es sich erweisen, daß auch anderswo als in Griechenland Gemeinwesen/ Systeme existierten, die ebenfalls die Wesensmerkmale politischer Systeme zeigen, würde der „gelehrte“ Begriff zum Oberbegriff. Wir dürften dann auch diese anderen Gemeinwesen/Systeme „politische Gemeinwesen“ nennen (aber selbstverständlich nicht „Poleis“, denn dieser Name ist spezifisch griechisch). Die zentrale „Einrichtung“ des politischen Gemeinwesens, der Kern dieses Gemeinwesens war die agorá, die Volksversammlung. Agorá kommt von ageírō = „sammeln, zusammenführen, zusammenbringen“ (Pape, Bd. I, S. 19 und 11). Ago 13 Gleich zu Anfang seiner „Politik“ (1252a7) umschreibt Aristoteles pólis mit koinōnía polītikē´. Das ist die Gemeinschaft, die bereits „politisch“ ist, im Unterschied zum noch prä­ politischen oíkos. Aus dem Wortumfeld (s. Pape, Bd. I, S. 1467–1470) sind außer koinōnía besonders relevant: koinós  = gemein, gemeinschaftlich, was alle angeht, öffentlich; koinóō  = einem etwas mitteilen, einen teilnehmen lassen; tò koinón = (ebenfalls) Gemeinwesen (was auf keinen Fall mit „Staat“ übersetzt werden darf). Ich komme weiter unten auf Wichtiges aus dem Wortumfeld zurück. 14 Der erst in klassischer Zeit (sicher nachgewiesen erst ab 430 v. Chr.) aufgekommene, gewissermaßen „gelehrte“ Begriff polīteía (in verschiedenen Bedeutungen) für griechische politische Gemeinwesen in mehr allgemeinem Sinn (verschiedener Abstraktionsstufen) ist für unsere Betrachtung nicht mehr relevant. Ausführlich darüber und sehr übersichtlich Christian Meier (1970), S. 59–68, mit Bezugnahme auf Schaefer (1932). Platon hat im „Politikos“ für konkrete Gemeinwesen pólis (z. B. 302a). Wenn es um theoretische Überlegungen geht, z. B. über das richtige bzw. das vollkommene Gemeinwesen, steht polīteía (301–303). Dementsprechend heißt auch Platons Schrift mit allgemeinen Überlegungen darüber, wie politische Gemeinwesen einzurichten seien, „Politeia“. Unter besonderen Bedingungen konnte man aber auch polīteía sagen, wenn eine einzelne gemeint war, so der Fall bei der Polīteía Athenaíon der gleichnamigen Schrift des Aristoteles, der relativ am besten erhalten gebliebenen unter den ursprünglich sehr vielen Darstellungen griechischer Politien, von denen kaum noch etwas vorhanden ist. Die „Politeia Athenaion“ bringt Verfassungsrecht und Verfahrensordnungen für Athen, ist aber als Teil einer Zusammenstellung jener vielen Darstellungen auf einen allgemeinen Zusammenhang hin konzipiert. (Zur Datierung s. Franke, S. 36 f.)

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reúō (zu agorá) heißt „sprechen“, „sagen“, „reden“, besonders in der allgemeinen Versammlung, eben in der agorá (Pape, Bd. I, S. 21). Der Idee gemäß ist die agorá also die Einrichtung und der Ort dafür, der Ort, an dem das Volk sich als Volk versammelt, wo diejenigen Sachverhalte, die alle angehen, zur Sprache gebracht werden, öffentlich. Indem alle (Freien) sich so versammeln, s i n d sie das politische Gemeinwesen. Wir werden sehen, daß die agorá nicht erst zu den póleis der „klassischen“ Zeit Griechenlands gehört und keineswegs aus der athenischen Demokratie stammt – aus der Natur der Sache dann genau so wenig die pólis! –, sondern viel älter ist: Bei Homer wird die Volksversammlung (agorá) in der „Ilias“ und in der „Odyssee“ allenthalben und wie selbstverständlich für die Griechen (Achäer) und die Troer genannt (im folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit): für die Achäer vor Troia (Il., 2, 51; 2, 78; 2, 92; dazu 2, 94, hier verbal verwendet), für die Troer (Il., 2, 788; 7,345), für Phthia (Il., 9, 439 ff.), für Ithaka (Od., v. a. 2, 1–257; im einzelnen 1, 372; 2, 10; 2, 15; 2, 26; 2, 160; 2, 228; 2, 257), für die Phäaken (Od., 8, 5–16). Mehr in der Bedeutung „Ort“ der Volksversammlung hat Homer das Wort agorá verwendet im Fall Ithaka (Od., 2, 150; 2, 362), bei den Phäaken (Od., 6, 266; 7, 44; 8, 5; 8, 109). Il., 2, 788 (hoi d’agoràs agóreuon) bringt meines Erachtens deutlich zum Ausdruck, daß die Versammlung als das politische Gemeinwesen selbst zu verstehen und verstanden worden ist, daß sich das politische Gemeinwesen, als sozusagen Personalverband, in der Volksversammlung vergegenwärtigte. Dieses Verständnis wird noch aus einem lokrischen Siedlungsgesetz anläßlich einer Koloniegründung von etwa 460 sichtbar, aber sozusagen spiegelbildlich, wo pólis die Volksversammlung bedeutet (Ehrenberg, Grundformen, S. 112 ff., mit Belegen). Es gibt bei Homer zwei Stellen, die zeigen, daß die Griechen offenbar außer der Versammlung aller auch eine Art Vorberatung aus besonderem Anlaß kannten. Ganz eindeutig ist das in Il., 2, 50–53, wo die Ältesten der Achäer zusammenkommen, bevor die Gesamtversammlung zusammentritt. Etwas Ähnliches scheint auch in Od., 1, 272 gemeint zu sein, wo berichtet wird, daß die Edelsten der Achäer zusammenkamen. (Dazu siehe auch Kapitel B. I.1.b).) Homer hat noch ein anderes Wort für den Versammlungsplatz: eiráōn (Il., 18, 531). Im „Pape“ (Bd. I, S. 734) ist vermerkt, daß Aristarch (von Samothrake) die Bedeutungsgleichheit von eiráōn und agorá vermerkt hat – was einen allerdings sowieso nicht wundert, da das Verb, zu dem eiráōn gehört (eiréō, ion.  = eréō), „sagen“, „sprechen“ bedeutet (S.  735). Zu eiráōn ist im Pape (S.  734) noch an­ gefügt: „Bei Hesiod. Th[eogonie,] 804 findet sich accusat. plur. eiréas in der Bedeutung ‚Versammlung‘.“ „Lycophr[on,] 470“, hat (Pape, Bd. II, S. 841) für die Volksversammlung griech. rhē´tra, das sonst in den Bedeutungen Sprache, Rede, Wort, sodann Absprache,

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Verabredung, Übereinkunft, Vertrag, ferner „Wort“ in der Bedeutung von Spruch, Ausspruch, Orakelspruch, schließlich im Sinne von „ungeschriebene Verordnungen“ und der Gesetze des Lykurg (in Sparta) vorkommt. rhētós ist adj. verb. von rhéō bzw. érō = sagen, sprechen, reden. Das heißt, wieder läuft es aufs gleiche hinaus. (In Kapitel B. I.2. komme ich im Zusammenhang von „Rhetorik“ und­ „Rhetor“ darauf zurück.) Wenngleich es also bei Homer allenthalben bei den Griechen, und das nicht etwa als Neuheit, sondern als altgewohnte Einrichtung, die Volksversammlungen gibt (weil nur die wehrfähigen freien Griechen Zugang hatten, oft auch als Zusammenkunft der Krieger zur Beratung im Krieg), muß man berücksichtigen, daß Homer nicht wissenschaftliche Arbeiten über griechische Gemeinwesen, sondern Helden-Epen verfaßt hat. Es kommt also nicht von ungefähr, daß in seinen Volksversammlungen/Kriegerversammlungen die Helden/Anführer und außer diesen die Ältesten das Wort führen. Nur einmal (Il., 2, 225–242) läßt Homer einen „einfachen Mann“, den Thersites, seine aufmüpfige Meinung äußern, allerdings in einer Extremsituation, worauf es dem Thersites schlecht ergeht. Immerhin liegt auch hier die letzte Entscheidung beim Volk. Aus Homers Schilderungen können wir nicht ableiten, welche Bedeutung gewöhnliche Volksversammlungen in den Gemeinwesen der mykenischen Zeit hatten. Das zu berichten, lag außerhalb der Interessen des Dichters. Er bringt nur außergewöhnliche Fälle, die ihrerseits nicht als historisch aufgefaßt werden dürfen – unbeschadet des Umstands, daß Heinrich Schliemann aufgrund sehr genauen Studiums der Homerischen Angaben 1868 ermitteln konnte, wo das von den Achäern belagerte Ilion/Troia zu suchen war, und es 1870–1882 und 1890 auch ausgegraben hat.15 Wohl aber gilt schon hier – weil die beiden Epen (zumindest die 15 Die im 20.  Jh. und dabei besonders in jüngster Zeit erfolgreich betriebene Hethiter­ forschung (s. a. Kap. B. I.1.d)) hat in bezug auf das, was wir in der Regel „Troia“ nennen, wichtige Ergebnisse gebracht (Latacz, S.  196–201). Wir wissen jetzt, daß das homerische Wort Troia ein von außen herangetragener und – wie aus Homer selbst indirekt ersichtlich – weniger wichtiger Name für dieses Gemeinwesen ist, daß das griechische Wort Ilios für Homer der höher erhabene Name war und warum. Er geht auf das ältergriechische „Wilios“ zurück. Dazu Latacz (S.  198): „Denn ‚Ilios‘ ist nicht die originale Namensform. Diese lautete vielmehr ‚Wilios‘: Der Laut W, den die Griechen bis mindestens 1 200 v. Chr. gesprochen und geschrieben hatten, war in demjenigen griechischen Dialekt, in dem 450 Jahre später Homer redete und schrieb (dem Ost-Ionischen), irgendwann zwischen 1 200 und Homers eigener Zeit immer mehr verschliffen worden (ähnlich dem heutigen englischen W) und schließlich völlig weggefallen.“ (Zu diesem verlorengegangenen W siehe auch Fußn. 34, bei „(w)anax“.) Bei Latacz heißt es danach: „Wenn aber ‚Wilios‘ der Schauplatz der ‚Wilias‘ ist, wo lag dann dieses ‚Wilios‘? Die ‚Ilias‘ ist voller Lokalisierungshinweise.“ Latacz gibt die wichtigsten wieder, dazu die Grenzen des troischen Gemeinwesens im Nordwesten Kleinasiens beim Hellespont, und fügt (S. 199 f.) an: „In dem auf diese Weise exakt umschriebenen geographischen Raum … ist … nur eine einzige prähistorische Großruine bekannt geworden, die in ihrer Dimension dieser Lokalisierung und den … [anderen] detaillierten Beschreibungen Homers entspricht: die Ruine auf dem heute türkischen Hügel Hisarlik.  … Wie der Ort von seinen [vorhethi­ tischen] Erstsiedlern  –  … [gemäß] dem archäologischen Befund noch vor 3 000 v. Chr.  –

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„Ilias“) aus dem 8. Jh. stammen –, daß es die Einrichtung Volksversammlung im griechischen Raum wenigstens seit dieser Zeit gegeben hat, tatsächlich offenbar aber schon früher. (Anhand anderer Sachverhalte läßt sich darüber aber noch mehr sagen. Das kommt weiter unten.) Zunächst aber zu der, wie sich zeigen wird, für unsere Sache besonders wichtigen Frage, seit wann es Griechen in dem Raum gibt, den wir Griechenland nennen. Antwort auf die Frage könnten schriftliche Zeugnisse geben, wenn sie weit genug zurückreichten. Bis in die Mitte des 20. Jh. n. Chr. schienen jene homerischen Epen das Älteste (8. Jh. v. Chr.) zu sein, was in griechischer Sprache schriftlich fixiert worden war. Bereits diese Epen wären allerdings in unserer Zentralfrage, seit wann es Polis und Agora gegeben hat und das aus ihnen abzulesende Grundverständnis vom politischen Gemeinwesen vorhanden gewesen sein muß, nicht aber erst aus der athenischen Demokratie stammen kann, schon entscheidend beweiskräftig, wegen des „mindestens seit dem 8. Jh.“. Seit 1952 wissen wir, daß griechische „Literatur“ sogar viel älter ist, freilich nicht eine solche von höchstem libenannt wurde, wissen wir nicht. Die Hethiter, deren Erstbegegnung mit dem Ort wir nicht datieren können (sie könnte um 1700 erfolgt sein, s. u.), … [werden] den vorgefundenen Namen eigenen Orts-Klangbildern angeglichen haben … [es folgen Erläuterung und Beispiele], die Griechen, die wahrscheinlich erst um 1 500 v. Chr. mit dem Ort Bekanntschaft machten, verfuhren analog und nannten ihn entsprechend ihren eigenen Klangbildern ‚Wilios‘. … Da Verträge zwischen diesem Ort bzw. … [Gemeinwesen] und Kleinasiens … [hethitischem Großreich] im 2.  Jahrtausend v. Chr. … unter dem offiziellen Ortsnamen ‚Wilus(s)a‘ abgeschlossen wurden, müßten wir den Ort in seiner archäologisch nachgewiesenen 6.  Besiedlungsphase (ca. 1 700–1 200 v. Chr.) nicht ‚Ilios‘ und auch nicht ‚Troia VI + Troia VIIa‘ nennen, sondern ‚Wilusa‘. Dieser Name scheint nach dem Ende des Großreichs der Hethiter (ca. 1 175 v. Chr.) verdämmert zu sein. Die einzige Erinnerung an ihn bis zur Auffindung des hethitischen Tontafel-Archivs in Hattusa im Jahre 1905 bewahrte offenbar die mündliche griechische Hexameter-Sängerdichtung, die dann in Homers ‚Ilias‘ gegen Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. ihre (partielle) Verschriftlichung erfuhr. … Wilusa war bereits die sechste Siedlung auf dem Ausläufer des Kalksteinplateaus, der durch ‚Hochwohnen‘  … zu einem rund 31 m hohen und etwa 150  [Meter] × 200  Meter großen Hügel wurde (heute türkisch Hisarlik, ‚burgbewehrt‘). Nach den Siedlungsperioden Troia I–III (‚Maritime Troia-Kultur‘, ca. 2 900–2 300 v. Chr.) und Troia IV/V (‚Anatolische Troia-Kultur‘, ca. 2 300–1 700 v. Chr.) folgte eine grundlegend neue Bau- und Kulturepoche. Sie begann um 1 700 und dauerte bis rund 1 200 v. Chr. (Troia VI und VIIa).“ (S. 200) „Das Hethitische Reich [das Großreich mit Zentrum Hattusa, zu dem das ebenfalls hethitische „Wilusa“, bei Homer „Ilios“, über Jahrhunderte hinweg stets enge Beziehungen hatte (S. 197)] brach um 1 175 v. Chr. zusammen. In den Prozeß, der vorausgegangen sein muß, … [wird] auch Wilusa mit seinen vertraglichen Bindungen an Hattusa einbezogen gewesen sein. Um 1 200 jedenfalls ist Wilusa in Flammen aufgegangen – eine mehrere Meter dicke Brandschicht zeugt noch heute davon. Ob die Achijawer [wie sie bei den Hethitern heißen, die] (‚Achaier‘) beteiligt daran waren – und wenn ja, in welcher Form –, ist noch nicht klar. Die Wahrscheinlichkeit einer Beteiligung ist allerdings in den letzten Jahren gewachsen“ (S. 201). Wilusa war von allen hethitischen Gemeinwesen Kleinasiens am weitesten von den großen nichtindogermanischen Reichen des Vorderen Orients und vom Nil entfernt und auch dementsprechend wohl weniger stark von dort beeinflußt. Seine Nachbarn waren, abgesehen von anderen hethitischen Systemen in Anatolien, besonders die griechischen Gemeinwesen.

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terarischem Niveau wie bei Homer, sondern Wirtschaftsurkunden: Verzeichnisse und Listen. (Ich komme darauf zurück.) Zweckdienliche Auskünfte kann unter Umständen auch die Sprachwissenschaft geben. Sie bringt auch in unserer Sache etwas, aber sie ist im Fall der Sprache der Griechen (mehr noch als im Fall der Sprache der Hethiter) abhängig von Ergebnissen der Vorgeschichtswissenschaft, die aus archäologischen Grabungen vorliegen. Deshalb zuerst zur Vorgeschichte – wobei aber vorauszuschicken ist, daß inzwischen als gesichert gilt, „daß die Griechen auf der Balkanhalbinsel nicht als autochthone Bevölkerung, sondern ganz eindeutig als Zuwanderer zu sehen sind, die eine ältere Bevölkerungsschicht mit einer vom Griechischen verschiedenen Sprache vorgefunden und überlagert haben“ (Hiller, 1986, S. 23). In den letzten Jahrzehnten sind die Kenntnisse der Vorgeschichtswissenschaft in bezug auf Griechenland (und das Umfeld) deutlich gewachsen. Zuvor waren die ältesten mit Griechen in Verbindung gebrachten Bodenfunde in die Zeit um 1 900 v. Chr. datiert worden. Inzwischen wird der Beginn früher angesetzt, am frühesten für Makedonien und Thessalien, dort in die Zeit des Übergangs vom Neolithikum (Jungsteinzeit)16 zur Frühen Bronzezeit, noch nicht für Mittelgriechenland und die Peloponnes. Bei Hiller habe ich eine moderne Darstellung gefunden, die sich für uns gut eignet. Aus ihr gebe ich das Wichtigste im Wortlaut wieder, einschließlich einer guten Zusammenfassung. Bei Hiller heißt es zu der Frage, wann und wo sich die später „Griechen“ Genannten „aus dem größeren indogermanischen17 Stammesverband gelöst und den Boden der Balkanhalbinsel betreten“ haben (S. 24):

16 Schachermeyr (1955), hier bes. S. 197–202: 20. Kap., „Streitaxtleute im frühhelladischen Bereich?“, u. ders. (21991), S. 36 (wo der Autor sie „Protogriechen“ nennt, was aber in der Sache, auf die es bei uns ankommt, keinen Unterschied ausmacht). 17 Im deutschen und im skandinavischen Sprachraum wird meistens der Terminus indo­ germanisch benutzt. Er bezeichnet sehr präzise eine auf eine gemeinschaftliche Wurzel zurückgehende Gruppe von Sprachen (und die diese Sprachen sprechenden Völker): von Indisch im Ostsüdosten bis Isländisch im Westnordwesten. Das Siedlungsgebiet der indogermanische Sprachen sprechenden Völker erstreckt sich während der Mittleren bis Späten Jungsteinzeit (Rosenhofgruppe, Trichterbecherkultur, Baalberger Kultur und frühe Phasen der aus der Trichterbecherkultur hervorgegangenen Schnurkeramischen Kultur/Einzelgrabkultur/Bootaxtkultur, dazu offenbar auch Nachfolgekulturen der frühneolithischen Linienbandkeramik Zentral- und Mittel-Ost-Europas, sowie, im Osten, der Ockergrabkultur) von Nordsee, Jütland, Südschweden, Ostsee, Weichsel-Raum bis, im Süden, nördlich der Alpen und Donauraum, nach Osten vom Rheinland bis zum Schwarzen Meer und, mit der Ostgruppe (Arier = Indo-Iranier) in das Gebiet zwischen Dnjepr und Un­ terer Wolga (Ockergrabkultur), vielleicht bis zum Kaspischen Meer. – Wegen der Formiertheit sowohl des (später ausgestorbenen) Hethitischen, des Indischen und des Griechischen mindestens schon im 2. Jt. v. Chr. (Vordringen der Griechen – wie wir sehen werden – nach Mittelgriechenland und auf die Peloponnes sogar schon um 2 300 v. Chr.) kann es im 3.  Jt. v. Chr. schon nicht mehr ein  – sozusagen  – indogermanisches „Urvolk“ mit einer (selbstverständlich sowieso längst „dialektal“ gegliederten) Grundsprache gegeben haben. Im 3. Jt. werden die Glieder der einen Gruppe die Glieder von weniger benachbarten

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„In erster Linie sind es die großen Kultur- bzw. Periodeneinschnitte, die Anlaß geben, sie ursächlich mit der Zuwanderung eines neuen Volkes in Verbindung zu bringen. Diese Zäsuren liegen zwischen Neolithikum und Frühbronzezeit (ca. 3 000 v. Chr.); zwischen dem Ende der zweiten und dem Beginn der dritten Stufe der Frühen Bronzezeit (d. h. in der ägäischen Fachterminologie zwischen Frühhelladisch  II und Frühhelladisch  III, abgek. FH II bzw. FH III; um 2 300 v. Chr.); sodann zwischen dem Ende der Mittleren und dem Beginn der Späten Bronzezeit (ca. 1 600); schließlich zwischen Bronze- und Eisenzeit (ca. 1 100 v. Chr.)“ (S. 24). „Besonders schwierig zu beurteilen ist derzeit noch der Übergang vom Neolithikum zur Frühen Bronzezeit (…) [also um 3 000 v. Chr. – Dazu siehe weiter unten den Absatz mit „Insgesamt ergibt sich …“]. … Einschnitte, in denen mit der Zuwanderung neuer Bevölkerungsschichten zu rechnen ist, sind in Makedonien (…) und Thessalien (…) an­gezeigt, während sich die Situation in Mittel- und Südgriechenland (…) mangels stratifizierter Siedlungsfunde einer präziseren Beurteilung entzieht. Hier scheint sich jedoch die als subneolithisch bzw. auch als FH I angesprochene Stufe eher als Bindeglied denn als Neuansatz zwischen dem Späten Neolithikum und der Frühen Bronzezeit zu erweisen. Trifft dies zu, so wäre wohl davon auszugehen, daß in Nordgriechenland und Thessalien zu Beginn der ägäischen Bronzezeit neue Bevölkerungselemente auftreten, sich in Böotien, Attika und auf der Peloponnes hingegen die ältere  … Bewohnerschaft im wesentlichen fortsetzt“ (S. 25). „Die wohl markanteste Zäsur in der Abfolge der vorgeschichtlichen Kulturen Mittel- und Südgriechenlands ist jene, die zwischen der zweiten und der dritten Stufe der Frühen Bronze­zeit liegt. Sie ist durch die Grabungen Caskeys in Lerna und seine darauf basierende Revision älterer Grabungsergebnisse mit geradezu exemplarischer Schärfe heraus­ gearbeitet worden (…). Obschon in Lerna mit einem gewissen Besiedlungshiat nach der Zerstörung der FH-II-Siedlung zu rechnen und die früheste Phase von FH III möglicherweise nicht vertreten ist, kann die Zerstörung von Lerna III am Ende von FH II mit entsprechenden Ereignissen an anderen Orten der Argolis und in Attika in ursächlichem Zusammenhang gesehen werden. Es handelt sich, wie von Caskey und anderen gezeigt wurde, um ein überregionales, mit der gewaltsamen Inbesitznahme einer Mehrzahl von Siedlungen verbundenes Ereignis, das über weite Gebiete hinweg zugleich einen entscheidenden kulturellen Bruch einleitet. … . Andere Elemente, die nun in der Phase Lerna  IV erstmals auftreten, sind zweiräumige Häuser mit apsidenförmigem Abschluß, durchbohrte Hammeräxte aus Stein sowie die sogenannten ‚Tonanker‘, deren … Verwendung unbekannt ist (…). Spätestens seit dem Beginn der Mittleren Bronzezeit kann auch das Pferd in Griechenland nachgewiesen werden.

anderen Gruppen wohl kaum noch sprachlich verstanden haben. Die Auseinanderentwicklung hat vermutlich mit der sogenannten Neolithischen Revolution Tempo gekriegt. (Ich komme darauf in größerem Zusammenhang im „Exkurs zu den Kapiteln von B. I.“ zurück.) – Aus der (aufgrund von Vergleichen der Einzelsprachen miteinander hinsichtlich des ursprünglich gegebenen Wortstammbestands lediglich zu erschließenden) indogermanischen Grundsprache haben sich als für uns in Europa wichtigste Sprachen entwickelt: Germanisch, Litauisch, Slawisch, Keltisch, Italisch, Albanisch und Griechisch. – In anderen europäischen Ländern wird anstelle von „indogermanisch“ oft „indoeuropäisch“ gesagt – was aber eben weniger präzise ist.

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Für den Totenkult … sind nun entweder Nekropolen mit Steinkistengräbern oder auch Tumuli … bezeichnend.18 Insgesamt stellt sich  … diese neue Kultur als [und das ist besonders wichtig] weniger ­urban, eher bäuerlich-dörflich dar gegenüber der … [mehr anspruchsvollen] FH-II-Periode …“ (S. 26). „Wenn wir uns fragen, wo und wann [uns] spezifische Elemente der FH-III-zeitlichen Kultur, wie sie uns in Lerna IV entgegentritt, erstmals begegnen, wo dieses in Lerna IV gleichsam komplett versammelte Ensemble charakteristischer Kulturelemente zuerst auftritt, noch bevor es [uns] in Lerna und gleichzeitigen Fundorten begegnet, so werden wir auf den Norden, auf den thrakisch-makedonischen, sodann auf den thessalischen und mittelgriechischen Raum verwiesen, wo einige der genannten Elemente immerhin gelegentlich in mit der mittel- und südgriechischen FH-II-Stufe gleichzeitigen Abschnitten der Frühen Bronzezeit erscheinen, so insbesondere Apsidenhäuser, Tonanker und durchbohrte Hammeräxte aus Stein“ (Hiller, S. 28–30).

Hiller zeigt dann, daß für die Zeit des Endes der Stufe FH II (II B) außerdem Einflüsse aus Anatolien zu erkennen sind, auf die ich weiter unten zurückkomme. Danach heißt es: „Nach allem, was sich bisher absehen läßt,  … [scheint] somit der mittelgriechische Bereich … [eine] Überschneidungs- und Kontaktzone nördlicher Elemente einerseits, anatolischer andererseits [zu sein], die beide wesentlich an der Entstehung der Lerna-IV-Kultur mitbeteiligt sind. Zu den vom Norden einwirkenden Elementen rechnen wir, wie nochmals hervorgehoben sei, in erster Linie Apsidenhaus, Schaftlochaxt und Tonanker.  …. Somit hat … [soweit zur Zeit zu sehen ist] Mittelgriechenland entscheidend Anteil an der Aus­ bildung des für uns erstmals geschlossen in Lerna IV … [faßbar gewordenen,] kanonischen Artefaktenverbandes der sog. FH-III-Kultur. Von hier, Mittelgriechenland, ausgehend, hat sich diese Kultur offenkundig innerhalb kurzer Zeit mit großer Geschwindigkeit und in Verbindung mit dem Zustrom neuer, ebenfalls aus Mittelgriechenland kommender Bevölkerungsgruppen und unter der vielerorts … [gewaltsam betriebenen] Verdrängung der älteren FH-II-Kultur auf der Peloponnes ausgedehnt und zugleich die nach unserer Auf­fassung griechische Epoche eingeleitet.  … Es  … [wird] für die Peloponnes in wachsendem  … [Maß] unwahrscheinlich, daß die drastischen Veränderungen, die dort den Übergang von FH II zu FH III in der Keramik, der Architektur, dem allgemeinen Siedlungsbild sowie in anderen Bereichen der Gerätekultur kennzeichnen, anders als durch die Annahme eines … [starken] Zustroms neuer Bevölkerungselemente erklärt werden kann. Der Ursprung dieser Wanderungswelle muß, wie nun deutlich wird, [für diese Zeit] in Zentralgriechenland, … [konkret] in Böotien gesucht werden (…)“ (S. 30 f.). „Insgesamt ergibt sich … etwa folgendes Bild: Die am Ende des Neolithikums in Makedonien und wohl auch Thessalien eingebrochene Bevölkerung muß bereits indo­germanisch gewesen sein; aus ihr rekrutieren sich jene Elemente, die im … [Lauf] von FH II B, d. h. wohl etwa ab der Mitte des 3. Jahrtausends auch in Böotien faßbar werden, zu einem Zeitpunkt, als es dort offenkundig auch zur Zuwanderung anatolischer Elemente kommt. Kulturell gesehen kommt es hier zu einer Verschmelzung dieser die nachfolgende FH-III 18 Am Ende des „Exkurses zu  …“ passe ich Apsishaus, steinerne Streitaxt, „Tonanker“, Steinkistengrab und Grabhügel in den größeren Zusammenhang ihrer Zeit ein.

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Kultur konstituierenden typologischen Elemente. Etwa um 2 300 greift dann in einer … expansiven Welle [rasch] diese Kultur und zugleich die sie tragende Bevölkerung auf die Peloponnes – und wohl auch Attika – über. Die Zerstörung von Lerna III und anderer … FH-II-Siedlungen markieren einen ethnischen  … Wechsel, der zweifellos zur Vorherrschaft der neuen, unserer Auffassung zufolge … bereits griechischen Bevölkerung in weiten Bereichen der Balkanhalbinsel führte“ (S. 31).

Hiller beschreibt dann, daß für bestimmte Sachgebiete Wörter aus der Sprache des Bevölkerungssubstrats in die griechische Sprache übernommen worden sind, die sich durchgesetzt hat (weswegen die Zahl der Eingedrungenen wohl nicht sehr klein gewesen sein kann), und er nennt die wichtigsten Gebiete und bringt Beispiele. Die Einzelheiten kann ich weglassen. Im Zusammenhang mit einem Wort indogermanischer Wurzel kommt aber noch ein Sachverhalt zur Sprache. Hiller sagt: „Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang auch das griechische Wort týmbos, das zwar dieselbe indoeuropäische Wurzel wie griech. táphos vertritt, diesem gegenüber aber eine nichtgriechische Lautentwicklung aufweist (…). Dieses sprach­ historische Faktum ist archäologisch insofern relevant, als týmboi, d. h. Tumulus­gräber – von vereinzelten räumlich und zeitlich entlegenen älteren Beispielen abgesehen  – in Griechenland erst mit der Mittleren Bronzezeit häufiger auftreten. Man hat – … [wohl] mit unzureichender Begründung – in diesen Hügelgräbern Indizien einer aus dem Kurganbereich herzuleitenden Bevölkerungsgruppe erkennen wollen und diese unmittelbar mit der griechischen Einwanderung zu verbinden versucht. Dem aber widerspricht nicht nur der archäologische Befund, der sowohl chronologische wie morphologische Bedenken erweckt (…), sondern auch, sofern auf das genannte Phänomen zu beziehen, die zwar nichtgriechische, jedoch indoeuropäische Form des Wortes týmbos. Es … [ist] demnach [wohl] nicht ausgeschlossen, daß zusammen mit oder auch nach den ältesten Griechen, die wir in erster Linie mit den mittelhelladischen Steinkistengräbern verbinden möchten, als eine … [andere] Bevölkerungsgruppe indogermanischer Herkunft die týmbos-Leute19 zugewandert sind. Allerdings steht … einer präziseren chronologischen und damit auch ethnischen Differenzierung unsere … Unkenntnis der FH-III-Bestattungen entgegen“ (S. 33).

Hiller geht zum Schluß auf die „stammesmäßige Differenzierung“ der Griechen im Laufe des 2. Jtds. v. Chr. ein. „Es geht um die Frage, ob wir mit einem einheitlichen griechischen Ethnos rechnen können, das in einem geschlossenen Zug die Balkanhalbinsel betrat, oder ob  … sich eine Mehrzahl von Stämmen erst nach und nach … dort eingefunden und sich allmählich zum griechischen Volk entwickelt hat. Daß wir den Zuzug nichtgriechischer Stämme, die aber letztlich im griechischen Ethnos aufgegangen sein müssen, nicht ausschließen können, hat die Betrachtung der mit griech. týmbos zusammenhängenden Überlegungen gelehrt. Andererseits aber bleibt aufgrund der dialektologisch zuordnungsfähigen Elemente in Li 19 Weil Hiller in bezug auf „ab der Mitte des 3. Jahrtausends auch in Böotien faßbar“ sagt, daß es außer zur Zuwanderung vor allem von Griechen „auch zur Zuwanderung anatolischer Elemente“ gekommen sei, liegt es angesichts der Ergebnisse der in jüngster Zeit sehr weit fortgeschrittenen Hethitologie (s. dazu auch Kap. B.I.1.d)) nun natürlich nahe, zuerst einmal an diese Indogermanen zu denken: tymb- o. ä. aus dem Hethitischen oder Luwischen?

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near B20 zu sagen, daß die dialektale Differenzierung im späten 2. Jahrtausend offenkundig nicht … [sehr] weit fortgeschritten war. Zugleich zeigt sich jedoch, daß sich zu diesem Zeitpunkt die grundlegende Unterscheidung einer Nordwest- und einer Südostgriechischen Sprachengruppe, die … in historischer Zeit das Dorische und Nordwestgriechische … vom

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Vom selben Autor haben wir eine Darstellung neuesten Standes (Hiller (2000)) über die aus Kreta vorliegenden Schriftsysteme und damit wichtige Erkenntnisse zur griechischen Sprache in dem später „Griechenland“ benannten Raum. Von der Wende 3./2. Jtsd. v. Chr. gibt es erste Hinweise auf den Beginn der Schrift (S. 121), zu deren Zeichen deutlich eine „formale Verwandtschaft mit den jüngeren Systemen Hieroglyphisch und Linear A“ aus Kreta besteht, die ihrerseits „nebeneinander“ existierten (S. 123), das hieroglyphische System im Norden (vor allem in Knossos), Linear A im Süden (vor allem in Phaistos). Linear B ist „eine für die griechische Sprache vorgenommene Adaption von Linear A“ mit einem Beginn entweder um 1 600 oder um 1 370 v. Chr. (S. 124), also grob 500 oder grob 800 Jahre vor Homer. Von Hieroglyphisch liegen ca. 2 000 Zeichen vor, von Linear A ca. 8 000, von Linear B ca. 80 000. Entziffert ist nur Linear B, auf der Basis der großen Menge der vorliegenden Zeichen (S. 127) und deren Vielfalt (S. 137). – Für welche Sprache Hieroglyphisch und Linear A benutzt worden sind, ist nicht bekannt. Verwendet wurden diese Systeme für „administrative“ Zwecke (S. 126; Hieroglyphisch) bzw. vor allem für die Güterverwaltung (S. 131), mit Personenlisten und Verzeichnissen von Naturalprodukten, aber offenbar auch in „kultischen Fundkontexten“ (S. 133 ff.; Linear A). Nur wenige Zeichenfolgen von Linear  A sind inhaltlich bestimmt, das System im ganzen aber eben noch nicht entziffert. Linear B ist 1952 von den Engländern Ventris (Architekt) und Chadwick (Altphilologe) lesbar gemacht worden; es kam dabei ein sehr altertümliches Griechisch zum Vorschein. Auch diese Schrift, wie Linear  A eine Silben-, noch nicht eine Buchstabenschrift wie das Griechisch Homers, ist, soweit erkennbar, vornehmlich in administrativen, aber auch in kultischen Zusammenhängen benutzt worden (S. 138 f.). Zur großen wissenschaftlichen Bedeutung sagt Hiller (S. 137): „Trotz mancher Überraschungen hat das aus den Texten gewonnene Bild jenes, das die Indogermanistik aufgrund des Vergleichs indoeuropäischer Einzelsprachen auf hypothetischer Basis rekonstruiert hatte, überwiegend bestätigt. Die durch die Entzifferung gewonnene Einsicht in die Frühstufe der griechischen Sprache und die damit verbundenen hi­ storischen Konsequenzen zählen zusammen mit der Erforschung der prähistorischen Kulturen Kretas und der Ägäis zu den herausragenden Fortschritten der klassischen Altertumswissen­ schaften des 20. Jahrhunderts.“ Außer vor allem von Knossos (dazu neuerdings von Chania, ebenfalls auf Kreta) liegen Linear-B-Texte auch vom griechischen Festland vor (Pylos ca. 1 000, Theben ca. 300, Mykene ca. 90, Tyrins ca. 25; Hiller, S. 138). Es „spricht vieles für eine vergleichsweise späte Ent­ stehung von Linear B, am ehesten wohl in Knossos“, aber ganz klar ist das eine wie das andere nicht (S. 138). Zur „Einteilung des Textmaterials in ‚Serien‘“, zu den charakteristischen Aufgaben der Schreiber, zur Zahl der phonetischen Silbenzeichen und der anderen Zeichen, zum bei der Beschriftung geplanten Zeitraum der Archivierung und zu noch anderen Themen sagt Hiller (S. 140 ff.) noch mehr, darauf verweise ich nur. – Die Texte auf den Tontafeln lassen, hier im Fall Pylos, auch erkennen, welches damals die wichtigsten Wirtschaftszweige waren; siehe Maddoli (S. 118), der dort ferner sagt: „Wertvoll sind die Täfelchen schließlich, um das Werden der wichtigen Institutionen der griechischen Welt zu verstehen. Einige konstitutive Elemente der späteren Polis sind im Keim schon in der mykenischen Welt vorhanden“, so der „‚damos‘ als repräsentatives Kollegium der Gemeinde“, d. h. des Gemeinwesens. – Über diese Fehleinschätzung der Entstehungszeit der Polis, allgemein, siehe Kap. B. I.8. – Mit dem Ende der mykenischen Epoche verschwand Linear B aus dem Gebrauch. Späte­ stens im 8. Jh. v. Chr. entstand durch Adaption der phönikischen Buchstabenschrift eine neue, der griechischen Sprache besser angepaßte Schrift, die Homer benutzt hat.

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Arkadokyprischen und Attisch-Jonischen … trennt, bereits vollzogen hat (…). So wesentlich diese Differenzierung für das Entwicklungsbild der griechischen Dialektgeschichte auch sein mag, sie bestätigt … letztlich nur die … Homogenität des Griechischen in der Späten Bronzezeit. Diese … aber … [wäre] kaum denkbar, wenn sich die griechische Einwanderung … zu Beginn der Frühen Bronzezeit im nordgriechischen Raum … nicht von Anfang an im ethnisch wie linguistisch geschlossenen Verband als ein zusammenhängender, kurzfristig abgeschlossener Vorgang ereignet hat. Ältere Auffasssungen, wonach die Griechen in mehreren, über einen langen Zeitraum verteilten Wellen einwanderten, müssen damit als endgültig überholt gelten. Jene Umschichtungen am Ende des zweiten Jahr­tausends [um 1 100 v. Chr.], die zur Landnahme dorischer und nordwestgriechischer Stämme in Mittelgriechenland und auf der Peloponnes führen, bedeuten in diesem Zusammenhang keine … [neue] Zuwanderung verspätet eingetroffener und bis zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Balkaninsel ansässiger Bevölkerungsteile, sondern ausschließlich eine innergriechische Stammesverschiebung und zugleich die Überlagerung des mykenaisierten Teils der Balkanhalbinsel durch Stammesverwandte, die an der verfeinerten mykenischen Kultur kaum Anteil gehabt und bis zu einem gewissen Grad jenen … [frühen] Status von Bauern und Hirten beibehalten hatten, wie er den zu Beginn des 3. Jahrtausends die Balkanhalbinsel erstmals betretenden Ankömmlingen zueigen gewesen war. Wie die dorische Tradition von der Rückkehr der Herakliden, d. h. der Söhne des Herakles, die zu sein die Dorer behaup[te]ten, zeigt, empfanden sie sich nicht nur als vollwertige Griechen, sondern zugleich auch als legitime Erben der von ihnen besetzten dorischen Gebiete. Die mykenische Welt war für sie … zwar [südlich] hinter den Bergen, aber keineswegs außerhalb ihrer Welt gelegen“ (S. 34 f.; siehe dazu auch Martin, S. 119, unten).

Eine auf der Grundlage des bisher Geschilderten erste Zwischenbilanz in der Frage nach dem Alter der Institution Volksversammlung als dem Kern des Gemeinwesens der Griechen  – welche Institution im Mittelmeer-Raum den orien­ talischen Systemen unbekannt gewesen ist und also den Griechen nicht von einer vor-indogermanischen „ägäischen“ älteren Bevölkerung überkommen sein kann, wohl aber im Mittelmeer-Raum außer den Griechen, wie wir sehen werden (Kapitel B. I.1.d)), auch den ebenfalls indogermanischen Hethitern geläufig war – erbringt: Die Institution Volksversammlung muß ausweislich Homer bei den Griechen wenigstens aus Homers Zeit, 8. Jh. v. Chr., stammen, tatsächlich aber wohl älter sein. Alle Umstände deuten nämlich darauf hin, daß die homerischen Epen, ausschmückend und viel Verschiedenes kompilierend, auf ursprünglich historische Ereignisse, inzwischen sagenhaft verändert, Bezug nehmen. Es läßt sich angeben, um welche Ereignisse welcher Epoche (im sagenhaft gewordenen Kern steckend) es letztlich geht: Es ist unumstritten, daß diese Heroenmythen, in denen „Polis“ und „Agora“ (und vereinzelt auch andere, aber gleichsinnige Wörter für Volksversammlung) allenthalben genannt werden, „eindeutig in die mykenische Epoche“ weisen, wie die Formulierung bei Hiller (S. 23)21 lautet. – Im Fall 21 „Die Ereignisse, die geschildert werden, gehen auf geschichtliche Erinnerungen zurück bis in die Zeiten etwa um das Jahr 1 300 v. Chr.“, so Snell, S. 353. Bei Maddoli (S. 118): „amerikanische Archäologen setzen die Zerstörung von Troia VIIa, das der in der Ilias beschriebenen Phase zu entsprechen scheint, auf 1 230–1 225 fest. Unabhängig von der dichterischen Ausschmückung ist der Krieg ein historisches Faktum“.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Sparta sind sich die Althistoriker darüber einig, daß jedenfalls die dorischen Spartaner ihre Volksversammlung, die Apella, schon bei ihrer Landnahme auf der Peloponnes, um 900 v. Chr. mitgebracht haben (z. B. Heuß, 21991, Bd. 3, S. 156; Bringmann, 1980, S. 467). Zweifelsfrei ist außerdem schon in diesem Stadium der Betrachtung: Seit der Entzifferung von „Linear B“, auf jenen verbrannten Tontafeln erhalten ge­blieben, steht auch jenseits der Ergebnisse der archäologischen Arbeit unumstößlich fest, daß in Mittelgriechenland und auf der Peloponnes schon vor der Ankunft der Dorer und Nordwestgriechen Griechen gelebt haben. Wegen jener Tontafeln aus Knossos, Mykene, Pylos und Theben mit ihrem altertümlichen Griechisch ist es unmöglich anzunehmen, Homer habe seinen (in solchem Fall vorgriechischen) Helden des Geschehens um Troia, von dem wir archäologisch wissen, daß es in die Zeit von Troia  VIIa gehört, Griechisch lediglich in den Mund gelegt. (Das wäre allerdings sowieso wenig wahrscheinlich gewesen: Wieso hätte der Grieche „­Homer“ Helden einer dann fremden Vorbevölkerung verherrlichen sollen?) Zumindest Mittelgriechenland und die Peloponnes von vor 1 370 waren aber eben, wie die Vorgeschichtswissenschaft gezeigt hat, seit etwa 2 300 v. Chr. griechisch besiedelt (auch wenn für den Anfang keine schriftlich verfaßten Belege bekannt sind), seitens einer Bevölkerung, für die zweiräumige Häuser mit apsidenförmigem Abschluß, bäuerliche Wirtschaftsweise, Nekropolen mit Stein­ kistengräbern oder Tumuli, durchbohrte Hammeräxte und jene „Ton-Anker“ charakteristisch sind. Das Ergebnis der sprachwissenschaftlichen Auswertung der Tontafeln sowie die anderen Funde und Befunde aus archäologischer Forschung passen gut zusammen. Das heißt bisher: Der Typus des politischen Gemeinwesens, das sich in der Volksversammlung verkörpert, ist in Griechenland auf alle Fälle griechisch, stammt nicht aus einer Übernahme beim „ägäischen“ Bevölkerungssubstrat oder bei gleichzeitig existierenden orientalischen Systemen, in denen es die Institution Volksversammlung ja auch gar nicht gab. Jetzt zu Kreta und Mykene, zu den Dorern und den Nordwestgriechen. Mit dem 2. Jtsd. v. Chr. kam im Vorderen Orient, in Ägypten und auf Kreta das „Zeitalter der Paläste“, die zugleich Handelszentren waren, auf Kreta die Ära der minoischen „Paläste“ mit ihrer – so sah es aus – nicht indogermanisch fundierten minoischen Kultur. (Zu dem, was hier und im folgenden in bezug auf Kreta „Paläste“ genannt wird, eine kritische Bemerkung am Ende dieses Kapitels.) Die Entwicklung auf Kreta in der Zeit vom Ende des Neolithikums und in der frühen Bronzezeit beschreibt Panagiotopoulos, dabei auch die Besiedlungsverdichtung (S.  46), die „Kontakte  … mit den unmittelbar nördlich gelegenen Kykladeninseln“ (S. 53), die ersten Verbindungen mit Kulturen des östlichen Mittelmeer-Raums (S.  53 f.), die „Anzeichen einer sozialen Differenzierung“ und den ersten „Ansatz einer bürokratischen Administration“ unter der Voraussetzung der

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„Existenz einer zentralisierenden Wirtschaft …, die durch die Ansammlung und Verarbeitung von Produkten auf eine Überschußproduktion zielte“ – was zusammen mit „architektonischem Wissen“ und „organisatorischer Erfahrung“ zur Entstehung von drei Zentren der minoischen Kultur „etwa gleichzeitig in drei Regionen des Zentralteils der Insel, in Knossos, Phaistos und Mallia“, führte (S. 54 f.). Die Zeit der älteren „Paläste“ in Kreta wird auf ca. 1 900 bis um 1 700 v. Chr. angesetzt.22 Erdbeben verursachten das Ende. Es kam zum Wiederaufbau und damit um 1 700 zum Beginn der Zeit der jüngeren „Paläste“. Auf um 1 520 wird der verheerende Vulkan-Ausbruch auf Thera datiert, in eine jüngere Phase von „Spät­minoisch I“ der Beginn der Einflüsse mykenischer Kultur auf Kreta (zu dieser siehe weiter unten), auf um 1 430 die Zerstörung auch der jüngeren „Paläste“ (Ausnahme Knossos), womit die „Nachpalastzeit“ beginnt. In Phase A von „Spät­ minoisch III“ (1 400–1 330) fällt die Zerstörung auch von Knossos, nun endgültig. Die Komplexe auf Kreta, die „Paläste“ genannt werden, waren immer unbefestigt. Das kann aus dem Verständnis der Glieder der Gemeinwesen von deren Charakter resultieren, aber auch aus der – wie in der Literatur über die minoische Kultur vermutet wird – Vorherrschaft der kretischen Flotte im östlichen Mittelmeer. Hier wie in bezug auf viele andere Sachverhalte Kretas wissen wir noch zu wenig Gesichertes, wie die Lektüre vieler Beiträge in der großen Kreta-Publikation zeigt. Ich nenne Beispiele dafür, aber auch solche für etwas besseren Kenntnisstand: „Eine befriedigende historische Erklärung“ dafür, daß um „1 450 v. Chr. Paläste, Städte und Landhäuser in Schutt und Asche“ versanken, „ist bislang nicht gefunden. Eine Naturkatastrophe scheidet wohl aus. [Da gibt es auch andere Versionen.] Möglich wäre eine Invasion vom griechischen, mykenischen Festland, das seit dem 16. Jh. v. Chr. in Konkurrenz zur Insel Kreta gestanden haben“ wird. Nur Knossos überdauerte, damals „wahrscheinlich schon unter Herrschern mykenischfestländischer Herkunft. Ein Brand um 1 375/1 350 v. Chr. setzte dann auch dieser fürstlichen Residenz  … ein Ende. Wieder bleibt die Ursache unbekannt“ (Matthäus, S. 68 f.); „die innere Struktur Kretas“ „ist noch nicht … geklärt. …. Kulturell erscheinen die minoische Kultur und Kunst gerade der jüngeren Palastzeit weitgehend einheitlich. Von kultureller Koine unmittelbar auf zentralisierte Verwaltung zu schließen, ist jedoch voreilig“ (S. 70 f.). Die „Paläste“ auf Kreta hatten offenbar eine „ökonomische Zentralfunktion“ jeweils für ihren Teil  der Insel. (Für die jüngere Palastzeit sind bislang fünf­ „Paläste“ bekannt: Phaistos, Knossos, Mallia, Galatas und Kato Zakros.) „Weitere 22 Hier gem. der Übersicht bei K. Horst (S. 43), die dazu dort sagt, daß die Epochen-Einteilungen gem. Arthur Evans u. Nikolaos Platon von den Fachleuten „allgemein anerkannt“ seien. „Doch herrscht bei der Umrechnung in absolute Zahlen keine Einmütigkeit“, weshalb in den auf K. Horst folgenden Beiträgen der Gesamtpublikation (Hrsg. Siebenmorgen) zu den Epochen unterschiedliche Zahlenangaben zu finden sind. Weil das hier wiederzugeben viel zu umfangreich wäre und für uns auch nicht entscheidend ist, gehe ich im folgenden von den Zahlen in der Übersicht bei Horst aus.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

lokale Subzentren, öffentliche Magazine und Warenlager, für die es archäologisch in der Alt- wie in der Neupalastzeit konkret … Anhaltspunkte gibt, sind vorauszusetzen. Die Linear-B-Texte aus Knossos lassen darüber hinaus erkennen, dass der Palast auch selbst als Wirtschaftsfaktor auftreten konnte: Knossos kontrollierte in dieser späten Zeit die Schafzucht und damit auch die Textilindustrie seines Herrschaftsraumes“ (S. 72 f.). Maddoli (S. 115) sieht das Ende der minoischen Kultur von zwei Gegebenheiten bedingt, die zusammenwirkten: erneut eine „Naturkatastrophe (die sehr wahrscheinlich mit der furchtbaren Eruption des Vulkans von Thera verbunden ist) und die anschließende Eroberung durch die Griechen (Achaier), die vom Festland kommen. Dort hat sich in der Zwischenzeit, seit etwa 1 580 v. Chr., die große Kultur herausgebildet und gefestigt, die man heute gewöhnlich mykenische Kultur nennt.“ Für uns sind vor allem Veränderungen in der Sozialstruktur von Interesse (nicht die freilich den Archäologen für die Datierungen wichtige Entwicklung der Keramik und deren Verzierungen und auch nicht anderes aus der Kunst). Die Anführer der Stämme der Einwanderungszeit waren inzwischen aus dem Gros der Glieder der Gemeinwesen auf eine Art und Weise herausragende Leute geworden, die von den Althistorikern, z. B. Schachermeyr (1991, S. 55), als „Fürsten“23 bezeichnet werden, deren Reichtum auch aus den Grab-Beigaben erkennbar ist. Die veränderte Situation in der Ägäis führte dazu, daß nun die mykenischen Fürsten bis nach Ägypten ausgriffen, „wo zu … [dieser] Zeit die Hyksos24 vertrieben wurden, und es wäre durchaus möglich, daß dabei griechische Hilfskontingente mitwirkten“; denn es kam in Mykene zu allerlei Nachahmungen des Pharaonen-Totenkults, bis hin zum Mumifizierungsversuch (Schachermeyr, S.  55). „Vor allem scheint aber der Streitwagen als neues Kampfmittel über Ägypten in Mykene eingeführt worden zu sein. Die Ägypter selbst hatten Pferd und Streitwagen wohl erst von den Hyksos24 kennengelernt25 und wandten das neue Kampfmittel er 23

Auf die Titelei, hier „Fürst“, später „Herrscher“ und „König“ komme ich zurück. Ägyptische, nicht eigene Benennung. Aus Asien stammende arische Oberschicht in Ägypten, als Fremdherrschaft (1 650–1 540 v. Chr.). 25 „In Vorderasien traten  … Schwärme von südöstlichen, als ‚Arier‘ bezeichneten Indo­ europäern auf, die sich … [wohl] im Bereich des Kaukasus … auf die Zucht edler Rosse verlegt und sich … leichte Rennwagen [hatten] zimmern lassen.“ Die Wagen waren als Kampfmittel überlegen. Die Streitwagenkämpfer führten ein ritterliches Dasein mit besonderen Vorrechten. Ende des 18. Jh. v. Chr. eroberten sie, über Armenien kommend, Syrien und Mesopotamien und bildeten dort arische Feudalherrschaften. Jene in der voranstehenden Fußnote genannten Gruppen eroberten Ägypten (Schachermeyr, 1991, S. 37; dort Einzelheiten). – Neuerdings (Benecke, 1994) wird das Thema Pferdedomestikation in Europa (S. 30–42) differenzierter diskutiert. Die ältere Meinung, daß die Herkunftsgebiete der gezähmten Pferde Europas die Steppen der Ukraine, Rußlands und Asiens sein müßten, hat der Erkenntnis Platz gemacht, „daß bei der Herausbildung der mitteleuropäischen Hauspferde die einheimischen Wildpferdpopulationen einen bedeutenden Anteil hatten“ (S. 37). Es bestehen übrigens große morphologische Unterschiede zwischen den Mitteleuropa-Pferden (Tiefebene von ­Jütland 24

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folgreich zur Vertreibung der Eindringlinge an. Als mykenische Griechen in diese Kämpfe eingriffen, lernten auch sie, die Wagen zu lenken und edle Rosse zu züchten. … Sie wurden dabei zwar noch nicht zu Reitern, wohl aber zu reisigen Streitwagenfahrern und damit zu Rittern26. Ihr Dasein gewann einen völlig anderen Lebensstil. Als Sportsleute und ritterliche Kämpfer bildeten sie eine besondere Klasse26, die nicht nur die Schlachten entschied, die auch der Knappen und Gefolgsleute, der entsprechenden Bedienung der Pferde und der Stallungen bedurfte. Bald entwickelte sich ein eigener Kastengeist26; die Streitwagenritter stellten besondere Ansprüche im gesellschaftlichen 26 Leben, sie bildeten einen eigenen feudalen Stand26. Führend in der Benutzung der neuen Waffe und tonangebend in der neuen Lebensweise wurden die Herrscher selbst. … Der König26 bedurfte in der Feldschlacht aber nicht nur [einiger] weniger Wagen, sondern bereits eines größeren Geschwaders: er bedurfte eines reisigen Gefolges. So ließ er Streitwagenkämpfer in größerer Zahl ausbilden,  …. So bildet sich um 1 600 v. Chr.  … eine neue Mischkultur, in der sich das altererbte Mittelhelladische27 mit der aus dem Orient übernommenen Streitwagenhaltung und mit einer Fülle von minoischem Kulturgut vereinigte. Als Träger dieser Gesittung kommen nur die Griechen der mitelhelladischen Zeit in Betracht. Die Übergänge in die neue ritterliche Ära sind … gleitende. Von einem Bruch der Tradition oder von sonstigen gewaltsamen fremden Eingriffen kann nicht gesprochen werden. Das hier so reichlich vorliegende archäologische Material läßt es nicht zu, die Einwanderung der griechisch sprechenden Scharen erst um 1 600 und nicht schon um 1 950 v. Chr. anzusetzen“ (S. 55 f.) –

wie wir inzwischen von Hiller wissen: sogar schon ab um 2 300 v. Chr. Die Art der mykenischen Fürsten- und Feudalherrschaft fand sehr schnell Nachahmung in ganz Griechenland, sowohl auf der Peloponnes als auch in Mittelgriechenland und in Thessalien. Diese Periode der Ausbreitung der mykenischen Kultur (etwa 1 580 bis 1 480 v. Chr.) heißt frühmykenisch. „Auf dem griechischen Festland standen damals alle Residenzen in voller Entfaltung. …. In Attika gab es zahlreich … Kleinfürstentümer, in Boiotien die großen Paläste von Theben und Orchomenos, in Thessalien Iolkos und Neleia“ (S. 57). Die Residenz von Mykene errang in spätmykenischer Zeit (etwa 1 400–1 200) immer mehr die Führungs­ position. Dem entsprachen unter anderem auch Größe und Stärke der Befestigung. Es gab, wohl für Winterzeiten, in Tiryns am Meer eine zweite Residenz der mykeüber Niedersachsen und Mecklenburg bis Kujawien und bis zu den Mittelgebirgsrändern) und den Pferden jener Steppen. Der Beginn der Pferdedomestikation in Mitteleuropa liegt irgendwann am Übergang 4./3. Jtd. v. Chr. (S. 40). In Griechenland, auf der Apenninen-Halbinsel und im Alpenvorland dagegen gab es am Übergang zum Holozän keine Wildpferde mehr (S. 31). Gezähmte Pferde mußten nach dort von außerhalb gebracht werden. Auf der Balkanhalbinsel – so auch Benecke – gab es Hauspferde in damals noch geringer Zahl erst ab der frühen Bronzezeit, in größerem Umfang am Übergang von der mittleren zur späten Bronzezeit. Insofern gibt es also keinen Widerspruch zu dem von den anderen Autoren Gesagten. (Wir brauchen diese Sache noch einmal an anderer Stelle.) 26 Hier keine Erörterung der Angemessenheit der Begriffe; das ist mir an dieser Stelle noch nicht so wichtig. Betr. „König“ mehr jedoch schon in Fußn. 34. 27 „Mittelhelladisch“ (MH) heißt die unter dem Einfluß der eingewanderten Griechen nach FH II/III (siehe oben bei Hiller) sich auf dem Festland bildende Kultur. Aus ihr entwickelt sich, wiederum auf dem Festland, bald nach 1 600 (Martin: etwa 1 580) die mykenische Kultur (auch „späthelladisch“, SH).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

nischen Fürsten mit Hafen. Im übrigen residierten in kleineren Städten und Burgen der Argolis die Dynastien der mykenischen Vasallenfürsten.28 Auf der Peloponnes standen damals noch zwei große „Paläste“ mehr, einer in Lakonien (literarisch bekannt, aber noch nicht entdeckt), ein anderer in Pylos. In Attika gewann Athen immer mehr an Bedeutung (S. 58 f.) – Schachermeyr faßt die Situation vor der Dorischen und Nordwestgriechischen Wanderung (zum Begriff Wanderung siehe oben bei Hiller) wie folgt zusammen: „Der Charakter der spätmykenischen Kultur wurde von der ritterlichen Oberschicht und den fürstlichen Burgen bestimmt. Krieg und Wettrennen, Jagd und Weingelage scheinen diese Kreise mit Vorliebe getrieben zu haben. Szenen von Streitwagenkämpfen und Eberjagden schmückten die Wände der Paläste; …. Neben der Freude an Kampf und Gefahr scheint aber in den oberen Schichten das Interesse an Erwerb und Besitz sehr lebhaft gewesen zu sein. In den auswärtigen Unternehmungen verband sich oft beides, … .“ (S. 61). Wenn Anführer/Fürsten/„Könige“ auf solche Weise über das Gros der Glieder des Gemeinwesens herausgehoben, von ihm abgesondert waren, mit ihrem – wie Schachermeyr sagt – „reisigen Gefolge“ ganz anderen Interessen als das Gros nachgingen (siehe auch Martin, S. 122, unten), muß das alte politische Gemeinwesen zwar noch nicht ganz untergegangen sein – die Entscheidung über Krieg und Frieden blieb offenbar noch lange danach bei der Volks-(Heeres-)Versammlung –, war aber, wie wir vom Ende der Entwicklung her sagen können, zum Untergang unterwegs. Schachermeyr bringt zum Thema Vordringen der Dorier (wie er den Namen schreibt; andere Autoren sagen Dorer) und Nordwestgriechen nach Süden Ende des 2. Jtds. Sachverhalte, die für unser Thema relevant werden: „Die von der mykenischen Welt durch ihre ganz andersartige Wirtschaftsform [„Sie lebten dort mehr von Viehzucht als von Ackerbau …“; S. 66] so streng geschiedenen nördlichen Griechen lebten in Gauverbänden29 ohne sonderlich straffe Organisation nebeneinander. Als dann im mykenischen Raum Anzeichen von Schwäche30 bemerkbar wurden, erweckte das bei den nördlichen Griechen die Hoffnung, sich des Ackerlandes in Thessalien, Mittel 28 Auch die Adäquanz des mittelalterl. Begriffs Vasallen (dieser über das Altfranzösische aus dem Keltischen) lasse ich hier unerörtert. 29 Schachermeyr verwendet den in mehreren germanischen Sprachen vorkommenden Ausdruck Gau. Im oben nachfolgenden Absatz nennt er konkret nordgriechische kleinere, offenbar normalerweise selbständige Verbände mit Namen. Die Übertragung des Ausdrucks (mangels Kenntnis eines konkreten nordgriechischen Wortes jener Zeit für die Sache) auf ältere Verhältnisse anderswo ist hier wohl nicht erkenntnishemmend. (Ich bin in diesen Dingen notwendigerweise besonders aufmerksam, gewissermaßen allergisch.) 30 Etwa 1 240 v. Chr. drangen barbarische Scharen in Griechenland ein, steckten in Tyrins den Palast (die zweite Residenz der mykenischen Fürsten) in Brand, in Mykene die Kaufmannshäuser außerhalb des Palasts und noch viele Siedlungen mehr anderswo. Zwar wurden Tyrins wieder aufgebaut und allenthalben die Befestigungen verstärkt, die Zugänge zu den Quellen gesichert und der Isthmos sogar mit einer Mauer nach Norden abgesperrt. Gegen die Einbrüche und Wanderzüge, die gegen Ende des 2. Jtds. einsetzten, half das alles nichts mehr (Schachermeyr, 1991, S. 65).

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griechenlands und auf der Peloponnes bemächtigen zu können. Das nahmen einige Gauverbände zum Anlaß, sich straffer zu organisieren. Nun verbanden sich die Hylleer mit den Dymanen und gewannen noch andere Scharen, die Pamphyler, für ihren Bund. Die also Vereinigten nannten sich Dorier, waren kriegerisch gestimmt und zu Unternehmungen gegen das mykenische Kulturland bereit. Von den Barbarenwanderungen aus dem weiteren Norden [Vordringen der Illyrer?], die damals einsetzten …, wurden die Berggriechen und auch die Dorier in ihren sicheren Gebirgsstellungen kaum berührt. Weit eher ist daran zu denken, daß sie bei Gelegenheit selber mit eingegriffen haben, um die mykenische Fürstenmacht zu stürzen. [Da ist manches noch unklar.] Als dann die mykenische Vormachtstellung ihr Ende gefunden hatte …, war die Zeit für die Gebirgsgriechen gekommen. In zähem Vorwärtsdrängen gewannen die Dorier die Ost- und Südküste der Peloponnes, besetzten auch Kreta, Rhodos und Kos, schließlich Knidos und Halikarnassos. Andere, nicht so straff organisierte Verbände – wir bezeichnen sie in ihrer Gesamtheit als Nordwestgriechen – nahmen die Nord- und die Westküste der Peloponnes ein. Wir finden sie später auch in Aitolien und Akarnanien. Nordwestgriechische Elemente überschichteten die mykenischen, wir wissen nicht genau wann, auch in Thessalien und Boiotien. Die früheren Bewohner der peloponnesischen Küsten, der boiotischen und thessalischen Gefilde wichen zum Teil nach überseeischen Bereichen aus. Sie gewannen den größten Teil von Cypern, die Kykladen, Lesbos, Samos und Chios … und legten feste Städte an der westanatolischen Küste an“ (S. 67).

Weil wir das nachher brauchen, bezeichne ich umgekehrt anhand von Alfred Heuß (21991) nun diejenigen Teile Griechenlands ausdrücklich, die gewisser­ maßen „achaiisch, das heißt altgriechisch“ geblieben31 sind: zum einen den Osten Thessaliens (ähnlich den Osten Boiotiens), während der thessalische We­ sten „nordwestgriechisch“ wurde, zum anderen praktisch ganz Attika, mit Athen, und Euboia. Dazu kommen selbstverständlich diejenigen ägäischen Inseln und die Teile Westkleinasiens, in die „Altgriechen“ vor den Eindringlingen der Dorischen und der Nordwestgriechischen Wanderung ausgewichen sind (S. 73 f.; dazu auch S. 79, Mitte). Bevor ich zum Thema Volksversammlung zurückkehre und zu anderen Charakteristika der frühen griechischen Gemeinwesen aus der Zeit nach 2 300 v. Chr. komme, nenne ich noch Sachverhalte, die kennzeichnend sind für die Veränderungen nach dem Ende der spätmykenischen Kultur: „Aus dieser Zeit stammt die berühmte Kriegervase von Mykene“, das jetzt in dorisch besiedeltem Gebiet lag, in der Argolis, „die nicht mehr Streitwagenritter, sondern Fußvolk zeigt; auch die Helme und Schilde sind von anderer Art“ (Schacher­meyr, 21991, S.  66). Die Verwendung von Eisen zur Herstellung von Waffen nimmt merklich zu (Kimmig, S.  240–244), desgleichen die Bestattung in Urnenbrandgräbern (S. 245 f.), die zuvor allerdings keineswegs unbekannt ge­ wesen war. Der größere Rahmen dazu ist: Ab etwa 1 200 v. Chr. setzt sich in weiten Teilen Europas die Urnenfelderkultur durch. 31 Freilich: „Die Völkerwanderung hat [dennoch] in Griechenland nichts unberührt ge­ lassen“ (Heuß, S. 73).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Über die „politischen Verhältnisse“ bei den Einwanderern der Zeit ab etwa 1 100, generell, lesen wir bei Heuß: „Das Heerkönigtum der Wanderungszeit … war … unter keinem einheitlichen Namen aufgetreten. Herzog (tagós) oder Oberführer (archagétes) sind als Bezeichnungen noch zu greifen. Zumeist hat sich mit dem Namen auch die Sache verloren. Der griechische ‚König‘ ist [schon bei den Griechen in Griechenland vor der Dorischen und Nordwestgriechischen Wanderung (siehe Homers Mythen über die spätmykenischen Helden) und erst recht bei den Einwanderern] dem Worte nach [vor allem aber der Sache zufolge] ungriechisch und vorindogermanisch (basileús), eine Anleihe bei der Urbevölkerung, …. Es gab kein starkes Königtum …“ (S. 74) –

was nicht verwunderlich ist, weil seine Grundlage lediglich das im Vo l k verankerte Herzogtum war. „Der König erhielt [bei der Landnahme] wie die Götter aus dem allgemein verteilten Land einen kleinen bevorzugten ‚Ausschnitt‘ (témenos), während die anderen ihre kleineren ‚Lose‘ (kléroi) zugewiesen bekamen“ (S. 75; zum Thema Königtum siehe Fußnote 34). „… wenn wir die ersten zwei bis drei Jahrhunderte der griechischen Geschichte (nach der Dorischen Wanderung) an Hand unserer recht spärlichen Kenntnis überschlagen, so zeigt sich, daß nicht eben allzuviel [was ist das?] ‚los‘32 war  …  .  … Bewegung hat das Griechentum, solange ihm die politischen Möglichkeiten [gemeint ist wohl: zu Aktivitäten nach außen] fehlten, durch den sozialen Wandel erfahren. Hier mußte sich also erst ein Spannungsgefälle herausstellen, … . In dieser Hinsicht hatte allerdings schon die Wanderung gewisse [welche?] Tatbestände geschaffen, nicht überall und nicht von gleichem Gewicht,  …  . Die Behandlung der in der Wanderung unterworfenen Bevölkerung hat sich manchenorts in einer auch später gültigen sozialen Ordnung niedergeschlagen. Das war natürlich kein automatischer Effekt; sehr oft ging es eben [soweit erkennbar] ganz problemlos zu. Die frühere Bewohnerschaft suchte das Weite und verschwand, oder es blieben oder waren von Anfang nur wenige, so daß sie ohne Schwierigkeit mit den neuen Ankömmlingen sich mischten. … . Wo … Fruchtland von größerem Umfang gewonnen wurde, wo man eine breitere Schicht von Ackerbauern antraf, da ließ man diese sitzen und machte sie zu Hörigen. Berühmt ist der klassische Fall der spartanischen Heloten, der indes nicht der einzige blieb“ (S. 76 – siehe Thessalien – worauf es hier aber im einzelnen nicht ankommt).

Christian Meier (31995) spricht von den „recht anfänglichen, wenig differenzierten agrarischen Verhältnissen“ (S.  57) der Griechen in den allerersten Jahrhunderten nach der Dorischen und Nordwestgriechischen Einwanderung nach Mittelgriechenland und in die Peloponnes, daß die Monarchie bei ihnen „keine nennenswerte Rolle“ gespielt hat (S. 57) und daß die Griechen in dieser frühen Zeit „in mehr oder weniger selbständigen kleinen Gemeinwesen … ohne große wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen Adligen – was immer man darunter verstehen will – und Bauern“ (S. 58) gelebt haben. (Der Begriff Monarchie ist überhaupt fehl am Platz. Zum griechischen „Königtum“ siehe Fußnote 34.) 32 Welche Verkehrung! Daß Systeme mehrere Jahrhunderte lang offenbar normal funktionierten, scheint für weniger wichtig zu gelten. Erst, wenn sie nicht mehr funktionieren, wenn’s nicht mehr „stimmt“, wird’s interessant, ist was „los“.

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„Die einzelnen Poleis nennen sich nicht nach dem Ort, sondern mit dem davon abgeleiteten Namen der Bewohner [z. B. ‚Thebaner‘], betrachteten sich also als Kleinstämme eigenen Charakters. Dieser Personalcharakter der Poleis bestimmt auch (…) ihre Verfassung: Bürger gleichen Rechts sind alle ansässigen freien Bewohner gleicher Herkunft, die zur Volksversammlung der (agrarischen) Wehrfähigen zusammentreten“ (Kirsten, S. 123).

Über die Stellung der altüberkommenen, mit der Einwanderung der dorischen und nordwestgriechischen Stämme nach 1 100 v. Chr. nach Mittel- und Südgriechenland mitgebrachten Institution Volksversammlung wissen wir etwas von solchen Stämmen, die die alten Verhältnisse besonders lange bewahrt haben, von den Makedonen und den Molossern. (Die Situation bei den Lakedaimoniern, von denen wir sogar ältere Nachrichten haben als von Makedonen und Molossern, stelle ich aus besonderen Gründen erst weiter unten dar.) Die Makedonen, einer der nordwestgriechischen Stämme, saßen, nach der Verschiebung ihrer Wohnsitze zunächst nach Süden, im nördlichen Teil Thessaliens. Zusammen mit einigen verwandten Stämmen haben sie sich zu Anfang des 1. Jtsds. v. Chr. weiter nach Norden ausgedehnt, in thrakisch-illyrisches Gebiet. Die Makedonen selbst besetzten dabei zunächst die große Ebene bis zum Fluß Axios (heute: Wardar), d. h. Niedermakedonien (Heuß, S. 364). Auf Einzelheiten dazu und auf die folgende Entwicklung kommt es hier nicht an. Wichtig sind die Merkmale des Systems: „Der König war nicht hoch über das Volk erhoben und beobachtete keinen besonderen Abstand zwischen sich und den Gemeinfreien, auch nicht in der Kleidung. Die Blutgerichtsbarkeit lag bei einer Versammlung der Wehrfähigen, nicht bei ihm, … . Es galt wohl das Geblütsrecht der königlichen Familie, und auch die Thronfolge des ältesten Sohnes war in gewissem Sinn durch Gewohnheit nahegelegt, aber der verbindliche Akt war die Wahl oder Akklamation durch das Volk, … . Mehr als ein Volks- oder Heerkönigtum 33 war also die makedonische Monarchie34 nicht, … .“ (S. 366). 33 Wahrscheinlich aus der Herzogs-Würde der Wanderung entstanden. (Das gemeingermanische *harja-tug(ōn) ist übrigens am ehesten eine Lehnübersetzung, wahrscheinlich erst der byzantinischen Zeit, aus dem Griechischen, von stratēgós oder, wie es bei Kluge, 22. Aufl., S. 307, heißt, eher noch von griech. (poet.) stratēlátēs, zu griech. stratós = Heer u. elaúnein = ziehen.) Tagós = Anführer (z. B. Homer, Il. 23, 160) ist ein „bes. in Thessalien gebräuchlicher Ausdruck“ (Pape, Bd. II, S. 1063). Ein anderes Wort für das, was wir mit „Her-zog“ bezeichnen, ist baínō-laós (Pape, Bd. I, S. 436). Das ist wörtlich zu nehmen: baínō = „ausschreiten“ u. „in Bewegung setzen“ (Pape, Bd. I, S. 425 f.), lāós = „Volk“/„Kriegsvolk“ (Pape, Bd. II, S. 15). 34 Die Subsumption unter den Begriff Monarchie ist auch hier schief. So kommt es dann (Heuß, nachfolgende Seiten) zu Fehleinschätzungen wie dieser: „War sein [des makedonischen „Staats“ – übrigens der nächste noch nicht passende Begriff –] tragender Grund schon immer die Monarchie gewesen“ – das ja nun genau nicht! –, „so wurde sie jetzt [zur Zeit Philipps II.] zur lebendigen Mitte, aus der alle Impulse seines grandiosen Wachstums sich spei­ sten. … . Wessen er [der König] bedurfte, war eine Macht von größerer Verfügbarkeit, die … den König befreite von den Schranken des im Volk [sic!] wurzelnden Herkommens“ (S. 371). Ein solches „im Volk wurzelndes“ „Königtum“ ist nicht Mon-archie, nicht Herrschaft. (Erst mit Philipp II. begann bei den Makedonen der Übergang zur Monarchie Alexanders des Großen, losgelöst von den „Wurzeln“ des Volkes.)

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

In bezug auf die Molosser, die sich, zusammen mit anderen nordwestgriechischen Stämmen (u. a. Thesproter und Chaonen) im später „Epiros“ genannten Gebiet sowohl an der Küste des ionischen Meers als auch im Landesinnern an­ gesiedelt hatten, Bei manchen Althistorikern, z. B. bei Ehrenberg (1965, S. 120 f.), kann man lesen, charakteristisch für die griechischen Gemeinwesen überhaupt sei von alters her die Monarchie gewesen; sie sei aber bis auf Ausnahmen später abgeschafft worden und, wo nicht abgeschafft (Sparta), mittels neuer Institution (hier: Ephoren) eingeschränkt worden. – Bei anderen Autoren liest sich das so: Ernst Meyer (S. 62) betont, daß generell die „Macht“ des (aus der Wanderzeit stammenden) Königtums „gering“ gewesen sei. (Zum Thema „Macht“ hier noch keine Stellungnahme; siehe B. I.3.) Christian Meier (31995, S. 57) sagt: „Eines der hervorstechendsten Merkmale der griechischen Soziogenese ist, daß in ihr die Monarchie keine nennenswerte Rolle spielt“ (zur Tyrannei S. 65). „Monarchie“ paßt hier überhaupt nicht. Generell gilt: Wo es kein Wort für eine Sache gibt, gibt es die Sache nicht. Die eingewanderten griechischen Stämme hatten in ihrer Sprache kein Wort für die Sache „König“. Sie hatten Anführer/Herzöge (siehe die vorausgegangene Fußnote). Das aber waren keine „Herrscher“, keine Mon-archen. Wir müssen Otto Brunners Mahnung beachten: Keine Begriffe benutzen, die nicht in die Zeit passen! Es gibt im antiken Griechisch zwei Wörter, die in jüngeren Übersetzungen mit „König“ wiedergegeben werden: basileús (offenbar aus qasireu, Linear B) und (w)ánax. (w)ánax ist die ältere Bezeichnung. Sie kommt in Linear B als wanaka vor. Im Pape (Bd. I, S. 199 f.) sind bei ánax für Homer und über diesen hinaus mehrere Bedeutungen mit Belegen notiert: „der Oberste, Herr, der Befehlende“, im Unterschied zu denen, „die fremdem Willen unterworfen sind“ (mit 3 Varianten). In Linear B gibt es wanaka zur „Bezeichnung des mykenischen Palastherrn“, der „auch höchste priesterliche Funktionen“ ausübte (Welwei, S. 39 f.). Die führende Stellung des mykenischen Zentrums im mykene-zeitlichen Griechenland kennen wir schon. Dazu paßt dann auch noch in Homers „Ilias“ die herausgehobene Position des Agamemnon im Verhältnis zu den anderen Anführern, denen gegenüber er aber doch nur primus inter pares war, der nicht einfach befehlen konnte. Auch Agamemnon brauchte die Agora. Sein Wort und sein Wunsch hatten besonderes Gewicht, Widerstand war aber möglich. Gschnitzer (1965) zeigt, „daß basileús von Hause aus gar nicht den König bezeichnet hat“ (S. 104), sogar „Personen von vergleichsweise niedrigem Rang“ (S. 100), aber doch an­gesehen im Gemeinwesen (S. 110). Homer nennt für die Phäaken zwölf, die zusammen regelmäßig den Alkinoos beraten, der dennoch unter dem gleichen Namen basileús aus ihrem Kreis herausragt, er nennt auch für Ithaka eine Mehrzahl; ebenso erwähnt Hesiod eine Mehrzahl, hier als Richter (S. 102). All das wird einleuchtend unter der Annahme, daß der Ausdruck basileús „den Ersten in einem bestimmten Kreise bezeichnet …, also den Ersten in der Gemeinde“ (= im ganzen Gemeinwesen), „aber auch den Ersten in einer Phyle, einer Phratrie usw.“ (S.  105). Gschnitzer zeigt (ebenda), daß und warum die Annahme mehr für sich hat, „die Bezeichnung des Einzelnen“ mit basileús (im Sinne von gr. árchōn, lat. princeps) sei „das Primäre“, die Verwendung in der Mehrzahl sekundär. Daß „in der Zeit zwischen den LinearB-Texten und dem Abschluß der homerischen Epen  … ein  … bescheidener Ausdruck, der etwa unserem Vorsteher gleichkam“ (S. 106), zur gewöhnlichen Bezeichnung dessen wurde, der an der Spitze des Gemeinwesens stand, hat seinen Grund in den Veränderungen, die der Einbruch der dorischen und der nordwestgriechischen Stämme mit sich brachte: der Zusammenbruch der mykenischen Welt. Die meisten Schwierigkeiten, die Gschnitzer, trotz aller Denkfortschritte, bei seiner Terminologie zur Frühgeschichte des Königtums bei den Griechen hat, kommen daher, daß auch bei ihm der Rückgriff nur bis in die Mykene-Zeit reicht, unter seinen Voraussetzungen auch nicht weiter zurückreichen kann.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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„ist den Inschriften zu entnehmen, daß nicht der König, sondern die Volksversammlung der Molosser – in der wir die Versammlung aller waffenfähigen freien Männer analog der makedonischen Heeresversammlung zu erblicken haben – Bürgerrecht, Proxenie und andere Ehrenrechte verlieh (…). Daran dürfen wir die Vermutung knüpfen, daß auch das Recht zur Urteilssprechung bei todeswürdigen Verbrechen von der Gesamtheit der Molosser ausgeübt wurde, ähnlich wie das bei den Makedonen der Fall war.  … Ein weiteres Zeugnis für die Einengung der königlichen Machtvollkommenheit [mit dieser Art der Formulierung wird allerdings das Pferd von hinten aufgezäumt] ist in der Tatsache zu sehen, daß die Molosser, sicherlich unter Berufung auf den Nomos35 (…), mehrfach ihre Könige absetzten …, um an ihrer Stelle dann einen Vertreter der anderen Linie des Aiakiden-­ Hauses als König anzuerkennen“ (Franke, S. 72).

Die „vorwiegend bäuerliche Struktur des Stammes der Molosser“ (S.  73) bestand auch noch in der Zeit des dann berühmt gewordenen Pyrrhos, auf den ich hier aber nicht weiter eingehe. „In erster Linie war der molossische König ein Heerkönig. Als solcher hatte einst einer seiner Vorfahren den Molossern Siedlungsland erobert“ (S. 73). Die molossischen Könige unternahmen auch „Feldzüge“ besonderer Art, einer besonderen Art, die uns weiter unten bei den Spartanern und auch in Kapitel B. I.1.b) noch einmal begegnet, so etwa „Feldzüge Alexanders des Molossers [Schwager des Makedonen-Königs Philipps II.], dem sich ein Teil [!] der Molosser angeschlossen haben muß (…), in Unteritalien, des Arybbas, unter dessen Führung Molosser im Lamischen Krieg gegen Antipater kämpften“ (S.  74). Diese Fälle „… zeigen mehr als deutlich, daß der molossische König auf … [kriegerischem] Gebiet  … weitgehende Handlungsfreiheit genoß. War er eine  … Persönlichkeit und vermochte er die Molosser etwa durch die Aussicht auf Ruhm und Beute zu gewinnen, so folgten ihm diese ohne Widerspruch“ (S. 74). Das richtige Verständnis gewinnen wir erst, wenn wir das „diese“ im oben genannten Sinn („ein Teil der Molosser“) verstehen, nämlich als diejenigen, die sich dem König wegen der „Aussicht auf Ruhm und Beute“ anschlossen, also keineswegs bloß „ohne Widerspruch“, sondern gerade aufgrund ihres eigenen Entschlusses, ihres Interesses an der Sache. Ferner gilt, „daß die molossischen Könige nicht über einen bestimmten territorialen Bereich eine absolute Herrschaftsgewalt [Terminus sowieso kryptotypisch] ausübten, sondern daß sie ein verfassungsmäßiges Amt im Stamme der Molosser innehatten, ähnlich wie es nur ein Königtum der Makedonen und ein solches der Lakedaimonier gab, nicht aber ein makedonisches oder lakedaimonisches Königreich“ (S. 68). „… daß an der Seite des Königs ein zweiter Beamter, der Prostates, als Vertreter des Volkes stand, etwa den spartanischen Ephoren … [entsprechend], zu deren Aufgaben auch die Überwachung des Gewohnheitsrechtes gehörte“ (S. 71), halte ich für eine jüngere Absicherungsmaßnahme, so wie das ganz sicher für die lakedaimonische Institution der Ephoren gilt (siehe weiter unten). 35

Zu „Nomos“ s. Kap. B. I.8.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Auch im Fall der (dorischen) Lakedaimonier (Sparta)  wissen wir Konkretes in der uns interessierenden Sache. Auch sie hatten „noch aus der Zeit der Landnahme“ jene „alte Institution, die Apella, die Versammlung der Wehrgemeinde“ (Heuß, S. 156), „die altertümliche Volksversammlung“ (S. 151). Die hier andere (andere als Agora), nämlich spezifisch lakonische Bezeichnung (Pape, I, S. 286) ist in bestimmter Hinsicht von besonderem Interesse. Im Pape ist vermerkt: „Vielleicht hängt es mit apeilē´ zusammen; Emperius vergleicht apeílō, einpferchen“. Der Ort der Volksversammlung im Herkunftsgebiet der Dorer (und vielleicht auch noch auf der Peloponnes) könnte gehegt, eingefriedet gewesen sein. Das verweist auf einen größeren Zusammenhang. Das gilt auch für folgendes. „Das Verfahren [der Entscheidung] war sehr altertümlich,  …,  … Zustimmung oder Ablehnung wurde nach der Stärke des Zurufs beurteilt, im Zweifelsfall durch Auseinandertreten“ (Ernst Meyer, Einführung, S. 109). Die kritische Bemerkung Bringmanns (1980, S.  477), die Volksversammlung sei wegen dieses „archaischen ‚Abstimmungsverfahrens‘ von den Königen interpretierbar und somit auch manipulierbar“ gewesen, ist wohl zu modern gedacht. Außerdem brachte ja „im Zweifelsfall“ das „Auseinandertreten“ die Übersicht über die Verhältnisse. In Kapitel B. I.1.b) komme ich auf beide Sachverhalte zurück. Bei den Dorern gab es mindestens zwei Bezeichnungen für das politische Gemeinwesen, erstens das auch sonst bei den Griechen am meisten verwendete „Polis“, so bei den Dorern auf Kreta (Inschrift aus Dreros, nicht jünger als 600 v. Chr.; Ehrenberg, in: Gschnitzer, 1969, S.  26), wobei „Polis“ hier zugleich „Volksversammlung“ bedeutet – was wiederum zeigt, daß das politische Gemeinwesen sich in der Volksversammlung verkörperte –, so aber auch beim spartanischen Dichter Tyrtaios (Mitte 7. Jh. v. Chr.), zweitens „Damos“ (lakonische Variante, statt attisch-ionisch „Demos“)36, was von Hause aus „Land des Gemeinwesens“37 heißt. In den Jahrhunderten nach der Landnahme ist es nach und nach zu einer „wirtschaftlichen Deklassierung“ vieler Spartiaten gekommen, die daraufhin auch ihre politische Vollberechtigung38, die Zuhörigkeit zur Apella, der alt-überkommenen Volksversammlung, verloren haben, während sich das Schwergewicht der politischen Entscheidung im Lauf der Zeit vor allem in den Rat der Alten, in die­ gerousía verlagerte (Heuß, S. 151). Der Zugang zum Rat der Alten scheint mit der Zeit erblich geworden zu sein (S. 156). 36 Der Wortstamm De- steckt auch im Namen der griech. Göttin Demeter (an De- ist „mater“ angehängt), der Göttin (wörtlich:) des bebauten Landes (und von daher der Fruchtbarkeit). 37 Also auch hier etwa so, wie unsere Mediävisten das „Land“ in bezug auf mittelalterlichgermanische Gemeinwesen verstehen als das „durch das Landrecht geeinte Landvolk“ (Otto Brunner, in: Kämpf (1956 u. 1984), S. 15), „Land“ als Personenverband, der, indem Rechtseinheit, politisches Gemeinwesen ist (s. a. Mitteis, S. 49). 38 Vollberechtigung hatten ausschließlich die Einwanderer aus der Zeit der Landnahme (laut Kirsten, S. 125; Gründung Spartas als Vier-Dörfer-Gemeinwesen um 900 v. Chr.) und ihre Nachkommen, die „Spartiaten“, und das blieb auch so. Sparta hat immer auf scharfe Abgrenzung gegenüber den (abgestuft) Abhängigen geachtet, den Perioiken und den Heloten.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Nach der (langwierigen) Eroberung auch Messeniens, ab Ende des 8. Jh. v. Chr., fand die von den Spartiaten schon seit längerer Zeit offen verlangte „Wiederaufteilung des Bodens“ tatsächlich statt. Zwar nicht in den Details, aber doch im Prinzip kam es so etwa zu einer Wiederherstellung der Situation zur Zeit der Landnahme. – Die Apella wurde reaktiviert. Der Damos, das Gemeinwesen, wählte in der Apella seine Beamten (siehe nächsten Absatz) und hatte (wieder) das Recht der Entscheidung über Krieg und Frieden. – Die Mitgliedschaft im Rat der Alten kam jetzt durch Volkswahl zustande (S. 155 f.). Das spartanische Königtum, das – selbstverständlich, so kann man hinzu­fügen – ebenfalls im „Heerkönigtum der Wanderzeit“ wurzelte (S. 85), behielt auch für die Zukunft die Führung des Heeres im Krieg, wurde aber umgeformt. („Die Könige waren damit eher Beamte im Sinne einer Magistratur“ (S. 86).) Einzelheiten übergehe ich wieder. Neu geschaffen wurde, als Gegengewicht gegen die Könige, ein oberstes Exekutivgremium, die Ephoren, bestehend aus fünf Spartiaten, bei jährlich stattfindender Wahl seitens der Volksversammlung, der Apella (S. 157). Die in den beiden voranstehenden Absätzen genannten Versuche zur Wiederherstellung ursprünglich gegebener Zustände und die Neuerungen sind nicht in einem Zug erfolgt, sondern in einem längeren Zeitraum. Auch das brauchen wir nicht im einzelnen, ebensowenig wie die Diskussionen unter Althistorikern über die Große Rhetra. Wohl aber will ich noch erwähnen, daß der König der Spartaner, ähnlich wie der der Molosser, auch außerhalb der Entscheidung der Volksversammlung, sozusagen auf eigene Faust (Bringmann, 1980, S. 474, spricht von „Freischärlerexpeditionen“) Krieg führen konnte, gestützt auf „seine Gefolgsleute“, im übrigen aber, indem er – wie im Fall des Kleomenes – „auf der ganzen Peloponnes“ ein Heer zusammenbrachte. (Entsprechendes begegnet uns auch in Kapitel B. I.1.b).) Jetzt zu den Altgriechen und ihrer Agora. Wir wissen: Die Althistoriker können von sich aus nichts aussagen über die Gruppen, die um 2 300 v. Chr. ihre Siedlungsgebiete vom makedonischen und thessalischen Raum (in den sie wohl um 3 000 eingedrungen waren) nach Mittelgriechenland und auf die Peloponnes ausgedehnt hatten. Schriftliche Quellen dazu aus jener Zeit sind jedenfalls bis jetzt nicht bekannt. Die Vorgeschichtswissenschafter haben anhand ihrer Quellen ermittelt, daß es sich um Populationen handelte, deren archäologisch erfaßte­ Merkmale (siehe weiter vorn, bei Hiller) eine Herkunft von nördlich der Balkanhalbinsel belegen. Sie sagen uns außerdem, daß „in der mittleren Phase der Frühen Bronzezeit (FH II)“, also vor dem Auftreten jener neuen Populationen, „die Besitzunterschiede größer und der Lebensstandard höher als in der folgenden FH-III-Periode“ gewesen sind (Welwei, S. 22, mit Belegen auf S. 20 f.). Anders ausgedrückt, bei den neuen Populationen gab es weniger Unterschiede, der Lebensstandard war vergleichsweise einfach. Die neue Bevölkerung wirtschaftete in der Hauptsache bäuerlich. Unter den Fachleuten besteht im wesentlichen Übereinstimmung darin, daß jene Einwanderer bereits Griechen (oder Proto-Griechen)

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

waren. Wie die Gemeinwesen der Einwanderer organisiert waren, ist an den Funden und Befunden der Archäologen nicht abzulesen. Dennoch können wir in der uns interessierenden Sache etwas sagen. Weil die Volksversammlung auf keinen Fall „ägäischen“, vor-griechischen (oder vor-protogriechischen) Ursprungs sein kann – es gibt dort, wie wir sahen, kein autochthones System, das derart organisiert war,39 und die ebenfalls indogermanischen Hethiter (siehe Kapitel B.I.1.d)) sind offenbar nicht früher in Kleinasien eingewandert als die Griechen auf die Balkanhalbinsel –, weil aber die dorischen und nordwest­ griechischen Zuwanderer von nach 1 100 v. Chr., wie gezeigt, nicht in den ­Osten Thessaliens und den Osten Boiotiens und nicht nach Attika und Euböa eingedrungen sind, diese Teile Griechenlands also „achaiisch, das heißt altgriechisch“ geblieben sind (Heuß, S.  73), gerade aber dort die Volksversammlung unter dem­ Namen Agora überliefert ist, bei den Dorern dagegen unter dem Namen Apella, ist die Verkörperung auch der frühen altgriechischen Gemeinwesen in der Volksversammlung, in der Agora, bereits aus diesen Gründen praktisch sicher, müssen 39

Weil vom Titel her zunächst vielversprechend, will ich Franz Tritschs 1932 aus Anlaß seiner Darstellung der Ergebnisse der österreichischen Ausgrabungen im Bereich der Agora von Elis publizierten vergleichenden Überblick zum allgemeinen Thema Agora besprechen: „Die Agora von Elis und die altgriechische Agora“ (Vortrag schon 1930). Dieser Überblick bringt uns in bezug auf unser Thema leider nicht voran. Zwar hat Tritsch richtig gesehen, daß die Agora in Homers Epen eine große Rolle spielt, worauf er meint, in den von Homer dargestellten Ereignissen zeigten sich die „ersten Anfänge“ (S. 84) der griechischen Agora. (Wir wissen inzwischen – siehe weiter oben –, daß wir hier weit über Homer hinaus zurückdenken müssen.) Nicht konsequent stellt Tritsch dann aber doch Überlegungen darüber an, von wo im Orient die Griechen die Agora übernommen haben könnten. Daß er in die Richtung, in die er dann denkt, überhaupt denken kann, liegt nicht zuletzt an der Unbekümmertheit und Ungenauigkeit, mit der er die Begriffe „öffentlicher Platz“ und „Bürger“ verwendet. Der „religiöse Platz beim Tempel“ und der „Platz vor dem Tore des Palastes“ (S. 90) in Ägypten sind gerade nicht „öffentliche“ Plätze. Der Platz auf der Innenseite der Mauer hinter dem Torturm der Despoten-Residenzstadt der vorderasiatischen Herrscher ist ebenfalls kein „öffentlicher“ Platz, auch wenn dort „alle Marktgeschäfte, Käufe und Verkäufe, Vermietungen usw. geregelt“ wurden, „der Sitz eines Gerichtes“ war „und auch eine Art Treffpunkt für alle Stadtbürger“ (S. 91). Nichts davon war Öffentlichkeit, auch nicht das Gericht. Keiner dieser vorderasiatischen Stadtbewohner war ein „Bürger“. Das waren zur Devotion Verpflichtete, und wenn sie es daran fehlen ließen, setzte es die Peitsche. Auf den Seiten 92–103 läßt Tritsch uns sehen, wo seiner Ansicht zufolge der Ausgangspunkt für die griechische Agora zu finden sei. Zwar sagt er (S. 92) noch: „Mit der Agora haben alle diese Formen von Plätzen [Ägypten und Vorderasien; siehe oben] kaum etwas gemein“. Im unmittelbar folgenden Satz wird aus dem „kaum“ jedoch schon mehr: „Es sind bestenfalls Vorstufen“. Danach zeigt Tritsch die – vermeintlich – nächste Vorstufe, in den minoischen kretischen Städten: „Ich glaube, daß sie eher die Vorläufer der griechischen Agora zu nennen sind“ (S. 92). (Überhaupt „arbeitet“ Tritsch immer wieder mit „ich glaube“ und immer wieder mit Fangfragen, zuweilen mit ganzen Batterien von Fangfragen. Danach geht es kreuz und quer durcheinander. Schlimm ist z. B. S. 103, Fußn. 62, grotesk der zweitletzte Satz dort, wo „gerade für die Entstehungsgeschichte der Agora“ die „Hörigkeit“ der griechischen Bauern charakteristisch sein soll. – Im übrigen: Wenn es auf Kreta Agora gegeben hat, kann sie, ebenso wie die auf dem Festland, nur aus sehr früher griechischer (allenfalls „proto-griechischer“) oder eher noch luwischer Tradition stammen. Auf Kreta komme ich am Ende dieses Kapitels zurück.

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auch die altgriechischen Gemeinwesen die Volksversammlung schon mitgebracht haben. (Daß es in jenen nicht-dorischen und nicht-nordwestgriechischen Gebieten nicht doch auch noch andere Namen für die Volksversammlung als Agora gegeben hat, ist damit nicht gesagt – wir kennen die Namen dafür ja nicht in jedem Fall –, es kommt aber auch nicht darauf an.) Was Athen betrifft, ist allerdings nicht jene Agora für unser Thema relevant, deren Areal heute noch an Ort und Stelle besichtigt werden kann. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sage ich zunächst kurz etwas auch zu dieser „neuen Agora“ und zur Volksversammlung der solonischen und der sogenannten klassischen Zeit. Die jüngere Agora, nordwestlich der Akropolis gelegen, ein Areal zwar für öffentliche Gebäude, aber gerade nicht mehr für die Volksversammlung jener Zeit, ist bestenfalls ein Sekundärphänomen. Der Bereich, in dem die (neue)  Agora sich befand, war in mykenischer Zeit (Spätbronzezeit) und auch noch in der Zeit nach der Dorischen und Nordwestgriechischen Einwanderung, und das dann etwa von 1 000 bis 800 v. Chr., als Friedhof genutzt worden (Camp, S. 27 und S. 33) und, etwa von 1 000 bis 600 v. Chr., auch zur Besiedlung (S.  37). Erst später, vermutlich früh im 6.  Jh., ist dort das erste der öffentlichen Gebäude errichtet worden (S. 44). Die Ausweitung des öffentlichen Teils kam „im 2. und 3. Quartal des 6. Jhs. nach Osten und Süden“ in Gang (S. 46). – Ein Sekundärphänomen wie die neue Agora ist auch die mit der Solonischen Reform entstandene athenische/attische Volksversammlung, die ihren Platz an den Hängen der Pnyx, etwa 400 Meter südwestlich der neuen Agora hatte (Camp, S. 100). Sie ist ekklēsía genannt worden. Abgesehen davon, daß wir seitens der Alt­ historiker wissen, daß für Athen der Name aus solonischer Zeit stammt, kommt er in den Belegen, die im Pape zusammengetragen sind, danach erst bei Thukydides vor, dann bei Platon, nach diesem bei vielen anderen. Z. B. ist die koinē´ ekklēsía (Bundesversammlung) der Akarnanen für 314 v. Chr. belegt (Franke, S. 34, Fußn. 150). „Ekklesia“ ist eine die Grundidee des Politischen eher verstellende Bezeichnung. (Die Mitglieder dieser Volksversammlung waren, vom Wortsinn her, die von einer Art Herold „Herausgerufenen“.)  – „Solon hatte auf der Grundlage seines Zensus [Einzelheiten bei Heuß, S. 169] ein neues aktives Bürgerrecht geschaffen. Der Kreis der von ihm Erfaßten mußte sich nun auch irgendwie konstituieren. Er tat dies in der Volksversammlung, der ekklēsía, welche die Wahlen der Beamten vornahm, Beschlüsse faßte und, sofern diese einen vorgebrachten Rechtsfall betrafen, auch Urteile fällte“ (Heuß, S. 170). Daß jetzt eine andere Bezeichnung (S. 156: ein „neumodischer Ausdruck“) für die (neue) Volksversammlung geprägt wurde, welche die dem alten Namen zugrundeliegende Idee nicht mehr erkennen läßt, liegt an der Sache. Die alte Ordnung war verlorengegangen und unter den veränderten Verhältnissen auch nicht mehr im Sinne der Grundidee des Politischen wiederherzustellen. (Ich komme in Kapitel B. I.8. darauf zurück.)

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Athen besaß jedoch – und das ist für unser Thema wichtig – schon in alter Zeit eine Agora. Wo sie zu lokalisieren ist, ist zwar umstritten, Schnurr hat in „Die alte Agora Athens“ immerhin plausibel einen Vorschlag zur Lokalisierung gemacht. Jedenfalls ist bei Apollodoros die archaía agorá ausdrücklich genannt. Ich bringe – das wird für unsere Zwecke genügen – noch ein zweites Beispiel für eine Agora von mindestens um 700 bis frühes 7. Jh. v. Chr., also ganz sicher aus einer Zeit vor der Demokratie in Athen. Hesiod, „ein Mann (spätestens) der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts, vielleicht sogar ein Zeitgenosse des Odysseedichters“40 (Heuß, S.  125)  – was dann „um 700 v. Chr.“ bzw. sogar noch Ende des 8. Jh. bedeuten würde –, der in Boiotien, und zwar in Askra, lebte, erwähnt die Agora des Gemeinwesens, zu dem er selbst gehörte.41 Auch hier erfahren wir, daß die altüberlieferten Institutionen inzwischen korrumpiert waren; Hesiod schätzte die Agora, die auch für Askra zuständig war, schon sehr negativ ein (Erga, I, 29 f.), wegen der von ihm im konkreten Fall beschriebenen Mißstände, hier Rechtswillkür und Bestechlichkeit der Richter. Athen und Thespiai waren nicht Einzelfälle. Die Krise der alten Ordnung42 hatte viele Poleis erfaßt. Es gab Bemühungen zur Überwindung der Krise; Meier (31995, S. 88 und 91) meint, an manchen Orten hätten sie schon früher eingesetzt als in Athen, der bei weitem bekannteste Versuch war dann aber der athenische. (Auch darauf komme ich in Kapitel B. I.8. zurück.) Anhand der Vorgeschichtsfunde ist zu erkennen, daß sich nach und nach im Lauf der Jahrhunderte nach dem Vordringen der Altgriechen nach Mittelgriechenland und in die Peloponnes „ein differenzierteres Sozialgefüge“ (Welwei, S. 24) herausgebildet hat, in – so vermutet der Autor – durchaus noch „mehr oder weniger eigenständigen dörflichen Gemeinschaften“ (S. 24), daß es bis zum späten 17. Jh. v. Chr. zu sozial schon „stratifizierten“ Gemeinwesen gekommen sei, bestehend „aus mehreren ‚Strata‘ mit unterschiedlichem Status und verschiedener Lebensweise“ (S. 25), daß das minoische, – wie Welwei meint – bis ins 15. Jh. v. Chr. nichtgriechische43 Kreta auf das Festland eingewirkt hat und woran das erkennbar ist (S. 30 ff.), wie sich in Mittelgriechenland und auf der Peloponnes ein „Sy­ stem größerer Machtzentren“44 (S.  27) herausbildete, wie das mykenische Zen 40 Manche Literaturwissenschafter nehmen an, daß „Ilias“ und „Odyssee“ nicht vom selben Autor stammen. Das ist hier nicht im einzelnen zu erörtern. Sicher ist jedenfalls, daß die Zeit der Abfassung der „Odyssee“ deutlich später liegt als die der „Ilias“. 41 Walter Marg sagt im Rahmen der von ihm besorgten Übersetzung, „Hesiod. Sämtliche Gedichte“ (21984, Darmstadt), einleitend zu „Der Dichter“ (S. 8), es sei offenbar die Agora von Thespiai gemeint. 42 Dazu Heuß, S. 137–146; Christian Meier (31995), S. 56, 60–64, 68 f., 71 u. 101. 43 Dazu siehe ab dem übernächsten Absatz. 44 „Macht“ ist auch hier, wie üblich, in vordergründigem Wortverständnis gebraucht – was ich thematisch aber noch auf sich beruhen lasse (s. Kap. B. I.3.).

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trum zumindest kulturell an die Spitze dieser Zentren rückte (S. 25 ff. u. 30 f.), daß „die Herren der großen Paläste … im 14. und 13. Jahrhundert die dominierenden Machtfaktoren44 … bildeten“ (S. 36), daß „in einigen anderen Bereichen des mykenischen Kulturkreises, in denen keine eindeutig dominierenden Machtzentren44 zu erkennen sind, kleinere Herrschaften ihre Selbständigkeit behaupt[et]en“ (S. 38). Das in diesem Satz Gesagte paßt gut zu dem weiter vorn Dargestellten. Auch wenn es mir im wesentlichen nur um das mit der Volksversammlung von Hause aus gegebene Grundverständnis des politischen Gemeinwesens geht, muß ich doch darauf eingehen, daß sich sowohl schon einmal im vordorischen Griechenland als auch noch einmal in der Epoche danach, hier z. B. in Sparta – das kennen wir schon: – bis vor der Eroberung Messeniens bzw. in Athen bis in die solonische Zeit, die praktische Bedeutung der Volksversammlung verringert hatte, als Folge starker Veränderung der sozialen Verhältnisse. Ich muß deshalb darauf eingehen, weil es bei Althistorikern eine weit verbreitete Fehleinschätzung hinsichtlich der Entstehung und des Wesens des Politischen bei den Griechen gibt, die kritisch zu betrachten ist. Das kann aber erst in Kapitel B.I.8. geschehen, nachdem zuvor die Herkunft des Politischen hinreichend belegt worden ist. Zum Abschluß dieses Kapitels bringe ich einige Kreta betreffende Sachverhalte probeweise in einen Zusammenhang. In Knossos, einem Hauptort auf Kreta während der Minoischen Kultur, aber auch entsprechend in anderen kretischen quasi regionalen Vor-Orten, gab es als Zentrum der Siedlung den – so heißt das auf deutsch in der Literatur45 – „großen Zentralhof“ oder „Großen Hof“, mit Pflasterung, wie hervorgehoben wird. Was hier, den Blick verstellend, „Hof“ genannt wird, ist in Wirklichkeit ein großer freier Platz. Dieser sollte, meine ich, zumindest probeweise, für volksversammlungsplatz-verdächtig gelten. Es ist schon vor längerer Zeit aufgefallen, daß es in der „minoischen Kultur“ Kretas keine Tempel sui generis gegeben hat. Das paßt aber schlecht in ägäische Religiosität. Marinatos (S. 156) verzeichnet den Tatbestand heute noch genau so: „Das palastzeitliche Kreta kannte keine monumentalen Tempel. Angesichts der Tatsache, daß … [in] der Mittleren und Späten Bronzezeit überall im Nahen ­Osten und in Ägypten die Tempelkulte in Blüte standen, stellt dieser Umstand ein Paradoxon dar“. Das aber könnte nur gelten, wenn schon ausgemacht wäre, daß die „minoische Kultur“ eine „ägäische“ i. S. v. nicht-indogermanische Kultur war. Marinatos sagt, das Paradoxon – ich füge hinzu: w e n n es eines ist – lasse sich nur befriedigend lösen, wenn man annehme, die „Paläste“ (dazu nachher mehr) hätten „zugleich als Kultzentren fungiert“. Die Schlußfolgerung ist nicht zulässig, ganz unbeschadet des Umstands, daß in sogenannten Palästen Gefäße gefunden

45 Müller-Karpe, Bd.  III, Teilbd.  II, Regest 183, S.  889: „Bereits in der ältesten Palastschicht war ein im W gelegener Hof [der „große Zentralhof“] gepflastert.“

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worden sind, die als „Kultgefäße“,46 und daß Wandmalereien Vorgänge wiedergeben, die als Kulthandlungen bezeichnet werden. Selbst wenn die Bezeichnung zu­ treffend ist, gilt, daß es in den Siedlungen keine Tempel sui generis gegeben hat, wohl aber, und dies auch noch in der Zeit der neuen „Paläste“, Heiligtümer in freier Natur, nicht zuletzt „auf Berggipfeln“ (S. 159), so auf dem Berg Ida (s. a. M ­ addoli, S. 115). Das aber paßt in indogermanische Zusammenhänge. Es gibt solche Heiligtümer in freier Natur bei den Festlandsgriechen, z. B. auf dem Olymp (Sitz der Götter), und bei den Germanen, z. B. in heiligen Hainen. – Die Tempel, die die Festlandsgriechen in klassischer Zeit hatten, sind nicht originär griechisch, sie gehen auf Einflüsse von nichtindogermanische Sprachen sprechenden Trägern orientalischer Kulturen47 zurück. „Auffallend ist, daß es in der ganzen kretischen Kunst einschließlich der großen Fresken an den Palastwänden keine einzige Darstellung gibt, die man mit Sicherheit als Darstellung eines minoischen Königs48 erklären könnte. Dem entspricht, daß in den Fresken … als beliebtes Thema Volksfeste dargestellt sind, die sich offenbar im großen Palasthof abspielten und denen die Hofgesellschaft neben dem Volk beiwohnte. Man spricht daher auch von einem gewissen ‚demokratischen‘ Zug des minoischen Königtums, der auch darin zum Ausdruck kommt, daß der große Zentralpalast von Knossos in gar keiner Weise von der umliegenden Stadt abgesondert ist. Andererseits zeigen diese Fresken auch lange Reihen von Männern, die kostbare Gegenstände tragen, also diese offenbar dem König als Geschenke, Steuern oder Tribute darbringen“ (Ernst Meyer, Einführung, S. 57).

Was Meyer hier wiedergibt, paßt zu dem vorher Gesagten sehr gut und ganz besonders dann, wenn wir einige von Meyers Begriffen in Frage stellen, die auf verschiedene Weise aus viel jüngerer Zeit genommen sind und bei denen wir in einigen Fällen sogar sicher wissen, daß sie ganz bestimmt nicht in die minoische Kultur passen können – so wie uns Althistoriker bislang diese Kultur beschrieben und hergeleitet haben –, in anderen Fällen nicht, ob und, wenn überhaupt, ab wann später. 46 So etwa der Kernos aus dem „Palast“ von Mallia, eine große irdene Opferschüssel mit kleinen Vertiefungen, in denen bei den Mysterien der Korybanten (Ritualtänzer im Gefolge der Kybele, der Göttin der Erde, der Fruchtbarkeit), soweit man weiß, verschiedene Früchte dargebracht wurden (Matthäus, S.  66, Abb.  58).  – Es geht auch nicht an, daß Marinatos (S. 157) sagt, die minoischen „Paläste“ hätten „eine ähnliche Funktion besessen … wie die Tempel des Alten Orients“, und dabei die „ägyptischen Pharaonen und ihre Gemahlinnen“ und die „mesopotamischen Herrscher“ in eine Reihe stellt mit den in indogermanische Zusammenhänge gehörenden „hethitischen Großkönigen und -königinnen“, ohne etwas darüber zu sagen, ab welcher Zeit und damit mit wieviel nicht-indogermanischem Einfluß zu welcher Zeit s p ä t e r auf die Hethiter gerechnet werden muß. 47 „Es gibt … Indizien dafür, daß er [= der „starke Einfluß der orientalischen Literatur und Mythologie auf das frühe Griechenland“] bereits im 2. Jahrtausend durch hethitische Vermittlung begonnen hat“ (Niemeier, S. 299, dort auch die Quellen). 48 Wenn Marinatos (S. 157) die zu einem größeren Fresko gehörende weibliche Figur (die schon seit langem im Stil journalistischer Schlagzeilen als „Pariserin“ bezeichnet wird) als „eine der Teilnehmerinnen eines kultischen Banketts, vielleicht sogar [als] eine Königin oder Göttin“ benennt, haben wir wieder nichts als Vermutungen ohne Belege, außer daß die Abbildung die Annahme sehr nahelegt, die Abgebildete sei keine Bäuerin.

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Zunächst „König“: Ob die Kreter überhaupt und, falls ja, ab wann „Könige“49 gehabt haben oder ob sie die Benennung ihrer Anführer als „Könige“ seitens Dritter (dann wohl aus dem nichtgriechischen Ägäischen oder vom Nil oder dem Zweistromland) lediglich h i n g e n o m m e n haben, ist unbekannt. Monarchen hatten sie auf keinen Fall. Meyer selbst (S. 56) muß sagen: „Wie dieses minoische Königtum beschaffen war, wissen wir nicht.“50 Es gibt deshalb im bei Meyer Folgenden nur Vermutungen, Annahmen und Göttersagenhaftes. Das muß beiseite bleiben. – Wohl aber ist gut belegt, daß es auf Kreta zwar viele sozusagen in einer Hinsicht kleinere Einzelgemeinwesen, in anderer Hinsicht Gliedgemeinwesen gegeben hat, die (dann) zusammen ein Gesamtgemeinwesen51 der Kreter gebildet haben, mit Knossos als Mittelpunkt des Ganzen52 (S. 57). Dann „Hofgesellschaft“: Historisch zu belegen ist das Konkretum „Gesellschaft“ frühestens am Hof/Gehöft des germanischen Anführers für vergleichsweise frühe Zeit. (Tacitus beschreibt es; siehe im folgenden Kapitel und besonders in B.III.1.a).) Es gibt das konkret auch im abendländischen Mittelalter am Hof des Königs und auf (immer noch vergleichsweise höheren) Ebenen d a r u n t e r , danach in der europäischen Neuzeit (siehe die Kapitel B.III.1.b)–B.III.1.h)). – Die Begriffe Gesellschaft bzw. Hofgesellschaft (also „Gesellschaft am Hof des …“ bzw. „höfische Gesellschaft“) sowie „gesellschaftlich“ sind nicht beliebig verwendbar, und die Vokabel „gesellschaftlich“ kann nicht einfach, gemäß Belieben dort eingesetzt werden, wo in Wirklichkeit nicht mehr als „sozial“ stehen dürfte (siehe Kapitel A.IV., dort, wo es um Soziologie geht). Auch die hier genannten Begriffe sind zunächst an ihre Zeit gebunden und müssen aus ihr heraus begriffen werden. Erst wenn gezeigt werden kann, daß es das besondere Phänomen einer bestimmten Zeit, hier „Gesellschaft“, auch anderswo im Wesentlichen in gleicher Weise, das heißt mit den gleichen Wesensmerkmalen gegeben hat, dürfen wir den Begriff als „gelehrten“ Begriff auch nach dort übertragen. Das gilt hier ebenso wie für das im ersten Absatz dieses Kapitels in bezug auf „politisches Gemeinwesen“ Gesagte, bloß daß wir im Fall minoischer Gemeinwesen über „Hof“ und über „Gesellschaft“ gar nichts wissen. 49

Dazu siehe auch Fußn. 34 in diesem Kapitel. Wenn ich nicht weiß, wie etwas „beschaffen“ ist, kann ich auch über die Existenz dieses Etwas, hier des „Königtums“, nur wissen, wenn z. B. Dritte von diesem Etwas als existent gesprochen haben, ohne zu sagen, was es (wie es „beschaffen“) ist. Dann aber brauchen wir quellenkritische Klärung besonders strenger Art darüber, ob und inwieweit jene Dritten das Phänomen und mit dem von ihrer Seite genannten Namen überhaupt und wie zutreffend erfaßt haben. 51 Im Fall der hier zwar sehr großen Insel waren die Außengrenzen (überall das Meer) doch wohl immer im Bewußtsein der Inselbewohner. 52 Was keineswegs schon heißt, „daß ganz Kreta als ein einheitliches Reich unter der Herrschaft des Königs von Knossos stand“ (S. 57). Meyer geht auch hier leichtfertig mit den Begriffen um: Vom Königtum wissen wir bekanntlich nichts, nichts, was Herrschaft konkret heißt, nicht, ob Kreta ein „einheitliches Reich“ war, und nichts, was dann „Herrschaft des Königs von Knossos“ heißen würde. 50

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Jetzt zu „demokratisch“: Dieser Begriff ist in bezug auf kretische Gemeinwesen der Zeit der minoischen Kultur auf jeden Fall unhistorisch. „Demo-kratie“, als „Herrschaft“ jetzt eine solche des „Volkes“ (soweit sie das tatsächlich war),53 gab es erst grob ab etwa 500 v. Chr. in Griechenland, in Athen. Das, was Meyer (oben) für Kreta gesagt hat, läßt nicht erkennen, ob dort das Volk oder sonstwer überhaupt „geherrscht“ hat, spricht lediglich eher dafür, daß die – um einen möglichst unvorbelasteten Begriff zu nehmen – Anführer der Kreter von den sozusagen normalen Gliedern des Gemeinwesens nicht in dem Sinn getrennt waren, daß es „Standesunterschiede“ gegeben hätte. (Zu solchen siehe weiter vorn an verschiedenen Stellen in diesem Kapitel, außerdem in B. I.1.b) und B. I.8.)) Das ist etwas anderes als Demokratie.54 Nun zur bildlichen Darstellung von „Geschenke, Steuern und Tribute darbringen“, darbringen angeblich dem „König“, den wir folglich wieder beiseite lassen: Daß es auf den Fresken um „darbringen“ geht, steht außer Zweifel. Wie aber Meyer will sehen können, was da „Geschenke“, was „Steuern“ und was „Tribute“ sind, kann ich nicht nachvollziehen. Ich schlage deshalb vor, den Inhalt des bildlich Wiedergegebenen versuchsweise mit einem Sachverhalt in Verbindung zu bringen, den wir bezeichnenderweise wiederum von den Griechen55 her kennen und den uns Meyer (Einführung, S. 63) wie folgt beschreibt (wobei wir uns auch hier – siehe Fußn. 34 – nicht auf „König“ festlegen lassen): „Das Volk ist verpflich 53 Der athen. Historiker Thukydides (460/455 bis um 400 v. Chr.) dazu: „… dem Worte nach eine Herrschaft des Volkes, in der Tat aber eine Herrschaft, geübt von dem ersten Mann“, nämlich Perikles (gem. Chr. Meier, 31995, S. 247 mit Fußn. 1, der auf das 65. Kap. im II. Buch der „Gesch. d. Pel. Krieges“ verweist und der dort hinzufügt:) „Der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß in der Gewährung weitgehender Mitsprache und in der Heranziehung auch des Kleinen Mannes zur Bekleidung der – eben dazu vermehrten – Ämter, zu Rat und Volksgericht eine gewisse Vorspiegelung falscher Tatsachen mit intendiert war: Indem die Bürger das Gefühl hatten, die Politik zu machen, konnte Perikles sie um so besser lenken.“ 54 Sogar bei Homer, der doch primär über seine „Helden“ und konkret nur wenig über das Volk schreibt, sieht das so aus, wie Meyer (Einführung, S. 62) zutreffend aus verschiedenen homerischen Textstellen zusammenzieht: „Die homerischen Helden sind stolz darauf, daß sie die Gegenstände ihres Haushalts und sogar die Schiffe, auf denen sie fahren, selber zimmern können, auch die Königin [zu „König“ siehe Fußnote 34] sitzt mit ihren Mägden selber am Webstuhl, und Nausikaa [„Königs“ Tochter] fährt selber an den Fluß, um mit den Dienerinnen die Wäsche zu waschen.“ 55 Wir werden sehen (Kap. B. I.1.b)), daß es im indogermanischen Bereich auch außerhalb Griechenlands ebensolches gibt. Hier nur soviel: Tacitus erwähnt um 100 n. Chr. die den germanischen Anführern (principes) seitens aller freiwillig, aber gemäß altem Brauch, dargebrachten Ehrengeschenke (Vieh und Getreide) zur Deckung des damals noch bescheidenen Bedarfs „des princeps und seines Hauses“. Gleiches finden wir noch sechs bis sieben Jahrhunderte später bei anderen Germanen wieder, hier den Franken: „Ehrengeschenke“ jetzt reicher und größeren Umfangs, immer noch auf der Linie des von Tacitus Beschriebenen: Freiwilligkeit des Bei-steuerns (im Ursprungssinn von stiure), folglich nicht Merkmal von Unfreiheit, anders als die aus dem römischen Reich überkommene, von den Historikern fälschlich „Kopfsteuer“ genannte Zwangsabgabe – für Germanen, hier die Franken, Merkmal der Unfreiheit, folglich nicht hinnehmbar.

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tet, an die [gemeint ist: zur Bestreitung der] Kosten des königlichen Haushalts und dessen Ehrenverpflichtungen und für sonst notwendig werdende größere Aufwendungen durch ‚Geschenke‘ an den König beizutragen.“ Schließlich zu „Palast“: Das Wort ist uns in der für uns relevanten Hinsicht aus der Anfangs-Phase der römischen Kaiserzeit überkommen. Das namengebende „Palatium“ war zunächst nichts anderes gewesen als einer der sieben Hügel, am Ostknie des Tibers.56 Wegen der Höhenlage und weil dann Forum und Kapitol ganz in der Nähe waren, ist dieser Hügel ein sehr beliebtes Wohnviertel der römischen Aristokratie geworden. Kaiser Augustus hat dort ein Haus gekauft und es unter anderem um das prunkvoll gestaltete Apollo-Heiligtum erweitert. Der Komplex, Kern der römischen Kaiserwohnungen auch für die Nachfolger des Augustus, ist später immer mehr erweitert worden und umfaßte schließlich das ganze Viertel des Hügels Palatium. Dieser Komplex blieb offiziell noch bis ins 6. Jh. n. Chr. Kaiser-Residenz in Rom. (Wir brauchen diesen Sachverhalt noch einmal auf der Hauptlinie unserer Überlegungen in Kapitel B.II.1.a).) – Im Laufe der römischen Kaiserzeit sind die palatia immer prächtiger geworden. Gemeint sind hier die kaiserlichen Residenzen im strengen Sinn, also ohne die vielen Präfekten- und Präses-Prätoria, die es in jeder Provinz des römischen Reichs jeweils an deren Hauptort gab und wo der Kaiser lediglich Wohnung nahm, wenn er unterwegs war. Die Sitze vorderasiatischer und ägyptischer Herrscher, deren Reiche die Römer nach und nach unterworfen haben, in ihrer Art von Reich zu Reich sehr verschieden, haben auf Ausgestaltung und Organisation des römischen kaiserlichen palatium eingewirkt.  – Historiker, Althistoriker, Vertreter der Altertumswissenschaften, der Klassischen Archäologie und Bauhistoriker haben all diesen Gebäudekomplexen der Sitze von „Herrschern“ oder von angeblich Herrschern nicht nur der Jahrhunderte der Römerzeit im Mittelmeer-Raum und seiner Umgebung, sondern auch für viel weiter zurück im Altertum, für Altbabylon und Assyrien, für das HethiterReich, für Persien der Achämeniden- und der Sassanidenzeit, aber auch für Knossos und andere Orte auf Kreta sowie für Mykene und andere Gemeinwesen auf dem griechischen Festland, schließlich für Indien und China, den Namen Palast gegeben (entsprechend in den anderen Sprachen) und so zum Teil sehr Verschiedenes, zum Teil zu wenig bekannt Verschiedenes unter e i n e n Begriff gebracht. Solche Subsumption birgt nicht nur die Gefahr, daß wir möglicherweise gegebene elementare Unterschiede in bezug auf das, was dann alles „Palast“ genannt wird, übersehen, sondern auch, daß wir uns – nicht allein, aber doch auch von hier her – das Verständnis des Wesentlichen sehr verschiedener Systeme verbauen. Es muß mehr differenziert werden.  – Ob die umfangreichen, mit viel Aufwand errich­ teten Gebäudekomplexe beim großen freien Platz in Knossos57 überhaupt als „Palast“ im Sinne von Herrscher-Sitz bezeichnet werden dürfen, wissen wir wiederum 56

Archäologisch belegt ist dort kontinuierliche Besiedlung seitens der Latiner ab dem 10. Jh. v. Chr. 57 Übrigens auch die großen zentralen Gebäudekomplexe in Mykene und in den Vor-Orten der anderen Gemeinwesen des griechischen Festlands.

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nicht. Das, was wir tatsächlich für Knossos wissen, weist sogar eher in eine andere Richtung. „In allen [seitens der Althistoriker usw. sogenannten] Palästen befinden sich ausgedehnte Magazine, in deren vielen Kammern und Räumen riesige Vorratsgefäße und in den Boden versenkte Behälter der Aufbewahrung großer Mengen von Nahrungsmitteln und anderen Dingen dienten. Die kretischen Paläste sind also auch zugleich [offenbar vor allem] Zentren des Wirtschaftslebens und Handwerks gewesen, da diese Vorratsräume zu groß [zu sein] scheinen, um nur den Bedürfnissen des königlichen Haushalts zu dienen“ (Meyer, S. 58). „Palast“ war in Knossos also in Wirklichkeit etwas wesentlich anderes als der Palast von Kaiser Augustus auf dem Palatin in Rom. Statt schnell das Etikett „Palast“ aufzukleben, sollten wir auch die Möglichkeit offenlassen, daß das kretische Gemeinwesen in seiner Insel-Lage mehr charakteristische Merkmale der Zeit der Einwanderung (aus Anatolien?) trotz wohl vieler Kontakte „über See“ sogar besser bewahrt hat als viele Gemeinwesen des griechischen Festlands. In denselben Zusammenhang, in den ich die genannten auffälligen Sachverhalte probeweise zu stellen vorgeschlagen habe, gehört auch, was Maddoli (S. 114) über die Herkunft der minoischen Kultur Kretas sagt: „Wahrscheinlich stammen die Anfänge dieser Kultur … aus Anatolien, besonders aus dem Umkreis der Luvier.“ Deren Sprache, Luwisch, gehört mit Hethitisch, Palaisch und noch anderen zur anatolischen Gruppe der indogermanischen Sprachen (Wilhelm, S. 47 f.). Der im Süden Kretas gefundene noch nicht entzifferte „Diskus von Phaistos“ ist laut Maddoli (S. 115) vielleicht anatolischen Ursprungs. b) Germanien Angesichts der Ergebnisse der im voranstehenden Kapitel beschriebenen Untersuchungen und weil die dort ermittelte Organisation der frühen griechischen Gemeinwesen so viele Ähnlichkeiten mit dem zeigte, was wir von Caesar und vor allem von Tacitus58 über die germanischen Gemeinwesen wissen – und das ist vergleichsweise viel –, lag zu versuchen nahe, herauszubringen, was für die Germanen im Zentrum ihrer Gemeinwesen stand. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Die Ähnlichkeit der Organisation der griechischen und der germanischen 58 Die anderen lateinisch schreibenden Autoren (außer Tacitus und Caesar) siehe Heine (Hrsg.) (1991). Es gab auch griechisch schreibende, die einiges über Germanen oder Germanien gesagt haben; sie siehe in Heine (1992) sowie Prokops Schriften über den Gotenkrieg, dazu über den Vandalenkrieg noch einmal in einem anderen Band dieser Reihe. Die Durchsicht der beiden Bände mit Texten der griechisch schreibenden Historiker brachte für unsere Zwecke nichts. – In allen Fällen, auf die es besonders ankam, und immer dann, wenn ich einen Verdacht hatte, der Übersetzer könnte in für uns relevanten Hinsichten deutsche Begriffe verwendet haben, die auf die Verhältnisse der älteren Zeit noch nicht paßten, habe ich bei Caesar und Tacitus (und später auch bei Gregor von Tours und „Fredegar“) den lateinischen Text mit herangezogen.

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Gemeinwesen allein besagte hinsichtlich unserer Grundfrage noch nichts, außer daß ich es ebenso wie für Griechenland auch für Germanien probieren sollte. Das ist geschehen. Bevor ich das bringen kann, was uns letztlich thematisch interessiert, brauchen wir das Wichtigste erstens zum Namen „Germanen“, zweitens zur Vor- und Frühgeschichte, drittens zur Sprache der Germanen, also zum wissenschaftlich so genannten „Gemeingermanischen“ als Glied der indogermanischen Sprachfamilie, sowie viertens der Organisation der germanischen Gemeinwesen. Tacitus sagt in „Germania“, Kap. 2, der Name Germanen – so sei ihm berichtet worden – sei zuerst der Name eines Stammes gewesen, der den Rhein nach Westen überschritten, Gallier vertrieben und sich angesiedelt habe. Bei diesem Stamm handele es sich um jene Germanen, die zu seiner, des Tacitus Zeit, „Tungrer“ hießen. Das neue (etwa seit Augustus)59 Siedlungsgebiet dieser (eben später) „Tungrer“ lag um die mittlere Maas, um (heute) Tongeren in Belgisch Luxemburg. Es gab aber noch andere, schon zu Caesars Zeit linksrheinisch, im Raum von (heute)  Belgien und den Niederlanden siedelnde Germanenstämme,60 dazu viele andere auch rechtsrheinisch, im Mittelgebirgsraum. Jedenfalls, so Tacitus, seien die Namen Germanen und Germania danach seitens der Römer verallgemeinert61 und von den (dann) allgemein „Germanen“ Genannten akzeptiert worden. Tacitus’ These zur Herkunft des Namens wird, was den Kern der Hypothese betrifft, von der archäologischen Forschung angenommen: „Der Name ‚Germanen‘, der spätestens gegen Mitte des 1. Jh. v. u. Z. [offenbar links] am Niederrhein aufkam, meinte zuerst die Bewohner des nordwestlichen Mittelgebirgsraumes. Die archäologische Grundlage weist diese als Vorläufer der Weser-Rhein-Germanen aus“ (Peschel, 1989, S. 132). Jetzt zur Herkunft der Germanen, anders ausgedrückt, zu ihrer Vorgeschichte. Die weit ausgreifenden Hypothesen und Behauptungen aus der Zeit vor 1945 können wir beiseite lassen. Relevant wird die Diskussion zum Thema ab 1950 mit Rolf Hachmann und Gustav Schwantes. Die dann folgende Entwicklung der Diskussion gebe ich hier nicht wieder (dazu siehe Ament (1986), der seinerseits nun etwas „kelten-lastig“ ist). Die germanische Ethnogenese resultiert im wesentlichen aus dem Zusammenwachsen von vier Komplexen: 59

Bechert (1982), S. 52 u. S. 56, über die Aduatuker und die Tungrer. Von Caesar in „Bellum Gallicum“ (im folgenden B. G.) an mehreren Stellen genannt, wo er von „Germani cis Rhenum“ spricht, von Germanen, die, von ihm aus gesehen, „diesseits“ (links) des Rheins wohnten. Siehe auch Bechert (1982), S. 45 u. S. 52–56. 61 Von Caesar unter strategischen und anderen Gesichtspunkten dann aber verfälscht mit der Behauptung, „Germanien“ sei alles rechts des Rheins, „Gallien“, auf das Caesar römischen Anspruch erhob, alles, was links des Rheins liege. Sehr gut dazu Ament, S. 247 ff. u. S. 253 f.: Caesars Behauptung betreffend Grenze (Rhein) stimmte nicht im Norden, bei den Germanen, und auch nicht im Süden, bei Galliern/Kelten. Tatsächlich waren die Unterschiede gerade Unterschiede (abgestuft) von Norden nach Süden (siehe unten im Text, bei Ziff. 4), nicht solche von links und rechts des Rheins. Das paßte aber nicht zu Caesars Eroberungsabsichten. 60

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(1) Eisenzeitliche Kulturgruppen im Südteil Skandinaviens (nördlich der bei (3) genannten Jastorf-Gruppen siedelnd), Grundlage der – später – Nordgermanen. (2) Eisenzeitliche Kulturgruppen im östlichen Mitteleuropa (östlich der JastorfGruppen), Grundlage der – später – Ostgermanen. (3) Gruppen der Jastorf-Kultur i. w. S. oder des „Jastorf-Kreises“ (auch „JastorfFormengruppen“ genannt): Gesamtheit der archäologischen Gruppen, die in der Zeit von etwa 600 v. Chr. bis zur Zeitwende den Raum des – heute – Nordund Mitteldeutschland, ferner Jütlands und Fünens einnahmen. „Die Aller und der Unterlauf der Weser bilden die Grenze nach Südwesten“ (Ament, S. 249; dazu auch Keiling, 1989, Karte auf S. 148). „Die Jastorfkultur entstand seit dem 6.  Jh. v.  u.  Z. zwischen Weser und Oder auf der Grundlage der spätbronzezeitlichen Stammeskulturen“ in den im Absatz zuvor bezeichneten Gebieten. „In diesen Räumen gibt es zahlreich … Urnenfriedhöfe, die in der jüngeren Bronzezeit angelegt und [worauf es ankommt] kontinuierlich bis weit in die [nord- und mitteldeutsche] Eisenzeit hinein benutzt worden sind“ (Keiling, S. 147, mit Karte dort).

(4) Südlich an die bei (3) genannten Gruppen anschließend, sowohl im westdeutschen als auch im mitteldeutschen Mittelgebirgsraum, gab es zahlreich Populationen einer Kulturzone, die stärker als die bei (3) beschriebenen Gruppen seitens der Latène-Kultur der noch einmal weiter südlich siedelnden ethnisch keltischen Gruppen beeinflußt waren: Es gab auch bei ihnen z. B. einige befestigte größere Siedlungen, abgestuft entfernt in manchem ähnlich den großen keltischen Oppida (diese ihrerseits den Mittelmeerstädten etwas ähnlich). Es gab – für die Zeit von damals – modernere handwerkliche Produktionsformen als weiter im Norden. „Insoweit geht dieser Raum mit dem keltischen Kerngebiet konform. Unterschiede gibt es vor allem in der Bestattungssitte. Man war zwar am Ende der Mittellatènezeit zur Brandbestattung übergegangen, hatte aber an der herkömmlichen Beigabensitte wie überhaupt an ritueller Beisetzung festgehalten. Demzufolge sind die spätlatènezeitlichen Gräber der Mittelgebirgszone am Rhein üppig mit Tongefäßen, ferner mit Waffen und anderen Dingen versehen, anders als etwa in Süddeutschland“ (Ament, S. 249). Das aber ist genau das für die bei (3) genannten Gruppen Charakteristische, und es kennzeichnet die hier bei (4) beschriebenen Gruppen als (im übrigen stark latènisierte) den Jastorf-Populationen wohl eher verwandte Gruppen. Gleiches wie für den rheinischen Raum gilt für den mitteldeutschen cum grano salis. (Betr. Einflüsse von Süden bei der Herausbildung der Jastorf-Kultur siehe auch Lars Fischer, bes. S. 421 f.) Bei den Sprachgruppen sieht es so aus: Germanisch, zweifellos schon von Anfang an mit Mundarten, war, wie wir wissen – ich lasse das aber in bezug auf Einzelheiten beiseite – noch zu Caesars und des Tacitus Zeit, vielleicht sogar bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit, bei den Germanen hinreichend gemeinverständlich, dann aber haben sich die germanischen Sprachen nach und nach so sehr auseinanderentwickelt, daß sich ihre Sprecher zunehmend schlechter miteinander verständigen konnten, schließlich nicht mehr.

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Seit Friedrich Maurer (Mitte 20.  Jh n. Chr.) gilt eine sich allmählich vollziehende Ausgliederung des Germanischen, als Sprache, in der Zeit vom 1.–3.  Jh. n. Chr. in fünf Gruppen als am meisten plausibel, in fünf Sprachgruppen, die außerdem mit Kulturgruppen, d. h. mit Gruppen archäologisch beigebrachter Funde und Befunde vergleichsweise ziemlich gut zur Deckung zu bringen sind (König, S. 53 mit S. 51, 55 und 57): Nordgermanen in Skandinavien und, aber erst ab Mittelalter, auch auf Island. Sprache Urnordisch seit dem 3. Jh. n. Chr., Altnordisch seit dem 5. Jh. belegt in Runen-Inschriften (Runen-Inschriften von um 200 sind vielleicht noch gemeingermanisch), viel später (aber immer noch mit vergleichsweise recht altem Sprachstand) in Handschriften religiösen Inhalts, in den „Sagas“, in der „Edda“ und in der Skaldendichtung. Ostgermanen oder „Oder-Weichsel-Germanen“: Goten (diese allerdings mit engen Verbindungen zu den Nordgermanen), zuvor aus Skandinavien (Gotland)?, Wandalen und Burgunden. Nur das Gotische ist als Sprache überliefert, 4.  Jh. n. Chr.: vor allem die Wulfila/Ulfila(s)-Bibel, dazu Erläuterungen zum Johannes-Evangelium, aber auch profane Texte verschiedener Art, außerdem Runen-Inschriften aus Osteuropa. Elbgermanen62, hier aufgezählt von NW nach SO aufwärts entlang der Elbe (mit Nachbargebieten): Langobarden (Nieder-Elbe), Semnonen (Havel-Spree-Gebiet), Hermunduren (in, heute, Sachsen, später in Thüringen  = „Thüringer“), Markomannen (in Böhmen), dazu Quaden (in der Slowakei). Aus elbgermanischen Zusammenhängen, dabei aber offenbar unter Einschluß sich mit einbindender anderer Stämme, Gruppen und Einzelner, bildeten sich die starken Verbände der Alamannen/Sweben und der Bajuwaren; die Sprachen dieser beiden Gruppen (Alamannen/Sweben seit etwa 500 n. Chr. im Elsaß, in der deutschsprachigen Schweiz, in Vorarlberg, in Baden, Württemberg und Bayerisch Schwaben; Bajuwaren in den nichtschwäbischen und nichtfränkischen Teilen des Bayerns von heute, in Österreich und in Südtirol, um das Wichtigste zu nennen) seit dem 8. Jh. n. Chr. überliefert. Rhein-Weser-Germanen: Chatten, Cherusker und andere; auch die Franken werden von einigen Autoren hierzugerechnet, können aber auch, als Nachbarn der Friesen und Sachsen am Niederrhein und an der Nordseeküste siedelnd, als Nordsee-Germanen gelten. In sehr komplexen Vorgängen (hier nicht Thema) dehnten sie ihr Gebiet noch während der Römerzeit nach Südwesten (Belgien und Nordostfrankreich) und rheinaufwärts (u. a. Köln) aus, ab etwa 500 n. Chr. dann nach Süden und Südosten: nach (später:) „Oberlothringen“ (dem dann Kern des Fränkischen Reichs, mit Metz als Mittelpunkt, einschließlich Saar- und Moselgegend bis Koblenz), in die Pfalz, den Rhein-Main-Raum mit Frankfurt, ins Maintal (später = 62 Die archäologische Grundlage ist jene vorn genannte Jastorfkultur, deren Träger sich z. T. elbaufwärts ausgedehnt haben.

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„Franken“), ins Rhein-Neckar-Gebiet, bis etwa auf die Höhe Heilbronns. Das Niederländische ist aus dem Altniederfränkischen hervorgegangen (9.–12. Jh., aber nur spärlich überliefert). Vor allem ab dem 8. Jh. (Prozeßbeginn aber schon im 6. Jh.) bildet sich im fränkisch-hessischen Gebiet unter dem dominierenden Einfluß des merowingischen und dann karolingischen Frankenreichs das Althochdeutsche heraus, mit der „Zweiten (= hochdeutschen) Lautverschiebung“. Nordsee-Germanen: Angeln, Sachsen, Friesen, evtl. Franken. Altfriesisch erst seit dem 13.  Jh. überliefert, Altenglisch der Angeln und Sachsen Britanniens (= „Angelsächsisch“) seit dem 7. Jh., Altsächsisch der auf dem Kontinent verbliebenen Sachsen seit dem 8. Jh. (hieraus: Mittelniederdeutsch). Das für uns Wichtige zur Position des Gemeingermanischen in der indogermanischen Sprachenfamilie bringe ich im „Exkurs zu den Kapiteln von B. I.“, im Zusammenhang mit der Darstellung der Entwicklung der stein- und der kupferzeitlichen Kulturen, die dort daraufhin untersucht werden, ab wann in der Menschheitsentwicklung es politische Gemeinwesen gegeben habe. Die Verbindung der drei Aspekte miteinander erwies sich auch als sehr günstig im Blick auf das, worum es in diesem Kapitel geht. Der Verweis auf den „Exkurs“ (dort ab Text bei Index 316 mit Fußnote 316) erspart uns außerdem Wiederholungen. – Im folgenden geht es um die charakteristischen Merkmale der germanischen Gemeinwesen. Ich nehme zunächst jene Texte römischer Autoren, in denen etwas über die Volksversammlung gesagt ist. Da die Schriften in lateinischer Sprache verfaßt sind, geben die Termini nur sehr bedingt etwas über das germanische Verständnis der Sache her. (Eine Ausnahme ist der Gote Iordanes. Er fügt vereinzelt das gotische Originalwort hinzu.) Die römischen Autoren verwendeten aus ihrem Sprachschatz und aus ihrer Erfahrungs- und Vorstellungswelt jeweils das Wort, das, berechtigt oder nicht, für die Lateiner als Leser dasjenige am besten wiederzugeben schien, was sie aus Germanien und über Germanen berichten wollten (siehe dazu auch von Uslar, 1980, S. 36). Das liegt wiederum in der Natur der Sache – weshalb uns Bedauern nichts nutzt. Jedenfalls kommt es in einigen Fällen zu Verständnisschwierigkeiten. Ich zeige es dort, wo es darauf ankommt. (Die für unser Thema letztlich entscheidenden Begriffe sind aber aus germanischer und deutscher Überlieferung und eindeutig. Um sie geht es jetzt noch nicht.) Caesar (Bellum Gallicum, B. G., Mitte 1.  Jh. v. Chr.) hebt an mehreren Stellen die Bedeutung der Volksversammlung (concilium) für die Germanen hervor, z. B. B. G., Buch IV, Kap. 19, in einem konkreten Fall (55 v. Chr.) bei den Sueben, oder er sagt allgemein etwas zum Thema, so B. G., VI, 23: „Im Fall eines Angriffsoder Verteidigungskriegs wählt das Gesamtgemeinwesen (civitas) zur Führung des Kriegs Anführer mit Verfügungsrecht über Leben und Tod (magistratus, qui ei bello praesint et vitae necisque habeant potestatem, deliguntur). In Friedenszeiten haben sie keine gemeinschaftliche Leitung (nullus est communis ­magistratus) für das Gesamtgemeinwesen, sondern die Principes der einzelnen Landschaften und Gaue (regionum atque pagorum) sprechen Recht unter den Ihren/unter den Glie-

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dern dieser Teilgemeinwesen und schlichten Streitigkeiten (inter suos ius ­dicunt controversiasque minuunt).“ Auch wenn einer der Principes einen Beutezug anführen will, sagt er das in der Volksversammlung an und fragt dort, wer ihm folgen wolle; alle, denen die Sache und der Mann zusagen, erheben sich und versprechen ihre Teilnahme unter dem Beifall der Menge. (Ein solcher Beutezug war dann aber auch nicht Angelegenheit aller, nicht Angelegenheit des Gemeinwesens. Man vergleiche dazu auch in Kapitel B. I.1.a) bei den Molosser-Königen und was Bringmann (1980, S. 474) zur sozusagen Freischärlerexpedition des spartanischen Königs Kleomenes sagt.) Tacitus schreibt in „Germania“ (98 n. Chr. oder bald danach erschienen) in Kapitel 11: „Über weniger wichtige Sachverhalte beraten die Principes, über die wichtigsten [aber] alle, gleichwohl so, daß auch das, worüber die Entscheidung beim Volk liegt, von den Principes vorberaten wird. (De minoribus rebus principes consultant, de maioribus omnes, ita tamen, ut ea quoque, quorum penes plebem arbitrium est, apud principes praetractentur.)“ Das kennen wir auch von den Griechen (siehe Anfang des Kapitels B. I.1.a)), daß zumindest gelegentlich die Ältesten zur Vorberatung zusammenkamen, bevor die Volksversammlung stattfand. Tacitus sagt dann, daß es Volksversammlungen an feststehenden Terminen, aber auch in außergewöhnlichen Fällen gab und daß die Teilnehmer mit ihren Waffen zu erscheinen hatten. „Priester …63 gebieten Schweigen. (Silentium per sacer­dotes …63 imperatur.)“ „Sodann sprechen der König64 (rex) [falls es einen gibt] bzw. die prin 63

Die Deutung des lat. Textstückes, das ich ausgelassen habe, ist sehr umstritten; es ist für uns nicht wichtig. 64 „Könige wählen/nehmen sie aufgrund des Ranges, Feldherrn/Herzöge wegen ihrer Tapferkeit. (Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt.)“ (Tacitus, Germ., Kap. 7.) – Unabhängig davon, daß der Verfasser der „Germania“ diese nicht um der Germanen willen, sondern mit Blick auf Rom geschrieben hat, gilt doch: Tacitus hat richtig gesehen, daß Regnum und Rex für die Germanen von Hause aus uncharakteristisch sind. Vgl. dazu auch Jens, S. 349– 352, im größeren Zusammenhang einer Untersuchung über „Libertas bei Tacitus“. – Entsprechend Kienast (S. 464): Die Sachsen „leben [selbst im 8. Jh.] noch in altgermanischen Formen ohne Königtum“. – „König“ hat bei den Germanen ebensowenig wie bei den Griechen von Hause aus die Bedeutung „Monarch“. Germ. *kuninga-z ist abgeleitet von germ. *kunja-  = „Geschlecht“, „Sippe“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 405, u. 22. Aufl., S. 397), also etwa: Familie, die bekannte, namhafte Vorfahren hat. Ursprünglich bedeutet das ältere Wort, von dem unser „König“ abgeleitet ist, folglich nicht mehr als „aus vornehmem [edlem] Geschlecht“. (Der Bearbeiter der 22. Aufl. fügt hinzu: „vgl. das möglicherweise verwandte gr. gennikós ‚edel‘ zu gr. génnă f. ‚Geburt, Geschlecht‘.“) – Wo germanische Stämme mit dem römischen Reich in Berührung kamen, nannten die Römer (wegen ihrer eigenen Jahrhunderte alten Erfahrung mit dem „an Könige gewöhnten Orient“; Tac., Hist., IV, 17) auch germanische Anführer oft mit dem Namen rex, etwa den Markomannen-Anführer Marbod, zu Anf. d. 1. Jh. n. Chr. (den übrigens, wie Tac., Ann., II, 44, schreibt, „der Königstitel [„regis nomen“] bei seinem Volke verhaßt“ machte, ähnlich (s. Ann., II, 88) bei den Cheruskern den Arminius, als dieser „nach dem Abzuge der Römer und nach Vertreibung Marbods nach der Königsmacht strebte“), oder die Römer verliehen dem Anführer der Germanen gar offiziell (Senat auf Vorschlag Caesars) den Titel rex, so dem Ariovist zu Caesars Zeit; B. G., I, 35. Vom Stamm der Bataver am Niederrhein und dem der

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cips, gemäß Lebensalter, Rang [prout nobilitas; dazu siehe die differenzierte Analyse zu „Adel“ und „Rang“ im Annex über Legitimitätsprinzipien, Kapitel B. V.4.a)], gemäß Kriegerehre, gemäß der Begabung, anstehende Dinge gut dar-

Eburonen zwischen Rhein und Maas im 1. Jh. n. Chr. wissen wir, daß sie, aus römischer Sicht, „Könige“ hatten (Bechert, 1982, S. 58). Von den Burgundern (etwa 250 n. Chr. seitens der Gepiden aus dem Weichselraum abgedrängt in die Lausitz), sagt Diesner, S. 130, daß sie „statt des Königtums anfangs nur eine Art Gaufürstentum ausbildete[n], das dem Einfluß der Volksversammlung genügend Spielraum ließ“. – Weil das germ. Wort eben nur „aus edlem Geschlecht“ besagte und es folglich davon in praktisch jedem Stamm mehrere bis viele gab, die in diese „Kategorie“ gehörten, hatten Römer Benennungsschwierigkeiten angesichts des Umstands, daß für ihre Erfahrung ein Rex doch eigentlich ein Einherrscher, ein Monarch zu sein hatte, und sie mussten sich dann mit Benennungs-Krücken helfen, mit reguli und subreguli (auch Ammianus Marcellinus in „Res gestae“), was natürlich wieder mißverständlich war und vielfach noch heute ist. – Amm. Marc. (XXVIII, 5, 14) schreibt von jenen Burgundern, jetzt für 369/370 n. Chr. (damals rechtsrheinisch siedelnd), daß derjenige, der seitens der Römer rex genannt werde, bei den Burgundern mit Gattungsnamen hendinos hieß (got. hindina = „der erste“), also in Wirklichkeit ein primus inter pares war. Dazu heißt es: „nach altem Herkommen muß er sein Amt niederlegen und wird abgesetzt, wenn unter ihm das Kriegsglück ins Wanken gerät …“. – Dort, wo germanische Stämme oder Völker längere Zeit Kontakt mit dem römischen Reich hatten, im Mittelmeerraum, verstärkte sich in manchen Fällen die Stellung des Königs. Immerhin wurde auch bei den Ostgoten in der spätrömischen Kaiserzeit der König sehr wohl noch gewählt, so, nach 375 n. Chr., nach Ermanarichs Tod, Widimir (Amm. Marc., XXXI, 3, 3) und bei den Westgoten, vor 402, Alarich (von dem es bei dem lateinisch schreibenden Goten Iordanes, De origine, XXIX, die Stellung des Königs sehr deutlich bezeichnend, heißt: „Sobald daher der besagte Alarich zum König gewählt  … war, beriet er sich mit den  … [Seinen] und schlug ihnen vor, …“), nach Alarichs Tod, 410, Atawulf, ein Blutsverwandter des Alarich. Auch die Franken der Merowingerzeit haben ihre „Könige“ (aus dem Geschlecht der Merowinger) sehr wohl gewählt, unbeschadet des Umstands, daß spätestens seit Chlodwig/Ludwig, um 496 n. Chr., gegenüber anderen fränkischen (Klein-)Königen und später innerhalb der Familie der Merowinger Giftmord und anderer Mord die Zahl der Anwärter nicht wenig verringert hat. Nach der Ausschaltung des letzten Merowingers ist auch Pippin aus dem Geschlecht der – später so genannt – Karolinger von einer Reichsversammlung 751/752 zum König der Franken erhoben worden. Die Sachsen des Festlands hatten das Wort kuning, ebenso die Sachsen auf der britischen Insel (die Angeln dort cyning), aber eben in jenem eingangs genannten nichtmonarchischen Verständnis (Dannenbauer, 21956, S.  129, dazu: „Es wimmelt geradezu von ‚Königen‘ in der angelsächsischen Welt“). – von Uslar, Kenner frühgeschichtlich-germanischer Verhältnisse der frühen bis späten Kaiserzeit aus archäologischer Warte, sagt (S. 24 f.) zusammenfassend über römischen Einfluß auf germanische politische Verhältnisse: „Auch sonst scheint römischer Einfluß, der sich in den Jahrzehnten um Chr. Geburt zweifellos besonders stark geltend gemacht hat, auf das Gefüge der germanischen Gesellschaft [Terminus unhistorisch; statt dessen: der germanischen Gemeinwesen] wenig wirksam und nachhaltig gewesen zu sein. Es hat z. B. nicht den Anschein, als ob von den Römern bei verschiedenen Stämmen wie bei den Brukterern, Cheruskern, Markomannen eingesetzte oder entfernte Könige sich auf die Institution als solche ausgewirkt hätten (…). Auch ist es den Römern nicht gelungen, auf die Dauer Germanen römische Verwaltung und Rechtsprechung aufzuoktroyieren oder in das Verfassungsleben der Germanen einzugreifen (…).“ Erst viel später haben die Franken zwar die römische Zentralverwaltung übernommen, aber ihre eigene Verfassung und ihr Recht auch gegenüber den Einheimischen durchgesetzt (siehe B.II.1.a)).

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stellen zu können, wobei es auf die Überzeugungskraft ankommt.65 (Mox rex vel princips, prout aetas cuique, prout nobilitas, prout decus bellorum, prout facundia est, audiuntur, auctoritate suadendi magis quam iubendi potestate.)“ „Wenn die Meinungsäußerung [oder: der Ratschlag] mißfällt, wird sie mit Murren verworfen, wenn sie gefällt, schlagen die Versammelten ihre Speere dröhnend zusammen … . (Si displicuit sententia, fremitu aspernantur; sin placuit, frameas con­cutiunt … .)“ Das gleicht auffällig einem von Ernst Meyer, Einführung, S. 109) als „altertümlich“ gekennzeichneten Entscheidungsverfahren in Griechenland, bei den Spartanern (siehe Kapitel B. I.1.a)): „Zustimmung oder Ablehnung wurde nach der Stärke des Zurufs beurteilt, im Zweifelsfall durch Auseinandertreten“. Wenn auch „altertümlich“, war das Verfahren doch sehr praktisch und – im Vergleich mit heute – sogar zeitsparend, weil das – wenn erforderlich – „Ausein­andertreten“ in der Regel schnell Übersicht brachte. (Dazu siehe im Annex über die Legitimitätsprinzipien das Kapitel 8, „Mehrheit“, dort den „Hammelsprung“ und moderne Zählverfahren.) Im 12. Kapitel sagt Tacitus, daß die Volksversammlung auch (Hoch-)Gerichtsversammlung ist, daß es Sühnegerichtsbarkeit gibt,66 ferner: „In diesen Versammlungen [des Gesamtgemeinwesens] werden auch diejenigen (aus)gewählt, die in den Gauen und Dörfern Recht sprechen (Eliguntur in iisdem conciliis et principes, qui iura per pagos vicosque reddunt); …“ Es folgt dann ein Satz, der in der Verfassungsgeschichtswissenschaft sehr unterschiedlich ausgelegt67 worden ist: „…; jeder von ihnen hat ein Gefolge von hundert Männern aus dem Volk, zu seiner Beratung und um ihm Autorität zu verleihen. (…; centeni singulis ex plebe comites consilium simul et auctoritas adsunt.)“ Im 13. Kapitel heißt es, daß die Volksversammlung die Einrichtung und der Ort für die Ausstattung des waffenfähig gewordenen jungen Mannes mit Schild und Frame war, womit der junge Mann Glied des Gemeinwesens mit allen Rechten und Pflichten wurde. In Kapitel 25 erfahren wir indirekt, daß nur Freie zur Volks­ versammlung zugelassen waren, Freigelassene nämlich nicht. Bei meinen Übersetzungen habe ich das Wort princeps umgangen oder unübersetzt gelassen. Ich komme weiter unten darauf zurück. Ich fasse zusammen, was wir bei Caesar und Tacitus über die germanische Volksversammlung erfahren haben. Das Gesamtgemeinwesen des Stammes hatte

65 In den „Annalen“, XIII, 54, sagt Tacitus anläßlich der Beschreibung einer Aktion einer Jungmannschaft der Friesen unter Führung des Verritus und des Malorix: „welche diese Völkerschaft regierten, soweit Germanen sich gebieten lassen“ („… regebant, in quantum Germani regnantur“). 66 Mehr Details dazu in Kap. 21 der Germ., wo er den Vorteil der Sühnegerichtsbarkeit für das gemeine Wohl nennt, auch in Fällen von Totschlag – statt der älteren Blutrache („… utiliter in publicum“). 67 Es geht dabei um die germanische „Hundertschaft“.

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alljährlich zu festem Termin die Versammlung aller freien, waffenfähigen Glieder des Stammes, das „ungebotene“ Thing – wie die Mediävisten unter Aufnahme eines alten germanischen Ausdrucks meistens dazu sagen. (Zu „Thing“/„Ding“ und den anderen alten Wörtern für diese Sache weiter unten mehr.) Aus besonderem Anlaß konnte die Volksversammlung auch außer der Reihe aufgeboten werden, als „gebotenes“ Thing. Die Volksversammlung des Stammes war die oberste Entscheidungs-Instanz in allen wichtigen den ganzen Stamm angehenden Angelegenheiten (auch bei Stämmen, die einen „König“ oder mehrere „Könige“ hatten). Sie entschied über Krieg und Frieden und war im Stamm höchstes Gericht. In den Teilbereichen des Stammes leitete jeweils der auf der Stammesversammlung für den Gau, die Talschaft (oder wie immer die Bezeichnung war) gewählte Anführer die Gerichtsversammlung der freien waffenfähigen Männer dieser unteren Ebene, die hier die Entscheidungen fällten. Der diesem Gericht vorsitzende Anführer hatte jeweils Berater, aus dem Volk. Das Thema „Volksversammlung bei den Germanen“, überhaupt die „Verfassung“ der Germanen hat besonders zwischen etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts68 und etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts69 die Historiker beschäftigt, zunächst die Rechts-/Verfassungsgeschichtswissenschafter, später auch die Mediävisten. Auf einigen wenigen Seiten will ich die Hauptpunkte der Auseinandersetzung nennen. In den Fußnoten habe ich eben die sozusagen Hauptgegenspieler genannt. Waitz hat mit seiner großangelegten „Deutschen Verfassungsgeschichte“ für fast hundert Jahre die Diskussion zum Thema weitgehend bestimmt. Gestützt auch auf einige schon in älterer Zeit gegen Waitz vorgebrachte Einwände, die aber im großen und ganzen unbeachtet geblieben waren, hat in der Mitte des 20. Jahrhunderts Dannenbauer die deutsche Rechtsgeschichtswissenschaft Waitz’ und der Waitz-Nachfolger scharf kritsiert. Deren Bild „von den staatlichen70 Zuständen der Germanen“ (1949, S. 156) sehe fälschlicherweise wie folgt aus: „die civitas, der germanische Staat,70 ist zwar einfacher organisiert als der moderne bürokratische Verwaltungsstaat, doch ist er ähnlich wie dieser aufgebaut mit über- und untergeordneten Bezirken, in denen bäuerliche Demokratie sich wie in der Heimat Wilhelm Tells unter Beamten, die sie aus ihrer eigenen Mitte wählt und beauftragt, selbst regiert. In diesem wohlgeordneten Gemeinwesen nimmt die Hundertschaft den Platz des untersten öffentlichen Bezirkes ein“ (S. 157); oder: „die seit Waitz festgehaltene Grund- und Hauptvorstellung vom urgermanischen ‚Staat‘70 … von gemeinfreien Bauern mit gewählten Beamten“ (S. 161, Fußn. 24), „das geheiligte Dogma von den kleinbäuerlich demokratischen wohlorganisierten germanischen Staatswesen“70 (S. 170, Fußn. 53).

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Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, I (11844, 31880) (Auch unter Berücksichtigung der inzwischen erschienenen Literatur). 69 Dannenbauer (11941, 21956), (1949 sowie 11958, 21975). 70 Wie (ebenso übrigens oft bei Waitz) mal wieder, ganz unhistorisch, formuliert wird.

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In Wirklichkeit jedoch – so behauptet Dannenbauer –: „Alle Reiche vom Tajo bis zur Weichsel tragen den gleichen Charakter, sind Aristokratien mit monarchischer Spitze, und alle sind sie aus der großen Völkerwanderung hervorgegangen, sind germanische Gründungen oder, wie Polen und Ungarn, in ihren staatlichen70 Einrichtungen von den benachbarten Germanen beeinflußt. Es kann nicht anders sein: wir haben hier die den Germanen eigene Staatsform70 vor uns. … Adelsherrschaft ist der den germanischen Völkern … [gemeinschaftliche] Grundzug“ (21956, S. 68). „Aber … die klassischen Werke der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte“ „zeigen uns [fälschlicherweise, sagt Dannenbauer] ein Dasein, in dem das Schwergewicht nicht bei dem Adel liegt, sondern bei dem Stand, den sie die Gemeinfreien nennen. Der ist für sie der Kern des Volkes, nicht nur der Zahl nach, sondern auch nach seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung. Es sind Kleinbauern, die alle die gleiche Freiheit, gleiche Rechte und gleichen Besitz haben. Sie leben in Sippendörfern und Markgenossenschaften zusammen, wo jedem Genossen die gleichen Rechte an der gemeinen Mark zustehen. Sie bilden die Gerichtsversammlung, wo sie Recht sprechen und ihre Beamten wählen, sie bilden das Heer, in dem sie unter selbstgewählten Anführern kämpfen. Bei ihnen liegt das entscheidende Wort für … Krieg und Frieden“ (S. 68 f.).

Als gesicherter Wissensstand kann inzwischen gelten: Es hat zwar in Skandinavien (Schweden und Norwegen), bei den Friesen und  – was, auch Dannenbauer,71 Schwierigkeiten machte – bei den Alamannen originär das Hundari/Hunderi/Huntari gegeben, und es gab die nicht originär germanische, von den Franken aus spätrömischen Verhältnissen übernommene Centena (Hundertschaft), die im Moselgebiet, in Hessen und Ostfranken später „Zent“ („Zentgericht“) hieß, im Moselraum dann auch auf deutsch „Hunria“, im Rheinland „Hunnschaft“ u. ä., am Niederrhein „Honnschaft“; die von der Verfassungsrechtsliteratur (Waitz und Nachfolger) konstruierte „urgermanische“ Hundertschaft als Untergliederung der größeren Gemeinwesen gab es so dagegen nicht. In dieser Literatur ist auch hinsichtlich der „Gleichheit“ der Germanen und in bezug auf die Gleichheit des Besitzes übertrieben worden – unbeschadet dessen, daß bei Caesar und Tacitus Angaben zu finden sind, die auf auffällige Freiheiten und (bei Caesar, B. G., VI, 22) auf – wohl relativ – Gleichheit des Besitzes hinweisen. Die bei den Germanen bestehenden Rangunterschiede haben Historiker, so auch Dannenbauer, vorschnell i. S. v. „Adel“ interpretiert. (Zu „Adel“ und „Rang“ siehe Kapitel B. V.4.a) im Annex über Legitimitätsprinzipien.)

71 Dannenbauer (1949), S.  186, der von den „drei untereinander in keinem näheren Zusammenhang stehenden Ländern Schweden, Friesland und Alemannien“ spricht. Die Schwierigkeiten verschwinden, wenn man nicht „Alemannien“ sagt, sondern „Alamannen“ und bedenkt, daß der Kern der Völkerschaft, die dann im Südwesten „Alamannen“ oder „Sweben“ (später „Alemannen“ oder „Schwaben“) hieß, aus der norddeutschen Tiefebene kam, daß die drei genannten Gruppierungen also weniger weit auseinander waren, als es heute aussieht, wenn man bei Alemannen an Württemberger, Schwaben (in Bayern), Badener, Elsässer, Vorarlberger und Deutschschweizer denkt.

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Waitz und Nachfolger betonen besonders (sie überbetonen), daß die Gesamtheit der Freien diejenigen „Fürsten“ oder „Vorsteher“  – wie Waitz das lateinische ­principes übersetzt  – w ä h l e , die in den Gauen und Dörfern Recht sprechen. Bei Tacitus (Germ., Kapitel 12; siehe oben) steht tatsächlich „Eliguntur … principes“. Dannenbauer (21956, S. 79, Fußn. 22) sagt: „… daß man zum princeps auch gar nicht gewählt werden kann, sondern es dank der eigenen Stellung ist, das hätte man ohne weiteres wissen können“ und dazu oben im Text (S. 80), was „die Stellung“ in römischer Auffassung bedeutet: Herkunft „aus den vornehm­ sten Geschlechtern“. – Das ist ein konkreter Fall jener weiter oben allgemein erwähnten Schwierigkeiten, wenn germanische Sachverhalte mit lateinischen Termini beschrieben werden sollen.72 Für römisches Verständnis kann ein römischer princeps tatsächlich nicht zum princeps gewählt werden, er ist princeps. Der germanische Sachverhalt ist jedoch anders. Tacitus sagt nämlich unbezweifelbar „Eliguntur … principes“ und nicht etwa „… (diejenigen, die Recht sprechen …) ex principibus“, also, daß die principes gewählt worden sind, ausgewählt freilich aus solchen, die sich bevorzugt dafür anboten – können wir ergänzen. Ich habe oben (in Fußn. 64) aus Tacitus (G., 7) zitiert, daß die Germanen auch ihre Könige wählten (sumunt = nehmen, wählen, aussuchen), nämlich denjenigen, den sie für ge­ eignet hielten, aber (nur) „ex nobilitate“, aus dem Kreis der Vornehmsten. Waitz und die Waitzianer haben aus dem Faktum Wahl geschlossen, daß der so Gewählte somit ein Amt habe und ausübe. Der Gedanke ist grundsätzlich nicht falsch.73 Die Richtung wird aber schief, wenn Dannenbauer (S.  78) mit Müllenhoff die Behauptung darüberstülpt, Waitz und seine Anhänger hätten an ein „‚reines Beamtentum‘“ bei den Germanen gedacht, und wenn Dannenbauer (S. 100, Fußn. 73) interpretiert, Waitz und die, die ihm darin folgten, hätten da eine germanische „Bürokatie“. Hier ist Dannenbauer nicht mehr fair. Die Gesamtheit der Freien eines Volkes qualifiziert Dannenbauer (S. 75) wie folgt ab: „Das Volk für sich allein – plebs, sagt Tacitus, ein geringschätziger Ausdruck  – macht keine großen Unternehmungen.“ Was er (ebenda)  an Beispielen bringt, erlaubt nicht, vom Volk als von einer „fast möchte man sagen, … Herde“ (S. 76) zu sprechen. Aber Dannenbauer ist eben, wie wir gesehen haben, minde­ stens ebenso einseitig nach der (angeblich) Adelsseite hin wie Waitz nach der der 72

Dannenbauer (21956, S. 72, Fußn. 10) polemisiert gegen Waitz (dieser, 31880, I, S. 170, Fußn. 1): „‚Auf die Bedeutung des Wortes in Rom kommt wenig an.‘ Da hat dann allerdings die Willkür weiten Spielraum.“ Waitz (ebenda) sieht und sagt (anschließend) vielmehr sehr richtig, daß Tacitus einen bestimmten römischen Begriff für einen germanischen Sachverhalt verwenden mußte, auf den der lateinische Ausdruck nicht genau paßte, aber er hatte keinen besseren. Das hat mit Willkür noch gar nichts zu tun. 73 Unter diesem Gesichtspunkt müßte auch Dannenbauers These (21956,  S.  71), „daß Dienst und Adel ein Widerspruch in sich selbst ist“, überprüft werden, nicht nur weil (als jüngere fränkische Neuerung) „Adel“ aus Dienst erwächst, sondern auch, weil in den von Caesar und Tacitus beschriebenen viel älteren Verhältnissen auf einen der Vornehmen durch (Aus-) Wahl ein Amt entfiel – dieses aber noch nicht im Sinne des Beamtentums im neuzeitlichen Staatswesen.

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„Gemeinfreien“. Ein rechtes Verständnis gewinnen wir offenbar nur, wenn wir das Volk und die Vornehmen als aufeinander bezogen verstehen. Daß für Tacitus „plebs“ hier keineswegs „ein geringschätziger Ausdruck“ ist, wird aus Kapitel 12 deutlich: Die Männer aus dem Volk („ex plebe“), die dem princeps beigegeben sind, sollen diesen beraten. Das übergeht Dannenbauer, desgleichen, daß Ammianus Marcellinus im 4. Jh. in bezug auf die Struktur des Gemeinwesens der Alamannen unter „plebs“ wie selbstverständlich das Gros der Freien versteht, einfach beschreibend und nicht etwa abwertend. Ein großer Teil der Fehleinschätzungen kommt auch daher, daß Dannenbauer oft das historisch Ältere aus dem historisch Jüngeren „erklärt“. Seine Arbeit „Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen“ beginnt mit: „Die Welt des Mittelalters ist eine aristokratische Welt“ (21956, S. 66). Etwas später (S. 68) folgt jene weiter oben schon einmal wiedergegebene Stelle (im folgenden auf das hier Wichtige verkürzt): „Alle Reiche vom Tajo bis zur Weichsel … sind Aristokratien mit monarchischer74 Spitze, … alle … aus der großen Völkerwanderung hervorgegangen, …. Es kann nicht anders sein: wir haben hier die den Germanen eigene Staatsform74 vor uns. … Adelsherrschaft74 ist der den germanischen Völkern … [gemeinschaftliche]75 Grundzug.“ So darf ich nicht vorgehen, wenn ich Texte über Germanen der Römerzeit (1. Jh. v. Chr. u. 1. Jh. n. Chr.) unvoreingenommen begreifen will. Ähnlich sieht das bei Dannenbauer in bezug auf „Grundherrschaft“ und „Großgrundbesitz“ aus (S. 85 f., dazu auch etwa S. 99). Das sind Sachverhalte und die Begriffe dazu aus jüngerer Zeit. Die Begriffe eignen sich noch nicht zur Beschreibung der Germanen der Römerzeit. Stülpe ich sie diesen aber doch schon über, mache ich mich indirekt dementsprechend blind. So etwa bei der Behandlung des Themas „princeps“ und „comitatus“ (angeblich  = „Gefolgschaft“).76 Angesichts der von den Waitzianern „zum Dogma erhobenen Anschauung von der allgemeinen Freiheit und Gleichheit der germanischen Bauern“ stellt Dannenbauer 74

Abgesehen davon, daß auch auf die germanischen Reiche (mit „Königen“) der Völkerwanderungszeit der mittelmeerisch bestimmte Terminus Monarchie noch nicht paßt. – In bezug auf den germanischen „Adel“ zur Zeit des Tacitus spricht Dannenbauer von „Klasse“ (S. 74). Auch der Begriff Adelsherrschaft paßt noch nicht in diese Zeit, „Staat“ sowieso nicht, desgleichen nicht „Stand“. 75 Ich möchte mich nicht zum Multiplikator von Sprachseuchen machen, hier: der adjek­ tivischen Verwendung von Adverbien – auch wenn der „Duden“, der eigentlich u. a. gerade dafür da ist, kapituliert hat. Andernfalls dürfte ich Kap. C.III. nicht schreiben. An allen Stellen verbessern wollen, geht aber auch nicht an. Ich betreibe ja nicht Beckmesserei (ganz abgesehen davon, daß es auch bei mir in älteren Publikationen manche Stellen mit schlechtem Deutsch gibt). 76 Ich lasse die von deutschen Historikern des 19. Jh. zum Zweck der Beschreibung germanischer Sachverhalte gebildeten Begriffe „Gefolgschaft“ und „Gefolge“ hier noch unerörtert, komme auch nachher nur kurz darauf zurück, thematisch erst in B.III.1.a). Vorab nur dies: Die Empirie ergibt, daß es tatsächlich um „Ge-sell-schaft“ und um die „Ge-sellen“ des Anführers geht. „Gefolge“ hat eine ganz andere Ausgangsbedeutung.

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(S. 86) die Frage: „Aber wovon sich dann der Herr und sein Gefolge ernährt haben sollen, bleibt rätselhaft.“ Das ist keineswegs rätselhaft. Tacitus (G., Kap. 15) hat die Frage beantwortet: daß nämlich alle dem Princeps freiwillig Gaben an Vieh und Getreide bringen, was als Ehrengeschenk angenommen und für die eigenen Bedürfnisse des Princeps und seines Hauses verwendet wird.77 Die Mittel zur Bestreitung des Aufwands für die „Gefolgschaft“, sagt Tacitus (Kap. 14), liefern, wie es ausdrücklich heißt, Raub und Krieg.78 Die Sitte der zuvor freiwillig getätigten Gabe79 von Vieh und Korn hat sich nach und nach zu einer Ablieferungspflicht entwickelt (siehe z. B. Mühlbacher, S. 295). Das ist die eine Sache. Die Entwicklung der Grundherrschaft im Frankenreich ist eine andere. Mit der Beschränkung auf das für uns Wichtige komme ich auf sie in B.II.1.a) zurück. Nun will Dannenbauer (21956, S. 85) aber durchaus den Großgrundbesitz schon ins römerzeitliche Germanien verlegen: „Reichtum aber besteht in jener Zeit [der des Tacitus] so gut wie ausschließlich in Grundbesitz und Viehherden“, damit er daraus folgern kann: „und zu großem Grundbesitz, der dem Herrn und seinen Gefolgsleuten ein arbeitsloses Dasein ermöglicht [wenige Zeilen zuvor der Hinweis auf Tac., G., Kap. 15], gehören notwendig nicht zu wenige abhängige Bauern, die für ihn das Land bebauen.“ Hartnäckig übergeht er, was ihm nicht in die 77 Das ist übrigens Mitte des 8. Jh. bei den Franken immer noch so: „Nach Ablauf des Jahres also bot er [König Pippin, der Vater Karls d. Gr.] das ganze Heer der Franken und der anderen Völkerschaften seines Reiches auf und zog [dies im Rahmen der schon länger währenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Waskonen, im Baskenland, und mit den „Großen“ in Aquitanien] nach Aurilianis. Daselbst hielt er den Reichstag auf dem Maifeld, welches er statt des Märzfeldes zum Nutzen der Franken eingeführt hatte, und wurde von den Franken und seinen Großen reich beschenkt.“ Nach dem Feldzug, mit Eroberung eines großen Teils von Aquitanien, „kehrte er mit Raub und Beute beladen  … mit dem ganzen Heere wieder ins Frankenland zurück“ (Fredegar, 21986, S. 144). Aus Mühlbacher, S. 152 u. S. 156, ist zu entnehmen, daß noch im 9. Jh. Kaiser Ludwig d. Fr. die jährlich dargebrachten „Geschenke“ auf dem Reichstag entgegengenommen hat.  – In diesen Zusammenhang gehört – im vorausgehenden Kapitel habe ich es mit Bezug auf die bildliche Darstellung der Darbringung von Gaben auf Fresken an den Wänden sogenannter Paläste in Knossos auf Kreta schon einmal genannt –, was Ernst Meyer (Einführung, S. 63) über die Griechen schreibt: „Das Volk ist verpflichtet, an die Kosten des königlichen Haushalts und dessen Ehrenverpflichtungen und für sonst notwendig werdende größere Aufwendungen durch ‚Geschenke‘ an den König beizutragen.“ (Über die Stellung des Königtums bei den Griechen siehe B. I.1.a), Fußn. 34.) 78 Über Raub als Beute-Erwerb, über den gesetzlichen Raub sowie über Raub und Brand im Zusammenhang mit der (erzwungenen) Huldigung im Mittelalter siehe Otto Brunner, I (1939), 1. Hauptabschnitt betr. Fehde. 79 Die freiwillig getätigte Gabe ist dann im Mittelalter die stiure (heute unser Wort Steuer), etwas ganz anderes als Zins. stiure gehört, wenn überhaupt schon zwischen „öffentlich“ und „privat“ geschieden werden soll, in den Bereich des Öffentlichen, ist Stütze/Hilfe, freiwillig im Rahmen des wechselseitig bestehenden Treue-/Schutz-Verhältnisses, das von der sittlichen Pflicht zur Leistung getragen war (vgl. Brunner, I, 1939, S. 340, s. a. ders., 21956, S. 15), im Sinne von „dazu beisteuern“, daß eine für das Gemeinwesen erforderliche Leistung erbracht werden kann.

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vorgefaßte Meinung paßt: daß Tacitus (Kap. 5) ausdrücklich gesagt hatte: „Auf die Größe ihrer Herden sind sie stolz; dies ist ihr einziger und liebster Reichtum“ (Tacitus über Grund und Boden weiter unten) und daß Caesar (B. G., VI, 22) geschrieben hatte: „Ackerbau betreiben sie kaum. Ihre Nahrung besteht zum größten Teil aus Milch, Käse und Fleisch. Auch besitzt niemand ein abgemessenes Feld ­ odum und auch keinen ihm allein gehörenden Boden“ („Neque quisquam agri m certum aut fines habet proprios“), dem er hinzugefügt hatte, daß es ihnen, den Germanen, gerade darauf ankomme zu verhindern, daß jemand zu ausgedehntem Landbesitz komme; der einfache Mann solle sehen, daß der Mächtigste nicht mehr besitze als er. Das ist dann aber bei Tacitus (in G., Kap. 26) etwas variiert: Auch hier heißt es zwar, die Äcker seien im Gesamtbesitz und würden entsprechend der Zahl der Anbauer verteilt, jedoch gemäß Rang/Würde. Aber eine solche Aufteilung mache keine Schwierigkeiten, weil Äcker im Überfluß vorhanden seien. Deshalb könnten die Saatfelder auch jährlich gewechselt werden und Felder brach liegenbleiben. In Kap. 25 sagt er, daß es Sklaven80 gab, die eigene Wohnstätten hatten und ebenfalls anbauten; sie müßten lediglich, wie Pächter, ihrem Herrn eine bestimmte Menge Getreide, Vieh und Kleidungsstücke erbringen. – Wenn es Ackerland im Überfluß gibt, kann es keinen „Großgrundbesitz“ geben. Dieser setzt voraus, daß Ackerland für die anderen knapp ist oder sie überhaupt keines haben. Die Entstehung von Großgrundbesitz im Germanischen ist also eine Sache späterer Zeit. Es geht nicht an, von z. B. Gegebenheiten des 9.  Jahrhunderts in Sachsen (Dannenbauer, 21956, S. 85) oder gar aus noch späteren Zeiten in Skandinavien oder gar aus Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts81 auf die „Urzeiten“82 zu schließen. In seinem Aufsatz über Bevölkerung und Besiedlung Alemanniens (11958; hier 1975, S. 97) muß Dannenbauer für die Zeit vor dem 6./7. Jahrhundert sogar selber sagen: „Ursprünglich hatten die Alemannen sich vor allem auf Viehzucht und Weidewirtschaft verlegt und den Feldbau mehr nebenher betrieben. Jetzt gingen sie zu intensiverem Ackerbau über. Nicht selten kann man beobachten, daß die jüngeren Ausbauorte, die mit -hausen, -stetten, -bach und ähnlich benannten, den besseren Ackerboden ausgesucht haben als manche älteren -ingen-Orte und daß 2

80 Auch das ist einer der Begriffe aus römischen Verhältnissen, der auf die germanischen nicht recht paßt, wie aus dem oben Folgenden ersichtlich ist. 81 So dienen doch tatsächlich als Belege: Alexis, Die Hosen des Herrn von Bredow (Dannenbauer, 21956, S.  88, Fußn.  45) und Gulbranssen, Und ewig singen die Wälder (1949, S. 172, Fußn. 62). – Moscherosch (Gesichte Philanders von Sittewald, zuerst um 1640, hier 1883/1964, S.  228) sagt ironisch zu ähnlichen Unternehmungen: „das [= daß] eure beweiß meist aus den poeten hergenommen“. 82 Dannenbauer (1949), S. 219, sagt sehr kühn: „… die politische Lebensform der germanischen Völker ist … seit Urzeiten Adelsherrschaft“, wo doch zumindest er über die germa­ nischen „Urzeiten“ gar nichts weiß. – Zu Dannenbauers ebenso kühnem Diktum über den „Urzustand“: allgemein (21956, S. 82), s. Wenskus (1961), S. 343.

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sie diese überflügelt haben, stattliche Dörfer geworden sind, während die älteren klein blieben.“83 Vor Rückkehr zur Hauptlinie muß ich auf ein anderes Phänomen schon jetzt aufmerksam machen. Es heißt „Hof“. Er wird in B.II.1.a)  relevant als Hof vor allem des Königs im Mittelalter, aber auch auf Ebenen darunter, dann als Hof der absolut regierenden Monarchen bzw. Fürsten in den Staaten der Neuzeit – um nur einige Stationen zu nennen –, in anderer Hinsicht aber in B.III.1.b) als höfische Gesellschaft im Hohen Mittelalter. Der Ursprung von Ge-sell-schaft in germanischer Zeit wäre schwerlich zu greifen, wenn wir die „Germania“ des Tacitus nicht hätten. Zwar erwähnt Tacitus in seinem Zusammenhang den Hof direkt überhaupt nicht, weil er aber sagt, was sich abspielt und wer beieinander ist, können wir den Ort des Geschehens folglich zwar nur indirekt, aber doch ganz genau lokalisieren. Ich rufe in Erinnerung zurück: Tacitus (G., 14 und schon 13) beschreibt das Verhältnis von Anführer (princeps) und seinen comites. Wir wissen bereits (siehe oben), daß der Anführer (Zeit: Ende 1. Jh. n. Chr.) den Aufwand (die Geschenke für seine comites, damals Streitroß84 und Waffen, die er ihnen für ihre Treue schuldete und dafür, daß sie nicht zuletzt für ihn kämpften) aus Krieg und Raub bestreitet. Tacitus nennt dann noch etwas, auf das es jetzt ankommt: Der Anführer hatte auch für die Bewirtung seiner m i t i h m l e b e n d e n comites zu sorgen. Zu des Tacitus Zeit durfte sie einfach sein, mußte aber reichlich geboten werden. Als „Lokalität“ kommt nur der Hof des Anführers in Frage, „Hof“/„Gehöft“ ist zu jener Zeit in der Regel das germanische Einraumwohnhaus zusammen mit Nebengebäuden. (Es gibt aber auch Varianten.) Das Einraumwohnhaus des Anführers war größer als die Häuser, die Höfe der anderen Glieder des Gemeinwesens und mußte auch größer sein, wenn der An­führer seine comites bewirten wollte.84 Der im Vergleich zu dem, was sonst üblich war, größere Raum im Einraumwohnhaus heißt in den alten germanischen Sprachen sal (unser „Saal“ und entsprechend). Das ist dann Thema in Kapitel B.III.1.a). 83

Mit Hinweis auf die einschlägige Arbeit des (für die Alamannenzeit besonders kom­ petenten) Archäologen Heinrich Stoll. – Die Alamannen haben (für die Zeit von damals modernen) Ackerbau von den Franken übernommen, den diese, z. T. schon seit mehreren Jahrhunderten zuvor, in Gallien und in der Belgica aus römischen Verhältnissen kennengelernt hatten. Die Franken haben bei ihrer Landnahme in Germanien (sie von Nordwesten und Norden) dementsprechend sogleich die besten Ackerbauböden besetzt, so etwa – um Beispiele zu nennen, die ich aus Eigenem kenne – im Bliesgau und auf den Höhen des Saargaus; in beiden Fällen kalkhaltige Böden, die sehr fruchtbar sind. 84 Auf der Feddersen Wierde bei Bremerhaven ist ab 1955 eine german. Ansiedlung komplett ausgegraben worden, die von etwa 50 v. Chr. bis um 450 n. Chr. bestanden hat. Von den Ergebnissen hier nur dies: „Ein Hof sondert sich ab und wird größer. Er bekommt eine eigene Einfriedung. Die Ställe werden größer und enthalten mehr Pferde als die der übrigen Höfe. Man kann das leicht an der Zahl der gefundenen Hufeisen erkennen“ (Brunner/Daim, S. 104). Das schon im Sinne jener  – G., Kap. 14 – Textstelle bei Tacitus als Beleg zu nehmen, wäre noch verfrüht. Mehr als einen Merkposten kann es wohl noch nicht hergeben; wir müssen die Ergebnisse anderer Grabungen abwarten.

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Die germanische Volksversammlung, bei den genannten römischen Autoren mit concilium wiedergegeben, hatte wie im Griechischen verschiedene Namen. Bevor ich sie nenne, hier noch einige allgemeine Bemerkungen. An der Versammlung, zugleich Gerichtsversammlung, teilzunehmen, war Pflicht für alle erwachsenen waffenfähigen Männer. Sie war somit auch Heeresversammlung, fand stets unter freiem Himmel statt, nur bei Tageslicht, konnte aber bis zu drei Tage dauern. Während ihrer Dauer bestand strenge Friedenspflicht. Die Versammlung entschied über alle das Gemeinwesen angehenden Angelegenheiten, so auch über Krieg und Frieden. Thing/Ding85 ist der am häufigsten vorkommende Name und der, unter dem sich die Sache – mit historischen Veränderungen freilich – in der Praxis auch am läng­ sten hielt, im deutschsprachigen und im skandinavischen Raum bis weit in die Neuzeit, dabei in Island sogar durchgehend bis heute. Die Ebene der Volksversammlung (d. h. mehr oder weniger umfassend, was selbstverständlich jeweils zur Größe des Gesamtgemeinwesens relativ ist) zeigen die folgenden Wortzusammensetzungen an: „Althing“ (allgemeines Thing) auf Island, „Fylkething“ (Volksthing) in Norwegen, „Landsthing“ in Dänemark, „Hardesthing“ („Harde“ aus derselben Wurzel wie unser „Herde“, nicht abschätzig) in Dänemark auf einer Stufe unterhalb86 des Landsthings. (Die Namen der Wiederbelebungen in Norwegen, 1814, und in Dänemark, 1849, lasse ich hier beiseite, weil sie eben nicht originär sind.) Eine Periode zeigt an das „Jahrding“/„Jahrgeding“ (jährlich zu einem fest­ stehenden Termin). Ebenfalls feststehend, nur hier auf andere Weise benannt, ist das „echte“ oder „ungebotene Ding“, im Unterschied zum „Botding“, das aus außerordentlichen Anlässen gesondert einberufen, „geboten“ wurde, so die Bezeichnung in Brandenburg,87 als Beispiel für viele. Die Wortzusammensetzungen „Theding“ und „Deding“ habe ich für den Saarbrücker Raum gefunden.88 Die Zusammensetzung „Täding“/„Taiding“/„Teiding“ (und andere) in Schweiz/ Österreich/Tirol, aber z. B. auch im Rheinland, ist aus älterem tagading entstan 85

Mhd. ding/dinc, ahd. ding, älter ist thing: die gehegte Volksversammlung; Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 137: „asächs. anfr. afries. engl. thing, … anord. þing ‚gerichtliche Zusammenkunft, Volksversammlung‘, schwed. dän. ting, langob. thinx ‚rechtliche Zusammenkunft, Versammlung‘ führen auf germ. *þingaz ‚gehegte Versammlung‘. Dazu Mars Thingsus (germ. *Tius þingsaz) ‚der Gott als Heger der Versammlung‘. In gramm. Wechsel damit steht got. þeihs ‚Zeit‘ aus*‚zu bestimmter Zeit gehegte Versammlung‘, germ. *þénhaz. Idg. *téıзkos und lat. tempus ‚Zeit‘ sind verschiedene Erweiterungen der idg. Wurzel *ten- ‚dehnen (s. d.), spannen, ziehen‘, die in air. tan ‚Zeit‘ unerweitert vorliegt. … den Ursinn enthüllt die alte Entlehnung finn. tanhua ‚Hürde‘.“ 86 Bezeichnungen für weniger umfassende Volksversammlungen gibt es auch bei uns. (Aus bes. Gründen dazu mehr erst weiter unten.) 87 Fey, S. 11. 88 Köllner (1865 u. 21981), S. 28 f.

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den, das die auf einen bestimmten Tag festgesetzte Verhandlung meint.89 An Wortzusammensetzungen mit „Thing“/„Ding“ läßt sich noch mehr beitragen, darauf kommt es hier aber nicht an. Ich möchte lediglich jeweils das nähere Umfeld dessen, was zentral ist, erkennbar werden lassen. (Wie weit man da Grenzen zieht, bleibt selbstverständlich umstreitbar.) Wichtig ist dagegen die Bedeutung. Das Wort ist ganz wörtlich zu nehmen: Ding. Damit ist jedoch nicht „Sache“ gemeint wie ital. cosa, frz. chose, von lat. causa, sondern „Angelegenheit“, so wie lat. res (publica) die (öffentliche) Angelegenheit bezeichnet, das, was alle sich angelegen sein lassen. Beim „Thing“/„Ding“, das sowohl die Volksversammlung als auch den Ort, die Stätte der Versammlung benennt, werden also die Angelegenheiten verhandelt/behandelt, die alle angehen. In vielen Quellen90 ist ein Adjektiv beigefügt, das einen Sachverhalt kennzeichnet, der uns schon aus dem lakonischen Wort apella der Spartaner (s. dort) für die Volksversammlung bekannt ist: „gehegtes Ding“/„gehegtes Geding“. Ahd. hẹg(g)an heißt: „mit einem Hag umgeben, umzäunen“,91 im übertragenen Sinn auch „pflegen“92 (daher unser Diktum „hegen und pflegen“). Vermutlich mußte der Hag, der Zaun91 nicht ein aufwendig errichtetes Bauwerk sein, eine einfach errichtete Ab­ steckung (oder allenfalls Hürden rundherum) wird genügt haben. Darauf deutet ein anderes Wort hin, das bei den Friesen anstelle von „Thing“ vorkommt, aber auch im „Sachsenspiegel“ genannt ist: warf, für das es Belege sogar noch an der Mosel gibt, dort aber in der Form warp und warb.93 warf ist eine natürlich vorkommende oder künstlich errichtete Erhöhung, im Sinn von „etwas Aufgewor­fenes“, es konnte aber auch einfach ein Kreis94 gezogen werden. – warf wurde von den Friesen als Bezeichnung für die Volksversammlung sowohl niederer als auch höherer Ebene95 benutzt. Bei den Franken und in Sachsen hieß die Volksversammlung auch „Malstatt“. Ahd. mahalstat, mhd. mahelstat und ähnliche Bildungen stammen aus germ. *maþla-; got. maþljan, anord. māl (und dann in allen skandinav. Sprachen) = sprechen,96 89

Daraus entstand „verteidigen“ = jmdn. bei Gericht vertreten. Grimm, Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 1165, nennt mehrere Beispiele. 91 Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 308. 92 In diesem Sinn kann „ein Ding hegen“ auch heißen einerseits: „schützen“; z. B. (siehe oben) schützt/hegt der Gott das Thing; andererseits: „ein Thing halten/einhalten, wie es sich gebührt“ oder „daß es so einberufen wird, daß es sich mit ihm so verhält, wie es sich gebührt“. 93 Grimm, Wörterbuch, Bd. 27, Sp. 2012. (Die Franken waren Nachbarn der Friesen.) 94 Es gibt anderswo noch andere Varianten: Für die Leitung der Versammlung (die sich setzte)  war ein gesonderter Raum abgesteckt, die anderen Versammelten „schlug[en] den Ring“, einen Kreis drum herum, bildeten den „Umstand“ (Waitz, Bd. I, 31880, S. 349 u. S. 359). 95 Richthofen (1840), § 140: eine Angelegenheit solle kommen „a bredra warf“, d. h. vor eine warf „breiterer“ = höherer Ebene. 96 Von daher auch mhd. gemahel(e) (woraus nhd. „Gemahl“ geworden ist), aus ahd. gimahala (fem.) u. gimahalo (masc.), ursprünglich die einander Versprochenen, d. h. die Verlobten. Das in dieser Hinsicht Einander-versprochen-Werden geschah bei den Germanen übrigens in der Volksversammlung. (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 255 (bei „Gemahl“); s. a. S. 468.) 90

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reden. Damit haben wir im germanischen Bereich ein Verständnis der Sache genau parallel zu griech. agorá (siehe ageírō und agoreúō im 3. Abs. von Kapitel B. I.1.a)). Auch hier ist der Sinn des Politischen, der sich in der Volksversammlung realisiert: das, was alle angeht, zur Sprache zu bringen. Unsere germanische Wortgruppe hat die idg. Wurzel *mōd- oder *mād- mit dem Sinn „begegnen, herbeikommen“97. Im einzelnen finden wir an Volksversammlungsbezeichnungen aus gleicher Wurzel: asächs., ags., anord. mōt (bei den Angelsachsen auch gemot98, entsprechend geding neben ding) und noch im Englischen (historisch) moot99. An zugehörigen Verben, im Sinne von „begegnen, zusammenkommen, herbeikommen“ sind zu nennen: asächs. mōtian, afries. mēta, ags. mæˉtan, anord. møˉta, got. gamōtjan sowie engl. (noch heute) meet.97 Damit haben wir in unseren Wörtern dieses Ursprungs zusätzlich noch den anderen Aspekt des Politischen: das „Zusammen“. Und hier nun nicht von außen, wie im Fall der „Übersetzung“ von agorá, apélla, thing/ding, mahalstat usw. mit „Volksversammlung“, sondern aus dem Sinn, der in der idg. Wurzel unseres Wortes mahalstat und der verwandten Wörter anderer germanischer Sprachen s e l b s t enthalten ist. Im „Kluge/Götze“97 sind zwei Fälle genannt, in denen Ortsnamen die ehemals dort bestehende Ma(h)lstatt angeben: „Detmold (8. Jh. Theotmalli) und Mecheln (mlat. Machlinium)“. Ich kann noch einen Fall beisteuern, in dem das germanische Wort besonders gut erkennbar erhalten geblieben ist, und kann einige Einzelheiten dazugeben. Es handelt sich um Malstatt (später „Saarbrücken 2“). Es war auf Fiskal-Land (Königsland). In drei (echten) Kaiserurkunden, von 960, 977 und 993, schenkte Otto I. die Kirche100 von Malstatt (bzw. bestätigten Otto II. und III. die Schenkung) an die Abtei St. Peter in Metz. D. h., Otto I. entließ sie aus dem Königsland. Die erste Urkunde hat „Mathalstatt“, in den beiden jüngeren heißt es „Madalstat“.101 Vom Fuß des Kirchhügels gibt es einen merowingerzeitlichen Fund.102 – Diese Mathalstat war der Ort der Volksversammlung eines Königshofs im Dannenbauerschen Sinn. Dieser Hof stand nur wenige Kilometer saarabwärts, ebenfalls auf der rechten Saarseite in (heute) Völklingen (damals Fulcolingas), der

97 Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 255 (bei „Gemahl“). Für den skandinavischen Bereich siehe Haugen, passim. 98 Waitz, Bd. I, 31880, S. 339 f., im Fall kleinerer Einheiten dann scirgemot (zu scir- gehört das jüngere shire-). 99 Bei englischen Juristen noch heute im Gebrauch i. S. v. „zur Aussprache/Diskussion stellen“. 100 Bei ihr kennen wir das alte Patrozinium nicht. 101 Kuhn, Heinrich (1960), S. 41. In diesen beiden Fällen ist außer der (Pfarr-)Kirche „de Madalstat cum capella de duodonis vil(lare)“ noch eine nun bestehende Filiale Dudweiler genannt. 102 Bericht der staatlichen Denkmalpflege des Saarlandes, 10, S. 43: Bei Ausschachtungs­ arbeiten vor dem Zweiten Weltkrieg ein „Sax“ (merowingisches Kurzschwert) wohl aus einem sonst nicht beachteten Grab.

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in einer (ebenfalls echten) Kaiserurkunde Ludwigs d. Frommen genannt ist, die er 822 dort ausgestellt hat. Sie betrifft die Förster des Vosagus.103 Bei Völklingen bezeugt der Ortsname auf -ingen die Entstehung in der Zeit der Landnahme der merowingerzeitlichen Franken. Die Völklinger Kirche hatte außerdem ein Martins-Patrozinium, besonders beliebt in der Merowingerzeit,104 was für sich allein zur Datierung nicht ausreichen würde.105 – Ergänzend verweise ich noch auf den urtelstockh oder gewöhnlich mallstadt genannt im Hochgericht Theley im nördlichen Saarland (Theleyer Jahrgedingweistum von 1527,106 womit ich zeigen möchte, daß der alte Name Malstat o. ä. noch am Beginn der Neuzeit in der Dingpraxis lebendig war), außerdem auf Malberg in der Eifel.107 – Schließlich, der Name kommt, was angesichts seiner Verbreitung im fränkisch dominierten Raum nicht verwunderlich ist, auch latinisiert vor, als mallus publicus,108 für sich allein, aber auch als Gegenstück zu privata audientia.109 Für Osnabrück sind die mahlleute genannt, „welches gemeine männer sind“, d. h. „die versammelten gerichtseingesessenen“.110 Volksversammlungen gibt es auch unter dem Namen Sprake/Sprache.111 Das reicht von Norddeutschland bis Graubünden. Der Name zeigt wieder das Grundverständnis: das, was alle angeht, zur Sprache zu bringen. Die weite Verbreitung zeigt, daß wir es nicht mit einer Absonderlichkeit zu tun haben. „Sprache“ als Name jener Versammlungen (neben „Thing/Ding“ oder „Mathal­ statt“) kommt vor im „Heliand“ („… te theru sprâcu …“) und im „Otfried“ („eina­ sprâcha“). Das ist 9. Jahrhundert. Die Situation entspricht der in bezug auf agorá bei Homer. Das heißt, „9.  Jahrhundert“ ist hier zu verstehen als terminus ante quem; um wieviel, wissen wir nicht. Umgekehrt geht’s auch hier bis weit in die Neuzeit. Jetzt noch einige Beispiele. (Was den Bereich zwischen Nord- und Mit 103 Das war damals ein sehr weit ausgedehnter, urwald-artiger Forst (ähnlich den Ardennen). Die Bezeichnung Vosagus umfaßte seinerzeit nicht nur die Vogesen (Elsaß und Teile Ostloth­ arenta ringens) und den „Wasgen“-Wald (Südpfalz), sondern auch das große Waldgebiet W (heute „Warndt“ = „gewahrter“ Königsforst sowie den (heute) „Saarkohlenwald“ genannten großen Forst von Quierschied, die beide zum Königshof Völklingen gehörten, dessen Bereich also sehr groß war. – Mit Urkunde von 999 schenkte Kaiser Otto III. dem Bistum Metz das castellum sarabruca, den Königshof Fulckelinga, die Wälder Quirnesceit und ­Warenta (Haubrichs/Stein, S. 130) samt Zubehör, darunter auch Kirchen (Kuhn, Heinrich, 1973, S. 5). 104 Vgl. z. B. Dannenbauer (21975), S. 111–118. 105 Die erste Kampagne der im Nov. 2000 begonnenen planmäßigen Kirchengrabung im nicht ältesten Teil (dieser ist der Turmbereich) erbrachte Fundstücke aus dem 2. Dr. des 9. Jh. (erster Bericht in „Saarbrücker Zeitung“ v. 24.2.2001). 106 Bongartz, S. 51. 107 Haubrichs/Stein, S. 131. 108 Z. B. Sprandel, Rolf (1975), S. 325 u. S. 337. Auch Mühlbacher, S. 299. 109 Brunner, Otto (21956), S. 12. 110 Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3202. 111 Die Formen, in denen „sprechen“ (dabei auch eine Wortgruppe mit unregelmäßigem Ausfall des „r“) in den westgermanischen Sprachen vorkommt, gehen zurück auf wgerm. *sprek-a- (Kluge, 23. Aufl. S. 782).

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teldeutschland einerseits und Graubünden andererseits angeht, verweise ich summarisch auf das Grimmsche Wörterbuch, Bd. 16, Sp. 2723 f., dort aus Chroniken, Rechtsaltertümern und noch anderer Dichtung112 als den beiden schon genannten ältesten.) Zunächst Chur in Graubünden (aus einem Churer Weistum). Dort heißt die Versammlung (die)  sprâchâs. Grimm (Wb.,  Bd.  16, Sp.  2715) erläutern wie folgt: = „landsprache, ehelichtäding“ (=  Gerichtstag-Ding) und zitieren: „vermerkt die freihait und alt herkomen, so das stift und gotzhaus zu Chur hat, wan man­ sprâchâs hat. item und die soll man haben zwirent [zweimal] im jar, ain mall [einmal] im jenner, und das ander mall im maien“. In Norddeutschland heißt die Volksversammlung oft „Sprake“. Ich nehme als Beispiel die Hamburger „Burspraken“. Bevor ich auf diese als „Sprachen“ komme, muß ich etwas zu „Bur“ sagen. In Handbüchern kann man da lesen: = Bauer. Das ist richtig und falsch. „Bur“ meint zunächst nicht den rusticus; das Wort kommt von mhd. būwen, asächs. būan, ahd. būwan, būwen, was „wohnen, bewohnen, bebauen“ und dann auch „pflanzen“ heißt. Auch got. bauan, anord. búa/bōa heißt „wohnen, bewohnen“. Die Wurzel ist idg. *bhū, „als deren Grundbedeutung nach [= zufolge] ind. bhū, griech. phýō, lat. fui (futurus) usw. ‚sein, werden, entstehen, erzeugen‘ zu gelten hat“.113 Das Substantiv ahd. būr hat noch die umfassende Bedeutung „Wohnung“ (wird erst später eingeengt auf „der (Vogel-)Bauer“), entsprechend anord. und ags.;114 noch heute engl. bower  = Wohnung, Landsitz u. ä. In „Bursprake“ ist mit „Bur“ gemeint, was „mhd. nāchgebūr, ahd. nāhgibūr(o), nl. nabuur, ags. nēhhebūr, engl. neighbour“ heißt. (In Kapitel B. I.6. bringe ich in anderem Zusammenhang noch Beispiele, von der Wetterau bis Unterkrain, in denen napar oder nachbar mit gemeiner kombiniert ist.) Die Grundbedeutung ist: der, der nahe mit anderen zusammen wohnt.115 Anhand der folgenden Beispiele läßt sich noch ergänzen: wer zusammen mit anderen ein Gemeinwesen engeren Zusammenhangs, geringerer Größe bildet. Bei Grimm116 steht: „darum heiszen sie geburen, als solche, die in der bur, der gemeinde zusammen wohnen“, hier in Osnabrück. In Friesland hatte das Brookmerland vier Distrikte, vier buras, deren jede eine eigene Versammlung (warf) hielt, dazu zweimal jährlich alle vier buras 112

Nur um der Lebendigkeit willen die Textstelle aus dem Rolandslied (17, 8): „wir komen nach ime [zu ihm] (dem kaiser) zů Ache [Aachen]. da gebiete er sine sprache mit vunf [fünf] hundert helden.“ – Ich kann gleich hier hinzufügen, daß es neben den „Sprachen“/„Spraken“ zu überwiegend feststehenden Terminen auch solche zu außergewöhnlichen gab. 113 Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 58 („bauen“). Über den Zusammenhang von „bauen“, „wohnen“ und „sein“ siehe außer Grimm, Wb., Bd.  1, Sp.  1170 („Bauen“  …), vor allem Kluge, 23. Aufl., S. 86; zu (ich) „bin“ S. 111. 114 Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 58 („Bauer“). 115 Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 514 („Nachbar“). 116 Grimm, Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 532; dazu siehe auch Bd. 4, Sp. 1658 f. („Gebauer“, bes. 3a u. 3c).

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zusammen eine Versammlung des Gesamtgemeinwesens des Brookmerlandes.117 In Breslau ist im 13. Jahrhundert die städtische Bürgerversammlung das gebûrdinc,118 ebenso in Magdeburg (von wo es nach Schlesien gekommen war) als gebuerding, dort aber auch als bûrmâl.118 In dem Teil des Saarlands, in dem moselfränkische Dialekte gesprochen werden, ist für ländliche Gemeinwesen geringerer Größe, etwa so wie die friesischen buras, die Bezeichnung gebuyrdin belegt,119 Gemeindemitglieder in einem schon stärker vom Rheinfränkischen mitbeeinflußten Gebiet heißen „unser nochpūr“ (einer) und „die nachgepuer“ (mehrere).120 Während ich für diese Gegend zwar keine Wortverbindung von gebuyr- mit -sprache kenne, existierte aber sehr wohl eine Wortverbindung vom (allgemeinen) Namen der Untereinheit eines Hofes bzw dael (Tals), nämlich heim-,121 mit -(ge)rede (statt -sprache): „die heimgerede“,122 die Versammlungs-/Gerichtsgemeinde auf der alleruntersten Ebene (wenn eine solche ausgebildet war), in manchen Orten später abgelöst von „die heimrat“. Die gegenüber „Rat“ (in „Heim-rat“) ältere Variante „Rede“ (in „heim-­ge-rede“; hier eben -rede statt -sprache) ist, wie zu erwarten, keine regionale Kuriosität der Saargegend. Das sehen wir bei Grönbech (I, S. 150) für nordgermanische Verhältnisse (und es gibt vermutlich räumlich dazwischen noch mehr davon): „Der ganze Unterschied zwischen rede, [d. h.] guten, klugen und erfolgreichen Plänen, und unrede, schlechten Plänen, die wohl ausgezeichnet aussehen mochten, aber doch im Grunde fehlerhaft waren, liegt im Heil.“ Dazu sagt Grönbech etwas später: „Das alte Wort für Rat, rede“ … . …wenn es auf das Heil [also auf das, was für das Gemeinwesen gut ist (siehe Annex betr. Legitimitätsprinzipien, Kapitel B. V.6.b) in Verbindung mit B. V.4.b))] angewendet wird, das in der Seele wirkt, bedeutet es ‚Weisheit‘ oder einen guten Plan“ (I, S. 156). 117

Waitz, Bd. I, 31880, S. 338 u. S. 340. Grimm, Wörterbuch, Bd. 4, Sp. 1659, bei „Gebauer“, hier 3c) α). – Ich ergänze aus Bd. 5, Sp. 3226, bei „Gemeinde“, ebenfalls für Magdeburg: „were abir das ein gesworen radmann [Ratsmitglied] (der bei hofe gegen der stadt recht wirkte) . . [,] so hette der synen eid gebrochen  .  . unde hette den rad [seine Ratsmitgliedschaft] vorworcht [verwirkt] unde syne gemeynde [sein Gemeinderecht] adir [oder] burmal [Recht zur Teilnahme am Gemeinde-Thing, d. h. an der Gemeinde-, hier Stadtversammlung] vorloren“, dazu die Variante: „sin buermal[recht], das ist sin bürgerrecht, sine gemeinschaft“. Am Ende des Kapitels gehe ich thematisch auf „gemeinen“ und „gemein“ ein. 119 „wye dat gelegen ist in der gebuyrdin ho und dyeff“, d. i. „hoch und tief“, also oben und unten in der Talgemeinde (der dā´el) Nalbach (später mit zahlreichen Dörfern), mit „Hof“ und mit „Ding“ unter der Linde vor der Pfarrkirche (die Pfarrei zumindest seit 931/956). Vor 1048 gehörte die curtis dem Erzbistum Trier, das sie dann dem Simeonsstift Trier schenkte (Schwingel, 1964, S. 61). 120 Hier „der Dirminger dael“, Schwingel (1964), S. 90. (Dirmingen ist Ort der fränkischen Landnahmezeit.) – Das e hinter dem a in dael wird nicht gesprochen, desgleichen nicht das e hinter dem u in nachgepuer und buermal und auch nicht das y hinter dem u in gebuyr-, sie verlangen lediglich die Dehnung des vorausgegangenen Vokals (noch heute so in „Soest“). 121 Mit dem „Heimmeier“ und dem „Heimburgen“; ähnlich am Oberrhein und in Schwaben, was hier nicht näher zu betrachten ist. 122 Schwingel, S. 98 (im Raum des Hochgerichts St. Wendel). 118

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So wie wir außer Ding (und Thing) als Bezeichnung für die Volks-/Gerichtsversammlung auch Ge-ding kennengelernt haben und, gerade eben, auch die Ge-rede, gibt es neben Sprache auch Ge-spräch im selben Sinn. Ich bringe zwei Beispiele, die bei Grimm (Wb., Bd. 5, Sp. 4162) nachgewiesen sind: „ein gespræche er [der] (könig) dô gebot den vürsten algeliche [allesamt].“ (Rudolf von Montfort, = R. v. E., Barlaam und Josaphat, 13. Jh.) „hie sol ein gespræche sîn durch [d. h. wegen bzw. um zu steuern] des landes hœhste nôt.“ (Rudolf von Ems, = R. v. M., Der guote Gêrhart,13. Jh.)

In Sp. 4163 ist ein Fall wiedergegeben, in dem das Ergebnis einer Beratung der Versammlung (hier des Dorfes Neiden), nämlich die Satzung des Dorfes („deren articul“), „gespräche genennet werden“. Gleiches begegnet uns noch einmal bei der Hamburger Bursprake. Nach dieser Vorklärung zu bur- nun zu den Burspraken der norddeutschen Städte am Beispiel Hamburg. Bolland hat die hamburgischen Burspraken (in Hamburg „zahlreicher als die bisher veröffentlichten Burspraken anderer Städte“; Bolland, 1960, S. 1) bearbeitet und ediert. (Wieso man eine „-sprake“ edieren kann, wird weiter unten gesagt.) Zur Geschichte der Bursprake in Hamburg – ­soweit sie zurückverfolgt werden kann – heißt es: „Die Bursprake gehörte in Hamburg offenbar zu den ursprünglichen Einrichtungen der bürgerlichen Selbstverwaltung, wie sie nach 1189, nach der Begründung der Kaufmannsstadt, entstand. Schon im Stadtrecht von 1270 wird die Bursprake beiläufig, gleichsam als selbstverständliche Einrichtung erwähnt. Aus einem Anhang zum Stadtrecht von 1270 ist ferner zu erschließen, daß die Bursprake in Hamburg eine dingähnliche Versammlung war, in der Widerspruch vorgebracht werden konnte. Die offenbar ursprüngliche Wortbedeutung als Bürgerversammlung ging anscheinend auch später nicht vollständig verloren, wie sich aus der Übersetzung in civiloquium bzw. plebiscitum in den lateinisch geführten Kämmereirechnungen ersehen läßt. Allerdings ist in diesen seit 1350 zum Teil erhaltenen Rechnungen schon 1372 eine Ausgabe ad scribendum de bursprake verbucht, so daß demnach unter Bursprake im übertragenen Sinn damals auch bereits die Niederschrift der zu verkündenden Artikel verstanden worden ist.“ (S. 7 f.)

Daß Sprache nicht bloß „Mittel, um …“ ist, sondern das, was sie hervorbringt, die „Sache“, um die es geht, wird, wenn man genau hinschaut, aus Bollands Definition erkennbar. Die städtische Bursprake des Mittelalters ist „‚Bürgerversammlung und gleichzeitig Sammlung derjenigen Verordnungen und Bekanntmachungen, die in diesen Zusammenkünften an bestimmten Tagen sowie darüber hinaus nach Bedarf vom Rat – im Rahmen der städtischen Autonomierechte und unter Berücksichtigung bürgerlicher Mitbestimmungsbefugnisse – erstmals oder zur Einschärfung erneut abgekündigt wurden‘.“ (S. 3 mit Fußn. 10; Bolland, 1960, zitiert hier Bolland, 1956, S. 116.)

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„-sprake“ heißt hier „zur Sprache bringen“ u n d das „Zur-Sprache-Gebrachte“, als Abgesprochenes, Vereinbartes, verbindlich Gewordenes, selbstverständlich genau so schon für die noch mündlich erfolgte Tradition.123 – Das Wesen des Politischen können wir ebenso ablesen an den Wörtern der Wortfamilie um „meinen“, „gemein“, „gemeinen“, „Gemeine/Gemeinde“ und „Gemeinder“. Ich beginne mit „meinen“. Das Wort hat heute die Bedeutung „(sich) äußern“, „der Meinung sein“. Es ist belegt auf deutsch seit dem 8.  Jh.:124 ahd. meinen, meinan, altsächs. mēnian „meinen, äußern“ (ähnlich altengl. u. altfries.). Außergermanisch kommt es vor: altkirchenslaw. mēniti „gedenken, erwähnen“. Es handelt sich um Ableitungen aus idg. *moino- „[im] Wechsel, [im] Tausch“;125 „meinen ist ursprünglich ‚der Reihe nach, im Wechsel, seine Meinung äußern‘“ (Kluge, 23. Aufl., S. 551). „Gemein“ ist ahd. ebenfalls seit dem 8. Jh. belegt als „gimeini … aus g[erm]. *ga-maini- Adj. ‚allgemein‘, auch in g[o]t. gamains, … . Genau gleich gebildet ist l[at]. commūnis126 gleicher Bedeutung (…). Zugrunde liegt ein (i[d]g.) *moino-126 [siehe oben] …; Ausgangsbedeutung ist also ‚worin man … [einander] abwechselt,

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An dieser Stelle zwei Hinweise. „Urkunde“ (aus ahd. urkundi, Nominalbildung zu „erkennen“; Ursprungsbedeutung ist „Bekundung“; Kluge, 23. Aufl., S. 851) gehört von Hause aus ins gesprochene Recht, i. S. v. „bekunden, was richtig/rechtens ist“. Dazu Hans K. Schulze (Vom Reich, S.  282): „Ausdruck dieser mündlichen Rechtskultur ist es, daß das Wort ‚urchundo‘ im Althochdeutschen nicht das Pergament, das geschriebene Beweismittel, bezeichnete, sondern den Zeugen, der mit seinem Munde die Wahrheit ‚kund‘ tun konnte.“ – Vor der schriftlichen Fixierung – das gilt auch für das „alte Herkommen“, das dann, meist auf herrschaftliche Veranlassung und in herrschaftlichem Interesse, soweit wir wissen, ab dem 13. Jh., in „Weistümern“ (also Nachweisungen) niedergelegt worden ist – mußte das, was „galt“, was herkömmlich/rechtens war, von – das ist wörtlich zu nehmen – den M ä n n e r n , die dem Gericht/dem „Ding“ angehörten, auswendig gelernt werden, damit das Herkommen gesichert, Willkür ausgeschlossen war. Ich kenne aber auch den Fall der (Anna) Catherina Vogelgesang, geb. Landorf (sie gehört zu meinen Vorfahren), die, als Wittib, zusammen mit dem Meier von Mimbach, im Bliesgau, 1659 altes Herkommen gewiesen hat; es ist der erste mir bekannte Fall der aktiven Beteiligung einer Frau an einer Weisung. (Viele Dörfer waren infolge des Dreißigjährigen Krieges ganz oder fast menschenleer, im vorliegenden Fall sonst niemand mehr da, der die Verhältnisse von vor 1635, dem verheerenden Kriegsjahr, noch kannte.) Anfänge dieser Art sind freilich stets Ausnahmen und erwachsen aus Sondersituationen, hier der des Dreißigjährigen Krieges. – In einer Stadt wie Hamburg war schon im Hohen Mittelalter das, was „galt“, viel zu viel, als daß es noch bloß mündlich zu tradieren gewesen wäre. 124 Erst im 8. Jh. natürlich nur deshalb, weil es vor dem 8. Jh. im Ahd. u. Altsächs., aus denen Mhd. und Mnd. entstanden sind, noch keine schriftlichen Quellen gab. Das gesprochene Wort ist gerade hier viel älter. In Grimm, Wb., Bd. 5, wird in diesem Zusammenhang an vielen Stellen hervorgehoben, daß und warum Wörter aus dieser Wortfamilie sehr alt sind, z. B. Sp. 3169 für „gemein“, Sp. 3221 für „Gemeinde/Gemeine“. 125 Das ist im Fall von „meinen“ aus idg. *moino- zumindest von Hause aus nicht sozusagen ökonomisch, sondern im strengen Sinn politisch zu verstehen. 126 Altlat. Akk. co-moinem (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 255).

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was einem im Wechsel zukommt‘“127 (siehe oben). „Was einem … zukommt“, ist als das Recht zu verstehen, zur Sache „der Reihe nach, im Wechsel, seine Meinung [zu] äußern“. Wir haben wieder die für das politische Gemeinwesen charakteristische Situation, v o r aller Herrschaft: Das, was diejenigen – ich sage es wieder zunächst möglichst neutral: – miteinander zu tun haben, miteinander verbindet, ist, daß sie das, w a s sie miteinander verbindet, derart besprechen, daß jeder dazu „der Reihe nach, im Wechsel, seine Meinung äußern“ kann, geordnet, daß dies eben jedermanns Recht ist, nicht aber, daß bei ihnen einer befiehlt, was zu tun sei, oder umgekehrt, daß alle durcheinander reden. Als Fazit dessen, was bei Grimm, Wb., Bd. 5, über die deutschsprachigen Wendungen und Verwendungen der Wörter der hier betrachteten Wortfamilie zusammengetragen und miteinander verglichen wurde, heißt es (Sp. 3170): „2) gemein ist eigentlich allgemein, was alle angeht, von allen ausgeht u. ähnl. (s. 3). a) allgemein ist ja selbst nichts als durch all verstärktes gemein, wie allein durch all verstärktes ein“, dazu (Sp. 3175) jenes „3)“: „entwickelt worden ist begriff und wort im leben der gemeinde (…), die noch davon den namen hat (…), gemein was alle angeht[,] sofern sie eine gemeine darstellen. a) das war noch dem 16. jh. vollkommen gegenwärtig, in leben und rede reich entwickelt“. „Gemein“ und die anderen Glieder der Wortfamilie sind von Hause aus also nicht bloß irgendwie positiv besetzt, sondern bezeichnen, ähnlich wie das (und gleichberechtigt mit dem), was in diesem Kapitel weiter vorn steht (und in bezug auf die Griechen in Kapitel B. I.1.a)): das Wesen des Politischen.128 Jetzt zum schon zur Zeit der Gebrüder Grimm fast ausgestorbenen129 gemeinen (Bd. 5, Sp. 3249 f.). Im Gotischen gibt es das Verb gamainjan = teilgeben, mitteilen, teilnehmen, teilhaben. Ahd. gimeinian hat denselben Sinn, desgleichen mhd. gemeinen (trans. und intrans.). Bei Grimm heißt es in bezug auf einen schweize­ rischen Sachverhalt: „besonders bemerkenswert aber [ist] gemeinen, [im Sinne von] gemeindeversammlung abhalten, gleich gemeinden, s. d.“ – was einen nicht wundert: Unter Schweizer Bedingungen (Lage und historische Sonderentwicklung) bleibt Älteres länger erhalten. Aus Ulm haben wir vergemeinden in der Bedeutung von (nur noch) der Gemeinde „öffentlich bekannt machen“. Wie im Fall des Adjektivs gemein finden wir, wie bei „sprechen“ und „reden“, beim Verb gemeinen Wortverwendungen außer im politischen Zusammenhang 127

Kluge, 23. Aufl., S. 311. „Gemein“ wird aber auch mit Bezug auf wenige, sogar nur zwei Personen verwendet, z. B. Liebende, im Sinne von „in Eintracht“, entsprechend „ungemein“, z. B. mit Bezug auf Fürsten auf einem mißglückten Kreuzzug im Sinne von „in Zwietracht“. Dann gibt es ein „sich gemein machen“, wo solches sich nicht gebührt. (Zu diesen Wortverwendungen, die uns im folgenden nicht mehr interessieren, mit vielen Beispielen, Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3196.) 129 Es kommt in unseren etymolog. Wörterbüchern auch nicht mehr vor. 128

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auch in bezug auf wenige oder nur zwei Personen, so in großer Zahl bei Otfried von Weißenburg (9. Jh.) im Sinne von „durch wort und schrift mittheilen, aussprechen“ u. ä.; später, im Hohen Mittelalter, etwa so: „wolte sie [die Dame] mir [ihrem Minnesänger] gemeinen“, d. i. „einen gedanken mittheilen, durch rede“. Jetzt zu die „Gemeine“, die „Gemeinde“. Bei Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3220 f., wird anhand der Wortvorkommen in got., ahd., altsächs. und altfries. gezeigt, daß der Name für diese Art Gemeinwesen von Anfang an in dieser Doppelform vorkommt (mhd. ebenso, dazu dort außerdem mêne, mênde u. ä.). Das Substantiv ist seit dem 8. Jh. schriftlich belegt (Kluge, 23. Aufl.). Eine jüngere Nebenform (erst seit dem 14. Jh.) ist gemeinheit, ebenfalls noch ganz positiv besetzt (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3255 f.). Das ist zu Anfang des 19. Jh. immer noch so.130 „Gemeine“ und „Gemeinde“ bezeichnen offenbar von Hause aus131 nicht­ städtische132 Gemeinwesen. Dafür gibt es wenigstens zwei Argumente. Zumindest in den Bereichen des Altsächsischen (schriftliche Belege ab 8. Jh.) und des Altfriesischen (hier erst ab 13. Jh.) gab es zu der frühen Zeit, zu der diese Sprachen gesprochen wurden, keine Städte. Zur Demonstration dessen, auf das es ankommt, wähle ich Ostfriesland, weil wir es weiter vorn in diesem Kapitel schon einmal mit dem (ost-)friesischen Brookmerland zu tun hatten. Emden ist zwar um 800 als Handelsplatz gegründet worden, zur Stadt entwickelt hat es sich aber erst im 15. Jh. Jever ist zwar schon 1039 als Münzstätte erwähnt worden, eine städtische Entwicklung gab es aber erst ab dem 14. Jh. „Kleinteiligkeit und Verstreutheit der Siedlungsräume“ in Ostfriesland erschwerten die Bildung größerer Einheiten. „Die Zahl der Eigen besitzenden bäuer­

130 „Manche Gemeinheiten haben … das Recht“, „ihre Vorsteher … selbst zu wählen“ (Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, 7 Bde., Hannover, 1799–1809, Bd. IV, 1, S. 130, hier wiedergegeben gem. Blickle, 1991, S. 24). 131 Das ist in Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3232, so formuliert: „5) Die lebendige gemeinde, gemeine, ortsgemeinde, dorfgemeinde, flurgemeinde u. ä., dargestellt durch die gemeindsleute, gemeinder, gemeiner, gemeinen leute, bürger u. dergl. … . a) ausgegangen ist es gewiss von der flurgemeinschaft, dann von da auf die städte (…) und auf alle gemeinschaft überhaupt übertragen, grosze und kleine“. Von den Beispielen bei Grimm, die eine Übernahme auch in den städtischen Bereich belegen, nenne ich hier nur: Gemeinderat „gewöhnlich doch von dorfgemeinden, in städten stadtrath oder magistrat“ heißt „österr. z. b. der Wiener gemeinderath“ (Sp. 3246); „der städtische grund als eigenthum der gemeinde“ (Sp. 3224); „gemeinde- ader [= oder] burgerrecht“ in Magdeburg (Sp. 3226). – Unbeschadet der Verwurzelung von „meinen“ und „gemein“ im Indogermanischen vermutet Seebold (Kluge, 23. Aufl., S. 311), daß die Bildung speziell des Adjektivabstraktums „Gemeinde“ („ahd. gimeinida“, belegt ebenfalls ab dem 8. Jh.) „unter dem Einfluß von l[at]. commūnio ‚Gemeinschaft‘“ stand, gemäß Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 255, vielleicht im kirchlichen Bereich. 132 Ich zeige in Kapitel B. I.8., daß – entgegen herrschender Lehre – die Stadt in bezug auf das Wesen des Politischen ganz irrelevant ist.

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lichen Leute war offenbar von Anfang an relativ groß. … Grundherrschaft und Feudalismus [fanden] hier keinen … Nährboden“ (van Lengen, S. 128). Seit dem 9.  Jh. besaßen alle Friesen, die vom fränkischen König zur „Landfolge“ (Heeresfolge) aufgeboten werden konnten, die vom König verliehene Freiheit („Königsfreiheit“). „Nach dem Abflauen der Normanneneinfälle“ gab es eine „Fortsetzung der Selbstverteidigung [jetzt] gegen … die zunehmenden Sturmfluten“ mittels Damm- und Deichbau (S. 129). Das hat wiederum das Bewußtsein von Eigenart und Selbstverantwortung verstärkt. Ostfriesland bestand aus vielen „autonomen Landesgemeinden“. „Ihre tragenden Glieder waren [jeweils] die … Landesviertel“, als noch kleinere bäuerliche, nachbarliche Gerichtsbezirke (S. 130). Weiter vorn hatten wir das Brookmerland, eine dieser Landesgemeinden, mit ihren vier Buras schon einmal, mit der Volksversammlung (warf) jeder Bura für sich und der Versammlung für die ganze Landesgemeinde. Viel „schwächer war … der Zusammenhalt des ganzen Frieslands ausgebildet: die ‚tota Frisia‘ war ein mehr aus der Not heraus fallweise reagierender lockerer Bund mehrerer friesischer ‚univer[s]itates terrae‘, als Einheit mehr beschworen als bewirkt“ (S. 130 f.). Ob nun „Landesgemeinde“ im Friesischen ein altes Wort ist oder ein später geprägter gelehrter Begriff, diese friesischen Gemeinwesen hatten jedenfalls ländlich-bäuerlichen Charakter – und darauf kommt es mir an –, und auch sie waren immer noch relativ klein. Das zweite Argument spreche ich zunächst bloß an: Das lat. Adj. communis geht ebenfalls auf die idg. Wurzel zurück, aus der unser „meinen“, „gemein“, „gemeinschaftlich“ und „gemeinen“ sowie „Gemeinde“ stammen. Das, worauf es ankommt, ist: Wir kennen das lat. Wort auch in seiner altlat. Form, co-moinis, die noch dem archaischen Wortbestand angehört. Um das, was sich daraus für uns ergibt, nicht zweimal sagen zu müssen, verweise ich auf das folgende Kapitel, B.I.1.c), in dem es thematisch um Latium und Rom geht. – Einige der zu unserer Wortfamilie gehörenden „Täterbezeichnungen“ – wie die Sprachwissenschafter das nennen – sind in anderem Zusammenhang in der vorletzten Fußnote schon erwähnt worden. Ich komme in Kapitel B.I.6., in dem speziell die Bezeichnungen für die Glieder der Gemeinwesen genannt werden, darauf zurück. Ganz zu Anfang der nicht weniger als 104 sehr klein und eng bedruckten Spalten 3169–3272 in Grimm, Wb., Bd. 5, von „gemein“ bis „Gemeinwohl“ (und noch ein wenig über dieses hinaus) mit vielen tausend Belegen, heißt es: „gemein, [wie lat.] communis, ein altes hochwichtiges und edles wort, nun aber übel heruntergekommen“. Diese Kennzeichnung ist für unser Zentralthema wichtig. Der Verschlechterung des Wortsinns von „gemein“, „Gemeinheit“ usw. liegen, wie immer in solchen Fällen, Veränderungen der Wirklichkeit zugrunde. Mit dem Zerfall des Politischen ab Frühem Mittelalter, dem Übergang zu Herrschaft (siehe dazu

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Kapitel B.II.1.a)) und der Herausbildung eines Adelsstandes änderte sich das Verständnis von „gemein“. Nicht auf einmal – so etwas kommt sowieso fast nie vor – und keineswegs überall. Positiv besetzt war „gemein“, um aus der großen Fülle dessen, was dazu in Grimm, Wb., Bd. 5, zusammengetragen worden ist, nur je einen Namen aus dem Hochmittelalter und aus der Frühen Neuzeit zu nennen, bei Walther von der Vogelweide133 und bei Martin Luther.134 Auch in den folgenden Jahrhunderten gab es das positive Verständnis immer noch;135 es wurden auch in dieser Weise zu verstehende gelehrte Begriffe neu gebildet, so „Gemeinwesen“, zunächst in der Variante „das gemeine wesen“ (Sp. 3271) zur Übersetzung von res publica, aber auch „gemeinsinn“ (Sp. 3269 f.) und „gemeinwohl“ (Sp. 3272). Voraussetzung für das Absinken der Bedeutung von „gemein“ war jedenfalls die mit dem Mittelalter aufkommende Unterscheidung zwischen dem Adel und dem „gemeinen Volk“, so mhd. in der Wirklichkeit und im Schachspiel: „daʒ die gemeinen lûte“ (auch „die gemeinen steine“, wozu wir heute in bezug auf das Schachspiel „die Bauern“ sagen) „vor den edilingen stân“ (Sp. 3202). Das Sich-Absondern betrieben nach dem Adel dann auch andere: „das herunterkommen dieses ursprünglich allumfassenden und bestimmenden begriffes [gemein] von seiner höhe oder seine auflösung vollzog sich nun darin, dasz von jener all-einheit immer mehr und mehr sich herauszogen und daneben oder möglichst darüber stellten, womit der begriff allmälich zu seiner heutigen niedrigkeit hin­ abgedrückt ward. so ähnlich schon im 14. jh. in städtischem gebrauch, wenn der gemeine man neben und hinter den bürgern erscheint“ (mit Beispiel aus Magdeburg) und „es müssen wol die einwohner ohne bürgerrecht sein, an denen da der sinkende begriff nun hängen blieb“ (Sp. 3204, γ)). „besonders wichtig wurde dann der gegensatz zwischen gelehrt und gemein: gemeiner mann, ein lay, einfältiger schlechter mann, idiota, illiteratus“ usw. (Sp.  3206, γ)). Die Distanzierung von noch weiter unten befindlichen Leuten wurde schärfer. Mit Beginn der Neuzeit, mit der Herausbildung von Staatlichkeit und mit dem dabei immer größer werdenden Abstand zwischen fürstlicher Obrigkeit und Untertanen wurden auch die Begriffe „gemeiner Mann“ und „Untertan“ mehr und mehr austauschbar. Der Ansehensverlust von „gemein“ schlug sich dann sprachlich in einer Weise nieder – und das paßt, von den Zeitgenossen allerdings wahrscheinlich unbemerkt, genau zur Intention einer Distanzierung „besserer Kreise“ vom „Gemeinen“ als dem „Niederen“ –, daß der Gegenteilsbegriff von „gemein“, also „ungemein“, bei den Schriftstellern der Zeit (spätestens ab 1. Hälfte 18. Jahrhundert) literarisch und sicherlich ebenso in der mündlichen Rede an denjenigen Stellen zur adverbialen

Z. B. Sp. 3197, f) β) und γ). Z. B. „die gesichter der gemeinen leute auf der strasze zu sehen, ist jederzeit eines meiner gröszten vergnügen gewesen“ (Sp. 3202, 6), a), γ)). 135 Bei Grimm Beispiele in großer Zahl. 133 134

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und adjektivischen Verwendung kam, an denen sonst bloß „besonders“, „außer­ ordentlich“ oder vielleicht auch nur „sehr“ gestanden hätte.136 Bevor ich zum Tiefstpunkt der Bedeutung von „gemein“ komme, nenne ich noch eine Wortverwendung, mit der die unterste Stufe innerhalb einer Rangordnung bezeichnet worden ist, aber ohne moralische Abwertung. In den deutschen Heeren war bis 1918 „Gemeiner“ bzw. „gemeiner Soldat“ die Bezeichnung für den untersten Dienstgrad. In Grimm, Wb., Bd.  5, besonders Sp.  3205 und Sp.  3215 f. (betreffend „gemein“) sowie Sp.  3256 f. (betreffend „Gemeinheit“), wird u. a. gezeigt, daß der Tiefstpunkt im 19. Jh. erreicht worden ist, und zwar erst nach Johann Christoph Adelung (1732–1806). Damit hat es folgende Bewandtnis. Adelung hat den „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart“ unternommen. Das Ergebnis des Versuchs ist unter diesem Titel von 1774 bis 1786 erschienen. 1793–1801 kam eine zweite Auflage unter dem Namen „Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart“ heraus, 1808, also zwei Jahre nach Adelungs Tod, eine dritte, revidierte, unter demselben Titel. Zwar gibt es schon im 18.  Jh. die Wendung „ein gemeiner kerl“, aber sie ist bei Adelung immer noch bloß in der Bedeutung von ein „mensch … von niedrigem stande“ (Sp. 3205). Auch „der gemeine pöbel“ (ebenso franz. le petit peuple, la populace) hat, ebenso wie im 17. Jh. und ebenso wie bei Luther, „noch nicht“ den „ganz verächtlichen klang von heute“137 (Sp. 3208 f.). Das ändert sich bei Goethe: „und ich sags zum drittenmal, wenn ers hören will, der flegel, der impertinente, der gemeine kerl“ (Sp. 3216) und bei Schopenhauer: Geläufig werden jetzt „gemeine gesinnung, handlungsweise“. (Mittlerweile kann das in bezug auf Ge­ sinnung und Handeln verstärkt werden zu „widerlicher, hundsgemeiner Kerl“.) Die Entwicklung im Englischen und Französischen ist ähnlich: „engl. mean aber, das unserm gemein entspricht, ist ganz in dieser niedrigsten bed. aufgegangen“138, 136 In Grimm, Wb., Bd. 24, Sp. 771 (Stichwort „ungemein“ in Sp. 768–772, wo es außerdem um noch andere Verwendungen und Bedeutungen von „ungemein“ geht), gibt es zwar auch ein Beispiel aus Johann Gottfried Schnabel, „Die Insel Felsenburg“, aber von daher ist natürlich nicht zu erkennen, wie sehr damals „ungemein“ in höfischen Kreisen geradezu ein Modewort geworden ist. Ich bringe deshalb aus „Die Insel Felsenburg“ und aus „Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier“ einige der sehr vielen Wortverwendungen: „wo es ihm ungemein wohlgefiel“, „lebte ich ungemein ruhig und verträglich“, „ungemein erkenntlich“, „ungemein dienstfertig“, „wegen der ungemeinen Windstille“, „nachdem er … ungemein wohl geschlafen hatte“ usw., in ganz – man könnte mit Schnabel sagen: – ungemein großer Zahl. Es ist schwer vorstellbar, daß „die gemeinen Leute“ solche Wörter/Formulierungen gekannt, geschweige denn in den Mund genommen haben. 137 Die Lieferung des Grimmschen Wörterbuchs, die die Wörter der hier betrachteten Wortfamilie enthielt, ist 1884 erschienen. 138 Eine Überprüfung anhand Springer (Hrsg.), Langenscheidts Enzykl. Wb., I/1, EnglischDeutsch, A–M, ergab für mean als Adjektiv: „1. gemein, gering, niedrig (dem Stande nach)“, also die ältere Bedeutung, und „4. gemein, niederträchtig, ehrlos“, was sich auf Gesinnung oder Handlungsweise bezieht.

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während das Wort im 16. Jh. bloß Standesbezeichnung138 gewesen war. „In die alten … bedeutungen ist dafür common eingetreten, das franz. commun, die aber beide zugleich auch alle stufen bis zur niedrigsten durchlaufen“ haben (ebenda). Im Anschluß daran heißt es, daß gebildete Deutsche (die Fremdwörter verstehen und benutzen), ebenfalls „commun für das niedrigste gemein [ge]brauchen“, während im allgemeinen Sprachgebrauch statt dessen eher ordinär gesagt werde, gleichfalls (von der Höhe des eigentlich „Ordnungsgemäßen“) „so seltsam heruntergekommen wie gemein“ (ebenda). So wie bei „gemein“ verläuft die Entwicklung auch bei „Gemeinheit“. Ich erinnere daran, daß „Gemeinheit“ von Hause aus, und zwar spätestens seit dem 14. Jh., eine jüngere Nebenform von „Gemeinde“ gewesen ist, in ganz positiver Bedeutung. Adelung kennt das Wort „in seinem heutigen137 niedrigen sinne  … noch nicht“, die Bedeutung ist jedoch jetzt137 „gemeinheit der gesinnung, des benehmens“ und „bodenlose gemeinheit“ (Sp. 3256 f.) oder „Niedertracht“. Wir haben gesehen: Der Wandel der Bedeutung von „gemein“ (und „Gemeinheit“) vom, wie weiter vorn schon einmal zitiert, „alten, hochwichtigen und e­ dlen Wort“ zu solch tiefster Niedrigkeit entspricht dem Wandel in der Sache: dem Zerfall des (politischen) Gemeinwesens, ein Verfall, der in anderer Weise deutlich wird an dem Diktum „‚politisch‘ Lied – garstig Lied“, einem Diktum, das ebenfalls nur aufkommen konnte, wenn das, was „politisch“ und was „politisches Gemeinwesen“ gewesen waren, ruiniert worden und in ihrem Wesen nicht mehr verstanden worden ist. c) Latium/Rom Unser Wissen über die in Frage stehenden Einrichtungen Roms enthält fast nichts Gesichertes über frühe Zustände.139 Das Gelände, das später Forum Romanum wurde, war zunächst eine sumpfige Senke. Vom 9. bis zum 6. Jh. v. Chr. war sie Gräberfeld. Im 6. Jh. ist sie entwässert worden und war erst seitdem Forum Roms, ein Areal für Heiligtümer und andere öffentliche Gebäude, auch für das „Comitium“, den Platz der Volksversammlung, die ihrerseits mit dem Plural (comitia) bezeichnet wurde. Wir wissen auch, wo im Forum der Versammlungsplatz war und wann (bezeichnenderweise von Caesar und Augustus) die Volksversammlungen von dort an den Nordwestrand der Stadt, auf das „Marsfeld“, verlegt worden sind. Aber es ist nichts darüber bekannt, ob und wenn ja, wo es vor dem 6. Jh. ein Forum gab, außer einer logischen Überlegung (Näheres weiter unten) und einem für unser Thema relevanten lateinischen Wort in seiner archaischen Ausprägung. Für den Gesamtzusammenhang brauchen wir vorher noch folgendes.

139 Kontinuierliche Besiedlung auf dem später „Palatin“ genannten Hügel ist seit dem 10. Jh. v. Chr., auf Nachbarhügeln seit dem 9./8. Jh. archäologisch nachgewiesen.

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Ende des 18. Jh. v. Chr. gab es statt bloß kultureller Einflüsse möglicherweise bereits einen ersten Vorstoß indogermanischer Völkerscharen auf die ApenninenHalbinsel. Aus dem nordalpinen Raum bekannte Formen traten nämlich in den frühen Schichten der „Terramare“-Kultur auf; eine dauernde Wirkung hatte dieses wohl erste Vordringen nicht (Bleicken, Rom, S. 31 f.). Die Hochbronzezeit heißt in Mitteleuropa Hügelgräberbronzezeit. Gegen Ende der Bronzezeit entstand in ihrem Siedlungsgebiet unter dem Einfluß der Lausitzer Kultur140 die zunächst in Mitteleuropa, dann aber noch sehr viel weiter verbreitete Urnenfelderkultur,141 mit bei weitem überwiegend Totenverbrennung und Beisetzung der Urnen in meist großen Gräberfeldern. Ab etwa 1 200 v. Chr. setzte die „Urnenfelderwanderung“ ein, veranlaßt durch den Druck von ost-indogermanischen Völkern, die bei ihren Vorstößen nach Osten von mittelasiatischen Reitervölkern wieder nach Westen zurückgedrängt worden waren. Die Expansion der indogermanischen Urnenfelderleute erstreckte sich bis nach Westfrankreich und SüdostEngland, nach Katalonien, auf den Balkan (siehe auch weiter vorn, Griechenland, die Dorische und Nordwestgriechische Wanderung, die aber nicht einfach unter die Urnenfelderwanderung subsumiert werden kann, aber mit ihr verknüpft ist) und auf die Apenninen-Halbinsel. Der Vorstoß nach dort – das Hochgebirgsmassiv der Alpen lag dazwischen – erfolgte erst grob ab 1 100/1 050 v. Chr. (S. 32). Auf der Halbinsel und in Sizilien haben wir es im Rahmen der Urnenfelder­ wanderung mit zwei indogermanischen Völkergruppen zu tun. Die eine sind die Illyrer. Ihre Vorfahren sind wahrscheinlich die Träger jener Lausitzer Kultur. Weil am weitesten östlich sitzend, haben die Illyrer auch zuerst unter Druck aus dem Osten gestanden142 und wohl die Urnenfelderwanderung ausgelöst. Sie sind ihrerseits in den später oberpannonischen und dalmatinischen Raum ausgewichen. Von dort zog eine größere Gruppe, die Veneter,143 in die östliche Po-Ebene (heute noch „Venetien“), eine andere über die Adria nach Apulien,144 eine dritte übers Meer nach Westsizilien (S. 33 f. und S. 36). 140

Benannt nach Urnengräberfelder-Funden in der Niederlausitz. Hier wieder das Hauptwerk der Vorgeschichtsliteratur dazu: Müller-Karpe (1959): absolute Chronologie auf S. 226 ff. mit Abb. 4, „Synchronistische Übersicht“; Einzelheiten betr. Sizilien und die Apenninen-Halbinsel S. 15–99. 142 Und haben dabei als erstes Volk der Urnenfelderwanderung Reitkunst und Pferdezucht mitgebracht. 143 Andere Teile der Illyrer, slawischer Indogermanen, verblieben in ihren Gebieten. Der Name, aus dem im östlichen Oberitalien „Veneter“ wurde, blieb auch an jenen Slawen Ostmitteleuropas hängen: Bei den Deutschen (und wohl ähnlich schon zuvor bei den dort benachbarten Germanen) war „Wenden“ ursprünglich der Name für die Slawen überhaupt. Noch später galt „Wenden“ für diejenigen Slawen in der Ober- und in der Niederlausitz und im Spreewald, die sich selber „Sorben“ und ihre Sprache „Serbski“ nannten. (Zu den westslawischen Stämmen der Sorben, Lutizer, Milzen, Heveller, Polaben, Obodriten u. a. siehe Herrmann, Jo­ achim, 1970.) 144 Sowohl Venetien als auch Apulien besitzen weite Ebenen, die sich für die Pferdezucht besonders eigneten, für die die Illyrer auf der Halbinsel später berühmt waren (S. 33). 141

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Die zweite Völkergruppe sind die Italiker mit zwei Haupt-Untergruppen,145 den umbro-sabellischen Stämmen (Emilia, Toskana, Umbrien, Hochapennin und gebirgige Gegenden des mittleren Apennin) und den Latino-Faliskern (die Latiner an der Tibermündung und in der latinischen Ebene, die Falisker am rechten Tiberufer, in der ersten großen Flußschleife). Bald, nachdem jene Illyrer in Venetien und Apulien eingewandert waren, erschienen die Italiker in Mittelitalien. Archäologisch („Villanova-Kreis“ mit charakteristischen Funden des Nordens und Nordostens, u. a. Griffzungenschwert und -dolch, Violinbogenfibel, doppelkonischer Urne, auch „Haus-Urne“) sind die Umbrer am besten zu identifizieren (S. 37), schwieriger ist in dieser Hinsicht der Nachweis der Latino-Falisker. Wahrscheinlich gab es im latinisch-kampanischen Raum eine Mischkultur aus „Villanova“, Illyrischem und Autochthonem, außerdem mit rein mitteleuropäischen Elementen, die einen späten Schub von Einwanderern anzunehmen nahelegen (S. 37 f.). „Die Sprachwissenschaft und die Kenntnis gewisser Einrichtungen und Gewohnheiten der Latiner geben … einen Hinweis auf die Zeit der latinischen Einwanderung und auf den Weg, den ihr Zug vermutlich genommen hat. Auf den Wanderungsweg weist die Entdeckung einiger Felsinschriften in der Val Camonica hin, einem Alpental westlich des Gardasees. Die Inschriften in einer frühen Stufe der lateinischen Sprache stammen aus einer Zeit, als Rom dieses Gebiet noch nicht unterworfen hatte.“ Die Latiner haben folglich einmal in Oberitalien gesiedelt, und zwar recht früh, vor den Illyrern, als die Latiner den Gebrauch des Eisens und das Pferd als Reittier noch nicht kannten (S. 38). Etwa ab Anfang des 8. Jh. traten auf der Apenninen-Halbinsel zwei Völker auf, die dann für Rom und überhaupt für Italien auf verschiedene Weise besonders wichtig wurden, die Etrusker und die Griechen dieser Zeit aus Griechenland und Kleinasien. Beide kamen von Osten übers Meer. Im Unterschied zu den bäuerlichen Kulturen der bei der Urnenfelderwanderung in Italien Eingedrungenen (Illyrern und Italikern) brachten diese beiden je eine städtische Kultur mit (S. 39). – Ich erinnere daran, daß die um 2 300 v. Chr. in Griechenland eingewanderten Protogriechen (und ebenso auch wieder die Stämme der Dorischen und Nordwestgriechischen Wanderung nach 1 100 v. Chr.) von bäuerlicher Kultur waren und städtische Wohnweise nicht kannten, solche dann aber von ägäischen, nicht indogermanischen Vorbewohnern oder von Luviern bzw. Hethitern z. T. nach und nach übernommen haben. Kerngebiet der Etrusker (Herkunft unklar) wurde die Toskana. Von hier aus drangen sie nach Norden und Süden weiter vor, im Süden bis Latium und Kampanien. Außer vielen anderen Städten in der Toskana und in den Ausdehnungsgebieten gründeten sie, als Stadt, auch Rom (etruskisch „Ruma“) an der Tibermündung. „Zweifellos gab es in diesen Orten schon vor der etruskischen Expansion einen 145 Unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten werden die beiden Untergruppen aber von anderen Autoren für auch schon ursprünglich selbständig gehalten (Werner König, S. 39), was für unsere Zwecke aber nicht so wichtig ist.

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von Latinern bewohnten Siedlungskern, die Erhebung der Siedlungen zu Städten geht aber allein auf die Etrusker zurück“ (S. 44). Ende 7., Anfang 6. Jh. waren die Etrusker zur See und zu Land auf dem Gipfel ihrer Bedeutung im Mittelmeer-Raum, ab Ende des 6. Jh. aber immer mehr von den Griechen bedroht, die ab dem 8.  Jh. in Sizilien und Unteritalien eine große Zahl von Kolonien errichtet hatten. Gegen die Griechen verbündeten sich die Etrusker mit den Karthagern. Zu der Zeit, als die vereinigten Festlandsgriechen den Ansturm der Perser unter König Xerxes abzuwehren versuchten (schließlich erfolgreich, u. a. in der Seeschlacht von Salamis, 480 v. Chr.), wollten die Karthager der Griechen auf Sizilien Herr werden, erlitten aber gegen Syrakus eine schwere Niederlage bei Himera auf Sizilien. Nachdem die Etrusker schon mehrmals versucht hatten, das große griechische Handelszentrum Kyme, die am weitesten nördlich gelegene griechische Kolonie (westlich Neapel) zu erobern, griffen sie es 474 erneut an. Kyme ersuchte Syrakus um Hilfe. Beider Flotte brachte den etruskischen Seestreitkräften bei Kyme eine vernichtende Niederlage bei, was den Anfang vom Untergang der etruskischen Vorrangstellung auf der ApenninenHalbinsel bedeutete. Kampanien ging verloren und wurde von den aus den Bergen in die fruchtbaren Ebenen vordringenden italischen Oskern besetzt. Wahrscheinlich eher ebenfalls erst nach der Schlacht von Kyme vertrieben adelige latinische Geschlechter Roms den über die Stadt herrschenden etruskischen146 König und errichteten eine („Adels“-)Republik der alteingesessenen latinischen Familien (S. 45 ff., dort dann auch mehr über den Niedergang der Etruskerherrschaft). Über das Gemeinwesen der Latiner (und die Gemeinwesen der anderen italischen Völker) in ihrer Frühzeit wissen wir historisch nichts Sicheres. Sogar noch für die Zeit der etruskischen Königsherrschaft über Rom (ab etwa 575 v. Chr.) und der frühen („Adels-“)Republik147 (Datierung des Beginns strittig) fehlt praktisch alle literarische Tradition (S. 47). Das, was später als frühe „Geschichte“ Roms ausgegeben wurde, ist Erfindung (S. 48). Gemäß überwiegender Lehrmeinung der Althistoriker waren die vor der etruskischen Königsherrschaft über die Latiner nur locker miteinander verbundenen, bäuerlich geprägten Gemeinwesen der Latiner auf den Hügeln, aus denen dann 146 Lateinische Könige, im Sinne einer Monarchie, hat es in Latium nie gegeben. Was es tatsächlich gab, war „ursprünglich wie auch sonst bei indogermanischen Stämmen [vgl. dazu auch Fußn. 33 u. 34 in Kap. B. I.1.a)] ein Heerkönigtum mit sakralen Funktionen, vielleicht bei wichtigen Handlungen an die Zustimmung der Gemeinde (der Ältesten?) gebunden und nicht erblich“ (Martin, S. 211). 147 Zwar geht die Untergliederung des latinischen Gemeinwesens in Kurien (curia aus archaisch-lat. co-viria = aus erwachsenen/stimmberechtigten Männern bestehende(s) Versammlung/Gemeinwesen) „sicher in voretruskische Zeit zurück“ (Martin, S. 210), aber die Zeit der „Ausbildung eines Adels“ ist bezeichnenderweise „unsicher“. „Die [adligen] Geschlechter scheinen nicht Untergliederungen der Kurien gewesen zu sein. Die Etruskerherrschaft trägt mit der Einführung des Reiterkampfes, besonderer Standesabzeichen und einer eigenen Tracht zumindest zur Stärkung, wenn nicht überhaupt erst zur Ausbildung eines Adels bei“ (ebenda).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Rom entstanden ist, sozial gegliedert gemäß familiae (zu denen auch die Eingeheirateten gehörten und im weiteren Sinn auch die Hörigen, die clientes, und die Sklaven), jeweils mit dem pater familias an der Spitze (S. 54), und gemäß gentes (Geschlechtern), d. h. Verbänden, die zumindest ursprünglich mehrere solcher familiae umfaßt hätten, die, in früherer Zeit, gemeinsam einen pater familias gehabt hatten. Nach der Vertreibung des letzten etruskischen Königs für Rom, um 500 oder erst um 470 v. Chr., sind in der Volksversammlung, bei Dominanz der „Geschlechterhäupter“ (S. 55), im Jahresturnus jeweils zwei gleichberechtigte Prätoren (später „Konsuln“ genannt) gewählt worden. Damit begann, anstelle der Königsherrschaft, die Republik, die sich zur Adelsherrschaft entwickelte. Die Volksversammlung war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine alt-tradierte Einrichtung; sie kann in jener Situation ganz unmöglich sozusagen aus der „hohlen Hand“ erwachsen sein. – Jene Dominanz der „Geschlechterhäupter“ setzt voraus, daß nur die freien originär zu den alten latinischen „patrizischen“ Familien gehörenden Glieder des Gemeinwesens das sich versammelnde Volk bildeten, dazu – so nehmen viele Althistoriker an (auch Bleicken, S. 55) – Glieder von etruskischen ebenfalls sozusagen adligen Familien, die sich im 6. Jh. v. Chr. in Rom angesiedelt hatten und später dort integriert worden waren. Am Ende unserer Überlegungen in diese Richtung komme ich auf einen Befund zurück, den ich im vorigen Kapitel erst kurz erwähnt habe. Es geht um das lateinische Wort com-munis („gemein“, „gemeinschaftlich“, „allgemein“, „öffentlich“), das ebenso wie Wörter der deutschen Wortfamilie um „m e i n e n “, „gemeinen“, „gemein“, „Gemeinde“ usw. bzw. ihre älteren Vorläufer (ahd. und altsächs.) und deren altengl. und altfries. Parallelen sowie Altslawisches auf eine gemeinschaftliche west(?)-idg. Wurzel zurückgehen. Zu den Einzelheiten dazu verweise ich auf Kapitel B. I.1.b), nenne den Kern der Sache aber auch hier. Wir kennen das lat. Wort com-munis auch in seiner alten Form, co-moinis. Sie gehört noch dem archaischen lateinischen Wortbestand an, der sich erst ab dem 5.  Jh. v. Chr. tiefgreifend verändert hat. Außer vielem anderen gehört die Mo­ nophthongierung von Diphthongen dazu, von „ei“ zu „i“, von „oi“ zu „u“ u. a. m. So ist comoinis zu communis geworden. Die idg. Wurzel ist *moino-, „Wechsel“. Ausgangsbedeutung ist „was einem im Wechsel zukommt“, nämlich zur Sache, die ansteht, „der Reihe nach, im Wechsel, s e i n e M e i n u n g ä u ß e r n “ (Kluge, 23. Aufl., S. 311 bzw. S. 551; H. v. m.). Das aber ist charakteristisch für die Volksversammlung der Freien. Die Latiner sind in archaischer Zeit bäuerlich-ländlich organisiert gewesen, in damals noch kleineren Einheiten – wie wir wissen. comoinis war in der archaischen Zeit der Latiner offenbar auf jene politischen Einheiten engeren Zuschnitts bezogen. Das, was wir in bezug auf Rom für unser Thema gewinnen konnten, ist weniger, im Vergleich mit dem aus Griechenland und aus Germanien, aber das We-

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nige weist auch hier in die gleiche Richtung. (Dort, wo wir erste Informationen über das „Ziel von Politik“ in frühen Gemeinwesen gewinnnen können, in Kapitel B. I.4., werden wir dagegen gerade mit den Latinern beginnen, sind aber nicht nur auf sie angewiesen.) Zum Schluß, was Rom betrifft, bringe ich einen für unser Thema verblüffenden Fund. Es geht, anders als bei dem, was ich bisher gebracht habe, nicht um Empirisches (Historisches, Prähistorisches und Sprachbestand), sondern um die Wiedergabe eines Grundgedankens des Cicero zur Theorie der Politik. Dazu brauchen wir den historischen Hintergrund: 168 v. Chr. kam der Grieche Polybios148 unter tausend Geiseln nach Rom und dort in freundschaftliche Beziehungen zu Scipio Aemilianus Africanus d. J., dessen militärischer Berater im Dritten Punischen Krieg er wurde. Er schrieb die erste Universalgeschichte, in 40 Büchern, von denen aber außer den ersten fünf nur Fragmente erhalten geblieben sind. Polybios hat die griechische Diskussion über die Herrschaftsformen – und welche von diesen die beste sei – nach Rom gebracht. Er plädierte für eine Mischung aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie und hielt die römische Republik für eine Verwirklichung einer geeigneten Mischung, die ihrerseits Ursache für den Aufstieg Roms zur Weltmacht gewesen sei.149 Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), wohl der größte Rhetor der Römerzeit, praktisch politisch tätig in hohen Ämtern und sehr aktiv, den Führungsanspruch des Senats und damit die Republik zu retten,150 Philosoph und Politik-Theoretiker, verlegt in „De re publica“ das Gespräch (im „Scipionen-Kreis“) über das politische Gemeinwesen, die Res Publica, in das Jahr 129 v. Chr., in das letzte Jahr, in dem Scipio Aemilianus Africanus d. J. (siehe den voranstehenden Absatz) gelebt hat. Es geht wiederum um die beste Herrschaftsform. Cicero läßt in Teil II Scipio für ein aus monarchischen, oligarchischen und demokratischen Elementen angemessen (modice) gemischtes System plädieren und die römische Republik als ein

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Aus Arkadien, Sohn des Strategen Lykortas, dem er in politischen und militärischen Funktionen im Achäischen Bund beistand. 149 Kritisch zu dieser Einschätzung z. B. Bleicken, 1991, S. 76 f. 150 Militärdienst (89/88 v. Chr.); Praetor (66), Konsul (63), Aufdeckung der Verschwörung des Catilina (63); Provinzstatthalter Asia (62–58); scheiterte mit seinem Widerstand gegen Caesar (59) und mußte ins Exil (58/57); danach seine Hauptwerke „De oratore“ (55), „De re publica“ (54–51), „De legibus“ (postum publiziert); als Prokonsul erfolgreich in der Verwaltung der Provinz Kilikien (51/50); an der Verschwörung gegen Caesar (44) nicht beteiligt, die er aber begrüßte, als Voraussetzung zur Wiederherstellung der alten republikanischen Verfassung; im Kampf gegen Antonius noch einmal Führer des Senats (44/43), gescheitert nach dem Umsturz Oktavians (des – später – Kaisers Augustus) und nach dessen Verständigung mit Antonius (Okt. 43) im Dez. 43 im Auftrag des Antonius ermordet. – Hinsichtlich der Aktivitäten, Politik zu gestalten, unterscheidet sich die Vita des Cicero doch sehr von der Platons, der in Syrakus (367/366) als Philosoph Einfluß auf die politische Praxis zur Zeit der Tyrannen Dionysios II. und Dion gewinnen wollte (Versuch zur Gründung einer Polis im platonischen Sinn).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

solches System postulieren. Das zu nennen, ist erforderlich, damit deutlich wird, daß Cicero sehr wohl in der Tradition von Sokrates/Platon und Aristoteles steht.151 Es gibt bei Cicero, Bd. III (1967), „De oratore“, aber eine Stelle, die s o ganz unmöglich bei Sokrates/Platon und bei Aristoteles vorkommen könnte. In dem dort entwickelten Gespräch (man muß die Umstände und die Personen kennen: am zweiten Tag eines Aufenthalts auf dem Landsitz des Crassus; zu ihm gleich mehr) über „Rhetorik“ und „Rhetor“ wollte Quintus Mucius Scaevola Augur152 dem Lucius Licinius Crassus,153 seinem Schwiegersohn, den er sehr geschätzt hat, eine Äußerung nicht durchgehen lassen, die dieser zuvor gemacht hatte, nämlich „quod ab oratoribus civitates et ab initio constitutas et saepe conservatas esse dixisti“ (I, 35), „daß du [Crassus] behauptest, von Rednern seien die politischen Gemeinwesen anfangs gegründet und dann oft bewahrt [d. h.: auch: in Gang gehalten] worden“ (Ü. d. V.). Für die Verhältnisse von damals  – Rhetorik (auch schon zuvor in Griechenland) weitgehend sophistisch verderbt – muß sich eine solche Aussage abenteuerlich angehört haben. Die Sache sieht aber ganz anders aus, wenn wir wie folgt lesen: „daß du behauptest, die politischen Gemeinwesen seien von denen in Gang gesetzt und dann in Gang gehalten worden, die die alle angehenden Angelegenheiten öffentlich zur Sprache brachten“. Anders als Sokrates/Platon und Aristoteles konnte Cicero durchaus in eine solche Richtung denken, weil auch er die Rhetorik zwar sehr wohl kritisch sah, eine Rhetorik im öffentlichen Interesse aber trotzdem nicht nur ebenfalls für möglich hielt, sondern sie seinerseits auch praktiziert hat. Daß die dem hervorragenden sowohl Rhetor als auch Politiker Crassus in den Mund gelegte Aussage bei diesem einen tieferen Sinn haben könnte, jedoch vom Juristen Scaevola, dem die rhetorischen Spitzfindigkeiten ein Leben lang begegnet waren, nicht akzeptiert werden konnte, hat Cicero gut komponiert. Cicero hat jenen Grundgedanken in Bd.  II, 1968, von „De inventione“, einer Frühschrift (zu Anfang von Buch I, I), schon einmal vorgetragen, dort in folgender Weise: Die Gemeinwesen (civitates, auch urbes) seien ursprünglich sowohl durch Vernunft/Denkvermögen (ratio), wenig später heißt es im Text: durch Einsicht/ Klugheit (sapientia) als auch – und nun kommt es – durch das Vermögen, die wich 151 Auch bei ihm sind selbstverständlich in die Erörterungen über die -kratien und die -archien Überlegungen über Gerechtigkeit und Nützlichkeit eingebunden. 152 Scaevola (um 170–87), als Jurist sehr angesehen. Nähe zur Philosophie der Stoa. Als Praetor Verwalter der Provinz Asia. Etwa zwei Generationen älter als Cicero, war dessen Lehrer. In Ciceros Dialog „De re publica“ ist Scaevola als junger Mann einer der Gesprächs­ partner. 153 Crassus (140–91, also gut eine Generation älter als Cicero), trägt die Hauptlast des Gesprächs in „De oratore“. Auch er war, ähnlich wie später Cicero, praktisch politisch sehr aktiv: Quästor in Makedonien (um 109), von wo aus er zu einem Studienaufenthalt nach Athen ging; Volkstribun (107), Praetor (98?), Konsul (95), danach Statthalter in der Gallia cisalpina, Censor (92). Cicero schätzte Crassus als den am meisten herausragenden Rhetor seiner (­Crassus‘) Zeit ein.

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tigen Gesichtspunkte zur Sprache zu bringen (eloquentia),154 zustande gekommen. Erst später, als die eloquentia in den Dienst von Schurkerei (malitia) genommen worden sei, habe dieses für die Begründung der Gemeinwesen so wichtige Vermögen die Gemeinwesen dann auch untergraben/pervertiert (Ende von I, II). In Ciceros Überlegungen zum Thema stecken zwei sehr verschiedene Sachen, zum ersten die Idee der Grundlegung des Politischen – mit ihr liegt Cicero ersichtlich richtig –, zum zweiten die hypothetische Konstruktion eines urgeschichtlichen Anfangs der politischen Gemeinwesen, mit der wir nichts anfangen können und die ich nicht wiedergebe. d) Andere Die Gleichheit des Grundverständnisses vom Politischen bei Griechen und Germanen ist unübersehbar. (Es gibt außerdem Indizien in dieser Sache auch bei den Latinern.) Weil aber die Germanen ihr Verständnis des Politischen ganz sicher nicht bei den Griechen abgelauscht haben, muß es bei beiden aus der gemeinschaftlichen, der indogermanischen Wurzel stammen. Vielleicht findet sich Entsprechendes auch noch im Slawischen, im Litauischen, im Keltischen oder gar noch weiter draußen im Indogermanischen. Ich selbst muß dem nicht mehr nachgehen, möchte nur einige Hinweise auf Sachverhalte geben, die, im positiven Sinn, verdächtig sind, Sachverhalte, die mir nebenbei „untergekommen“ sind. Die westslawischen Stammesverbände der Obodriten, der Liutizen und der Sorben hatten ursprünglich Volksversammlungen.155 Bereits vor der Publikation des Katalogs zur großen Hethiter-Ausstellung 2002156 war bekannt: Die indogermanischen Hethiter mit einem Reich in Kleinasien (wie früher angenommen, seit spätestens vom 19. Jh. bis etwa 1 200 v. Chr.) hatten zunächst „offenbar ein Wahlkönigtum. Zur Rechtmäßigkeit der Königsherrschaft war die Anerkennung durch den hohen Adel (nakkeš) sowie des ‚ganzen Heerbannes‘ (pankuš) nötig. … die Gerichtsbarkeit über den Hochadel [war] dem Könige entzogen und dem pankuš vorbehalten, … . … Stellung des Königs als primus inter pares …“157. Ab etwas jüngerer Zeit führte „der König … den Titel Labarna, nach dem Namen158 des ersten Inhabers dieses Amtes, die Königin 154 Zum Verständnis von eloquentia s. a. Kap. B. I.2., dort, wo es um „non solum disertus, sed etiam eloquens“ (Cicero, De oratore, I, 95) geht. 155 Diesner (21980), S. 232. 156 Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH., Bonn (Hrsg.): Die Hethiter und ihr Reich, 2002, Stuttgart. 157 Müller-Karpe, Handbuch der Vorgeschichte, Bd. III (1978), Teilbd. 1, S. 471. 158 Etwa wie die römischen Kaiser den Titel „Caesar“ führten, gemäß dem Namen dessen, der die römische Republik beseitigt hatte, Gaius Julius Caesar.

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dementsprechend den Titel Tawananna“159, woraus indirekt hervorgeht, daß auch die Hethiter von Hause aus keine Könige gehabt hatten. Ihr System ist aber offenbar sehr rasch unter älteren kleinasiatischen und dann unter vorderasiatischen und ägyptischen Einfluß geraten und davon verändert worden. Was sich vom wohl eher auch bei ihnen von Hause aus gegebenen politischen System wie lange erhalten hat, ist noch nicht zu übersehen. (Die Entsprechungen in der Organisation der Gemeinwesen sind ja auch noch kein Beweis. Der kann nur von den hethitischen und luwischen Bezeichnungen her geführt werden.) So wie die Einwanderung der Griechen in die Balkan-Halbinsel jetzt früher datiert wird, wird auch die Einwanderung der Hethiter in Kleinasien inzwischen bereits auf das letzte Viertel des 3. Jtds. v. Chr. angesetzt. Die Einwanderer trafen dort, im Hatti-Land, auf eine „kulturell hochentwickelte Bevölkerung“ mit „Herrschaft einer Adelsschicht“, deren Gräber sehr reich ausgestattet waren (Özgüç, S. 37); sie „adaptierten … diese lokale [hattische] Kultur“ und „formten … hieraus eine eigenständige …, ihre ‚hethitische Kultur‘“ (S. 41). Im von den Hethitern besetzten kleinasiatischen Raum gab es zahlreiche, zunächst offenbar voneinander unabhängige hethitische Gemeinwesen, unter der Führung von „Fürsten“  – wie Klengel (S. 62 f.) formuliert –, von denen zunächst das mit dem Zentrum Nesa die größte Bedeutung gewann.  – Jener oben im Text erwähnte Anführer/Fürst, dessen Personen-Name in der Folge zum Königstitel wurde, bei Klengel (S. 62), Cancik (S. 75) und Latacz (S. 197) in der Schreibweise „Labarna“, hat dann seinen Sitz in Hattusa genommen, dem ursprünglich Zentrum des vorhethitischen hattischen Reichs. Daß „die Idee des Königtums“ auch im Fall der Hethiter nicht originär ist, sondern „auf hattischer Grundlage“ beruht, sagt auch Oettinger (S. 52). – In der Folge ist das Hethiter-Reich zu einem großen vorderasiatischen Reich geworden – was ich aber auf sich beruhen lasse. Es ist (übrigens etwa zur gleichen Zeit wie das mykenisch-griechische System) um 1175 v. Chr. untergegangen (Latacz, S. 197).160 – Zur Sprache noch dies: Das Hethitische gehört, zusammen mit dem Luwischen, dem Palaischen und noch anderen zur sog. anatolischen Gruppe der indogermanischen Sprachen. „Das Hethitische ist von allen indogermanischen Sprachen die am frühesten bezeugte“ (Wilhelm, S. 48); die ältesten erhalten gebliebenen Niederschriften sind aus dem 16. Jh. v. Chr., in einem Fall seien die „– wohl bereits hethitischen – Vorlagen“ „sicherlich“ schon aus dem 18. Jh. v. Chr. (ebenda, mit Fußn. 23; dort Begründung). – Daß das Hethitische eine indogermanische Sprache ist, hat der tschechische Forscher Bedřich Hrozný anhand der vor allem bei den ab 1906 laufenden Aus 159

Müller-Karpe, Handbuch der Vorgeschichte, Bd. III (1978), Teilbd. 1, S. 472. Neue Ergebnisse der Hethiterforschung sind auch in bezug auf Gegenstände von Kap.  B.I.1.a)  wichtig gewesen; ich verweise auf die Fußn. 15 und 16 sowie auf den letzten Abs. von B. I.1.a). 160

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grabungen in Boǧazköy in besonders großer Zahl gefundenen mit Keilschrift beschrifteten Tontafeln herausgefunden und 1915 vorgetragen. (Keilschrift war zwar schon lange zuvor lesbar und verständlich gewesen, wenn die Sprache babylonisch, d. h. „akkadisch“, oder assyrisch war.) – Das Hieroglyphen-Luwisch ist entziffert worden, als Theodor Bossert, Halet Cambal und Bahadir Alkim 1946/47 eine längere zweisprachige Inschrift fanden (hieroglyphen-luwisch und phönizisch; fast ganz textgleich; Seeher, S. 23 f.). – Zu den indogermanischen, aus dem (erschlossenen) Ur-Anatolischen hervorgegangenen Sprachen Kleinasiens siehe außerdem Oettinger mit detaillierter Gliederung und mit einer Karte, beide S. 52. 2. Bedeutung der Rhetorik Unser Fremdwort Rhetorik ist im 15.  Jh. n. Chr. entlehnt worden aus griech. rhētorikē´, das von griech. rhē´tōr stammt, „modern“ übersetzt mit „Redner“, richtig aber mit: der, der den anderen im Gemeinwesen etwas zu sagen weiß und sagt, wobei rhē´tōr seinerseits zum Zeitwort eírein161 gehört (Kluge, 22. Aufl.), und das ist eben: „vor allen (coram publico) das, was alle angeht, zur Sprache bringen“. Das hat von Hause aus im Griechischen noch nichts mit einer téchnē als einer Verfertigung (etwa von Reden) zu tun. Die Wortzusammensetzung „rhētorikē´ (téchnē)“ ist sowieso aus der Natur der Zusammensetzung als solcher jüngeren Datums. Der Rhetor in der Versammlung aller ist von Hause aus demnach auch nicht ein „Spezialist“, ganz abgesehen davon, daß das, was er zur Sprache bringt, die all­ gemeinen, das heißt die alle angehenden Dinge/Angelegenheiten sind, und zwar jeweils die, auf die es gerade ankommt, modern ausgedrückt: die aktuell sind – wobei die Aktualität in der Regel ältere größere Zusammenhänge mit einschließt. In den politischen Gemeinwesen, also in denen, die über das Familiäre des­ Oikos hinausgehen, waren – so ist von dem her anzunehmen, was wir aus germanischen Verhältnissen konkret wissen – jeweils Glieder dieses Gemeinwesens, deren Rede über die anstehenden Angelegenheiten besonders beachtet wurden, weil sie das, was im Gemeinwesen aktuell war, gut zur Sprache bringen konnten. Wenn wir „Rhetorik“ und „Rhetor“ (und lat. „Orator“) so verstehen, hat jene von Scaevola monierte Aussage des Crassus bei Cicero, „De oratore“, I, 35, exakt den Sinn: „quod ab oratoribus civitates et ab initio constitutas et saepe conservatas esse dixisti“ = „daß du [Crassus] behauptest, die politischen Gemeinwesen seien von denen in Gang gebracht und in Gang gehalten worden, die die alle angehenden Angelegenheiten öffentlich zur Sprache brachten“. 161

Zu eiráōn = „Versammlungsplatz“ u. (Akkus. plur.) eiréas = „Versammlung“ sowie zu rhētra = „Volksversammlung“ siehe am Anfang des Kap. B. I.1.a).

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Wir wissen aus Kapitel B. I.1.c): Crassus war für Cicero nicht irgendeiner, den er im Dialog auch bloß etwas hätte daherreden lassen; er schätzte Crassus als den in dessen Zeit am weitesten herausragenden Redner, womit er jenem Satz entsprechend Gewicht gibt. Ich habe in Kapitel B. I.1.c) gezeigt, daß dieses Plädoyer bei Cicero inhaltlich nicht allein steht, also von ihm aus nicht eine beliebig zu gewichtende Bemerkung ist. Worin vermutlich die Gründe liegen, daß gerade Scaevola den Crassus wegen dessen Hochschätzung der Bedeutung der Rhetoren attackiert hat, habe ich in Kapitel B. I.1.c) schon gesagt. Wichtiger, weil von mehr allgemeiner Bedeutung, ist das, was Cicero in „De inventione“, I, einer von ihm ähnlich formulierten Hochschätzung der Bedeutung der Rhetorik angefügt hat, weshalb ich den Hauptpunkt hier wiederhole: Erst später habe persönliches Interesse die Beredsamkeit dazu benutzt, die Gemeinwesen zu untergraben. Wichtig ist ferner der (in vielem desolate) Zustand der und das Verständnis von Rhetorik im letzten republikanischen Jahrhundert des römischen Reiches. In dieser Hinsicht werden wir aber besser gleich in die Zeit von Sokrates/Platon zurückgehen. (Das, was bei Cicero an besonders bedenkenswerten Überlegungen zur Rhetorik – und, von heute her: generell zur Publizistik – zu finden ist, bringe ich dagegen erst am Ende dieses Kapitels.) Vorab, gewissermaßen im Wege der Deduktion, läßt sich schon sagen: Wenn zum Wesen des Politischen das Zur-Sprache- und Zur-Absprache-Bringen der alle angehenden Angelegenheiten gehört (damit man sie durchschauen und beurteilen und man dann entscheiden könne), wenn dann aber konkret das Wesen des Politischen mißverstanden wird als Herrschaft (oder Teilhabe an ihr), sind nicht nur die konkreten politischen Gemeinwesen zerrüttet, es müßte auch die Rhetorik heruntergekommen sein. Wir wissen schon, daß Sokrates/Platon das Verständnis für das Wesen der Agora verloren hatten und daß bei ihnen im Rahmen ihrer Überlegungen über das tugendhafte Leben die Frage nach der Herrschaftsform im Vordergrund stand: wer herrschen solle und wie das zu gestalten sei. Zur Rhetorik bei den Griechen gibt es zwei Arten von Quellen: zum einen die Literatur, in der konkret gehaltene Reden wiedergegeben und/oder dargestellt wurden, zum anderen Schriften über die „Sophisten“ (dazu weiter unten mehr) als Lehrer der Rhetorik. Über die zuerst genannte Gruppe schreibt Gigon (1991, S.  659 f., was in den Hauptpunkten hier wiederzugeben für unsere Zwecke reicht): „Die Ursprünge dieser Literatur, die vom Standpunkt des 19.  und 20.  Jahrhunderts  … zum … [Fremdesten] gehört, was die Griechen hervorgebracht haben, liegen zur Hauptsache noch im dunkeln. … Faßbar wird uns diese ‚Redenliteratur‘ zuerst in Athen gegen Ende des Peloponnesischen Krieges [das war am Ende des 5. Jh. v. Chr.]. Geblüht hat sie überhaupt nur in Athen und nur während rund fünf Generationen. In dem Augenblick, da Athen … zu einer musealen Provinzstadt wurde, starb sie [gemeint ist die ‚Redenliteratur‘] … ab. Was uns das Verständnis der gesamten, uns in zahlreichen Vertretern … [erhalten gebliebenen] Gattung … [schwer] macht, ist …, daß … das Interesse des antiken Lesers

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auf ganz andere Dinge gerichtet war, als wir erwarten würden. Die Kontroversen als solche bleiben ihm meist völlig gleichgültig. … . Für die Antike sind solche Reden in erster Linie Kunstwerke. [Welche Entfernung von der Grundidee des Politischen!] … Der Triumph der Rhetorik ist es, eine schwache Sache zur starken zu machen und einen offenkundig … Übeltäter erfolgreich zum Unschuldsengel zu drapieren. Juristische Erwägungen bleiben dabei völlig im Hintergrund. Mit einer uns zuweilen zynisch anmutenden Offenheit wird ausschließlich auf die psychologische [gemeint ist: die psychische] und artistische Wirkung hingesteuert. Noch das humanistisch gesinnte 19.  Jahrhundert erlebte einen Schock, als sich herausstellte, in welchem Umfang Platon mit seiner Behauptung recht hatte, die Redner kümmerten sich überhaupt nicht um die Wahrheit, sondern nur um die Wirkung auf ihr Publikum. Das gilt selbst für die größten unter ihnen, etwa Demosthenes, der keine Skrupel kannte, Tatsachen frei nach seinen Bedürfnissen zu manipulieren.“

In der Blütezeit der Rhetorik in Griechenland, aber auch noch im republikanischen162 Rom, sind drei Hauptgebiete unterschieden worden, auf denen Rhetorik in Erscheinung trat: erstens politische Angelegenheiten (in dem Gemeinwesen in Griechenland in der Volksversammlung), zweitens im Rechtsstreit vor Gericht (nachdem die Rechtsfälle aus der Zuständigkeit der alten Volksversammlung, die ja ursprünglich zwischen „politisch“ und „juridisch“ institutionell noch nicht getrennt hatte, inzwischen herausgelöst163 worden waren), drittens Festreden.164 Über die „Sophisten“, deren große Zeit in Griechenland die 2. Hälfte des 5. und das 4. Jh v. Chr. waren, sind wir leider fast ausschließlich seitens Sokrates/Platon und Aristoteles unterrichtet, die die Sophistik bekämpft haben;165 von den Schriften der Sophisten ist fast nichts erhalten geblieben. Das erschwert das Urteil, macht es aber nicht ganz unmöglich. 162 In der Kaiserzeit sind der Rhetorik dann straff Zügel angelegt worden, passend zum Verlust des republikanischen Systems. 163 Die berühmte Ausnahme (immer noch Zuständigkeit der Volksversammlung) ist der Ostrakismus. Ihn beschreibe ich hier nicht, weil er in allen größeren Nachschlagewerken vorkommt. (Vgl. außerdem z. B. Christian Meier, 31995, S. 264 f.) 164 Aristoteles („Redekunst“, I, 3,2) hat etwas anders gegliedert, mit nur z. T. ähnlichen Ergebnissen, nämlich gemäß denen, die über das in Reden Vorgetragene urteilen: Mitglieder der Volksversammlung (Reden über das, was geschehen soll), Richter (Reden über das, was geschehen ist und im Rechtsstreit liegt), Zuhörer mit rein künstlerischem Interesse, die lediglich insofern Lob und Tadel aussprechen. – Zum zuletzt Genannten siehe aber auch das oben gerade Zitierte, über die Einschätzung der „Reden in erster Linie [als] Kunstwerke“ auch in den Fällen, in denen die Einschätzung der Inhalte hätte wichtiger sein müssen. 165 Praechter sagt das sehr deutlich (S. 114): „Platon greift im wesentlichen, abgesehen von den persönlichen Eigenschaften der Sophisten, ihrer Eitelkeit und Selbstüberschätzung, die Rhetorik in ihrer unsittlich egoistischen Handhabung [das ist nachher oben im Text unter anderem besonders unser Thema], die Eristik und den bezahlten Unterricht heraus und läßt den großen Fortschritt [Denken erstmals über Wahrnehmen, über Denken und über Meinung, überhaupt erstmals Denken über menschliches Leben, über Ethik, freilich dann mit katastrophalen Folgen], der durch die Sophistik im philosophischen Denken überhaupt erfolgt war, nicht in gleicher Weise hervortreten. Begreiflich, da ihm das durch die Sophistik gewonnene Neue unmittelbar in der Lehre des Sokrates vor Augen stand, dieser aber so weit über die Sophistik hinausgeschritten war, daß er von seinen Anhängern eher als ihr Antipode, denn als ihr Vertreter angesehen wurde.“

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„Sophistes“ bedeutet im Grunde nicht mehr als „Lehrer der Weisheit“ oder einfach „Gelehrter“, ursprünglich sogar: einer, der sich auf etwas (auch Handwerkliches) versteht (dazu siehe weiter unten), also einer, der auf praktischem oder theoretischem Gebiet sich durch Können oder Wissen auszeichnet oder sich darum bemüht. „Die Demokratisierung der athenischen Politik machte den Erfolg des einzelnen Bürgers wesentlich von seinem persönlichen Auftreten abhängig. So entwickelte sich das Bedürfnis nach einem systematischen Unterrichte hauptsächlich in den Zweigen des Wissens und Könnens, die für die politische Tätigkeit in Betracht kamen. Die Männer, die diesem Bedürfnisse entsprachen, hießen Sophisten“ (Praechter, S. 113).

Die Ausdrücke „Demokratisierung der athenischen Politik“ und Bemühungen „des einzelnen Bürgers“ als „politische Tätigkeit“ sind bezeichnend für die Zerrüttung des politischen Systems. Es heißt dann: „Diese Sophisten hielten umherziehend bald in dieser, bald in jener Stadt Kurse und pflegten dabei neben dem, was zur politischen Tätigkeit in unmittelbarer Beziehung stand, Bildung im weitesten Sinne, Kosmologie (…), Grammatik und Dichtererklärung, Mythologie und Religionsphilosophie, Kulturgeschichte (mit besonderer Rücksicht auf die Grundlagen des [wie es mal wieder heißt:] staatlichen Lebens …). Nicht mit Unrecht hat man die Sophisten die Enzyklopädisten Griechenlands genannt, und man muß sich hüten, ihre Verdienste um griechische Bildung und Wissenschaft zu unterschätzen.166 In erster Linie aber stand in ihrem Unterrichte die Kunst, deren geschickte Ausübung vor allem [pseudo-]politische Erfolge verbürgte, die Rhetorik. Wichtig ist nun, daß es [und das zeigt eben die Zerrüttung des Systems an] in dieser nicht auf Darstellung der Wahrheit [zutreffend müßte es in unserem Sinn vorsokratisch heißen: auf die Darstellung, die Schilderung des Sachverhalts, der ‚Angelegenheit‘], sondern nur auf Erregung eines Scheines ankam“ (Praechter, S. 113).

Platon läßt in seinen Dialogen einige der Sophisten außerdem davon berichten, daß sie wegen ihrer Gelehrsamkeit und rhetorischen Begabung nicht selten auch in – wir würden heute sagen: – diplomatischer Mission für die Gemeinwesen tätig waren, aus denen sie stammten. Statt der Kosmologie bei den älteren Vorsokratikern stehen bei den Sophisten Erkenntnistheorie und Ethik im Mittelpunkt des Philosophierens. Die sophistische Theorie bleibt aber unvollkommen, weil sie keine objektiven Normen für das menschliche Handeln gewinnt. Außer Protagoras und Gorgias, auf die ich gleich näher zu sprechen komme, will ich von den älteren Sophisten hier nur – die allerdings im Verhältnis zu Protagoras etwas jüngeren – Hippias und Prodikos nennen.

166 Dazu siehe außer in Praechter, S. 111–129, „… Die Sophisten …“ (§§ 23–30), auch Windelband, Lehrbuch, S. 72–79 (§ 8, Ziff. 1–5), und, ganz besonders, Capelle, S. 317–391, „Die Sophistik“, wo Capelle, S. 318–321, die Bedeutung der Sophistik gerade für die Entstehung und Entwicklung der Pädagogik in Griechenland betont, allerdings, unter Einfluß von Werner Jaegers „Paideia“, etwas überbetont, dies nicht, was des Protagoras Erfolg, wohl aber, was inhaltlich die Konsequenzen betrifft (worauf ich nachher im Text noch einmal zu sprechen komme).

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Hippias aus Elis, im Nordwesten der Peloponnes, ist wohl nicht vor 460 geboren. Eigene philosophische Lehren sind von ihm nicht bekannt. Er scheint vor allem mathematische167 und grammatische Kenntnisse gehabt zu haben und solche über die Gründung der Städte und über urgeschichtliche Zeiten – dies freilich nicht im echt wissenschaftlichen Sinn, sondern was man sich an Legenden darüber erzählte. Er war ferner wegen seiner Redegewandtheit bekannt. Er ist lange in Sparta gewesen und hatte dort als sozusagen Polyhistor großes Ansehen. In Platons Dialog „Protagoras“ (Näheres siehe weiter unten) war auch Hippias, und ebenso Prodikos, am Sophistentreffen im Haus des Kallias in Athen kurz vor Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs beteiligt. (Praechter, S. 122 f.; Capelle, S. 370 f.) Prodikos von der Insel Keos, südöstlich vor Attika, ist wohl noch in der 1. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. geboren (muß jedenfalls 423 schon ein bekannter Mann gewesen sein). Er war als Gesandter seiner Heimat mehrfach auch in Athen. Er hat die Religion (die Götter und den Glauben an sie) rationalistisch zu erklären versucht. Bekannt ist er wegen seiner Moralvorträge, von denen der über „Herkules am Scheideweg“ (zwischen Gut und Böse) am berühmtesten ist, und wegen der Unterscheidung zwischen sinnverwandten Wörtern; er soll auch über die menschlichen Affekte geschrieben oder gesprochen haben, was einen bei einem sophistischen Rhetoriker natürlich nicht wundert. Prodikos hielt, ebenso wie andere Sophisten, Gut und Böse für lediglich relativ (Praechter, S. 123 f.; Capelle, S. 360). „An jene Männer schließt sich eine jüngere Sophistengeneration an, welche das philosophische Prinzip des Subjektivismus [siehe weiter unten bei Protagoras] mehr und mehr auf die Spitze treibt und ethisch destruktive Folgerungen daraus zieht“ (Praechter, S. 112).

Die beiden wichtigsten Vertreter der Sophistik, generell und, wenngleich die Schwerpunkte verschieden sind, auch für unsere Thematik, sind Protagoras und Gorgias. Die unter den Sophisten am meisten herausragende Persönlichkeit, Protagoras aus Abdera, ganz im Norden des Ägäischen Meers (etwa 481–411 v. Chr., gemäß anderen Berechnungen etwa 490–420), war laut „Platons Zeugnis … in griechischen Landen mehr als 40 Jahre als ‚Lehrer der Weisheit‘ tätig“, auch in Sizilien und Unteritalien, besonders aber und wieder zuletzt in Athen, wo er zu einem „unerhörten Ansehen“ und „zu Perikles in nahe persönliche Beziehungen“ gekommen ist. „Wo er in seinem Wanderleben auch hingekommen und als Sophist aufgetreten ist, hat er einen uns geradezu märchenhaft anmutenden Beifall gefunden, auch dementsprechend hohe Honorare geerntet (Protagoras ist der erste, der selbst mit dem Anspruch auftritt, ein ‚Lehrer der Weisheit‘ zu sein und [offen; andere taten das verdeckt] Honorar von seinen Hörern … nimmt)“ (Capelle, S. 323 f.). 167 Einem Hippias wird „eine nicht unwichtige, auch die Kreisquadratur berührende Ent­ deckung“ zugeschrieben. „Man neigt jetzt mit gutem Grunde dazu, in diesem Hippias den Sophisten zu erkennen (…). Ist die Identifikation richtig, so ergibt sich, … daß die (durch Platon, Hippias minor 368b ff. nahegelegte) Meinung von einer oberflächlichen Vielseitigkeit des Sophisten einer Revision bedarf“ (Praechter, S. 123).

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Protagoras war etwas älter als Sokrates (dieser um 469–399 v. Chr.) und dementsprechend noch älter als Platon (428/27–348/47 v. Chr.). Die Hochschätzung für Protagoras in Athen und die Altersunterschiede werden wohl Ursachen dafür gewesen sein, daß Platon den Sokrates im Früh-Dialog „Protagoras“ mit diesem Sophisten noch etwas mehr vorsichtig umgehen ließ (was sich aber später, Dialog „Menon“, 91d–e, sehr änderte), während Platon den Sokrates (oder wer sonst den Dialog leitete) die anderen Sophisten in den anderen Schriften (etwa den Gorgias im gleichnamigen Dialog) scharf kritisieren ließ oder den Hippias (in „Hippias der Größere“; ähnlich in bezug auf Hippias den Kleineren im Dialog dieses Namens) zur Karikatur machte, den Euthydemos und den Dionysodoros in „Euthydemos“ geradezu zu Witzfiguren. Im „Sophistes“ läßt Platon den „Fremden“ im Gespräch mit Theaitetos auf sehr ironische, aber auch auf gut witzige Weise eine Wesens­ bestimmung von „Sophist“ suchen und finden (wobei jedoch für uns das in den Fußnoten 165–167 Angemerkte zu berücksichtigen ist). Ein Kernpunkt der Lehre des Protagoras ist die Behauptung, der Mensch – gemeint ist dabei der Einzelmensch, nicht die Gattung – sei „das Maß aller Dinge“ („der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind“; Praechter, S. 114), weshalb es für Protagoras Wahrheit nur relativ gibt. Alle Vorstellungen und Meinungen sind wahr, aber eben nur jeweils in bezug auf den, der sich etwas vorstellt, etwas meint. Das ist Subjektivismus und Relativismus, und, soweit die Dinge nur sind, sofern sie in die menschlichen Sinnesorgane geraten, Sensualismus. – Mehr brauchen wir zur Kennzeichnung der Position nicht, außer daß ich bei für uns wichtigen Sachverhalten entsprechend einen Hinweis gebe. Am Anfang von Platons Dialog „Protagoras“ sprechen Sokrates und ein junger Athener, Hippokrates, der sich gern von dem wieder einmal in Athen (im Haus des Kallias) anwesenden Sophisten Protagoras unterrichten/bilden lassen möchte, darüber, was sich Hippokrates von Protagoras denn verspreche, was ein „Sophist“ tatsächlich sei und was man bei ihm lernen könne. Hippokrates meint, ein Sophist sei, wer sich auf Kluges (sophón) verstehe. Sokrates nennt Beispiele für Leute (Maler, Schreiner), die sich ebenfalls auf Kluges verstehen: gut malen können, einen Schrank herstellen, und fragt, auf welche Sorte Kluges der Sophist sich denn verstehe. Darauf Hippokrates: Der Sophist könne einen kräftig machen im Reden. Sokrates fragt daraufhin: Im Reden worüber? Über das, worauf er sich versteht? Über das, worin der Sophist sachverständig ist? Und worin ist er sachverständig (und könnte also seine Schüler sachverständig machen)? Hippokrates kann die Frage nicht beantworten. Sie beschließen, in das Haus des Kallias zu gehen, damit Protagoras es ihnen sage. Das geschieht. Auf Sokrates’ Frage, was für den Hippokrates herauskomme, wenn er sich an Protagoras halte, antwortet dieser, der junge Mann werde schon am ersten Tage, den er mit ihm zubringe, besser geworden nach Hause gehen, und so fast alle Tage. Sokrates gibt sich damit nicht zufrieden und will wissen, worin denn der Hippokrates besser geworden sein werde. Protagoras antwortet, daß es sich bei dem, was er lehre, nicht um irgendetwas Beliebiges und nicht um solches handele, das die jungen Leute, „den Schulkünsten

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eben glücklich entkommen“, wiederum vorgesetzt bekämen (Rechnen, Sternenkunde, Meßkunde und Musik), wie bei anderen Sophisten der Fall, „bei mir aber soll er nichts lernen … als das[,] weshalb er eigentlich kommt[: die] … Kenntnis … in seinen eig[e]nen Angelegenheiten, [also] wie er sein Hauswesen am besten verwalte, … und dann auch in den [politischen] Angelegenheiten“ (318e). Sokrates geht darauf ein und sagt: Du scheinst die Kunst der Politik (polītikē´ téchnē) zu meinen und zu verheißen, du wolltest die jungen Leute zu für die politischen Gemeinwesen tüchtigen (agathós) Männern bilden. Protagoras bejaht. (Für sich genommen, ist das, kritisch betrachtet, durchaus ein ansehnliches Ziel.) Im Dialog kommt dann etwas, das in anderer Hinsicht (Kapitel B. I.1.a)) für unsere Betrachtung wichtig gewesen ist. Sokrates sagt, er sei der Ansicht, andere zu für das politische Gemeinwesen tüchtigen Männern zu machen, sei nicht lehrbar, und er argumentiert so: Wenn wir in Athen in der Volksversammlung beiein­ander sind, und es geht um Bauangelegenheiten, lassen wir uns vom Baufachmann beraten, geht es um Schiffbau, vom Schiffbauer, und entsprechend in allen anderen Dingen, die für lehrbar und lernbar gelten, also in denen man, modern ausgedrückt, Spezialisten braucht. Das heißt, kritisch betrachtet, für Sokrates ist lehr- und lernbar nur Fachkönnen. Er fährt fort: Will sonstwer, von dem angenommen wird, er verstehe nichts von den speziellen Dingen, um die es gerade geht (Bauangelegenheiten usw.), dennoch Rat geben, wird er ausgelacht, ausgebuht, bis er von selbst aufhört oder, notfalls, auf Anordnung der Ratsmitglieder (der Prytanen) heruntergezogen oder gar hinweggeführt wird. Wenn es aber um politische Angelegenheiten geht, steht jeder auf und erteilt seinen Rat, Zimmermann, Schmied, Schuster, Krämer, Reeder, Reiche und Arme, Vornehme und Geringe, einer wie der andere, und hier macht niemand einem einen Vorwurf, man erteile einen Ratschlag, ohne das gelernt zu haben. Ein solches Verständnis der Kompetenz in politischen Angelegenheiten resultiert selbstverständlich immer noch aus der (in Athen nach der Zerrüttung der überkommenen Systeme verändert wiederbelebten) Tradition der alten Agora, in der alle die alle angehenden Angelegenheiten mitbesprachen und mitbestimmten. Jetzt aber wieder zur Hauptlinie des Gedankens im Dialog. Sokrates fährt fort: Wenn die Athener jeden der Ihren über die politischen Angelegenheiten mitsprechen lassen, ohne daß er dies irgendwo gelernt habe, meinen sie offenbar, dies sei nicht lehrbar, und er fügt hinzu, daß sogar die klügsten und besten Mitbürger, z. B. Perikles, sich für außerstande hielten, diese ihre eigene Tüchtigkeit (aretē´) ihren Söhnen mitzuteilen, daß sie ihre Söhne zwar in allen anderen Sachen bestens ausbilden, in d i e s e r aber sozusagen „frei herumlaufen“ und alleine „weiden“ ließen (320a). Nun ist das eine wie das andere, streng genommen, kein Beweis für die Nichtlehrbarkeit. Die Athener hätten ja im Irrtum sein können. Sokrates hatte sich kurz davor sozusagen aus der Empirie abzusichern versucht, indem er sagte, er halte „wie … wohl alle Hellenen [es] tun“, die Athener für weise, und also müsse es richtig sein, die Tüchtigkeit in politischen Angelegenheiten für nicht lehrbar und

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nicht lernbar zu halten, wenn die Athener dies täten (319b). (Die Leser wissen, daß ich der Empirie besonders Gewicht beimesse. Dennoch werden wir, im Teil C., noch einmal genauer hinsehen müssen, wie es mit Lehr- oder Nichtlehrbarkeit der Tüchtigkeit in politischen und publizistischen Dingen steht, dabei, ob mit dem „oder“ die Frage überhaupt richtig gestellt ist. Der Dialog „Protagoras“ bringt uns in dieser Sache nicht weiter, weil Begriffs-Inhalte durcheinander geraten.) Zu den, wissenschaftshistorisch gesehen, bleibenden Leistungen des Protagoras gehört, daß er seinen Schülern gezeigt hat, wie man ein einem gestelltes Thema angehen muß bzw. wie eine von jemand anders aufgestellte These zu bekämpfen sei. Er hat das, soweit ersichtlich, offenbar sowohl theoretisch als auch in praktischen Übungen gezeigt. Diese Verbindung von Lehre und Übung im dialektischrhetorischen Unterricht bewährte sich „am glänzendsten“, wenn es – das kennen wir schon aus dem Zitat oben bei Gigon – gelinge, „die schwächere, d. h. weniger aussichtsreiche Sache zur stärkeren zu machen (…), d. h. ihr zum Siege zu ver­ helfen. Die Opposition gegen die Sophistik hat dieser Wendung einen moralisch destruktiven Sinn untergelegt und sie in dieser Bedeutung zum geflügelten Worte gemacht: nach ihr besagt der Ausdruck: der nach Recht und Moral schlechteren Sache den Sieg gewinnen (…[)]. Diese engere Bedeutung haftet dem Ausdruck … [bei Protagoras] nicht an. Auch wer die gerechte Sache eines schutzlosen Schwachen gegen einen Mächtigen mit Erfolg verficht, …“ fällt unter den Anspruch, der mit dem Spruch angepeilt war. „Aber die Folgerungen, die die spätere Sophistik aus dem protagoreischen Relativismus [siehe weiter oben] zog, ihr ethischer Indifferentismus und die rücksichtslose Verfolgung des eigenen Interesses, der die Rhetorik dienstbar gemacht wurde, legten die ungünstige Deutung des Ausdrucks [die schwächere Sache zur stärkeren zu machen] nahe“ (Praechter, S. 118), weswegen die Sophisten, bis heute, verheerend in Verruf geraten sind. Dazu kommt aber noch ein Umstand, den wir aus dem Anfang des platonischen Frühdialogs „Protagoras“ zwar schon kennengelernt haben, der jetzt aber noch einmal und genauer betrachtet werden soll. Wir erinnern uns: Sokrates hatte den jungen Hippokrates gefragt, worin die Sophisten sachverständig seien. Protagoras hatte zunächst ausweichend geantwortet, mit der allgemeinen Redensart, bei ihm würden die jungen Leute jeden Tag „besser“ (siehe oben), und erst nach des Sokrates Insistieren erklärt, er lehre Tugend/Tüchtigkeit in politischen Angelegenheiten – welche Tugend/Tüchtigkeit wiederum Sokrates für nicht lehrbar hielt, mit Begründungen. Dieses Thema wird im platonischen Dialog „Sophistes“ (der „Fremde“ ist im Gespräch mit dem jungen Theaitetos) wieder aufgenommen. Dort (232b–233b) erweist sich der Sophist als Künstler im Streitgespräch, und zwar – angeblich – auf allen Gebieten, worauf der „Fremde“ hinzufügt, daß es jedoch unmöglich sei, auf allen Gebieten sachverständig zu sein, daß die Sophisten bloß vorgäben, sie wären es. Und sie müßten das auch vorgeben, andernfalls „könnten sie, …, warten[,] bis ihnen jemand Geld gäbe[,] um eben hierin ihr Schüler zu werden“.

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In folgenden Teilen des Dialogs „Sophistes“ (253c–254a) gelangen der „Fremde“ und Theaitetos bei ihren Überlegungen, wie man tatsächlich zu Erkenntnis, zu echtem Wissen kommen kann, statt an die Sophistik an die Philosophie als dialektische Wissenschaft. Am Ende des Dialogs (267c–268d) läuft es wieder darauf hinaus, daß Sophistik eben Vortäuschung sei. Wir werden sehen, daß Cicero die Frage „Wie steht’s mit der Sachkunde des Rhetors?“ bereits ganz anders und viel besser beantwortet. Der, mit Abstand zu Protagoras, nächstwichtige der Sophisten ist Gorgias von Leontinoi in Sizilien. Gorgias war ebenfalls älter als Sokrates, war wohl noch im 1. Viertel des 5. Jh. v. Chr. geboren, hat Sokrates aber noch überlebt. Er kam 427  v. Chr., wohl als schon älterer Mann, als Gesandter seiner Vaterstadt nach Athen, um Athen gegen das ebenfalls (west-)griechische Syrakus auf Sizilien, mit dem sich Leontinoi damals in Auseinandersetzungen befand, als Bundesgenossen zu gewinnen. Gorgias lehrte in der Hauptsache Rhetorik. „In der Philosophie kannte man von ihm eine nihilistisch-skeptische These, die er in drei Sätzen formulierte: 1. es ist nichts; 2. wenn aber etwas wäre, so würde es unerkennbar sein; 3. wenn auch etwas wäre und dieses erkennbar wäre, so wäre doch die Erkenntnis nicht mitteilbar an andere“ (Praechter, S. 119 f.). Ich gehe darauf nicht ein: 1. weil es für unser Thema (außer daß die Skepsis darüber, daß Erkenntnis möglich sei, zum Ausdruck kommt) nicht entscheidend ist; 2. weil es „schwer glaublich“ ist, „daß … Gorgias alles Ernstes gemeint haben sollte, er habe … bewiesen, daß nichts exi­ stiert“ ­(Praechter, S. 121). Wir wissen (siehe oben), daß Protagoras behauptet hat, jede Meinung sei wahr, allerdings nur in bezug auf den, der sich etwas vorstellt, der etwas meint; bei Gorgias muß es heißen, „jede Meinung [sei] falsch; beides läuft aber … auf die Negation der Wahrheit als der Übereinstimmung des Gedankens mit einer objektiven Realität hinaus, so daß durchweg … Überredung an die Stelle der Überzeugung treten muß“ (Praechter, S. 122). Überredung, mit allen Tricks, auch bei jenen Bemühungen „des einzelnen Bürgers“ als – nur noch vermeintlich – „politische Tätigkeit“, das ist dann das Geschäft der sophistischen Rhetorik, nicht mehr ein Zur-Sprache-Bringen der alle angehenden Angelegenheiten. Das ist Thema in Platons Dialog „Gorgias“. Sokrates fragt den Gorgias, was er für das größte Gut halte (und [ob; d. Hrsg.] sich, Gorgias, für den, der sich besonders darauf verstehe). Gorgias sagt: Das, kraft dessen die Menschen einerseits selbst frei sind, andererseits über andere Menschen herrschen (árchein), jeder in seinem politischen Gemeinwesen. Er erläutert, was er damit meint: imstande zu sein, durch Worte zu überreden, die Richter vor Gericht, die Mitglieder des Rats in der Ratsversammlung und die Mitglieder der Volksversammlung und überhaupt in jeder politischen Versammlung, nämlich wenn man es verstehe zu sprechen und die Volks-

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menge zu überreden. Sokrates will wissen, ob dieses Verständnis der Rhetorik als eine Kunst der Überredung in der Seele des Hörenden die vollständige Definition sei oder ob da noch etwas fehle. Gorgias erklärt die Definition für vollständig, jedenfalls sei das die Hauptsache (452d–453b). Die Gesprächspartner im Dialog unterscheiden dann zwischen der Rede, die Glauben hervorbringt ohne Wissen, und der, die Erkenntnis bringt. Gorgias gesteht ein, daß die von ihm gemeinte Kunst der Überredung vor Gericht (usw.; siehe oben) nur Glauben ohne Wissen erzeugt und nichts dazu beiträgt, Recht und Unrecht zu erkennen (454e–455a). Gorgias erklärt den Rhetor zuständig für alles, und es gibt nichts, worüber ein Redner nicht mit mehr Überredungskraft vor dem Volk sprechen kann als irgendein Sachverständiger (456c). Sokrates wendet ein, demnach finde der Nicht­ wissende mehr als der Wissende Glauben unter den Nichtwissenden (459b) bzw. – wie es kurz davor heißt  – bei der großen Menge (óchlos). Gorgias stellt die rhetorische Frage, ob es denn nicht ein großer Vorteil sei, daß man um nichts hinter den Sachverständigen zurückstehen müsse, ohne andere Künste erlernt zu haben als die der Rede (459c). Sokrates erklärt, er könne nicht etwas „Kunst“ nennen, was eine unverständige Sache sei (465a), folglich sei die sogenannte Redekunst, so wie Gorgias sie vertrete, im strengen Sinn keine Kunst, sondern nur ein gewisses Maß an Erfahrung/Übung (empeiría). Es läuft auf zweierlei hinaus: Eine noch so lange Rede in der Art, wie Gorgias Rhetorik auffaßt, und übrigens auch noch so viele und angesehene Zeugen garantieren nichts, „wo es auf die Wahrheit ankommt“ (471e). Wenn sich einer, der Unrecht getan hat, herausreden will, damit er nicht bestraft wird, dazu könnte diese Redekunst nützlich sein. Für den aber, der nirgends Unrecht tun will, sei der Nutzen wohl nicht groß, wenn diese Redekunst für ihn überhaupt einen Nutzen habe, wovon bis dahin im Gespräch aber noch nirgendwo etwas zu erkennen gewesen sei (481a–b). Wo es auf Wahrheit ankommt und auf das Gute (auch darum, die Menschen besser zu machen), hilft für Sokrates/Platon generell nur die Erkenntnis, also philosophische Bemühung. In bezug auf die Rhetorik demonstriert Platon dies, jetzt aber in positiver Weise, im Dialog „Phaidros“, den Sokrates mit Phaidros führt. Indem Sokrates den Phaidros auffordert, die ganze zeitgenössische Sophistik als nicht mehr relevant beiseite zu lassen – er nennt die Namen aller damals einigermaßen bekannten Sophisten (266d–267d); wir haben sie fast alle kennengelernt –, zeigt er danach, was er als Voraussetzungen einer Rhetorik von Wert einschätzt. Am Ende des Dialogs läßt Platon den Sokrates Fazit ziehen: Solange der, der reden will, nicht „die wahre Beschaffenheit einer jeden Sache, um die es geht, kennt und sie vollständig zu erklären imstande ist168 … und ebenso auch mit dem Wesen der Seele bekannt ist, die einer jeden Seele angemessene Art der Rede herauszufinden versteht und 168 „… daß[,] wenn er nicht gründlich philosophiert, er auch niemals gründlich über … etwas reden wird“ (261a).

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dies dann so ordnet und ausschmückt, daß er bunten Seelen auch bunte und wohllautreiche Reden hält, einfachen aber einfache,169 wird er nicht in der Lage sein, die Arten von Reden [in einer „Rhetorik“] zu behandeln  – soweit es die Sache erlaubt  –, weder eine solche Rhetorik zu lehren, noch [im praktischen Fall] zu überreden“ (277b–c; Ü. d. V.). Auch Aristoteles hat über die Sophistik geschrieben, thematisch in seinem Buch „Über die sophistischen Trugschlüsse“ („… sophistischen Beweise“).170 Das können wir übergehen. Von einigem Interesse für unser Thema ist seine Schrift „Rhetorik“ (deutsch auch unter dem Titel „Redekunst“ publiziert). Wie in vielen anderen Hinsichten ist Aristoteles auch hier wirklichkeitsnäher als sein Lehrer Platon. So stellt er ziemlich gleich zu Anfang (Buch I, Kap. 1,6) fest, daß es vor Gericht nur darum gehen kann, festzustellen, ob etwas ist (geschehen ist) oder nicht, und daß, soweit nicht der Gesetzgeber hier etwas fixiert habe, allein der Richter Bewertungen vorzunehmen, solche aber keineswegs „von den streitenden Parteien [zu] lernen“ habe  – was bedeutet, daß Aristoteles die  – modern ausgedrückt  –­ „Plädoyers“ der streitenden Parteien versachlichen und verkürzt haben will. Aristoteles überlegt auch sonst, wie man dem Mißbrauch der Rhetorik in der Praxis gegensteuern könne. Er meint, gute Gesetze sollten „soviel wie möglich“ regeln – ohne daß er verkennt, daß der Gesetzgeber nicht alle Einzelfälle vorauszusehen und zu regeln vermag –, und er versucht auch (allerdings nicht voll überzeugend), seine Meinung zu begründen, daß und wie es (relativ) doch leichter sei, gute Gesetze zu geben als gute richterliche Entscheidungen zu treffen; denn diese seien nun einmal, soweit das Gesetz nicht Vorgaben bringe, eher „das Werk des Augenblicks“ (Ü. d. V.). Aristoteles sagt, offenbar aufgrund von Beobachtung, daß die Rhetorik in politischen Dingen weniger in Gefahr sei, nach „außerhalb der Sache“ zu geraten und sozusagen schikanös zu werden, als die gerichtliche Rhetorik in Privatsachen, weil 169 „Da die Kraft der Rede eine Lenkung der Seele ist [psychagōgía; dazu „hē rhētorikē` … psychagōgía tis dià lógōn“ = mittels Reden, mit Worten; ebenfalls noch 261a], so muß der, der Redner werden will, notwendigerweise wissen, wieviele Arten Seelen es gibt.“ (271c/d; Ü. d. V.) Deren gibt es aber so sehr viele, dementsprechend gibt es viele Arten von Menschen und dementsprechend viele Arten von Reden. „Die eine Art Menschen ist durch Reden dieser Sorte aus diesem oder jenem Grund zu bestimmten Dingen leicht zu überreden, andere aus jenem Grund aber nur schwer.“ Hat der, der Redner werden will, das hinreichend begriffen, muß er, wenn’s dann um die Praxis geht, der in Frage stehenden Sache mittels seiner Wahrnehmung genau nachgehen, „oder er wird eben nichts anderes wissen als jene ‚Regeln‘ [die nur sozusagen Vorkenntnisse der Rhetorik sind und nur Äußerliches], die er seinerzeit [von den Sophisten] gehört hat. Wenn er aber die Sache genau kennt und eben auch das psychagogisch Erforderliche, dann erst mag es darauf ankommen, auch die Zeit zu beurteilen …, wann er reden und wann er innehalten soll, wann er gedrängt reden soll und wann er mehr Bewegungsfreiheit hat, wann er betonen/verstärken muß, wo und wo nicht; erst dann ist seine Kunst vollendet, eher aber nicht“ (271c–272a; Ü. d. V.). 170 Auch Anhang („Buch  IX“) zur „Topik“. Auf diese komme ich weiter unten noch zu sprechen.

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es bei den politischen doch mehr um die Gemein-Interessen gehe und nicht direkt um die Privat-Interessen, bei denen es schon eher darauf ankomme, den Richter so oder so unsachlich zu beeinflussen. Wie in der Dialektik muß auch der Rhetor jede von zwei Behauptungen, die einander entgegenstehen, glaubhaft machen können, aber er darf, anders als der Sophist, sein rhetorisches Vermögen nur im Sinne der Wahrheit und der besseren Sache einsetzen. – Die drei Gattungen von Reden, die Aristoteles unterscheidet, haben wir in anderem Zusammenhang schon kennengelernt (siehe Fußn. 164). In der aristotelischen Rhetorik spielt die Topik eine besondere Rolle. (Von ihr war ganz am Ende von Kapitel IV. in Teil A. schon einmal die Rede; darauf verweise ich.) Zunächst vergegenwärtigen wir uns erneut das Wesentliche am Politischen: v o r allem Handeln sind die alle angehenden Angelegenheiten zur Sprache/Absprache zu bringen. Wir erinnern uns außerdem: Nach der Zerrüttung der alten an diesem Verständnis orientierten Gemeinwesen und nach Herausbildung von Herrschaft, bis hin zu extremen Auswüchsen von Herrschaft, hatten in Attika die inzwischen unterdrückten Bauern rebelliert. Es kam in Athen, in mehreren Schüben, zu Reparaturversuchen, deren Ergebnis Demokratie hieß. Wir wissen, daß dieses Ergebnis etwas sehr Anderes war als jenes eben längst zerrüttete alte System – was sich nicht zuletzt am Zustand dessen ablesen läßt, was dann zwar Rhetorik hieß, aber nicht mehr mit dem Grundgedanken der Agora verbunden war. Immerhin, obwohl das Verständnis für das Wesen des Politischen verlorengegangen war, war doch etwas davon sichtbar, daß Rhetorik mit Politik „zu tun“ hatte. In Platons Dialog „Politikos“ (303e–304a)  bezeichnet der das Gespräch führende „Fremde“ diejenigen Künste, die der Politischen (oder, wie es dort auch heißt, der Königlichen) Kunst „helfen“: die Kriegskunst (strategía), die Kunst der Rechtsprechung (dikastikē´) und die mit der Politischen Kunst in Verbindung stehende Kunst der Beredsamkeit (rhētoreía). Aristoteles (siehe auch in Teil A., Kapitel V., den Absatz über den Fußnoten 140 und 141) unterschied zwischen „theoretischen“ Wissenschaften (Physik, Mathematik, Metaphysik) und „praktischen“ Wissenschaften (bei ihm sind das, wie wir wissen, Ethik, Politik und Ökonomie). Diese Unterscheidung ist zwar falsch, und wir machen sie auch nicht mehr mit, sie ist aber bei Aristoteles Voraussetzung gewesen für seine Einschätzung von Politik und Rhetorik und beider Verhältnis zueinander. Politik und Rhetorik schienen ihm nicht im streng wissenschaftlichen Sinn „theoretisierbar“ zu sein. Das liegt aber an ihm und an den Möglichkeiten seiner Zeit. Jedenfalls sagt er in der „Rhetorik“, Buch I, Kapitel 2,12, das Gebiet der Rhetorik – und man darf auf keinen Fall außer acht lassen, daß er damit immer nur an die Praxis denkt, nicht an eine wissenschaftliche Betrachtung der Rhetorik – „seien Gegenstände, über die wir beraten und über die es [wie er eben meint] keine systematische Wissenschaft gibt und bei der Leute die Zuhörer sind, die sich nicht in der Lage befinden, vielerlei auf einen Blick aufzufassen oder gar weit­reichende Folgerungen zu ziehen. Wir beraten über Dinge, die dem Anschein nach sich so,

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aber auch anders verhalten können“ (Ü. d. V.). Dann (I, 2,21) folgt: Rhetorische (und dialektische) Schlüsse sind nicht apodiktisch, also nicht mit Gewißheit verbunden, sie gehören vielmehr in die Topik, wo es nur Topoi, also (Gesichts-)Punkte, Argumente gibt, weshalb dann ein Abwägen zwischen den Gesichtspunkten erforderlich wird, die dafür sprechen, sich in einer bestimmten Weise zu entscheiden, und den Gesichtspunkten dagegen.171 So ist ja tatsächlich normalerweise die Situation in der politischen Praxis (auch schon in aller präpolitischen Praxis des Mitein­ ander-Umgehens) und dementsprechend in der Rhetorik dazu. – Auch hier zeigt sich sofort, daß Aristoteles viel mehr als Platon auf die Wirklichkeit achtet und das dabei Beobachtete auch sogleich gliedert. Er gibt (I, Kap. 4,7) einen Überblick über die Sachverhalte der Politik (dazu siehe auch I, 4,13), über die in der Volksversammlung beraten wird und über die die Redner sich äußern: Finanzen, Krieg und Frieden; Verteidigung des Gemeinwesens; Ausfuhr und Einfuhr; Gesetzgebung. Für unsere Zwecke genügt es, zusammenfassend zu sagen, daß Aristoteles dann in Buch II der „Rhetorik“ vor allem über die Affekte172 schreibt, in Buch III besonders über Fragen des sprachlichen Ausdrucks (léxis) und der Disposition (táxis) der Rede; generell und cum grano salis kann man sagen: über jene Sachverhalte, die in Platons Dialog „Phaidros“ (siehe weiter vorn) nichtzentrale Voraussetzungen genannt wurden, also, gemessen am Inhalt der Rede, nur Äußerlichkeiten; und auch Aristoteles (III, 1, 4–5) hängt sie sozusagen tief und sagt, man müsse über diese in der Sache unwichtigen Dinge überhaupt nur sprechen, weil sich die Rhetorik seiner, des Aristoteles, Zeit auf niedrigem Niveau und in der Welt des Anscheins 171 Auch Aristoteles hat sehr wohl die Rolle des lediglich Wahrscheinlichen für die Rhetorik erkannt. Anders als viele Sophisten fordert er die logische Begründung für das Wahrscheinliche, und mit dem Aufsuchen und Abwägen von Gesichtspunkten will er die Diskussionen strukturieren (s. a. Eisenhut, S. 34 u. S. 37 f.). 172 Martin Heidegger sagt in „Sein und Zeit“ (1926), S. 138 f., dazu: „Es ist kein Zufall, daß die erste überlieferte systematisch ausgeführte Interpretation der Affekte nicht im Rahmen der ‚Psychologie‘ abgehandelt ist. Aristoteles untersucht die páthe im zweiten Buch seiner ‚Rhetorik‘. Diese muß – entgegen der traditionellen Orientierung des Begriffes der Rhetorik an so etwas wie einem ‚Lehrfach‘ – als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt werden. Die Öffentlichkeit als die Seinsart des Man (…) hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung und ‚macht‘ sie für sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner. Er bedarf des Verständnisses der Möglichkeiten der Stimmung, um sie in der rechten Weise zu wecken und zu lenken.“ Es ist tatsächlich „kein Zufall“, daß Aristoteles die Affekte nicht im Rahmen seiner „Psychologie“ ab­handelt, sondern in seiner „Rhetorik“. Das hat aber nicht den Grund, daß Aristoteles etwa eine Art „erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ liefern wollte, für die – wie Heidegger behauptet – die „Öffentlichkeit als die Seinsart des Man“ charakteristisch sei, das interpretiert Heidegger hinein. Die Affekte gerieten einfach deshalb von Anfang an in die Rhetorik, weil die Sophisten als Lehrer der Rhetorik, statt weiter Kosmologie zu betreiben wie die älteren griechischen Philosophen, als erste über menschliches Denken und Handeln nachdachten (s. o.) und darüber, wie Menschen (mittels Überredung – wozu man die Affekte kennen mußte –) in eine gewünschte Richtung gebracht werden können. Die Charakterisierung von „Öffentlichkeit“ als „Seinsart des Man“ ist unqualifiziert und verkennt das Wesen des Politischen ganz und gar.

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bewege, „wegen der Verderbtheit des Publikums/der Zuhörer“. Nur deshalb müsse man sich leider um die Motive kümmern. In Kapitel 2 des Buchs III kommen einige wenige Hinweise auf Dinge, auf die der Rhetor achten solle, die auch heute noch für die Publizistik relevant sind, so zum guten sprachlichen Ausdruck: „daß er deutlich sei … und … angemessen“ (III, 2,1). In diesen Dingen bietet Cicero mehr als Aristoteles, und deshalb gehe ich gleich zu ihm über. Zunächst aber: Cicero hat den Vorteil, daß er nicht nur über Rhetorik geschrieben hat, sondern selber Rhetor war, sogar – unbestritten – der größte der römischen Rhetoren. (Etwa fünfzig seiner Reden sind erhalten geblieben.) Er hatte Erfahrung als Beistand in Rechtssachen; einmal ist er auch als Ankläger aufgetreten. 66 v. Chr. war er Prätor für die Stadt Rom und damit zuständig für alle Streitigkeiten zwischen Bürgern der Stadt; in einigen wichtigen Prozessen hat er dabei den Vorsitz geführt. Als Prätor konnte er die Volksversammlung einberufen, hat das auch getan und die bekannte Rede für den Oberbefehl des Pompeius gehalten. Nachdem er Konsul wurde, gehörte er dem Senat an und hielt dort, zwischen 63 und 43 v. Chr., viele politische Reden. Obwohl nicht Jurist im engeren Sinne, habe er mit seinen Rechtskenntnissen dennoch die meisten seiner Konkurrenten überragt. Aus all dem ist ersichtlich, daß Cicero in der Rhetorik nicht nur überhaupt in besonders großem Umfang praktisch Erfahrungen hatte, sondern Erfahrungen aus vielen Blickwinkeln. Cicero hat den Grundgedanken des Aristoteles (dort in der „Topik“ und in der „Rhetorik“), man müsse die Argumente/Gesichtspunkte/Topoi aufsuchen und zusammentragen, aufgenommen, und auch er forderte dazu auf, beim Studium der Rhetorik jeden „Fall“ aus dem Blickwinkel sowohl des Anklägers als auch des Verteidigers zu behandeln. Ziel ist der Erfolg, ist, „mit einer Rede Menschen … dahin zu bringen, wohin ich sie haben will“ („De oratore“, I, 30). Das ist nicht mehr die Grund-Idee des Politischen. Die zitierte Formulierung steht bei Cicero nicht etwa vereinzelt.173 Wir wissen, wie gefährlich die Verfolgung eines solchen Ziels sein k a n n . In „De oratore“, I, 88–177, schreibt Cicero über die bis heute in der Publizistik umstrittene Frage „Was ist entscheidend: die Begabung174, oder kann man das, worauf es ankommt, erlernen?“ Bevor ich darauf eingehe, will ich aber etwas vorausschicken, das mit diesem Thema zu tun hat, aber doch etwas anderes ist. Wir kennen aus Kapitel B.I.1.b) den Sachverhalt, daß es – in diesem Fall bei Germanen – in den Volksversammlungen, wenn die anstehenden Angelegenheiten zur Sprache kamen, sozusagen Gewichtungen der zur Sache Sprechenden gab, 173 Ähnlich in Buch I: 53, 88, 90, 92 (Ende), 128; in Buch II: 32, 64, 72–73, 105, 114, 159 (Ende), 177–178, 182 (Anf. u. Ende), 184, 186 (Ende), 187 (Ende), 199 (Ende), 201 (Ende), 203–209, 334 (Anf.); in Buch III: 104 (Anf.), 203–205, 225 mit 227. 174 Für Interessenten: Bei Eisenhut, S. 28, gibt es eine gute Bemerkung darüber, wann wohl zum ersten Mal die Begabung als Voraussetzung erkannt worden sei. Darauf verweise ich nur.

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„gemäß Alter, Rang, Krieger-Ehre und Redegabe“. Tacitus, Germ., Kapitel 11, hat dort im Original „facundia“. In den Wörterbüchern findet man meist die Über­ setzung „(natürliche) Redegewandtheit, Redefertigkeit“. Der Zusatz „(natürliche)“ ist wichtig – er bringt zum Ausdruck, daß eben gerade nicht das Ergebnis einer rhetorischen Schulung gemeint ist –; noch wichtiger ist allerdings, sich zu vergegenwärtigen, daß es hier überhaupt noch nicht um den Unterschied von „formal“ und „inhaltlich“ geht. Wer „facundia“ besitzt, ist bekannt dafür, daß er zu an­ stehenden Sachen etwas zu sagen, vorzubringen weiß. „Facundia“ kommt von „facere“, was hier eben „(her-)vorbringen“ heißt. Das, was Cicero zum Thema „Begabung  – Erlernenkönnen“ sagt, charakte­ risiert deutlich die ciceronische Situation des nach-sokratischen und nach-aristotelischen Rhetors und Rhetorikers. Ich schicke voraus eine in „De oratore“, I, 95, von Cicero mit der Formulierung „non solum disertus, sed etiam eloquens“ getroffene Unterscheidung, die auf deutsch z. B. in „Cicero: Werke“, 1989, wiedergegeben ist mit „nicht nur redegewandt, sondern wirklich beredt“. Diese Übersetzung ist nicht falsch. Wenn wir aber bedenken, daß Cicero wohl wie kein anderer seiner Zeit die Worte gerade in solcher Sache sehr genau gewählt hat, wird seine Unterscheidung erst prägnant. „Disertus“ ist „wohlgeordnet“ (serta, -orum = Kranz, Girlande, von sero, sertum  = zusammenfügen, verknüpfen), ganz im Sinne einer kunstvollen Gestaltung gemäß rhetorischer Schulung. „Eloquens“ dagegen kommt von l­ oquor, locutus sum, im Sinne zwar von „sprechen“, aber von „sprachlich Gedanken/Argumente zum Ausdruck bringen“, nämlich „Gesichtspunkte“: loci, griech. ­tópoi. Und das heißt hier auch: Cicero setzt mit „non solum disertus, sed etiam eloquens“ die Topik entschieden über das formal Kunstvolle. (Das ist für Publizistik auch heute noch wichtig.) Das wird auch aus dem deutlich, was Cicero den Crassus (zur Person siehe Kapitel B. I.1.c)) mit den Worten sagen läßt (Buch I, 94): Beredt, also eloquent sei jemand, der „anwendungsbereites Wissen darüber … [habe], aus welchen Quellen man schöpfen muß, um … Probleme zu bewältigen“. Das ist Topik, zweifelsfrei und unumstritten. (In II, 146–147, heißt es dazu im einzelnen: Man muß „alle Fundorte durchsuchen, um … Argumente … [zu gewinnen]; diese können … allen, die das auch nur einigermaßen durchdacht haben, wenn Fleiß und Praxis hinzukommen, … [ganz] gegenwärtig sein.  … Und es ist … Sache der Kunst oder der Aufmerksamkeit oder der Übung, daß man die … [Örter] kennt, … [zu denen] man gehen muß, um [das] zu finden, was man sucht.“) Gegenstand der Auseinandersetzung in dem auf hohem Niveau stehenden Gespräch175 (das man wegen eines noch wichtigeren Sachverhalts, den ich aus meinen 175 Das Gespräch wird in diesem Teil des Dialogs vor allem bestritten von jenem Crassus (der die Bedeutung der Philosophie betont), von Mucius Scaevola (einem schon älteren, sehr erfahrenen Juristen; zur Person siehe im übrigen ebenfalls in Kap. B. I.1.c)) und von Marcus Antonius Orator (Großvater des 43 v. Chr. zusammen mit Octavian und Lepidus Triumvirs Marcus Antonius), einem ebenfalls damals (Gesprächszeit ist 91 v. Chr.) ähnlich wie Crassus, mit dem er befreundet war, großen Redner, der, im Vergleich mit Crassus, mehr pragmatisch argumentierte.

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System-Gründen aber erst weiter unten wiedergeben will, wenigstens schon ab I, 63 lesen sollte) ist dagegen, ob es auf die Wohlordnung der Rede – etwas, das erlernbar sei – oder auf die Begabung ankomme (I, 88–107). M. Antonius gibt praktische Beispiele wieder, die ihm, als Prokonsul für Kilikien auf dem Weg von Rom nach dort, bei einem wetterbedingten Zwangsaufenthalt in Athen (I, 82) zu diesem Thema genannt worden waren. Der eine der athenischen Kontrahenten habe ausgeführt, einerseits seien die Rhetorikschriftsteller, sozusagen wie aus Trotz nur mittelmäßig redebegabt gewesen, „und er ging da zurück bis auf einen gewissen Korax und einen Tisias [Teisias], die bekanntlich [ursprünglich] die … Erfinder … in dieser Kunst gewesen seien“176, andererseits „aber nannte er wirklich unzählige höchst beredte Männer, die das [= diese Kunst] … weder gelernt, noch überhaupt zu wissen gewünscht hatten, …“ (I, 91). Crassus kommt (I, 113) auf den Kern der Sache (in dieser Hinsicht): „ich bin der Meinung, daß in erster Linie die natürliche Begabung … zur rednerischen … [Kraft] beisteuert; und ich … [meine], daß den … [Rhetorik-]Schriftstellern, von denen Antonius vorhin … [sprach], nicht die richtige Methode der Redekunst, sondern die Naturanlage gefehlt hat.“ Dazu zählt er im einzelnen: Beweglichkeit von Gemüt und Verstand, Scharfsinn (bei der Sammlung des Mate­rials), Einfallsreichtum (bei der Anordnung und stilistischen Formung), ein festes, dauerhaft funktionierendes Gedächtnis. Er fügt (115) hinzu: Es gibt nun einmal Menschen, „die sind in eben diesen Dingen so befähigt, so mit den Gaben der Natur ausgestattet“, und andere, „die reden so stockend oder haben eine so unangenehme Stimme oder sind in Mienenspiel und Gestik so ungeschlacht und tölpelhaft, daß sie bei allem Talent [auf anderen Gebieten] und aller Ausbildung doch niemals … [gute] Redner werden können.“ Crassus will in der Frage aber kein „entweder – oder“. Er habe nicht die Absicht, „junge Leute, wenn sie vielleicht keine natürliche Veranlagung dazu haben, ganz und gar von der Bemühung auf diesem Felde abzuschrecken. Wer sieht denn nicht, daß es meinem Alters­genossen Gaius Coelius, dem ersten Konsul [aus] seiner Familie, höchste Ehren einbrachte, daß er sich die … rednerische Befähigung [von jenem Mittelmaß] angeeignet hatte, die ihm erreichbar war?“ (117). Auch ob das, was man in der Rhetorik lehren oder lernen könne, eine Kunst oder gar Wissenschaft sei, hält Crassus nicht für eine Frage nach „entweder  – oder“, sondern für abhängig davon, wie man vorher definiert hat: „Denn wenn man eine Kunst oder Wissenschaft so bestimmt, wie es Antonius vorhin getan hat, daß es dabei nämlich auf feste Begriffe und tiefgehende Erkenntnis ankommt, die unabhängig von der subjektiven Meinung theoretisch erfaßt werden, dann, so meine ich, gibt es eine Kunst oder [gar] Wissenschaft vom Redner nicht. Denn alle Arten unserer forensischen Beredtsamkeit sind der Veränderung unterworfen und dem Verständnis der Volksmenge angepaßt“ (108). „Wenn aber das, was man aus der rednerischen Praxis beobachtet hat, von Männern mit Gewandtheit und Erfahrung beachtet und aufgezeichnet, begrifflich fixiert, gemäß Gattungen untersucht 176

Historisch über die Anfänge der griechischen Rhetorik s. Eisenhut, S. 8–14.

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und passend in die Abschnitte der Rede gegliedert worden ist – und das ist, wie ich sehe, möglich gewesen –, dann kann ich nicht erkennen, wieso man die Rhetorik, wenn auch nicht gemäß jener exakten Definition, aber doch im Alltagsverständnis, nicht eine Kunst177 nennen soll. … allerdings muß man wissen, daß anderes noch wichtiger ist, wenn man ein guter Redner werden will“ (109; Ü. d. V.). Zu dem, was noch wichtiger ist (weswegen ich es eben dicht vor dem Abschluß dieses Kapitels bringe), leitet das nun Folgende über: Zur sokratisch-platonischen These – die Lehrer der Rhetorik (ihrer Zeit; siehe oben) behaupteten, sie könnten (und sie wüßten auch andere zu lehren, das dann ebenfalls zu können) über ­a l l e s erfolgreich reden, nämlich die Hörer in die gewünschte Richtung überreden, hätten aber in Wirklichkeit keinerlei Wissen; zum Wissen aber bedürfte es vielmehr der Philosophie als echter Wissenschaft – läßt Cicero den Crassus sich kritisch äußern: „Dagegen hört sich das, was Sokrates dazu üblicherweise sagte, zwar recht plausibel an, ist aber trotzdem nicht wahr, daß nämlich jeder über das, von dem er echt Wissen habe, beredt genug sprechen könne. Näher bei der Wahrheit ist, daß keiner gut über eine Sache sprechen kann, von der er nichts versteht, daß er jedoch sogar dann, wenn er bestens über die Sache Bescheid weiß, aber keine Ahnung davon hat, wie man eine Rede aufbaut und an ihr feilt, all das, was er von der Sache weiß, nicht gut vortragen kann“ (I, 63). Und Crassus will „an folgendem festhalten: Wenn der Redner die Inhalte der anderen Wissenschaften, Künste und Disziplinen nicht kennt und nur das parat hat, was zur politischen Diskussion und zur Gerichts-Praxis gehört, wird er trotzdem, wenn er einmal über andere Gegen­ stände sprechen muß – nachdem er sich bei den Fachleuten gründlich informiert hat [!]  –, viel besser reden als diejenigen, deren Gebiet diese Wissenschaften eigentlich sind“ (65). „Wenn daher unser Sulpicius [einer der beiden jüngeren, begabten Teilnehmer am „Gespräch von 91 v. Chr.“] über ein militärisches Thema sprechen muß, wird er sich bei meinem Schwager Gaius Marius erkundigen und, wenn er gut zugehört hat [!], so darüber sprechen, daß es sogar Marius fast so vorkommen wird, als wisse Sulpicius darüber besser Bescheid als er. Wenn es aber um Fragen der Rechts-Praxis geht, wird er sich mit dir [Q. Mucius Scaevola] in Verbindung setzen und dich [danach], obwohl doch du auf diesem Gebiet am mei­sten gelehrt und erfahren bist, genau in dem, was er von dir gelernt hat, übertreffen“ (66). Das, was Cicero den Crassus hier sagen läßt, trifft die Sache genau, bis heute. Die alle angehenden Angelegenheiten zur Zeit der ganz frühen griechischen und der frühen germanischen Gemeinwesen waren wohl noch für alle Glieder dieser Gemeinwesen letztlich einigermaßen überschaubar und durchschaubar, besonders, wenn und – offenbar – weil es einige unter ihnen gab, die die anstehende Sache besser zur Sprache bringen konnten, den anderen mehr zu dieser Sache zu sagen wußten. Zu Ciceros Zeit gab es jedoch längst viel zu vieles, das einer allein nicht mehr hätte überschauen können. Aber Cicero hält, wie wir gesehen haben, 177 An eine Wissenschaft denkt Crassus, der ja die Bedeutung der Philosophie betont, bei jener Lehre der Rhetorik jedenfalls nicht.

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daran fest: Es darf einer öffentlich nur über etwas sprechen/reden, das er sehr genau kennt. Weshalb er sich also jedesmal vorher „kundig machen“ muß – wie wir heute dazu sagen –, und das darf auf keinen Fall oberflächlich sein. Ebenso gelten jene anderen Forderungen Ciceros an die Rhetoren noch bis heute (heute als Forderungen an die in der Publizistik Arbeitenden), Forderungen, die entweder tatsächlich oder nur vermeintlich in die sozusagen bloß „rhetorische Schulung“ gehören – z. T. nur vermeintlich, weil die Sachen in Wirklichkeit, wie wir sehen werden, mitten ins Zentrum des Anliegens gehören, die alle angehenden Angelegenheiten so zur Sprache zu bringen, daß sie möglichst gut durchschaubar werden: In „De oratore“, I, 144, und, fast genau so, in III, 37, verlangt Cicero: –– gutes/reines Latein; –– sich klar und deutlich ausdrücken (ähnlich III, 38: rein und durchsichtig ­sprechen; III, 49: Wörter benutzen, die gebräuchlich sind und „genau das ausdrücken, was wir bezeichnet oder klargestellt wissen wollen, ohne Doppeldeutigkeit“); –– das, was zu sagen ist, kunstvoll sprachlich gestalten; –– dem Gegenstand bzw. dem Charakter der Ereignisse angepaßt/angemessen (und das heißt auch: „sozusagen mit Anstand“) sprechen; an anderen Stellen – ich ziehe das hier zusammen: –– wieder und wieder lesen (I, 158); –– Praxis in: Hören, Lesen, Schreiben (II, 131), auch: großer aktiver Wortschatz aus der Literatursprache (III, 51). An der Spitze von Ciceros Forderungen steht eindeutig: gutes Latein. Für uns (und entsprechend anderswo) übertragen wir das in: gutes Deutsch. 3. Macht „Macht“ ist Abstraktum; das Adjektiv/Adverb ist „mächtig“, was, substantiviert, zu „der Mächtige“ führt. Im Griechischen und im Lateinischen sowie in den aus dem Lateinischen hervorgegangenen romanischen Sprachen gibt es Wörter, die, ins Deutsche „übersetzt“, mit „Macht“ bzw. u. a. mit „Macht“ wiedergegeben werden. Ich beginne mit dem Griechischen: Relativ sehr einfach ist die Sache in den beiden folgenden Fällen. Eine der vielen berühmten Stereotypen bei Homer (hier Od., u. a. 7, 167) lautet auf deutsch „die heilige Macht Alkinoos“ (Fürst der ­Phäaken). Bei Homer steht hieròn ménos Alkinóoio; ménos ist „Kraft“, vor allem „Lebenskraft“ und „kühner Mut“. – Für Od., 1, 359, übersetzt Voß aus der Rede des Tele­

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machos: „da mein im Hause die Macht ist“, wo Homer krátos sagt, was „Herrschaft“ heißt (und „-kratie“ ist bei den Griechen dann ja auch, neben „-archie“, Bezeichnung für „Herrschaftssystem“). Wir müssen einrechnen, daß der Übersetzer Voß (der kein wissenschaftliches Werk liefern, sondern den Deutschen griechische und römische Texte nahebringen wollte, hier die des Homer, und dies ebenfalls in Hexametern) bei Od., 1, 359, nur ein einsilbiges Wort brauchen konnte und drum statt „Herrschaft“ das vermeintlich und zu Voß’ Zeit unbezweifelt „sinnverwandte“ Wort „Macht“ genommen hat. Für gr. dýnamis geben die Wörterbücher außer „Kraft“ auch „Vermögen“ an. Wenn Homer dýnamis sagt, ist durchweg „körperliche Kraft/Stärke“ gemeint (so Il., 8, 294; 13, 786 f.; 23, 891; Od., 20, 237, eher so auch Od., 3, 205 (Telemachos)). In Od., 2, 62, läßt Voß den jugendlichen Telemach, auf deutsch übersetzt, sagen: „Wahrlich, ich wehrte mich, wenn ich die Macht dazu hätte“: „Macht“ also für dýnamis, was wieder versmaßbedingt sein kann. Um körperliche Kraft geht es beim Verb dýnamai, wenn von Menschen die Rede ist, z. B. in Il., 23, 465, und Od., 5, 31. Xenophon (Anábasis, 1, 3, 12) verwendet dýnamis zur Benennung dessen, was modern „Durchsetzung mit militärischer Gewalt“ heißt, konkret dýnamis mit dem Zusatz „zur See“ bzw. „zu Fuß“ bzw. „beritten“. Schließlich gehört hierher hē exousía, „die Freiheit/Möglichkeit, etwas zu tun“, „die Möglichkeit/Macht im Gemeinwesen“. So steht bei Platon, Gorgias, 461e, exousía toū légein, „die Freiheit zu reden“ (für jeden in ganz Hellas); Gorgias, 526a, en megálē exousía toū adikeīn genómenon, „weil er die Möglichkeit/Macht hatte, Unrecht zu tun“ (war es für ihn schwer, gerecht zu leben). Nun ist, soweit ich es überblicke, hē exousía erst seit Sokrates/Platon belegt. Das nicht verstärkte ousía, übersetzt mit „Wesen“, „Sein“ und „Vermögen“,178 gehört, mit den anderen Wortstämmen, die zusammen die Formen des Zeitworts „sein“ bilden, dagegen ohne Zweifel zum ältesten Wortbestand der griechischen Sprache. Ich komme am Ende des Kapitels darauf zurück. Von Cicero stammt die gelehrte Unterscheidung zwischen der potestas, die in Rom in der republikanischen Zeit den gewählten Magistraten zukam, der auctoritas, die der Senat besessen habe, und der libertas des Volkes. (Zu „auctoritas“ siehe Kapitel B. V.2.b) im Annex betr. Legitimitätsprinzipien.) Potestas wird üb­ licherweise mit „Macht“ übersetzt, weil die Magistrate (u. a. die Konsuln) die Entscheidungsbefugnis besaßen. Eschenburg (21969, S. 14 f.) nennt, mit Wieacker, die auctoritas des Senats die „indirekte Macht“, die von daher stammte, daß die mit der potestas ausgestatteten Magistrate nicht darum herumkamen, vor ihren wichtigen Entscheidungen beim Senat (tatsächlich nicht beim Senat als Gesamtorgan, sondern bei konkreten Senatoren sehr hohen Ansehens) Rat einzuholen, und es 178

So wie sich aus dt. „Vermögen“ die junge (15. Jh.) Spezialbedeutung „materielles Ver­ mögen“, Geld und anderer Besitz, entwickelte, hat auch ousía außer jenen anderen alten Bedeutungen später diese Spezialbedeutung „materielles Vermögen“ gewonnen (z. B. Herodot, Historien, 1, 92; Platon, Timaios, 20a).

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nur selten gewagt haben, entgegen diesem Rat zu entscheiden (wenn aber doch, nur mit guter Begründung). Eschenburg sagt richtig, daß das lat. potestas, vom Verb posse, „vermögen, können“ komme; es entspreche unserem Wort „Macht“, zu dem bei den Goten das Verb magan überliefert ist. (Dazu mehr gleich etwas weiter unten, dann aber besonders am Schluß des Kapitels, wo die Wesensbestimmung von „Macht“ das Thema ist.) Bei Eschenburg bzw. bei den von ihm herangezogenen Autoren gehen die Begriffe „Macht“, „Gewalt“, „Ansehensmacht“, „Ansehensgewalt“ durcheinander179 oder ineinander über. Die Magistrate hatten, wie wir wissen, unter jener Bedingung, vorher den Rat „des Senats“ einzuholen, letztlich die Entscheidungsbefugnis (mit dem Recht, die Durchführung erforderlichenfalls zu erzwingen) und die Entscheidungsverantwortung. D a s war ihre potestas. Also sollten wir das auch so übersetzen. (Die Übersetzer und diejenigen, die ihre Übersetzung übernehmen, sind offenbar in den Machtbegriff verliebt.) Bei der Betrachtung des Prinzipats des Augustus hat Eschenburg (S. 25) für potestas „Amtsbefugnis“; das ist, wie „Entscheidungsbefugnis“, eine sachgerechte Übersetzung. Aus dem wissenschaftstheoretischen Teil, in dem in Kapitel A.II. der Gegenstand der Politikwissenschaft bestimmt werden sollte, also das, was „Politik“ sei, wissen wir, daß „Macht“ bzw. „Machtkampf“ für die meisten Sozialwissenschafter Zentralbegriff war. Ich kann hier anfügen: Auch bei Journalisten180 und bei Politikern180 steht, wenn es mehr allgemein um „Politik“ geht oder um das, was dafür gehalten wird, „Macht“ im Mittelpunkt. Ich stelle zunächst zusammen, wie „Macht“ dabei heutzutage verstanden wird: Macht ist eine besondere Form von Beziehung („Machtbeziehung“), sie ist ein Faktor, sie ist ein Prozeß, sie geht aus Prozessen hervor, sie entfaltet sich zu etwas anderem (Herrschaft), sie kann sich anderer Dinge bedienen; man kann sie haben, „an“ ihr bleiben, sie ausüben, gebrauchen und verbrauchen; sie kann einen Niederschlag finden; sie kann ver 179

Eine geradezu Parade der Gleichsetzungen finden wir bei Eschenburg (21969), S. 35 (unten)  f.  – Das „dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache“ (Wahrig); München 1978 „erklärt“ „Macht“ mit „Herrschaft, Gewalt, Befehlsgewalt“. 180 Die folgenden drei Beispiele sind durchaus im wesentlichen repräsentativ, wobei der Zusammenhang, der Sachbezug, in dem das Verständnis des Macht-Begriffs steht, selbstverständlich für unsere Zwecke nicht zu erörtern ist. „Politik machen heißt Macht anstreben, Macht erringen und Macht ausüben. Natürlich muß das im Rahmen der republikanischen und demokratischen Spielregeln [Politik als „Spiel“?!] geschehen“ (Rudolph Bernarding in „Saarbrücker Zeitung“ (SZ), einer Regionalzeitung, v. 14.10.1987). „Die Partei [„Die Grünen“] von heute ist entwurzelt, rückständig, gespalten und erstarrt. Die Macht [sie auf Bundes-Ebene auszuüben] ist vielleicht ihr letztes Projekt“ (Jochen Buchsteiner in „Die Zeit“, einer überregionalen Wochenzeitung, v. 8.7.1999); „… die übermäßige Betonung der Parteien als der alleinigen Zentralen für die Macht muß immer mal wieder hinterfragt und auch kritisiert werden“ (Alt-Bundespräsident und früher Regierender Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, bei der Vorstellung seiner Autobiographie „Vier Zeiten“ in Saarbrücken in einem Gespräch mit Redakteur Gerhard Franz, in SZ v. 12.10.1998). – Im Staatslexikon (Hrsg.: Görres-Ges.; 1995), Bd. 4, Sp. 435, sagt Bernhard Vogel (zu ihm s. Kap. A.V., Fußn. 144): Politik „ist die Führung von Gemeinwesen auf der Basis von Machtbesitz (W. Besson); sie hat es mit Erwerb, Verteidigung und Verlust von Macht zu tun … . Politische Führung ist zielbewußte Ausübung von Macht zur Förderung des Gemeinwohls.“

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fehlt, errungen/gewonnen, getragen und verloren werden, verteilt, (kon-)zentriert; sie zersetzt sich und verfällt. – Es gibt die „Macht“ von ziemlich allem: der Zufälle, der Ideen, der Liebe, der Gewohnheit, um nur ein paar zu nennen.  – Ein Staat wird, wenn er sehr „mächtig“ ist, zur „Großmacht“ (im Unterschied zum „Kleinstaat“), im Extremfall zur „Supermacht“. In Bündnissen werden Staaten zu „Mächten“: „Mittelmächte“, „Westmächte“ usw. Auch in Mythos und Religion gibt es „Mächte“, finstere und lichte, und die „Allmacht Gottes“. Am häufigsten sind die Wortverbindungen von „Macht“ mit „haben“, dann die mit den oben genannten Wörtern im Umkreis von „haben“, die all das nennen, was einem geschehen kann, wenn man etwas hat, haben oder behalten möchte, danach die Verbindung mit „ausüben“. Die zugehörige Täterbezeichnung oder hier: Inhaberbezeichnung ist bekanntlich „Machthaber“. (Weil aber der, der die Macht „hat“, sie – wie es ja heißt – auch „ausüben“181 kann, ist er, wenn er das tut, auch ein Täter.) Nun haben wir so zum Sprachgebrauch von „Macht“ zwar einiges zusammengetragen, was aber Macht i s t , wissen wir damit bisher noch nicht, außer daß zumindest für die jüngere Zeit der römischen Republik (über die wir bessere Kenntnisse haben) und für den Prinzipat des Augustus „Amts-/Entscheidungsbefugnis“ den Sachverhalt in der deutschen Übersetzung von potestas klarer zum Ausdruck bringt als das verschwommene „Macht“ und daß auctoritas (zu dieser siehe auch bei „Legitimitätsprinzipien“) von potestas zu unterscheiden ist, daß beide im Fall konkreter Personen aber sehr wohl – von Person zu Person sehr unterschiedlich – miteinander verbunden auftreten können. Das ist aber etwas anderes als Mix-Begriffe wie „Ansehensmacht“, „Ansehensgewalt“ usw. Der Mix, das Durcheinander versperrt die Erkenntnis. Nur auf den ersten Blick hilft der Rückgriff auf die wohl am meisten bekannte Definition von „Macht“ seitens Max Weber: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber, 41956, S. 28). Die Zahl der Versuche, „Politik“ vom Machtbegriff her zu bestimmen (siehe in Kapitel A.II.) hat in den sechziger Jahren gegenüber dem, was ich bis 1958 über­ blicken konnte, noch sehr zugenommen, besonders nachdem, nicht nur, aber besonders in den USA, die Hoffnung aufgekommen war, man könne den Macht 181 Abgesehen von der allgemeinen Verwendung des Wortes „ausüben“ im Zusammenhang mit „Tätigkeit(en)“, im privaten Beruf, in Gewerbe und Freizeit, wird „ausüben“ in Verbindung mit „haben“ in politischen Systemen oder ihren defizienten Modi außer bei „Macht“ auffälligerweise auch in bezug auf „Amt“ verwendet: Amtsbefugnisse als Entscheidungs­ befugnisse werden „ausgeübt“. Man liest zwar vereinzelt auch „Gewalt (aus-)üben“, das hier zugehörende Verb ist jedoch „anwenden“. Druck wird „ausgeübt“, und das kann in GewaltAnwendung übergehen. (Ich verweise auf die Kap. B. I.5., B.II.1.c) und B.II.1.d).)

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begriff so operationalisieren, daß empirische Arbeiten möglich würden, deren Ergebnisse praktischen Nutzen hätten. Unter dem Titel „Klassische Theorie der Macht. Kritik ihrer Prämissen“ schreibt Niklas Luhmann 1969 (S. 149 f.) angesichts des „kaum zu überblickenden Haufen[s] von mehr oder weniger durchgearbeiteten, mehr oder weniger zusammenhängenden Äußerungen über Macht“: „Die erdrückende Fülle und Widersprüchlichkeit des vorliegendes Materials wirkt zunächst entmutigend. … . Könnte man die vorhandenen Äußerungen auf ihre typischen Prämissen bringen, würde sich zumindest der Überblick vereinfachen. … . Mit Hilfe dieser Sondierungstechnik stößt man sehr rasch auf eine typische Struktur von Denkvoraussetzungen, die wir … ‚klassische Theorie der Macht‘ … [nennen] wollen. … . Allen Machttheorien liegt die Annahme von Kausalität zugrunde. Kausalität wird dabei im neuzeitlichen Sinne verstanden als eine Beziehung von Ursachen und Wirkungen … . Im Rahmen dieses Vorverständnisses wird Macht als eine Ursache angesehen, durchweg als diejenige …, welche den Ausschlag gibt … [siehe oben bei Weber]. Demnach ist Macht über fremdes Verhalten dann gegeben, wenn das Verhalten bei Wegfall dieser seiner wesentlichen Ursache anders abliefe. Mit diesen scheinbar einfachen Überlegungen haben wir bereits den Kern der Schwierigkeiten erreicht, … . Eine heutigen Ansprüchen genügende logische Klärung der Kausalkategorie ist bisher nicht gelungen.“

Luhmann zeigt im bei ihm Folgenden dann, warum vor allem das so ist. Ich nenne dazu hier zwei der Fragen bzw. Unmöglichkeiten und erinnere daran, daß mit dem seitens Luhmann kritisch betrachteten Ansatz konkret praktisch, empirisch mit Erfolg operiert werden sollte, auch im Sinne von Prognosen. Die eine Frage war, „wie nichtrealisierte Alternativen und wie Substitutionsmöglichkeiten berücksichtigt werden können“, das andere ist die Unmöglichkeit „einerseits [einer] Darstellung einer Unendlichkeit von Ursachen und Wirkungen, die sich im kausalen Ereignis verknüpfen, und andererseits die Reduktion dieser Unendlichkeit auf eine Beziehung bestimmter Ursachen zu bestimmten Wirkungen, die so und nicht anders abläuft. Begreift man Macht als eine Ursache im Zusammenhang kausaler Auslegung der Welt, so impliziert das eine Unendlichkeit vorwirkender und mitwirkender anderer Ursachen; es schließt ferner prinzipiell (…) die Substituierbarkeit dieser Ursache ein, … . Die Frage ist dann, wodurch Macht in diesem Kontext von Vorursachen, Mitursachen und Alternativen ihre prominente Stellung erhält. Warum zum Beispiel wird Axel Springer als mächtig angesehen und nicht Johannes Gutenberg?“

Luhmann zieht daraus den Schluß: „Die Auffassung der Macht als Ursache reicht nicht aus, um an den Ursprung der Macht zu gelangen“, an den Ursprung im Sinne dieser als „klassisch“ bezeichneten Theorie (S. 150 f.). (Für uns lautet die Frage dann anders.) Im Lauf der Entfaltung und der praktischen Erprobung der „klassischen Machttheorie“ ist immer mehr deutlich geworden, daß in ihr eine große Zahl von ungeklärten Prämissen steckt. „Während alle anderen Prämissen je für sich Kritiker gefunden haben, fehlt es an kritischen Stimmen, die der Macht die Kausalität [überhaupt] zu bestreiten wagen“ (S. 151). Luhmann meint, das ginge auch tatsäch­lich

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„zu weit“, ohne nennenswert zu begründen, was „zu weit“, und damit, was „nicht zu weit“ ist. Er schlägt nur eine „Wendung“ vor, die „aus der klassischen Machttheorie hinausführen und die Systemabhängigkeit aller Macht in das Zentrum des theoretischen Interesses rücken“ würde (S. 151). Er nennt danach die Denkvoraussetzungen, die dafür zu erbringen wären, zeigt, daß die Wendung nicht herbeizuführen ist, wenn bloß einzelne Prämissen, so auch die bereits in Machiavells Konzeption (S. 158) enthaltene Prämisse der „Habbarkeit von Macht“, „einzeln herausgenommen, … isoliert kritisiert werden … . Die so leicht faßliche Kategorie des Habens täuscht eine Erkenntnis vor, wo das Fragen erst zu beginnen hätte. Denn: Welche Systembedingungen müssen erfüllt sein, damit Macht so etwas wie ein habbarer Besitz werden und als solcher erworben, verwaltet, übertragen, gemehrt und gemindert werden kann?“ (S.  159). Luhmann überprüft daraufhin die „Systemkonzeption“ der „klassischen Machttheorie“.182 Er stellt dem voran: „Während für die alteuropäische Tradition die Notwendigkeit von Herrschaft182 aus einer Systemtheorie folgte“ – für die er Aristoteles’ Politik, 1254a, 28–31, zitiert, was ich so übersetzen möchte: Wo immer ein Gemeinwesen besteht oder entsteht, gibt es Herrschende und Beherschte –, „Macht also ­systemimmanent183 und  … zugleich auch rechtsbezogen183 begriffen wurde, fehlt der neueren [der „klassischen“] Machttheorie ein explizierter Systembezug. Man kann ihn aber erschließen“184 (S. 160). Ergebnis ist jedenfalls zum einen, daß die Leistung der klassischen Macht­ theorie für praktische Zwecke nur gering ist, zum anderen, daß die „neueren Diskussionen … sehr viele Aspekte der klassischen Theorie aufs Korn genommen“ haben mit dem Ziel (u. a.), „an den Problemen ihrer Prämissen die begrenzte Bedeutung ihres Gegenstandes, die begrenzte Bedeutung von Macht überhaupt nachzuweisen“ (S. 166 f.). 182

„Macht“ und „Herrschaft“ gelten auch bei Luhmann eben doch offenbar für synonym. Die ist aus Luhmann in bezug auf Aristoteles zwar an dieser Stelle nicht zu erkennnen, er darf sie aber als bekannt voraussetzen. – „Systemimmanent“ ist in bezug auf Aristoteles zwar ebenfalls zutreffend, aber in einem anderen Sinn, als Luhmann es meint. Aristoteles’ System ist nicht mehr echt politisches, sondern Herrschaftssystem, und er behauptet, es habe „immer“ nur solche gegeben. Unsere (sozusagen vorsokratische) Frage zielt auf „Macht“ im politischen System, v o r der Defizienz. 184 „Unter der Voraussetzung, daß A gegenüber B Forderungen durchsetzen kann, ohne auf den Willen des B Rücksicht nehmen zu müssen (weil er ihn durch Zwang brechen kann), lassen Machtsysteme sich als geschlossene Systeme konstruieren. Darunter sollen in Abweichung von einem verbreiteten Sprachgebrauch [Luhmann zeigt in Fußn. 42 die Notwendigkeit der Abweichung, weil man anderenfalls in Undenkbarkeiten gerät] Systeme verstanden werden, die nur in einer oder einigen wenigen Variablen von der Umwelt beeinflußt werden können und sich dann in ihren übrigen Teilen in determinierter Weise auf diese Änderung einstellen, ohne intern Alternativen, Gegenmacht, Entscheidungsprozesse aktivieren zu können. Prototyp geschlossener Systeme ist die Maschine. Mag die klassische Machttheorie dieses Modell nun akzeptieren oder verwerfen, jedenfalls verwendet sie, um Kalkulation und Handhabung der Macht zu vereinfachen, Prämissen, die sie diesem Modell eines geschlossenen Systems annähern, …“ (S. 160; zu diesen Prämissen und ihrer Kritik siehe Luhmann, S. 160–166). 183

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Das muß man zweimal lesen: die „begrenzte Bedeutung“ von etwas, von dem man nicht weiß, was es ist. Wie hat man das rausgekriegt? Jedenfalls paßt diese Charakterisierung, in Umkehrung, zu der ironisch anmutenden Formulierung im ersten Satz bei Luhmann: „Die Macht der Macht scheint im wesentlichen auf dem Umstand zu beruhen, daß man nicht genau weiß, um was es sich eigentlich handele“ (S. 149).185 Luhmann fährt jedoch fort mit: „Die Evidenz des Phänomens und die Unklarheit des Begriffs erleichtern das Argumentieren in außerwissenschaftlichen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen“ – selbstverständlich nur vermeintlich. „Evidenz“ kann hier allenfalls heißen: Da i s t jedenfalls was, aber wir wissen nicht, w a s es ist und was „ist“ heißt. Von „Phänomen“ im Sinne Husserls – also dem, was sich von sich selbst her als das zeigt, was es ist – kann ganz sicher nicht die Rede sein. Das, was „Macht“ ist, bleibt diesem Blick verstellt. Luhmann folgert, es komme nun darauf an, die „klassische Theorie der Macht“ überhaupt, „als Ganzes“, „durch eine andere Konzeption zu ersetzen“, was einen Anschluß an die Systemtheorie, die Theorie kybernetischer Regelung, die „Theorie normativer, Erwartungen stabilisierender Strukturen“, die Kommunikationstheorie und besonders an die Theorie der Entscheidungsprozesse voraussetzte. „Dafür fehlen hier die Grundlagen“, sagt Luhmann. Wohl aber könnten zur Vorbereitung einer neuen Theorie der Macht die zu lösenden Aufgaben schärfer formuliert und die Punkte lokalisiert werden, an denen die Theorie bisher gescheitert sei. Von da aus wäre dann nach anderen Lösungen zu suchen (S. 167). Luhmann meint, man könne durchaus an der „Interpretation der Macht als einer Ursache festhalten“, wenn man den Ungedanken preisgebe, „der durch Alter und Gewohnheit nicht besser wird, daß man die Ursächlichkeit einer Ursache aus ihren Ursachen usw. erklären könnte. Man kann sie nur aus Systemen erklären, die andere Möglichkeiten ausschließen. Systeme ermöglichen erst Kausalprozesse, nicht umgekehrt Kausalprozesse Systeme“ (S.  167). Im übrigen führe, so Luhmann, die kritische Analyse der Prämissen der klassischen Machttheorie zu dem Verdacht, der Machtbegriff, der dort angeboten werde, müsse „dringend überarbeitet und vor allem abstrahiert186 werden …, um heutigen Anforderungen gerecht werden zu können“ (S. 169). Außerdem zeichne sich die klassische Machttheorie gerade durch „Systemblindheit“ aus (S. 169). Den Schluß von Luhmanns Analyse bringe ich wörtlich, weil wir mehrere Aussagen daraus im Wortlaut brauchen. „Wenn man nur weit genug zurückblickt [was allerdings, wie wir sehen werden, Luhmann immer noch nicht tut], sieht man, daß diese Systemblindheit der Machttheorie neueren Da 185

In der dort zugehörigen Fußnote heißt es: „Diesen Eindruck vermittelt James G. March, ‚The Power of Power‘ in: Davon Easton (Hrsg.), ‚Varieties of Political Theory‘, Englewood Cliffs/N. J. 1966, S. 39–70.“ 186 Mehr dazu S. 166, Abs. 2.

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tums ist. Ältere, noch naturrechtlich denkende Schriftsteller hatten Herrschaft im Unterschied zu rein faktischer Macht durchaus als systemabhängig begriffen, und zwar genau in dem Gesichtspunkt, auf den es uns ankommt: im Grade ihrer Freiheit. So betont etwa Christian Wolff, daß die …187 (potestas) als Freiheit, zu befehlen oder zu handeln, ‚durch die Nothwendigkeit dessen, was die gemeine Wohlfahrt und Sicherheit fordert, determiniret‘ sei, also in allen Gemeinwesen gleich sei. Demgegenüber wird Macht [inzwischen] durchaus sekundär als von Geld und Soldaten abhängiges Durchsetzungsvermögen behandelt. Jene …187 [potestas] aber war, da ja soziale Systeme als Rechtsgebilde begriffen wurden, ihrer Natur nach rechtliche …187 [potestas, Entscheidungsfreiheit] und durch das System qua Recht determiniert. Mit der Auflösung des Naturrechts ist diese Systemtheorie der Macht entfallen, ohne eine Nachfolge zu finden“ (S. 169 f.).

Einiges Wichtige, das Luhmann zufolge geleistet werden müßte, wenn man zu einem besseren Machtbegriff in seinem Sinn soll kommen können (welcher Begriff dann gleichwohl praktisch brauchbar zu sein hätte), habe ich wieder­gegeben. Luhmann nennt davon noch mehr (u. a. und nicht zuletzt, S. 166, Mitte). Das tatsächlich zu leisten, ist nicht unsere Aufgabe. Wohl aber ist das, was Luhmann die Systemabhängigkeit nennt, besonders wichtig und für das Verständnis von „Macht“ noch viel wichtiger, als Luhmann es bemerkt hat, von seinem Ansatz her bemerken konnte. Zwar reicht tatsächlich schon der Blick zurück bis Christian Wolff, um zu erkennen, „daß diese Systemblindheit der [sogenannten klassischen] Machttheorie neueren Datums ist“, und um zu sehen, daß die (tatsächlich H e r r s c h a f t s -)Theorie des wichtigsten Naturrechtsphilosophen in Deutschland an bestimmte Systemvoraussetzungen geknüpft war, aber selbst der Blick auf Aristoteles reicht nicht weit genug zurück, um den originären Machtbegriff zu gewinnen, der offensichtlich an das System vom Typ „politisches Gemeinwesen“ im strengen Sinn gebunden ist. Wir werden uns deshalb jetzt das Wort Macht genauer anschauen. (Erstaunlich ist, daß das kaum einer tut oder, wenn doch, nur oberflächlich, etwa Eschenburg (21969, S. 14): „das deutsche Wort [kommt] vom gotischen magan, das dem lateinischen posse entspricht“, „was vermögen, können bedeutet“ und wovon lat. potestas „abgeleitet“ wird.) Das Grimmsche Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1397, beginnt den über neun Spalten laufenden Artikel „Macht“ mit der Erklärung, „Macht“ bedeute das, was lat. vis und potestas genannt werde. Das heißt, Ausgangspunkt der Deutung unseres Wortes Macht ist also nicht ein Bedeutungszusammenhang in einem originär althochdeutschen Text oder einem Text einer älteren germanischen Sprache, vielmehr wie man zwei lateinische Wörter, vis und potestas, aus ihrem lateinischen Zusammenhang am ehesten „übersetzen“ könne. Diese Situation ist der in Kapitel B. I.1.b) beschriebenen ähnlich, in der sich Tacitus befand, als er 187 Luhmann hat an diesen Stellen „Gewalt“ zur Übersetzung von „potestas“ bei Wolff. Um möglichst aus der Willkür der Wortwahl herauszukommen, habe ich es bei „potestas“ belassen. Wenn „potestas“ qua Amt mit (Amts-)„Entscheidungsbefugnis“ zutreffend übersetzt ist, paßt für „potestas“ im naturrechtlich begründeten Herrschaftssystem „Entscheidungsfreiheit“, auch „Freiheit zu befehlen oder zu handeln“, wie Luhmann sagt.

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germanische Sachverhalte mit Wörtern aus seiner, der lateinischen Sprache, wiederzugeben versuchte, bloß jetzt anders herum: Römische Sachverhalte sollten mit Wörtern der aus dem Germanischen hervorgegangenen Sprachen wiedergegeben werden, so gut oder schlecht das ging. Wir haben in B. I.1.b) gesehen, zu welchen Schwierigkeiten und Fehl-Interpretationen das führen kann. Im jetzt vorliegenden Fall (es ging im „Grimm“ konkret um Übersetzungen von auf lateinisch vorliegenden Bibeltexten) hatte eine besondere Bedeutung das Verständnis von potestas im Lateinischen jener Zeit. Dieses Verständnis war geprägt von der historischen Situation des spätrömischen Reiches, das schon längst nicht mehr politisches Gemeinwesen, sondern Herrschaftssystem gewesen ist. Wir müssen folglich versuchen, nach Möglichkeit an das Ausgangsverständnis von „Macht“ zu gelangen. Die Zeit, um die es geht, ist die des (erschlossenen) gemeingermanischen und des indogermanischen Zusammenhangs. Den Ausgang müssen wir beim Wort selbst nehmen. Ich bringe zunächst nur den Wortbestand, der uns bekannt ist, noch ohne „Erklärungen“ seitens der Etymologen.188 „Macht“ ist im Deutschen seit dem 8. Jh. belegt als ahd. (und altsächs.) maht, aus germ. *mah-ti- f.; got. heißt es mahts. Ableitungen gibt es in allen anderen alten germ. Sprachen, so ags. meaht, miht (engl. might), dazu außergerm. in altslav. moštĭ (aus *moktĭ). Das Verbalabstraktum „Macht“ in seiner erschlossenen germ. Form -ti- gehört zum Präterito-Präsens germ. *mag (so 23. Aufl.; aus idg. *māgh-/mәgh- laut 16. Aufl.). Unser Zeitwort „mögen“, mhd. mugen, mügen, ahd. mugan (so auch altsächs.) und magan (so auch schon got.) geht auf jenes germ. *mag zurück und dieses auf idg. „*māgh-: *mәgh- ‚können, vermögen, [zu etwas ver-]helfen‘“ (16.  Aufl., S.  498). Die genannten etymologischen Wörterbücher geben sonst als Wortbedeutungen an: „vermögen“ bzw. „können, vermögen“, die 16.  Aufl., S.  498, außerdem für altniederfränkisch mohti „möchte“. Dort heißt es: „Urverwandt sind gr. mē´chos,189 mēchanē´ ‚Hilfsmittel‘,190 aslav. mogǫ, mošti ‚können, vermögen‘“, in der 23. Aufl., S. 565,191 für lit. mē´gti im Verständnis von „lieben, mögen“, lett. mêgt, „vermögen“. Die der mēchanē´ (vom Verb mēchanáō, „etwas ersinnen“) bzw. dor. machaná zugrundeliegende Bedeutung, v o r allen Spezialisierungen,192 ist, in schwieriger Situation (siehe Schadewaldt, 1993, S. 173) einen Weg oder Ausweg zu finden oder etwas zu bewirken, ins Werk zu setzen, etwas zu erlangen, zu etwas zu ver-helfen, zugleich im Sinne von „wie/auf welche Weise“. So kann dann mēchanē´ auch als Hilfsmittel, als Werkzeug verstanden werden, in technischer, in organisatorischer Bedeutung, als List, als guter Einfall, Erfindung, Kunstgriff. 188

Diese dann: Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 466, S. 498 u. S. 833; Kluge, 23. Aufl., S. 530, S. 565 u. S. 859. 189 Anders als mēchanē´ ist mē´chos nur in poetischem Gebrauch gewesen. 190 Zu „Macht als Mittel“ im modernen Sinn siehe weiter unten. 191 Dort auch der Hinweis, daß es noch Unklarheiten hinsichtlich der „langvokalischen Grundlagen“ gibt, worauf wir für unsere Zwecke aber nicht näher einzugehen brauchen. 192 Etwa Kriegs- und Belagerungsmaschinen, auch Theatermaschinen u. v. a. m.

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„Können“ muß außerhalb unserer Betrachtung bleiben. Es ist unter die m ­ agan, mugan und maht erklären sollenden Wörter geraten, weil zuvor umgekehrt aus den weiter oben genannten Gründen das Bedürfnis entstanden war, lat. posse, in germ. Sprachen meist mit „können“ und/oder „vermögen“ wiedergegeben, und das aus posse stammende potestas (seinerseits in manchen Hinsichten mit lat. vis, „Leibes-, Lebenskraft“, „Stärke“ u. ä. erklärt) verständlich zu machen, mit den uns schon aus B. I.1.b) bekannten Übersetzungsschwierigkeiten, hier doppelt, in beiden Richtungen. – Außerdem ist in jüngerer gehobener Rede, inzwischen auch weit verbreitet in wissenschaftlichen Schriften, „mögen“ in Redewendungen eingegangen, in denen es an der Stelle von „können“ steht, dieses nun im Sinne von „dürfen“, ähnlich im Englischen z. B. she may, im Sinne von „kann“, „darf“.193 In beiden Fällen haben wir Sekundärsachverhalte vor uns, und alles, was sonst bei Grimm, Wb., Bd. 12, Sp. 1397–1405, steht, sind jüngere Wortverwendungen, bringt nichts zum Ausgangsverständnis von „Macht“. Wir sind somit verwiesen auf „mögen“ und „vermögen“, auf gr. mēchanē´ und auf lit. mē´gti. Unser aus dem einfachen Zeitwort „mögen“ und der Vorsilbe „ver-“194 zusammengesetztes „vermögen“ gibt es schon ahd. (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 833, und Kluge, 23. Aufl., S. 859) als furimugan und (Grimm, Wb., Bd. 25, Sp. 882) als farmagan. Nun ist ein Wort noch ohne die Vorsilbe zwar älter als dieses Wort mit Vorsilbe, wir haben aber gesehen, daß in den germ. und außergerm. Ableitungen von idg. *māgh-/*mәgh- und in diesen selber die Bedeutung „ver-mögen“ schon mitgegeben ist, auch ohne daß eine Vorsilbe vorkommt. (Die Sprachwissenschafter sagen dann etwa: Das „ver-“ dient der Verstärkung.) Zum Ausgangsverständnis von „Macht“ gehört also „mögen“, und dies, wie das lit. mē´gti zeigt, auch mit der Bedeutung „lieben, mögen“. Dies mitzusehen, bewahrt uns zunächst einmal davor, „möglich“ und „Möglichkeit“ metaphysisch als im Gegensatz zu „wirklich“ und „Wirklichkeit“ befindlich mißzuverstehen. „Mögen“ ist also nicht nur ein „lediglich“, das für sich bloß „nichts“ wäre und erst durch darauf verwendete Aktivität zu „etwas“ werde. Zum originären Verständnis von „Macht“ im Rahmen der noch echt politischen Systeme gehört die Klärung, also die Sprache und Absprache über das, was die Glieder des Gemeinwesens „mögen“ (heute würden wir weniger gut „anstreben“, 193

Grimm, Wb., Bd. 12, Sp. 2460, 7a: „den (kauf) magstu behalten. – Eulenspiegel hist. 59“. Die idg. Zusammenhänge sind in bezug auf dieses Präfix relativ breit zu überschauen. Ich gebe Kluge, 23. Aufl., S. 854, Stichwort „ver-“, etwas gekürzt wieder. Mhd. heißt es schon wie dann nhd. ver-; die ahd. Varianten sind fir-, far-; schon ganz einheitlich ist das Präfix alt­ engl. (for-) u. altfries. (fur-, for-), „während im Gotischen noch entsprechend den außergermanischen Sprachen zwischen faur, fra- und fair- unterschieden wird“, so a­ ltind. (purā´ , prá u. pári), auch griech. (parà, pró u. perì) und lat. (por-, pro u. per); in anderen idg. Sprachen (lit., altkirchenslav., heth.) ist die Vereinheitlichung aber ebenfalls schon mehr oder weniger weit fortgeschritten. 194

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„wollen“ sagen), aber bereits in Verbindung mit der Klärung (Sprache und Absprache) dessen, was sie dazu vermögen (modern, aber lange nicht so gut: wie sie das zu erreichen meinen). Da ist der (modern, aber wieder weniger gut formuliert:) „Handlungsbezug“ schon mit drin: etwas, das wir mögen, „s e i n zu lassen“,195 nicht wegwerfend, im Sinne von „dann lassen wir’s eben sein“, sondern im Sinne von „zum Sein kommen zu lassen“, es „zu ermöglichen“. Angesichts des gegebenen Wortbestands reichen wir mit diesem Ausgangsverständnis bis in den indogermanischen Zusammenhang zurück. Das heißt aber auch: Dieses „Macht“-Verständnis stammt – um mit Christian Meier zu sprechen (siehe Kapitel B. I.8.) – für die Griechen aus der Zeit der noch nicht „kratistisch“ bestimmten Systeme. Für die Germanen gilt das sowieso; sie hatten noch sehr viel länger als die frühen Griechen, die um 2 300 v. Chr. in Griechenland, in die Mitte und in die Peloponnes, eindrangen, und immer noch viele Jahrhunderte länger als die dorischen und nordwestgriechischen Nachwanderer von um 1 100 v. Chr. das altüberkommene System bewahrt. Anders ausgedrückt, dieses originäre Machtverständnis gehört zu den alten, den im strengen Sinn „politischen“ Gemein­wesen. (Wenngleich nicht so, als daß wir anzunehmen hätten, daß die Glieder dieser Gemeinwesen darüber „philosophiert“ haben.) Das ist der originäre „System“Zusammenhang. In der Versammlung der Glieder der konkreten politischen Gemeinwesen kamen im jeweils gegebenen konkreten Fall das „Mögen“ (mit dem „Vermögen“ dazu) und das „Wie“ zur Sprache und zur Absprache. Das ist zugleich der Zusammenhang von Sprache, von Macht und von Ins-Werk-Setzen = Schaffen, Schöp 195 Das werde wohl aus Heidegger stammen – könnte man zwar meinen – und könnte auch tatsächlich von dort stammen, ist aber aus meinem Leben, von meinem Vater zu mir. (Manches davon ist mir freilich erst später aufgegangen.) – Heidegger schreibt dagegen thematisch über das Denken des Seins. Auch ohne den Gesamtzusammenhang, den ich natürlich nicht ausbreiten kann, wird das bei Heidegger besonders aus folgendem Textstück ersichtlich: „Das Denken, schlicht gesagt, ist das Denken des Seins. Der Genitiv sagt ein Zwiefaches. Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört. … Das Denken i s t  – dies sagt: das Sein hat sich je geschicklich seines Wesens angenommen. Sich einer ‚Sache‘ oder einer ‚Person‘ in ihrem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen. Dieses Mögen bedeutet …: das Wesen schenken. Solches Mögen ist das eigentliche Wesen des Vermögens, das nicht nur dieses oder jenes leisten, sondern etwas in seiner Her-kunft ‚wesen‘, das heißt sein lassen kann. Das Vermögen des Mögens ist es, ‚kraft‘ dessen etwas eigentlich zu sein vermag. … Aus diesem Mögen vermag das Sein das Denken.“ (Über den Humanismus, S. 7.) – Das – wie er wohl sagen würde – „eigentliche Wesen“ der Macht hat sich Heidegger, wenngleich er nahe dran war, nicht eröffnet. So wie ihm in „Sein und Zeit“ seine zeitkritisch bestimmte Betrachtung über die zwanziger Jahre des 20. Jh. den Blick für das Wesen von Öffentlichkeit versperrt hatte, lesen wir in „Überwindung der Metaphysik“ (bes. S. 90 u. S. 92) über von zeitkritischer Betrachtung der vierziger Jahre bestimmtes Machtverständnis der Moderne. (Davor  – s. bes. S.  81  – erörtert Heidegger Nietzsches Thesen zum „Willen zur Macht“.)

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ferischsein (siehe unten) als das charakteristisch und spezifisch Menschliche. Im Vergleich damit ist der „objektive Zusammenhang, aus dem“, wie Habermas (51982 u. 1985, S. 309) meint, „soziale Handlungen allein begriffen werden können [und der sich] … konstituiert … aus Sprache, Arbeit und Herrschaft zumal“196, in bezug auf alle diese drei Aspekte bereits in der Defizienz. Bei „Herrschaft“, im Vergleich mit dem Ausgangsverständnis von „Macht“, braucht das nicht mehr erklärt zu werden. – Im Werk, sei es immateriell oder materiell oder beides in einem, erkennen sich diejenigen selber wieder, die das, was „gemocht“ ist, „vermögen“, also ins Werk setzen, schaffen. „Arbeit“197 dagegen hat den Sinn von „Mühsal“, in Verbindung mit Sklaverei, Knechtschaft u. ä. – Wir haben zum einen altes Wortmaterial, zum anderen Funde und Befunde der Vorgeschichtswissenschaft, die, zusammengesehen, zum Ausgangsverständnis dessen verhelfen, was schöpferisches Tun ist. Im Wortmaterial zeigt sich das Ausgangsverständnis an Ableitungen aus der idg. Wurzel *skap-/skab- in Verbindung mit demjenigen altsteinzeitlichen Werkzeug, mit dem im strengen Sinn, also schöpferisch, Neues, in der Entwicklungsgeschichte zuvor nicht Dagewesenes, hervorgebracht worden ist. Dieses Werkzeug ist der S c h a b e r . Aus ganz frühen Stadien sind in Zusammenhang mit menschlichen Skeletten Steine gefunden worden, die den Fundumständen zufolge sinnvoll nur als Geräte interpretiert werden können, auch wenn das Fehlen von Spuren einer Zurichtung der Steine den Beweis dafür verhindert. Es folgten dann aber – Prozeß von mehreren hunderttausend Jahren – Fundstücke m i t solchen Spuren, die keine Zweifel mehr an der Absicht der Zurichtung zuließen. Die Zurichtung, meistens mittels Abschlagens, sollte das Steingerät für den (die) bestimmten Zweck(e) besser geeignet machen. Während die ersten Verbesserungen extrem langsam aufeinander folgten, nahm das „Tempo“ dann immer mehr zu. Im Lauf der Altsteinzeit198 ist 196

Bei Habermas im Rahmen von „Literaturbericht (1967)“, IV. „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, innerhalb seiner kritischen Betrachtung von Gadamers Hermeneutik. 197 Kluge, 23. Aufl., S. 50: mhd. arebeit, ahd. arabeit(i), aus germ. *arbaiþi- i. S. v. „Mühsal“ (auch in den anderen alten germ. Sprachen vorhanden), dazu altkirchenslav. rabota, „Sklaverei, Knechtschaft u. ä.“, dazu rabŭ, „Knecht, Sklave“, „vielleicht auch arm. arbaneak (…) ‚Diener, Gehilfe‘“. Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 30: gehört in den Zusammenhang von idg. *orbho-. – Bekanntlich hat Karl Marx „Arbeit“ als Merkmal des Menschseins aufgefaßt, dabei nur solche Arbeit als dem Wesen des Menschen entsprechend ansehen wollen, die nicht bloß der Befriedigung der Bedürfnisse zur Erhaltung der physischen Existenz diene; die Arbeit müsse (unter anderem, aber vor allem) schöpferisch sein und gewollt; nur dann führe sie nicht zur „Entfremdung“. Bloß ist  – um bei Marx’ Terminologie zu bleiben  – im Begriff Arbeit die „Entfremdung“, wie wir sahen, selbst impliziert. „Arbeit“ bezeichnet ja gerade den defizienten Modus im Verhältnis zum schöpferischen Tun. Habermas hat von Marx diesen geradezu Inbegriff des defizienten Modus übernommen, es aber offensichtlich nicht bemerkt. 198 Wir sprechen von „Steinzeit“, weil Geräte und Werkzeuge aus Stein (verschiedener Gesteinsmaterialien) im archäologischen Fundgut überwiegen, Geräte und Werkzeuge aus Holz, Knochen und Gehörn damals zwar zweifellos ebenfalls eine große Rolle gespielt haben, aber wegen der Materialbeschaffenheit nur selten erhalten geblieben sind, Geräte (und Schmuck)

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es zu einer Differenzierung der Geräte und Werkzeuge gekommen. Ohne es syste­ matisch zu behandeln, nenne ich hier die wichtigsten: Faustkeile, Klingen bzw. Messer, Spitzen, Stichel, Bohrer, Schaber. Die Faustkeile waren wohl Jagdwaffen (hölzerne Speere, die es, gesichert, in der Altsteinzeit gegeben hat, sind unter den Funden sehr selten, siehe im „Exkurs“ die Funde von Schöningen); die Klingen bzw. Messer waren Geräte zum Schneiden, zum Auftrennen und zu ähnlichen Zwecken, in der Regel nicht schöpferischer Natur. Die Schaber dagegen müssen in Tun und Bewußtsein der Steinzeitmenschen eine ganz besondere Rolle gespielt haben. Zum einen waren sie d a s Werkzeug, mit dem durch Abschaben nicht nur die Tierhäute von den der Nahrung dienenden Tierkörpern getrennt, sondern  – und darauf kommt es jetzt an – die verderblichen, stinkenden und die Tierhäute andernfalls zerstörenden Fleischreste säuberlich von der Innenseite entfernt wurden, womit aus den behaarten Tierhäuten Felle für Kleidung und Decken, zum Zudecken und für Zeltabdeckungen herzustellen waren – von elementarer Bedeutung für besseren Schutz gegen Kälte und Nässe. Vor allem199 also mit dem Schaber waren die Steinzeitmenschen schöpferisch, schufen sie Neues,200 und das hat sich im Wortmaterial niedergeschlagen. Daß das jedenfalls den indogermanische Sprachen sprechenden Menschen201 bewußt war, können wir nämlich daran ab­ lesen, daß aus der „im Auslaut unfesten“ (Kluge, 23. Aufl., S. 709) Wortsippe idg. *skap-/skab- im einen Fall das aus der idg. Wurzel *skab- abgeleitete Verb „in der Urzeit“ die Tätigkeit202 „mit dem steinernem Schaber“ hervorging, „nachmals zum umfassenden Sinn ‚schaffen‘ erweitert wurde, während die Nebenform [selbstverständlich erst in späterer Zeit Nebenform gewordene Form] idg. *skap(s. ­s c h a b e n)203 in der Grundbedeutung erhalten blieb“ (16. Aufl., S. 648), wo es ferner heißt: „s c h a f f e n Ztw., mhd. schaffen, ahd. scaffan, … ‚bewirken, ordnen, tun‘; daneben gleichbed. mhd. schẹpfen usw. (s. … schöpfen, Schöpfer)“ und wo aus Metall erst am „Ende“ der Steinzeit aufkamen. „Altsteinzeit“ nennen wir den sehr langen Zeitraum, in dem die Menschen als Jäger und Sammler gelebt haben, „Jungsteinzeit“ den vergleichsweise kurzen Zeitraum, seit die Menschen ihre Nahrung produzieren, d. h. bäuerlich leben. Die Übergangs-Phase heißt Mittelsteinzeit. 199 Bohrer wurden gebraucht, wenn man z. B. Felle zu Decken mittels Riemen o. ä. „zusammennähen“ wollte. Durch die Löcher liefen die Riemen als „Fäden“. 200 Nicht, als ob solches Schaffen mit dem Schaber nicht der Anstrengung und der Ausdauer bedurft hätte. Anstrengung und Ausdauer sind nicht bereits Mühsal, Elend und Knechtschaft. 201 Erfindung und Verwendung von Schabern sind aber älter, als es indogermanische Sprachen sprechende Menschen gibt. So stammen z. B. aus dem Fundkomplex von Bilzingsleben (s. „Exkurs …“, Text mit den Fußn. 297–299) etwa 20 000 retuschierte Feuersteingeräte; darunter sind weit über tausend Schaber (Mania, 1993, S. 526 u. 544 f.; s. a. Laurat 2002). Die Sprache jener Menschen (zu ihr Fußn. 298 im „Exkurs …“) kennen wir aber nicht. 202 Kluge/Götze, 16.  Aufl., S.  648, hat hier unwissentlich „Arbeit“, aber das müssen wir ja gerade auseinanderhalten. – Zum einen genügt es nicht, mal eben in ein etymologisches Wörterbuch zu schauen und wiederzugeben, daß „Macht“ auf „mögen“ zurückgeht und daß es das schon im Gotischen gab. Zum anderen ist das, was die Sprachwissenschafter in ety­ mologischen Wörterbüchern bringen, von anderen einschlägigen Wissenschaften her kritisch zu überprüfen. 203 Steht dort, im Kluge/Götze, 16. Aufl., auf S. 645.

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noch lat., altlat., russ., lit. u. lett. Ableitungen genannt werden, darunter solche in der Bedeutung „aushöhlen“, was sich, als es noch keine Keramik gab, nicht zuletzt auf das Herstellen von Behältnissen aus Holz mittels Ausschaben bezogen haben wird. In der 23. Aufl. differenziert Seebold wie folgt: „s c h a f f e n   … . Zunächst sind zu unterscheiden: 1) g[erm]. *skap-ja-  … ‚erschaffen, bewirken‘204 in gt. -skapjan, anord. skepja, … ahd. skepfen und 2) das denominative anord. skapa, ahd. scaffōn ‚einrichten, ordnen‘. Darüber hinaus bekommt 3) das jan-Präsens im Deutschen ein schwaches Präteritum (schöpfen, schöpfte) und das starke Präteritum ein regelmäßiges Präsens schaffen. Im einzelnen lassen sich diese drei Ansätze vielfach nicht voneinander trennen.“ Seebold fügt an, daß „die Bedeutung ‚erschaffen‘ häufiger auf Ausdrücke der [wir müssen hinzufügen: a u c h der] Holzbearbeitung205 zurückgeht“, und nennt griech. Bezüge und ein lit. Wort i. S. v. „aushöhlen“. Wiederum geht es um etwas in der Menschheitsgeschichte ganz Neues: die Herstellung von hölzernem „Geschirr“. Wir sehen: Nicht nur „Herrschaft“ ist nicht charakteristisch für das Menschsein, auch „Arbeit“ ist es nicht. Beide sind Perversionen. Das gilt ebenso für das, worauf Habermas (51982, S. 307 f.) bei „Sprache“ zielt: „Sprache ist a u c h ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht.206 Sie dient der Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt. Soweit die Legitimationen das Gewaltverhältnis, dessen Institutionalisierung sie ermöglichen, nicht aussprechen, soweit dieses in den Legitimationen sich nur ausdrückt, ist Sprache a u c h ideologisch. Dabei handelt es sich nicht um Täuschungen in einer Sprache, sondern um Täuschung mit Sprache als solcher.“207

In größere Zusammenhänge gestellt, gehört dies mit in die verderbte sophistische Rhetorik und ist wie diese wiederum aus Zeiten von Herrschaftssystemen, längst nicht mehr von politischen Systemen, hier wie dort. Wir wissen unter anderem aus B. I.1.b), daß für die politischen Systeme nicht Gleichheit, sondern Verschiedenheit der Glieder der Gemeinwesen konstitutiv gewesen ist und es unter diesen solche gab, die zur jeweils anstehenden alle angehenden Angelegenheit oder – um es jetzt etwas anders zu formulieren – zum „Mögen/ Vermögen“ des Gemeinwesens in der Versammlung mehr und Besseres zu sagen hatten/wußten als andere und besser überzeugen konnten, was ihr Gemeinwesen 204 Nicht bloß „irgendetwas sozusagen anstoßen, in Gang bringen“, sondern „ein Werk hervorbringen“, es „erschaffen“, i. S. v. „schöpferisch sein“. 205 Auch das paßt von Anfang an, auch wenn griech. sképarnon (Zimmermanns-Axt) dann eine (zweifellos viel jüngere) Spezialbedeutung bekommen hat. 206 Im üblich gewordenen modernen Verständnis von „Macht“. 207 In seinem eigenen Beitrag in Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozial­ technologie (Frankfurt a. M. 1971), ist Habermas’ Ansatz zu einer Theorie der sprachlichen Kommunikation zu finden. Ausführlich dann Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. (Frankfurt a. M. 1981). – Ich wiederhole hier schon weiter vorn Gesagtes: Auseinandersetzung mit Theorien gehört hier nicht zu meinen Aufgaben (Hinweise gibt es allenfalls ausnahmsweise unter besonderem Aspekt).

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(ver-)mochte und wie (und was und wie eher nicht). „Macht“ im beschriebenen Sinn war deshalb in den frühen, politischen Gemeinwesen wohl nicht nur Sache des ganzen Gemeinwesens, sondern auch von einzelnen, aber f ü r das Gemeinwesen, von der S p r a c h e her. Das vorliegende historische Material läßt nicht die Annahme zu, daß d a r a u s Herrschaft entstanden wäre oder gar entstehen mußte.208 Anders als die Ableitungen aus idg. *māgh-/mәgh-, die wir sonst aus idg. Sprachen kennen, ist im griech. mēchanē´ das in „Vermögen“ zwar mit enthaltene „Wie“ der Verwirklichung ganz besonders betont. Vielleicht war im Griechischen ousía, „Wesen, Sein, Vermögen“ (siehe am Anfang des Kapitels) der zentrale Begriff in unserer Sache.209 „Macht“ erweist sich im Grundverständnis als ein komplexes Phänomen von „mögen/vermögen“ mit dem „Wie“ der Verwirklichung, und dies im Rahmen öffentlicher Aus- und Absprache. Davon weit entfernt ist die Einschätzung von „Macht“ im modernen, abgeplatteten Verständnis als Mittel zur Durchsetzung des Willens von „Machthabern“. – Es sind einige Aussagen darüber möglich, w a s die frühen politischen Gemeinwesen angestrebt, „gemocht/vermocht“ haben. Ich bringe das in Kapitel B. I.4. 4. Ziele der frühen Gemeinwesen Auch hier gilt, daß das, was ich bringe, nicht noch eine Theorie der Politik mehr ist. Es ging und geht darum, anhand des Sprachmaterials möglichst herauszu­ bekommen, wie diejenigen, die politische Gemeinwesen bildeten, selber ihre Sy­ steme verstanden haben. In den Kapiteln von B. I.1. war bisher gefragt, was die politischen Systeme konstituiert. Für dieses Kapitel lautet die Frage: Ist etwas darüber herauszubringen, was die Glieder jener politischen Gemeinwesen im indogermanischen Bereich selber210 über das Wozu ausgesagt haben? Das war der Fall, weit über die Latiner hinaus, mit denen ich bloß deshalb beginne, weil es besonders verfahrensgünstig ist. 208 Jene Protogriechen, die, im Unterschied zu den bereits um 2 300 v. Chr. weiter nach Süden vorgedrungenen, damals noch höher im Norden der ägäischen Halbinsel verblieben sind, deren Nachfahren, Dorer und Nordwestgriechen, erst um 1 100 v. Chr. nach Süden drängten, hatten während der langen Zwischenzeit keineswegs Herrschaft ausgebildet, die germanischen Gemeinwesen in dem langen Zeitraum vor der Berührung mit dem römischen Reich ebenfalls nicht. Die Herausbildung von Herrschaft in griechischen und germanischen Gemeinwesen hatte andere Ursachen. Für das abendländische Mittelalter zeige ich das in B.II.1. 209 So wie die Paläo-Anthropologie und die Vor- und Frühgeschichtswissenschaft auf „Bodenurkunden“ (Funde und Befunde) und auf deren gute Interpretation angewiesen sind, sind wir auch im vorliegenden Fall von Neufunden seitens der Sprachwissenschaft und/oder intelligenten Neu-Interpretationen abhängig. Das muß mit Geduld abgewartet werden. 210 Es ist hier also auch nicht zu erörtern, was Aristoteles dazu gesagt hat oder Machiavell oder die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika usw.

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Das lateinische Wort für das politische Gemeinwesen ist civitas,211 das Wort für das Glied eines solchen Gemeinwesens civis, das mittlerweile bei uns übersetzt wird mit „Bürger, Bürgerin“ eines politischen Gemeinwesens, so etwa später­ civis Romanus211 mit „römischer Bürger“. Ob es das Abstraktum bzw. das konkre­ tisierte Abstraktum civitas in der lateinischen Sprache schon genau so lange gegeben hat wie civis, wissen wir nicht. Auf den Inschriften der archaischen212 Zeit ist es nicht zu finden. Das allein ist aber nicht beweiskräftig, weil das Wortmaterial aus diesen Inschriften zwar schon größeren Umfang hat, aber zur Beurteilung in unserer Sache doch nicht ausreicht. Wir müssen deshalb von civis ausgehen. Es gehört zwar thematisch erst in Kapitel B. I.6., wir können die Betrachtung aber so teilen, daß ich nur wenig wiederholen muß. Das, was später und so auch im „klassischen Latein“ ci-vis heißt, kennen wir schon aus archaischer Zeit als cei-vis.213 Es gehört in einen Wortekomplex, der auf die beiden einander inhaltlich nahestehenden214 indogermanischen Wurzeln *k̑ eȋ und * kþei-/**tkei- zurückgeht. Aus dem Artikel „Heim“ in Kluge, 23. Aufl., S. 365, ist zu entnehmen: mhd. heim, ahd. heima stammen aus germ. *haima- m., desgl. altnord. heimr m. und heima n. (beide im Sinne von „Heimat“215, Walde, I, S. 224). „Die Formen sind Abstrakta auf -mo- zu der ig. Wurzel *kþei- (der moder­nere Ansatz ist **tkei-) ‚wohnen‘, also *kþoimo- (**tkoimo-) ‚Wohnung, Siedlung‘, vgl. ai. k ṣéma- Adj. ‚wohnlich‘, ai. k ṣéma n. ‚Sicherheit, Ruhe‘ … . Das zugrundeliegende Verbum in ai. k ṣéti ‚wohnt‘, gr. eù ktímenos ‚wo sich’s gut wohnt‘“, vielleicht so, wie Tacitus (G., 16) es für die Germanen seiner Zeit beschrieben hat: Sie haben ihre Wohnplätze so gewählt, „wie ein Quell, ein Feld, ein Gehölz ihnen eben gefiel“. Walde (I, S. 224) übersetzt vor dem Hintergrund des ebenfalls umfangreichen Vergleichsmaterials, das er bringt, civis/ceivis mit „Haus- bzw. Gemeindegenosse“ und fügt hinzu, es liege hier, von „Haus“ zu „Gemeinde“, eine Bedeutungserweite 211 „Populus Romanus“ ist jünger. Die cei-ves (s. o. im Text) der frühen Zeit waren noch nicht „römisch“, weil es die Sache und das Wort Rom noch nicht gab (s. B. I.1.c)), sie waren „latinisch“. 212 Aus der noch davorliegenden „vorliterarischen“ Epoche gibt es zwar die „ForumsInschrift“ (2. H. 6. Jh. v. Chr.), von deren Text aber nur wenige Wörter verständlich sind, ferner wenige andere Textreste. Dieser Bestand kann noch nicht „Literatur“ genannt werden. (Allgemein zu „Lateinische Sprache und Literatur“ s. bei Kröner.) 213 Im archaischen Latein gab es noch idg. Diphthonge, die im klassischen Latein verschwun­ den sind, so „ei“, das zu „i“ wurde wie im Fall von ceivis/civis, oder „oi“ zu „u“ bei co-moinis/ com-munis, mit dem wir es im nächsten Kapitel ebenfalls zu tun haben werden. 214 Kluge, 23. Aufl., S. 366, beim Stichwort „Heirat“ (mit ig. Wurzel *kei-): „wobei wohl auch ig. *kþei- ‚wohnen‘ eingewirkt hat (s. Heim [was wir oben im Text dann auch beachten]; besonders auffällig ist die Nähe der beiden Wurzelbedeutungen bei der Bedeutung ‚Haus­ bewohner‘ [„Haus“ können wir nicht akzeptieren, nur „Bewohner“; Näheres s. o.]: … . Auf ig. *kei-wo- ‚zusammen liegend, zusammen wohnend‘ weisen … [es folgen Beispiele, die wir nicht brauchen, dagegen:] und wohl auch 1. cīvis m. ‚Bürger, Hausgenosse‘ … [zu „Haus“ wiederum s. o.]“. Ähnlich Walde, Bd. I, S. 224 f. 215 Die Etymologie von „Hei-rat“ ist nur im zweiten Wortteil unklar (s. Kluge, 23.  Aufl., ebenfalls S. 365), das ist aber für uns an dieser Stelle nicht wichtig.

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rung vor, ähnlich der, die sich bei „(ein)heimisch“ vollzogen habe. „Erweiterung“ ist zutreffend  – dazu paßt auch got. haims „Dorf, Land“ (Walde, I, S.  224)  –, „Heim“ ist jedoch qualitativ, und für unser Thema in diesem Kapitel entscheidend, etwas anderes216 als „Haus“. (Ich gehe im übernächsten Absatz darauf ein.) Der Rahmen, innerhalb dessen wir uns hier, räumlich gesehen, bewegen, ist durch die Begriffe Gemeinde, Dorf und Land bezeichnet, wobei Walde den zuerst genannten in diesem Fall als gelehrten Begriff verwendet hat, während die Goten ihr haims im Sinne der beiden anderen Begriffe verstanden haben. Wir aber dürfen „Land“ nicht als etwas dem sozusagen kommunalen Bereich im modernen Verständnis Übergeordnetes ansehen. „Land“ ist hier noch das offene (besiedelte und bebaute) Land im Unterschied zur Stadt.217 Es geht um politische Gemeinwesen relativ geringerer Größe. In der 23.  Aufl. von Kluge, S.  360 (ähnlich die 22.), heißt es zum Stichwort „Haus“: mhd., ahd. u. altsächs. hūs (entspr. Ableitungen auch in den anderen alten germ. Sprachen) aus germ. *hūsa-. Dessen Herkunft sei unklar, eine Verwandtschaft mit Hütte sei anzunehmen, „so daß *hūsa- wohl auf *hud-s-a- (mit Dentalschwund und Ersatzdehnung) zurückgehen wird“. „Ein Zusammenhang mit gr. keũthos n. ‚Versteck, Höhle, Tiefe‘ und seiner Verwandtschaft“ sei denkbar, Näheres dazu aber nicht bekannt. – Jedenfalls, zwischen „in der Hütte hausen“ und „sicher und wohnlich wohnen in Heim und Heimat“ liegen einige tausend Jahre Menschheitsentwicklung. Die Qualitäten, um die es geht, sind also Wohnlichkeit, auch „w o sich’s gut wohnt“ (womit eben das Drumherum, die Umgebung mit einbezogen ist), dazu Heimeligkeit, wohl mehr im Sinne von „Heimat“, dann Sicherheit und Ruhe. Das sind handfeste Sachen, verglichen mit „der vollkommene Mensch“, „Eudämonie“, „bonum commune“, „Allgemeinwohl“, „Sozialgerechtigkeit“ usw. als „Ziele“ des politischen Gemeinwesens in der Theorie der Politik, die deshalb ja nicht unnötig wird. (Es geht keineswegs darum, mit dem vorsokratischen Verständnis der politischen Gemeinwesen die theoretischen Überlegungen über das Wozu, das Ziel für überflüssig zu erklären. Sie sollten aber aus ihrer Verklammerung mit der Diskussion um die Herrschaft gelöst und primär verbunden werden mit dem Besserzur-Sprache-Bringen auf mehr Durchschaubarkeit hin.) – „Haus“, aus germ. *hūsa-, und „Hütte“, aus *hud-s-a- (zu diesen Kluge, 23. Aufl., S. 360), nennen jeweils ein konkretes Konstrukt. Das ist bei jenen Wörtern im Umfeld von „Wohnung“, „wohnlich“, „Heim“, „Heimat“, „Sicherheit und Ruhe“ anders. Sie nennen eine Lebensqualität, eine „Civilisation“ von freien, bäuerlich, 216 Walde, der ein lateinisches etymologisches Wörterbuch erarbeitet hat, kann man die erkenntnisblockierende Gleichsetzung von „Heim“ mit „Haus“ nachsehen, abgesehen davon, daß dieses Werk schon älter ist, für Kluge (siehe die bibliographischen Angaben für die 22. u. die 23. Auflage von 1989 u. 1995) geht das nicht. 217 Welche die Goten ja schon vor der Zeit des Ulfila kennengelernt hatten.

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„ländlich“ lebenden Menschen früher Zeit, eine „Civilisation“, die zu gewinnen und möglichst in Ruhe und Sicherheit/Frieden zu bewahren das politische Gemeinwesen voraussetzt, mit verpflichtenden Ordnungs-, zugleich Rechtsvorstellungen. (Das Ziel „Friede“ möchte ich wegen des komplexen Zusammenhangs mit „Gewalt“ im folgenden Kapitel behandeln.) Aus Sprachen nomadisierender, in großem Umfang und praktisch nur Viehwirtschaft treibender indogermanischer Völker habe ich in den Nachschlagewerken bezeichnenderweise keine Ableitungen zu den hier beschriebenen idg. Wurzeln *kþei- und **tkei- gefunden. Vielleicht gilt das, was in diesem Kapitel gesagt ist, nur für west-indogermanische Stämme. Umgekehrt gilt aber: Feste Wohnsitze oder gar ein städtisches Dicht-beieinander-Wohnen der Glieder politischer Gemeinwesen sind keineswegs Voraussetzung für das Zustandekommen solcher Gemeinwesen. Das ist vielmehr die regelmäßig stattfindende Versammlung an einem festen Ort der im übrigen in verschiedene Richtungen nomadisierenden oder siedelnden Gruppen oder Glieder des Gemeinwesens. 5. Gewalt; „Freundschaft“ und Friede; Rache und Sühne Auch „Gewalt“ gehörte zu jenen Begriffen, die in bezug auf Politik oder das, was dafür ausgegeben wird, für zentral gelten. Oft wird „Gewalt“ in Zusammenhängen verwendet, in denen andere Autoren, Wissenschafter, aber auch Journalisten, „Macht“ und wieder andere „Herrschaft“ sagen. Die Folge ist Unklarheit. Wie in anderen Fällen werden wir uns auch bei „Gewalt“ nach der Ausgangsbedeutung umsehen.218 Unser nhd. „Gewalt“ geht über mhd. gewalt auf ahd. giwalt, altsächs. giwald zurück (altfries. wald/weld). Es ist Verbalabstraktum zu „walten“ von ahd. waltan, altniederfränk. waldan, aus germ. *wald-a-; wir finden es in got. waldan (entsprechend auch in den anderen alten germ. Sprachen); die germ. Wurzel ist *wal-, „stark sein“, die idg. Wurzel *u̯ al-, ebenfalls „stark sein“; aus ihr stammt (Kluge, 23. Aufl.) auch lat. valēre, „stark sein, vermögen“.219 In vielen anderen idg. Sprachen gibt es ebenfalls Ableitungen von idg. *u̯ al-: urkeltisch und auch altirisch in der Bedeutung „Herrschaft“, kymr. bzw. bret. „Land“ bzw. „Besitz“220. Ahd. alawaltendi und altsächs. alowaldo, „allherrschend“. 218

Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 853; Kluge, 23. Aufl., S. 321 u. S. 874. Später dann lat. auch mit speziellen Bedeutungen, nämlich im übertragenen Sinn, besonders „etwas gelten“, „etwas geltend machen“, „den Ausschlag geben“, „durchdringen“ u. a. m. 220 Die gelehrten Wortverwendungen, im folgenden aus drei Bibelübersetzungen (Ulfilas, Mitte 4. Jh. n. Chr. ins Gotische; Evangelienharmonie des Tatian von 172 n. Chr., im 6. Jh. ins Lateinische übersetzt, um 830 ahd.; Luthers Bibelübersetzung im 16. Jh.), bringen uns nicht weiter. Zu Ulfilas etwa heißt es bei Grimm, Wb., Bd. 6, Sp. 4912: „valdufni [Gewalt] … deckt sich in allen einzelnen fällen mit dem lateinischen potestas, griech. [worauf es ankommt:] exousía der vorlage“. Wo die Vorlage dýnamis hat, sagt Ulfilas „mahts“ (Macht; Sp. 4913); die Tatian-Übersetzung hat ahd. giwalt für lat. potestas (Sp. 4913 f.); Luther „macht“ für exousía (Sp. 4913). Da ist wieder jenes Durcheinander. 219

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Die mehr speziellen Varianten „besitzen“, „Besitz“, „herrschen“ und „Herrschaft“ würden wir wegen ihrer Spezialisierung im Vergleich mit „stark sein“, „stark, kräftig sein“ ohnehin für jünger halten müssen. Dazu paßt Grimm, Wb., Bd. 27, Sp. 1371: In der „ursprünglichen bedeutung“ von „walten“ ist es „die kraft für etwas“ i. S. v. „gewalt über etwas haben“, und Sp. 1372 (zu „walten“ II, 1a): „die ursprünglichste bedeutung des wortes zeigt sich, wenn es auf die physische kraft geht, z. b. auf das vermögen[,] eine waffe zu führen“. Das läuft auf das hinaus, was lat. vis („Kraft“, „Stärke“) und violentia heißt, das ins Deutsche erst später mit „Gewaltthätigkeit“ übersetzt wurde, dann aber sehr viel im Sprachgebrauch war (dazu Grimm, Wb., Bd. 6, Sp. 4913 und Sp. 5229). In diesem offenbar Ausgangsverständnis nehme ich hier und im folgenden den Begriff Gewalt. Aus prähistorischer Zeit liegen zahlreich Befunde vor, die zeigen, daß Menschen durch Gewalteinwirkung ums Leben gekommen bzw. schwer verletzt worden sind.221 Zwei Fälle, die in die Jungsteinzeit (Neolithikum) gehören, in die jüngere Linienbandkeramische Kultur, hier um 5 000 v. Chr., bzw. ans Ende der LBK, und die Petrasch (1999, S.  508) unter „kriegerische Überfälle“ eingeordnet hat, nenne ich hier oben im Text. Der eine Fundort ist Talheim, Kr. Heilbronn, BadenWürttemberg. Das 1983 und 1984 archäologisch untersuchte, dann vorgeschichtswissenschaftlich, anthropologisch und gerichtsmedizinisch sehr gut ausgewertete Objekt ist ein Massengrab. In ihm lagen die Skelette von mindestens 34 nach der Tötung wahllos in eine ovale Grube geworfenen Menschen, von 16 Kindern und Jugendlichen und von 18 Erwachsenen, davon sieben Frauen, neun Männern, dazu von zwei Erwachsenen, bei denen das Geschlecht nicht zu bestimmen war (Wahl/König, S. 181). Anhand der Befunde ist zu folgern, daß alle gleichzeitig um­ gebracht (S. 182), ausgeplündert und gleich danach „verlocht“ worden sind (S. 183). 221

1985 ist in Heidelberg-Handschuhsheim ein Massengrab (keine reguläre Bestattung) der jungneolithischen Michelsberger Kultur (4 400/4 200–3 500/3 400 v. Chr.) mit den Skeletten von drei Erwachsenen und drei Kindern entdeckt worden, die, wie die Lochbrüche in den Schädeln belegen, gewaltsam zu Tode gebracht worden sind (Maran, S. 41). – Der in einer rechteckigen kisten-artigen Steinsetzung mit guter Beigabe-Ausstattung der späten Hügelgräber-Bronzezeit (Stufe Bz D gem. Reinecke; 13. Jh. v. Chr.) unter einem Grabhügel in Traisa bei Darmstadt beigesetzte Mann adulten Alters (20–30 J.) war von hinten erschlagen worden; er hat die durch Schlag mit einem Stein oder einer Keule oder durch Steinwurf verursachte Zertrümmerung des Schädels (Dm. des Knochendefekts ca. 6 cm) am rechten Hinterkopf nicht überlebt; es gibt keine Knochenreaktionen an den Bruchrändern. – Die Fundstelle liegt an einem (schon seit der Jungsteinzeit benutzten) Altweg mit dicht besetzter Fundstellenkette, so auch aus der Stufe Bz D, zwischen Roßdorf und Darmstadt-Eberstadt (Schmidt, 1979, S. 109–118 u. Plan 6 sowie Taf. 4–6, dabei auch Foto der Schädelrückseite, dazu S.  119–122: Manfred Kunter aus anthropologischer Sicht). Kunter, Professor für Anthropologie an der Universität Gießen, mit besonders viel Erfahrung an prähistorischem Material, schreibt (S. 121): „Ein Überblick über das vor- und frühgeschichtliche Skelettmaterial beweist, daß in allen dokumentierten Zeitepochen Schädelverletzungen überaus häufig waren (…). Oft, aber nicht immer waren diese Verletzungen tödlich.“ – Wahl/König (1987), S. 180 f., nennen eine Reihe von einschlägigen Skelettbefunden der Jungstein-, der frühen Bronze- und der Hallstattzeit aus Baden-Württemberg und bilanzieren: „Die hier angeführten Fälle zeigen, daß tätliche Auseinandersetzungen … speziell im Neolithikum nicht außergewöhnlich waren“.

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Im anderen Fall, Schletz/Aspern in Niederösterreich (Petrasch, 1999, S. 508), sind 67 Individuen erschlagen worden. „An allen Schädelüberresten konnten Spuren von Gewalteinwirkungen festgestellt werden. … . Aufgrund der Keramik und der bisherigen stratigraphischen Auswertungen der Befunde datiert das Massaker an das Ende der dortigen Linienbandkeramik (…) und ist gleichzeitig das Ende der neolithischen Besiedlung dieses Platzes.“ Da es auch anderswo Indizien für kriegerische Ereignisse in Spätphasen der LBK gibt, sind Überlegungen angestellt worden, was die Ursachen gewesen sein könnten. Walter Meier-Arendt, Kapazität auf dem Gebiet der frühneolithischen linienbandkeramischen Kultur und der mittelneolithischen Nachfolgekulturen, sagt dazu: „Eine Lebensmittelverknappung, die vielleicht durch klimatische Ver­ änderungen ausgelöst wurde, könnte einerseits sowohl Änderungen der materiellen Kultur als auch der Wirtschaftsweise [verstärkt Viehzucht], andererseits auch Bevölkerungsverschiebungen mit kriegerischen Auseinandersetzungen zur Folge gehabt und in Teilgebieten das Ende der Linienbandkeramik bewirkt haben“ (1975, S.  156). Jens Lüning hat noch einen anderen Gesichtspunkt für die Wirtschaftskrise (Verringerung der Ernte-Erträge)  geltend gemacht, die „Übernutzung der Landwirtschaft durch das vier bis fünf Jahrhunderte währende und so konstante System bandkeramischer Landwirtschaft“ (1982, S. 33), nämlich dominierenden Ackerbau auf den während des halben Jahrtausends der Linienbandkeramischen Kultur besiedelten Böden mit anfangs und noch lange danach bester, dann aber geringerer Ackerbau-Bonität. Jetzt noch je ein jeweils relativ frühes Beispiel für kriegerische Aktionen von vier eine indogermanische Sprache sprechenden Völkern oder Völkerschaften. – Einzelheiten in bezug auf unser Thema für das Vordringen der ersten Griechen oder „Protogriechen“ um 1 950 v. Chr., wie Schachermeyer meinte, oder schon im 3. Jtsd. v. Chr., wie inzwischen angenommen wird (siehe Kapitel B. I.1.a)), wissen wir nicht. Die Brandschichten in den Trümmern mykenischer „Paläste“ gehören in den weiteren oder engeren Zusammenhang mit den innergriechischen Verschiebungen ab 1 100 v. Chr., also mit dem Zug der Dorer und Nordwestgriechen aus dem Norden Griechenlands nach Mittelgriechenland und in die Peloponnes sowie nach Kreta; sie dokumentieren kriegerisches Vorgehen und damit verbundene Zerstörungen.  – Über das Eindringen der indogermanischen Italiker, den umbro-sabellischen Stämmen und den Latino-Faliskern, in die Apenninenhalbinsel, grob ab 1 100/1 050 v. Chr., vermutlich zwar ebenfalls kaum friedlich, wissen wir aber nichts Konkretes zu unserem Thema. Daß jene Latiner, die auf Hügeln oberhalb des Tibers siedelten, und die anderen Latiner in den Gegenden drum­ herum unter etruskische, nicht-indogermanische Herrschaft kamen, kennen wir aus Kapitel B. I.1.c) (siehe dazu auch B. I.6., Fn. 253). Nach Beseitigung der etruskischen Herrschaft haben die Latiner Roms, die „Römer“, um 400 v. Chr. das etwa 20 km nördlich von Rom gelegene „mächtige Veii“ erobert, diese Stadt ganz zerstört, die Bewohner vertrieben und deren Mark dem römischen Herrschaftsgebiet, der Stadt Rom, einverleibt (Bleicken, 1991, S. 56). Dieses Ereignis leitete den krie-

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

gerischen „Aufstieg Roms zur Weltmacht“ ein – wie diese Entwicklung bezeichnet worden ist –, die sich aber nicht ohne Rückschläge vollzog. – Die Kelten, hervorgegangen aus den Trägern der eisenzeitlichen Hallstatt-Kultur, etwa 750–450 v. Chr., ihrerseits offenbar aus der Urnenfelderkultur, diese etwa 1 200–750 v. Chr., entwickelt (in Böhmen, Bayern, Salzburger Land, Südwestdeutschland, Saar-PfalzRaum und bis zur Champagne, erst später, im 6. und im 5. Jh., auch in Frankreich, Britannien, Irland und in Teilen Spaniens), zogen in der jüngeren Eisenzeit, der La-Tène-Kultur (5.–1. Jh. v. Chr.), u. a. um 400 v. Chr. kriegerisch nach Oberitalien und siedelten nördlich und südlich des Po, von wo sie 387/386 nach Süden vordrangen, unter ihrem Anführer Brennus an der Allia ein römisches Heer vernichtend schlugen, Rom eroberten und niederbrannten. – Ende des 2. Jh. v. Chr. zogen zuvor in Jütland und an der Unterelbe siedelnde germanische Stämme, die Teutonen und die Kimberer/Kimbern, fast 20 Jahre lang kriegerisch durch weite Teile Europas, schlugen mehrfach römische Heere, bis sie 102 bzw. 101 von den Römern besiegt wurden, abschließend. – Diese Beispiele ließen sich fast beliebig vermehren. Es handelt sich bei diesen Gewaltaktionen größeren Ausmaßes im erstgenannten, griechischen Fall um Landnahme ab etwa 1 100 v. Chr. im Rahmen innergriechischer Verschiebungen, auch im Fall der Italiker um Landnahme, im Fall der Römer um 400 v. Chr. um Herrschafts-/Gebietserweiterung, im Fall der Kelten um 400 v. Chr. zunächst um Landnahme, 387/86 vielleicht nur um einen Beutezug, aber da wissen wir zu wenig, im Fall der Kimbern und Teutonen wohl um Beutezüge. – Die in Fußnote 221 nur kurz genannten Fälle könnten dagegen Ergebnisse von Blutrache-Aktionen sein, der von Traisa aber auch eines Primärtotschlags. So oder so führt uns das zu den folgenden Überlegungen. Die Gewalttat Blutrache, in Verfolgung von z. B. Totschlag etwa aus Zorn oder Neid, ist ursprünglich ein Rechts-Institut aus präpolitischer Zeit (Begründung siehe am Ende von B. I.8.), aus der Zeit also, in der es politische Gemeinwesen, die die alle angehenden Angelegenheiten öffentlich entschieden, noch nicht gab. Mei­ stens wird, wenn vom Gemeinwesen der obersten, über die Familie hinausgehenden präpolitischen Ebene die Rede ist, die Sippe genannt.222 Wir werden sehen, auch „Sippe“ führt uns in unserer Sache weiter – und ich komme nachher darauf zurück –; das, worum es geht, ist aber noch besser abzulesen aus dem Umfeld eines inzwischen nur noch in Mundarten in seiner alten Bedeutung lebendigen Wortes, nämlich „Freundschaft“.223 222

Aristoteles, Politik, 1252b, erläutert es so: „Milchgenossen, Kinder und Kindeskinder“. Das war vor über 250 Jahren noch ganz anders. In der 1.  H. des 18.  Jh. war „Sippe“ schon fast verschwunden, Steinbach hat es 1734 für veraltet erklärt. „Campe empfiehlt das Wort 1810 zur Erneuerung“; Anfang des 20.  Jh. hat der Dichter Stefan George „zur Belebung beigetragen“ (Kluge/Götze, 16.  Aufl., S.  726). Umgekehrt gibt es „Freundschaft“ in seiner Ursprungsbedeutung nicht mehr in der Hochsprache, es hat dort inzwischen einen anderen Sinn. – Mundartlich ist es mir in den 1970er Jahren begegnet, als ich in Wolfersheim im Bliesgau (Saarland) in einem vor dem Ersten Weltkrieg in die Familie meiner Großmutter väter­licherseits (Linder) gehörenden seinerzeit Bauernhaus und bayerischer Posthalterei nach 223

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Ahd. friunt (das über mhd. vriunt zu nhd. „Freund“ führt), altsächs. friund, ags. frēond, got. frijōnds, aus germ. *frijond- war ursprünglich „Verwandter“, i. S. v. „Blutsverwandter“ (altnord. frændi, im Unterschied zu māgr, „der Verschwägerte“). „Freundschaft“ war (und ist es eben heute noch in Mundarten) „Gesamtheit der Verwandten“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 226). Germ. *frijond- gehört etymologisch in einen Zusammenhang mit „Friede“ und „freien“.224 „Friede“ geht über mhd. vride auf ahd. fridu zurück (entsprechende Wörter auch in den anderen alten germ. Sprachen), führt auf germ. *friþu-, idg. *prí-tu-s (als Abstraktum mit tū-Suffix), zur Wurzel germ. *fri-, idg. *pri- „nahe bei“, dazu das Verb *prĭ „lieben“ (freien), „somit urspr. ‚Zustand der Freundschaft [i. S. v. Verwandtschaft], Schonung‘“; idg. am nächsten ist „aind. prītí- ‚Freude, Befriedigung‘“ (Kluge/ Götze, ebenda). Auch got. frijōn ist „lieben“, ostschweizerisch frī noch heute „lieb, freundlich“ (S. 223, bei „frei“).225 In der 23. Aufl., S. 286, die zu „Friede“ im wesentlichen das gleiche bringt wie die 16., heißt es zusammenfassend noch: „Friede müßte demnach ungefähr das ‚Beieinandersein‘ im Sinne von ‚das gegenseitige [gemeint: einander] Behandeln wie innerhalb der Sippe‘ sein.“ „Gegenwort [zu Freund] ist Feind“ (16. Aufl., S. 226), das über mhd. vī(e)nt, vīant auf ahd. fīant zurückgeht (entspr. Wörter auch in den anderen alten germ. Sprachen); got. fijands von germ. *fĭjand-. „Das vorausliegende Ztw. erscheint als ahd. fīēn, … got. fijan“ – und jetzt kommt es: – das ist „‚hassen, verfolgen‘“ (16. Aufl., S. 196, wo noch andere Ableitungen aus dem idg. Verbalstamm genannt sind; vgl. auch 23. Aufl., S. 257). „Friede“ im präpolitischen Gemeinwesen stammt aus der „Freundschaft“, dem verwandtschaftlichen Miteinander-Umgehen. „Hassen“ und „verfolgen“ gehören also nicht in die „Freundschaft“ (Verwandtschaft, Sippe), weil diese dort auch die Untat etwa eines Totschlags auf jeden Fall ausschließt, indem sie „Schonung“ fordert. Wenn es aber von und nach außerhalb der Sippe etwa Totschlag gab, ist er „verfolgt“, „gerächt“226 worden, und die Rache bzw. Wider-Rache, Wider-Rache usw. ist auf beiden Seiten Pflicht der ganzen Sippe227 gewesen. gefragt habe, ob noch wer von den Linder lebe. Die Frau, die ich dort antraf und die selber dazugehörte, aber nicht mehr so gut orientiert war, hat ihren Sohn ins Tal nach Breitfurt geschickt, er möge die Tante (eine geborene Linder) mitbringen: „es wär’ eener (einer) aus de Freindschaft dòò“. 224 Kluge, 23. Aufl., S. 285 f. Das, was wir heute unter „frei“ verstehen, steckt ursprünglich in liut(i), leudis, e-leútheros, liber usw. (siehe dazu B. I.6.; vgl. auch die folgende Fußnote). 225 In der 23. Aufl., S. 284, bei „frei“ noch andere idg. Verbindungen (kymr., altind., lat., viell. griech.), ferner, dort am Schluß des Artikels, über den Wandel (und vermutete Ursachen) zur nicht originären Bedeutung von „frei“. 226 „Rächen“ geht zurück auf germ. *wrek- ‚verfolgen, vertreiben‘, bes. zur Strafe; idg. *u̯ reg- ist ‚stoßen‘ und (feindlich) ‚verfolgen‘ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 593). 227 Nhd. „Sippe“ geht über mhd. sippe „(Bluts-)Verwandtschaft“, „angeborene Art“ auf ahd. sipp(e)a zurück, das ebenfalls die Blutsverwandtschaft kennzeichnet, außerdem „Friede, Bündnis“ bedeutet; entspr. Wörter kommen in den anderen alten germ. Sprachen vor, auch got.; die germ. Stammesnamen Semnones (aus *Seƀnaniz) = „Stammesgenossen“ und, mit Deh-

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Aber auch, als auf der Ebene über der Sippe das politische Gemeinwesen mit der allgemeinen Versammlung zur Beratung der alle angehenden Angelegenheiten schon existierte, muß es die Blutrache mehr oder weniger lang immer noch gegeben haben, als Relikt aus präpolitischer Zeit. Es muß – wir sehen es am Ergebnis – mit der Zeit aufgefallen und zur Sprache gebracht worden sein, daß Rache, Wider-Rache usw. das Gemeinwesen schwächten und gefährdeten. Wir wissen im einzelnen zwar nicht, wann diese Gemeinwesen an die Stelle der bis dahin der Sippe obliegenden Rächung einer schweren Untat die Möglichkeit und dann die Bedingungen einer Sühne-/Bußeleistung festgelegt haben, aber sie haben es jedenfalls getan (im wesentlichen, bis auf Reste). Die Neuerung gab es zweifellos nicht überall zur gleichen Zeit in den indogermanische Sprachen sprechenden Gemeinwesen, und die Überlegungen und Fixierungen der einen werden auf andere eingewirkt haben. Spekulationen über Einzel­heiten will ich aber unterlassen. Jedenfalls, in der Zeit, als Historiker über griechische Sachverhalte dieser Art schrieben, war die Änderung offenbar schon längst keine Neuigkeit mehr. Umgekehrt war es aber so, daß „das athenische Strafrecht noch Residuen alter Rache-Auffassungen bewahrte“ (Chr. Meier, 31995, S.  198 f., Fußn.  156). Ich bringe weiter unten in bezug auf die Germanen, über die wir in dieser Sache relativ gut unterrichtet sind, Konkretes über „Sühne/Buße statt Rache“, und wir werden sehen, daß die Sippe auch unter den neuen Verhältnissen mit in der Verantwortung geblieben ist, aber auf qualitativ andere Art. Jedenfalls, die Ablösung der Rache durch die Buße ist ein Prozeß, der sich zeitlich innerhalb der Entwicklung der politischen Gemeinwesen vollzogen hat. (Zu einer geschichtswissenschaftlich nicht zu akzeptierenden Interpretation von Aischylos’ Tragödie „Die Eumeniden“ im Sinne von „Entstehung der Demokratie = Ent­ stehung der Polis“ seitens Christian Meier und dabei, was die Überwindung der Rache betrifft, siehe weiter unten in diesem Kapitel.) – Die Fixierung allgemeiner Regeln für Sühneleistung statt Rache muß schon vor der Zeit der schriftlichen Fixierung der Rechtsverhältnisse geschehen sein. Wir wissen aber für (relativ) frühe Zeit nur dann etwas davon, wenn Zeitgenossen, etwa Historiker, darüber geschrieben haben. Das ist z. B. bei Tacitus in bezug auf die Germanen der Fall. Ich bringe auch dies weiter unten. Erwartungsgemäß ist die erste Kodifizierung des Rechts bei den Athenern älter als die erste bei den Römern, diese älter als die erste bei den Germanen. In Athen begannen die Arbeiten an der Kodifizierung in der 2. H. des 7. Jh. v. Chr., hier vor dem Hintergrund von Rechtsunsicherheit und willkürlicher Handhabung der Prozeßordnung seitens der von Adeligen beherrschten Gerichte in der Zeit „einer massiven sozialen Krise“, in der das Gemeinwesen in zwei Lager zerfiel, die ein­ nungsstufe, Suēbi, ahd. Swābā, gehören ebenfalls hierher. Mit vorgerm. *sebhi̯ ā urverwandt sind altpreuß. u. russ. Wörter. Die idg. Wurzel *s(u̯ )e-bho- ist eine bh-Ableitung des idg. Reflexivpronomens *se-, woher unser „sich“ kommt (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 726). – Auch unser Wort „Sitte“ hat diese Wurzel.

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ander hart bekämpften. Nach der Kodifizierung sollten sich alle „auf einen jedem zugänglichen Wortlaut berufen [können], wenn es um die Strafe für einen Ehebrecher, um Diebstahl, Raub, Gewalttat ging“ (Heuß, Die archaische Zeit, 1991, S. 136, mit Einzelheiten zu jener Krise S. 137 f.). Die athenische Kodifizierung unter den Voraussetzungen einer Kampfsituation eignet sich weniger gut für unsere Betrachtung, die römische, das „Zwölftafelgesetz“, bei ähnlichen Gegebenheiten und außerdem aus noch ganz anderen Gründen gleichfalls nicht. In den römischen Auseinandersetzungen zwischen Patriziat und Plebs im 5. Jh. v. Chr. (Einzelheiten z. B. bei Bleicken, 1991, S. 60–65) ist hier Mitte des 5. Jh. eine schriftliche Fixierung des Rechts unter starkem Fremd-Einfluß zustande gekommen. Gesandtschaften Roms holten sich in den griechischen Städten Italiens Rat. Ein „Zehn-MännerGremium“ begann (der römischen „historischen Tradition“228 zufolge) seine Arbeit „im Jahre 451, was ungefähr stimmen mag“, sagt Bleicken (S. 65). „Das Ergebnis … waren die Zwölf Tafeln, auf denen das gesamte damals gültige Recht … aufgezeichnet stand. Dieses Zwölf-Tafel-Recht steht auf einer Stufe der Rechtsentwicklung, welche zwar die primitiven Formen der Selbsthilfe, der Privatrache und der Ver­ geltung noch nicht ganz überwunden hatte, aber doch schon zahlreiche Ansätze eines entwickelteren Rechtsdenkens zeigte. Die Milderung des alten Rechts durch den Begriff der Buße,229 die ersten Spuren des Begriffs des Schadenersatzes und vieles andere weisen bereits in die Zukunft. Die Wirkung der Zwölf Tafeln kann man nicht hoch genug einschätzen. Die Rechtsunsicherheit war beseitigt, ein gültiger Gesetzestext [sozusagen] in aller Händen.230 Das Recht war nicht mehr Geheimwissenschaft einer Minderheit, sondern stand im Licht der Öffentlichkeit, und jedermann konnte sich seine Gedanken dazu machen, es interpretieren und kommentieren und es im Anschluß daran durch Aufstellung neuer, modernerer Sätze weiterentwickeln“ (S. 65). –

Das „Zwölftafelgesetz“ war bis in die Anfänge der Kaiserzeit Grundlage des römischen Rechts. Allerdings sind die Tafeln bei jener Eroberung Roms seitens der Kelten, 387 v. Chr., verlorengegangen, die dort eingravierten Rechtssätze uns nur als Zitat in jüngeren Texten überliefert, aus der Spätzeit der Republik und aus der Kaiserzeit. Auch die lebendige Weiterentwicklung des um 450 kodifizierten römischen Rechts im Laufe von Jahrhunderten läßt eine Rekonstruktion des alten Textes nur noch mit Lücken zu. Die Voraussetzungen für die schriftliche Fixierung der Volks- oder Stammesrechte bei den Germanen waren ganz anders. Bevor ich das zeige, werfen wir noch einen Blick in die „Germania“ des Tacitus, in der wir für die Zeit von um 100 n. Chr. immerhin einige wenige Aussagen eines zeitgenössischen römischen Historikers über germanische rechtliche Regelungen bei Sippenfeindschaften und 228

Zu dieser siehe am Anfang von Kap. B. I.1.c). Cicero (De re publica, II, 16) schreibt, Romulus, der bloß legendäre Stadtgründer Roms, habe die Bußen eingeführt (zur Ablösung der Privatrache, können wir ergänzen). Zu zahlen war noch in Vieh, lat. (von derselben idg. Wurzel *pek̑ u- wie „Vieh“; Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 838) pecus, nämlich Schafe und/oder Rinder. 230 Die zwölf Bronze-Tafeln mit dem vollständigen Text waren auf dem Forum Romanum öffentlich ausgestellt, also von jedermann einzusehen. 229

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über Sühne-Leistung finden. Zunächst sagt Tacitus (Kap. 21), daß Feindschaften (aber auch Freundschaften), die etwa vom Vater oder einem anderen Angehörigen her bestanden, übernommen werden mußten. Dann heißt es aber, daß solche Feindschaften nicht unversöhnlich fortdauerten und daß sogar Totschlag mit einer Bußeleistung231 gesühnt, abgegolten werden konnte, wobei dann die ganze Sippe des Opfers zur Anerkennung der Sühne bereit war. Tacitus fügt an, daß das für das Gemeinwesen sehr nützlich sei („utiliter in publicum“). Einer anderen Stelle (Kap.  12) ist zu entnehmen, daß nicht nur die alle betreffenden Angelegenheiten in der Volksversammlung als Gerichtsversammlung verhandelt und entschieden worden sind, sondern auch schon Fälle von Klagen wegen Beleidigung. Die (hier offenbar von Fall zu Fall, vermutlich gemäß Schwere der Beleidigung unterschiedlich bemessene) Sühne war eine Abgeltung „mit einer bestimmten Zahl von Pferden oder Schafen“. Ein Teil davon ging an das Gemeinwesen oder an dessen Anführer, der andere an den Beleidigten oder an seine Sippe. – Im Zusammenhang mit dem Thema „Sühne statt Rache“ ist noch auf eine bestimmte Ausdeutung des berühmtesten jener klassischen griechischen Dramen einzugehen, dessen Gegenstand anfangs noch die Wider-Rache der Erinyen gegen die Rachehandlung des Orest ist, Aischylos’ „Eumeniden“. In Kap. B. I.8. zeige ich, wie Althistoriker „Polis“ mit „Demokratie“ verwechseln und dann die Polis mit der Demokratie beginnen lassen. Zu den bekanntesten unter ihnen zählt Chri­ stian Meier. In seiner Studie „Aischylos’ Eumeniden und das Aufkommen des Politischen“ (in 31995, S. 144–246) kehrt das wieder. Dort interpretiert Meier die bei Aischylos von der Göttin Athene mühsam in sozusagen Überzeugungsarbeit bewirkte Verwandlung der Erinyen, der Rachegöttinnen, in die Eumeniden, in die „Wohlmeinenden“, im fiktiven Rechtsstreit gegen Orest. Dieser hatte die Ermordung des Vaters, Agamemnon, durch die Mutter, Klytaimnestra, gerächt, indem er die Mutter erschlug. Meier (S. 162, Fußn. 53) sagt dazu: „Aischylos … stellt zugleich die Stadt [Athen], den sie [458 v. Chr., dem Jahr der Aufführung der Tragödie] bedrohenden Bürgerkrieg und die Möglichkeiten, damit fertig zu werden, ins Zentrum“. Die Gefahr des Bürgerkriegs drohte 458 zwar nicht allein wegen, aber nicht zuletzt im Zusammenhang mit einer möglicherweise bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzung mit Sparta, die von derjenigen von zwei miteinander streitenden athenischen Parteiungen befürwortet wurde, die, auf Expansion bedacht, die (gewissermaßen) Demokratisierung auf die Spitze trieb, um das „Volk“ auf ihre Linie zu bringen (S. 145 ff.). Meier biegt das, geschichtswissenschaftlich nicht annehmbar, um in: „Es geht [bei Aischylos] um nicht weniger als um die Konstituierung der Polis über allen partikularen Gewalten“232 und um den „für 231 In dieser Zeit auch hier noch nicht in Geld, wie das „als Wergeld“ (siehe weiter unten im Text) einige Jahrhunderte später festgelegt worden ist, sondern immer noch mit Vieh. 232 Wenn es nur das wäre, bis zu dieser Stelle im Satz – und angenommen, Aischylos habe tatsächlich ein Drama über die Konstituierung der Polis schreiben wollen –, wäre schon deshalb nichts dagegen einzuwenden, weil er das Recht auf dichterische Freiheit gehabt hätte, wie wir das inzwischen nennen.

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die griechische Zivilisation entscheidenden Schritt vom archaischen Rache- und Fehde­wesen zur Polis“ (S. 164), ähnlich schon gleich zu Anfang, nach ein paar einleitenden Sätzen: „In ihm [in Aischylos’ Drama „Eumeniden“] ist das Politische in dem Moment zur Sprache gebracht worden, in dem [und ab jetzt wird es ganz falsch:] es sich in Athen zum ersten Mal und in erschütternder Weise voll verwirklichte. Und dies in einer unerhört adäquaten, noch heute aktuellen Weise“ (S. 144). Einmal abgesehen von Meiers auch hier wieder dramatisierender Art, sich auszudrücken, Meier verwechselt die Reparaturveranstaltung „Demokratie“ mit der „Konstituierung der Polis“. Politische Gemeinwesen hatte es längst gegeben. Im Fall Griechenland müssen die („Proto“-)Griechen (Schachermeyr: ab etwa 1 950 v. Chr.; inzwischen Hiller: nach Makedonien und Thessalien ab Ende der Steinzeit, grob um 3 000 v. Chr., von dort nach Mittelgriechenland und auf die Peloponnes erst um 2 300) die Polis zum ersten Mal, die Dorer und Nordwestgriechen (Ende des 2. Jtsds. v. Chr.) zum zweiten Mal auf die ägäische Halbinsel und auf die Inseln mitgebracht haben (siehe Kapitel B. I.1.a)). Das Wesen des Politischen ist erstmals bei den Griechen an den dafür zentralen Begriffen (siehe B. I.1.a)) ablesbar geworden (von mir daraus empirisch gewonnen, nicht Ergebnis theoretischer Überlegungen), steht aber in älterer, indogermanischer Tradition (B. I.8.). Im 1. Jtsd. v. Chr. (Einzelheiten über die Anfänge nicht bekannt) waren die griechischen politischen Gemeinwesen der zweiten Phase nach und nach ruiniert, in Herrschaftssysteme mit Ausbeutung und Unterdrückung der zuvor freien Bauern verwandelt worden. Als die Bauern schließlich rebellierten (hier verkürzt wiedergegeben; siehe dazu B. I.8.), sind im 6. Jh. v. Chr. mit Solon und dann mit Klei­ sthenes jene Reparaturversuche in Gang gekommen, die zwar nicht zu einem wieder echt politischen, nämlich nicht auf Herrschaft ausgerichteten System führten, sondern im Fall Athen zur attischen Demokratie bzw. zu dem, was später so genannt worden ist. Das „Rachewesen“ ist nicht „archaisch“ in d e m Sinn, wie die Gräzisten das Wort verstehen, sondern viele tausend Jahre älter. Und nicht die Preisgabe des „Rachewesens“ hat die Polis gebracht, es ist vielmehr eine der Leistungen der viel älteren politischen Gemeinwesen, die aus präpolitischer Zeit, aus der Zeit des noch bloß Sippenzusammenhangs, überkommene und zunächst in Geltung gebliebene Maxime der Gegengewalt – und das machte den Fortschritt aus: – in dieser ihrer Geltung nach und nach zurückzudrängen und, bis auf dann noch verbleibende Reste, im wesentlichen abzulösen durch das Prinzip der Bußleistung. Das gilt zumindest für die politischen Gemeinwesen bei Griechen, Römern und germanischen Völkerschaften, wahrscheinlich jedoch auch noch für andere. Der Begriff Fehdewesen ist in bezug auf griechische Verhältnisse sowieso unhistorisch. Er bezeichnet ein spezifisch abendländisch-mittelalterliches Phänomen (siehe B.II.1.d)). In Athen ging es um 462/461 und 458 v. Chr. in der Realität um stásis, um die Zwietracht zweier Parteiungen im Kampf um die Vorherrschaft bei der Verfolgung bestimmter Aktivitäten Athens nach außerhalb (siehe weiter oben in diesem Kapitel, soweit für uns nötig; auch Literaturhinweis).

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In Aischylos’ „Eumeniden“ ging es gerade nicht länger um „Bußleistung statt Rache“ (Athene h a t t e ja die Erinyen in die Eumeniden gewandelt), sondern um Schuldspruch oder Freispruch. Orest, dessen Untat – Totschlag an der Mutter – und dessen Schuld im Drama ja außer Zweifel stand, wurde dort freigesprochen. Ist das bei Meier ein Begriffsdurcheinander! Noch einmal: Der Dichter könnte es damit halten, wie er will, der Historiker kann es nicht. Am Ende der für uns wichtigen kritischen Betrachtung der Meierschen Interpretation von Aischylos’ „Eumeniden“ ist im Zusammenhang mit unserem Thema „Gewalt im frühen Gemeinwesen“ noch auf Meiers Aussage einzugehen, die „Kraft der Rede … ist nach griechischer Auffassung233 das Gegenteil von Gewalt“ (S. 196). „Rede“ ist aber sowieso nicht „Gegenteil“ von „Gewalt“; deren Gegenteil ist Gewaltlosigkeit, und umgekehrt ist auch nicht „Gewalt“ das Gegenteil von „Rede“ – das könnte allenfalls „Nichtreden“ sein, z. B. wegen Stummseins oder Sprachlosigkeit. „Rede“ ist im Verhältnis zu „Gewalt“ eine Alternative, „etwas anderes“. Zu jenem Begriffsdurcheinander kommt ein Mangel an Präzision. Außerdem, in der Wirklichkeit politischer Gemeinwesen früher Zeiten, generell, ist nicht nur Gewalttätigkeit nach außen, vor allem kriegerische, wenn für wünschenswert (Landnahme oder Beutezüge)  oder für unvermeidlich gehalten (Druck von außen) oder wie immer sonst, offensichtlich selbstverständlich geblieben, sondern eben auch, während eines offenbar langen sozusagen EntwöhnungsProzesses, noch die Gewalt in Form von Rache, im Innern. Gegengewalt im Sinn von Rache ist außerdem nur eine besondere Form von Gewalt, nicht Gewalt überhaupt. Die Rache zurückzudrängen oder gar abzulösen, hat Gewalt also sowieso nicht beseitigt. Christian Meier differenziert zu wenig. – Jetzt zu den Kodifizierungen des Rechts für die germanischen Völker und Stämme. Gegensätze und „Parteiungen“ im „Innern“ waren hier nicht der Anlaß. Germanische Völker hatten in Teilen des zuvor römischen Reiches germanische Reiche gebildet. Sie trafen dort auf eine Bevölkerung, die gemäß römischem Recht lebte, das inzwischen „justinianisch“ reformiert worden war, was ich hier nicht erläutere. Diese Germanen wollten selbstverständlich gemäß ihrem eigenen Recht leben. Um Klarheit zu schaffen und beiden Teilen gerecht zu werden, war auch eine Kodifizierung des Rechts des germanischen Gemeinwesens erforderlich, um das es jeweils ging. „Zündstoff“ innerer Auseinandersetzungen im Gemeinwesen wie in Athen und in Rom fehlte insofern. 233 Einmal abgesehen davon, daß auf die Pauschalaussage „nach griechischer Auffassung“ Präzisierungen folgen müßten oder doch ein paar Belege. Bei Meier (31995, Fußn. 144) heißt es zwar: „Vgl. den Artikel Macht und Gewalt in: O.  Brunner/W.  Conze/R.  Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe 3 (erscheint wohl 1980)“, dieser Artikel „Macht und Gewalt“ in Bd. 3 (1982) ist in seinem Teil II.1., „‚Herrschaft‘, ‚Regierung‘, ‚Macht‘ und ‚Gewalt‘ bei den Griechen“ (S. 820–830), von Christian Meier verfaßt, er bringt aber weder – wenigstens – Belege dafür, noch eine Präzisierung (was einem Autor freilich im sozusagen Gedränge unterlaufen kann).

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Auf Veranlassung von König Eurich der Westgoten, deren Reich sich zu seiner Zeit von der Rhone und Loire bis zu den Pyrenäen und von diesen fast über ganz Spanien erstreckte, ist um 476/477 n. Chr. als erstes germanisches Volksrecht das der Westgoten schriftlich gefaßt worden, der Codex Euricianus. Der Franken­ könig Chlodwig hat, bald nach 507 n. Chr., das Stammesrecht der „salischen“ Franken, einer der Hauptgruppen des fränkischen Volkes, aufschreiben lassen, die Lex Salica, übrigens in schlechtem Latein, unter Beifügung fränkischer Wörter. (Im Frankenreich sind später, auf Veranlassung Karls d. Gr., der – was auch hier sichtbar wird – nicht sozusagen unitarisch-zentralistisch herrschen wollte, die bis dahin noch nicht kodifizierten Stammesrechte der zum Reich gehörenden germanischen Stämme ebenfalls schriftlich fixiert worden, per Befragung in den Stämmen, seitens für geeignet eingeschätzter Leute.) Ich zeige, wie ein solches Recht in den uns in diesem Kapitel interessierenden Hinsichten aussah, und zwar anhand von Beyerle (21975) am Fall des alaman­ nischen Stammesrechts (Pactus Alamannorum  = PA und Lex Alamannorum  = LA), das schon in merowingischer Zeit kodifiziert worden war (S. 126 f., Fußn. 1, dort auch die Beschreibung der Entwicklung der Kodifizierung). Entscheidend ist, daß prinzipiell die alte Praxis der Rache, also der Gegen­ gewalt, zurückgedrängt bzw. abgelöst war durch das Rechts-Institut der Bußlei­ stung, durch das, was spätestens ab dem 9. Jh. (siehe Kluge, 23. Aufl., S. 886) als ahd. werigelt, nhd. „Wergeld“ bezeichnet worden ist, d. h. als „‚Entgelt für einen Menschen/Mann‘“ (vir), anders ausgedrückt, als Totschlagbuße. Die Sache selbst ist, wie wir aus Tacitus entnommen haben, schon viel älter als die Überlieferung des Wortes. Die Buße war vom Täter oder seiner Sippe an die Sippe des Getöteten zu leisten. Im alamannischen Recht, grob ein halbes Jahrtausend nach Tacitus, sind die zu zahlenden Bußen, anders als bei Tacitus, schon in Geld (Schilling/ solidus) angegeben. Nicht nur die Umstände des Totschlags spielten eine Rolle (dafür nachher noch Beispiele), die Höhe der Wergeldleistung war auch von der Stellung des Getöteten im Gemeinwesen abhängig. Außerdem wurden die Gewalttaten, die zu mehr oder weniger schweren Verletzungen oder gar Verstümmelungen im Gesicht, sonstwo am Kopf, am Leib oder an den Extremitäten führten, aber doch nicht zum Tod, sehr differenziert mit Bußen belegt. (Speziell Interessierte verweise ich auf­ Beyerle, S. 135 ff.)234

234 Der Autor hebt dort (S. 136 f.) auch die aus der LA mittelbar abzulesende „erstaunliche Höhe ärztlichen Könnens“ jener Zeit hervor. Nach solcher Lektüre wundert einen der – wenn auch seltene – Fund der erhalten gebliebenen Teile der Gehprothese aus einer erfolgreich verlaufenen Behandlung nach dem Verlust eines Unterschenkels in Kniehöhe nicht mehr (Grab 226, eines Kriegers, von der Wende des 7. zum 8. Jh., im großen fränkischen Gräberfeld von Griesheim b. Darmstadt; Fundberichte aus Hessen, 17/18, 1977/78, S. 195–201). Die LA nennt noch viel schwerer zu behandelnde höchst gefährliche Verletzungen.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Wenn es zu Gewalttaten in einem Gotteshaus (S. 130) oder auf einem Heereszug innerhalb des eigenen Heeres (S. 132) oder bei „Geleit“ (S. 132) kam – in all diesen Fällen galt unbedingt Friedensgebot –, war die Höhe der Buße ein Mehr­ faches des sonst Üblichen. Aus der Natur der Sache zwar nicht aus alter germanischer Tradition, in der Behandlung der Sache aber im Prinzip nicht anders geartet, sah es in Fällen von Gewalttaten an Bischöfen und Priestern aus. Bevor ich dazu Beyerle zitiere, muß ich, über Beyerle hinaus, zum besseren Verständnis vorausschicken: In Kapitel B.II.1.a)  zeige ich unter anderem, daß das in frühmerowingischer Zeit noch im Kern politische Gemeinwesen der Franken nach dem Untergang der Römer­ herrschaft nördlich der Alpen vor allem Angehörige der provinzialrömischen Senatorenschaft in wichtige Ämter der merowingischen Reichsverwaltung und in die Bischofsämter geholt hat, also vornehmlich Angehörige des provinzialrömischen weltlichen Adels. Beyerle (S. 128 f.) schreibt, „daß unkirchliche Haltung bis in die Reihen des Episkopats hinein vorkam. Daher kann es nicht überraschen, daß Bischöfe und Priester in persönliche Feindschaften mitver­wickelt wurden. Der Grundtext der LA (…) kennt Totschlag und andere Gewaltakte an Bischöfen so gut wie an den anderen Klerikern. LA 11 zählt uns beim Bischof auf: Beleidigen, Verwunden, Verprügeln, Lahmschlagen und Umbringen. Ursprünglich sollte dafür, wie beim Priester, das Dreifache der seinem Geburtsstand entsprechenden Buße verfallen. Allein[,] nachträglich wurde in der LA der Bischof dem Herzog gleichgestellt.“

Durchgehend galt also das Buße-Prinzip im Fall von Gewalt-Tat zwischen Männern und gegen Frauen, aber Reste von Blutrache, also von Selbsthilfe, gab es auch dann noch (S. 127), so wie es offenbar zu allen Zeiten Menschen gegeben hat, die sich nicht an die rechtlichen Regelungen halten, mit welcher Aus-rede/Begründung auch immer.235 6. Die Glieder der politischen Gemeinwesen Die Glieder der griechischen pólis, oder – wie es auch heißt – des pólisma, also des griechischen politischen Gemeinwesens, ob mit städtischem Zentrum oder (siehe B. I.8.) ohne ein solches, des Gemeinwesens als Land, als angebaute, bewohnte Landschaft verstanden, waren jeweils die polī´ tai dieses ihres Gemeinwesens (belegt bei Homer, z. B. Il., 15, 558; Od., 7, 131), waren einander jeweils Landsleute. Sie nannten sich und einander mit dem vom Namen des zentralen Orts – sofern es einen solchen gab – abgeleiteten Bewohnernamen. Im Fall Attika gemäß dem Namen des städtischen Zentrums Athen (das zu denen gehört, die sich, schon vor der Dorischen und Nordwestgriechischen Wanderung nach weiter süd-

235 In den Sagas wird von der Weigerung berichtet, seinen erschlagenen Verwandten sozusagen (als Wergeld) im Beutel zu tragen (Beyerle, S. 145).

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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wärts, entwickelt hatten), also als „Athener“ (Athenai), entsprechend in den ähnlich gelagerten Fällen, z. B. „Thebaner“, dagegen dort, wo die politischen Gemeinwesen kein städtisches Zentrum hatten, mit dem Namen derer, die die Landschaft miteinander besiedelt und bäuerlich „bebaut“ hatten, so z. B. die Molosser.236 Wie nach dem Vergleich der Ergebnisse von B.I.1.b) mit B.I.1.a) (und sonst aus B.I.8.) nicht anders zu erwarten, ist die Situation bei den germanischen politischen Gemeinwesen ähnlich. Dem polī´ tēs der Griechen entsprach bei den Germanen zum einen der malman, der freie Mann, der zur Teilnahme an der Volksversammlung auf der Malstatt (dem Thing usw.) berechtigt und verpflichtet war.237 malman ist für die Niederlande und für einige Gegenden Sachsens238 belegt.239 Wie wir wissen (siehe Anfang von B.I.1.b)), liegen für die meisten germanischen Gebiete, über die wir aus archäologischen Quellen zwar schon für frühere Zeiten mehr Kenntnisse besitzen, schriftliche Zeugnisse erst aus viel späterer Zeit vor, und diese Quellen sind wegen ihrer meist anderen Thematik in bezug auf manche hier re­levanten Sachverhalte wenig ergiebig oder ganz unergiebig. Immerhin ist es an­gesichts der weiten Verbreitung von mal, mathal usw. (siehe oben), und weil sich jene gemeingermanische Wurzel *maþla- ausmachen ließ, doch höchst wahrscheinlich, daß Varianten von malman ursprünglich viel weiter verbreitet waren als nur im Ausgangsgebiet der Franken und ihrer sächsischen Nachbarn von damals. malman ist wohl ein schon älteres Wort, während bargildi und andere Bezeichnungen für die „Königszinser“239 aus deren Entstehungszeit stammen werden.  – Auch die Glieder der germanischen Gemeinwesen benannten sich und einander gemäß dem Namen ihres Stammes (oder ihres Stammesbundes), andere gemäß dem Namen der Landschaft, in der sie wohnten (z. B., latinisiert, Amsivarii240 = Emslandbewohner), manche aber auch noch anders. Aus Kapitel B.I.1.b)  (Näheres siehe dort) kennen wir die Bezeichnung bur, gebur, nochpūr (einer), die nachgepuer (mehrere), von ahd. nāhgibūr(o), dieses 236 Manche Namen dieser konkreten politischen Gemeinwesen stammen noch aus der Zeit vor der, andere aus der Zeit der Dorischen und Nordwestgriechischen Einwanderung, manche erst aus jüngerer Kolonisation. 237 Näheres zu māl, mōt, moot, mahal, gemot und meet und der germ. Wurzel *maþla- siehe in B. I.1.b). 238 Unter anderem auch in Osnabrück: „mahlleute, welches gemeine männer sind“, i. S. von „gemeine gerichtsleute“, i. S. von „die versammelten gerichtseingesessenen“ (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3202). 239 Wenn Dannenbauer (1949), S. 209, vermutet, es wären, wie bei den bargildi, sogenannte Königszinser gemeint, können wir ihm nicht folgen. Die Niederlande (eben der Niederrhein auf beiden Seiten) sind fränkisches Ausgangsgebiet gewesen, und die Sachsen waren damals Nachbarn der Franken und der Friesen. Dort, wo es sich tatsächlich um „Königszinser“ handelt, nicht nur in Ostfranken (am Main) und in Italien, sondern bezeichnenderweise auch in Sachsen, wurden diese eben bargildi genannt. (In der Spanischen Mark und in anderen nichtfränkischen Gebieten hießen sie noch anders, worauf es hier aber im einzelnen nicht ankommt.) 240 Zu germ. *warōn bzw. *wazōn siehe weiter unten bei „Bürger“.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

vom asächs. Verb būan (ahd. būwan, būwen) = „wohnen, bewohnen, bebauen“, für Glieder politischer Gemeinwesen engeren Zusammenhangs und geringerer Größe. Die Verbreitung von bur, gebur usw. reicht vom Friesischen und von Hamburg über Osnabrück und andere bis in die Saargegend, also in fränkisch besiedeltes Gebiet, sowie über die Wetterau bis in die Unterkrain (heute Slowenien). Zur Verbreitung des Verbs in den anderen germanischen und zu den Vorkommen in anderen indogermanischen Sprachen (die idg. Wurzel ist *bhū-) siehe ebenfalls B.I.1.b). – Die Bezeichnungen mit bur werden zeitlich sehr weit zurückreichen. Von hier aus gehe ich noch einmal zu den griechischen Verhältnissen zurück. Ehrenberg (Wann entstand die Polis?, 1969, S. 12) können wir entnehmen, daß in kleineren ländlichen politischen Gemeinwesen ein ebensolches Grundverständnis des Zusammenhalts der Glieder des Gemeinwesens gegeben war. Es geht hier um die Bezeichnung der „einfachen“ Glieder als étai. (Ehrenberg sagt dazu insofern vorschnell „Bürger“, als er an ein städtisches Gemeinwesen denkt, was nicht zwingend ist (siehe auch B. I.7. bei „Burg“). „Im Elis des 6. Jhs., wo die sozialen [gemeint ist in Wirklichkeit: die zwar schon weiter entfernten, aber eben doch verwandtschaftlichen] Bande noch stark sind, trägt der Bürger [siehe oben] noch den Namen ‚Verwandter‘. Und doch ist er nicht nur wie bei Homer (Od.[,] 4, 16: geítones ēdè étai) der Nachbar, der am selben Boden teilhat [in einem engeren Sinn Landsmann ist, Mitbewohner, Mit-Anbauer], er ist auch [d. h. hier: zugleich] das Mitglied der Polis, … der polítēs.“

In der angeschlossenen Fußnote 20 sagt Ehrenberg: „Es könnte der Einwand erhoben werden, daß diese Beispiele den Kern der Sache nicht treffen, weil die Gemeinden von Elis und Arkadien im 6.  Jh. dē´moi oder kō´mai waren. Wäre das der Fall, so wären diese Inschriften [sogar] noch beredtere Zeugnisse, weil dann diese Dörfer schon damals die Form und den Status einer pólis angenommen hätten.“

Falsch ist nur „schon damals  … angenommen“, weil wiederum fälschlicherweise eine Entwicklung vom Primitiven in Richtung auf „Polis  = Stadt“ als das Höhere unterstellt wird. Und dies trotz des dann verblüffenden Ehrenbergschen Eingeständnisses, „daß eine pólis sich nicht durch Synoikismos und Stadtmauer konstituiert, sondern durch ihre politische Gestaltung“. (Mehr dazu in B.I.8.) – Aus der Familie der eminent politischen Wörter „meinen“, „gemeinen“, die „Gemeine/Gemeinde“ usw. (mehr dazu und zur Etymologie siehe schon am Ende von Kapitel B. I.1.b)) stammen auch Bezeichnungen für die Glieder politischer Gemeinwesen. Aus jenem Kapitel rufe ich für unsere Zwecke zwei Sachverhalte in Erinnerung zurück. „Meinen“, das in (nur west-?)indogermanischem Zusammenhang steht, besagt von Hause aus „im Wechsel“ bzw. „der Reihe nach“ „seine Meinung äußern“. Das ist charakteristisch für die Volksversammlung. Aus der Schweiz ist der alte Ausdruck gemeinen im Sinne von „Gemeindeversammlung abhalten“ überliefert, vergemeinden in Ulm nur noch als „der Gemeinde öffentlich bekannt machen“.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Die politischen Gemeinwesen sind anfangs auf jeden Fall ländlich, bäuerlich, auf keinen Fall städtisch gewesen. Die Germanen hatten keine Städte.241 Die Latiner, die ein auf dieselbe indogermanische Wurzel zurückgehendes Wort wie „ge-mein“ besessen haben, und zwar in der archaischen Form co-moinis (im klassischen Latein dann com-munis), siedelten in der Zeit vor der etruskischen Königsherrschaft über die Latiner auf dem später „Palatin“ genannten und auf benachbarten Hügeln in nur locker miteinander verbundenen bäuerlichen Gemeinwesen. Erst die Etrusker haben diese nach 575 v. Chr. zusammengeschlossen zur Stadt „Ruma“, woraus „Rom“ wurde. (Zu den Latinern weiter unten.) In deutschsprachigen Gebieten hießen die vollberechtigten Glieder der ländlichen kleinen Gemeinwesen gemeindsmann (seltener)242 oder gemeinsman (öfter)243, auch gemeintman und gemeintlude244 oder einfach gemeinder bzw. gemeiner244, die zuletzt genannten auch in Verbindung mit jener anderen Bezeichnung, um die es weiter oben ging (siehe bei bur, nochpur usw.): napar und gemeiner, gemeiner oder nachbar, gemoinar,245 auch als gemeine männer, hier zur Erläuterung von malman,246 im Sinne von „gemeine gerichtsleute“.247 241 Das sagt Tacitus, G., 16; die Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen entsprechen dem. 242 Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3270: im Schwäbischen und an der Saar. 243 Ebenda: an der Saar, in Luxemburg, im Hunsrück, im Schwäbischen, am Oberrhein, am Mittelrhein, in Bingen, in der Wetterau, im Fränkischen „u. ä.“. 244 Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3244: an der Obermosel (gemeintman, gemeintlude). 245 Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3245 f. Die drei genannten aus der Wetterau, Frankfurt und Gottschee (in der Unterkrain, früher dort deutsche Sprach-Insel, jetzt Slowenien), oben in dieser Reihenfolge. – Die Bezeichnung gemeinere (Mehrzahl) wurde übrigens auch außerhalb der bäuerlichen Gemeinwesen benutzt, z. B. wenn mehrere Herren eine Burg „zur gesamten Hand“ besaßen, was auch Gan-Erbenschaft genannt wurde, war also noch positiv besetzt. 246 Zu diesem Wort s. Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 1457. 247 Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3202, „die mahlleute, welches gemeine männer sind“; Osnabrück (s. a. Sp. 3182). An dieser Stelle läßt sich ein Unterschied besonders gut deutlich machen: In unserem Zusammenhang dient „gemeiner Mann“ neben anderen Begriffen (u. a. „Malman“) nur zur Bezeichnung des nicht zuletzt auch in der Rechtsprechung vollberechtigten Glieds des Gemeinwesens. Bei Peter Blickle (führend in der „Kommunalismus“-Diskussion der über Spätmittelalter und ältere Neuzeit arbeitenden Historiker) ist „gemeiner Mann“ ein Standes­begriff, zur Bezeichnung des Dritten Standes (aber ohne die unter- und die randständischen Gruppen) u n t e r Adel und Geistlichkeit (jedoch nicht im verfassungsrechtlichen Sinn der Gliederung des Heiligen Römischen Reiches in die drei Reichsstände weltliche Für­ stentümer, geistliche Fürstentümer, Freie und/oder Reichsstädte). Vielmehr arbeitet Blickle das heraus, was Dörfern und „Tälern“, Städten und Märkten, also denen, die „von Herrschaft ausgeschlossen“ waren (Blickle, 1991, S. 13), in ihrer Abwehr gegen die und bei der Zurückdrängung adliger oder geistlicher Herrschaft institutionell, hinsichtlich der sozialen Grundlagen und normativ in ihren kommunalen Ordnungen gemein war (S. 8–21). – „Das Wort selbst [„gemeiner Mann“] … dient durchaus auch Bürgern und Bauern, sich in einer ständischen Gesellschaft selbst zu lokalisieren. Der gemeine Mann … [wird] keine deutsche, geschweige denn eine oberdeutsche Eigentümlichkeit sein. Der ‚dritte Stand‘ hat eine ähnliche begriffliche Fixierung in den englischen ‚commons‘ gefunden, und seine engen Bezüge zur Gemeinde bestätigt die französische Entsprechung ‚tiers état‘, denn die ‚Urwähler‘

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Die genannten Bezeichnungen kennen wir aus „Weistümern“, in denen die jeweils von alters her gegebene Rechtslage nachgewiesen war. Zwar beruhen auch die frühmittelalterlichen Stammesrechte248 und einige Reichsgesetze, so das Rhenser Kurfürstenweistum von 1388 auf „Weisungen“, für uns von Interesse sind hier aber die Weistümer, die sich auf bäuerliche, dörfliche Gemeinwesen beziehen. Weisungen sind anfangs mündlich vorgetragen worden. (Davon war in Kap. B.I.1.b) im Zusammenhang mit der Hamburger Bursprake schon einmal die Rede.) Eine schriftliche Fixierung in Weistümern gab es – das kann man schon deduzieren – immer dann, wenn Unklarheiten bestanden oder drohten (weil Umfang des zu Weisenden zu groß, also unübersichtlich, aber auch aus anderen Gründen, vor allem bei Streit). Daß die dörflichen Weistümer, soweit erkennbar, ab dem 13. Jahrhundert überliefert sind, könnte so seine Ursache darin haben, daß Wirren und Unsicherheit im Reich, mit Übergriffen oder Übergriffsversuchen, Schriftlichkeit wünschenswert werden ließ. Die meisten Weistümer sind im 16.  Jahrhundert entstanden,249 wieder in einer Zeit vieler Wirren, zugleich einer Zeit der Verstärkung der Territorialstaatlichkeit der Fürstentümer mit deren Interesse an Fixierung und Stärkung ihrer Rechte.

für Repräsentanten des tiers état in den General- und Provinzialversammlungen Frankreichs sind Städte und Pfarreien, also Gemeinden. Über die Etymologie des Wortes gemeiner Mann weiß man bis heute wenig“ (S. 12 f.). Hier müssen wir differenzieren. Die Etymologie von „meinen“ und „gemein“ ist wünschenswert klar. Weil Blickle das nicht sieht, muß er „Vermutungen“ aussprechen. Der einzige konkrete Fall, den er danach anführt, erweist sich nur als eine sehr spezielle Variante dessen, was wir zuletzt oben im Text hatten: gemeinsman (usw.)/gemeiner/gemeiner man als Ur­teiler. (Über Unterschiede, die es dabei sehr wohl gab, ist oben noch zu sprechen.) Nicht die Etymologie ist unklar, sondern, ab wann es die sogenannten Täterbezeichnungen gegeben hat. (Auch dazu oben mehr.) 248 Auf Veranlassung Karls  d.  Gr. sind ab 802 alle damals noch nicht schriftlich nieder­ gelegten Stammesrechte sozusagen mittels Weisung seitens rechtskundiger Männer aus diesen Stämmen aufgezeichnet worden. 249 Dieser Zeitrahmen paßt offenbar immer noch. Eine gut fundierte neue Regionalstudie zum Thema (Eder) kam zum gleichen Ergebnis in dieser Hinsicht. Anhand einiger Fälle, in denen im Weistums-Protokoll – was selten ist – ausdrücklich gesagt wird, daß eine jüngere Renovation einer älteren Weisung aus dem Jahre … vorliegt – (fast alle Weistümer sind auf Jahr und Tag zu datieren) –, und aus noch anderen Gründen ist es wahrscheinlich, daß oft „nicht die ältere Kopie überliefert wurde, sondern eine spätere Renovation des Stückes. Das ist [für den einzelnen Fall, wenn nicht ausdrücklich gesagt] allerdings nie nachzuweisen“. Jedenfalls ist „das angegebene Datum … nicht als Entstehungszeit, sondern nur als terminus ante quem anzusehen.“ Immerhin „ist es … nicht selten möglich, einzelne Bestimmungen auf ältere Rechtsverhältnisse zurückzuführen“ (S. 35 f.). Es kommt vor, daß das Protokoll über ein im Vergleich zum vorliegenden Weistums-Protokoll älteres Jahrgeding belegt, daß ein im jüngeren Weistum genannter Rechts-Inhalt eindeutig älter ist. – Auch Jahrgeding-Protokolle nennen Bezeichnungen der Rechtsgenossen, Jacob Grimm hat aber „Weisthümer“ gesammelt, 7 Bde., Göttingen 1840–1878. Das war wissenschaftlich eine große Leistung, auch wenn die Sammlung von ihren Voraussetzungen her (z. B. wo regional bzw. lokal Informanten zu finden waren oder nicht) nicht repräsentativ und schon gar nicht vollständig sein konnte.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Wenn nun in Weistümern des 13. Jh. Gemeinsleute erwähnt werden,250 heißt das nur, daß zumindest ab dieser Zeit der Begriff Gemeinsmann schriftlich in Verwendung war, keineswegs, daß er erst zu dieser Zeit aufgekommen, also „so alt“ ist. Ich zeige das für an solchen Fragen des „Alters“ Interessierte anhand zweier mir im einzelnen gut bekannter Beispiele per Fußnote.251 Es spricht viel dafür, daß auch die Bezeichnung „Gemeinsmann“ (u. ä.) schon viel früher verwendet worden ist als zur Zeit der ältesten bisher bekannt gewordenen nicht verloren gegangenen schriftlichen Erwähnungen. Während das, was der in Fußnote  249 enthaltenen Argumentation für unser Thema zu entnehmen war, im jeweils konkret gegebenen Fall wohl nur selten mehr als hundert Jahre weiter zurückträgt, meistens viel weniger, haben wir in dem, um das es in Fußnote 251 geht, zeitlich ganz andere Dimensionen. Dazu verhilft die Urkundengattung Bodenurkunden mit ihren Befunden. Es gibt aber auch zu unserem Thema einen Sachverhalt, der es höchst wahrscheinlich macht, daß die entsprechende Bezeichnung für die Glieder der ahd. gimeinida, altsächs. gimēntho (unser „Gemeinde“; Kluge, 23. Aufl., S. 311) wohl kaum viel, wenn überhaupt, jünger ist als diese Adjektivabstrakta. Wir entnehmen Kapitel B.II.1.a) (auf das ich vorab verweise), daß Karl d. Gr. die herkömmliche Gerichtsverfassung der Gaue – hier: alle Freien sind nicht nur zur Teilnahme an der Versammlung berechtigt und verpflichtet, sondern urteilen auch – unter anderem insofern geändert hat, als nun eine begrenzte Zahl von „Schöffen“ den Fall beriet und das Urteil fällte. Diese Änderung erfolgte aber nicht sozusagen flächendeckend. Ich lasse den Historikerstreit darüber, was die Ursache war, hier beiseite. Jedenfalls, es gab auch danach noch Gerichte kleinregionalen Zuschnitts, bei denen vollberechtigte Glieder dieser Gemeinwesen (also der „ganze Umstand“) den Fall besprachen und dann urteilten, und das nicht bloß in Angelegenheiten der Niedergerichtsbarkeit, sondern auch in Fragen von „Leib und Leben“, also der Hochgerichtsbarkeit. Die Verfassung solcher Gerichte – im linken Rheinland honnending, hundtdinc oder, so besonders im Mosel-RuwerRaum, hunaria, hunria o. ä. genannt – hat sich in manchen Fällen, nicht zuletzt an 250

Aus Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3270, ist eine Datierung nicht abzulesen; man müßte folglich in der Weistümersammlung nachsehen, welchen Aufwand ich hier nicht treiben kann. 251 Saarbrücken ist 1999 nicht etwa „tausend Jahre alt geworden“. Von 999 ist lediglich die älteste nicht verlorengegangene schriftliche Urkunde. Kontinuierliche germanische Besiedlung belegen in den Stadt-Teilen Malstatt (!) und St. Arnual merowingerzeitliche Grabfunde, in St. Arnual dazu ein gleich alter Kirchenbau. Das alles liegt mehrere Jahrhunderte vor 999. – Nieder-Ramstadt, inzwischen Orts-Teil von Mühltal bei Darmstadt, ist 1994 nicht etwa „800 Jahre alt geworden“, weil eine einschlägige Wormser Urkunde von 1194 vorliegt. Der Ort hatte eine germanische, hier alamannische Besiedlung (Siedlungsfund und vier bekannt gewordene, dazu vermutlich noch viel mehr bei der Neubebauung nicht beachtete oder verheimlichte Gräber) ab dem 3. Drittel des 4. Jh., später fränkische Gräber. Die nachrömerzeitliche germanische Besiedlung setzte folglich schon vor 1 600 Jahren ein (R. H. Schmidt, 1988, S. 54–62). Städte und dörfliche Gemeinden nehmen aber solche nicht (a u c h noch) verlorengegangene schriftliche „Ersterwähnung“ natürlich gerne zum Anlaß zu feiern.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

der Mosel, aber auch in anderen Gegenden Deutschlands bis in die Frühe Neuzeit erhalten. Das z. B. 1284 hundtdinc genannte Gericht (ein „Umstands- oder Hubergericht“ im Unterschied zum „Schöffengericht“) zu Ormesheim im Bliesgau gehört dazu: „… das hundding am Ormesheimer Berg erweist sich noch im späten 16.  Jahrhundert den Moselhunrien ähnlich: Heimmeier und Gemeindsleute von Ormesheim sprechen das letzt urteil über den Verbrecher. Fr. Steinbach [Quelle dazu] sagt von diesen Gerichten: ‚Sie erscheinen so als Relikte einer vorkarolingischen volksrechtlichen Hochgerichtsbarkeit‘“ (Schwingel, 1960/61, S.  24). Unter solchen Umständen spricht alles dafür, daß auch die Bezeichnung Gemeindsmann/Gemeindsleute altüberliefert ist, aber mehr als eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit ist das nicht – wobei wir es belassen können. – Die Annahme liegt zwar nahe, auch die Glieder der zunächst ländlich-bäuerlich geprägten Gemeinwesen der Latiner auf dem (später) „Palatin“ und anderen Hügeln, die danach zusammen die Stadt Rom bildeten, könnten in archaischer, voretruskischer Zeit zum einen mit einem Wort aus dem Umkreis von co-moinis252 benannt worden sein, das seinerseits noch zum archaischen Latein gehört (siehe dazu Kapitel B. I.1.c), aber es gibt dafür keine Gewißheit. Zum anderen haben wir mit Gewißheit eine Bezeichnung für die Glieder zunächst der latinischen, dann des römischen Gemeinwesens, die die Latiner als Bezeichnung solcher Art schon gehabt, d. h. auf die Apenninen-Halbinsel mitgebracht haben müssen: civis. Es wird mit „Bürger, Bürgerin eines politischen Gemeinwesens“ übersetzt, so civis Romanus mit „römischer Bürger“, als mit dem römischen Bürgerrecht Ausgestatteter. Georges betont, das Wort besage „insbes. M i t bürger“ (zusätzlich hervorgehoben von mir), d. h.: einer, der aktiv teilnimmt. Auch civis gehört in der Form ceivis zum archaischen Latein. Wir kennen aus Kapitel B. I.4., auf das ich in bezug auf Einzelheiten der Etymologie verweise, den Zusammenhang von lat. cei-, germ. hai-, griech. kti-, altind. kṣé- mit den idg. Wurzeln *kei- und *kþei- aus dem Bedeutungsumfeld von „Wohnung“, „wohnlich“, „w o sich’s gut wohnt“ (offenbar mit Bezug auf die besonders geeignete(?), schöne(?) Umgebung), „Heim“, „Heimat“, „Sicherheit und Ruhe“. Solche Wohnlichkeit hebt sich vom lediglich „Hausen“ in der mehr oder weniger gut eingerichteten Hütte oder Zelt oder gar Höhle deutlich ab. Das heißt, das Lebensumfeld des ceivis/civis als Glied eines zunächst noch kleinen253 politischen Gemeinwesens war, wenn ich mich auch hier so ausdrücken darf, bereits „civilisiert“.

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Es ist inschriftlich belegt im Akkusativ, co-moinem, worauf es hier sonst nicht ankommt. Über die noch geringe Größe der latinischen Gemeinwesen zuerst auf dem „Palatin“, dann auch auf anderen Hügeln wissen wir indirekt insofern, als die die Latiner ab etwa 575  v. Chr. beherrschenden Etrusker die kleinen bäuerlichen Gemeinwesen gemäß etruskischem Vorbild förmlich und mittels Mauerbau zusammengeschlossen und zu einem mehr und mehr städtisch werdenden Gebilde gemacht haben (s. Kap. B. I.1.c)). 253

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Im Zug der Vergrößerung des römischen Reiches sind in den eroberten Provinzen ebenfalls civitates gebildet worden, auch in Provinzen, in denen es bis dahin keine stadtartigen Ansiedlungen gegeben hatte.254 Diese civitates bekamen ein römischerseits gegründetes städtisches, oft nur kleinstädtisches Zentrum, häufig an einem inzwischen preisgegebenen Römerkastell-Standort. Ich nenne zwei Beispiele aus dem rechtsrheinischen Teil der Provinz Obergermanien:­ LOPODVNVM, heute Ladenburg in Nordbaden, zur Römerzeit Zentrum der civitas Ulpia Sueborum Nicrensium, also der Neckarsueben unter römischer Herrschaft; zuvor dort Kastell; von nach 106 bis kurz nach der Mitte des 3. Jh. n. Chr., etwa 36 ha ummauerte Fläche255 (zum Vergleich: Trier 285, Metz 60; Brühl, II, S. 71 und S. 48). MED … (Rest unbekannt), heute Dieburg in Südhessen, Vorort der an die eben genannte nördlich anschließenden civitas Auderiensium; wohl am Ort einer aufgelassenen Straßenstation; etwa 125 bis um die Mitte des 3.  Jh. n. Chr.;256 kleiner als die zuvor genannte.  – Jetzt zu den Gliedern dieser Gemeinwesen: „Eine Civitas bestand aus sämtlichen Freien, die innerhalb ihrer Grenzen wohnten; diese waren ihre Bürger (cives), … . Sie wählten aus ihrer Mitte die Ratsherren (decuriones), deren Versammlung (ordo decurionum) die Civitas im Rahmen der Reichsgesetze, der kaiserlichen Erlasse und der Anordnungen des Statthalters verwaltete. Ihr Sitzungssaal (­curia) befand sich mitten im Ort am Marktplatz ( forum). Als decurio war nicht jeder Bürger wählbar; ein gewisses Mindestvermögen (census) wurde vorausgesetzt, denn die Zugehörigkeit … [zum] ordo decurionum war ein Ehrenamt ohne Besoldung und mit mancherlei finanziellen Verpflichtungen verbunden. Die Ratsversammlung wählte zwei jährlich wechselnde Bürgermeister (duoviri) … .“

Wegen des in der Regel städtischen Mittelpunkts hat civitas dann in unserer Sprache auch überhaupt die Bedeutung „Stadt“ angenommen, und civis wurde wegen des auch im Mittelalter bestehenden Zusammenhangs von „Stadt“ und „Bürgerrecht“ dann auch mit „Bürger“ übersetzt. (Wir werden weiter unten sehen, daß „Bürger“ jedoch einen anderen, gerade nicht städtischen Ursprung hat.) – In allgemeinen Nachschlagewerken wird meistens, nach einem kurzen Hinweis darauf, daß das Wort zu „Burg“ gehört, gesagt, „Bürger“ seien ursprünglich Stadtbewohner gewesen. Dann erfährt man, mehr oder weniger ausführlich, wer in der Stadt des Mittelalters zunächst zu den Bürgern zählte und wer nicht und was sich daran ab dem Spätmittelalter geändert hat und warum und wie. Was „Burg“ ursprünglich gewesen ist und was sich daraus entwickelt hat, steht in Kapitel B. I.7., auf das ich hier vorab verweise.257 So war „Burg“ von Hause aus 254 Oder in denen zwar keltische Oppida bestanden hatten, die die römische Verwaltung aber aufgelöst und durch neu gegründete Mittelpunkte ersetzt hatte. 255 Führer arch. Dkm. Dtld., 36, S. 76–84. 256 Baatz/Herrmann (Hrsg.), S. 250–256, das oben folgende Zitat S. 87 f. 257 Ich habe abgewogen, in welcher Richtung ein Verweis praktisch günstiger sei, und mich für diesen Vorabverweis auf das später folgende Kapitel entschieden.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

gerade nicht „Stadt“. Die bei Tacitus genannte „Volksburg“ („Teutoburg“), zumindest der Cherusker, stand im Wald, höchstwahrscheinlich auf geschützter Anhöhe, und wir wissen außerdem, daß die Germanen gar keine Städte hatten. Zum Namen ist folgendes bekannt: Ahd. heißt es burgāri, vereinzelt auch schon burgeri; daraus wird mhd. burgære, burger; mittelniederdeutsch heißt es borgere, mittelniederländisch borgher, angelsächs. (ags.) burgware, in latinisiertem Germanisch burguarii. Während das Bestimmungswort „Burg“ in B. I.7. betrachtet wird, müssen wir hier den zweiten Wortteil, das Grundwort, bestimmen. Dieses ist masc. pluralis: ahd. -wari, ags. -ware, wo es auch in den Verbindungen Rōmware „Römer“ und Cantware „Kenter“ belegt ist. Altnord. haben wir -vẹri und -vẹrjar. Dieses Grundwort (Endung seitens römischer Historiker latinisiert) kennen wir auch von germanischen Stammesnamen her, u. a. dem der Amsivarii „Emsanwohner“ (siehe oben) und der Angrivarii „Angerbewohner“. (Bis hierher gemäß Kluge/ Götze, 16. Aufl., S. 114; vgl. Kluge, 23. Aufl., S. 146.) Seebold (Kluge, 22. Aufl., S. 115, und 23. Aufl., S. 146) differenziert bei der Darstellung der Bedeutung stärker, weshalb ich mich jetzt an ihn halte: Das alt­ engl. burgware, burgwaran weist darauf hin, daß mit germ. *warōn wohl eine alte Bezeichnung für Einwohner, Bewohner vorliegt, „die erst sekundär (nach dem lautgesetzlichen Schwund des w) an die Nomina agentis [= „Täterbezeichnungen“, in unserem Fall „Bürger“ als „Täter“, zu „Burg“] angepaßt wurde. Dieses Kompositionsglied … wird normalerweise zu wehren gestellt, dann wäre der Bürger ursprünglich ein ‚Stadtverteidiger‘ [das selbstverständlich ursprünglich gerade nicht, sondern allenfalls ein „Burgverteidiger“, wenn man am Wort „verteidigen“ festhalten will]; doch ist ein Anschluß an g[erm]. *wes-a- ‚sein, bleiben‘, auch ‚wohnen‘ in ahd. wesan usw. (s. Wesen) semantisch wahrscheinlicher“; Seebold nennt jedoch gleich danach eine Erklärungsschwierigkeit hierfür, auf die ich aber nur hinweise. Die ahd. burgāri und die ags./altengl. burgware sind also die Glieder germanischer politischer Gemeinwesen, die als Freie zur Volksversammlung und zum von ihr beschlossenen Heereszug verpflichtet sind, hier, in der Situation einer von außen kommenden Gefahr, sich in der Burg aufhalten, dort „sind“, dort dauernd(?), vorübergehend(?) wohnen, sich aufhalten, zur Verteidigung – wie immer -wari/-ware herzuleiten ist, ob vom germ. *warōn oder vom germ. *wazōn. Jedenfalls, die „Bürger“ gehörten ursprünglich zum politischen Gemeinwesen und damit eindeutig in die Betrachtung unseres Kapitels B.I.6. (Den Anschluß an B.I.6. und die Veränderungen bringe ich in B.II.1.e).) Es verstand sich sozusagen von selbst, daß in diesem Kapitel mit polítai zu beginnen war. Ich habe das nun Folgende, obwohl besonders wichtig, für den Schluß aufgehoben, weil es auf den ersten Blick so verblüffend wirkte, noch weit mehr als im Fall der über *ga-maini- (und, zusammen mit altlat. (Akk.) co-moinem) zumindest westindogermanisch verwurzelten Bezeichnungen in mehreren germanischen Sprachen für die Glieder der politischen Gemeinwesen.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Während polítēs offenbar auf den griechischen Bereich beschränkt ist (pólis allerdings eine indische und eine baltische Parallele hat); malman nur bei den Franken und Sachsen belegt ist (, die in unserer Sache besonders wichtige Wurzel­ *maþla- aber immerhin gemeingermanisch ist); būr, gebur, nochpūr, nāhgibūr(o) usw. zur Bezeichnung für Glieder von politischen Gemeinwesen offenbar nur in germanischen Sprachen vorkommt (die Wurzel *bhū allerdings indogermanisch ist); deutsch gemeiner, gemein(d)sman usw. zusammen mit altlat. (Abk.) co-moinem auf eine in unserer Sache wiederum sehr wichtige indogermanische Wurzel zurückgeht; lat. civis aus altlat. cei-vis (mit germanischen, griechischen und altindischen Parallelen für den Stamm dieser Wörter) einen für die Zivilisations­geschichte zumindest im indogermanischen Bereich besonderen Aspekt zeigt; ahd. burgāri im ersten Wortteil den für den Verteidigungsfall (und in kultischen Dingen?) zentralen Ort des Gemeinwesens nennt (indogermanische Verbreitung), während für den zweiten Wortteil zwei Herleitungen aus germanischen Wurzeln infrage kommen; gibt es eine Bezeichnung für die Glieder der politischen Gemeinwesen, die mit ihren Ableitungen in indogermanischen Sprachen so weit verbreitet ist wie keine der zuvor genannten und die zugleich mehrere Aspekte des für uns Wichtigen i n e i n e m zeigt. Das neuhochdeutsche Wort, mit dem ich die Betrachtung beginne, ist „Leute“. Es ist, entgegen ersten Erwartungen, von Hause aus hochpolitisch und dabei in der Kombination seiner Aspekte so positiv besetzt wie keines der zuvor genannten, auch wenn das aus der germ. Wurzel *maþla- resultierende „Zur Sprache bringen im Zusammenkommen“ zu fehlen scheint – es ist in Wirklichkeit impliziert. „Leute“ hat, wie „gemein“, wenngleich bei weitem nicht so extrem, eine Bedeutungsverschlechterung hinnehmen müssen; sie geht ebenfalls dem Verfall des politischen Gemeinwesens zum Herrschaftssystem etwa parallel (dazu in B.II.1.e)). Ich bringe das, was uns an Wortmaterial vorliegt, anhand von Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 452, und von Kluge, 23. Aufl., S. 517, die in allen wesentlichen Dingen übereinstimmen. Nur, wenn ich eine Ergänzung bringe, die bloß in einer der beiden Auflagen steht, nenne ich diese. Nhd. „Leute“ geht zurück über mhd. liute auf (spätestens 8. Jh.) ahd. liut(i) und entsprechend altsächs. liud(i), diese auf germ. *leudi-, m., i. S. v. „dingberechtigtes Mitglied des Volksverbandes“, aber auch „Volk“ insgesamt (23. Aufl.; zum folgenden generell siehe die 16. Aufl.); entspr. Ableitungen mnl., altfries., angelsächs., mittelengl., altnord.; burgundisch haben wir leudis (wiedergegeben mit „Gemeinfreier“), westgot. leodes (leudes in der 23. Aufl., beides Mz.). „Nächstverwandt sind balto-slav. Wörter wie aslav. ljudŭ ‚Volk‘, ljudĭje ‚Leute‘, lett. l’àudis ‚Menschen‘, lit. ljáudis ‚Volk‘, apreuß. ludis ‚Mensch‘. Zur Deutung bieten sich [an] got. ­liudan ‚wachsen‘258 … [u. mehrere andere germ.] mit aind. rō´dhati ‚steigt, wächst‘, avest.

258

Schmidt-Wiegand (Sp. 1845) sagt dazu: „Afrk. *leod … hat offenbar zunächst den mündig gewordenen, erwachsenen Abkömmling oder Mann gemeint, der vollberechtigtes Mitglied der Dingversammlung … gewesen ist.“

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

raoda- M. ‚Wuchs, Ansehen‘, toch. A lūt-k ‚werden lassen‘ zur idg. Wurzel *leudh- ‚wachsen, entstehen‘: K. Schneider 1941 Idg. Forsch. 58, 48. Als Angehöriger des eignen Volks gegenüber den Unterworfenen ist *leudheros ‚der Freie‘, daher gr. eleútheros, lat. līber ‚frei‘ (altlat. loebesum ‚līberum‘), līberī ‚Kinder‘, venet. louzerophos ‚līberīs‘.“259

(Wie wir jenes „Unterworfensein“ wohl zu verstehen haben, darüber ist weiter unten noch etwas zu sagen.) Das, zusammengenommen, heißt: Wir haben mit den von idg. *leudh- herkommenden Ausprägungen eleútheros, līberī, louzerophos, liut(i), ludis usw. jeweils d a s Wort vor uns, das im indogermanischen Sprachbereich, und zwar ganz weit verbreitet besonders im West-Indogermanischen, dasjenige nennt, was Mensch zu sein ausmacht: frei sein, nicht „unterworfen“ sein, „frei“ als – weil aus dem „eignen Volk“ stammend – vollberechtigt in dessen Versammlung (Agorá, Malstatt, Thing usw.) und das Volk mitkonstituierend. Das impliziert die Mitsprache in der Volksversammlung, weshalb im Namen für die Glieder der politischen Gemeinwesen der Aspekt der, hamburgisch bzw. graubündisch formuliert, sprake bzw. sprachas nicht eigens genannt zu werden braucht, wie er übrigens auch für die weiter vorn genannten Bezeichnungen polítēs, būr, nochpūr, civis, burgāri usw. nicht erforderlich war. Es ist geläufig, daß die Griechen die Angehörigen aller ihnen bekannten anderen Systeme (Ungriechen), weil Herrschaftssysteme, „Barbaren“ genannt haben, da diese allesamt nicht polī´ tai, nicht Freie waren, nicht in einer Volksversammlung mitberaten und mitentscheiden konnten – was tun zu können doch gerade das Menschsein ausmachte.260 Die Griechen haben nicht daran gezweifelt, daß etwa die Ägypter im biologischen Sinn ánthrōpoi waren, und Herodot, 9, 39, sagte in bezug auf den Sklaven (abschätzig) ánthrōpos (Pape, Bd. I, S. 235). Dementsprechend ist es zu verstehen, wenn es heißt, „gegenüber den Unterworfenen ist *leudheros ‚der Freie‘“, oder wenn ludis „Mensch“ bedeutet: Nur der Freie, der in der Volksversammlung mitsprechen und mitentscheiden kann, der nicht „unterworfen“, nicht Untertan in einem Herrschaftssystem ist, ist wirklich Mensch. Es bleiben zwei Sachverhalte übrig. In der 23. Auflage heißt es, lit. liáudis – wie hier die Schreibweise ist – bedeute „(niederes, gewöhnliches) Volk“. Das steht nicht im Widerspruch zum zuvor Gesagten, gehört aber schon in eine Stufe des Verfalls des politischen Systems. In der 16. Auflage steht: „nach Aufhebung der Volksfreiheit im fränk. … [Reich, nämlich ab dem karolingischen Herrschaftssystem] [sind die liut(i) dann] ‚Untertanen‘“. – Der Weg von liut(i), leudes (usw.) zu „Untertanen“ ist allerdings etwas länger, als es so den Anschein hat. Es gab das Wort „untertan“ im Mittelalter zwar schon, aber Belege aus dieser Zeit, die

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Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 452 [das griechische und teilweise das avest. u. das venetische Wort abweichend vom Text dort jeweils in lateinischer Schreibweise; der Hrsg.]. 260 Das demokratische Mißverständnis des Politischen im „klassischen“ Griechenland lasse ich jetzt beiseite; siehe Kap. B. I.8.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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in Grimm, Wb., Bd. 24 („Unterthan“), zu finden sind, sind von dem, was in den absolutistischen Herrschaftssystemen der Neuzeit „Untertan“ war, noch weit entfernt, allerdings dorthin auf dem Weg. (Ich bringe das Wenige, das es im Mittelalter dazu gibt, erst dort, wo „Untertan“ dann die Bezeichnung für das – nicht selten auch zur Unterwürfigkeit verpflichtete – Subjekt absolutistischer Herrschaft ist.) Umgekehrt: 587 n. Chr., als der Vertrag von Andelot (auf den ich sonst nicht eingehe) zwischen König Guntram (Burgund), König Childebert II. (­Austrasien) und Königin Brunhilde abgeschlossen worden war (Wortlaut bei Gregor von Tours, Buch IX, S. 258–266), hatten die Wörter leudis, liut(i) usw. noch ihren guten Klang.261 In jener Zeit hat König Guntram in einem anderen Zusammenhang, in dem es von der Abstammung her um die Zugehörigkeit eines Knaben ging, gesagt (hier in Gregors Latein): „sed, ut credo, alicuius ex leudibus nostris sit filius“ (Buch VIII, Kap. 9, S. 170, Z. 15), was Buchner, aus jenem Zusammenhang wohl zu Recht, wiedergibt mit: „sondern dies Kind gehört wohl, wie ich meine, einem unserer Großen an“ (171, 18 f.). – In Kluge, 23. Aufl., S. 517, ist aus dem Alt­ englischen ein Fall vermerkt, der dazu paßt: Dort bedeutet lēod(a) „Edler“. 7. Struktur der Örter des Politischen Den Kapiteln von B. I.1. (und dem daran anschließenden Exkurs) ist über den hier interessierenden Gegenstand zu entnehmen: Während die präpolitischen Gemeinwesen, von der Familie bis zur Sippe, ihre Angelegenheiten in der Abgeschlossenheit „der eigenen vier Wände“262 regelten, sind für die politischen Gemeinwesen Angelegenheiten charakteristisch, die oberhalb der Ebenen von Familie und Sippe angesiedelt sind. Die Behandlung solcher übergeordneter Dinge erforderte ein Zusammenkommen der Glieder der nun größer gewordenen Gemeinwesen außerhalb der „vier Wände“, im „Freien“ – wie es in unserer Sprache bezeichnenderweise heißt; die Freiheit kommt mit der Offenheit, der Öffentlichkeit, sie kommt aus der Überwindung der Enge der „vier Wände“, die Zusammenkunft in einem Raum, der allen freien, waffenfähigen Männern „offen“ stand, damit sie dort die im nun größeren Gemeinwesen a l l e angehenden Angelegen­ heiten beraten und absprechen konnten. In den frühen griechischen und in den (relativ) frühen germanischen Gemeinwesen war dieser Ort der Zusammenkunft im Freien konkret ein bestimmter Platz in geeigneter Lage, der dann zur festen Einrichtung des politischen Gemein­ 261

„Das Wort leudes, das in der frühmittelalterlichen Überlieferung recht häufig vorkommt, … bezeichnet im allgemeinen alle freien waffenfähigen Männer eines Volkes oder Stammes“ (Schulze, Hans K., Grundstrukturen, I, S. 48). 262 Die Abgeschlossenheit der Örter der Herrschaftssysteme (zu diesen s. Kap.  B.II.1.f)), der Systeme vom Typus Staat (B.II.2.e)), ferner der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Gesellschaft (B.III.1.g)) hat dagegen einen anderen Charakter, den der Defizienz, des Un­ politischen.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

wesens an dieser Stelle wurde. Die konkrete Ausprägung dürfen wir aber nicht mit der Struktur des Orts verwechseln. Es geht also nicht um den Platz als Platz. Die Struktur des Orts des Politischen ist die Öffentlichkeit jenes Zur-Spracheund Zur-Absprache-Bringens, die Öffentlichkeit im Rahmen des gegebenen Gemeinwesens. Es kommt nicht von ungefähr, daß bei weitem die meisten griechischen und germanischen Namen für den Ort des Politischen (siehe Kapitel B. I.8., Absatz 1) gerade nicht Wörter für „Platz“ oder ähnlich sind (jeweils etwa plus Adjektiv der Besonderung), sondern Bezeichnungen für das, was sich dort vollzog: das Politische und (dabei) die Verwirklichung, die Realpräsentation des politischen Gemeinwesens, indem seine Glieder zusammenkamen, um über die alle angehenden Dinge zu s p r e c h e n . Nur wenige Namen (im Griechischen „Apella“, in germanischen Sprachen „Warf“ sowie das gelegentlich verwendete Adjektiv „gehegt“) nennen einen offenbar zwecks Befriedung gekennzeichneten/abgegrenzten, aber dabei sehr wohl öffentlichen Platz. Wenn nun etwa heute ein Gemeinwesen wieder (im besten Sinn des Wortes) „politisiert“ werden, seine Politizität wiedergewinnen soll, lautet also die Frage nicht etwa: Wie bringe ich alle Glieder des Gemeinwesens auf einem erforderlichenfalls riesengroßen Platz unter?, auf einer Art Cannstatter Wasen, sondern: Wie stelle ich Öffentlichkeit des Zur-Sprache- und Zur-Absprache-Bringens her? Anders ausgedrückt: Wie schaffe ich besser Einsicht für alle in die alle angehenden Angelegenheiten? Darum geht es dann in Teil C. Es ist nun noch eine Besonderheit zu nennen. Im Griechischen ist „Akro-polis“ ein besonderer Ort des politischen Gemeinwesens. Das Wort kommt schon bei Homer mehrfach vor, in der „Ilias“, 6, 257; 6, 317; 7, 345; 22, 172, in der „Odyssee“, 8, 494; 8, 504. In den deutschen Übersetzungen steht dafür „Burg“. Die Übersetzung ist sachlich richtig. „Akropolis“ ist ursprünglich die hoch auf dem Berg gelegene (für Kriegszeiten erbaute, befestigte) Polis, als Zufluchtsort, an dem sich die Glieder des Gemeinwesens mit ihrem Anhang und ihrer beweglichen Habe in Gefahr und Not „bergen“ konnten. Das ist die eine von mehreren Bedeutungen von „Burg“, die – wahrscheinlich – aus „verschiedene[n] Quellen zusammengekommen sind“ (Kluge, 22. Aufl., S. 114 f., so auch 23. Aufl., S. 145 f.). Mehr zu „Burg“ ab dem übernächsten Absatz. Wir wissen (Kapitel B. I.1.a)), daß zumindest die „Ilias“ schon aus dem 8. Jh. v. Chr. stammt und daß das, was dort dichterisch geschildert wird, auf geschichtlichen Erinnerungen beruht, die bis auf um 1 300 v. Chr. (Troia) in die mykenische Epoche zurückreichen (B. I.1.a), Fußnote  21. (Zur spätmykenischen Akropolis Athens siehe Müller-Karpe, IV, 2, S. 722, Nr. 104.) Ergebnisse von Ausgrabungen an mehreren Plätzen Europas haben gezeigt, daß das Phänomen „hochgelegene befestigte Fliehburg“ im ganzen sogar noch viel älter ist. Ich gehe an dieser Stelle aber nicht darauf ein, weil es für das Thema dieses Kapitels nicht entscheidend ist.

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Ahd. burg wird in den etymologischen Wörterbüchern263 mit nhd. „Burg, Stadt“ wiedergegeben. Zunächst zur Herkunft, wobei ich zuerst nicht zwischen den drei Auflagen zu unterscheiden brauche. Außer ahd. gibt es burg auch altniederfränkisch, altfriesisch, altenglisch; altnordisch heißt es borg, gotisch baúrgs. Das germ. Wurzelnomen ist *burg-. Es geht zurück (Schirmer, 16. Aufl.) auf idg. *bhṛgh-  = „befestigte Höhe (als Fluchtburg)“. Hier werden außerdem avestisch *bәrәz- = „Höhe“ und keltisch *brig- = „Hügel“ genannt, bei Seebold (22. Aufl.) dazu altnordisch borg auch „Hügel“ mit „Wohnanlage“. Bei Schirmer ist burg „in Ablaut mit Berg“. Seebold (23. Aufl., S. 145) nennt hierzu „mehrere konkurrierende Möglichkeiten“. Ich gebe sie wieder, ändere aber die Reihenfolge aus Gründen, die unten ersichtlich werden: 2) „Burg“ gehört zu „bergen“, ist also ein Ort, an dem die Glieder des Gemeinwesens sich bei Gefahr bergen. 3) Es gibt „das sehr ähnliche gr. pýrgos m. ‚Turm, Mauerturm‘, auch ‚Burgmauer, Wirtschaftsgebäude …‘, zu dem lat. burgus m. ‚Kastell, Wachturm‘ gehört. Entlehnung aus dem Germanischen kann zwar für das lateinische Wort, kaum für das griechische geltend gemacht werden; wenn gr. Pérgamos ‚Burg von Troja‘ dazugehört, ist sie ganz ausgeschlossen.“ 1) (wie Schirmer): „Burg“ in Ablaut zu „Berg“, Seebold fügt aber hinzu: „Dann war die Ausgangsbedeutung kaum etwas anderes als ‚Höhe‘, was nicht recht zu der Bedeutung ‚Stadt‘ paßt.“ Seebold bringt sich damit selber unnötig in Schwierigkeiten. Die – vermeintlich – Unstimmigkeit rührt letztlich von dem Irrtum her, „Polis“ sei mit „Stadt“, mit „Stadtstaat“ zu übersetzen. Seebold sagt dann zu „Burg“: „Mit diesem Wort werden zunächst befestigte Städte bezeichnet, und zwar  – da die alten Germanen keine Städte hatten – zunächst römische oder sonstige antike Anlagen.“ Es ist deutlich: Die vorgefaßte Meinung geht dahin, „Burg“ sei an die Stadt gebunden, so wie Althistoriker fälschlicherweise die Polis an die Stadt binden wollen (Kapitel B. I.8.). Wenn man die Sache so nimmt, käme dabei heraus: Die Germanen hatten ein germanisches Wort, burg, das in indogermanischem Zusammenhang steht und dabei nicht etwa Lehnwort ist. Weil sie aber das, was das Wort bezeichnete, angeblich nicht hatten, haben sie Fremdes damit benannt. Das wäre schon für sich allein nicht überzeugend; es kommt aber noch hinzu: Es ist keineswegs so, wie man unter diesen Umständen wohl meinen könnte, daß Seebold saltus Teutoburgiensis – ich komme gleich darauf zurück – nicht kennt, er nennt es sehr wohl. Es gibt also schriftliche Belege für die germanische Sache burg, die älter sind als unser ahd. burg aus dem 8. Jh., bei Tacitus, er um 100 n. Chr. (Ann., I, 60), im Fall des 263 Kluge/Götze (Schirmer), 16. Aufl., S. 114; Kluge (Seebold), 22. Aufl., S. 114 f., u. 23. Aufl., S. 145 f.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

saltus Teutoburgiensis, des mit lat. Endung versehenen, vom germ. Ortsnamen Teutoburg (plus Kompositionssuffix -ja)  abgeleiteten Eigenschaftsworts als lat. Fremdwort aus dem Germanischen, das wir nhd. mit „Teutoburger“ (Wald) wiedergeben. Das Wort saltus Teutoburgiensis war den Römern natürlich spätestens seit 9 n. Chr. geläufig, nachdem die Cherusker die Legionen des Varus dort vernichtend besiegt hatten. Die Überlegung muß also folgenden Gang nehmen. Die Germanen, hier zumindest die Cherusker, dazu in ganz anderer Gegend, am Niederrhein, wenigstens ein anderer Stamm mit Asciburgium als Mittelpunkt (heute Asberg, Teil von Moers), hatten selber eine Sache, die sie burg nannten, und zwar in jenem konkreten Fall, über den wir etwas mehr wissen als über den von Asciburgium, die „Teutoburg“, die – wörtlich – „Volksburg“ (Seebold), zumindest als Burg der Cherusker (wenn nicht auch benachbart siedelnder Stämme), und sie ist gerade nicht eine Stadt, sondern war im Wald gelegen, wahrscheinlich auch sie (wie in älterer, prähistorischer Zeit) auf einer geschützten Anhöhe. Das heißt, ursprünglich muß burg etwas anderes bezeichnet haben als „Stadt“, entgegen Seebolds Annahme. Da diese Burg, wie hier sogar ausdrücklich ihr Name besagt, eine Sache des Volkes war, bezeichnet sie einen Ort, eine Einrichtung, an dem bzw. bei der das Volk zusammengekommen ist – falls auf geschützter Anhöhe, dann offenbar im Gefahrenfall, wie bei der Akropolis. Das heißt, „Burg“ ist ein Ort des Politischen, aber bei Gefährdung, und „Burg“ ist ein Wort für etwas den Germanen sehr wohl Eigenes. Von daher gesehen ist es allenfalls sekundär, daß Germanen die in spätrömischer Zeit gegen Barbarenüberfälle befestigten städtischen Zentren der römischen civitates dann ebenfalls als burg bezeichnet haben. Unter diesen Umständen wird verständlich, daß auf Umwegen die Bedeutung von „Burg“ und die von „Stadt“, die von Hause aus gerade nichts miteinander zu tun hatten, sozusagen aufeinander zugelaufen sind. 8. Zusammenfassung der Ergebnisse aus B.I. und Die Bindung der Polis angeblich an die Stadt Der Blick auf die Sache selbst, außerhalb von Theorie, hat erbracht: Zentrum des politischen Gemeinwesens, bei Griechen und Germanen (und bei anderen in den indogermanischen Zusammenhang gehörenden Völkern), das, worin und womit sich das politische Gemeinwesen als das zeigt, was es seinem Wesen gemäß ist, ist die Volksversammlung. Die griechischen und die germanischen Namen dafür – in beiden Fällen kennen wir die Namen sogar auf recht breiter Basis – erweisen das bei beiden gleiche Grundverständnis: Agora/Eiraon/Rhetra/Mathal-/ Ge-mot/Sprake/Sprache/die Ge-rede bzw. (gehegtes) Thing/Ding/Ge-ding oder Apella/Warf. Das Wesentliche des Politischen ist also das Zusammenkommen, das Sich-Versammeln, um die „Dinge“ (res), die Angelegenheiten, die alle angehen, öffentlich zur Sprache und zur Absprache zu bringen, bevor wer in diesen

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Dingen handelt. Das heißt auch, zum politischen Gemeinwesen gehört, konstitutiv, Öffentlichkeit. Zum Wesen des Politischen gehört nicht Gleichheit, wohl aber das Fehlen von Herrschaft. Das Aufkommen von Herrschaft bringt die Verfälschung, die Defizienz des Politischen. Die „Entstehung des Politischen“ reicht zurück bis in den indogermanischen Zusammenhang. Das Politische ist nicht aus städtischem Milieu erwachsen, es stammt, bei Griechen und Germanen, aus bäuerlichen Gemeinwesen. Zu Fehleinschätzungen darüber siehe weiter unten in diesem Kapitel. Für gewöhnlich firmieren unter dem Etikett „Frühe Hochkulturen“ die stadtartigen Agglomerationen Ägyptens und Vorderasiens (und früher Nachahmer rund ums Mittelmeer, bis, zum Beispiel, zu den Etruskern). Für kennzeichnend gelten die  – und die Kunst- und Kulturgeschichtsdokumentationen werden dominiert von den – imposanten Bauten, „Palästen“, Tempeln, riesigen Grab­ monumenten, die mit enorm großem Aufwand an, wie das zu charakterisieren ist, „Menschen­material“ errichtet worden sind, und gelten ferner die umfangreichen Schätze künst­lerischer und kunsthandwerklicher Produktion. Und dann wird meistens noch das Vorhandensein von Schrift (als „Kommunikationsmittel“) als Bedingung für die Zuerkennung des Prädikats „Hochkultur“ genannt. All das wird jedoch sehr relativiert, wenn wir bedenken: Erstens: Eine eindeutig Vorvorstufe von Schrift gab es schon einmal in einer altpaläolithischen Siedlung von Bilzingsleben in Thüringen (siehe „Exkurs …“), ca. 412 000 bis 320 000 Jahre vor heute  – was hier wiederzugeben selbstverständlich keine Inanspruchnahme für Leute mit indogermanischer Sprache bedeutet. Die Zeichen von Bilzingsleben stehen an der Gabelung zu Schrift und zu Zahl und zeugen von schon weit entwickeltem Denken. Also auch Schrift fängt nicht erst in der Stadt an. Zweitens: Viele jungpaläolithische Gemälde in spanischen und französischen Höhlen sind von großer Schönheit, und das gilt schon für die erst 1994 in der Höhle von Chauvet in der Ardèche in Südfrankreich entdeckten bislang ältesten jungpaläolithischen Felsbilder (ca. 32 000 Jahre), und es gilt für Zeichnungen von Gönnersdorf am Rhein (grob um 10 000 v. Chr.; siehe ebenfalls im „Exkurs“), sowohl hinsichtlich der Gesamtheit der Farben als auch für das Bild mit der Tanz-Szene hinsichtlich der Eleganz der Bewegung. Drittens: Die offensichtlich aus menschenverachtender Haltung in den Pharaonen-Regimen und vorderasiatischen Despotien er-frönten Pyramiden und „Paläste“ erweisen sich wegen der Mißachtung der menschlichen Individualität264 als alles andere als hochkulturell.

264 Ich verweise auch auf Ulrich Fischers Charakterisierung der Gemeinwesen der Träger Schnurkeramischer Kultur: „besondere Achtung der Einzelperson“. Und: „Der Persönlichkeit war … mehr Freiheit gelassen“ („Exkurs …“, Kap. B. I.9.c)cc), im Absatz nach Index 357).

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Es geht nicht darum, diese Kulturen „herunterzumachen“, sondern um mehr Nüchternheit der Beurteilung. „Hochkultur“ ist überhaupt weniger an Sachen, Kunstobjekten abzulesen, viel mehr am Verhältnis der Menschen zueinander im Gemeinwesen, am würdevollen menschlichen Zusammenleben, und die Funde von Bilzingsleben, aus den französischen und spanischen Höhlen und von der Station Gönnersdorf belegen, daß Urteile wie die unten notierten265 betr. Hoch­kultur zum einen viel zu kurz greifen, zum anderen Vorurteile und einseitig sind. Die „Verknüpfung von Herrschaft und Hochkultur“ (Wenskus, 1961, S. 344) kommt aus neuzeitlicher Ideologie ebenso wie jene Behauptung, der moderne, neuzeitliche Staat sei die „entwickeltste Form“ der Polis. Das Zur-Sprache- und Zur-Absprache-Bringen der alle angehenden Angelegenheiten vor allen im Gemeinwesen entspricht – anders als Herrschaft – der menschlichen Würde. Griechen und Germanen kannten zwar – wie wir gesehen haben – sehr wohl Unterschiede der sozialen Stellung im Gemeinwesen, und es wäre ursprünglich266 auch wohl keiner von ihnen auf die Idee gekommen, daß „alle gleich“ seien. Daß das nicht der Fall war, war ihnen zweifellos offen sichtlich. (Ich erinnere nur noch einmal daran, wie etwa die Germanen (bei Tacitus) die Unterschiede begründeten: mit dem Alter (aus Ehrfurcht, aber wohl auch wegen der größeren Erfahrung und Weisheit), mit dem Ansehen aufgrund von Rang, mit erwiesener Tapferkeit, mit der Gabe, das, was zur Beratung anstand, gut zur Sprache zu bringen). Das Vermögen/die Möglichkeit zur Mitsprache und Mitbestimmung seitens aller (Freien) in bezug auf die alle angehenden Angelegenheiten erweist diese bäuerlichen Gemeinwesen als kulturell von höherem Rang. Ich komme nachher noch einmal darauf zurück. Das Ergebnis sieht jedenfalls anders aus als das, was wir in althistorischer Literatur zu lesen bekommen. Die Althistoriker geraten in Schwierigkeiten, weil das Ergebnis aus der Realität stammt und nicht aus Theorie. 265

„Ständig sich differenzierende Kultur bedingt also stärker ausgeprägte Herrschaft. Das ist die eine meist übersehene Seite des Verhältnisses zwischen Herrschaft und Kultur. Die andere Seite dieses Verhältnisses, das Entstehen der Werke höherer Kultur unter der Voraussetzung herrschaftlicher Organisation, hat H. Freyer behandelt“ (Wenskus, 1961, S. 342 f., mit Fußn.  478, gibt als Nachweis an: Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, Bd.  I, Wies­baden 1948, S. 206 f. Vgl. auch R. Thurnwald, in: Stud. gen. 3 (1950), S. 598: „Der menschliche Fortschritt hat den Weg über Unterordnung und Herrschaft genommen.“ Hier ist „Fortschritt“ zu wenig hinterfragt). 266 Daß im Anschluß an die Bodenreform, nach Gewinnung des messenischen Heloten­ landes, „mit Stolz  … sich die Spartaner hinfort die ‚Gleichen‘ (hómoioi)“ nannten (Heuß, S.  156), hat jene in unserer Sache sehr charakteristische Vorgeschichte, die ich in Kapitel B. I.1.a) im Text über Fußn. 38 (in den dort folgenden drei Absätzen) beschrieben habe. Das heißt für unser Thema: Die alte Ordnung war auch in Sparta erschüttert gewesen, aber nicht so zerrüttet wie in Athen. Daß sich die Spartaner (Spartiaten) „mit Stolz … hinfort die ‚Gleichen‘ (hómoioi)“ nannten, folgte also auch hier auf eine Systemreparatur nach Systemstörung. Die „Gleichheits“-Idee stammte nicht aus der alten Ordnung.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Ein Althistoriker kann nun entweder die Realität in der in Frage stehenden Hinsicht nicht zur Kenntnis nehmen und bei seinem Vor-Urteil bleiben. Dann hat er es vermeintlich einfach. So etwa Ernst Meyer (Einführung), der behauptet, die „‚Polis‘ der klassischen Zeit“ sei „die charakteristische griechische Lösung dieser Aufgabe“: „eine Staatsform267 zu entwickeln, die ohne von außen oder oben kommenden Zwang ein geordnetes Zusammenleben einer solchen Gemeinschaft freier Staatsbürger267 gewährleistete, und dieses Zusammenleben in eigener freier Verantwortung zu führen“ (S. 66). Die „griechische ‚Polis‘“ wird auch hier – Folge von Voreingenommenheit (die nicht auf Ernst Meyer beschränkt ist, wie wir gleich sehen werden) – für ein Ergebnis der Demokratie gehalten: „Die Rechtsunterschiede waren gefallen, die als zugehörig anerkannten Angehörigen der staatlichen267 Gemeinschaften waren zu im wesentlichen gleichberechtigten Staatsbürgern267 geworden“ (S. 66), worauf Meyer von einer „geschichtlichen Herausbildung der Polis im 6. Jahrhundert“ (S. 77) spricht. Wie immer, wenn in bezug auf Inhalt und Zeit Voreingenommenheit gegeben ist, mißlingt Erkenntnis. Da es nicht anders sein darf, als daß die Polis eine Sache erst der klassischen Zeit ist, besteht – vermeintlich – auch keine Verpflichtung, ernsthaft weiter zurück in ältere Zeiten zu fragen. Wenn Althistoriker es sich aber weniger leicht machen, werden sie bemerken, daß sie in Schwierigkeiten geraten. Wie sie sich dann zu „helfen“ versuchen, zeige ich an Beispielen. Zunächst zu Christian Meier. Weil die politischen Gemeinwesen bis in den indogermanischen Zusammenhang reichen, ist Meiers These von der „Entstehung des Politischen bei den Griechen“ (11980, 31995) so, wie er sie zu begründen versucht, nicht zu halten. Richtig ist, daß wir das Wesen des Politischen zwar zum er­ sten Mal gut sichtbar bei den Griechen a b z u l e s e n vermochten, daß dabei aber das Politische sich als etwas anderes erwiesen hat als das, wofür Meier es hält. Auch für Christian Meier (wie für Ernst Meyer) ist das „Politische“ an die griechische Demokratie gebunden – was nicht zutrifft. Er wundert sich aber, freilich nicht sehr ernsthaft, mehr obenhin, wieso gerade die Griechen auf „Demokratie“ kommen konnten. Nachdem er (in seiner Einführung) die beiden folgenden Fragen gestellt hat: „Wie kam es, daß sich bei den Griechen, anders als bei allen anderen Kulturen vor und neben ihnen, Demokratien entwickelten? Und worin bestand das Politische der Griechen, wodurch war es ausgezeichnet als bestimmt/bestimmendes Lebenselement ihrer Gesellschaft?“268,

267 Auch bei ihm wieder die ganz unhistorischen Begriffe im Zusammenhang mit „Staat“, und wenn dann der „Polisstaat“ (S. 68, S. 77 u. passim) zu einer Spezialform von „Staat“ wird, ist die Verwirrung komplett. 268 Auch „Gesellschaft“ ist in bezug auf die Griechen der von Meier angesprochenen Zeit wieder ganz unhistorisch. Gemeint sein kann nur: ihres Gemeinwesens.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

muß er sagen: „Es ist nicht einfach zu verstehen, daß ein Volk, das nichts von der Möglichkeit einer Demokratie weiß, Demokratien schafft. Das kann nicht gerade nahegelegen haben. Sonst hätten die Griechen doch wohl kaum die Ausnahme von der Regel der Genese von Hochkulturen gebildet. Denn was immer man zu ihren Gunsten vorbringen kann: Es ist nicht auszumachen, daß sie von vornherein ‚begabter‘ als so viele andere Völker gewesen wären.“ (1995, S. 12)

Oder: „Die Griechen hatten keine Griechen vor sich. Sie wußten also nichts von der Möglichkeit einer Demokratie, bevor sie sie selbst verwirklichten. … Wie aber kamen die Griechen dann zur Demokratie?“ (S. 51)

Oder: „wie schwer“ sie, die Griechen, es hatten, so schwer, wie der, „der nichts hat“ und „sich schon ein weniges [hart] erarbeiten muß“, wo doch „das politische Begreifen derart voraussetzungslos“ war (1970, S. 10), bzw. wo doch „das Bewußtsein gar keine Vorgaben aus anderen Zeiten“ hatte (S. 11).

Tatsächlich hatten die Griechen von 1 100 v. Chr. und danach, anders als die nicht aus indogermanischer Tradition kommenden anderen Völker des Mittelmeer-Raums dieser Zeit, gerade die besten Voraussetzungen. Ihr „Anzug“ des Politischen war sogar doppelt genäht; denn sie h a t t e n ja „Griechen vor sich“ gehabt (die von etwa 2 300 v. Chr. bis zum Untergang der mykenischen Kultur) und waren ihrerseits w i e d e r u m mit der Institution Volksversammlung „begabt“. Meier geht bei seinen Erörterungen des Themas „Entstehung des Politischen“ dann auch wieder sofort auf jene inzwischen rund zweieinhalb tausend Jahre alte schiefe „Denkschiene“ Herrschaft: Der „Kern der politischen Ordnung“ ist „die Frage, wer herrscht – Monarch, Adel oder Volk –“ (1995, S. 40), oder, wie Meier an anderer Stelle formuliert, wie „breite Schichten es dazu brachten, maßgeblich … Anteil an der politischen Herrschaft zu erlangen und dauerhaft zu institutiona­ lisieren“ (1995, S. 278). Das geht so durch das ganze Buch: „Teilhabe an der Herrschaft“ ist das Thema. Weil Meier seine Verwunderung für seine Argumentationen braucht, für sein (sozusagen) „Kruzitürken! Wie kommen diese Griechen bloß dazu?“, muß er viele gedankliche „Verrenkungen“ machen.269 Während doch in Wirklichkeit die Frage lauten müßte: „Wer im Mittelmeer-Raum zu jener Zeit denn anders als die Griechen?“ Weil Meier verwundert bleiben will, kann er Möglichkeiten der Erklärung (1995, S. 53 ff.), wieso gerade die Griechen, nicht gebrauchen, und das sogar dann, wenn er selbst sagen muß: 269 Z. B. 1995, S. 52 ff. – Um nicht mißverstanden zu werden: Es gibt bei Meier sehr subtil geführte Analysen, etwa bei der Beschreibung des Fortgangs von der „Isonomie“ zur (relativ gesehen) „Demokratie“ in Athen.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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„Es soll … nicht bestritten werden, daß das Volk, das an der Ägäis zu Anfang des 1. Jahrtausends aus den verschiedenen Stämmen und Gemeinden, aus Eingesessenen und Einwanderern zusammenwuchs, bestimmte Eigentümlichkeiten besaß, die im Endeffekt der Ausbildung von Isonomien günstig waren; Eigentümlichkeiten, die teils aus der alten Heimat der Einwanderer stammten, teils unter den Bedingungen der Wanderung … entstanden waren“ (S. 54).

Er hängt dann gleich an: „Es ist nur schwer, wenn nicht unmöglich, darüber einigermaßen wahrscheinliche Aus­ sagen zu machen“ (S. 54 f.).

Es ist weder schwer, noch gar unmöglich. Ich habe es gezeigt. Meier hätte übrigens sogar von seinem eigenen Text her jene ihn verwundernde Frage beantworten können, wieso ausgerechnet die Griechen „Demokratien entwickelten“. Er beschreibt die Krise der „überkommene[n] Ordnung“ und sagt: „Die spezifisch Notleidenden und Unzufriedenen der Zeit waren die verschuldeten, enteigneten und von Versklavung bedrohten Bauern.“ Und dann kommt es: „Denen ging es um die Wiederherstellung ihrer früheren Rechte“, um „Wiederherstellung guter alter Ordnung“ (S. 280, Fußn. 11). Wenn Meier fragt: „Wie konnte man überhaupt darauf kommen, politische Ansprüche breiterer Schichten zu bedenken, zu begründen, zu betreiben?“, lautet die Antwort also: Indem man sich eigener älterer Einrichtungen erinnerte, die in der Sache etwas hergaben; und die griechischen Bauern haben sich ganz offensichtlich erinnert. Daß es die Bauern waren und nicht sonst wer, liegt daran, daß die „gute alte Ordnung“, das echt Politische, eben aus dem bäuerlichen Gemeinwesen stammte und nicht aus der Stadt. Es trifft also nicht zu, daß die Griechen von der Möglichkeit einer nennenswerten Mitsprache nichts wußten, „bevor sie sie selbst verwirklichten“ (S. 91). Ganz im Gegenteil. Gerade sie wußten es und n u r noch sie (im östlichen MittelmeerRaum). Meier formuliert dann zwar: Es gab da „die Bewahrung ursprünglicher Formen ‚primitiver Demokratie‘, etwa der Gemeindeversammlungen, … Erinnerungen an eine ursprüngliche Gleichheit“ (S. 53 f.); bloß sind die von Meier verwendeten Begriffe inadäquat. Die überkommene, die alte Ordnung war nicht „primitiv“, und sie war nicht „-kratie“, also auch nicht „Demokratie“, und sie beruhte nicht auf Gleichheit. So wie Meier (S.  54 u. S.  12) die Begriffe „primitiv“ und „Hochkultur“ verwendet, verfälschen sie in der hier anstehenden Sache das Bild. (Das kennen wir schon, ich komme aber noch einmal darauf zurück.) Umgekehrt kann man allenfalls so formulieren: Die mittelmeerischen „Hochkulturen“ waren, weil Despotien (verschiedener Sorten), ihrerseits primitiv, und die Griechen nannten sie bekanntlich auch „barbarisch“, allesamt, mit gutem Grund. In den griechischen Systemen alter Ordnung war Gleichheit nicht wesentlich. Die Ungleichheiten hatten, solange sie nicht zu Beherrschung führten, nicht nur nicht gestört, sie waren von Elementarbedeutung für den Erfolg des Systems. Fehlen von Herrschaft war das, worauf es ankam.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Wenn man das jetzt Folgende liest, wird man es schwerlich für möglich halten, daß der, der es geschrieben hat, derselbe Christian Meier ist, der uns einreden will, „Kern der politischen Ordnung“ sei „die Frage, wer herrscht“; und dabei ist es nicht etwa so, daß das, was ich nun zitiere, eine jüngere Erkenntnis Christian Meiers wäre. Das, was er da sagt, hat er schon gewußt, bevor er meinte, den „Kern der politischen Ordnung“ an die Herrschaftsfrage knüpfen zu müssen. In „Ent­ stehung des Begriffs Demokratie“, im Unterkapitel „Die Bildung eines ersten, ‚nomistischen‘ Verfassungsbegriffs“ (1970, S. 15) heißt es: „Die ersten Termini, mit denen die Griechen den Zustand, die Ordnung von Poleis bezeichneten, waren n i c h t [Hervorhebung von mir] von der Frage nach Herrschaft oder Obmacht, sondern von der nach dem Nomos, nach Ordnung, Brauch, Herkommen, Recht (das alles steckt ungeschieden darin) bestimmt. Ganz allgemein war Nomos damals das in einem Gemeinwesen Geltende, die objektive, selbstverständlich vorgegebene Norm.“

Wenig später (S.  34 ff.) in derselben Publikation behandelt Meier den „Übergang von der nomistischen [also noch nicht durch Herrschaft bestimmten] zur kratistischen [der von Herrschaft geprägten] Basis von Verfassung“ (S. 35 f.), den Übergang zu der Situation, in der „es konstitutionell sehr viel ausmachte, wer ‚herrschte‘“ (S. 34), den Übergang zur Demokratie. Die für unsere Sache entscheidenden Sätze sind: „Von der auf den Demos gegründeten Ordnung her mußten dann natürlich auch die früheren Verfassungen rückwirkend zu Oligarchien erklärt werden. Damit waren aber Dinge in ein polares Verhältnis gesetzt, die sich nie darin befunden hatten. Es wurde nachträglich ein Gesichtspunkt zum maßgebenden gemacht, der dies zunächst nicht gewesen war, …, die eigene Frage zur allgemeinen gemacht, die Gegenwart in die Vergangenheit projiziert. Man sollte sich deswegen hüten, den seit der Entstehung von Demokratien so beherrschend gewordenen Gesichtspunkt der alles bestimmenden Herrschaft eines Teils [eines Teils der Glieder des Gemeinwesens über den anderen Teil] auf die archaische Zeit anzuwenden, in der es zwar Herrschende gab, in der aber die Ordnung der Polis erst sehr bedingt (…) von der Verteilung der Herrschaft abhing und von daher verstanden werden konnte.“ (S. 34 f.)

Nur an der Stelle ist Meier inkonsequent auf seinem sonst richtigen Gedankengang, wo er sagt, daß es in „archaische[r] Zeit“ „Herrschende gab“. Das liegt natürlich daran, daß er in bezug auf jene „archaische Zeit“ immer noch zu kurz greift. Auch in Meiers Sinn konsequent gedacht ist es, und die Schwierigkeiten (auch Meiers Schwierigkeiten damit, wieso die Griechen dazu kamen, in der Situation, in der sie damals waren, Demokratie zu entwickeln) lösen sich von selbst auf, wenn wir sagen: Zur „Ordnung von Poleis“ (S. 15), zum Charakter politischer Gemeinwesen gehört gerade n i c h t Herrschaft, das Wesen des Politischen ist – wie wir gesehen haben –, die alle angehenden Angelegenheiten öffentlich zur Sprache und Absprache zu bringen und daß es unter den Gliedern des Gemeinwesens solche gibt, die darüber mehr zu sagen (nicht zu befehlen) wissen, damit dann alle die alle angehenden Dinge besser durchschauen, wenn sie entscheiden. (Ich bin hier außerhalb, v o r jeder „modernen“ Anarchie-Debatte.)

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Erst als, in schon jüngerer archaischer Zeit, die (unabdingbar benötigten) Ungleichheiten sich zu Herrschaft veränderten, sogar zu Ausbeutung, Unterdrückung und Willkür – und das machte ja die „Krise der alten Ordnung“ in Griechenland aus –, formierten sich schließlich Widerstände, mit der Forderung nunmehr nach Teilhabe an der Herrschaft und nach Gleichheit. Bei Heuß und Meier ist das im einzelnen beschrieben. Darauf kommt es hier nicht an. Forderungen nach Isonomie, Demokratie und Gleichheit sind charakteristisch für Reparaturbemühungen an den zerrütteten politischen Systemen. Es ist dann ja auch tatsächlich reformiert worden, und die Reformen des Solon (ab 594 v. Chr.) und des Kleisthenes (ab 509 v. Chr.) brachten Teilhabe an der Herrschaft, „Isonomie“, Schritte in Richtung auf Demokratie, die Perikles (457/456 v. Chr.) durch Erweiterung des passiven Wahlrechts auf die Zeugiten (scheinbar) vollendete (Thukydides: „dem Namen nach Demokratie, in Wahrheit Monarchie des ersten Mannes“, des Perikles, von 443–429 v. Chr.). Auch das ist z. B. bei Heuß, Meier und Kirsten mit Einzelheiten beschrieben,270 und auch dies brauchen wir für unsere Zwecke nicht. Jedenfalls waren die Bemühungen zur Überwindung der Krise nicht mehr tatsächlich an der Grundidee des Politischen orientiert, sondern an Herrschaft. Auch Victor Ehrenberg definiert die Polis von der griechischen Demokratie her: „Wir dürfen sagen, daß die Demokratie … die Vollendung der Polis war“ (in „Wann entstand die Polis?“, S. 22), bzw. sogar teleologisch271: „Demokratie als die endgültige und vorbestimmte Form des griechischen Staates“272 (S. 22). Die Polis von der Demokratie als der – vermeintlich – „Vollendung der Polis“ her definieren zu wollen, kann natürlich nicht gelingen. Ehrenberg ist da ebenso auf einem falschen Weg wie Heller mit seinem Versuch (siehe Kapitel A.II.), die Polis von ihrer  – vorgeblich  – „entwickeltsten Form“, dem Staat, her zu bestimmen. Anders ausgedrückt: Das Pferd von hinten aufzuzäumen, muß Durcheinander verur­ sachen. Das kommt dann auch bei Ehrenberg tatsächlich: Wenn Ehrenberg trotz seiner Behauptung, daß die Demokratie die „Vollendung der Polis“ sei, die Frage stellt: „Wann entstand die Polis?“, muß logischerweise das, was vor der Vollendung liegt, noch nicht so vollendete Vorstufe(n) gewesen sein. Wie dann die These von der Demokratie als „Vollendung der Polis“ mit der verblüffenden Feststellung am Ende jenes Aufsatzes – „daß [noch] frühere Zeiten vielleicht die Polis in einer reineren und einfacheren Form gekannt haben“ 270

Bleicken (1995, S. 337–364 u. Ges. Schr., Bd. I, S. 13–40) legt den Beginn der athenischen Demokratie (nicht der Polis) in die Perserkriege, in den Zug einer Aktivierung der Reformen des Kleisthenes als „Produkt des Kampfeserlebnisses  …, an dem alle Bürger teil­ hatten“, und meint, „daß alle Spekulationen über eine stufenweise [erfolgte] Entwicklung der Demokratie späte Konstruktionen sind“ (S. 363 f. u. S. 39 f., Zitat ebenda). Zur Beschreibung durch Thukydides s. Kap. B. I.1.a), Fußn. 53. 271 Andere Formulierungen lassen sogar eine Art biologistischen Verständnisses erkennen, so diese: „Aber Vollendung birgt den Keim des Verfalls in sich“ (S. 22). 272 Auch Ehrenberg läßt (allenthalben) die Polis einen „Staat“ sein.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

(S. 22 f.) – vereinbar sein soll, ist unerfindlich. Beim ersten Lesen hatte ich in bezug auf „reineren“ daran gedacht, die Übersetzung ins Deutsche sei vielleicht ungenau – im Original ist der Aufsatz nämlich englisch: „When did the Polis rise?“ –, dagegen nicht in bezug auf „einfacheren“; das hätte ja auf jener Linie einer Einschätzung als „primitiv“ liegen können, die wir schon kennen. Aber im Original (S. 96) steht eindeutig „purer“. Und damit auch darüber kein Mißverständnis aufkommt: Ehrenberg meint mit „Vollendung“ ganz sicher nicht bloß ein zeitlich AnsEnde-Gelangen; im Original steht „perfection“ (S. 95). Ebenso auf einen Widerspruch mit sich selbst läuft es bei Ehrenberg hinsichtlich der Bindung der Polis an städtische Ansiedlung hinaus. In „Von den Grundformen griechischer Staatsordnung“ ist Polis „der besondere griechische Staatstypus, soweit er an ein städtisches Zentrum gebunden war“ (S. 108). Jetzt einmal abgesehen vom hier unhistorischen Begriff Staat, die definitorische Bindung der Polis an die Stadt ist, wie wir wissen, nicht in der Sache begründet, sondern Behauptung. Genausowenig ist „das Wort Polis“ in der Sache „den Weg seines Bedeutungswandels: Burg – Stadt – Stadtstaat – Staat schlechthin gegangen“ (S. 108 f.), sondern in einer unsauberen Terminologie. Diese unsaubere Terminologie stammt selbstverständlich nicht aus schlechtem Willen, sondern aus zu kurzem Griff, d. h. hier aus dem Umstand, daß ein viel jüngeres Stadium der Entwicklung für das Wesen der Sache genommen wird. Und weil das so ist, bekommt man dann auch in großen allgemeinen Lexika (hier, als ein Beispiel, „Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden“, Mannheim 1981) folgendes geboten: „Polis … Bez. für den griech. Stadtstaat, nach myken. Zeugnissen Bez. für die Burg und die damit verbundene Siedlung. In archaischer Zeit wurde P. zum Terminus für das Siedlung und umliegendes Territorium umfassende Gemeinwesen. …“; und etwas weiter unten ist dann einfach von den griechischen „Staaten (z. B. Athen)“ die Rede.273 Da haben wir so ziemlich alles an Begriffen beieinander, die Ehrenberg in dem zuletzt zitierten Satz genannt hat: Burg, Stadtstaat, Staat. Es wird nicht bedacht, daß die mykenische mächtige Burg am E n d e einer über tausend Jahre währenden ersten griechischen Entwicklung steht, daß das, was die Althistoriker „archaische“ Zeit der Griechen nennen, ein jüngerer (auf die „dunklen Jahrhunderte“ folgender) Zeit­ abschnitt einer sogar erst zweiten griechischen Entwicklung ist, viel jünger wiederum als die mykenische Epoche.274 Soweit ich erkennen kann, hat keiner der Althistoriker danach gefragt, was das griechische Wort Polis denn von Hause aus bedeute. Im „Pape“, II, S. 656, erfahren wir – wenn wir das, was auch dort aus jüngerer Voreingenommenheit stammt, weglassen: Das Wort kommt „von pólos, poléō, eigtl. wo man sich aufhält“ (vgl. mit S. 655 und S. 658), freilich, wo man sich zusammen mit anderen aufhält. 273

Ähnlich auch „Brockhaus. Die Enzyklopädie“ in 24 Bdn., 20. Aufl. (1998). Zur Institution „Burg“, die wie die griech. Akropolis in den Bereich des politischen Gemeinwesens gehört (hochgelegene Befestigung für den Gefahrenfall, prähistorischen Ursprungs) und von Hause aus nichts mit „Stadt“ und „Stadtstaat“ zu tun hat, siehe B. I.7. 274

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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„Polis“ ist also Gemeinwesen in einem räumlichen, nicht territorialen Sinn, was nicht Stadt bedeutet, sondern Land. Ich erinnere an das andere Wort der Dorer für „politisches Gemeinwesen“ (das andere außer „polis“), nämlich „dāmos“ als „Land des Gemeinwesens“ (siehe Kapitel B. I.1.a), über Fußn. 36 und 37; zum entsprechenden Wort auf Tontäfelchen mit Linear B siehe Kapitel B. I.1.a), am Ende von Fußn. 20). Im Wort poléō scheint eine Doppelbedeutung mit innerem Zusammenhang enthalten zu sein: „sich  … aufhalten“ (Pape, II, S.  655, zu poléō) als „sich  … [dort] herumbewegen“ (S. 655, zum verwandten poleúō; ähnlich zu poléō), d. h. dort zusammen mit anderen leben, dies aber in spezifischer Weise, nämlich „umpflügen“ (S.  655, zu poléō), den Boden umwenden. Die Glieder der Polis, des Gemein­wesens, waren offenbar seßhaft („wo man sich aufhält“), und sie waren Ackerbauern. Damit wieder zurück zu Ehrenberg (Von den Grundformen). Weil er die ­Polis an die Stadt binden will, jedoch sagen muß: „Ohne Zweifel haben die [griechischen] Stämme, die in der Seßhaftigkeit eine Organisation ohne städtisches Zentrum, aber meist um ein zentrales Heiligtum bildeten, eine große Rolle gespielt“ (S. 109), kann er diese Stämme keine politischen Gemeinwesen sein lassen, degradiert er sie mittels des Etiketts „Ethnos“ (S. 109). Da haben wir dann wieder die Primitiven. „Diese Stamm- oder Gaustaaten (oder ihre Unterstämme) erwuchsen aus den Zuständen der Wanderungszeit. Sie blieben erhalten, wo das Mykenertum mit seinen Burgen und städtischen Siedlungen keinen oder nur geringen Einfluß gewann. Diese Ethne haben neben den Poleis bestanden und sind wichtig, weil sie zum Teil die alte Stammesmonarchie sowie andere Elemente der Stammverfassung bewahrt hatten“ (S. 109).

Das einzige, womit Ehrenberg konkret wird hinsichtlich der Verfassung dieser Gemeinwesen, ist die – angeblich – „Monarchie“ bei diesen Stämmen. Wir wissen (Fußn. 34 in Kapitel B. I.1.a)), daß es sich bei derjenigen Institution, der unsere Übersetzer die deutsche Bezeichnung König gegeben haben, gerade nicht um einen Mon-archen handelte. Das aber, was an der Verfassung dieser Stämme wichtig sein könnte, geht unter, angesichts der konkret nichts sagenden Subsumption unter „sowie andere Elemente“. Der Aufsatz „Von den Grundformen griechischer Staatsordnung“ ist zuerst 1961 erschienen. Daß uns dort die Bindung der Polis an ein städtisches Zentrum immer noch glaubhaft gemacht werden soll, ist schwer verständlich, hat der Autor doch schon Jahre vorher (in auch hier korrekter deutscher Übersetzung zwar erst 1969 erschienen, im englischen Original „When did the Polis rise?“ aber bereits 1937) in dieser so zentralen Sache zutreffend geschrieben – es ging konkret um die nichtstädtischen Gemeinwesen Elis und in Arkadien –, daß „wir heute wissen, daß eine Polis sich n i c h t [Hervorhebung von mir] durch Synoikismos [Engbeieinanderleben] und Stadtmauer konstituiert, sondern durch ihre politische Gestaltung“ (S. 12, mit Fußn. 20). Doch dieses Wissen blieb bei Ehrenberg offensicht-

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

lich unverbindlich. Wir können auch sagen: Wider besseres Wissen hielt sich das geliebte Vorurteil.275 In Sachen Willkür zum Schluß noch ein anderes prominentes Beispiel, Hans Schaefer in seiner umfangreichen Besprechung (1960, wieder abgedruckt in: Schaefer, 1963, hier S. 387) der 2. Auflage (1957/58) von Ehrenbergs „Der Staat der Griechen I. II“. In einem Rahmen, der für uns im übrigen nicht weiter wichtig ist, geht es zum einen um die „Poleis im streng terminologischen Sinn“, d. h., wie wir gleich sehen werden, im mit Vorurteil streng g e w i l l k ü r t e n Sinn, zum andern um die „Stämme, bei denen alte Ordnungen noch lange ein zähes Leben geführt haben, wie die Makedonen, die Molosser und in Thessalien“. Von diesen heißt es dann: „niemand wird sie als póleis bezeichnen, höchstens typologisch als éthne, obwohl der griechische Sprachgebrauch schwankt und gelegentlich für Stämme, nach üblicher Klassifizierung [von Althistoriker-Seite, nicht von seiten der Griechen] in die Reihe der éthne einzuordnen, der Ausdruck pólis inschriftlich bezeugt ist“ (es folgen Nachweise). Das heißt, die Griechen geben es uns schriftlich, aber Althistoriker wollen uns weismachen: Was die Griechen selber sagen, ist falsch; denn wir haben es ja mit Aristoteles276 anders d e f i n i e r t . Da kann man nur staunen. (Nebenbei: Solche Sachen kommen zustande, wenn es sozusagen scholastisch zugeht.) Auch Wilamowitz-Moellendorff bedenkt zwar in „Staat und Gesellschaft der Griechen“ die altgriechischen Gemeinwesen anhand der neuzeitlichen Begriffe „Staat“ und „Gesellschaft“ – was gegen seine eigene Forderung verstößt, das, was man darstellen wolle, nicht von seinem Ende her zu definieren. Das habe Aristoteles getan, als er das politische Gemeinwesen (W.-M. sagt „Staat“) mit der Stadt gleichsetzte (S. 42). Tatsächlich sei aber das griechische Gemeinwesen der Stamm (und W.-M. belegt das anhand von Homer). „Unbegreiflich nur, daß es [= das Mißverständnis] von Leuten nachgesprochen wird, die nachgerade wissen müßten, daß Sparta und Athen nur so lange … [bei anderen] etwas bedeutet haben, als ihre Verfassung von einer Stadt auch nicht das mindeste an sich hatte … . Und die Bauernkantone um den Parnaß, die Eleer, Epiroten und Makedonen sind doch auch Griechen …: bei ihnen ist es so unmöglich, von einem Stadtstaat zu reden, wie bei den Kelten und Germanen“ (S. 42).

275 Gawantka ist mit „Die sogenannte Polis“ außerhalb dieses Streites. Er zeigt, wie in der Neuzeit die modernen althistorischen Grundbegriffe „der griechische Staat“, „die griechische Staatsidee“ und „die Polis“ entstanden sind, wer sich was darunter vorgestellt, es wie definiert hat, und er untersucht das kritisch. Das brauchen wir nicht im Detail; der Verweis genügt. Aber einen der drei Aspekte, unter denen Wilamowitz-Moellendorff für uns relevant ist (nämlich, daß die Bindung der griechischen Gemeinwesen an die Stadt falsch sei), fand ich zuerst bei Gawantka. 276 Aristoteles zählt hier natürlich nicht, denn er beginnt ja mit dem Fehler, in seiner Theorie die Polis an die Stadt zu binden, worauf das Gemeinwesen der Makedonen, das er kannte, keine Polis sein durfte.

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Wilamowitz-Moellendorff hat bereits über den gräzistischen „Tellerrand“ geschaut und die Gemeinsamkeiten, die die griechischen Gemeinwesen mit anderen (westindogermanischen) Stämmen und Völkerschaften hatten, bemerkt (so S. 28, S. 41 und S. 58), ebenso die von Hause aus bäuerliche Wirtschaftsweise, zunächst vorwiegend Viehzucht, dann, je weiter sie nach Süden innerhalb der Balkan­halbinsel vordrangen, um so mehr Ackerbau (S. 60), außerdem, daß monarchisches Königtum gerade nicht charakteristisch war (S. 53): „Dies Phantom muß zerstört werden.“ In vielem ist Wilamowitz-Moellendorff 1910 schon weiter gewesen als prominente jüngere Althistoriker. Das Wesen des Politischen war ihm aber noch nicht offen, weil ihm der Zugang zum alten Wortmaterial fehlte. – Jetzt zurück zum Thema Herrschaft, und zwar zur antiken griechischen gelehrten Diskussion über die Herrschaftsformen. Aus der Natur der Sache jünger als die Reformen in Richtung auf Teilhabe an der Herrschaft, auf Isonomie, auf Demokratie sind Äußerungen darüber, daß es v e r s c h i e d e n e Herrschaftsformen277 gebe, dann Überlegungen, in denen Herrschaftsformen miteinander verglichen wurden, dies schließlich auch im Hinblick auf ein möglicherweise „be­ stes“ Herrschaftssystem. An zwei Stellen habe ich etwas darüber gefunden, in welcher Zeit (1. Drittel 5. Jh. v. Chr.) und, soweit überliefert, bei wem die Diskussion begonnen hat.

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In Übersetzungen und in der Fachliteratur steht statt dessen oft „Staatsformen“. Dieser Begriff ist in bezug auf das antike Griechenland sowieso unhistorisch und inadäquat. Wenn ich dagegen „Herrschaftsformen“ sage, habe ich mich an „-kratie“ und „-archie“ orientiert, und darum geht es ja. „-kratia“ u. „-archia“ sind allerdings keineswegs ursprünglich in gleicher Weise als „Herrschaft“ verstanden worden. Sie b e i d e so aufzufassen, setzt bereits die Defizienz des politischen Gemeinwesens, eben das Aufkommen von Herrschaft voraus. Von Hause aus heißt árchō „der Erste sein als Anführer“ (Pape, Bd. I, S. 367); arch-āgétēs verstärkt die Bedeutung noch: ágō ist nämlich seinerseits „führen, leiten“, bes. i. S. v. „anführen, vom Feldherrn“ (Bd. I, S. 27); dementsprechend ist bei den Lakedaimoniern der arch-āgétēs, der später als „König“ aufgefaßt worden ist, ursprünglich der Anführer, der Feldherr (Bd. I, S. 364). – „-kratia“ geht zurück auf kratéō „Kraft haben, stark, gewaltig sein“; „in seiner Gewalt haben, in seine Gewalt bekommen“; „oft bei Pind. = in den Kampfspielen den Sieg davontragen“ (I, S. 1502); kratéō ist von krátos „Stärke, Kraft, bes. Leibesstärke“; „Obergewalt, Oberhand, Sieg“ (S. 1503). Bei Homer (Il., 13, 275 u. 15, 298) haben wir krat- im übertragenen Sinn von „gebieten“: Elis, das Gebiet der Epeier. – Das Aufkommen von Herrschaft in den griechischen Systemen als Defizienz der echt politischen Systeme brachte jene von Hause aus gegebene Unterscheidung zwischen -archie und -kratie an ihr Ende: Beide konnten nun als „Herrschaft“ verstanden werden (viele Beispiele im Pape). – Auch Chr. Meier hat in „Entstehung des Begriffs Demokratie“ (21970, S. 44–49) das Verhältnis von archein u. kratein erörtert, bekommt es aber nicht in den Griff. Er versucht es nämlich unter der falschen Voraussetzung, das Politische sei eine Frucht der attischen Demokratie, während das längst davor bestehende politische Gemeinwesen ja gerade in den Jahrhunderten davor nach und nach verfallen war und mit den Systemreparaturbemühungen von Solon, Kleisthenes u. Perikles ein echt politisches System nicht mehr wiedergewonnen wurde.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Meier (1995, S. 235) erwähnt, in einem um 468 v. Chr. entstandenen Pindar-Gedicht278 sei „erstmals davon die Rede, daß es drei verschiedene Verfassungen279 … [gebe]: Tyrannis, wenn das ungestüme Volk und wenn die Weisen der Stadt walten“.

Bringmann (1976) zeigt, daß die Debatte, die Herodot (3, 80–82) die Perser­ Otanes, Megabyzos und Dareios über Demokratie, Aristokratie und Monarchie

und über den Vergleich dieser miteinander führen läßt, keine persische Debatte von um 522 v. Chr. gewesen sein kann und kaum vor der Mitte des 5. Jahrhunderts (S. 268 f.) hätte geführt werden können, außerdem, was an (griechischen) histo­ rischen Vorgängen und (primär griechischer) Ideologie den Hintergrund bildet. Die Argumentation ist überzeugend. Wir wissen schon, daß die mehr systematischen, philosophischen Überlegungen zum Thema mit Sokrates/Platon einsetzten und, ebenso wie dort, auch bei Aristoteles eine die politik-philosophischen Schriften weitgehend bestimmende Rolle spielten. Wenn aber die Frage nach der Herrschaftsform so sehr nach vorn rücken konnte, mußte zwangsläufig das Verständnis für das Grund-Thema des Politischen verlorengegangen sein, und deshalb verstand Platon auch nicht mehr, was die Agora ihrem Wesen gemäß war; er postulierte sie als aus dem Kauf und Verkauf von Waren entstanden, als Platz, auf dem sichtbar ist, wer was anzubieten hat (Politeia, II, 371b), wir können auch sagen: als Handelsmarkt. Das setzt voraus, daß sich ein solcher Markt auf dem Platz inzwischen eingenistet und etabliert hatte und dann in den Vordergrund geraten war. Daß das tatsächlich so gewesen ist, hat übrigens Aristoteles sehr gestört, weshalb er (Pol., VII, Ende 1331a/Anfang 1331b) vorschlug, vom öffentlichen Platz (mit Heiligtümern und anderen Gemeinwesen-Gebäuden) den Warenmarkt räumlich zu trennen. Wichtiger als sein Vorschlag in dieser Sache ist jedoch eine Bemerkung aus Anlaß einer der vielen Erörterungen über die Herrschaftsformen. Aristoteles (Pol., III, am Ende von 1279a) nennt als ein System, in dem das Volk das Gemeinwesen zum gemeinen Besten regiere, die Politeia. Aristoteles zählt sie folglich bei den „guten“ Systemen mit auf, wie die Monarchie (der die Tyrannis als Entartung 278 Pindar, Pyth., 2, 86 ff. (Meier, 31995, S.  281 f., Fußn.  13, ähnlich schon 1970, S.  42). Bleicken (1979), S. 150 f., textgleich mit Ges. Schr., Bd. I, S. 70 f., bestreitet mit Gründen, daß es Pindar dabei schon um eine Typologie gegangen sei. 279 Auch „Verfassung“ ist etwas anderes als das, was in Frage steht (siehe die vorletzte­ Fußnote). –

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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gegenübersteht) und die Aristokratie (mit Oligarchie als Entartung). Als Entartung der Politeia gilt ihm dann, folgerichtig (u n d aus seiner Erfahrung), die Demokratie (Anfang von 1279b). Olof Gigon (S. 34) sagt in seiner Einleitung zu der von ihm 1955 neu übersetzten „Politik“ des Aristoteles: Nachdem Aristoteles die Herrschaftsformen (erneut) besprochen hat, „bleibt zunächst noch die ‚Politie‘, eine schon ihrem Namen nach eigentümliche Sonderform. Sie muß ihren Ursprung in bestimmten politischen Programmthesen haben, die uns nicht mehr faßbar sind“. Bei Gigon sind also Monarchie, Aristokratie, Demokratie und Oligarchie die „normalen“ Systeme, die Politie eine etwas „eigentümliche“, i. S. v. merkwürdige „Sonderform“ (welche Perversion!), mit der man nicht recht etwas anzufangen weiß. Angesichts der Ergebnisse aus den Kapiteln von B.I. ist der Sachverhalt natürlich offenkundig: „Politeia“ könnte nur für das echt politische System stehen, „Demokratie“ für das nicht ausreichende Resultat der Systemreparaturbemühungen nach dem Verfall des politischen Systems, nach seiner Entartung zum Herrschaftssystem. N i c h t ausreichendes Resultat bei aller zweifelsfrei erreichten Verbesserung im Vergleich mit dem Zustand davor ist Demokratie insofern, als sie ihrerseits ebenfalls noch Herrschaftssystem ist, so v e r s t a n d e n und so g e n a n n t worden ist. „Demos“ bzw. „Damos“ war – das kennen wir schon – neben „Polis“ der andere Name für das politische System als „Land“ aufgefaßt (nicht als „Territorium“) i. S. v. Personenverband, als Gesamtheit der waffenfähigen Männer des Gemeinwesens. (Wie die Demokratie zum Namensbestandteil -kratie und nicht -archie gekommen sei, erörtert Chr. Meier, Entstehung des Begriffs Demokratie (21970), S. 45 (unten) f., aber mittels Vermutungen.) Was Aristoteles selber im Rahmen seines Vergleichs der Herrschaftsformen über die Politeia sagt (diese auf deutsch meist mit dem Lehnwort Politie wiedergegeben), ist bei ihm unklar. Einerseits ist „Politeia“ der Name für das System, in dem die Menge der Glieder des Gemeinwesens zum gemeinen Besten regiert (siehe oben), andererseits aber auch die für alle Herrschaftsformen gemeinschaftliche Bezeichnung (siehe das Ende von Pol., III, 1279a). Das geht so natürlich nicht. Guten Sinn ergäbe das nur, wenn man etwa so formulierte: Die anderen Systeme hätten zwar eigentlich ebenfalls echt politische Systeme zu sein, seien jedoch, weil Herrschaftssysteme, tatsächlich nur noch defiziente Modi. Das konnte Aristoteles trotz seiner (anders begründeten) Unterscheidung zwischen  – wie er meint – guten Formen und Ausartungen nicht sehen, weil er nichts mehr davon wußte, daß die in den später Griechenland genannten Raum eingewanderten (proto-)griechischen Stämme echt politische Gemeinwesen mitgebracht hatten und also das Wesentliche dieser Systeme den Maßstab dafür gab und gibt, an dem die Herrschaftsformen zu messen waren und sind. Daß er davon nicht mehr wußte, wird aus einer Forderung deutlich, die er im Zusammenhang mit jenem Vorschlag stellt, man solle öffentlichen Platz (Agora) und Warenmarkt räumlich voneinander trennen. Er sagt, wenn man diese Trennung vorgenommen habe, solle „kein Handwerker, kein Bauer und auch sonst keiner aus einer ähnlich untergeordneten

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Stellung“ den öffentlichen Platz (die „Agora“) betreten dürfen, es sei denn, er sei von den Archonten dorthin zitiert worden (Pol., VII, 1331a; Ü. d. V.). In einer Zeit, in der einer d a s sagt, also den ursächlich gegebenen Zusammenhang zwischen Agora und (indogermanisch-)bäuerlichem Gemeinwesen nicht mehr kennt – bei aller lobenswerten Absicht, das Handelsgetriebe von der Agora wegzubringen (Aristoteles) –, oder in der die Agora als aus einem Handelsmarkt hervorgegangen erklärt wird (Platon), konnte ganz unmöglich das Zur-SpracheBringen der alle angehenden Angelegenheiten – damit man diese durchschaue – als das Eigentümliche des politischen Gemeinwesens den gehörigen Stellenwert haben (was etwas anderes ist als In-Mode-Sein). Das war aber nicht einfach die „Schuld“ Platons, es lag an einem Sachverhalt, an der Defizienz der Rhetorik (Kapitel B. I.2.). Jetzt noch der zweite Aspekt dessen, mit dem sich das politische Gemein­wesen zu erkennen gibt, der zweite Aspekt der Volksversammlung. Zu Anfang des nachfolgenden „Exkurses zu den Kapiteln von B. I.“ wird aus dort gegebenem Anlaß – Frage: Ab wann geht es nicht mehr ohne Sprache? – eine anthropologische Aussage zitiert: „daß erst die zu planenden, nicht angesichtigen … Bezüge … der Worte bedürfen“ (Fiedler, 1994, S. 123), und ich habe dort ohne Erläuterung hinzugefügt, daß wir in bezug auf das Nichtangesichtige das von Fiedler genannte Zukünftige um das Vergangene würden ergänzen müssen. Darum geht es hier. In den Kapiteln B.I.1.a)  (Griechen) und B.I.1.b)  (Germanen) sowie B.I.1.d) (Hethiter) war an mehreren Stellen von den Volksversammlungen als (auch) Gerichtsversammlungen die Rede. Ich habe das dort noch nicht besonders betont,280 weil ich erst an dieser Stelle besser auf das allgemein an diesem Thema Interessierende eingehen kann. Wenn in einem Gemeinwesen die alle angehenden Angelegenheiten coram­ publico zur Sprache und Absprache gebracht werden, ergibt es sich von selbst, daß nicht nur das, was in der Zukunft geschehen soll, die sozusagen Planung, zur Sprache kommt, beurteilt280 wird, sondern auch das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Das aber ist bereits die Wurzel der Volksversammlung als Gerichtsversammlung, als einer Versammlung, die darüber berät und be-findet, was (und wie es) „richtig“281 oder „nicht richtig“ gewesen ist oder gewesen wäre. (Im Fall der Griechen ist das das Nomosthema.) Es gab – von heute her, in kategorialer Betrachtung gesehen – in beiden Richtungen, im Hinblick auf das Zukünftige und im Hinblick auf das Geschehene, selbstverständlich jeweils zwei Aspekte: zum einen das, was die Glieder des Gemeinwesens (im ganzen oder Gruppen oder ein 280 Und weil es sich in Kapitel B. I.1.a) nicht von selbst ergab, habe ich dort noch weggelassen und füge erst hier an, daß auch bei Homer (Il., 11, 807, u. 18, 497–508) die Agora als Gerichtsversammlung vorkommt. 281 Aber „urteilen“ und „richten“ zielen nicht nur auf schon Geschehenes, sondern auch auf Zukünftiges: Aussichten bei Vorhaben können beurteilt werden; man kann etwas ausrichten (machen) wollen, damit es so wird, wie für richtig gehalten. (Dazu thematisch Kapitel B.I.8.)

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zelne) würden tun können/getan hatten, zum anderen das, was von „außen“ (um bei scheinbar Einfacherem zu bleiben: aus der Natur) würde kommen können (entweder nur vielleicht oder sehr wahrscheinlich) bzw. im Fall von schon Geschehenem von „außen“ eingewirkt hatte. (Daß dann aus schon Geschehenem gewonnene Erfahrungen in das Sprechen über und die Absprache über Zukünftiges mit eingehen/eingegangen sind, liegt natürlich daran, daß beide Aspekte, und dies bereits nach der sozusagen „allerersten Erfahrung“, miteinander verknüpft waren.282 Wir wissen begreiflicherweise nichts Konkretes darüber, ab wann es eine Fixierung von Recht283 in dem Sinne gab, daß ein bestimmtes Handeln für den Wiederkehr-Fall in bestimmter Weise zu beurteilen und zu sanktionieren sei. Aber die Vermutung hat viel für sich, daß, w e n n es politisches Gemeinwesen gab, also jene Sprache und Absprache über die alle angehenden Angelegenheiten in der Volksversammlung, es nicht lange gedauert hat, bis es zu solchen Fixierungen kam. Voraussetzung für solche Fixierung ist selbstverständlich ein Bewußtsein davon, daß Handeln, soweit für das Gemeinwesen als relevant erachtet, vor dem Gemein­wesen auch zu verantworten sei. Aus dem Exkurs zu den Kapiteln von B. I.1. erfahren wir – das nehme ich hier vorweg  –, daß es politische Gemeinwesen, soweit bisher auszumachen, erst ab einem, gemessen an der Gesamtlänge der Menschheitsentwicklung, vergleichsweise späten Stadium gegeben hat,284 aber mit der Möglichkeit der Verschiebung nach rückwärts. 282 So wie ich das oben vorgetragen habe, liest es sich vielleicht, als ob ein Zur-Spracheund Zur-Absprache-Bringen der alle angehenden Angelegenheiten ein rein rationaler Vorgang (gewesen) wäre. Er war es nicht (und wird es auch nie werden). Wir wissen, daß – um hier im griechischen und im germanischen Rahmen zu bleiben – Religiöses (Opfer für die Götter, Anrufung der Götter) und Magisches (Beschwörung chthonischer „Mächte“, Amulette und anderes), in Griechenland auch das Delphische Orakel, eine große Rolle gespielt haben, auch „Seher“, bei den Germanen „Seherinnen“. Dem ist hier nicht weiter nachzugehen. Es genügt, wenn ich allerdings umgekehrt auch darauf hinweise, daß die „Auskünfte“ des Delphischen Orakels bei weitem nicht bloß „dunkle Sprüche“ waren, daß Delphi viel mehr „ein wichtiger Umschlagsplatz für Gedanken und Informationen“ (Chr. Meier, 31995, S. 73) geworden ist, daß Delphi „ein kräftiges und stets neues eigenes Interesse daran hatte, treffende Ratschläge zu geben“ (S. 75; überhaupt S. 73–77), daß jene bei den Germanen in hohem Ansehen stehenden „Seherinnen“ (Tac., Germ., 8) wohl die Fähigkeit besaßen, größere Zusammenhänge zu „sehen“, zu erfassen, für viele Sachverhalte ein besseres Gespür hatten als andere, offenbar ein besseres als Männer. – Auch bei den Griechen gab es „Seherinnen“, ebenfalls hochgeachtet. Ich nenne (Ergebnis eines Zufallsfunds, nicht planmäßiger Suche) die Phaēnnis/Phaēllo, eine Seherin im nordwestgriechischen Orakel-Heiligtum Dordona, aus einem „königlichen“ Geschlecht bei den Chaonen (Franke, S. 26). 283 Ich meine nicht erst die Niederschrift (nachdem die mündlich tradierten Fixierungen strittig geworden waren; darüber wissen wir in bezug auf die griechischen Verhältnisse einiges Konkrete), sondern die mündliche Fixierung, die viel älter sein muß. 284 Zwei im Bereich des Historischen Materialismus bzw. in der von ihm beeinflußten Vorund Frühgeschichtsforschung wie sakrosankt gepflegte Begriffe müssen wir verabschieden. Zum einen die Engelssche „Urgesellschaft“ (z. B. auch Feustel, 21985, S. 225, u. 21975, passim), weil der Terminus Gesellschaft auf die gemeinte Zeit, die „Urzeit“, nicht paßt – abge-

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Zumindest sowohl bei den Griechen als auch bei den Germanen, wahrscheinlich aber generell im indogermanischen Bereich, sind die, strukturell gesehen, ältesten politischen Gemeinwesen offenbar von der Art gewesen, die man in unserer Sprache „Stämme“285 nennt. Das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit286 der Stammesglieder, über die eigene Sippe hinaus, war konstitutiv für das politische Gemeinwesen.287 Erst mit einem solchen Bewußtsein konnte es überhaupt „a l l e (nicht nur intern die Sippe) angehende Angelegenheiten“ geben. Der umfangreichste und, strukturell gesehen, in der Entwicklung auf politisches Gemeinwesen hin letzte noch präpolitische Verband war jene Sippe. Das zu sagen, ist nicht Theorie, sondern Befund. Zwar mittelbar, aber deutlich geht das nämlich daraus hervor, daß in dem dann schon politischen Gemeinwesen „Stamm“ zunächst noch ein – neutral ausgedrückt – Institut erhalten geblieben ist, das ein­ deutig zur „Sippe“ gehörte, die Pflicht für die Glieder der Sippe zur Rächung einer Untat an einem Sippenangehörigen seitens eines Sippenfremden. (Mehr zur Umwandlung der Rache in das Akzeptieren einer Buße-/Sühneleistung bereits in Kapitel B. I.5.) Zum Schluß möchte ich zum einen gegen möglicherweise aufkommende Mißverständnisse festhalten: Eine sozusagen Indogermanen-Romantisierung stünde meinem Interesse strikt entgegen. Es geht um nicht mehr, aber auch um nicht weniger, als die im indogermanischen Bereich aufgefundene Grundidee des Politischen mit aller Nüchternheit für u n s e r e Zeit, mit u n s e r e n Möglichkeiten, für u n s e r e Verhältnisse gegen das Mißverständnis von Politik als Herrschaft zu aktivieren. (Dazu siehe Teil C.) sehen davon, daß die Kenntnisse, die Engels von der Urgeschichtsforschung hatte (haben konnte), nicht nennenswert waren, seine Aussagen aber doch für sozusagen geheiligt galten. Zum anderen „Militärdemokratie“ oder „militärische Demokratie“ (z. B. Horst, in: J. Herrmann (1989), S. 103, Diesner (21980), S. 71, S. 131, S. 133, S. 230), weil, wie ich gezeigt habe, der Begriff Demokratie auf jene Gemeinwesen indogermanischer Stämme nicht paßt und weil „Militär“ für jene Zeit wiederum ganz unhistorisch ist und deshalb Erkenntnis verstellte. 285 Siehe Wenskus (1961); Schulze, Hans K., Bd. 1 (31995), S. 11–38, wo auch gezeigt wird, was für die Historiker in bezug auf den Stammesbegriff wichtig ist; das ist mehr als das für uns hier Relevante. 286 Über die als wesentlich zu verstehende Verbindung von „zusammenkommen“ und „ZurSprache-Bringen“ der alle angehenden Angelegenheiten siehe Kap. B. I.1.b), dort, wo es um germ. *maþla-, idg. *mōd- oder *mād- geht. 287 Es ist für uns nicht wichtig, daß in alten Überlieferungen, griechischen und germanischen, die Stämme seitens ihrer Glieder zuweilen in einem sehr engen Sinn als Abstammungsgemeinschaften verstanden worden sind, manchmal sogar im Sinne der Abstammung von einem gemeinschaftlichen Vorfahren, auch von einem Gott. – In den alten Siedlungsgebieten etwa der Nordgermanen kann der Zusammenhang aufgrund tatsächlich weitgehend gegebener Abstammungsgemeinschaft noch recht eng gewesen sein, wir wissen aber auch, daß auf Wanderungen zur Landnahme während der „Völkerwanderung“ sowohl Teilungen von Stämmen als auch Angliederungen anderer Stämme oder von Teilen davon vorkamen. Wichtig war dann das Bewußtsein von der Zugehörigkeit zur neuen Einheit, zum „Stamm“ in seiner neuen Form.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Zum anderen: Die Frage, ob die indogermanische Sprachen sprechenden Stämme/Völkerschaften in bezug auf die Politizität ihrer Gemeinwesen Ausschließlichkeit beanspruchen können, ist noch nicht dringend. Bislang ist sowieso erst bewiesen, daß sowohl die Gemeinwesen der griechischen und der germanischen Stämme echt politische Systeme waren und daß die Politizität also aus dem indogermanischen Hintergrund kommt. Das legt zwar den Verdacht sehr nahe, daß zumindest auch andere indogermanische Stämme als die griechischen und die germanischen ebenso verfaßt gewesen sind, zumal es dafür bei einigen Anzeichen gibt: die Volksversammlung und, daß bei ihr die Entscheidung über die alle angehenden Angelegenheiten lag, dazu noch anderes. Diese Anzeichen reichen zum Beweis aber nicht aus, auch nicht bei den Römern und bei den Hethitern. Erst das sich im Sprachmaterial eindeutig dokumentierende Selbstverständnis ist beweiskräftig. Theorien bringen da nichts, auch nicht in bezug auf Stämme aus anderen Kulturen, die Stammesversammlungen/Volksversammlungen haben. Hypothesen und Vorurteile, negative wie positive, müssen unterbleiben. Es hilft nur: schauen auf das, was sich von selbst her zeigt, wenn Verdacht besteht. 9. Exkurs zu den Kapiteln von B. I.: Seit wann in der Menschheitsentwicklung und wo zuerst konkrete politische Gemeinwesen? Vorbemerkungen Wenn auf empirischen Wegen, statt in der Theorie, ermittelt werden konnte, was das spezifisch Politische ist, muß auch der Versuch sinnvoll sein, auf empirischem Weg herauszubringen, wie weit zurück in der Menschheitsentwicklung und wo konkret wir konkrete Gegebenheiten vorfinden, die für die Existenz politischer Gemeinwesen sprechen. Ich mache einen Anfang und zeige dabei, auf was geachtet werden muß, wenn dann andere versuchen, in der Sache noch weiter zurückzukommen. Im Fall der germanische (und der baltische) Sprachen sprechenden Stämme sind deren Gemeinwesen, wie Kilian zeigt (siehe Fußn. 316), direkt aus den Gemeinwesen von Trägern des ins 3. Jtsd. v. Chr. gehörenden Kulturkomplexes der Schnurkeramischen (SK) und der Einzelgrabkultur (EGK) hervorgegangen. Jedenfalls die aus diesem Komplex abzuleitenden germanischen Stämme besaßen nicht nur, wie wir von Tacitus wissen, eine Organisation im Prinzip wie die der frühen Griechen, sondern ihr eigenes Verständnis ihrer Systeme entspricht genau dem Verständnis, das die frühen Griechen von ihren politischen Gemeinwesen hatten. Von den Griechen können die Germanen, realistisch gesehen, nicht sozusagen abgeschrieben haben, weshalb die Übereinstimmung aus dem indogermanischen Zusammenhang stammen muß. Die Entsprechungen bei den wesentlichen Kultur­ erscheinungen auf beiden Seiten – hier SK/EGK, dort die Griechen ebenfalls des 3. Jtds. – zeigen die Kapitel B. I.9.c)cc)–B. I.9.c)dd).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Für noch weiter zurück sind wir dann ganz auf Funde und Befunde aus der Urgeschichtsforschung angewiesen. Sie erfordern knifflige Detailarbeit, und es sind besonders strenge Maßstäbe anzulegen. So muß nachgewiesen werden, daß die aus konkret benannten voneinander entfernt gelegenen Gegenden aufeinandertreffenden Gruppen nicht bloß zufällig zusammengekommen sind. Das verlangt unsere konkrete Kenntnis besonderer Qualitäten solcher Zusammenkünfte. Im einzelnen zeige ich das am Fall Gönnersdorf. Für unsere Untersuchung im Exkurs brauchen wir einen Überblick über die Hominiden-Entwicklung; ich bringe ihn in Kapitel B. I.9.a). Vorab noch eine Bemerkung zur Sprache, und zwar darüber, wofür sie „unerläßlich“ ist, und zur Vermeidung eines Mißverständnisses. An Schimpansen der Elfenbeinküste ist beobachtet worden, daß die Tiere Werkzeuge benutzen, etwa Klopfsteine aussuchen, um harte Nüsse aufzuschlagen, danach manchmal die Steine nicht wegwerfen, sondern in Astgabeln von Bäumen deponieren. Eine Tradierung der Werkzeugbenutzung ist ebenfalls beobachtet worden. Sie geschieht durch Vormachen und Nachahmen. (Wenn sich ein Individuum zu lernen weigert, bleibt ihm der Genuß etwa von Kokosnüssen verschlossen.) Bei diesem Tradieren gibt es wohl Gebärden, akustische und visuelle Signale, Sich-inSzene-Setzen und „Gesten“, aber das, worum es beim Tradieren der Werkzeugbenutzung geht, muß offensichtlich nicht zur Sprache gebracht werden (Fiedler, 1994, S. 121 f.) – die ja auch fehlt. Worauf der Autor anschließt: „Es ist zu vermuten, daß [auch] bei den frühen Hominiden288 die Herstellung von Geröll­geräten angesichts der damit zu bearbeitenden Gegenstände geschah und die Anwendung unmittelbar erfolgte. Die Überschaubarkeit der Vorgänge und ihre sachbezogene Logik bedeutet: Sprache war dafür nicht unerläßlich.“ (Fiedler, ebenda) und, demgegenüber, „daß erst die zu planenden, nicht angesichtigen und zukünftigen Bezüge … der Worte bedürfen“ (S. 123), wenn mehr als ein Individuum beteiligt ist. In bezug auf das „Nicht-Angesichtige“ müssen wir das von Fiedler genannte Zukünftige noch um das Vergangene ergänzen (dazu siehe auch Kapitel B.I.8. zum Thema Volksversammlung als Gerichtsversammlung; Text mit den Indices 280–282). Das heißt, politische Gemeinwesen wären ohne Sprache natürlich unmöglich, nicht aber umgekehrt.289 Sprache ist „relevant“ auch in präpolitischer menschlicher Sozialität; auch in ihr gibt es „Nicht-Angesichtiges“, zukünftiges und vergangenes. 288 Es bleibt zu beachten, daß die Hominiden (die „Menschenartigen“) nicht von den Schimpansen abstammen, vielmehr die Hominiden und Pongiden (die „Menschenaffen“) lediglich eine gemeinschaftliche Wurzel haben. Weil wir keine „teilnehmende Beobachtung“ an frühen Hominiden mehr zustande bringen können, nutzen wir, mit allen Vorbehalten selbstverständlich, solche Vergleiche mit Menschenaffen. 289 Wenn Hannah Arendt (Vita activa, engl. 1958, dt. 6. Aufl., 1989, S. 10) sagt, „Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind“, ist der erste Satz unzutreffend, der zweite zwar für sich zutreffend, aber nur ohne das „denn“, nicht als Folgerung aus dem ersten Satz.

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a) Hominiden-Entwicklung bis zum Ende der Altsteinzeit – Allgemeines Für die allerfrüheste Zeit beginne ich den Überblick noch anhand von Gerhard Heberer,290 „Homo – unsere Ab- und Zukunft“ (1968). Die den Hominiden (Menschenartigen) und den Pongiden (Menschenaffen) noch gemeinschaftliche Ausgangsgruppe wird mit großer Wahrscheinlichkeit in das Oligozän gesetzt, zwischen 30 und 35 Millionen Jahren vor heute (bei anderen Autoren hier und im folgenden auch relativ kleine Abweichungen). Aus Schichten des Oligozäns liegen dann aber auch erste Anzeichen für den sich später mehr und mehr entwickelnden Hominiden-Stamm vor. Fossile Funde des Miozäns, von vor mehr als 20 Millionen Jahren, belegen „eine menschliche Gebißreduktion und ‚Schnauzen‘-Verkürzung bei menschlicher Gestal­ tung des Zahnbogens  …  . Es sind dies die früher als  … [menschenäffig] betrachteten Funde, wie Kenyapithecus (…) aus Kenia aus dem unteren und Ramapithecus (…) aus dem oberen Miozän Nordvorderindiens. Sie sind zeitlich als die ersten nachweisbaren Hominiden (=  Menschenartige)  aus dem ‚subhumanen‘ [noch nicht wirklich menschlichen] Abschnitt unserer Abstammungsgeschichte vor dem entscheidenden ‚Tier-Mensch-Übergangsfeld‘ im oberen Pliozän (vor mehr als drei Millionen Jahren) anzusetzen“ (S. 27 f., zur Lokalisierung allerdings inzwischen Auffermann/Orschiedt, weiter unten). „Ihre Nach­ folger, die Australopithecinen, gehen … auf über zwei Millionen Jahre zurück“ (S. 47).

Viele Neufunde des 3. Drittels des 20. Jahrhunderts und von um 2000/01 haben das Bild davon verändert, aber auch neue Fragen aufgeworfen. Auffermann/ Orschiedt (2002) haben in ihrer Publikation „Die Neandertaler“ einen „Abriß der Menschheitsgeschichte“ neuen Standes (S. 17–31) vorangestellt, der sich für uns gut eignet. Da bei den meisten Neufunden zu älteren Stufen die Verhältnisse der Abstammung voneinander hypothetisch oder ganz unklar sind und mit einer Vielfalt von Arten zu rechnen ist, die später ausgestorben sind, verzichte ich darauf, die Neufunde aus älteren Stufen zu nennen, verweise auf S. 19 und erwähne nur den „Homo erectus“/„Homo ergaster“, der von etwa 1,8 Millionen bis um 27 000 vor heute verbreitet war. Am bekanntesten sind die Funde aus der OlduwaySchlucht in Tansania (um grob 1,8 Mill. Jahre vor heute). Das beinahe vollständig erhalten gebliebene Skelett von Nariokotome in Kenia ist ebenfalls auf ca. 1,8 Mill. Jahre vor heute datiert, die Funde aus Java, früher auf etwa 1 Mill. Jahre angesetzt, aufgrund neuer Untersuchungen jetzt gleichfalls auf ca. 1,8 Mill. (Auffermann/Orschiedt, S. 21). In den 1990er Jahren sind zwei Schädel und zwei Unterkiefer bei Dmanisi in Südwest-Georgien im Rahmen einer deutsch-georgischen Forschungsgrabung freigelegt worden, die wiederum in jene Zeit gehören (Gabunia et al., 1999, S. 451 und S. 486). Als Ausgangsgebiet für die 290 Heberer war einer der bekanntesten Paläo-Anthropologen und Zoologen des 20.  Jh. (Jena, Halle, Göttingen). Berühmt sind „Menschliche Abstammungslehre“ (1965) und „Die Evolution der Organismen“ (3., erw. Aufl., 1967 ff., 3 Bde.).

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„innerhalb von wenigen tausend Jahren“ erfolgte Ausbreitung des Homo erectus/ ergaster gilt Afrika (Auffermann/Orschiedt, S. 21). Die ältesten Hominidenfunde in Europa291 („homo antecessor“) sind aus Spanien und Italien, von am ehesten ab ca. 800 000 vor heute. – Der „Frühe archaische Homo sapiens Homo heidelbergensis“ ist auf etwa 600 000 datiert, „… heidel­ bergensis“ wird er genannt nach dem Fund von 1907 in Mauer bei Heidelberg (zwischen 600 000 und 500 000). Wichtige Neufunde des frühen Homo heidelbergensis liegen aus Frankreich, England, Spanien, Griechenland, Ungarn und Deutschland292 vor. An den Menschenknochenfunden sind Merkmale der ab etwa 200 000 verbreiteten frühen Neandertaler zu erkennen; allerdings gibt es bei allen auch noch „Charakteristika der Homo-erectus/ergaster-Formen mehr oder weniger deutlich“ (S. 25). Der Übergang zum „Späten archaischen Homo sapiens Homo heidelbergensis“, der auf ab etwa 300 000 bis um 200 000 angesetzt wird, ist fließend (ebd.; siehe auch die Karte S. 30). Die späte Form wird auch als „Ante-Neandertaler“ bezeichnet. Funde gibt es aus Deutschland (Steinheim a. d. Murr, 1933; Reilingen; Weimar-Ehringsdorf), aus England (Swanscombe) und Spanien (fünf Schädel, mehr oder weniger komplett, und andere Reste von mindestens 32 Individuen von Sima de los Huesos). Die „Frühen Neandertaler“ oder „Prä-“ bzw. „Proto-Neandertaler“ sind auf um 200 000 bis 130 000 datiert.293 Wichtige Fundorte sind Ochtendung in der ­Eifel, westlich Koblenz, mehrere in Frankreich, ferner in Italien und Kroatien. Der „Neandertaler“ im engeren Sinn war verbreitet von etwa 130 000 bis – wie inzwischen datiert wird – sogar noch um 27 000.293 Namengebend war der Schädelfund von 1856 aus dem Neandertal der Düssel bei Mettmann im Rheinland. Es gibt inzwischen Reste von über 150 Individuen des Neandertalers, vor allem aus Europa, ferner aus Nordafrika, aber auch aus Israel und dem Irak. Aus dem, was über die Frühform des „archaischen Homo sapiens“/„Homo heidelbergensis“ gesagt wurde, geht mittelbar schon hervor, daß wir es jetzt wohl erkennbar mit der Abstammung der Formen voneinander zu tun haben, womit die Entwicklung für unsere Untersuchung erstmals detailliert von Interesse ist. Auffermann/Orschiedt (S. 27 f.) sagen zur „Entstehung des Neandertalers“: „Alle Paläoanthropologen gehen heute davon aus, dass sich ausgehend von Homo heidelbergensis die Entwicklung in Europa über die so genannten Ante-Neandertaler und 291 Gabunia et al. (S. 486) bringt auch eine Karte mit den Plätzen von Funden, die älter als 2 Mill. Jahre alt sind, und solchen zwischen 2 und 1,5 Mill. vor heute. Für diese zuletzt genannten hat er auch zwei Orte in Spanien (Nr. 22 und 23) kartiert (umstritten?), die es bei­ Auffermann/Orschiedt nicht gibt. Diese sagen aber (S. 21): „Ein frühes Vordringen der Homo ergaster/erectus[-]Formen nach Europa  … [ist wohl nach den Funden von Dmanisi] nicht mehr aus­geschlossen“. 292 Zu dem sehr gut untersuchten deutschen aus Bilzingsleben in Thüringen mehr in B.I.9.a)aa). 293 Die traditionelle Bezeichnung ist „Homo sapiens neanderthalensis“.

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Prä-Neandertaler zum klassischen Neandertaler fortsetzte. Die Theorie einer eigenständigen Entwicklung des heutigen Menschen in Europa, die zeitlich parallel mit der des Neander­talers abgelaufen sein soll, ist heute widerlegt. … . Die Neandertaler sind somit eine typisch [gemeint ist: charakteristisch] europäische Menschenform. Ihre eigenständige Entwicklung wird spätestens im Zeitraum ab 300 000 Jahren deutlich“, ab dem „Ante-­ Neandertaler“.

Die Kopfbildung der Neandertaler zeigt stark ausgeprägte Oberaugenwülste, eine „fliehende“ Stirn und noch andere Unterschiede im Vergleich mit dem anatomisch modernen Menschen.294 Die Neandertaler waren schon relativ hoch­ entwickelt, den Eiszeitbedingungen angepaßt und verfügten über ein Sortiment von Werkzeugen für verschiedene Zwecke, darunter auch die oft ästhetisch wohlgeformten Faustkeile. Nicht unwidersprochen ist, aber am meisten verfochten wird die These, daß die Kerngebiete des anatomisch modernen Menschen295 Süd- und Ostafrika gewesen seien (S. 28), dort um 150 000 vor heute erstmals nachgewiesen (S. 28). Sie hätten sich von dort zwischen 60 000 und 50 000 ausgebreitet und „die in Europa lebenden Neandertaler ebenso wie die entwickelten Formen von Homo erectus in Asien“ verdrängt (S.  30). Gemäß dem Ort der Funde von fünf Skeletten, 1868,­ Cro-Magnon in der Dordogne, wird der anatomisch moderne Mensch auch „CroMagnon-Mensch“ genannt. Die im Leipziger „Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie“ seitens einer internationalen Forschergruppe um Svante Pääbo durchgeführte bislang umfangreichste mtDNA-Vergleichsanalyse (siehe Serre et al.; März 2004) auf der Basis von 24 Neandertaler-Fossilien und 40 Fossilien früher Moderner Menschen (S. 314) ergab „no positive evidence“ (S. 316) für irgendeinen Beitrag der Ne­andertaler zum Erbgut der frühen Modernen Menschen und bestätigte deutlich die Ergebnisse etwas älterer Analysen geringeren Umfangs. Auch wenn es also bisher keinen Beweis für einen solchen Beitrag gibt, ist er dennoch nicht ganz unmöglich. Die vorliegenden Ergebnisse schließen aber „any large genetic contribution by Neandertals to early modern humans“ aus (S. 313). Die Neander­taler waren eine Seitenlinie der Hominiden-Entwicklung. Weil „under the model of constant population size, about 50 early modern remains would need to be stu­ died to exclude a Neandertal mtDNA contribution of 10 %. To exclude a 5 % contribution, one would need to study more early modern human remains than have been discovered to date“ (S.  316). Der vollständige Ausschluß eines Neander­ taler-Beitrags würde auch durch noch so viele „Verifikationen“ nicht gelingen, weil die M ö g l i c h k e i t einer Falsifikation immer bestehen bleibt. Die Situation ist der in den Kapiteln  A.III. und A.IV. in bezug auf den Induktionsschluß beschriebenen ähnlich.

294

Bei Auffermann/Orschiedt diverse Abbildungen, auch zum Vergleich. Traditionell als „Homo sapiens sapiens“ bezeichnet.

295

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Ich kehre noch einmal zu Gerhard Heberer zurück. Heberer zeigt, wie es mit diesem „zuletzt überlebendem Sapiens-Zweig weiterging. Er erlebt noch während des späten Pleistozäns Radiationen, was mit der einsetzenden geographischen Ausbreitung zusammenhängen“ wird, „denn andere Ausleseräume schaffen andere Auslesegruppen, und am Ende des Pleistozäns erfolgt die letzte große adaptive Radiation der Menschheit in die Hauptrassengruppen. … . In den heutigen Verbreitungsgebieten der menschlichen Haupt- oder Großrassen (Europide, Australide, Mongolide, Negride) gehören die dort gefundenen fossilen SapiensTypen zu den Cro[-]Magnon-Formen. Sie also liegen der gesamten Radiation des Homo sapiens sapiens ursprünglich zugrunde, und erst im Verlaufe der geographischen Isolation bildeten sich die bezeichneten Merkmalssyndrome der Großrassen aus. So zeigt die heutige Menschheit die Zerspaltung in viele Rassentypen. Die ‚zoologische‘ Art Homo sapiens ist in ihrem unterartlichen Sapiens-Zweig hochpolytypisch, setzt sich aus vielen Rassen zusammen, und diese bestehen wiederum aus zahlreichen Populationen, den Trägern besonderer Fortpflanzungsgemeinschaften mit speziellen polymorphen Gen­beständen“ (S. 104 f.). [„Rassen“-Einteilung durch Genetik unwichtig geworden; d. Hrsg.]

Jetzt noch einige Bemerkungen zur stammesgeschichtlichen Entwicklung, zur Evolution, also zu Anpassung und Auslese, zunächst im allgemeinen. Diejenigen Individuen (und Gruppen) gelten als von der „natürlichen Auslese“ begünstigt, die sich den gegebenen (auch: den sich ändernden) Umweltbedingungen am besten anpassen können, einschließlich einer Anpassung in der Weise, daß sie die Umweltbedingungen durch Umweltwechsel verändern, dies entweder durch Wechsel in andere Gebiete mit vorrangig günstigeren Bedingungen, d. h. eventuell unter der Voraussetzung, dort zugleich zweit- oder drittrangig ungünstige andere Bedingungen in Kauf nehmen und sich dann diesen anpassen zu müssen, oder durch einen Umweltwechsel an Ort und Stelle, durch Schaffung einer künstlichen KleinUmwelt. Zu Anpassung, Auslese und Evolution in der menschlichen Stammesgeschichte seit dem Stadium des den später Pongiden und den später Hominiden noch gemeinschaftlichen Vorfahren bis zum „Jetztmenschen“ haben Paläo-Anthro­pologen und diejenigen Urgeschichtswissenschafter, die das Paläo- und das Mesolithikum (die Alt- und Mittelsteinzeit) erforschen, inzwischen sehr viel Konkretes beibringen und gut nachvollziehbar darstellen können.296 Für unsere Zwecke reichen zwei Beispiele aus, zuerst ein (scheinbar) einfach gelagertes, dann ein komplexes. Es waren wohl diejenigen frühen Hominiden im Vorteil, die vom lediglich Werkzeuggebrauch zur Geräteherstellung übergingen. Ein Werkzeug im Sinne der Paläo-Anthropologie ist ein Hilfsmittel, das zur Bearbeitung oder besseren Handhabung eines Gegenstandes unverändert (z. B. Stein, wie vorgefunden, oder natürlich abgebrochener Ast) oder nur wenig verändert (abgebrochener Ast etwa noch einmal etwas verkürzt) verwendet wird, und dies selten mehr als einmal. Ein Ge 296 Ich nenne hier nur Heberer (1968), S. 60, S. 62 u. S. 90; Fiedler (1990), S. 77; Mania (1989), S. 24 u. S. 34; Mania (1990), S. 74 f. u. S. 255 (besonders gut).

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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rät aber ist ein Hilfsmittel, das zumindest, unter vielen, auf seine Eignung besonders ausgesucht worden ist – was aber von der Forschung konkret nicht mehr zu verifizieren ist –, meistens aber mittels Werkzeug hergerichtet oder eigens angefertigt worden ist. Mit geschärften Geräten läßt sich Nahrung besser und schneller zerteilen, mit zugespitztem Gerät ist mit mehr Erfolg zu jagen als mit stumpfem. Wenn eine Gruppe in der gegebenen Umwelt nicht mehr genug Nahrung vorfindet, aber „herausgebracht“ hat (ein langwieriger Vorgang), daß anderswo, konkret etwa in Mitteleuropa, die Nahrungsverhältnisse sehr günstig sind (Großwild­ herden in der Kräutersteppe in großer Zahl), und dann darauf, ganz allmählich, mit Ortswechsel reagiert, muß sie sich den mit dem Ortswechsel sogar in Warmzeiten zunehmend ungünstiger werdenden Bedingungen der Winterkälte anpassen. Verkürzt formuliert: Die Gruppe kann, wenn sie erfolgreich sein soll, reagieren mit Feuernutzung oder -erzeugung, mit Kleidungsanfertigung, Zusammennähen von Lederbahnen für eine Zeltbespannung beim Wohnen außerhalb von Höhlen oder Felsvorsprüngen – einmal von der Entwicklung des Intellekts dabei noch gar nicht gesprochen, geschweige denn von der „Rückwirkung“ (oder wie man das nennen will) dieser Entwicklung auf die Vergrößerung der Möglichkeiten der Anpassung und der „Rückwirkung“ auf die Anpassungsgeschwindigkeit  – die nämlich immer größer wurde. In jüngerer und jüngster Zeit sind wir durch archäologische Ausgrabungen recht gut über zuvor so noch nicht zugänglich gewesene Verhältnisse nicht nur jung-, sondern auch altsteinzeitlicher Populationen unterrichtet worden, die z. T. auch für unser Thema etwas hergeben. Ich bringe jetzt die konkreten Fälle. aa) Die Früh-Homo-heidelbergensis-Gruppe von Bilzingsleben im Mittelpleistozän (dazu Siedlungsplätze des Späten Mittel- und des Frühen Jungpaläolithikums) Bei Bilzingsleben in Thüringen (Mania, 1990 und 1989, dann 1998) fanden ab 1972 archäologische Grabungen an einer Stelle statt, die zuvor bei geologischen Geländearbeiten auffällig geworden war. Das untersuchte Objekt erwies sich als Siedlungsstelle einer Gruppe von Menschen der Frühform des Homo heidelbergensis aus der Zeit zwischen 412 000 und 320 000 vor heute – so inzwischen die Datierungen mittels physikalischer Verfahren (Mania, 1998, S. 27)297 – geo­logisch aus dem Mittelpleistozän. Die Siedlungsstelle mit etwa 1 500 m2 Fläche, an der Uferterrasse eines kleinen Sees, unterhalb einer Quelle mit Kaskade, wies die runden bis ovalen Grundrißreste von drei wohl zeltartigen Behausungen auf (vermutlich aus gegeneinander gestellten Stangen, mit Fellen und Häuten darüber), jeweils mit einem Durchmesser von knapp 3 bis 4 m. Vor jeder Behausung, wegen 297 Vor den Untersuchungen mittels physikalischer Verfahren zunächst erst auf 350 000– 300 000 datiert.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

der herrschenden Windverhältnisse immer im Südosten, waren eine Feuerstelle und zwei Arbeitsplätze. Wie die Umwelt (Fauna und Flora) damals ausgesehen hat, ist anhand des Knochenmaterials und von Pollen und Pflanzenversinterungen im Travertin bekannt, ebenso das Klima (Warmzeit). Anhand der Knochenfunde ist klar, daß Großsäuger (Waldelefant, Waldnashorn, Steppennashorn, Bison, Auerochse, Wasserbüffel, Wildpferd, Rothirsch) die Hauptnahrungslieferanten waren; dazu kamen in geringerem Umfang kleinere Tiere, aber auch Bär, Löwe und Wolf. Die Großwildjagd wäre nicht möglich gewesen ohne gemeinschaftliche Planung, diese nicht ohne Sprache.298 Die Bewohner der drei Behausungen299 bildeten selbstverständlich zusammen ein Gemeinwesen, aber kein politisches. Um mehr als die Angehörigen einer Klein-Sippe kann es sich nicht gehandelt haben. Sie brauchten auch nicht zusammenzukommen, um zu beraten, sie saßen sowieso beieinander, auf Sprech-Entfernungen von um 5 m. Nun könnte man fragen, ob nicht mit benachbarten Gruppen zu rechnen sei und ob nicht benachbarte Gruppen dann zusammen ein politisches Gemein­wesen gebildet haben könnten. Das ist jedoch wegen der folgenden Sachverhalte so gut wie 298 Mania (1990), S.  275: Aufgrund empirischer Untersuchungen der Schädelfunde und durch Vergleich mit Menschen von heute und mit Menschenaffen ist davon auszugehen, daß die Sprachorgane beim Homo erectus denen des Kleinkinds von heute vergleichsweise eher ähnlich waren als denen des Erwachsenen von heute. „Demzufolge ist anzunehmen, daß der Homo erectus zwar zum Sprechen, aber nicht zu einer schnellen und flexiblen Lautäußerung befähigt war. Sein Sprechen war langsam und schwerfällig, … . Aber diese Art der Sprach­ befähigung genügt, um sich mitzuteilen, zu verständigen, Erfahrungen und Wissen weiterzugeben … .“ – Auf einigen Knochen- und Steinartefakten der Siedlungsstelle von Bilzingsleben sind absichtlich aufgetragene Gravierungen zu sehen, Schnitt- und Ritzlinien in regelmäßiger Folge, ineinander gesetzte Rechtecke und doppelte Halbkreisbogen. „Mit den Ritz­mustern beginnt bereits ein auf die Sprache folgendes Kommunikationsmittel, das die menschliche Kultur später  … entscheidend prägt, das Schreiben“ (S.  275).  – Auch wenn, wohl aus ver­ legerischen Gründen, im Titel (Mania, 1990) vom „Urmenschen“ gesprochen wird, geht es tatsächlich um den Frühmenschen. Zu den unsere Kenntnis vom Homo erectus sehr viel weiterführenden Grabungen gehören auch die planmäßigen Untersuchungen in Schöningen, im Tagebau der Helmstädter Braunkohlemulde (Thieme, Alt- und Mittelsteinzeit, S. 44–60), die – wegen besonders günstiger Erhaltungsbedingungen – nicht nur die weltweit ältesten Kompositgeräte, mehrere Tannenäste mit „jeweils an einem Ende einer Schnittkerbe“ als „Klemmschäfte  …, in denen ehemals Feuersteinwerkzeuge oder scharfkantige Abschläge eingesetzt waren“ (S. 49, dazu Abb. 5), sondern auch sieben sorgfältig aus Fichtenstämmchen gearbeitete Wurfspeere (alle um oder über 2 m Länge, Schwerpunkt im Vorderteil; S. 52 ff.), „die ältesten vollständig … [erhalten gebliebenen] Jagdwaffen der Menschheit“ aus Holz, von um grob 400 000 Jahre vor heute, als Funde ergaben (S. 54). „Die Gesamtabfolge in Schöningen konnte inzwischen auch mit der unabhängig davon erarbeiteten Terrassen-Travertin-Abfolge von Bilzingsleben (Thüringen) korreliert werden“ (S. 46). Auch Klima, Flora und Fauna (diese anhand der umfangreich vorliegenden Jagdbeutereste) sind bekannt. 299 Mania, S. 110: „… Gruppe von etwa 30 Personen“, was angesichts der Zahl (drei) und der Größe der Behausungen (Dm. von, und das auch noch sehr knapp, 3–4 m) viel zu hoch an­gesetzt ist (zum Vergleich siehe weiter unten: Edertal-Buhlen). Realistisch sind wohl etwa zwei Drittel, also 18–22, im Durchschnitt sechs bis sieben pro Behausung, im Durchschnitt drei bis vier Erwachsene und drei bis zwei Kinder und Heranwachsende.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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ausgeschlossen. Die Gruppe von Bilzingsleben, was Mania (1990, S. 246–252) im Detail zeigt und begründet, muß nämlich, außer ihrer Siedlungsstelle am Platz Bilzingsleben, in einem „Schweifgebiet“ (zur Jagd) mit einem Aktionsradius von gut 10 km und dann einer Größe von etwa 300 km2, noch eine Reihe ähnlicher Schweifgebiete mit entsprechend gelegenen Siedlungsstellen gehabt haben, zwischen denen gewechselt wurde, zum einen, um ein Leer-Jagen zu vermeiden, zum anderen vielleicht auch sowieso jahreszeitlich. Mania zeigt anhand der geographischen Gegebenheiten und aus der Kenntnis über Bewuchs, Klima und Niederschlag der Zeit von damals, wo konkret und wie die „Schweifgebiete“ wohl gewesen waren. Für die kleine Gruppe von Bilzingsleben ergibt das eine natürlich begrenzte Gesamtregion – Mania spricht meist von „Distrikt“ – mit einer „Größe von etwa 100 mal 100 km“, „besonders das Thüringer Becken mit den es umgebenden Bergländern  …  . Das landschaftlich ähnlich gestaltete mittlere und untere Saalegebiet sowie das Harzvorland können einbezogen werden. Der Distrikt wurde von geographischen Grenzen umgeben, die ent­ weder nicht überschritten werden konnten oder aus Gründen schwerer Passierbarkeit gemieden wurden, solange keine zwingende Notwendigkeit bestand“ (S. 249 f.). 

Mania stellt selbstverständlich auch seinerseits die Frage nach möglicherweise benachbarten zeitgleichen Gruppen und meint dazu: „Einen benachbarten Distrikt einer Homo-erectus-Gruppe kann es im süddeutschen Raum gegeben haben. Die Fundschicht im Travertin von Bad Cannstatt ist als Hinweis auf einen Rastplatz Beweis dafür. … . Ob und wie weit diese Gruppen voneinander abgegrenzt waren, wie viele es gab und ob die Gruppen miteinander Kontakt hatten – das entzieht sich heute noch unserer Kenntnis“ (S. 252).

Für übergeordnete, politische Gemeinwesen haben wir jedenfalls hier noch keine Anzeichen, und ich will ja keine Spekulationen bringen. Bei Edertal-Buhlen in Nordhessen ist eine wohl Jagdstation einer Menschengruppe aus dem Späten Mittelpaläolithikum (Spätphase der Mittleren Altsteinzeit), geologisch aus dem Jungpleistozän, 75/70 000–37 000 Jahre vor heute, untersucht worden. Die Tierknochen von u. a. Mammut, Nashorn und Wildpferd weisen wegen der Vorkommen von Knochen auch der Saiga-Antilope auf kaltes und t­ rockenes Eiszeitklima hin (erste Hälfte der letzten, der Würm-Kaltzeit). „Durch die Ausgrabungen in den achtziger Jahren ließ sich nachweisen, daß die Jäger nicht nur den abgetreppten Südhang der Dolomitflanke als Wetterschutz beanspruchten, sondern daß sie auch Gesteinstrümmer am Fuß des Felsens zusammentrugen und hier eine ringförmige Konstruktion von vier bis fünf Meter Durchmesser errichteten, die als Basis einer Behausung zu rekonstruieren ist. Zwei Steinblöcke im Innern des Kreises … [werden] zur Arretierung eines Mittelpfostens gedient haben, der einen zeltartigen Oberbau stützte. Feuer­stellen mit dicken Lagen von Knochenkohlen [es gab keinen Wald] zeugen von der intensiven Nutzung dieser Anlage“ (Fiedler, 1990, S. 103).

Es wird (Fiedler/Hilbert, 1987, S. 139) auf eine Population von vier bis – offenbar eher (siehe Rekonstruktion) – sechs bis sieben Menschen geschlossen (Fied-

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

ler/Hilbert, 1987, S. 149; Fiedler, 1990, S. 104, u. 1994, S. 107). Von der Existenz eines politischen Gemeinwesens ist auch hier noch nichts zu erkennen. Wohl aber gilt: Diese mittelpaläolithische Behausung „ist neben dem sorgfältig entschlüsselten Befund von Mönchengladbach-Rheindahlen (H. Thieme 1983) der deutlichste Nachweis von Behausungen aus der Zeit der Neandertaler in Deutschland und einer der ganz wenigen in Europa“ (Fiedler/Hilbert, 1987, S. 149). Von Molodóva I im Dnjestr-Becken in der Ukraine ist eine etwas größere Behausung bekannt, mit einer ovalen künstlichen Setzung großer Mammutknochen (Dm. außen 10 u. 7 m) als Befestigung einer Hüttenwand. Der Innenraum (Dm. 8 u. 5 m) ist zweigeteilt und hat für beide Teile je einen Eingang.300 Auch diese Behausung gehört in eine mittelpaläolithische Kulturschicht und, weil „ganz vereinzelt … Anklänge an jungpaläolithische Formen erkennbar“ sind, ist sie dann wohl gleichfalls eher aus dem Späten Mittelpaläolithikum. Hier könnte eine Population etwa der doppelten Größe der von Edertal-Buhlen gelebt haben. Auf die umstrittenen „Langhäuser“ von Kostienki am Don (20 km unterhalb Woronesch) I und IV301 gehe ich nicht ein, weil es viel zu viele Unklarheiten gibt. Müller-Karpe (Handbuch, Bd. I, S. 169 f.) sagt dazu allgemein, daß die Gruppenbestattungen von Předmost in Mähren302 und aus der Großen Ofnethöhle bei Holheim, Kr. Nördlingen,303 darauf hindeuten, daß im Jungpaläolithikum mit größeren Sozialverbänden, „etwa Sippen“, zu rechnen sei. Ebenfalls ins Gravettien gehören Lagerplätze aus Mähren, die z. T. zwischen den beiden Weltkriegen, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht worden sind. In Unterwisternitz (Dolní Vĕstonice) waren rings um einen großen Brandplatz (35 m2; 0,8 m mächtig) Hütten mit jeweils meist zwei kleinen Feuerstellen, aber auch einer größeren ovalen (Dm. 9 u. 14 m) mit fünf kleinen Feuerstellen (Müller-Karpe, Bd. I, S. 317 u. Taf. 221,26). „Wegen häufiger Umbauten bzw. Neuerrichtungen solcher hütten- oder zeltartig vorzustellender Behausungen ließen sich klare Grundrisse nur schwer verfolgen.“ Wir wissen auch nichts über Unterschiede zwischen den Situationen im Sommer und im Winter. Wir können folglich nur sagen: Wahrscheinlich hatte das Gemeinwesen eine Population in einer Größenordnung über 20–25 Personen, wenn man diese Zahl allein für 300

Müller-Karpe, Bd. I, S. 336 (Regesten). „Läßt man die umstrittenen Langhäuser des mittleren Jungpaläolithikums (z. B. Ko­ stienki I,1) außer acht (Gamble, 1986, [S.] 265; Veil, 1981) – auch die Überbauung der Grundrisse von Kostienki IV, untere Fundschicht, mit Längen bis über 30 m erscheint zweifelhaft (vgl. Bosinski, 1987, [S.]  45)  –, erreichen wir für paläolithische Behausungsgrundrisse mit etwa 7 m Außendurchmesser eine gewisse Obergrenze. Darüber liegen nur wenige Befunde wie der mittelpaläolithische Befund von Molodova  I, 4 mit ca. 7  x 9  m (Bosinski, 1985, [S.] 39). Die Interpretation solcher Grundrisse als Behausungen ist jedoch umstritten. Gamble (1986, [S.] 262) diskutiert für diese Befunde eine Funktion der Knochenumbauung als einfachen Windschutz“ (Terberger, 1997, S. 251). 302 Aus dem „Gravettien“ (Müller-Karpe, Bd. I, S. 315). 303 Allerdings erst „spätes Magdalénien“ (Müller-Karpe, Bd. I, S. 302). 301

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die größere Behausung ansetzt. – Mehrere Behausungen „(z. T. mehr als 7 m lang)“ mit im Innern „stets zwei Herdstellen“ sind bekannt auch von einem Lagerplatz bei Ostrava-Petřkovice (Ostrau-Petershofen) an der Oder (Müller-Karpe, Bd.  I, S. 324). Bevor ich den Fall Gönnersdorf beschreibe, gebe ich noch einige Beobachtungen und daraus resultierende Überlegungen zum Thema Verhältnis verschiedener Lagerplatzgemeinschaften im Mittel- und im Jungpaläolithikum zueinander wieder, die zwar immer noch nicht dazu führen, daß man bereits übergeordnete politische Gemeinwesen postulieren könnte, aber Sachverhalte nennen, die notwendige, freilich für sich allein noch nicht hinreichende Voraussetzungen für die Ent­stehung politischer Gemeinwesen sind: „Immerhin könnte der stratigraphisch bezeugte häufige Aufenthalt von Gruppen desselben archäologischen Formenbestandes an derselben Stelle während eines nachweislich langen Zeitraumes – mitunter sicher mehrere Jahrtausende –304 für eine beträchtliche Konstanz solcher Gruppen sprechen, ohne die eine derartige Tradition kaum erklärlich wäre. Daneben aber führt eine typologische Analyse des Fundbestandes zu der Einsicht, daß diese Verbände nicht in sich abgeschlossen, sondern ausgesprochen kontaktfreudig waren. Nur so wird die Großräumigkeit vieler Kulturerscheinungen verständlich, wobei nicht nur mit  … [bloß] Kulturbeeinflussungen, d. h. einer Weitergabe technischer, ökonomischer, künstlerischer und sonstiger kultureller Erscheinungen von Verband zu Verband[,] zu rechnen ist, sondern auch mit einem blutsverwandtschaftlichen Zusammenhang der Lagerplatzverbände untereinander. Im Falle einer Endogamie wären die einzelnen Gruppen wohl nicht lange existenzfähig geblieben.“305

bb) Das magdalénien-zeitliche Gemeinwesen von Gönnersdorf Bei der Ausgrabung (1968–1976) der Reste einer vergleichsweise sehr gut erhalten gebliebenen306 spätpaläolithischen Siedlungsstelle aus dem Magdalénien in Gönnersdorf am Mittelrhein (jetzt Stadtteil von Neuwied) wurden u. a. vier Konzentrationen (im folgenden: K) in der Grabungsfläche beobachtet, die der Ausgräber, Gerhard Bosinski (1979; s. a. 21975), als Reste von Behausungen, darunter von drei für damals relativ größeren, interpretiert hat. Die großen „belegen sowohl eine größere zusammenlebende Menschengruppe als auch eine längere Besiedlungsdauer. Das 1968 ausgegrabene Haus [K I] war im Winter bewohnt, ein nordwestlich davon gelegener Bau“, K II gemäß erster Durchsicht, „auch im Sommer. Zumindest eine [zeitliche] Überlappung der freigelegten Siedlungsreste  … [ist] schon deshalb wahrscheinlich, weil das Baumaterial aller Häuser eigens her 304

Müller-Karpe, Bd. I, hat mehrere Fälle an verschiedenen Stellen seines Textes erwähnt. Müller-Karpe, Bd. I, S. 171. 306 Beim Ausbruch des Laacher-See-Vulkans (Eifel) mit einer 1,5–2 m starken Bimsschicht überdeckt und damit vor jüngerer Zerstörung geschützt. Der Ausbruch wird inzwischen auf um 10 966 v. Chr. datiert (Jöris/Weninger, 2000, S. 466). 305

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

beigeholt und nicht von einem anderen, aufgelassenen Bau übernommen wurde“ (21975, S.  58 f.). Die Bauten können wegen ihrer großen Durchmesser, 6–10  m, nicht Stangenzelte gewesen sein. Beim im Grundriß breitovalen 1968 ausgegrabenen Haus zeigen Vertiefungen in Abständen von jeweils 1,5 m an, daß das Haus auf Pfosten aufgerichtet war, auf die wohl „Sparren eines flachkegelförmigen Daches gelegt [waren]. Als Bedeckung von Wand und Dach dienten vermutlich Pferdefelle, die zu mehreren großen Bahnen zusammengenäht waren“ (21975, S. 44). Bosinski hatte zunächst angenommen, daß die drei großen Behausungen (K I, K II und K III) Platz für je zehn bis 20 Menschen geboten hätten (S. 59), hat das später (1979, S. 189) aber korrigiert auf höchstens je zehn, so daß wir dann für die damals postulierten drei größeren Zelte von wohl insgesamt höchstens 30 Personen hätten ausgehen dürfen. „Die räumlichen Verbindungen dieser Menschengruppe waren beträchtlich: ein Teil  des Rohmaterials für die Steinwerkzeuge stammt aus einem mehr als 100 km nördlich bzw. aus einem mehr als 75  km nordwestlich gelegenen Gebiet. Fossilien kommen aus dem 100 km südlicher liegenden Mainzer Becken und die Schmuckschnecken aus dem Atlantik und dem Mittelmeer. Diese Verbindungen belegen einen ausgedehnten Tauschhandel, denn die Annahme eines derart großen307 ‚Wandergebietes‘ ist nicht sehr wahrscheinlich“ (21975, S. 59 u. S. 62).

Weil eines der großen Häuser – gemeint ist K II – auch im Sommer, das große von 1968 nur im Winter (von September bis März; 21975, S.  44) bewohnt war, nahm Bosinski damals an, daß Teile der Gruppe im Sommer wegzogen, andere Teile aber wohnen blieben. „Im Neuwieder Becken konnte das ganze Jahr hindurch gejagt werden; der arktische Winter entfiel“ (S. 62). Bosinski schätzte den Lagerplatz als „Basislager“ ein, „in dem Teile der Gruppe für längere Zeit lebten. Zugleich war ein derartiges Dorf308 Treffpunkt und Mittelpunkt einer [­relativ] größeren Menschengruppe, in dem auch alle die ganze Gruppe betreffenden Vorgänge – Tauschhandel, Feste, die in die Religion eingebundene Kunst309 – ihren Platz hatten“ (S. 62). Hier schien zum ersten Mal e m p i r i s c h b e l e g t zu sein, daß ein Lager Treffpunkt war, an dem sich eine Gruppe von a u ß e n kommend mit einer anderen, die entweder verblieben oder schon früher von woanders her gekommen war, zusammengefunden hatte. (Ich komme am Ende dessen, was Gönnersdorf betrifft, darauf zurück.)

307

Das „derart großen“ bezieht sich nur auf Atlantik und Mittelmeer. Zum „Dorf“ gehört ein Zentrum, in der mittelalterlichen Geschichte ab Karl d. Gr. die Kirche mit Kirchhof und Friedhof. Für Gönnersdorf dürften wir vergleichsweise von einem „Dorf“ sprechen, wenn es einen zentralen Platz gegeben hat. 309 Für das zuletzt Genannte gibt es vom Fundmaterial her sehr viele Anhaltspunkte: viele Tier- und Menschen-Gravierungen und Statuetten, dazu nichtfigürliche Zeichen (Bosinski, 2 1975, S. 51–59). Als Indizien für das an zweiter Stelle Genannte gelten vielleicht Darstellungen von Tanzszenen (S. 54). 308

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Thomas Terberger, der 1997 im Rahmen der von Bosinski herausgegebenen Publikationen über Gönnersdorf seine nun sehr detaillierte Untersuchung der Siedlungsbefunde speziell von K IV und K III vorgelegt hat (aber im Zusammenhang mit dem damals über das von K I, der großen Behausung von 1968, und über das von K II Bekannten), bringt gemäß seinem neueren Kenntnisstand Korrekturen. Es hat sich erwiesen, daß es bei den meisten Fund- und Befundkonzentrationen mehrere Siedlungsunterbrechungen gegeben hat, von unterschiedlicher Länge, und daß auch die Nutzungen verschieden lang dauerten, in einigen Fällen wohl nur wenige Tage. Für unsere Betrachtung ist es wichtig, daß von den drei Konzentrationen, die Bosinski für Reste größerer Behausungen gehalten hat, die größte, K II, aus unseren Überlegungen herausfällt. Sie hat nicht gleichzeitig bestanden mit K III und K IV (diese beiden in ihren Phasen 1) und auch nicht mit der mit diesen sehr wahrscheinlich gleichzeitigen K I.310 Während die Befunde von K I auf eine stabiler gebaute Behausung mit Pfosten in Pfostenlöchern und einer Innenfläche von 6,5 m × 5,5 m schließen lassen (Jöris/Terberger, S. 250), werden die Befunde von K IV, Phase 1, inzwischen (Terberger, 2000, S. 166 und S. 168) als Zelt mit trapezförmigem Grundriß von nur etwa 25 m2 Innenfläche interpretiert, in welchem Zelt sich die Benutzer nur kurzfristig (zumindest u. a. zur Vorbereitung der Waffen für die Jagd) aufgehalten haben, die Befunde von K III, Phase 1, als Zelt mit einem Dm. von mindestens 5,5 bis 6 m (evtl. „Grundriß von 6–7 m“),310 das entweder ein einfaches Stangenzelt war oder ein anderes freitragendes Gerüst mit etwa senkrecht hängender Verkleidung besaß. Verschiedene Kriterien legen hier einen „längeren“ (keine konkreten Angaben) Aufenthalt der Benutzer nahe (1997, S. 250 f.). Da 1 760 „Werkzeugenden“ aus der Fläche von K I vorliegen und (ohne die Pfo­stengruben) 26 Gruben, für die Phase 1 von K III 641 bzw. 13, ist für K I „von einer mindestens doppelt so langen Nutzungsdauer auszugehen“, und es bestehen auch für K I „Anzeichen für eine Mehrphasigkeit“ (S. 253). Für uns von Bedeutung sind die Ergebnisse von Terbergers Untersuchungen über die Zuordnungen der vier wichtigsten Gesteins-Rohmaterialien zu den Konzentrationen I, III und IV – soweit diese gleichzeitig sind (S. 259). Es handelt sich um Tertiärquarzit, der aus dem Mittelrheingebiet selbst stammt (Flußgerölle) und der aus K III/1, aus K I und aus K IV belegt ist; um nordeuropäischen Feuerstein, ebenfalls K III/1, K I und K IV; um Chalcedon, dessen „Herkunftsgebiet bei … [z. Zt. gegebener] Quellenlage nur schwer definitiv anzugeben …, aber am ehesten ca. 80 km südlich“ von Gönnersdorf, besonders in III/1 vertreten, in anderen Konzentrationen in „geringeren Frequenzen“; Kieseloolith, ortsfremd, aus dem Mainzer Becken, „Schwerpunkt in K III … [, sonst] nur noch in K IV“. „Es ist möglich, daß ein in K III gefundener, wohl aus dem Mainzer Becken stammender tertiärer Haifischzahn gemeinsam mit dem Kieseloolith den Platz erreichte.“

310 Zur Gleichzeitigkeit dieser drei s. Terberger (1997), S. 251/253, dazu S. 259 u. S. 316, zum Grundriß S. 253 u. S. 313.

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Terberger erörtert (S. 268) die Frage, wie das gemeinschaftliche Auftreten „von nordeuropäischem Feuerstein und Kieseloolith (und Chalcedon?)“ angesichts ihrer „mindestens 180 km voneinander entfernten, in entgegensetzter Richtung liegenden Herkunftsgebiete“ plausibel zu machen sei. Er erörtert vier Erklärungen, die „theoretisch“ in Frage kommen. Tatsächlich plausibel ist dann nur: „3. In Gönnersdorf haben … [einander] zwei Gruppen aus verschiedenen Richtungen getroffen.“ „Die Fakten zusammen sprechen für einen gleichzeitigen Umlauf der beiden Rohstoffe und eine Zusammengehörigkeit der vier Rohstoffe von Phase I [K III] zu einem Aufenthalt. Die Gleichzeitigkeit läßt sich am ehesten mit dem jahreszeitlich bedingten Zusammentreffen von zwei Menschengruppen (Kernfamilien/ erweiterte Kernfamilien?) erklären“. Sowohl für K I als auch für K III/1 kommt wegen bestimmter Faunenreste (hier von Pferde-Foeten) zumindest die Winterzeit für den Aufenthalt der Bewohner in Frage, von dem wir wissen, daß er bei K III/1 „länger“ währte und daß bei K I ein im Verhältnis dazu mindestens doppelt so langer Zeitraum wahrscheinlich ist, allerdings möglicherweise auch mit nicht sehr langer Zwischenzeit (Begründung ist genannt). Während für K I schon weiter oben anhand von Bosinski (1979) einiges über die aus den Funden und Befunden zu erschließenden Aktivitäten gesagt wurde, hat Terberger (S. 313) für K III/1 ermittelt, daß Gruben „im Bereich der Arbeits­ zonen um Feuerstelle 1“ als „Vorratsbehältnisse, Kochgruben etc.“ dienten und daß die Grube 77 eine Sonderstellung einnahm, „die durch zahlreiche Steinwerkzeuge, Gagatreste, Rondelle und  … [andere] Funde einen Rückschluß auf die an dieser Grube durchgeführten Arbeiten ermöglichte (Lederbearbeitung, Kleidungs­ herstellung?, Schmuckherstellung).“ Wenn der Lagerplatz nach allen Seiten hin komplett untersucht wäre, wäre ein politisches Gemeinwesen für das magdalénien-zeitliche Gönnersdorf schwerlich zu postulieren,311 und wir könnten unseren Versuch abhaken. Terberger (S.  17) schreibt: „Hinweise auf eine Fortsetzung der Fundstreuung gibt es u. a. nach We­ sten in Richtung des Grundstücks Pielsticker (Abb. 1, K-M; 2), nach Norden und auch nach Osten (Abb. 1, D-G)“ –, und Bosinski (1979, S. 26) hatte sogar schon konkrete Anhaltspunkte für eine nächste Konzentration: „An der Westkante der 1976 untersuchten Fläche liegt eine lockere Plattenstreuung, die vermutlich den östlichen Ausläufer einer unter dem Grundstück und Wohnhaus Pielsticker vermuteten Konzentration darstellt (vgl. S. 42).“ Der Lagerplatz war also offenbar größer. Nun ist damit eine größere Zahl der damals gleichzeitig Anwesenden zwar möglich, aber nicht bewiesen (und sich auf lediglich Spekulationen einzulassen, kann nicht in Frage kommen), von bestimmten anderen Gönnersdorfer Funden und 311

Bei – so wird in der Vorgeschichtsliteratur meist angenommen – damals mehr Kindersterblichkeit würde es unter 30 Menschen wohl um 17 Erwachsene gegeben haben und wegen Kindbettsterblichkeit von Frauen dann wohl eher etwa acht bis sieben Frauen und neun bis zehn Männer.

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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Befunden selbst her ist es aber nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich. Bevor ich sie nenne, brauchen wir noch etwas anderes. Gerd-Christian Weniger hat 1982 seine Untersuchung „Wildbeuter und ihre Umwelt. Ein Beitrag zum Magdalénien Südwestdeutschlands aus ökologischer und ethno-archäologischer Sicht“ vorgelegt. Er hatte Material aus 27 Fundstellen Südwestdeutschlands. Am Beispiel der Mittleren Schwäbischen Alb, seinem „Kerngebiet“, rekonstruiert er Boden, Klima und Vegetation im älteren Abschnitt des Magdalénien (Älteste Tundrazeit), schätzt, stets unter Erörterung von Fehlerquellen, die möglich oder wahrscheinlich gegeben sind, die Primärproduktion (g/m2/Jahr) solcher Pflanzen, die von den damals seitens der Menschen bejagten Tieren als Nahrung benötigt wurden, stellt die im archäologischen Fundmaterial aus jener Zeit belegten Tierarten in allen für die Untersuchung relevanten Eigenschaften und Verhaltensweisen vor, zeigt die Veränderung der Fauna vom älteren zum jüngeren Abschnitt (Beginn des Bölling), bringt Durchschnitts- bzw. Von-bisWerte der „Biomasse“ pro Exemplar der Tierarten in Verbindung mit der Bedeutung der Tierarten für die Nahrung der Menschen, auch anhand der Relationen im archäologischen Fundbestand, bringt Angaben darüber, wieviel Huftier-Biomasse (kg/ha)  für welche Vegetationen tragfähig ist, einen „mittleren Schätzwert“ für die wohl tatsächlich vorhandene Huftier-Biomasse (kg/ha), bezogen auf den „gesamten südwestdeutschen Raum“ im älteren Abschnitt des Magdalénien und eine Modellrechnung für die Mittlere Alb, aus der dann für dort für die beiden wichtigsten Beutetiere der Menschen, Rentier und Wildpferd, die Huftierpopulationen geschätzt werden. In die Überlegungen gehen dabei Beobachtungen des jahreszeitlichen Wanderverhaltens der Tierarten ein, das sich z. T. aus dem archäologischen Faunenmaterial verschiedener Fundort-Typen (geographisch gesehen) erschließen läßt, z. T. aus Beobachtungen rezenter und subrezenter Wildbeuterpopulationen arktischer und subarktischer Räume Nordamerikas. Die Beobachtung solcher Populationen hat ergeben: „Ein typisches Kennzeichen jägerischer Gemeinschaften ist ihre hohe Mobilität.  … Ein zweites … ist die Bildung kleiner Gruppen (…). Die stabilste soziale Einheit“ „besteht in der Regel aus mehreren Familien, etwa 5 (…), die meist über enge verwandtschaftliche Beziehungen mit einander verbunden sind. Ihre Größe bewegt sich unter Wildbeutern all­ gemein zwischen 25 … [und] 30, maximal 50 Personen“ (Weniger, S. 149).

Der Autor überträgt leider die von J. Helm 1968 für die verschiedenen Gruppen­ größen ganz unglücklich geprägten nordamerikanischen Begriffe auch ins Deutsche. So heißt jene aus 25 bis 30, maximal 50 Personen bestehende Einheit „Lokal­gruppe“, obwohl sie gerade nicht lokal gebunden ist, sondern innerhalb eines Jahres „bis zu sieben verschiedene Hauptcamps“ aufschlug, innerhalb einer in Wirklichkeit kleinen Region. „Die größte Entfernung zwischen zwei Hauptlagern betrug  … 50 km.  … Das Territorium einer  … [solchen Gruppe] konnte eine maximale Ausdehnung von 74 x 150 km erreichen, eine Fläche von mehr als 11 000  km2“ (S. 149 u. S. 152).

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Mehrere dieser aus in der Regel 25–30 Personen bestehenden Gruppen oder von Teilen davon bildeten „zu bestimmten Jahreszeiten häufig zusammengesetzte Gruppen. Diese Zweckgruppen, … [gemäß] der Definition von Helm (…), schließen sich zur Nutzung einer bestimmten Ressource zusammen. Wir wollen [sagt Weniger] die Definition von Helm einengen und den Begriff Zweckgruppe nur in bezug auf zusammengesetzte Großgruppen benutzen, die zeitlich begrenzt eine bestimmte Nahrungsquelle ausnutzen“ (S. 150).

„Zweckgruppen“ sind die einen wie die anderen (Zweck: Jagd zur Nahrungsbeschaffung), unbeschadet des Umstands, daß die Gruppe mit 25–30/50 Personen, weil „meist über enge verwandtschaftliche Beziehungen mit einander verbunden“ (sippenartig), außerdem ein genetischer Verband ist, und auch „zusammengesetzt“ sind beide. Das Unterscheidungsmerkmal ist vielmehr das zeitlich begrenzte Zusammenkommen. Bevor ich zu diesen uns besonders interessierenden, an zweiter Stelle genannten Gruppen komme, noch etwas zu der bei Weniger (gemäß Helm) als „Regionalgruppe“ bezeichneten. Sie besteht aus mehreren jener kleinregio­ nalen Verbände und sollte deshalb „Großregionalgruppe“ heißen. Ihre Größe va­ riiert zwischen 300 und 500 Personen. Ein Zusammentreffen auf dieser Ebene „findet selten bzw. nie statt“; das soll wohl heißen: Bei nur wenigen Stämmen gab es das, bei den meisten aber nie. „Nur von den Chipewyan sind Gruppen von 400 bis 600 Personen bekannt (…), die wir als vereinigte [Groß-]Regionalgruppe ansprechen“ (S. 149 f.). Die „Termine“ (im weiten Sinn), zu denen eine Mehrzahl von Kleinregionalgruppen zusammenkam, wurden bei den auf die Jagd auf die nordamerikanischen Rentiere (Cariboos) spezialisierten Stämmen von den Jahreszeiten bestimmt, in denen reiche Beute zu machen war, von den Zeiten der Herdenbildung vor den Wanderungen dieser Tiere, im Herbst und im Frühjahr, bei solchen, bei denen der Fischfang dominierte, war es Sommer. Danach gingen die Gruppen wieder auseinander. Weniger (S. 150) sagt noch, daß die Aufspaltung in kleine Gruppen auch eine Funktion der Verschlechterung in der Nahrungsversorgung war. Offenbar ist gemeint, daß in kleinen Gruppen, um „überleben zu können“, eher sparsam gewirtschaftet werden konnte als in größeren. Im Anschluß an in vorangehenden Teilen seiner Untersuchung gegebenen Begründungen schätzt Weniger (S. 207), daß eine Gruppe von etwa 25 Personen in Südwestdeutschland im Magdalénien wahrscheinlich ein Nutzungsareal von um 2 500 km2 hatte. Bei einer Größe des von Weniger untersuchten Raums (Südwestdeutschland) mit grob 50 000 km2 wäre Platz für insgesamt etwa 500 Personen. Das „entspricht einer Populationsdichte von 0,01 Personen/km2“. Bei den magdalénien-zeitlichen archäologischen Inventaren aus Südwestdeutschland unterscheidet Weniger (S. 165) zwischen „großen Inventaren“, mit 200 und mehr Werkzeugen und mit Grabungsflächen von 200 m2 aufwärts, „kleinen Inventaren“, die aber „relativ vollständig erfaßt worden sind“, und „AusschnittInventaren“, die „nur den gegrabenen Ausschnitt einer größeren Fundstelle reprä-

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sentieren“. Er zeigt anschließend, wodurch sich die Inventarklassen auch qualitativ voneinander unterscheiden. Ich greife nur zwei Sachverhalte heraus. In den großen Inventaren kommt Gagat regelmäßig und kommen Kunstobjekte häufig vor (S. 175). Im Inventar Gönnersdorf gibt es viele hundert Menschen- und Tierdarstellungen, bei weitem meistens Gravierungen auf Schieferplatten, Menschendarstellungen, aber auch als Statuetten aus Elfenbein, Geweih und Schiefer (weiter oben unter anderem Aspekt schon erwähnt; siehe auch die Spezialpublikationen Bosinski/ Fischer, Bände 1 und 5). Das Inventar Gönnersdorf gehört sowohl von der ergrabenen Fläche her als auch mit seinen über tausend Werkzeugen zu den großen Inventaren (zu Gönnersdorf in dieser Sache auch Weniger, S. 168), obwohl es tatsächlich erst ein großes Ausschnitt-Inventar ist, weil eben der Lagerplatz offensichtlich nicht komplett ausgegraben wurde. Weniger (S. 188) charakterisiert diese Situationen wie folgt: „Von besonderer Bedeutung sind die beinahe ausschließlich aus den ‚großen Fundstellen‘ belegten Kunstobjekte. Ihr Nachweis läßt wahrscheinlich auf Feste und zeremonielle Tätigkeiten schließen [das kennen wir schon, und zwar mehr detailliert, aus ­Bosinski, Bd.  3; siehe oben], die generell in Verbindung mit größeren Gruppen zu sehen sind“, und er interpretiert solche Plätze jeweils als Lager, in dem sich mehrere dieser Gruppen von 25 bis 30 Personen (ohne „Lokalgruppen“) für eine begrenzte Zeit zusammengefunden hatten. Das heißt, wir müssen wohl doch für den Gönnersdorfer Lagerplatz weit mehr als 30 Personen, die gleichzeitig anwesend waren, annehmen. An der erwähnten Korrektur nach unten (statt zehn bis 20 Personen pro Behausung höchstens zehn), die Bosinski vorgenommen hat, ändert sich nichts. Es fehlen uns aber offenbar nicht geringe Teile des Lagerplatzes. Für unser Thema bedeutet das: Etwas größere Gemeinwesen, deren Gruppen aus verschiedenen Gegenden zu bestimmten Zeiten um gemeinschaftlicher Aktivitäten willen zusammenkamen, zu Jagd, Kult und wohl auch Festen, gab es offenbar schon im Jungpaläolithikum, in Südwestdeutschland ab dem älteren Abschnitt des Magdalénien, in Gönnersdorf spätestens grob um 10 000 v. Chr. Die Indizien dafür sind in Gönnersdorf besonders stark. Wenn, wie Bosinski sagt (siehe oben), an dem Lagerplatz „alle die ganze Gruppe betreffenden Vorgänge … ihren Platz hatten“, werden das ganz sicher nicht nur „Tauschhandel, Feste, die in die Religion eingebundene Kunst“ gewesen sein, es wird a l l e s , was alle anging, zur Sprache gekommen sein. Aber nur unter der Bedingung der Öffentlichkeit, die höchstwahrscheinlich erfüllt war, könnten wir von einem kleinen sozusagen Thing312 sprechen und dann 312 Was die Einhaltung wenigstens eines Minimums an Förmlichkeiten voraussetzte, über deren Einzelheiten ich aber nicht spekulieren will.

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auch von einem politischen Gemeinwesen. Jedenfalls haben wir hier bisher am frühesten in der Menschheitsentwicklung in einem konkreten Fall eine solche Situation.313 Es gibt aus dem Spätjungpaläolithikum, aus dem Endpaläolithikum und aus dem den Übergang zum Neolithikum (Jungsteinzeit) bildenden Mesolithikum (Mittelsteinzeit, von etwa 10 000/8 000 bis etwa Mitte des 6. Jahrtausends v. Chr., im Ostseeraum noch gut tausend Jahre länger) zwar noch viele Siedlungsplätze mehr, von denen Reste von Behausungen bekannt sind,314 aber wir wissen entweder nicht, wieviele der Behausungen gleichzeitig bestanden, kennen also die Struktur der Siedlung nicht recht, oder es gibt erst Vorberichte über die Grabungen, aus denen das, was die abschließende Publikation und die detaillierte Dokumentation in der hier interessierenden Sache vielleicht bringt, noch nicht erkennbar ist, oder es handelt sich nur um einzelne Behausungen, meist für Klein- oder Kleinst­ gruppen oder gar für nur eine Person, die während wohl weniger Monate Spezialarbeiten, in diesem Fall am Donau-Ufer, durchgeführt hat, oder es gab zwar zwei Wohn-Einheiten, aber, diese zusammen, nur für eine Gruppe von höchstens zehn bis 15 Personen. b) Stand der „Indogermanen“-Forschung An dieser Stelle brauchen wir einen Überblick über den Stand der Forschung zum Thema „Indogermanen“, soweit für uns relevant. 1968 hat Scherer die hierzu bis dahin an vielen verschiedenen Stellen erschienenen wichtigsten Aufsätze in einem Buch zusammengefaßt, erneut publiziert und damit gut zugänglich gemacht. 1983 ist die Arbeit „Zum Ursprung der Indogermanen“ von Kilian erschienen, in der der Autor die Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen, der vorgeschichtswissenschaftlichen und der anthropologischen Forschung zum Thema miteinander verbindet, für jedes der Fächer die in dieser Sache wichtigen Fach­ 313

Nimmt man um der Vereinfachung der Berechnung willen, bei der es ja nur um eine Größenordnung geht, den Beginn der Menschheitsentwicklung vor grob 2 Mill. Jahren an, war das nach Ablauf von um 99,4 v. H. dieser Zeit. 314 Malta im Irkutskgebiet in Sibirien mit fünf Behausungen entlang eines Terrassenrands; Oelknitz in Thüringen mit mehreren Grundrissen; Molodóva V, Korman IV/2–4 im DnjestrGebiet in der Ukraine mit jeweils mehreren Behausungen; Kokorevo am Jenissei in Sibirien; Kostienki VIII in Rußland; Pincevert a. d. Seine/Frankreich; Ahrensburg nö Hamburg, am Borneck (Magdalénien); Ahrensburg, ebenfalls am Borneck, Poggenwisch (3 km sw von Born­ eck) und Ahrensburg-Teltwisch (diese aus der Hamburger Kultur bzw. aus der Ahrensburger Kultur, beide, anders als das Magdalénien, das im Süden und im Westen verankert ist, in Osteuropa fundiert; Westerkappeln nw Osnabrück (zur Rissener Gruppe der Federmesser­ kultur); Mühlheim-Dietesheim a. M. und Rüsselsheim (aus einer auf das Magdalénien folgenden Stufe); Sarching bei Regensburg am rechten Donau-Ufer (fünf Wohnanlagen verschiedener mesolithischer Stufen); Skateholm I in Südschonen/Schweden (frühe Ertebölle-Zeit = Spät­mesolithikum des Ostsee-Raums, um 4 000 v. Chr.). Fiedler (1990, S. 118) nennt für Hessen drei Plätze, an denen wohl mehrere Behausungen existiert haben.

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vertreter bzw. Schriften mit ihren zum Teil  sehr differierenden Standpunkten in Bewertungsfragen, besonders anhand von Scherer, und dann seinerseits ver­ gleichend Stellung nimmt. Seitens der Sprachwissenschaft sind diejenigen Sprachen, die sich als indogermanisch erwiesen haben, zunächst daraufhin untersucht worden, ob gleiche Wortstämme für dieselben Begriffe und Objekte vorliegen. Sofern das in vielen Einzelsprachen der Fall war, und zwar in solchen beider indogermanischer Großgruppen, der europäischen und der indo-iranischen,315 kann man davon ausgehen, daß diese Begriffe bzw. Sachen den Trägern der indogermanischen Grundsprache bekannt waren. Der Fachbegriff heißt „Wortgleichung“. Wenn Wortgleichungen etwa nur in den Sprachen der einen Großgruppe vorkommen, ist es wahrscheinlich, daß die Träger der Sprachen der anderen Gruppe diese Begriffe bzw. Sachen nicht kannten. Die Linguisten haben es mit der Zeit auch besser verstanden, echte Wort­ gleichungen von lediglich Wort-Entlehnungen in eine Sprache aus einer anderen (z. B. aufgrund von Nachbarschaft oder von Handelsbeziehungen) zu unterscheiden. Fremde Wörter können auch nach Wanderbewegungen (mehr oder weniger Wechsel der Umwelt) in eine Sprache gelangen. – Unbeschadet mancher Schwierigkeiten, die nicht zu beseitigen waren und zu Kontroversen in der Sprachwissenschaft geführt haben, hat diese Disziplin im ganzen doch nicht wenig Licht in die alten Verhältnisse gebracht, hinsichtlich „Lebensweise, Kultur und Umwelt“. (Zu diesem Verfahren siehe Kilian, S. 29.) Weiter unten sage ich anhand von Kilians Arbeit konkret etwas über die Ergebnisse. Ein anderes, aber – wie Kilian meint – für die Ermittlung des Ursprungs der Indogermanen noch wichtigeres Verfahren ist die Erforschung der Eigennamen. „Es sind da zu unterscheiden: Personennamen, Ortsnamen (Siedlungsbezeichnungen), Gelände- und Gewässernamen. Als Quellen kommen in Betracht antike Berichte, Inschriften (auf Grabmälern, Tontafeln usw.), daneben aber auch noch existierende Eigennamen. Geländenamen, Flurnamen, vor allem aber Gewässernamen pflegen sich nicht selten über Jahrtausende hinweg zu erhalten, auch bei einem Wechsel der Bevölkerung. Die Neuankömmlinge übernehmen gewöhnlich die alten Bezeichnungen“ und geben sie unter Umständen an noch einmal andere Siedler weiter. „So k ö n n e n also Eigennamen, insbesondere Gewässer- und Geländenamen, von der ältesten bis zur jüngsten Siedlungsschicht überleben.“ (S. 30 f.)

Kilian erwähnt aber auch, daß es manchmal schwierig sei, manchmal sogar unmöglich, das Alter eines solchen Namens zu ermitteln, daß die Linguistik aber eben doch Erfolge erzielt habe. Jetzt zu den Ergebnissen: „Die Wortgleichungen für Schnee, Winter usw. setzen unbestritten eine Heimat in gemäßigter bis kühler Zone voraus. Die Gleichungen für Flora und Fauna bezeugen das gleiche und darüber hinaus eine wald- und gewässerreiche Gegend mindestens für einen Groß 315

Mehr zu den beiden Gruppen siehe weiter unten.

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teil der Indogermanen. Eine ausschließlich … Steppenheimat kann schwerlich in Betracht kommen. Dafür sprechen auch die Gleichungen, die eindeutig auf ein Bauerntum schließen lassen, das schon in die Jungsteinzeit gehört. Es läßt sich hier aber erkennen, daß der östliche Zweig der Indogermanen, die Indoiranier (Arier [= alte Eigenbezeichnung der Indoiranier, nicht der europäischen Gruppe]), den Ackerbau nicht in dem gleichen starken Maß betrieben haben wie die übrigen Indogermanen, sondern ganz vorwiegend Viehzüchter gewesen sind. Die auf den Ackerbau bezüglichen Gleichungen fallen hier wesentlich magerer aus, und das ist doch wohl kein Zufall. Der Reichtum der nach Indien einwandernden arischen Gruppen bestand in großen Rinderherden.  …  . Die  … Bevorzugung der Viehzucht bei den Indoiraniern … [wird] daher wohl auch als Hinweis auf eine Heimat zu deuten sein, die wenig Wald und viel Grasland besaß, also mehr oder minder steppenhaft war (…). Von diesem Standpunkt aus gesehen, käme für die Arier am ehesten das Gebiet nördlich und nordöstlich des Schwarzen Meeres oder gar das östlich daran anschließende in Betracht. Aufgrund der sonst aus den Wortgleichungen erschlossenen Umwelt, vor allem aber aufgrund der Eigennamenforschung, wie sie etwa in der alteuropäischen Hydronymie zum Ausdruck kommt, wäre die Heimat der übrigen Indogermanen in Mitteleuropa nördlich der Alpen bis etwa zum Rhein im Westen und Südskandinavien im Norden anzusetzen.“ (S. 59 f.)

Die Eigennamenforschung hat erbracht, daß nichtindogermanische Gewässer-, Gelände- und Siedlungsnamen in den Alpen, in Frankreich im Süden bis Seine und Marne, in Belgien und auf den britischen Inseln „eine ursprünglich nicht­ indogermanische Besiedlung Westeuropas beweisen. Dazu kommt die … Besiedlung des europäischen Nordrußland durch Finno-Ugrier“, die „auch Nordskan­ dinavien“ umfaßte (S. 55). Ursprünglich nichtindogermanische Besiedlung hatte das „gesamte Mittelmeergebiet südlich der großen Gebirgszüge und der Vordere Orient. Hier herrschten  … [einerseits] die hamito-semitischen Sprachen Nordafrikas und des südlichen Vorderen Orients, andererseits eine Vielfalt mediterraner (…), kleinasiatischer und vorderasiatischer Sprachen, … . Von ihnen … [existieren] nur Trümmer: das Baskische in Nordspanien, die Kaukasussprachen sowie das Werschikische und Buriskische im Hindukusch.“

Auch in Nord-, Ost- und Südasien lebten immer andere als indogermanische Sprachen sprechende Völker (S. 55). Das Indogermanische hatte Beziehungen zum Uralischen und zum HamitoSemitischen. (Vergleiche mit a n d e r e n Sprachen haben bislang keine positiven Ergebnisse über Verbindungen erbracht.) Bindungen zum Uralischen existierten vor allem zu den finno-ugrischen Sprachen (S. 45 und S. 63), nicht so stark waren sie zum Hamito-Semitischen (S. 64); im übrigen ist gerade hierzu jedoch folgendes auffällig: Das Indogermanische und das Hamito-Semitische sind „die einzigen Sprachen der Welt, die voll flektierend sind und ein grammatisches Geschlecht besitzen“ (S.  47), weshalb in sehr früher Zeit wohl Zusammenhänge gegeben waren.

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Die „Loslösung“ beider Sprachgruppen „von einer älteren großen Spracheinheit, die vermutlich während der älteren Stufen des Jungpaläolithikums (etwa 40 000 bis 15 000 v. Chr.) bestanden“ habe – aus welcher Einheit wahrscheinlich auch jene mediterranen Sprachen, die räumlich zwischen Indogermanisch und Hamito-Semitisch liegen, entstanden sind –, könnte – so meint Kilian (S. 68) – in der „letzten Stufe des Jungpaläolithikums, dem Magdalénien (etwa 15 000 bis 8 000 v. Chr.)“, erfolgt sein. Das heißt, wohl damals sei es zur „Aussonderung des Indogermanischen“, also zu seiner Entstehung gekommen. Bei den Erörterungen über die Indogermanen spielten und spielen die Träger der Schnurkeramischen Kultur (SK) bzw. der Gruppen dieser Kultur eine Hauptrolle. (Die charakteristischen Merkmale der SK nenne ich, wenn wir diese Kultur auf der Hauptlinie dieses Exkurses erreicht haben.) Die Träger dieser Kultur gelten als zweifelsfrei indogermanisch.316 Die SK gehört fast an das Ende der Jungsteinzeit, in das „Endneolithikum“. Darin folgt auf die SK nur noch, an ihrem Schluß partiell noch gleichzeitig, die Glockenbecherkultur, deren Träger aus Südwesteuropa eingedrungen waren und ganz sicher eine nicht-indogermanische Sprache gesprochen haben werden. Die SK ist bis in die achtziger Jahre des 20. Jh. n. Chr. an den Anfang des 2. Jtds. v. Chr. datiert worden. Mittlerweile hat sich gezeigt, daß alle Kulturen, die vor die bronzezeitlichen Epochen gehören (die wir anhand ägyptischer und vorderasia­ tischer schriftlicher Quellen richtig datieren können), viel früher anzusetzen sind, als bis dahin angenommen. So wird jetzt der Beginn der SK auf um 2 800/ 2 700 v. Chr. eingeschätzt oder, regional verschieden, auf bald danach. (Wir k­ ennen 316 Hier eine der Begründungen dafür (Kilian, S. 92 ff.): „Die Prähistorie kann nur dann eine Kultur ethnisch (sprachlich) bestimmen [Kilian (S. 11) versteht „Volk“ nicht primär von seiner Abstammung, die aber keineswegs unbeachtet bleibt, sondern von der gemeinschaftlichen Sprache her], wenn sie entweder die Hilfe der Linguistik in Anspruch nimmt oder wenn sie eine Kultur direkt ohne … Bruch einem später bekannten Volkstum zuweisen kann. Der … [zuletzt genannte] Fall ist für die schnurkeramische Streitaxtkultur gegeben. Die schnurkeramische Sondergruppe der Haffküstenkultur läßt sich mit den indogermanischen Balten verbinden (Abb.  1 und 36). Aus der schnurkeramischen Einzelgrabkultur Schleswig-Holsteins und Dänemarks, die … ungefähr den Raum des Germanischen Kreises (Abb. 1) einnimmt, muß das germanische Volk erwachsen sein. Es gibt keine andere Deutungsmöglichkeit. Die Scheu mancher Prähistoriker [sie ist Reaktion auf, von heute her gesehen, z. T. geradezu alberne Übertreibungen von Prähistorikern und Anthropologen in der NS-Zeit in bezug auf Germanentum und nordische Rasse (und außerdem z. T. grotesk falsch verstandenes Ariertum)], die Kultur der mittleren Bronzezeit jenes Raumes (Abb. 1) den Germanen zuzuweisen, ist unbegründet. Wäre diese Kultur nicht germanisch, dann würde das in der Folgezeit erkennbar … [werdende] Germanentum in Jütland, auf den dänischen Inseln und in Südschweden ein Rätsel sein.“ (Das betrifft die bronzezeitlichen Grundlagen der zu Anfang von Kapitel B. I.1.b) genannten Komplexe 1, 2 und, zum Teil, 3.) Kilian gibt dann die Begründung: „Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Germanen dorthin zu irgendeiner Zeit eingewandert sind. … Der so aus archäologischer Sicht erkennbar … [werdende] Ursprung des Baltischen und Germanischen aus schnurkeramischen Gruppen bezeugt das Indogermanentum der schnurkeramischen Kultur.“

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solche Notwendigkeit zu früherem Zeitansatz ja schon aus Kapitel  B. I.1.a).) Die erste Einwanderung von (Proto-)Griechen in den makedonisch-thessalischen Raum wird inzwischen auf grob um 3 000, von dort nach Mittelgriechenland und auf die Peloponnes, statt wie früher auf 1 950, jetzt schon auf 2 300 angesetzt. Der Beginn der Jungsteinzeit mit der Linienbandkeramischen Kultur (LBK) liegt, statt wie früher angenommen um 4 000 v. Chr., in Mittel- und Süddeutschland tatsächlich wohl spätestens um 5 700 v. Chr. – Die neueren Datierungen sind Ergebnisse der seit den achtziger Jahren des 20. Jh. n. Chr. verbesserten 14C-Analyse organischen Fundmaterials. Schon 1932 hat es der Vor- und Frühgeschichtswissenschafter Herbert Kühn auf einem Londoner Kongreß für Vor- und Frühgeschichte als einen Irrtum der Sprachforschung bezeichnet, „wenn sie das ungeteilte Volk [der Indogermanen] im Neolithikum suchte. Es gehört … ins Paläolithikum und Mesolithikum.“ Die Leute der Kultur des Aurignacien317 bis zum Magdalénien318 „sind das ungeteilte Volk der Indogermanen“ und dies nach wie vor in dem oben angegebenen Raum, nun aber einerseits „vermehrt … um die [jetzt] vom Eis freien Räume des Nordens“, andererseits „vermindert um die geschlossenen Gebiete des [aus dem in Nordwestafrika beheimateten nicht-indogermanischen „Capsien“ (Kilian, S.  91) entstandenen] Tardenoisien: Frankreich, [zunächst auch noch] Süddeutschland, England“, aber „im Hochneolithikum eingeschränkt auf Frankreich,319 England und die drei südlichen Halbinseln [im Mittelmeer]. Dieses Gebiet [also das westliche und südliche Frankreich, England, Spanien, Italien und Griechenland] gerade ergibt sich sprachlich als urnichtindogermanisch.“ „Als die beiden Hauptzweige erwachsen aus den epipaläolithischen Kulturen des Paläolithikums mit Klingen und manchmal mit Harpunen die nordische Kultur  … und zweitens die Bandkeramik320.“ „Die Ursitze [der Indogermanen] sind das gesamte Gebiet von Südskandinavien bis zu den Alpen, vom Rhein bis zum Don …“, dort, nordwestlich des Schwarzen Meers, bis Rumänien (wohin, in dessen Norden, ja auch die Linienbandkeramik (LBK) jüngerer Stufe reicht) die mit der LBK verwandte Cucuteni-Tripolje-Kultur, die ich um des räumlichen Gesamtrahmens willen 317 Früher auf ab 40 000 v. Chr. angesetzt, inzwischen wohl besser als Frühes Jungpaläolithikum bezeichnet und auf ab etwa 37 000 v. Chr. datiert, vom Don bis zum Atlantik (Bosinski, 21975, S. 7). 318 Spätes Jungpaläolithikum im südlichen Teil Deutschlands, dazu im Norden die Hamburger Kultur, bis etwa 10 000 v. Chr. (Bosinski, 21975, S. 8). 319 Mittlerweile muß es bei Frankreich aber heißen: jedoch ohne den Osten Frankreichs (Näheres in Fußn. 320). 320 Die (genauer:) Linienbandkeramische Kultur (LBK) hat sich, hinsichtlich ihrer Wirtschaftsweise bereits fertig ausgebildet, ab 5 700 v. Chr. vom Donauraum aus in ihr dann Kerngebiet (älteste LBK) ausgebreitet: Südwestslowakei, Nieder-Österreich, Süddeutschland mit Süd- und Oberhessen; Mähren, Böhmen und Mitteldeutschland, vom Kerngebiet aus ins Elsaß, nach Westdeutschland und in die Niederlande, moselaufwärts nach Lothringen und Luxemburg, in einer ganz späten Stufe sogar bis in die Seine-Marne-Gegend (Meier-Arendt, 1972, und ders./Pax, 1973; Arbogast/Jeunesse, 1996; Fritsch, 1997), nach Osten in Teile Polens und von Norden bis an die Karpaten.

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nenne, die ich aber zunächst beiseite lasse. Kühn beschließt seine Zusammen­ fassung: „Die von der Linguistik erschlossene Ursprache und Urkultur der Indogermanen erfaßt nicht diese frühesten Zeiten, sie legt vielmehr verschiedene Zeiten ungeschieden durcheinander, ohne die Epochen klar zu trennen“ (Kühn, in dieser Sache von mir zuerst entdeckt in: Kilian, S. 90 ff., dann überprüft bei: Kühn (11934) 21968 in: Scherer, 1968). Auch wenn man in Rechnung stellt, daß Kühn 1932 manche Einzelheiten wegen damals noch ungünstigen Forschungsstands falsch eingeschätzt hat  – es kommt mir nicht darauf an, das alles nachzuweisen –, hat er erstaunlich früh sehr entschieden die Zeitrelationen offenbar schon im ganzen richtig gesetzt. Kilian schreibt dann 1983: „Neuerdings nimmt die Zahl derer zu, die [ebenfalls] ein Ur­ indogermanentum in der Altsteinzeit suchen“ (S. 92). Wenngleich klar ist, daß die Träger der SK Indogermanen waren, ist doch lange über die Herkunft gestritten worden. Ohne daß ich diesen Streit hier im Detail ausbreite, stelle ich möglichst knapp dar, wie die Frage, soweit möglich, heute beantwortet wird. Die „Annahme eines alleinigen Indogermanentums der Schnurkeramik“ kommt nicht in Frage (Ulrich Fischer, als Prähistoriker schon lange vor 1989 in beiden Teilen Deutschlands hoch angesehen), schon deshalb, weil „diese Kultur“ bereits aus linguistischen Gründen dafür „zu jung“ ist (in Kilians Worten, S. 94). Kilian (S. 67) zeigt, daß, wenn bereits wegen der Formiertheit des Hethitischen, des Indischen und des Griechischen im 2. Jtsd. v. Chr. die Ausgliederung dieser Sprachen aus dem Indogermanischen spätestens im 3. Jtsd. erfolgt sein müßte, ein Ur-Indogermanisch (unbeschadet sicherlich schon ganz früh vorhandener „Dialekte“) aus linguistischen Erwägungen lange vor der Schnurkeramik angesetzt werden muß. Die Ausdifferenzierung benötigt sehr viel mehr Zeit, als innerhalb nur gut fünfhundert Jahren Entwicklung der SK zur Verfügung stand. Es ist zwar unbestritten, daß sich die SK auch weit nach Osten ausgedehnt hat, es gibt aber nordwestlich und nördlich des Kaspischen Meers, im Osten bis zum Ural, eine endsteinzeitliche/kupferzeitliche Kultur, die unbeschadet einiger weniger Merkmale, die es auch in der SK gibt,321 genauso unmöglich aus der SK abgeleitet werden kann wie umgekehrt. Sie wird treffend „Ockergrabkultur“ genannt (die Toten werden aus rituellen Gründen entweder in einer Lage Ocker beigesetzt oder mit Ocker bestreut), in jüngerer Zeit auch als „Kurgan-Kultur“ bezeichnet, was mißverständlich ist, weil die Bestattung unter einem Hügel (russ. „Kurgan“) wahrscheinlich sekundär ist (Kilian, S. 103). Es gibt einen Beweis für Kontakte zwischen SK und Ockergrabkultur jedenfalls in einer späten Phase (S. 98). Mit größter Wahrscheinlichkeit waren auch die (in mehr steppenartiger Landschaft primär Viehzucht treibenden) Träger der Ockergrabkultur Indogermanen, denn 321 Von 23 wichtigen Merkmalen, die Kilian (S. 95) nennt, kommen nur vier in beiden Kulturen vor.

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aus ihnen sind offenbar die Indo-Iranier hervorgegangen (S.  105 f.). Der indo­ germanische Zusammenhang der beiden großen Gruppen, der Träger der Ockergrabkultur und der „Schnurkeramiker“, muß zeitlich entsprechend weiter zurückliegen. Kilian nimmt an dieser Stelle (S. 105) den Kühnschen Argumentationsfaden wieder auf: „Damit kommen wir [wieder] zu der bereits von H. Kühn … 1932 geäußerten Auffassung, daß die sprachliche Gemeinschaft der Indogermanen auf das Paläolithikum zurückgehen“ wird. Weil in der Indogermanen-Frage verständlicherweise und auch zu Recht das Interesse lange Zeit so sehr auf den Trägern der SK ruhte, ist die in vielen Hinsichten von deren Kultur recht verschiedene (Linien-)Bandkeramische Kultur (LBK), in der älteren Literatur auch „Donauländische Kultur“ genannt, die etwa 3 000 Jahre früher als die SK einsetzte, gewissermaßen wie selbstverständlich für nicht-indogermanisch gehalten worden. (Die wichtigsten Merkmale auch der LBK nenne ich, wenn wir die Kultur auf der Hauptlinie erreicht haben.) Wir haben gesehen: Die „Schnurkeramiker“ lassen sich zumindest in den Fällen von zwei ihrer Gruppen an jüngere Völker anschließen, die Balten und die Germanen, die gesichert indogermanische Sprachen gesprochen haben. Das ist bei den Bandkeramikern so nicht möglich. „Auf der anderen Seite gibt es keinen Beweis gegen ein Indogermanentum der donauländischen Kultur“ (S. 107). Dafür, daß auch die Träger dieser Kultur Indogermanen waren, haben wir umgekehrt ein kräftiges Argument: „Das Fehlen nichtindogermanischer Eigennamen im großen Bereich der donauländischen Kultur (Bandkeramik) in Verbindung mit dem Vorhandensein altindogermanischer Gewässernamen in Zentraleuropa bis in die Ukraine hinein läßt sich schwerlich anders denn aus einer sehr alten indogermanischen Besiedlung erklären. Bis zum Beweis des Gegenteils muß man daher auch das Gebiet der bandkeramischen Kultur in die indogermanische Heimat einbeziehen, und dies umso mehr, als die Träger der Bandkeramik auch vom Standpunkt der Anthropologie keinen Fremdkörper in Mitteleuropa darstellen“ (S. 120).322

Die moderne Vorgeschichtswissenschaft weiß inzwischen sicher: „Aus der Bandkeramik entwickelt sich über die Zwischenstufe Hinkelstein/Großgartach (älteres Mittelneolithikum) die Stufe Rössen (jüngeres Mittelneolithikum), an die sich der Spätrössener Horizont323 der Bischheimer Gruppe und ihrer Verwandten anschließt“ (Epi-Rössen). Jedenfalls sind „Bandkeramik und Rössen [einschließlich der Bischheimer Gruppe] als Glieder einer durchgehenden Kulturtradition“ anzusehen (Lüning, 1982, S. 11). Mit der epi-rössen-zeitlichen Bischheimer Gruppe gelangen wir, wie ich weiter unten zeigen werde, dann schon an die nordische Trichterbecherkultur, aus der die Schnurkeramik und ihre nordeuropäische „Schwester“, die Einzelgrabkultur (EGK), hervorgegangen sind. 322

Näheres dazu in A. Bach et al. (1975), bes. S. 91; Kilian, S. 146; A. Bach (1978), S. 73 (dazu s. auch Kreuz, S. 200), S. 76 u. bes. S. 94: Kilian, S. 138 ff.; Jacobshagen, S. 41; Preuß, S. 67; Behrens (1965), S. 6. 323 „Horizont“ ist eines der Lieblingswörter der Prähistoriker.

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c) Jungsteinzeit aa) Gemeinwesen der Frühen Jungsteinzeit Der Übergang vom Ende der Altsteinzeit (des Paläolithikums) zur Jungsteinzeit (zum Neolithikum), Mittelsteinzeit (Mesolithikum) genannt, brachte den Wechsel zur Seßhaftigkeit und den Übergang von der aneignenden Wirtschaftsweise der Jäger, Fischer und Sammler zur bäuerlichen Wirtschaft mit Ackerbau und Viehhaltung, ohne daß die älteren Wirtschaftsweisen ganz preisgegeben wurden (dazu, was Jagd und Fischerei betrifft, Lüning, 2000, besonders S. 194). Die ältesten Belege für bäuerliches Wirtschaften sind vom 9./8. Jtsd. v. Chr., aus dem Vorderen Orient, vom sog. Fruchtbaren Halbmond, und aus Ostanatolien. Von dort kam es zu einer Ausbreitung über Süd-Thrakien nach Griechenland und ins heute bulgarische Thrakien, dann in den unteren Donauraum, von dort im 6. Jtsd. zur „Neolithisierung“ des Gebiets, in dem dann jene Linienbandkeramische Kultur (LBK) verbreitet war, wissenschaftlich so benannt wegen der Verzierung der Keramik mit Linienbändern (siehe auch die Karte Abb. 1 in Lüning 2000, S. 6). Auf die andere Ausbreitung entlang der Mittelmeerküste nach Westeuropa kommt es weiter unten an. Die ältest-bandkeramische Besiedlung geschah nicht flächendeckend, sondern jeweils eher insel-artig mittels Rodung im Eichenmischwald auf Lößböden, auf gemäß Bodenqualität und Verfügbarkeit von Wasser sehr kenntnisreich ausgewählten Standorten. Die Zahl der Zuwanderer, die diese Kenntnisse, die Saatgut und Vieh mitbrachten, kann nur relativ gering gewesen sein. (Ich komme darauf zurück.) Der Übergang zur bäuerlichen Wirtschaftsweise324 erfolgte im südlichen Teil  Mitteleuropas (siehe die genannten Kerngebiete der LBK) schneller als in Norddeutschland und Skandinavien.325 Für diejenigen LBK-Siedlungen, deren Entwicklung über mehrere Phasen hinweg bekannt ist, wird fast allenthalben betont, daß anfangs die Zahl der Häuser und die Zahl der Gruppen von Häusern – soweit es solche Gruppen gab – sehr klein war, daß sie sich zur jüngeren LBK hin und auch noch während dieser stark vermehrt und was dann offenbar auch zu einer Krise geführt hat. Wir werden also für die 1. H. des 6. Jtds. v. Chr. mit einer kleinen 324 Planmäßige Grabungen, die Wolfgang Taute in den sechziger und frühen siebziger Jahren mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (et al.) im Bereich der oberen Donau an neun Fundplätzen durchgeführt hat, haben ein stratigraphisch gut abgesichertes Bild der Abfolge des Übergangs erbracht (Taute, S. 64–73, mit Chronologie-Tabelle S. 71; dort „C14-Alter“ nicht kalibriert und heute deshalb nicht mehr so verwertbar). Die Abfolge reicht vom Späten Jungpaläolithikum, dem für Süddeutschland und den Süden Mitteleuropas (auf den es in diesem Absatz ankommt) charakteristischen Magdalénien, lückenlos bis zum Frühneolithikum, und zwar bis zur älteren Linienbandkeramik. 325 Für den Norden belege ich das entsprechend der Fußnote 324, wenn wir die prähistorische Kultur erreicht haben, auf die es dann im Norden ankommt.

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Zahl von Einwanderern aus Transdanubien ins dann linienbandkeramische Kerngebiet zu rechnen haben.326 An mehreren Stellen in Mitteleuropa haben mehr oder weniger größere Ausgrabungen linienbandkeramischer Siedlungen oder Siedlungsgebiete stattgefunden, deren Ergebnisse einige Aussagen über soziale Verhältnisse erlauben. Die umfangreichsten Grabungen gab es ab 1971 im Merzbachtal im Bereich der Aldenhover Platte („Aldenhovener“ ist wie „Sonthofener“ pseudogelehrt), im niederrheinischen Braunkohle-Revier zwischen Köln und Aachen. In einem 1,3 km langen, vollständig untersuchten Talabschnitt, in einem insgesamt etwa 900 m breiten Gelände zu beiden Bachufern sind insgesamt 160 LBK-Häuser (etwa 65 v. H. des ursprünglich gegebenen Bestands von rund 240–250) aufgedeckt worden. Bei etwa 500 Jahren Siedlungsdauer und einer Haus-Lebensdauer von etwa 25 Jahren ergibt das, daß in jenem Talabschnitt327 im Durchschnitt gleichzeitig etwa zwölf Häuser gestanden haben, in der Anfangs-Phase weniger, in den Phasen (Haus-Generationen) XI–XII etwa 17, kurz vor (Phase XIV) dem Abbruch der LBK-Besiedlung (XV) wieder nur mehr 8 (Stehli, in Lüning/Stehli (Hrsg.), 1994, S. 109–121). „Rechnet man für jeden Bau mit einer Kleinfamilie von fünf bis sechs Personen (zwei Eltern, zwei bis drei Kinder, ein Großelternteil), so … [werden] im untersuchten Teil des Merzbachtales zur Zeit ‚der durchschnittlichen Besiedlung‘ mindestens 60–70 Menschen gelebt haben“ (Kuper/Lüning, S. 92).328 Außerhalb der Einhaus-Höfe gab es Erdkeller und Brenn-Anlagen.329 „Zur Sicherung des Viehs, aber auch der Menschen, … [werden] die [jedenfalls im Merzbachtal] erst in der jüngeren Bandkeramik … [in den Phasen XIII–XV belegten] Erdwerke gedient haben“. Sie „stellen … zweifellos Gemeinschaftsleistungen der Bewohner eines größeren Talabschnittes dar, was daher auch übergeordnete soziale330 und recht 326 Müller-Karpe (Bd.  II, S.  271 f.) hat in einer Modellrechnung gezeigt, wie wir uns die Ausbreitung der LBK von Ungarn bis z. B. an den Niederrhein binnen zehn Generationen vorstellen könnten, wenn „die vollneolithische Kolonisation Mitteleuropas  … irgendwann im 6. Jt. v. Chr. in der oberungarischen Tiefebene mit [nur] 50 Familien ihren Anfang genommen“ hätte. 327 Zum Vergleich (Starling, S. 252) für das Saale-Gebiet: LBK-Siedlungsplätze „generell entlang von Tälern“; „eher gruppierte Haushalte als … Dörfer“; „die vorherrschende Struktur [ist] linear“. 328 Wenn die Autoren anschließend wegen der unterschiedlichen Größe der Häuser „vielleicht eher eine Zahl von 100–150“ in Anschlag bringen wollen, ist das sicher zuviel. Wir werden weiter unten sehen, daß die Größe der Häuser primär eine Funktion von „Funktionen“ der Haus-Teile ist, weniger der Personenzahl. 329 Die Wirtschaftsfläche pro Hof im – relativ – dicht besiedelten Talabschnitt betrug etwa 15 ha. Etwa ein Drittel davon ist für Bach-Aue, Hanglage und Hofgelände einschl. Garten zu rechnen, etwa 10 ha also „für die Nahrungsproduktion auf der Lößfläche“ (Lüning, 1979/80, S. 64). 330 Wenn schon nicht für die frühgermanischen und noch weniger für die frühen nachmykenischen griechischen und ganz sicher nicht für die protogriechischen Verhältnisse mit einer Trennung von „sozialen“/politischen und „rechtlichen“ Einrichtungen gerechnet werden darf, dann wohl noch weniger im Fall der bandkeramischen Gemeinwesen.

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liche330 Einrichtungen voraussetzt.“ Die beiden relativ nahe benachbarten Erdwerke bei den Siedlungen Langweiler 8 und 9 bestanden laut Stehli nicht gleichzeitig (siehe dazu Frirdich, S. 348; ich komme auf die „Erdwerke“ weiter unten zurück.) „Mehr im Rahmen einer [nur] Nachbarschaftshilfe könnte sich dagegen der Hausbau vollzogen haben, der jedenfalls auch über die Kräfte einer Kleinfamilie ging“ (S. 92). Ein anderer Aspekt ist aus den Publikationen Moddermans über LBK-Siedlungen im südost-niederländischen Graetheide-Gebiet zu entnehmen. Dazu muß ich zuvor das für unsere Zwecke Wichtigste über die LBK-Häuser sagen. Es handelt sich um langrechteckige Bauwerke, aus kräftigen Pfosten errichtet, mit in der Hausbreite (5–8  m) jeweils fünf Pfosten nebeneinander (Haus vier-„schiffig“). Das LBK-Haus331 ist Einfamilienhaus. Es besteht in der ältesten LBK aus drei Teilen/Räumen. Das dreiteilige Haus existierte in zwei Varianten, 1a und 1b (gemäß Modderman). Bei Typ 1a war auf allen Seiten des Hauses ein Wandgräbchen, in dem, in einigermaßen regelmäßigen Abständen, etwas stärker eingetieft gespaltene Baumstämme steckten, in den Zwischenräumen, weniger stark eingetieft, runde Stämme. Bei Typ 1b war nur der der Schlechtwetterseite, in Westmitteleuropa der Nordwestseite zugekehrte NW-Teil so gebaut, der Mittel- und der Südostteil hatten Wände aus runden Pfosten mit lehmbestrichenem Wandgeflecht dazwischen. (Die Dachkonstruktion übergehe ich, weil für unsere Überlegungen nicht so wichtig.) Der Mittelteil, in der Regel der größte, wird übereinstimmend als Wohn- und Arbeitsraum interpretiert, der SO-Teil wegen bestimmter Befunde als wohl zum Teil  zweigeschossiger Speicherraum für feuchtigkeitsgefährdete Vorräte (Modderman, 1986, S. 61). Den NW-Teil hatte Modderman (1972, S. 81) als vielleicht Stall ins Gespräch gebracht, diese Interpretation (1986, S. 60) aber wieder in Frage gestellt.332 Von anderer Seite (Jockenhövel, S. 127) ist der NW-Teil als Schlafraum gedeutet worden. Diese dreiteiligen Häuser werden in der Fachliteratur „Großbauten“ genannt. Ihre Länge ist in der Graetheide maximal 33 m (so in Geleen), mindestens 13 m (so in Elsloo), die Breite schwankt entsprechend um 6 m (sehr ähnlich, trotz großer Entfernung, in Ulm-Eggingen, obere Donau: max. 36  m, min. 16 m; Kind, 1988, S. 159). 331 Die Tradition des langrechteckigen Hauses haben die Bandkeramiker zweifellos aus Transdanubien schon mitgebracht. Nicht nur, weil diese Hausform überall zu finden ist, wo wir die älteste LBK antreffen. Langrechteckig sind auch die Häuser der mit der LBK verwandten Tripolje-Kultur (Ukraine u. Südrußland) bzw. Cucuteni-Kultur (so der Name in Rumänien östlich der Karpaten), aber während zumindest die großen langrechteckigen Tripolje-B-I-Häuser reihenhaus-artige Komplexe für mehrere Einzelfamilien waren, blieben die LBK-Häuser immer Häuser für nur eine Familie. 332 Dazu Büchner/Wolf in: Arch. Korr.bl., 27 (1997), S. 217: „Der bisher fehlende Nachweis von Aufstallungen in bandkeramischen Siedlungen läßt darauf schließen, daß eine ganz­jährige Weidezeit möglich war“. (Im „Klima-Optimum“ jener Zeit war die mittlere Jahres­temperatur 2–3° höher als heute, bei insgesamt mehr Niederschlag, aber weniger Schnee.) – Zur Stallhaltung s. a. Lüning (2000), S. 147 und S. 190.

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„Abgesehen von einer [mit guten Gründen (S.  75)] vermuteten Pionierphase kann man feststellen, daß ein Weiler in der ersten Gründungsphase [das ist dort die niederrheinische Phase I b] drei, höchstens vier Großbauten umfaßt, … . Jede Familie legt offenbar Wert darauf, alle drei Hausteile, die unterschiedlichen Funktionen dienen, komplett zur Verfügung zu haben. Schon rasch … kommen anscheinend andere Bedürfnisse auf“ (Moddermann, 1986, S. 116),

und zwar werden mehr Häuser errichtet, die nur aus dem NW- und dem Mittelteil bestehen (von Modderman als Typ 2 und, etwas unglücklich, als „Bauten“ bezeichnet), denen also der „Speicher“-Raum fehlt; außerdem entstehen Häuser, die nur den Mittelteil enthalten (bei Modderman Typ 3 und „Kleinbauten“ genannt). Die Häuser mit ihrer Lebensdauer von etwa 25 Jahren sind nicht etwa immer wieder repariert, sondern schließlich preisgegeben worden und zerfielen. Unweit daneben entstand jeweils ein neues Haus, vermutlich von der nächsten aus dem alten Haus stammenden Generation errichtet. „Die große Änderung zwischen alter und junger Linienbandkeramik besteht darin, daß  … die Zahl der Großbauten stark abnimmt“, von 45 auf 16 v.  H., „und … die Zahl der Kleinbauten und Bauten erheblich steigt“, von 42 auf 71 v. H., wobei eigentlich nur die Zahl der Großbauten des Typs 1b abnimmt. „Die Zahl der Großbauten mit umlaufenden Wandgräbchen bleibt konstant, was darauf hinweisen könnte, daß die bandkeramischen Siedlungen immer wenigstens ein Haus von diesem Typ gekannt haben, die Gemeinschaft also stets einen derartigen Großbau brauchte“ (Modderman, 1972, S. 81), ein Gebäude mit „Speicher“-Raum, das rundherum und nicht nur im NW-Teil gut abgedichtet war. „Es scheint [so zu sein, daß] … in der jüngsten Linienbandkeramik nur eine bestimmte Familie über einen Südostteil verfügen konnte oder durfte“ (S. 83). Das ist nicht zwingend. Es ist folglich besser, es bei einer neutralen Formulierung zu belassen: daß es jetzt ein Speichergebäude nur mehr für den ganzen Weiler gab. Modderman hat auch die 113 LBK-Gräber des Friedhofs von Elsloo (der Weiler dort aus drei Häusergruppen bestehend) analysiert: 66 Körpergräber und 47 erfaßte Brandgräber, deren Zahl laut Modderman (1986, S. 100) wahrscheinlich in Wirklichkeit etwas größer war: im ganzen „kaum weniger als die der 66 Leichenbestattungen.“ Nicht nur die Leichenbrandbestattungen, sondern auch die Körpergräber waren Bestattungen in der Erde. Alle Gräber gehören in die letzten beiden Phasen (II c und II d) der niederländischen LBK. Der Autor meint, vom Reichtum und der Qualität der Grab-Beigaben könne auf soziale Unterschiede der Glieder des LBK-Gemeinwesens geschlossen werden.333 57 Gräber waren beigabenlos 333 So zu verfahren, ist nicht unumstritten, besonders, wenn es um relativ größere Gräber­ felder geht. Die dort Bestatteten können den „Reichtum“ oder die „Ärmlichkeit“ der Ausstattung mit Beigaben nämlich auch verschiedenen sozusagen religiösen Vorstellungen verdanken (die übrigens möglicherweise auch in der Leichenverbrennung bzw. Körperbestattung ihren Niederschlag finden, so daß nicht nur – woran Modderman (1986, S. 111) denkt – in LBK-Brandgräbern vielleicht deshalb weniger Beigaben gefunden werden, weil möglicher-

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(also die Hälfte), 27 hatten eine bis zwei Beigaben, 17 waren etwas reicher, zehn reich und zwei sehr reich ausgestattet (S. 114). Modderman parallelisiert beide Beobachtungen: „Die unterschiedliche Größe der Häuser in einer Siedlung scheint [ebenfalls] darauf hinzuweisen, daß es soziale Unterschiede bei den Bewohnern gegeben hat. Diese Interpretation wird bestätigt von den Ergebnissen, welche bei dem Gräberfeld … gewonnen werden konnten“ (S. 116 f.). Oder: „Die Großbauten werden [relativ] immer seltener, was darauf hindeuten kann, daß bestimmte Familien allmählich immer mehr irdische Güter erworben haben könnten als andere. Man kann sich aber kaum vorstellen, daß die … sozialen Unterschiede … eine beherrschende Rolle gespielt haben.“ Weil aber „‚reich‘ und ‚arm‘ auf dem Gräberfeld kreuz und quer durcheinander liegen, so werden die Reichen eher primi inter pares gewesen sein als Herrscher“ (S. 115). – Ich habe Zweifel daran, daß in bezug auf die Glieder dieser Gemeinwesen Begriffe wie „Reiche“ (und Arme) oder gar „Herrscher“ (und Beherrschte)  auch nur entfernt adäquat sind. Auch wegen des jetzt Folgenden ist Moddermans Zuordnung von Großbau und „reich“ fraglich. Lüning konnte inzwischen334 Ergebnisse bodenchemischer und archäobotanischer Untersuchungen für das Merzbachtal berücksichtigen. Aus ihnen ist zu folgern, „daß sich die Bewohner unterschiedlicher Haustypen auch … [in der Ernährung] und landwirtschaftlich verschieden verhielten. So wurde im Rheinland das Getreide von den In­ habern der dreiteiligen ‚Großbauten‘ (Abb.  53) angebaut, gereinigt und konsumiert, von denjenigen der ‚Bauten‘ und ‚Kleinbauten‘ aber, die keinen ‚Speicherteil‘ besaßen, vorwiegend in bereits gereinigtem Zustand übernommen (…). Man muß fragen, wer hier privilegiert war und das höhere Sozialprestige genoß. Jedenfalls handelt es sich um eine, weil in der Architektur so fest verankert, gut etablierte Arbeitsteilung, denn im Pariser Becken, wo die Tierknochen besser erhalten sind als im Rheinland, betrieben die Bewohner der kleineren Bauten verstärkt die Jagd, diejenigen der Großbauten eher die Viehzucht“ (S. 202).

weise Beigaben auf dem Scheiterhaufen verbrannt und danach aus dem Verbrennungsrückstand bloß nicht oder weniger sorgfältig ausgelesen worden sind). Ich habe zwar selber (1996, Teil I, S. 107–113) bei der Analyse des (komplett und modern untersuchten) römerzeitlichen Gräberfelds von Roßdorf bei Darmstadt (etwa 135–260 n. Chr.), das zu einem Bauernhof gehört, einen ebensolchen Versuch gemacht, die Voraussetzungen dafür waren dort aber viel günstiger. Erstens war sowieso klar, daß bei im Durchschnitt gleichzeitig sieben auf dem Bauernhof Lebenden im Durchschnitt fünf Personen (einschl. Kindern) zur Besitzerfamilie gehörten und wohl zwei Personen Bedienstete waren. Wir hatten in vielen Fällen Anhaltspunkte (verschiedener Art) dafür, wer mit wem verwandt gewesen war, und wußten über bestimmte Inhalte von in der Besitzerfamilie streng beachteten religiösen Vorstellungen (S.  215–221). Wir wußten, daß in den Gräbern von Mitgliedern der Besitzerfamilie (die sonst „reicher“ ausgestattet waren) aus bekannten religiösen Gründen bestimmte Beigaben-Gattungen fehlten, die nur in den Gräbern von Bediensteten (mit ihren ganz anderen religiösen Traditionen) vorkamen bzw. (aus ähnlichen Gründen) in größerer Zahl vorkamen. All das wissen wir für Elsloo nicht. Deshalb ist die Parallelisierung der Ausstattung mit Beigaben auf der einen Seite mit der „Aufteilung der Grundrisse (in Großbauten, Bauten und Kleinbauten)“ auf der anderen Seite – siehe oben im folgenden Text – wohl zu einfach. 334 Lüning, Steinzeitliche Bauern in Deutschland (2000).

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Wir kehren zum Ausgang zurück und erinnern uns an Jockenhövels Feststellung: „Gemeinschaftseinrichtungen dörflichen Charakters fehlen in dieser Frühzeit des Neolithikums.“ (S. 127) Der Grundgedanke  – ich erinnere daran  – ist: Von einem „Dorf“ (statt bloß einem „Weiler“ oder gar nur einer Anzahl einzelner Höfe) kann erst gesprochen werden, wenn es Gemeinschaftseinrichtungen gibt. So ent­stehen in karolingischer Zeit im Frankenreich immer mehr Dörfer durch engere Zusammensiedlung um die inzwischen zentral errichtete Kirche mit dem zentralen Kirchhof und Friedhof (befriedetem Hofraum). Diese s i n d die Gemeinschaftseinrichtungen im dörflichen Rahmen. Ganz befundleer sind die LBK-Gemeinwesen in dieser Hinsicht keineswegs, wenngleich hier nicht alle Befunde ähnlich eindeutig sind wie im Fall jener in karolingischer Zeit sich bildenden Dörfer: Die LBK-Siedlungen haben Gräberfelder. Aus der Graetheide sind drei Fälle bekannt, jenes große von Elsloo (Phase II c–d), eines von Geleen, von dem nur drei Gräber (II  d)  erfaßt wurden, sowie aus Stein, von wo nur ein Grab (II) bekannt ist. Ein Gräberfeld aus dem Merzbachtal (Aldenhover Platte), und zwar Niedermerz 3, ist gleichaltrig. Es muß außerdem Verbrennungsplätze gegeben haben. Auch die in der jüngeren335 LBK vorkommenden „Erdwerke“ (Gräben, Wälle, z. T. mit Palisaden) sind zweifellos jeweils ein Gemeinschaftswerk der Bewohner einer Häusergruppe/eines Weilers gewesen. Die drei LBK-Erdwerke aus dem Merzbachtal waren alle „leer“ (Lüning, 1988, S.  156),336 d. h. hier: ohne Häuser darin. Bertemes, der eine gute Untersuchung zu den aufwendig gebauten Michelsberger Erdwerken publiziert hat (dazu siehe weiter unten), sagt, den viel „kleineren und einfach strukturierten Anlagen der LBK … wird heute allgemein eher eine wirtschaftliche Funktion als Viehkrale zugesprochen“ (1991, S. 454, Fußn. 20, mit Belegen). Daß es in der LBK Kontakte gab, die über die eigene Kleinregion hinaus­gingen, war schon für die Graetheide bekannt: zu den Bandkeramikern im Merzbachtal (etwa 35 km weiter osö), zu denen westlich der Maas, im belgischen Rosmeer und Vilsteren (10 km weiter w), später aber auch zu denen im noch weiter westlich anschließenden belgischen Haspengau (Modderman, 1986, S. 29 und S. 117). Es kommt neuerdings hinzu: Lüning hat (1982, S. 23) darauf aufmerksam gemacht, daß die linienbandkeramische Besiedlung im intensiv untersuchten Merzbachtal „sowohl Einzelhöfe als auch kleine und große Gruppensiedlungen“ aufwies, und er hat die „Sonderstellung der größten Siedlung Langweiler 8“ genannt. In Verbindung damit ist zu sehen:

335 Lüning (1988), S. 155 f., hält die älterlinienbandkeramische Datierung der Erdwerke von Eilsleben (Thüringen), Becsehely (SW-Ungarn) und Lautertal (Oberfranken) für noch nicht hinreichend belegt. 336 Das untere der drei Merzbachtaler LBK-Erdwerke gehört zur Häusergruppe „Langweiler 8“, das nächste zu „Langweiler 9“ (u. zu „Niedermerz 4“?), das obere ist nicht so gut zuzuordnen (Abb. 3 in Kuper/Lüning, 1975, S. 88).

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Ab 1997 ist die LBK-Siedlung „Auf dem Hempler“ in Nieder-Mörlen, Stadtteil Bad Nauheims im Wetterau-Kreis, planmäßig untersucht worden. Sie hat während der Gesamtdauer der LBK bestanden, von 5 700/5 650 bis 4 900 v. Chr. – was bereits ungewöhnlich ist. Sie nimmt eine Fläche von etwa 7 ha ein. „Die [große] Anzahl menschen- und tiergestaltiger Tonfigürchen ist … einmalig und aus anderen, auch sehr großen Siedlungen nicht bekannt. … . Die Masse der verzierten Keramik und der durch das Zermahlen von Hämatit rot gefärbten Mahlsteine sowie die geringe Anzahl steinerner [Klein-]Werkzeuge widerspricht jeglicher Statistik. Eine Manufaktur für Idole (oder auch Spielzeug!) anzunehmen[,] wäre gegen jede bisherige Kenntnis des Neo­lithikums“ (Lindig/Schwitalla, S. 28; zur etwas anderen Anfangsdatierung der Ältesten Linien­bandkeramik, auf um 5 500 v. Chr., siehe Lüning, 2000, S. 36).

Kneipp hat an den 445 von ihm zwischen 1987 und 1996 „eingehend untersuchten frühneolithischen Siedlungsplätzen“ Mittel- und Nordhessens und der Funde von dort ermittelt, daß es eine kleinregionale Gliederung des Siedlungsraums mit dort bislang 22 Zentralplätzen337 gab, die alle wenigstens „von der älteren bis zur jüngeren Bandkeramik bewohnt“ waren, deren „Sonderstellung … durch ihre exponierte Lage an größeren fließenden Gewässern, Talflanken oder Rohstoffvorkommen einerseits und ein reichhaltiges, auf weitreichende Handels­verbindungen hinweisendes Fundspektrum [andererseits] unterstrichen [wird]. Zu diesem Fundspektrum gehört der überproportional hohe Anteil an fertigen Geräten und Rohstücken aus westeuropäischen Silices und Amphibolit, das gehäufte Vorkommen des vielfältig verwertbaren Roteisensteins (Hämatit) und die in der Regel aus Ton geformten anthropomorphen und zoomorphen Figürchen und Figuralgefäße. … . Die Hauptorte … zeichnen sich ausnahmslos durch vorzügliche morphologische und verkehrsgeographische Bedingungen sowie auffallend günstige klimatische Gegebenheiten aus. Hinzu kommt eine unterschiedlich hohe Anzahl an wesentlich kleineren und kürzer bewohnten Nebenoder Periphersiedlungen, deren wirtschaftliche Bedeutung in der Versorgung der Zentralplätze mit agrarischen und kunsthandwerklichen Gütern gelegen haben … [wird]. Hierzu ist auch die Denkmalgattung der Funktional- oder Sonderplätze zu rechnen, von denen in Nordhessen inzwischen schon 13 lokalisiert werden konnten. Diese Plätze hatten sich u. a. auf die Gewinnung und Verarbeitung von hochwertigen Felsgesteinen oder Quarziten spezialisiert. Eine Reihe von Beobachtungen zeigt, daß die auf einen Hauptplatz ausgerichteten Nebenorte von diesem die durch Fernhandel erhaltenen westeuropäischen und süddeutschen Feuersteine, den aus Ost- oder Südosteuropa stammenden Amphibolit sowie den allerorts begehrten Hämatit erhielten“ (S. 33).

Kneipp bringt (S.  34 f.; mit Karte Abb.  2) ein Beispiel einer Kleinregion mit dem Zentralort und sechs zugehörigen „Periphersiedlungen“ und fügt hinzu, es zeichne sich die „religiöse Mittelpunktfunktion der Zentralplätze“ ab, und sagt abschließend: 337

Damit wir uns nicht den Blick für die Wirklichkeit von damals vorschnell verbauen, sollten wir bei „Zentralplatz“ i. S. v. „Zentralort“ nicht gleich in Kategorien staatlicher Regionalund Landesplanung denken. Ob und, wenn ja, welche Art von Organisation in der LBK ge­ geben war, wissen wir noch nicht. Wir haben aber gute Aussicht, bald mehr zu wissen.

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„Der bis 1999 zusammengetragene Fundbestand an anthropomorphen und zoomorphen Figürchen und Figuralgefäßen zeichnet sich durch ein breites Spektrum an gestalterischen Möglichkeiten aus. Auffällig sind dabei nahezu identische Stücke aus weit auseinanderliegenden Regionen der bandkeramischen Besiedlung, wie das Gesichtsgefäß aus FriedbergDorheim belegt [Parallelen in Stuttgart und in Thüringen]. Dahinter scheint sich eine sehr ähnlich geartete kultisch-religiöse Welt mit einem ‚fest installierten Götterhimmel‘ zu verbergen. Daß die religiösen Feste unter Hinzuziehung eines größeren Personenkreises auf den verkehrsgeographisch günstig gelegenen Zentralplätzen durchgeführt wurden, zeichnet sich immer deutlicher ab“ (S. 41).

Im Fall Nieder-Mörlen ist noch anderes ungewöhnlich: die Zahl der Miniaturgefäße (Lindig/Schwitalla, S. 30), vor allem aber das Vorkommen auch einer ganz anders als die LBK-Ware verzierten Keramik der Starçevo-Körös-Kultur, die in Bulgarien, Rumänien, Serbien und Ungarn verbreitet war. (Der ungarische Teil dieses Raums gilt ja als Ausgangsgebiet der LBK; siehe weiter oben.) Es muß noch mittels „Dünnschliff“ geklärt werden, ob es sich um Original-KörösKeramik handelt oder um in der Wetterau („von wem?“) gefertigte, der KörösKeramik ganz gleiche Nachahmungen. Die Entfernung nach Südosten beträgt grob 800  km. Außerdem gibt es aus der Nieder-Mörler LBK-Siedlung La-Hoguette-Keramik (Schwitalla, Die europäische Union des 6. Jahrtausends, S. 29), benannt gemäß dem ersten Fundort von Ware dieser frühneolithischen Kultur westlich der LBK, in der Normandie. Weiter vorn habe ich eine andere Ausbreitung der bäuerlichen Wirtschafts­ formen nach Westen erwähnt. Sie ging über das Meer und entlang der euro­ päischen Mittelmeerküsten nach Südfrankreich (und weiter nach Spanien), „von Südfrankreich landeinwärts nach Norden und traf in der Mitte des 6. vorchristlichen Jahrtausends am Rhein auf die  … binneneuropäische Neolithisierungswelle“ aus dem Südosten (Lüning, 2000, S. 5, und dazu auch wieder jene Karte Abb.  1); dort auch die Nord- und Ostgrenze des Verbreitungsgebiets der La-­ Hoguette-Kultur, die aber nicht aus der Normandie, sondern von Süden in den Rhein-Main-Raum vorgedrungen ist. Es zeichnet sich außerdem  – das Bild der Neolithisierung Europas über­ raschend verändernd  – ein „spätmesolithischer Getreideanbau [bereits] in der zweiten Hälfte des 7. Jahrtausends“ einer präkeramischen Kultur im nordalpinen Voralpen­land ab, wozu Lüning (S. 5 ff.) schon einiges sagen kann, vieles andere aber noch unklar ist. Für unser Thema ist da zur Zeit nichts zu gewinnen, offenbar auch noch nicht zur Anthropologie. Ich kehre zu den großen LBK-Häusern vom Typ 1a zurück, von denen auch in den späten Phasen immer eines vorhanden war. Sie hätten wohl auch genügend Raum für Beratungen einer Sippe innerhalb der vier Wände geboten, z. B. der Bewohner einer Häusergruppe, von denen es, wie oben gezeigt, drei gab. Modderman (1986, S. 88) hat „für die volkreichsten jüngsten Phasen“ in Elsloo für das ganze Gemeinwesen anhand der Zahl der Häuser dieser Phasen eine Einwohnerzahl von „zwischen 100 und 170“ angenommen. Damit ist der Rahmen der Sippe

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normalerweise schon überstiegen, wie umgekehrt der große Wohn- und Arbeitsraum eines Hauses vom Typ 1a die erwachsenen Männer338 eines solchen Gesamtgemeinwesens auch nicht mehr zu einer Versammlung im geschlossenen Raum hätte aufnehmen können. – Fazit: In der LBK entstehen Dörfer mit Gemeinschaftseinrichtungen: Gräberfeld und Erdwerk. (Das große Haus in jeder Häusergruppe mit offenbar Sonderfunktion Speicher gehört wohl eher nur auf die Sippen-Ebene.) Politische Gemeinwesen regionalen Zuschnitts könnten jene Einheiten mit Zentralort und zugehörigen „Periphersiedlungen“ gewesen sein und waren es wahrscheinlich auch, unter der Voraussetzung offener Sprache und Absprache über die alle angehenden Angelegenheiten. Am „Zentralort“ haben wir den Versammlungsplatz zu suchen, wohl im Freien. Gegen Ende der LBK gab es dann Erdwerke mit Innenbebauung, also befestigte Siedlungen. Die „der jüngsten Linienbandkeramik auf einer Fläche von 4 ha …, die von einem über 6 m breiten und bis zu 3 m tiefen Graben umgeben war“, von Eilsleben (D. Kaufmann, S. 410 f.) und die von Köln-Lindenthal (Meier-Arendt, 1980, S. 148 ff.) sind in dieser Hinsicht gesichert, und sie sollen für uns als Beispiele genügen. Dazu passen gut Erkenntnisse über krisenhafte Zustände gegen Ende der LBK, auf die ich gleich zu sprechen komme, und die Beobachtung eines konkreten Geschehens bei (heute) Talheim bei Heilbronn. Ich bringe das im folgenden, wenn ich den Übergang von der Frühen zur Mittleren Jungsteinzeit skizziere. Das Ende der LBK kam nicht überall gleichzeitig in ihren Verbreitungsgebieten. So hat die LBK jüngerer Phasen z. B. am Niederrhein noch existiert, als sich die Kultur der „Hinkelsteingruppe“ (dazu siehe weiter unten) in ihrem Haupt­ gebiet schon entwickelte. Als Ursache des Endes der so langlebigen in Mitteleuropa ersten bäuerlichen Kultur werden durchweg krisenhafte Vorgänge/Entwicklungen angenommen, in folgenden komplexen Zusammenhängen. Schon ab Mitte des letzten Jahrzehntausends v. Chr. wurde das Klima zunehmend warm und trocken (Klimaperiode „Sub-Boreal“). Das hatte vermutlich schon Auswirkungen auf die LBK ab ihrer mittleren und dann in ihren jüngeren Phasen. Es erfolgte jene Ausdehnung der Besiedlung nicht nur ins Elsaß, sondern vor allem in Gebiete mit mehr „atlantisch“ bestimmtem Klima, das relativ feuchter war (vgl. dazu Kreuz, S. 162): im Rheinland entlang der Mosel flußaufwärts bis NordostLothringen und Luxemburg, in Teile Belgiens und der Niederlande, schließlich, sehr spät, bis ins Seine-Becken. Dabei spielt sicherlich auch die Bevölkerungsvermehrung angesichts der mehrere Jahrhunderte lang günstigen Ernährungsverhältnisse eine Rolle. Bei aller Ausdehnung blieben aber die zuvor bewohnten Gebiete ebenfalls noch besiedelt, wenn auch weniger dicht. Es kam vermehrt zur Nutzung 338

Von jener seitens Modderman genannten Zahl von „zwischen 100 und 170“ Bewohnern des Gesamtgemeinwesens habe ich auf 45/50 bis 80 Erwachsene geschlossen und von daher, angesichts des Umstands, daß Kindbettsterblichkeit wohl zu etwas Frauendefizit geführt haben wird, auf 25/30 bis 45 Männer.

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auch von lokal benachbarten niederschlagsreicheren Räumen (auch dazu wieder Kreuz, ebenda), dabei auch zur Verstärkung der Viehhaltungs- gegenüber der Ackerbau-Komponente der bäuerlichen Wirtschaft. Schuld an den letztlich mancherorts wohl auftretenden Versorgungsschwierigkeiten könnte aber auch eine „Übernutzung“ der Landschaft als Folge eines über viele Jahrhunderte im wesentlichen konstant gebliebenen Systems linienbandkeramischen Ackerbaus sein (Lüning, 1982, S. 33). Konkret wissen wir kaum etwas, was sich historisch ereignet hat. Die befestigten Siedlungen („Erdwerke“ um die Häuser) der jüngeren und jüngsten LBK legen zwar die Annahme nahe, daß es nicht nur einfach Bevölkerungsbewegungen, sondern auch solche mit Gefahren für die bestehenden Siedlungen und solche mit kriegerischen Auseinandersetzungen gegeben hat. Von Talheim bei Heilbronn ist ein Massengrab aus den letzten 50 Jahren vor dem Ende der regionalen LBK bekannt: Skelette von mindestens 34 Personen, vom Kleinkind bis zum Greis, alle gewaltsam zu Tode gebracht, auf der Flucht, die meisten erschlagen, die anderen mittels Pfeil und Bogen erschossen (Wahl/ König, S. 181–185; siehe auch Kapitel B. I.5.). Der Tatbestand der befestigten LBK-Siedlungen aus deren jüngeren und jüng­ sten Phasen und das Ereignis von Talheim lassen die in der Vorgeschichtsforschung lange Zeit herrschende Meinung, die Träger der LBK seien ganz besonders friedlich gewesen, fraglich werden, freilich, genauer betrachtet, vielleicht eben nur in bezug auf ihre jüngsten Phasen, und möglicherweise gab es die Krise nur regional. Die Zwischenstadien vom Frühneolithikum (LBK) bis zur für uns erneut etwas wichtiger werdenden mittelneolithischen Rössener Kultur (RK) will ich nicht einfach weglassen, ich bringe sie für diejenigen Leser, die wenigstens grob ein Kontinuum haben möchten, per Fußnote.339 339 Das Ende der LBK hat außer wirtschaftlichen vor allem andere kulturelle Veränderungen gebracht. Aus der Linienbandkeramik des östlichen Mitteleuropas entwickelte sich die Stichbandkeramik (StBK; Ausgangsgebiet Böhmen), so benannt wegen der Keramikverzierung jetzt mit Bändern aus Einstichen. Von der LBK her zu ihr hin gibt es aber viel (im SaaleGebiet etwa 80 v. H.) Kontinuität hinsichtlich der Wahl der Siedlungsplätze, bei jedoch Preisgabe abseits gelegener einzelner LBK-Siedlungen und auch ganzer Gruppen, bei nun etwas engerer Gruppierung der Stichbandkeramik-Langhäuser, weshalb (so Starling, S. 252 f.) es nicht nötig sei, eine Abnahme der Bevölkerungszahl anzunehmen, bloß „weil die Zahl der Siedlungen abnimmt“. Der Übergang zu der nicht so lange wie die LBK dauernden StBK im östlichen Mitteleuropa wird mehr als Stilwandel aufgefaßt (Behrens, 1965, S. 4). Im westlichen Mitteleuropa entstand aus der LBK unter stichbandkeramischem Einfluß (Spatz, S.  21 f.) die Keramik der „Hinkelstein-Gruppe“, benannt nach einem forschungsgeschichtlich frühen Fundort, der Gewann „Hinkelstein“ (dort Standort eines Menhirs, der mit der Kultur der „Hinkelstein-Gruppe“ nichts zu tun hat) in Monsheim in Rheinhessen. Die ansässige LBK-Bevölkerung starb nicht aus, aber der kulturelle Wechsel ist offenbar schnell erfolgt (S. 26). Aus der Kultur der Hinkelstein-Gruppe entwickelte sich die der Großgartacher Gruppe (GG) (benannt nach einem Fundort in Baden-Württemberg). Die Genese war besonders gut abzulesen an den Gräbern des großen Gräberfelds von Trebur in Südhessen, gegenüber von Mainz (S. 27). Das Kerngebiet auch der Großgartacher Gruppe sind der Rhein-Mainund der Neckar-Raum, die Verbreitung reicht im Norden und Nordwesten aber bis in die rhei-

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Die archäologischen Untersuchungen im Gebiet des Braunkohle-Abbaus auf der Aldenhover Platte haben außerdem zur Ausgrabung des – auch, was den Umfang betrifft, – am besten erfaßten geschlossenen Siedlungsplatzes der Rössener Kultur in Inden, am Südostrand der Aldenhover Platte geführt (Kuper/Lüning, S. 93 ff.; s. a. Lüning, 1982, S. 28–33): „Inden 1“. Das ursprünglich besiedelte Areal, rund 35 000 m2, ist zu etwa drei Vierteln erhalten geblieben und durchgegraben worden (S. 94 und Beilage 2). Es kamen Reste von 30 Bauten und mehreren Einzäunungen zutage. Die Hausgrundrisse waren vom aus Bochum-Hiltrop her schon bekannten Typ: langgestreckt trapezförmig (im NW schmaler als im SO) mit leicht konvex gebogenen Längswänden, die im SO meistens über die Querwand hinausgezogen waren zu einem Vorraum oder einer offenen Vorhalle. Die Länge betrug zwischen 12 und 52 m, die Breite zwischen 6 und 9 m. Die Bauweise war gegenüber der LBK in manchem verbessert (u. a. mehr Innenraum, weil weniger Pfosten), auch in der Dachkonstruktion. – Mit der Verbindung verschiedener Gebäude offenbar unterschiedlicher Funktion ist die Gehöftbildung in Gang gekommen, und zwar mit der Gruppierung Trapezbau, Nebenbau und Rechteckbau (Abb. 6). In den vier Besiedlungsphasen, mit jeweils sechs bis acht Trapezbauten (diese 20–50 m voneinander entfernt), gab es die Dreier-Gruppierung immer nur einmal – offenbar in LBKTradition, wo es in jeder Besiedlungsphase immer nur ein Haus Typ  1a gegeben hatte, das dann als einziges noch einen Speicher-Teil besessen hat, der nun, in der RK, zu einem Gebäude für sich im Rahmen der Dreiergruppe geworden war (?). Lüning (1982, S. 25) interpretiert die Dreiergruppe (in bezug auf die es aber noch Unklarheiten gibt) als „kommunale Einrichtung“. Die langen RK-Gebäude sind jetzt derart unterteilt, daß Lüning (1982, S. 32) davon ausgeht, es hätten darin, anders als in den LBK-Häusern, mehrere Familien gewohnt. Die Umzäunungen von „Inden 1“ bestanden aus Palisadengräben und Pfostenreihen. Die Siedlung (Dauer 100–150 Jahre, in einem jüngeren Abschnitt der Rössener Kultur) umfaßte „wohl höchstens 100–150 Menschen“, bei Kuper/Lüning (S. 95) heißt es, sie habe „dorfartigen Charakter“ gehabt. Das wird zutreffen, auch wenn von den „Gemeinschaftseinrichtungen“ dörflichen Charakters, anders als bei jenen Dörfern der jüngeren LBK (mit Gräberfeld, Haus Typ 1a und Erdwerk), in „Inden 1“ das Gräberfeld, wie es von anderen RK-Siedlungen bekannt ist, nicht er-

nischen Lößgebiete, nach Westfalen und ins südliche Niedersachsen, im Osten und Südosten nach Unter- und Mittelfranken, ins Nördlinger Ries, nach Bayerisch Schwaben und bis östlich der Iller. (Darüber hinaus gibt es weiter entfernt noch Fundpunkte.) Jedenfalls ist die Verbreitung der GG schon wieder größer-regional. Die GG führt zur Rössener Kultur (benannt nach einem Fundort, der Stadtteil von Leuna in Sachsen-Anhalt ist), die dann einen noch einmal größeren Raum einnimmt – wenn auch nicht ganz so wie die LBK –, nämlich auch den mitteldeutschen. Starling (S. 253) zeigt am Beispiel des Saalegebiets die Kontinuität und die Entwicklung in der Siedlungsweise im Vergleich mit der Vorgängerkultur StBK und kommt zu dem Ergebnis, daß wir trotz einer noch einmal Verminderung der Zahl der Siedlungen, die die Folge einer größeren Konzentration sowohl auf der regionalen Ebene als auch auf der Ebene des Siedlungsplatzes ist, nicht genötigt sind, eine Abnahme der Bevölkerungszahl zu postulieren, bloß weil die Zahl der Siedlungen abgenommen hat.

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faßt wurde. (Zur „Dorfstruktur“ und zu mittelneolithischen Gräberfeldern siehe auch Lüning, 2000, S. 16.) bb) Einwirkungen megalithischer Kulturen Aus zwei Kulturen der mittleren Jungsteinzeit, der von Schleswig-Holstein und Südskandinavien über Mecklenburg, Pommern, das nördliche Mitteldeutschland und Niederschlesien bis Zentralpolen verbreiteten Trichterbecherkultur (TBK),340 benannt gemäß der Becherform, und der in West- und Südwestdeutschland verbreiteten Michelsberger Kultur (MK)341 mit verwandten Gruppen in Bayern, der 340 Die Art der Entstehung der TBK ist umstritten (Einwanderung fremder Bevölkerungsgruppen aus der Westukraine oder Entwicklung auf bodenständiger mesolithischer Basis durch kulturelle Kontakte und Angleichungen). Die Diskussion zwischen den Prähistorikern ist so umfangreich und so komplex, daß der Versuch selbst einer verknappten Wiedergabe den Rahmen unserer Untersuchung sprengen würde. (Siehe aber auch die Fußn. 341.) 341 Benannt gem. dem Fundort Michelsberg in Untergrombach, Kr. Bruchsal, in Baden. Die MK-Gefäße haben ebenfalls z. T. trichterförmige Mündungen. Die MK ist aus der wohl in Südwestdeutschland gebildeten, in LBK-, also „donauländischer“ Tradition (Spät-LBK, Hinkelstein-, dann Großgartacher Gruppe, Rössener Kultur) stehenden Bischheimer Gruppe hervorgegangen, benannt gemäß dem ersten Fundort, einem nordpfälzischen Dorf bei Kirchheimbolanden. (In Mitteldeutschland entspricht ihr „Rössen  III“.) Sie hatte auch große Bedeutung für die Neolithisierung des Nordens, wo, wie wir schon wissen, die noch von Jäger- und Sammlerpopulationen geprägte Mittelsteinzeit mehr als tausend Jahre länger gedauert hat als im „donauländisch“ geprägten Süd-, Südwest-, West- und Mitteldeutschland. Die spätmesolithisch-frühneolithische Ertebölle-/Ellerbek-Kultur in Schleswig-Holstein und Süd­ skandinavien, benannt gemäß je einem Fundort in Jütland und in Schleswig-Holstein, setzte um 4 400 v. Chr. ein. Es gab nun auch hier bereits Keramik und Kontakte zu weiter südlich siedelnden, in „donauländischer“ Tradition stehenden Populationen, wie charakteristische Fundstücke belegen. Hermann Schwabedissen hat aufgrund der Ergebnisse seiner Grabungen von 1969 und danach am „Rosenhof“, Gde. Grube in Ostholstein, in Verbindung mit Funden und Befunden an noch anderen Plätzen in Nord- und Nordwestdeutschland, erkannt (Schwabe­ dissen, 1972 u. 1979), daß die Bischheimer Gruppe „in erheblichem Maß an der Neolithisierung des Nordens beteiligt war“ (1979, S. 172). Als die Trichterbecherkultur im Norden auftrat, war dieser deshalb bereits („donauländisch“) neolithisiert, also von der Jäger- und Sammlerzur produzierenden Wirtschaft übergegangen. Zum „markanten Kulturumbruch“ etwas weiter südlich, so im Braunschweiger Land „wie auch … weiträumig in Mitteleuropa“, kam es bereits um 4 300 v. Chr., nämlich zu einem Umbruch, „der sich vor allem in der Ausprägung des Sachgutes widerspiegelt, insbesondere der Keramik und der Großsteingeräte. Die Keramik war weitgehend unverziert, es dominierten als kulturverbindendes Element Becher und Töpfe mit trichterförmig ausgestelltem Rand. Erstmals traten echte Streitäxte aus Felsgestein und geschliffene Feuersteinbeile auf, … .“ Es kam zu Veränderungen, „die vor allem die wirtschaftliche Kapazität revolutionierten, aber im archäologischen Befund selten konkret faßbar sind. Es handelte sich um die Einführung/Erfindung von Milchwirtschaft, Pflug, Rad und Wagen und vielleicht der Reiterei“ (Steinmetz, S. 68). Mit den neuen Errungenschaften konnten die mitteljungsteinzeitlichen Bauern der TBK zum ersten Mal in weniger fruchtbaren Gebieten nördlich der Lößgrenze siedeln (ebenda). – Mit einer der frühen regionalen Gruppen der TBK, der Baalberger Kultur (1. H. 4. Jtsd. v. Chr.; Heege/Maier, S. 115), vor allem im Saale­ gebiet und im Nordharzvorland verbreitet (Preuß, S. 77), kommen die ersten Grabhügel auf (Steinmetz, S. 71).

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Schweiz und Frankreich, sind besondere Anlagen bekannt: „Befestigungsanlagen“ (wie es in älteren Publikationen heißt)342 bzw. „Erdwerke“ (wie inzwischen mehr neutral gesagt wird). In bezug auf die Primärfunktion der „Erdwerke“ stimmen die Interpretationen – wie wir sehen werden – inzwischen mehr und mehr überein; es gibt aber auch vermehrt Deutungen zusätzlich in einem anderen Sinn. Sie müssen wir wegen unseres Themas genauer überprüfen. „Befestigungsanlagen“/„Erdwerke“ der Mittleren Jungsteinzeit sind zuerst in etwas größerer Zahl im Verbreitungsgebiet der MK entdeckt worden, so auch am namengebenden Michelsberg. Inzwischen sind viele solcher Anlagen auch aus dem Raum der TBK bekannt, einschließlich Dänemark. Beim Saarbrücker Symposium „Die Kupferzeit als historische Epoche“, 1988 (Publikation hrsg. von Lichardus 1991), hat Bertemes die methodisch besonders gute Studie „Untersuchungen zur Funktion der Erdwerke der Michelsberger Kultur im Rahmen der kupferzeitlichen Zivilisation“ vorgetragen, dabei zunächst die älteren D e u t u n g e n der Erdwerke aufgelistet, jeweils mit Quellenangabe: befestigte Siedlungsplätze; Viehkrale (Schutz gegen Entlaufen und vor wilden Tieren und Viehräubern); Versammlungsbzw. Marktplätze für die Bewohner benachbarter „Dörfer“; Fliehburgen für die Bewohner solcher Siedlungen; eingegrenzte zentrale Heiligtümer/Kultplätze; Eingrenzungen von Gräberfeldern oder Aufbewahrungsplätzen (S. 441). Die Richtigkeit dieser Deutungen sollte – so Bertemes – geprüft werden. Orientiert an der Vorgehensweise bei einer modernen Grabung343 hat Bertemes gezeigt, auf was geachtet werden muß, wenn man wirklich erfassen will, was es mit den Erdwerken auf sich hat: Lage im Gelände, geologische Formation, Bodenbeschaffenheit; Form und Orientierung; Art der Einhegung; Innenraum und Umgebung; Stratigraphie und Verfüllungen; Lage zur zeitgleichen Besiedlung in der Region; archäologisches, osteologisches und organisches Material, einschließlich der Fundumstände; Phasengliederung und Datierung; Verknüpfung der Ergebnisse mit dem Ziel einer Deutung (ebenda). Da Bertemes möglichst alle diese Gesichtspunkte berücksichtigen wollte, hat er nur solche MK-Erdwerke in die Untersuchung einbezogen, „die zu einem größeren Teil ausgegraben und auch adäquat publiziert sind“ (S. 443); es waren 19. Von diesen 19 lagen sieben jeweils in einem breiten Flußtal, oft so, daß das Flußufer einen Teil der Begrenzung bildete, vier andere ebenfalls in der Ebene (aber nicht in Flußnähe) oder auf schwach abfallenden Hängen, acht waren auf einem Bergrücken oder Bergsporn.

342 „Befestigung“ ist zwar, genau genommen, nicht falsch – ein Areal wird mit Graben und/ oder Wällen, Palisaden tatsächlich „befestigt“ –, aber das Wort ist bei uns zu sehr mit der Vorstellung „Wehranlage“ in kriegerischen Zusammenhängen verbunden, was nicht gemeint sein muß. 343 Sie betraf eine etwas jüngere (bronzezeitliche) Kultur in Bulgarien, worauf es hier aber nicht ankommt.

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Den Erdwerken im Tal und auf der Höhe „ist gemein, daß die Stellen nicht versteckt in der Landschaft liegen, sondern von weitem sichtbar sind“ (S. 443). An anderer Stelle (S. 452) bringt Bertemes noch einen anderen Aspekt dieser Sache: Die Einhegung der Anlage „wurde mit großem Menschen-, Zeit- und Organi­ sationsaufwand bewerkstelligt.344 Es wurden tiefe, breite Sohlgräben sowie sie begleitende Wälle angelegt. Gemessen am Zivilisationsstand der Michelsberger Kultur kann man dafür sicherlich den Begriff Groß- oder Monumentalarchitektur benutzen.“ Die Art der Befestigung ist verschieden (S. 443 f.): Sie kann aus nur einem Graben, aus mehreren Gräben (aber oft zu verschiedener Zeit angelegt) bestehen, aus Graben/Gräben mit Palisade im Innern, auch „Bastionen“  – wie früher gesagt wurde –, tatsächlich wohl „aus kultischen Gründen abgeschirmte Bereiche“ (S. 453). Von den aus der Grabenaushubmasse errichteten Wällen sind nur noch selten Spuren vorhanden (S. 445). Recht gut untersucht ist das Aisne-Tal in der Champagne, in Frankreich. Die Erdwerke der MK liegen hier „in der Regel mehr oder weniger zentral in einem Umfeld von mehreren, möglicherweise zeitgleichen offenen Siedlungen (…). Auch läßt die Entfernung der Erdwerke … [voneinander] auf eine gewisse Regelmäßigkeit schließen“ (S. 450 f.), weshalb die Einzugsbereiche wohl etwa ähnlich groß waren. Auch „in Deutschland in der besser aufgearbeiteten Region des rheinischen Braunkohlengebietes“ sind „die Anlagen von Jülich, Inden, Koslar und LichSteinstraß ebenfalls jeweils von einem Netz offener Siedlungen umgeben“ (S. 451). „Offensichtlich wurden Erdwerke von den Einwohnern mehrerer benachbarter Dörfer [tatsächlich wohl Weiler (über den Unterschied siehe weiter vorn)] gemeinsam errichtet“ (S. 452). In der Zeit ihrer Benutzung waren die Erdwerke im Innern offenbar nicht besiedelt. Es gibt zwar Gruben in den Anlagen, aber das belegt nicht schon Be­siedelung. Die Gruben dienten Deponierungen und Bestattungen. Kein einziger Innenraum wies mit Sicherheit zeitgleiche Wohnbauten auf (S. 451 f.). Deshalb sei die Deutung der Erdwerke als befestigte Siedlungen nicht möglich. Die Konstruktion der Erdwerke wäre trotz des im ganzen enorm großen Arbeitsaufwands strategisch ineffizient: erstens, weil die unbefestigten Flußufer leicht zu überwinden waren, zweitens, weil die Größe der umhegten Fläche eine solche Menge von Verteidigern erfordert hätte, wie sie in der MK nicht zur Verfügung gestanden haben kann. Ferner spricht die Vielzahl oder Breite der Durchlässe in die Einhegung entschie 344 Von zwei in jüngerer Zeit modern ausgegrabenen TBK-Erdwerken von Sarup auf Fünen in Dänemark her – zu diesen im übrigen mehr weiter unten – haben wir Vorstellungen vom Arbeitsaufwand (Andersen, 1991, S. 484). Hier der Aufwand für Sarup I: Aus 1 428 m Fundament- u. Palisadengräben ca. 470 m 3, aus ca. 600 m Gräben etwa 1 500 m 3 Erdaushub, zus. etwa 2 000 m3; in 1 428 m Fundament- u. Palisadengräben Einbau von 3 690 Pfosten, was zusammen mindestens 100 000 Arbeitsstunden erforderte, also z. B. drei Monate für etwa 367 Mann.

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den gegen eine „fortifikatorische Deutung“. Es kommt hinzu, „daß kein einziges Erdwerk der Michelsberger Kultur Spuren aufweist, die eindeutig auf kriegerische Auseinandersetzungen zurückzuführen sind“, anders als im Fall des Erdwerks von Crickley Hill in England, wo die „Kartierung der im Grabungsbereich gefundenen Pfeilspitzen in Phase 1 d … einen dichten und gezielten Beschuß [erkennen läßt], den die Verteidiger erleiden mußten“; Bertemes fügt aber auch in bezug auf Crickley Hill an, daß die „strategische Nutzung der Anlage nicht ihre wahre primäre Funktion“ wiedergibt, weil „auch hier … Hinweise auf einen kultischen Kontext“ vorliegen (S. 453).345 Der Autor zeigt, daß die Gegebenheiten auch gegen die Interpretation der Erdwerke der MK als Viehkrale sprechen: Größe der und Arbeitsaufwand für eine solche Anlage (für die eine Palisade den gleichen Dienst getan hätte), dazu andere archäologische Funde und Fundumstände: gruppenweise deponierte Gefäße, größere Tierkörperteile, intakte Rinderschädel, Pflaster aus kalzinierten Knochen, in drei französischen Erdwerken der MK auch deponierte flache anthropomorphe Statuetten bzw. Altarmodelle, dann große Mengen von Menschenknochen in Gräben, vereinzelt auch in Gruben im Erdwerks-Innern. „All dies läßt [einen] einen funktionalen Schwerpunkt im kultisch-religiösen Bereich vermuten. … Der mehr oder weniger stark skelettierte Zustand läßt sich durch ein Toten­r itual erklären, in dem eine archäologisch kaum nachweisbare Luftaufbahrung vorgenommen wurde und die zum Teil verwesten Körper oder Körperteile bzw. Knochen nach einem gewissen Zeitraum sekundär in den Gruben und dem Graben beigesetzt wurden. … Ein derartiges Totenritual könnte das Fehlen ‚normaler‘ Gräber im Bereich der Michelsberger Kultur erklären“ (S. 454).

In den am Fluß oder sonst im Tal gelegenen Erdwerken scheinen bis auf die Anlage in Maizy Deponierungen von Gefäßen und Menschenknochen zu fehlen; statt dessen gibt es in großer Zahl Tierknochen, zum großen Teil absichtlich deponiert, besonders vom gezähmten Rind bzw. vom Wildrind. „Wir müssen demnach davon ausgehen, daß in diesen Anlagen Kultpraktiken vollzogen wurden, in denen Tieropfer und -deponierungen eine bedeutende Rolle spielten“ (ebenda). Zusammenfassend sagt Bertemes: „Alles in allem scheinen die Michelsberger Anlagen [und das gilt, wie wir sehen werden, auch für die Erdwerke im Bereich der TBK] primär ihren Ursprung in der Notwendigkeit zu finden, einen sakralen Raum von der profanen Umwelt abzutrennen“, der Autor hält aber eine „einseitige Interpretation“ in diesem Sinn für nicht zwingend, weil die Anlagen auch „Versammlungs- … [und] Marktplätze“ gewesen sein könnten (S. 455). Auf die Deutung als Versammlungsplatz komme ich weiter unten zurück. 345 Man muß aber auch beachten, daß das, was bei der Verknüpfung der Ergebnisse einer Betrachtung unter den geforderten Aspekten herauskommt, so etwa „Kulthandlungen“ oder „Opferungen“ von Region zu Region im einzelnen verschieden sein kann. Es gilt außerdem: „Vor allem sollte die Komplexität der Verflechtungen zwischen Kult und alltäglichem Leben nicht unterschätzt werden“ (S. 455).

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Bertemes erwähnt auch die „sogenannten ‚Höhensiedlungen‘ [der TBK] in Mitteldeutschland, von denen ein Teil mit Erdwerken versehen ist“, und sagt, daß sich auch hier „die Hinweise auf Kulthandlungen oder symbolische Aspekte [mehren], wie z. B. in Schalkenberg (Starling, 1988, S. 435)“ – wenngleich bei den jüngeren mitteldeutschen Anlagen ein „defensiver Charakter“ nicht auszuschließen sei (S. 455). Er weist auf im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bekannt gewordene, z. T. sehr genau erforschte Erdwerke der nordischen TBK hin.346 Ich nehme an dieser Stelle die für uns wichtigsten Ergebnisse der Andersenschen Sarup-Grabungen dazwischen. Als um 3 900 v. Chr. in Dänemark Landwirtschaft begann (Andersen, 1997, S. 311), war normale Erdbestattung üblich (S. 312). Das änderte sich um 3 600 v. Chr. Ab dieser Zeit wirkte in Nordwest- und Norddeutschland und in Südskandinavien auf die Trichterbecherkultur aus dem Westen die Megalithkultur ein (von Nordafrika über Spanien und Frankreich auf die britischen Inseln und in die Niederlande gelangt). Der Bau von Großstein-/(Megalith-)Gräbern und von Erdwerken kam auf. Die Existenz des Hakenpflugs in jener Zeit ist belegt, Handel und weitreichende Kontakte sind anhand der ersten Kupferfunde bezeugt (Andersen, 1991, S. 483). Auf der zwischen zwei Bächen gelegenen Landzunge Sarup, im Südwesten der Insel Fünen, sind 1967 bei landwirtschaftlichen Arbeiten Funde der TBK zutage gekommen. Als klar war, daß zu dem Komplex ein Erdwerk („enclosure“) gehörte – es waren dann sogar zwei –, sollten das Erdwerk auf seiner ganzen Fläche ausgegraben und möglichst die Struktur der zeitgleichen Besiedlung und der Bestattungen um das Erdwerk erfaßt werden. Die Grabungen fanden von 1971 bis 1984 unter Leitung von Niels H. Andersen statt. Insgesamt sind elf Besiedlungsphasen erkannt worden, von der mesolithischen Maglemose-Kultur bis zum 5. Jh. n. Chr. Fünf der elf Kulturen gehören zur TBK (1997, S. 11 f.). Das ältere der Erdwerke, „Sarup  I“, nimmt den bei weitem größten Teil  der Landzunge Sarup ein, ist im Norden und im Osten von einer 572 m langen Palisade in einem Palisadengraben mit von zahlreichen Erdbrücken unterbrochenen Gräben davor begrenzt, im Südosten und Westen von einem stark abfallenden Hang. Sarup I gehört in die sog. Fuchsberg-Phase der dänischen TBK, in der dort der Bau von Großsteingräbern begann, am Übergang vom dänischen Früh- zum Mittelneolithikum. Das jüngere Erdwerk, „Sarup II“, ist kleiner und nimmt nur 346

Bertemes kannte 1988 schon eine Zusammenfassung der Ergebnisse der großen Forschungsgrabungen, die Niels H. Andersen in Sarup in SW-Fünen in Dänemark ab 1971 durchgeführt hatte. Andersen war Teilnehmer am Saarbrücker Symposium und hat dort vorgetragen (s. Andersen, 1991). Eine detaillierte Publikation über die beiden Sarup-TBK-Grabensysteme („enclosures“) brachte er in englischer Sprache 1997 (s. dort), mit einem Vergleich mit anderen „enclosures“ entsprechender und älterer Zeit, europaweit. Bei einem sehr großen Teil der dort dargestellten Anlagen entspricht der Publikationsstand – wofür Andersen natürlich nichts kann – nicht den von Bertemes genannten Kriterien, weshalb von daher kaum über die älteren Deutungen hinauszugelangen ist.

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die Spitze der Landzunge ein, die ähnlich wie Sarup I, dort im Osten, hier aber im Norden, von einer Palisade und einem ebenfalls von vielen Erdbrücken unterbrochenen Doppelgraben begrenzt ist. Sarup II gehört in die sog. Klintbakke-Phase der TBK. Organisches Material aus Sarup I ist kalibriert347 C-14-datiert auf um 3 400 v. Chr. (S. 27), aus Sarup II auf um 3 250 v. Chr. (S. 63). Außer dem Erdwerksbereich selbst wurden etwa 200 km2 seiner Umgebung untersucht. Von dort sind neun TBK-Siedlungen und 216 Großsteingräber bekannt, davon gesichert348 112 Dolmen. 14 dieser Dolmen sind „in den letzten Jahren“ ausgegraben worden. Alle enthielten als älteste Keramik solche der Fuchsberg-Phase. Im Innern eines der Langdolmen, nur 2 km von Sarup entfernt, waren an einem Zaun „Gefäße hingestellt“, „genau mit denselben Fuchsberg-Mustern ornamentiert wie in Sarup“ (Andersen, 1991, S. 484). Die TBK-Siedlungen der Sarup-I-Zeit lagen verstreut in der Landschaft, waren klein und offenbar von gleicher Art. Andersen sagt überzeugend, der Bau der Erdwerke habe die gemeinschaftliche Anstrengung der Bewohner mehrerer solch kleiner Siedlungen erfordert, und meint, das habe diese kleinen verstreut liegenden Siedlungen auf einer höheren Ebene zu einem politischen Gemeinwesen geeint („united in a higher order which constituted a political … unit“; 1997, S. 314). Andersen kennt natürlich unser strenges Verständnis von „politisch“ nicht. Darauf kommt es in diesem Fall aber nicht an. Gemeint ist jedenfalls eine höhere Ebene als die der Sippe. Auch in den dänischen TBK-Erdwerken gibt es weder Spuren einer festen Besiedlung in Häusern, noch sollten die Anlagen Verteidigungszwecken dienen. Wegen der vielen Erdbrücken zwischen den Gräben wären sie dafür auch ungeeignet gewesen. Außerdem: „Fehlende Vegetationsschicht und gut erhaltene Tongefäße in den Grabenabschnitten deuten darauf hin, daß diese nur kurze Zeit offen gelegen haben … . Bei der Deutung gehen wir deshalb davon aus, daß in den Gräben vor der Palisade und in den viereckigen Vorbauten gewisse Zeremonien vor sich gegangen sind und die Gräben nachher keine Funktion mehr hatten. Anschließend wurden die Gräben wieder aufgefüllt“ (Andersen, 1991, S. 484),

allerdings gab es in „einigen Gräben … später sekundäre Eintiefungen“ (wiederholte Nutzungen). Wenngleich in den Gräben (außerdem an der Palisadenwand) vor allem Keramik deponiert worden ist, gab es auch anderes: Getreide; eine Steinlage über Tier 347 Zur Kalibration archäologischer C-14-Daten s. Weninger (1997), zu dem „für die archäologische Anwendung sehr nützliche[n], weil einfach anzuwendende[n] Verfahren“ (S. 60) s. S. 81 ff. (Spannend zu lesen ist übrigens die Geschichte des Verfahrens, S. 29–57.) Den für mich neuesten Stand der Diskussion um die „14-C-Alterskalibration und die absolute Chronologie des Spätglazials“ bringen Jöris/Weninger (2000). 348 In sehr vielen anderen Fällen sind die Großsteingräber als solche zwar bekannt, wegen der Zerstörung der Konstruktion ist aber die Art nicht mehr zu bestimmen.

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knochen349 und Scherben; zweimal je eine starke Holzkohleschicht auf dort verziegelter Erde; auf der Sohle von zwei Gräben je einen Menschenkiefer.349 Außer vielen kleinen „fast fundleeren Abfallgruben“ gab es 18 als „Opfergruben“ interpretierte Eintiefungen mit Besonderheiten, z. B. mit vollständigen Äxten oder mit einem Trichterbecher bzw. zwei Bechern bzw. etwa einem halben Liter verkohlten Getreides (ebenda). Zu dem Befund, daß in Gräben der Erdwerke außer Tierknochen auch Knochen von menschlichen Körperteilen waren, paßt, daß die Megalithgräber der frühen Zeit keine vollständigen Skelette enthielten (1997, S. 314; dort auch der Versuch einer Deutung). Andersen stellt auch Überlegungen zur Sozialstruktur an: Wegen der Gleichartigkeit der kleinen verstreut liegenden Siedlungen habe es wohl keine hierarchische Ordnung gegeben. Und Andersen meint, in Verbindung mit den Ritualen könnten im Erdwerk Versammlungen („assemblies“) abgehalten worden sein, etwa um Konflikte zu verhindern, z. B. über Landnutzungsrechte, oder zwecks Vorsorge-Regelungen. Das sind aber nur Vermutungen,350 Konkretes wissen wir nicht, außer daß die Art der Funde und Befunde, dazu Andersens Beschreibung der Architektur der Saruper Erdwerke deren Deutung als Versammlungsplätze sogar sehr widersprechen (siehe weiter unten). Die schließlich erfolgte Preisgabe des Erdwerks Sarup I begründet Andersen allgemein mit einer Änderung der religiösen Vorstellungen – die zur Errichtung von Sarup II und zum Bau von Großsteingräbern mit abgedecktem Gang in den Gräbern geführt habe, zu „dolmens and passage graves“, zu „Ganggräbern“, mit religiös motivierter Keramikdeponierung vor dem Großsteingrab (S. 315). Um 3 100 v. Chr. ist es zu einer Siedlungskonzentration in größere Siedlungseinheiten gekommen, mit der die Unabhängigkeit und Freizügigkeit der kleinen Einheiten verlorengegangen sei. Das Erdwerk behielt zwar bis zum Ende des 4. Jtds. seine zentrale Bedeutung, es sind auch nach wie vor kleine Gruben mit „complete artefacts“ darin angelegt und auch Gräben wieder geöffnet worden wie zuvor, aber weniger als zuvor, vor allem aber, es sind keine neuen Erdwerke mehr gebaut worden; Großsteingräber wurden wiederbenutzt, aber auch hier sind keine neuen mehr errichtet worden, u n d „complete bodies were buried not parts of bodies“ (S. 315 f.). Andersen (S. 316) hält es für möglich, das sei „the beginning of a distinctively individual form of burial that was to be so marked in the Single Grave Culture“, also der „Einzelgrabkultur“ (EGK). Wenn Bertemes (S. 456) sagt, die Erdwerke der MK zeigten „ein überregional durchorganisiertes Siedlungssystem mit in einem gewissen Abstand vonei­nander liegenden zentralen Kultstellen“ an, darf das „überregional durchorganisiert“ 349

Es wird von Hause aus wohl mehr Knochenmaterial gegeben haben. Im Sandboden, so in Sarup, sind die Erhaltungsbedingungen für Knochen normalerweise schlechter (1991, S. 484). 350 Ähnlich seitens T. Madsen „als zentrale Versammlungsplätze für die Bevölkerung innerhalb eines größeren Gebietes gedeutet“ (Skaarup, S. 40).

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nicht schon als „von oben“ durchorganisiert verstanden werden – was Bertemes auch nicht behauptet. Die Zuordnung der Siedlungen zu Erdwerken, die die Bewohner dieser Siedlungen gemeinsam errichteten, kann nämlich ursprünglich „von unten“, aus Sippenzusammenhängen heraus begonnen worden sein. Wohl aber bleibt möglich, daß die „Kultstellen gleichzeitig politische Versammlungsorte [gemeint ist: Orte politischer Versammlung] regionaler und überregionaler Bedeutung waren“. Interpretationen unterliegen freilich modischen Strömungen. Nach der Zeit der französischen Revolutionskriege, der napoleonischen Eroberungskriege und der Befreiungskriege in Europa gegen die napoleonische Herrschaft am Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts sind bestimmte archäologische Denkmäler fortifikatorisch gedeutet worden, als „Wachtthürme“, andere als „Schwedenschanzen“, nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg die MK-Erdwerke als „Befestigungen“ o. ä. Inzwischen wissen wir von vielen Erdwerken ganz sicher, daß sie kultischen Zwecken dienten, von anderen sehr wahrscheinlich. Sofern an eine Verwendung auch noch für anderes gedacht wird, dann neuerdings eher an „Versammlungsplätze“ o. ä.,351 aber das könnte wieder eine Mode sein und ist es eher auch (siehe weiter unten). Die Verteilung der kleineren Siedlungen über die Landschaft während der LBK und352 der MK/TBK macht es unwahrscheinlich, daß Zentralinstanzen die Gemeinwesen von oben beherrschen konnten. cc) Gemeinwesen vom Ende der Jungsteinzeit Mit der in unserer Betrachtung inzwischen erreichten Zeit, Mitte des 4. Jtds. v. Chr., waren wir schon recht dicht vor dem Auftreten der Griechen in Makedonien und Thessalien, um 3 000 v. Chr., mit der Schnurkeramischen Kultur (SK), etwa von 2 900/2 750 bis 2 250/2 200, und mit ihrer gewissermaßen Schwester­ kultur, der im Raum nördlich und nordwestlich der SK verbreiteten Einzelgrabkultur (EGK) haben wir bereits den Zeitraum erreicht, in dem Griechen von Makedonien und Thessalien aus auch nach Mittelgriechenland und in die Peloponnes vorgedrungen sind, um 2 300 v. Chr. Die Schnurkeramik ist 1891 von A. Götze gemäß einer Gefäßverzierungsart benannt und die gleichnamige Kultur als erste jungsteinzeitliche Gruppe monographisch beschrieben worden. Sie galt zunächst auch als älteste jungsteinzeitliche

351 So auch Steinmetz (S.  70) in bezug auf die Erdwerke der MK (ggf. der „Schöninger Gruppe“) im Braunschweiger Land: Plätze „für Zusammenkünfte … und als zentrale Marktplätze“. 352 Die zeitlich dazwischenliegende RK, mit beiden verbunden (s. weiter oben), ist in dieser Hinsicht noch nicht ausreichend zu überblicken.

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Kultur,353 wird aber nach dem inzwischen erreichten Fortschritt der Forschung zusammen mit der bei uns etwas später einsetzenden, partiell aber noch zeitgleichen, wohl von der iberischen Halbinsel kommenden Glockenbecherkultur (GK) richtig ganz an das Ende der Jungsteinzeit gesetzt. Ulrich Fischer (1957) hat die Beziehungen zwischen den zeitlich aufeinanderfolgenden Stufen der mitteldeutschen SK, ihrer regionalen Gruppen sowie die Verbindungen zu den vorausgehenden mittelneolithischen Kulturen Mitteldeutschlands und die Beziehungen zu den nach allen Seiten hin angrenzenden Räumen beschrieben, dabei das, was von wo überkommen bzw. übernommen worden ist. Ich bringe davon das für uns Relevante: Der Becher war wichtigstes Beigabe-Gefäß der SK (S. 274), ebenso wie in der nördlich anschließenden EGK. In diesen beiden gab es auch (S. 288 u. Fußn. 353) die steinerne Streitaxt, wenn auch jeweils verschieden in der Form. Als Erbe der Baalberger Gruppe, diese früh innerhalb der TBK, „kann zunächst die Kenntnis des Kupfers und der Hügelgrabbau aufgefaßt werden. Auch der Typ der wohlgeformten symmetrischen Streitaxt … hat hier seine Wurzeln. Seit je wird 353

Einige Autoren haben auch die Entstehung der SK aus einer kriegerischen Einwanderung von Gruppen aus dem pontischen Raum, nördlich des Schwarzmeers, zu erklären versucht. Häusler (1981), der seinerseits eine Entstehung auf bodenständiger Grundlage annimmt, aus „sozialökonomischen Veränderungen“ (S. 235) – eine freilich konkret wenig aussagende Stereotype jener Zeit in der DDR –, hat auf dem großen internationalen Schnurkeramik-Symposium von 1979 in Halle/Saale die Thesen der wichtigsten dieser Autoren kritisch betrachtet und gezeigt, daß und warum eine Entstehung der SK auf solchem Weg nicht plausibel zu machen sei. Behrens (Die Schnurkeramik, S. 11), der das Symposium leitete, hatte vier Teilkomplexe des Gesamtkomplexes der Schnurkeramischen Kulturen i.  w.  S. genannt: Einzelgrabkultur (EGK) in Dänemark, Nord- und Nordwestdeutschland sowie in den Niederlanden; Bootsaxtkultur in Südskandinavien, Südfinnland, Estland und Lettland; osteuropäische Gruppen (Mitteldnjepr-, Fatjanova- und Balanova-Kulturen) in Südrußland und in der Ukraine; Schnurkeramische Kultur (SK) i. e. S. in Mitteldeutschland, Böhmen, Südwestdeutschland und in angrenzenden Räumen. Ulrich Fischer (1957), bester Kenner der jung- und spätneolithischen sowie der bronzezeitlichen Sachverhalte Mitteldeutschlands, hat wie folgt unterschieden: hercynische Zone (Saale-Gebiet, Thüringen, Böhmen und Mähren); balto-rhenanische, die sich vom Baltikum nordöstlich, nördlich und westlich bis zum Mittel- bzw. Oberrhein im großen Bogen um die hercynische herum erstreckt; pontische Zone (ebenfalls Schnurverzierung), in deren Frühphase Streitäxte überhaupt noch fehlen, im Unterschied zur hercynischen (dort „facettierte Streitäxte“) und zur balto-rhenanischen (dort die „A-Äxte“ der EGK und die „Bootsäxte“ in Südskandinavien). Behrens (1981, S. 8) sagt in seiner nachträglich verfaßten Einleitung zur Publikation der Beiträge zum „Schnurkeramik-Symposium  …“ zusammenfassend: „Es gibt in verschiedenen Ländern (z. B. Dänemark, Schweden, VR Polen, DDR) Schnurverzierung bereits vor der Schnurkeramik [der SK i. e. S.], und zwar in der Trichterbecherkultur, sonst noch in Südosteuropa. Die Schnurkeramik ist in verschiedenen Ländern und Landschaften verbreitet. Die regionalen Gruppen besitzen eine Anzahl von Kulturelementen gemeinsam, andere Kulturelemente sind regional-spezifisch. (…) Die Herausbildung der Schnurkeramik steht in verschiedenen Ländern in Verbindung mit dem Ausklingen der Trichterbecherkultur;  …  . Es werden sowohl autochthone Komponenten als auch fremde Einflüsse in der Schnurkeramik anerkannt. … [Diese] hat keine Vorstufen in osteuropäischen Kulturen; verwandtschaftliche Beziehungen werden nicht bestritten“.

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die Baalberger Amphore als Vorbild der Schnuramphore angesehen, und ebenso kann der Trichterbecher als Vorbild des Schnurbechers gelten. Schließlich ist die Baalberger Steinkiste [diese eine der Varianten des megalithischen Erbes innerhalb der TBK] wohl Prototyp der schnurkeramischen“ (S. 288).

Von der Baalberger Gruppe, bei der zuerst Grabhügel vorkommen (Steinmetz, S.  71), wird die SK die Grabhügelbestattungs-Sitte übernommen haben. Auch die schnurkeramische Sitte der Nachbestattung (U.  Fischer, 1957), jetzt unter­ Hügeln,354 stammt wohl aus megalithischer Tradition. „Der Charakter der schnurkeramischen Kultur wird also in mancherlei Einzelzügen durch die älteren Kulturformen geprägt, auf deren Gebiet sie emporwuchs. Hügel- und Steinbau im Grabkult, die Streitaxt, das Kupfer, gewisse Züge der Keramik und ihrer Ornamentik erlauben autochthone Ableitung. Eine jede Kultur wird zivilisatorische Errungenschaften übernehmen, die ihr zusagen. Aber nicht minder eindrucksvoll ist die Liste der Kulturformen, welche nicht von den älteren Gruppen in die Schnurkeramik übergehen“ (S. 275).

Ich greife von all dem hier nur heraus: In der SK fehlen Erdwerke, die in Erdwerken gehegten Kultstätten,355 befestigte Höhensiedlungen und überhaupt größere Siedlungen, „und auch der Pfostenbau muß eine geringere Rolle gespielt haben“ (S. 292). Einiges Neue zu den Erdwerken  – der Autor sagt „Grabenwerke“  – bringt J. Müller (2003, S. 44–48, mit Abb. 4–5). Er zeigt, daß die spätneolithischen Grabenwerke m i t Siedlungen darin im Mittelelbe-Saale-Gebiet „einen gewissen Regelabstand zueinander aufweisen“ (S. 44) und jeweils als „Zentralsiedlung“ (S. 45) im Verhältnis zu den sie umgebenden Siedlungen ohne Grabenwerke anzusehen seien. Diese Annahme werde auch anhand von Untersuchungen über Rohstoffverarbeitung nahegelegt (S. 45 und S. 48 mit Anm. 2). Auffällig ist, daß die spät­ neolithischen Siedlungsplätze ohne Grabenwerke in der Regel auch in der SK kontinuierlich besiedelt blieben, die Zentralsiedlungen mit den Grabenwerken in der SK aber preisgegeben wurden, sogar quasi demonstrativ, indem endneolithische (meist SK-)Gräber die spätneolithischen Werke „in keiner Weise zu respektieren scheinen“ (S. 45). Mit der Bevölkerungskontinuität sei auch die nicht erst mit der SK, sondern damals schon etwa zweihundert Jahre lang gegebene bäuerliche Wirtschaftsweise bestehen geblieben. Wohl aber hätten sich mit der SK die „Organisationsformen“ im Gemeinwesen geändert (S. 47): „Beendigung eines … Systems mit zentralörtlichen Funktionen“ (S. 46). Bereits diesen Schluß zu ziehen, halte ich für voreilig. Tatsache ist nur, daß die Erdwerke/Grabenwerke offenbar preisgegeben worden sind, was wohl Veränderungen in Kult und Religion bedeutet.355 Den Versammlungsplatz als Zentrum des Gemeinwesens haben wir auch nicht im Erdwerk zu suchen. 354

Wenn unter dem SK-Grabhügel aber doch, „wohl familienmäßig“, mehrere Tote bestattet wurden (Nachbestattungen), dann nicht mehr zusammen in einem Grab wie in den Megalithgräbern, sondern jeweils in einem Grab für sich im Hügel (U. Fischer, 1957, S. 271). 355 Zur Religion in der SK s. Fußn. 349.

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In allen Fällen, in denen wir von Stammes- bzw. Volksversammlungen griechischer und germanischer Gemeinwesen wissen, fanden die Versammlungen im Freien statt, nicht in Kultstätten. Als solche werden aber die „Erdwerke“/„Grabenwerke“ der MK und der TBK wegen der Funde darin und wegen der Befunde wohl zutreffend interpretiert. Wir müssen zwischen beiden Phänomenen unterscheiden. Kult und Zeremonien sind eine Sache, die Aussprache und Absprache über die alle angehenden Angelegenheiten eine andere. Die Konstruktion der Erdwerke der MK mit im Innern „Bastionen“, wie früher gesagt wurde, tatsächlich wohl „aus kultischen Gründen abgeschirmte Bereiche“ (Bertemes, 1991, S. 453), mit dem Ziel, einen sakralen Raum „von der profanen [Um-]Welt“ abzutrennen (S.  454), sowie die Konstruktion, die sozusagen „Architektur“ der sorgfältig ausgegrabenen und gut publizierten TBK-Erdwerke Sarup I (Andersen, 1997, S. 63, Fig. 73) und Sarup II (S. 69, Fig. 83) mit ihren etwa viereckigen „Vorbauten“ wären für Versammlungsplätze politischer Gemeinwesen für offene Aussprache und Absprache sogar besonders störend gewesen. Und anders als J. Müller es interpretiert, bedeutet die Preisgabe der Erdwerke seitens der Schnurkeramiker (siehe weiter oben) nicht schon die „Beendigung eines … Systems mit zentralörtlichen Funktionen“. Der „Zentralort“ Versammlungsplatz für Aussprache und Absprache ist gerade ganz sicher nicht preis­ gegeben worden. Kilian hat gezeigt (siehe Fußn. 316), daß die germanische Sprachen sprechenden Stämme und Völker d i r e k t von den Trägern der Einzelgrabkultur (Kilian sagt „schnurkeramische Einzelgrabkultur“) abgeleitet werden können, ebenso die baltische Sprachen sprechenden Stämme und Völker der in denselben Großrahmen gehörenden Haffküstenkultur. Weil aber die germanischen Stämme nicht nur, wie wir aus historischen Quellen wissen, echt politische Gemeinwesen hatten, sondern weil auch das alte Wortmaterial es deutlich macht (Kapitel B. I.1.b)), stammt die Politizität der germanischen Gemeinwesen sowieso schon spätestens aus der Einzelgrabkultur bzw. aus dem EGK/SK-Zusammenhang. Für die baltische Sprachen sprechenden Stämme und Völker ist das alte Wortmaterial ebenfalls sehr ergiebig (siehe auch hier B. I.1.b)), die Verfassung der frühen litauischen und lettischen Gemeinwesen habe ich aber nicht mehr untersuchen können. Die Schnurkeramiker hatten auch hinsichtlich der Bestattungssitten Neues. Nicht nur, daß jetzt die Einzelperson individuell bestattet wurde,356 die 356 Am Ende der Betrachtung über die für uns relevanten Sachverhalte der Entwicklung der dänischen TBK war in bezug auf die Bestattungssitten von ersten Anzeichen eines Übergangs von der Kollektivbestattung zur Bestattung im Einzelgrab schon die Rede. In der EGK und in der SK war der Wandel dann vollzogen, nachdem die innerhalb der mitteldeutschen TBK jüngere, weiter nördlich verbreitete, in engen Beziehungen zur nordischen TBK stehende Walternienburger Gruppe (Preuß, S.  76) bereits Einzelgräber hatte, die, wie U.  Fischer (1957, S. 289) sagt, „in ihrer Betonung der individuellen Persönlichkeit auch der inneren Struktur des schnurkeramischen Ritus nahekommen“.

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„mehr oder minder streng westöstliche Lage der Hocker, Männer rechts, Frauen links liegend, beide nach Süden blickend, dazu die Rückenlage des Rumpfes und die freie Haltung der Arme, die gegenüber älteren Kulturen gelöst wirkende Stellung des Toten, alles vermittelt den Eindruck einer individuellen Pietät. Besonders erstaunlich ist die Differen­ zierung der Lage nach Geschlechtern; das ist neu, … ; … Männer und Frauen [scheinen] in ihren rituellen Bereichen geschieden, aber doch gleichberechtigt“ zu sein (U. Fischer, 1957, S. 271 f.).

Daß die nichtkeramischen Grab-Beigaben gemäß Geschlechtern verschieden sind, ist dagegen nichts Neues. In Männergräbern waren Waffen, in manchen eine Streitaxt, in anderen nur ein Beil aus Flint oder Felsgestein, dazu Flint­messer, selten Pfeile, manchmal Eberhauer, in Frauengräbern Ketten aus Canidenzähnen, Kupferschmuck und Muscheln; Rötel und Bernstein waren selten (S.  272). Fischer meint, man könne aus der Einrichtung und Ausstattung der Gräber gewisse Schlüsse auf die Gliederung der Gemeinwesen der SK ziehen, so die Hoch­ schätzung der Frauen aus der gleichberechtigten Absonderung und Betonung ihres rituellen Bereichs. Die unterschiedliche Ausstattung mit Waffen in Männergräbern, mit Schmuck in Frauengräbern könnte eine „gewisse ständische Gliederung … andeuten“. Und: „Wenn man will, kann man in den verzierten Steinkisten von Göhlitzsch und Halle etwas ähnliches wie Fürstengräber sehen, deren Pracht aber über diese Verzierung nicht weit hinausgereicht haben kann“ (S. 273). Von „Ständen“ darf noch auf keinen Fall gesprochen werden. Der Begriff ist hier unhistorisch. Es wird aber Rangunterschiede gegeben haben, und unter „Fürst“ dürfen wir nicht mehr verstehen als das, was engl. first besagt, hier den vielleicht und wahrscheinlich im Rang Ersten. Jetzt noch etwas zum Religiösen: „Betrachtet man die tönernen Trommeln als Attribute von ‚Zauberern‘, so ist ihr Fehlen in der Schnurkeramik zu vermerken, …; die Schnurkeramik hat sie … ausdrücklich ab­ gelehnt. Auch die mit den Trommeln verbundene Symbolik kehrt im schnurkeramischen Bereich nicht wieder, [einzig] mit … Ausnahme des [sog.] Tannenzweiges. Das mag bedeuten, daß die religiösen Vorstellungen auch außerhalb des Totenkultes im Ganzen andere waren als in der Trichterbecherkultur“ (ebenda).357

357 Zur Religion in der SK gibt es aus Gräberfunden und -befunden einige Anhaltspunkte. Behm-Blancke hat sie unter dem Titel „Zum Weltbild und zur Gesellschaftsstruktur [muß heißen: „zur Sozialstruktur“ oder „zum Gemeinwesen“] der Schnurkeramiker“ 1989 beschrieben. Darüber hinaus enthält die Arbeit aber auch vieles, das nur Deutung oder Vermutung ist, z. T. umwegige Deutung mit Bezugnahme auf Phänomene bei in älterer Zeit indogermanische Sprachen sprechenden Völkern, was im vorliegenden Fall zu beachten näherliegt als Rezentes z. B. aus Afrika. Das, was Behm-Blancke an Funden und Befunden aus Gräbern der SK vorlegt und interpretiert – die Interpretationen vermag ich freilich zu wenig zu beurteilen –, paßt nicht mehr zu Fischers Charakterisierung von 1957 (S. 292) von den „wohl verhältnismäßig schlichten religiösen Vorstellungen“ der Schnurkeramiker. Das sieht eher nach Elementen der Religionen indogermanischer Völker aus.

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Zum Schluß einige andere für uns relevante Aspekte der schnurkeramischen Gemeinwesen. Die Arten der Bestattung „verraten“ nicht nur „eine besondere Achtung der Einzelperson“, sondern auch „eine Betonung ihrer Freiheit in ihrer natürlichen und sozialen Besonderheit“ (S. 292). „Auf der schnurkeramischen Kultur kann kein hoher Überbau gelastet haben, keine Idee, die den einzelnen herabdrückte, wie es symbolisch die mächtigen Findlingsblöcke der nordischen Megalithgräber zu tun scheinen.358 In schlichtem 359 Hügel fand der Tote seine Ruhe, frei über das Land von den Höhen blickend, sofern es möglich war, … . Der Persönlichkeit war, wie es wohl unter einfacheren politischen und sozialen Verhältnissen geschieht, mehr Freiheit gelassen“ (S. 276).

Worauf es für uns ankommt, ist „einfachere politische und soziale Verhältnisse“. Das „einfach“ hat bei Fischer noch einen anderen Aspekt. (Ich komme nachher darauf zurück.) „Der staatliche Zusammenhang [es darf natürlich nur heißen: „der Zusammenhang im Gemeinwesen“] scheint losere Formen gehabt zu haben … . Die Toleranz gegenüber anderen Gruppen war groß, entsprechend die Beeinflußbarkeit in allen Dingen der äußeren Zivilisation. Um so stabiler und konservativer wurde die soziale und religiöse Struktur gewahrt.  …  . Die etwas eigenbrötlerische Haltung der schnurkeramischen Kultur kommt auch im Stil ihres Kunstgewerbes sehr klar zum Ausdruck. Kaum eine Schnuramphore gleicht genau der anderen. … . Wie knorrig, hinterwäldlerisch wirken oft die schnurkeramischen Gefäße, wie für den Hausgebrauch gemacht“ (S. 292).

Zu dem „einfach“ sind jetzt noch hinzugekommen: „eigenbrötlerisch“, „knorrig“, „hinterwäldlerisch“, und es folgt (S. 296): „So könnte man sich vorstellen, daß die Träger der schnurkeramischen Kultur ursprünglich, also vor der Ausbildung ihrer uns überlieferten charakteristischen Erscheinungen der älteren Stufe, verhältnismäßg primitive neolithische Gruppen waren, die im Umkreis der Trichterbecherkultur lebten, ohne aber von dieser eingeschmolzen zu werden. Abgesunkene Gruppen aus älteren frühneolithischen Kulturen, die sich nicht assimiliert hatten, können hinzugetreten sein.“

Fischer beachtet sehr wohl auch die Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen: „Wir beobachten, daß die Ausbreitung der Schnurkeramik in ihrer hercynischen Zone sich ziemlich streng an die Ausbreitung der Trichterbecherkultur und der ihr verwandt erscheinenden mitteleuropäischen Gruppen hält. Im Zusammenhang mit den zahlreichen Verbindungen innerer Art zu dieser älteren Kulturzone entsteht der Eindruck, daß die Schnurkeramiker deren Trägern auch somatisch näher verbunden waren. Das anthropologische Bild der schnurkeramischen Population zeigt ein bereits konsolidiertes Rassegemisch, das mit dem bisher … [zu erschließenden] Rassenbild der Trichterbechergruppen anscheinend in Übereinstimmung steht“ (S. 295 f.). 358

Dieser Satz steht allerdings sehr in der Gefahr der Überinterpretation. Die Grabhügel der SK waren von Hause aus tatsächlich viel kleiner und niedriger, als sie es später unter der Einwirkung bronzezeitlicher und besonders eisenzeitlicher Nachbestattungen geworden sind. 359

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Die Ergebnisse der weiter vorn im Zusammenhang mit dem Indogermanenthema genannten neueren anthropologischen Untersuchungen passen im wesentlichen dazu. Daß „einfache“ Systeme (in unserem Fall ein solches, dessen Glieder bezeichnenderweise mehr Freiheit im Gemeinwesen besessen hätten) als „primitive“ Systeme bezeichnet werden, kennen wir schon von mehreren Stellen des Kapitels B. I.8. Dort waren es die nicht städtisch organisierten Gemeinwesen Elis und in Arkadien, die der Makedonen, der Molosser und in Thessalien sowie das Gemeinwesen in Attika vor der Stadtwerdung Athens. – Wenn Fischer (S. 296) erwogen hat, die Träger der schnurkeramischen Kultur könnten „ursprünglich, also vor der Ausbildung ihrer uns überlieferten charakteristischen Erscheinungen der älteren Stufe, … neolithische Gruppen“ gewesen sein, „die im Umkreis der Trichterbecherkultur lebten, ohne aber von dieser [a l s sie dann „westisch“ beeinflußt war] eingeschmolzen zu werden“, sollten wir das auch unter folgenden Aspekten sehen. Die „donauländisch“ geprägten neolithischen Kulturen haben für ihre Toten E r d -Bestattung praktiziert, sowohl Körper- als auch Leichenbrandbestattung. Den Fall Elsloo kennen wir von Modderman her. Auch im Gräberfeld von Niedermerz auf der Aldenhover Platte gab es Erdbestattung in beiden Formen. Die charakteristische Bestattungsweise der Hinkelsteingruppe war (so Jockenhövel, S. 137) die Erdbestattung der Körper in gestreckter Rückenlage. Im großen Hinkelstein-Großgartacher Gräberfeld von Trebur gegenüber Mainz gab es beide Formen der Erdbestattung. (Der Ausgräber, Holger Göldner, sagt 1991, S. 14, der nur kleine Anteil der erfaßten Brandbestattungen erkläre sich aus der geringeren Eintiefung solcher Gräber, weshalb diese in den meisten Fällen zweifellos inzwischen landwirtschaftlichen Arbeiten zum Opfer gefallen seien.) Auch die Gräber der mittelneolithischen Kulturen Rössen i. e. S. sowie Bischheim und andere epi-rössenzeitliche Gruppen passen in das Bild (siehe Jockenhövel, S. 151 f.). Diese noch „donauländisch“ geprägten Verhältnisse änderten sich unter „westi­ schem“ Einfluß – wie die Bezeichnung in der älteren Neolithikumforschung lautete und die sich hier gut eignet. Was sich da änderte, gehört nicht zu den eher Marginalien einer Kultur, wie etwa Gefäßverzierungen. Es betraf Kernbereiche, in denen von außen Hinzukommende bestimmend geworden sein müssen. Im Süden, Südwesten und Westen „Deutschlands“ wirkte dieser Einfluß von „Frankreich“ her bei der Herausbildung der Michelsberger Kultur und einiger ihr verwandten Gruppen: im Totenritual, auf die Entstehung der Kultplätze, der sog. Erdwerke, und beim nun ganz anderen „Bestattungswesen“, nämlich der Nieder­ legung von Teilen menschlicher Körper in Gräben und Gruben. Darüber haben wir weiter vorn von Bertemes gehört. Die drei Phänomene in ihrem Zusammenhang sind das wesentlich Neue. Im Nordwesten, im Norden und in der nördlichen Mitte „Deutschlands“ sowie in Südskandinavien gab es die nördliche Variante des „westischen“ Einflusses,

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hier auf die (schon ausgebildete) Trichterbecherkultur. Dort waren die im Norden noch länger überdauernden mesolithischen Kulturen zwar auch schon etwas mit der LBK in Berührung gekommen, bei der Neolithisierung des Nordens hatte aber besonders die in donauländischer Tradition stehende Bischheimer Gruppe mitgewirkt. Als z. B. in Dänemark um 3 900 v. Chr. die Landwirtschaft begann, war noch normale Erdbestattung üblich. Erst in einer jüngeren Periode der TBK, hier ab etwa 3 600 v. Chr., überlagerte die Megalithgräberkultur die TBK: mit einem anderen Totenritual, mit dem Bau von Kultplätzen und mit ganz anderem Bestattungswesen als in der Zeit vor 3 600 v. Chr. (auch hier Niederlegung von Teilen menschlicher Körper). Wir lasen bei Andersen, wie in Dänemark die Dominanz jener megalithischen Kulturelemente schon mit Sarup II schwächer wurde, dann nicht mehr menschliche Körperteile niedergelegt, sondern wieder der Leichnam im ganzen beigesetzt worden ist, schließlich wieder in Einzel- statt in Kollektivgräbern. Die Schnurkeramiker haben die unter fremdem Einfluß dominierend gewesene und für sie wohl nicht nur aus religiösen und ethischen, sondern vielleicht auch aus ästhetischen Gründen (Gestank) unerträgliche Totenbehandlung abgelehnt, die in jene fremden Zusammenhänge gehörenden Kultplätze abgeschafft und den Toten ihre persönliche Würde gegeben. Die Beseitigung des lange dominierenden Fremden wirkt auf den Betrachter von heute vielleicht revolutionär, wir wissen aber nichts über Einzelheiten des historischen Verlaufs. Außerdem bringt eine Beseitigung von „Fremdherrschaft“ nie eine Rückkehr zu den Verhältnissen davor. Der „westische“ Einfluß in TBK und MK hat Spuren hinterlassen, nicht nur als archäologische Denkmäler in der Landschaft von heute, sondern auch damals lebendig fortwirkend in der folgenden EGK und in der SK. Was die SK betrifft, hat Fischer weiter oben das Wichtigste genannt. – Weiter vorn habe ich die durch nichts sachlich gestützte Vermutung von Prähistorikern umgekehrt sachlich begründet in Zweifel gezogen, die „Erdwerke“ der MK und der TBK, deren Funktion als Kultstätten sich immer klarer abzeichnet, könnten außerdem Versammlungsplätze gewesen sein. Das gilt jedenfalls für Plätze der Versammlung zum Zweck der geordneten Sprache und Absprache über die alle im politischen Gemeinwesen angehenden Dinge. Dem scheint auf den ersten Blick die Tatsache zu widersprechen, daß die Verbindung von Agora und Kultstätte/Tempel bei den Griechen vielfach belegt ist. Genaueres Hinsehen erbringt jedoch, daß die Verbindung jüngeren Datums, daß sie sekundär ist. Tempelbauten haben die Griechen erst in Griechenland bei anderen Kulturen kennengelernt. Von Hause aus waren ihre Kultstätten in der Natur. Der „wolkenverhangene“ Berg Olymp als Sitz des Zeus und anderer griechischer Haupt­ göttinnen und -götter ist uns seit Homer bekannt. (Die Vorstellung wird älter sein als Homer, Näheres wissen wir aber nicht.) Die nordgriechischen Stämme ohne

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städtisches Zentrum hatten ein „zentrales Heiligtum“ als Mittelpunkt (Ehrenberg, 1965, S. 109), z. B. die Molosser das Heiligtum zu Dordona im Epirus (Franke, 1955, S. 26). Tritsch beschreibt für mehrere regelmäßig angelegte griechische Städte des 5. bzw. 4. Jh. v. Chr. die Situation der Agora. Während sich in den älteren Städten die Agora meist unterhalb des Hauptzugangs zur „Burg“/Akropolis befunden hatte, wurde sie „nun in die Mitte der neuen Stadt verlegt“, aber – und darauf kommt es mir an – auch hier wie in den alten Städten sind die Heiligtümer, in­ zwischen wegen der Göttervielfalt längst mehrere, (und die Verwaltungsgebäude) um die Agora konzentriert. Aber Agora und Heiligtümer waren hier und in Athen und auch an anderen Plätzen, deren Details wir kennen, nie örtlich identisch, sie waren nur benachbart. Wir besitzen zwar keine Beschreibung eines frühgriechischen Versammlungsplatzes, und auch Homer, der sich wohl an den Verhältnissen seiner Zeit, des 8. Jh. v. Chr., orientiert hat, gibt keine Details der Örtlichkeiten wieder, wenn er Volks-/ Heeresversammlungen beschreibt, etwa die Versammlung der Achäer vor/unterhalb Troia, etwa die von Telemach einberufene Versammlung der Männer von­ Ithaka, aber wir haben uns offenbar Plätze vorzustellen, die frei zugänglich waren. Über Einhegungen verschiedener Art erfahren wir konkret erst etwas für jüngere Zeiten. „In den Jahren rund um 500 v. Chr. wurde die Agora [von Athen] … durch Grenzsteine (hóroi) abgesteckt. Sie wurden an den Zugängen aufgestellt, überall dort[,] wo eine Straße auf den offenen Platz führte. … . Bei der Agora bestand eine zweifache Notwendigkeit für eine Grenzziehung. Sie hatte religiöse und praktische Gründe. So wie heute pflegte man auch in der Antike das Wort agorá nachlässig zu gebrauchen und damit den gesamten Marktbezirk oder Stadtmittelpunkt zu bezeichnen. Genaugenommen war aber die Agora nur der große, offene Platz, … . … Ein zweiter, praktischer Grund … war die Notwendigkeit, architektonische Übergriffe … zu unterbinden“ (Camp, S. 56 f.).

Weil „beim Ostrakismos die gesamte Gemeinde zu einer gewissermaßen richterlichen Entscheidung feierlich zusammen[kam]“, ist die Agora „für diesen Zweck“ eingezäunt worden, „stets ringförmig“ (Tritsch, S.  85, mit Quellen­ angabe). Daß die – hier ringförmige – Einhegung nicht bloß eine Neuerung jüngerer Zeit gewesen sein kann, ersehen wir daraus, daß die Lakedaimonier ihre allgemeine Versammlungsstätte „Apella“ nannten (siehe im Pape, Bd. 1, S. 286, aber auch in Kapitel B. I.1.a)).

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dd) Ab etwa 3 000 v. Chr. im Norden, ab etwa 2 300 in der Mitte und im Süden Griechenlands mit der Einwanderung der Griechen neu auftretende Kulturerscheinungen und ihre Entsprechungen bei cc) Das, was wir in Kapitel B. I.1.a) aus archäologischer Sicht an charakteristischen Neuerungen bei den um 3 000 v. Chr. in Makedonien und wohl in Thessalien eingebrochenen, ab Mitte des 3. Jtds. auch in Böotien zusammen mit Gruppen aus Anatolien siedelnden und mit diesen dann verschmelzenden, um 2 300 in die Peloponnes und wohl in Attika eingedrungenen Stämmen kennengelernt haben, passe ich jetzt noch in das ein, was sich für die Zeit ab etwa 4 000 v. Chr. ergeben hat. Jene Neuerungen waren: anderer Hausbau (Apsis-Haus), durchbohrte steinerne Streitaxt und der sog. Tonanker, im Bestattungswesen Steinkisten und jetzt in größerer Zahl Grabhügel. In Mitteleuropa ist mit dem Ende der Rössener Kultur das seit der Linienbandkeramik üblich gewesene Langhaus von Formen kürzerer Häuser abgelöst worden (z. B. zwei- oder dreiräumig rechteckig). Das zweiräumige Haus mit Apsis gab es in der mit Schwerpunkt in Ungarn, aber bis Böhmen (und als Gatersleber Gruppe bis ins Saale-Elbegebiet) verbreiteten jungneolithischen Lengyel-Kultur. Mehrere Häuser aus Bylany, Bez. Kolin, Böhmen, hat Müller-Karpe publiziert (Bd. II, S. 482, u. Taf. 194 H). „Zugehörig ist eine Dorf-Umfassungspalisade mit einer Toranlage (Taf. 194 I)“. Die durchbohrten Steinäxte, die in Lerna in der Argolis, Phase IV, also nach der Zerstörung von Lerna III, d. h. ab etwa 2 300 oder bald danach, zusammen mit der neuen Hausform und den „Tonankern“ bei den archäologischen Funden und Befunden auftraten, gab es zuvor ebenfalls schon im Norden der ägäischen Halbinsel, im „thrakisch-makedonischen, sodann  … [im] thessalischen und mittelgriechischen Raum“ (Hiller, 1986, S. 28 u. S. 30). „Die Sitte des Streitaxttragens war [auch und besonders] in ganz Mitteleuropa und Südskandinavien … [schon] vor der Schnurkeramikkultur [und der EGK] geläufig“ (Müller-Karpe, Bd. III, 1, S. 486): in der Trichterbecherkultur.360 Wir wissen von weiter vorn aus diesem Exkurs, daß es, anders als im her­ cynischen und im balto-rhenanischen Kreis mit ihren facettierten Äxten bzw. „A-Äxten“ und „Bootsäxten“, im pontischen Kreis in dessen Frühphase noch über-

360 In Norddeutschland und Südskandinavien nimmt die frühe TBK mit ihren StreitaxtTypen den Raum ein, in dem es in der „Ahrensberger Gruppe“, am Übergang vom Endpaläolithikum zum Mesolithikum, die Ren-Geweih-Beile vom Lyngby-Typ gibt (Kilian, 1983, S. 102 u. Abb. 18, unten). „Die Lyngbybeile müssen als Waffen, als Kampfbeile angesehen werden, denn sie sind als Gerät, etwa zur Holzbearbeitung, ohne den … [erst später üblich gewordenen] Steineinsatz unbrauchbar. Damit aber bestünde eine sehr alte Streitaxttradition im Norden“ (S. 102), übrigens bis in den Norden Hessens (s. Fiedler, 1997, S. 26 f.).

I. Die Gemeinwesen/Systeme

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haupt keine Äxte gegeben hat. In den Norden der ägäischen Halbinsel werden also wohl von Mitteleuropa aus die steinernen Streitäxte vermittelt oder hergebracht worden sein. Einen ankerförmigen Anhänger, hier aus Bein, Siedlungsfund aus Biederitz, Kr. Burg, Sachsen-Anhalt, habe ich bei Behrens (1965, S. 78 u. Taf. 55; Signatur: Lm. Halle 35: 692) gefunden. Er ist bezeichnenderweise aus der Einzelgrabkultur. Dazu Behrens (1981, S. 192): EGK und SK etwa 2 800–2 250. Die frühen „Tonanker“ aus dem Norden der ägäischen Halbinsel sind – nicht enger eingegrenzt – von etwa 3 000–2 300. Das soll selbstverständlich nicht heißen, die Protogriechen seien aus Mitteldeutschland gekommen, sondern nur, daß es manche Gemeinsamkeiten gab. Zum Totenkult in Griechenland in der Zeit nach der Zerstörung von „Lerna III“ und „entsprechenden Ereignissen an anderen Orten der Argolis und in Attika“, ab 2 300 oder bald danach, sagt Hiller (1986, S. 26), es „sind nun … Nekropolen mit Steinkistengräbern oder auch Tumuli … bezeichnend“. Das betrifft die „Griechen, die wir in erster Linie mit den mittelhelladischen Steinkistengräbern ver­ binden möchten“ (S. 33). „Plattengräber oder Steinkisten erscheinen mit der Baalberger Kultur zum er­ stenmal auf mitteldeutschem Boden“ (U. Fischer, 1956, S. 49), dolmenähnlich aus vier Wandplatten und einer Deckplatte, vereinzelt sehr wuchtig, meist aber leichter konstruiert (ebenda). Die Baalberger Kultur – zu ihr siehe auch weiter vorn und noch einmal weiter unten, bei „Grabhügel“ – ist in die 1. Hälfte des 4. Jtds. v. Chr. datiert (Heege/Maier, S. 115). – Von der Keramik her zur Wartberggruppe gehören die von der westeuropäischen statt von der nordeuropäischen Megalithkultur beeinflußten Steinkisten-/Steinkammergräber in Westfalen sowie in Nord- und Oberhessen; sie sind von um 3 000 v. Chr. (Jockenhövel, S. 122). Die Kugelamphorengruppe, ebenfalls um 3 000, verbreitet in Mittel-, Nord- und Ostdeutschland sowie in Böhmen (Preuß, S.  80, Verbreitungskarte; dazu noch U.  Fischer, 1956, S. 149), kennt zwar (Nach-)Bestattungen in Steinkammern, „ohne daß anzunehmen ist, daß diese Kammern von den Trägern der Kugelamphorenkultur erbaut wurden“ (ebenda). Zu Nachwirkungen der Megalithik in der mitteldeutschen Schnurkeramischen Kultur (SK) sagt U.  Fischer (1957, S.  270): Es kommt zur Übernahme von (hier) „Flachsteinkisten“ (Gräbern), „besonders im Mansfelder Bereich“, in Sachsen-Anhalt (siehe auch S. 288 und S. 291). Wir kennen es schon aus einem anderen Zusammenhang: Grabhügel mit Einzelgräbern kommen in der in Mitteldeutschland ältesten Stufe der Trichterbecherkultur vor, der Baalberger Kultur. Auch die SK bestattete unter Hügeln (S. 288: „Erbe des Baalberger Horizontes“).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Zusammenfassung Der politische Charakter sowohl der Gemeinwesen der Griechen (von weiter nördlich etwa 3 000 v. Chr. nach Makedonien und wohl auch Thessalien, um etwa 2 300 auch in die Mitte Griechenlands und die Peloponnes eingedrungen) als auch der der Germanen (hervorgegangen aus den Trägern der Einzelgrab- und der Schnurkeramischen Kultur, EGK und SK, beide fast zeitgleich mit jenen frühen Griechen) und sehr wahrscheinlich auch der Gemeinwesen noch anderer eine indogermanische Sprache sprechenden Völker stammt aus dem indogermanischen Zusammenhang. Aus linguistischen Gründen (betr. Gewässernamen) spricht nichts dagegen, und es ist folglich bis zum Beweis des Gegenteils davon auszugehen, daß auch die Träger der „donauländischen“ Linienbandkeramischen Kultur (LBK) in diesen in­ dogermanischen Zusammenhang gehören. – Von der Auswertung der Ergebnisse der Ausgrabungen der letzten Jahre im oberhessischen Nieder-Mörlen und von anderen Funden und Befunden ist zu erwarten, daß wir ein besseres Bild von den regionalen und vielleicht auch von überregionalen Beziehungen innerhalb der LBK und von ihren Verbindungen mit der Körös- und mit der La-Hoguette-Kultur bekämen und dann auch ein Bild von der Struktur der LBK-Gemeinwesen gewinnen würden. Das muß abgewartet und dann behutsam analysiert werden. Untersuchungen an größeren und fundreichen süd- und nordhessischen Siedlungsstellen der Mittelsteinzeit machen die Existenz „dorfähnlicher“ Gebilde wahrscheinlich, aber die Art der Organisation der Gemeinwesen  – ob politisch oder noch präpolitisch – ist nicht bekannt. Für um 10 000 v. Chr., im Magdalénien, haben wir von Gönnersdorf am Mittelrhein zum ersten Mal alle Anhaltspunkte für ein konkretes politisches Gemeinwesen des Jungpaläolithikums beieinander, mit einem Basislager am Ort und zwei größeren, auch im Winter bewohnten Behausungen, außerdem mit wenigstens zwei Untergruppen, die sich während der meisten Zeit des Jahres etwa 180 km voneinander entfernt in etwa entgegengesetzter Richtung aufgehalten haben, in Räumen, die geographisch konkret bestimmt sind. – Die von Weniger unter öko­ logisch-archäologischen Gesichtspunkten untersuchten Magdalénien-Plätze vor allem der Mittleren Schwäbischen Alb brächten bei entsprechender Analyse möglicherweise auch in unserer Sache Ergebnisse. Das Magdalénien gehört in die Zeit des „anatomisch modernen Menschen“ (Cromagnon-Typ) und wohl auch in die Zeit des indogermanischen Sprachzusammenhangs – auch wenn wir für Gönnersdorf und für die Mittlere Schwäbische Alb dazu nichts Näheres wissen. Das besagt aber noch nicht, daß es in der Zeit der Neandertaler, ihrer Vorstufen und in der Zeit des Homo erectus/ergaster politische Gemeinwesen noch nicht gegeben hat. Gebraucht werden allerdings Untersuchungen von der Qualität wie etwa in Bilzingsleben in Thüringen, und das jeweils auch mit Blick auf unser Thema. Im Fall Bilzingsleben waren in dieser Hinsicht keine

II. Defiziente Modi

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Aussagen über größere Gemeinwesen als die kleine Gruppe mit ihren drei Behausungen von Bilzingsleben selbst möglich, auch wenn bekannt ist, daß es bei Stuttgart-Cannstatt eine andere Gruppe dieser Zeit gegeben hat. Nicht nur, aber nicht zuletzt in Frankreich sollten die Ergebnisse moderner Grabungen auch unter dem hier wichtigen Gesichtspunkt analysiert werden.

II. Defiziente Modi 1. Vom politischen Gemeinwesen zum mittelalterlichen Herrschaftssystem – Der Verlust der Politizität im Frankenreich Wir wissen aus Kapitel B. I.1.a) von Systemen viel älterer Zeit, die von Hause aus politisch waren, sich aber davon wegentwickelt haben.361 Es sind jene griechischen Gemeinwesen aus der Zeit ab Ende des 2.  Jtds. v. Chr., in denen nach und nach das Gros der Bauern weitgehend rechtlos und ausgebeutet war. Wir kennen hier in groben Zügen das Ergebnis der Entwicklung sowie die Revolten dagegen, außerdem – und das für Athen/Attika genauer – die Versuche zur System­ reparatur, die allerdings in eine andere Richtung gingen. Wir wissen aber zu wenig über die Stufen der Entwicklung hin zu jener Defizienz und über die Anfänge davon, die zwischen der Dorischen/Nordwestgriechischen Einwanderung nach Mittelgriechenland sowie in die Peloponnes und der „archaischen Zeit“ liegen müssen. Noch schlechter ist es um unsere Kenntnis über das achäische Griechenland bestellt, das Griechenland von etwa 2 300 v. Chr. bis zur spätmykenischen Zeit,362 an dessen Anfang ebenfalls politische Gemeinwesen gestanden haben müssen. Auch die von Hause aus offenbar gleichfalls echt politischen Gemeinwesen der im letzten Viertel des 3. Jtds. v. Chr. nach Kleinasien eingewanderten indogermanischen Hethiter und Luvier (siehe Kapitel B. I.1.d)) sind unter orientalischen Einflüssen heruntergekommen. Vielleicht kann man bei thematischer Untersuchung wenigstens etwas mehr über Stufen dieser Entwicklung in die Defizienz und über Details der Ursachen herausbekommen. (Die/der es versucht, darf aber nicht mit modernen Begriffen wie „Staat“ und „Gesellschaft“ an die Sache herangehen, sonst wird das nichts.) Für Rom (siehe Kapitel  B. I.1.c)) kennen wir für die allerersten Jahrhunderte nach der Einwanderung nur Ergebnisse der Vorgeschichtswissenschaft. Die Institution Volksversammlung ist zwar mit großer Wahrscheinlichkeit schon auf die 361 Die frühen orientalischen Systeme sind, soweit erkennbar, überhaupt nicht etwa defiziente Modi von von Hause aus politischen Systemen und folglich für unsere Betrachtung thematisch irrelevant. 362 Vielleicht bringt eine Auswertung des Schriftmaterials „Linear B“ von vor 1 400 v. Chr. unter Gesichtspunkten unseres Hauptthemas wenigstens ein paar Erkenntnisse – wenn vorsichtig interpretiert wird.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Apenninenhalbinsel mitgebracht und nach Beseitigung der Etrusker-Könige nur neu belebt (und nicht etwa damals sozusagen erfunden) worden, aber selbst für noch lange Zeit danach wissen wir nur wenig über Rom. Das sieht ganz anders aus für eines der von germanischen Völkern entwickelten Reiche, nämlich das der Franken. Zwar haben auch mehrere andere germanische Völker während der Zeit der Völkerwanderung und zum Teil noch danach solche Reiche begründet, die meisten davon im Mittelmeer-Raum, und einige davon wurden als glanzvoll beschrieben – was aber sowieso nicht unser Thema ist. Im Fall des Frankenreichs und seiner Nachfolger ist die Entwicklung über weit mehr als tausend Jahre zu beobachten. Wenn man wissenschaftlich zu arbeiten geübt ist, kann man sich mit Geduld – Interesse vorausgesetzt – natürlich in jede Wissenschaft einarbeiten. In unserem Fall geht es um Geschichtswissenschaft für Mittelalter und Neuzeit. Ich habe dabei aber nicht Gesamtdarstellungen für diese Zeitalter zu geben, verfolge vielmehr nur die Veränderungen vom von Hause aus politischen System des fränkischen Stammesverbands zum Franken- bzw. Franken-Langobarden-Reich sowie zu den mittelalterlichen und neuzeitlichen Nachfolgegebilden dieses Reiches. Vom Ergebnis her ist das in seinen Grundzügen die Geschichte des Verlusts der Politizität geworden, die Geschichte von deren Defizienz zu Herrschaft. Darum geht es thematisch in den großen Kapiteln B.II.1.a) und B.II.2.a), um charakteristische Aspekte dieser Entwicklung in den jeweils zugeordneten Kapiteln B.II.1.b)–B.II.1.f) sowie B.II.2.b)–B.II.2.e). Die systematische Sicht auf dieses Thema ist das Neue. Sowohl für die Untersuchung der Entwicklung zum mittelalterlichen Herrschaftssystem als auch für die zum neuzeitlichen Staat, darin entsprechend für die einzelnen Epochen, habe ich Darstellungen jeweils mehrerer renommierter Hi­ storiker verwendet. Was davon den Grundstock bildet, sollte dabei auch für Politik- und für Publizistikwissenschafter, die selber die Autoren heranziehen wollen, gut zugänglich sein. Es kamen freilich für mein Anliegen relevante Schriften von Autoren hinzu, die mehr spezielle Themen behandelt haben. Gute Darstellungen zu einigen Aspekten habe ich auch bei Vertretern der Geschichtsdidaktik wie Karl Brunner, Lotter und Neuhaus gefunden, historische Beispiele für den „Annex“ auch bereits bei Ernst Meyer (Einführung, 1968) und bei Treue. Weil ich also Neues nur aus einer ungewohnten Sicht auf die annähernd zweitausend Jahre bringe, um die es in Teil B geht, muß ich das, was sich diesem Blick zeigt, besonders genau belegen. Das hat zur Folge, daß ich viel mehr, als ich es sonst tun würde, im Wortlaut aus den Werken der Historiker wiedergebe, die für mich sozusagen die „Quellen“ waren. Zu einem der von mir für die Karolingerzeit vor allem herangezogenen Historiker, Engelbert Mühlbacher, muß ich speziell etwas sagen. Seine „Deutsche Geschichte unter den Karolingern“ von 1896 ist inzwischen über hundert Jahre alt.

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Das könnte zu dem Bedenken führen, sie sei dann doch wohl veraltet. Harold Steinacker, der Herausgeber der (abgesehen von „Nachwort“ und „Anhang“ aus seiner Feder) sonst ganz unveränderten Auflage von 1959, zeigt in seinem „Nachwort“, dort S. 675 f., daß Mühlbacher wie kein anderer die Originalquellen der Karolingerzeit gekannt hat. „Eine … Darstellung, die auf der breiten Grundlage einer erschöpfenden Integration des gesamten Stoffes beruht, anderseits sich so bewußt auf das Tatsächliche, das Ereignishafte … der Geschichte konzentriert, zieht naturgemäß endgültige Linien. Wesentliche Ergänzungen und Berichtigungen eines solchen Geschichtsbildes können sich nur ergeben, wenn unbekanntes Quellenmaterial neu zum Vorschein kommt oder die quellenkund­liche Bewertung der bekannten Texte durch neue quellenkritische Gesichtspunkte eine Verschiebung oder Vertiefung erfährt. Das ist aber für die von französischen, deutschen und italienischen Forschern längst durchackerte Karolingerzeit nur in sehr geringem Ausmaß eingetreten. … unbekannte Texte sind [seit Mühlbacher] kaum zum Vorschein gekommen und übersehene Einzelnachrichten … nur ausnahmsweise“ (S. 677). So „ist das alte Stand[ard]werk noch heute nicht übertroffen, solange man das Haupt­ gewicht eben auf das Sichere, den greifbaren Verlauf der Ereignisse, und nicht auf das Unsichere, auf die Deutungen und Streitfragen, legt“ (S. 679). –

Steinacker hat im „Anhang“ das inzwischen erschienene Schrifttum gemäß Problemgruppen beschrieben und kritisch gewürdigt. Es ist nichts darunter, was erkennbar auf unsere Fragestellung zielt. Ohne Mühlbachers so dicht an den Quellen bleibende Wiedergaben hätte ich die Defizienz des fränkischen Gemeinwesens zum Herrschaftssystem nicht so anschaulich zeigen können. a) Die Entwicklung ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. Die älteste überlieferte Nennung der Franken363 ist von kurz nach der Mitte des 3. Jh. n. Chr., im Zusammenhang mit dem Vordringen fränkischer Verbände über den Rhein nach Gallien und Spanien (Uslar, 1980, S. 31). Die Franken waren zunächst ein nach außen offener Stammesverband, dessen Kern zumindest die Chamaven, die Brukterer und die Chattuarier bildeten, die östlich des Niederrheins im Vorfeld des römisch besetzten linken Niederrheins siedelten, zum großen Teil schon mindestens seit dem 1. Jh. n. Chr.364 (Die eben genannten drei Stämme 363

Die früheste erhalten gebliebene Erwähnung der Salier, einer Gruppe der Franken, die zwischen (heute) Deventer und Zwolle im Sal-Land gesiedelt hat, stammt von 258. Im 4. Jh. haben Teile des damals Kernstammes der Salier sich in Toxandrien (Nordbrabant) als Bundesgenossen des römischen Reichs festgesetzt. Von den Saliern hat die Lex Salica, das sa­lische Stammesrecht (s.  weiter unten), seinen Namen.  – Zu „Datierung, Entstehungs- und Text­ geschichte“ auch der anderen germanischen leges siehe von Olberg, S. 39–49. 364 Die bislang noch beste Darstellung gibt Wenskus (1961), S. 512–541, mit noch mehr Einzelheiten über wechselnde Zugehörigkeiten zu diesem Stammesverband zu verschiedenen Zeiten.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

kommen in fast allen Aufzählungen vor, in manchen auch noch die Usipeter, die Bataver und die Amsivarier; zu den zuletzt Genannten siehe auch Kap. B. I.6.) In der späten Kaiserzeit – auch hier zu verschiedenen Zeiten, was ich nicht im einzelnen wiedergebe – kam es zur Ansiedlung größerer Gruppen von Franken in der Belgica und im Norden und Osten Galliens, zuerst zu geschlossener Ansiedlung gefangener Franken seitens der römischen Provinzialverwaltung,365 dann aber auch in kriegerischer Landnahme, vom linken Rheinland, mit Köln, Mainz und Trier, bis Cambrai und ins Somme-Tal im Westen. Um die Mitte des 5. Jh. existierten in diesem Raum nebeneinander mehrere kleinere fränkische „Reiche“ – soweit man das schon so nennen kann. Für jene oben genannten Stämme des 1.  Jh., die mit die Grundlage für den Stammesverband der später so genannten Franken bildeten, wissen wir nichts über „Könige“. Der erste Versuch, für lange Zeit außerdem vereinzelt, einem germanischen (suebischen) Anführer (Ariovist) römischerseits den Titel „Rex“ zu­ zueignen, stammt von Caesar, und noch die von um 100 n. Chr. datierenden Schriften des Tacitus zeigen, daß das, was die Römer da bei den Germanen in bezug auf „Königtum“ inaugurierten oder inaugurieren wollten, bei diesen lange umstritten blieb (siehe Kapitel B.I.1.b)). Es fand schließlich aber doch dort weithin Eingang. So gab es dann auch bei den Franken des 5. Jh., wohl nur in lateinischer Terminologie (?; all das muß erst nüchtern überprüft werden), Könige, sozusagen Kleinkönige. Der erste uns namentlich überlieferte Franken-„König“ aus dem Geschlecht der Merowinger ist Chlodjo, der mit seinen Kriegern Cambrai und das Somme-Tal erobert und besiedelt hat, vom römischen Statthalter Aëtius 432 n. Chr. aber noch einmal zur Anerkennung der römischen Oberherrschaft gezwungen worden ist. Seit Chlodjo kennen wir auch sonst die Namen der Merowinger-Könige. Chlodjos Sohn Childerich hat im heute belgischen Doornik/Tournai an der Schelde residiert. Bekannt geworden ist er vor allem aus archäologischen Gründen: 1653 ist am Ort seiner Residenz sein reich ausgestattetes Grab entdeckt worden. Die Beigaben wurden, weil genau datiert, für die Frühgeschichtswissenschaft als Vergleichsgrundlage wichtig. Für die folgende Entwicklung und überhaupt für die abendländische Geschichte ist Childerichs Sohn Chlodwig/Chlodovech (dt. Ludwig, zu sprechen: „Ludwich“; frz. Chlovis, Louis) von besonderer Bedeutung. Er hat, mit List und Gewalt, die anderen fränkischen Klein-„Könige“ beseitigt und ein größeres Frankenreich geschaffen, 486 n. Chr. die nominell noch bestehende römische Oberhoheit (Statthalter Syagrius) kriegerisch beendet, 496/97 die Alamannen (diese siehe Kapitel  B. I.1.b)) besiegt und unter fränkische Oberherrschaft gebracht, womit der 365 Auf den viel diskutierten Rechtsstatus dieser Franken im römischen Reich („Laeten-Problem“) gehe ich nicht ein.

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Anfang solcher Oberherrschaft über die anderen deutschen Stämme gemacht war (später auch über Chatten, Thüringer, Bayern, Sachsen und Friesen, was schließlich zur Bildung des Deutschen Reiches führte). Chlodwig hat sich, möglicherweise vor allem aus Zweckmäßigkeit, aber wohl auch beeinflußt von seiner persönlich schon dem katholischen Christentum anhängenden Frau Chrodechildis/ Chlothilde, einer burgundischen Prinzessin, ebenfalls dem katholischen Glauben zugewandt und sich dann, nach Zustimmung der Volks-/Heeresversammlung, ohne die eine so wichtige Entscheidung damals noch nicht möglich gewesen wäre, zusammen mit mehreren tausend vornehmen366 fränkischen Kriegern von Bischof Remigius taufen lassen. Das hat zum einen eine enge Verbindung des Frankenreichs zum Papsttum möglich gemacht, zum anderen das Verhältnis der germanischen Eroberer zu den von ihnen beherrschten römisch geprägten Autochthonen in der Belgica, in Gallien und auch im Rheinland weitgehend normalisiert, wo der gallorömische Teil der Bevölkerung schon länger dem römischen Glauben anhing.367 Chlodwig hat außerdem, sozusagen in der Nachfolge der römischen Statthalter, das noch vorhandene zentralistische römische Verwaltungssystem übernommen, auch die Gliederung der Provinzen in Civitates (Bezirke mit einer Stadt als Vorort), was die Eingliederung der Autochthonen in das Frankenreich begün­ stigt hat. Umgekehrt, und zwar bald nach 507 (nach dem Sieg der Franken über die Westgoten und der Eroberung Aquitaniens), hat Chlodwig die erste Kodifizierung des fränkischen (salischen) Rechts, der Lex salica, veranlaßt, die dann auch für den gallo-römischen Teil der Bevölkerung (bei diesem unter Preisgabe des römischen Rechts) fränkisches Reichsrecht wurde. Das fränkische Reich blieb somit, in germanischer (wohl überhaupt indogermanischer) Tradition – siehe auch die Griechen –, ein „Personenverbandsgemeinwesen“, wie die Historiker das nennen. Indem die gallo-römischen Einheimischen auf diese Weise ins Frankenreich integriert waren, wurden sie auch wehrpflichtig, als Glieder ihrer Stadtbezirke. – Chlodwigs Reich hatte vier Residenzen (sedes bzw. cathedrae regni; Gregor von Tours): Reims, Soissons, Paris und Orléans, eine Hauptstadt aber nicht, anders als das Westgotenreich (zunächst Tolosa, heute Toulouse, später, in Spanien, Toledo) und auch anders als das Langobardenreich (Pavia). Das Thema Residenz wird weiter unten für unsere Überlegungen wichtig, nicht wegen Paris – der Schwerpunkt des Frankenreiches rückte nämlich im Lauf der folgenden Jahr 366 Die fränkische Verfassung kannte keinen Adels-Stand, nur Freie („ingenui“, auch „liberi homines“ oder „franci homines“ genannt), Halbfreie („liberti“) und Unfreie („servi“). Innerhalb der Freien gab es bei den Franken, wie generell bei den Germanen, aber sehr wohl Unterschiede gemäß Rang und Würde (dazu s. Kap. B. I.1.b) und bes. Kap. B. V.4.a) im Annex betr. Legitimitätsprinzipien). 367 Damals war sonst fast allenthalben die arianische Variante des Christentums in den germanischen Reichen um den Mittelmeer-Raum verbreitet, so bei den Burgundern, bei den West- und den Ostgoten. Das war mit entscheidend dafür, daß das ostgotische Reich die Tradition Westroms nicht hat fortsetzen können. 497 war Theoderich d. Gr. zwar von Byzanz als König anerkannt worden und 500 war er feierlich in Rom eingezogen, aber das half auf Dauer doch nicht.

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hunderte immer weiter nach Osten –, sondern wegen der Institution „Pfalz“ zu karolingischer, salischer und ottonischer Zeit. Die Übernahme der römischen Zentralverwaltungsordnung und -praxis und der römischen Wirtschaftseinrichtungen368 seitens der Franken hat die Position des Königs im Gemeinwesen gestärkt. (Wir wissen aus Kapitel B. I.1.b), Fußn. 64, daß die Stellung jener Anführer der Germanen, die die Römer „rex“ oder ähnlich nannten, von Hause aus alles andere als stark gewesen ist.) In dieser Sache kam noch hinzu, daß das römische Reich in seinen Provinzen, zwar im einzelnen unterschiedlich, im ganzen aber doch in großem Umfang fiskalisches Land (Domänen) besessen hatte. Als sozusagen Rechtsnachfolger des römischen Kaiserreichs übernahm das Frankenreich die Domänen, als Kron- oder Reichsgut, über das nur der König verfügen konnte, außerdem alles nichtbebaute Land, Wälder, Sümpfe, Gewässer und das Straßennetz. Das brachte den fränkischen König auch hier etwas näher an die stark herausgehobene Position des spätrömischen Kaisers heran. Das jetzt fränkische Reichsgut/Königsgut hatte aber, abgesehen davon, daß der König seiner herausgehobenen (gelehrt:) „Gefolgschaft“ (zeitgenössisch aber: „Gesellschaft“) aus diesem Fundus für ihre Tapferkeit in den Kämpfen unter anderem und vor allem Land schenkte,369 nachdem die Geldwirtschaft in der Völkerwanderungszeit praktisch zusammengebrochen war, noch in anderer Hinsicht Bedeutung für die Entwicklung auf dem Weg der komplexen Veränderung eines germanischen, hier des fränkischen Gemeinwesens weg von der Politizität. Ich bin mir dabei sehr wohl darüber im klaren, daß ich mit dem jetzt Folgenden diese komplexen Zusammenhänge nur sehr verkürzt vortrage, wenn ich vier Sachverhalte besonders hervorhebe. Die beiden ersten sind römischen Ursprungs: Eigentum an „Grund und Boden“ und „Klientel“, die beiden anderen germani 368 Die in dem bis 486, zehn Jahre nach dem Untergang des Weströmischen Kaisertums in Italien, von Syagrius selbständig regierten Teil des – ehemals – römischen Reiches zwischen Maas und Seine vorhandenen Einrichtungen waren in guter Funktion gewesen und haben reiche Einnahmen gebracht. 369 Schenken ist bei Germanen (und auch bei den Griechen der Frühzeit, wie aus Homer zu ersehen ist, vielleicht überhaupt bei indogermanischen Völkern – um nur bei diesen zu bleiben) ein wichtiges Element der Sozialbeziehungen gewesen. Wir kennen aus Kap.  B. I.1.b), daß der Anführer seine Gefolgschaft, die für ihn kämpft, bewirtet und beschenkt. Da ging es aber nicht um „Grund und Boden“. – Wir wissen aus Kap. B. I.1.b) (dort Einzelheiten), daß für die Germanen des 1. vor- und des 1. nachchristl. Jh. Ackerbau nur eine geringe Rolle gespielt hat, und, aus der Frühgeschichtsforschung, daß das z. B. für die Alamannen Südwestdeutschlands vor dem 6./7. Jh. offenbar immer noch gegolten hat. Wir haben umgekehrt deutlich Indizien dafür, daß spätestens für die Franken des 6. Jh., die nach dem Sieg über die Alamannen z. B. im Saargau und im Bliesgau Land nahmen, Ackerbau im Mittelpunkt der Landwirtschaft gestanden hat, vermutlich weil ihre Vorfahren in den Jahrhunderten davor auf römischem Boden in der Belgica und im Nordosten Galliens unter römischer Herrschaft an den Ackerbau sozusagen akklimatisiert worden waren. Die Veränderung der Wirtschaftsweise hat ein anderes Verhältnis zum ackerbaufähigen Land und überhaupt zu „Grund und Boden“ mit sich gebracht.

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scher Herkunft: das, was unter „Hausherr“-schaft verstanden wird, und jene von den Historikern des 19. Jahrhunderts so genannte „Gefolgschaft“. (Ich belasse es zunächst bei diesem Terminus Gefolgschaft der Historiker. In Kapitel  B.III.1., wo es thematisch darauf ankommt, werden wir sehen, daß in der Wirklichkeit jenes andere Wort benutzt worden ist, das von besonderer Tragweite für unser Verständnis der Entwicklung des politischen Systems in die Defizienz ist, hier in bezug auf „Gesellschaft“.) Während, wie wir aus Kapitel B. I.1.b) von Caesar und Tacitus wissen, für deren Zeit Eigentum an Ackerland für die Germanen des 1. Jh. vor und nach Chri­ stus keine große Rolle gespielt hat, weil die Germanen damals zum einen primär Viehwirtschaft betrieben haben, weil zum anderen Land nicht knapp war, ist im römischen Reich Eigentumsrecht an Grund und Boden schon sehr alte Tradition gewesen, allerdings ohne daß wir für die ganz frühe Zeit darüber etwas wissen. Dieses römische Eigentumsrecht schloß in gewissem Umfang das Recht auf Verfügung und auf Rechtsprechung über die auf diesem Grund und Boden des Eigentümers sitzenden und somit von diesem abhängigen Bauern mit ein. Ebenfalls zurück schon in altrömische Zeit – wiederum ohne daß wir über die Anfänge etwas wissen – geht jene Institution „Klientel“. Clientes waren nicht rechtsfähige Personen, für die ein römischer Adliger als „Patron“ in der Öffentlichkeit in allen Hinsichten, und so auch vor Gericht, den Schutz übernahm und sie versorgte, die umgekehrt dem Herrn gegenüber zur Treue und zu Diensten verpflichtet waren. – In Zeiten der Republik haben sich sehr viele Bauern, die selber kein Land oder kein Land mehr besaßen, persönlich in ein solches Abhängigkeitsverhältnis zu einem römischen Senator hohen Ansehens begeben, um so allseits geschützt zu sein. Je größer die Klientel eines Senators war, um so stärker waren seine Position und sein Einfluß. Mit der Kaiserzeit und der dann dominierenden Stellung des Kaisers ist allerdings der Einfluß der Senatoren auf die Entscheidungen im römischen Reich sehr zurückgegangen, was das Reich im ganzen betrifft, in spätrömischer Zeit ist er jedoch in den Provinzen sehr stark gestiegen, dies um so mehr, je schwächer die Stellung Roms gegenüber den Provinzen in den Wirren der Völkerwanderungszeit wurde. Das gilt auch für die dann zum Frankenreich gehörenden früher römischen Provinzen (wo es besonders im Westen und Süden Galliens und in der Provence Senatoren-Adel gab). Es hat mehrere Gründe. Ich nenne zwei. Wenn der fränkische König die bestehende Verwaltungsordnung und -praxis übernehmen wollte, brauchte er dazu die bislang in den römischen Civitates370 der Provinz führenden Personen, eben jene Senatoren. Übrigens stammten auch viele der Bischöfe der Völkerwanderungszeit in den dann von germanischen Völkern eroberten zuvor römischen Provinzen aus der Senatorenschaft. Da römische Civitas und christliche 370 Brühl hat in seiner bislang zwei Bände umfassenden großen Untersuchung „Palatium und Civitas“ gezeigt, daß die wichtigsten römerzeitlichen Städte Galliens und der belgischen, der germanischen und der rätischen Provinzen in der Völkerwanderungszeit zwar einen Niedergang erlebten, am meisten die bis dahin größte von ihnen, Trier, daß aber fast alle „durchhielten“ und schon im Frankenreich oder doch danach wieder an Bedeutung gewannen.

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Diözese in der Regel deckungsgleich waren, übten die Bischöfe, gestützt auf die Würde des christlichen Amts, zugleich Funktionen des mittlerweile verschwundenen Zentralapparats des römischen Reiches in den Civitates aus. (Dazu siehe auch den Anfang von B.II.2.a)aa).) Der zweite Gesichtspunkt ist: Weil – wie weiter oben schon kurz erwähnt – in den Wirren der Völkerwanderung Geldverkehr und Handel weitgehend zusammengebrochen waren, wuchs die Bedeutung der Agrarwirtschaft als Naturalwirtschaft. Sie aber war vor allem in der Hand der provinzialen senatorischen Großgrundbesitzer, und besonders diese verfügten über Abhängige. In viel geringerem Umfang gab es das zwar auch, wenngleich in den Einzelheiten anders als in Rom (siehe Kapitel B. I.1.b)), schon bei den Germanen der Zeit des Tacitus; die kriegerischen Auseinandersetzungen (und die bloß Beutezüge) germanischer Stämme oder Völker (oder auch nur von Heerhaufen) mit den Römern und mit Anderen (germanischen und nichtgermanischen Stämmen und Völkern) während der auf Tacitus folgenden Jahrhunderte hatten fast allerseits, je nach Ausgang der Kämpfe, außer zum Gewinn (und umgekehrt zum Verlust) von Beute materieller Art, auch zum Gefangennehmen und Mitnehmen von Menschen geführt, ebenso auch dann, wenn germanische Heere oder Heerhaufen von römischen Truppen besiegt wurden oder die Römer zur Vergeltung in germanisches Gebiet eindrangen. Die Gefangenen – es scheint nicht selten mindestens genau so auf diese wie auf materielle Beute angekommen zu sein – sind in der Folge als Unfreie, Abhängige (auch, soweit vorhanden, wegen einzelner handwerklicher Fähigkeiten, die es bei Germanen so noch nicht gab) in Dienst genommen, oft aber auch als Sklaven verkauft worden. Bei Gregor von Tours und im „Fredegar“ ist an sehr vielen Stellen zu lesen, was allein in merowingischer Zeit bei Auseinandersetzungen der Franken mit Anderen auf zuvor römisch besetztem Gebiet, dort mit den mehr oder weniger Autochthonen und mit Westgoten, ferner mit Langobarden in Oberitalien, aber auch mit Sachsen und Alamannen in Germanien, schließlich in den Kriegen der Merowingerkönige gegeneinander an Gefangenen „angefallen“ bzw. verlorengegangen ist. Bereits dies, die – zumindest relativ, vermutlich mit der Zeit auch absolut – Verringerung der Zahl der Freien im Gemeinwesen, muß mit zur Defizienz des politischen Gemeinwesens beigetragen haben. Nicht nur der engere Kreis der sog. Gefolgschaft des Königs, sondern abgestuft dann auch das „Gefolge“ der Mitglieder der königlichen „Gefolgschaft“ ist im eroberten Gebiet durch Schenkungen in den Besitz von Grund und Boden gekommen, auf dem Unfreie, Abhängige saßen. Verkürzt formuliert: Die von altersher in den germanischen Gemeinwesen sehr wohl bestehenden und offenbar für normal und in Ordnung befindlich eingeschätzten Ungleichheiten zwischen den Gliedern des Gemeinwesens hinsichtlich Ansehen, Rang und Würde sowie Gewicht des Urteils wurden zu mehr und mehr gravierenden Ungleichheiten hinsichtlich Besitz, vor allem an Grund und Boden, mit vom Besitzer abhängigen Unfreien darauf. Auch bei den germanischen Franken bekam Grundherrschaft Bedeutung, und zwar steigend. Auf das, was die Mediävisten das Absinken der „einfachen“

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germanischen Freien (freien Bauern) in die Abhängigkeit oder so ähnlich nennen, komme ich noch. Bei Gregor von Tours (Buch VII, Kap. 15) ist ein Fall beschrieben, in dem „viele Franken, die zu der Zeit Childeberts I. freie Männer gewesen waren, den öffentlichen Abgaben unterworfen“ wurden, was gemäß germanischer Auffassung eklatant Unfreiheit bedeutete. Diese Franken haben sich aber später dessen, der am Abgabeneintreiben schuld war, mit Waffengewalt und Brand­ legung entledigt. Zu dem, was die Merowingerkönige an Spätkaiserzeitlich-Römischem übernommen haben, gehört außer dem prestige-trächtigen, den römischen Kaiser ehrenden Titel dominus („Herr“ i. S. v. „Herrscher“)371 auch die Institution „Palast“. Das waren nicht Nebensächlichkeiten, sondern, zusammen mit anderm, wichtige Elemente des Wandels zum Herrschaftssystem. (Auf was der in der römischen Kaiserzeit zur Bezeichnung von bestimmten konkreten Gebäudekomplexen aufgekommene Palast zurückgeht, was „Palast“ in dieser Zeit gewesen bzw. geworden ist und was dann alles unter dem Namen Palast seitens der Althistoriker, der Vertreter der Klassischen und der Vorderasiatischen Archäologie sowie seitens der Bauhistoriker in bezug auf die Jahrtausende vor der römischen Kaiserzeit subsumiert worden ist, habe ich aus besonderem Anlaß am Ende von Kapitel B. I.1.a) kurz beschrieben. Darauf kann ich verweisen.) Das Wort, das nhd. „Palast“372 wurde, ist erst um 1200 aus afrz. palais, mlat.­ palatium/palacium in unsere Sprache aufgenommen worden, normalerweise als palas, vereinzelt auch schon als palast373 (mask. und neutr.), mit wechselnder Betonung (Kluge, 16. u. 23. Aufl.). Da wir nicht primär sprachgeschichtlich an der Sache interessiert sind, genügt das für uns in diesem Zusammenhang. Eine frühmittelalterliche Variante bzw. sprachlich eine Verformung des lat. palatium ist schon mehrere Jahrhunderte früher ins Althochdeutsche aufgenommen worden. Das ist daran zu erkennen, daß das Wort die hochdeutsche Lautverschiebung (u. a. t zu z: nhd. zeitig statt nnd. tiedig, nhd. zehn statt engl. ten; p zu pf bzw. f: nhd. Pfeife statt nnd. Piep und engl. pipe) schon mitgemacht hat (siehe weiter unten bei „Pfalz“). 371 Z. B. domnus Guntchramnus rex (so bei Gregor von Tours in „Historiarum libri decem“, Buch IX, Kap. 20, S. 262, und an vielen Stellen mehr in bezug auf diesen und andere Mero­ wingerkönige). – Bereits Chlodwig I. hatte Anf. d. 6. Jh. vom oströmischen Kaiser Anasta­ sius  I. den Titel eines römischen Konsuls ehrenhalber, außerdem den Krönungsornat an­ genommen. 372 Heute bedeutet „Palast“ (ebenso „palais“ u. „palazzo“) zum einen, als gelehrter Begriff im Sprachgebrauch jener oben genannten Wissenschafter, den Sitz eines „Herrschers“ in Altertum und Antike, zum anderen das prächtige Stadthaus anderer vornehmer Leute, wie schon, außer Augustus, zunächst auch anderer römischer Adliger zur Zeit des Augustus und des Ovid (s. o., ebenfalls am Ende von B. I.1.a)), die damals gleichfalls noch Anteil am Hügel „Palatium“ hatten. – Gelegentlich ist „Palast“ ein anderes Wort für das „Schloß“ der Neuzeit, ferner für noch anderes, was ich hier übergehen kann. – palacium s. B.III.1.b.), 4. Abs. 373 Das „t“ am Ende ist „nachträglich angewachsen“ (Kluge, 23. Aufl., S. 608).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Während das, was die Merowinger konkret an palatia von den Römern noch übernehmen konnten, spätkaiserzeitlich-römisch geprägt war (nördlich der Alpen vor allem in Trier), tragen die fränkischerseits neu errichteten Komplexe auch germanisches Gepräge, auch wenn es hier ebenfalls römischen Einfluß gibt. Bevor ich das zeigen kann, muß ich zwei Sachverhalte nennen. Weiter vorn habe ich in anderem Zusammenhang schon gesagt, daß das Frankenreich nie eine Hauptstadt besessen hat, nur mehrere „Sitze“ (sedes) der Könige der merowingischen Teilreiche, und auch keine Hauptstadt zur Karolingerzeit.374 (Dasselbe gilt dann für das aus dem Ostreich hervorgegangene Deutsche Reich. Im aus dem Westreich entstandenen Frankreich ist Paris um 1200 die Haupt­residenz der französischen Könige geworden.) Das römische Reich hat dagegen von Anfang an und durch die Jahrhunderte hindurch eine echte Hauptstadt gehabt, Rom. Rom blieb Hauptstadt bis zum Ende des (weströmischen) Reiches, war es allerdings ab dem 4. Jh. n. Chr. nur noch symbolisch. „Seit der Tetrarchie375 wurde das Reich jeweils von dem Ort aus verwaltet, an dem sich der Kaiser aufhielt; Ämter und Beamte begleiteten den Kaiser, wenn er sein Quartier von einem Ort in den anderen verlegte. (…) Am häufigsten … [ließen sich der Kaiser und seine Beamten] in Städten nieder, … [in denen] es von den Tetrarchen oder von [Kaiser] Konstantin erbaute Paläste gab: im Westen in Trier, Mailand und Sirmium, im Osten in Konstantinopel, Antiocheia und Thessalonike. Von den langen Aufenthalten Valentinians und Gratians in Trier datieren die [sogenannte] Basilika 376 und die großen Kaiserthermen …“ (Seston, S. 535).

374 Zu Karls d. Gr. Zeit hatte allerdings Aachen „wirklich … Residenzcharakter“ (Schulze, Vom Reich, S. 221). 375 Vereinfacht formuliert „Vierkaiserherrschaft“, je ein „Augustus“ und ein „Caesar“ im Westen und im Osten. – Seit der Tetrarchie ist im römischen Reich das (etwa) vorgebildet, was von den Historikern in bezug auf das karolingische und das aus ihm hervorgegangene deutsche Reich, in manchen Fällen aber auch noch in bezug auf spätmittelalterliche Glieder des Heiligen Römischen Reiches, so etwa Brandenburg (siehe Fey), als „Reiseherrschaft“ bezeichnet worden ist. Sie beruhte aber noch auf anderen ökonomischen und verkehrstechnischen Voraussetzungen. – Allgemein zu „Reiseherrschaft“ s. Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 355 ff. u. S. 360 f., in bezug auf Karl d. Gr. s. Nitschke, Bd. 5, S. 297. – Zu „Heiliges Römisches Reich“ hier nur dies: Der Begriff Römisches Reich (Romanorum Imperium) besagt, das mittelalterliche Kaiserreich stehe in der Tradition des universalen antiken römischen Kaiserreichs. Der Zusatz Sacrum wurde in der Titulatur auf kaiserlicher Seite zum ersten Mal 1157 im Investitur- und Suprematiestreit verwendet als Antwort auf die päpstliche Behauptung, der Kaiser sei nicht von Gott christlich sakralisiert, sondern unterliege der Prüfung des Papstes. 1254 verschmolzen Romanorum Imperium und Sacrum Imperium zu Sacrum Romanorum Imperium (dt.: Heiliges Römisches Reich). 376 Erhalten geblieben, restauriert (und als evangelische Kirche genutzt) worden ist das mächtige fußboden- und wandgeheizte saal-artige Gebäude der konstantinischen Palast-Aula, die fälschlich so genannte Basilika (Kuhnen, mit Außen- u. Innenansicht und Detail). Sie hatte um den saal-artigen Bau herum auf allen Seiten Säulenhallen, die zwar nicht mehr stehen, von denen wir uns aber anhand der Grabungsbefunde ein Bild machen können (Foto des Modells S. 139). Die Entstehungszeit ist kurz nach 300 n. Chr. (S. 141).

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Trier, damals die bevölkerungsreichste Stadt nördlich der Alpen, war somit längere Zeit im 4. Jh. Kaiser-Residenz, außerdem Verwaltungszentrum für Gallien. Als die Gefährdung Triers wegen der germanischen Einfälle immer größer wurde, ist die Residenz der Kaiser nach Mailand und das Verwaltungszentrum nach Arles im Süden des Rhone-Tals verlegt worden. Trier hat dann auch schnell an „Gewicht“ und Bevölkerung verloren. Nach dem Ende des weströmischen Reichs haben die Frankenkönige die Palast-Aula immerhin noch bis ins späte 9. Jahrhundert genutzt (Brühl, Bd. II, S. 260). Zum anderen gab es im römischen Reich in jeder Provinz den Palast (prae­ torium) des Statthalters (praetor, später praefectus) oder, wie manche Historiker übersetzen, Gouverneurs, in den nördlich der Alpen gelegenen Teilen des west­ römischen Reichs folglich so viele Paläste dieser Art wie Provinzen. Abgesehen von Trier und dann Arles „residierten die Kaiser“, wenn sie sich in Gallien aufhielten, „in den Gouverneurspalästen“ (Brühl, Bd. I, S. 249). Die Frankenkönige haben also zunächst Paläste benutzt, die aus der Römerzeit überkommen waren. Dann aber berichtet Fredegar (III, Kap. 49, S. 145): König Pippin (der Vater Karls  d.  Gr.) „kam  … mit seiner Königin Bertrada nach Bitoricä [jetzt Bourges], wo er sich eine Pfalz bauen ließ“, wie Abel jetzt übersetzt. Besonders seit Karl d. Gr. sind viele „Pfalzen“377 neu entstanden, auf fiskalischem, d. h. auf Königsland, an Orten, an denen ein Königshof stand, ein aus römischem Reichsbesitz, Domanialland, überkommener, jetzt dem Frankenreich, d. h. dem König als König gehörender, nicht aus seinem Familienbesitz stammender Hof, so in Diedenhofen an der Mosel, das 753 als Hofgut „Theodonis villa“ genannt ist und wo Karl d. Gr. ab Januar 773 für den Rest des Winters in der Pfalz gewohnt hat, so in Ingelheim am Rhein, wo Karl d. Gr., der sich besonders gern in Ingelheim aufgehalten hat, eine sehr prächtig ausgestattete Pfalz erbauen ließ (von Kaiser Ludwig d. Fr. vollendet). In Aachen, dem Ort der berühmtesten Pfalz Karls d. Gr., hatte zuvor ein römisches Militärbad auf Fiskal-Land gestanden, das deshalb ebenfalls an die fränkischen Könige übergegangen war. Die hier genannten Königshöfe stehen nicht in der Tradition des Hofs des germanischen Anführers (princeps), wo der Anführer im Saal des Wohnhauses mit seiner Gesellschaft (gelehrt: „Gefolgschaft“) lebte (Kapitel B. I.1.b)). Da auch diejenigen Autoren, die uns in der Zeit des Frankenreichs darüber berichteten, lateinisch geschrieben haben, mehr oder weniger gut, steht dort auch für die Institution „Hof“ selbstverständlich ein lateinisches Wort: villa. Nördlich der 377

„Pfalz“, mhd. pfalenze, pfalz(e), aus – die zweite, hochdeutsche Lautverschiebung war schon erfolgt: – ahd. pfalanza, pfalinza, falanza, ist früh entlehnt aus spätlat. palantia, einer Nebenform von palātia (Plur.), als Gesamtheit der Pfalz-/Palastbauten an einem Ort (Kluge, 23. Aufl., S. 624). – Eine Kurzdarstellung der Entwicklung der Pfalzen in der Zeit der Liudolfinger (Ottonen), Salier, Staufer und in nachstaufischer Zeit gibt Hans  K. Schulze, Grundstrukturen, Bd.  II, S. 97–100.

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Alpen war zur Römerzeit der einfach ausgestattete Bauernhof die villa ­rustica, der viel größere und mit größerem Aufwand ausgestattete Bau etwa eines Beamten z. B. der römischen Verwaltung Triers die villa urbana. Für uns von besonderem Interesse sind jene in Königs-/Reichsbesitz gewesenen Höfe oder, wie die Über­ setzer oft sagen, Hofgüter. In den lateinisch geschriebenen Quellen heißt ein solcher königlicher Hof, wenn der fiskalische Charakter besonders hervorgehoben werden sollte, bei Gregor von Tours (Buch VI, Kap. 32, S. 58 bzw. S. 59) „villa­ fiscalis“, oder Gregor nennt zum Hof den Namen des Königs, der über ihn verfügte. Im „Fredegar“ steht mehrmals statt dessen „villa publica“. Weil also Pfalzen nur auf fiskalischem Boden entstanden, in der Regel dort, wo ein königlicher Hof existierte, hat das dazu geführt, daß in jüngerer Literatur etwa die von Karl d. Gr. in Aachen errichtete „Pfalzkapelle“ im selben Satz auch als „Hofkirche“ bezeichnet worden ist.378 Es ist nicht klar erkennbar, inwieweit hier lediglich eine begriffliche Vermengung seitens der Bauhistoriker vorliegt oder ob schon im frühmittelalterlichen Sprachgebrauch die Übergänge fließend waren.379 Zumindest in einigen Hinsichten ist aber doch zwischen Pfalz und Hof gut zu unterscheiden. Der königliche Haushalt gehörte zum Hof, der auch Wirtschaftsbetrieb war, nicht zur Pfalz. Die Königin, ihrerseits mit Bediensteten ausgestattet, leitete den Haushalt. Aus der Institution Hof hervorgegangen sind auch Seneschalk (aus senior und „Schalk“ = Altknecht) und Marschalk (ursprünglich der Pferdeknecht), die von Hause aus unfreie Bedienstete gewesen sind. Später haben sich daraus hohe und begehrte Ämter („Seneschall“, zuständig für das gesamte Verpflegungswesen am Hof380, und „Marschall“) für „edelgeborene Männer“ (Mühlbacher, S. 252) am Hof des Königs entwickelt, mit schließlich Einfluß auf die Entscheidungen des Königs in Reichsangelegenheiten. Haushofmeister und Küchenmeister, die es im Haushalt des fränkischen Königs erst gab, als das Hofwesen komplexer wurde, mit nachgeordneter Dienerschaft, gehörten naturgemäß zum Hof und nicht zur Pfalz. Zum Hof gehörte ferner die „Kammer“.381 Zunächst382 und in unserem Zusammenhang wichtig ist sie als Raum, in dem der königliche Schatz, die Kostbarkeiten aufbewahrt waren: Schmuck, Waffen besonders prächtiger Art und von hoher Qualität, Besonderheiten aus fremden Ländern, die als Geschenke oder Beute an

378

So Adam, Ernst, S. 100. Das ist auch fraglich hinsichtlich des Begriffs „(karolingische) Pfalz in Aachen“ i. w. S. des Wortes, der dann den Gesamtkomplex von Pfalz (jetzt i. e. S.) plus Kaiserbad u n d den Wirtschaftshof umfaßte, und der Pfalz i. e. S. (palatium) mit der „Pfalzkapelle“. 380 Bei uns statt desssen später meistens „Truchseß“. 381 Lat. (aus dem Griech. entlehnt) als „Raum mit gewölbter Decke“; ging von dort in viele Sprachen über, wobei die Deckenwölbung bald unwesentlich wurde, während es darauf ankam, daß der Raum abschließbar war. 382 Bald danach gab es „Kammer“ auch als Schlafgemach und (mehr allgemein denn als Schatz-Kammer) als Vorratskammer. 379

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den König gekommen waren, auch überhaupt Rüstungen, Kleidung (sowohl besonders wertvolle Stücke als auch im Vorrats-Sinn), Geld (das in Zeiten einer wieder im wesentlichen Naturalwirtschaft, so eben auch bei den Franken, nur eine geringe Rolle spielte), dazu – bis eine besondere „Vorratskammer“ separiert war – andere Vorräte. All diese Dinge waren in ihrem – im engeren Sinn – schatzartigen Kern der Obhut der Königin überlassen, und die Königin übte auch dann noch die „Oberaufsicht“ über die Kammer aus, als diese schon einem „Kämmerer“ („ahd. chamarâri“) unterstand (Mühlbacher, S.  252, dann auch S.  274, dazu Grimm, Wb., Bd. 11, Sp. 117 f.). Nicht nur an ihrem Namen erkennt man die Herkunft der „Pfalz“ aus dem römischen kaiserzeitlichen Palast. Der repräsentative Raum war die „Aula“. Gregor von Tours spricht (Buch II, Kap. 9, S. 86) von der Palast-Aula des römischen Kaisers Constans und an mehreren Stellen mit Bezug auf die Merowingerkönige von der Aula bzw. von denen, „die zur (Palast-)Aula gehören“: „aulici“ oder „aulici palatini“ – was Otto Abel mit „Hofleute“ übersetzt hat. Gregor von Tours hat da ganz sicher nicht an jene Gefolgsleute gedacht, die sich im „sal“ auf dem Hof des germanischen Anführers (princeps) versammelten. Gregor, selber Bischof von Tours, aus alter provinzialrömischer Senatorenfamilie stammend, die in der späten römischen Kaiserzeit und im merowingischen Frankenreich viele Bischöfe gestellt hatte, war mit den germanischen Traditionen nicht vertraut. Er konnte in dieser Sache nur von der spätrömischen Palast-Aula-Tradition her denken und beschreiben.383 Dennoch setzte die Aula tatsächlich die Tradition des Saals im großen Wohnhaus des germanischen Anführers insofern fort, als sie auch zur Karolingerzeit Ort der Versammlung der Großen des Reiches beim und mit dem König war, wobei aber jetzt nur noch wenige dauernd dort lebten, die meisten an den Hoftagen „zur Pfalz“/„an den Hof“ des Königs kamen. (Konkretes über die früh- und die hochmittelalterlichen Hofgesellschaften bringe ich in Kapitel B.III.1.b).) Der „Hoftag“, lat. curia384 regis, war die vom König zu hohen kirchlichen Festtagen einberufene Versammlung nur noch der – wie das in der Mediävistik genannt wird – „Reichsaristokratie“ der Fürsten. Mit ihnen beriet der König, er holte ihre Hilfe ein, außerdem verkündete er Beschlüsse. Die Pfalz mit ihrer Aula diente auch der Repräsentation, nicht zuletzt in Fällen von Beziehungen zu Herrschern anderer Reiche und zur römischen Kirche, entweder bei deren Besuchen am Ort der Pfalz oder beim Empfang von Gesandten. Besonders Karl der Große hatte viele solche Beziehungen. Das Gesamtsystem der Pfalzen und der Höfe am Ort der Pfalzen nahm den König und sein Gefolge auf dem Reiseweg durch das Reich auf. Dieses System wurde 383 Siehe Buchner in „Einleitung“ (S. XII) zu Gregorii Episcopi Turonensis…/Gregor von Tours. 384 Curia bezeichnete im antiken Rom das Senatsgebäude, die Senatssitzung und den Senat.

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ergänzt von den (Reichs-)Bischofssitzen und den Reichsabteien. Außerdem sind vor allem während der Stauferzeit die Pfalzen „in Zeiten königlicher Abwesenheit als Zentren für die Verwaltung des umliegenden Königslandes benutzt“ worden (Boockmann, S. 111). Die „Kapelle“ gehörte zur Pfalz i. e. S. In Aachen (Baumeister: Odo von Metz) hat Karl d. Gr. diese mit der Kapelle durch einen langen, wiederum repräsenta­ tiven Gang verbinden lassen. Der Begriff Kapelle geht auf volkslat. cappa zurück. Daraus ist, nicht vor dem 8. Jahrhundert, ahd. kappa entlehnt worden, und kappa wurde dann auch der Umhang des berühmtesten fränkischen Heiligen genannt: Martin, Bischof von Tours und Apostel für Gallien (gest. 397). Die Kappa ist von den Franken als Reliquie verehrt worden; die Merowingerkönige haben sie auf Königsfahrt und auf dem Heereszug immer mitgeführt. Die Aacher Kapelle, nun ständiger Ort der Aufbewahrung der Kappa und der Verehrung des heiligen Martin selbst, ist in Reichsangelegenheiten zu einer wichtigen Institution geworden. Zunächst waren „capellani“ die mit der Bewachung der capella beauftragten Geistlichen, dann alle Geistlichen von Pfalzkapellen. Als Aachen zum wichtigsten Pfalzort ausgebaut und dort eine prächtige Kapelle errichtet war, gab es in ­Aachen mehrere Kapläne; der ranghöchste war der „Erzkaplan“.385 (Hofkapelle und Kanzlei blieben übrigens auch in ottonischer und salischer Zeit eng miteinander verzahnt. Mehr dazu bei Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 360.) Das, was als Kanzlei der Frankenkönige bezeichnet wird, geht auf spät­ römisches Vorbild zurück, weshalb ich darüber etwas sagen muß. Dem römischen Kaiser stand eine Art Kabinett beratend zur Seite, dessen komplexen Aufbau (siehe Seston, S. 540) ich nicht wiederzugeben brauche, weil es im Frankenreich eine solche Institution nicht gab. Für uns ist nur wichtig: Dem Kabinett des römischen Kaisers standen Notare (notarii) zur Seite, mit der Aufgabe, die Protokolle und Urkunden abzufassen. Der leitende Notar (primicerius notariorum) unterstand dem Kaiser unmittelbar. Im 5. Jh. n. Chr. bildeten einige dieser Notare (referendarii) eine besondere Kanzlei, die dem Kaiser direkt berichtete (ebenda). Entsprechend diesem Vorbild, jedoch in viel kleinerem Maß, übernahmen die Merowingerkönige das System. Der Vorsteher hieß damals ebenfalls „referendarius“. Zur Merowingerzeit haben Laien romanischer Herkunft in der Kanzlei gearbeitet, die lateinisch sprachen und die römische Verwaltungspraxis noch kann-

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„Zu dieser Würde  … [wurden] nur Männer von bedeutender kirchlicher Stellung be­ rufen: unter Pippin der Abt Fulrad von St. Denis, unter Karl der Bischof Angilram von Metz und der Erzbischof Hildebald von Köln, … . Der Erzkaplan … ist auch der Berater des Königs in den kirchlichen Fragen, eine Art Minister in geistlichen Angelegenheiten, die zunächst vor ihn gebracht und durch ihn der Entscheidung des Königs unterbreitet werden. Der Dienst in der Kapelle und die geistliche Funktion bei minder feierlichem Anlaß obliegt den [anderen] Kapellanen. Sie werden auch für andere Aemter verwendet; ihrem Kreise gehört der Bibliothekar an, welcher die königliche Bücherei [Bibliothek] verwahrt“ (Mühlbacher, S. 253).

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ten. Das gab es in karolingischer Zeit nicht mehr. Lateinisch sprachen praktisch nur noch die Kleriker. Die Karolinger haben dann gut ausgebildete Geistliche germanischer Herkunft herangezogen. Der Name Kanzler für den leitenden Beamten der Kanzlei ist offenbar erst im 9. Jh. üblich geworden (Mühlbacher, S. 253 f.). Außer der Ausstellung von Urkunden oblag der Kanzlei die Ausfertigung des authen­tischen Textes der „Kapitularien“ (Königsgesetze des Frankenreiches in lateinischer Sprache), der erforderlichen Zahl von Abschriften für die Publikation386, der Anweisungen für die Königsboten, der königlichen Erlasse, der Entscheide auf die Berichte der Königsboten, der Berufung der Großen des Reiches zu Beratungen an den Hof, der Einberufung der Reichstage und vielfältiger anderer Schriftverkehr. All das war nicht ohne eine größere Zahl gut geschulter Leute zu bewältigen (Mühlbacher, S. 273). Auf Reisen und auf Feldzügen hatte der König seine Kanzlei bei sich, so Karl d. Gr. auf dem Langobardenfeldzug 773/74 und beim Abstecher von dort nach Rom (S. 100). Sehr bald stammte auch der Leiter der Kanzlei ebenso wie der der Kapelle aus den höchsten Rängen des Reiches und besaß ebenso wie dieser Einfluß auf den König/Kaiser und somit auf die Reichsangelegenheiten, hier auf die weltlichen. Zur karolingischen Gerichtsbarkeit gehört die Institution „Pfalzgraf“. Näheres bringe ich erst weiter unten, wenn es im Rahmen der Darstellung der allgemeinen Entwicklung um das System der Grafschaften und damit zunächst einmal allgemein um die Stellung der Grafen geht. Wie wir wissen (siehe weiter vorn in diesem Kapitel) haben die Franken unter den Merowingerkönigen nach und nach, zunächst noch unter römischer Oberherrschaft, später frei davon, die (zuvor) römisch besetzten und verwalteten Gebiete nördlich der Alpen in ihren Besitz genommen und zu einem großen Reich zusammengeschlossen, vom Rheinland und vom Main bis zu den Pyrenäen, einschließlich des zuvor westgotisch gewesenen „Aquitanien“ (aus „Gotanien“) und bis zum Atlantik (aber ohne die Bretagne), von der Nordsee (Niederrhein und Schelde) bis zum Mittelmeer (Burgund), sie haben außerdem zunächst die Alamannen, später auch die Thüringer und die Bayern unter ihre Oberhoheit gebracht, das alles in einem Raum, dessen Grenzen schon fast ebenso vom römischen Reich gezogen worden waren. Die Merowingerzeit war, außer von jenen schon beschriebenen Übernahmen oder Anverwandlungen römischer Institutionen und Traditionen, besonders geprägt von  – immer wieder  – Reichs-Teilungen unter Söhne oder andere Ange­ hörige des Königsgeschlechts, durch Intrigen, durch Morde an Königen oder vielleicht künftig Königen, durch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Teilreichen (die unbeschadet der Teilungen sehr wohl für ein Ganzes galten) und denen, die diese innehatten oder sie innehaben wollten oder sollten, das

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Unter dem Gesichtspunkt der Publizistik s. dazu B.II.1.b).

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Ganze zum Teil  unter starkem, sehr oft üblem, kriminellem Einfluß auch von Eingeheirateten. All das verlief jedoch räumlich noch etwa in dem oben bezeichneten Rahmen, und jene innerfränkischen Auseinandersetzungen scheinen das Volk der Franken und die ins Frankenreich integrierten romanischen und germanischen und germanisch-romanisch gemischten Bevölkerungs-Teile noch nicht so belastet zu haben, wie das dann unter den Karolingern der Fall war. Die Alamannen, die Thüringer und die Bayern besaßen zunächst sowieso noch etwas mehr Selbständigkeit unter fränkischer Oberhoheit, besonders die Bayern. Wir wissen auch schon vom Niedergang, von der Degeneration der MerowingerDynastie, auch vom Aufkommen des einerseits auf Bischof Arnulf von Metz, andererseits auf Pippin d. Ä. zurückgehenden Geschlechts der Arnulfinger/Pippiniden (später „Karolinger“), die vom östlichen, „austrasischen“ Teil des Reichs aus, mit Metz als Sitz, schließlich die Position des Hausmeiers für das Gesamtreich an sich gezogen haben. Über Herkunft und Heraufkommen der Arnulfinger – über die Pippiniden ist weniger überliefert –, über das Hausmeier-Amt, über den Niedergang der und die Greuel innerhalb der Merowinger-Dynastie, über die Bemühungen Pippins d. M., den Verfall des Frankenreichs aufzuhalten und den Trend umzukehren, informiert Mühlbacher (S. 25–34). Ich lasse die Einzelheiten weg. Für unsere Sache besonders wichtig ist Pippins  d. M. jüngster Sohn, Karl­ Martell (Stammtafel der ältesten Karolinger z. B. bei Mühlbacher, S. 26), geb. um 688/89, gest. 741, Hausmeier schließlich des ganzen Reiches und ab 737 Alleinherrscher (ohne Merowingerkönig) im Frankenreich, ohne Königs-Titel. Nach dem Tod Pippins d. M., 714, war das Reich noch mehr auseinandergefallen. Neustrien hatte Austrasien bekriegt, die Friesen waren erneut abgefallen. Ab 716 hat Karl Martell nach und nach das Frankenreich wieder geeint, hat als anfangs nur austrasischer Hausmeier zunächst die Neustrier besiegt, einen in einem Kloster lebenden und bis dahin sozusagen vergessen gewesenen Merowinger hervorgeholt und ihn als König Chlothar auf den Thron gesetzt, jedoch de facto selber regiert, hat 719 Aquitanien wiedergewonnen, danach die rheinischen und rechtsrheinischen Stämme, die sich vom Frankenreich losgelöst hatten, wieder mit dem Reich verbunden: Friesen, Schwaben/Alamannen, Bayern (die Bayern unter einem eigenen Herzog erneut mit einer gewissen Selbständigkeit) und Sachsen (S. 37 f.), im Fall der Friesen und der Sachsen auf Heerzügen, bei denen die Länder der Bekriegten meist planmäßig verwüstet wurden (S. 37). Die Verwüstung im Rahmen der Unterwerfungsfeldzüge, damals seitens Karl Martell dort und danach auch in Aquitanien betrieben, haben dann immer öfter Karl Martells Sohn, König Pippin, und Enkel, Karl d. Gr., angewendet. Allerdings war die Ver-heerung, „mit Feuer und Schwert“, nicht eine Spezialität gerade der Franken. Die römischen Heere sind im Freien Germanien und anderswo schon ebenso verfahren, die Araber zu Karl

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Martells Zeiten in Aquitanien, auch Friesen und Sachsen und slawische Soraben, später Ungarn, Mongolen und andere. Karl Martell hat zwar jene Kriege geführt, um die Angriffe der Araber abzuwehren und um den Zusammenhalt im Frankenreich in den von seinem Vater gewonnenen Grenzen zu wahren bzw. wiederherzustellen, wollte aber keine Eroberungen über diese Grenzen hinaus. Er hat auch in einer Sache Zurückhaltung geübt, die infolge des dann anderen Verhaltens seines Sohnes und seines Enkels die ganze abendländische Entwicklung zutiefst verändert hat. Gemeint ist die Aufforderung der Päpste an die Herrscher im Frankenreich zum Krieg gegen die Langobarden in Italien, zugunsten eines größeren weltlichen Herrschafts­ bereichs des römischen Bischofs, den die Historiker später „Kirchenstaat“ genannt haben. Karl Martell und die fränkischen „Großen“ haben das Hilfegesuch des Papstes von 738 abgelehnt (Mühlbacher, S. 43 und S. 59), worauf ich weiter unten zurückkomme. Auf die Angriffe jener muslimischen Araber, der „Sarazenen“, auf Aquitanien muß ich hier eingehen, weil Karl Martells Reaktion darauf – Reaktion in einer bestimmten Hinsicht – gravierende Folgen für das „System“ des Frankenreiches hatte. 720 waren die Araber, die 711 von Gibraltar aus Spanien unter ihre Herrschaft gebracht hatten, über die Pyrenäen in den Süden des Frankenreiches vorgedrungen. Die Auseinandersetzungen mit ihnen dauerten bis 732. Die Araber verfügten über eine wegen ihrer Schnelligkeit in den meisten Kämpfen weit überlegene Reiterei. Das Gros der Franken und der anderen germanischen Stämme kämpfte traditionsgemäß zu Fuß. Es gab bei ihnen nur wenige Berittene, im „Gefolge“ des Hausmeiers und jeweils im „Gefolge“ anderer Anführer. Für die entscheidende Auseinandersetzung im Oktober 732 bei Alt-Poitiers, im Norden Aquitaniens, hatte zwar zum ersten Mal ein Anführer des Reichsheeres, hier ein Hausmeier, das ganze Heer aller, einschließlich der germanischen Stämme vom Rhein und von jenseits des Rheins, beieinander, mußte aber, weil ihm selber das Reiterheer fehlte, defensiv agieren. Beide Heere standen einander sieben Tage lang gegenüber, ohne daß Karl Martell einen Angriff begann, auf den die Araber warteten, dann griffen diese ihrerseits an. Sie sind unter enorm hohen Verlusten gescheitert, weil Karls Heer sozusagen wie eine Mauer stand und nirgends gewichen ist. Die Nacht hat den Kampf beendet, der Rest der Sarazenen floh. Ihr Anführer war „gefallen“. Trotz des Sieges hat Karl Martell die traditionelle Heeresorganisation für veraltet und als für die Erhaltung des Reiches gefährlich eingeschätzt, sie daraufhin insofern grundlegend geändert, als er das Schwergewicht auf den Aufbau eines eigenen umfangreichen Reiterheeres legte. Das aber hatte unter den gegebenen Umständen die oben nur angedeuteten Konsequenzen für das „System“ des Reiches, deren Tragweite damals niemand einschätzen konnte: die Minderung der Bedeutung des gleichwohl gemäß alter Art herangezogenen Heeres aller „normalen“ Glieder des Gemeinwesens, also der „bloß“ Freien, und die Entstehung eines dann Rittertums aus der Reiterei. Das aber ist nur ein Aspekt der gravierenden Veränderungen des Systems.

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Die germanische sozusagen Wehrverfassung sah die „Heerfolge“ jedes Freien vor, für jeden Fall, in dem sie rechtmäßig „geboten“ worden war. Im merowin­ gischen Frankenreich lag dieses „Heerbann“-Recht nur beim König oder, für diesen, de facto auch beim Hausmeier.387 Anders als das römische Reich kannten das Frankenreich und die anderen Reiche auf germanischer Grundlage kein Berufsheer mit guter, dabei auch technischer Ausbildung, mit festgelegten Standorten, dort eingelagerten Bewaffnungsreserven und Vorräten sowie mit planmäßig organisierter Versorgung aus erforderlichenfalls zuvor planmäßig besiedeltem Umland. Das Gros der Franken kämpfte also herkömmlicherweise zu Fuß, und jeder im Frankenreich mußte seine Bewaffnung selber stellen. Für die karolingische Zeit kennen wir sie aus einer historischen Quelle: Schild und Lanze, Schwert und „Halbschwert“ oder Dolch, Bogen und Köcher für zwölf Pfeile (siehe Mühlbacher, S. 313).388 Zu des Tacitus Zeit, um 100 n. Chr., waren die Anforderungen da noch bescheidener gewesen, wie wir aus B. I.1.b) wissen. Zu dem inzwischen viel höheren Aufwand für die mehr differenzierte und umfangreichere Bewaffnung sind den Heerespflichtigen dann nach und nach noch viel höhere Kosten und Lasten anderer Art entstanden. Ich komme an geeignetem Ort in Kürze darauf zurück. Wir wissen, die germanischen Anführer (Tacitus, um 100 n. Chr.) hatten ein sog. Gefolge besonders tapferer Männer um sich. Das gilt auch noch für die fränkischen Könige der Merowingerzeit. „Antrustionen“ lautete damals der aus dem Lateinischen abgeleitete Name für die sog. Gefolgsleute (S. 307). Weiter oben, wo es unter anderen Gesichtspunkten um aus römischen Verhältnissen ins Frankenreich übernommene Institutionen ging, habe ich schon die „Klientel“ erwähnt. In Gallien bereits der Zeit Caesars, Mitte 1. Jh. v. Chr., war ein solches der römischen Klientel ähnliches Verhältnis auf, wie wir heute sagen würden, eher privatrechtlicher Grundlage verbreitet. Es fand dann dort „weitere Ausbildung: reiche Grundbesitzer nahmen auch Freie, welche sich ihnen freiwillig ergaben oder, wie der technische Ausdruck lautete, ‚kommendierten‘, unter ihren Schutz, und die Schutzbefohlenen verpflichteten sich ihrem Herrn gegen Gewährung des Unterhalts dafür zu Dienst, besonders als kriegerisches Gefolge. Diese Gefolgsleute, früher auch

387 Nur in Not-/Grenzsituationen hatten auch die fränkischen Markgrafen und Grafen, beide hier als Königs-/Reichsbeamte der grenznahen Regionen, ebenfalls das Recht des Heerbanns (Mühlbacher, S. 311). 388 Dem entspricht sehr oft auch die Ausstattung, die wir aus merowingerzeitlichen Reihengräbern her kennen und auch noch aus fränkischen Gräbern der Zeit von um 700 n. Chr.: Schild und „Ango“ (Lanze); „Spatha“ (Langschwert) und „Sax“ (Kurzschwert) oder Dolch; (Pfeil und Bogen, weil aus vergänglichem Material, in der Regel auch vergangen, mit den) Spitzen von drei, sechs oder zwölf Pfeilen. Aus der Merowingerzeit kennen wir aus Gräbern noch relativ oft auch die fränkische Wurfaxt, die „Franziska“, die offenbar römerzeitlichen, vielleicht römischen Ursprungs ist und als spätrömischer Typus schon in alamannischen Gräbern z. B. der Mitte des 5.  Jh. vorkommt (s. R. H. Schmidt, 1973, 1975, S.  105 f. (alam. Grab 3) u. S. 150 f. (fränk. Gräber 1 u. 2)).

II. Defiziente Modi

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‚Gesinde‘ (gasindi)389 geheißen, führten seit dem achten Jahrhundert den Namen ‚Vasallen‘ (vassi, vassalli), ein Wort keltischer Abstammung, das … ursprünglich einen unfreien Diener bezeichnet hatte, dann aber auf das freie Dienstverhältnis übertragen worden war. Der Vasall verpflichtete sich seinem Herrn, dem ‚Senior‘ … in Schutz und Dienstpflicht … und schwor den Treueid; es ist der einzige Treueid, welchen die karolingische Gesetzgebung neben dem Unterthaneneid für den König gestattete“ (Mühlbacher, S. 308).

In karolingischer Zeit hat es jene Antrustionen, die auch in merowingischer Zeit im Prinzip immer noch etwa dem „Gefolge“ älterer germanischer Art am Hof des Anführers, dann des Königs entsprochen haben, nicht mehr gegeben; ihre Stelle nahmen nun die königlichen Vasallen ein, zum Teil als eine Art Leibwache des Königs, gemäß dem Vorbild der Leibwache der römischen Kaiser, zum Teil leiste­ ten sie, jeweils zeitlich begrenzt, auf besondere Berufung hin, Dienste am königlichen Hof (Verpflichtung zur „Hof-Fahrt“). Vor allem aber begleiteten sie auf Kriegszügen den König.390 Das Vasallen-Verhältnis, primär kriegerischer Natur, beeinträchtigte nicht die Freiheit des Vasallen und nicht seinen „Stand“, wie man das später in einem mehr speziellen Sinn genannt hat, als es das lateinische Wort status von Hause aus hergibt (worauf ich hier aber nicht eingehe). Stabilisiert wurde das Vasallentum durch seine Verbindung mit dem Lehnswesen. Der germanische Anführer (princeps) älterer Zeit war, wie wir wissen, seinen „Gefolgsleuten“ u. a. die Bewirtung schuldig gewesen. Die „Hausgenossenschaft“ – wie Mühlbacher (S. 308) sagt; ich präzisiere das sprachlich zeitgemäß in B.III.1. – beschränkte sich in karolingischer Zeit auf diejenigen Vasallen, die der König (entsprechend auch andere „Große“ des Reiches) an seinem (ihrem) Hof ständig um sich brauchte(n). „Statt des Lebensunterhaltes … wurde es üblich, dem Vasallen391 ein Lehen391 zu geben, das auch die Kosten seiner Ausrüstung und kriegerischen Verwendung deckte und damit eine Art Naturalsold darstellte. Um ein Lehen zu erhalten, wurden viele [Freie] Vasallen, 389 Die Einengung der Bedeutung von „Gesinde“ auf „Dienerschaft“ ist jünger. Sehr informativ über Gesinde auf dem Herrenhof Dollinger, S. 406–428; über Gesinde im städtischen Haus des Spätmittelalters siehe Isenmann, S. 260, S. 292, S. 293 u. bes. S. 324 ff. 390 Auch andere „Große“ hielten sich Vasallen, in dem Maß, in dem sie die Mittel dazu hatten. Nicht zuletzt Kirchen und Klöster taten es, wenn – und das war sehr oft der Fall – auf ihrem Besitz die Pflicht zum Heeresdienst lag (Mühlbacher, S. 308). 391 Das Lehnswesen, entstanden im Frankenreich im 8. Jh., Grundlage des „Feudalismus“ (mlat. feodum, feudum, fedium = Lehngut), war im abendländischen Mittelalter d a s Ordnungsprinzip des Gemeinwesens. Weil somit für lange Zeit von zentraler Bedeutung – weshalb wir den Sachverhalt auch noch später in diesem Kapitel brauchen –, fasse ich die GrundElemente hier thesenartig zusammen: Das eine Element ist persönlicher Natur: die Vasallität; das andere ist von dinglicher Art: das Benefizium. Die Vasallität ist entstanden aus der Verbindung des (gallo-)römischen Verhältnisses der „Klientel“ zum „Senior“ mit dem aus dem Germanischen stammenden „Treue“-Verhältnis zwischen Anführer (später: Lehnsherr) und Gefolgschaft (später: Lehnsleuten), das beide Seiten verpflichtete, auf der einen Seite zum Dienst (Kriegsdienst und, auf Berufung hin, Erscheinen beim Hof = „Hof-Fahrt“, meist zur Beratung des Königs), auf der anderen Seite zum Schutz. Das Benefizium war anfangs nur geliehenes Land, mit Leuten darauf, bald danach auch verliehenes Amt, später auch verliehenes

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Vasallität und Lehenwesen verschmolzen ineinander. Das Lehen (beneficium) war ein zu Nießbrauch geliehenes Gut; rechtlich fiel es daher nach dem Tod des Belehnten nicht an dessen Erben, sondern an den Herrn zurück (Mannfall), ebenso erlosch es mit dem Tod des Verleihers (Herrenfall); aber frühe schon bildete sich auch ein Leihezwang aus, es wurde rechtliche Uebung, daß beim Tod des Herrn den Lehensmannen die Lehen belassen wurden, beim Tod des Lehensmannes das Lehen auf einen Sohn des Verstorbenen überging“ (Mühlbacher, S. 308).

Daß übrigens auch die Ausbildung des Lehnswesens gerade durch die Um­ gestaltung des fränkischen Heeres beschleunigt worden ist, kam, von heute her beurteilt, fast zwangsläufig, wie wir gleich sehen werden. Nach dieser Vorklärung können wir auf Karl Martell zurückkommen. Der Hausmeier hat sich offenbar von der Niederlage, die das Heer des fränkischen Reiches den Sarazenen bei Poitiers bereitet hat, nicht darüber täuschen lassen, daß ein Heer traditioneller Art, von primär zu Fuß Kämpfenden, den neuen Anforderungen normalerweise nicht mehr gewachsen sein würde. Er „war bedacht, eine leistungsfähige Reiterei zu schaffen; das merowingische Krongut war [aber] erschöpft, er griff daher nach dem Kirchengut, dessen sogenannte ‚Säkularisation‘ ihm und seinen Söhnen die Mittel bot, ein Reiterheer aufzubringen. In der rechtlich allein zulässigen Form … [es folgen Einzelheiten, die ich weglasse] wurde das Kirchengut an fränkische Große zu Lehen gegeben,392 die durch Weiterverleihung wieder kleinere Vasallen in den Stand setzten, sich für den Dienst zu Pferde auszurüsten. Demselben Zweck diente dann, da [= als] das Krongut wieder wuchs, die Belehnung mit Krongut und

Recht (etwa ein vom König verliehenes „Regal“), das gleichfalls, nur eben auf andere Weise, Erträge erbrachte wie Land oder Amt, Erträge, die den Lebensunterhalt sichern sollten. Die Lehen, zunächst auf Lebenszeit gedacht, zum Wieder-Einzug und zur Neuverleihung, sind bald (viele schon im 9. Jh.) erblich geworden (siehe oben im Text). Der Belehnte konnte weiterverleihen, mit nicht selten Mehrstufigkeit, woraus sich die „Lehenspyramide“ ergab, mit dem König an der Spitze. Nicht nur, aber nicht zuletzt auf dem Weg des Erbanfalls (nach Einheiraten), konnte Doppel- oder Mehrfach-Vasallität entstehen, darauf Durchlöcherung des Treueverhältnisses, im Fall von Gegensätzen zwischen Lehnsgebern, und letztlich Partikularismus. Im Heiligen Römischen Reich haben sich die Partikular-Interessen durchgesetzt, in Frankreich und in England im Hochmittelalter das Königtum, das dort auch die Unter-Vasallen direkt, mittels Treueid (und Druck dahinter) an die „Krone“ gebunden hat, was dem deutschen Königtum nicht gelungen ist. Mit der Ausbildung des Rittertums ergab sich danach zunächst die Bindung der Lehnsfähigkeit an die „Ritterbürtigkeit“ und an die „Ehrenhaftigkeit“; ab dem Späten Mittelalter konnten auch Städte, dann auch einzelne Bürger Lehnsnehmer werden, dabei auch Frauen. Die Rückkehr zur Geldwirtschaft war Voraussetzung für den Ersatz der in ihrer Bedeutung jedoch aus anderen Gründen herabgesunkenen Ritterheere durch Söldnerheere (s. a. Kap. B.II.2.a)bb)) und für die Verwendung juristisch Gebildeter (meist Bürger) als Beamte im jetzt Staatsdienst. Die Lehen verloren damit ab etwa 1300 ihre Hauptbedeutung. Eine Rest­ bedeutung blieb ihnen in bestimmten rechtlichen Hinsichten, im Heiligen Römischen Reich bis 1806, dazu in einigen deutschen Territorialstaaten. 392 Siehe Mühlbacher, S. 44.

II. Defiziente Modi

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das Lehenwesen überhaupt. Das Lehen lieferte die [Mittel zur Bestreitung der] Kosten für den Reiterdienst, zu dem der Vasall nun verhalten war. Die Vasallen bildeten die Hauptmasse der Reiterei …“,

diese vermehrt um jene Freien mit größerem Besitz, die sich die Reiterausrü­stung leisten konnten (Mühlbacher, S. 309). Im 8. und im 9. Jahrhundert ist das fränkische Heer mehr und mehr zum Reiterheer geworden. „Die Einfügung der Lehensmannschaft in den Heeresorganismus hatte die Formierung strammer gegliederter und besser geschulter Heeresteile zur Folge. Das Aufgebot erging an den Lehnsherrn [nicht mehr an jeden einzelnen Berittenen393 direkt,] und dieser bot wieder seine Vasallen auf, die ihm noch durch einen besonderen Treueid verpflichtet waren; er führte sie ins Feld …, er wurde ein Kriegsherr im kleinen“ (S. 309).

Der Einfluß vor allem der großen Lehnsherren auch in allgemeinen Angelegenheiten des fränkischen Gemeinwesens, die doch von Hause aus zumindest prinzipiell von allen Freien mitberaten und letztlich entschieden worden waren, wurde um so größer, je mehr das alte Heerwesen in Verfall geriet. Damit kommen wir zur zweiten Seite derselben Sache; sie ist weiter oben in anderem Zusammenhang erst kurz erwähnt worden: daß nämlich mit der Zeit die Kosten und die Lasten der Heerzüge für das Gros der Freien immer größer und nach und nach unter den alten Bedingungen unerträglich wurden. Nicht nur, daß die von jedem aus Eigenem zu bestreitenden Aufwendungen für die Bewaffnung – jetzt eben differenzierter und umfangreicher – gestiegen waren, schwerer noch fiel ins Gewicht, daß jeder sich selbst, ab einer bestimmten „Grenze“, für einen recht langen Zeitraum danach zu verproviantieren hatte. Für Aufgebote, die etwa vom Rhein kamen und sich an einem Ort an der Loire zu versammeln hatten, war die Loire die „Grenze“, ab der die Lebensmittel dann noch für drei Monate mehr, Waffen und Kleidung für sechs Monate mehr reichen mußten. Entsprechend war umgekehrt für Aufgebote aus Aquitanien der Rhein die „Grenze“, für Aufgebote gegen die Sachsen die Elbe usw. Das ging sogar für einen Berittenen, geschweige denn für einen, der zu Fuß marschierte, nicht ohne Transportfahrzeug ab, abgesehen davon, daß ja auch noch Proviant für den Weg etwa vom Rhein bis zur Grenze, also im zuerst genannten Fall bis zur Loire, hatte mitgeführt werden müssen. „War die Beistellung der Heerwagen für die Lehensmannschaften Sache der Lehensherren, so fielen den freien Heerpflichtigen auch die Kosten für ihre Rüstwagen zu, deren Bereithaltung der Graf zu überwachen hatte“ (S. 313) und die meistens mit Ochsen, sonst mit Maultieren bespannt waren. Auf dem Marsch von zu Hause bis zum Ort der Heeresversammlung, also bis zur sogenannten Grenze, „durften die Aufgebote nichts als Futter, Holz und Wasser fordern, eine Einquartierung … zu fordern[,] war untersagt“ (S. 313). 393 Dazu mehr detailliert Mühlbacher, S.  44 ff. Den Kern der Sache bringen z. B. auch­ Lotter, S. 146 f., u. Nitschke (21991), S. 289 f. Auch die Fußkämpfer sind indirekt aufgeboten worden, sie seitens der Grafen ihres Gaus oder ihrer civitas (Mühlbacher, S. 311).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Für das Gros der Freien wurde die Erfüllung der Anforderungen zur Heerfolge ruinös, als ab König Pippin und dann noch viel mehr unter der Regierung Karls d. Gr. die Zahl der Kriege, Feldzüge und Heerfahrten immer mehr zunahm (siehe den Absatz mit Fußn. 405), „je mehr das Reich wuchs“ (S. 307) (mehr zu „ruinös“ weiter unten). Mit dem „je mehr das Reich wuchs“ hat es folgende Bewandtnis. Karl Martell hatte keine neuen Eroberungen angestrebt, und er und die fränkischen Großen hatten ein Eingreifen des Frankenreichs zugunsten eines größeren weltlichen Herrschaftsbereichs des römischen Bischofs abgelehnt, ein Eingreifen, das ein Krieg gegen das Langobardenreich in Italien hätte sein müssen. Zu einer Änderung kam es mit König Pippin, dem Sohn des Karl Martell, jedenfalls in einer ersten Stufe. Diese Veränderung ist für unser Thema wichtig. Pippin, wie sein Vater Karl Martell Hausmeier des ganzen Reiches, hat (siehe oben) für sich und sein Geschlecht die fränkische Königswürde gewonnen. Damit eine allgemeine Anerkennung erreicht wurde, benötigte die Beseitigung der alten, die Erhebung der neuen Königsfamilie die ausdrücklich erklärte Zustimmung des Volkes und der Großen des Reiches (Mühlbacher, S. 55). Da den Pippiniden aber die heidnische, an die Sippe gebundene Heilkraft fehlte, wie sie von alters her den Merowingern zuerkannt war (dazu siehe Annex, B. V.4.b)), ist an ihre Stelle die kirchliche „Sanktion“, die christliche Heiligung getreten (siehe Annex, B. V.5.b)). „‚Nach dem Rat und mit Zustimmung aller Franken‘ wurde beschlossen, eine Gesandtschaft an Papst Zacharias abzuordnen und seine Entscheidung einzuholen“, worauf dieser mitteilen ließ, „‚daß es besser sei, jener, der die Gewalt [zu „Gewalt“ siehe B. I.5.] habe, heiße auch König, denn derjenige, dem keine königliche Gewalt mehr geblieben sei, und daß kraft apostolischer Autorität, damit die Ordnung nicht gestört werde, Pippin König werde.‘ Nach Einlangung dieses Bescheides ward Pippin zu Soissons ‚durch die Wahl aller Franken, durch die Weihe [seitens] der Bischöfe und die Huldigung der Großen samt seiner Gemahlin Bertrada nach altem Brauch auf den Thron erhoben.‘ Die Salbung wurde von Bonifaz, dem apostolischen Legaten, unter Assistenz der Bischöfe vollzogen“ (S. 55 f.).

Mühlbacher hält es für wenig wahrscheinlich, daß der Papst tatsächlich „die Lage des Frankenreichs“ im Blick gehabt habe, wohl aber „die Aussicht, in dem neuen König nötigenfalls auch einen Bundesgenossen gegen das Vordringen der Langobarden zu erhalten“ (S. 58). Diese Sache wurde akut, als der Langobardenkönig Aistulf „den Griechen ihre letzte Provinz in Mittelitalien, Ravenna mit dem Exarchat, abgenommen, das Herzogtum Spoleto unmittelbar der Krone unterstellt, Benevent in … [stärkere] Abhängigkeit gebracht [hatte]. Das Langobardenreich stand seinem Ziele, der Herrschaft über Italien, nahe“ (S. 58). Der „römische Dukat“, nominell ebenfalls noch griechischer/oströmischer Herrschaftsbereich, mit dem Sitz des Papstes darin, stand der Einigung Italiens im Weg. „… 752 drang Aistulf in den Dukat ein und bedrohte Rom“, im nächsten Jahr wieder. Aistulf forderte von den Römern „die Anerkennung der langobardischen [statt der griechischen] Herrschaft über Rom und den Dukat“ (S. 58). Der neue Papst (seit März

II. Defiziente Modi

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752), Stephan  II., ein Römer, wendete sich an König Pippin. „Durch einen von Rom heimkehrenden Pilger sandte er insgeheim ein Schreiben an Pippin, …, der König möge ihn in das Frankenreich einladen und dahin geleiten lassen“ (S. 59). Anders als sein Vater Karl Martell hat Pippin das Ansinnen des Papstes zum Krieg gegen die Langobarden zugunsten der Herrschaft des Papstes nicht abgelehnt. Das zeigt, mittelbar, „der überschwengliche Dankesbrief des Papstes“ an Pippin. Dieser hatte sich noch „darauf berufen, daß er nicht der unumschränkte Herr seiner Entschließungen sei, daß er der Zustimmung der Großen und des Heerbanns bedürfe, wenn es gelte, einer Intervention mit den Waffen Gewicht zu verschaffen“ (S. 59); es gibt nämlich „ein zweites päpstliches Schreiben, das [nun] ‚alle Für­ sten des fränkischen Volkes‘ [bei diesen gab es Widerstand; siehe weiter unten] in den eindringlichsten Worten aufforderte, das Gesuch des Papstes zu unterstützen, da er das Zutrauen in sie habe, daß sie Gott fürchteten, ihren Schützer, den Apo­stel­fürsten Petrus, liebten und demgemäß zum Dienste für ihn bereit seien“ (S. 59). Alle werden aufgefordert, „… ‚zur Wahrung der Interessen eures Gönners, des h.  Apostelfürsten‘“ (S.  59 f.), tatsächlich aber zur Wahrung weltlicher Herrschaftsinteressen des Papstes in Mittelitalien, verbunden mit Kriegsbegehren in dieser Sache gegen das Langobardenreich, sich „‚um so eifriger an dem, was wir gewünscht haben‘“, zu beteiligen, andernfalls die Strafen des Jüngsten Gerichts auf sie niedergehen würden, weil nur der, „‚dem Gott die Gewalt des Schlüsselträgers gegeben, euch die Thüre aufschließe und in das ewige Leben einführe. … denn wisset, daß, wer auf die andere Seite sich schlägt, von der Erbschaft der ewigen Seligkeit ausgeschlossen ist‘“ (S. 60). König Pippin hat den Papst ins Frankenreich eingeladen, und dieser kam dann auch mit „zahlreichem Gefolge“ (S. 60), unter fränkischem Geleit (weil der Weg auch durch das langobardische Reich führte). Die Begegnung zwischen Frankenkönig und Papst gestaltete dieser in der Kapelle der Pfalz zu Ponthion (südlich von Châlons-sur-Marne) zu einer bühnenreifen Aufführung: „‚hier … nahmen sie Platz und bald bat der Papst den König unter Thränen, er möge den Besitz des h. Petrus und des römischen Staates [Begriff paßt noch nicht] vertrags­mäßig sicherstellen; jener willfahrte dem Papst und versprach eidlich, all seinen Aufträgen und Mahnungen mit allen Kräften zu gehorchen und, wie er verlangt hatte, den Exarchat von Ravenna, die Gerechtsame und Orte des römischen Staates auf jede Weise zurück­ zugeben‘“ (S. 61).

Mühlbacher schließt an: „Der Bericht ist glaubwürdig. Zwei Jahre später beruft sich Stephan in einem Brief an Pippin darauf, daß er damals die ganze Sache des Apostelfürsten in dessen Hand gelegt, der König seine Bitten zu erhören geruht und versprochen habe, dem h. Petrus Recht zu schaffen und die Verteidigung der Kirche zu übernehmen“ (S. 61). Unter den Gesichtspunkten des Kapitels B. I. können wir sagen: Der Römer Papst Stephan II., gewandt und raffiniert als Rhetor, Briefschreiber und Uminterpret älterer Formulierungen, hat offensichtlich zwar weniger die Großen des Reiches (dazu mehr weiter unten) – hinsichtlich der Volksversammlung ist es schwer, das einzuschätzen – als König Pippin und dessen noch

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junge Söhne (Karl war zwölf, Karlmann drei Jahre alt) zu seinen Gunsten zu beeinflussen vermocht.394 Pippin war Stephan II. damals nicht gewachsen.395 Pippin hat durch Gesandte den Langobardenkönig Aistulf gebeten, „er möge ‚aus Ehrfurcht für die Apostel Petrus und Paulus von den Feindseligkeiten gegen das römische Gebiet ablassen und auf seine Bitte keine widerrechtlichen und ungesetzlichen, den Römern bisher nie auferlegte Leistungen eintreiben.‘“ Mühlbacher kennzeichnet die Botschaft richtig als „rücksichtsvoll in der Form“ (S. 61), aber auch als „eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ (S. 61 f.) eines bisher befreundeten Reiches, „dem die Grenze für seine Eroberungen und für seine Konsolidation gezogen wurde“ (S. 62). Der seitens der Langobarden inzwischen eroberte Exarchat von Ravenna hatte, wie wir schon wissen, zuvor zum Herrschaftsbereich der oströmischen Kaiser in Konstantinopel gehört, so wie das für den Dukat von Rom, mit Rom darin, theoretisch ebenfalls immer noch galt; faktisch hatte diese oströmische, d. h. „griechische“ Herrschaft aber keine Bedeutung mehr. Der Langobardenkönig hat die damals noch einmal oströmischerseits vorgetragenen Ansprüche auf die Herrschaft des Kaisers in Konstantinopel über italische Bereiche (Einzelheiten bei Mühlbacher) zurückgewiesen und ebenso die fränkische Einmischung zugunsten des Bischofs von Rom in bezug auf den­selben Bereich (S. 61 f.). „Pippin [aber] war durch seine Zusage gebunden, er mußte jetzt mit den Waffen für sie eintreten. Während Papst Stephan auch in dem ihm als Winteraufenthalt angewiesenen Kloster St.  Denis weilte, trat am 1.  März 754 zu Braisne unweit Soissons die große Volksversammlung, das Märzfeld, welche noch über Krieg und Frieden zu entscheiden hatte, zusammen“ (S. 62).

Mühlbacher schildert Besonderheiten dieser Volksversammlung, auf die ich, weil für uns wichtig, in noch besser geeignetem Zusammenhang zurückkomme. Dann heißt es bei Mühlbacher, daß – und das hängt mit jenen Besonderheiten zusammen – offenbar „nicht … schon auf dem Märzfeld von Braisne, sondern erst auf der nach Ostern abgehaltenen Reichsversammlung zu Quierzy (nordwestlich Soissons) der Krieg gegen die Langobarden beschlossen“ wurde. Es ist damals in Quierzy erstaunlicherweise – man darf sagen: unvorsichtigerweise – zusätzlich „ein anderer folgewichtiger Akt vollzogen [worden]. Durch eine auch von den Prinzen Karl und Karlmann sowie den fränkischen Großen unterzeichnete 394 In diesen Rahmen gehört auch, daß Stephan II. am 28. Juli 754 in St. Denis nicht nur König Pippin, der ja bereits von Bonifatius im Auftrag des Papstes Zacharias gesalbt worden war, noch einmal gesalbt und geweiht hat, sondern zugleich, und zwar ebenfalls als „Könige“, die beiden Buben – was diese zweifellos beeindrucken sollte und offenbar auch beeindruckt hat –, dazu die Königin (Mühlbacher, S. 65). 395 Erst einige Jahre später, als er in Italien aus eigener Anschauung ein Bild gewonnen hatte, sind ihm Theatralik und Übertreibungen Stephans  II. deutlich geworden, und er hat sich nach 756 auch nicht mehr zu neuen kriegerischen Aktionen gegen die Langobarden bereitgefunden, zu denen ihn Stephan II. wiederholt aufrief (Mühlbacher, S. 90 in Verbindung mit S. 71 f.); freilich, der entscheidende, so folgenschwere Schritt war schon getan.

II. Defiziente Modi

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Urkunde sicherte Pippin der römischen Kirche die Rückgabe des von den Lango­ barden entrissenen [behauptetermaßen] Besitzes zu“ (S. 62). Es bleibt selbstverständlich die Frage, wieso eigentlich die römische Kirche weltlichen Besitz im Sinne eines weltlichen Herrschaftsbereichs haben muß. Aber unbeschadet der Antwort darauf stellt Mühlbacher fest, daß die Tatsache der Schenkungsurkunde von Quierzy historisch „außer jedem Zweifel“ sei, und fügt hinzu: „schon im nächsten Jahre beruft sich Papst Stephan in einem Schreiben an die beiden Prinzen [!] auf diese ‚Schenkungsurkunde‘ und nochmals drängt er zur Ausführung dieser Verbriefung“ (S. 62). Jedenfalls gilt: „die Urkunde ging über eine Restitution hinaus“ (S. 63), sie betraf außer dem Dukat von Rom auch den Exarchat von Ravenna, in der „Rechtsnachfolgerin … des oströmischen Kaiserreichs in Italien“ (S. 63), und das heißt eben: als weltliche Herrschaft. Der Prozeß der Entscheidung zum Beginn des Krieges gegen die Langobarden verlief nicht glatt. Das werden wir uns näher ansehen. Zuvor will ich den Ausgang der Auseinandersetzung nennen (mehr Einzelheiten bei Mühlbacher S. 66–69). Im ersten Feldzug, 754, drangen die Franken beim Mont Cenis über die Alpen nach Oberitalien vor, schlossen die langobardische Hauptstadt Pavia ein und belagerten sie. Aistulf bat unter Vermittlung der fränkischen Großen um Frieden. Er erhielt ihn unter der Bedingung der Herausgabe des Exarchats von Ravenna und der anderen Eroberungen, der Unterlassung aller Angriffe auf Rom sowie der Anerkennung der fränkischen Oberhoheit. Aistulf stellte Geiseln. Die Franken zogen ab. Aistulf erfüllte die Bedingungen dann aber doch nicht, sondern belagerte Rom drei Monate lang, allerdings ohne die Stadt erobern zu können. Papst Stephan schickte auf verschiedenen Wegen mehrere Schreiben an Pippin und dessen Söhne mit dem dringenden Ersuchen um Hilfe, wieder hochtheatralisch und in den „grellsten Farben“, wie Mühlbacher formuliert, der die Wortlaute der entscheidenden Stellen der Briefe wiedergibt, auf die ich aber verzichte. Weil die Belagerung Roms Vertragsbruch war, der bei Nichtahndung dem Ansehen des Frankenreichs geschadet hätte, zog das fränkische Heer im Mai 756 wieder nach Italien, überwand die langobardischen Gebirgsbefestigungen, drang erneut bis Pavia vor und schloß es ein (S. 69 f.). Aistulf bat wieder um Frieden. Als Rebell gegen die fränkische Oberhoheit hatte er rechtlich sein Leben und sein Reich verwirkt. Auf Fürbitte der fränkischen Großen beließ ihm Pippin Leben und Reich. In einem Schiedsspruch der Franken und der Geistlichen bekam Aistulf eine Sühne auferlegt, und er mußte die Eroberungen nun tatsächlich herausgeben. „Dieses Gebiet, Ravenna mit dem Exarchat und Comacchio, das Land also von der Pomündung bis Ancona, schenkte nun Pippin, um weitere Besitzansprüche des griechischen Kaisertums hintanzuhalten, in feierlicher Form urkundlich der römischen Kirche“ (S. 70). Während Quierzy dem Papst die Urkunde des Schenkungsversprechens erbracht hatte, war dies nun die Urkunde der Schenkung. Abt Fulrad von St. Denis hat für König Pippin die 20 abgetretenen Städte in Besitz genommen. „Am Grabe des h. Petrus legte er die Schlüssel der Städte und die königliche Schenkungsurkunde nieder. Damit war die Besitzeinweisung vollzogen, der Kirchenstaat [wie der

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Name auf deutsch später lautete] auch thatsächlich begründet. Sein Recht beruhte auf den Ansprüchen des Papstes und dem Uebergewicht der fränkischen Waffen, seine Schaffung kostete die Selbständigkeit Italiens“ (S. 70).396

Ich fasse zusammen: Papst Zacharias hatte Pippin auf den fränkischen Thron verholfen. Pippin hat sich von Papst Stephan II. dazu bringen lassen, zugunsten eines vom Papst gewünschten, in Mittelitalien zu errichtenden, in der Nachfolge des oströmischen/griechischen Kaiserreichs stehenden weltlichen Reichs des römischen Bischofs zu intervenieren, auch kriegerisch in zwei Feldzügen, gegen den Langobardenkönig Aistulf. Es bestehen keine Zweifel darüber, daß die Italien-Ambitionen des Frankenreichs (und daraus dann die des Ostreichs/deutschen Reichs und hieraus wiederum die des Sacrum Imperium bzw. die des Heiligen Römischen Reichs) ihre Wurzeln in den Aktivitäten König Pippins haben. Es ist gleichfalls außer Zweifel, daß hinter diesen Italien-Aktivitäten Pippins keine Eroberungsabsichten standen. Pippin hat sich aber dazu verleiten lassen, in Italien gelegene Gebiete dem Papst/dem „h. Petrus“ zu schenken (zunächst: zu versprechen), die das Frankenreich dort weder besaß, noch daß sie ihm gehörten, etwas, das der, der zum großen Teil schon der Besitzer war, das Langobardenreich, dem Papst/dem „h. Petrus“ nicht zu überlassen bereit gewesen ist. Pippin hat den Italien-Feldzug durchgesetzt. (Auf das „durchgesetzt“ komme ich weiter unten zurück.) Dieser Feldzug war kriegerisch erfolgreich. Um den Erfolg, die Übergabe des an Papst/Kirche zu Verschenkenden, tatsächlich zu sichern, haben die Franken die Langobarden unter anderem zur Anerkennung der fränkischen Oberhoheit gezwungen und eine nachfolgende Unbotmäßigkeit mit Waffengewalt geahndet. Eroberungsabsichten gab es auch dann noch nicht. Jedoch war, schon 754, jene Erweiterung des fränkischen Einflußbereichs auf Italien die (fränkischerseits ursprünglich keineswegs geplante)  Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Langobarden. Im selben Sinn wirkte die Übernahme der Würde eines „Patricius der Römer“ (patricius Romanorum) seitens des Frankenkönigs (S. 72), zum Schutz der römischen Kirche. Die Tragweite der Veränderung im Vergleich mit der Zeit Karl Martells, also nur einer Generation früher, ist damals hinsichtlich mehr Einzelheiten sicherlich nicht erkannt worden. Ob sie nicht wenigstens prinzipiell erkennbar war, ist eine andere Frage; ich komme, keineswegs spekulativ, sondern sehr konkret darauf zurück. Die Italien-Aktivitäten des Frankenkönigs gewannen unter Pippins (gest. 768) ältestem Sohn Karl (geb. wohl 747 oder 748) eine andere Qualität, aus neuen Ursachen und aufgrund anderer Bestrebungen aus neuen Gegebenheiten, aber in dem von Pippin geschaffenen Rahmen. – Ich rufe in Erinnerung zurück: Das politische Gemeinwesen ist dadurch gekennzeichnet, daß die alle angehenden Angelegenheiten in der Öffentlichkeit klar 396 „Wie ein Keil schob sich der Kirchenstaat zwischen Nord- und Süditalien, fortan eine Einigung, wie sie die letzten Langobardenkönige anstrebten, hindernd, den Süden mehr und mehr isolierend“ (S. 63), der unter den Folgen bis heute, zu Beginn des 21. Jh., zu leiden hat.

II. Defiziente Modi

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zur Sprache gebracht, damit sie möglichst durchschaubar werden, bevor entschieden und gehandelt wird. Solche Öffentlichkeit kam in den germanischen (und in den frühen griechischen) Gemeinwesen in der Volksversammlung der wehrfähigen Freien zustande. Bei den Franken der Zeit des Frankenreichs hat die Volks-/Heeresversammlung bis zum Ende der Merowinger- sowie zu Anfang der Karolingerzeit offenbar noch regelmäßig jährlich stattgefunden, wohl schon seit längerer Zeit jeweils zum 1. März auf dem „Märzfeld“, dem campus Martius, an gemäß Erfordernis wechselndem Ort.397 Auf dem Märzfeld von 751 war, wie weiter oben beschrieben, der arnulfingischpippinidische Hausmeier Pippin  d. J. anstelle des für „unecht“ erklärten letzten Merowingerkönigs, Childerichs  III., seitens der fränkischen Volksversammlung zum fränkischen König gewählt worden (siehe auch Annex B. V.4.c) und B. V.5.b)), auf Rat der „Großen des Reiches“, wie der deutsche literarische Begriff 398 lautet, der sich ab spätem 17. Jahrhundert bei der Übersetzung verschiedener für den in Frage stehenden Sachverhalt seitens lateinisch schreibender Autoren der Frankenzeit benutzter Wörter verfestigte. König Pippin, der Vater Karls d. Gr., hat danach noch mehrmals ein „Märzfeld“ abgehalten, diese Versammlung ab 755 jedoch „zum Nutzen aller Franken“ (Frede­gar, S.  144) in den Mai verlegt, jetzt „Maifeld“, campus majus, genannt. Hinter der Verlegung auf zwei Monate später stecken natürlich Schwierigkeiten, die sich für die Franken daraus ergeben hatten, daß oft auf das „Märzfeld“ gleich der Kriegszug folgte und die zur Heerfolge verpflichteten Freien deshalb oft über eine sehr lange Zeit des Jahres vom heimischen Hof abwesend waren, meistens bis kurz vor Beginn des Winters. Es hatte offenbar bereits Widerstand gegeben. Wir werden weiter unten sehen, wie sich die Situation später, unter Karl  d. Gr., verschärft hat und wie das politische System immer mehr zu Bruch ging. (Die Verlegung in den Mai hatte aber noch einen anderen Grund. Das Reiterheer der Franken, das Pippins Vater Karl Martell aufgebaut hat – Näheres weiter unten –, brauchte auf dem Kriegszug frisches Gras für die Pferde.) Der Versammlung aller Franken ging am Ort des März- bzw. dann des Maifelds die Beratung des Königs mit den „Großen des Reiches“ voraus, die immer mehr Bedeutung gewann. Dagegen hat die Bedeutung der Versammlung aller unter den Karolingern immer mehr abgenommen, schon ab König Pippin.

397 Bei den von allen deutschen Stämmen am längsten unabhängig gebliebenen Sachsen war die jährlich stattfindende Volks-/Heeresversammlung – soweit wir wissen – stets in Merklo an der Weser (Kienast, S. 464). 398 Grimm, Wb., Bd. 9, S. 495, mit einem Beispiel aus einer „Kayser-Historie“ eines Historikers vom Anf. d. 18. Jh. – Wo die Übersetzer „die Großen des Reiches“ oder „seine [des Königs] Großen“ sagen, steht bei Gregor meistens proceres oder priores.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

„Die großen … Entscheidungen waren einer Einflußnahme des Volkes längst entrückt“, und „die Beschlußfassung [lag] in den Händen der geistlichen und weltlichen Großen, die durch ihre Stellung in der Verwaltung des … [Gemeinwesens] und bei Hofe oder durch ihren großen Besitz … gewissermaßen die Vertreter des Volkes399 geworden waren. … . Wenn … noch die Zustimmung des versammelten Volkes eingeholt wurde, dann war dies doch kaum mehr als eine Förmlichkeit, als ein Nachklang der alten Zeit, und es geschah nur bei großen kriegerischen Unternehmungen, die schon beschlossen und vorbereitet oder bereits im Gange waren. So war es, als auf dem Reichstag in Worms 772 der Krieg gegen die Sachsen beschlossen und sogleich begonnen wurde, so wurde im nächsten Jahre die Reichsversammlung erst vor dem Einmarsch nach Italien in Genf abgehalten, nachdem der König einige Monate früher mit den Großen beratschlagt und beschlossen hatte, den Kampf gegen die Langobarden aufzunehmen“ (Mühlbacher, S. 261).

Mühlbacher (ebenda) meint, im dann zur Zeit König und Kaiser Karls immer größer gewordenen Reich sei die Reichsversammlung (die es übrigens ab Kaiser Karls Sohn, Kaiser Ludwig I., der Fromme, dann überhaupt nicht mehr gegeben hat) immer weniger wirklich mitentscheidende Volksversammlung gewesen wegen der „Unmöglichkeit, daß aus so weiten Gebieten die Freien jährlich sich einfanden“. (S. 261) Das ist zweifellos richtig, aber die Sache hat noch einen anderen Aspekt. Ich bringe das nachher. Mühlbacher (S. 261 f.) zeigt, wie bei Karl dem Großen der Kreis der Personen in den Beratungs- (bzw. für akute Fälle, unter Vorbehalt, Beschluß-)Gremien immer enger, kleiner wurde. Es gab außer der jährlich stattfindenden allgemeinen Reichsversammlung jetzt nur noch aller Großen400 ein Treffen in engerem Rahmen, zu dem nur diejenigen Großen zusammenkamen, die besonders hoch angesehen waren. Der König hatte außerdem Männer seines besonderen Vertrauens als Berater, die entweder mit ihm am Hof lebten oder – wir kennen das aus anderem Zusammenhang schon – dorthin von Fall zu Fall berufen wurden. Die sozusagen diplomatischen Verhandlungen führte der König selbst, er instruierte seine Gesandten und gab fremden Gesandten in der Pfalz-Aula seine Bescheide. Wenn alle prinzipiell zur Mitberatung und, aus dann (für die Verhältnisse der Zeit) für hinreichend eingeschätztem Durchblick, zur Mitentscheidung berechtigten Freien tatsächlich nicht mehr mitberaten und mitentscheiden, haben sie auch ihre Freiheit verloren. Das aber ist nicht bloß eine Sache der formalen Logik, hier einer Deduktion, auch die Wirklichkeit im Frankenreich zeigt den, zunehmend, Verlust an Freiheit beim Gros der Glieder des Gemeinwesens.

399 Zur Vermeidung des Mißverständnisses, sie könnten etwas Ähnliches wie die Volksvertreter in den modernen Parlamenten gewesen sein, wird man hier besser sagen: Repräsen­ tanten jeweils des weltlichen oder geistlichen (Glied-)Gemeinwesens, an dessen Spitze sie standen: Markgrafschaft, Grafschaft, Diözese, Reichs-Abtei usw. 400 Gemäß der Tradition der alten Volksversammlung (für die etwas anderes sowieso nicht möglich gewesen wäre), normalerweise auch hier immer noch im Freien, bei schlechtem Wetter jetzt aber in gedecktem Raum.

II. Defiziente Modi

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Wenn wir wissen wollen, wieso und wie das von Hause aus Politische des Sy­ stems der Franken ruiniert worden ist, müssen wir keineswegs mit Hypothesen vorlieb nehmen, etwa der folgenden Art: Schuld am Bedeutungsverlust der Volksversammlung sei vermutlich, daß die zu beurteilenden Sachverhalte im immer größer „gewordenen“ Frankenreich einen Grad von Komplexität erreicht gehabt hätten, daß die „normalen“ Glieder des Gemeinwesens doch nicht mehr genug Durchblick gehabt hätten. Anders als im Fall der wirklich frühen Zeit der Griechen (siehe B. I.1.a)) können wir in unserer Sache für das Frankenreich doch ein vergleichsweise gutes Bild von den Ursachen gewinnen. Es läßt sich weitgehend der Darstellung bei Mühlbacher entnehmen. Gerade rechtzeitig vor seinem Tod hat Pippin das Frankenreich auf Verlangen der „Großen“ des Reiches, die Klarheit der Verhältnisse haben wollten, unter seine Söhne Karl (26 Jahre alt) und Karlmann (17 Jahre alt) geteilt (S. 83). Die Brüder kamen in der Folgezeit nicht gut miteinander aus. Die Ursachen kennen wir nicht. Einzelheiten zum Verlauf des Streits lasse ich aus. Auf Betreiben der Mutter, die die Brüder auch zu versöhnen versucht hat, kam eine Heirat Karls mit der Tochter des langobardischen Königs jener Zeit, Desiderius, zustande. Das schien eine Verständigung zwischen beiden Reichen anzubahnen – was den Papst zu in der Wortwahl401 ganz wüsten Angriffen gegen die Langobarden und ihren König veranlaßte und in einem „Abmahnungsschreiben“ „an Karl und Karlmann“, „das von Gehässigkeit gegen die Langobarden überschäumend, mit dem vollen Aufgebot drastischer Mittel [das ich wiederum nicht wiedergebe401] die geplante Heirat zu hintertreiben sich bemühte“ (S. 90). Das gelang nicht, die Heirat fand statt. Dennoch kam es zum Bruch zwischen Karl und dem Langobardenkönig. Karl hat nämlich nach etwa einem Jahr seine Frau, Desiderius’ Tochter, „verstoßen“ – wofür Rechtsvorschriften unter Nennung der Voraussetzungen zu beachten waren; wir kennen aber im vorliegenden Fall den Grund nicht. Dieser Vorgang hat De­ siderius zu „Karls erbittertem Feind“ gemacht. Der Langobardenkönig fühlte sich danach nicht mehr an „die Verpflichtungen, welche er beim Abschluß der Ehe der römischen Kirche gegenüber eingegangen war“, gebunden (S. 92). Ein neu aufflammender Zwist zwischen den Brüdern Karl und Karlmann entwickelte sich auf einen innerfränkischen Krieg zu, aber 771 starb Karlmann. Karlmanns ältester Sohn, Pippin, war damals erst gut ein Jahr alt. Karl nahm das Reich seines Bruders in Besitz. Die in dessen Reich wichtigen Geistlichen und „Großen“ schlossen sich Karl an (S. 93). Damit war das Frankenreich wieder geeint. 773 kam es in der Pfalz von Diedenhofen an der Mosel, nördlich Metz, wo sich Karl für den Rest des Winters einquartiert hatte, zu Kontakten mit Gesandten des neuen Papstes, Hadrian, der die Franken gegen den Langobardenkönig Desiderius 401

Die Lektüre dessen, was Mühlbacher dazu auf S. 90 und auf S. 91 (bis Abs. 3) aus Stephans II. Text bringt, läßt einen annehmen, daß bei dem Papst inzwischen Psychopathisches die Oberhand über das rhetorische Raffinement gewonnen hatte.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

und zur Wahrung der „Rechte“ der römischen Kirche – es hieß auch hier wieder: „des h. Petrus“ – aufrief (S. 96). „Karl beratschlagte mit den fränkischen Großen. Es wurde beschlossen, dem Gesuch des Papstes [Hadrian] zu willfahren“ (S. 97). Es folgten Versuche, einen friedlichen Ausgleich zu finden; sie scheiterten. „In Genf trat das aufgebotene Heer zur großen Reichsversammlung zusammen, um dem Krieg gegen Italien [tatsächlich: gegen das Langobardenreich] noch die förmliche Genehmigung zu geben“ (S. 97). (Für uns zu beachten ist „die förmliche“; ich komme darauf zurück.) Auch Karls Heer drang beim Mont Cenis über die Alpen vor und schloß Pavia ein. Nach langer Belagerung ergab sich die langobar­ dische Hauptstadt. Desiderius und seine Familie wurden gefangengenommen und ins Frankenreich abgeführt. – Das „Schicksal des Langobardenreichs [war] besiegelt. … . Karl nahm den Titel eines ‚Königs der Langobarden und Patricius der Römer‘402 an“ (S. 101). Karl hat klugerweise dem eroberten Teil  Italiens einen Sonderstatus eingeräumt, indem er ihn nicht dem Frankenreich als Provinz eingliederte, und er hat diesen Sonderstatus mit der Inanspruchnahme des Titels „König der Langobarden“ gut sichtbar zum Ausdruck gebracht. Auch langobardisches Stammesrecht hat er für die Langobarden, römisches Recht für Römer in Geltung gelassen. So zu verfahren, war allerdings fränkische Tradition. Die „Herzöge und Behörden“ blieben in vielen Teilen des Langobardenreichs im Amt, nur Pavia bekam eine fränkische Besatzung und, ebenso wie einige andere Städte, einen fränkischen Grafen als obersten Beamten (S. 101). Mühlbacher bilanziert: Während die Aktivitäten in Aquitanien und in Sachsen in den traditionellen Rahmen gehören, gilt: „Die Besitznahme Italiens ist der Beginn der Eroberungs- … [aktivität], welche über den eigenen Interessenkreis403 hinausgreift“ (S. 102). Da es mir hier darum geht zu zeigen, wie und warum das Gemeinwesen im Frankenreich immer mehr seinen politischen Charakter verloren hat, nicht darum, die Geschichte des Frankenreichs, hier die der Karolingerzeit, nachzuzeichnen, brauche ich auch nicht – wie man das meist nennt – von möglichst vielen Seiten „der Persönlichkeit Karls des Großen gerecht zu werden“. Wenn ich die meisten der herausragenden Leistungen404 König und (ab Jahreswechsel 800/801 in Rom) 402 Siehe schon oben bei Pippin. – Der Sachverhalt geht auf die oströmische Oberhoheit über den Dukat von Rom zurück. Der Begriff war sehr verschieden ausdeutbar. Die Päpste haben den Patricius der Römer möglichst auf seine Funktion als Beschützer der „Kirche“, im Sinne dessen, was später „Kirchenstaat“ genannt worden ist, reduzieren wollen, unter päpstlicher Anweisung möglichst jeweils auch für den einzelnen konkreten Anwendungsfall. Hier steckt eine der Wurzeln der Auseinandersetzungen zwischen König/Kaiser und Papst im Mittelalter. (Für die Karolingerzeit siehe außer Mühlbacher oben, S. 101, auch S. 65.) 403 Mühlbacher versteht darunter praktisch durchgängig die Gebiete der (später) deutschen Stämme, ferner die Burgunds, der Provence, Aquitaniens, Neustriens, dazu der Bretagne. 404 Über Leistungen dieses Karolingers in bestimmten Hinsichten, die für uns in anderem Zusammenhang wichtig sind, s. Kap. B. V.6.a) im Annex über die Legitimitätsprinzipien.

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Kaiser Karls nicht beschreibe, bin ich damit im Urteil über Karl den Großen keineswegs einseitig, mein Ziel ist vielmehr ein anderes als eine Würdigung dieses Herrschers. (Eine komprimierte Darstellung dessen, was die Historiker „Karolingische Renaissance“ nannten, gibt z. B. Hans K. Schulze, Vom Reich, S. 273–296.) Weil Mühlbacher, wie wir wissen, der beste Kenner der Quellen der Karolingerzeit gewesen und „dicht an den Quellen“ geblieben ist, tun auch wir gut daran, für unsere Zwecke vor allem bei ihm zu bleiben, dies aber im konkreten Fall vor allem deswegen, weil er die für uns wichtigen Sachverhalte ganz besonders deutlich bezeichnet – wenngleich er die Relevanz in bezug auf „Politizität“ und „Verlust der Politizität“ nicht sieht, aus seiner Zeit, Ende 19. Jahrhundert, heraus auch noch nicht sehen konnte. Karls Vater, König Pippin, hatte in 16 Jahren, 753–768, bereits zwölf Kriege geführt bzw. Heerfahrten, Feldzüge unternommen, Karls Sohn, Kaiser Ludwig der Fromme, (z. T. auch seine Söhne für ihn) führte in ebenfalls 16 Jahren, 814–829, 19, aber Karl der Große (in späteren Fällen z. T. gleichfalls für ihn seine Söhne) in 47 Jahren, 768–814, deren 58.405 Im einen oder anderen Fall kann strittig sein, ob man ihn hier mitzählen darf, so etwa Flotten-Operationen nach Korsika; aber selbst wenn man diese wenigen Fälle abrechnet, ändert sich nichts wesentlich. Die Zusammenhänge (Ursachen, Anlässe, Beteiligte, Betroffene, Verläufe, Ergebnisse u. ä.  m.) dieser Kriege, Heerfahrten und Feldzüge waren, wie ohnehin theoretisch zu erwarten, sehr verschieden.406

405 Um das ganze Ausmaß vielleicht doch wenigstens etwas besser vor Augen zu führen und um zu vermeiden, daß lediglich die Zahl 58 zwar registriert, dann aber sozusagen weggesteckt wird, zähle ich alle auf (aus Pertz (u. a. Hrsg.), Einhards Jahrbücher), auch wenn uns das einige Zeilen kostet: 768 Aquitanien, 769 Aquitanien, gegen die Basken, 772 gegen die Sachsen, 773 Italien (plus Belagerung während des Winters), 774 erneut Italien, 774 Sachsen, 776 Italien, 776 Sachsen, 777 Sachsen, 778 gegen die Basken, 778 Sachsen, 779 Sachsen, 780 Sachsen, 782 Sachsen, 782 gegen die Sorben, 782 erneut Sachsen, 783 Sachsen, 784 Sachsen, 784 erneut Sachsen, 785 Sachsen, 786 gegen „das diesseits des Meeres gelegene Brittannien“ (Bretagne; S. 77), 786 Italien (Benevent), 787 Baiern, 788 gegen die Awaren, 788 Calabrien, 789 gegen die slaw. Wiltzen, 791 Awaren, 792 Awaren, 794 Sachsen, 795 Sachsen, 796 Sachsen, 796 Awaren, 797 im span. Grenzgebiet, 797 Sachsen, 797 erneut Sachsen, 798 Sachsen, 799 Sachsen, 800/801 Italien, 801 gegen Benevent (Sohn Pippin), 802 Apulien, 802 Sachsen, 804 Sachsen, 805 gegen Slawen in Böhmen, 806 Sorben, 806 Slawen in Böhmen, 806 Flotte gegen Mauren in Korsika, 806 im spanischen Grenzbereich, 807 Korsika, 808 gegen die Dänen, 808 gegen Slawen in Mecklenburg, 809 Spanien (Sohn Ludwig), 809 Dänen, 810 Sachsen, 811 ein Heer gegen die slaw. Linonen, 811 ein anderes gegen Awaren und Slawen, 811 ein drittes gegen die „Brittonen“ (Bretagne; S. 122), 812 Italien, 812 gegen die slaw. Wiltzen. 406 Wie ein roter Faden ziehen sich durch die Jahre von 772 bis 810 die von beiden Seiten erbittert geführten Kriege Karls mit den Sachsen um die Wiederanerkennung der fränkischen Oberhoheit und um die Christianisierung, wobei sich der sächsische Adel (hier anders als bei den Franken, die keinen Adelsstand kannten, ein besonders scharf abgegrenzter Stand) den Bestrebungen des Frankenkönigs gegenüber mehr aufgeschlossen zeigte als die „einfach“ freien Sachsen.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Die kriegerischen Aktionen Karls waren auch keineswegs alle auf Eroberungen abgestellt, aber viele liefen doch darauf hinaus. Einhard (Das Leben Karls, S. 60) konnte in dieser Hinsicht zusammenfassen, Karl habe das Reich der Franken in seinem „Umfang fast verdoppelt“. Ich kann mit Mühlbacher (S. 307) anschließen: „Je mehr das Reich wuchs, desto … [schwerer drückten] die Lasten des Kriegsdienstes. … Die schwersten Lasten waren einem durch sie verarmenden und zusammenschmelzenden Stande … aufgebürdet“, dem der normal Freien ohne größeren Besitz. Das Reich war ja nicht auf natürliche Weise „gewachsen“, wie ein Baum größer wird und „an Umfang“ zunimmt, sondern als Folge jener großen Zahl von Kriegen, die Karl der Große geführt hat. Das führt uns zu dem, was in der Mediävistik mit Bezug auf das Frankenreich der Karolingerzeit und der Zeit der Auflösung des Reiches meist als Absinken der Freien in die Unfreiheit, in die Zinspflichtigkeit, in die Grundhörigkeit oder ähnlich bezeichnet wird  – was, jetzt von dieser Seite gesehen, zugleich Verlust der Politizität des Gemeinwesens bedeutet. Wiederum führten mehrere Sachverhalte und Entscheidungen im Zusammenwirken nach und nach zu diesem Ergebnis. Der von Karl Martell aus strategischen Gründen planmäßig betriebene Aufbau eines Reiterheeres hat, direkt und indirekt, das Sozialgefüge verändert. Damals entstand, aus verschiedenen Wurzeln, das Lehenssystem. Mit der Ausbildung und der Vermehrung der Reiterei sank nach und nach die Bedeutung des Heeres der zu Fuß kämpfenden, des Gros der (männlichen) Glieder des Gemeinwesens, die aber noch für lange Zeit danach gleichwohl zur Kriegsführung mit herangezogen worden sind. – Der Aufwand für die vorgeschriebene Bewaffnung war inzwischen im Vergleich mit der der Germanen der um ein halbes Jahrtausend zurückliegenden Zeit des Tacitus viel größer geworden, dazu der für den „normal“ Freien aus Eigenem aufzubringende Aufwand für den Vorrat an Verpflegung und Kleidung über weite Strecken des Heereszugs und für das dazu benötigte Transportmittel. – Die schon im Einzelfall große Last ist potenziert worden mit der enorm steigenden Zahl der Kriege, die mit der Vergrößerung des Reiches zwangsläufig im Durchschnitt über weitere Strecken führten. Das gilt, auch wenn meistens keineswegs alle zur Heerfolge Verpflichteten aus allen Teilen des Reiches zu den Feldzügen aufgeboten worden sind.407 – Zu den materiellen Aufwendungen kamen die Strapazen auf den Heereszügen, die Gefahren für Leib und Leben im Krieg, die wirtschaftlichen Verluste wegen Abwesenheit von zu Hause, für eine Bevölkerung, die seßhaft war und Ackerbau betrieb, aber auch ganz allgemein. Schließlich wuchsen offensichtlich die Schwierigkeiten, den Sinn zum einen bestimmter Kriege, zum anderen überhaupt der Kriege jener Zeit zu erkennen. Daß es solche Schwierigkeiten gab, wissen wir erstens in bezug auf bestimmte Kriege, positiv aus mindestens zwei Situationen. Auf sie komme ich am Schluß zurück. Wir können solche Schwierigkeiten außerdem, auch ohne „Teilnehmerbefragung“, zweifelsfrei erschließen, sozusagen ex negativo. Solange die Glieder eines Gemein 407

Wie das konkret aussah, zeigt Mühlbacher (S. 307 und S. 311) an einigen Beispielen.

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wesens dem von der Versammlung aller (Männer) beratenen und beschlossenen Vorhaben Folge leisteten, dürfen wir annehmen, daß sie die Sache noch gutgeheißen haben. Bei den Franken haben Schwierigkeiten jedenfalls in der Karolingerzeit eingesetzt. „Die Wehrpflichtigen [selbstverständlich nicht etwa alle, aber eben doch sehr viele] suchten [sich] selbst um den Preis ihrer Freiheit dem Heerdienst, der sie so oft und so lange von ihrem Hause fernhielt und noch dazu Kosten forderte, zu entziehen“ (Mühlbacher, S. 307). Der wirtschaftliche Ruin vieler ärmerer Freier ist zuweilen außerdem durch Hungersnöte (siehe z. B. S. 317) dramatisch verschärft worden. „Als dann die Lasten der Heerpflicht den Wohlstand der Freien zu untergraben und ihre Reihen zu lichten begannen, schuf man [= Karl d. Gr.] Erleichterungen“, zum einen für besondere Fälle, zum anderen dann auch allgemein, für diejenigen, die zwar frei und somit heerespflichtig waren, aber nur über wenig Grundbesitz408 verfügten (S. 310 ff.; Zitat S. 312), etwa so – um wenigstens eine der Varianten zu nennen –, daß erst der Besitzer von mindestens vier Hufen dem Aufgebot folgen mußte, die Besitzer von weniger Land für zusammen vier Hufen einen Mann zu stellen hatten, und zwar den, „der es am besten könnte“, die anderen den auszurüsten hatten, der ausrücken mußte. Die Erleichterungen kamen jedoch erst, als das alte Wehrpflichtsystem längst zersetzt war. „Bei dem Widerstand, dem der Heerdienst unter den Freien immer mehr begegnete, mußte die Heerbannbuße [sehr teure Buße für Nichtbefolgung des Aufgebots] oft verwirkt werden …; sie war so bedeutend, daß sie den … [ärmeren Freien] vollständig ruinieren mußte und dieser bei den häufigen Heerfahrten oft kaum mehr als die Wahl hatte, entweder durch den Heerdienst langsamer oder durch die Heerbannbuße rasch seinem wirtschaftlichen Ruin anheimzufallen“ (S. 317).

Zwar hat Karl in Hungersnotjahren Abstufungen hinsichtlich der Höhe der Buße gemäß dem Umfang des beweglichen Vermögens („Fahrhabe“) des Betroffenen verfügt, die Buße danach aber wieder in ganzer Höhe verlangt. Reichte die vorhandene Fahrhabe nicht aus, um die Buße abzugelten, „verfiel der Schuldige, bis er … gezahlt oder abgearbeitet hatte, dem König … in Knechtschaft“, allerdings nur für seine Person, nicht für seine Erben (S. 317). War der Zustand so schon schlimm genug, verschlimmert, bis zur Erbitterung auf seiten der Betroffenen, wurde er wegen anderer Gegebenheiten. Bevor ich das zeigen kann, muß ich das für unsere Zwecke Erforderliche über eine Institution sagen, die im auf römischem Gebiet entstandenen Frankenreich mehrere hundert Jahre lang eine wichtige Rolle gespielt hat, die „Grafen“. In der ältesten, in Latein geschriebenen Literatur über das Frankenreich sind das die comites. Das Wort comes nennt einen, der einem anderen, der anführt, folgt, in der 408 Auch Mühlbacher benutzt, wenn auch nicht so häufig wie viele andere, Begriffe, die auf das 8./9. Jh. n. Chr. nicht passen, etwa „Staat“, „die ärmeren Klassen“ oder „Soldaten“ (die die Krieger von damals ja nun gerade nicht gewesen sind – sicherlich hier keine Nebensächlichkeit). Mühlbacher vermerkt seinerseits, daß die Hochschätzung der Klassischen Bildung im 19. Jh. viele dazu verleitet habe, übermäßig mit Begriffen aus der römischen Geschichte zu operieren.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Sprache der deutschen (und ähnlich der anderen) Historiker den „Gefolgsmann“, in einem mehr allgemeinen Verständnis auch den „Begleiter“, etwa einen Reisebegleiter. Als comitatus hat Tacitus (G., 13 f.) bzw. als „Gefolgsleute“ haben die Historiker jene besonders tapferen germanischen Krieger verstanden, die in einer engeren Verbindung zum Anführer (princeps) standen, mit ihm zusammen wohnten und lebten – wir kennen das schon. Man könnte also versucht sein, die c­ omites des Merowingerreiches in der Tradition jener germanischen „Gefolgsleute“ von um 100 n. Chr. zu sehen. Tatsächlich ist aber der Personenkreis in den Gegenden des Frankenreiches gerade ganz anders zusammengesetzt, in denen die comites in der Frühzeit des Reiches am häufigsten in Erscheinung traten, in Gegenden mit vor allem oder ausschließlich „romanischer“ Bevölkerung, in Gegenden, die besonders stark von den Strukturen des römischen Reiches geprägt waren. Die Funktionen, denen die comites in diesen Gegenden gerecht zu werden hatten, konnten germanische „Gefolgsleute“ des fränkischen Anführers (jetzt: des Königs) gar nicht ausfüllen. Gebraucht wurden Personen, die nicht nur lateinisch lesen und sprechen konnten, sondern auch mit römischer Verwaltungspraxis409 vertraut waren und die dazu erforderlichen Rechtskenntnisse besaßen. (In einem mehr allgemeinen Sinn, aber auch in bezug auf die kirchliche Organisation, ist uns das weiter vorn schon begegnet.) Tatsächlich ist die Institution comes in Gallien von Hause aus römisch. Das 419 entstandene Tolosanische Reich (Hauptstadt Tolosa, später: Toulouse) der Westgoten hat sie übernommen. „Seit dem 5. Jahrhundert war der ‚Graf‘ der Westgoten als Beauftragter des [westgotischen] Königs der Zivildirektor410 einer typischen römischen civitas alten Stils: er war für die Steuererhebung verantwortlich, zugleich aber auch als Truppenbefehlshaber mit der Aufrechterhaltung der Ordnung betraut und schließlich der Richter für seinen Bezirk, also das … ausführende Organ der königlichen Gewalt“ (Seston, S. 582; den Allerweltsbegriff Gewalt lasse ich hier unerörtert, siehe dazu B. I.5.). Das für die comites der Westgoten Gesagte gilt dann im wesentlichen ebenso für die „Grafen“ (comites) in den „romanischen“ Gegenden des Merowingerreichs. Gregor von Tours nennt die sozusagen Civitas411-„Grafen“ an vielen Stellen. „Der ordentliche Beamte [im Frankenreich] war der Graf.412 Er führt den lateinischen Titel ‚comes‘, … . Der Graf war nur königlicher Beamter, er wurde vom König ernannt und konnte von ihm seines Amtes enthoben werden; … . Das Grafentum bedeutete nicht etwa einen höheren Adel, es war nur ein Amt; mit seiner Ernennung trat der Graf [aber] in den 409 Den „comites“ im Sinne der „früheren ‚Gefährten‘ der Cäsaren“ – (zu „Augusti“ und zu „Caesares“ siehe weiter vorn in diesem Kapitel) – sind „in Konstantinopel … unter Konstantin … kommissarische Sonderaufträge zur Überwachung oder ‚Gleichschaltung‘ der regulären Amtsträger anvertraut“ worden (Seston, S. 539). 410 Seston bringt hier (und in dem bei ihm Folgenden) Vergleiche mit sowie Sachverhalte und Begriffe aus jüngeren französischen Systemen („Ancien Régime“ und Konsulat). 411 Manchmal auch municipium oder urbs. 412 Mehr Einzelheiten zu „Graf“ und seinen Aufgaben sowie zu „Grafschaft“ (Civitas, Gau o. ä.) im Frankenreich bei Hans  K. Schulze, Vom Reich, S.  214–217. Sehr informativ auch Dollinger, S. 53–64.

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Kreis der … ‚Großen‘, welche im Verein mit den [hohen] geistlichen Würdenträgern auf den Reichsversammlungen beratende und entscheidende Stimme hatten, die daher gehalten waren, auf denselben und auch sonst bei Hofe zu erscheinen“ (Mühlbacher, S. 278).

614, zur Zeit des Merowingerkönigs Chlotar II., konnten die Grundbesitzer erreichen413, daß der König (bzw. der Hausmeier für ihn) die Grafen nur aus ihrem Personenkreis in ihrem Gau414 nahm, die Karolinger haben aber das unein­ geschränkte Ernennungsrecht wieder durchgesetzt. Zu Kaiser Karls Zeit war in allen Teilen415 des Frankenreichs die Gliederung in Grafschaften im wesentlichen abgeschlossen. – 413

Das betrifft wohl nur den Westen des Reiches. Im germanischen Osten waren die Verhältnisse sowieso anders; mehr dazu siehe in der übernächsten Fußnote. 414 „Gau“ (lat. pagus) und Grafenamtsbezirk waren oft gleich, aber offenbar nicht immer. Vieles „ist noch ungeklärt. Wahrscheinlich wechselten die Verhältnisse von Provinz zu Provinz, von Stamm zu Stamm“; Karl hat auch sonst oft die älteren Traditionen bestehen lassen, nicht vereinheitlicht (Nitschke, 21991, S. 299). 415 Einen Stammesherzog hatte es bei den Franken, soweit wir wissen, nie gegeben. Das fränkische Klein-„Königtum“ hat Chlodwig beseitigt und das Frankenreich geeint. Es gab zwar Familien, die besonders hoch angesehen waren (so z. B. die Arnulfinger, sie aber wiederum nicht mehr als manche andere auch), es gab bei den Franken aber keinen Adel als Stand. – Von den Alamannen berichtet Ammianus Marcellinus, Res Gestae, z. B. XVI, 12, daß sie eine Vielzahl von reges und reguli (meist übersetzt mit „Königen“ und „Kleinkönigen“) gehabt haben. Wie die Alamannen selbst das verstanden haben, wissen wir nicht. Es kann sich jedenfalls nur um Anführer für mehr oder weniger kleine Bereiche gehandelt haben. Einer von ihnen bzw. eines der Geschlechter mit schließlich umfangreichem Eigenbesitz vor allem im Bodensee-Gebiet hat sich dann für ganz Alemannien/Schwaben durchgesetzt. Nachdem die Alamannen von den Franken besiegt waren und ihr Land unter fränkische Oberhoheit gebracht war, haben die merowingischen Frankenkönige jenes Geschlecht zwar nicht mehr als Königs-, aber doch als sozusagen Stammesherzogsgeschlecht bestehen lassen. (Einzelheiten und Begründungen seiner Überlegungen bringt Feger.) Nach mehreren vergeblich unternommenen Versuchen, Alemannien/Schwaben wieder unabhängig zu machen, haben die Franken dieses Stammesherzogtum (alter Art) beseitigt und das Land ohne Reservation ins Frankenreich eingegliedert. Mühlbacher (S. 52 f.) nennt für 749 n. Chr. Herzog Lantfrid „den letzten der alten Herzöge“. – Sachsen, das auch vor der Überwältigung seitens der Franken nie ein Gesamtgemein­wesen war, kannte folglich nie ein Stammesherzogtum (alter Art), wohl aber einen scharf von den anderen Gliedern des Gemeinwesens abgesonderten Adel. Nur für den Kriegsfall ist aus dem Kreis dieses Adels mittels Los ein Herzog bestimmt worden (s. Annex, Kap. B. V.7.a)). Wegen der erbittert über Jahrzehnte hinweg geführten Auseinandersetzungen kam für Sachsen eine solche – relativ – Selbständigkeit nicht in Frage, wie sie Bayern lange Zeit ohne weiteres hatte zugebilligt werden können (siehe unten), nur die Eingliederung unmittelbar in den Verband des fränkischen Reiches. „Die Verwaltung wurde nach fränkischem Muster geordnet; es wurde die Institution der Grafen eingeführt, die als königliche Beamte an der Spitze der Verwaltung und des Gerichtswesens des Gaues standen und dessen Aufgebot befehligten. Aber es war ein Zugeständnis, daß als Grafen nicht Fremdlinge [etwa Franken oder Alamannen oder Bayern] bestellt wurden, sondern Mitglieder der ersten Adelsfamilien Sachsens, die schon seit jeher eine hervorragende Stellung in ihrem Volke eingenommen hatten“ (S. 125). – Nachdem Karl König der Langobarden geworden war und er seinen Sohn Pippin zum sozusagen Mit-König für das Langobardenreich erhoben hatte, bekam das (jetzt fränkisch-)langobardische Italien ebenfalls die Grafenverfassung, mit Varianten.

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Weil die Comites der spätrömischen Civitates jeweils für ihre Civitas im Namen des römischen Reiches die oberste richterliche Funktion ausgeübt hatten und die Merowingerkönige dieses Grafen-System übernommen und von ihm her die Gerichtshoheit an sich gezogen haben, kam es ab dem 6. Jahrhundert nach und nach in den germanischen Teilen des Reiches, zuerst natürlich bei den Franken selbst, zu einer wichtigen Veränderung der Gerichtsverfassungswirklichkeit, wie ich das nennen möchte. Zwar blieb die alte Gerichtsverfassung – gemeint ist hier die der salischen Franken – bestehen, mit dem ordentlichen Gericht, dem „echten416 Ding“ (Thing), „zu dem alle mündigen und unbescholtenen Freien sich an der althergebrachten Malstätte [siehe dazu Kapitel  B. I.1.b)] einzufinden hatten, um Rechtsstreite zu entscheiden, über Vergehen und Verbrechen das Urteil zu fällen, … alle 40 Nächte (6 Wochen)“ (S. 298). Der Vorsitzende417 kam von alters her aus dem eigenen Stamm, im Prinzip noch so, wie wir es von Tacitus her kennen, daß nämlich die Anführer (die principes) in ihren Landschaften oder Gauen Recht sprachen unter den Gliedern ihrer Teilgemeinwesen und Streitigkeiten schlichteten (siehe ebenfalls Kapitel B. I.1.b)). Das war jetzt prinzipiell und auch tatsächlich meistens anders. Jetzt führte der Graf den Vorsitz im Gericht, und er kam in Auch hinsichtlich Aquitaniens, für das Karls Sohn Ludwig in ähnlicher Weise Mit-König war, brauchen wir nur wenig. König Karl hat hier „Franken von erprobter Treue und Tüchtigkeit … als Beamte bestellt; Karl wählte sie aus seinen Vasallen; ihnen war die Verwaltung des Landes, die Grenzverteidigung, die Bewirtschaftung der Krongüter anvertraut; Grafen wurden für die neun bedeutendsten Städte ernannt und damit neun Amtskreise geschaffen“ (S. 153). – Bayern war das letzte Stammesherzogtum alter Art, mit Herzögen aus dem Geschlecht der Agilolfinger. Bayern konnte sich – wir kennen das schon aus anderem Zusammenhang – lange Zeit hindurch auch unter fränkischer Oberhoheit eine gewisse Selbständigkeit bewahren. Unter Führung seiner Herzöge hatte sich das Land sehr gut entwickelt; anders als in Sachsen hatte hier das Christentum bereits festen Fuß gefaßt (S. 37). Loslösungsversuche (der letzte, seitens Herzog Thassilo, mit Hochverrat am Frankenkönig verbunden) haben Karl Martell, König Pippin und König Karl unterbunden (S. 47, S. 166). König Karl hat 788 auch Bayern unmittelbar in den Verband des Frankenreichs eingegliedert. Da das Land schon zuvor ähnlich organisiert war wie das Frankenreich, „vollzog sich der Uebergang rasch und leicht. Die Verwaltung wurde in die Hände von Grafen gelegt“ (S. 176). – Die Herzöge, die es in der Merowingerzeit in anderen Teilen des Reiches gegeben hat, weiter im Westen und z. B. in Burgund, waren nicht Stammesherzöge, sondern sozusagen Amtsherzöge, vom König oder vom Hausmeier ernannt (Beispiele im „Fredegar“ (Heine), S. 83, für 635 n. Chr., bei Mühlbacher, S. 31, für 687). 416 Im Unterschied zum „gebotenen Ding“, das nur bei Bedarf zusammenkam und folglich besonders auf-geboten werden mußte. 417 Schon vor Karls d. Gr. Zeit konnte gemäß salischem Recht der Vorsitzende des Gerichts einen, wie Mühlbacher (S. 298) zu modern sagt, „Ausschuß von sieben rechtskundigen Mitgliedern [der Gerichtsversammlung, offenbar von Ding zu Ding jedesmal neu], den ‚Rachinburgen‘“, bilden, „der das Urteil vorschlug; die Zustimmung der umstehenden Gerichtsgemeinde, des ‚Umstandes‘[,]  … erhob den Vorschlag [zum Urteil], der aber auch abgelehnt werden konnte“. – Ohne daß ich das im einzelnen behandele: Karl d. Gr. hat die Institution der Rachinburgen zum Kollegium der „Schöffen“ von Urteilsfindern, die angesehen waren und viel Erfahrung hatten, zum ständig bestehenden Kollegium weiterentwickelt, mit Mitgliedschaft in der Regel auf Lebenszeit (ebenda).

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der Regel von außen, aufgrund einer Ernennung seitens des Königs. Modern gedacht, könnte man meinen, das sei sogar besonders günstig gewesen, im Hinblick auf ein unabhängiges Urteil. Wir werden sehen, daß sich die Wirklichkeit jedoch etwas anders entwickelte. Soweit nicht der Vasall des Königs seine Leute selber aufbot, hatte der Graf in seinem Bereich für die Heerfolge zu sorgen, und er führte die von ihm Auf­ gebotenen an. Bevor ich zur Hauptlinie zurückkehre, sind einige Sätze zur Institution „Pfalzgraf“ zu sagen. Der erste von Gregor von Tours mit Namen genannte ist Ciucilo, spät im 6. Jahrhundert.418 Wahrscheinlich hat es den „Palastgrafen“ schon früher im 6. Jahrhundert im Frankenreich gegeben. (Wenn Ciucilo überhaupt der erste gewesen wäre, hätte Gregor das wohl hervorgehoben.) Mehr über Stellung und Aufgaben des Pfalzgrafen wissen wir erst aus der Zeit Karls des Großen, aber das Wichtigste davon wird wohl auch schon für die Merowingerzeit zutreffen. Der Pfalzgraf war Beisitzer, wenn der König den Vorsitz führte, oder, in Ver­tretung des Königs, selber Vorsitzender des Königsgerichts, des obersten Gerichts im Frankenreich. Bei Mühlbacher (S. 253) heißt es, nachdem er anderweitig klargestellt hat, daß die einfach Freien ihr Recht an ihrem Grafengericht zu suchen und erst, wenn sie es dort wiederholt nicht gefunden hatten,419 oder erst nach öffentlich erhobener Urteilsschelte ihre Sache beim Königsgericht/Pfalzgrafengericht420 vorbringen konnten: Der Pfalzgraf „hört die an den Hof gekommenen Kläger an oder übernimmt die Klagschriften, er untersucht und sichtet die Fälle, die geringeren entscheidet er selbst, die wichtigeren unterbreitet er dem Urteil des Herrschers, namentlich dann, wenn die gesetzlichen Bestimmungen zu klarer Entscheidung nicht ausreichen“ (Mühlbacher, S. 253). Für Auseinandersetzungen zwischen Bischöfen, Äbten, Grafen und „anderen mächtigen Herren“ war von vornherein nur das obere Gericht, hier als Königsgericht, zuständig, und der Pfalzgraf durfte in solchen Fällen nicht von sich aus entscheiden (Nitschke, 21991, S. 299). – Der Pfalzgraf war auch königliche Urkundsperson. Die Schreiber (Notare) des Pfalzgrafen besorgten die schriftlichen Ausfertigungen der Urteile, wahrscheinlich auch der zugehörigen Akten und der Ladungen (Mühlbacher, S. 274). – Nun noch eine Anmerkung zur historischen Entwicklung. Der Pfalzgraf von Lothringen am Niederrhein (später „Pfalzgraf bei Rhein“, mit Schwerpunkt dann im Raum Eifel, Mosel, Mittelrhein und Neckar, Hauptort zunächst Alzey, dann Heidelberg) gewann ab Kaiser Otto I. besondere Bedeutung; ihm oblag die Kontrolle der Stammes­herzogtümer (neuer Art): Lothringen, Sachsen, Schwaben und Bayern. Er erlangte im Heiligen 418

Bd. I, Buch V, Kap. 18, S. 322, Zeile 6 f. Für „Prozeßhansel“, die es offenbar auch damals schon gab, waren sehr unangenehme, eines freien Mannes sonst unwürdige Strafen (Schläge) vorgesehen, aber das war eine zweischneidige Sache für den Fall, daß das Grafengericht seinerseits ungerecht urteilte (s. weiter unten). 420 Insofern war dieses Gericht eine Art zweite Instanz, aber wenn man das so sagt, hört es sich gerichtssystematischer an, als die Wirklichkeit damals war. 419

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Römischen Reich die Würde eines Kurfürsten und war, zusammen mit dem Herzog von Sachsen, Reichsvikar, wenn der deutsche Königsthron nicht oder noch nicht wieder besetzt war. – Jetzt wieder zur Hauptlinie. Wir wissen: Die Belastungen für die ärmeren Freien sind mit der Zeit  – mit der enorm großen Zahl von Kriegen und Heer­ zügen – immer schwerer erträglich, oft unerträglich geworden. Immer mehr ärmere Freie suchten sich dem Heeresdienst zu entziehen. Man kann es auch so ausdrücken: Die Identifikation mit den für das Gemeinwesen, für das Frankenreich seitens des Königs und seiner Großen vorgegebenen, inzwischen nur noch mit diesen beratenen und entschiedenen Vorhaben schwand immer mehr. König Karls Verfügungen über allgemeine Erleichterungen für die ärmeren Freien sind in zu vielen Fällen konterkariert worden, weil zu viele Inhaber der neuen Institution Grafschaft ihr Amt primär zum eigenen Nutzen mißbrauchten. Mühlbacher sagt das ganz deutlich: „Die Aushebung der freien Heerpflichtigen oblag dem Grafen und seinen Beamten, jene der Vasallen und freien Hintersassen war bereits an die Lehensherren übergegangen. Während diese alle ihre Leute ins Feld zu stellen hatten, war gerade durch die Aufteilung der Heerpflicht unter mehrere kleine Grundbesitzer der … Willkür der Grafen weiter Spielraum gegeben; ihm stand es zu, wenn bestimmt war, daß von zwei, drei oder mehr Mann nur einer, ‚der es am besten könnte‘, ins Feld rücken, die anderen bloß die Beisteuer leisten sollten, zu verfügen, welcher von ihnen als der Tauglichere auszuziehen habe, und selbst die Zusammenlegung der kleineren Grundkomplexe zu einer Gruppe … war Sache seines Amtes“ (S. 314).

Wie das im einzelnen aussah hinsichtlich Willkür und Bedrückung seitens der Grafen und ihrer „Beamten“, aber auch seitens der Bischöfe, Äbte und deren Vögten, zeige ich gleich. Mühlbacher ist auch in dieser Sache wieder „dicht an den Quellen“. Er hat eine „Aufzeichnung“ herangezogen, die 811 „offiziell“ ange­fertigt worden ist, „‚über die Ursachen, weshalb die [gemeint ist: sehr viele der] Heerpflichtigen nicht ins Feld zu ziehen pflegen‘“ (S. 316), in der zum einen notiert ist, was die „‚freien Gaugenossen‘“421 alles ausprobiert haben, um ihren Pflichten nicht nachkommen zu müssen, zum anderen aber auch die Beschwerden der ärmeren Freien über die Bedrückung und die Ausbeutung, denen sie ausgesetzt waren. Mühlbachers Schilderung ist sehr lebendig; ich gebe sie also in der Hauptsache im Wortlaut wieder. So heißt es zum einen, „‚daß die freien Gaugenossen über alles Maß den Grafen und Königsboten422 gegenüber noch unfolgsamer geworden’“ seien. 421 Das Wort Genossen gehört in die Diskussion Waitz/Dannenbauer (siehe B. I.1.b)), dazu zu Otto von Gierke. 422 Karl d. Gr. hat die schon ältere Einrichtung der Königsboten wiederbelebt und fortgebildet, zur Überwachung (Vermeidung bzw. Unterbinden von Mißständen und Mißbrauch) im ganzen Frankenreich „in Vertretung des Königs, der nicht überall persönlich eingreifen konnte“: Gesetze zum Vollzug bringen, Rechtsprechung beaufsichtigen, Verwaltung und Beamtenverhalten überprüfen. Die Königsboten erhielten auch besondere Aufträge von Fall zu

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„Sie weigerten sich[,] an die Grafen die Heerbannbuße zu zahlen unter dem Vorwand, daß sie dafür nur den Königsboten verantwortlich seien, sie kümmerten sich nicht darum, wenn der Graf ihr Haus mit dem Bann belegte; die einen gaben vor, daß sie Vasallen der Prinzen Pippin oder Ludwig [dazu siehe oben] seien und statt gegen den Feind zu diesen nach Italien oder Aquitanien ziehen müßten, andere wurden Vasallen von Herren, von denen sie wußten, daß sie nicht ins Feld rücken würden. … Viele verzichteten lieber auf ihren freien Besitz und ihre Freiheit, sie verkauften ihr Gut und übertrugen es an Kirchen und Herren und wurden abhängige Zinsleute, andere zogen es sogar vor, in den geistlichen Stand zu treten“ (S. 316 f.).

Zum anderen sagt Mühlbacher: „Noch größere Abneigung gegen den Heerdienst und tiefe Erbitterung mußte es er­ wecken, daß die Habsucht der Beamten und Großen die Schwere der Last auf die … [ärmeren Freien] zu wälzen suchte, daß sie [jetzt wohl: die Beamten und Großen durch] die ­drückenden Verhältnisse ausbeutete[n], um dem Armen sein Gütchen abzudrücken und ihn unter ihr Joch zu zwingen, die Amtsgewalt mißbrauchten, um sich und für Geld den Reicheren Begünstigungen zu gewähren. Jene offizielle Aufzeichnung von 811 gibt auch den Beschwerden der freien Kleinbauern Ausdruck: sie beschwerten sich laut, daß die Ärmeren von den Bischöfen, Äbten und ihren Vögten, [ebenso] wie [von] den Grafen und deren Beamten um ihr Eigentum ‚ausgeplündert‘ würden; wollten sie ihnen dieses nicht geben, dann werde jede Gelegenheit gesucht, den Ärmeren zu verurteilen oder immer gegen den Feind aufzu­bieten, bis er so arm geworden, daß er, ob er wolle oder nicht wolle, ihnen sein Gut übertrage oder verkaufe; die, welche es den Herren übertragen, könnten unbehelligt daheim bleiben; die geistlichen Herren und die Grafen ließen ihre heerpflichtigen freien Leute unter dem Vorwand, daß sie zur Dienstleistung benötigt würden, als Ministerialen wie Falkner, Jäger, Zöllner, Wirtschaftsbeamte, zu Hause, dafür würden die Ärmeren gezwungen[,] ins Feld zu rücken, aber die, ‚welche haben, um zu geben‘ [zur Bestechung in der Lage seien], von der Heerpflicht entbunden. Anderweitig begegnet wieder die Klage, daß selbst die, welche ihrem Genossen die vorgeschriebene Beisteuer geleistet und damit von der Heerfahrt befreit waren, sich bei den Grafen und Beamten noch eigens loskaufen mußten, um daheim bleiben zu können“ (S. 317 f.).

Mühlbacher schließt an, zwar habe es „weder an strengen Verboten“ gefehlt, „Auszugspflichtige [= Heerespflichtige] um Geld und Geldeswert, aus verwandtschaft­ lichen oder persönlichen Rücksichten vom Heerdienst zu dispensieren, noch an Androhung empfindlicher Strafe, aber die Verbote vermochten hier ebensowenig wie auf dem Gebiet der Rechtspflege und Verwaltung durchzugreifen, sie konnten die völlige Auflösung des alten Wehrsystems, den Niedergang des freien Mittelstandes [der normal, der einfach freien Glieder des Gemeinwesens] nicht mehr aufhalten“ (S. 318). Fall: zum Heereszug aufbieten; besondere kirchliche Angelegenheiten. (Näheres bei Mühlbacher, S.  210 f. u.  S.  272–277.) Das speziell die Königsboten betreffende Kapitulare vom Reichstag von Aachen zeigt zwischen den Zeilen, wieweit das ganze System in Verfall begriffen war und wo von vornherein welche Gefahren für das Institut der Königsboten selber steckten (S. 210). Für uns genügt Mühlbachers Fazit: Auch das „Institut der Königsboten hat sich … nicht bewährt“ (S. 277). Ludwig d. Fr. hat es zu bessern versucht (S. 359 f.); er gab neue Weisungen, „wieder zwei Jahre später erhebt ein Erlaß an die Königsboten Klage über die Vernachlässigung ihrer Obliegenheiten“ (S. 360).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Da ich manchen komplexen Sachverhalt aus Gründen der Konzentration auf das Ziel der hier vorgelegten Untersuchung notwendigerweise verkürzt darstellen muß, könnte im Fall des soeben behandelten Themas „Absinken von immer mehr Freien in die Abhängigkeit“ der Eindruck entstehen, es habe danach außer den „Großen des Reiches“ nur die große Zahl der in Unfreiheit Abgesunkenen ge­ geben und bloß noch einen Rest an frei Gebliebenen. Abgesehen davon, daß auch in spät- und in nachkarolingischer Zeit noch mehr bis dahin Freie in Grundhörigkeit gerieten (das Wichtigste zu dieser Entwicklung weiter unten), gab es schon in der Zeit Karls d. Gr. keineswegs „die“ Unfreien auf der einen und „die“ Freien auf der anderen Seite, sondern Abstufungen423 in beiden Gruppen – soweit man überhaupt von zwei „Gruppen“ sprechen kann – und fließende Übergänge zwischen beiden. Für unser Hauptthema wichtig ist die im einzelnen zwar unterschiedlich starke, aber generell gegebene Tendenz zur Unfreiheit. „Der Prozeß der ‚Vergrund­holdung‘ des freien Bauerntums war auf die Dauer nicht aufzuhalten“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 114). Wir hörten weiter oben, das „echte Ding“ auf Reichs-Ebene, die, wie Mühl­ bacher sagt, „Reichsversammlung“ als allgemeine Versammlung aller Freien des Reiches, sei untergegangen, weil es angesichts der inzwischen sehr großen Entfernungen im infolge der Eroberungen auf fast die doppelte Größe angewachsenen Reich unmöglich geworden sei, daß alle Freien alljährlich dort erscheinen konnten. Das ist richtig, aber nur die eine Seite der Sache. Die andere ist, daß das Gros 423 Ich nenne hier einige davon, aber ohne im einzelnen darauf einzugehen: unfreies Hausgesinde, Fronhofshandwerker, „Leibeigene“, unfreie Leute auf Königshöfen ( fiscalini), ab­ gabenpflichtige Hintersassen, „Grundhörige“, zunächst frei gewesene Hufenbauern mit wenig Grundbesitz (von denen im Laufe der oben zuvor beschriebenen Entwicklung besonders viele in Hörigkeit geraten sind), völlig freie (frei gebliebene) Bauern mit nur kleinem Eigenbesitz (Allod) oder bäuerlichem Lehen, freie Großbauern. Selbst die Grenzen zum sich herausbildenden Adel waren fließend, die Verhältnisse von Gegend zu Gegend oft sehr verschieden. – Eine besondere Gruppe waren die während der Zeit des Karolinger-Reichs und noch danach von der „Spanischen Mark“ (mit noch einmal besonderen Rechtsverhältnissen) bis nach Westfalen und in die Schweiz im einzelnen unterschiedlich stark vertretenen „Königsfreien“, auch „Königszinser“ genannt, auf Königsland meist planmäßig angesiedelte Bauern, die persönlich frei waren, ihr Land auch vererben, aber nicht nach außerhalb ihres sozusagen kommunalen Gemeinwesens, ihrer Centene, verkaufen durften, zu „gemessenen“ (genau bestimmten) Diensten, besonders und in der Regel nur zum Heeres- oder Wachtdienst, verpflichtet waren und zu „bestimmtem“ Zins (sofern überhaupt). Gemeinwesen solcher „Königsfreien“ haben sich „bis ins späte Mittelalter, ja bis ins 18. Jahrhundert erhalten mit ihren besonderen Rechtsverhältnissen, den Genossenschaften der freien Leute, den Freigütern, dem Königszins und dem Freigericht …“ (Dannenbauer, 21975, S. 110). – Um anderes handelt es sich bei der in der 2. H. des 12. Jh. beginnenden und sich besonders im 13. Jh. vollziehenden Entwicklung, die Teilen der unfreien Landbevölkerung, vor allem der nicht leibeigenen Bauern, mehr Freiheit gebracht hat, in Frankreich vor allem auf den Domänen der französischen Könige, im Heiligen Römischen Reich in Niederlothringen (dort zuerst im Hennegau und den Argonnen), in Oberlothringen und vielen anderen Gegenden Deutschlands sowie in manchen Landgemeinden Italiens (Einzelheiten bei Ganshof, S. 416 ff.). Auch auf die „Kommunalismus“-Diskussion (Blickle, Weitzel u. a.) kann ich hier nur verweisen.

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der Freien – von denen außerdem gerade zur Zeit Karls des Großen immer mehr in die Unfreiheit oder partiell in Unfreiheit absanken oder abzusinken drohten – die ihnen vom König und den Großen jeweils vorgegebenen Zielsetzungen nicht mehr nachvollziehen konnten, Zielsetzungen, die Jahr für Jahr (außerhalb der schlechten Jahreszeit) fast permanent mit Kriegen verbunden waren, über viele Jahrzehnte hinweg, mit Kriegen, deren Sinn sie nicht mehr durchschauen konnten, deren Lasten und oft ungerechte Verteilung der Lasten sie immer mehr zu spüren bekamen.424 Auch auf der untersten Ebene nahm die Identifikation mit dem Gemein­wesen ab. Das ist an zwei Sachverhalten abzulesen, zum einen daran, daß auch dort die Abneigung der Freien, zum Ding zu erscheinen, größer wurde. Anders ausgedrückt: Das, was früher wichtiges Recht gewesen war, wurde auch hier mehr und mehr zur Last. Das „echte Ding“ auf dieser unteren Ebene, dem der Graf oder bei Verhinderung ein Bevollmächtigter vor-saß, das alle sechs Wochen („40 Tage“) abzuhalten war,425 ist dann so umorganisiert worden, „daß jährlich nur drei allgemeine Gerichtsversammlungen (die generalia placita oder auch malli [!] publici), welche die Freien besuchen mußten, stattfanden“ (S. 299). Mühlbacher meint, das habe so nur für jeden einzelnen untersten Gerichtsbezirk gegolten. Weil aber der Gau oder die Grafschaft in der Regel aus drei oder vier solcher unterster Gerichtsbezirke bestanden habe, das Gericht (die Gerichtspersonen) aber für die ganze Grafschaft zuständig gewesen sei, habe insgesamt der Sechs-Wochen-Turnus eingehalten werden können. Im „echten Ding“ hatten die Schöffen (ebenfalls auf Sitzen) das Recht zu weisen und das Urteil zu finden; Rechtskraft erhielt dieses Urteil erst mit der Zustimmung der um-stehenden Gerichtsgemeinde, des „Um-standes“. Dem „echten Ding“ waren alle Strafsachen, „die ans Leben gingen“, und Prozesse „um Freiheit und Eigen“ vorbehalten, es war also Hochgericht. Das „gebotene Ding“, das inzwischen nicht mehr nach Belieben des Vorsitzenden oft einberufen werden durfte, fand dann zwar alle 14 Tage am Hauptort der Grafschaft oder des Gaues statt, die Freien brauchten nun aber nicht mehr zu erscheinen, es sei denn als im juridischen Sinn „Partei“ oder als Zeugen. Hier entschieden unter Vorsitz des Anführers der Centene oder des Schultheiß (Mühlbacher, S.  299, nennt sie „Unterbeamte“ des Grafen) allein die Schöffen, ohne Umstand.426 Das „gebotene 424

Zum Thema „Durchblick“ hinsichtlich der Kriegsziele weiter unten mehr. Die oben genannten Einzelheiten zur Gerichtsverfassung und ihrer Entwicklung sind dem Recht der salischen Franken entnommen; sie und die Bezeichnungen waren nicht überall im Frankenreich gleich. Darauf kommt es hier aber auch nicht an. 426 Das von Hause aus positiv besetzte Wort Umstand zur Bezeichnung der Versammlung der zur Mitentscheidung berechtigten und verpflichteten Freien, auch der letztlich entscheidenden Gerichtsgemeinde – (wir wissen von der Sache Umstand seit der Lex salica, hier gemäß Waitz, Bd. I, S. 165–167 u. S. 142 f.) –, hat später eine negative Bedeutung bekommen, zunächst noch konkret für das zuvor politische Gemeinwesen („Bloß keine Umstände!“ i. S. v. „Bloß nicht mehr so viele Versammlungen, zu denen wir erscheinen müssen!“, später auch ab­ strakt im alltäglich Privaten („Ist das aber umständlich!“). Die Änderung der Wortbedeutung ist ebenfalls Zeichen des Systemverfalls. 425

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Ding“ war nur zuständig für Schulden und bewegliches Vermögen; es war Niedergericht. – Aber nicht nur, daß die Reichsversammlung mit den sich fast immer anschließenden Kriegszügen, sondern auch das Ding auf der unteren Ebene der ärmeren Freien zur Last geworden war, außerdem – und dies, obwohl der König über die Rechtspflege zu wachen versucht hat – „erhoben sich immer und immer laute Klagen über Rechtsverzögerung und Rechtsverweigerung. Manche verzichteten auf den ordentlichen Rechtsgang und verstanden sich lieber, um wenigstens etwas zu retten, zu einem nachteiligen Ausgleich, der dem Mächtigeren zugute kam. … Am lautesten erschollen … die Klagen über Parteilichkeit und Bestechlichkeit der Richter“ (S. 300).427 In den germanischen Gemeinwesen der Zeit des Tacitus waren die Vorsitzenden der Gerichtsversammlungen jeweils Anführer des Gemeinwesens, stammten in der Regel aus ihm, hatten von daher sehr wahrscheinlich ein anderes Verhältnis zu den normalen Gliedern dieses Gemeinwesens, als der Graf der Karolingerzeit es haben konnte, der meistens von außen kam. Auch diese Veränderung hat wohl das System negativ beeinträchtigt. Mühlbacher (S. 318) zieht ein Fazit: Wenn das Frankenreich von außen ge­sehen noch glänzte, im Innern ging es in Zersetzung über. Die alten Einrichtungen versagten mehr und mehr. (Wir müssen hinzufügen: Sie waren zum Teil pervertiert und versagten deshalb.) Besitz und Einfluß der Großen wuchsen, die ärmeren Grundbesitzer unterlagen. Die Verwaltung war längst unzulänglich (Einzelheiten, soweit ich sie nicht sowieso weiter oben in anderem Zusammenhang, bei „Hof“ und „Pfalz“, genannt habe, bringt Mühlbacher, S.  270–274). An Habsucht und Willkür der „Beamten“ scheiterten Schutz des Rechts und gesicherte Ordnung. Das zur Regulierung gedachte Institut der Königsboten versagte. Wenn Mühlbacher dann aber meint, „Karls [des Großen] überragende Persönlichkeit, seine Thatkraft und Umsicht bändigten noch die widerstrebenden Elemente und hielten das … [Gemeinwesen] fest zusammen; es war dem Verfall und der Gefahr der Auflösung preisgegeben, sobald die Zügel des Regiments in schwächerer Hand lagen. Und sie kamen in eine schwache Hand“, können wir das so nicht stehenlassen. Was Mühlbacher hier sagt, ist auch ein quid pro quo. Der „Verfall“ kam ja nicht aus den „Verhältnissen“, für die dann keiner etwas gekonnt hätte. Gerade König und Kaiser Karl hatte mit seinen Kriegen über Kriegen und seinen Eroberungen die Defizienz des Systems verschuldet, auch wenn es – wie wir sahen – in manchen Hinsichten noch andere, ältere Ursachen des Niedergangs gab. Wir können jedenfalls sagen: Wer in solchem Umfang Kriege führt, wie es die Karolinger ab König Pippin, vor allem aber König Karl getan haben, zerstört zwangs­läufig das politische Gemeinwesen, das nicht ohne Identifikation seiner Glieder mit ihm

427 Fast mit demselben Wortlaut hatte Hesiod um 700 v. Chr. in Böotien über Rechtswillkür und Bestechlichkeit der Richter geklagt (s. am Ende von Kap. B. I.1.a)), als in Griechenland das politische Gemeinwesen weitgehend ruiniert war.

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auskommt. Sie aber fehlte inzwischen weitgehend. Karl war lediglich noch stark genug, daß der längst gegebene Zerfall nicht überall auffiel, offenbar am wenig­ sten in der Sicht von außen. Mit seinem Sohn Ludwig, nach dem Tod Karls des Großen, 814, auf dem Thron, zerfiel auch noch der äußere Glanz immer mehr (dazu mehr weiter unten). Jetzt noch ein Sachverhalt von großem politologischen Interesse im Rahmen des Themas Volksversammlung früher Gemeinwesen, über die man fast nie einen Bericht findet. Generell gilt: Konkrete Angaben über den Ablauf der Volksversammlungen früher Zeit, bei denen die für das Gemeinwesen wichtigen Angelegenheiten besprochen und vielleicht auch abgesprochen/entschieden worden sind, sind überhaupt ganz selten. Homer bietet zwar Darstellungen konkreter Situationen, die jedoch erdichtet sind und die wir allenfalls für typisch, jedenfalls nicht für historisch konkret nehmen dürfen. Bei Homer waren vor allem beteiligt an der Aussprache, die in strittigen Dingen auch eine harte Auseinandersetzung sein konnte, erfahrene Männer hohen Alters und großen Ansehens, besonders aber die Anführer, selten dagegen weniger angesehene Freie (siehe Kapitel B. I.1.a)) – wobei man im Fall Homers allerdings eben bedenken muß, daß dieser „Helden-Epen“ geschrieben hat, in denen dann natürlich diese Helden dominieren, oft nur von solchen die Rede ist. – Anders ist das beim Historiker Tacitus, der germanische Verhältnisse des 1. Jh. n. Chr. wiedergibt. Was er schreibt, ist nicht dichterische Gestaltung, sondern Wirklichkeit, so gut er diese in Erfahrung bringen konnte. In der „Germania“, Kapitel 11 und 12, beschreibt er aber nicht mehr einzelne Fälle, sondern zeigt, über diese hinaus, wie die Versammlungen im allgemeinen abliefen. Hier sieht das so aus: Wo es einen König gab, eröffnete dieser die Volksversammlung, sonst der oder die Anführer; auch Tacitus hebt besonders hervor die erfahrenen Leute hohen Alters/Alt-Ehrwürdigen; die Leute hohen Ranges/Ansehens; die im Krieg Bewährten; dann solche Leute, die sich zu der anstehenden Sache gut zu äußern wissen. Auch alle, die nicht selber etwas zur Sache gesagt haben, entscheiden mit, lehnen ab oder stimmen zu. Das gilt auch für die Volksversammlung als Gerichtsversammlung, und jeder Freie konnte dort klagen. – Caesar, er im 1. Jh. v. Chr., berichtet in „Bellum Gallicum“, 4. Buch, Kapitel 19, zwar von einer ganz konkreten Volksversammlung der Sueben, wir erfahren aber nur, daß die Sueben Caesars Absichten ausgekundschaftet und was sie zur Volksversammlung veranlaßt, sowie das, was sie zu tun dort beschlossen hatten, keine Einzelheiten über den Verlauf, über die Caesar wohl auch gar nichts wußte und die ihn vielleicht nicht interessiert haben. In bezug auf das Frankenreich der Karolingerzeit wissen wir in zwei Fällen wenigstens etwas mehr. Wir erinnern uns: Der Papst, damals Gregor III., hatte dem fränkischen Hausmeier Karl Martell 739 n. Chr. die Oberhoheit über Rom angeboten („und die Schlüssel zum Grabe des h.  Petrus“ überbringen lassen), wenn die Franken die „Verteidigung der Kirche“ (tatsächlich des weltlichen Besitzes der Kirche in Mittelitalien) gegen die Langobarden übernehmen würden. Die Sache (siehe Mühlbacher, S. 42 f.) ist von Karl Martell mit den Großen des Reiches

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und428 offenbar auch auf einer Reichsversammlung der Franken beraten worden. Dabei haben Überlegungen eine Rolle gespielt, ob überhaupt die Folgen abzu­ sehen seien, wenn man sich dafür entscheide, der Aufforderung des Papstes nachzukommen. Das aber bedeutete, die zentrale Frage nach dem „Durchblick“ gestellt zu haben, der gewonnen worden sein mußte, wenn im Gemeinwesen eine anstehende Sache befriedigend beraten worden sein sollte. Die Franken kamen zu dem Ergebnis, es gehe hier um „weitaussehende Unternehmungen“ (S. 42), wie Mühl­ bacher das ausdrückt, die man eben nicht überblicken könne; das Risiko sei also zu groß, der Gewinn für das Frankenreich zweifelhaft, um so mehr, als diese Sache außerhalb der Interessen des Frankenreichs liege.429 Karl Martell hat dem Papst geantwortet, „‚was ihm und dem Volk der Franken gut deuchte‘“, und das hieß Ablehnung. Der nächste Fall ist von 753/754. Papst Stephan II. hat, wie weiter oben in anderem Zusammenhang ebenfalls schon genannt, 753 den Frankenkönig Pippin, Karl Martells Sohn, in einem Schreiben dramatisch um Hilfe gegen die Langobarden ersucht. Die Situation hatte sich inzwischen gegenüber der von 739 insofern ver­ ändert, als Pippin 751 seinerseits die Hilfe Papst Zacharias’ bei der Gewinnung der fränkischen Königswürde in Anspruch genommen hatte. Bei Mühlbacher (S. 59) heißt es: „Pippin zögerte, eine entscheidende Zusage zu geben; er konnte sich“ – das kennen wir schon, brauchen es hier aber noch einmal – „darauf be­r ufen, daß er nicht der unumschränkte Herr seiner Entschließungen sei, daß er der Zustimmung der Großen und des Heerbanns bedürfe, wenn es gelte, einer Intervention mit den Waffen Gewicht zu verschaffen.“ Offenbar „berief er sich auch [tatsächlich] darauf, denn …“ (es folgt eine plausible Begründung, die ich weglasse). Papst Stephan II. hat sich von König Pippin ins Frankenreich einladen lassen (Einzelheiten siehe weiter oben) und ihn dann auch dort persönlich aufgesucht. Wir wissen ebenfalls schon, wie er den König und dessen Buben Karl und Karlmann in theatralischen Aktionen vor Ort und weiter in Briefen aus Rom so be­einflußt hat, daß es zunächst, 753, zum eidlichen Versprechen kam, dem Papst (dem „h. Petrus“) sein weltliches Reich vor den Langobarden zu sichern, und schließlich, 754, zum Heereszug nach Oberitalien. Die Beratungen in dieser Sache – und auf sie kommt es hier an – verliefen zunächst nicht im Sinne Pippins. Es gab immer noch eine „Abneigung der Großen gegen eine bewaffnete Intervention“, deren Folgen „unabsehbar“ waren (S. 59), „während es im eigenen Lande noch genug zu thun gab“ (ebenda). Mühlbacher fügt seinerseits kritisch an: „Noch war Eroberung … nicht … zweck [des Gemeinwesens] geworden“; am 1. März 754 kam bei Braisne

428 Wie der Wortlaut einer Formulierung Karl Martells (s. o. im Text, am Ende dieses Ab­ satzes) zwar nicht ganz sicher belegt, aber doch wahrscheinlich macht. 429 Ganz abgesehen davon, daß Karl Martell mit dem Langobardenkönig von damals, Liut­ prand, persönlich befreundet war und einige Jahre vorher seinen (Karls) Sohn Pippin, in­ zwischen 14–15 Jahre alt, zur Erziehung an Liutprands Hof gegeben hatte.

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„die große Volksversammlung, das Märzfeld, welche noch über Krieg und Frieden zu entscheiden hatte, zusammen. Einhard berichtet, daß einige fränkische Große, mit denen Pippin zu beraten pflegte, sich energisch einem Krieg gegen die Langobarden widersetzten.430 … [eine] Opposition … ist … durchaus glaublich; der Widerwille gegen einen Krieg mit Italien [gegen die Langobarden, für den Papst, den „h. Petrus“, wegen Mittelitaliens] hatte sich kaum verringert, das Schreiben des Papstes an die fränkischen Großen, welches ihre Seligkeit förmlich von der Erfüllung seines Verlangens abhängig machte, fortan der ständige Refrain der Hülfegesuche Stephans, hatte sie kaum von dessen Notwendigkeit überzeugt“ (S. 62).431 Das Märzfeld von Braisne hat die strittige Sache noch nicht entschieden; „… erst auf der nach Ostern abgehaltenen Reichsversammlung zu Quierzy (nordwestlich Soissons) [wurde] der Krieg gegen die Langobarden beschlossen“ (ebenda).

Leider wissen wir im vorliegenden Fall, dem Märzfeld von Braisne, in der uns hier interessierenden Frage hinsichtlich Ablauf und Einzelheiten der Volks­ versammlung nichts, außer daß es zu jener Zeit im Frankenreich offenbar Streit gegeben hat. Wir wissen auch nichts darüber, wie Pippin es dann in Quierzy auf der „Reichsversammlung“ (wohl nur der Großen)432 durchgesetzt hat, daß der Kriegszug doch beschlossen wurde. Die Annahme ist zwar sehr plausibel, der König habe den Großen gegenüber geltend gemacht, er könne seine (von uns heute her gesehen, wahrscheinlich auch schon aus der Sicht der Großen von damals, voreilig und unbedacht gegebene) eidliche Zusage von 753 nicht mehr rückgängig machen, aber für eine Analyse, die sich am tatsächlich gegebenen Material orientieren will, bringt das nicht viel. Sicher ist jedenfalls, daß die Großen vorsichtiger in ihrem Urteil waren, mehr Weitblick als der König besaßen, weil sie erfaßt hatten, daß in der vom König gewünschten Unternehmung Unwägbarkeiten steckten, daß die Folgen des Heereszugs also nicht hinreichend zu übersehen waren. Ohne, einigermaßen, Durchblick hinsichtlich der Folgen sollten Entscheidungen aber nicht getroffen werden dürfen. – Der König hatte sich 753, obwohl schon 751 gesalbt, von Papst Stephan II. in St. Denis nicht nur salben, sondern dort und schon in Ponthion übertölpeln lassen. Die Söhne Pippins sind entschuldigt, weil damals 430 Wir wissen nicht, wie Pippin, als er am Hof Liutprands in Pavia zur Erziehung war, mit dem Langobardenkönig ausgekommen ist, ob es bei ihm von daher vielleicht Abneigung oder gar stille Feindschaft gab. 431 Es hat sich dann auch Pippins Bruder Karlmann, nach Karl Martells Tod regierender Hausmeier für den Osten des Reichs, so wie Pippin für den Westen, einige Jahre lang sehr entschieden und erfolgreich im Bündnis mit seinem Bruder darum bemüht, den Zerfall des Reiches rückgängig zu machen, hat dann aber, weil nicht mehr an weltlichen Dingen interessiert, abgedankt und ist in ein Kloster gegangen. In einer für die Zeit von damals Auf­sehen erregenden Aktion hat er sich aus dem Kloster zu Pippin ins Frankenreich begeben, um, wie die Großen des Reiches, den König vom Krieg gegen die Langobarden zugunsten des Papstes abzubringen, aber ebenfalls, wie die anderen Großen, vergeblich. Pippin, dem, wie dem Papst, Karlmanns Intervention ungelegen kam, hat diesen im Kloster Vienne einsperren lassen (S. 64 f.). 432 Die Versammlung aller („Märzfeld“) von Braisne (1.  März) und die auf sie folgende „Reichsversammlung“ von Quierzy („nach Ostern“) liegen zeitlich zu dicht beieinander (Differenz einige Wochen), als daß wir uns die Versammlung von Quierzy erneut als Versammlung aller Freien vorstellen dürften.

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zu jung. Daß Pippin unbedingt nach Italien wollte, ist wohl damit zu erklären, daß er ehrgeizig war. Es ist bekannt, daß, als er und sein Bruder Karlmann erst bloß als Hausmeier in ihren Reichsteilen regierten, Karlmann (wie sein Vater Karl Martell) von sich nur in der Einzahl sprach, Pippin aber stets schon den pluralis majestatis gebrauchte, wie ein König (S. 47). – Die Rolle der Volksversammlung aller Freien auf dem Märzfeld von Braisne ist unklar, außer daß damals entweder noch keine Entscheidung über Pippins Plan zu erreichen war oder seitens Pippin noch nicht zustande zu bringen versucht worden ist, wegen Gefahr der Ablehnung. In diesem Fall müßten wir allerdings annehmen, Pippin hätte damit rechnen müssen, daß die Großen ihren Widerspruch gegen die Pläne des Königs nicht nur in einer Versammlung der Großen mit dem König, sondern auf dem „Märzfeld“ vor der Gesamtheit der Freien vortrügen. (Es ist schwer abzuschätzen, ob man dazu sagen soll: So was war damals eher schon überhaupt nicht mehr „drin“, oder, im Gegenteil: Damit ist über „Opposition“ viel zu modern gedacht. – Verwunderlich ist es allerdings nicht, wenn man in einer solchen Situation an Karl Lamprecht denkt, nämlich wie wenig wir oft wirklich wissen.) Dieses Teilthema vorerst abschließend, bringe ich Alkuins, des vertrauten Beraters Karls d. Gr., Rat an diesen, wie er sein, des Königs Verhältnis zum Volk sehen solle. Alkuin schrieb an Karl, das Volk sei vom König gemäß den „göttlichen Satzungen“ zu führen, er habe nicht ihm zu folgen, „es sei nicht auf die zu achten, welche zu sagen pflegten ‚des Volkes Stimme ist Gottes Stimme‘, da die Erregbarkeit der Menge dem Unverstand immer sehr nahe stehe …“ (Mühlbacher, S. 260). Zum einen: Damit haben wir, soweit ich sehe, zum ersten Mal in der abendländischen Literatur das Thema „Was ist vom Urteil des Volkes zu halten?“ auf dem Tisch, zu dem knapp tausend Jahre später Jean-Jacques Rousseau gefährlich Stellung genommen hat und das, ab noch einmal grob hundert Jahre später, der „historische Materialismus“ doziert und die ihm anhängenden Systeme praktiziert haben. Zum anderen: Alkuin hat mit dem, was ich eben zitiert habe, natürlich nicht die absolutistische Theorie entwickelt, er hat lediglich karolingerzeitliches Königsrecht, als Herrschaftsrecht, gegen das „unantastbar“ bleibende „Volksrecht“ abgesetzt; wir haben allerdings gesehen, wie gerade zu Karls d. Gr. Zeit das Volksrecht, anders als es in der Theorie aussah, in der Praxis in Verfall geraten ist. Jedenfalls war das Frankenreich inzwischen nicht mehr wirklich politisches Gemeinwesen, zwar noch lange nicht Staat, aber bereits ein Herrschaftssystem. Die folgende Charakterisierung seitens Alkuin zeigt es deutlich: „‚… nun …, da das ganze Volk … in friedlicher Ruhe Eurem [Karls] Befehl nachzukommen sich beeilt und, aufmerksam vor Eurem Throne stehend, gewärtig ist, was Eure Autorität jedermann vorschreiben wolle, außer[dem] auch für jeden Stand das Rechte zu beschließen, das Angemessene zu befehlen …‘“ (S. 207). Mit diesem Herrschaftsverständnis verbunden war eine „theokratische Auffassung“ vom Königsamt, „die schon unter Pippin sich stärker zum Ausdruck zu bringen beginnt“ – wie Mühlbacher (S. 260) formuliert –, die dann in Karls des Großen Titel in seinen Urkunden nach der Kaiserkrönung, ab 801, einen Niederschlag

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wie folgt fand: „Karl, der allergnädigste, erhabene, von Gott gekrönte, große friedenbringende Kaiser, der das Römische Reich regiert und dank der Güte Gottes auch König der Franken und Langobarden ist“ (deutsche Übersetzung in: Schulze, Grundstrukturen, Bd.  III, S.  36). Für Karl stand seine Herrschaft in der Nachfolge der Herrschaft der antiken römischen Kaiser, aus deren Titulaturen „serenissimus Augustus“ und „magnus pacificus“ wörtlich übernommen worden sind. (Rechtsgrund der kaiserlichen Herrschaft Karls waren also nicht die Krönung seitens des Papstes und die Akklamation seitens der Römer, sondern „allein der Wille Gottes“; ebenda.) „Karls ‚Hoftheologen‘“ besorgten außerdem eine „ideolo­ gische Überhöhung“ des fränkischen Königtums, indem sie dieses „als vorbildhafte Verkörperung des christlichen Königtums“ ausgaben und, unter Rückgriff auf das Königspriestertum des Alten Testaments, Karl als „‚neuen David‘“ feierten (Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 149). Die Sache hat noch einen anderen für unser Thema relevanten Aspekt. Im germanischen politischen Gemein­wesen hatte zwar der Anführer den Vorsitz in der Gerichtsversammlung aller Freien, aber d i e s e sprachen Recht. Das Recht wurde nicht etwa vom Anführer „gegeben“, es war schon vorgegeben, es konnte nur (nach-)gewiesen, (aus-)gesprochen werden. Schon ganz unpolitisch ist es, wenn, wie in der antiken römischen Kaiserzeit der Fall, Gesetzgebung ein „kaiserliches Privileg“ war und wenn Karl dieses Privileg für sich übernahm. – Die auf Karl den Großen folgenden Jahrhunderte des Mittelalters kann ich kürzer behandeln als die Zeit von den ersten Nachrichten über jene germanischen Stämme des 1.  Jh. n. Chr., die Grundlage des fränkischen Zusammenschlusses waren, aus dem das Frankenreich entstanden ist, bis zu Karl dem Großen als dessen Höhepunkt, als nunmehr schon Herrschaftssystem und als des Frankenreichs Anfang vom Ende. Bei der jetzt folgenden Skizzierung des nun auch von außen schnell sichtbar werdenden Zerfalls des karolingischen Reiches beschränke ich mich auf die Nennung wichtiger Stationen der Entwicklung, mit einer Auswahl, die ich meine, vom Ziel der hier vorgelegten Untersuchung her gut rechtfertigen zu können, und nenne Literatur, in der mehr vor allem über noch anderes und überhaupt mehr Einzel­ heiten zu finden sind. Jener auch von außen sichtbar werdende Zerfall kam nicht erst mit den Teilungen des Reichs der Franken und Langobarden ab Mitte des 9. Jahrhunderts, sondern schon mit Ludwig (später „der Fromme“ genannt), dem letzten noch lebenden ehelich geborenen Sohn Karls des Großen, ab 814 auf dem Kaiser-Thron. Ludwig, leicht zu beeinflussen und zunächst unter dem Einfluß von hohen Geistlichen, die die Stellung der Kirche und die Einheit des Reiches stärken wollten, wurde in den 26 Jahren seiner Herrschaft mit den vielen zum Teil schon zu Karls des Großen Zeit gegebenen Schwierigkeiten ganz besonders schlecht fertig. Die Anfänge sahen noch gut aus. Eine Erneuerung der Kirche kam in Gang (Schulze, Vom Reich, S. 312). Die 817 in Aachen von einem Hoftag der weltlichen

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und einer Synode der geistlichen Großen des Reiches beschlossene Thronfolgeordnung (Ordinatio imperii) postulierte den Zusammenhang von Kaiser, Reich und Kirche für unauflöslich und die Wahrung der Einheit des Reiches gegen das aus der Merowingerzeit überkommene Teilungsprinzip. Ludwigs ältester Sohn, Lothar, wurde zum „Teilhaber und Nachfolger“ Ludwigs erklärt, bereits damals ebenfalls mit Kaiserkrone, und, wegen dieser, mit Italien. Die jüngeren Söhne, Philipp und Ludwig (dieser später „der Deutsche“ genannt), wurden Könige, sie sollten mit ihren Königreichen (das waren in der Hauptsache Aquitanien bzw. Bayern, jeweils mit angrenzenden Gebieten) später Lothar unterstellt sein. Kaiser Ludwig behielt sich für seine Lebenszeit die kaiserliche Herrschaft über das ganze Reich vor (S. 315; dort noch mehr, was ich weglasse). Die Wirklichkeit war aber wenige Jahre später ganz anders. Nachdem 818 die Kaiserin Irmingard gestorben war, veranlaßte die Umgebung des Kaisers, von dem befürchtet wurde, daß er sich in ein Kloster zurückziehen werde, erfolgreich eine Art Brautschau, bei der sich Ludwig für die sehr viel jüngere und – wie beschrieben wird – sehr schöne Judith aus dem welfischen Grafengeschlecht in Alamannien entschied (Mühlbacher, S. 344; Schulze, Vom Reich, S.  320). Judith hatte auf den labilen Ludwig bis zu dessen Lebensende großen Einfluß. Für die Entwicklung des Reiches wurde das bedeutsam, als Judith 823 einen Sohn Karl (später „der Kahle“ genannt) gebar und daraufhin diesem auf intrigante Weise zu einem mit der Zeit immer größer veranschlagten Teil des Reiches verhelfen wollte. Mühlbacher (S. 345) schreibt dazu: „Sie war … gewissenlos in der Wahl ihrer Mittel: ein frevles Ränkespiel begann, der Vater wurde mit den Söhnen verfeindet, der Bruder gegen den Bruder ausgenützt,433 der schmutzigste Eigennutz aufgerufen, Recht und Pflicht mit Füßen getreten. So verfiel das Reich heilloser Zerrüttung, und, was schlimmer [war], das öffentliche Gewissen der Demoralisation: Judiths … [Praktiken] fand[en] in Lothar und in ihrem Sohn434 gelehrige Schüler. Mit der Erbfolgeordnung mußten auch jene Bestimmungen des Gesetzes von 817 fallen, welche die Gefahren der Teilung abwehren, die Reichseinheit wahren sollten.“ Hinzu kamen in vielen Jahren Mißernten, Hungersnot, verheerende Krank­ heiten bei den Menschen, Seuchen beim Vieh. Der Wohlstand verfiel, Verarmung und Elend wurden immer größer. Die Folge davon war große Unzufriedenheit. 829 hat Judith – Karl war nun sechs Jahre alt – den Kaiser dazu gebracht, Karl als Reichs-Teil Alamannien, das Elsaß, Chur-Rätien und einen Teil Burgunds zuzusprechen. „Die Verfügung, die der Kaiser ohne Zustimmung der Großen aus eigener Machtvollkommenheit traf, ging zu Lasten Lothars, der wohl nur wider 433 Wenn man das mit mehr Abstand betrachtet, ist nicht zu übersehen, daß diese Herren/ Herrscher das haben mit sich machen lassen und sehr wohl mitgemacht haben. Das war nicht nur die Schuld des „bösen Weibes“. 434 Nicht ganz so übel verhielten sich die Söhne Pippin und Ludwig, aber ohne Tadel waren auch sie nicht. (Mühlbacher vermerkt auch das, jeweils im konkreten Fall.)

II. Defiziente Modi

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willig zugestimmt haben … [wird]“ (Schulze, Vom Reich, S. 321). Lothar hat später versucht, „‚mit allen Mitteln das Geschehene rückgängig zu machen‘“ (so der Reichs-Annalist Nithard, zitiert ebenda bei Schulze, bei dem es dort heißt:) „Von nun an füllen Intrigen und diplomatische Aktivitäten, Aufstieg und Fall führender Persönlichkeiten, Bündnisse und Verrat, Demütigungen und Rachehandlungen, schließlich Fehde und Krieg die Seiten der Chroniken.“ 830 gab es die erste Empörung der drei älteren Söhne gegen den Vater im Zusammenhang mit der „allgemeinen Erbitterung über den unnötigen [und nichtsnutzigen] Feldzug“ (Mühlbacher, S. 373) des Kaisers gegen die Bretonen, der den Heerbann so sehr beschwert hat. Die Empörung – von den Kaisersöhnen hat Pippin als erster reagiert, Lothar kam möglichst schnell aus Italien – ging damals in offene Meuterei über. Dem Kaiser ist es aber doch gelungen, den Thron zu retten. 833 verschärfte sich die Situation. Diesmal führte der Aufstand der drei Söhne zum Aufmarsch ihres Heeres und des kaiserlichen Heeres bei Colmar im Elsaß, zum Massenabfall im kaiserlichen Heer, zur Gefangennahme des Kaisers und zu seiner von Lothar besorgten Inhaftierung in einem Kloster, schließlich zur ReichsTeilung zwischen diesen drei Kaisersöhnen aus erster Ehe. Lothar blieb Kaiser, aber nicht mehr als Oberherr über seine Brüder; alle drei Reiche waren nun selbständige Gebilde.435 Lothar hat seinen Vater in harter Gefangenschaft gehalten. Das wiederum hat vielerseits und besonders bei den deutschen Stämmen Empörung hervorgerufen. Ludwig und Pippin befreiten den Vater, der daraufhin wieder in seine alten Rechte eintrat und in den folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit Lothar die Oberhand behielt. Lothar zog sich mit den wichtigsten seiner Anhänger unter den Großen nach Italien zurück. Zwei Sachverhalte sind besonders zu nennen, schwerwiegende Folge-Erscheinungen der innerkarolingischen Auseinandersetzungen. Zum einen, daß 834 Dänen, sonst „Normannen“ genannt, „einen verheerenden Einfall in Friesland machten; ohne Widerstand zu finden, zogen sie über Utrecht nach dem großen Handelsplatz Duurstede; sie plünderten die Stadt und steckten sie in Brand, ein Teil  der Einwohner wurde getötet, ein anderer gefangen fortgeschleppt. ‚Zu jener Zeit‘, schreiben die Jahrbücher von Xanten, ‚war das Reich in sich selbst gar herabgekommen[,] und das Unglück der Menschen mehrte sich von Tag zu Tag‘“ (S. 401). Zum anderen, daß „das Räuberunwesen … in der Zeit des Aufstandes in unerhörter Weise um sich gegriffen hatte“ (S. 403). Weil beide Vorgänge nicht einmalig blieben, haben sie verstärkend auf die Veränderung der Struktur des Gemeinwesens gewirkt. (Ich komme darauf zurück.) 435

Eggert setzt in „Das ostfränkisch-deutsche Reich in der Auffassung seiner Zeitgenossen“ den Beginn dieses Reiches deshalb statt erst auf 843 (Vertrag von Verdun; dazu siehe weiter unten) schon ins Jahr 833 und stützt seine Auffassung auf zeitgenössische Beurteilungen. Näheres dazu brauchen wir aber nicht.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Zwischen dem Kaiser und Lothar kam eine Versöhnung nicht mehr zustande. Auf einer Reichsversammlung 837 in Aachen „verlieh … der Kaiser ‚auf Drängen der Kaiserin und der Hofbeamten‘ seinem ‚vielgeliebten Sohn‘ Karl … den reichsten und ‚besten Teil des Frankenreichs‘“ (S. 413 f.). Auf einem Reichstag im Juni 838 in Nimwegen wurden Ludwig („dem Deutschen“) in schriftlicher Ver­ fügung seines Vaters die deutschen Länder Alamannien, Elsaß, Franken, Thürin­ gen und Sachsen aberkannt, er durfte nur Bayern behalten (S.  415). Kaiserin Judith erreichte es, daß der Kaiser ihrem Sohn Karl, der gerade mit 15 Jahren gemäß ripuarisch-fränkischem Recht volljährig geworden war, auf dem Reichstag von Quierzy im September 838 die Schwertleite gab und ihn krönte (S. 416). Als Ende 838 Pippin, der Aquitanien innegehabt hatte, starb und so als – von der Kaiserin vorgesehen – Verbündeter ausgefallen war, hat der kaiserliche Hof auf Betreiben der Kaiserin Verbindung mit Lothar in Italien aufgenommen, mit dem Anerbieten, das ganze Reich, mit Ausnahme Bayerns, solle in zwei gleich großen Teilen an Lothar und an Karl fallen. Lothar griff zu. Im Frühjahr 839 sind in Worms die Einzelheiten der Teilung (Trennungslinie Maas und Rhone)  beraten worden. Lothar entschied sich für die Osthälfte, die jetzt, mit Ausnahme von Bayern, auch alle deutschen Länder umfaßte. König Ludwig („der Deutsche“) blieb in Ungnade und auf Bayern beschränkt. Sein Vater wollte am 1. Juli 840 in Worms über ihn zu Gericht sitzen, am 20. Juni starb er jedoch. (Mehr über die eben beschriebene Etappe der Entwicklung, 814–840, bringen Mühlbacher, S. 344–424, und Schulze, Vom Reich, S. 311–325.) Obwohl Ludwig der Fromme die Thronfolgeordnung von 817 zunächst zugunsten seines nachgeborenen Sohns Karl außer Kraft gesetzt und, bis 839, noch mehrmals Änderungen vorgenommen hatte, hat Lothar versucht, sie faktisch doch durchzusetzen, als ob sie noch gelte, und dies gegenüber den weltlichen und geistlichen Großen in allen Reichs-Teilen mittels einerseits Schenkungen und Belehnungen, andererseits Drohungen und Lehens-Einzug, gegenüber seinen Brüdern mittels Besetzung von deren Reichs-Teilen und kriegerischer Aktionen dort. Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle wollten eine Oberherrschaft Lothars aber nicht mehr anerkennen. Das „Klima“ war längst vergiftet, offene und ehrliche Einvernehmlichkeit nicht mehr möglich. Am 25. Juni 841 haben die vereinigten Heere Ludwigs und Karls die vereinigten Heere Kaiser Lothars und Pippins von Aqui­ tanien (Sohn des 838 gestorbenen Königs Pippin) in erbittert geführtem Kampf bei Fontenay, nahe Auxerre im Nordosten Aquitaniens, besiegt. Der „Annalist von Fulda“ hat berichtet, allein bei den Besiegten habe es etwa 40 000 Tote gegeben. Das ist zwar ganz sicher eine der sehr großen Übertreibungen, wie wir sie aus der Kriegsberichterstattung seit Caesar kennen, aber die Verluste sind doch offenbar tatsächlich, und dies auf beiden Seiten, extrem groß gewesen. „Was aber den Zeitgenossen diese Schlacht als eine entsetzliche That, als ein Verbrechen erscheinen ließ, war, daß hier Franken gegen Franken, Chri­ sten gegen Christen, Verwandte gegen Verwandte gekämpft hatten … . ‚In jener Schlacht‘, schreibt später Regino von Prüm unter dem Eindruck der Wehrlosig-

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keit des Reichs gegenüber den Normannen, ‚sind die Kräfte der Franken so zerrieben, ist ihre berühmte Tapferkeit so geschwächt worden, daß sie fürderhin unfähig war, nicht etwa die Grenzen des Reichs auszudehnen, nein, dieselben nur zu schützen‘“ (Mühlbacher, S. 435). Im folgenden Jahr, in dem Lothar den Krieg gegen Ludwig und Karl fortsetzte, schlossen diese bei Straßburg im Elsaß, im Angesicht ihrer beider Heere jenes Bündnis, das als „Straßburger Eide“ nicht zuletzt sprachhistorisch von besonderer Bedeutung geworden ist. Damit Ludwigs Heer, dem die Sprache im anderen Heer fremd war, verstehen konnte, was beschworen werden sollte, sprach Karl den Eid für die Ohren der anderen auf (althoch-)deutsch, umgekehrt Ludwig auf (alt-)französisch, anschließend leisteten die Großen auf beiden Seiten jeweils für ihr Heer einen Eid in ihrer Sprache,436 einen Eid, der gegen den eigenen König gerichtet war, für den Fall, daß dieser eidbrüchig werden würde. Schließlich mußte auch Lothar nachgeben. Auf Druck der Großen, von denen die meisten, auf allen Seiten, die Kriege und Verwüstungen leid waren, kam es noch 842 zu Vorverhandlungen, 842/43 zur Bestandsaufnahme und Abschätzung des Wertes der Reichs-Teile seitens einer drittelparitätisch zusammengesetzten Kommission von insgesamt 120 Getreuen der drei Herrscher. Vorgabe war: Italien sollte auch in Zukunft Lothar gehören, Bayern Ludwig, Aquitanien Karl, alle anderen Reichs-Teile sollten möglichst gleichwertig dreigeteilt werden, wobei danach Lothar zuerst sollte wählen dürfen. „Ohne Landkarten, ohne Landesbeschreibungen und ohne statistische Unterlagen war das natürlich ein höchst schwieriges Unterfangen. Kein Wunder, daß die Gesandten zunächst überfordert waren und die Teilung zweimal verschoben werden mußte“ (Schulze, Vom Reich, S. 328). Im August 843 kamen die drei Herrscher in Verdun an der Maas – deshalb die Bezeichnung „Vertrag von Verdun“ – zusammen. Die Kommission legte die Abschätzung der Teile vor. „Auf Grundlage dieser Beschreibung teilten die Großen, ‚ob die Könige wollten oder nicht wollten‘, das Reich in drei gleiche Teile“ (Mühlbacher, S. 450). Lothar wählte – selbstverständlich – wegen der Verbindung mit Italien das Mittelreich (mit den für die Karolinger so traditionsreichen Zentren Aachen und Metz), von Friesland bis Burgund, Ludwig natürlich den Osten, Karl den Westen. Jeder der drei Teile enthielt Stammesgebiete der Franken (im Westen bereits romanisierter Franken). Nationale Gesichtspunkte haben bei der Teilung noch keine Rolle gespielt. Das Denken in solchen Kategorien war jener Zeit noch unbekannt. 436 Die vier Wortlaute gibt Mühlbacher, S. 441, Fußn. 1–2, wieder. – Die Sprache der Krieger der Heere war nämlich inzwischen auf beiden Seiten nicht mehr fränkisch, sondern bei den im Osten dominierenden Franken ein frühes Deutsch, im Westen ein sehr frühes Französisch. Fränkisch wurde nur noch im (ab 843) Mittelreich (s. weiter unten) gesprochen. Aus dem in dessen Norden heimischen Niederfränkischen ist das Niederländische/Flämische hervorgegangen – Friesisch ist eine Sprache für sich –; aus dem weiter südlich gesprochenen Fränkisch der frühen Zeit entwickelte sich u. a. „Moselfränkisch“ (in Deutschland heute im Moselraum, ferner in Luxemburg und, in Resten, im Norden des Lothringen von heute gesprochen).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Nach Kaiser Lothars Rückzug von der Herrschaft in ein Kloster und seinem Tod, 855, ist das Mittelreich unter die drei Söhne geteilt worden. Ludwig hatte schon Italien und war seit 850 ebenfalls Kaiser. Lothar II., dessentwegen die Bewohner des fränkisch besiedelten Teils des Mittelreichs, d. h. vom Niederrhein und der heute niederländischen Nordseeküste bis zum Norden der Vogesen, dann die „Lotharinger“ hießen und dieser Teil des Mittelreichs ab dieser Zeit den Namen „Lotharingien“ bekam, erhielt Hochburgund, das Elsaß, jenes (dann) Lotharingien und das daran anschließende Friesland, Karl Niederburgund und die Provence. Karl starb 863, Lothar II. 869, ohne legitimen Sohn. Der ältere der drei Brüder, Kaiser Ludwig II., war damals in Italien in schwere Kämpfe mit Sarazenen verwickelt, der ostfränkische König, Ludwig der Deutsche, älterer Onkel der Brüder, sehr krank. Der westfränkische König Karl der Kahle, der jüngere Onkel, der 867 in Metz in einem Vertrag mit Ludwig dem Deutschen Lotharingien schon vorab aufgeteilt hatte, nutzte die vermeintlich günstige Lage und nahm das ganze Königreich für sich in Besitz. Er ließ sich in Metz zum König auch dieses Reichs krönen. Ludwig der Deutsche gesundete aber wieder, und Karl wich zurück. Im Vertrag von Meerssen, im Norden Lotharingiens, ebenfalls an der Maas, 870, teilten sie das Land. Der Osten, mit Aachen und Metz, dazu Friesland und Hochburgund, kamen an das ostfränkische Reich, die westlich davon gelegenen Teile an das westfränkische. Damit war in dieser Hinsicht im wesentlichen schon der Stand erreicht, der ab Ende der Karolingerzeit gültig war; der Vertrag von Ribémont, 880, hat nur noch geringere Verschiebungen gebracht. Karl der Kahle reagierte schneller als Ludwig der Deutsche, als Kaiser L ­ udwig 875 in Italien gestorben war. Er zog sofort nach Italien und ließ sich zum Kaiser krönen und versuchte nach Ludwigs des Deutschen Tod, 876, auch das ostfrän­ kische Reich an sich zu bringen. Aber der Sohn des verstorbenen ostfränkischen Königs, später Ludwig der Jüngere genannt, seinerseits nun König der Ost­franken, Thüringer, Sachsen und Lotharinger, besiegte Karl den Kahlen bei Andernach am Rhein. Das brachte den Zusammenbruch von Karls des Kahlen Bestrebungen nördlich der Alpen. Was danach folgte, können wir hinsichtlich der Einzelheiten übergehen, dabei auch die nur für wenige Jahre oder für noch kürzere Zeit erfolgreich oder gleich von Anfang an erfolglos gewesenen Versuche legitimer und illegitimer Karolinger, die Kaiserkrone zu gewinnen oder zu behalten (Karls III., Sohn Ludwigs des Deutschen; Arnulfs von Kärnten, unehelicher Enkel Ludwigs des Deutschen, und noch anderer); ich lasse ebenso beiseite die Einzelheiten des sich beschleunigenden Niedergangs in der karolingischen Herrscherfamilie bis zu deren Aussterben im 10. Jahrhundert.437 Im ostfränkischen Reich war der letzte Karolinger der 900 im Alter von sieben Jahren auf den Thron gelangte Ludwig  IV. (ostfränkischer 437 In männlicher Linie die lothringische schon 869 mit Lothar II. von Lotharingien, die italienische schon 875 mit Ludwig II. von Italien.

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Zählung), genannt „Ludwig das Kind“. Er war vielleicht körperlich nicht stabil – wir wissen es nicht – und ist bereits mit 18 Jahren, 911, gestorben. Im westfränkischen Reich dauerte der Vorgang etwas länger; hier reichte das Ende von Karls des Kahlen Enkel Karl „dem Einfältigen“ bis zu dessen Urenkel, dem dort letzten Karolingerkönig Ludwig V. (westfränkischer Zählung), dort „der Faule“ genannt; er ist 987 gestorben.438 – Wer an mehr Details oder Sachverhalten interessiert ist, über das hinaus, was ich als für unser Thema wichtig jetzt noch bringe, findet sie – um bei den Autoren zu bleiben, die ich weiter vorn schon genannt habe – bei Mühl­ bacher, S. 425–656, und bei Schulze, Vom Reich, S. 326–400.439 Bei den innerkarolingischen Auseinandersetzungen war die so verlust- und dann so folgenreiche Schlacht von Fontenay zwar schon ein Tiefpunkt, aber noch nicht einmal das Ende des Niedergangs. [Der Hrsg.; das waren:] Die Verwüstungen, die die karolin­gischen Heere in vielen Teilen des Reichs angerichtet haben, der Moralverfall nicht nur in den Beziehungen zwischen den karolingischen Herrschern, sondern auch im Verhältnis zwischen eigennützig und rücksichtslos vorgehenden Königen und aus Eigennutz oder mangels Alternative treulos und wetterwendisch reagierenden Großen des Reiches bzw. der Teilreiche, die Verarmung und Verzweiflung weiter Teile des Volkes, die Unsicherheit vor Räuberbanden, in Italien in den letzten Regierungsjahren Kaiser Lothars I., vor 850, Räuberbanden, die Rompilger, Kaufleute, aber auch Dörfer ausplünderten, auf offener Straße und in Wäldern (Mühlbacher, S. 475), im westfränkischen Reich dann zu Anfang der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts unter der Herrschaft Karls des Kahlen (S. 488). „Mit den Normannen [auf die ich gleich anschließend zu sprechen komme] wetteiferten fast die fränkischen Barone [Ausdruck paßt noch nicht, was ich aber hier thematisch unerörtert lasse]  … in Raub und Gewaltthat. Das straflos  … [bleibende] Beispiel lockte. Wieder andere, die, selbst ausgeplündert, Hab und Gut verloren hatten, griffen zu dem einträglichen Handwerk des Wegelagerers“ (S. 490 f.). 810, also schon während der letzten Jahre Karls des Großen, hatten Normannen auf zweihundert Schiffen Friesland angegriffen, die friesischen Inseln ver­ wüstet, Aufgebote der Friesen in drei Schlachten besiegt und hundert Pfund Silber als Tribut gewonnen. Sie segelten ab, als Karl der Große mit einem Heer herankam (Schulze, Vom Reich, S. 360). Weiter vorn war in anderem Zusammenhang vom verheerenden Einfall der Normannen in Friesland, 834, und von ihrem Plünderungs- und Mordzug über Utrecht zum Handelsplatz Duurstede (Dorstad)  die Rede, und daß das kein Einzelfall geblieben ist. So wie mir daran gelegen war, gut deutlich zu machen, was es heißt, daß die frühen Karolingerkönige, Pippin und

438 Ludwigs  V. Vater hatte einen Bruder Karl, der von 978–991 Herzog von Niederlotharingien war, auf den dort sein Sohn Otto von 991–1012 als Herzog folgte, weshalb man auch sagen kann, die westfränkische Linie sei erst 1012 ausgestorben. 439 Kürzere Darstellungen bei Nitschke (21991), Bd. V, S. 315–322, und in Ploetz, Auszug, 28. Aufl., hier Kienast, S. 475 ff., mit Kirsten, S. 484 ff.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Karl der Große, viele Feldzüge und Kriege geführt haben, mit denen und unter deren Auswirkungen das politische System der Franken ruiniert worden ist, kommt es mir auch jetzt darauf an, den daran interessierten Lesern eine mehr plastische Vorstellung von dem zu vermitteln, was wir „die Normannen-Einfälle“ nennen. Aus Mühlbacher bringe ich wieder in einer Fußnote440 Details zu den Normannen 440

Normannen-Einfall 834 in Friesland; 835 Friesland, Loire-Mündung; 836 Duurstede, Antwerpen, Maas-Mündung, Friesland, Köln, Walcheren, Duurstede (Mühlbacher, S. 411 f.). 838–39 Friesland (S. 415). 841 Rouen u. Umgebung; 842 Handelsplatz Quentowic; 843 Nantes (S.  455). 845 Paris, Friesland, Hamburg (S.  465 f.). 846 zwei fries. Gaue, Duurstede; 847 aquitan. Küste, Bordeaux, Duurstede, die Betuwe; „849 schreiben die Jahrbücher von Xanten: ‚Die Heidenschaft schädigte in gewohnter Weise … die Christenheit, sie erstarkte mehr und mehr, doch es wird zum Ekel, davon zu erzählen‘“; 850 Friesland, die Betuwe, die Gegend am Rhein u. an der Waal; 851 Friesland u. am Rhein, Gent eingeäschert; 852 Friesland, die Schelde-Ufer, auf der Seine tief ins westfränk. Land bis Autun (S. 469 f.). 856 Loire u. zu beiden Ufern der Seine, Paris, Chartres, Duurstede, Betuwe, St. Denis (S. 489 ff.). 858 Seine (S. 491). 859 von der Seine aus weit ins Land, Betuwe, Somme-Gegend, ins Mittelmeer u. rhone-aufwärts (S. 501). 861 Seine (S. 511). 867 Seine u. Loire (S. 531). 869 an der Loire bereits seßhaft, Brandschatzung und Plünderung von Le Mans u. Tours (S. 541). 869 Friesland u. Rheinmündung (S. 543). 873 Friesland (S. 561). 876 Seine (S. 570). 876 Seine u. Loire (S. 573). 880 England, St. Omer, Schelde, in Gent festgesetzt, Flandern, Brabant (S. 589 f.). Ende 880 normann. Flotte in die Waal, Landung bei Nimwegen; plündernd und verwüstend rheinaufwärts bis Birten bei Xanten, einer Niederlassung der Friesen; Winterquartier in der prächtigen Pfalz von Nimwegen, von drei Seiten sowieso unzugänglich u. geschützt von Mauern u. Wall; die Streitkräfte König Ludwigs d. J. konnten sie nicht einnehmen, wegen „Festigkeit des Baues und der Tapferkeit der Verteidiger“; nach Verhandlungen zogen diese ab und steckten „ungezüchtigt“ die Pfalz in Brand; 880 andere Normannenscharen an Somme und Schelde, brandschatzten Arras, Cambrai, Amiens u. die reichen Klöster; 880 außerdem „Mißwachs und Hungersnot“ u. ungewöhnlich harter Winter (S. 591). 881 Sieg des westfränk. Königs Ludwig III. bei Abbéville (besungen im ahd. „Ludwigslied“, Schlußstrophe bei Mühl­ bacher, S. 593, Fußn. 1); Rückzug der Normannen, statt dessen 881/82 ins ostfränk. Reich, von Gent (Schiffe ausgebessert, „frischer Zuzug“) in die in die Nordsee mündenden Flüsse; als „organisiertes Invasionsheer zu Lande“, um Reiterei vermehrt, außerdem mit Flotte maasaufwärts; Vereinigung in Elsloo, nördl. Maastricht, dort Winterquartier u. Beute-Stapelplatz, den sie stark verschanzten; rasch („wie Blitzschläge“) Raubzüge tief ins Binnenland, wo niemand auf Verteidigung vorbereitet war; „alles mit Feuer und Schwert verheerend“, Einnahme von Maastricht, Bischofssitz Tongeren, Lüttich; Beutezüge bis an den Rhein: Köln mit seinen Kirchen eingeäschert, ebenso Bonn, die Festen Zülpich, Jülich u. Neuß, dann Aachen (Pfalz niedergebrannt), nahegelegenes Kloster Inden, die Stifter Stablo u. Malmedy, am 6.1.882 überraschend zum Kloster Prüm, in Brand gesetzt, drei Tage lang Umgebung ausgeplündert, Widerstand Leistende niedergemacht. „Beutebeladen und unbehelligt  … in ihr Standlager zu Elsloo zurück.“ Ludwig  III., König von Ostfranken u. Bayern, todkrank in Frankfurt, entsendet Heer gegen die Normannen; wird „Mißerfolg“ (S. 592 ff.). Heer dringt zwar bis Elsloo vor; auf Nachricht vom Tod des Königs Mutlosigkeit, Umkehr, Auflösung; Normannen rücken nach, brennen nieder, was bis dahin noch stehengeblieben; ab Koblenz moselaufwärts bis Trier, Plünderung und Mord, Stadt niedergebrannt (Schulze, Vom Reich, S. 369 f.); Niederlage des kleinen Heeres der Bischöfe von Metz (gefallen) u. von Trier bei Remich; einzelne Normannenscharen weiter moselaufwärts; mit enorm großer Beute zurück ins Standlager Elsloo (Mühlbacher, S. 597). – 882 Karl III., jüngerer Bruder Ludwigs III., seit 876 König von Alamannien, 879 auch von Italien, seit 881 Kaiser, seit Ludwigs Tod Herrscher über das ganze ostfränkische Reich, kommt über die Alpen; Reichsversammlung in Worms;

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Einfällen (sozusagen stellvertretend auch für die Sarazenen- und für die UngarnEinfälle, die ich dann oben nur kürzer erwähne). Sie kann aus der Natur der Sache nicht kurz sein. Ich meinte, das in Kauf nehmen zu sollen. allgemeines Aufgebot in Schwaben, Franken, Bayern u. der Lombardei, ein „ungeheures Heer, wie … schon seit langem nicht mehr gesehen …, ‚unzählbare Mannen und furchtbar allen Feinden, wenn sie einen tüchtigen und gleichgemuteten Führer gehabt hätten‘“; Überrumpelung der Normannen mißlungen, Belagerung des stark verschanzten Elsloo „machte keine Fortschritte“; nach zwölf Tagen schloß der Kaiser einen Vergleich und erkaufte den Abzug der Normannen gegen „eine ‚ungeheure‘ Loskaufsumme … [und] stellte dafür Geiseln“ (gemäß „der offiziellen Meldung 2 080 ‚oder ein bißchen mehr‘ … Pfund Gold und Silber – gegen Rückgabe der dafür gestellten Geiseln“). Mühlbacher beschreibt noch mehrere zumindest aus der Sicht der Chronisten jener Zeit und aus seiner, Mühlbachers, Sicht – (Vorsicht: LamprechtProblem!)  – beschämende Ereignisse während des Waffenstillstands zwischen Vertragsabschluß und Lösegeldzahlung. Als Lösegeld wurden die „mit Not“ vor den Normannen geretteten Kirchenschätze „vom eigenen Herrscher ihnen [den Normannen] zur Mehrung ihrer Beute ausgeliefert … . Zweihundert mit Beute und Gefangenen beladene Schiffe sandten die Normannen in ihre Heimat.“ Kaiser tritt Rückzug an, entläßt Heer bei Koblenz. Der bei Elsloo getaufte Normannenkönig Gotfrid hält sein Versprechen, „daß seine Landsleute, so lange Kaiser Karl am Leben sei, nicht mehr plündernd in das Reich einfallen würden“, nur kurzfristig, indem nämlich statt seiner zunächst nur sein Bruder Sigifrid die Normannen-Einfälle fortsetzt, jetzt gegen das westfränkische Reich: Okt. 882 in der Condé festgesetzt, über die Somme bis Laon und plündernd bis in die Umgebung von Reims; Raubzüge bis an die Oise. Gotfrid bietet in seinem Teil Frieslands Unterschlupf u. Beute-Lagerstätte. Noch 882 Überfall auf Deventer im Ostreich, Brandschatzung, viele Einwohner ermordet; Gegenfeldzug mit nur geringem Erfolg; 883 neue Scharen aus Dänemark rheinaufwärts, „brannten die kaum erst aufgebauten Orte nieder und brandschatzten in gewohnter Weise“; Abwehrerfolge gegen einzelne Trupps, doch „die Hauptmacht der Normannen setzte sich  … ungestört in Duisburg fest und überwinterte“; neue Scharen nach Einfall in Sachsen von ostfränk. Streitkräften geschlagen, auch einzelne andere Trupps, „die Hauptmacht entkam jedoch ohne merklichen Verlust aus Duisburg“; 883 Einfall in den fries. Gau Norden; legendenhafte Erzählung von einem Sieg der vom Bischof von Bremen geführten Streitmacht über Normannen. Jedenfalls „waren die Normannen jetzt ständige Gäste geworden, deren man sich nur mit Not noch erwehrte“ (S. 598–601). – Im Westreich Normannennot immer größer; 883 Kloster St.  Quentin u. Kirche in Arras niedergebrannt; „König Karlmann verfolgte sie, doch ‚er that nichts Ersprießliches noch Nützliches‘“; die Freibeuter streifen vom Hennegau zur Seeküste, überfallen Flandern und verheeren alles. Im Herbst stellt sich ihnen König Karlmann mit westfränk. Heer. Die Normannen, mit Reiterei und Fußvolk, fahren mit ihren Schiffen „in die Somme ein und jagen den König mit seiner Streitmacht über die Oise zurück“, beziehen Winterquartier in Amiens; Normannenscharen bis zur Seine, verwüsten das ganze Land an der Oise, brennen Klöster und Kirchen nieder, ohne Widerstand. Rettung nur noch durch Freikaufen; langwierige Verhandlungen (bis ins folgende Jahr). „‚Die Normannen aber ließen nicht ab, das christliche Volk in Gefangenschaft zu schleppen und zu morden und die Kirchen zu zerstören, die Mauern niederzureißen, die Dörfer anzuzünden. Auf allen Straßen lagen Leichen von Geistlichen und Laien, Edlen und Unedlen, Frauen, Jünglingen und Säuglingen, … es gab keinen Weg, keinen Ort, wo nicht Tote lagen …‘.“ Der Freikaufvertrag legte „‚dem König und den Franken 12 000 Pfund Silber als Tribut auf‘“, es galt Waffenstillstand vom 2. Februar bis Oktober 884. „Nach Ostern begann die Einhebung der Loskaufsumme“; die Kirche „und ihre Grundholden“, d. h. die kirchen-abhängigen Bauern, wurden dazu „förmlich ausgeplündert“. Die Normannen verbrannten ihr Lager in Amiens, ein Teil segelte nach Britannien, die Hauptmacht fuhr scheldeaufwärts, zog dann über Land bis Loewen an der Dyle, im Ostreich. – Das Volk im Westreich litt nicht nur unter den Normannenzügen, sondern auch unter der Unsicherheit im Innern des

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Die Normannen-Einfälle waren nicht Naturereignisse wie etwa extrem harte Winter, alles verdorrende Sommer oder verheerende Unwetter, die in ganzen Landstrichen die Dörfer hinwegschwemmten, Ereignisse, deren Zustandekommen außerhalb der eigenen Verantwortung lag, denen und deren schlimmen Folgen man damals im Abendland nur wenig entgegensetzen konnte. Die NormannenEinfälle, das schon genannte Räuberunwesen, die Bedrohungen und Verwüstungen seitens der Sarazenen, schließlich der Ungarn-Sturm aus dem Südosten – auf

Landes. „Raub und Wegelagerung war[en] an der Tagesordnung“ (S. 605 f.). So und schlimmer ist das, was Mühlbacher (S. 605–614) über die Not im Westreich auch der Folgezeit berichtet. Fast alles ging schief oder geriet zur Schande. Der – freilich ohnehin wenig erfolgreich agierende – westfränk. König Karlmann starb, achtzehnjährig, 884 nach einem Jagdunfall; der danach allein noch vorhandene Karolinger im Westreich, Karlmanns Bruder Karl („der Einfältige“), war erst fünf Jahre alt. Normannenkönig Sigifrid erklärt den Vertrag mit Karlmann für erledigt und fordert von dessen Nachfolger noch einmal 12 000 Pfund Edelmetall. In ihrer Bedrängnis wenden sich die westfr. Großen an den König des ostfränk. Reichs u. Kaiser, Karl III. Dieser in Italien, am Zuwachs im Westen wenig interessiert, zeigt keine Eile. Läßt sich schließlich im Westen huldigen, geht aber dann an den Rhein zurück. Das in seinem Namen gegen die in Löwen sitzenden Normannen auf­ gebotene Heer aus Westfranken und Lotharingern und danach auch ein Heer aus Westfranken und Burgundern richten, zum einen mangels tüchtiger Führung, zum andern, weil der Anführer gleich zu Anfang fällt, nichts aus und kehren schmachvoll zurück bzw. sind „ausein­ andergestoben“ (S. 610). Danach Normannen mit einem großen Aufgebot von Schiffen und Kriegern vor Paris. Sturmangriffe auf die Stadt (vergebens; sehr gute Anführer der Verteidiger: Bischof Gauzlin u. Graf Odo von Paris) und Belagerung, Raubzüge in die Umgebung. Für den Kaiser andere Dinge wichtig; zieht nach Italien, entsendet aber ein ostfränk. Heer unter bewährt guter Führung (Graf Heimrich) nach Paris; jedoch Umstände jahreszeitlich (Winter) katastrophal: bei Überschwemmungen und Kälte enorme Verluste an Pferden; Normannen in ihren Verschanzungen nicht zu überwinden; Heer zieht erfolglos ab. Graf Odo kann sich aus Paris zum Kaiser durchschlagen, die ostfränk. Großen drängen Kaiser zur Hilfe; dieser berät in Metz über Feldzug; im September „mit einem ‚ungeheuren‘ Heer in Quierzy (an der Oise)“; der bewährte Heerführer Graf Heimrich bei Rekogniszierung in Fallgrube geraten und erschlagen. Kaiser ratlos und tatenlos trotz zahlenmäßig riesigen Heeres. „600 Mann zur Verstärkung“ der Verteidiger von Paris in die Stadt (S. 612); Kaiser mit Heer erst im Oktober vor Paris. Normannen erhalten Zuzug einer Flotte; Kaiser läßt über Freikauf der Stadt verhandeln. Vertrag: Zahlung von 700 Pfund Silber an die Normannen, Burgund steht diesen für die Winterquartiere zur Verfügung. „Die Schmach von Elsloo hatte sich wiederholt.“ Kaiser zieht ab, wird von Normannen verfolgt und „wie ein gejagtes Wild aufgescheucht“, flieht „heimwärts“; Normannen brandschatzen Soissons, brennen die Kirche nieder, auch die Klöster, Flecken und Pfalzen der Umgebung, erschlagen die Einwohner. Paris verweigert immer noch die Durchfahrt auf der Seine; Normannen transportieren ihre Schiffe über Land an Paris vorbei und fahren flußaufwärts, plündern das offene Land bis zur Saone und Loire (S. 613). – Auch im ostfränk. Reich gab es in diesem Jahr viele (meist Natur-)Katastrophen. In Mainz „brannte der schönste Stadtteil  …, das kaufmännische Friesenviertel, nieder, im Sommer verwüsteten große Ueberschwemmungen die Felder und rissen ganze Ortschaften mit sich fort, es folgte ein ungewöhnlich harter Winter, fast das ganze Vieh ging zu Grunde. … Der schmähliche Ausgang des Entsatzes von Paris, für den die ganze Wehrkraft aufgeboten worden war, hatte die volle Unfähigkeit des Kaisers, die Hülflosigkeit des Reichs unter diesem Herrscher gezeigt. Der Rest seines Ansehens war vernichtet …“ (S. 613 f.).

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sie komme ich weiter unten zurück – waren zum Teil in gewisser Hinsicht karolingisch-hausgemacht, insofern Zersetzung und Zerfall des Reiches auf die Angreifer einladend wirkten, der vorausgegangene Wandel vom politischen Sy­stem zum Herrschaftssystem die Identifikation der Glieder mit dem Gemeinwesen und seinem Anführer immer mehr zum Schwinden brachte, aus Freien Abhängige und Beherrschte und nun zu Wehrlosen gegen die Angriffe der Normannen, Sarazenen und Ungarn machte. Und so wie deren Angriffe nicht bloß als Fremdeinwirkungen von außen erklärt werden können, sind sie auch nicht ohne Wirkung auf die Struktur des Systems geblieben, nicht einfach vorübergehende Ereignisse gewesen. – Wenn man dem Kaiser gerecht werden will, muß man mitbedenken, daß Karl  III. schon lange körperlich und seelisch krank war; er litt auch sehr unter Kopfschmerzen. Eine Kopfoperation, der er sich unterzogen hat, brachte keinen Erfolg (S. 614). Die katastrophale Situation des Reiches und Vorgänge am kaiserlichen Hof führten zum Aufstand gegen den Kaiser, mit allerdings unblutigem Verlauf, und zur Thron-Entsagung, Ende 887. Mitte Januar 888 ist der Kaiser gestorben (S. 614–618). Der Aufstand hat 887 in Frankfurt zur Wahl Arnulfs von Kärnten geführt, eines unehelich geborenen Sohns von Karlmann, dem älteren Bruder Karls III. Der neue König „war nur von den deutschen Stämmen auf den Thron erhoben worden … . Er war … nur König im Umfang des ostfränkischen Reichs, das bereits alle deutschen Stämme, auch die Lothringer, in sich vereinigte“ (S. 620). Die anderen Teile des Frankenreichs, das damit zu bestehen aufhörte, gingen eigene Wege, außer Italien auch die Provence, Hochburgund und das westfränkische Reich, als selbständige Königreiche. Im Westreich gab es zwar jenen – und überhaupt einzigen – vollbürtigen Karolinger Karl den Einfältigen, aber er war auch jetzt „‚an Körper und Geist noch ein Kind‘“ (S. 621), die Mehrzahl der westfränkischen geistlichen und weltlichen Großen erhob im Februar 888 den tapferen Verteidiger von Paris, Graf Odo, zum König.441 Diesem gelang an der Aisne ein „glänzender Sieg über die Normannen“ (S. 622), der zwar Odos Stellung als König gegenüber in andere Richtungen tendierenden Kräften zunächst stärkte, das Normannenproblem im Westreich aber nicht löste. Erzbischof Fulco von Reims, scharfer Gegner Odos, krönte im Januar 893 den nun dreizehnjährigen Karl den Einfältigen in Reims zum König. „Das

441 Odo war ein Robertiner/Rupertiner, diese ein vornehmes fränkisches Geschlecht vom Mittelrhein, zu dem auch Hugo Capet gehört, der 987 auf den letzten westfränkischen Karolingerkönig als König von Frankreich folgte. Dieser war dann Stammvater der Kapetinger, die in ihrer Hauptlinie bis 1328 die Könige stellten, anschließend mit ihren Nebenlinien Valois, Bourbon und Orléans, bis 1848.

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Westreich sah wieder alle Greuel442 eines Bürgerkrieges“,443 heißt es bei Mühl­ bacher (S. 632), der anschließend Einzelheiten wiedergibt. – In den Jahren dazwischen hatten sich normannische Raubscharen immer noch im für sie ergiebigen Westreich „herumgetrieben“, waren dabei bis in die Bretagne vorgedrungen, hatten mehrmals Paris passiert, „waren gelegentlich geschlagen oder zurückgewiesen worden, ohne daß es möglich war, die durch neuen Zuzug verstärkten Horden aus dem Lande zu treiben“ (S. 623). Im Gegenteil, Normannen setzten sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts in Teilen des westfränkischen Reichs endgültig fest, zunächst an der unteren Seine im Raum um Rouen und Evreux, der ab 911, formal als Lehen des französischen Königs, das normannische Herzogtum auf dem Festland bildete. Es hat sein Gebiet bis 933 um Bayeux, Coutances und die Halbinsel Cotentin erweitert. Von dort aus gewann Herzog Wilhelm II., „der Eroberer“, 1066 England für die Normannen und wurde als Wilhelm I. König von England. Ein anderes normannisches Phänomen des 11. Jahrhunderts nenne ich hier noch, weil es für meine Darstellung thematisch zu schon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts einsetzenden Ereignissen überleitet, Ereignissen, die ebenfalls von der Schwäche und vom Verfall des Karolingerreichs mitverursacht worden sind und im Süden des Reiches zu Verheerungen geführt haben, den Einfällen der Sarazenen444 in Italien. Normannen, die seit 1016 als gewissermaßen Söldner in Italien kämpften, haben zwischen 1057 und 1085 unter Führung ihres Herzogs Robert Guiscard die Reste der bis dahin dort noch bestehenden byzantinischen Oberhoheit beseitigt. Normannen unter Führung von Roberts Bruder Roger I. vertrieben 1061–1091 die Sarazenen aus Italien. (Roger II. hat 1130 Sizilien i. e. S. und Apulien zum Königreich Sizilien vereinigt. Es ging nach der 1186 zwischen Rogers II. Tochter Konstanze mit dem deutschen Stauferkaiser Heinrich VI., Sohn Barbarossas, geschlossenen Heirat 1194 an die Staufer über.) – Nach der kurzen Einblendung der jüngeren Entwicklung der normannischen Aktivitäten im westfränkischen Reich bzw. in nun Frankreich (und von dort aus in England und in Unteritalien) wenden wir den Blick noch einmal auf das Ostreich, das jetzt zum Deutschen Reich geworden war, auch wenn es offiziell nicht so hieß. 891 erschienen die Normannen wieder in Lotharingien, mit Streifzügen an der Küste, und liefen mit ihren Schiffen in die Maas ein. König Arnulf bot ein Heer nach Maastricht auf. Bis es beisammen war, kamen die Normannen bei Lüt 442 Greueltaten waren nämlich nicht Eigenart speziell der Normannen, sondern weithin sozusagen „Standard“. 443 „Bürgerkrieg“ paßt hier selbstverständlich noch nicht; das waren kriegerische Auseinandersetzungen zwischen westfränkischen Gegenkönigen. – (Nach dem Tod Odos, 898, haben die westfränkischen Großen, auch auf die zuvor von Odo ausgesprochene Empfehlung hin, einhellig Karl dem Einfältigen gehuldigt. 444 Nachdem die Sarazenen 827 dem oströmischen Reich (Byzanz) Sizilien abgenommen hatten, reizte sie die Ohnmacht des Karolingerreichs nach dem Tod Ludwigs des Frommen zum Angriff vor allem auf Unteritalien. 842 faßten sie dort Fuß. Was Einzelheiten der Vorgänge dieser Zeit und der Jahrzehnte danach betrifft, bis 882, verweise ich auf Mühlbacher, S. 455, S. 470 ff. u. S. 597, sowie auf Schulze, Vom Reich, S. 372–375.

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tich über die Maas, „drangen plündernd und mordend bis in die Nähe von Aachen und erbeuteten viele Proviantwagen“ des deutschen Aufgebots, das am 25. Juni wie „die ungeordneten Haufen“ gegen die Normannen anrannte und eine schwere Niederlage erlitt. „Die Führer … und ‚eine unzählbare Menge edler Männer‘ deckten die Walstatt. Die Sieger plünderten das deutsche Lager, erschlugen die Kriegsgefangenen und kehrten beutebeladen zu ihren Schiffen zurück“ (Mühlbacher, S. 623). Unter z. T. sogar sehr ungünstigen Bedingungen (S. 623 f.) überwand daraufhin ein vom König selber angeführtes Heer aus Franken an der Dyle überhaupt zum ersten Mal ein schwer verschanztes Normannenheer. „… ‚von der unzählbaren Menge war kaum ein Mann übrig, der die Unglückskunde zu ihrer Flotte bringen konnte‘.“ Mit der Schlacht an der Dyle war aber nicht die ganze normannische Invasionsstreitmacht vernichtet. Die Flotte und das Streifkorps waren noch intakt, und nach Abzug des deutschen Heeres setzten sich die Normannen wieder in ihrem Lager an der Dyle fest. Von dort unternahmen sie 892 noch „einen ver­ heerenden Beutezug bis an den Rhein, … bis gegen Bonn“. Ein rasch gegen sie zusammengebrachtes Aufgebot erreichte nichts. Die Normannen entschwanden nach Prüm, plünderten das Kloster und mordeten nicht entwichene Mönche und viele Grundholden. Sie zogen durch die Ardennen, eroberten und plünderten dort eine Fluchtburg. „Mit reicher Beute kehrten sie in ihr Lager zurück. Es war der letzte Beutezug der Normannen in deutschen Landen; im Herbst, als eine Hungersnot jene Gegenden heimsuchte, brachen sie aus ihrem Lager bei Löwen auf und segelten von Boulogne auf 250 Schiffen nach der englischen Küste. Sie sind nicht wiedergekehrt …“ (S. 625).445 Bald nach der Abwehr der Normannen vom Deutschen Reich kam es zu harten kriegerischen Auseinandersetzungen mit slawischen Völkern und Stämmen, die versuchten, die ostfränkisch-deutsche Oberhoheit abzuschütteln. Diese Vorgänge würden in einer der normalen historischen Darstellungen mehr Gewicht und Raum haben – und sie waren auch nicht ohne Einfluß auf das, was ich jetzt nennen will –, weil ich aber ein anderes Erkenntnisziel habe, verweise ich hier lediglich auf Mühlbacher, S. 603 ff., S. 625 ff., S. 640 ff., sowie auf Schulze, Vom Reich, S. 378–386, und komme zu dem, was „der Ungarnsturm“ genannt worden ist, ein Sturm, der ein halbes, wenn man will, sogar ein dreiviertel Jahrhundert im Abendland gewütet hat. Die Ungarn (Eigenbezeichnung: Magyaren/Madscharen; zur finnisch-ugrischen Gruppe der nicht-indogermanische, ural-altaische Sprachen sprechenden Völker gehörend) lebten als Nomaden zwischen Ural und mittlerer Wolga, zogen von dort zunächst in die Steppen zwischen Don und Dnjepr, wurden im 9. Jahr 445

Schulze stellt in „Vom Reich“, S. 359–371, innerhalb seines Kap. „8. Bedrohungen“ die Normannen-Einfälle dar. Als Zusammenfassung über dieses Thema ist das besser zu lesen als Mühlbacher, aber das, was ich für meine Zwecke brauchte, kommt bei Schulze verständ­ licherweise nur vereinzelt vor.

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hundert nach Westen abgedrängt und saßen dann nördlich des Schwarzen Meers, zwischen den Mündungen von Dnjepr und Donau. 895 „in einer blutigen Schlacht von den Bulgaren … besiegt …; … von den turko-tatarischen Petschenegen … bedrängt, … suchte das Reitervolk … eher Zuflucht als Eroberung, als es die Pässe der Karpaten überwand“ (Schulze, Vom Reich, S. 375) und 895/96 vom Pannonischen Becken zu beiden Ufern der Theiß Besitz ergriff. 899 fielen die Ungarn in Italien ein. Nach dem Tod Kaiser Arnulfs begannen die Einfälle ins deutsche Reich. Grauen erregte ihr wildes, fremdartiges Aussehen. Die Ungarn verfügten nicht über Schiffe wie die Normannen, aber mit ihren schnellen Pferden waren sie zu Land besonders beweglich und deshalb besser manövrierfähig als ein Heer, das immer erst aufgeboten werden mußte, was im Prinzip ja auch für Vasallenreiterei galt, noch mehr aber bei den zu Fuß Kämpfenden verzögernd wirkte. Die Angriffe der Ungarn kamen überfallartig: plündern, brandschatzen, niedermetzeln, Gefangene abschleppen. Sie waren aber sehr wohl auch in der Lage, großen gegen sie aufgebotenen Heeren vernichtende Nieder­ lagen beizubringen; ich nenne als Beispiele nur 899 an der Brenta, 906 bei Preßburg. Statt dem Ablauf des „Ungarnsturms“ nachzugehen, verweise ich auf die bei Schulze, Vom Reich (S. 376 f.), abgedruckte Karte „Landnahme und Kriegszüge der Ungarn im 9.  und 10.  Jahrhundert“.446 Am meisten in Mitleidenschaft gezogen wurde das ostfränkisch-deutsche Reich, vor allem die Ostmark, Bayern, Schwaben, Oberlothringen und Franken, aber auch Thüringen und Sachsen, außerdem betroffen waren Hoch- und Niederburgund, Septimanien, die Champagne; ein Kriegszug erreichte die Biskaya an der Loire-Mündung; mehrmals noch suchten die Ungarn Italien heim, einmal bis Rom und bis hinunter nach Apulien, überall panischen Schrecken verbreitend (mehr dazu bei Mühlbacher, S. 641 und S. 649–656; bei Schulze, Vom Reich, S. 375–378 und S. 386–391). Keines der aus dem Frankenreich hervorgegangenen Reiche im Osten, im Süden, im Südwesten und im Westen war mehr in der Lage, die Kriegszüge nun auch noch der Ungarn dauerhaft abzuwehren. Leben und Habe der Bewohner des Reiches waren nicht mehr geschützt. Jene Jahrzehnte währenden innerkarolingischen Auseinandersetzungen der, im ganzen gesehen, in ihrer Persönlichkeit oder in bezug auf ihre Gesundheit schwächer werdenden Vertreter des karolingischen Hauses haben zusätzlich zum Zerfall des Königtums beigetragen und die Stellung der Großen im Reich gestärkt. Indirekt war das bereits sichtbar an den Eiden, die die Großen aus Ludwigs des Deutschen und aus Karls des Kahlen Heer 842 bei Straßburg geleistet haben (siehe weiter oben),447 desgleichen beim Vertrag von Verdun (siehe ebenfalls weiter oben: 446 Die Karte zeigt allerdings auch die Kriegszüge der Ungarn, die erst zur Zeit von König Konrad I. (zu ihm weiter unten) stattgefunden haben. 447 Schulze (Vom Reich, S. 327) dazu: Das „läßt die eminente Abhängigkeit der beiden Könige vom Willen ihres Heeres erkennen“, was damals in Wirklichkeit selbstverständlich hieß: vom Willen der Großen.

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„‚ob die Könige wollten oder nicht wollten‘“). Die Wirren im Westreich zur Zeit Karls des Kahlen sind geprägt von der Ohnmacht des Königs und der Unbot­ mäßigkeit der Großen448 des Westreichs (Mühlbacher, S. 488–491). Die Stärkung der Stellung der Großen im ostfränkischen/deutschen Reich hatte andere Voraussetzungen. Eine davon war, daß der letzte ostfränkische Karolinger, Ludwig das Kind, wegen Unmündigkeit zwangsläufig den „Rat“ anderer brauchte und von sich aus die meisten zur Entscheidung anstehenden Dinge gar nicht überblicken konnte, es infolgedessen auch sehr darauf ankam, wer diese Berater waren (dazu Mühlbacher, S. 644, oben). Eine andere, für die künftige Entwicklung des Deutschen Reiches noch wichtigere Voraussetzung war: Die immer wiederkehrenden Ungarn-Einfälle brachten angesichts der Schwäche des Königtums „Männer an die Spitze der einzelnen Stämme, welche, den edelsten Familien ihres Landes entstammend, …, die Thatkraft … hatten, dem wehrlosen Volk den Schutz zu gewähren [es wenigstens zu versuchen], den die Reichsregierung nicht zu geben vermochte“ (S. 655). Es bildete sich das heraus, was die Historiker das „jüngere Stammesherzogtum“ nennen. Ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein der Glieder der ostfränkisch-deutschen Stämme gab es immer noch, und es wuchs wieder. Die Stämme wurden zu handlungsfähigen Rechtsverbänden innerhalb des Reiches, die Herzöge die Anführer des Stammesaufgebots. (Schulze, Vom Reich, S. 398, und Mühlbacher. – Details zu den einzelnen Stammesherzogtümern neuer Art bei Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 94 f., allg. S. 110 f.) Für die Schwäche des Königtums zur Zeit von Ludwig dem Kind ist bezeichnend die jahrelang andauernde blutige, mit Grausamkeiten und Verwüstungen verbundene Fehde zwischen den beiden Geschlechtern, die in dem sich bildenden Herzogtum Franken das höchste Ansehen besaßen und um die führende Stellung kämpften, den Babenbergern und den Konradinern (Mühlbacher, S. 646 ff.). Die Konradiner setzten sich durch; mit ihnen, und zwar mit dem „jüngeren Konrad“ jener Zeit der Fehde mit den Babenbergern, haben wir es gleich noch einmal zu tun. König Ludwig das Kind ist bereits 911 gestorben. Einen Karolingerkönig gab es jetzt nur noch im Westen, Karl den Einfältigen. Anders als die lothringischen weltlichen und geistlichen Großen, deren Bindung an das karolingische Königshaus selbstverständlich besonders eng war und die deshalb Karl dem Einfältigen huldigten, haben die Bischöfe, Äbte und weltlichen Großen der anderen ost­ fränkisch-deutschen Stämme sehr rasch Herzog Konrad von Franken, jenen oben genannten „jüngeren Konrad“, zum König gewählt, einen Nichtkarolinger also, allerdings aus dem Frankenstamm. Schulze (jetzt „Hegemoniales Kaisertum …“, S. 118) nennt dafür neben anderen Gründen auch den, daß die ostfränkisch-deutschen Stämme von dem so schwachen westfränkischen Karl dem Einfältigen

448 Denen Karl der Kahle 877 nun auch rechtlich die (de facto schon bestehende) Erblichkeit der Lehen zugestehen mußte (Mühlbacher, S. 575).

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„unmöglich Hilfe gegen die Einfälle der Ungarn und die Bedrohung durch Dänen und Slawen erwarten konnten“. Mit seinen Plänen und Aktivitäten, „königliche Herrschaft im karolingischen Stil“ (alter Art) zu erneuern (S. 131), ist Konrad I. (911–918) am Widerstand der Stammesherzöge der Sachsen und der Bayern allerdings gescheitert. Die Ungarn konnten ihre Kriegszüge fortsetzen.449 Widerstand gab es nur regional, seitens kleinerer Stammesaufgebote, und einen allerdings nicht entscheidenden Sieg über ein Ungarnheer hat lediglich ein schwäbisch-bayerisches Aufgebot errungen – die Sachsen und die Thüringer hatten slawische Angriffe abzuwehren –; Konrad selbst hat keinen Versuch gemacht, mit einem Reichsheer die Ungarn aufzuhalten. Über die Gründe ist fast nichts bekannt, die Spannungen zwischen dem König450 und dem Sachsenherzog Heinrich wegen Konrads Königsherrschaftsanspruch werden mitgewirkt haben. Auch sonst war er im wesentlichen erfolglos.450 Weiter vorn in diesem Kapitel haben wir einige der Ursachen dafür kennen­ gelernt, daß schon zur Zeit Karls des Großen viele zuvor freie Bauern ihre Freiheit mehr oder weniger weit verloren haben, in Abhängigkeit von dann über ihnen Stehenden geraten sind. In den gut hundert Jahren von Karls des Großen Tod bis zum Tod Konrads I. haben innerfränkische Kriege, das Unwesen von Räuberbanden, die Verwüstungen und Greuel der Normannen-, danach der Ungarn-Einfälle, blutige inner-ostfränkische Fehden, Verwüstungen im Zug der kriegerischen Aus­ einandersetzungen zwischen Konrad I. und Stammesherzögen des ostfränkischdeutschen Reichs noch mehr Menschen wenn nicht gar um ihr Leben, so doch um ihr Hab und Gut gebracht. Armut zwang wiederum zuvor Freie in Abhängigkeit: Der Zerfall der öffentlichen Ordnung mit Unsicherheit im Gefolge legte es vielen nahe, sich unter den Schutz und damit in die Abhängigkeit von anderen zu begeben, von denen am ehesten Sicherheit und Auskommen zu erwarten waren. Die wichtigste Form menschlicher Abhängigkeit von anderen Menschen im Mittelalter (und zeitlich darüber hinaus) im Abendland war die „Grundherrschaft“. So wie an der Spitze der Gemeinwesen die Anführer zu Herrschern pervertiert waren, sind an der Basis der Gemeinwesen immer mehr zuvor freie Bauern zu von weltlichen oder geistlichen Grundherrn Beherrschten geworden. Um die Jahrtausendwende befand sich bereits „die Masse der Landbevölkerung“ unter Grundherrschaft;451 ganz freie Bauern gab es in größerer Zahl nur noch in Friesland, 449 Im Jahr 912 nach Ostfranken und Thüringen, 913 mit großem Heer nach SW-Deutschland und Burgund, 915 nach Thüringen und Sachsen (Bremen niedergebrannt) und bis in den Süden Dänemarks, 916/17 nach SW-Deutschland (Basel niedergebrannt), ins Elsaß und durch Lotharingien (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 121 ff.). 450 Mehr über ihn bringt Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 116–131: „Der glücklose König Konrad I. 911–918“. 451 Weiter vorn in diesem Kapitel habe ich darauf hingewiesen, daß Unterworfensein unter Grundherrschaft in sehr verschiedenen Formen und Abhängigkeitsstufen vorkommt, was ich hier in Erinnerung zurückrufe. Das ist aber nur das eine, zum anderen hat sich im Lauf des Mittelalters die grundherrschaftliche Landnutzung sehr gewandelt, was sich auf das Verhält-

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in Sachsen (dieses im mittelalterlichen Verständnis) und in einigen Alpentälern (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 55). „Grundherrschaft“ ist ein moderner (18./19.  Jh.) geschichts- und rechts­ geschichtswissenschaftlicher Ordnungsbegriff, ein Terminus der Fachsprache. Das Wichtigste zur Vorgeschichte der Begriffsbildung nennt Schulze, hier „Grundstrukturen …“, Bd. I, S. 95 f. – Die spätrömischen und die germanischen Wurzeln dessen, jetzt in sachlicher, nicht in begrifflicher Hinsicht gemeint, was bei den Historikern später „Grundherrschaft“ genannt worden ist, habe ich vorne in diesem Kapitel schon genannt, die römischen, soweit für unsere Zwecke erforderlich, schon beschrieben. Weil Grundherrschaft im Mittelalter die landwirtschaftliche und zunächst überhaupt noch die wichtigste wirtschaftliche Grundlage für das dann sehr komplex werdende Sozial- und Herrschaftssystem war, sehen wir uns zunächst an, was Historiker darunter verstehen. Ich zeige es anhand von Schulze (Grundstrukturen, Bd. I, S. 96 ff.): „Unter ‚Grundherrschaft‘ wird im folgenden die Herrschaft über Personen verstanden, die von einem Grundbesitzer Land zur Bearbeitung und wirtschaftlichen Nutzung in eigener Regie erhalten haben. … . Als Gegenleistung für die Nutzung von Grund und Boden schulden die damit Beliehenen (‚Grundholden‘ oder ‚Hintersassen‘) ihrem Grundherrn Abgaben und vielfach auch Dienstleistungen (‚Frondienst‘452). Grundherrschaft beruht also primär auf der Verfügungsgewalt des Herrn über Grund und Boden, … . 1. Der Grundholde erwirbt Rechte an Haus und Hof, Grund und Boden, die über bloß … Nutzungsrechte, wie sie ein Pachtvertrag vermittelt, im allgemeinen hinausgehen. … Das weit verbreitete Erbzinsrecht gestattete die Vererbung an die Nachkommen. … Solange der Grundholde den Verpflichtungen, die auf dem Leihegut lasteten, regelmäßig nachkam, hatte der Grundherr kaum die Möglichkeit, das Gut wieder an sich zu bringen. … 2. Aus der Verfügungsgewalt über Grund und Boden ergaben sich Herrschaftsrechte über Personen … . … Die Hintersassen waren ihrem Herrn gegenüber zu Treue und Gehorsam verpflichtet. Dieses persönliche Abhängigkeitsverhältnis wurde vielfach durch eine Art ‚Huldigung‘ in feierlicher Form manifest gemacht. Die alten Bezeichnungen ‚Grundholden‘ oder ‚Holden‘ für die abhängigen Bauern belegen diese personenrechtliche Seite der Beziehungen. Auf der anderen Seite erwarteten die Hintersassen von dem Herrn die Gewährung von ‚Schutz und Schirm‘“ „in wirtschaftlichen Notlagen“, „vor Gericht, …, vor Brandschatzung und Gewalt. … 3. Der Grundherr übte im Bereich seiner Grundherrschaft oft Rechte aus, die nach den … [modernen] juristischen Vorstellungen öffentlich-rechtlicher Natur … [wären]. Er besaß im Rahmen seiner Grundherrschaft eine Gerichtsbarkeit in bezug auf Rechtsfälle, die sich aus den Beziehungen zwischen dem Grundherrn und den Hintersassen oder den nis von Grundholden und Grundherr ausgewirkt hat. Darauf gehe ich hier nicht ein, verweise statt dessen auf Dollinger, S. 112–139, der (S. 84–191) überhaupt eine von den Quellen her besonders gut fundierte Darstellung aller Aspekte der Grundherrschaft gibt und dabei nicht nur Bayern, sondern den ganzen deutschsprachigen Raum, außerdem besonders Frankreich überblickt. – Mehr über Grundherrschaft auch bei Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 95–157. 452 Hier haben wir eines der ganz wenigen heute noch verwendeten Wörter aus der Wort­ familie um frō, von Hause aus: der im Rang weiter vorn (s. engl. first) Stehende, der Ranghöhere, später mißverstanden bzw. umgedeutet zu: Herr (Kluge, 22. Aufl., „Frau“, S. 230, und „Fron“, S. 234).

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Hintersassen untereinander ergaben. Dem Grundherrn oder seinem Beauftragten kam die Leitung des grundherrlichen Hofgerichts zu, in dem die Urteile nach dem jeweils geltenden Hofrecht gefunden wurden. Die Grundherrschaft präsentiert sich als ein besonderer, dem Hofrecht453 unterworfener Gerichtsbezirk. Der Grundherr besaß eine gewisse Zwangsgewalt gegenüber den Hintersassen in allen hofrechtlichen Angelegenheiten. Er hatte für die Erzwingung der Urteile des Hofgerichts Sorge zu tragen, … . Falls ein Grundherr [z. B. eine kirchliche Einrichtung] die Immunität [Freistellung von der ordentlichen Gerichtsbarkeit] besaß, konnte dies zu einer mehr oder weniger vollständigen Zurückdrängung der Zuständigkeit des öffentlichen Richters aus dem Bereich der Grundherrschaft führen. 4. Ein Hauptmerkmal der mittelalterlichen Grundherrschaft ist ihre [oft, aber nicht zwangsläufig gegebene] Verbindung mit anderen Herrschaftsformen wie Leibherrschaft über Unfreie und Minderfreie, Schutzherrschaft über Freie …, Gerichtsherrschaft [in ordentlicher Gerichtsbarkeit], Vogteigewalt, Dorfobrigkeit oder Zwing und Bann.“

Damit sind auch bereits die wichtigsten anderen Herrschaftsformen genannt, die es im Mittelalter an der oder nahe der Basis des Gemeinwesens sonst noch gab. Hier nur etwas zur Leibherrschaft, die nicht bloß vom Eigentum am (an Hinter­sassen vergebenen) Grund und Boden resultierte, sondern aus der „Leibeigenschaft“ stammte, also aus der persönlichen Abhängigkeit, was, für unsere Zwecke verkürzt formuliert, in der Regel stärkeres Beherrschtwerden bedeutete („leib­eigen“ aus mit dem lībe eigen, zu mhd. und ahd. līb/līp(h), aus germ. *leiba = „Leben“; Kluge, 23. Aufl., S. 511). – Der Zustand des ostfränkisch-deutschen Reichs – als Herrschaftssystem – hat sich erst nach Konrads  I. Tod, 918, zum Guten verändert, wozu allerdings der „glücklose König“ noch den Anstoß gegeben hat. Damit gemeint ist jenes berühmte, in Einzelheiten legendenhaft überlagerte, im Kern aber nicht umstrittene seitens König Konrad vor seinem Tod zugunsten seines Widersachers Herzog Heinrich abgegebene Votum, der Sachsenherzog solle, weil er sich besser eigne, zu Konrads Nachfolger als König erhoben werden. Das ist dann 918 auch geschehen, zunächst nur seitens der Franken und der Sachsen. Wegen der herausragenden Persönlichkeit des Königs schlossen sich sehr bald die Bayern, die Schwaben und die Thüringer an, 925 Lotharingien454 und Friesland. Zum Geschehen an der Spitze des Systems während der folgenden Jahrhunderte hier nur dies: 924 kam der nächste große Einfall der Ungarn, nach Sachsen, mit Verwüstung des Landes. König Heinrich I. hat damals noch keine Schlacht gewagt. Seine – wie sich dann zeigte – weitsichtigen Planungen sind erst kurz danach erkennbar geworden, sie waren allerdings wegen eines glücklichen Umstands schneller zu verwirklichen. 924 war ein ungarischer Fürst, vielleicht aus dem führenden Geschlecht der Arpaden, gefangengenommen worden. König Heinrich I. erreichte in Freilassungsverhandlungen einen Waffenstillstand, der 926 beginnen und neun Jahre lang gelten sollte, und zwar – was für das Ansehen des Königs wichtig war – für das 453

Speziell zum Hofrecht s. Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 143 ff. Den sehr komplexen Vorgang bringt mehr detailliert H.-W. Herrmann, Von der frän­ kischen Landnahme, hier S. 47–56. 454

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ganze Reich, nicht nur für Sachsen, bei allerdings Tributzahlungen an die Ungarn (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 156). Heinrich I. setzte auf dem Hoftag von Worms Ende 926 im Einvernehmen mit den Großen eine Verbesserung der Wehrverfassung durch und mit der „Burgenordnung“ den Bau von Burgen,455 „flächendeckend456 im ganzen Reich. … . Man brauchte eine ständige Besatzung, um die Burgen vor Überraschungsangriffen zu sichern. Ein stehendes Heer gab es … nicht, und seine Vasallen und Gefolgsleute brauchte der König als ständige Begleitung … . Also griff er auf das Volksaufgebot zurück, … .“ Für den sozusagen Bewegungskrieg war das Volk immer seltener aufgeboten worden, es war aber noch zur „Landwehr“ verpflichtet. Der Mönch und Geschichtsschreiber Widukind von Corvey (um 925 bis nach 973) hat in seiner „Sachsengeschichte“, Buch I, Kap. 35, beschrieben, daß der König aus je neun Bauernkriegern (agrarii milites) einen herausgenommen habe, der auf der Burg zu wohnen hatte, um dort „Unterkünfte zu bauen, Vorräte anzulegen und sich gewiß auch in den Waffen, speziell im Verteidigungskrieg, zu üben“ (S. 156 ff.). „Sein Hof wurde von den anderen mitbewirtschaftet. Außerdem sollte der dritte Teil des gesamten Ernteertrages als Proviant auf die Burgen gebracht werden. Die verschiedenen Zusammenkünfte der Bevölkerung wie Beratungen, Gerichtsversammlungen und Feste (concilia et omnes conventus atque convivia) sollten dort stattfinden, damit sich die Bevölkerung an das Aufsuchen der Burgen gewöhne“ (Schulze, hier „Grundstrukturen …“, Bd. II, S. 92 f.), um „sie mutig zu verteidi 455

Schulze (Hegemoniales Kaisertum, S. 158) sagt dazu: „Den Ruf eines ‚Städtegründers‘ genießt Heinrich jedoch ganz unverdient. Städte waren es nicht, was er damals schuf, sondern Burgen. …, es ging um feste Plätze im Kampf gegen die Ungarn.“ Der Irrtum geht auf das – inzwischen in seiner Herkunft verständliche – Begriffsdurcheinander zurück, das wir in dieser Sache aus Kap. B. I.7. kennen. – So wie der König Reichsburgen errichtete, befestigten die Bischöfe und Äbte ihre Sitze bzw. Klöster, und Schulze (ebenda) fügt an, daß auch weltliche Herren damals Burgen errichtet haben, „auch wenn dies nicht ausdrücklich überliefert wird“. Außer für die Verbesserung der Verteidigungskraft hat der König für die Bildung und Schulung eines Reiterheeres gesorgt. Einzelheiten brauchen wir nicht. Überhaupt will ich hier nur noch die Ergebnisse und wichtige Folgen jener auf dem Hoftag von Worms 926 gefaßten Beschlüsse zu Heinrichs I. Vorschlägen kurz zu Ende darstellen, die ich oben im Text, aus unseren ganz anderen Gründen, auf unserer Hauptlinie genannt habe. – Schon vor Ablauf der neun Jahre hat Heinrich  I. die Tributzahlung an die Ungarn ein­ gestellt, die daraufhin 933 mit zwei Heeren in Thüringen einfielen. Das eine ist von thürin­ gischen und sächsischen Aufgeboten zersprengt, das andere an der Unstrut von einem vom König angeführten großen Heer aus Aufgeboten aller deutschen Stämme besiegt worden. Wenn das auch keine schwere kriegerische Niederlage der Ungarn war – die meisten konnten entkommen –, verloren die Ungarn 933 doch den Nimbus der Unbesiegbarkeit (S. 163). Das Ende der Ungarn-Einfälle kam aber erst mit dem Sieg des von Otto I., dem Sohn König Heinrichs, angeführten großen Reichsheeres auf dem Lechfeld bei Augsburg, 955. – Das Ansehen König Heinrichs im ganzen Abendland wuchs aber noch mehr, als Heinrich es wagte, die Dänen nun in ihrem eigenen Land anzugreifen (S. 164). 456 Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 93: „Schwerpunkte“ aber wohl „Thüringen und das östliche Sachsen“.

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gen, statt furchtsam in die Wälder zu flüchten“ (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 157). Heinrich I. hat in dieser Sache damit Elemente des politischen Systems der germanischen Stämme reaktiviert, eine Rückkehr zum politischen Gemeinwesen – durchgängig  – brachte das aber nicht mehr; dafür waren die Verhältnisse doch schon zu sehr von Herrschaft geprägt. – Die wichtigsten Veränderungen an der Spitze und an der Basis kennen wir nun. Zwischen Spitze und Basis gab es abgestuft Herrschaftsverhältnisse. Zwar hat das karolingische Königtum versucht, durch die Einführung eines auf den König zu leistenden allgemeinen Treueids eine Art Untertanenverband des Reiches zu festigen – „Untertanen“ noch lange nicht im Sinne der dem absolutistisch regierenden König oder Fürsten unterworfenen Staatsangehörigen (vgl. dazu Kap. B.II.2.d)). Den Eid forderte der König nicht als Lehnsherr, sondern als – wie es bei den Hi­ storikern heißt – Reichsoberhaupt, als derjenige, dem in der Nachfolge des germanischen Stammesanführers (des princeps, wie Tacitus ihn nennt) das Recht zum Aufgebot aller Freien457 zustand. Generell lief die Entwicklung jedoch auf eine Feudalisierung der Reichsverfassung hinaus (diese dann sehr stark ent­wickelt im 12.  und 13.  Jahrhundert  – welche Entwicklung ich nicht näher beschreibe), auf eine, abgekürzt formuliert, abgestufte Herrschaft von oben nach unten bzw. abgestufte Abhängigkeit von unten nach oben. Es ist das „Lehenrecht, mit dem vor allem die Herrschaft auf verschiedenen Ebenen organisiert und damit die Verfassung weitgehend bestimmt wurde“ (Rödel, S.  34). In der „Lehnspyramide“ behauptet der König den Anspruch der Position der Oberlehnherrschaft. Der König vergibt Grundbesitz, bald auch Ämter und Regalien, an die Kronvasallen (Herzöge, Pfalz-, Mark-, Land- und Burggrafen, Bischöfe, Reichsäbte), gegen HofFahrt, Kriegs- und Amtsdienste, bei wechselseitiger Treueverpflichtung. Die Kronvasallen verleihen Grundbesitz, Ämter und Rechte an „Aftervasallen“ (Ritter, Dienstmannen/Ministeriale und Äbte), gegen Kriegs- und Amtsdienste, auch hier bei wechselseitiger Treueverpflichtung. Die „Aftervasallen“ geben Grund und Boden und bieten Schutz den Hintersassen und leibeigenen Bauern, gegen Ab­ gaben und Arbeitsdienste.458 Das Erblichwerden von Lehen, de facto, später z. T. auch de iure, hat die Möglichkeiten des Königs (Einzug des Lehens, Neuvergabe oder gar Einbehaltung) 457 Nicht systematisch war, daß der König diesen Eid auch von Vasallen forderte, die nur sozusagen halbfrei oder gar unfrei, aber vom König mit einem beneficium, einem Lehen, aus­ gestattet und von daher im Vergleich mit den meisten noch Freien besser ausgerüstete Krieger waren. Mittels des Eides an den königlichen Lehnsherrn versuchte dieser, die „aufsteigende soziale Schicht an sich zu binden“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 61 f.). – Die Entwicklung im Mittelalter zeigt viele solcher Inkonsequenzen, mittels derer gegenläufige Trends aufgefangen werden sollten. 458 In der Wirklichkeit gab es Abweichungen von dem, was die Lehnspyramide sehen läßt. Ich nenne nur eine. Auch der König hatte Dienstmannen, schon in karolingischer Zeit, wie wir aus dem Text weiter vorn wissen. Zu den Ministerialen s. B.II.1.c) in bezug auf „Amt“.

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immer mehr eingeschränkt. Die Entstehung von Doppelvasallitäten aus der Lehensnahme von zwei oder gar noch mehr Lehnsherren459 (womöglich solcher außerhalb des Reiches), die unter Umständen widerstreitende Interessen verfolgten  – und solche Umstände waren immer wieder einmal gegeben, im ganzen zunehmend  –, hat Lehnsnehmer nicht selten, zuweilen erwünschtermaßen, daran gehindert, ihrer Verpflichtung zur Treue und Heerfolge nachzukommen. All das hat, besonders im Heiligen Römischen Reich, zur Schwächung der Königsherrschaft geführt – was dann aber auch hier nicht etwa eine Rückkehr vom Herrschafts­system zum politischen Gemeinwesen erbracht hat, sondern eine Verlagerung der Gewichte innerhalb des mittelalterlichen Herrschaftssystems vom König weg auf die Ebene darunter. In Frankreich, dessen Könige in spätkarolingischer Zeit noch sehr viel stärker von den Großen des Reiches abhängig gewesen waren als die meisten Könige des ostfränkisch-deutschen Reiches, hat das Königtum im Hochmittelalter seine Herrschaft aber gestärkt, indem es den Untertanen-Eid auch der Untervasallen gegenüber dem König und den Treuevorbehalt bei Doppelvasallität dauerhaft durchsetzte (in England ähnlich).460 Die schwache Stellung des deutschen Königs/Kaisers war aber auch Folge der Auseinandersetzungen mit dem Papsttum, besonders ab Heinrich IV. und Papst Gregor VII., Auseinandersetzungen, in denen die deutschen Fürsten ihre Unterstützung für König bzw. Kaiser oft von dessen Zugeständnissen zugunsten der Fürsten und deren Stellung im Reich abhängig machten. Das gehört dann schon in die Thematik von Kapitel B.II.2.a). Die Nennung der abgestuften Lehnrechtsverhältnisse mit Feudalisierung der Reichsverfassung genügt allerdings noch nicht zur Charakterisierung dieses mittelalterlichen Herrschaftssystems. Die Königswahl stammt nicht aus dem Lehns-, sondern ursprünglich aus germanischem Stammesrecht, das Kurfürstenkollegium ist Ergebnis einer komplexen Entwicklung, deren eine und wohl Hauptwurzel die Gefolgschaft des germanischen Anführers, deren andere spätrömischer Pro­venienz ist (siehe weiter vorn in diesem Kapitel), eine Entwicklung, die vom Merowingerreich – keineswegs gradlinig – über die „Großen des Reichs“ der Karolingerzeit, die „neuen Stammesherzöge“ im ostfränkisch-deutschen Reich, die weltlichen und geistlichen Reichsfürsten im Sacrum Imperium zu den (zunächst sieben) Kurfürsten führte. Das Verhältnis der Reichsstädte zum Königtum war nicht lehnsrechtlicher Natur; die Reichsstädte (und Reichsdörfer) waren königliche Gründungen auf Reichsgut oder königlichem Hausgut, die Reichsministerialen des Mittelalters vom König ernannte und für verschiedene Dienste verwendete von Hause aus unfreie Reichsbeamte (mehr dazu in B.II.1.c)). Die oberste Gerichts-

459 Entstanden vor allem infolge Vererbung von bei einer Heirat eingebrachten Lehens­ ansprüchen. 460 Zur Sonderform der ligesse, einer vasallitischen Treueverpflichtung im Fall von Mehrfachvasallität, in Frankreich ab Ende 11. Jh., sowie in England, ferner zum gescheiterten Versuch Friedrichs I., „Barbarossa“, in dieser Sache s. Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 80 f.

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herrschaft des deutschen Königs war nicht lehnsrechtlicher, sondern „landes­ rechtlicher“ Natur, zurückgehend auf germanisches Stammesrecht. Wenngleich im mittelalterlichen System des Heiligen Römischen Reichs, aber nicht nur dort, in einzelnen Dingen also noch Nachklänge aus der Zeit des poli­ tischen Gemeinwesens zu vernehmen sind, hat im ganzen doch Herrschaft das Politische abgelöst. Thematisch würde sich jetzt anschließen können, wie sich dann auch in den Städten die Verwandlung von Genossenschaft in Herrschaft vollzogen hat. Um nicht wiederholen zu müssen, bringe ich das in B.III.1.d), wo ich aus anderen Gründen sowieso mehr über die Städte im Mittelalter sagen muß. b) Verlust der Öffentlichkeit. „Rhetorik“ im Mittelalter Der Verlust der allgemeinen Volksversammlung mit Mitsprache und Mit­ entscheidung aller Glieder des fränkischen461 Gemeinwesens hat zum Verlust der Öffentlichkeit geführt und das Gros der Glieder des Gemeinwesens „sprachlos“ und unpolitisch werden lassen. Von Peter Dronke fand ich eine Untersuchung über „Mittelalterliche Rhetorik“. Der Titel war vielversprechend. Ich hoffte, dort womöglich sogar etwas über im Mittelalter tatsächlich gehaltene Reden zu finden. Dronke schreibt jedoch nicht über Reden, sondern über Literatur über Rhetorik im Mittelalter. In keinem Fall haben wir Empirie der mittelalterlichen Rhetorik. Bei den Beispielen, die Alanus ab Insulis für die artes praedicandi publiziert hat (Dronke, S. 189), sind wir der Empirie (selbstverständlich nur relativ) einigermaßen nahe, weil sich in den Beispielen und Mustern zweifellos Erfahrung niedergeschlagen hat, entsprechend bei

461 Auch bei den anderen germanischen Stämmen, die ebenfalls auf zuvor römisch beherrschtem Gebiet Reiche gegründet haben, ging die für das politische Gemeinwesen charakteristische Institution Volksversammlung verloren, nach und nach auch bei denjenigen germanischen Stämmen, die dann zusammen mit den Franken das Frankenreich bildeten; am längsten blieb sie dort bei den Sachsen erhalten, deren Vorfahren allerdings auch weniger Kontakt mit dem römischen Reich gehabt hatten. Und so ist es (Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 31) „kein Zufall, daß sich die Volksversammlung im skandinavischen Raum [dieser noch weiter vom römischen Einfluß entfernt], wo sich archaische Verfassungsverhältnisse bis ins Hochmittelalter konserviert haben, besonders lange gehalten hat.“ – Wir kennen ähnliche Einschätzungen (als „primitiv“ u. ä.) aus Kap. B.I.8., dort, wo es zum einen um die „dunklen“ Frühphasen der griechischen Gemeinwesen, zum anderen um die Stämme im Norden der ägäischen Halbinsel geht, bei denen sich die mitgebrachten, echt politischen Verhältnisse länger erhalten haben. – Schulze (S. 33) ergänzt, daß bei den Stämmen des deutschen Reiches zwar gelegentlich noch Stammesversammlungen stattfanden, so etwa „zur Vorbereitung der Königswahl oder anläßlich der Huldigung“, mehrfach auch „während der Auseinandersetzungen der Sachsen und Thüringer mit Heinrich IV.“, daß „diese Zusammenkünfte“ aber „keine feste verfassungsrechtliche Institution mehr“ gewesen sind.

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den „vielen Musterbriefen“ des Albertus Samaritanus aus Bologna.462 Aber wir sind damit nicht im Zentrum des Gemeinwesens, auch wenn für die Menschen im Späten Mittelalter, jetzt aber in den Städten, die Verkündigung des Wortes Gottes in der Predigt wieder463 wichtig wurde. Den publizistischen Aspekt vor allem der franziskanischen Predigtaktivitäten im Rahmen der mittelalterlichen Friedens­ bewegungen kann ich hier nicht darstellen, verweise aber auf Kapitel B.II.1.d), wo ich, fast gegen Ende, andere publizistische Aktivitäten des Augsburger Franziskanerkonvents nenne, die nur im Zusammenhang des in jenem Kapitel Behandelten besser verständlich sind. Alle angehende Angelegenheiten sind den Gliedern des Gemeinwesens, als das System seinen politischen Charakter verloren hatte, bloß noch nachträglich zur Kenntnis gebracht worden. Nach der Entscheidung waren sie Inhalt von „Kapitularien“, d. h. von vom König erlassenen464 Reichsgesetzen. Diese regelten Finanzen, Verwaltung und Rechtspflege, Unterricht und das, was man später Kirchenzucht genannt hat, sowie Handel und Verkehr (Mühlbacher, S. 18). „Durch Abschriften wurden sie amtlich publiziert“ (ebenda). Außer den Kapitularien gab es königliche Verordnungen sowie Instruktionen an die Königsboten. Für die Bekanntmachung 462 Während das, was ich oben für das Ende des 4. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts genannt habe, an Empirie nur wenig heranreicht, geht Werner Faulstichs „Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter, 800–1400“ thematisch in die Empirie. Leider hat die Arbeit für unsere Zwecke zwei entscheidende Nachteile, zum ersten, daß Faulstich sein Mittelalter erst mit 800 beginnen läßt, erst mit einer Zeit, in der die wichtigste, die für das politische Gemeinwesen entscheidende Öffentlichkeit, die allgemeine Volksversammlung aller Freien, praktisch schon verlorengegangen war. Es ist allerdings nicht so, daß Faulstich bei 800 n. Chr. anfängt, weil er herauskriegen will, was es da ab 800 (leider nur) n o c h gab, er hat vielmehr den zunehmenden Verlust von Öffentlichkeit auf dem abendländischen Festland zwischen 4. Jahrhundert und Karl dem Großen nicht bemerkt. Sein Begriff von Öffentlichkeit ist dann auch schwammig: Er hat ein System „spezifischer, markant unterschiedlicher Teil- oder Binnen­ öffentlichkeiten,  … [von] Kommunikationsräumen“ (S.  9). So firmieren der Hof der mittelalterlichen Ritterburg (S. 49), das Kloster (S. 101) u. a. m. jeweils als „Teilöffentlichkeit“, während sie in Wirklichkeit doch Absonderungen vom Gemeinwesen sind, das seine Öffentlichkeit ja gerade verloren hat (s. dazu die Kap. von B.III.). Faulstich bleibt im vordergründigen Bereich von „Medien“ und „Kommunikation“. Medien, die er beschreibt, sind z. B. der Hofnarr (auf der Ritterburg), Bauernspiele, Volksbräuche, Feste; Erzähler und Erzählerin von Märchen und Geschichten (auf dem Land), Bibliotheken und Skriptorien (im Kloster) und noch manches andere  – alles sehr wohl nützliche Untersuchungen, aber eben nicht zur Publizistik. 463 Das „wieder“ nimmt Bezug auf die Missionierungen seitens iro-schottischer Mönche in merowingischer Zeit und seitens vieler anderer Mönche bzw. Apostel, von denen Bonifatius nur der bei uns bekannteste während der Karolingerherrschaft ist. Das historische Umfeld hatte sich bis zur Zeit der umfangreichen Predigt-Tätigkeit der Bettler-Orden der Franziskaner und Dominikaner, aber auch von Albigensern, Waldensern u. a. m. selbstverständlich sehr verändert; das muß ich aber unerörtert lassen. 464 Wir wissen aus B.II.1.a): Kein germanischer Anführer (princeps) konnte Gesetze er­ lassen. Recht konnte nicht geschaffen, bestehendes Recht nur gewiesen werden. – Die Legitimation der Gesetzgebungskompetenz hat sich Karl d. Gr. aus dem Gesetzgebungsrecht der antiken römischen Kaiser hergenommen.

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dessen, was alle Glieder des Gemeinwesens wissen und beachten sollten, hatten die Grafen in ihren Grafschaften (oder Gauen oder Civitates) zu sorgen. Die amtliche Bekanntmachung war Voraussetzung für die Rechtskraft.465 Für die Ausfertigung des authentischen Textes der Kapitularien, für die Anfertigung der benötigten Abschriften, für die Legitimation der Königsboten und für deren Instruktionen – bei allgemeinen Anweisungen pro Sprengel mindestens ein Exemplar – und für anderes Schriftliche sorgte die in anderem Zusammenhang in B.II.1.a) beschriebene königliche Kanzlei, die dafür fachlich geschultes Personal in größerer Zahl brauchte (Mühlbacher, S. 273). Zusammengefaßt heißt das: Die amtliche Publizistik war Aufgabe vor allem der Grafen,466 auf der Grundlage der Schreibarbeit der Kanzlei. Ergänzend wirkten die Königsboten (abgesehen von deren anderen, vor allem Kontrollaufgaben). Besser hierher paßt das Folgende, obwohl der Sachverhalt erst ans Ende des Spätmittelalters gehört. Es war seinerzeit mehrmals beobachtet worden, daß unzureichende Veröffentlichung geltender rechtlicher Regelungen Mitursache von Rechtsunsicherheit gewesen ist. Auch die „Goldene Bulle“ von 1356 (Nürnberg/ Metz; zum Begriff Goldene Bulle Boockmann, S. 267) ist erst nach Jahrzehnten allgemein bekannt gewesen. Das auf Veranlassung von König Friedrich III. auf dem Reichstag von 1442 (Frankfurt am Main) beschlossene Gesetzeswerk betr. den Landfrieden ist (so Boockmann, S. 329) „der erste Text dieser Art in Deutschland, der [sieht man von der Herstellung von Abschriften in den karolingischen Kanzleien und der anschließenden mündlichen Bekanntmachung seitens der Grafen in ihren Grafschaften bzw. Civitates ab] planmäßig publiziert wurde.  …  . Der Frieden von 1442 wurde sofort und mit Erfolg verbreitet; man sieht das noch an den vielen Handschriften …, die sich von ihm erhalten haben.“ (Eine andere

465 Mühlbacher (S. 213) beschreibt einen konkreten Fall, der allerdings noch über das Normale hinausging: Karl d. Gr. hatte Zusätze zu den Bestimmungen der bestehenden Stammesrechte verfaßt, Zusätze, die im ganzen Frankenreich und im Lombardenreich (Italien) gelten und deshalb in die bestehenden Stammes- bzw. Volksrechte eingefügt werden sollten. Der konkrete Fall, den Mühlbacher schildert, betrifft die Publikation in Paris (dort offenbar für mehrere Grafschaften, Sprengel und Klöster gleichzeitig). Hier galt salisches Stammesrecht. „So ist bezeugt, daß ein Graf Stephan dieselben zu Paris im öffentlichen Ding [Thing] publizierte; die ganze Versammlung stimmte zu[,] und die Schöffen, Bischöfe, Äbte, Grafen unterfertigten sie eigenhändig.“ Zustimmung und Unterschriftsleistung waren erforderlich, weil es nicht um irgendein Gesetz, sondern sozusagen um Verfassungsrecht ging. Allerdings ist die Zustimmung aller auch hier offenbar für selbstverständlich erachtet worden. Weil in Italien die amtliche Bekanntmachung zunächst unterblieben war, gab es dort An­ erkennungsverweigerungen. Karl d. Gr. hat daraufhin seinen Sohn Pippin (seitens Karl als König der Langobarden eingesetzt) angewiesen, die Publikation nachzuholen (ebenda). 466 Normal war offenbar, daß der König Kapitularien, Verordnungen und Instruktionen für die Königsboten „auf  … Reichstagen, in Salz [Elsaß], Diedenhofen, Nimwegen, meist zu­ Aachen, … [einmal] auch in Boulogne gegeben“ hat (Mühlbacher, S. 213), bei welchen Ge­ legenheiten die meisten Grafen sowieso anwesend waren.

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Sache ist es allerdings, daß dieses Gesetz von 1442 noch kein unbedingtes Fehdeverbot gebracht hat; dazu siehe den Schluß von B.II.1.d).) Über Publizistik in dem Sinne, daß jemand zu der Zeit, in der es die allgemeine Volksversammlung für das Frankenreich schon nicht mehr gab, zu für das Gemeinwesen wichtigen Angelegenheiten „öffentlich“ (dazu weiter unten mehr) Stellung bezogen hat, schreibt Mühlbacher (S. 391 f., ferner S. 13): Der „erste Publizist des Mittelalters im modernen Sinn“ war Agobard, 816–840 Erzbischof von Lyon, also zur Zeit Ludwigs des Frommen. Mühlbacher erwähnt Agobards „gewandte Feder“ bei der „Erörterung der wichtigen Tagesfragen“467. Der Kirchenfürst hatte übrigens schon 814 in „Flugschriften“ nicht bloß Aberglauben bekämpft, auch die „unchristliche ‚Absurdität‘“ nicht nur des gerichtlichen Zweikampfs, sondern „der Gottesurteile überhaupt als Ersatz des Zeugenbeweises“ und noch manches mehr, das ich beiseite lasse. Nennen muß ich seine Publizistik in den Auseinander­setzungen der Söhne Ludwigs des Frommen mit dem Vater (dazu B.II.1.a)). Zunächst hat Agobard an den Kaiser das Schreiben „‚Über die Reichsteilung‘“ ge­richtet, in dem er für das Reichsgrundgesetz von 817 und für die Einheit des Reiches eintrat und dem Kaiser vorwarf, „durch seine Sinnes­änderung die Auf­lehnung verschuldet zu haben“. 833 verfaßte er zwei Flugschriften zur Sache. „‚Höret es, alle Völker‘,468 beginnt die erste“, „als der Kaiser den Heerbann gegen die Söhne aufbot, ‚die Erde höre es … vom Sonnenaufgang bis zum Untergang, vom Norden bis zum Meer, wisset und erwägt es, daß die Söhne des Herrn Kaisers Ludwig mit Recht erzürnt … sind, daß sie mit Recht daran denken, danach streben, den Hof des Vaters von dem Schmutz der Schandthaten und dem schmählichen Parteigetriebe, das Reich von dieser bitteren und tumultreichen Beunruhigung zu reinigen.‘“ Agobard nahm scharf Stellung wegen der Schwäche des Kaisers, gegen das Regiment und die Intrigen der Kaiserin Judith und wegen „des frevlen Spieles mit den geforderten Treueiden“ (Mühlbacher, S. 392). – Wir dürfen „alle Völker“ selbstverständlich nur auf die damals bekannte Welt beziehen; speziell sind die Völker des Frankenreichs und des Langobardenreichs gemeint. Tatsächlich werden, direkt oder indirekt, kaum mehr als die weltlichen und geistlichen Großen beider Reiche den Inhalt von Agobards publizistischen Aktionen gekannt haben, aber in dessen Sicht war das die Öffentlichkeit „aller Völker“ jener Zeit.

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„Tagesfragen“ ist freilich falsch, nicht nur im wörtlichen Sinn; auch von der Sache her ist Agobard gerade nicht ein lediglich Journalist gewesen. Die Bezeichung Publizist trifft den Sachverhalt gut.­ 468 Da haben wir das „An alle“ schon gut tausend Jahre vor dem berühmt gewordenen So­ wjet-Funkspruch „cq, cq! …“ („An alle, an alle! …“) von 1917, mit dem, der Idee gemäß, die publizistische Rolle der Radiowellen begonnen hat, aber es entstand kein politisches Gemeinwesen, sondern eine Diktatur. (Zuvor ist das Signal „cq, cq“ schon im internationalen Funkverkehr der Schiffahrt benutzt worden. Das war zwar Nachrichtenübermittlung, aber noch nicht Publizistik.)

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Schriftliche publizistische Aktivität ähnlicher Relevanz, hier aber von königlicher Seite, gab es erst wieder 1076 von Worms aus, im Rahmen der schweren Auseinandersetzungen zwischen dem Papst, Gregor VII., auf der einen Seite, der vom König strikt Gehorsam und die Unterordnung des Reiches unter die vom Papst repräsentierte Kirche verlangte, und dem deutschen König, Heinrich IV., sowie den wichtigsten Vertretern des deutschen Episkopats („selbstbewußten und adelsstolzen Herren“, voll „Abneigung gegen die zentralistischen Bestrebungen des päpstlichen Stuhles“) auf der anderen Seite (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S.  420). „Sechsundzwanzig Erzbischöfe und Bischöfe unterzeichneten das berühmte ‚Wormser Absageschreiben‘ an den ‚Bruder Hildebrand‘ und kündigten ihm den Gehorsam auf“ und begründeten das. „Auch der König erhob schwere Vorwürfe gegen den Papst und sagte sich von ihm los. Kraft seiner Würde als Patrizius der Römer befahl er ihm, vom päpstlichen Stuhl, den er unrechtmäßig innehabe, herabzusteigen.“ Und nun kommt es: „In Form eines rhetorisch wirkungsvoll umstilisierten Manifests wurde der Brief des Königs vervielfältigt und im gesamten Reich verbreitet. Die Geistlichkeit und das Volk von Rom forderte Heinrich in einem Schreiben auf, den ‚Mönch Hildebrand‘ als ‚Eindringling in die Kirche, als ihren Bedrücker, als den hinterhältigsten Feind des römischen Gemeinwesens und des Reiches‘ davonzujagen und im Einvernehmen mit den Bischöfen einen vom König eingesetzten Papst anzuerkennen. Es waren die Anfänge einer gezielten ‚staatlichen Propaganda‘“ (S. 421).

„Staatlich“ war sie natürlich noch nicht, sondern herrschaftlich und offiziell, mit dem Namen des Königs, für das Reich. – Da es mir nicht auf Propagandawirkungsforschung ankommt, auch nicht auf die Geschichte des Investiturstreits, kann ich die Darstellung der Reaktion Gregors VII. weglassen und auf Schulze (ebenda) verweisen. Ich nenne hier noch die ab der Mitte des 11. Jahrhunderts einsetzende publizistische Theorie, im Sinne einer Theorie des – wie das später genannt wurde – Öffentlichen Rechts. Ihre Anfänge liegen schon in vorgregorianischer Zeit (bei Petrus Damiani und anderen), voll entfaltet wurde sie aber in jenen Auseinandersetzungen zwischen König bzw. dann Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, erwähne ich an deutschen Autoren auf seiten des Kaisers: Wenrich von Trier, Wido von Osnabrück und den namentlich nicht bekannten Autor der Schrift „De unitate ecclesiae conservanda“, in der es um die Gottunmittelbarkeit des weltlichen Regiments geht, um ein Thema, das wir aus anderen Zusammenhängen schon kennen. Der bekannteste Anhänger Gregors VII. unter den Publizisten jener Zeit war Manegold von Lautenbach mit seiner Theorie der – neuzeitlich formuliert – Volkssouveränität (König vom Volk auf Zeit beauftragt, kann bei Pflichtverletzung, was der Papst überprüft, abgesetzt werden). Die in diesem Sinn „publizistische“ Auseinandersetzung erfuhr eine Neuauflage im Konflikt zwischen Papst und Kaiser Friedrich I. von Staufen, dann wieder zur Zeit Kaiser Ludwigs des Bayern, wo die bekanntesten „Publizisten“ der Italiener Marsilius von Padua in seiner den Kaiser bezeichnenden Schrift „Defensor

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pacis“ (= „Verteidiger des Friedens“), einer hier antipäpstlichen Volkssouveränitätslehre, und der aus England stammende, in München lebende Philosoph­ Wilhelm von Ockham gewesen sind. Danach und für lange Zeit, bis ins 19. Jahrhundert, ist „Publizistik“469 Öffentliches Recht und ist „Publizist“ Kenner/Vertreter/Wissenschafter des Öffentlichen Rechts gewesen. Die Wendung wieder hin zum Verständnis von Publizistik im Prinzip gemäß der Art, wie Mühlbacher Agobard als Publizisten charakterisiert hat, kam im 18., mehr noch im 19. Jahrhundert, als Autoren mit hohem Ansehen schriftlich, inzwischen natürlich gedruckt, in der „Presse“, zu alle angehenden Dingen, nicht nur solchen des Öffentlichen Rechts, Stellung nahmen. Das aber gehört thematisch nicht mehr hierher. c) Herrschaft und Amt Bisher noch, ohne nach der Ursprungsbedeutung des Grundwortes zu fragen, von dem unser Wort Herrschaft gebildet ist, habe ich Systeme als Herrschafts­ systeme bezeichnet, in denen die alle angehenden Angelegenheiten ohne Mit­ sprache aller, über deren Köpfe hinweg und nicht öffentlich entschieden werden, von nur wenigen oder von nur einem, der nur noch mit wenigen berät. Wesentlich für Herrschaft ist also Fehlen bzw. Verlust von Mitsprache, ist Fremdbestimmung. Wir wissen davon, daß die antiken griechischen Gemeinwesen zu Herrschaftssy­ ste­men verkommen sind, und wir haben in B.II.1. beobachtet, wie sich das fränkische politische Gemeinwesen zum frühmittelalterlichen Herrschafts­system verändert hat, außerdem, daß und wie immer mehr zuvor freie Bauern in Abhängigkeiten verschiedener Grade geraten sind, vor allem unter Herrschaft über Grund und Boden. Das Wort Herrschaft470 tritt ahd. auf als hērschaf(t), mhd. als hērschaft, gehört also zu „hehr“, hat bald aber auch die Bedeutung „Herr“. Unser „hehr“ ist ab dem 8. Jh. belegt als ahd. u. altsächs. hēr und dann mhd. als hēr(e); es geht zurück auf germ. *haira-, „grau(haarig)“, und wurde von dorther (über hohes Lebensalter) im Westgermanischen weiterentwickelt zu „ehrwürdig“. (*k̑ oiro- ist das idg. Farbadjektiv.) Der Komparativ zu hēr ist ahd. hēriro/hērōro, also „ehrwürdiger“, „besonders ehrwürdig“. Das führte zum Substantiv ahd. hērōro/hērro, mhd. hērre/herre, nhd. „Herr“; es wurde spätestens seit dem 8. Jahrhundert „verwendet im Anschluß an l[at]. senior471 in gleicher Verwendung (das eigentlich ‚der ältere‘ bedeutet)“. 469

So die reichhaltige Reichspublizistik des 18. Jh. – was ich hier nur sozusagen antippe. Das hier zur Etymologie Folgende ist aus Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 308 u. S. 317, sowie 23. Aufl. (Seebold), S. 363 u. S. 371, dazu auch S. 292 („Fürst“). 471 Seinerseits Komparativ zu senex, „alt, bejahrt“. Mittellat. senior war seit dem 6. Jh. geläufig (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 317). Das Zitat im Haupttext am Ende des Absatzes stammt aus der 23. Aufl. (Seebold), S. 371. 470

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Wenn Tacitus für seine Zeit, um 100 n. Chr., sagt (G., 11, siehe B. I.1.b)), in der Volksversammlung der Germanen hätten nach dem Anführer die Männer hohen Alters gesprochen, danach andere aufgrund anderer Qualitäten: nämlich Rang (dazu mehr im Annex, in Kapitel B. V.4.a)), Krieger-Ehre und rednerischer Begabung, wird das uns für damals im einzelnen nicht bekannte Wort, mit dem die Germanen selber die Männer hohen Alters bezeichnet haben, wohl aus dem Umfeld von germ. *haira-, „grau“, stammen. Ein ahd. fem. hērra zu mask. hērro war „von nur geringer ausbreitung und bald … wieder erloschen“.472 Es führt von der Wortbildung472 kein Weg zu nhd. „Herrin“.472 Dieses Wort ist unter ganz anderen Verhältnissen und aus anderen Bedürfnissen entstanden, als weibliche Entsprechung zu mask. „Herr“, so wie ital. signora dem mask. signore entsprach (Kluge/Götze, 16. Aufl.). Als hērro in schriftlichen Gebrauch kam – der mündliche Gebrauch muß natürlich älter sein –, gab es noch das ahd. mask. frō, dazu das fem. frouwa. In beiden in der Fußnote genannten etymologischen Wörterbüchern heißt es, frō bedeute „Herr“, frouwa „Herrin“.473 Das ist etymologisch nicht akzeptabel. In frō und frouwa474 steckt ein ganz anderer Sinn.475 Seebold hätte darauf kommen müssen, wenn er das ernst genommen hätte, was er selber über die Ausgangsbedeutung sagt: Die Wörter im Zusammenhang von frō und frouwa „gehören sicher zu den Erweiterungen von i[d]g. *per-, die ‚vorne, früh, erster‘ bedeuten (vgl. die Herkunft von Fürst aus derselben Wurzel).“476 Hier geht es also, statt um Ehrwürdigkeit hohen Alters wegen, um Rangunterschiede (noch nicht um „Adel“477 als Stand): „vorne“ und „erster“ sowie „Fürst“478 (heute noch in engl. first) lassen 472 Grimm, Wb., Bd. 10, Sp. 1145; dort zu nhd. „Herrin“: „vor dem 16. jahrh. nicht nach­ gewiesen“. 473 Das mask. frō ist bis auf Reste (Einzelheiten lasse ich hier weg) verlorengegangen, das ahd. fem. frouwa, mhd. vro(u)we dagegen als nhd. „Frau“ erhalten geblieben (Kluge, 23. Aufl., S. 283). 474 Das „w“ scheint im Germanischen für „weiblich“ zu stehen, hier für die weibliche Ausprägung von frō. Zu engl. man ist woman die weibliche Form. (Vielleicht ist das seitens der Germanisten längst besser belegt als nur in diesen beiden Fällen, und mir ist es dann bloß nicht begegnet.) 475 Selbstverständlich ist es von Interesse zu erfahren, welche Bedeutungen einem Wort in jüngerer Zeit unter veränderten Bedingungen oder aus Unverständnis beigelegt worden sind, Kernstück der etymologischen Aufgabe bleiben aber (soweit noch zu gewinnen) Antworten auf die Fragen nach Ursprung, Ausgangsbedeutungen und anderen frühen Bedeutungen. 476 Kluge, 23. Aufl., S. 283. 477 Dazu s. Kap. B. V.4.a) im Annex über die Legitimitätsprinzipien. 478 Unser „Fürst“ geht über mhd. vürste auf ahd. (u. altsächs.) furisto zurück, eine Substantivierung zum Superlativ germ. *furista-, „der erste“ (Kluge, 23. Aufl., S. 292). (Entsprechendes gibt es altnord. u. altfries.; altengl. fyr(e)st, woraus neuengl. first wurde.) Die idg. Wurzel ist hier gleichfalls per-, „vorne“, „erster“ (s. o. im Text), aus der auch lat. princeps abgeleitet ist, entspr. ital. principe u. frz. prince. – Im deutschsprachigen Bereich ist die Vorstellung von den „Fürsten“ – jetzt einmal abgesehen von der „Regenbogenpresse“ unserer Zeit – sehr stark geprägt worden von dem Bild, das die deutsche Romantik im 19. Jh. vom mittelalterlichen Für­ stenstand vermittelt hat, zum anderen von Berichten über die und von Bildern von der (auch

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das sofort erkennen; aber auch „früh“ paßt genau dazu. Im Range höher war bei den Germanen (aber nicht nur bei diesen), wer seine Herkunft bis in frühere Zeiten zurückverfolgen konnte, als es anderen möglich war. Wir haben es hier mit jenen bei Tacitus an der zweiten Stelle, nach den Altehrwürdigen, genannten Gliedern des Gemeinwesens zu tun, deren Rede in der Volksversammlung besonders beachtet wurde. Der hērōro/hērro ist natürlich mit seinem höheren Alter erst (alt-)ehrwürdig g e w o r d e n . Wer höheren Rang als andere hatte, hat diesen aus seiner Herkunft dagegen schon mitgebracht. Das aber galt selbstverständlich auch für die frouwa – unbeschadet des Umstands, daß nur Männer die Volksversammlung bildeten. Der für die Karolingerzeit erkennbar werdende Abstieg vom politischen Gemeinwesen zum Herrschaftssystem, das sich später noch ständisch gliederte, veränderte  – wie oben gezeigt  – auch die Bedeutung der Wörter der betrachteten Wortfamilie. Bei Otfried von Weißenburg im 9. Jh. ist dann der hêrero – wie­ Otfried noch ungekürzt schreibt –, als der „Herr“ dem scalc (daraus „Schalk“)479, also dem unfreien Dienstmann übergeordnet (Grimm, Wb., Bd. 10, Sp. 1125). Auf die unfreien Dienstleute komme ich gleich thematisch zurück. An mehreren Stellen dieser Untersuchung war von Amt und von Beamten oder Amtsträgern die Rede. Wir erinnern uns aus Kapitel B. I.1.b) an die Polemik Dannenbauers gegen Waitz und gegen die Waitzianer in der Frage „Gewählte An­führer (principes) der Germanen der Zeit des Tacitus als ‚Beamte‘ des Volkes oder als Inhaber von Adelsherrschaft?“ Darauf verweise ich. Wichtig für unser Thema sind dagegen zum einen die Grafen (comites) als vom König ernannte und erforderlichenfalls wieder abgesetzte Amtsträger im Frankenreich (Näheres aus anderem Anlaß bereits in B.II.1.a)). In diesem Fall ist der aus spätkaiserzeitlich-römischer Tradition stammende Amts-Charakter unstrittig. Der Graf im Frankenreich war ein Mann in einem Dienstverhältnis zum König. Das hatte mit „Adel“ zunächst noch nichts zu tun, ging aber schon recht früh im 1871 noch romantisch verklärten) Proklamation des zweiten deutschen Kaiserreichs seitens der deutschen Fürsten. – Im selben 19. Jh. ist eine größere Zahl der besonders aufwendig erbauten und reich mit wertvollen Beigaben ausgestatteten Gräber der Späthallstatt- und FrühLatène-Kultur (grob um 600–300 v. Chr.) entdeckt und untersucht worden, die schnell den Namen „Fürstengräber“ bekamen, zu denen wir in Ermangelung einschlägiger Kenntnis aber nicht mehr sagen dürfen als: Gräber von in ihrem Gemeinwesen im Rang offenbar weit vorn, vielleicht sogar an der ersten Stelle Stehenden. Nun, wir kennen das schon: Parallel dazu im 19. Jh., aber auch noch danach, waren viele Althistoriker schnell mit „König“ bei der Hand, wenn Sachverhalte aus anderen Verhältnissen und anderen Sprachen „übersetzt“ werden sollten, für die sich – vermeintlich – die Bezeichnung König anbot. – 479 Während „Schalk“ später die Bedeutung „unfreier Dienstmann“ (modern entspr. „Knecht“) verloren und statt dessen die Bedeutungen (negativ:) „Schelm“ i. S. v. „Betrüger“ und (positiv:) „lustiger Spaßvogel“ gewonnen hat, kam der „Mar-schalk“, der ursprünglich für die Reitpferde, die Mären, zuständige unfreie Dienstmann, als „Marschall“ zu sehr viel Ansehens­ erhöhung.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Hohen Mittelalter in diese Richtung, nach dem Erblichwerden (ab 9. Jh.) der gräflichen Lehen, die zunächst nur Dienstlehen gewesen waren. (Zur Ausbildung von Adelsgeschlechtern mit „zunehmender Erblichkeit der Ämter und Lehen“ ab spät­ karolingischer Zeit mehr bei Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 40 f.). Zum anderen sind für unser Thema die Ministerialen wichtig, die bisher, in B.II.1.a), sowohl allgemein als auch speziell in bezug auf die „Reichsministerialen“, nur nebenbei genannt worden sind. In der Karolingerzeit waren ministeriales noch „alle höheren und niederen Amtsträger sowohl in der Grundherrschaft als auch am Herrenhof“, damals „noch keine abgegrenzte Schicht“ (Dollinger, S. 406). Im 9. Jahrhundert waren hohe Adlige ministeriales ecclesiae. „Aus dem Kreis dieser ‚Diener‘ wurde das Amt des Erzbischofs besetzt“ (Brunner/Daim, S. 36). Schulze (Hegemoniales Kaisertum, S. 56) sagt dazu: „Der König, aber auch die weltlichen und geistlichen Fürsten brauchten für den Kriegs- und Hofdienst, für die immer vielfältiger werdenden Aufgaben in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Rechtspflege eine ausreichende Zahl von fähigen Männern, die sie zunächst vorwiegend aus dem Kreis ihrer freien Lehnsleute … auswählten“. Die Edelfreien, die sich ab karolingischer Zeit im Frankenreich zum Stand entwickelten, konnten die Aufgaben später aber nicht mehr erfüllen. Ihre Zahl war infolge der vielen Kriege und wegen der vielen und schweren Auseinandersetzungen im Innern des Frankenreichs inzwischen dafür zu gering, und sie verlangten zu viele Zu­ geständnisse und wurden unzuverlässig. Die geistlichen und die weltlichen Für­ sten und der König wichen daraufhin mehr und mehr auf ihnen zugehörige, im Bereich ihrer Herrschaft und Güter schon bewährte Eigenleute aus,480 deren sie sicher sein konnten, weil sie zu Gehorsam verpflichtet waren (Brunner/Daim, S. 36). „Ministe­riale“, im Sinne von unfreien Dienstleuten im als ehrend geltenden und die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg bietenden Waffendienst zu Pferd, sind (Lotter, Veränderungen, S. 149) in ottonischer Zeit „in größerer Zahl in den kirchlichen Grundherrschaften der Reichsbistümer und Abteien“ belegt, die dem König ja ebenfalls bewaffnete Mannschaft zu stellen hatten. Aber auch die weltlichen Für­sten und die Könige haben im 10. Jahrhundert ihnen zugehörige unfreie Dienstleute für wichtige Dienste verschiedener Art herangezogen (Brunner/Daim, S. 36). Die Quellenlage für das 10. Jahrhundert ist allerdings nur für die geistlichen Institu­tionen recht günstig. Bei ihnen hießen die Eigenleute damals noch „servientes oder ähnlich, Knechte also“. Die am meisten Begabten unter ihnen erhielten eine besondere Ausbildung, zum einen für den Dienst in der bewaffneten berittenen Mannschaft, zum anderen für gehobene Stellungen in der Güterverwaltung, dort manchmal für ganze Ressorts, schließlich für geistliche Ämter. Im 11. Jahr 480

Nachwuchs gab es ausreichend unter den nachgeborenen Söhnen bewährter abhängiger Bauern der grundherrschaftlichen familia, die zum anderen Teil  im Landesausbau auf Rodungsland eingesetzt wurden (Lotter, S. 148). – Der volkssprachliche Ausdruck für ministerialis war dinstmann.

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hundert hieß diese „gehobene Schicht von Leuten im Dienst weltlicher und geistlicher Großer und des Königs … ministeriales“ (ebenda). Es gab dort allerdings große Unterschiede. Da waren Leute mit besonderen handwerklichen Begabungen und Aufgaben, andere waren in grundherrlichen Aufsichtsfunktionen als Meier, För­ster, Zinseinnehmer und Zöllner, aber es gab eben auch jene zuvor Knechte (Marschall, Mundschenk, Seneschall und Kämmerer) in ihren jetzt hohen Verwaltungsämtern, dazu viele berittene Krieger als „Gefolgsleute“ ihres Herrn. Ein Teil von diesen hatte Burgwacht oder andere Schutzfunktionen zu übernehmen.481 Wenngleich die Übernahme solcher Wacht- und anderer Schutzaufgaben selbstverständlich ebenfalls Amtsausübung gewesen ist, interessiert uns hier doch mehr die Verwaltung, in diesem Fall das Aufkommen des Begriffs Amt (oder o­ fficium) zur Bezeichnung einer räumlichen Einheit in der Verwaltungsorganisation und, was damit gemeint war. Dollinger beschreibt es für Bayern. Nach der Preisgabe der „Villikation“ (vom Fronhof aus unmittelbar genutztes Herrenland mit außerdem an als hörige Hintersassen gegen Abgaben und Frondienste vergabtes Land) zugunsten der neuen Zinshofverfassung (in der Regel fast kein Herrenland mehr, mit jetzt wirtschaftlich mehr autonomen Zinsbauern, die meistens nur noch Naturalien und Geld abgaben, nicht mehr „frönten“) im 12. Jahrhundert (Dollinger, S. 18) hat sich auch die Verwaltungsorganisation geändert. In den Güter- und Abgabenverzeichnissen (Urbaren) großer Güter des 12./13. Jahrhunderts tauchen die Namen für jene Einheiten auf (S. 133). Wenn zahlreiche Besitztümer in ein und derselben Region waren, wurden die Verwaltungseinheiten den Gerichtsbezirken angeglichen. „In den Urbaren der bayerischen Herzöge sind die Ämter identisch mit den Landgerichten“ (S. 135). An der Spitze des Amtes stand der procurator. Seine Aufgaben waren Bewirtschaftung, Verwaltung und Rechtspflege der niederen Gerichtsbarkeit. Die Prokuratoren überwachten zusammen mit den Meiern die Abgabenleistung, organisierten den Transport wertvoller Güter, vor allem von Wein und Öl, über größere Ent­fernungen. Im Auftrag des Grundherrn hielten sie zwei- bis dreimal pro Jahr Gericht. Sie waren mit dem Besitz von Höfen dotiert, hinzu kamen bestimmte Abgaben und Sonderleistungen (S.  135 ff., dort noch mehr Einzelheiten). Die neue Zinshofverfassung und die mit ihr entstandene neue Verwaltungsorganisation brachte eindeutig Vorteile für die Grundherren und für die abhängigen Bauern. Generell, nicht nur für Bayern, und schon für das 11. Jahrhundert gilt: Die Ministerialen sind normalerweise von ihren Herren mit Lehen, hier mit „Dienstlehen“ ausgestattet worden, damit sie überhaupt in die Lage kamen, ihren Dienst als sozusagen Berufskrieger oder in ihren Verwaltungsfunktionen auszuüben. Mit den Dienstlehen gewannen sie ihrerseits Herrschaft über bäuerliche Hintersassen.

481 Die „aus der Unfreiheit kommenden Ministerialen … schließen sich im 12. Jahrhundert nach unten hin ab und verschmelzen allmählich mit der untersten Schicht der Edelfreien zum niederen Adel“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 84; dazu s. a. S. 137 u. S. 143).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Über diese Dienstlehen, anders als bei echten Lehen, konnte auch damals noch der Lehensgeber später, bei Dienst-Ende bzw. im Fall des Todes des Lehns­ nehmers, wieder frei verfügen, d. h. die Kinder des Ministerialen hatten zunächst noch keinen Erbanspruch auf das Lehen. Das änderte sich aber. Im sogenannten Bamberger Hofrecht (kurz nach der Mitte des 11. Jahrhunderts), einer der erhalten gebliebenen rechtlichen Regelungen u. a. für die Ministerialität, „wird schon vom erblichen Lehen gesprochen. Hier gilt auch: bekommt ein Dienstmann kein Lehen, wird er freizügig und darf einem anderen Herrn dienen. Damit verlieren die ‚Ministerialen‘  … ihre Abhängigkeit und gewinnen als Ritter ihr  … Ansehen“ (Nitschke, 21991, S. 360). Mit der Zeit gab es noch andere Änderungen: Die Dienstlehen wurden generell erblich (siehe weiter unten); Ministeriale durften auch „echte“ Lehen annehmen; der Unterschied zwischen Dienstlehen und echten Lehen verschwand daraufhin, auch weil Adlige Dienste übernahmen, die zuvor nur von Ministerialen ausgeübt worden waren. Die Ministerialen glichen sich nicht nur im äußeren Erscheinungsbild (beritten, mit Helm und Panzer), sondern auch in Haltung, Verhalten und Lebensformen den Edelfreien an. Zahl und Bedeutung der Ministerialen stiegen besonders ab Beginn der Zeit der salischen Könige und Kaiser. Konrad II. (1024–1039) zog viele Ministeriale als Vögte, Burggrafen, als Landrichter und zur Erfassung und Verwaltung der Reichtsgüter heran. Im Königsdienst wurden die Reichsministerialen somit sozusagen Reichsbeamte. Wegen ihrer normalerweise unfreien Herkunft konnten sie für Dienste aller Art verwendet werden – sogenannte niedere Dienste selbstverständlich ausgeschlossen. Konrad II. hat in Oberitalien (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S.  345) die Rechtsstellung der Valvassoren und in Deutschland (S.  351 f.) die der Ministerialen482 gestärkt und dabei die Erblichkeit der Lehen beider Gruppen fixiert. Ziel war, die jeweils große Gruppe, inzwischen schon Schicht, der kleinen Ritter in Italien „als Gegengewicht gegen den Episkopat und die oberitalienischen Markgrafengeschlechter“ und als „Stütze der kaiserlichen Herrschaft“ (S. 346), in Deutschland zur Stärkung des Königtums gegenüber der sozusagen zentrifugalen Reichsaristokratie zu gewinnen. Im Umland des Harzgebirges, wo ein Großteil der den Saliern von den Ottonen überkommenen, in der Zeit der Schwäche des deutschen Königtums nach Heinrichs  III. Tod seitens des sächsischen Adels usurpierten Krongüter und Reichsabteien lag, hat Heinrich IV. (1056–1106) nach der z. T. kriegerischen Wiedergewinnung des Kronguts eine Art Reichsland zu schaffen und es mittels Errichtung starker Reichsburgen als Stützpunkte und Verwaltungszentren zu sichern versucht. Diese Höhenburgen, nicht mehr Fluchtburgen für die Menschen der Umgebung, waren gemäß den modernsten Erkenntnissen der Festungsbaukunst von 482

In Frankreich gab es zwar die sergents, die ebenfalls „mit wichtigen Funktionen betraut“ worden sind, aber dort war der „‚Makel‘ der Unfreiheit“ dieser sergents „so belastend“, daß ihnen ein „sozialer Aufstieg“ nach Art der Ministerialen „nicht gelang“ (Dollinger, S. 265, Anm. 90).

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damals erbaut worden und fast uneinnehmbar. Heinrich  IV. hat außer Verwaltungsbeamte auch ständige Besatzungen, vornehmlich schwäbische Ministeriale, in den Burgen stationiert (S. 413–416).483 Zum einen in der Auseinandersetzung mit mächtigen, die eigene Landeshoheit und möglichst viel Unabhängigkeit vom Königtum anstrebenden Reichsfürsten, zum anderen im Streit mit dem Papst um die „Investitur“ (Recht der Einsetzung) der Bischöfe und in der Frage der seitens Papst Gregor VII. verlangten Unterordnung des Reiches unter die Kirche hat sich Heinrich IV. außer auf die in ihrem Umfang allerdings kleinere Gruppe der von Fürsten bedrängten niederen Edelfreien vor allem auf die immer stärker werdende Schicht der ursprünglich meist unfreien oder halbfreien Ministerialen gestützt, außerdem auf die seit dem 10. und besonders im 11. Jahrhundert aufstrebenden Städte. Die Auseinandersetzungen im Investiturstreit (zum „Auslöser“ siehe Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 429 ff.) sind im Fall des Sacrum Imperium (das Königreich der Deutschen, das Königreich Italien, seit 1032/33 auch wieder das Königreich Burgund) zum Teil kriegerisch geführt worden, anders als im Fall Frankreichs.484 Weil andere kriegerische Auseinandersetzungen im Innern Deutschlands und in Oberitalien hinzukamen, war Heinrich IV. auch in bezug auf sein Heer besonders auf Ministeriale als Ritter angewiesen.485 In salischer Zeit zwar noch selten, stiegen Ministeriale sogar unter die Reichsfürsten auf, so ein Werner zum Markgrafen von Ancona. Die ganz große Zeit der Reichsministerialen – die bis dahin ministeriales wurden nun milites oder ridder genannt – war dann die der staufischen Kaiser.486 Nicht nur, daß 483

Heine (betr. Niedersachsen), in: Böhme (Hrsg.), Burgen, Teil I, S. 79: „die langsam aufsteigende Ministerialität“ im 11. u. frühen 12. Jh. „zwar in Burgenbesatzungen … [und] als königliche Beauftragte, aber noch nicht als Burgeninhaber bezeugt“. Böhme (betr. Hessen, Rheinland-Pfalz u. Saarland), in: Böhme (Hrsg.), Burgen, Teil II, S. 79: Im gleichen Zeitraum hatten die „Reichsministerialität und einige kleinere Edelherren ihre wehrhaften Kleinburgen ausnahmslos in der Ebene nahe den Höfen und Dörfern der bäuerlichen Landbevölkerung“, die mehr erfolgreichen unter ihnen ab Mitte des 12. Jh. „aus der Ebene auf die Bergeshöhen“ verlegt (dazu auch ebenda, Anm. 138). 484 „… das Bedürfnis, unfreie Leute zum Heeresaufgebot heranzuziehen, war also weit geringer als in Deutschland“ (Dollinger, S. 265, Anm. 90). 485 Das brauchte uns hier, wo es ja um „Amt“ geht, weniger zu beschäftigen, wenn nicht gerade ab dieser Zeit ganz allgemein Ritter das mittelalterliche Sozialgefüge stark mitbestimmt hätten. Übrigens, man kann sowohl sagen „im weiten Sinn des Wortes“ als auch „genau genommen“, sind die ministerialischen berittenen Krieger im Gefolge des Königs ebenfalls in amtlichem Dienst gewesen. 486 Friedrich I. Barbarossa war „Symbolfigur des ritterlichen Mittelalters“ (Räkel, S. 40). Die Schwertleite der Söhne dieses Kaisers – es waren Friedrich (von Schwaben) und Heinrich (VI.) – zu Pfingsten 1184 in Mainz „wurde … zu einem Fest der Ritterschaft, bei dem sich zeigte, daß das neue Ideal der Ritterlichkeit [Mut und Demut, Selbstzucht (so auch in der Verehrung der hohen frouwe) und Maßhalten] auch in die Vorstellung vom Imperium eingegangen war“. Seit den Kreuzzügen (der erste 1096–1099) „bekommt der christliche Kämpfer, ob frei oder unfrei, die Aura des Gottesstreiters“ (S. 41), des miles Christi. Die Ritter gewannen viele Anregungen in den Ländern, in die sie während der Kreuzzüge gekommen sind. Das hat die Kultur des Hohen Mittelalters sehr verändert, eine Kultur, die nicht mehr primär

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

„Männer wie Markward von Anweiler, die Reichsmarschälle von Pappenheim, die Herren von Bolanden und die Herren von Hagen-Arnsburg-Münzenberg eine wichtige Rolle am Königshof und in der Reichspolitik [wie hier  – meist auch sonst  – unreflektiert gesagt wird] spielten“ (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 57 f.),487 Reichsministeriale gelangten sogar auf oberrheinische Bischofsstühle, und 1153 hat Friedrich  I. Barbarossa den Ministerialen Arnold von  Selenhofen auf den Mainzer Erzbischofsstuhl gebracht (Rödel, S. 70). Der Versuch der Staufer, die Stellung des Reichs gegenüber den Fürsten zu stärken, mittels Schaffung von „Reichsländern“488 mit relativ einheitlich gestalteter Verfassung und Verwaltung, gemäß Amtsrecht, statt Lehnrecht, mit königlichen Amtsträgern (Landrichtern, Reichsvögten und Prokuratoren), ist hinsichtlich Verwaltung und ritterlichen Schutzes im wesentlichen von Reichsministerialen getragen worden (Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 61 u. S. 94). Der Versuch ist, ebenso wie der mit dem „Erbreichs-Plan“ Kaiser Heinrichs VI., Sohn Friedrichs I. Barbarossa, am Widerstand der Reichsfürsten gescheitert, desgleichen die nach dem Untergang der Staufer und nach dem „Interregnum“, der „kaiserlosen Zeit“ (1254–1273), einsetzenden Bemühungen der deutschen Könige Rudolf von Habsburg, Adolf von Nassau und Albrecht I. um Wiederherstellung der Reichsländer (S. 95). Mit dem Ende der Stauferherrschaft waren die große Zeit des Rittertums und die Karrieremöglichkeiten für Reichsministeriale vorüber. Während des Interregnums hing es von der Geschicklichkeit der Reichsministerialen ab, ob sie ihre Positionen wenigstens halten konnten (Einzelheiten dazu bei Rödel, S.  49 und S. 52) oder ob sie in die Abhängigkeit der entstehenden Territorialstaaten gerieten (zu diesen thematisch in B.II.2.a)bb)). Es hat sich auch nur eine Art Oberschicht

von religiösen, mönchischen Erneuerungsbestrebungen bestimmt war, sondern Laienkultur, eben ritterliche Kultur gewesen ist. Sie hat in der Stauferzeit als Kultur der höfischen Gesellschaft ihre höchste Blüte erreicht und im Minnesang ihren Ausdruck gefunden. Zum Minnesang haben allerdings nicht allein Ministeriale beigetragen, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide und viele andere, sondern weil sich, wie gezeigt, damals der König und Reichsfürsten ebenfalls als Ritter verstanden haben, u. a. auch Kaiser Heinrich VI., Konradin (Sohn des Stauferkönigs Konrad IV.) und Markgraf Otto von Brandenburg (s. z. B. Wieland Schmidt, Manessische Liederhandschrift, S. 22–33). 487 Mit Details und sehr anschaulich Rödel, S. 20–32, aber auch u. a. S. 117, mit Archivmaterial u. ä. Quellen über die im Linksrheinischen beheimateten berühmten Reichs-Minis­terialen der Stauferzeit, Markward von Annweiler, die Bolander und noch andere von dort, dazu über den wohl Verwandten des Markward von Annweiler, Friedrich von Hausen (­Rödel, S. 103, Räkel, S.  42–55), einen der bekanntesten rheinischen, schon von den provenzalischen Trobadors beeinflußten Minnesänger. (Die ältesten deutschen Minnesänger, die „donauländischen“, sind eigenständig und ihre Lieder anders aufgebaut: hohe Frau und Ritter im Lied gleichberechtigt und wechselseitig aufeinander bezogen; Texte bei Räkel, S. 23–35.) 488 Das waren vor allem das Elsaß, das Reichsland Kaiserslautern, die Wetterau mit Frankfurt, Gelnhausen, Wetzlar und Friedberg, das Reichsland um Nürnberg, das Egerland. Charakteristisch für die staufischen Reichsland-Aktivitäten war die Einbeziehung königlicher Städte in das System (Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 94).

II. Defiziente Modi

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der stauferzeitlichen Reichsministerialen, die damals489 mit der zahlenmäßig viel dünneren untersten Schicht der Edelfreien zum „niederen Adel“ verschmolzen ist (Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 84, dazu auch S. 136 f. und S. 143 f.), tatsächlich behaupten können490 (die Schwierigkeiten beschreibt Rödel, S.  76 f.). Da es mir nicht auf die Entwicklung des Rittertums als solchen, sondern auf Amt und Amtsträger ankommt, begnüge ich mich mit dem Verweis. Das gleiche soll gelten für den Eintritt einer großen Zahl niederadliger deutscher, meist schwäbischer und rheinischer Soldritter in die stehenden Heere vor allem der italienischen Stadt­ republiken, besonders im 14. Jahrhundert (Rödel, S. 86–90), für die Bündnisse im Niederadel im 14. Jahrhundert, für die „Einungen“ ab 1422, für die Rebellion des Franz von Sickingen und ihr Ende, 1523, und auch für die 1542 erfolgte Gründung der reichsunmittelbaren „freien Reichsritterschaft als dauernde Zwangseinung des Niederadels, soweit er seine Zugehörigkeit dazu erklärte“ (Rödel, S. 118–127; Zitat S. 126). Damit sind wir indirekt beim Verhältnis des Niederadels zu den Territorialfürsten: Wer nämlich nicht seine Zugehörigkeit zur Reichsritterschaft erklärte, wurde damit „landsässig, d. h. einem Fürstentum eingegliedert“ (S. 126), und tatsächlich mußten sich die meisten „aus der Reichsministerialität hervorgegangenen Niederadligen mit den aufkommenden Territorialmächten arrangieren“ (S. 82–86, mit Beispielen; Zitat S. 82). Dabei verschwanden zuvor wichtige „Reichsministerialenfamilien oder gar Edelfreie aus den Quellen, d. h. sie hatten nichts mehr, was zu beurkunden wert gewesen wäre“, Angehörige anderer Ministerialenfamilien von zuvor geringer Bedeutung wurden Beamte,491 aber das war doch selten (S. 82). Noch andere als die schon genannten Voraussetzungen hatten sich geändert.

489 Da es sich um einen komplexen Prozeß handelt, sind verschiedene Datierungen sowohl für den Anfang als auch für das Ende zu finden. 490 Rödel (S.  34) sagt dazu: Die „soziale Umschichtung, die sich im wesentlichen in der Stauferzeit vollzog, war derart bedeutsam, daß man das zahlenmäßige Verhältnis der alten Adelsfamilien zu dem neuen Niederadel wie 1:100 geschätzt hat.“ Aber es war keineswegs jeder Ministeriale Ritter geworden, und nicht jeder hat sich im Niederadel („Niederadel“ als Stand) behauptet (S. 77). 491 In einer Ahnentafel habe ich in drei Niederadels-Linien aus dem „Westrich“ (= Westerryche, Westerreich), die um 1500 zusammengekommen sind (und von denen eine im 14. Jh. Anteile an einer Burg gehabt, eine andere Burgmannen gestellt hatte), für das Ende des 15. u. für das 16. Jh. als Beamte kleinerer Territorialstaaten gefunden: einen pfalz-zweibrückischen Landschreiber im Oberamt Neukastel, später „Keller“ im Amt Bergzabern; einen pfalz-zweibrückischen Schultheißen in Bergzabern; einen wild- und rheingräflichen Amtmann in Fin­ stingen an der oberen Saar, heute Lothringen (74 Jahre vor dem Amtmann Hans Michael Moscherosch dort), danach gräflich saarwerdischer Schaffner für Saarwerden u. für das in die Reformation gegangene Kloster Herbitzheim; seinen Bruder als saarwerdischen Amtmann in (Saar-)Bockenheim, heute im Krummen Elsaß. Der Finstinger Amtmann und dann saarwerdische Schaffner (Eintrag des Pfarrers ins Sterberegister von 1639: „sein alter wahr 111 jahr und 3 monat“) muß recht vermögend gewesen sein; denn der Graf von Saarwerden, zugleich Graf von Nassau-Saarbrücken, hatte Schulden bei ihm, und eine Enkelin des Gläubigers hatte noch (dann im Saarbrücker Schloß von ihr monierte und offenbar damals an sie ausgeglichene) Forderungen an die Grafen aus der Zeit des Großvaters.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Mit dem Aufkommen der Städte hat sich nach und nach die Geld- statt der Naturalwirtschaft wieder durchgesetzt. Die Territorialstaaten, zuerst die größeren (zu denen die in der letzten Fußnote genannten nicht gleich, zum Teil auch später nicht gehört haben) im Rheinland und in Südwestdeutschland, haben mehr und mehr Beamte eingesetzt, die nicht mehr mit Lehen oder mit Rechten, sondern mit Gehältern entlohnt wurden, und an die Stelle der Ritter als Lehnsleute traten Söldnertruppen, ebenfalls mit Geld bezahlt. Viele landsässige Adelige waren nun allein auf ihren Grundbesitz verwiesen, der zum Unterhalt inzwischen aber oft kaum oder nicht mehr ausreichte. Der Niederadel hat versucht, seine Söhne als Offiziere beim Militär – welchen Begriff man jetzt schon verwenden darf – unterzubringen oder bei den Behörden der jungen Territorialstaaten. „In der Verwaltung trafen diese Adligen jedoch bald auf die Konkurrenz gut ausgebildeter Juristen, die aus den oberen Schichten des Stadtbürgertums hervorgingen“ (Lotter, Veränderungen, S. 150) und dem nicht juristisch gebildeten jungen Adligen immer mehr als Beamte492 vorgezogen worden sind. Jetzt noch zur Ursprungsbedeutung von Amt. Unser Wort Amt geht auf ein keltisches Wort zurück. Caesar (B. G., VI, 15) hat es aufgenommen. Er schreibt über das Gefolge der gallischen Ritter auf dem Kriegszug: Je edler und reicher ein Ritter ist, „ita plurimos circum se ambactos clientesque habet“. Die ambacti, um die es hier geht, werden also von den clientes unterschieden. ambacti sind Leute des Ritters, die sich „um ihn herum bewegen“ (Vorsilbe amb- „um“ und idg. Verbalstamm *aĝ-, auf den auch lat. ago, egi, actum zurückgeht). Rufus Avienus Fe­stus (2. H. 4. Jh. n. Chr.) schreibt, gemäß Quintus Ennius (239–169 v. Chr.) bedeute das kelt. ambactus lat. servus (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 21). Das hat Caesar so nicht, aber in B. G., VI, 13, sagt er, daß bei den Galliern nur zwei Gruppen von Menschen Geltung und Ansehen hätten, die Ritter und die Priester (Druiden), daß das Volk (plebes) fast den Sklaven gleich sei und zu keiner Beratung herangezogen werde. Wenn es bei Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 21, heißt, die germanischen Anführer („Fürsten“; dazu siehe weiter vorn in diesem Kapitel) „übernehmen vor der [1., der] germ. Lautverschiebung den Brauch ihrer [kelt.] Nachbarn samt dem Namen“ („germ. *ambahtja M. ‚Gefolgsmann‘“), stimmt die These von der Übernahme der Sache insofern nicht, als die Gefolgsleute (tatsächlich: die „Gesellen“) der germanischen Anführer zumindest bis zu den Zeiten Caesars und des Tacitus, tatsächlich aber wohl noch länger, besonders tapfere f r e i e Krieger gewesen sind. „Neben das entlehnte M. stellen alle Germanen ein N.: ahd. ampaht, 492 Wenn Rödel (S. 20) sagt, ab dem Salierkaiser Heinrich IV. und besonders in der Zeit der Stauferkaiser „entstand … der Typ des … [ritterlichen] Verwaltungs- und Hofbeamten, der dem eigentlichen Beamtentum der Territorialstaaten des Spätmittelalters den Boden bereitete“, müssen wir nur das „eigentlich“ wegnehmen. Die mittelalterlichen Ministerialen waren nämlich nicht etwa „uneigentlich“ Beamte, sondern solche in anderer Zeit und in anderen historischen Zusammenhängen. Das Beamtentum der modernen Staaten als das „eigentliche“ auszugeben, ist ähnlich unzulässig wie die Deklaration des Staatlichen als des Politischen in seiner „entwickeltsten Form“ (Heller; siehe A.II.).

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asächs. ambaht, ags. ambiht, anord. embǣtti, got. andbahti ‚Dienst‘.493 Über mhd. ambe(h)t, ammet hat es nhd. Amt ergeben“ (ebenda). Man müßte wissen, in welcher der germanischen Sprachen das Wort in welchem Sinn (unter welchen Einflüssen) wann als „Dienst“ verstanden worden, d. h. welche Art Dienst das konkret gewesen ist. – Noch etwas später heißt es: „Westgot.494 *ambahti N. ‚Dienst‘ hat roman. *ambaisa ‚Auftrag‘ ergeben, aus dem prov. ambaisada ‚Gesandtschaft‘ stammt, das einerseits zu ital. ambasciata, anderseits zu frz. ambassade entlehnt ist.“ Die Amtsinhaber haben die Aufgabe und die Befugnis,495 die in den Amtsbereich gehörenden Angelegenheiten zu regeln, sie auf rechte Weise zu „fügen“. Die Befugnisse beruhen auf allgemeinen oder speziellen Anweisungen, im Mittelalter auf Anweisungen des Inhabers der Herrschaft, der die Amtsinhaber eingesetzt hatte. d) Gewalt; Wahrung von gerechter/guter Ordnung und Frieden; Fehde und Satisfaktion; „Gottesfrieden“ und „Landfrieden“ Das mittelalterliche Herrschaftssystem des Frankenreichs, dann des ostfränkisch-deutschen Reichs, dann des Sacrum Imperium war geprägt von einer Verbindung von Traditionen von Hause aus politischer germanischer Gemeinwesen mit spätrömischen Traditionen und mit christlichen Ideen. Die aus der Bibel gewonnene christliche Interpretation weltlicher Herrschaft aus göttlicher Ordnung, göttlicher Gerechtigkeit, war zunächst, zur Zeit des spätrömischen Reichs, am Beginn der „Völkerwanderung“ im engeren Sinn des Wortes, vor allem von Augusti­ nus und seiner Friedenslehre bestimmt. Sie gehört zur Theorie der Politik und ist somit nicht Thema dieser Untersuchung. Zur Empirie gehört dagegen: Gemäß germanischer Auffassung besaß der Anführer eine Kraft in sich, meist  – so war die Meinung  – aus seiner Sippe mit­ gebracht, an der diese Kraft sozusagen haftete, mit der das „Heil“ für das Gemeinwesen (den Stamm) zu gewinnen war. Es ging dabei nicht zuletzt um das Siegesheil (sigrsæli),496 aber der Komplex hat noch andere Facetten.497 Ich nenne 493

Das ebenda genannte M. o s t got. andbahts legt anzunehmen nahe, daß das N. „got. andbahti“ ebenfalls ostgotisch ist. Zu westgot. siehe oben im Text. Mehr Details zur Geschichte von „Amt“ s. Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. 36 ff. 494 Die Sperrung stammt von mir. Da das Wort erschlossen ist, kann es nicht aus der UlfilaBibel stammen. 495 Unqualifiziert sind hier „Macht“, „Gewalt“, „Autorität“. 496 Grönbech, Bd.I, hat die Sachverhalte „Heil“ (S. 135–162) und „Sippenheil“ (S. 163–182) intensiv erforscht, vor allem anhand des reichlich vorliegenden nordgermanischen, aber auch anderen germanischen Materials. Im Norden stammen die einschlägigen Begriffe, statt von heil (so ahd.), von einem Wortstamm sæll, „glückhaft“, von germ. *sǣli-, aus idg. Wurzel *sel(ә)-, „günstig“, aus welchem Zusammenhang letztlich auch unser nhd. Wort selig kommt. (In christlich-religiösem Sinn ist „selig“ natürlich sekundär.) S. a. Kluge, 23. Aufl., S. 756 f. 497 Mehr dazu bringe ich im Annex über Legitimitätsprinzipien, dort in B. V.4.b)  und in B. V.6.b).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

hier nur eine davon: „ Ein König ohne Kriege mochte zu den Ausnahmen gehören, aber er sollte friðsæll, friedmächtig, in dem Sinne sein, daß er den Kampf außerhalb der Grenzen hielt oder jedenfalls verhinderte, daß er die Felder verheerte“ (Grönbech, S. 140). In den germanischen Gemeinwesen galt für recht, was der alten, überkommenen Ordnung entsprach, dem Herkommen. Aufgabe dieses Gemeinwesens war die Wahrung des alten Rechts, der alten Ordnung. Diese Ordnung war sozusagen sakral, aber in einem heidnischen Sinn. Germanisches Verständnis von der Sache und christliche Lehre davon ließen sich in einem lange währenden Prozeß auch für praktische Zwecke dann einigermaßen zufriedenstellend zusammenführen. Als Ziel aller Herrschaft im christlichen Mittelalter ist fast immer „gute = gerechte Ordnung“ (als von Gott gegebene Ordnung) oder „Friede“ genannt worden, oft beides in Verbindung miteinander, und Friedrich Barbarossa, schon nicht mehr weit vom Ende der Stauferzeit und des Hohen Mittelalters entfernt, hat an der Pfalz von Kaiserswerth einmeißeln lassen: „Iustitiam stabilire volens, ut undique pax sit“, „In der Absicht, die Gerechtigkeit zu befestigen, auf daß überall Friede herrsche“ (Heinzle, in: Heinzle, S. 280).498 Die zugrundeliegende Formel pax et iusti­ tia ist biblischer Herkunft, allerdings in lateinischem (spätrömischem) Gewand. Es wäre aber nicht hinreichend, mittelalterlichen Wunsch und Willen nach Frieden einfach aus der Konvergenz germanischer Ordnungsvorstellungen und christlicher Soziallehre spätrömischer Zeit zu erklären. Sie resultieren vor deren Hintergrund aus historischen Gegebenheiten. Wir wissen aus B. I.5.: „Friede“ war in präpolitischer Zeit lediglich eine Sache innerhalb des präpolitischen Gemeinwesens, innerhalb der „Freundschaft“, d. h. bis in die Verwandtschaft im weiteren Sinn, eben innerhalb der Sippe. Im Zug der Entwicklung des – dann umfangreicheren – politischen Gemeinwesens, über den Sippenzusammenhang hinaus, hat es bei Griechen und Germanen Regelungen für Sachverhalte, nicht nur, aber besonders Totschlag, gegeben (die auf der Basis präpolitischer Ordnung, der der Sippen, noch ungeregelt zu Rache, Wider-Rache usw. geführt hätten), die Buß-/Sühneregelungen, auf relativ mehr Frieden hin, nun aber auch im größeren Rahmen des Stammes.499 Die für unser Mittelalter-Thema relevante Frage lautet also: Warum griffen diese Regelungen in spätkarolingischer Zeit nicht mehr? Sie hatten nur so lange greifen können, wie das politische System Bestand hatte. Das auf vormals römischem Gebiet entstandene Frankenreich war dort zum Herrschaftssystem verkommen. Das Herrschaftssystem Frankenreich ist nach den die Fundamente der inneren Ordnung schon destabilisierenden vielen -zig Kriegszügen Pippins und Karls 498

Auch noch für Thomas von Aquin (1225/26–1274; seine Schriften erst nach Kaiser Friedrich II.) ergibt sich das bonum commune aus der Befestigung des Rechts. 499 Uneingeschränktes Friedensgebot galt für die Kultfeiern, für die Volksversammlungen und für die Heerfahrten.

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des Großen in den schweren, mit großen moralischen Defiziten auf seiten vieler der spätkarolingischen Herrscher geführten, die Moral der Großen des Reiches untergrabenden und außerdem so extrem verlustreichen innerfränkischen Auseinandersetzungen des 9. Jahrhunderts, beim Versagen angesichts der Verwüstungen seitens der Normannen und dann seitens der Ungarn im 9. und im 10. Jahrhundert auch a l s Herrschaftssystem zerrüttet worden, zeit- und teilweise so, als ob es nicht mehr existierte, und ist dann auch in fünf Reiche zerfallen. Unter solchen Bedingungen haben erlittene Rechtsverletzung, Not, Sicherheitsbedürfnis, günstige Gelegenheit, Eigennutz und Habgier – wegen gegebener Unordnung oder unter Ausnutzung der Unordnung – in Eigen-Regie geführte gewalttätige Auseinandersetzungen hervorgebracht, in Eigen-Regie von denen geführt, die über das dazu erforderliche Potential an Waffen und Bewaffneten verfügten. In dem im Lauf der Jahrhunderte zum Herrschaftssystem mutierten Gebilde waren das inzwischen natürlich durchweg nur noch Herren, Herrschende mit ihrem Anhang, je nach Konstellation auf verschiedenen Ebenen, Herren, die nun, ohne den schwachen König zu fragen, agierten oder gar gegen ihn agierten. „Fehde“ ist das zunächst noch nicht gewesen.500 Diesen Gewalttätigkeiten fehlten noch die Regeln und Förmlichkeiten, die dann im Fall der Fehde einzuhalten waren, der Fehde als Praxis des Rechts auf Anwendung von Waffengewalt gegen – tatsächlich oder behauptetermaßen – bestehendes oder drohendes Unrecht. Wohl aber hat die Umwandlung des Frankenreichs in ein Herrschaftssystem die Voraussetzungen dafür geboten, daß „Fehde“ schließlich Monopol von Herren geworden ist, Vorrecht des Adels.501 Otto Brunner hat in der für die moderne Mediävistendiskussion über „Fehde“ grundlegenden und seither zwar oft genannten, aber wenig folgenreichen Arbeit „ Land und Herrschaft“ auch in dieser Sache deutlich gemacht, daß wir mittelalterliche Phänomene falsch verstehen müssen, wenn wir sie auf neuzeitliche Begrifflichkeit hin orientieren, etwa im Fall der Fehde mit Bedauern das Fehlen territorialstaatlichen Gewaltmonopols mit seinen polizeistaatlichen Durchsetzungs­möglichkeiten konstatieren, statt die Fehde in der mittelalterlichen (intendierten) Friedensgemeinschaft als rechtmäßig eingesetzte Waffengewalt zu verstehen.502

500 Ebensowenig, wie die in germanischen politischen Gemeinwesen in Resten noch verbliebene, aus präpolitischer Zeit stammende Rache „germanische Fehde“ genannt werden darf. 501 Sehr früh gab es als beachtenswerte Ausnahmen davon bäuerliche Schwurverbände des 9. Jh., die sich zur Anwendung von Waffengewalt gegen Bedrohung geeint hatten, was an dieser Stelle zu behandeln aber zu weit führen würde. Sie sind frühe Bürger-Initiativen als Selbsthilfe-Organisationen für ihr Gliedgemeinwesen, und selbst der Begriff Bürger ist nicht falsch (siehe B. I.6. bei „ahd. burgāri“). – Betr. Friedenswahrung in den Städten siehe B.III.1.d). 502 Ergänzend nenne ich Otto Brunner (21956), S. 17. f.; Mitteis, Land und Herrschaft, hier S. 26–33. In allen drei wird weiterführende Literatur genannt. Das gilt auch für Janssen, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3 (1982), S. 567–571.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Einen anderen, sehr praktischen Aspekt hat 1994 Althoff vorgetragen. Er zeigt, daß im deshalb keineswegs unbedeutenden mittelalterlichen Fehdewesen sehr oft tatsächlich gar nicht oder schon sehr rasch nicht mehr Waffengewalt angewendet worden ist. Statt dessen griff oft das Rechts-Institut der Satisfaktion oder Genugtuung, unter Einschaltung eines Vermittlers mit hohem Ansehen, mit Erfahrung und mit „gewachsenen Beziehungen zu beiden Konfliktparteien“ (S. 250), unter Wahrung von Formen. Althoff zeigt das an vielen Beispielen verschiedenen Typs. Generell sagt er zur Satisfaktion: „Sie bestand aus einem oder mehreren demonstrativen Akten, die dem Konfliktgegner und der Öffentlichkeit signalisierten, daß man einlenken, den Konflikt beenden wolle. Natürlich sind die Grenzen zwischen Sühne, Buße und Genugtuung nicht exakt zu ziehen, und für das Verständnis ist zu berücksichtigen, daß die theologische Seite von Buße und Genugtuung dem Mittelalter wohl stets präsent war. Im Vordergrund steht bei der Genugtuung jedoch wohl der Gedanke des immateriellen Schadensersatzes“ (S. 249).

Die Verhandlungen über eine Satisfaktion waren natürlich Versuche, die Konflikte im Prinzip außergerichtlich zu regeln, und die Vermittler Personen, auf die sich die Konfliktparteien selber geeinigt hatten. Ab dem 11. Jahrhundert wollten die deutschen Könige „vor allem die Konflikte, in die sie selbst verwickelt waren, durch Entscheidungen des Königsgerichts503 regeln … lassen“, dessen Urteiler der König bestimmte. Althoff sagt (und belegt es indirekt), daß die angestrebte Veränderung wenig Akzeptanz gefunden habe, sich die Angehörigen des hohen Adels geweigert hätten, überhaupt vor einem solchen Gericht zu erscheinen, und daß eine Verlagerung der Konfliktregelung auf Gerichte, Königs- bzw. andere Gerichte, nur „äußerst langsam“ vorangekommen sei (S. 262 f.). Ich komme nun noch einmal zu christlichen Friedensbemühungen zurück, aber auch jetzt nicht zu einer Friedenslehre im Rahmen von Theorie. Es geht um eine Friedensbewegung in der Praxis, die, angestoßen vom cluniazensischen Mönchtum,504 früh im Hohen Mittelalter in Südfrankreich begonnen hat. Dort sind im 10.  Jahrhundert Gewalt und Rechtsunsicherheit angesichts der Schwäche des Königtums der letzten westfränkischen Karolinger  – der letzte starb 987  – am schlimmsten gewesen. 989 hat unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Bordeaux eine Versammlung aquitanischer Bischöfe und anderer Kleriker einen Frieden verkündet: „wer in eine Kirche eindringt und dort raubt, ohne Genugtuung zu leisten, wer sich am Eigentum der Bauern und Armen vergreift, etwa ihnen Vieh weg 503 Die Zuständigkeit des Königgerichts in Sachen der Großen des Reiches wäre für sich allein nichts Neues gewesen (siehe in B.II.1.a), dort, wo es auch um den Pfalzgrafen zur Zeit Karls d. Gr. geht (da hatte in solchen Angelegenheiten der König selber geurteilt); die Ver­ hältnisse waren aber inzwischen anders, der König stand eben nicht mehr unbestritten über den Fürsten. 504 In Cluny, westlich der Saône, ist zwischen 908 und 910 eine Benediktinerabtei entstanden, die das benediktinische und überhaupt das Mönchtum reformieren und allgemein dem Verfall der christlichen Traditionen entgegenwirken wollte.

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nimmt, wer einen Priester, Diakon oder anderen Geistlichen schlägt, der wird mit Exkommunikation bedroht. Neuartig war, daß man mit kirchlichen Strafen gegen Friedensbrecher vorging“ (Nitschke, 21991, Bd. 5, S. 358). Ein Jahr später waren zu einer Synode auch weltliche Herren geladen. Es ging jetzt darum, bestimmte Räume (Kirchen, Friedhöfe, Klöster) und Personengruppen (Weltgeistliche, Mönche, Bauern und Kaufleute) zu schützen. Der „Gottesfriede“, wie er bald genannt wurde, war in den Diözesen (im wesentlichen also in den Civitates) zu verkünden; alle hatten ihn dort zu beeiden und damit auch die Strafen anzuerkennen. Der „Gottesfriede“ ist bald um die treuga Dei, um den Waffenstillstand in Gottes Namen, um Gottes Willen, für bestimmte Feiertage und Zeiten, Fastenzeit und Advent, ergänzt worden (S. 359). Der Erfolg hat sich nicht sogleich eingestellt; die Sache wurde besser, als die beschworenen Frieden unter bewaffneten Schutz kamen.505 Im Deutschen Reich sind die Verhältnisse, seit der Sachsenherzog Heinrich ab 919 König war, weniger katastrophal gewesen, wenngleich die Ungarn-Gefahr noch nicht gebannt war.506 In der Mitte des 11. Jahrhunderts hat sich der Salierkönig Heinrich III. im Deutschen Reich an die Spitze der Friedensbewegung gestellt, die er wohl im Aquitanien benachbarten Burgund kennengelernt hatte. Er strebte einen das ganze (west-)römische Reich, also Deutschland, Italien und jetzt auch wieder Burgund umfassenden Frieden an, durch „Verschmelzung von Gottesfrieden und Königsfrieden“ (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 397 f.). Bestreben und Realisierung klafften allerdings oft weit auseinander, oder, falls es zu Realisierungen kam, hielt der Friede meist nicht lange. Besonders zur Zeit der Herrschaft Heinrichs IV. und seiner Auseinandersetzungen mit Papst Gregor VII. kam es im Deutschen Reich wieder in großem Umfang zu Gewalt, Raub, Verwüstung und Unsicherheit (S. 474), und auch das Wormser Konkordat von 1122, zur Zeit der Herrschaft Heinrichs V., brachte den Frieden nicht. Schulze (S. 479) druckt einen Bericht aus jener Zeit ab und fügt hinzu: „Das adlige Recht auf Fehde und Selbsthilfe, das nun auch die Ritter für sich beanspruchten, entpuppte sich als die Inkarnation von Willkür, Gewalt und Ausbeutung.“ Friedrich I. Barbarossa hat gleich zu Beginn seiner Regierungszeit, 1152, unter Inanspruchnahme des den spätrömischen Kaisern zustehenden Rechts der Gesetzgebung einen „Reichslandfrieden … den geistlichen und weltlichen Großen des deutschen Reiches in der Form eines Gesetzes verkünden“ lassen (Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 195 f.). Auch hier waren Verkündung und Verwirklichung507 noch nicht dasselbe. Inwieweit 505 Die Bedeutung der Veränderung, daß Ritter nun nicht mehr nur an die Person ihres Herrn, sondern auch an ein „sachliches Ziel“ gebunden waren, was zur Erhöhung des Ansehens beitrug, hebt Nitschke ebenda hervor. 506 Über die Bedeutung der amicitiae und pacta von Bischöfen, Äbten, Weltgeistlichen und Mönchen zur Zeit Heinrichs I. als „Mittel zur Wiederherstellung ‚öffentlicher‘ Ordnung, der Friedenssicherung und der Stabilisierung des Reiches“ s. Oexle, S. 312, mit dem Hinweis in seiner Fußn. 33 auf Althoff. 507 Zu Friedensregelungen nur begrenzter Reichweite und/oder begrenzter Dauer, die bei der Einschätzung ihrer praktischen Bedeutung trotz ihrer Begrenzung nicht zu vernachlässigen sind, siehe z. B. Isenmann, S. 74 (dort nicht nur auf die Städte bezogen).

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es tatsächlich Frieden gab, hing auch ab von der Persönlichkeit und dem Durch­ setzungsvermögen des Königs und Kaisers für seine Regierungszeit. In der mittelalterlichen Friedensbewegung hatte ab dem frühen 13.  Jahrhundert noch einmal ein auf Reform zielender Mönchsorden große Bedeutung, ebenfalls in der Praxis, der von Franz von Assisi (1181/82–1226) gegründete Franziskaner-Orden.508 Aus dem Neuen Testament entwickelte der Ordensgründer seine Ordensregeln und seine Friedensidee. Die Franziskaner haben mit in- und extensiver Predigt-Tätigkeit in den mittelalterlichen Städten auf die Verwirklichung des Friedens in den städtischen Gemeinwesen, aber auch generell im Sacrum Imperium hingearbeitet und fanden angesichts der damals gegebenen oft sehr unfriedlichen Verhältnisse verständlicherweise großen Zulauf. Der berühmteste Prediger unter den Franziskanern Deutschlands in jener Zeit war Berthold von Regensburg (1210/20–1272). Seine Texte sind überliefert. Darauf hier einzugehen, würde uns aber zu weit führen.509 Wohl aber will ich eine andere, sehr besondere publizistische Aktivität der Franziskaner nennen, die, so wie die Dinge liegen, offenbar direkt in Zusammenhang mit König Rudolfs von Habsburg Friedensbemühungen zu sehen sind. Es geht um die beiden süddeutschen510 Rechtsbücher, „Deutschenspiegel“ und „Schwabenspiegel“, die in den siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts, also früh im Spätmittelalter (das die Historiker in der Regel mit dem Ende der Stauferzeit beginnen lassen), zu Ende des „Interregnums“, im Augsburger Franziskanerkonvent entstanden sind, bei kräftiger inhaltlicher Einwirkung des „Sachsenspiegels“.510 Für unsere Zwecke kommt es nicht auf die Rechtsregelungen selbst an, wohl aber auf die seitens der Franziskaner den Bestandsaufnahmen und Erläuterungen des geltenden Rechts vorangestellten „historiographischen Einleitungen“. „Was die Brüder in ihnen als Summe der Bedingungen für das friedliche Zusammenleben … [im Gemeinwesen] zusammenstellten, suchten sie im Bewußtsein der Menschen zu verankern durch Belehrung und Bekehrung. Deren wichtigstes … [Mittel] war die Predigt“ (Heinzle, in: Heinzle, S. 275 f.). Mit jenen „Einleitungen“ zu den beiden Rechtsbüchern richteten sich die Augsburger Franziskaner an solche Laien, „‚die an herausragender Stelle in der Rechtspflege wirkten‘. Dies geschah vornehmlich im städtischen Bereich, in dem sie [die Franziskaner] vor allem tätig

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„Orden der Minderen Brüder“, mit Armutsgelübde, einer der „Bettelorden“. Ich verweise auf Heinzle, in: Heinzle (Hrsg.), S. 266–294, wo auch Textproben wieder­ gegeben sind. 510 Der niederdeutsche „Sachsenspiegel“, schon um 1225 von Eike von Repgow lat. verfaßt und ins Niederdeutsche übertragen, ist das älteste Rechtsbuch des (schon „deutsch“ zu nennenden) Mittelalters (also abgesehen von den alten Stammesrechten der Franken, Alamannen, Bayern, Friesen, Sachsen, Thüringer und anderer germanischer Stämme der Zeit des Frankenreichs) für das „sächsische“ Gebiet des hochmittelalterlichen Deutschlands einschl. Thüringens (und für Teile Rußlands, Polens und Ungarns). Es enthält eine Zusammenfassung der in diesem Raum geltenden gewohnheitlichen Rechtsregelungen in Land- und Lehensrecht. 509

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waren und wo sie auch als Schlichter eingriffen“ (Heinzle, S. 280 f.), weil Gerichtsbarkeit fehlte oder nicht anerkannt war. „Der Schwabenspiegel hat sich in kürzester Zeit ‚über den ganzen Süden Deutschlands einschließlich Böhmens und Schlesiens … sowie an den Niederrhein ausgebreitet‘ und ist früh [umgekehrt wieder] ‚auch im niederdeutschen Bereich rezipiert worden‘. Dieser Erfolg … [wird] auch damit zusammenhängen, daß die Franziskaner für ihr Rechtsbuch neben dem Bürgertum sogleich eine andere Herrschaftsinstitution interessieren konnten. Als Kaiserrecht konzipiert, entsprach es den Intentionen König Rudolfs I. von Habsburg, dessen … [Absicht] ‚von den Bettelorden, insbesondere den Minoriten [den Franziskanern], aktiv unterstützt wurde‘; und die Überlieferung spricht dafür, daß es Rudolf war, der ‚einen ersten Anstoß zur Verbreitung‘ des Werks gegeben hat. Bezeichnend ist dabei die Verflechtung der Herrschaftsebenen: der König könnte das Rechtsbuch kennengelernt haben, als er im März 1276 ‚den Bürgern von Augsburg gestattete, ein städtisches Statutenbuch anzulegen‘, zu dessen Formulierung dann der Schwabenspiegel benutzt wurde“ (Heinzle, S. 281 f.).

Mit dem Ende der Stauferzeit und mit dem „Interregnum“ war selbstverständlich die Möglichkeit, aus einer starken Position des Königs den Reichs-Landfrieden noch sozusagen mittelalterlich durchzusetzen, dahin. Wir können sagen: Damals war ein solcher Friede von den Grundvoraussetzungen (1–3) und Ge­ gebenheiten (3) des mittelalterlichen Herrschaftssystems nicht zu gewinnen, zum ersten, weil das politische Gemeinwesen zum Herrschaftssystem verkommen war, zum zweiten wegen des sich mit der Herausbildung von Herrentum (dann Adel) entwickelnden Fehdewesens als wesentlichen Bestandteils der mittelalterlichen Rechts- und Herrschaftsordnung, zum dritten, weil im Deutschen Reich die Basis für einen noch mittelalterlichen Königsfrieden wegen der zunehmend zentrifugalen Kräfte der sich verselbständigenden Fürstentümer immer schmaler wurde, der Fürstentümer, die auf möglichst souveräne Staatlichkeit hinarbeiteten.

e) Die Glieder des mittelalterlichen Herrschaftssystems Die Glieder der germanischen politischen Gemeinwesen waren freie, in der Volksversammlung zur Mitsprache und zur Mitentscheidung berechtigte Männer gewesen, die für Friedenszeiten ihre Richter und für Kriegsfälle und Beutezüge den dux bzw. princeps auswählten (Tacitus, Germania). Zwar sind die Benennungen für diese Freien, burgund. leudis, ahd. liut(i), westgot. leudes usw., erst ab dem Frühen Mittelalter überliefert, wegen der sehr weiten Verbreitung entsprechender Wörter in vielen außergermanischen west-indogermanischen Sprachen (Näheres in B. I.6.) müssen auch die germanischen Bezeichnungen viel älter sein als erst aus dem Frühen Mittelalter. Mit dem Abstieg des Frankenreichs zum Herrschaftssystem hat auch das ursprünglich so positiv besetzte liut(i) (leudis usw.) im Lauf des Mittelalters eine Wertminderung erfahren, vom „Freien“, d. h. „dingberechtigten Mitglied des Volksverbandes“, schließlich zum „niederen Volk“.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Im mittelalterlichen Herrschaftssystem haben wir Herrscher/Herren und die von ihnen Abhängigen, Beherrschten. Die Anführer (zu des Tacitus Zeiten in seinem Verständnis principes) der germanischen Gemeinwesen (Markomannen, Alamannen, Burgunder, Westgoten, Ostgoten, Langobarden, Wandalen, Franken usw.) waren im Anschluß an mediterranen Usus zu „Königen“ (reges) geworden, so der Frankenkönig, später dann auch wieder der deutsche König, bzw. zum „römischen Kaiser“. Aus der Vergabe von Land bei der Landnahme auf dem Gebiet des römischen Reiches haben die Freien ihren Anteil am Siedelland erhalten. Die zur (gelehrt formuliert) „Gefolgschaft“ des Anführers (jetzt: des Königs) Gehörenden, die dann (gelehrter Begriff:) „Großen des Reiches“, bekamen vom freigiebigen König für ihre besondere Treue und Tapferkeit, neben Geschenken anderer Art aus der Beute, m e h r Land, zunächst geschenkt, später als Lehen. Die „Großen“ haben dieses Land, eigenes oder Lehen, an Untervasallen weiterverliehen. Mit dem Lehnssystem und der Feudalisierung und aus anderen Ursachen (Einzelheiten siehe B.II.1.a) und B.II.1.c)) ist abgestuft Herrschaft über Grund und Boden und über  – f r ü h e r   – „Leute“ (die alten Namen siehe in B. I.6.) als von Hause aus Freie, dann aber in immer größerer Zahl abhängig und partiell oder ganz unfrei gewordene bäuerlich Arbeitende entstanden. Diese waren dem (gelehrter Begriff:) „Grundherrn“ zu Treue und Gehorsam verpflichtet, hatten je nach Grad der Unfreiheit auch zu „fronen“, Frondienste511 zu erbringen. Die vom Herrn Abhängigen waren seine „Holden“ (gelehrt: „Grundholden“), von mhd. holde. Dem Wort liegt das Adj. ahd. hold aus germ. *hulþa-, „zugeneigt“512 zugrunde. Aus derselben idg. Wurzel ist lat. cliēns, „Höriger, Klient“ (Kluge, 23. Aufl., S. 380). Vom Herrn aus bedeutet „hold“: dem gegenüber, der ihm Dienste leistet, „herablassend“ (da ist wieder jene „Neigung“, von oben herab)  bzw. „gnädig“; vom Abhängigen zum Herrn hin bedeutet es „treu, ergeben“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 326). Erst spätmhd. ist „huldigen“ belegt, das ein „Sichbeugen und Unterwerfen des Untergebenen“ bedeutet (S. 331). Es zeigt die Verschlechterung der Stellung der großen Mehrheit der Glieder des Gemeinwesens.513 Für den König/Kaiser waren jene „Großen des Reiches“ zunächst seine „Getreuen“ (fideles). Spätestens zu Ende des 6. Jahrhunderts, wohl 588, kommt die Bezeichnung vor. Im Vertrag von Andelot zwischen König Guntram (Burgund), 511

Zum mißverstehenden Sinnwandel von frō zu „Herr“ s. B.II.1.c). „Neigung“ ist nicht nur in diesem übertragenen Sinn, sondern auch wörtlich zu nehmen. Die germ. Wurzel ist *hal- „sich neigen“, auf die auch „Halde“ zurückgeht (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 326). 513 Daß es in einigen Gegenden Deutschlands im Mittelalter auch nach wie vor freie Bauern gab, habe ich in B.II.1.a) mit Einzelheiten erwähnt. Im ganzen sind das aber Ausnahmen gewesen. Eine Erleichterung für die vom Grundherrn abhängigen Bauern gab es mit der Umwandlung der Villikations- in die Zinshofverfassung, eine Verschärfung der Ausbeutung vielerorts aber wieder nach der Verarmung vieler kleiner Niederadliger im Spätmittelalter, die dann den Druck nach unten verstärkten. 512

II. Defiziente Modi

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König Childebert II. (Austrasien) und Königin Brunhilde heißt es „aut fidelibus suis“, „oder an ihre Getreuen“ (Gregor von Tours, Buch IX, Kap. 20, S. 264 bzw. S. 265). In den sogenannten Gedenkstiftungen der salischen Kaiser für ihre Getreuen (fideles) ging es primär schon um Ministeriale (Oexle, S. 313), nicht mehr um die altadligen Großen, die in der Mediävistik jetzt „Fürsten“ genannt werden und die immer öfter und stärker in Gegensätze zum König/Kaiser geraten waren – was zu einer weitgehenden Schwächung der Stellung des Reiches geführt hat und zur Territorialisierung der Fürstentümer, die immer mehr Selbständigkeit gewannen und deren Landesherren ab Spätmittelalter zu „Souveränen“ wurden. (Dazu thematisch in B.II.2.a)bb) im Rahmen der Betrachtung der Entwicklung hin zum „Staat“ der Neuzeit.) – Während die Bezeichnungen ahd. burgāri und ags./altengl. burgware auf Glieder noch politischer germanischer Gemeinwesen bezogen waren und deshalb in Kapitel B. I.6. gehörten, haben wir es im nun Folgenden mit jüngeren Erscheinungen zu tun. Ich rufe zunächst aus B.II.1.a) in Erinnerung: Die meisten der in spätrömischer Zeit nördlich der Alpen bestehenden Städte (coloniae, municipia, meist aber nur civitates) sind, wenngleich oft zunächst in geringerem Umfang und mit geringerer Bedeutung, auch über den Untergang des weströmischen Reiches hinaus bestehen geblieben (siehe Brühl, I–II), die römischen Städte Italiens sowieso. – Diese aus der Römerzeit überkommenen Städte waren in spätrömischer Zeit Bischofsstädte, wie wir aus B.II.1.a)  wissen, und hießen auf lateinisch weiter civitates, die Bewohner, soweit frei, waren cives. Die Bezeichnung cives ist im Sacrum Imperium 1069 belegt für Tull/Toul an der Mosel und für Würzburg, 1074 für Köln, bald danach für viele andere, sämtlich Bischofsstädte, z. T. freilich jünger als spätrömisch. „Der Ausdruck burgenses [mlat. Lehnwort aus dem Germ.] wurde zunächst nur dann gebraucht, wenn die Stadt keine civitas war“, keine Bischofsstadt (Planitz, S. 100). Aus jenem im vorletzten Absatz genannten ahd. burgāri hat sich mhd. ­burgære, burger, md. bürgære, bürger und nhd. „Bürger“ entwickelt (Kluge, 16. u. 23. Aufl.). Mit der ­Ausbildung deutscher Stadtverfassungen wurden aus den purgliuti, burgenses, also den „Burgbewohnern“, dann die im weiteren Sinn Einwohner der Stadt. Das waren zum einen freie Kaufleute, die ursprünglich Karawanenhandel betrieben, sich im 10. oder 11. Jahrhundert fest niedergelassen hatten, zum anderen unfreie Hand­werker und Händler, die zu verschiedenen Zeiten in die „Suburbien“ gekommen waren, dazu ein oder mehrere zunächst ebenfalls unfreie Amtsträger (Ministeriale) der Grundherrn. (Mehr dazu bei Boockmann, S. 25 f.) Mit der Ausbreitung der Ratsverfassung in den Städten des Reiches, um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert – ab dem 14. Jahrhundert ist sie sozusagen selbstverständlich (Isenmann, S. 133) –, wurde „Bürger“ ein „klar definierter normativer Begriff. Bürger war, wer den Gesamtschwur der versammelten Bürger­ gemeinde anläßlich der Ratsumsetzung mitleistete“ (S. 93). Wer neu aufgenommen werden wollte, mußte Voraussetzungen erfüllen (Isenmann, S. 93, der dort

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Einzelheiten bringt), den Einzelbürgereid ablegen und in die Neubürgerliste eingetragen sein. „Der Rechtsstatus des Bürgers war abgehoben gegenüber dem des bloß Beisassen, des Gastes oder des Fremden. Die Bezeichnung ‚Bürger‘ war zunächst vielfach dem Kreis der ‚Besten‘ oder ‚Weisesten‘, der ratsfähigen Schicht, vorbehalten. Mit dem Vordringen des allgemeinen Bürgerbegriffs unterschied man in einigen Städten die ‚Bürger vom Rat‘ und die ‚Bürger von der Gemeinde‘, worunter hauptsächlich die (noch) nicht im Rat vertretenen Handwerker verstanden wurden“ (ebenda).

Die Bezeichnung „Bürger“ war unter solchen Voraussetzungen ehrenvoll. Daß sich das ab dem 17., besonders ab dem 18. Jahrhundert verändert hat, zeige ich in B.II.2.d) und B.III.1.f). Es gab im Mittelalter noch eine andere Bezeichnung für die auf dem Land lebenden Glieder der Gemeinwesen. Wir geben sie nhd. mit „Landsasse“ wieder, aus altsächs. landsêtio, ags. landsæta, mhd. lant-sæze (Grimm, Wb., Bd. 12, Sp. 130). Die Beispiele, die Grimm für den Gebrauch im Deutschen bringt, beginnen mit Gottfrieds von Straßburg „Tristan und Isolde“ (zwischen 1205 und 1210), wo ein Ritter als lantsæze bezeichnet ist. In der Reformationszeit heißen z. B. die Grafen und die Ritter des Kurfürstentums Brandenburg landsessen, dann die nicht nur mit Acker, sondern auch mit größeren eigenen Gütern Angesessenen, ferner „im allgemeinen sinne“ der „in einem lande angesessene, vollbürger eines landes“ (eines frühneuzeitlichen Territorialstaats), schließlich auch der „nur einwohner“. Formelhaft heißt es „bürger und landsassen“ in bezug auf die in Städten und auf dem Land Wohnenden. (Zur Verwandlung der Landsassen und auch der Bürger in „Untertanen“ siehe B.II.2.d).) In der Mediävistik ist bis vor nicht langer Zeit gelehrt worden, im christlichen Mittelalter hätten die Menschen noch nicht, wie dann ab Renaissance und Re­ formation der Fall, als Individuen gegolten, sondern nur als fest eingefügt in Ordnungen und Lebensformen. Das In-Ordnungen-fest-eingefügt-Sein stimme wohl, heißt es in der jüngeren Mediävistik, aber nicht in dem Sinn, daß im Mittelalter die Gemeinschaft die Individualität gewissermaßen aufgesogen habe.514 Die Menschen hatten in diesen Ordnungen ihren „Stand“, und zwar im Unterschied zu anderen, die ebenfalls mit einem „Stand“, aber mit ihrem anderen Stand fest eingefügt waren. Was es da an Aufzählungen von Ständen gibt, läßt sich kaum vollständig systematisieren. (Ich verweise auf Texte in „Geschichtliche Grundbegriffe“, Bd.  6, S.  155–200, dabei hinsichtlich der Zentralfragen einer Systema­ tisierung auf S. 155–159.) Ich nenne hier, ohne zu thematisieren, ein paar StändeGliederungen, Gegenüberstellungen und Aufzählungen, die z. T., freilich bei inhaltlicher Veränderung, auf die Antike zurückgehen, so auf Platons funktionale Dreigliederung in seiner „Politeia“ (bes. Buch II, dazu III–VII) mit der Unterschei 514 Daß das nicht mehr in dieser Form aufrecht erhalten werden kann, zeigt und belegt Oexle, in: Heinzle (Hrsg.), S. 322 f.

II. Defiziente Modi

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dung – hier in jüngerer griffiger Formulierung – von „Lehrstand“ (die Philosophen als Regierende), „Wehrstand“ (die Epikuroi, zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern, und die Phylaken, als Krieger) und „Nährstand“ (die Bauern und die Gewerbetreibenden einschließlich der Händler). Oder etwa „Freie und Unfreie“,515 „Männer und Frauen“, „Klerus und Laien“; verschiedene Aufzählungen von Berufen, oft wie sie sich aus speziellen konkreten moralphilosophischen Bedürfnissen gerade ergeben hatten. – Ende des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts kehrte die funktionelle Dreigliederung wieder, jetzt aber in die der Betenden (oratores), der Kämpfenden und die anderen Stände Schützenden (bellatores) und der Arbeitenden (laboratores) – was die inzwischen erfolgte Absonderung eines nicht mehr kämpfenden sozusagen Nur-noch-Bauernstandes einerseits und eines Ritterstandes andererseits aus dem Gros der früher insgesamt waffenfähigen und heerpflichtigen freien bäuerlichen Glieder germanischer Gemeinwesen zur Voraussetzung hatte. Die Dreigliederung, inzwischen öfter vorkommend, auch in Varianten wie­ oratores, pugnatores, agricultores, geht ab Mitte des 12.  Jahrhunderts in die Volkssprachen ein. Anfang des 13. Jahrhunderts heißt es bei dem wohl 1233 in Kaisheim bei Donauwörth gestorbenen, mittelhochdeutschen Spruchdichter Freidank (mhd. Vridanc, Fridanc) im Spruchbuch „Bescheidenheit“ (hrsg. v. Wilhelm Grimm; Göttingen 1834, Kap. 7, S. 27): „Got hât driu leben geschaffen[:] gebûre, ritter, phaffen“. Freidank sagt nicht stant oder stand. Dieses Wort, zwar ahd. schon belegt, dort aber nur in Zusammensetzungen (firstand, urstand), gibt es selbständig erst mhd. ab dem 14. Jh. (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 754 und S. 759; 23. Aufl., S. 787 und S. 791; Grimm, Wb., Bd. 17, Sp. 683). Wir können also sagen, das, was lateinisch in unserer Sache meist ordo (aber auch noch anders: Oexle, S. 156; Isenmann, S. 252, in bezug besonders auf das Spätmittelalter), bei Thomas von Aquin auch status, bei uns ab dem 14. Jahrhundert zunehmend „Stand“516 genannt wird, ist bei Freidank „[Art und Weise zu] leben“. 515 Zur Überwindung dieser aus frühgermanischer Zeit stammenden „älteren rechtsständischen Gliederung durch ein neues berufsständisches Prinzip“ sagt Schulze (Hegemoniales Kaisertum, S. 416): „Zum Hochadel, gebildet aus Fürsten, Grafen und freien Herren, gesellten sich die Dienstmannen [Ministerialen] freier und unfreier Herkunft, die sich im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts als niederadliger Ritterstand formierten. Auf der anderen Seite verloren die Freien, denen der Eintritt in den Ritterstand nicht gelang, ihr Waffenrecht. Sie sanken in die breite Schicht der hörigen Bauern hinab“, allerdings nicht überall in Deutschland, so nicht in Dithmarschen, Friesland, Tirol und Teilen der – später – Schweiz, und ein „Weistum des Saargauer Hochgerichts von 1529 bestimmte, daß alle Männer des Hochgerichts­bezirkes mit ihren Waffen am Richtplatz erscheinen mußten“ (Labouvie, S. 125 mit S. 132; zu Waffenrecht und -pflicht der „freien“ Bauern der Saargegend s. a. Schwingel, Die Rechtslage, S. 199 f.). 516 Eine andere Sache als das oben über die mittelalterlichen Menschen als Glieder ihrer Gemeinwesen Gesagte, aber nicht ohne Zusammenhang mit ihm, ist die sogenannte ständische Verfassung des Heiligen Römischen Reiches mit seinen Reichsständen. (Bloß um Verwechselungen vorzubeugen, bringe ich das Folgende, per Fußnote; mehr brauchen wir dazu nicht.) Zwar wird auch hier, verkürzend und deshalb leicht mißverständlich, von „Adel, Geistlichkeit und städtischem Bürgertum“ gesprochen, es geht jedoch nicht jeweils um die Summe aller adligen Menschen, aller Geistlichen, aller Stadtbürger, sondern um die Gliedgemein­

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Die wachsende Bedeutung der Kaufleute und das Aufblühen der Städte führte zur Entstehung und dann zur Nennung auch eines Standes der Bürger (siehe oben), worauf entweder die Dreigliederung zur Viergliederung wurde oder, so in Frankreich, die Bauern auf dem Land und die Bürger in den Städten nominell zusammengefaßt worden sind zum tiers état (Begriff 1429 aufgekommen), zum „Dritten Stand“. f) Die Örter des mittelalterlichen Herrschaftssystems Im ersten Teil  von B.II.1.a)  habe ich aus spätrömischen Verhältnissen stammende Einrichtungen und Sachverhalte genannt, die die Merowingerkönige in den von den Franken eroberten Teilen des weströmischen Reichs übernommen oder die sonst das fränkische Gemeinwesen beeinflußt haben. Dabei haben wir auch die in der Tradition der römischen Kaiserpaläste stehenden Pfalzen kennengelernt, die im Karolinger- und im ostfränkischen bzw. dann Deutschen Reich in ottonischer, in salischer und in staufischer Zeit die Hauptentscheidungszentren waren.517 Wir haben gesehen, daß der Königshof nicht aus der Tradition des großen Wohngebäudes im Gehöft des germanischen Anführers hervorgegangen ist, in dessen Saal der Anführer mit seiner Ge-sell-schaft (gelehrt: „Gefolgschaft“) lebte,518 sondern aus der von römischen Wirtschaftshöfen (villae) auf römischem DomanialLand, das mit der merowingischen Eroberung zu fränkischem Königsland geworden war. Die Verbindung des also aus anderer Tradition stammenden Hofs mit der Pfalz hat dann aber doch die Nachfolge des Anführerhofs übernommen, indem die repräsentative Aula im Gebäude der Pfalz zum Ort der Zusammenkünfte des Königs/Kaisers mit den Großen seines Reiches wurde, mit hohem Besuch aus fremden Ländern bzw. der römischen Kirche oder mit Gesandten. Im Zusammenhang mit Pfalz und Hof habe ich anschließend Kanzlei und Kapelle beschrieben, die zu besonders wichtigen Orten der mittelalterlichen Herrschaft wurden, schon ab der Zeit Karls des Großen. wesen des Reiches: die weltlichen Fürstentümer, die Bistümer und Reichsabteien, die Reichsstädte, die dann auf den Reichstagen von ihren Fürsten, Bischöfen, Äbten und städtischen Obrigkeiten repräsentiert wurden, dort mit dem König/Kaiser im Reichsregiment zusammenwirkten bzw. ihm entgegenwirkten. (Über die „politischen Stände“ auf Reichsebene, die „Reichsstände“ als tatsächlich herrschaftlich bzw. obrigkeitlich bestimmten Gliedgemeinwesen und die „Landstände“, in Frankreich die General- und die Provinzialstände, siehe Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 62; Ennen 41987, S. 221 ff. – Zur Abgrenzung der Begriffe Reichstag und Hoftag siehe Boockmann, S. 267.) 517 Je nach Schwerpunkt der herrscherlichen Interessen bekamen die Pfalzen dieser oder jener Teile des Reiches Hauptgewicht bzw. es sind dort neue Pfalzen gebaut worden (Einzelheiten bei Schulze, Grundstrukturen, Bd. II (21992), S. 97 f.) – Zwar sind auch an anderen Königshöfen Entscheidungen getroffen worden, wie wir aus Urkunden wissen (siehe B. I.1.b), Fußn. 103), aber nicht die zentralen. 518 Was „Gesellschaft“ in der Wirklichkeit ist, ist in den Kapiteln von B.III. beschrieben. – In einem anderen Zusammenhang bringe ich Konkretes zur Gesellschaft am Hof Karls d. Gr. im Annex, Kap. B. V.6.a).

II. Defiziente Modi

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Während der Ort der Aussprache und Absprache über die alle angehenden Angelegenheiten im noch politischen frühfränkischen Gemeinwesen der offene Platz der Mathalstatt gewesen war, jedem Freien zugänglich, gab es die Aussprache, die Beratung und die Entscheidung im mittelalterlichen Herrschaftssystem nur noch mit den Großen des Reiches und mit speziell vom Herrscher berufenen Beratern. Die Örter waren geschlossene Gebäude bzw. Räume, nicht mehr jedem Glied des Gemeinwesens selbstverständlich zugänglich. Das zeigt die Veränderung im Wesen des Systems. Dagegen steht die Kammer als verschlossener Raum zur Aufbewahrung von Schätzen und Waffen sowie spezieller Vorräte wohl eher in der Tradition von Truhe und besonderem Speicher und muß nicht primär als Anzeichen des ­Wechsels vom politischen Gemeinwesen zum Herrschaftssystem gewertet werden, abgesehen davon, daß die Menge des zu Verschließenden offenbar größer geworden war. So wie man das königliche Herrschaftszentrum mit seiner Pfalz auch kurz den „Hof“ genannt hat, besaßen auch die Großen des Reiches, die weltlichen und die geistlichen, am Sitz ihrer Herrschaft ihren „Hof“, mehr oder weniger groß, und so auch die Grafen und die Freien Herren, schließlich die Ritter, entsprechend kleiner, alle in der Regel in ihren Burgen. Das heißt zugleich: Die Institution Burg, die wir aus Kapitel B. I.7. kennen, gab es dem Namen nach auch noch im mittelalterlichen Herrschaftssystem, und das in weit größerer Zahl als in frühgermanischer Zeit. Der ursprünglich für die Glieder des germanischen politischen Gemeinwesens – hier für den Verteidigungsfall – sehr wohl öffentliche Ort „Burg“ hat aber im Lauf des Mittelalters seinen Charakter verändert. Zwar hat im Deutschen Reich nach den jahrzehntelang andauernden Einfällen und Verwüstungen seitens ungarischer Heere und Trupps König Heinrich I. auf der Grundlage der 926 in Worms beschlossenen „Burgenordnung“ eine größere Anzahl von Reichsburgen bauen und einrichten lassen, in denen sich jeweils die Bevölkerung der Umgebung sollte bergen, verpflegen und verteidigen können, und auch die Bischöfe (als Reichsfürsten) und die Reichsäbte haben ihre Sitze bzw. Klöster damals befestigt (Einzelheiten ziemlich am Ende von B.II.1.a)). Aber schon die in sehr großer Zahl zwischen Alpennordrand und Küste jeweils in flachem Gelände, oft gerade in der Niederung errichteten frühen „Turmburgen“ und „Turmhügelburgen“/„Motten“519 frühestens aus dem 9., eher erst aus dem 10., mit Blütezeit im 11. und 12. Jahrhundert, waren schon Gebilde im Rahmen der zunächst oft von Ministerialen für die Grundherren exekutierten Grundherr-

519 Als Beispiel aus dem Süden nenne ich die Turmhügelburg von Seeg im Allgäu (Führer arch. Dkm. Dtld., Bd. 30, S. 88), aus der Mitte die Turmhügelburg von Eschborn nördlich Frankfurt (Bd. 19, S. 211 ff.), aus dem Norden summarisch: in Schleswig-Holstein immerhin rund ein „halbes Tausend“ von „diesen kleinadligen Burgen“ = „Motten (Turmhügelburgen)“ (Kramer); die bei Kramer namentlich genannte ist dagegen landesherrschaftlich, von größerem Zuschnitt und fällt somit aus dem Rahmen.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

schaft.520 Im Fall der „Motten“ stand der meist palisaden-umwehrte Wohnturm (rechteckig oder auch rund), in der Regel mit kleinem Wirtschaftshof, auf oder in einem künstlich aufgeschütteten Hügel (die „Turmburgen“ waren ohne Hügel), mit einem (meist Wasser-)Graben drumherum. Der Turm war in älterer Zeit in der Regel aus Holz erbaut, er wurde in jüngerer Zeit durch einen Steinturm ersetzt, und an die Stelle der Palisade trat u. U. eine Mauer. Wegen ihrer geringen Innenmaße sind diese Burgen kaum zu mehr geeignet gewesen als zum Schutz des Burgherrn, seiner engsten Umgebung und seiner Habe sowie des abhängigen Hofs. Vor allem in der Zeit der Salier, aber auch noch in der der Staufer sind dann die Burgen hoch auf den Bergen errichtet worden. Sie waren besonders deutlich Zentren und zugleich Dokumentation von Adelsherrschaft über Abhängige. Mit ihnen war die Distanz zwischen Ritter und Bauer noch größer geworden. Die „Höhenburg“ ist der Burgentyp, der heute noch oft auf den Bergen etwa an Rhein, Mosel, Neckar, Rhône und den Nebenflüssen in der Landschaft zu sehen ist. Er ist gebaut, ausgebaut und verbessert worden, bis er waffentechnisch und aus anderen, historischen Ursachen überhaupt überholt war. Anders als jene oben erwähnten Burgen Heinrichs I. von ab 926 sind die von Heinrich IV. ab etwa 1063 auf Reichsland im und um den Harz errichteten mächtigen Reichsburgen Instrumente und Orte intendierter, aber schließlich gescheiterter Königsherrschaft gegenüber dem Hochadel des Reiches gewesen,521 das System der Reichsburgen der Stauferzeit Instrument zur Sicherung der königlichen Herrschaft im Reich gegenüber den aufsteigenden Territorialfürsten.522 Die von Barbarossa gegründeten Pfalzen waren besonders große Burgen und dazu geeignet, den König und sein Gefolge aufzunehmen, wenn sie auf Reise waren. Auch wenn der König abwesend war, konnten sie als Verwaltungszentren im Königsland der Umgebung genutzt werden, „ähnlich wie die jetzt gegründeten Städte. Pfalzen und Städte wurden nun meistens miteinander kombiniert[,] wie beispielsweise im Elsaß Hagenau, in Franken Rothenburg oder in Hessen Gelnhausen“ (Boockmann, S. 111). Aus praktischen Gründen – weil ich in B.III., wo es um „Gesellschaft“ und dabei in B.III.1.d) um „Gesellschaften“ und andere Vereinigungen in den mittelalterlichen Städten geht, das dafür Erforderliche über diese Städte sagen muß und weil 520 Über die Entwicklung des Burgenbaus und über Herrschaft: Wendt (1999) (Unteres Neckar­ land); Heine, in: Böhme (Hrsg.), Burgen, Teil I (1992) (Niedersachsen), bes. S. 11–14, S. 29–32, S. 77 ff.; Böhme, in: Böhme (Hrsg.), Burgen, Teil II (1992) (Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland), bes. S. 78 ff.; Schulze, Grundstrukturen, Bd. II (21992), S. 41, S. 43, S. 83 f., S. 86–107 („Burg und Herrschaft“); Schulze, Grundstrukturen, Bd. I (31995), S. 70 u. S. 78; Schulze, Hegemoniales Kaisertum (1998), S. 55. Brachmann (1993) behandelt sehr detailliert den Befestigungsbau im 1. Jt. n. Chr. Dagegen konnte ich nicht mehr berücksichtigen das von der Deutschen Burgenvereinigung hrsg. zweibändige „Burgen in Mitteleuropa“. 521 Heine, in: Böhme (Hrsg.), Burgen, Teil  II, S.  48 f.; Schulze, Grundstrukturen, Bd.  II, S. 98 f.; Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 414–419. 522 Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 99.

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ich im übrigen nicht eine Geschichte des Mittelalters zu bringen brauche – verweise ich hier auf B.III.1.d), bezeichne die Struktur der Örter im System der mitteralterlichen Stadt jetzt aber schon mit. In vielen Städten hat es – vereinzelt nachweisbar schon im 11. Jahrhundert – eine allgemeine Bürgerversammlung gegeben, die, wenn nicht von Anfang an, so doch schon sehr früh unter bestimmenden Einfluß vor allem der reichen Kaufleute geraten ist, den – meistens – Initiatoren des kommunalen Zusammenschlusses. Die (Bürger-)Versammlung hieß in Nord- und Mitteldeutschland „Bursprake“ (s.  B. I.1.b)) oder „Burding“. Schulze (Grundstrukturen, Bd.  II, S.  162 f.) sagt, daß sie auch nach der Einführung der Ratsverfassung noch bestanden, dann aber „im allgemeinen nur sehr geringe Bedeutung“ gehabt habe. Der Ort der Bürger­ versammlung war der Marktplatz, also ein öffentlicher Platz, aber dort wurde normalerweise nicht mehr beraten und entschieden, sondern nur noch verkündet. Die Bürgerschaft ist meistens jährlich einmal mittels Glockenläuten auf den Marktplatz zusammengerufen worden, „wo Mandate des Stadtherrn, Ratsbeschlüsse, Willküren523 und die Statuten der Stadt kundgemacht wurden. In Krisenzeiten konnte die Bürgerversammlung auch wieder zum Ort der … Willensbildung oder zum Forum für revolutionäre Propaganda gemacht werden.“ Planitz (S. 115 f.) schreibt für die Zeit vor der Ratsverfassung, daß für Köln 1149 ein Bürgerhaus (domus civium) nachweisbar ist, auch in Soest (als domus bur­ gensium) schon sehr früh, ebenso in Cambrai (als domus pacis). Das war das „Gebäude als der Versammlungsort der Gemeinde …, das Zentrum der städtischen Verfassung und Verwaltung“. Der Ort, an dem die Entscheidungen nach Einführung der Ratsverfassung fielen, hieß dann meist Rats-Stube. 2. Vom mittelalterlichen Herrschaftssystem zum Staat So wie sich die Veränderung vom politischen Gemeinwesen der Frühzeit der Franken zum Herrschaftssystem im Frankenreich in einem länger währenden Prozeß vollzogen hat, ist auch das Phänomen Staat nicht sozusagen plötzlich vorhanden gewesen, etwa „mit Beginn der Neuzeit“ – welcher Beginn dann seinerseits noch zu bestimmen ist.524 Die Entwicklung hin auf „Staatlichkeit“ setzt – selbst 523

Erklärung dazu in B.III.1.d). Dazu hier nur in aller Kürze: In der neueren Geschichtsforschung werden nicht mehr einzelne herausragende Ereignisse mit ihrer Jahreszahl als „Beginn“ genannt, sondern ein Zeitraum als sozusagen „Schwellenzeit“, im vorliegenden Fall meistens von der Mitte des 15. Jh. bis früh im 16.  Jh. Das schließt sowohl die Gutenbergische Erfindung des Buchdrucks als auch noch den Beginn von Luthers Reformation mit ein, die Eroberung Konstantinopels seitens des osmanischen Reichs (und die Folgen davon), die Vollentfaltung von Renaissance und Humanismus, die Entdeckungen portugiesischer und spanischer Seefahrer, dabei besonders die (Wieder-)Entdeckung Amerikas durch den Genuesen Colombo (Kolumbus). – Aber selbst wenn man einen Schwellenzeitraum angibt, bleibt auch hier gültig, daß vieles Neue mehr oder weniger noch tiefer liegende Wurzeln hat. 524

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verständlich  – schon im dieser Neuzeit vorausgehenden Mittelalter ein, und ich möchte dazu in folgenden drei Kapiteln die für unsere Zwecke wichtigen Marksteine dieser Entwicklung nennen. Zur Geschichte des Wortes Staat liegen aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei größere Arbeiten vor, zum einen von Werner Suerbaum: „Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Über Verwendung und Bedeutung von Res publica, Regnum, Imperium und Status von Cicero bis Jordanis“, 3., erw. Auflage, Münster/Westfalen (1977, 1. Aufl. 1961), zum anderen von Paul-Ludwig Weinacht: „Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert“, Berlin (1968).525 Für Arnold Oskar Meyer525 (S. 229, 6. u. 5. Z. v. u.) und Suerbaum (Titel mit Untertitel) ist „Staat“ wie selbstverständlich der Oberbegriff für die verschiedenen Systeme. Köstermann525 (Fußn. 1 u. 11 auf S. 225 u. S. 229 f.) hält sich (zeitbedingt?, 1937) in dieser Sache zurück. Die Bemühungen Köstermanns und Suer­ baums, zu zeigen, daß das lat. status schon in der Antike, bzw. die Argumente Meyers (S. 230), daß „lat. status die seit der Spätantike nachweisbare Bedeutung Staat“ gehabt habe, sind nicht überzeugend, wirken gekünstelt. Bei Meyer selbst (ebenda) heißt es: „Status bedeutet … 1. den ‚Zustand‘, die ‚Form‘, das augenblickliche ‚Gefüge des Gemeinwesens‘ [aber ebenso natürlich von allem möglichen anderen als dem Gemeinwesen] … 2.  den ‚festen, gesicherten, unerschütterten Stand‘ oder besser ‚Bestand des Gemeinwesens‘ [wie bei 1.]. Schon in frühen Zeiten wird es jedoch auch für Staatsform gebraucht. Doch erst Tertullian benutzt das Wort bewußt an Stelle von res publica. Aber auch er (ebenso wie die späteren Schriftsteller) gebraucht das Wort stets in Beziehung auf einen bestimmten Staat [kann selbstverständlich nur heißen: auf ein bestimmtes Gemeinwesen/ System], nie abstrakt für den Begriff Staat schlechthin.“

Kaum anders sieht es aus, wenn Köstermann, nachdem er Tertullian (um 160 bis nach 220 n. Chr.) herangezogen hat, noch zwei Stellen aus Aurelius Victor (S.  237 ff.) und eine aus Ammianus Marcellinus (beide aus dem 4.  Jh. n. Chr.) nennt (S. 239); in allen drei Fällen ist nur etwas über das konkrete System der Römer gesagt. – Köstermann sieht die Sache im ganzen so: „Es steht m. E. nichts im Wege, eine Gleichsetzung von status und ‚Staat‘ in diesem Sinne an gewissen Stellen schon für frühe Zeiten anzunehmen, wie sie sich wenigstens dem modernen Betrachter darstellt“ (S. 227). Das bleibt auf der Ebene der Beliebigkeit, ist schon deutlich weniger und mag auf sich beruhen. 525

Beiden Publikationen gingen zwei Aufsätze voraus: Meyer, Arnold Oskar: Zur Geschichte des Wortes Staat, posthum 1950 veröffentlichtes Manuskript für einen 1930 in München gehaltenen Vortrag, in: Die Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift für Universal­geschichte, 10. Jg., S. 229–239; Köstermann, Erich: „Status“ als [pseudo-]politischer Terminus in der Antike, in: Rheinisches Museum für Philologie, N. F., 86 (1937), S. 225–240. (G. Franz nennt (S. 229) in Vorbemerkungen zu jener Veröffentlichung von 1950 die Verbindungen zwischen Meyer und Köstermann.)

II. Defiziente Modi

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Weinacht hat das Programm, das Meyer vorschwebte, „eine Geschichte des Wortes Staat“ (zu der Meyer damals schon Wichtiges beigesteuert hat), seinerseits auf ganz langer Linie, „von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert“, und auf breiter Materialbasis tatsächlich sozusagen durchgezogen. Nach einer Etymologie (dazu meinerseits weiter unten) und der Nennung der Wortformen von „stat“/„Staat“ und der Vorgänger und Begleiter des Wortes sowie der Darstellung der Entwicklung des „politischen“ Wortgebrauchs von lat. status bringt Weinacht im zweiten und Hauptteil seiner Arbeit in zehn Kapiteln (STAT I–X) jeweils eine Haupt­bedeutung mit den ihr zuzuordnenden (vereinfachend gesagt:) Bedeutungsvarianten, Varianten meist in sehr großer Zahl. Ich will die Hauptbedeutungen oder gar die Varianten hier nicht aufzählen.526 Das, was „Staat“ – wie wir sehen werden – wesent-

526 Es sind Hauptbedeutungen darunter, bei denen Begriffe, die inhaltlich miteinander unvereinbar sind, äußerlich aneinander gekoppelt werden. Ich zeige es am Beispiel des 8. Kapitels („STAT VIII“). Mit der lateinischen Wortform societas civilis für „politisches Gemeinwesen“ kann man wissenschaftlich zurandekommen, solange das Theoriegebilde societas nicht mit „Gesellschaft“ „übersetzt“ wird (so aber Weinacht, S. 173 und S. 177). Die konkrete „Gesellschaft“ wird mit ihrer Absonderung aus der Öffentlichkeit nach und nach unpolitisch. Wir haben in Kapitel B. I.1.b) den Anfang kennengelernt, und ich zeige in den Kapiteln von B.III.1., daß es im Lauf des Mittelalters zunehmend Absonderungen nach „oben“ jeweils von dem gegeben hat, was dann noch weiter „unten“ war, dementsprechend Streben nach Rang­ erhöhung. – Da Weinacht ja gerade der Frage nachgegangen ist, was es im Lauf der Geschichte alles an Bedeutungen des Wortes Staat gab, kommen selbstverständlich außer Bedeutungen, die natürlich zwar ebenfalls zeitbedingt, aber nicht ideologisch-programmatisch eingefärbt sind (z. B. Weinacht, S. 70 f., a–b), in großer Zahl Bedeutungen vor, die aus der Ideologie, dem standortgebundenen Denken theoretisierender Autoren stammen, auch von solchen Autoren, denen es nicht um die Analyse der Phänomene, sondern um „Programm“ ging. Ich will es mit wenigen Beispielen ideologisch bestimmter Definitionen genug sein lassen. Weinacht (S. 131) sagt, daß „Kameralisten wie Sonnenfels und Justi wegen ihrer Nähe zum Vernunftrecht das Wort ‚Stat‘ nur gesellschaftlich verstehen“, und er zitiert (ebenda, in Fußn. 63) u. a. Sonnenfels mit „Die Bürger insgesammt sind der Staat“ und mit „Auch der Staat ist eine Gesellschaft“. Die folgenden Pseudo-Personalisierungen des Staates sind gleichfalls nicht Analyse, sondern Programm. Weinacht (S. 187) zitiert Iselin mit „Der Staat ist der allgemeine Vater seiner Bürger. Die größte, die erhabenste, die wichtigste Sorge der Regierung ist, ihre zahlreiche Familie nach denselben Grundsätzen zu erziehen, die einen weisen Hausvater leiten sollen“ (1770) und Herder mit „Der Staat ist die Mutter aller Kinder; sie soll für die Gesamtheit, Stärke und Unschuld aller sorgen“ (1779). In der 2. H. des 20. Jh. könnte man solche Formulierungen und ihre Verfasser für komisch bis albern halten, was jedoch falsch wäre und zur Beurteilung in diesen Hinsichten jeweils der Kontext gebraucht würde, der aber hier nicht ausgebreitet werden kann. Aus wieder anderer Ideologie stammt Schillers idealistisches Staatsverständnis, bei Weinacht (S. 210) zitiert: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen idealischen Menschen in sich … [.] Dieser reine Mensch … wird repräsentiert durch den Staat, die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannigfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet“ (1794). – Selbstverständlich gibt es seit der Vollentfaltung der Staatlichkeit in der Praxis in großer Zahl jene Autoren, die „Staat“ für den Oberbegriff gelten lassen wollen, unter den alle anderen Begriffe wie „(politisches) Gemeinwesen“, „Res publica“, „Regiment“, „Politie“ usw. zu subsumieren oder doch als „Vorgänger … des Wortes Staat im Deutschen“ anzusehen sind (so auch „Reich“, „Land“ u. a.; zu „Vorgänger und Begleiter“ s. Weinacht, S. 36–52).

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lich auszeichnet, hat Weinacht in seiner Wortbedeutungsgeschichte im 7. Kapitel „STAT VII: Ratio status“. Wir sehen uns zunächst das Wort und seine Herkunft an (Kluge/Götze, 16. Aufl., S.  751; 23.  Aufl., S.  785): „staat  …, daneben früher stat“ (m.) (Grimm, Wb., Bd. 17, Sp. 270), gibt es im Deutschen seit dem 14. Jahrhundert, entlehnt aus mlat. status, zu lat. stare „stehen“; auch in alle westeurop. Sprachen entlehnt. Die Bedeutung ist zunächst (wie bei status im klass. Latein) „Stand“, „Rang“, auch „Zustand (des Vermögens u. ä.)“ (auch der Besitz selbst), auch „Stand des Vermögens und dessen Verzeichnung“; das wird um 1500527 „Etat“ im Sinne von „Haushalt“ bzw. „Haushaltsmittel“ und der Aufwand, auch personell, den jemand treibt, z. B. und besonders der Fürst in seinem „Hofstaat“. (Zu „Etat“ und „Hofstaat“ siehe­ Weinacht, S.  80 ff. Die idg. Wortfamilie siehe bei „stehen“ in Kluge, 16.  Aufl., S. 759, u. 23. Aufl., S. 791; bei Weinacht, S. 31.) Da die Entwicklungen vom mittelalterlichen Herrschaftssystem zum Staat in Deutschland, Italien und Frankreich unterschiedlich verlaufen sind, zu verschie­ denen Zeiten zum „Staat“ geführt haben und dieser  – auch wenn das in allen Fällen dann tatsächlich „Staat“ war – unterschiedlich ausgesehen hat (siehe die drei Kapitel von B.II.2.a)), sind hier vorab einige Bemerkungen erforderlich über die frühen Wortbedeutungen, die im Italienischen und im Französischen über das hinausgeführt haben, was dort wie bei uns im Mittelalter zunächst (wie klass. lat. status) „Stand“, „Zustand“ (usw.; siehe oben) bezeichnete. Zum frühen Verständnis des Begriffs stato (m.) schreibt Ennen (Zur Typologie, S. 195): „‚stato‘“ ist der „Regierungsapparat528 des Podesta“, „die Rechts­ gelehrten, Militärs, Schreiber, die er mitbrachte“. Weinacht (S. 62) sagt, daß der „gründlich untersuchte Bedeutungsstand des Wortes stato bei Machiavelli“ (dieser 1469–1527; seine wichtigsten Schriften vom Anfang des 16. Jahrhunderts) hauptsächlich drei Verwendungsweisen erkennen lasse: „Stato ist Autorität und Einfluß des Regenten, zuweilen öffentliche Gewalt;529 stato ist der Fürst und sein Parteianhang, zuweilen die Inhaber der öffentlichen Gewalt;529 stato ist das macht529unterworfene Gebiet, Objekt und Substrat der Herrschaft. Stato ist nicht die societas civilis“, also nicht die Gesamtheit der Glieder des Gemeinwesens. – Ennen (ebenda) fügt der oben zitierten Charakterisierung noch an, daß der Podesta nur eine Übergangserscheinung war530 und die „Verwirklichung des modernen 527

Im Herzogtum Burgund – (dort schon sehr früh eine vorbildlich organisierte moderne Verwaltung; siehe Diwald, S.  65)  – bereits gut hundert Jahre vorher (Weinacht, S.  81 mit Fußn. 13). 528 Es liegt nahe, an den Hofstaat des deutschen Fürsten „in personeller Hinsicht“ zu denken, aber das Umfeld war in beiden Fällen doch sehr verschieden. 529 „Gewalt“ und „Macht“ wiederum im vordergründigen (Un-)Verständnis, mit Austauschbarkeit der Begriffe (s. B. I.5. u. B. I.3.); und von „öffentlich“ zu sprechen, ist im vorliegenden Fall nicht bloß inadäquat, sondern gerade grob verfälschend, wie sich in B.II.2.e) als Fazit aus B.II.2.a) ergibt. 530 Zum „Berufs-Podesta“ das für uns Erforderliche in B.II.2.a)aa).

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Staates in der eigenständigen italienischen Form“ die Signorie gewesen ist. Zu ihr in B.II.2.a)aa). In Frankreich beginnt im 14. Jahrhundert der Gebrauch des Wortes status im Sinne von (drei) „Stände“ im concilium provinciale und im consilium ­generale. Aber auch in Frankreich festigt sich die Wortverwendung in absoluter Wort­stellung „analog heutigem ‚Staat‘“ erst im 16. und 17. Jahrhundert (Weinacht, S. 60). Die oben bei Machiavelli genannten Bedeutungen seien im Französischen zwar „seit der Mitte des 16. Jahrhunderts grundsätzlich aktualisierbar“, aber „Fest eingebürgert … [gewesen seien] nur … ‚disposition, ordre, succes, police et cours, conduict, et maniement des affaires‘“ (S. 63). 1599 bedeutete gouvernement de ­l’estat „Regierung und Verwaltung eines Reichs oder ‚Staats‘. Der Etat de France wandelt sich ebenso von der Disposition des Landes zur Herrschaftsorganisation, die bald ständisch531, bald absolutistisch verstanden wird: französischer ‚Staat‘. Eine Kollektivbedeutung532 klingt dabei nur von fern an, und zwar bei der ständischen Variante; die absolutistische denkt den Etat mehr als das persönliche Regiment des Herrschers, die von ihm her wirkende, auf ihn zurückverweisende Ordnung (souveraineté)“ (S. 63). Zur Realisierung der absolutistischen Variante siehe B.II.2.a)cc). Im deutschen Sprachbereich bürgerte sich das von status gebildete Lehnwort zuerst in niederdeutschen, in hansischen Quellen und Urkunden ein (erster Beleg von 1332, andere von 1352 und 1382). „Staet“ bzw. „stat“ bzw. „staat“ sind dabei nicht mehr wie das alte lateinische „status“ einfach allgemein „‚Zustand, Beschaffenheit, Lage, Stellung‘, sondern haben  – ihrem spezifischen Kontext ent­ sprechend – die Bedeutung eines ‚zwischen‘ Parteien strittigen oder vertraglich gesicherten (politischen533) Rechtszustands“ (S.  71). Dennoch geht es nach wie vor um „Zustand“, noch nicht um „Staat“ – um mit Weinacht zu sprechen: „analog heutigem Staat“. Weinacht (S.  64 f.) zeigt am Beispiel Waremundus de  Eremberg (1601) die Schwierigkeiten, die lateinisch schreibende deutsche Autoren hatten, ihren deutschen Lesern die neuartigen Wortbedeutungen von ital. stato und franz. estat klarzumachen, und (S. 135 f.) anhand von Daniel Federmanns deutscher Übersetzung (1580) der „Descrittione … di tutti i Paesi Bassi“ des Lodovico Guicciardini, wie dem in Deutschland „noch ungeschiedenen fürstenstaatlich-ständischen Denken“ das Bedürfnis zur Unterscheidung zwischen der „Staden Raht“ und der „Stenden Raht“ noch fehlt. Anders als im Frankreich nach der Bartholomäus-Nacht (1572), wo einander nun zwei feindliche Lager gegenüberstanden, das der „ständischparlamentarischen“ Kräfte bzw. der „Monarchomachen“ auf der einen Seite und das andere, das eine anti-ständische Lehre von der königlichen souveraineté und 531 So nicht zuletzt von den Monarchomachen, auf die ich nur ohne Details hinweise (zur ersten Annäherung: Weinacht, S. 135, dazu S. 61). 532 Etwa im Sinne von societas civilis. 533 Hier können wir „politisch“ akzeptieren. Lübeck hat das sozusagen Gemeinwesen Hanse zwar angeführt, aber nicht über es geherrscht.

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die Theorie von den den Ständen vorzuenthaltenden, nur in den geheimen Rat (Conseil d’État) des Königs gehörenden „affaires d’État“ verfocht, das Lager der „Politiques“, der „Politiker“534, ist „in Deutschland … das Problem im 16. Jh. noch nicht akut geworden  …, kaum vernommen“ worden. In Deutschland war zum einen die Sache noch nicht akut, zum anderen ist dort „Staat“ nicht auf der ober­ sten Ebene entstanden, wie das in Frankreich der Fall war (Näheres in den Kapiteln von B.II.2.a)). Diwald (S.  269) sagt zur Ausbildung der Idee und zur Entwicklung in der­ Realität, „daß gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Ausbildung der neuzeitlichen Staatsidee voll eingesetzt hat, was nicht heißt, daß sie sich auch schon in jedem konkreten Staat Europas hypostasiert hätte. Allerdings verdient es Aufmerksamkeit, daß sie sich gerade bei denjenigen Staaten am härtesten profiliert, die das Instrumentarium der maritimen Welt­erschließung am frühesten entwickelt und im Dienst überseeischer Herrschaftsordnungen verwendet haben“,

Spanien und Portugal, die uns nicht thematisch interessieren: „Die Entwicklung setzte mit einer allmählichen Entmachtung der Feudalherren ein, ent­ weder durch eine Reduzierung der Privilegien auf den Sozialstatus oder durch immer straffere Bindung an die Krone, was in der Praxis ebenfalls auf … Depotenzierung hinauslief. Von der Herrschaftsspitze aus bedeutete das die Entdeckung des Potentials der … Konzentration. Sie äußerte sich zunächst darin, daß die Staatsdirektive entschlossener umgesetzt, daß sie mit ungleich festerer Hand als bisher vorgezeichnet wurde. Damit war die Richtung gegeben auf die Zentralisierung aller Regierungsfunktionen, ihre Zusammenfassung in einer Person, in der sich mehr und mehr die Gesamtheit der staatlichen Autoritäten versammelte – so weit, bis sich endlich das Staatliche selbst souverän setzte; die Endform bestand in der Abstraktion der persönlichkeits-ungebundenen Staatlichkeit.“

In den folgenden drei Kapiteln zeige ich, wie die Entwicklungen in Italien, in Deutschland und in Frankreich konkret verlaufen sind, in Frankreich deshalb zum Schluß, weil es nur dort zur Revolution gekommen ist. a) Das für unser Thema Wichtigste der Entwicklung aa) Die Entwicklung zu den italienischen Stadtstaaten Nach dem Untergang des weströmischen Reichs haben in Italien in den ersten Jahrhunderten in vielen Fällen die Bischöfe auch in weltlichen Dingen die Führung ihrer Civitas übernommen, meistens mit Unterstützung der Glieder des Ge 534

So heißen (siehe – worauf Weinacht an dieser Stelle verweist – Göhring, M.: Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich; Tübingen (1946), S. 85 ff.) ausgerechnet diejenigen, die die (eigentlich) Angelegenheiten aller nun auch erklärtermaßen zur geheimen Staatssache machen.

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meinwesens (siehe B.II.1.a), Text um Index 370): Als die Ungarn 899/900 in Oberitalien einfielen, waren sie mit ihren Verwüstungen und Plünderungen nur auf dem platten Land und in unbefestigten Orten erfolgreich; die großen befestigten Städte waren für sie uneinnehmbar. Diese Erfahrung hat vielerorts zu Neuerrichtung oder Instandsetzung von Stadtmauern geführt, was bald für die Entwicklung des mittelalterlichen Städtewesens in Oberitalien wichtig wurde. Weil die Leitung der Verteidigungsanstrengungen den „lokalen Machthabern …, nicht selten den Bischöfen“ übertragen wurde, sind diese „wichtiges Element der Stadtherrschaft“ geworden (Schulze, Vom Reich, S. 389). Im 9. und im 10. Jahrhundert (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 100 f.) gelang den italienischen Städten ein Wiederaufstieg, zunächst den Küstenstädten im Süden (die wichtigsten nennt Schulze, S. 101) infolge der dort günstigen Handelsbedingungen, aber sehr früh auch schon Venedig, das zwar damals noch zum „Oströmischen Reich“ gehörte, faktisch aber als Stadtrepublik unter Leitung des „Doge“ (wörtlich: „Anführer“) Selbständigkeit erlangte. Genua und Pisa erreichten einen ähnlichen Status. In Oberitalien waren Pavia als zuvor Hauptstadt des Langobarden- und auch noch später als Krönungsstadt des mit dem Frankenreich und dann mit dem Sacrum Imperium verbundenen Königreichs Italien, Verona als „Schlüssel“ zu Italien, Ravenna als ehemals römische Kaiserstadt immer noch bedeutend geblieben – von Rom einmal ganz abgesehen. Im 11. Jahrhundert gab es in der sich besonders in der Lombardei, aber auch in der Toskana entfaltenden, vom alten Stadtadel und vom Bürgertum getragenen „kommunalen Bewegung“ (siehe B.III.1.d)) Bestrebungen, städtische Autonomie zu gewinnen, sich – gegebenenfalls – von der Herrschaft des inzwischen reichskirchlich geprägten und meistens kaisertreuen Episkopats zu emanzipieren, also die Stadt-­ (= Civitas-)Herrschaft des Bischofs oder sonst des Stadtherrn zurückzudrängen. Anzeichen für die Anfänge städtischer Selbständigkeit ist in den Quellen das Vorkommen von consules. (Es gibt aber noch andere Bezeichnungen für die im Kern gleiche Sache.) Anfangs waren die Konsuln Berater des Stadtherrn, also in sehr vielen Fällen des Bischofs. Die ersten Vorkommen sind für das Ende des 11. Jahrhunderts überliefert. Die Konsulatsverfassung – wenn ich das abgekürzt so benennen darf; im einzelnen gab es Unterschiede – hat sich bis in die späten dreißiger Jahre des 12. Jahrhunderts in den Städten der Lombardei und Tusziens fast überall durchgesetzt (Ennen, 41987, S. 137 ff., mit Einzelheiten über die Abfolge und auch über Herkunft und Sozialstatus der Konsuln). Ich zeige in B.III.1.d), daß in Nord- und Mittelitalien, anders als in Deutschland, der Adel, freiwillig oder gezwungenermaßen, in den Städten lebte. Das hatte für die Städte Vorteile, z. B., wenngleich nicht nur, in bezug auf die Wehrkraft, aber auch den Nachteil, daß die Adelsfamilien ihre Rivalitäten und blutigen Fehden mit in die Stadt brachten. Es gab außerdem soziale Spannungen und von dorther Unruhen. In vielen Städten war der innere Frieden auf der Basis der Konsulatsverfassung auf Dauer nicht zu sichern (Waley, S. 68). Daraufhin gingen die Städte (Ennen,

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1987, S. 139 f., zeigt es für Genua, 1190, und für Florenz, 1189/1207) zum „Pode­ stat“ über. Der podestà war ein von außerhalb, aber (Waley, S. 69) keinesfalls von einer benachbarten Stadt stammender, von den städtischen Gremien gewählter Berufsbeamter, oft ein studierter Jurist. Er war, wenngleich unter der Kontrolle des Rats der Stadt, meist mit umfassenden Befugnissen ausgestattet, um Frieden und Ordnung zu sichern. Er besorgte die Rechtspflege und hatte meist auch das Militärkommando inne. Wichtig für die Entwicklung auf Staatlichkeit hin, wenngleich hier nur in Hinsicht auf eine Vorstufe des Staatsapparats, war: Der zum Podesta Gewählte brachte „einen Mitarbeiterstab und Hilfskräfte“ mit oder, wie Ennen an anderer Stelle sagt, seinen „Regierungsapparat“, die „Rechtsgelehrten, Militärs, Schreiber“. Aber auch der Sachverhalt, daß er ein in den innerstädtischen Kämpfen sozusagen neutraler Berufsbeamter war, auf das Recht535 verpflichtet und eben mit seinem eigenen „Apparat“ ausgestattet, weist in die Neuzeit. 4

Auf dem Weg zum Staat ist der „Podestat“ nur eine Übergangserscheinung gewesen, entscheidend wurde die „Signorie“. Auch in den nord- und mittelitalienischen Städten besetzte, wie später in denen des Heiligen Römischen Reichs nördlich der Alpen, die Oberschicht die städtischen Gremien, reiche Kaufleute, hier in Italien, anders als in Deutschland, sehr wohl handeltreibende Adlige, Großgrundbesitzer, in den großen Seestädten auch Seefahrer und Reeder. In den Ausein­ andersetzungen zwischen den führenden Geschlechtern gelangte vielerorts eine der großen reichen Familien oder eine herausragende Persönlichkeit aus einer solchen Familie an die Spitze des Gemeinwesens und beherrschte es. Die Formen waren im einzelnen unterschiedlich, abhängig von örtlichen Gegebenheiten. In nicht wenigen Fällen wurde solche Herrschaft erblich. Ich begnüge mich mit der Skizzierung zweier Fälle, Florenz und Mailand, bei Mailand auch der Bestrebungen, von der Bischofsherrschaft freizukommen. (Waley, S. 222–241, beschreibt noch andere Fälle.) Florenz war Sitz eines langobardischen Herzogtums, dann einer fränkischen Grafschaft gewesen, ab dem 11.  Jahrhundert der Markgrafen von Tuszien. Für 1138 sind erstmals Konsuln belegt. Sie regierten mit Hilfe von sogenannten Weisen (sapientes) und Rechtskundigen (causidici). Zum ersten Mal 1167 wird der Rat der „Guten Männer“ (boni homines) genannt. „In ihm sind anscheinend außer den ehemaligen Inhabern des Konsulats die genossenschaftlich organisierten sozialen Gruppen vertreten …“ (Ennen, 41987, S. 140; dort mehr Einzelheiten). Für 1189 ist ein Podesta genannt; ab 1207 ist der Podestat die florentinische Verfassungsform. 1282 übernimmt die Oberschicht (Meister der vornehmsten Zünfte, der arti536

535 Damals begann die Rezeption des antiken Römischen Rechts, bei der die (dann gerade für die Jurisprudenz wichtigste) wohl in der ersten Hälfte des 12. Jh. gegründete Universität Bologna eine besondere Rolle gespielt hat. Umgekehrt haben die Podesta zur Verbreitung des Römischen Rechts in der Praxis viel beigetragen. 536 „Arte“ ist die mittlerweile veraltete italienische Bezeichnung für „Zunft“, die damals auch das umfaßte, was bei uns meist „Gilde“ hieß.

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maggiori) das Regiment. Vertreter dieser Oberschicht bilden die Signoria, mit dem gonfaloniere (wörtlich: Bannerträger) an ihrer Spitze. Der Aufstand der Wollkämmer (ciompi) unterbricht nur kurz (1378–1382) die Herrschaft der Signorie.537 Diwald, der vor allem die Bedeutung der Medici für die Entwicklung von Florenz darstellt (S. 114–132), nennt die gut ein Dutzend wichtigsten Kaufmanns- und Bankiersfamilien, die die Signorie und damit das Geschehen in Florenz bestimmten, unter ihnen die Albizzi und die Medici, auf die es dann besonders ankommt. In den erhalten gebliebenen Quellen sind die Medici 1201 zum ersten Mal erwähnt. Etwa hundert Jahre später ist Avarardo di Bicci de’ Medici gonfaloniere, noch einmal ein Jahrhundert danach stehen die scharf rivalisierenden Albizzi und Medici miteinander dem Gemeinwesen vor. Beider Reichtum stammt aus Textilherstellung, Wollveredelung, neuen Einfärbmethoden, aus großen Geldgeschäften, Handel und Bewirtschaftung großer Landgüter. 1421 ist wieder ein Medici gon­ faloniere: Giovanni di Bicci de’ Medici, damals reichster Mann in Florenz. Das ist der Beginn des weltberühmt gewordenen Medici-Mäzenatentums (besonders ausgeprägt dann bei Cosimo und bei Lorenzo („Il Magnifico“)) für Künste, Wissenschaften und Architektur (Einzelheiten s. Diwald, S. 115–124). Giovanni di Bicci ist 1429 gestorben. Es folgte sein Sohn Cosimo, damals etwa 40 Jahre alt, hochgebildet, schon mit 26 Jahren von so hohem Ansehen, daß er als Begleiter von Papst Johannes XXIII. zum Konzil von Konstanz fuhr. Er gehörte dem Kriegsrat von Florenz an und ermöglichte der Stadt den militärischen Sieg im von ihm nicht gewünschten Krieg gegen Lucca durch Hergabe eines großen Darlehens. 1433 beschuldigt und verklagt Rinaldo degli Albizzi seinen Rivalen Cosimo, die republikanische Staatsform abschaffen und eine Diktatur der Medici errichten zu wollen. Cosimo wird verhaftet, kann fliehen und wird auf zehn Jahre aus Florenz verbannt. Die Albizzi regieren Florenz; in dieser Zeit gehen zwei Kriege verloren; die Stimmung in Florenz schlägt um. Rinaldo will Bürgerkrieg gegen die Medici. Papst Eugen IV. vermittelt. Cosimo kehrt 1434 umjubelt zurück.

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Ennen (41987), S. 208, sagt im Anschluß an Ernesto Sestan, daß die Signorie nicht aus der Fortentwicklung des Podestats hervorgegangen sei, sondern aus einem Zusammenwirken von partiell überlebendem Lehnswesen und der „modernen Tendenz, zur Überwindung des kommunalen Partikularismus durch Zusammenfassung mehrerer Stadtrepubliken stadtstaatlich organisierte Regionen, Prinzipate zu schaffen. – Dominus generalis, vicarius imperialis sind beliebte Signorititel. Von der Kommue gewählt, erhalten die Signori ihre Titel bald auf Lebenszeit, vererben ihre Position, zuerst de facto, dann de iure. Den oft vom Reich um gutes Geld erkauften Titel … vicarius imperialis [Reichsvikar] benutzten sie, die Legitimation vom Volke her zu neutralisieren. Ihre vom Volk herrührende … [Entscheidungsbefugnis], ihr arbitrium, ist in der Legislative und Exekutive unbeschränkt. Als vicarius imperialis haben sie teil an der ‚absolutio‘ des Kaisers vom Gesetz. Aus beiden Quellen resultiert eine plenitudo potestatis. … . Obwohl absolut, schließt sie das mehr oder minder fiktive Weiterbestehen der Kommune zunächst nicht aus.“

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Bankier Cosimo schlägt jede Herrschaftsposition aus, die als solche von weither sichtbar ist, will jedoch gewissermaßen halboffiziell, aber entschieden, die auswärtigen Angelegenheiten bestimmen. „Wie sein Vater blieb er dem Anschein nach ein Bürger wie jeder andere, als Kaufmann nur darauf bedacht, den Wohlstand der Stadt Florenz und seiner Bewohner zu fördern“ (S. 118). Florenz war gemäß Verfassung eine „demokratische Republik“, aber Cosimo „setzte  … seine Intentionen ohne Zugeständnisse durch …, [scheinbar] ohne daß er die demokratischen Formen verletzte“ (S. 119). Papst Pius II. zu Cosimo: „‚Ihr seid ein König in jeder Beziehung, außer dem Namen nach‘“ (S. 120). Ennen (Zur Typologie, S. 195) sagt das weniger plakativ und setzt den Akzent anders: Die Signorie ist ein „modernes institutionelles Staatswesen mit säkularisierter unbeschränkter einzelpersönlicher Spitze.“ Die Signorie bedeutet „Verwirklichung des modernen Staates in der eigenständigen italienischen Form“. Im Verhältnis zu den anderen italienischen Staaten  – die wichtigsten waren: Mailand, Venedig, der Kirchenstaat und Neapel-Sizilien – zielt Cosimo auf Frieden und darauf, daß die Herrscher um der auf dem Frieden basierenden gün­stigen wirtschaftlichen Entwicklung willen einander stützen, und erreicht so für vergleichsweise lange Zeit ein, wenn auch labiles, Gleichgewicht. Nach der osmanischen Zerstörung Konstantinopels, 1453, kommt es zur Solidaritätsvereinbarung der italienischen Staaten, 1454 zum Frieden von Lodi. Cosimo stirbt 1464, sein Sohn Piero bereits 1469. Daraufhin übernimmt Cosimos Enkel Lorenzo I. die Staatsführung. Nach außen ist auch Lorenzo zunächst Privatmann und „einfacher Bürger“, aber indem der damals erst Zwanzigjährige seitens der florentinischen Familien höchsten Ansehens gewählt wird, ist de facto Erbfolge der Medici legitimiert (Diwald, S. 120 f.). Diwald charakterisiert Lorenzo („Il  Magnifico“ = der Prächtige, der Groß­ artige) so: „Cosimo hatte man geachtet und verehrt. Lorenzo dagegen wurde von Florenz geliebt. Nicht wegen seiner Jugend und schon gar nicht wegen seines Äußeren“, wohl aber „wegen seiner Unbeschwertheit  …, wegen seiner offenen Haltung, seiner Anmut und Fröhlichkeit“. Das wiederum veränderte seine Stellung in Florenz. Lorenzo hat das florentinische Gemeinwesen zwar im wesentlichen wie seine Vorfahren regiert, er konnte sich dann aber nicht mehr nach außen als einfachen Bürger ausgeben, sondern zeigte sich als Fürst, zwar nicht mit Pomp und Prunk, aber anspruchsvoll und mit sicherer Haltung (S. 122). Bis zur „Pazzi-Verschwörung“ mit dem Mordanschlag vom 16. April 1478 im Dom während der Sonntagsmesse auf Lorenzo und seinen Bruder Giuliano gab es für Lorenzos Regiment über Florenz keine größeren Schwierigkeiten. Die Verschwörung ging vom geld- und herrschaftsbesessenen Papst Sixtus IV. aus, der für seinen Neffen Girolamo Riario zunächst Teile des florentinischen Territoriums mit Forli und Faenza gewinnen wollte (Einzelheiten dazu S. 124–127). Giuliano de’ Medici wird ermordet, Lorenzo entkommt verletzt; die Stadt stellt sich hinter Lorenzo; Mörder und Verschwörer, darunter zwei Priester, ein Kardinal aus der

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Familie des Papstes und Francesco de’ Pazzi aus einer mit den Medici rivalisierenden Familie, einige sogleich, andere später, werden festgenommen und öffentlich gehenkt. Der Papst verbündet sich darauf mit König Ferrante von Neapel-Sizilien gegen Florenz. Beide zusammen sind militärisch so stark, daß auch mailändische und venezianische Unterstützung die Belagerung von Florenz nicht verhindern kann. Einzelheiten dazu und über das extrem kühne, aber nicht unüberlegte Unternehmen Lorenzos zur Rettung der Stadt, sich ungeschützt nach Neapel in die Hände Ferrantes zu begeben (Ende 1479), und über den erfolgreichen Ausgang der Aktion, 1480, siehe Diwald (S. 127 ff.). In der Tradition seines Großvaters hat Lorenzo auf Frieden gesetzt, auf die Bewahrung des Status quo in Italien, auf die Sicherung des labilen Gleichgewichts zwischen den fünf wichtigsten italienischen Staaten (diese siehe oben). Die Balance hat bis 1493 gehalten. Lorenzo ist 1492 gestorben. Mit dem Italienzug des französischen Königs Karl VIII., 1494/95, hat dann eine neue Epoche in der Geschichte Italiens begonnen. Für unser Thema ist noch wichtig: Etwa ein Jahr nach der Pazzi-Verschwörung hat Lorenzo eine Verfassungsänderung erreicht, die Einsetzung eines „Rats der Siebzig“. Der Rat wurde mit dem Lorenzo ergebenen Leuten besetzt. Das brachte diesen in eine fürstenähnliche Position. Vom „Rat der Siebzig“ wollte sich Lorenzo aber nicht etwa beraten lassen. Charakteristisch für ihn ist „die Rücksichtslosigkeit, mit der er alles selbst entschied“ (S. 129). Lorenzo war jedenfalls schon etwa ein absolutistisch regierender Monarch. (Über andere Merkmale von Staatlichkeit, die generell für die italienischen Stadtstaaten gelten, dann dort, wo ich zusammenfasse; allgemein über Absolutismus und über Varianten in Kapitel B.II.2.a)bb).) Von 1494–1512 und noch einmal von 1527–1530 wurden die Medici aus Florenz vertrieben, nach ihrer Rückkehr, 1531, erblich Herzöge von Florenz, 1569 Großherzöge von Toskana. Mailand, seit Kaiser Diokletian (284–305 n. Chr.) Sitz des Vicarius von Italien und bis 402 fast immer weströmische kaiserliche Residenz, ab 569 langobardisch, ab 774 fränkisch, wurde ab 961 von einem (ottonisch-)kaiserlichen Statthalter regiert; es hatte Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung der italienischen Städte um die Jahrtausendwende. Auch hier wuchs das Selbstbewußtsein der Stadtbevölkerung, aber auch das der „einfachen“ Ritter, der „Valvassoren“, die in der Regel im Verhältnis zu ihrem Lehnsherrn rechtlich und wirtschaftlich ungesichert waren. Der zwar kaiser- und reichstreue, aber auch sehr herrische Erzbischof Aribert von Mailand löste 1035, als er einem Ritter seine Lehen entzog, den „ValvassorenAufstand“538 aus, der sich gegen den Erzbischof und die sich mit ihm verbünden-

538

Mehr dazu und zu dem in diesem Absatz Folgenden bei Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 345 ff.; S. 348 (unten)–352.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

den weltlichen und geistlichen Fürsten und die „Capitani“ (älterer höherer Adel) richtete. Zwar siegten die Valvassoren auf dem Campo Malo, zwischen Mailand und Lodi, das brachte aber keine Konfliktlösung. Kaiser Konrad  II. wurde um Entscheidung gebeten. Er kam 1036 mit einem großen Heer bis vor Mailand. Der Erzbischof empfing ihn in Mailand. Tags darauf brach eine Revolte der Bürgerschaft gegen den Kaiser aus. Ungeklärt war die Mitschuld Ariberts. Dieser wurde verhaftet, konnte aber in die Stadt fliehen und erschien nicht zum Hof- und Gerichtstag im März 1037 in Pavia. Das Heer schloß Mailand ein, ein Eroberungsversuch am 19. Mai scheiterte aber. Der Kaiser erließ am 28. Mai vor Mailand sein Lehensgesetz „Constitutio de feudis“, das die Erblichkeit der Lehen bis hin­ unter zu den Valvassoren festlegte. Pfingsten brachte ein verheerendes Unwetter; der Kaiser brach die Belagerung ab und zwang den Papst, Aribert zu exkommunizieren. Konrad II. beanspruchte überhaupt uneingeschränkt die Herrschaft über die Reichskirche zur Stärkung des Reiches, setzte Bischöfe und Äbte ein (weil sie heerbannpflichtige Lehnsleute des deutschen Königs waren), vergab kirchliche Ämter auch gegen Zahlung hoher Geldsummen und ging im Interesse des Reichs hart gegen unbotmäßige Bischöfe vor. Als Konrad II. 1039 gestorben war, kam es zur Verständigung zwischen seinem Sohn, Heinrich III., und dem Erzbischof. Dieser wurde wieder in Amt und Würden eingesetzt, mit komplexen Konsequenzen für Mailand. „Die erfolgreiche Verteidigung der Stadt hatte die Wehrfähigkeit und [wiederum] das Selbstbewußtsein der Bürgerschaft gestärkt“ (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 382). Nach dem Wegfall der Bedrohung brachen die sozialen Konflikte aber wieder auf, mit Bürgerkrieg. Die Bevölkerung Mailands unter Führung eines Adeligen, Capitano Lanzo, vertrieb jetzt ihrerseits den Erzbischof mit seinem hochadligen Anhang aus der Stadt. Lanzo erbat am königlichen Hof Vermittlung. Das Friedensurteil des Königs wurde von beiden Seiten akzeptiert und beschworen. Der König bestimmte außerdem nach Ariberts Tod, 1045, den aus einer Valvassorenfamilie stammenden Wido (Guido) zum neuen Erzbischof. Heinrich  III.,539 ein frommer Mensch, förderte als König/Kaiser die klunia­ zensischen Bestrebungen zur Ordens- und Kirchenreform, damals vor allem gegen den Kauf kirchlicher Ämter (Simonie), gegen die Laien-Investitur in niederkirchliche, noch nicht in Reichskirchenämter und noch nicht für den Priesterzölibat. Der König setzte 1046 auf seinem Romzug drei Päpste ab, die infolge von Auseinandersetzungen rivalisierender römischer Adelsgruppen bzw. mittels Simonie gleichzeitig „im Amt“ waren, und brachte statt deren (damals und in der Folgezeit) deutsche geistliche Fürsten auf den Papststuhl, die die Kloster- und Kirchen-

539 Zu dem, was oben im folgenden nur sehr knapp unter dem Gesichtspunkt „Was brauchen wir in bezug auf Mailand?“ wiedergegeben ist, siehe bei Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 374–400.

II. Defiziente Modi

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reform voranbrachten. Für diese am wichtigsten war der noch gemäßigte Bischof Bruno von Tull an der Mosel, aus Egisheim im Elsaß, als Leo IX. Er postulierte erstmals einen päpstlichen Anspruch auf den Primat über die Gesamtkirche. Das war aber noch nicht gegen König und Kaiser gerichtet. Leo blieb loyal. Der Anspruch barg aber den Keim der Auseinandersetzungen über den Primat der Kirche über das Reich in sich. Leo IX. ist 1054 gestorben, Heinrich III. 1056. Danach war das Reich schwach.540 Der Einfluß auf Reichs-Italien wurde geringer. Am päpstlichen Hof dominierte inzwischen die Reformpartei, dauerhaft. 1057–1071 gab es mehrmals Papst und Gegenpapst. Zur Zeit von Stephan IX. verbreiteten sich die Reformforderungen auch im Volk, in Mailand mit offener scharfer Kritik zweier militanter Kleriker adliger Herkunft, Ariald und Landulf, an der reich begüterten, fast ausschließlich adligen Geistlichkeit und deren Ämterkauf, sie „predigten Gewalt gegen verheiratete oder im Konkubinat lebende Geistliche“ (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 429). Die Aufstandsbewegung „Pataria“541 beherrschte „schon kurz nach ihrer Entstehung um 1057 die Straßen und Plätze, die Werkstätten und Tavernen Mailands“ (S. 430), vertrieb Priester aus den Kirchen, plünderte die Häuser, mißhandelte Frauen. Die Grenzen zwischen Kampf gegen Ämterkauf, Priester-Ehe und Konkubinat und Kampf um Herrschaft in der Stadt waren bald verwischt. Erzbischof Wido war zu schwach, um Übergriffe zu verhindern; er klagte erfolglos beim deutschen Königshof, auch bei Papst Stephan. Dieser war zunächst für Aufrechterhaltung der Ordnung und plante eine Synode. Nach seinem Tod wurde mit Unterstützung des radikalreformerischen, fanatischen Benediktinermönchs Hildebrand540 ein neuer Papst gewählt: Nikolaus II. (1058–1061). Bei ihm klagten Pataria-Anführer gegen den Erzbischof. Die Reformpartei am päpstlichen Hof setzte kirchliche Neuerungen in Mailand durch. Nach Nikolaus’ Tod war Hildebrand sozusagen das Haupt der Reformer. Diese wählten den Bischof von Lucca, der aus Mailand stammte und Verbindungen zur Pataria hatte, zum Papst: Alexander II. (1061–1073). Dagegen ging eine Gesandtschaft der Stadt Rom zu Kaiser Heinrich IV. (damals erst etwa elf Jahre alt, mit der Mutter als Regentin) und erbat von ihm einen neuen Papst. Auf einer Synode in Basel wählten deutsche und lombar­ dische Bischöfe Cadalus von Parma zum Papst Honorius II. (1061–1064). Mit diesem Schisma geriet die päpstliche Reformbewegung nun direkt in Gegensatz zum königlichen Hof, der Papst Honorius nicht durchsetzen konnte. Nach 1064 war Alexander II. allgemein als rechtmäßig anerkannt.

540 Heinrich IV. war zwar schon 1053 zum (Mit-)König gewählt und gekrönt, beim Tod des Vaters aber noch nicht ganz sechs Jahre alt. – Ausführlich über Heinrich IV. (bis 1106) und über Hildebrand/Gregor VII. (bis 1085) bei Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 401–452; auch Nitschke, S. 370–383. 541 Zur „Pataria“ Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 429 f.; Nitschke, S. 370 f.; auch Lotter, S. 112 ff.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Die zweite Phase des Pataria-Aufstands, ab 1066/67, brachte dessen Ausbreitung auf die ganze Lombardei. (Papst Alexander hatte einem neuen militanten Anführer der Bewegung, Erlembald, eine geweihte Fahne übergeben und ihn damit zum „Feldherrn Sankt Peters“ gemacht.) Wido wurde vom Papst exkommuniziert, „vom Mob in der Kirche mißhandelt, der erzbischöfliche Palast geplündert“. Das war „zu viel für den Stolz der Mailänder, die nun gegen die Pataria Front machen. Ariald wird getötet, doch als der Erzbischof die Stadt verläßt, gewinnt Erlembald wieder an Einfluß; Wido, alt und krank, … . … schickt Ring und Stab … an Heinrich IV. Der König bestimmt Gottfried, einen aus Mailand stammenden königlichen Kaplan542 , zum Nachfolger. … Die Mailänder erkennen die Resignation Widos nicht an und hindern den neuen Erzbischof am Betreten der Stadt“ (S. 430).

Nach Widos Tod, August 1071, erhob die Pataria einen jungen Mailänder Geistlichen, Otto, zum Erzbischof, der sich aber nicht durchsetzen konnte, obwohl Erlembald nach Art eines Volkstribuns über Mailand herrschte. 1073 wurde Hildebrand in Rom unter tumultuarischen Umständen selber zum Papst Gregor VII. gewählt (bis 1085). Er unterstützte Erlembald. Dieser und die Pataria wurden sozusagen Werkzeuge des Papstes. Dagegen kam es zur Auf­ lehnung der Mailänder Bürger; sie wollten städtische Autonomie, nicht den Papst als Oberherrn statt eines Bischofs als Stadtherrn. Im Frühjahr 1075 kam es zur Erhebung gegen die Pataria-Tyrannei: „Erlembald wird erschlagen, viele seiner Anhänger getötet, … . Die militante sozial-religiöse Volksbewegung der Pataria geht blutig zu Ende“ (S. 430). – Nach langwierigen harten innerdeutschen Auseinandersetzungen mit weltlichen Reichsfürsten, außerdem mit Nachbarherrschern nördlich der Alpen (Literatur siehe Fußnote 540) konnte Heinrich IV. 1075 in Oberitalien eingreifen; er setzte (außer Bischöfen in Fermo und in Spoleto) den Kaplan Tedald als Erzbischof von Mailand ein, deren es nun dreie gab. „Das … Eingreifen des deutschen Königs in Mailand … hat ungeahnte Folgen; es wird zur Initial­ zündung für den Ausbruch des Investiturstreits [und des Suprematiestreits], für Gregors provokatorischen Brief an Heinrich IV., für die Überreaktion des Königs und seiner Bischöfe auf dem Wormser Reichstag und den Bannfluch des Papstes“ (S. 430 f.). Dem gehe ich hier nicht nach (Näheres S. 430 ff.). Mit diesem Kampf zwischen Papst und Kaiser begann die Loslösung ReichsItaliens vom Reich. Zu Anfang war das Papsttum noch die stärkste Kraft, im Endeffekt waren aber die großen italienischen Städte die Gewinner. Es kam zum Ausbau der Wirtschaft in der Zeit der Kreuzzüge, zunächst besonders in den Seestädten, dann auch in anderen. Im 12. Jahrhundert agierten die Städte selbständig pro- oder antikaiserlich und konnten Päpste unter Druck setzen. Das erleichterte zunächst König Friedrich I. („Barbarossa“) den Versuch der Wiederherstellung der

542

Zur Bedeutung der königlichen „Kapelle“ siehe B.II.1.a).

II. Defiziente Modi

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Reichsrechte in Oberitalien:543 Im Herbst 1154 unternahm der König einen Italienzug zur Kaiserkrönung (diese 1155), er ist aber nur für kurze Zeit in Oberitalien geblieben. Schon bald formierte sich der Widerstand gegen die Wiederherstellung der Reichsherrschaft, u. a. gegen die Forderung auf Rückgabe der Reichs­güter, die die Städte sich angeeignet hatten. Die Stadtrepublik Mailand verweigerte dem Kaiser den Gehorsam, kam daraufhin in die „Reichs-Acht“, die aber damals für den Kaiser noch nicht vollstreckbar war. Beim zweiten Italienzug, 1058, unterwarfen sich die großen Städte, nach mehrwöchiger Belagerung auch Mailand. Nach juridischer Beratung durch vier Rechtsgelehrte aus Bologna wurden die kaiserlichen Rechte544 beim Hoftag (Beratung des Kaisers mit den „Großen des Reiches“ und mit Vertretern der reichs-italienischen Städte)  auf den „Ron­ kalischen Feldern“, südlich Mailand, bekräftigt. Die „Ronkalischen Beschlüsse“ sind ein noch im Geist der Zeit vor dem Investiturstreit konzipiertes Programm, das aber nicht nur das Verhältnis des Reichs zu den Städten Reichs-Italiens betraf. Weil der Papst im Programm die Gefahr der Schwächung seiner Position sah und weil die Städte von der geplanten Einsetzung eines reichstreuen „Podesta“ oder „Rektors“ eine Beherrschung, außerdem wirtschaftliche Ausbeutung befürchteten, kam es zum Bündnis der betroffenen Städte unter Führung Mailands mit dem Papst gegen den Kaiser. In den folgenden Auseinandersetzungen gab es Siege des Kaisers (1162 Mailand unterworfen und seine Mauern niedergelegt, 1167 Einzug in Rom) und Niederlagen (Heer fällt 1167 Malaria-Seuche zum Opfer; Zusammenschluß der Städte unter Führung Mailands zum „Lombardischen Bund“; die Städte gründen 1168 gemeinsam neue Festung gegen den Kaiser: „Alessandria“, d. i. (Papst-)„Alexander(III.)-Stadt“; 1176 bei Legnano Sieg der Mailänder Bürgermilizen über Barbarossas Ritterheer). Schon das Jahr 1176 brachte erste Kompromisse, den Vertrag von Venedig, 1177, den Frieden mit dem Papst und einen Waffenstillstand mit dem Lombardenbund, den der Kaiser im Vertrag von Konstanz, 1183, anerkannte. Die Anerkennung geschah formal unter Wahrung der Rechte des Kaisers gegenüber den lombardischen Städten, die aber de facto die vom Kaiser beanspruchten ertragreichen Regalien (Königsrechte)  gegen Zahlung größerer Summen behalten konnten. Die Städte erhielten das Recht, selber ihre Konsuln zu wählen, die ihrerseits beim Kaiser um Investitur nachsuchen sollten. Die Bundesfestung „Alessandria“ blieb bestehen, wurde aber umbenannt in „Caesarea“, d. i. „Kaiserstadt“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 202 und S. 205 f.). Der Autor (S. 206) bewertet zum einen die Verträge von Venedig und Konstanz für den Kaiser „trotz beträchtlicher Zugeständnisse an seine Gegner“ im ganzen doch als Erfolg.

543 Zu Barbarossas italienischen Aktivitäten mehr detailliert Boockmann, S.  88–110; Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 193–207; auch Ganshof, S. 432–436; mit z. T. verschiedener Akzentuierung und unterschiedlicher Bewertung, die wiederzugeben hier zu weit führen würde. 544 Aufzählung bei Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 201 (unten) f.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Nach dem Tod von Barbarossas Enkel Friedrich II. konnten dessen Söhne die kaiserliche Herrschaft in Italien nicht aufrechterhalten. Mit dem Ende der Stauferdynastie ging eine Epoche von fast einem halben Jahrtausend zu Ende, in der die Franken und dann die Deutschen das Geschehen in Italien stark mitbestimmt haben. Das Spätmittelalter brachte den „Rückzug des Reiches auf seinen deutschen Kernraum“. De facto, wenn auch nicht de iure lösten sich Burgund, Provence und die Dauphiné vom Reich; die Vorrangstellung des Kaisers in Italien ging verloren (Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 77 und S. 54 f., Zitat S. 54). Ab 1260 gab es französische Vorherrschaft und Rivalitäten zwischen Frankreich (bzw. Anjou) einerseits und Aragon andererseits (betr. Unteritalien und Sizilien siehe Fußn. 548 f.). Das Avignon-Asyl der Päpste, 1309–1377/78, beendete die Rolle der Päpste als möglicherweise Führungskraft in einem nationalen Italien. Nach Rückkehr Martins V. nach Rom brachte dieser Papst den Kirchenstaat wieder in den Kreis der fünf relativ großen italienischen Herrschaftsgebilde mit ein. In Mailand folgten erbittert geführte Kämpfe zwischen den guelfischen545 Torre und den ghibellinischen545 Visconti. Die Visconti übernahmen 1310 die Herrschaft über Mailand und dehnten sein Gebiet über große Partien der Lombardei aus. Mailand war, wie später Florenz, unter der Herrschaft einer Familie (1395 wurde Giangaleazzo Visconti seitens König Wenzel zum „Herzog von Mailand“ erhoben), bis 1447 (Tod des letzten männlichen Visconti). Expansionsbestrebungen der ­Visconti führten zu den vier „Mailänder Kriegen“ im 2. Viertel des 15. Jahrhunderts, in denen Venedig seinen Festlandsbesitz, seine „Terra ferma“, auf Ko­ sten Mailands (und anderer) vergrößerte. Mailand war nach Ende der Visconti nur wenige Jahre (1447–1450) Republik. 1450 usurpierte der zuvor erfolgreiche Söldneranführer (condottiere) Francesco Sforza546 die Herrschaft über Mailand, schloß 1454 mit Venedig auf der Basis des Status quo den Frieden von Lodi, dem danach auch die anderen italienischen Staaten beitraten. Das brachte wieder jenes besonders seitens der Medici geförderte „labile Gleichgewicht“ (siehe weiter vorn bei Florenz) der fünf relativ

545 Ursprünglich die Namen für Parteiungen in Italien, die in der Stauferzeit im Streit zwischen den Welfen (ital. Guelfi) und den Staufern/Waiblingern (ital. Ghibellini) auf dieser oder jener Seite standen. Die Bezeichnungen wurden auch noch bei inneritalienischen Auseinandersetzungen verwendet, als es den deutschen Gegensatz zwischen Welfen und Staufern  – diese in männlicher Linie 1268 schon ausgestorben – gar nicht mehr gab (dazu auch Waley, S. 202 und S. 206). 546 Sohn eines ebenfalls berühmten Soldatenführers (dieser seinerseits Bauernsohn) und am Hof des Fürsten Niccolò d’Este zusammen mit dessen Söhnen in Ferrara erzogen, dann verheiratet mit der einzigen Tochter des letzten Visconti. Keine kaiserliche Anerkennung Sforzas als Herzog. (Zu Ferrara s. Diwald, S. 74–91, auch über die in Italien vorbildliche Administration, mit größter Beständigkeit der Herrschaftsinstitutionen und einer Finanzwirtschaft, „neben der nur Venedig und Florenz sich sehen lassen konnten“; S. 74.)

II. Defiziente Modi

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großen Systeme Italiens dieser Zeit, Florenz, Mailand, Venedig547, Kirchenstaat548 und Königreich Neapel(-Sizilien)549. 547 Venedig gehörte zum byzantinischen Exarchat von Ravenna, wurde unmittelbar regiert wohl von einem Magister militum (639 erstmals genannt), ab 697 statt seiner von einem gewählten „Dux“, ab 742 „Doge“, dieser nach Loslösung von Byzanz im 9. Jh. zunächst weitgehend mit monarchischen Befugnissen. Venedig ab 9./10. Jh. wichtigster Handelspartner für Byzanz und die Levante. Ab 10. Jh. Eroberungen in Istrien und an dalmatinischer Küste. Zur Zeit der Kreuzzüge Ausbau der Stellung im östl. Mittelmeer. – Ab 13. Jh. streng oligarchisch regiert: Großer Rat (Consilio dei Pregadi, 60 Mitglieder, später „Senat“) wählt Dogen, auf Lebens-Zeit, und sechs Räte (Kleiner Rat); daraus entwickelt sich die „Signoria“, die Regierung i. e. S. Befugnisse des Dogen nach und nach verringert: Ist ab 1032 absetzbar, ab 12. Jh. an Mehrheitsbeschlüsse der Signoria (Vorsitz Doge) gebunden. Um Dynastiebildung zu vermeiden, ab 1229 Ausschluß der Söhne des Dogen von Herrschaftsämtern; Überprüfung der Amtsausübung jedes verstorbenen Dogen, mit Möglichkeit der Ahndung bei dessen Familie. Nach osmanischer Eroberung Konstantinopels (1453), Entdeckung Amerikas (1492), des Seewegs nach Indien (1498) Niedergang des venezianischen Orienthandels und Bedeutungsverlust. – 1378–1381 „Chioggia-Krieg“ mit Sieg über Genua. Danach, bis 1509, Eroberung des östlichen Oberitaliens, der „Terra ferma“ (Einzelheiten Ennen, 41987, S.  209 f., und Kienast, S. 729), ohne das Trentino, als neue Wirtschafts- und Herrschaftsbasis auf dem Land. Venedig blieb Adelsrepublik: Zugang zum Großen Rat nur für bestimmte Familien, 1510 Abschluß nach außen und unten (serrata). „Venedig beließ den unterworfenen Kommunen ihre eigenen Einrichtungen und Satzungen, übertrug die Vertretung seiner Oberherrschaft einem Podesta und einem begrenzten Stab von Beamten aus dem venezianischen Adel, denen es die Verbindung mit der lokalen Aristokratie untersagte, wie es auch den Adel der neu­ gewonnenen Gebiete nicht in den eigenen aufnahm“ (Ennen, 41987, S. 209 f.). 548 Anfänge in der Spätantike: Römische Kirche hat Großgrundbesitz in Italien, Sizilien und Sardinien, „der seit dem 6. Jahrhundert als ‚Patrimonium Petri‘ bezeichnet“ wird. Mit Reformpapst Leo  IX. (zu ihm siehe weiter vorn im Text) Beginn der Wiederherstellung. Papst Innozenz III. (1198–1216) veranlaßt Gliederung in Provinzen und organisiert geordnete Verwaltung. Kaiserliche Herrschaft wird zu nur noch Schutzpflicht, „so daß man nun von einem ‚Kirchenstaat‘ sprechen kann“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. III, S. 75 f.). – Eine moderne Verwaltung seit Sixtus V. („Experte in sparsamer Wirtschaft“ und „Verwaltungsgenie“) mit Kurienreform von 1588: Koordination der Geschäftsbereiche, die überschaubar werden; Schaffung „ständiger Kardinalskommissionen mit definiertem Arbeitsbereich“, ähnlich den Ressorts bzw. Ministerien in weltlichen Staaten (Zeeden, S. 182 f.). 549 Das Königreich Neapel umfaßte außer Teilen Unteritaliens in den Jahren 1130–1282, 1442–1458, 1504 bis ins 18. Jh. (und noch mehrmals danach) auch Sizilien. In Völkerwanderungszeit und Frühmittelalter Sizilien erobert von Vandalen (440), Ostgoten (493), Byzanz (Mitte 6. Jh.) und Arabern (827), im Hochmittelalter von den Normannen (11. Jh.). – Außer bei einzelnen Charakterisierungen, die ich aus einer anderen Darstellung übernommen und deshalb gesondert gekennzeichnet habe, stütze ich mich bei der folgenden Kurzskizzierung auf Boockmann, S. 127–134, und Ganshof, S. 427–434, S. 437, S. 441 f., S. 460, S. 475–478, bei dem im Text und auch auf der detaillierten Stammtafel der Staufer (S. 430 f.) die Verbindung Aragons mit den Staufern gut deutlich wird. – Roger II. (regiert 1101–1154) vereinigt 1130 seine normannischen Besitzungen in Unteritalien mit Sizilien zu einem Königreich (Kienast, S. 590: „fast unumschränkte Monarchie“), das nun Blütezeit erlebt und schon viele Elemente eines modernen zentralistischen Beamtenstaates aufweist. Rogers II. Erbtochter Konstanze heiratet 1186 den Sohn Barbarossas (später König und Kaiser Heinrich VI.). Beider Sohn (später König und Kaiser Friedrich II., gest. 1250) organisiert 1231 Verwaltung, Rechtswesen und Finanzwesen straff und zentralistisch, macht Unteritalien-Sizilien zu einem

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Zusammenfassend können wir sagen: Die italienischen Stadtstaaten, in vielen Fällen geprägt von der „kommunalen Bewegung“, haben sich  – mit Unterschieden in den Details – zu Systemen mit für die Verhältnisse von damals sehr moderner, straff und rational organisierter, mit Fachleuten, nicht zuletzt mit aus­ gebildeten Juristen besetzter Verwaltung entwickelt, mit modernem Steuer­system und effizientem Finanzwesen. In vielen der italienischen Stadtstaaten – Florenz und Mailand sind ja nur zwei besonders wichtige unter ihnen – gelangte eine herausragende Persönlichkeit aus reicher und einflußreicher Familie an die Spitze des Gemeinwesens, ursprünglich gewählt, in manchen Städten später aber auf Lebenszeit im Amt. Die Position wurde erblich, die Entscheidungsbefugnis in Legislative und Exekutive unbeschränkt, nicht nur, aber besonders, wenn die Signorie die Reichsstatthalterschaft, die imperiale Vikarie, innehatte. Solche Stadtregierung entwickelte sich (Ennen, Zur Typologie, S.  195:) zu „säkularisierter unbeschränkter einzelpersönlicher“ fürstähnlicher, manchmal auch de iure gefürsteter Herrschaft. (Venedig hat, wie gezeigt, im Rahmen seiner Oligarchie umgekehrt dem Dogen immer mehr Beschränkungen auferlegt.) Weil es a l l e wichtigen italienischen Staaten betrifft, ergänze ich das bisher zusammenfassend Gesagte jetzt noch um das 1440/60 entwickelte italienische System der ständigen diplomatischen Vertretungen in den Hauptstädten (Ennen, 4 1987, S. 210, die dort hinzufügt:) „Der Urbanität und Säkularisierung [keinerlei sakrale Weihe der Herrschaft] …“ und eben jener „Rationalisierung“ der Diplomatie „entspricht eine sehr bewußte städtebauliche Planung.“ Auch ohne daß wir die großartig gewährte Förderung von Kunst, Architektur und Wissenschaft etwa in Florenz, Ferrara und Mailand mit einbeziehen, erbringt unsere Zusammenfassung positive Ergebnisse. Das negative ist die „säkularisierte unbeschränkte einzelpersönliche“ Herrschaft als weitgehend Normalität. Wenn Diwald (S. 119) über Florenz und Cosimo de’ Medici schreibt, „Der Ver„absolutistischen Staat, dem [damals] modernsten des Abendlandes, von hervorragender Finanzkraft (direkte und indirekte Steuern, Zölle, Staatsmonopole). Besoldete Beamte, ausgebildete Beamtenhierarchie“ (S. 591). – Karl von Anjou, Bruder des französischen Königs ­Ludwig IX., besiegt König Manfred von Sizilien (Sohn Kaiser Friedrichs II. und Reichsverweser für seinen noch jungen Neffen Konradin, den Enkel des Kaisers) in der Schlacht von Benevent (dabei Manfred gefallen). Konradin kommt mit einem Heer 1267 über die Alpen, darauf in Sizilien allgemein Abfall vom verhaßten Regiment Karls von Anjou. Konradin (geb. 1252) unterliegt jedoch 1268 in Schlacht von Tagliacozza, wird gefangen und gehenkt. Ende der Stauferzeit. Karl von Anjou König. Er und seine französischen Amtsträger in Sizilien aber so sehr verhaßt, daß 1282 allgemeiner Aufstand („Sizilianische Vesper“): alle Franzosen, zunächst in Palermo, dann in ganz Sizilien, ermordet oder vertrieben. Peter III. von Aragon, Mann der Tochter Konstanze des Stauferkönigs Manfred von Sizilien, rüstet zum Italienfeldzug wegen der sizilianischen Ansprüche seiner Frau und wird aus Sizilien nach dort auch gerufen. Karl von Anjou verliert Sizilien und verbleibt auf Unteritalien beschränkt. Peter III. ist König von Aragon und Sizilien. In der Folge jahrhundertelang Auseinandersetzungen zwischen Herrschaftshäusern aus Frankreich und der Iberischen Halbinsel, was wir für unsere Zwecke nicht mehr zu verfolgen brauchen.

II. Defiziente Modi

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fassung und dem Äußeren nach gab es keinen anderen Stadt-Staat, der so offensichtlich eine demokratische Republik war. Und doch wurde Florenz nicht anders regiert, als führte ein Despot die Geschäfte; denn hier setzte ein einzelner seine Intentionen ohne Zugeständnisse durch: Cosimo, ohne daß er die demokratischen Formen verletzte“, liegt eine Beurteilungsverkürzung vor. Selbst vorausgesetzt, es stimmte tatsächlich, daß Cosimo demokratische Formen nicht verletzte, fehlten in der Realität jedenfalls Grundlagen demokratischer Ordnung – von echt politischer Ordnung ganz zu schweigen. Es kommt in dieser Sache hinzu (Diwald, S. 121): „Allerdings muß gerade bei Cosimo und seiner geschulten [und geschult präsentierten] Bescheidenheit unterstrichen werden, wie stark auch er sich der üblichen politischen 550 Mittel der Zeit bediente. Wenn er zum Ausdruck brachte, daß ‚ein Staat nicht mit Pater­ nostern regiert‘ werde, so erinnert das an eine Formulierung, wie sie wenig später Caterina Sforza verwendet hat. Das ging bis zur heimlichen Beseitigung von Leuten, die zufällig oder … [unglücklicherweise] seinen politischen 550 Plänen gefährlich waren; aber … diese Geschäfte besorgte er niemals direkt.“

Nachdem im Rahmen der „kommunalen Bewegung“ städtische Organe gegenüber dem Stadtherrn zunächst „konsularische“, schließlich „signorale“ Mitwirkung an der Stadtherrschaft gewonnen hatten, setzte sich in der Renaissance-Zeit – mit wenigen Ausnahmen – also ein autokratisches Regiment einer Einzelpersönlichkeit oder, mit Erbfolge, einer herausragenden, manchmal später gefürsteten Familie durch, unter Zurückdrängung bis Ausschaltung der anderen kommunalen Organe. Diwald (S. 304) sagt dazu, für die Renaissance-Zeit in Italien lasse sich „Absolutistisches nur tendenziell aufweisen, allerdings ausgeprägt“. Die Zeit zwischen der Renaissance und dem letzten Drittel des 18.  Jahrhunderts in Italien lasse ich hier aus und gehe in einer sehr knapp gefassten Übersicht anhand von Weis (S. 32–36) nur auf die Einwirkung bzw. Nichteinwirkung auf­ klärerischer Gedanken ein. An den vom Ausland unabhängigen italienischen Staaten ging die Bewegung der „Aufklärung“ praktisch spurlos vorüber, am Kirchenstaat, an der oligarchischen Republik Venedig, am Königreich Sardinien-Piemont. In den von ausländischen Herrschern regierten Staaten gab es dagegen Veränderungen, weniger in den jeweils von spanischen Bourbonen regierten Königreich Neapel und Herzogtum Parma. (Hier verweise ich auf Weis, S. 32 ff.) Größere Bedeutung hatte und tiefer griff der aufgeklärte Absolutismus der Habsburger in der Lombardei, d. h. primär in den Herzogtümern Mailand und Mantua, ferner und ganz besonders im Großherzogtum Toskana551 in Mittelitalien. 550

„Politisch“ ist das nicht; es geht um Mittel zum Herrschen bzw. um Herrschaftspläne. Um Frankreichs Zustimmung zur Vermählung (1736) von Maria Theresia mit Herzog Franz III. Stephan von Lothringen zu gewinnen, mußte der Herzog 1736/37 auf seine Herzogtümer Bar und Lothringen zugunsten des Exkönigs von Polen, Stanislaus I. L ­ eszczynski, verzichten. (Dieser war 1704 auf schwedischen Druck hin von einer Minderheit des polnischen Adels zum König von Polen gewählt worden, hatte den Thron aber nach der Niederlage König Karls XII. von Schweden, 1709, verloren. 1725 hatte König Ludwig XV. von Frankreich die Tochter Maria des polnischen Exkönigs geheiratet. 1733 war dieser auf Betreiben 551

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Im habsburgischen Mailand, in dem weniger die feudalen Vorrechte als die kommunalen Selbstverwaltungsrechte den absolutistischen Reformen Schwierigkeiten bereiteten, hatte schon Maria Theresia die Verwaltung neu organisiert und die Anfertigung eines Katasters durchgesetzt, was praktisch eine Beseitigung der städtischen und der ständischen Steuer-Privilegien in dieser Hinsicht zur Folge hatte. Sie hat aber die geschichtlich gewachsenen Einrichtungen und die alten Verwaltungseinheiten belassen, wie sie waren. Joseph II. änderte das ohne Rücksichtnahmen. Die sozusagen Gewaltsamkeit bei der Durchführung hat seine kirchenpolizeilichen Maßnahmen und die Klösteraufhebungen in Mißkredit gebracht. Josephs II. Neuerungen waren außerdem überstürzt und „ohne Kontakt mit den einheimischen Kräften durchgepeitscht“ worden (Weis, S. 34; dazu auch S. 24). Joseph  II. sei wie mit der „Dampfwalze“ dahergekommen; unter seiner Herrschaft habe es zum ersten Mal eine Entfremdung zwischen den Lombarden und den Habsburgern gegeben. „Trotzdem waren die Wirkungen der Ära Maria Theresias und Josephs II. auf Verwaltung, Gesellschaft, Handel, Gewerbe und Industrie der Lombardei so dauerhaft, daß sie wesentlich zur Vergrößerung des wirtschaftlichen Vorsprungs dieser Region bis in die Gegenwart beitrugen – eine Leistung, an der [dies dann wohl zur Zeit Maria Theresias] einheimische Kräfte einen entscheidenden Anteil hatten“ (S. 34).

In der Toskana (S.  34 ff.) hat Peter Leopold von 1765 bis 1790 als Großherzog regiert, bis zu seines Bruders Joseph II. Tod, worauf er selbst als Leopold II. zum Kaiser gewählt worden ist. Peter Leopold hatte, anders als sein Bruder, die Fähigkeit, sich von den „besten Köpfen des Landes“ beraten zu lassen, von Leuten, die sowohl Wissenschafter als auch Praktiker waren. Zusammen mit ihnen hat er die umfassenden Reformen durchgeführt, die dem damals erreichten Stand von Rechts-, Wirtschafts- und Naturwissenschaften entsprachen und den Bedürfnissen des Großherzogtums, dabei sogar der Provinzen des Landes angepaßt waren. Die Reformen wirkten sich günstig aus auf die Landwirtschaftstechnik, auf die Agrarverfassung, im Handel und im Gewerbe. Die Toskana hat 1770 als erster Staat in Europa den Zunftzwang aufgehoben, „die Lombardei folgte ein Jahr später“, also noch während Maria Theresias Herrschaft. Auch für die Toskana ging ein Kataster in Arbeit, ist aber bis 1790 nicht mehr fertig geworden. Die Staatsverwaltung wurde reformiert, dabei jenes traditionell gegebene Übergewicht der Stadt Florenz beseitigt. Der Großherzog „stellte die Gleichheit vor dem Gesetz

Frankreichs und Schwedens wieder zum König von Polen gewählt worden, hatte sich im Polnischen Erbfolgekrieg aber nicht gegen August III. von Polen-Sachsen durchsetzen können.) Anstelle seiner angestammten Herzogtümer (die vertragsgemäß nach dem Tod Stanislaus’ an die französische Krone fallen sollten – was 1766 auch geschah) erhielt Franz Stephan 1737 das Großherzogtum Toskana. Er war ab 1740 Mitregent der (später) Kaiserin Maria Theresia und wurde 1745 als Franz I. Stephan zum Kaiser gewählt. Nach seinem Tod, 1765, bekam der älteste Sohn, Joseph, die habsburgischen Erblande und ist 1765 zum Kaiser gewählt worden, während der zweitälteste Sohn, Peter Leopold, Groß­ herzog der Toskana wurde. Um diese beiden geht es dann oben im Text.

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her, schaffte die Patrimonialgerichtsbarkeit ab“, was in den meisten europäischen Staaten erst nach der Französischen Revolution geschah, „und veröffentlichte ein modernes, von Beccaria [einem sehr bedeutenden Denker der europäischen Aufklärung und Sachkenner] maßgebend beeinflußtes Strafgesetzbuch“. Dagegen ist der Versuch, die toskanische Kirche im Sinne des Jansenismus552 zu reformieren und dabei möglichst von der Kurie unabhängig zu machen, ein Fehlschlag geworden. Es brachen Unruhen aus. Nachdem der Großherzog 1790 (wegen seiner Wahl zum Kaiser) abgereist war, mußte die von ihm für die Toskana eingesetzte Regentschaft wegen des Aufstandes einen Teil dieser Reformen wieder zurücknehmen. Aber die anderen Reformen haben sich für die Toskana zum Vorteil ausgewirkt. „Die Krönung dieses Reformwerkes sollte … die auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhende konstitutionelle Verfassung bringen, die Leopold 1779 bis 1783 durch seinen engsten Berater Francesco Maria Gianni ausarbeiten ließ. Dieses Projekt wirkte so modern, daß man es, zumindest seine Datierung vor der Französischen Revolution, im 19. Jahrhundert [irrtümlich] für eine Fälschung gehalten hat.“ Weis (S. 36) beschreibt auch, was für Leopold 1778/79 Grund und Anlaß zu diesem Plan gewesen ist und was er und Gianni aus sehr vielen verschiedenen Quellen als Anregungen verwertet haben. Der Verfassungsentwurf ist nicht mehr verwirklicht worden, zum einen weil Kaiser Joseph beschlossen hatte, die Toskana mit seinen Erblanden zu vereinigen, zum anderen, weil Leopold nach des Kaisers Tod, 1790, dessen Erbe übernehmen und zunächst die Aufstände in den österreichischen Niederlanden und in Ungarn (gegen Josephs II. rigorose Reformen; dazu siehe in Kapitel B.II.2.a)bb)) und in der Toskana niederwerfen bzw. gütlich beilegen mußte. Kaiser Leopold II. ist schon 1792 gestorben. (Zum aufgeklärten Absolutismus in den italienischen Einzelstaaten bringt Lill, S.  1010 f., noch andere Details.) Die Staatsbildung in Italien erfolgte, anders als in Frankreich, aber wie in Deutschland, auf einer Ebene unterhalb des Gesamtgemeinwesens. Für die italienischen Gebilde ist die Bezeichnung „Stadtstaat“ üblich, für die deutschen „Territorialstaat“. Beide Begriffe passen gut, der Hauptunterschied wird sofort deutlich. Zwar hatte auch der italienische Stadtstaat ein Umland, seinen der Stadt herrschaftsunterworfenen und von der Stadt wirtschaftlich ausgebeuteten contado (der größere Stadtstaat seinen eigenen contado, dazu unterworfene andere Städte jeweils mit ihrem contado), es dominierte aber die „urbane“ Stadt ganz und gar; das Umland hatte in den Herrschaftsgremien kein Gewicht. –

552 Zum Jansenismus siehe das die deutschen Territorialstaaten betreffende Kapitel B.II.2.a) bb), dort, wo es um die habsburgischen Länder im Reich geht.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

bb) Die Entwicklung zu den absolutistisch regierten deutschen Territorialstaaten In Deutschland ging die Staatsbildung anders als in Italien nicht von den Städten, sondern meist von Burgen auf dem Land aus, um die herum sich nach und nach Territorien bildeten, weshalb wir dann von Territorialstaaten statt wie in Italien von Stadtstaaten sprechen. Eine Frühphase der Entwicklung liegt in der Zeit der Auseinandersetzungen zwischen König Heinrich  IV. und zentrifugaler partikularistischer Adelsherrschaft Ende des 11. Jahrhunderts. Damals „traten … gerade in den Kreisen des Hochadels, die zu den Gegnern des Königs und Anhängern des [Kirchen-]Reformgedankens zu zählen sind, erstmals Bestrebungen auf, die von der … [Adelsherrschaft] alten Stils mit ihrer Bündelung verschiedenartiger Rechte zum territorialen Flächenstaat der Landesherrschaft hinführten. Dabei spielte … die kirchliche Schutzvogtei neuer Art, der Patronat, eine entscheidende Rolle“ (Lotter, Faktoren, S. 115). Die kirchlichen Reformbestrebungen haben zum einen das Eigenkirchenwesen und damit die Laien-Investitur im niederkirchlichen Bereich beseitigt, zum anderen brauchten die Klöster jetzt nicht mehr bewaffnete „Mannschaft“ zu stellen. Das aber hat das Schutzbedürfnis der Klöster vergrößert. Diesen Schutz konnten nur solche adlige Herren gewähren, die ausreichend über bewaffnete Kräfte verfügten. Die Klöster übertrugen das Schutzrecht auf Widerruf solchen Herren, die die Reformbewegung unterstützten. An die Stelle der Investitur trat ein Vorschlagsrecht, das die Freiheit der Klosterkirche wahrte. Der adlige Vogt war nun zwar nicht mehr Eigentümer des Kirchenzubehörs, übte aber das richterliche Amt und das weltliche Herrschaftsamt über die Reformabtei in ihrer ganzen Ausdehnung aus. „Da die Reformklöster durch ihre starke Ausstrahlungskraft schnell aufblühten und ihren Besitz meist ebenso durch umfangreiche Schenkungen wie durch Rodung und Ansetzung von Siedlern vermehrten, bot der Patronat dem Landesherrn Möglichkeiten, das seinem Gebot unterstehende Territorium abzurunden und oft erheblich auszuweiten“ (ebenda). Mittels geistlicher Propaganda und anderer Druckmittel konnten oft Enklaven durch Auflassung ans Kloster in den entstehenden Territorialstaat integriert werden. „So fielen die Interessen von Reformkloster und Landesherrschaft vielfach zusammen. Das trat besonders deutlich dort zutage, wo noch große zusammenhängende Waldgebiete der Erschließung harrten, Gegenden, die vor allem für die Neugründung von Klöstern in Frage kamen. So erklärt sich eine der frühesten deutschen Territorialbildungen, die der Zähringer im 11 und 12. Jh., aus dem engen Zusammenwirken der Landesherren mit den von ihnen gegründeten oder ihrem Schutz unterstellten Klöstern in dem noch weitgehend unbesiedelten Raum des Schwarzwaldes. Der hier entstehende Flächenstaat 553 wurde 553

Die „Territorialbildung“ in Verbindung mit den Vogteirechten neuer Art bedeutet nicht schon die Existenz des Flächenstaats als „Staat“ in dieser Zeit; aber beide sind wichtige Elemente im Entstehungsprozeß.  – Mit den „jüngeren Stammesherzogtümern“ (dazu B.II.1.a)) gab es im 9. u. zu Anf. d. 10. Jh. schon einmal einen Ansatz zur Territorial-Entwicklung (im

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durch die systematische Anlage von Städten an den wichtigsten Zugangsstraßen (Villingen, Offenburg, Freiburg i. Brsg., …) sowie von Burgen an beherrschenden Punkten abgesichert“ (S. 115 f.).

Der Salier Heinrich IV. und im 12. und in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts die Staufer Friedrich I. (Barbarossa) und Friedrich II. haben mittels Pfalzen- und Burgenbau und Städtegründungen sowie durch Einsatz von Reichsministerialen, „Reichsdienstmannen“,554 in der Verwaltung und als Burgmannen versucht, und dies jeweils anfangs mit Erfolg, ihrerseits größere königliche Territorien, „Reichsland“, aufzubauen, Heinrich IV. vor allem in Thüringen und im Osten Sachsens (dort auch die umfangreichen Krongüter, die die Salier von den Ottonen geerbt hatten),555 die Staufer vor allem in Süd-, Südost- und in Südwestdeutschland und in Mittelitalien.556 Letzten Endes sind die Versuche sowohl Heinrichs IV. als auch der Staufer gescheitert. Im Zusammenhang mit einer Neuregelung der Beziehungen zu dem welfischen Herzog Heinrich der Löwe und wegen einer besonderen Konstellation im Ver­ hältnis zu Byzanz (mehr dazu bei Boockmann, S. 83–87) hat Friedrich I. 1156 die Markgrafschaft Österreich vom Herzogtum Bayern abgetrennt, seinerseits zum Herzogtum erhoben, es den Babenbergern als in männlicher, notfalls auch in weiblicher Linie vererbbar verliehen. Im neuen Herzogtum sollte, anders als zuvor, alle Gerichtsbarkeit letztlich vom Herzog abhängen, so „daß es für einen autonomen Adel hier keinen Raum mehr gab. Österreich sollte ein geschlossenes Territorium sein. Landesherrschaft sollte der Babenberger üben und niemand anders.“ (S. 86) Außerdem brauchte der Herzog von Österreich nur an Hoftagen teilzunehmen, die innerhalb Bayerns gehalten wurden, und Heerfolge nur zu leisten, wenn der König einen Reichskrieg in der Nachbarschaft des Herzogtums führte. Entscheidend ist, „daß mit all diesen Bestimmungen ein Landesfürstentum und ein Landesfürst beschrieben wurden, dessen Aufgaben vorwiegend innerhalb seines Territoriums lagen“, im Unterschied zum älteren Typus der Reichsfürsten (als „Großen des Reiches“), für den primär die „Personalität der Beziehungen“ nach oben, zum König, und zu den Lehnsnehmern darunter charakteristisch war. – Barbarossa hat noch mehr Privilegien mit ähnlicher Tendenz wie das für die Babenberger ausgestellt, u. a. für den Bischof von Würzburg. „In den meisten Fällen aber war die HerUnterschied zu den „älteren Stammesherzogtümern“, die noch uneingeschränkt „Personenverbände“ gewesen sind), als die neuen Herzöge Anspruch darauf erhoben, daß die Grafen, die Abteivögte (alter Art) und generell die Grundherren nicht länger sozusagen reichsunmittelbar, also direkt vom König, sondern auf dem herzoglichen Gebiet vom Herzog abhängig sein sollten. 554 Auch die Landesfürsten haben Ministeriale in ihre Dienste genommen. 555 Zwischen Heinrichs III. Tod und der Zeit, ab der sein Sohn Heinrich IV. als König wirklich aktiv werden konnte, hatten geistliche und weltliche Fürsten königliche Rechte usurpiert, sich Reichsgüter angeeignet und sich sogar Reichsabteien unterworfen. Dem König ging es zunächst um deren Rückgewinnung, bald aber eben auch um den Ausbau zu „Reichslanden“ (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 413–420). 556 Boockmann, S. 78, S. 107 (unten) f., S. 111, S. 165 ff.

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ausbildung des neuen Landesfürstentums das Resultat eines [sich] fast unmerklich … [vollziehenden] Wandels“ (S. 86 f.). – Barbarossas Sohn Heinrich VI., der als Mann der Erbtochter Konstanze des Normannenkönigs Roger II. nach dessen Tod auch König von Sizilien geworden ist, hat mit dem sogenannten Erbreichsplan den Versuch gemacht, das Heilige Römische Reich in seiner Verbindung mit Sizilien zu einem Erbreich der Staufer zu machen. Heinrich VI. hat dafür seinerseits den weltlichen Reichsfürsten weitreichend Erblichkeit ihrer Lehen angeboten. (Bei den geistlichen Reichsfürstentümern konnte es Erblichkeit nicht geben.) Der Plan ist am Widerstand der Fürsten gescheitert, aber ihre Lehen wurden dann doch erblich (Vorbild Österreich), „im Zuge einer Entwicklung, die längst begonnen hatte und auch unabhängig vom Ausgang dieses Erbreichsplanes weiterging“ (S. 127–134, hier S. 132). 1220 hat Kaiser Friedrich II. bei den deutschen Fürsten vorab die Wahl seines noch minderjährigen Sohns Heinrich (VII.) zum deutschen König erreicht. Er hat dafür den Erzbischöfen und Bischöfen als den geistlichen Territorialfürsten das Zoll- und das Münz-„Regal“ sowie andere „Regalien“ (von Hause aus: „Königsrechte“) auf Dauer zugesprochen und ihnen zugesichert, daß sie bei der Wahrnehmung dieser Rechte nicht von königlichen Amtsträgern beeinträchtigt würden. Das bedeutete die Anerkennung der Territorialhoheit für die geistlichen Fürstentümer.557 1229 hat der inzwischen erwachsen gewordene König Heinrich unter der Oberhoheit seines in Palermo residierenden Vaters die königliche Herrschaft für Deutschland übernommen. Er geriet bald wegen seiner aus reichsfürstlicher Sicht zu städtefreundlichen Haltung mit den Fürsten in Konflikt. „1231 zwangen sie ihm ein Gesetz ab, das die wichtigsten der zwischen Fürsten und Städten strittigen Fragen zugunsten der Fürsten löste. Ein Jahr darauf ging der Kaiser noch weiter. Sein ‚Statut zugunsten der Fürsten‘ von 1232 knüpft an das ‚Bündnis mit den geistlichen Fürsten‘ aus dem Jahre 1220 an, ein Privileg, das Friedrich II. als Preis für die Wahl seines Sohnes Heinrich zum König gezahlt hatte“ (S. 165 f.). Boockmann hebt hervor, daß nicht etwa die Urkunden von 1231 und 1232 den Weg zum „Territorialstaat“ auf der Ebene unterhalb des Reiches eröffnet haben. „Tatsächlich war dieser Weg aber längst eingeschlagen worden. Die weitreichende Staatlichkeit der fürstlichen Territorien war schon vor der Ausstellung dieser Urkunden Wirklichkeit geworden, und zwar nicht so sehr durch eine Entfremdung königlicher Rechte,558 557 Zu Otto Brunners Nachweis (in „Land und Herrschaft“), daß gerade und verständlicherweise zuerst die geistlichen Fürstentümer als „terrae“ bezeichnet worden sind und schon seit dem 11. Jh. außerhalb der alten Stammesverbände und wegen der Immunitäten außerhalb der alten Stammesrechte standen, daß also bei den geistlichen Fürstentümern die Entwicklung zu Territorien begann, i. S. v. Gebietsherrschaft als Herrschaft „über die Insassen eines geo­ graphisch begrenzten Gebietes ohne Rücksicht auf ihre Stammesrechte“, siehe bei Mitteis, in: Kämpf (Hrsg.), Herrschaft und Staat, S. 53 f. (Zitiert wird hier Mitteis, S. 54.) 558 Solche Usurpationen hat es sehr wohl immer wieder gegeben – wir haben ja auch Beispiele kennengelernt –, mehrere der Historiker, deren Arbeiten ich benutzt habe, betonen aber, daß außer dem Landesausbau vor allem die Regelung von neu aufgetretenen und von zwar nicht neuen, inzwischen aber dringend regelungsbedürftigen Sachverhalten die Stärkung der

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wie man lange Zeit gemeint hatte, sondern vielmehr durch jenen Landesausbau – durch neue Siedlungen und Verdichtung von Herrschaft –, der damals die fürstliche Politik [gemeint ist, etwa, die fürstliche ‚Strategie‘] bestimmte“ (S. 166).

Die Zeit zwischen dem Ende der Stauferherrschaft und der Wahl Rudolfs I. von Habsburg (dazu gleich mehr) wird „Interregnum“ genannt. Sie war im strengen Sinn nicht eine königslose Zeit (Näheres dazu bei Boockmann, S. 176–183), aber die Territorialfürsten rissen doch Königsrechte und Reichsbesitz „in einem solchen Maße an sich, daß sie alle künftigen Könige schwer belasteten“ (S. 177). – 1273 wählten sieben Kurfürsten (zwar ohne König Ottokar von Böhmen, aber mit dem Herzog von Bayern; der Kreis der Königswähler stand damals noch nicht ganz fest) einstimmig den Grafen Rudolf von Habsburg (Stammburg im Aargau) zum deutschen König. Sie forderten von ihm – das gleiche galt dann auch in den folgenden Fällen – die Wiederherstellung verlorengegangener Reichsrechte. „Wie seine Nachfolger erlebte auch Rudolf, daß die Kurfürsten nicht hinnahmen, daß sich diese [ihre] Forderung etwa an sie selbst richtete. Trotzdem war der König erfolgreich. Es gelang ihm überraschend schnell, die königlichen Rechte zu erneuern“ (S. 186), im Südwesten, indem er in bezug auf verstreut liegende Rechte Landvogteien einrichtete, im Norden durch verbündete Reichsfürsten als Beauftragte. Die meisten der entfremdeten Reichsrechte hatte der Kurfürst König Ottokar von Böhmen an sich gebracht: Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain und die Windische Mark. (König Ottokar förderte sehr den Deutschen Orden in Preußen und auch die Ostsiedlung Deutscher in den von ihm beherrschten Gebieten.) Der böhmische König war der Ansicht gewesen, sowohl aufgrund seiner starken Stellung als auch als Enkel des deutschen Königs Philipp von Schwaben (1198–1208; dieser ein jüngerer Sohn Barbarossas) ein größeres Anrecht auf die Wahl zum deutschen König zu haben. Er verweigerte Rudolf von Habsburg die geschuldete Huldigung. Gemäß Rechtslage hatte das die „Acht“ zur Folge, nach deren Nichtbeachtung die schärfere „Aberacht“ (abermals verhängte Acht bzw. „Oberacht“), danach den Krieg. Die Entscheidung fiel 1278 bei Dürnkrut nordöstlich von Wien gegen Ottokar, dessen Heer geschlagen wurde und der ums Leben kam. – Der König von Böhmen, Wenzel II. (Sohn Ottokars und danach mit einer Tochter König Rudolfs verheiratet), war dann auf Böhmen beschränkt. Der deutsche König zog die frei gewordenen oben genannten Lehen ein, stellte sie zunächst unter königliche Verwaltung und belehnte 1282 seine Söhne Albrecht (I.) und Rudolf damit, weswegen sich das Zentrum habsburgischer Herrschaft vom Südwesten (im Raum der – später – Schweiz, des Elsaß und am Hoch- und Oberrhein) dauerhaft in den Südosten verlagerte. König Rudolf hat 1289 gegenüber dem Pfalzgrafen Otto von Burgund, der gleichfalls die Huldigung verweigert hatte, die Reichsrechte durchgesetzt, danach den Landfrieden und die Königsherrschaft im von Fehden zerrütteten ThüTerritorialherrschaft bewirkt hat, von Sachverhalten, für die es auf Reichs-Ebene nur mittelbar eine Exekutive gab (s. o. im Text dann die „Reichskreise“ für die Landfriedensordnung und für die Abwehr der Angriffe von außen) oder auf Reichs-Ebene überhaupt keine Exekutive (s. o. im Text später bei „Reichspolizeiordnung“).

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ringen wiederhergestellt. Er ist 1291 in Speyer gestorben (Boockmann, S.  187– 191). Der erste deutsche König nach dem sogenannten Interregnum war tatkräftig und erfolgreich,559 auch von vornherein alles andere als schwach. 1292 wählten die Kurfürsten wegen ihrer eigenen territorialstaatlichen Interessen nicht den ältesten Sohn Rudolfs von Habsburg, Herzog Albrecht von Österreich, dessen Stellung ihnen zu stark zu sein schien, sondern den nun wirklich schwachen, vom Mainzer Erzbischof geförderten und vom Kölner Erzbischof abhängigen Grafen Adolf von Nassau zum deutschen König. Eine Mehrheit setzte Adolf 1298 wieder ab, nachdem er den Interessen des Mainzer Erzbischofs in die Quere gekommen war. Nun wählten sie doch Albrecht von Österreich, der 1292 übergangen worden war. Adolf von Nassau wurde in der Schlacht von Göllheim in der Pfalz besiegt und kam dabei ums Leben. – Es lohnt sich für uns nicht, das Auf und Ab, die Erfolge und Mißerfolge König Albrechts  I. detailliert zu beschreiben, seine Auseinandersetzungen mit den Kurfürsten, die Kämpfe um die Königsthrone Ungarns und Böhmens, den Mord am Böhmenkönig Wenzel III., die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der österreichischen Linie der Habsburger (König Albrecht) und der Kärntner Linie (Herzog Heinrich) und die Ermordung König Albrechts durch seinen Neffen Johann 1308 (S. 191–202). Allein schon diese kurze Nennung macht deutlich, wie sehr sich die Situation nach dem Ende der Herrschaft Rudolfs von Habsburg verändert hat. Auch für die Folgezeit brauchen wir unter unseren Gesichtspunkten nur wenige Sachverhalte. Ende 1308 wählten die Kurfürsten einen Nachfolger für Albrecht I. Der französische König wollte seinen Bruder Karl auf dem deutschen Königsthron haben, aber dessen Wahl war „in den Augen der Kurfürsten ebenso bedenklich … wie die eines Sohnes von König Albrecht“ (S. 205). Die Wahl von 1308 zugun­ sten des Bruders von Erzbischof und Kurfürst Balduin von Trier,560 Graf Heinrich von Luxemburg, war einhellig. Auf dem Hoftag von Speyer, 1309, einigte sich König Heinrich VII. mit Herzog Friedrich von Österreich, auch in bezug auf Böhmen, das der König als erledigtes Lehen behandelte, einzog und nach Jahresfrist seinem Sohn Johann verlieh. Ich lasse Heinrich VII., der 1313 starb, im übrigen außer Betracht. Auch aus der Zeit der beiden zunächst Gegenkönige, Friedrichs von Österreich (gewählt am 19.  Septemberg 1314) und des Wittelsbachers Ludwig von Ober 559 Das gilt, auch wenn der König – zu dessen Kaiserkrönung der Papst prinzipiell bereit war (Boockmann, S. 191), zu der es wegen der Aktivitäten zur Befriedung Thüringens aber nicht mehr rechtzeitig gekommen ist – dem Kirchenstaat die Oberhoheit über die Romagna ab­getreten hat (S. 197). 560 Dieser war damals erst 23 Jahre alt und erst seit einem Jahr im Amt, „einer der fähigsten Fürsten seiner Zeit“. Er hat 38 Jahre später den Akt von 1308 wiederholt. „Damals gelang ihm die Wahl seines Großneffen Karl [IV.]“. Seinen Aktivitäten ist es zu verdanken, daß die Grafen von Luxemburg ein besonders wichtiges Herrscherhaus des Reiches wurden. „Bis zu ihrem Aussterben … 1437 stellten sie ihren Ansprüchen nach und oft auch in der Wirklichkeit die Habsburger in den Schatten“ (Boockmann, S. 205).

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bayern (einen Tag später gewählt), als König später Ludwig IV. „der Bayer“ genannt, brauchen wir für unsere Zwecke nicht viel. Die kriegerische Entscheidung zwischen den beiden Gegenkönigen, die übrigens Vettern waren, kam erst 1322 zustande; Ludwigs Heer siegte, Friedrich wurde gefangen. Im Trausnitzer Vertrag einigten sich beide auf ein Doppelkönigtum, einigten sich, „als gäbe es keinen Papst“ (S. 216). Tatsächlich waren Auseinandersetzungen mit Papst Johannes XXII. (1316–1334), der in Avignon residierte und französischer Herkunft war, längst in Gang. Boockmann beschreibt sie; ich lasse das hier aus, mit Ausnahme des Umstands, daß der Papst darauf beharrte, der König dürfe in Italien vor der Kaiserkrönung keine Herrschaftsrechte ausüben. In einem bestimmten Zusammenhang (Mailand und König Ludwig betreffend)  erklärte Johannes  XXII., in der Zeit nach dem Tod eines Königs stehe dem Papst die Regentschaft über das Reich zu, bis ein Nachfolger rechtlich gültig etabliert sei, „und das sollte nicht nur für Italien, sondern auch für Deutschland gelten“ (S. 219). 1324 hat der Papst den König exkommuniziert und ihm bald danach auch alle Herrschaftsrechte aberkannt. Solche päpstlichen Urteile hatten nun aber nicht mehr so viel Wirkung wie ein Vierteljahrtausend zuvor, zu Gregors  VII. Zeit. Umgekehrt blieben des Königs Erklärung, der Papst sei abgesetzt, und die vom König betriebene Einsetzung eines Gegenpapstes erfolglos. Auch nachdem Johannes XXII. gestorben und Benedikt XII. im Amt war, ist es nicht zur Verständigung gekommen. Der neue Papst war zu sehr an die Interessen des französischen Königs gebunden. Nun „bildete sich eine Art von innerdeutscher Front gegen den Papst. Der vom Papst eingesetzte Mainzer Erzbischof hatte sich endlich mit Ludwig ausgesöhnt und eine Vermittlung zwischen diesem und dem Papst herzustellen gesucht. Aber das mißlang.“ Benedikt beharrte auf seinem Standpunkt gegenüber dem Kaiser und exkommunizierte den Mainzer Erzbischof. Daraufhin formierte sich der Widerstand gegen den Papst. Er äußerte sich in gleichlautenden Schreiben der 36 Reichsstädte an Benedikt. „Vor allem aber“ – und darauf kommt es mir an – „artikulierten sich nun, mit Ausnahme des böhmischen Königs, die Kurfürsten. … 1338 verbündeten sie sich zur Verteidigung des Reiches und ihres Wahlrechts gegen die päpstlichen Ansprüche“ im von den Mediävisten so genannten „Rhenser Kurverein“. In Rhens561 waren die Kurfürsten schon mehrmals zusammengekommen, aber „jetzt zum ersten Mal unabhängig von einer Königswahl … . Sie fügten damit in die ungeschriebene Reichsverfassung ein neues Element ein, den Kurverein. … Sie ließen … öffentlich feststellen, daß nach altem Recht und anerkanntem Herkommen des Reiches allein die Mehrheit der Kurfürsten den König mache. Einer Bestätigung seitens des Papstes bedürfe es nicht“ (S. 221). Zu den anderen zwischen dem Kaiser und dem Papst strittigen Fragen äußerten die Kurfürsten sich nicht. Das besorgte der Kaiser im Gesetz „Licet iuris …“, wo es heißt, „daß der König allein aufgrund der Wahl der Kurfürsten wahrer Kaiser sei und nicht der Bestätigung eines anderen bedürfe“; das Krönungsrecht des Papstes „schrumpfte 561 Städtchen am Mittelrhein, südlich Koblenz; es lag verkehrsgünstig zu Besitzungen der vier rheinischen Kurfürsten.

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zu einer rein … zeremoniellen Handlung. In einem Text, der im folgenden Jahr … auf einem Hoftag diskutiert wurde, findet sich die Meinung, daß der König, dem ein Papst die Kaiserkrone verweigerte, auch von einem Erzbischof oder Bischof des Reiches zum Kaiser gekrönt werden könne“ (S. 222). – Boockmann sagt dazu (ebenda): „Obwohl sich Ludwig nicht mit dem Papst ausgesöhnt hatte, war seine Stellung in Deutschland nun sicher.“ Richtig muß es heißen: So sah es zunächst aus; denn: „Ebenso wie die Habsburger und die Luxemburger die [sogenannte Haus-]Macht ihrer Familien mit Hilfe des Königtums vermehrt hatten, versuchte auch Ludwig, die Gelegenheit für sein Haus zu nutzen. Zu einem Erfolg kam er jedoch nicht. Im Gegenteil: die Widerstände, die er mit seinem Ausgreifen hervorrief, ließen sein Königtum am Ende scheitern.“ Im April 1346 forderte Papst Clemens VI. die Kurfürsten zur Wahl eines anderen Königs auf. Im Juli wählten die drei Erzbischöfe, der König von Böhmen (Johann „der Blinde“) und der Herzog von Sachsen in Rhens den Sohn des Böhmenkönigs, Karl, zum deutschen König. Weil Ludwig der Bayer 1347 starb, ist es nicht mehr zu einer kriegerischen Auseinandersetzung gekommen. Aus der Zeit der Herrschaft von König und ab 1355 Kaiser Karl IV. ist für uns das 1356 auf den Hoftagen von Nürnberg und Metz verabschiedete sozusagen Reichsgrundgesetz wichtig, das in der Mediävistik als „Goldene Bulle562 von 1356“ bezeichnet wird (dazu Boockmann in einem besonderen Kapitel, S. 267–272). Aus einem Bericht von Gesandten der Stadt Straßburg ist zu erkennen, daß der Inhalt der Goldenen Bulle das Ergebnis von Verhandlungen war. Der König hatte dem Nürnberger Hoftag eine Tagesordnung vorgelegt. Es ging darum, verbindlich festzulegen, welche weltlichen Fürsten zu den Kurfürsten gehören sollten. Karl  IV. wollte eine Münzreform, die Reduzierung der Rheinzölle und der Geleitrechte am Rhein. Bei der Königswahl sollte auch die Mehrheit der Stimmen der Kurfürsten entscheidend sein dürfen. Es ist nur ein Teil des Programms verwirklicht worden. Weder kam es zur Münzreform noch zur Reduzierung der Zölle. „Beides hätte die Interessen der rheinischen Kurfürsten offensichtlich zu stark berührt“ (S. 268). Während die Zugehörigkeit der rheinischen Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier schon „seit langem unstrittig“ gewesen war, wurden nun der König von Böhmen, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg definitiv als Kurfürsten bestimmt (ebenda).563 Die weltlichen Kurfürstentümer sollten, damit das Wahlrecht nicht länger strittig werden könne, unteilbar sein. Auch daß bei der Königswahl die Mehrheit der Stimmen genüge, sollte Doppelwahlen und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Gegenkönigen verhindern. Es ist 1410 dann zwar doch noch einmal zu einer Doppelwahl gekommen (Sigismund von Böhmen und Jobst von Mähren), danach aber nicht mehr. – Gemäß der Goldenen Bulle von 1356, zweites Kapitel, mußte 562 Besonders feierliche Königsurkunden sind mit einem Siegel aus Gold statt wie sonst aus Wachs beglaubigt worden. 563 Im Dreißigjährigen Krieg und danach gab es Veränderungen; ich nenne sie weiter unten.

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der König unmittelbar nach seiner Wahl, bevor er irgendeine andere Reichs­ angelegenheit regelte, den Kurfürsten ihre Privilegien bestätigen. Das bedeutete – das Wort „Papst“ kommt in der Goldenen Bulle zwar gar nicht vor –, daß der König ab dem Moment, in dem die Kurfürsten ihn gewählt hatten, auch „ein voll regierungsfähiger Herrscher“ war (S.  270), eine päpstliche Bestätigung diesem Sachverhalt rechtlich nichts mehr hinzufügen konnte. „Die mehr als zweihundertjährigen päpstlichen Ansprüche wurden zwar nicht ausdrücklich, praktisch jedoch ganz eindeutig aus der Welt geschafft“ (S. 271). – Am Ende der Goldenen Bulle heißt es, die Kurfürsten sollten einmal pro Jahr zu gemeinschaftlichen Beratungen zusammenkommen. Diese fanden jedoch nicht statt. Die Zusammenkünfte hätten den Interessen des Reiches als Ganzes dienen sollen. Bei den Kurfürsten dominierten aber die eigenen territorialstaatlichen Interessen. Die Goldene Bulle hat jedenfalls die Stellung der Kurfürsten gestärkt. – 1376 hat Karl IV. die Kurfürsten dazu bringen können, seinen Sohn Wenzel schon zum König zu erheben; er hat dafür enorm hohe Summen an die Kurfürsten zahlen müssen. Diese Mittel sollten dann zum großen Teil die Reichsstädte aufbringen. Die Städte aber „befürchteten noch schlimmere Bedrängnisse, nämlich die Verpfändung an benachbarte Territorialfürsten. So schlossen sie sich ungeachtet des einschlägigen Verbots der Goldenen Bulle, die solche Bündnisse untersagte, zusammen, und Karl war nicht stark genug, das Bündnis zu verhindern. Er mußte am Ende Kompromisse mit den aufständischen Städten schließen. Ihre Anführerin, die Reichsstadt Ulm, hatte er vergeblich belagert“ (S. 273). Der von Karl  IV. 1376 vorab als Nachfolger inthronisierte ältere Sohn Wenzel war als König ungeeignet. Er kam in Böhmen nicht zurande, auch in Kirchen­ fragen nicht, konnte die Auseinandersetzungen zwischen Fürsten und Städten in Süddeutschland nicht beilegen, den Landfrieden nicht sichern. 1400 setzten ihn die vier rheinischen Kurfürsten ab und wählten einen aus ihrer Gruppe, Kurfürst Ruprecht von der Pfalz, zum König (S. 279). Ruprecht hat sich in Deutschland und in Italien nach Kräften bemüht, die Interessen des Reiches wahrzunehmen und das Kirchenschisma zwischen Avignon und Rom zu beenden, aber keines seiner Hauptziele erreicht, wenn man nicht die 1386 erfolgte Gründung der Universität Heidelberg (die dritte deutsche Universität nach Prag und Wien) als Zentrum der aus Paris vertriebenen Professoren, die gegen den avignonesischen und für den römischen Papst Stellung bezogen hatten, als Erfolg Ruprechts ansehen will. Der König ist 1410 gestorben, aber noch zu seinen Lebzeiten ist aus der Kirche selbst die Idee der Reform und zur Wiederherstellung der Einheit aufgekommen, die auf dem Weg über „Konzile“ erreicht werden sollten, über regelmäßige Zusammenkünfte der Kardinäle – wie es zunächst gedacht und 1409 in Pisa auch der Fall war. Die Überwindung des Kirchenschismas („causa unionis“) gelang Sigismund (jüngerer Sohn Karls IV., deutscher König 1410/11–1437) auf dem von ihm nach Konstanz einberufenen Konzil (1414–1418). Aber das zweite Ziel, die Überwindung der im Zug der vom Konzil für häretisch erklärten Prager Kirchenreformbestrebungen in Böhmen entstandenen Unruhen („causa fidei“), hat er nicht erreicht,

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mit der Verurteilung und Hinrichtung des Jan Hus die Auseinandersetzungen sogar verschärft. Auch beim dritten Thema, der allgemeinen Kirchenreform („causa reformationis“), gab es letztlich keinen Erfolg (detaillierter bei Boockmann, S. 280–290). Im 15.  Jahrhundert sind Forderungen, aber auch theoretische Pläne zu einer Reichsreform564 vorgetragen worden, anfangs im Zusammenhang mit den Über­ legungen zur Kirchenreform auf den Konzilen von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), hier eben noch mehr theoretisch, später aus sehr praktischen Erwägungen über die Rechtssicherheit, also über einen Landfrieden im Reich. 1442 kam es zwar noch nicht zu einem allgemeinen Verbot der Fehde, sie ist aber an die Einhaltung bestimmter Normen gebunden worden. Ein absolutes Fehdeverbot hätte außer einer effektiven Reichsgerichtsbarkeit eine Exekutive erfordert, die bei Verurteilung seitens des Gerichts hätte Zwang ausüben können – was Geld gekostet und die Einführung einer nicht nur auf einen konkreten Einzelfall bezogenen Reichssteuer nötig gemacht hätte. (1422 war eine Reichsmatrikel erstellt worden, die die Zahl der Bewaffneten festlegte, die die Glieder des Reiches für einen „Kreuzzug“ gegen die Hussiten zu entsenden hatten, und in den Zusammenhang mit den Hussitenkriegen (1419–1436) gehört auch das Reichskriegssteuergesetz von 1427.) Wir wissen aus Kapitel B. I.1.b) (Quelle: Tacitus), daß die freien Germanen ihrem Anführer (princeps) alljährlich als Ehrengeschenk – was dann aber zum fe­ sten Brauch geworden ist – Gaben, damals an Vieh und Getreide, gebracht haben (Mitte des 8. Jahrhunderts bei den Franken im Prinzip immer noch so) und daß ebenso bei den Griechen der frühen Zeit das Volk verpflichtet war, durch „Geschenke“ zur Deckung der Kosten des „königlichen“ Haushalts beizutragen und dazu, wenn dem „König“ Ehrenverpflichtungen oder sonst notwendig werdende größere Aufwendungen entstanden. Wir wissen aus Kapitel  B.II.1.a), daß die Franken die antike römische Praxis, den Bürgern Zinszahlungen aufzuerlegen, als Kennzeichen der Unfreiheit der Römer eingeschätzt und deshalb für sich, die Franken, strikt abgelehnt haben. Ohne mich auf eine Skizzierung der Geschichte der Finanzierung der Aktivitäten des Anführers für das germanische Gemein­ wesen, später der Königsherrschaft für das Reich einzulassen, knüpfe ich an den voranstehenden Absatz dieses Kapitels in bezug auf die „Reichssteuer“ an. „Bisher hatte der König aus seinem ererbten beziehungsweise aus dem Reichsgut – soweit es noch vorhanden war – und ferner aus den Erträgen, welche die sogenannten Regalien erbrachten, die Bedürfnisse des Reiches finanziert. Nun wurde zum ersten Mal eine Reichssteuer eingeführt und mit ihr ein Weg in die Zukunft nicht 564 Zum Thema „Reichsreform“ dieser Zeit, zu den verschiedenen, z. T. entgegengesetzten Zielen der an den Reformbestrebungen Beteiligten, zu den Hindernissen und Fehlschlägen siehe in der von mir benutzten Literatur Merzbacher, S. 399–407; Boockmann, S. 290 f. u. bes. S. 351 ff.; beide Autoren z. T. mit deutlich unterschiedlichen Bewertungen; Diwald, S. 314 ff.; Wittram, S. 855 f.

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nur der Reichsfinanzen eröffnet, da eine Reichssteuer ja auch eine entsprechende Verwaltung erforderte und eine Art von Reichsexekutive nötig machte“ (Boockmann, S. 291). Voraussetzungen waren aber auch die Bewilligung der Steuer durch die Reichsstände565 und die Fixierung einer Art von Steuersatz im weiten Sinn des Wortes (siehe weiter unten bei „Wormser Reichsmatrikel“). Auf dem Wormser Reichstag von 1495, dem ersten, den Maximilian I. einberufen hat, seit er als König selbständig handelte, ist es dann doch mit dem Reichsgrundgesetz über den „Ewigen Landfrieden“ zum unbedingt gültigen Fehdeverbot für jedermann gekommen, „‚von was Würden, Stand und Wesen er sei‘“ (Diwald, S.  314). Wittram (S.  856) beurteilt das so: „im ‚Ewigen Landfrieden‘ wird die Rechtsgemeinschaft des Reiches begründet“  – was für den Beginn der Neuzeit zutreffend ist, wobei wir uns freilich in Erinnerung rufen, daß in der indogerma­ nischen Tradition ursprünglich politische Gemeinwesen und Rechtsgemeinschaften identisch gewesen sind (B. I.1.a) und B. I.1.b)). Wittram fährt damit fort, daß „im Reichskammergericht die erste von der Person des Kaisers gelöste Reichs­ behörde geschaffen [wird].566 Die Reform der Reichssteuern (‚Gemeiner Pfennig‘) und des Reichsregiments (‚Handhabung Friedens und Rechts‘: jährliche Einberufung des Reichstages) bleibt stecken.“ Es hat nach 1495 zunächst doch noch Fehden gegeben, so die auch literarisch berühmt gewordene des Ritters Götz von Berlichingen, aber „es [ist] im 16. Jahrhundert dem Kaiser und seinen Beauftragten dennoch gelungen, die Krimina­ lisierung der Fehde zu erzwingen“. In den ersten Jahren nach 1495 gab auch das Reichskammergericht noch wenig Anlaß zur Zuversicht. „Zeitweise lief das neue Reichsgericht sogar mangels Bezahlung seiner Mitglieder auseinander. Trotzdem wurde es bald darauf zu einer fest etablierten und ganz überwiegend auch erfolgreichen Institution“ (Boockmann, S. 353). Um die Durchführung der 1495 in Worms beschlossenen Neuerungen finanziell abzusichern, kam es zwar zu einem „Kompromiß über die in den nächsten Jahren … einzuziehenden Reichssteuern“ (S. 352), eine dauerhafte Regelung ist dann noch nicht erzielt worden. Die nur für kurze Zeit gültigen Bestimmungen „konnten selbst in diesen Jahren nicht die notwendige Finanzierung von Reichsaufgaben gewährleisten“ (S. 353; dazu siehe z. B. oben im Fall des Reichskammergerichts). Auf dem Augsburger Reichstag von 1500 versuchten die Reichsstände, die Herstellung der inneren Ordnung mittels eines ständischen Reichsregiments, eines 565 Die Reichsfürsten, Reichsgrafen, Reichsprälaten und Reichsstädte, die entweder je für sich eine Stimme (Virilstimme) oder zusammen mit anderen eine Stimme (Kuriatstimme) im Reichstag besaßen. 566 Besetzung: ein Kammerrichter fürstlichen oder gräflichen oder freiherrlichen Standes und 16 „deutsche ‚Urteiler‘“, „zur Hälfte rechtsgelehrt oder ritterbürtig“. Damit möglichst unabhängig, feste Besoldung. Berufung seitens der Reichsstände. Um der Einheitlichkeit des Rechts willen Entscheidungen gemäß „gemeinem, das heißt rezipiertem römischem Recht“ (Merzbacher, S. 406).

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fürstlichen Reichsrats, selber in die Hand zu nehmen, ohne königliche Dominanz. Initiator war wie übrigens schon 1495 der Erzbischof von Mainz, Berthold von Henneberg („erst Reichsreform, dann Reichsgelder“, hier für den Italienzug König Maximilians). Tagungsort des Reichsregiments sollte ab dieser Zeit Nürnberg sein. Der König sollte den Vorsitz haben, falls anwesend, im anderen Fall (dem Regelfall) ein Kurfürst, und auch dann sollten die Beschlüsse bindend sein. Die Zuständigkeit hätte sich auf alle inneren Angelegenheiten erstreckt, ohne Begrenzung. König Maximilian (1486–1519) hatte übrigens seinerseits den Vorschlag eingebracht, „einen solchen … ‚Ausschuß des Reiches‘ einzuführen“, und dabei darauf gehofft, die Reichsstände würden ihn in den Auseinandersetzungen des Reiches mit Frankreich unterstützen. Die Fürsten bemerkten aber bald, daß die neue Exekutiv-Institution ihren eigenen Separat-Interessen tatsächlich entgegenwirken würde (Diwald, S. 316); sie ließen sie dann ins Leere laufen. Diwald bewertet die Sache so: „Das Nürnberger Regiment lieferte die Probe aufs Exempel, daß es den Ständen wichtiger … [zu sein schien], die Reichsführung … [gemäß] den Vorstellungen Maximilians zu verhindern, als ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Keine zwei Jahre, und diese Zentralbehörde hatte sich als … ohnmächtig entlarvt, … . Keine Stimme des Widerspruchs wurde laut, als der König das Institut auflöste. Er selbst hatte in dieser Zeit nichts getan, als das Süppchen sachte köcheln zu lassen, das … die Fürsten und Städte des Reiches … [einander] einrührten.“

Auf dem Kölner Reichstag von 1512 ist das Reich, ohne Böhmen und ohne die Eidgenossenschaft, in zehn Reichskreise eingeteilt worden, denen die Sicherung des Landfriedens oblag. Das waren Zusammenschlüsse von räumlich benach­ barten Reichsständen. Sie bildeten eine Mittel-Instanz zwischen dem Reich und den Territorialstaaten („ihre Kompetenzen … teils aus der Reichsgewalt, teils aus eigener korporativer Zuständigkeit abgeleitet“; Schilling, Aufbruch, S. 246). 1519 ist Maximilians Enkel Karl,567 seit 1516 schon König von Kastilien und Aragon, als Karl  V. zum deutschen König gewählt, 1520 in Aachen gekrönt und wenige Tage danach zum Kaiser proklamiert worden. Karl V. berief den er­ sten Reichstag seiner Regierungszeit zum 27. Januar 1521 außerplanmäßig nach Worms ein (in Nürnberg war eine Seuche ausgebrochen). Dieser Wormser Reichstag hat wie der von 1495 Reform-Impulse gebracht (bei Schilling, Aufbruch, S. 204, mehr Einzelheiten). Ich greife nur zwei Elemente heraus: „Mit der berühmten Wormser Reichsmatrikel, die in Grundzügen bis ins 18.  Jahrhundert hinein gültig blieb, wurde das Reichssteuerwesen und damit die Reichswehrverfassung auf eine solide Basis gestellt“ (S  204). Es kam zur Neuformierung der Reichskreise. Die Wormser Reichsmatrikel bestimmte, daß sich die Reichskreise (das hieß in der Praxis: die in ihnen zusammengeschlossenen Reichsstände mittels der Reichskreise) am „Reichsaufgebot“ mit einer festgelegten Zahl von Soldaten, Rittern und Fußvolk, oder mit einer bestimmten Geldsumme zu beteiligen hatten, ge 567

Zur Anfangszeit der Herrschaft Karls s. a. Lutz, S. 27–30.

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mäß Größe, Ansehen und Wirtschaftskraft (S. 249). Jedem Reichskreis oblag zugleich – wie wir schon wissen – die Landfriedenssicherung für seinen Bereich; er hatte die Urteile des Reichskammergerichts zu vollstrecken (S. 246). Inzwischen hatte in Deutschland die Reformation begonnen.568 Ich bringe das Wichtigste darüber anhand von Wittram (S. 859–864). Martin Luther, geb. 1483 in Eisleben, Augustinermönch, 1512 Doktor der Theologie und Professor in Wittenberg, sandte 1517 seine Thesen gegen den Ablaßmißbrauch an den Erzbischof von Magdeburg und andere kirchliche Würdenträger. Freunde Luthers verbreiteten die Thesen per Druck; diese erregten großes Aufsehen. Luther verweigerte 1518 in Augsburg vor dem Kardinal-Legaten Cajetan den Widerruf seiner Lehre. 1518 begann die Reformation in der Eidgenossenschaft (zunächst Zürich) durch Ulrich Zwingli. 1520 veröffentlichte Luther drei reformatorische Schriften.569 Er wurde gebannt, aber dennoch auf den Reichstag zu Worms (siehe oben) vor den Kaiser geladen. Er verweigerte aus Gewissensgründen die Zurücknahme seiner Lehren. Das Versprechen freien Geleits ist diesmal eingehalten worden.570 Luthers Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, hat den Reformator auf der Wartburg571 in Sicherheit gebracht. Luther ist erst nach Ende des Reichstags mit dem „Wormser Edikt“ zum Ketzer und in die Reichs-Acht erklärt worden, desgleichen alle, die Luthers Schriften lasen, kauften, behielten oder druckten. 1521–1526 kommt es zum ersten Krieg zwischen Kaiser Karl und König Franz I. von Frankreich, hauptsächlich in Oberitalien. Franz I. wird besiegt und gefangengenommen. Es folgt der Frieden von Madrid. 1522/23 gibt es die „Sickingen-Fehde“ von Reichsrittern, 1524/25 Kriege der Bauern in Süd-, Südwest- und Mitteldeutschland gegen die Herrschaft der Fürsten, im Fall der Bauern auch gegen Städte und Klöster. Die Ritter und die Bauern werden besiegt. 1524–1526 kommt es zu ersten konfessionellen militärischen Bündnissen in Deutschland. Der französische König, im Bündnis mit dem Papst, Mailand, Florenz und Venedig gegen den Kaiser, verweigert die Erfüllung der Madrider Friedensbedingungen, was den zweiten Krieg des Kaisers gegen Franz I. zur Folge 568 Zwar hat es schon vor Luther reformatorische Bestrebungen gegeben und dabei nicht nur die weiter vorn erwähnte des Johannes Hus in Böhmen, und das Konzil von Konstanz, ­1414–1418, hatte eine Reform der römischen Kirche bringen sollen; sie kam aber nicht zustande. Hundert Jahre später waren die Mißstände eher noch größer. Mit Luther kam die Reformation tatsächlich. Er wollte sie als Reform von innen, nicht als Abspaltung, die Kurie hat sich aber wieder dagegen gesperrt. 569 „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“, „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“, „Von der Freiheit eines Christen­ menschen“ [Schreibweisen modernisiert; d. Hrsg.]. 570 Anders als hundert Jahre zuvor im Fall Hus hätten in Worms die Fürsten einen Versuch zum Bruch des Versprechens auf freies Geleit sicherlich auch nicht hingenommen. 571 Dort Bibelübersetzung. Sie war besonders wichtig für die Entwicklung der gemein­ deutschen Sprache. An deren Herausbildung hatte zuvor schon vieles andere mitgewirkt, aber Luthers Übersetzung wurde zum wichtigsten Vehikel zur Durchsetzung des Gemeindeutschen (differenziert behandelt bei Schilling, Aufbruch, S. 127 f.).

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hat. Weil so außerhalb Deutschlands gebunden und damit an der geplanten Unterwerfung der der Lehre Luthers anhängenden deutschen Fürsten und Städte gehindert, macht der Kaiser auf dem Speyerer Reichstag von 1526 das Zugeständnis, jeder Reichsstand solle sich bis zur Abhaltung eines Konzils in bezug auf das Wormser Edikt (siehe oben) so verhalten, „‚wie ein ieder solichs [= solches] gegen got und irer Ma[jestä]t [= Kaiser] hofft und getraut zu verantworten‘“ (Schilling, Aufbruch, S. 211). Kurfürst Johann von Sachsen, Bruder des 1525 gestorbenen Friedrich der Weise, läßt in seinen Landen 1527 eine Kirchen- und Schulvisitation durchführen, womit evangelisches Landeskirchentum entsteht. (Kirchliche Landeshoheit ist jedoch älter, vorreformatorisch; siehe weiter unten.) Landgraf Philipp von Hessen schließt sich an und gründet 1527 die Universität Marburg, die zweite evan­ gelische nach Wittenberg. Ein kaiserliches Heer unter Führung Karls III. von Bourbon-Montpensier erstürmt und plündert 1527 Rom („Sacco di Roma“). Im Frieden von Cambrai entsagt Franz I. 1529 seinen Forderungen auf habsburgische Rechte und Besitzungen in Italien. Der Papst krönt Karl V. 1530 in Bologna (letzte Kaiserkrönung in Italien). Aus seiner so gestärkten Stellung läßt der Kaiser die Aufhebung des Speyerer Reichstagsabschieds (siehe oben) verfügen. Auf dem Speyerer Reichstag von 1529 unterzeichnen mittel- und norddeutsche Fürsten, unter Führung von Kurfürst Johann von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, und 14 Reichsstädte, darunter Straßburg, Nürnberg, Ulm und Konstanz, eine „Protestation“ dagegen – daher der Name Protestanten. Ein Religionsgespräch von 1529 in Marburg bringt Einigung zwischen Luther und Zwingli in allen Punkten außer in bezug auf das Abendmahl. Die Türken, die Teile Ungarns erobert haben, rücken im September 1529 auf Wien vor. Auf dem Reichstag trägt der kursächsische Kanzler die von den protestantischen Ständen unterzeichnete, von Philipp Melanchthon ohne Beteiligung Luthers verfaßte „Augsburgische Konfession“ vor, in der der Gemeinsamkeit mit der alten Kirche, der Gegnerschaft gegen das Schwärmertum, aber in entscheidenden Punkten dem reformierten Glauben klar Ausdruck verliehen ist. Darauf folgt eine katholische Gegenerklärung, die aber nicht zur vom Kaiser erhofften Unterwerfung der Protestanten führt. Nach deren Abzug erklärt der Reichstag den Widerstand gegen das Wormser Edikt zum Landfriedensbruch. 1531 kommt es in Schmalkalden (Thüringen) zum Zusammenschluß protestantischer Stände, zu einem Verteidigungsbündnis („Schmalkaldischer Bund“), in der Folgezeit er­ weitert, auch um die von Straßburg angeführten oberdeutschen Städte. Wegen der Türkengefahr und angesichts der bewaffneten Streitkräfte der Protestanten billigt Karl V. auf dem Nürnberger Reichstag von 1532 den protestan­ tischen Ständen bis zu einem einzuberufenden Konzil de facto ihre Religionsausübung zu, worauf die Protestanten Hilfe gegen die Türken leisten. Franz  I. von Frankreich schließt 1536 über eine Gesandtschaft in Konstantinopel mit dem

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türkischen Sultan ein Bündnis. Daraufhin dritter (1536–1538) und vierter Krieg (1542–1544) Karls V. gegen Franz I.; sie führen zum Frieden von Crépy: Mailand bleibt Reichslehen, Neapel bei Spanien. 1538 bilden die katholischen Reichsstände ein militärisches Bündnis. 1540 bestätigt Papst Paul III. den Jesuiten-Orden,572 erneuert 1542 die Inquisition und beruft 1542 ein allgemeines Konzil ein, das 1545 in Trient zusammenkommt. Das Konzil räumt gegen den Willen des Kaisers der Glaubensentscheidung, d. h. der Unterwerfung der Protestanten unter das Papsttum, den Vorrang vor der Reform der Kirche ein. In der ersten Phase (1545–1547, in Trient) werden die Glaubenslehren ohne Beteiligung der Protestanten und im Gegensatz zu ihnen formuliert, außerdem Dekrete erlassen, in der zweiten (1551/52) und der dritten Phase (1562/63, diese unter dem Einfluß der Jesuiten) ebenfalls Dekrete. Mit zu den wichtigsten Entscheidungen in Glaubensfragen gehört die Gleichstellung der kirchlichen Tradition mit der Heiligen Schrift (bei Luther: „s o l a scriptura“): Das Tridentinische Konzil hat die katholische Kirche gegen den Protestantismus gestärkt, die Stellung des Papstes gefestigt573 und die Grundlagen des neuzeitlichen Katholizismus gelegt,574 hat aber wegen der Forderung nach zuerst Unterwerfung der Protestanten die von diesen nicht gewollte Glaubensspaltung in Deutschland und Europa besiegelt. 1541 wurde die Reformation in Genf eingeführt: Johann Calvin, geb. 1509 in der Picardie, studierte Rechtswissenschaft, wurde zwischen 1531 und 1533 evangelisch (Einfluß des Luthertums), veröffentlichte 1536 in Basel seine Glaubenslehre, wirkte 1536–1538 in Genf, 1538–1541 in Straßburg, wurde 1541 nach Genf zurückberufen und organisierte dort das Kirchenwesen auf der Grundlage der kalvinischen Kirchenverfassung (Leitung der Gemeinden seitens gewählter Geistlicher und Ältester, mehrerer Gemeinden seitens der Synode)  mit strenger Kirchen­zucht. 1549 kam es zur Einigung der Kalvinisten und der Zwinglianer in 572 Von Ignatius von Loyola 1534 in Paris gegründet. Gemeinschaftliches Leben in Armut und Ehelosigkeit. Ziel: Palästina-Mission. Weil diese aber undurchführbar, unterstellt Loyola den Orden unmittelbar dem Papst. Aufgaben: Ausbreitung des Glaubens durch Predigt, Exerzitien, Seelenführung und besonders durch Schultätigkeit. Im Rahmen der „Gegenreformation“ Ausbreitung des Ordens neuen Typs (kein Ordenskleid, kein gemeinschaftliches Chorgebet, große Mobilität) in ganz Europa, in Deutschland seit 1540, hier wichtigste Aktivitäten in Mission und Schule. (Ausführlich über Ignatius und die Frühphase des Ordens Lutz, S. 68 ff.) 573 Als das Konzil 1562 nach zehn Jahren wieder aufgenommen wurde, drohte es gleich zu scheitern, weil die Konzilsopposition unter Führung eines lothringischen Kardinals in der Frage „Primat des Papstes oder Vorrangstellung der Bischöfe“ die Position der Bischöfe (im Grunde die Idee der Konziliarbewegung) zunächst immer noch unnachgiebig vertreten hat. Erst dem diplomatisch geschickt agierenden Konzilspräsidenten ist es nach einem Gespräch mit dem Kaiser (inzwischen schon Ferdinand I.; siehe dazu die übernächste Fußnote) gelungen, den Lothringer und seine „Partei“ zu einem Kompromiß zu bewegen. 574 Kirchlich hat dann vor allem Carlo Borromeo (1538–1584), in Deutschland wegen der katholischen Borromäus-Bibliotheken besser unter seinem latinisierten Namen bekannt, und staatlich hat Kaiser Ferdinand I. die Umsetzung der „Tridentinischen Reformen“ voran­getrieben.

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der Abendmahlsfrage. Unterschiede zu den evangelisch-lutherischen Kirchen gab es außer im anderen Verständnis des Abendmahls, in der Kirchenordnung und wegen der kalvinischen Prädestinationslehre. (Detaillierter zu Calvins Werdegang, Theologie und den Anfängen der Ausbreitung der Glaubenslehre Lutz, S. 98 ff.) Im Februar 1546 ist Martin Luther gestorben.  – „Sobald er es sich leisten konnte“ und außerhalb Deutschlands „den Rücken frei hatte, traf er [Kaiser Karl] im Juni 1546, auf dem nächsten Reichstag von Regensburg, insgeheim die letzten Vorbereitungen, um die Protestanten endgültig zu vernichten, während er sich offiziell noch gesprächsbereit zeigte“ (Schilling, Aufbruch, S. 229). Vom Papst hatte er dazu die Zusicherung der Gestellung von 12 500 Soldaten und enorm großer Summen an Subsidien. „Im Innern des Reiches gelang es der kaiserlichen Diplomatie, durch geschickte Versprechungen zwei mächtige Reichsfürsten zu gewinnen, die sonst bei der Verteidigung ständischer Freiheiten in vorderster Front zu finden waren: Herzog Wilhelm von Bayern und Herzog Moritz von Sachsen. Beiden wurde die Kurwürde versprochen, die seit Generationen beim jeweils anderen Zweig dieser Dynastien lag, … . Um das Selbstbewußtsein des Sachsen zu schonen, stellte die kaiserliche Propaganda den Feldzug nicht als Glaubenskrieg dar, sondern als Exekution … [einer] Acht, die im Juli 1546 gegen den sächsischen Kurfürsten und den hessischen Landgrafen verhängt worden war“ (S. 229).

Der „Schmalkaldische Krieg“ von 1546/47 führte zur Niederlage dieser beiden Anführer des Schmalkaldischen Bundes (Schilling, Aufbruch, S. 229 f.; dort mehr Einzelheiten) und so, wie es aussah, zum Ende des Protestantismus in Deutschland, außer im Norden (Zentrum Magdeburg). „Nach dem Sieg über die Schmalkaldener herrschte im Reich nicht mehr die offene und verbindliche Art König Ferdinands,575 sondern die Gehorsam gebietende spanische Würde und Majestät des Kaisers. … . Karl verteilte nach Belieben Gnade und Ungnade: Moritz von Sachsen erhielt die zugesagten Kurlande mit der Kurwürde, … . Der Bayernherzog … ging leer aus, trotz aller Zusagen vor dem Krieg. Das war ein schwerer Fehler“ (S. 232).

Der Kaiser legte dem Augsburger Reichstag von 1547/48 seine Programme vor, in bezug auf die Kirche („Augsburger Interim“) und auf das Reich („Bundesplan“). Mit dem „Interim“ suchte Karl V. eine Übergangslösung zu gewinnen, solange die römische Kurie das kaiserliche Bestreben hintertrieb, eine endgültige Regelung erst auf einem allgemeinen Konzil herbeizuführen. Der Papst hatte nämlich bereits in der ersten Phase des Tridentinischen Konzils zentrale dogmatische Fragen, ohne daß die Protestanten beteiligt waren, in einer Weise verhandeln lassen, daß den Protestanten anschließend eine Beteiligung unmöglich sein 575 Jüngerer Bruder des Kaisers, der ihm 1521/22 die Regierung in den fünf österreichischen Herzogtümern, in Tirol und den „österreichischen Vorlanden“ beiderseits des Oberrheins überließ, war in Abwesenheit des Kaisers Statthalter für das Heilige Römische Reich und erwarb 1526 Böhmen und Ungarn. Er wurde zu Lebzeiten des Kaisers 1531 bereits zum Römischen König (Ferdinand I.) gewählt und war ab 1556 Kaiser als Nachfolger seines abgedankten Bruders Karl V.

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würde – was dem Befriedungskonzept des Kaisers „den Boden entzog“. Der Papst hatte außerdem das Konzil von dem zum Reich gehörenden Trient nach Bologna im Kirchenstaat verlegt, um einer kaiserlichen Einflußnahme auf das Konzil zuvorzukommen. Das heißt, es ist getrickst worden, seitens des Kaisers (siehe oben, Juni 1546, Regensburger Reichstag), seitens des Papstes und dann erneut seitens Moritz von Sachsen (dazu gleich mehr). Mit dem „Interim“ hat Karl V. den Protestanten, um Zeit zu gewinnen, befristet Zugeständnisse in bezug auf den „Laienkelch“ und die Priester-Ehe gemacht. „Organisatorisch und [was unrealistisch war] in den zentralen Lehrfragen hatten sie aber zur katholischen Papstkirche zurückzukehren“ (S. 233 f.). Mit dem „Bundesplan“ von 1547 hat der Kaiser versucht, das Reich doch noch zu einem zwar nicht unitarischen wie in Frankreich, aber doch auf Reichs-Ebene absolutistisch regierten Staat umzuformen (Erklärung zu „absolutistisch“ weiter unten). Ohne jede Verbindlichkeit forderte er, alle Reichsstände hätten dem Bund beizutreten, Absprachen untereinander seien verboten, alles habe über den Kaiser zu laufen. Zur Bestreitung der Kosten für ein Stehendes Heer unter dem Ober­ befehl des Kaisers, für ein Bundesgericht, für das Kammergericht und für eine kaiserliche Bürokratie seien regelmäßig Steuern zu erheben; beide Gerichte hätten unter kaiserlicher Kontrolle zu arbeiten (S. 234). Über die konfessionelle Spaltung hinweg widersetzten sich die Fürsten dem Plan. „Der Protestant Moritz von Sachsen war 1546 nicht hinter den Kaiser ge­ treten, um sich 1548 einem katholischen Absolutismus der Habsburger unterwerfen zu müssen“ (S. 236). 1550, als er noch im Namen des Kaisers das lutherische Magdeburg belagerte, nahm er insgeheim Verbindung mit Gegnern Karls  V. in konfessionellen Fragen auf, nord- und mitteldeutschen Fürsten. Mit ihnen organisierte er eine Fürstenrebellion und brachte leicht eine antihabsburgische Allianz zustande; „denn auch die katholischen Stände fürchteten den absolutistischen Reichsstaat“ (S. 237). Verhandlungen mit dem französischen König, inzwischen Heinrich II., brachten auch diesen zu Anfang 1552 mit in die Allianz, nachdem ihm die Fürsten gegen Zahlung hoher Subsidien unberechtigterweise das „Reichsvikariat“ über die Reichsstädte Metz, Toul und Verdun sowie über Cambrai „übertragen“ hatten, die Heinrich dann von 35 000 Soldaten besetzen ließ. Als die deutschen Fürsten im Frühjahr 1552 zum Angriff übergingen, war der Kaiser im deutschen Reich praktisch isoliert und konnte seiner Gefangennahme nur durch die Flucht von Innsbruck über die Alpen nach Villach entgehen. Für die Fürsten begann Moritz von Sachsen bereits im April 1552 Verhandlungen mit König Ferdinand, der, anders als sein kaiserlicher Bruder, behutsam und mit mehr Geschick und nicht kastilisch steif agierte, mit den deutschen Verhältnissen und Erfordernissen sehr gut vertraut und an pragmatischen Lösungen interessiert war. Der Kaiser hat 1552 dem französischen König den Reichskrieg erklärt, der aber Anfang 1553 ergebnislos unterbrochen worden ist, „weil die Belagerung von Metz nicht rasch genug zum Erfolg führte“ (S. 239). (Die vier Städte mit den zu ihnen gehörenden Stiftsgebieten sind dem Reich dann auf Dauer verloren gegangen.) Karl V.

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zog sich nach Brüssel in die Niederlande zurück.576 Moritz von Sachsen und König Ferdinand haben noch im August 1552 den „Passauer Vorfrieden“ geschlossen, der dann zum berühmten Augsburger Reichstag mit dem Augsburger Reli­ gionsfrieden von 1552 geführt, den Moritz von Sachsen aber nicht mehr erlebt hat. Es gab jedoch auch sonst auf beiden Seiten pragmatisch Denkende, die das, was in Deutschland im Lauf einer Generation Faktum geworden war, akzeptierten und in einem Kompromiß dem Reichsrecht einzufügen versuchten, unter ihnen auch der ranghöchste geistliche Fürst, der Mainzer Erzbischof Sebastian von Heusenstamm, enttäuscht von der Konzilslinie des Papstes und von den Ordnungsvorstellungen des Kaisers (S. 234–240). Nach dem Rückzug Karls V. aus den habsburgischen Deutschland-Aktivitäten und nach dem Tod Moritz’ von Sachsen „wurde Ferdinand I. zum Vater des Religionsfriedens. … . Indem … [er] das – historisch bedingte  – Vorrecht der Fürsten auf die frühmoderne Staatsbildung in ihren Territorien anerkannte und damit zugleich die auf dieser verfassungsrechtlichen Basis ruhende Religionsentscheidung der ‚Protestanten‘ akzeptierte, hatte der deutsche König den Weg zur Rettung des Reiches freigegeben. … Die Klammer des Alten Reiches erwies sich als stark genug, Deutschland trotz der religiösen Spaltung und aller … Zerteilung zusammenzuhalten.“ (S. 240 f.)

Die Zweikonfessionalität – evangelisch-lutherischer und katholischer Glaube –577 und die Verfaßtheit des Reiches in Einzelterritorien sind 1555 mit dem Augsburger Reichsabschied in das Reichsrecht aufgenommen worden (S. 241). Nach der spätmittelalterlichen „Goldenen Bulle“ von 1356, die nach wie vor in Geltung war und blieb, wurde nun, zweihundert Jahre danach, „das Augsburger Gesetzeswerk von 1555 das erste ‚Grundgesetz‘ des frühneuzeitlichen Reiches“ (S. 243). In bezug auf die Entwicklung hin auf Territorialstaatlichkeit müssen wir in einer Hinsicht aber noch einmal zurück auf vor 1555, auf die erste der später so genannten Reichspolizeiordnungen,578 vom Augsburger Reichstag von 1530. Neu 576

1556 hat der Kaiser abgedankt, in bezug auf Spanien (mit Kolonien), Neapel, Mailand, die Freigrafschaft Burgund und die Niederlande zugunsten seines Sohns Philipp II., in bezug auf die Kaiserwürde zugunsten von Ferdinand I., der die deutschen Erblande ja schon seit 1521 besaß. Karl V. ist 1558 in Spanien gestorben. 577 Im Westfälischen Frieden, 1648, sind dann auch die „Reformierten“ (Kalvinisten und Zwinglianer) als sozusagen Verwandte der Augsburgischen, d. h. der evangelisch-lutherischen Konfession verstanden und behandelt worden. 578 Ursprünglich „Römisch-Kayserlicher Majestät Ordnung und Reformation guter Policey, im Heiligen Römischen Reich zu Augspurg anno 1530 auffgericht“. Zur Wortbedeutung von „Polizei“ ab Ende des 15. Jh. ausführlich Hans Maier (31986), S. 94–99. So „meint ‚Polizei‘ zunächst ganz allgemein den guten Zustand des Gemeinwesens“ (S. 96), zu Anfang des 16. Jh. aber auch „Gemeinwesen überhaupt“ (S. 98). Höchstwahrscheinlich ist das selbstverständlich (und früh bemerkt) auf lat. politia und letztlich auf griech. politeia zurückgehende Wort „Ende des 15. Jahrhunderts aus der [damals in Europa vorbildlich entwickelten] burgundischen Verwaltung in die Kanzleisprache des Reiches und in die Sprache der Stände übernommen“ worden (S. 97; dort auch die gute Begründung für die Wahrscheinlichkeit).

II. Defiziente Modi

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haus hat das sehr gut beschrieben: Manche der zugehörenden Einzelsachverhalte waren schon vorher durch Reichsgesetze geregelt gewesen (Weinbereitung, Kleiderordnung, Betteln und Müßiggang, Zigeuner u. a. m.), sie sind aber 1530 in jener Reichspolizeiordnung zusammengefaßt und dabei durch noch andere ergänzt worden (Gotteslästerung, Schwören und Fluchen, Maße und Gewichte, Handwerksgesellen und Lehrjungen, Schalksnarren und Sänger, dazu – nicht zuletzt, aber nicht nur wegen Verschuldungsgefahr – Begrenzung der Kosten bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen sowie Verzehr bei Wirten, u. a. m.). Weil, wie wir ja schon wissen, die Reichsstände daran interessiert waren, ihre Position zu stärken, „setzten sich die Bestimmungen auch schnell in den Territorien durch. Das geschah schon deshalb ohne Schwierigkeiten, da die Polizeiordnung bisher nicht erfaßte Materien regelte, ohne gleichzeitig einen institutionellen Ausbau der Staatsgewalt auf Reichsebene nach sich zu ziehen. Das konnte auf Landesebene geschehen und vergrößerte den Einfluß der Landesherren. Das Reich gab, indem es keine … [Exekutive dafür] einrichtete, den Territorien über die Reichspolizeiordnung die Möglichkeit, ihre Staatlichkeit weiter auszubauen“ (Neuhaus, S. 211).

Die Bindung der Konfession an den Territorialstaat ist keine Erfindung der Reformation gewesen. Umgekehrt gilt: „Es entsprach der historischen Vernunft, wenn das in der Reformation aufgebrochene Kirchenproblem auf der Basis der Reichsterritorialverfassung gelöst wurde, denn die Verknüpfung von Landes- und Kirchenhoheit hatte sich bereits im Mittelalter angebahnt“ (Schilling, Aufbruch, S. 242). Zwar ist das „Kirchenregiment [der Landesherren] … erst im Zeitalter der Reformation – und zwar nicht nur dort, wo die Fürsten sich der neuen Lehre anschlossen – ausgebildet [worden], doch wäre die Reformation nicht möglich gewesen, wenn ein weitreichendes landesherrliches Kirchenregiment nicht schon Jahrzehnte früher vorbereitet worden wäre“ (Boockmann, S. 312). Die Anfänge gehören in den letzten Abschnitt des Konzils von Basel (Beginn 1431, Selbstauflösung 1449), dabei aber in eine Zeit, in der das Verhältnis von Über- bzw. Unterordnung von Konzil und Papst noch nicht geklärt war. Gemeint sind hier die zwischen der Kurie und den meisten Landesfürsten abgeschlossenen Konkordate. Papst Eugen IV. (1431–1447) gewann die Fürsten gegen die Basler Konzilsmehrheit und gegen den von dieser Mehrheit gewählten Gegenpapst Felix V., indem er ihnen Verfügungsrechte über die Kirchen ihrer Gebiete zubilligte (ebenda). Der Abschluß der Konkordate hat dann auch die von der Konzilsmehrheit geforderten, von Eugen IV. bekämpften Beschlüsse zur Reform der Gesamtkirche vereitelt. Kienast (S. 694) hat zugespitzt formuliert, eigentlich sei der „Gewinner der konziliaren Bewegung … der Fürstenstaat“ gewesen. Im 15. Jahrhundert entstanden jedenfalls schon kirchliche Landesbehörden. (Zu den Konkordaten siehe auch Diwald, S. 55 f.) Wir haben zuletzt die spezifisch deutsche Entwicklung auf Territorialstaatlichkeit hin im Rahmen der Geschehnisse primär auf der Reichs-Ebene betrachtet, im Zusammenhang mit der Reformation und mit dem gescheiterten Bundesplan Karls V. Es sind jetzt noch einige andere im Augsburger Reichsabschied von 1555

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

getroffene Regelungen zu nennen, die ältere Bestimmungen zur Reichsreform betreffen. Es ist entschieden worden, „daß die ausschlaggebende Kompetenz bei der Aufstellung und der Leitung des Reichsaufgebotes nicht beim Kaiser, sondern bei den Reichsständen liegen sollte.“ Nur der Reichstag konnte über die Bereitstellung von Truppen bzw. Geld dafür beschließen, in Zukunft waren die Reichskreise auch für die Anpassung der 1521 beschlossenen Matrikel an die aktuellen Verhältnisse zuständig, d. h., die Reichsstände entschieden selber darüber, ob sie ihren Anteil an den Verteidigungslasten vergrößern oder verkleinern wollten. Im Fall akuter Gefahr hatte ein vom Kurfürsten von Mainz einberufener Deputiertentag von Vertretern der Reichskreise die Kompetenz der Entscheidung, während der Kaiser lediglich Kommissare entsenden konnte. (Schilling, Aufbruch, S. 250, der die Sache dort wie folgt bewertet:) Das System war nicht nur sowieso schwerfällig, vor allem lud es geradezu dazu ein, um staatliche und konfessionelle Vorteile zu feilschen; „dennoch gewährleistete es im Krisenfall die Verteidigung des Reiches. Das zeigt die Abwehr der Türken, die auch in Zeiten eines vorübergehenden formellen Waffenstillstandes nahezu alljährlich die Südostgrenze des Reiches bedrohten.“ Wenngleich Reichsaufgebot und Reichssteuer Obliegenheiten des Reiches waren, lagen Organisation und Finanzierung – jeweils gemäß in der Matrikel fest­ gelegtem Anteil – beim einzelnen Reichsstand, und es hat jeweils dieser und nicht etwa das Reich das Instrumentarium dafür auf seiner, der territorialstaatlichen Ebene geschaffen. Mit der Entwicklung der größeren deutschen Landesfürstentümer zu Territorialstaaten ging die Bildung von „Landständen“ einher. Was oder wer den Anstoß dazu gegeben hat, wird von den Historikern unterschiedlich beurteilt. (In bezug auf das „Wer?“ geht es darum, ob der Landesherr oder diejenigen, die dann diese Landstände waren.)579 Das will ich hier nicht im einzelnen wieder­geben.580 Sieht man von dem seitens Mitteis genannten Reichs-Interesse ab, ist in der von mir herangezogenen Literatur als dinglicher Antrieb fast immer der Geldbedarf der Landesfürsten genannt. Normalerweise mußten die Fürsten von ihren Einkünften aus Grundherrschaft und aus den ihnen übertragenen Regalien (etwa Zölle, Münzrecht) leben. „Je öfter die Landesfürsten genötigt waren, in außer­ ordentlichen, aber immer gewöhnlicher werdenden Notlagen  … außergewöhnliche Abgaben einzufordern“, um so mehr wurde „die ‚Steuer‘  – eine Abgabe, die ursprünglich nur eine außerordentliche Situation ‚steuern‘, also ihr abhelfen

579 Mitteis (S. 63) macht hinsichtlich des „Anteils am Aufbau der [Land-]Stände“ außerdem geltend, auch das Reich habe dabei mitgewirkt, „indem es im Gesetz vom 1. Mai 1231, das mit dem Statutum in favorem principum ein ‚Junctim‘ bildet, den Landesherren die Zuziehung der meliores et maiores terrae zur Pflicht machte“. 580 Für die Organisationsform der Landstände waren wohl die „Lehnstage“ der Ansatzpunkt, an denen  – meist nach dem Tod des alten Landesherrn  – die Vasallen dem „neuen Landesherrn … huldigten, den Treueid leisteten, ihre Lehen in Empfang nahmen“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. I, S. 72).

II. Defiziente Modi

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sollte – zu einer gewöhnlichen Einrichtung“ (Boockmann, S. 309).581 Die Adressaten der fürstlichen Wünsche auf Geldbewilligungen waren der landsässige (also der nicht reichsfreie) Adel, die Inhaber großer geistlicher Grundherrschaften (soweit nicht reichsunmittelbar) und die Vertreter der Städte (soweit nicht Reichsstädte oder Freie Städte), gegebenenfalls, so z. B. in Tirol, Vertreter von nicht grundherrschaftlich gebundenen, freien Bauern. Die Adressaten waren also die Repräsentanten der Stände des Landes, nicht der Individuen. Boockmann schreibt (ebenda), daß die Fürsten zunächst daran interessiert waren, daß sich diese Repräsentanten der Stände des Landes, die „Landstände“, versammelten, eben damit sie Gelder bewilligten, die Landstände haben dann aber Bedingungen (Berücksichtigung eigener Interessen) an die Bewilligung geknüpft und konnten es durchsetzen, daß sie sich nicht nur aufgrund einer Einberufung seitens der Fürsten, sondern auch aus eigener Initiative versammelten. Das nun hat zwar die Position der Fürsten geschwächt, aber mehrere Autoren belegen anhand von Beispielen ihr Urteil, daß die Landstände auch „im Notfall die Einheit des Landes gegen Erbteilungs- und Veräußerungsgefahren betonten“ (hier Formulierung Treue, 61990, Bd. I, S. 247). Indem und soweit die Landstände Eigengewicht gewannen582 und Bedingungen an die Bewilligung der geforderten Gelder knüpften, störten sie die fürstlichen autokratischen Ambitionen dann aber auch. In der Folgezeit legten es die Für­sten und ihre Verwaltungsbeamten und Bürokraten darauf an, Steuern möglichst doch ohne Bewilligung seitens der Landstände zu erheben, d. h. die Landstände dabei auszuschalten. Daß nicht das Reich selbst, sondern die Territorialstaaten die Reichssteuern erhoben, hat bei diesen das Instrumentarium der Steuer-Er­hebung entstehen lassen und hat die Steuerpflichtigen außerdem generell an eine danach auch territorialstaatliche Besteuerung gewöhnt. Es kommt hinzu, daß viele Reichsstände die Steuern, die sie für das Reich erhoben, nur zum Teil an den Kaiser abgeführt, zum anderen, großen Teil für sich selbst einbehalten haben, „natürlich ‚nichts offenbart, sondern in gehaim gehallten‘, wie es ein Gutachten landesherrlicher Räte angeraten hatte“.583 Es ist hier nicht möglich, aber auch nicht nötig, für alle deutschen Territorien die Herausbildung von Absolutismus zu beschreiben, nicht einmal für alle großen und mittelgroßen. Es genügt, wenn ich sie anhand des Territoriums zeige, dessen 581 Größerer Geldbedarf entstand nicht nur, aber nicht zuletzt, weil Söldnerheere bezahlt werden sollten, nachdem sich die Ritterheere als militärisch überlebt, weil nicht mehr brauchbar erwiesen hatten. 582 Herausbildung von Landständen und Gewicht der Landstände im Verhältnis zu den Landes-, dann Territorialfürsten weisen regional und in der Zeit Unterschiede auf. Ohne Einzelheiten zu nennen, weise ich auf einige Beispiele hin, bei denen große Unterschiede sichtbar werden. Ennen (41987), S. 214–218: Köln, Münster, Württemberg; Boockmann, S. 310 u. S. 331: Vertrag von Ripen, 1460, betr. Herzogtum Schleswig und Grafschaft Holstein („dat se bliven ewich … ungedelt“). 583 Schilling, Aufbruch, S. 337, dort Beispiele.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Herrscher in Deutschland als erster absolutistisch regiert hat. Unter einem Aspekt, der inzwischen differenzierter und besser beurteilt werden kann und muß, nehme ich Brandenburg-Preußen hinzu. Anhand dieser beiden Fälle wird bereits deutlich, was entscheidendes Kriterium ist. Danach bringe ich das Wichtigste zum Aufgeklärten Absolutismus in Preußen und in den habsburgischen Ländern. In Deutschland gab es den absolutistischen Staat besonders früh in Bayern, schon bald nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges. (Ich beschreibe den Kriegsverlauf nicht, nenne nur solche Ereignisse oder Umstände, die wir zum Verständnis unserer Themen brauchen.) Die Verschärfung des konfessionellen Konflikts zur „weltanschaulich-ideo­ logischen Totalkonfrontation“ (Schilling, Aufbruch, S. 397) im Zusammenhang mit dem Streben sowohl der protestantischen als auch der katholischen Reichsstände nach Stärkung und Ausdehnung ihrer Territorien während der zweiten Hälfte und besonders ab den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts (Einzelheiten S. 397–403) führte dazu, daß 1600 das Reichskammergericht, 1608 der Reichstag lahmgelegt waren. Herzog Maximilian I. von Bayern hatte zuvor, im Sinne des Kaisers, die Reichs-Exekution gegen die weit mehrheitlich protestantische Reichsstadt Donauwörth in der Weise vollzogen, daß er Donauwörth militärisch einnahm und zur katholischen bayerischen Landstadt machte. Einige der prote­stantischen Reichsstände schlossen sich daraufhin zum Militärbündnis „Union“ zusammen, angeführt vom wittelsbachischen pfälzischen Kurfürsten, süd- und dann auch westdeutsche katholische Reichsstände dagegen zum der „Union“ weit überlegenen Militärbündnis „Liga“, angeführt vom wittelsbachischen Bayernherzog, mit dem erfahrenen Feldherrn Tilly. Weil sich auch sonst in Europa die Spannungen verschärft hatten, war schnell klar, „daß eine militärische Auseinandersetzung in der Mitte Europas kein ‚deutscher Krieg‘ bleiben konnte“ (S.  404). Schilling (Aufbruch, S.  405–412) beschreibt jene Spannungen. Den Krieg lösten dann Vorgänge nach dem Übergang des Regiments im Reich und in den habsburgischen Landen von Kaiser Rudolf II. (1576–1612) zu Kaiser Matthias (1612–1619) aus. Zur Zeit Rudolfs waren in Böhmen Ständefreiheit und Protestantismus aufgeblüht, „die hier wie in den österrei­ chischen Erblanden miteinander verschwistert waren“ (S. 412); Matthias war entschieden gegenreformatorisch und auch von daher antiständisch.584 Als die Wiener Regierung eine seitens Rudolf II. 1609 verbriefte Erlaubnis zum Bau zweier protestantischer Kirchen in Böhmen um-interpretierte und durch ihre Prager Statthalter die eine der beiden Kirchen abreißen und den Anführer der Protestanten, der den Schlüssel zu der anderen Kirche nicht herausgab, in den Kerker werfen ließ, kam es am 23. Mai 1618 zur Eskalation, dem „Prager Fenstersturz“, dem Auslöser

584 Matthias war alt und kinderlos, und es war selbstverständlich auch in Böhmen klar, daß auf ihn der von jesuitischen Beratern dominierte und „notorische Protestantenfeind“ Ferdinand folgen würde – was dann auch geschah.

II. Defiziente Modi

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des Dreißigjährigen Krieges, weil danach eine Verständigung nicht mehr möglich war. Die böhmischen Stände „beschritten den Weg des legitimen Widerstandes oder – wie man es in Wien ansah – der Rebellion. Sie wandten sich von der als tyrannisch begriffenen Habsburgerdynastie ab und wählten nach dem Tod des alten Kaisers [Matthias] im März 1619 im August desselben Jahres auf einem Generallandtag in Prag nicht dessen Neffen [Ferdinand], sondern den calvinistischen Heidelberger Wittelsbacher Friedrich V. zu ihrem neuen König“ (S. 414).

Am 28. August 1619 ist in Frankfurt Erzherzog Ferdinand einstimmig, mit der Stimme des Pfälzers Friedrich V., zum neuen Kaiser gewählt worden. Militärisch war Ferdinand II. auf die kriegerische Auseinandersetzung mit dem Böhmenkönig noch nicht gut vorbereitet, weshalb der Bayernherzog Maximilian  I., Oberhaupt des kampffähigen, habsburg-unabhängigen „Liga“-Heeres, die militärische Hauptlast auf katholischer Seite übernahm. Im November 1620 ist das pfälzischböhmische Heer am „Weißen Berg“ östlich Prag entscheidend und endgültig besiegt worden. Dieser Sieg war der Triumph des Bayernherzogs, dessen Position nun im eigenen Territorium und im Reich enorm gestärkt worden ist, „auch gegenüber seinem kaiserlichen Vetter Ferdinand. Dieser mußte ihm die Kurwürde übertragen, die der geächtete Pfälzer verwirkt hatte, dazu die Oberpfalz als Pfand für die Kriegskosten. In seinem eigenen Territorium konnte der neue Kurfürst nun die entscheidenden Schritte zur Entmündigung der Landstände und zum Aufbau des fürstlichen Absolutismus tun“ (S. 413–416, Zitat S. 416). Er hatte dazu zwar schon vor dem Krieg, finanziell und bürokratisch, für ein autokratisches Regiment sozusagen die „Weichen gestellt“, doch erst im Krieg konnte er diese Ansätze zum Absolutismus weiterentwickeln. Er zog Steuern jetzt mittels Notstandsrechts ein und „schaltete und waltete unter Hinweis auf den Krieg nach Belieben“ (S. 437). Der Landtag, der von 1514 bis 1579 vierunddreißigmal zusammengekommen war, im Durchschnitt also jedes zweite Jahr, von 1579 bis 1612 aber nur noch sechsmal, davon zwei zur Zeit von Maximilians Herrschaft, 1605 und 1612, war danach mehr als ein halbes Jahrhundert, bis 1669, suspendiert, und selbst den für die Zeit der Suspendierung eingesetzten Ausschuß des Landtags hat Maximilian übergangen, als 1632 auch Bayern Kriegsschauplatz wurde. „Ohne die Verordneten dieses Ständeausschusses zu konsultieren, ordnete Maximilian im Januar 1633 monatliche Kriegskontributionen und im September eine reguläre Steuer an. Die landesherrlichen Beamten trieben die Gelder sogleich unter militärischem Schutz ein. Nachdem der Herzog im Sommer 1633 die Kirchenschätze eingezogen hatte, beschlagnahmte er im darauffolgenden Jahr die Landschaftskassen, also das Vermögen der Stände. Beschwerden wies er zurück mit der Begründung, ‚der Drang des Krieges selbst bringt die Gesetze zum Schweigen‘“ (S. 437).

Die Ausschaltung war nicht einfach fürstliche Hinterlist. Angesichts der Not des Krieges konnten allenfalls Fürsten mit hinreichend starken Truppen Sicherheit garantieren, aber indem sie das versuchten, „festigten sie ihr Monopol auf Gewaltanwendung innerhalb ihrer Territorien“ (S. 437). Nach dem Krieg gestanden die Staatstheoretiker dem fürstlichen Souverän das, was dieser im Ausnahme­

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

zustand usurpiert hatte, auf Dauer als ordentliche Rechte zu. Nach den Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs,585 den Gewalttaten und Grausamkeiten gegen die Bevölkerung war die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden so groß, daß es den Für­ sten geradezu zur Pflicht gemacht wurde, „allen ‚inneren unruhen‘ vorzubeugen und ‚äußerlichen feinden oder innerlichen aufrührern‘ zu wehren“ (S. 437 f.). Der Dreißig­jährige Krieg wurde in vielen europäischen Staaten – wichtigste Ausnahmen die schweizerische Eidgenossenschaft und Holland, auf andere Weise Polen – „zur Inkubationszeit von Absolutismus und höfischer Adelswelt, die zusammen die zweite Hälfte der Frühneuzeit“ geprägt haben (S. 435). Die vor dem und besonders im Krieg mit Steuergeldern oder mit von auswärts kommenden „Subsidien“ bezahlten Söldnerheere sind im Lauf des 17. Jahrhunderts zu „Stehenden Heeren“ weiterentwickelt worden, auf der Rechtsgrundlage des Westfälischen Friedens von 1648, der gleich, soweit für uns wichtig, Thema ist. Die mit einem Stehenden Heer „armierten“ Fürsten hatten mit ihm ein Instrument in der Hand, „mit dem sie jeden ständischen Widerstand im Keim ersticken konnten“ (S. 437), und sie be­ anspruchten das Monopol auf Gewaltanwendung. Mandrou (S. 72) sagt kritisch über Arbeiten deutscher Historiker zum Thema „‚Absolutismus‘ im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden“, diese Autoren hätten die wegen der Kriegsfolgen notwendig gewordenen straff durchgeführten Maßnahmen deutscher Fürsten zum Wiederaufbau in ihren Territorien, zur Reorganisation der Verwaltung und die bereits während des Kriegs betriebene militärische Aufrüstung mit dem verwechselt, was in Frankreich verbunden war „mit der französischen Formel des Absolutismus, die alles auf das Staatsoberhaupt ausrichtete.“ Er meint, man könne nicht einmal die Herrschaft des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1640–1688), der, für den Absolutismus ganz uncharakteristisch, „von der Aufrechterhaltung der Privilegien seines Adels … besessen war, als eine Nachahmung des französischen Beispiels“ verstehen. „Eher ist dies in Bayern der Fall, … wo der Herzog [­Maximilian II.] … mit dem Bau der Schlösser von Schleißheim und Nymphenburg vor den Toren der aufstrebenden Hauptstadt München den Anschein eines großen Souveräns er­ wecken wollte. Dies ist das einzige Beispiel, das man für die Nachahmung Ludwigs XIV. in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts anführen kann.“ Und daß auch die Ansätze zu absolutistischer Staatlichkeit in Bayern besonders früh datieren, wissen wir ja. Wohl aber müssen und – wie Ergebnisse jüngerer deut-

585

Er wurde fast nur auf Reichsboden ausgetragen, an ihm beteiligt waren aber viele auswärtige Staaten: Dänemark, Schweden, Polen, Rußland, Spanien, Frankreich, England und Holland, dazu der Vatikan, entweder ganz ausschließlich zugunsten staatlichen Eigen-Interesses, so Frankreich, und/oder aus Konfessionsgründen. Besonders Frankreich, Spanien und Schweden haben auch kriegerisch auf Reichsboden eingegriffen, sehr stark auch der Vatikan, er indirekt mit Subsidien zur Bezahlung von Söldnerheeren. – Darstellungen über den Dreißigjährigen Krieg bis vor Abschluß des Westfälischen Friedens sind in der von mir heran­ gezogenen Literatur zu finden bei Schilling, Aufbruch, S.  371–449; Zeeden, S.  240–328; Mann, Das Zeitalter, S. 133–220; Wittram, S. 866–870.

II. Defiziente Modi

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scher Geschichtsforschung zeigen – können wir in einer wichtigen Hinsicht besser differenzieren als Mandrou. Zunächst aber das, was für Herrschaft im Absolutismus charakteristisch ist. Mit dem Verfall des politischen Systems im Frankenreich hatte das Gros der Glieder des Gemeinwesens seine Mitentscheidungsmöglichkeiten verloren, war dieses Gemeinwesen zu einem Herrschaftssystem verkommen, in dem um den König nur noch wenige, die Großen des Reiches, an der Herrschaft mitwirkten. Diese Mitwirkung hat dann, wie wir gesehen haben, ständische Formen angenommen. Solche Mitwirkungsrechte von Ständen haben sich im Heiligen Römischen Reich auch auf der Ebene der Territorien entwickelt, hier der Landstände, welche Ebene uns jetzt allein noch interessiert. (Zum Absolutismus im Nationalstaat Frankreich siehe in B.II.2.a)cc).) In den absolutistisch regierten deutschen Territorialstaaten ist dann auch die Mitwirkung der Stände oder anders benamter autonomer Körperschaften an der Herrschaft beseitigt worden, hat der Herrscher solche Mitwirkung, z. B. als „Bewilligung“ von Geldmitteln zunächst durch andere Arten der Beschaffung, möglichst umgangen, sich schließlich von der Bindung an ein Mitwirkungsrecht unverstellt und ausdrücklich gelöst, Kontributionen und dann Steuern von sich aus festgesetzt und eingetrieben. Und selbst, von wem er sich auch nur beraten bzw. weiterhin beraten lassen wollte, entschied der Herrscher nun im Prinzip von sich aus. Aber nicht in allen deutschen Territorien der jüngeren Frühneuzeit, zwischen Dreißigjährigem Krieg und Französischer Revolution, ist die Beseitigung ständischer Mitwirkung an der Herrschaft ganz gelungen, also Absolutismus voll verwirklicht worden, in manchen noch lange nicht, in manchen überhaupt nicht (siehe Duchhardt, S. 180). Eine plakative Beschreibung lautet: Im Absolutismus ist der Herrscher legibus solutus, ist losgelöst von der Bindung an die Gesetze, ist unabhängig vom bestehenden Recht. Diese Kennzeichnung ist nicht falsch, und wir wissen ja, daß und wie sich z. B. Bayernherzog Maximilian I. im Dreißigjährigen Krieg über bestehendes Recht hinweggesetzt hat, aber die Formel legibus solutus bezieht sich nur auf positives Recht, auf die konkreten leges, löst den Herrscher nicht von den Bindungen an göttlich gegebenes bzw. „natürliches“ Recht, und das versteht Jean Bodin, der Theoretiker der absolutistischen Herrschaft, unter ius. Das heißt, die von Bodin postulierte souveraineté des Herrschers ist insofern, wenngleich nur insofern, beschränkt. (Zu „Souveränität“ und zu „Souverän“ siehe Kapitel B.II.2.b), zu Bodin auch O. Brunner, Vom Gottesgnadentum, S. 162 f.) Eine andere Sache als die Theorie ist, ob und wodurch ein Herrscher in der Wirklichkeit doch gegen göttliches oder natürliches Recht verstoßen hat. Merkmal, aber nicht Erfindung absolutistischer Herrschaft ist die Straffung der Verwaltung (ich erinnere an die Vorgänge vor allem in der Zeit Kaiser Friedrichs  II. von Staufen, aber auch schon während der normannischen Herrschaft über Sizilien, ferner an Burgund und an Maximilians Übernahme des burgun­ dischen Vorbilds ins habsburgische Tirol). Neu war aber an der Zentralisierung die Zentrierung von Verwaltung und Regiment betont auf die Person des Herrschers. (Konkretes dazu betreffend Brandenburg-Preußen und die habsburgischen

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Länder siehe weiter unten in diesem Kapitel.) Mehrere Autoren weisen darauf hin, daß auch die Zentralisierung nirgends ganz perfekt und überall durchgehend bis zur untersten Ebene gelungen ist (z. B. Krüger, S. 175, Abs. 3). Unbeschadet der Zentrierung auf den Herrscher kam es zur sachlichen Differenzierung der Verwaltung. Zuvor hatte der deutsche Landesherr an seinem Hof mit einer einzigen kollegialen Behörde regiert, dem „Rat“. Als die Menge der Aufgaben wuchs, gliederte der Herrscher den bis dahin noch sehr einfachen Apparat in verschiedene zentrale Behörden: die „Kammer“ für die Finanzen, den „Geheimen Rat“ für die Auswärtigen Angelegenheiten, worauf der traditionelle „Rat“ nun sozusagen zur Behörde für die Obliegenheiten der Justiz wurde, meistens mit der Zuständigkeit für die allgemeine Administration verbunden. Für das Kirchenregiment fungierte eine Zentralbehörde unter dem Namen entweder „Konsistorium“ oder „Kirchenrat“ oder „Geistlicher Rat“. Größere Territorialstaaten hatten ein Ressort für Militär, meistens „Kriegsrat“ genannt. Zeeden (S. 230), dem ich gefolgt bin, beschreibt so den Regelfall, dem gegenüber Gliederung und Bezeichnungen auch anders sein konnten. Es fällt auf, daß die Auswärtigen Angelegenheiten als besonders geheime Sachen verstanden und behandelt worden sind. Die Bedeutung der Kammer wuchs in den größeren Territorien bereits im 16., im allgemeinen erst in der 1.  Hälfte des 17.  Jahrhunderts (H.  Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, S. 154 f.). Während die einzelnen Behörden zunächst „als durchaus verschieden geartete oberste Verwaltungskörper nebeneinander“ bestanden haben und „‚die Verwaltung‘ noch gar nicht als Einheit gedacht werden“ kann,586 ging nun in den deutschen Territorialstaaten die Führung in der Verwaltung an die Kammern über. Die Fürsten wollten feste Einnahmequellen erschließen, unabhängig von den Ständen. „Wo … dies gelang, dehnte sich der Bereich der fürstlichen Finanzverwaltung von seinem Kern, dem Kammergut [der, wie wir wissen, Fortbildung der alten Schatzkammer], ganz natürlich auf die volle Breite des Territoriums aus.“ Hauptziel war der Aufbau eines schlagkräftigen Stehenden Heeres. Einzel­heiten für konkrete Fälle bringe ich weiter unten in diesem Kapitel, für Frankreich in B.II.2.a)cc). – In reichsrechtlich relevanten Dingen hat der Westfälische Friede einige für unser Thema besonders wichtige587 Regelungen gebracht; vorab ist aber noch zu sagen, daß der Reichstag reaktiviert worden ist und schon 1649 wieder zusammen-

586 Wir werden in B.II.2.a)cc) sehen, wie in Frankreich Ludwig XIV. um der Zentrierung aller Sachverhalte auf seine Person willen die Zusammenarbeit der Ressorts miteinander gerade verhindert hat. 587 Auf das Folgende verweise ich dagegen vorerst nur: Das reichsständisch bestimmte Reichskammergericht ist in einigen Hinsichten an die inzwischen in Deutschland gegebenen konfessionellen Verhältnisse angepaßt worden; der Kaiser hat dem kaiserlichen Reichshofrat in Wien eine neue Ordnung gegeben (Schilling, Höfe, S. 13, S. 100 u. S. 112–118).

II. Defiziente Modi

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kommen sollte, der Wiederbeginn sich aber bis 1653588 verzögert hat. Auch die Reichskreise sind wiederbelebt worden – mit unterschiedlicher Effizienz – und mit den Reichskreisen die Reichswehrverfassung (Schilling, S. 117–125; Duchhardt, S. 30). Auf die Bestimmungen, die die Wiedergewinnung der im Dreißigjährigen Krieg nicht mehr gegebenen Verteidigungsfähigkeit des Reiches zum Ziel hatten, gehe ich dort ein, wo es um die besondere Bedeutung der „Stehenden Heere“ für die Ausbildung des territorialstaatlichen Absolutismus in Deutschland geht. Den Gliedstaaten des Reiches, den Reichsständen, hat der Westfälische Friede eine souveränitäts-ähnliche Landeshoheit, ein umfassendes Recht zur Mitbestimmung in Reichsangelegenheiten, u. a. in Fragen von Krieg und Frieden, bestätigt, einschließlich des Rechts, untereinander und auch mit ausländischen Staaten Bündnisse zu schließen, die sich aber nicht gegen das Reich richten durften. Der Vorrang der Kurfürsten ist zwar nicht beseitigt, aber doch zugunsten der Gesamtheit der Reichsstände zurückgedrängt worden. Das Reich war nun „nicht mehr nur durch den Kaiser, der in Fragen von übergreifender Bedeutung in der Vergangenheit allenfalls einmal die Kurfürsten konsultiert hatte, völkerrechtlich repräsentiert …, sondern durch die Gesamtheit der Stände im Verein mit dem Kaiser“ (Duchhardt, S. 8–11, Zitat aus S. 9; Schilling, Höfe, S. 97). Um das Reich nicht noch einmal verteidigungsunfähig werden zu lassen, bestimmte der Reichsabschied von 1654 ausdrücklich, daß „kein Churfürst oder Stand, noch derselben Unterthanen“ davon zu „eximiren“ (zu befreien) seien, sich an den Verteidigungsanstrengungen zu beteiligen. Schilling (Höfe, S.  120) sagt dazu: „Diese Bestimmung klang zwar gut, war aber in einem ganz speziellen Sinn gemeint. Den Ständen, sonderlich den größeren unter ihnen, die eine eigene Armee aufgebaut hatten, ging es um eine reichsrechtlich sanktionierte Handhabe, ihre Untertanen zur Rekrutierung und Finanzierung des ‚miles perpetuus‘“, wie die Zeitgenossen das „Stehende Heer“ nannten, „heranzuziehen. … ‚Landsassen, Unterthanen und Bürger‘ wurden verpflichtet, ‚zu Besetz- und Erhaltung‘ der ihren Landesherren ‚zugehörigen nöthigen Vestungen, Plätzen und Guarnisonen … mit hülfflichem Beytrag gehorsamlich an Hand zu gehen‘. Darüber hinaus wurden die Reichsgerichte angewiesen, in allen Fragen der Militärlasten keine Klagen aus den Territorien anzunehmen, sondern den sofortigen Gehorsam zu verfügen.“

Die Reform der Reichswehrverfassung stärkte die Einzelstaaten. Die Wehrsteuerhoheit kam endgültig an die Fürsten. Das Militärwesen gewann im Lauf des 17. und des 18. Jahrhunderts in den größeren Territorialstaaten besonders großes Gewicht und „stärkte die moderne Staatlichkeit der Territorien erneut entscheidend“ (S. 120). 588 Der Regensburger „Verfassungsreichstag“ von 1653 war der letzte, der (1654) mit einem „(Reichs-)Abschied“, mit dem Auseinandergehen der Reichsstände nach Verabschieden des Ergebnisses als Reichsgesetz, endete. Ab 1663 gab es dann, in Regensburg, den „Immer­ währenden Reichstag“, bis zum Ende des Reiches, 1806. (Zum „Reichstag“ s. Schilling, Höfe, S. 13, S. 22 f. u. S. 98–112.)

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Die Reichsstände haben 1654 „die ‚patriotische‘ Pflicht, die gesetzlichen Grundlagen für eine effektive Verteidigung des Reiches zu schaffen, geschickt auf die Mühlen des absolutistischen Fürsten- und Militärstaates gelenkt. Das kam vor allem dem Kurfürsten [Friedrich Wilhelm] von Brandenburg direkt zustatten, der eben jetzt mit seinen märkischen und ostpreußischen Landständen in heftige Auseinandersetzungen um den Unterhalt des miles perpetuus verwickelt war. Der Brandenburger war es auch, der vier Jahre später für die Ausweitung dieser proabsolutistischen Bestimmungen in der Reichsverfassung sorgte. Auf Betreiben des Großen Kurfürsten kam in die Wahlkapitulation für Kaiser Leopold I. ein Passus, der den Landständen das Selbstversammlungsrecht sowie jegliche ‚Disposition über die Landsteuern‘ nahm und ihnen zugleich auch in diesen Angelegenheiten den Weg zu den Reichsgerichten versperrte“ (S. 120 f.).

Aus dem, was wir eben gelesen haben, war schon zu erkennen, daß wir aus den neueren Arbeiten deutscher Geschichtswissenschafter tatsächlich ein mehr differenziertes Urteil in Sachen Absolutismus in deutschen Territorien gewinnen können, und es wird deutlich, daß das Kriterium nicht die „Nachahmung des französischen Beispiels“ (Ludwig XIV.) sein kann, wie Mandrou (S. 72) meint. Sein Einwand, daß der Große Kurfürst von Brandenburg „von der Aufrechterhaltung der Privilegien seines Adels  … besessen war“  – was für den Absolutismus uncharakteristisch sei –, kann so nicht gelten. Die der Idee gemäß (Bodin) Zentrierung der Entscheidungsbefugnis allein auf den Herrscher, hier die Beseitigung der Rechte der Landstände (bei denen der landständische Adel nicht immer, aber in der Regel die stärkste Kraft gewesen ist) zur Einwirkung auf die territorialherrscherlichen Entscheidungen des Fürsten, ist die eine und die für die Absolutismusbeurteilung entscheidende Sache, die Wertschätzung und auch eine Privilegierung des Adels (vor den Bürgerlichen) in anderen Hinsichten eine andere, die Beibehaltung adliger ostelbischer Gutsherrschaft über die Bauern und der Schutz der Junker gegen ein Vordringen von Nichtadligen in diesen Bereich eine dritte Sache. Anders ausgedrückt, diese sehr weitgehende Beseitigung der landständischen Rechte zur Einwirkung auf die herrscherlichen Entscheidungen, als Voraussetzung des Absolutismus, heißt also nicht Beseitigung ständischer Unterschiede überhaupt, darf „keinesfalls mit einem generellen Verfall des Ständetums gleichgesetzt werden“ (Duchhardt, S. 24, dazu auch S. 64). Als mit der Einführung der Reformation in Brandenburg der Prälatenstand verschwand, der bis dahin, abgesehen von der kurfürstlichen Familie, an der ersten Stelle gestanden hatte, sind – zwar nicht sogleich, aber dann doch im Laufe fast eines Jahrhunderts (Schilling, Höfe, S.  408)  – die Junker nicht nur wirtschaftlich,589 sondern auch in ihrem Prestige im Vergleich mit den Bürgern und natür-

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In der 2. H. des 17. Jh. ist die Fläche der adligen Güter im Durchschnitt um die Hälfte größer geworden, meistens durch Übernahme im Dreißigjährigen Krieg preisgegebener Höfe (Schilling, Höfe, S. 406). Aber noch andere Faktoren hatten Bedeutung für den Aufschwung der ostelbischen Landwirtschaft; das lasse ich hier aber beiseite.

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lich noch weit mehr im Verhältnis zu ihren leibeigenen Bauern der führende Stand geworden. (Ich komme darauf zurück.) Der Große Kurfürst hatte bereits 1644, also noch während des Dreißigjährigen Krieges, mit dem Aufbau eines Stehenden Heeres begonnen (S. 88). „In den Jahrzehnten nach dem Westfälischen Frieden [ging er] zu einem Generalangriff gegen die landständische Verfassung über. Betroffen war davon in erster Linie der Adel“ (S. 406), zuerst in der Mark Brandenburg, ohne daß dieser Angriff „prin­ zipiell und programmatisch“ gegen den Adel als Adel gerichtet war (Schilling, Höfe, S. 408). Auf einem allgemeinen Landtag, „dem ersten seit 37 Jahren und zugleich dem letzten diesen Typs, wurde ein berühmter Landtagsrezeß ausgehandelt, der dem Kurfürsten die notwendigen Steuern für das stehende Heer … verschaffte. Dieses Heer … versetzte ihn von nun an in die Lage, Steuern ohne formelle Bewilligung … eintreiben zu lassen und damit in der Mark Brandenburg die Weichen für die absolutistisch-autokratische Regierungsreform zu stellen“ (S.  406). Zu Anfang der sechziger Jahre folgten die brandenburgischen Gebiete am Niederrhein: Die Soldatenwerbung und die Armee überhaupt gingen nun „ohne landständische Mitwirkung“ allein in die Zuständigkeit des Landesherrn über (Duchhardt, S. 24). In Ostpreußen, über das der Große Kurfürst gerade statt der bis dahin gegebenen Lehnsabhängigkeit von Polen die Souveränitätsrechte gewonnen hatte, kam es zweimal, 1661–1663 und 1669–1672, zu erbittertem Widerstand, den der Große Kurfürst beide Male gewaltsam gebrochen hat (Details bei Schilling, Höfe, S. 407). Ergebnis war: „Die Stände gaben ihren Widerstand auf. Auch in Preußen war die landständische Ver­ fassung im Kern ausgehöhlt. 1674 wurden in Königsberg erstmals nichtbewilligte Steuern gewaltsam eingetrieben. Nur noch formell bestand ein Steuerbewilligungsrecht der Landtage. Aber auch dieses wurde 1704 zum letzten Mal ausgeübt; danach waren in Preußen die Steuern permanent. Seit der Große Kurfürst ein stehendes Heer zur Verfügung hatte, dessen Unterhalt … gesichert war und das von einer fürstlichen Militär- und Finanzverwaltung zentral organisiert wurde, sanken die Landtage der Einzelterritorien immer rascher zu Provinzialvertretungen herab, die mehr kommunalen als politischen 590 Charakter besaßen. Damit waren die Landstände, voran der eben noch selbstbewußt aufgetretene Adel, politisch590 entmündigt. Regierung und Verwaltung waren fortan ausschließlich Sache des Fürsten und seiner Bürokratie“ (S. 407 f.),

dem wichtigsten Instrument zur Modernisierung des absolutistischen Staates (S. 336 ff. mehr zur Bürokratie). Wir hörten, jener Prozeß des Interessenausgleichs zwischen Krone und Junkern habe „fast ein Jahrhundert“ in Anspruch genommen.591 Das bedeutet natürlich, 590 Der Begriff „politisch“ paßt hier natürlich schon überhaupt nicht mehr. Tatsächlich steht nur Mitwirkung bzw. inzwischen eben Nicht-mehr-Mitwirkung an herrscherlichen Entscheidungen auf Staats-Ebene zur Debatte. 591 Die Gegensätze und der langwierige Prozeß ihrer Überwindung hatten auch einen konfessionellen Aspekt. Der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund und seine Familie sind 1613 aus Überzeugung vom lutherischen zum kalvinischen Protestantismus übergetreten.

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daß er erst mit Friedrich dem Großen zu seinem Abschluß gekommen ist. Beim Vater sah es noch so aus: „Der sparsame Friedrich Wilhelm I. … stützte sich bei der Errichtung des modernen Verwaltungsapparates vornehmlich auf Bürgerliche. Seine … [Steuerstrategie] griff den Junkern rücksichtslos in den Geldbeutel – in Preußen durch … eine allgemeine Grundsteuer, die auch den dort steuerlich nicht exemten Adel traf, in den übrigen Territorien durch die Allodifikation der Lehnsgüter [Verwandlung in Freigut], das heißt durch Ablösung der längst nicht mehr erbrachten ritterlichen Kriegsdienste mit 40 Talern pro Lehnspferd. Im Zuge seiner auf Wiederherstellung und Arrondierung [der Domänen] ausgerichteten  … [Strategie] waren Friedrich Wilhelm  I. alle Mittel recht, günstig gelegene Adelsgüter in staatlichen Besitz zu bringen – sei es durch Prozesse, sei es durch Aufkauf.“ (S. 408 f.)

Aber  – und damit kommt das hoch, was schon der „Soldatenkönig“ als von einem adligen Offizierskorps und der Krone gemeinsam zu bewältigende Aufgabe eingeschätzt hat –, Aufbau und Führung einer schlagkräftigen Armee des preußischen Gesamtstaates aus allen seinen so unterschiedlichen Teilen (S. 408 f.; für das folgende S.  434–440). Friedrich Wilhelm  I. hat parallel zur Kantonatsverfassung592 das moderne Offizierskorps geschaffen. Anstelle der Offiziere als sozusagen Privatangestellte von Söldner-Obristen gab es nun die Offiziere als „Staatsdiener im neuzeitlichen Sinne“, jeder „direkt vom König angestellt und ihm unmittelbar eidlich verpflichtet“. Friedrich Wilhelm I., der, wie wir wissen, in ReDas hat für lange Zeit zur Entfremdung zwischen dem bei weitem mehrheitlich lutherischen Adel (und den Berlinern, aber auch der Landbevölkerung) auf der einen und dem Haus Hohen­ zollern in Brandenburg auf der anderen Seite geführt. Das Herrscherhaus hat sich recht früh eine vom lutherischen Adel unabhängige Elite aufgebaut (kalvinische Hofprediger an allen Orten, an denen sich Mitglieder der kurfürstlichen Familie aufhielten, einen kleinen Kreis von Kalvinisten im Adel, unter den hohen Beamten und im Offizierskorps, die statt im altständischen Partikular-Interesse aktiv mit den Hohenzollern zugunsten des Aufstiegs Preußens zu einem der führenden europäischen Staaten arbeiteten), hat dann außerdem, aus Staatsräson, konfessionelle Toleranz geübt. Auf dieser Grundlage brachte eine Bewegung innerhalb des lutherischen Protestantismus für Brandenburg-Preußen die sozusagen Versöhnung zwischen Herrscherhaus und Untertanen: der Pietismus. Er hat außerhalb Württembergs (wo er im wesentlichen die introvertierte Frömmigkeitsbewegung der Anfangszeit geblieben ist) im Sinn tätiger Nächstenliebe aktiv für Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen gearbeitet, in Zusammenarbeit mit dem und mit Forderungen an den Staat. „Es waren vor allem die brandenburgisch-preußischen Herrscher, die den Pietismus nachhaltig förderten und in den Dienst einer Art ‚Staatsideologie‘ stellten, die auf einen Beitrag jedes Untertanen zur Wohlfahrt aller abzielte“ (Duchhardt, S. 81). Der Pietismus fand in der Bürgerschaft und im Adel Anklang. Der preußische Staat hat die „auf der lutherischen Lehre aufbauende, gleichwohl auch die reformierte [kalvinische] Theologie voll akzeptierende und einbeziehende Pflichten­ ethik mit Elementen wie Sparsamkeit, Arbeitsmoral, Einsatz für die Gemeinschaft“ (S. 91) aufgenommen und auch für seine Zwecke unterstützt. Das hat soziale Gegensätze abgebaut, die Hürden zwischen den Konfessionen (einschließlich der zu den Katholiken) niedriger werden lassen und sehr zur Einung Brandenburg-Preußens beigetragen. (Mehr Details bei Duchhardt, S. 81 f. u. S. 91 f.; Schilling, Höfe, S. 51 f. u. S. 378–403.) 592 Gliederung des Territoriums zur Erfassung aller wehrfähigen Burschen im Staat zu deren geordneter, möglichst heimatnaher und auf die Erfordernisse der Landwirtschaft Rücksicht nehmender Rekrutierung (Schilling, Höfe, S. 434 ff.).

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gierung und Verwaltung lieber Bürgerliche in Dienst nahm, legte „das Kommando über seine Soldaten … in die Hand einheimischer Adliger“ (S. 436). Die Söhne des Adels durften nun nicht mehr, wie früher nicht selten der Fall, in ausländische Kriegsdienste gehen, wurden schließlich systematisch erfaßt, die für den Offiziersdienst geeigneten aufgelistet und vom König selbst für das Kadettenkorps bestimmt. Der König garantierte den Eltern der oft noch sehr jungen Kadetten, daß ihre Söhne im Christentum unterwiesen werden und die erforderliche Bildung erhalten würden, zusätzlich zum Schreiben und Lesen: in „Mathesie“, „Fortifikation“, französischer Sprache, Geographie und „Historie“, in Fechten und Tanzen. Friedrich der Große hat über die Strategie seines Vaters in bezug auf das Offizierskorps geschrieben: „‚Man schaffte bei den Regimentern die Offiziere fort, deren Aufführung und Herkommen sich für die ehrenvolle Laufbahn nicht schickte, und seit dieser Zeit litten die Offiziere nur untadelige Namen unter sich‘“ – gemeint ist: in ihren Reihen. „Diese Selbststilisierung und  … Abschottung der JunkerOffiziere“ vom Rest der Bevölkerung „wurde bezahlt mit einer Zwei- oder besser Dreiteilung der Untertanenschaft“, die für Preußen und Deutschland noch lange auch negativ fortgewirkt hat. „Allerdings kann man auch nicht übersehen, daß der neue Geist des preußischen Soldatentums nicht ganz unbeteiligt war an einer gewissen Humanisierung des Krieges, um die sich Völkerrechtler und Politiker seit Jahrhunderten bemühten. Diese Humanisierung hing in der Praxis ja entscheidend davon ab, in welchem Geist und mit welchem Selbstverständnis die Soldaten, vor allem die Offiziere, das ‚Kriegshandwerk‘ betrieben“ (S. 438). Auch im Innern war der Staat der Hohenzollern mittels der neuen Strategie in bezug auf die Offiziere in der Armee „entscheidend gefestigt“. „Bereits Mitte der zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts [also zur Zeit Friedrich Wilhelms I.] gab es in Brandenburg, Pommern und Ostpreußen kaum noch eine Adelsfamilie, die im borussischen Offizierskorps nicht vertreten war, und auch der westdeutsche Adel hatte sich an den Dienst in des Königs Rock gewöhnt.“ Seit dem Soldatenkönig und noch stärker zur Zeit Friedrichs II. „war das Offizierskorps der Garant einer gelungenen Versöhnung zwischen Krone und Adel.“ Nun gab es auch beim Landadel keinen altständischen Widerstand mehr gegen die Monarchie, zwischen der und dem lutherischen Adel der Pietismus und die hohenzollernsche Toleranz auch die konfessionellen Gegensätze überwunden hatten. „Damit war in BrandenburgPreußen … der alte feudale, frondierende Adel endgültig umgegossen worden in den monarchischen Adel des Absolutismus.“593 Dazu sehr viel beigetragen hat auch der enge ganz persönliche Kontakt, den Friedrich der Große nicht nur zu seinen Offizieren pflegte, mit denen er ja selber in den langen Kriegsjahren „im Feld gelegen hatte“, sondern der König kannte auch die Adelsfamilien seiner Provinzen sehr genau (Schilling, Höfe, S. 439 f.). 593

Wandruszka (S. 416) macht in bezug auf Ostpreußen eine Einschränkung: „Noch durch das ganze 18.  Jahrhundert bis zu Hamann, Herder und Kant sind in Ostpreußen die frei­ heitlichen Tendenzen und dementsprechende Affekte gegen den fürstlichen Absolutismus und bürokratischen Zentralismus der Hohenzollern lebendig geblieben.“

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Wir hörten, daß die „Entmündigung“ des Adels durch den brandenburgischen Kurfürsten, was Mitwirkung an oder Einwirkung auf herrscherliche Entscheidung auf der Territorialstaats-Ebene betrifft, mit Zugeständnissen an den Adel erkauft worden ist. Schilling (S. 408) spricht dabei von „kompensieren“. In Wirklichkeit hat sich der Adel dabei schließlich nur solches eingehandelt bzw. ist ihm zugestanden bzw. abgesichert worden, das auf viel niederer Stufe als die jener Mitwirkung steht. Gewonnen war eben vor allem ein hohes Sozialprestige, im Vergleich mit den anderen Untertanen, abgesichert war die gewinnbringende paternalistische Gutsherrschaft mit Polizei- und Gerichtsbefugnis über die hörigen Bauern. Von „ausgleichen“ oder gar „vergüten“, wie „kompensieren“ meistens übersetzt wird, kann also keine Rede sein, allenfalls von „ersetzen“, wie „kompensieren“ manchmal auch verstanden wird, dann aber in pejorativer Bedeutung. Der Übergang zum Absolutismus, hier gezeigt am frühen Fall Bayern und, aus besonderem Anlaß (und nur in bezug auf das Verhältnis von Adel und Territorialfürst), in seiner brandenburgisch-preußischen Variante, ist, generell, die zweite Hauptphase des Abstiegs aus der Politizität des Gemeinwesens ins Unpolitische. Außer dem Stehenden Heer, mit dem – bei Anspruch auf Gewaltmonopol – der Wille des nicht mehr von ständischer Einwirkung behinderten Herrschers auch gegen Widerstände im Innern594 durchgesetzt werden konnte, werden in der Literatur zur Geschichte der jüngeren Frühneuzeit als Voraussetzungen oder als Begleiterscheinungen absolutistischer Herrschaft vor allem noch genannt: prestigefördernde Prachtentfaltung; Rationalisierung und Straffung der zentralisierten, nun aber zunehmend fachlich gegliederten Verwaltung, mit einem vom Herrscher abhängigen Beamtenapparat; für Deutschland595 auch der Ausbau jener landesherrlichen Kirchenhoheit sowohl evangelischer als auch katholischer Territorialfürsten;596 staatliche Wirtschaftslenkung im Sinne des Merkantilismus. Von Territorium zu Territorium gab es dabei große Unterschiede. Zur Prachtentfaltung im absolutistischen Deutschland nenne ich einige Beispiele. Das erste gehört zum ersten nach dem Dreißigjährigen Krieg abgehaltenen Reichstag, 1653/54 in Regensburg. „Zur allgemeinen Überraschung begab sich Kaiser [seit 1637] Ferdinand  III.  … selbst nach Regensburg. … Jetzt kam er im Glanz des Friedenskaisers, begleitet von einem Hofstaat, der nach Tausenden zählte. Als Kenner und Liebhaber der Musik, der als erster einer Reihe von Habsburgerkaisern auch selber komponierte,597 lud Ferdinand III. den Reichstag zu einer Oper ein. Die Künstler ließ er aus Italien kommen, wo dieses Musikspiel soeben 594 Die Trennung von „Polizei“, so wie wir das Wort heute verstehen, und „Militär“ ist jüngeren Datums. 595 In Frankreich (s. Kap. B.II.2.a)cc)) der „Gallikanismus“. 596 Zur Zeit von Josephs II. Alleinherrschaft ab 1780 dann ganz extrem ausgebildet in den habsburgischen Ländern („Josephinische Staatskirche“; Schilling, Höfe, S.  323; dazu siehe weiter unten). 597 Siehe Federhofer, in: Honegger/Massenkeil, Bd. III, S. 74.

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erfunden worden war. Gut 46 000 Gulden ließ der Habsburger sich diese Demonstration kosten, die zeigen sollte, daß der Kaiser und das Haus Österreich aus dem Elend des Krieges wiedererstanden waren. Das war ein glanzvoller Auftakt für die Epoche des höfischen Absolutismus im Reich, in der die Musik wie alle übrigen Künste dem Willen zu barocker Pracht und fürstlich-festlicher Repräsentation zu dienen hatte“ (Schilling, Höfe, S. 104 f.). 

Die prunkvoll erbauten Schlösser des bayerischen Kurfürsten Maximilian II. (Zeit Ludwigs XIV.) sind oben schon genannt worden. – Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, Sohn des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, wurde 1701 als Friedrich I. König in Preußen. „Unter seiner Regierung entfaltet sich erstmals in Brandenburg der Glanz eines großen Hofes. Bereits die Krönungsfeierlichkeiten … in Königsberg [Zeit Ludwigs XIV.] geraten zum großen höfischen Fest mit einer Prunk- und Prachtentfaltung von französischem Ausmaß“ (Schilling, Höfe, S. 370). Das änderte sich schlagartig, als der Sohn als Friedrich Wilhelm I. 1713 die Regierung übernahm und äußerst sparsam wirtschaftete (S. 408). – Ab 1695, zur Zeit Kaiser Leopolds I., entstand in Wien das überaus prächtige Schloß Schönbrunn (S. 363). Als 1711 Karl VI. Kaiser wurde, brach bei den Habsburgern das „Baufieber“ aus, aber das war nicht Nachahmung des damals noch regierenden französischen Königs Ludwig  XIV., sondern beanspruchte höheren Rang. Hier „entfaltete“ sich „ein eigener Karolinischer ‚Kaiserstil‘ … – in den monumentalen Schaufassaden der Hofburg ebenso wie in der imperialen Programmatik von Decken­fresken und Plastiken“ (S.  357).  – Friedrichs des Großen598 z. T. gemäß eigenem Entwurf 1745–1747 elegant gestaltetes Sommerschloß „Sanssouci“ mit Park war dagegen nicht auf Prunk und Verherrlichung des regierenden Monarchen angelegt, wie es in Versailles ganz extrem bei und für Ludwig XIV. der Fall war, sondern, wie Duchhardt (S. 52) schreibt, im Gegenteil mehr ein „Refugium“. Der Aufbau umfangreicher Stehender Heere, wie ihn nach dem Dreißig­jährigen Krieg die größeren und auch mittelgroße Territorialstaaten des Reiches betrieben, war kostspielig. Wollte ein Territorialfürst sein Heer weiter vergrößern und dabei ohne die Annahme fremder, Abhängigkeiten begründender Subsidien auskommen, mußte er nicht nur bei der Beschaffung der für das Heer benötigten Güter, Bewaffnung und Uniformen, und im Kasernenbau, also auf der Ausgabenseite, möglichst rationell vorgehen und auf der Einnahmenseite ein höheres Steueraufkommen erreichen, sondern, weil das alles miteinander zusammenhing, veraltete Strukturen überwinden und eine moderne, straff und eben zentral organisierte Verwaltung schaffen. Für Brandenburg-Preußen  – besonders Brandenburg war von Hause aus ein vergleichsweise armes Land, die „Streusandbüchse des Reiches“, und die Hohenzollern hatten damals noch keinen Anteil am reichen Schlesien599 – hat das König Friedrich Wilhelm I. zustande gebracht. Er konnte zwar auf 598 An den schon bestehenden Schlössern in Potsdam und Charlottenburg hat der König umbzw. anbauen lassen. 599 Der erste nach dem Dreißigjährigen Krieg abgehaltene Reichstag (s. o.) begann 1653. „Als dann im Frühjahr 1654 im Streit um das schlesische Herzogtum Jägerndorf, das die Habsburger 1623 auf der Höhe ihrer Macht unter Umgehung brandenburgischer Erb­ansprüche

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dem aufbauen, was sein Großvater, der Große Kurfürst, als sozusagen Gerüst für eine solche straffe, den ganzen Staat umfassende und allein vom Territorialherrscher abhängige Finanzverwaltung schon errichtet hatte. „Aber damit war in Brandenburg-Preußen in der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts im wesentlichen erst jener Zustand erreicht, den die Habsburger in ihren deutschen Erb­ ländern … ein halbes Jahrhundert vorher600 …schon erreicht hatten. Den entscheidenden Schritt, durch den die vorbildliche habsburgische Behördenorganisation nicht nur eingeholt, sondern auch beträchtlich überholt wurde, vollzog der preußische Staat unter und durch Friedrich Wilhelm I.“

schreibt Wandruszka (S. 415, der danach, S. 415 ff., Einzelheiten nennt). Das alte deutsche Reich bestand aus etwa 300 Gliedgemeinwesen, den inzwischen zwei großen, Habsburgerstaat und Preußen, einer Anzahl mittelgroßer und aus sehr vielen kleinen bis sehr kleinen Gebilden. So wie es in bezug auf die stehenden Heere sehr große Unterschiede gab, von Preußen und den Habsburger Landen über Bayern, Hessen-Kassel und einige andere, bis zu solchen Gliedern des Reiches, die nur wenige Regimenter unterhielten, und bis zu den ganz kleinen, die praktisch ganz unarmiert blieben und ihren Verpflichtungen gegenüber dem Reich (den Reichskreisen) mittels Geldzahlungen nachkamen, gab es auch in Sachen Einwirkung bzw. Nichteinwirkung von Landständen auf die herrscherlichen Entscheidungen ebenfalls sehr große Unterschiede. Ich begnüge mich mit einem ihrer Paladine, dem Fürsten Karl von Liechtenstein, übergeben hatten, eine Niederlage Österreichs drohte, schloß der Kaiser eilends den Reichstag“ (Schilling, Höfe, S. 105 f.). Es kam ein Vierteljahrhundert später, in der Zeit der Aggressionen Ludwigs XIV. (Angriff auf die und Eroberung der Niederlande, außer Holland; Wegnahme der Freigrafschaft; Angriff auf Lothringen, auf rechtsrheinische Gebiete im Südwesten und Freiburg; die sogenannten Re-unions-Kriege gegen deutsche Territorien im Südwesten und Westen; die Wegnahme der Reichsstädte im Elsaß, 1673; der Überfall auf Straßburg, 1681; Schilling, Höfe, S. ­198–240), noch hinzu, daß es der Wiener Hofburg „nicht gelang, Brandenburg[-Preußen] im kaiserlichen Lager zu halten, … das man durch die Einziehung der 1675 frei gewordenen, vom Großen Kurfürsten reklamierten schlesischen Fürstentümer Liegnitz, Brieg und Wohlau als erledigte Lehen noch zusätzlich brüskiert hatte“ (Duchhardt, S. 29). – Dazu, wie es dann zum Siebenjährigen Krieg kam (auch „3. Schlesischer Krieg“ genannt), siehe Duchhardt, S.  112 f. Auch den Verlauf dieses Krieges (1756–1763) beschreibe ich nicht. Er war nicht nur ein Krieg zwischen Preußen und Österreich um Schlesien, sondern schon eine Art Weltkrieg, in den auch Frankreich, Rußland, Schweden und England verwickelt waren, dabei außerhalb Europas vor allem Frankreich und England, besonders in Indien und Nord- und Mittelamerika. (Von den von mir herangezogenen Autoren bringt Schilling, Höfe, S. 450–473, dazu ein besonderes Kapitel.) 600 „Verneuerte Landesordnung“ Ferdinands II., von 1627/28 (Zeeden, S. 251 f., der dort allerdings auch zeigt, welche Mängel die Neuordnung noch hatte; dazu auch Schilling, Höfe, S. 333 f. u. S. 336). Die Mängel sind zu Anfang des 18. Jh. eklatant geworden. Prinz Eugen konnte als Hofkriegsratspräsident zwar Verbesserungen durchsetzen. „Durchschlagend waren die Erfolge aber nicht …, in der Militäradministration ebenso wie in der Verwaltung generell.“ Erst die von Kaiserin Maria Theresia 1745 eingeleitete Staatsreform stellte „das Behörden- und Verwaltungssystem des Habsburgerstaates … auf die neue, absolutistisch-rationale Basis“ (Schilling, Höfe, S. 329; siehe auch Duchhardt, S. 109 f.; zu Maria Theresia Schilling, Höfe, S. 342–347).

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wenigen Hinweisen. In Sachsen hatten vor dem Hintergrund der aufwendigen Ambitionen Augusts des Starken die Landstände „eine Renaissance erlebt“ (Duchhardt, S. 96). – In den geistlichen Territorien waren und blieben die „Domkapitel oder Konvente Mitträger der Herrschaft …, was jedesmal unübersehbar hervortrat, wenn der Fürstbischof oder Fürstabt starb“ (Schilling, Höfe, S. 128). – Das Regiment in den Reichsstädten trug „im alteuropäischen Sinne republikanische Züge“ (ebenda).  – Im kleinen Fürstentum Nassau-Saarbrücken mit in der Mitte des 18. Jahrhunderts etwa 30 000 Einwohnern (Ernst Klein, S. 250) hatte es nie Landstände gegeben. Die in der Gegend ansässigen uradligen Familien (aus ihnen früher Lehnsleute und Beamte der Grafen von Saarbrücken) waren in die Reichs­ ritterschaft aufgestiegen (H. W. Herrmann, 1968, S. 56). Ziel der merkantilistischen601 Wirtschaftslenkung war natürlich ebenfalls, über die Vergrößerung des Wohlstands der Untertanen zu mehr Staats-Einnahmen zu gelangen. Es sollte eine zumindest ausgeglichene, möglichst aber eine aktive Handelsbilanz erreicht werden. Dem entsprach auch die Zollstrategie. Gewerbe und Handel sind durch Verbesserungen der Infrastruktur für den Verkehr im engeren, aber auch im weiteren Sinn (Kreditwesen) gefördert worden, durch Hergabe von Privilegien bis hin zu Monopolen und durch Direktunterstützungen an Manu­ fakturen, die im Land benötigte, dort aber bis dahin zu wenig oder gar nicht produzierte Güter herstellen sollten. Es sind aus anderen Staaten Spezialisten an- bzw. abgeworben worden, z. B. für die Porzellan- bzw. Fayence- und für die Textilmanu­ fakturen, für den Bergbau und die Eisen- bzw. Eisenwarenerzeugung. Manche Staaten haben aber auch bäuerliche Ansiedler aus anderen Territorien angeworben, gaben Hilfen für Neuverheiratete und betrieben auf noch anderen Wegen „Peuplierung“. Weil viele Staaten dieser Zeit ebenfalls merkantilistisch operierten, haben sich die gewünschten Erfolge oft nur bedingt erreichen lassen. Handel und Gewerbe sind durch die staatliche Wirtschaftslenkung mit ihrer oft bürokratischen Bevormundung in ihrer Entfaltung dann nicht selten wieder behindert worden. Wenn, wie wir sahen, keineswegs alle deutschen Territorien in der jüngeren Frühneuzeit absolutistisch regiert worden sind, so doch die beiden mit Abstand größten und außerdem einige mittelgroße und auch kleinere. Zum Abschluß des die deutschen Territorien betreffenden Kapitels noch das Wichtigste zum „aufgeklärten602 Absolutismus“. 601 In Deutschland sprach man damals statt von „Merkantilismus“ von „Kameralismus“. Dieser Begriff umfaßte weit mehr als Ökonomik, über sie hinaus noch Verwaltungslehre und Policey-Wissenschaft als Lehre von der „guten Policey“, das hieß der „guten Ordnung“, mit dem Ziel des „guten Lebens“. (Die Kameral-Lehre mit Policeywissenschaft und Ökonomik stammte aus der Tradition der aristotelischen Lehre von der Politik. Etwas mehr dazu aus anderen Gründen in Kap. A. I. nach Index 5; vor allem aber ist zu verweisen auf Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre.) 602 „Aufgeklärt“ geht im zweiten Wortteil auf lat. clārus i. S. v. „hell“ zurück; mnl. claer geht im 12. Jh. in rheinische Texte ein: mhd. klār (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 387). „Aufklären“ aus nnl. opklaren (Seemannssprache). „Aufklärung“ (fem.) als Schlagwort nicht vor

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Verweltlichung und Verfall der römischen Kirche im Spätmittelalter und in der Renaissance sowie das Scheitern innerkirchlicher Reformen führten zur konfessionellen Spaltung und zum Autoritätsverlust der Kirche. Im Humanismus und in der Renaissance gab es unbeschadet der Rückbesinnung auf antike Traditionen erste Ansätze zur Überwindung scholastischen, an Autoritäten gebundenen Denkens. Die im 16. Jahrhundert in der „Schule von Salamanca“ entwickelte moderne Naturrechtslehre, im 17.  Jahrhundert weiterentwickelt und dann systematisiert (Suárez, Althusius, Grotius, von Pufendorf), die Befreiung der Naturwissenschaften aus Bindungen an die antiken Autoritäten, die vernunftgeleitete kritische Betrachtung (mit Gegenkritik) aller das Zusammenleben bestimmenden Normen und Traditionen und auch aller Institutionen (nicht zuletzt der ständischen Ordnung, der Rechtsungleichheit, Privilegierungen und Institutionen der Herrschaft) mit dem Ziel der Veränderung all dessen, was der vernunftgeleiteten kritischen Betrachtung nicht standhält, waren Grundlagen der „Aufklärung“ genannten Bewegung, in den konkreten Ausprägungen unterschiedlich radikal oder gemäßigt. In der französischen Aufklärung – mehr dazu in B.II.2.a)cc) – sind außer „Kritik“ vor allem „Toleranz“ und „Freiheit“ die zentralen Begriffe gewesen, für die deutsche war charakteristisch „ein stärker utilitaristisch-pädagogischer Affekt“ (Duchhardt, S. 119). Auch die Bedingungen waren anders als in Frankreich: Die Akzeptanz der Aufklärung war in den protestantischen Territorien größer als in den katholischen; „der (ältere) Pietismus“ – siehe weiter oben – hatte in Deutschland „manche Positionen der Aufklärung bereits besetzt“; die „deutschen Wortführer“ der Aufklärung waren „meist Staatsbeamte“;603 die Überzeugung war weit verbreitet, „daß dem deutschen Absolutismus die Kraft zur Selbsterneuerung und zur evolutionären Veränderbarkeit seines eigenen Systems innewohne“. Christian Wolff (1679–1754) ging es in seiner Philosophie darum, „ein rationalistisches und ‚nützliches‘ Lehrgebäude zu entwickeln, in das als überhöhender Faktor grundsätzlich auch die Offenbarungsreligion integriert werden konnte“, während die französische Aufklärung in diesen Dingen radikal war. Von der Praxisorientierung der Wolffschen Philosophie „war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der … [sehr breit wirkenden], wenn auch philosophisch wenig originalen ‚Popularphilosophie‘ der Wolff-Schüler, die sich überaus lebensnah mit Fragen der Moral, der Psychologie, der praktischen und vernünftigen Lebensbewältigung beschäftigten“. Die deutsche Aufklärung war sozusagen ein „‚Erziehungsprogramm‘“, das den „Prozeß der Befreiung der Menschen von unverstandener Autorität, Mitte 18. Jh. (S. 39). Aufklärung inhaltlich begründet von Christian Thomasius in „Einleitung in die Vernunftlehre“ (1691). Bei Descartes in seinem philosophischen Hauptwerk „Principia philosophiae“ (1644) die Unterscheidung zwischen der göttlichen Offenbarung und dem lumen naturale i. S. v. „Einsicht“ und „Klarheit“. Frz. siècle des lumières = „Zeitalter der Aufklärung“; gemeint ist la lumière de la raison = die Klarheit, die durch Vernunft gewonnen wird. 603 Duchhardt, S. 125, fügt hinzu: Es „ist hier auch an die vielen Literaten zu denken, die erst nach ihrer sozialen Absicherung durch eine Pfarr-, Bibliothekars- oder Professorenstelle in der Lage waren, ihrer Schriftstellerei zu huldigen“.

II. Defiziente Modi

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des Lernens und Selbständigwerdens im Denken und Handeln in Gang  … setzen“ sollte; es „erforderte nicht nur beim einzelnen Bereitschaft zur Selbsterziehung, sondern auch in Staat und Verwaltung Einsicht und Fähigkeit, die Rahmen­ bedingungen zu schaffen, damit der vernünftig denkende und handelnde Untertan und Patriot die Möglichkeit hatte, sich nützlich zu machen und anderen zu helfen, dieses Ziel zu erreichen.“ (S. 120) Vom Staat erwartet wurden die Errichtung zum einen von „Schulen aller Art“, zum anderen von aufklärerischen PresseOrganen, die die angestrebten Ziele bei einem größeren Publikum propagieren sollten. Es ist früh erkannt worden, daß das auf deutsch statt auf lateinisch geschehen mußte – übrigens mit viel Fortentwicklung der deutschen Hochsprache im Gefolge. (S. 120 f.) Die deutschen Aufklärer machten in bezug auf Justiz, Wirtschaft, „öffentliche Moral“ und Sozialeinrichtungen viele Verbesserungsvorschläge. Neben „Kritik“ ist hier „Nützlichkeit“ ein Schlüsselbegriff gewesen, im Sinne von Nutzen für das Gemeinwesen und seine Glieder. Anders als in Frankreich (dort: Broschüren) waren in Deutschland in sehr großer Zahl die – in gelehrter Diktion so genannten – Moralischen Wochenschriften604 Medien der Aufklärung (Duchhardt, S. 119 ff.). Wichtig für die Verbreitung aufklärerischer Gedanken in deutschen Territorien waren die vielen hundert „Lesegesellschaften“ und geheim zusammenkommenden Gesellschaften (hier vor allem „Logen“) und die „gelehrten“ Gesellschaften. Unter unseren systematischen Gesichtspunkten werden sie und die Salons gesondert in Kapitel B.III.1.e) betrachtet. Wenn seinerzeit in bezug auf Deutschland von „aufgeklärtem Absolutismus“ die Rede war, hat man zunächst nur Friedrich II., den König von Preußen (1712– 1786), gemeint. Als Friedrich 1740 sein Amt antrat, „übernahm eine neue Generation die Leitung der Geschäfte in nahezu allen Bereichen, eine Generation, die nach dem Vorbild des Königs das vom Westen her einströmende Gedankengut aufgeschlossen annahm oder wenigstens tolerierte“ (Mandrou, S. 249). Der König hat die Aufklärungsphilosophie in Deutschland verbreiten helfen, 1740 dem Philosophen und Naturrechtler Christian Wolff (1679–1754), den Friedrich Wilhelm I. des Landes verwiesen hatte, wieder einen Universitätslehrstuhl gegeben, hat die 1711 in der Ära des in ganz Europa berühmten Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) gegründete, unter Friedrich Wilhelm I. aber vernachlässigte Berliner „Preußische Akademie der Wissenschaften“ wieder gefördert605 und überhaupt nach Kräften das gelehrte Bürgertum. Die geistigen Größen seiner Zeit in Deutschland standen mit ihm in Verbindung, u. a. Lessing und Gottsched. Auch Johann Sebastian Bach hat den König in Potsdam besucht, der aber die für ihn 604 Damit die Verbreitung nicht überschätzt wird: Matthias Claudius’ berühmter „Wands­ becker Bote“ hatte eine Auflage von etwa 400 (Duchhardt, S. 122). 605 Der sehr musikalische Friedrich II. war nicht nur ein guter Flötist, er hat auch umfangreich komponiert (s. Kross, in: Honegger/Massenkeil, Bd. III, S. 178). Außerdem hat er selber im kleinen Kreis Vorlesung gehalten.

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zeitgenössische, also moderne Musik des Bachsohns Carl Philipp Emanuel mehr schätzte. Friedrich war mit dem größten der französischen Aufklärungsphilosophen und Schriftsteller, mit Voltaire (1694–1778), befreundet, der mehrere Jahre bei ihm in Potsdam wohnte, bis es 1753 zu einem Zerwürfnis kam. „Die Philosophen der Aufklärung spendeten dem König nicht immer Beifall. Helvétius, einer der wichtigsten Aufklärungsdenker, die ihn besuchten (1765), sowie sein fleißiger Briefpartner d’Alembert konnten ihn kritisieren und Einwände vorbringen. Der König antwortete ihnen, aber er blieb bei dem, was er einmal begonnen hatte“ (Mandrou, S. 254). – Friedrich II. hat 1763 ein Elementarschulwesen mit Schulpflicht vom 5.–13. Lebensjahr verordnet, aber weil noch zu wenig gut ausgebildete Lehrer vorhanden waren und die Eltern (deshalb?) das Schulgeld nicht gern zahlten, hat sich die Verwirklichung verzögert. (Auch das habsburgische Reform­ projekt von 1774 zur Einführung eines allgemeinen Volksschulunterrichts konnte nur „allmählich verwirklicht“ werden; Mandrou, S. 274.) – Die preußische Wirtschaft zu Friedrichs II. Zeit gehörte zu den am stärksten staatlich gelenkten Europas. Friedrich der Große hat die merkantilistische Gewerbeförderung seines Vaters606 fortgesetzt und verstärkt, gleich 1740 im „Generaldirectorium“, der zentralen Regierungsbehörde, als fünftes „Departement“ eines für Handel und Gewerbe eingerichtet, das erste Wirtschaftsministerium Preußens (das der König wegen der großen Bedeutung ab 1749 dann selbst leitete), 1766 ein Departement für Akzisen (indirekte verbrauchs- und verkehrssteuerartige Ab­gaben) und Zölle, 1768 eines für Bergbau und Hüttenwesen, 1770 eines für Forsten. Aus all dem ist erkennbar, wie zunehmend differenziert wirtschaftliche Sektoren Bedeutung gewonnen haben. „In der Landwirtschaft setzte er“, der König – was wir unter einem anderen Aspekt schon kennen –, „auf ‚Conservierung‘ der vorhandenen adligen und bäuerlichen Betriebe“,607 aber auch auf Sicherung der Ernährung für die Bevölkerung, mittels protektionistischer Strategie beim Handel und mittels Getreidebevorratung; außerdem ordnete er „als erster europäischer Herrscher … den Anbau der bereits seit dem 16. Jahrhundert bekannten Kartoffel [an], von der er zu Recht den Ausweg aus der Abhängigkeit vom Korn erwartete und damit aus den bislang unvermeidlichen Ernte- und Hungerkrisen“ (Schilling, Höfe, S. 424 f.). Noch vor dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) sind Oder-, Netze- und Warthebruch trockengelegt, damit ist umfangreich Neuland gewonnen und im Rahmen einer „inneren Kolonisation“ besiedelt worden.607 Beim Gewerbe hatte das Großgewerbe Vorrang, u. a. und besonders die Seidenmanufaktur, diese mit in der Mitte der fünfziger Jahre über tausend Webstühlen. Friedrich der Große hat ein „Städteförderungsprogramm“ betrieben, das zwar Berlin, Spandau und Potsdam „nicht vernachlässigt“, aber auch die Provinz erschlossen hat,

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Zu dieser s. Schilling, Höfe, S. 418 f. u. S. 412–424. Auf den königlichen Domänen waren die zuvor hörigen Bauern zu Pächtern geworden. Die Kolonisten in den Trockenlegungsgebieten brauchten dort keine Feudalabgaben mehr zu leisten, nicht mehr nicht nur für eine vorher festgelegte Zeit, sondern eben überhaupt nicht. 607

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er hat technische Neuerungen aus England zu übernehmen veranlaßt und „eine fiskalisch organisierte Umverteilung der Einkommen“ begonnen, „die darauf abzielte, das frühneuzeitliche Wirtschaftsbürgertum zu stärken608 und dadurch zu gewerblicher und kommerzieller Expansion zu befähigen“ (S. 425 f.). In bezug auf Verkehrswege hat der König Pläne seines Urgroßvaters, des Großen Kurfürsten, verwirklicht, hat zwei wichtige Kanäle zwischen Elbe und Oder bauen lassen und, nachdem der Oderlauf nun ganz in Preußen lag, den Fluß von allen Stapelrechten befreit, „so daß der Schiffsverkehr freie Fahrt hatte, schließlich indem er … Berliner und Magdeburger Reedern und Spediteuren ein Monopol auf den einheimischen Strömen verschaffte“, gegen die bisher gegebene Hamburger Dominanz. Gegen Sachsen führte Friedrich II. im Textilgewerbe einen – wie man heute sagen würde – Handelskrieg. „All das entsprach der [damals schon veralteten] Wirtschaftstheorie und der Wirtschaftspraxis des merkantilistischen Zeitalters  …  . Wie Preußen, so verfuhren alle Territorien und Staaten, die es sich leisten konnten. … . Der eigene Nutzen – davon war man [damals, fälschlicherweise] fest überzeugt – war nur im Schaden des anderen zu finden“ (S. 427 f.). Der König hat eine Justizreform durchgeführt und die Rechtsprechung wurde unabhängig. Ein neues Landrecht hat Friedrich der Große vorbereiten lassen (Weis, S. 23).609 Der König nannte sein System eine „liberale Monarchie“, worunter in Wirklichkeit nicht mehr als eben ein „aufgeklärt“ absolutistisch regiertes System zu ver­ stehen ist, eine Monarchie, „‚in der ein einziger Souverän in seiner Person allein die gesetzgeberische und die ausführende Gewalt610 vereint, in der er jedoch auf die Einhaltung der Grundgesetze achtet und diese nicht ohne dringende und offenkundige Notwendigkeit ändert und in der er zwischen sich und dem Volk bestehende Körperschaften einschaltet oder bestehen läßt wie allgemeine oder Land-Stände, die – ohne an der legislativen Gewalt Anteil zu haben – sich zu bestimmten Zeiten versammeln und darüber Berichte an den Herrscher senden oder ihm gegenüber Vorstellungen erheben dürfen’“ (gemäß Mandrou, S. 258 f.).

Aber dieser König leitete seine Legitimation nicht mehr nur aus dem Gottes­ gnadentum her, und er war nicht wie Ludwig XIV. in Frankreich Selbstverherrlicher und Selbstdarsteller (dazu weiter unten, B.II.2.a)cc)), sondern verstand sich 608 Aber eben nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Während es in England einen Austausch zwischen Landadel und (vor allem Londoner) Wirtschaftsbürgertum gab, als „Transfer von Geld, Personen und Wissen“ (Schilling, Höfe, S. 446), war das in Brandenburg-Preußen wegen der weiter vorn beschriebenen Verfestigung der ständischen Grenzen nicht möglich. 609 Neuhaus, S. 240–243: Es ist erst 1794 in Kraft getreten, war immer noch entschieden ständisch geprägt, und die Bauern unterlagen nach wie vor der Autorität des Gutsherrn, aber „dem traditionellen Autoritätsprinzip [wurde] ein Begriff entgegengesetzt …, der die Ständeordnung in Frage stellte: das ‚gemeine Wohl‘“ (S. 242), über welchen Begriff die Kritiker sagten, „‚daß mit ihm das Ende des Ständestaates vorbereitet‘“ würde, denn er setze „‚die gleichberechtigte Partnerschaft aller am Gemeinwesen beteiligten Personen voraus‘“ (S. 243). 610 Zum Allerweltsbegriff Gewalt hier wiederum nur der Verweis auf Kap. B.II.1.d).

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als der „erste Diener“ seiner Völker, seines Staates, und so hat er auch gelebt – bei allen Schwächen in manchen Dingen. Duchhardt (S. 126) schickt seiner Betrachtung Österreichs die Feststellung voraus, „daß der Aufgeklärte Absolutismus zumindest im katholischen Europa in aller Regel seinen Ausgang nahm von einer wachsenden Distanz zur Kirche, der Wendung gegen die Omnipotenz und Allgegenwart der Kirche und ihrer Organisationen, dem Kampf gegen die Rolle der Kirche als Staat im Staat.“ Auch die im Vergleich mit Duchhardt etwas mehr detaillierte Darstellung bei Schilling (Höfe, S. 318–323) zeigt deutlich, daß es in Österreich primär um Veränderungen im Verhältnis zur katholischen Kirche ging, aber die aufklärerischen Ziele Kaiser Josephs II. in seinem Erbland waren weiter gesteckt. Der aufgeklärte Absolutismus611 in den österreichischen Ländern setzte unter der Herrschaft Maria Theresias (1740–1780) ein. Wie auch sonst fast immer sind die ersten Ansätze dazu hier ebenfalls älter. Kaiser Ferdinand III. hatte in der letzten Phase des Dreißigjährigen Kriegs damit begonnen, die katholische Kirche in den habsburgischen Landen unter behördliche Kontrolle zu nehmen und zu lenken. So ist die konkurrierende kirchliche Rechtsprechung zurückgedrängt, Visita­ tionen von Klöstern seitens ausländischer Ordensoberen sind untersagt worden. Leopold I. und Karl VI. gingen nächste Schritte auf diesem Weg weiter. Schilling (Höfe, S. 318 ff.) zeigt, daß hinter diesem „Etatismus“ geistige Strömungen lebendig waren, die z. T. aus der Kirche selbst kamen und auf Reformen drängten. Die wichtigste stammte aus dem Jansenismus.612 Für uns wichtig ist der Spät-Jansenismus.613 Anders als die frühe Ausprägung (die älter war als die „Aufklärung“) ging die späte „eine Allianz mit der noch jungen Aufklärung“ ein (S. 318).614

611 Eine Darstellung der Anfänge, von Entwicklung und Verstärkung des Absolutismus (hier noch nicht des aufgeklärten) in den habsburgischen Ländern unter verschiedenen Aspekten und eine Darstellung des verfassungsrechtlichen Zusammenschlusses all dieser Länder zu einer nun für unteilbar erklärten Union gibt Schilling, Höfe, S. 304–366. 612 Der Jansenismus geht auf die 1640 posthum erschienene Schrift zur augustinischen Gnadenlehre des 1638 gestorbenen Bischofs von Ypern, Cornelius Jansen, zurück. Der Jansenismus war eine unorthodoxe Richtung des Katholizismus, mit einem Reformprogramm, das zunächst auf „individuelle religiöse Selbstverwirklichung gegen absolutistische Machtansprüche“ setzte (dabei sowohl gegen den römisch-kurialen Zentralismus als auch gegen das französische Staatskirchentum) und für Selbstverantwortung der Geistlichen in theologischen und kirchlichen Fragen plädierte. In seiner Frühphase war er also noch gegen den Absolutismus in katholischen Staaten gerichtet. (Zitat in: H[artmut] Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus, [Gottesgnadentum und Kriegsnot] 1980, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, S. 71, gemäß Schilling, Höfe, S. 319.) 613 Es gibt zwischen dem Spät-Jansenismus auf katholischer Seite in Österreich und dem Pietismus im protestantischen Preußen (zu diesem s. o.) deutlich Parallelen (dazu wiederum Schilling, Höfe, S. 318 f.). 614 „Vermittlung zwischen Vernunft und Glauben“, gegen die „platte Entgegensetzung von Christentum und Aufklärung“. Über Böhmen kam die Philosophie von Leibniz und Wolff aus den nahegelegenen „Aufklärungszentren“ Leipzig und Halle herein.

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In Österreich brachte der Spät-Jansenismus die Einbeziehung der Organisation der katholischen Kirche in den Staat. Dem war vorausgegangen: Als früh im 18. Jahrhundert der Jansenismus in den österreichischen südlichen Niederlanden und in Italien, sogar in Rom, besonders viele Anhänger gefunden hatte, drang er von dort aus auch in die Lande an der Donau vor. Der aus Leiden stammende hochrenommierte Mediziner Gerard van Swieten wurde Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia. Um ihn bildete sich ein Kreis von Jansenisten, der viel Einfluß am Hof gewann. Die Kaiserin hat Swieten zum Direktor des Unterrichtswesens und für geistliche Angelegenheiten ernannt. In der Folge übernahm anstelle der (für kirchliche Unabhängigkeit vom Staat eintretenden) Jesuiten eine staatliche Studien­ kommission die Oberaufsicht über das Universitäts- und das Schulwesen, der Staat übte die Kontrolle über den Besitz der Kirche und der Geistlichen aus. Im Sinne der Peuplierungsstrategie des Staates wurde die Aufnahme von Novizen in die Orden kontingentiert, die Neugründung von Klöstern untersagt. Nach dem Tod der Mutter, 1780, hat Joseph II. (1741–1790)615 jene zwar schon von Maria Theresia, aber doch eher zögerlich eingeleiteten, bei ihr nicht von Ideologie, sondern von praktischen Bedürfnissen des Staates (Weis, S. 23) bestimmten Reformen in Kirchen und Bildungsangelegenheiten systematisiert und radikalisiert. „Alle Rücksichten auf überkommene Tradtionen wurden aufgegeben, für die Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat galt nur noch der nackte Staatszweck. Die religiösen und kirchlichen Verhältnisse wurden nach den rational-zweckmäßigen Normen der Vernunft neu geordnet; geschichtlich Gewachsenes verlor seine Berechtigung“ (Schilling, Höfe, S. 321). Maria Theresia hatte 1777 in einem „Vertrauenspatent“ den nichtkatholischen Einwohnern Mährens noch sehr bescheiden Toleranz gewährt. Joseph II. gestand in seinem Toleranzpatent von 1781 den Lutheranern, Reformierten und Orthodoxen die Bildung von rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften zu und erteilte ihnen die wichtigsten bürgerlichen Rechte. Es folgten Toleranzpatente für die Juden.616 Joseph  II. wollte keineswegs die Vormacht des Katholizismus beseitigen, hat vielmehr das Pfarrnetz verdichtet, zur Verbesserung der Seelsorge (Duchhardt, S. 127), hat aber die Umwandlung der katholischen Kirche „in eine Staatsinstitution für Wohlfahrt, Bildung und Kultus“ betrieben (Schilling, Höfe, S. 321). Auch seine Bistumsreform zielte darauf ab, die Bischöfe primär zu auf das Staatsoberhaupt statt auf die Kurie orientierten Staatsbeamten zu machen (Duchhardt, S. 126). Der Weltklerus erhielt seine Ausbildung nun in staatlichen Seminaren und bezog ein festes Gehalt aus der Staatskasse. Der „Idealtypus des josephini 615 Joseph, ältester Sohn von Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Franz I. (aus dem Haus Lothringen), ist im Geist des Jansenismus und moderner Naturrechtslehren erzogen worden. Ab 1765 war er neben der Mutter Mitregent für die österreichischen Erblande. 616 Duchhardt, S. 127, schreibt, die Tolerierung der Nichtkatholiken sei eindeutig von dem Gedanken getragen gewesen, die Wirtschaftskraft auch dieser Untertanen zu nutzen. (Das festzustellen hat auch hier nichts mit „entlarven“ zu tun.)

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schen Pfarrers war … der ‚Bürgerpriester, der standhafter Patriot ist, keine theo­ logischen Dispute über Undurchsichtiges führt, dafür als Musterlandwirt und gründlicher Kenner der Regierungsverfügungen den Untertanen mit bestem Beispiel vorangeht‘“ (Schilling, Höfe, S.  323). 1781 wurden alle Klöster aufgelöst, die nicht Aufgaben für den Staat erfüllten, in Kranken- und Sozialfürsorge oder in Unterricht und Wissenschaft. Die Männer und Frauen, die ihre Klöster verlassen mußten, erhielten vom Staat eine Pension (S. 321 f.). Joseph II. reduzierte die Zahl der in der Barockzeit noch einmal stark vermehrten kirchlichen Festtage auf 27 pro Jahr, schaffte die Prozessionen fast ganz ab und legte den Kirmesfeiertag „quer durch die Monarchie auf ein und denselben Tag“. An die Stelle von Vielfalt und gewachsenem religiösem Brauchtum „trat die etatistisch verfügte Norm“. Es kam dann auch zum „Sturm der Empörung gegen diese Gleichmacherei“ (S. 323). Wenn auch Josephs II. Bemühungen zur Indienstnahme der katholischen Kirche und katholischer Organisationen für Staatszwecke einen sehr großen Teil seiner Reformanstrengungen ausmachten, gab es aber noch vieles andere. Ich zeige es anhand von Duchhardt, S. 133 ff. (Ein Teil der Maßnahmen gehört übrigens noch zum sozusagen allgemein-absolutistischen Programm, das der habsburgische Herrscher erst nach 1780 mit mehr Konsequenz verwirklichen konnte als zu Lebzeiten der Mutter.) Ausschaltung von Resten ständischer Einwirkung auf die Verwaltung und von Resten städtischer Selbstverwaltungsrechte. Die Regierungs­ bezirke erhielten einen neuen Zuschnitt, was es möglich machte, mit dem äußeren Rahmen zugleich die Strukturen zu verändern und überall einen einheitlich gewirkten Befehlsstrang bis zur lokalen Ebene einzurichten. Das Zollsystem ist noch mehr vereinheitlicht worden. Es sind Kataster von Grund und Boden angelegt worden, um Bemessungsgrundlagen für eine allgemeine Grundsteuer zu gewinnen. Sachlich an den Übergang von sozusagen reinem Absolutismus – wenn es einen solchen in der Wirklichkeit gegeben hätte – zum aufgeklärten Absolutismus ge­ hören die Umsetzung des Postulats von der Gleichheit aller Menschen, hier als Beseitigung von bestimmten Privilegien des Adels und des Klerus bei der Besteuerung (auch wenn die Abschaffung dieser mittelalterlichen Exemption wiederum zum Ziel hatte, die Staatseinnahmen zu erhöhen), die mit der Gerichtsordnung von 1781 verfügte Gleichheit aller vor dem Gesetz. Die Toleranzpatente für nichtkatholische Christen und für die Juden und ihr Hintergrund sind schon genannt worden. Das Strafgesetzbuch von 1787 brachte u. a. die Beseitigung der Folter617 und Einschränkungen in bezug auf die Todesstrafe. In der Rechtsprechung hat Joseph II. einen straff gespannten Instanzenzug geschaffen; inhaltlich gab es eine Modernisierung des Ehe- und des Erbrechts. Mit Einzeldekreten ist der Schutz von 617 Mandrou, S. 271, nennt dazu zu Lebzeiten Maria Theresias unter dem Einfluß ­Josephs II. erreichte Vorstufen: die Reform des Gerichtswesens von 1768 und Einzelbeschlüsse in den folgenden Jahren, so den von 1776 über die Abschaffung der Folter („die Friedrich der Große in Preußen schon 1740 veranlaßt hatte“). – Das Strafgesetzbuch von 1787 brachte die systematische Kodifizierung.

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in Fabriken arbeitenden Kindern verbessert worden. Aus seiner Nähe zur Theorie der Physiokraten618 hat Joseph II. den Bauern zur Verbesserung der Rechtssicherheit die Möglichkeit der Klage gegen den Grundherrn bis in die oberste Instanz gegeben; außerdem war die Abschaffung des Frondienstes (der „Robot“; aus dem Tschechischen) geplant. Joseph II. ging in der Praxis der Umsetzung aufklärerischer Ziele im Vergleich mit dem von ihm sehr bewunderten, obwohl befeindeten Friedrich II. von Preußen viel weiter, „von der Idee besessen …, das Gesamtvolumen der Aufklärung auszuschöpfen und seinen Staat gewissermaßen im Sturmritt zu modernisieren“ (Duchhardt, S.  133). Darauf war der Habsburgerstaat aber noch nicht vorbereitet.619 Duchhardt meint, Joseph II. habe oft das Fingerspitzengefühl für die zu erwartenden Reaktionen der Betroffenen auf die radikalen Maßnahmen des Monarchen gefehlt. Schon zu seinen Lebzeiten, besonders aber nach seinem Tod, kamen die Reaktionen gegen diese vielfach rücksichtslos und überhastet durchgeführten Maßnahmen, beim Adel, bei der Kirche, bei den Belgiern und den Ungarn (S. 135). Nach Josephs II. Tod wurde sein Bruder Peter Leopold (1747–1792) als Leopold II. Kaiser. Er war zuvor, ab 1765, Erzherzog von Toskana gewesen und hat dort im Sinne der Aufklärung sehr umsichtig und bei guter einheimischer Beratung reformiert. (Ich kann auf den Schluß des Italien betreffenden Kapitels B. II.2.a)aa) verweisen.) Leopold II. hat während seiner beiden Kaiserjahre in Ungarn und in den österreichischen Niederlanden den Frieden wiederhergestellt, indem er den überspitzten Teil der josephinischen Reformen, der dort zum Aufstand geführt hatte, beseitigte. Dagegen haben Josephs II. Nachfolger, Leopold und, ab 1792, Franz II. (1768–1835) als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches bis zu dessen Ende, 1806, die Kirchengesetzgebung Josephs II. beibehalten, bis auf jene Regelungen, die die Gefühle der einfachen Leute verletzten. Außerdem überließen sie die Priesterausbildung wieder der Kirche; die kirchlichen Einrichtungen be­kamen wieder Selbstverwaltungsrecht (Weis, S. 32). So wie die absolutistische Herrschaft in Frankreich ausgeprägt war, hat sie dort zur Revolution geführt. Es ist von vielen Autoren gefragt worden, warum es in den 618 François Quesnay (1694–1774) hat in dem von ihm entwickelten sozialökonomischen Lehrsystem allein Grund und Boden als Quelle des Reichtums verstanden, weshalb für ihn nicht Adel und Klerus, sondern den in der Landwirtschaft Tätigen der 1. Rang im Gemein­ wesen zukomme. Gemeint waren die Eigentümer und die Pächter von Grund und Boden (auch die sozusagen Betriebsleiter), auch wenn sie als Grundeigentümer nicht selbst produzierten, aber doch das an sie Abgeführte in Umlauf setzten. (A. R. Turgot, 1727–1781, hat dagegen auch die industrielle Arbeit als produktiv anerkannt.) – Praktische Konsequenz hat der Markgraf von Baden Karl Friedrich, ein überzeugter Physiokrat, insofern gezogen, als er 1783 die Leibeigenschaft der Bauern in Baden aufhob (Schalk, S. 496–498; Weis, S. 13 u. S. 99). 619 Weis (S. 28) sagt dazu: „Wenn Joseph II. vor seinem Tod [gestorben 1790] meinte, er habe das Werk der französischen Constituante [ab 6./9. Juli 1789]  … vorweggenommen, so entspricht das den Tatsachen. Nur hatte er seine Rechnung ohne die Menschen gemacht.“

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Territorien des deutschen Reichs nicht zu Revolutionen gegen absolutistische Regime gekommen ist,620 jedenfalls nicht zu größeren Aufständen. Ich will dafür nur einige Argumente wiedergeben, die mir in der von mir herangezogenen Literatur aufgefallen sind, ohne daß ich danach gesucht hatte. Bei seiner Darstellung von Reichskammergericht und Reichshofrat, hier ihre Restitution und Verbesserung im Westfälischen Frieden, zitiert Schilling, Höfe, S. 116 f., den Rechtshistoriker Bernd Distelkamp,621 und das gebe ich aus Schilling mit nur wenigen Auslassungen wieder: „‚Wer verhandelt‘, … ‚übt keine Gewalt, solange er Hoffnung haben kann, auf dem Rechtswege etwas zu erreichen. Insbesondere wird aber durch das prozessuale Verfahren das Konfliktpotential strikt auf die konkreten Beschwerden begrenzt. Die Obrigkeit als solche bleibt dabei unangefochten. Genau dies meinte ein Prokurator am Reichskammer­ gericht, der nach der Französischen Revolution mit Emphase erklärte, daß es in Deutschland einer solchen Revolution nicht bedürfe, da es im Reich das Reichskammergericht gebe, bei dem jeder Untertan Hilfe gegen Willkür seiner Herrschaft oder den Übermut fürstlicher Behörden erhalten könne. In dieselbe Richtung zielen andere Äußerungen, daß das Reichskammergericht die Menschenrechte der Untertanen geschützt habe.‘ Gerade weil die Reichsjustiz … ‚durchaus erfolgreich in das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen hineingewirkt hat, konnte sich … in Deutschland die Anschauung bilden und durchsetzen, daß blutige Revolutionen unnötig seien, solange … die Staatsgewalt rechtlich reagierte. Das spezifisch deutsche Vertrauen auf die Reform von oben hat hier eine seiner Wurzeln – nicht etwa in besonderem Untertanengeist der Deutschen.‘“

Und: „‚Während sich in Westeuropa der Rechtsstaat als ein auf Wahrung der Menschenrechte ausgerichtetes … System entfaltete, führte die vom Reichskammergericht maßgeblich mitgeprägte historische Erfahrung der Deutschen zur Form des Rechtswegstaates. Die Wahrung der Bürgerrechte glaubte man den Gerichten anvertrauen zu können, ohne daß sich das … System grundlegend ändern mußte. Schließlich geht die notorische Prozeßfreudigkeit der Deutschen gerade auch im öffentlichen Bereich sicherlich darauf zurück, daß sich das Reich als Justizstaat bewährt hatte.‘“

Weis (S. 38 f.) meint, „die Frage, ob es eine Auswirkung der Reformtätigkeit des aufgeklärten Absolutismus gewesen ist, daß in den von ihm regierten Ländern  – mit Ausnahme der Österreichischen Nieder­lande und Ungarns  – keine Revolution stattgefunden hat, oder ob sich der auf­ geklärte Absolutismus nur in Staaten entwickeln konnte, die wirtschaftlich rückständig waren, ein schwaches Bürgertum besaßen und daher ohnehin nicht für eine Revolution in Betracht kamen“, sei „rein hypothetisch“

– was selbstverständlich zutrifft, aber er erörtert sie doch (S. 39 f., worauf ich aber nur hinweisen will). 620 Die Aufstände in den österreichischen Niederlanden und in Ungarn richteten sich n i c h t gegen den Absolutismus, sondern gegen einige radikale Reformauswüchse. 621 Distelkamp, S. 23 ff.

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cc) Die Entwicklung zum absolutistisch regierten Frankreich Aus B.II.1.a) wissen wir, daß mit dem Vertrag von Verdun, 843, die Verselbständigung des westfränkischen Reichs eingeleitet worden ist, auch von den Wirren dort zur Zeit König Karls des Kahlen (843–877), des jüngsten Sohns Kaiser Ludwigs des Frommen, ebenso von den Normannenzügen, die besonders das westfränkische Reich verheert haben. Im Zusammenhang mit der erfolgreichen Verteidigung von Paris durch den Grafen Odo von Paris aus der rheinfränkischen Familie der Rupertiner/Robertiner (später „Kapetinger“ genannt) gegen die Normannen ist auch erwähnt worden, daß 888 mit diesem Odo von Paris im Westen zum ersten Mal ein Nichtkarolinger zum König (888–898) gewählt worden ist, obwohl dort ein vollbürtiger, damals allerdings zum einen unmündiger, zum anderen in seiner Entwicklung zurückgebliebener Karolinger noch lebte, Karl „der Einfältige“. (Das fränkisch-langobardische Reich hatte 887 zu bestehen aufgehört, als, nach dem Aufstand gegen Kaiser Karl  III., von allen deutschen Stämmen, einschließlich der Lotharingier, in Frankfurt nur für den Umfang des ostfränkischen Reiches Arnulf von Kärnten, der uneheliche Sohn von Kaiser Karls III. älterem Bruder Karlmann, König geworden ist und daraufhin Italien, die Provence, Hochburgund und eben auch das westfränkische Reich eigene Wege gingen.) Über die Zwischenstationen622 bis 987 gehe ich hinweg. Mit dem Robertiner Hugo Capet, der nach dem Tod Ludwigs V., des Faulen, 987, des letzten westfränkischen Karolingers, im selben Jahr zum König erhoben wurde, begann das über 800 Jahre währende Königtum der Kapetinger.623 Dieser Hugo Capet (um 940–996) hat sogleich seinen Sohn als Robert II. ebenfalls zum König wählen lassen. Das hat im Verein mit anderen dafür günstigen Voraussetzungen über Zwischenstufen624 dann die Erblichkeit des Königtums in Frankreich durchgesetzt. Unter diesen beiden Kapetingern und auch noch unter Heinrich I. blieb das französische Königtum relativ schwach. Das änderte sich mit Philipp I., auf den ich zurückkomme. Die Kämpfe gegen die Normannen, die ihre Einfälle ab Mitte des 10. Jahrhunderts625 noch verstärkt hatten, waren hauptsächlich von Großen des westfränkischen Reiches bestritten worden, die von daher (und mit dem Bau von Burgen und anderen Befestigungen) ihre aus der Zeit der Karolinger no 622

Dazu Nitschke, S. 339 f. u. S. 349. In direkter Linie von 987–1328, von 1328–1498 die Seitenlinie Valois, von 1498–1589 die Linien Orléans und Angoulême, von 1589–1792 u. dann noch einmal von 1814/15–1830 die Linie Bourbon, von 1830–1848 die Linie Orléans. – Von Hugo Capet (ab 987) bis zu Philipp IV. (bis 1314) gab es nur elf Könige, die damit im Durchschnitt 30 Jahre, also vergleichsweise sehr lange an der Herrschaft waren, und es hat in dieser Zeit immer einen männlichen Erben gegeben. 624 War die Königswahl bei Ludwig VII. (1137–1180) nur noch eine Formalität, entfiel sie nach Philipp II. August (1180–1223) ganz. 625 Ich rufe in Erinnerung zurück, daß 911 der französische König, damals der Karolinger Karl  III. (westfränkischer Zählung), der Einfältige, den Normannen erste Teile der (später noch erweiterten) Normandie als Lehnsfürstentum hatte zugestehen müssen. 623

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minell noch königlichen Lehen zu vom König de facto unabhängigen Herrschaftsbereichen gemacht hatten. Das Königtum blieb zunächst im wesentlichen auf die Krondomäne beschränkt. In der Hauptsache war das die Île de France, daneben einiges andere. Dementsprechend war die Bedeutung des französischen Königtums und damit Frankreichs im Abendland noch gering. Wohl aber gab es in vielen Städten kräftigen Aufschwung in Handel und Gewerbe. Die Kloster- und Kirchenreformbewegung (siehe weiter vorn) hatte 910 von Cluny im zu Frankreich gehö­ rléans renden Herzogtum Burgund626 ihren Ausgang genommen. In Chartres, O und Paris entwickelten sich bedeutende Philosophen- und Theologenschulen. Daß die Stellung des Königs in Frankreich ab Philipp I. (1060–1108) und Ludwig VI. (1108–1137) nach und nach etwas stärker wurde, hatte mehrere Ursachen: Festigung der Kapetingerherrschaft in der und die – wenn auch noch kleinen – Erweiterungen der Krondomäne; Bewahrung der königlichen Autorität in wichtigen Punkten über vier Erzbistümer und etwa 20 Bistümer während des französischen Investiturstreits mit dem Papst (1104), erstes Eingreifen in weltliche Herrschaftsangelegenheiten außerhalb der Krondomäne, wenn auch damals nicht dauerhaft mit Erfolg. Ludwig VII. (1137–1180) hat diese Aktivitäten seines Vaters mit mehr Erfolg fortgesetzt, außerdem seine königlichen Rechte noch auf andere Bistümer ausgedehnt. Er wurde wegen seiner Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit auf dem 2. Kreuzzug (1147–1149) ebenso hoch geehrt wie der staufische deutsche König Konrad III. Unter Ludwig VII. scheiterte zwar der erste Anlauf, die kapetingische Herrschaft in Frankreich räumlich in größerem Umfang auszudehnen: 1137 kam es zur Heirat, 1152 aber wieder zur Auflösung der Ehe mit Eleonore von Guyenne, der Herzogin des sehr großen Aquitaniens, die daraufhin einen mütterlicherseits vom englischen König Heinrich I. abstammenden Grafen von Anjou heiratete, der seit 1150 auch Herzog der Normandie war und 1154 als Heinrich II. König von England wurde. Heinrich hat mit der Normandie und mit der von dieser abhängigen Bretagne sowie mit Anjou-Poitou-Aquitanien („Anjevinisches Reich“) weit mehr als die Hälfte Frankreichs mit dem Königreich England vereinigt. Aber Ludwigs VII. Sohn Philipp II. August (1180–1223) konnte in wechselvollen und lange dauernden Kämpfen das „anglo-angevinische Reich“ wieder zerschlagen und sich in der Schlacht von Bouvines, 1214,627 entscheidend durchsetzen. In dieser Schlacht waren die Grafen von Flandern und von Boulogne in Gefangenschaft geraten und Philipp August hielt sie 13 Jahre lang darin fest – „eine Warnung für die französischen Fürsten und Herren, falls sie daran denken sollten, sich unbotmäßig aufzuführen“ (Ganshof, S. 453). Der Sieg von Bouvines hat dem französischen König damals den ersten Rang unter den abendländischen Herrschern eingebracht. (Mehr Details über die Kapetinger seit Philipp I., über die französisch-englischen Auseinandersetzungen zur Zeit Philipps II. August und über die Verknüpfung dieser 626

Dieses westlich bzw. nordwestlich des außerhalb Frankreichs gelegenen Königreichs Burgund (Hoch- und Niederburgund). 627 Danach war auf dem Kontinent nur noch die Gascogne in englischem Besitz, dagegen das Gebiet der französischen Krondomäne jetzt mehr als doppelt so groß als zuvor.

II. Defiziente Modi

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Kriege mit dem staufisch-welfischen Streit im Heiligen Römischen Reich bringt François Louis Ganshof, S. 448–453. Darauf verweise ich nur, gebe statt dessen etwas mehr über die für unser Thema wichtigere Organisation der königlichen Regierung zur Zeit Philipp Augusts wieder; Ganshof, S. 454 f.). Der König brauchte für seine Eroberungen ein schlagkräftiges Heer. Die Kontingente der Lehnspflichtigen und der Bistümer und Abteien sowie der Städte mit Kommune-Status waren, u. a. weil unbezahlt, wenig brauchbar. Statt dessen sollten Soldaten angeworben werden, besonders Reiterei und kriegserfahrene Fußsoldaten. Dafür war eine Vermehrung der königlichen Einnahmen nötig. Einnahmen kamen aus der Kron­ domäne (inzwischen immerhin im Umfang von einem Drittel Frankreichs), seit 1204 zusätzlich Abgaben aus großen herzoglichen und gräflichen Domänen in Anjou und in der Normandie. Der König hat dafür gesorgt, daß diese Abgaben reichlich flossen. Als Regierungsorgan hat er die althergebrachte, fachlich noch ungegliederte curia regis, den Königshof, beibehalten. Bei bestimmten Gelegenheiten umfaßte die curia Fürsten, Bischöfe und Äbte, andere Adelige und die hohen Würdenträger am „Hof“. Für die laufenden Geschäfte war die curia „anscheinend auf wenige Vertraute beschränkt“. Das alles war noch nicht viel anders als in karolingischer Zeit. Auch das Folgende kennen wir von dort her schon im Prinzip (Pfalzgrafengericht): „Die Curia gewann immer mehr an Bedeutung als Gerichtshof für Prozesse, die Fürsten oder Herren, Bistümer oder Abteien, Stadt- und Landgemeinden führten.“ Das aber entwickelte sich im Deutschen Reich anders, wie wir gesehen haben – jetzt abgekürzt formuliert: dort zu Lasten des Reiches und zu Gunsten der Fürstentümer. Mit der Vergrößerung des Kapetingerreichs wuchs der Umfang der Geschäftstätigkeit. Normalerweise tagte die curia im königlichen Palast in Paris. Rechtspraktiker, damals vor allem Kleriker anstelle von Adligen, waren ab jetzt mehr und mehr die Richter. Eine wichtige Änderung gab es außerdem: Die curia wurde „Kontrollinstanz für die Einkünfte und Aus­ gaben des Königs“ (S.  454). Abgabenerhebung, Polizeibefugnis und Gerichtsbarkeit oblagen in den Teilgebieten der Krondomäne den prévôts (von lat. praefectus). In vielen Fällen hatten diese ihr Amt zu Lehen und die Einnahmen gegen Zahlung einer festen Summe gepachtet. Um die Einnahmen zu steigern und Polizei und Justiz zu verbessern, hat Philipp August zwischen 1184 und 1190 Kommissare für die Teilgebiete der Krondomäne eingesetzt. Diese Kommissare hielten Gerichtssitzungen ab und überprüften die Erhebung der Abgaben. Weil neue, ebenfalls vom König unmittelbar regierte Gebiete hinzukamen, mußten die Kommissare, statt zu reisen, dort seßhaft werden. Sie sind zu Anfang des 13. Jahrhunderts in Teilen der Krondomäne schon sozusagen königliche Beamte geworden, „regelrechte ‚Funktionäre‘ im modernen Sinne, die der König ernannte, die er versetzen und ab­berufen konnte und denen er ein Gehalt zahlte.“ Die prévôts628 waren 628

Otto Brunner (Die Freiheitsrechte, S. 30–34) zeigt, daß „das seit dem 12. Jahrhundert aufgebaute System der Prévôtés …“ im Lauf der Jahrhunderte, wenngleich mit Rückschlägen und im einzelnen verschieden schnell, die Rechte der lokalen Institutionen (der Seigneurien gegenüber deren Bauern, der Magistrate der Städte gegenüber den Bürgern) ausgehöhlt oder

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den Kommissaren untergeordnet. „Dieser Kader königlicher Beamter schuf in den unmittelbar der Krone unterstehenden Teilen Frankreichs eine größere Sicherheit für die Personen und Güter; sie gewährleistete auch die Ausführung der vom König getroffenen Entscheidungen.“ (S. 455) Ganshof (S.  473 f.) nennt Veränderungen in der curia regis in der Zeit Ludwigs  IX., deren wichtigste, nämlich Spezialisierungen, ich hier vorwegnehme. „Eine richterliche Sektion zeichnete sich jetzt … ab.“ Und: „Wenn auch noch Prälaten, Adlige und Ritter an ihren Sitzungen teilnahmen, gehörten ihr bereits Spezialisten als ständige Mitglieder an, die Maîtres; einige von ihnen hatten an den Universitäten römisches Recht, mitunter auch kanonisches, studiert, obwohl die Curia im Prinzip noch Gewohnheitsrecht anwendete.“ Die richterliche Sektion übernahm die Bezeichnung parlamentum für sich, die zuvor allgemein für die Sitzungsperioden der curia benutzt worden war. Die Kontrollen über die Einkünfte und Ausgaben des Königs, vor allem über die Abrechnungen der königlichen Beamten, übernahm eine neue Sektion, die curia in compotis, die Rechnungs­ kammer. Ihre Sitzungen fanden im „Tempel“ statt, weil der Templerorden Schutz und Verwaltung des königlichen Schatzes übernommen hatte. Der oben schon genannte Ludwig IX., „der Heilige“ (1226–1270), hatte für die Entwicklung Frankreichs im Spätmittelalter in mehreren Hinsichten große Bedeutung. Expansion betrieb er allerdings nicht. Er war im „Ruf der Frömmigkeit, Redlichkeit und Gerechtigkeit“, weshalb er in vielen Auseinandersetzungen um seinen Schiedsspruch angerufen worden ist. In den alten Herzogtümern und Grafschaften hat er das Gewicht des französischen Königtums verstärkt. „Unter den Ober­ häuptern der alten Fürstentümer war es einzig den Grafen von Flandern gelungen, ein fast monarchisches System zu schaffen, das … [dem] Vergleich mit dem des Königs, ihres Lehnsherrn, durchaus standhielt.“ (S. 471) Ludwig IX. achtete echtes altes Recht und wollte seine Besitzungen und Rechte nicht auf Kosten seiner Vasallen vermehren, seine Beamten, „wenn auch ohne sein Wissen“, verfuhren da aber ganz anders, benutzten „jede sich bietende Gelegenheit, sogar jeden Vorwand, um die Besitzungen und Rechte des Königs zu mehren“, mit Erfolg. (Der König hat dem später zu steuern versucht.) Ludwig IX. hat an zwei Kreuzzügen teilgenommen, 1248–1254 und noch einmal 1270. Der Aufwand dafür brachte schwere Belastungen für Frankreich, und es „widersprachen Organisation und Führung des Heerzuges [von 1270] allen vernünftigen Überlegungen“. Seuchen rafften das Heer dahin, der König erlag der eingeschränkt hat, in Rechtsprechung, Steuer-Einzug und Heeresaufgebot, zugunsten des Königs. So sind in einem „Prozeß, der vom 12. bis ins 18. Jahrhundert dauert[e], … Bürger und Bauer aus ihren lokalen, herrschaftlichen und genossenschaftlichen Bindungen herausgelöst und unmittelbar dem Königsstaat unterstellt“ worden. Der Seigneur verlor seine Befugnisse, seine pouvoir, über die Bauern, war nur noch privilegiert; unter Ludwig XIV. wurden dann auch die Organe der Städte königliche Magistraturen. – Brunner beschreibt auch, wie sich damit der Charakter der Stände verändert hat.

II. Defiziente Modi

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Pest, aber „die schweren Verluste auf diesem so ungeschickten wie katastrophalen Feldzug verringerten um nichts den Ruhm Frankreichs“, an erster Stelle in Europa zu stehen (S. 472) – Hauptprestige-Problem Frankreichs bis heute. In einem 1258 mit dem König von England abgeschlossenen Vertrag hat Ludwig IX. Heinrich III. großzügig nördliche Teile von Aquitanien (das Herzogtum Guyenne) zugestanden. Für dieses Herzogtum schuldete der englische König dem französischen König „Mannschaft“ (Gefolgschaft vor allem im Kriegsfall, zumindest mit Kontingenten) und hatte ihm den Treueid zu leisten. Ganshof (S. 471) sagt dazu: „diese [Verpflichtung zur] Mannschaftsleistung leitete Ereignisse ein, die schließlich zum Hundertjährigen Krieg führten“. Philipp IV., „der Schöne“ (1285–1314), Enkel Ludwigs IX., heiratete 1284 Johanna  I. von Navarra, zu deren Erbe auch die Grafschaft Champagne gehörte. Das hat zur Vereinigung des Königreichs Navarra, damals beiderseits der Pyrenäen gelegen, mit dem Königreich Frankreich geführt und später zur Einfügung der Champagne in die Krondomäne. Philipp IV. hat die großen Grundherrschaften aufgelöst, viele Hofämter eingerichtet, mit denen er wichtige Adlige an den König binden konnte. Von großer Bedeutung wurde: Philipp hat 1302 zum ersten Mal eine Versammlung von Vertretern des Adels, der Geistlichkeit und von Städten einberufen, die Vorläuferin der „Generalstände“ (États généraux). Ihr oblag die Beratung der Angelegenheiten des Königreichs, und sie allein hatte Steuerbewilligungsrecht. Mindestens ebenso wichtig für die Entwicklung Frankreichs war Philipps Erfolg in der Auseinandersetzung mit dem Papsttum. Bonifatius VIII. hatte in so scharfer Form wie nie ein anderer Papst die Unterordnung aller Königreiche verlangt. (Ganshof, S. 486 ff., bringt die Details.) Philipp der Schöne und seine juristischen Ratgeber verfochten dagegen die These, der französische König sei „‚Kaiser in seinem Königreich‘“, und „waren ebensowenig geneigt, die Oberhoheit, die sie dem Kaiser verweigerten, dem Papst zuzugestehen.“ Konkret gab es Streit, als der König ohne päpstliche Genehmigung auch den Klerus besteuerte. Bonifatius hat das 1296 unter Androhung der Exkommunikation verbieten wollen, sich aber nicht durchsetzen können. 1301 hat der König einen Bischof der Untreue bezichtigt und festnehmen lassen. In zwei Bullen entzog der Papst dem König alle Vergünstigungen gegenüber der Kirche, erhob schwerste Vorwürfe und verlangte, „er [der König] oder ein Vertreter habe sich vor einem Konzil zu verantworten, das 1302 nach Rom einberufen werde, um die Angelegenheiten der französischen Kirche, der ‚Reformation‘ des Königreiches und des Königtums zu regeln.“ Philipp unterbreitete die Vorwürfe einer Versammlung von Fürsten, Prälaten, Baronen und Städtevertretern, die ihn voll unterstützte. Umgekehrt kam es 1303 auf mehreren Versammlungen zu Anklagen gegen den Papst, über die ein allgemeines Konzil das Urteil fällen sollte. Der wichtigste Berater des Königs, Wilhelm von Nogaret, ein Professor für römisches Recht, begab sich nach Italien, um die Vor­ladung zu überbringen und sich der Person des Papstes zu versichern. Nogaret nahm Boni­fatius gefangen, „mußte ihn aber sogleich gegen dessen ita­ lienische Feinde in Schutz nehmen, besonders gegen die Colonna und die Bewoh-

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ner von Anagni, die sich zu heftigen Ausschreitungen hinreißen ließen. Zwei Tage später aber änderten die Stadtleute ihre Haltung, befreiten den päpstlichen Oberherrn und führten ihn nach Rom zurück, wo er am 11. Oktober starb“ (Ganshof, S. 488). 1304 starb auch schon der Nachfolger. 1305 ist dann unter starkem Einfluß des französischen Königs und Nogarets ein Franzose, der Erzbischof von Bordeaux, zum Papst gewählt worden, der sich Clemens V. nannte und 1309 seinen Sitz in Avignon nahm, nur theoretisch noch im Heiligen Römischen Reich629 gelegen, unmittelbar an der Grenze zu Frankreich, „zwar … ein Kirchenlehen und die Grafschaft, in der es lag, päpstlicher Besitz …, aber [tatsächlich] beherrscht wurde diese Grafschaft von regionalen Gebilden, die der französischen Krone unterstanden“ (Myers, S. 566). 1312 setzte der König die Aufhebung (und Enteignung)630 des immens reichen Templerordens durch, nachdem er 1307 alle französischen Templer einschließlich ihres Großmeisters hatte verhaften und ihnen den Prozeß machen lassen. „Clemens  V. war nicht imstande, den schändlichen Anschlag ­Philipps des Schönen auf die Tempelritter zu verhindern; er mußte sogar sein Plazet dazu geben“ (ebenda). – Bis 1377 residierten die Päpste in Avignon. Alle waren Franzosen, „und sie blieben [jeweils] in enger Fühlung mit dem franzö­ sischen König“ (S. 566). – Zur Zeit Philipps des Schönen ist in Frankreich die Entwicklung in Richtung auf Zentralisierung und königliche Alleinherrschaft weiter vor­angekommen (ohne schon Absolutismus zu erreichen), ist „die Zentralverwaltung [noch mehr] zu festgegliederten, ressortmäßig organisierten Ämtern ausgebaut“ worden (S. 576), als wir es aus Ludwigs IX. Zeit schon kennen. Philipp IV. brachte Gebietserweiterungen auf Kosten des Heiligen Römischen Reiches zustande und konnte außerdem, wenigstens vorübergehend, zwei reiche Gebiete, die Gascogne und Flandern, erobern und der Krondomäne einfügen. „Die Kehrseite der Medaille waren die gewaltigen Kosten der Kriege, die Philipp führte. Um sie zu decken, verübte er seinen widerrechtlichen Anschlag auf die Templer und erhöhte Steuern und Abgaben in einem Maße, das am Ende seiner Regierungszeit mancherorts Widerstand hervorrief. … Die Widerstandsregungen der Spätzeit blieben [aber] zersplittert …, und die Kampfbünde, die in den Provinzen ins Leben gerufen worden waren, hätten sich bald wieder aufgelöst, wäre nicht die Frage der Thronfolge akut geworden“ (S. 577).

Philipps IV. drei Söhne, die dann nacheinander König wurden, hinterließen nur Töchter. Eine Versammlung von hochrangigen Adligen, Prälaten, Pariser Bürgern und Universitätsdoktoren hatte aber entschieden, eine Frau (konkret: die Tochter Jeanne des ältesten Sohns Philipps IV.) könne die französische Krone nicht erben, und das war akzeptiert worden. Als der letzte der drei Söhne 1328 gestorben war, erhob Eduard  III. von England den Anspruch, legitimer Erbe zu sein (Begründung siehe S. 577), der französische Hochadel entschied sich jedoch für Philipp von ­Valois (Philipp V., 1328–1350), den Sohn des jüngeren Bruders Philipps des 629 Nach dem Tod des Stauferkaisers Friedrich II. kam die staufische Dynastie 1268 an ihr Ende, und die Bedeutung des Kaisertums schwand. 630 Dazu auch Myers, S. 577.

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Schönen. Die kriegerischen Aktionen, die den „Hundertjährigen Krieg“ zwischen England und Frankreich einleiteten, begannen 1337. Ich schildere das Hin und Her dieser langwierigen Auseinandersetzungen nur in großen Zügen, nenne dagegen vor allem die Vorstufen der Entwicklung hin auf den absolutistischen Staat in Frankreich (im 16. Jahrhundert) sowie ständische Gegenströmungen.631 Dieser Krieg war nicht nur ein Kampf der Herrscherhäuser Plantagenet (zuerst, 1337, Eduard  III.) bzw. Lancaster (zuletzt, 1453, Heinrich  VI.) in England und ­Valois (zuerst, 1337, Philipp VI. und zuletzt, 1453, Karl VII.) in Frankreich; es ging auch um wirtschaftliche Interessen und auf beiden Seiten um Ausein­ andersetzungen im Innern. In der Frühphase gab es schwere Niederlagen für die Franzosen, vor allem in der Seeschlacht bei Sluis, 1340, dann zu Land, bei Crécy, 1346,632 nach der Landung eines etwa 16 000 Mann starken englischen Heeres (mit besserer Organisation, Bewaffnung und Führung) gegen rund 30 000 Franzosen, von denen etwa 26 000 gefallen seien, bei nur geringen Verlusten der Engländer (Diwald, S. 25 f.), danach die Belagerung und nach knapp einem Jahr die Eroberung von Calais, das der wichtigste Stützpunkt auf dem Festland wurde, das Tor zu Flandern mit seiner Textilherstellung, dem Abnehmer der Schafswolle aus Britannien. Die langwierige Belagerung, die Eroberung und der ganze lange Krieg hatte für das im Vergleich mit Frankreich kleine England viel Geld gekostet und Verluste bei den Truppen gebracht (S. 26 f.). In Frankreich ergab sich „aus der drückenden finanziellen Belastung … die wachsende Bedeutung der Provinzialstände und der Generalstände, denn ihnen mußte immer häufiger die Bewilligung von Mitteln für die Kriegführung abgerungen werden. Die Kriegsverwüstungen hatten bereits dem Wohlstand Frankreichs ungeheuren Schaden zugefügt“ (Myers, S. 579). Die Kriegs­parteien schlossen einen Waffenstillstand bis 1351 (während dem der französische König Philipp VI. 1350 gestorben ist). 1347–1352 kam die größte Pestpandemie der Geschichte über Europa (etwa 25 Millionen Tote), sie unterbrach die Kriegsaktionen. – 1355 begannen die Engländer wieder ihre Feldzüge durch Frankreich und errangen im Jahr darauf unter Führung des „Schwarzen Prinzen“, des ältesten Sohns Eduards  III., einen großen Sieg bei Maupertuis. Dabei kam der französische König, jetzt Johann II., in Gefangenschaft. Der Dauphin Karl (V.) war daraufhin Regent. Er berief die Generalstände des Nordens, des Languedoil, nach Paris ein, die des Südens, des Languedoc, nach Toulouse. Im Süden bekam Karl Steuern 631 Ich stütze mich dabei auf Myers (S. 576–581, „Frankreich und der Hundertjährige Krieg“, dazu S. 582–585 betr. die engl. Entwicklung auf der Insel) sowie auf Diwald (S. 25–45, „Der Hundertjährige Krieg“, und S. 64–73, wo es um das Verhältnis Frankreichs (unter König Ludwig XI.) und Habsburgs (Kaiser Friedrich III.) zu Burgund (Herzog Philipp III., der Gute, dann Karl der Kühne) geht, gegen Ende und am Ende des Hundertjährigen Krieges. 632 Exakt (26. August) 1 400 Jahre nach der Landung Caesars in England, 54 v. Chr.

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unter der Bedingung bewilligt, daß Erhebung und Verwendung unter ständischer Aufsicht erfolgten. Die Stände des Nordens verlangten 1358 unter Führung des Pariser Kaufmanns Etienne Marcel „die Durchführung eines Reformprogramms, das auf eine ständische Kontrolle der Regierung hinauslief“ (Myers, S.  579). Der Dauphin mußte große Zugeständnisse machen. Wegen anderer Zusammenhänge, die die Reformen in Verruf brachten (ein „Verbündeter“ aus sozusagen falscher Ecke) – was ich hier beiseite lasse –, kam es jedoch zu einem Umschwung zugunsten des Dauphins und der Monarchie gegen die ständischen Bestrebungen. Die Niederlagen und die lange Dauer des Krieges führten in Nordfrankreich wegen Hungers und anderer Not außerdem zu einem Aufstand von Bauern (der „Jacquerie“), der ebenfalls blutig niedergeworfen worden ist. – Johann  II. starb 1364. Karl war jetzt König. Er hat verschiedene Schwierigkeiten bewältigt, so gegen König Karl „den Bösen“ von Navarra, hat die Bretagne befriedet und die Landsknechtshorden, die als Freischärler das Königreich Frankreich verwüsteten, nach Kastilien abgeschoben, zu seinem Bundesgenossen Heinrich von Trastamara, dem sie nützlich waren. Karl ließ die wichtig­sten Städte und Schlösser befestigen und das Heer reformieren, mit besserer Führung. Als der Adel der Gascogne sich über die vom Schwarzen Prinzen verhängte Steuer­last beschwerte, lud Karl V. den englischen Thronfolger nach Paris vor – was dieser als Herausforderung verstand (als die sie selbstverständlich auch gemeint war). 1369 kam der Krieg wieder in Gang, und nun schien auch die Wende zugunsten Frankreichs zu kommen. In den umkämpften Gebieten gab es „frankreichfreundliche Stimmung“ (S.  580), das französische Heer konnte alle englischen Angriffe abwehren und die französisch-kastilische Flotte bei La Rochelle einen großen Sieg über die englische erringen. 1375 wurde ein Waffenstillstand auf zwei Jahre abgeschlossen. England besaß damals auf dem Kontinent nur noch die Brückenköpfe Calais und Brest und ein Küstengebiet zwischen Bordeaux und Bayonne. 1376 starb der englische Thronfolger, 1377 auch König Eduard III. Ihm folgte Richard  (II.), damals noch ein Kind. Ein Versuch des französischen Königs, zu einem Friedensschluß zu kommen, scheiterte, weil keine Einigung in der Frage jener Oberhoheit (siehe weiter oben) zu erzielen war. – Karl V. und Heinrich von Kastilien besetzten 1378 die von Karl dem Bösen von Navarra beherrschten Lande. Frankreich hatte wieder innere Ordnung und normale Verwaltung. Mißbräuche hinsichtlich Steuerfreiheit waren abgestellt, die Städte wurden gefördert (Myers, S. 581). Es blieb aber nicht so. – Karl V. starb 1380, der Nachfolger Karl VI. („der Wahnsinnige“) war erst elf Jahre alt. Zwei seiner Onkel bekämpften einander und preßten dem Land immer wieder Geld ab. Karl V. hatte noch versprochen, die Steuern zu senken, aber jetzt geschah das Gegenteil. Aufstände dagegen sind schonungslos unterdrückt worden. – Karl VI. ist 1388 für volljährig erklärt worden. Er war willensschwach und stark von seinem Bruder Ludwig, Herzog der Touraine (später von Orléans), beeinflußt. Statt sorgsam zu wirtschaften, „veranstaltete Ludwig am königlichen Hof … Verschwendungsorgien, wie sie Frankreich noch nie erlebt hatte“ (S. 581). Ab 1392 kam es bei Karl VI. immer öfter zu Wahn-

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sinnsausbrüchen. Er wurde zunehmend regierungsunfähig, worauf zwei seiner Onkel, die überlebt hatten, die Herrschaft übernahmen. Die Auseinandersetzungen zwischen dem einen, dem Herzog von Burgund, und des Königs Bruder Ludwig brachten Frankreich an den Rand des Ruins. (Myers, S. 579 ff.) – In der Zwischenzeit hatte sich auch in Britannien die Lage zugespitzt. Nachdem 1377 König Eduard III. gestorben war (dazu siehe oben), hatte ein Regentschaftsrat für den zehnjährigen Enkel Richard II. die Regierung übernommen. Die militärischen Operationen auf bzw. vor dem Kontinent, einschließlich Seekrieg, waren, wie wir wissen, ungünstig verlaufen, die innerbritischen Kämpfe mit den Schotten hielten an. Das brachte erneut finanzielle Schwierigkeiten. Eine daraufhin verordnete Kopfsteuer ist so ungerecht eingetrieben worden, daß es 1381 zum Bauernaufstand kam (Myers, S. 585). Diwald bringt (S. 29 ff.) Einzelheiten über die Ausbreitung im Land (bis zur Eroberung Londons), über den Anführer Wat Tyler und über den Prediger John Ball. „Nur durch ungewöhnlichen Mut und ungewöhnliche Wortbrüche rettete der junge König … die Lage, wurde er mit der Revolte fertig. Im Herbst 1381 herrschten wieder die alten Zustände … . Wat Tyler war getötet, John Ball gerädert, gehenkt und gevierteilt. Dazu kamen etwa hundert Aufrührer an den Galgen“ (Diwald, S. 31). Im Krieg gegen Frankreich gab es nur eine größere Aktion. 1396 schloß Richard II. Waffenstillstand mit Frankreich. Es folgten sehr blutige innerenglische Auseinandersetzungen, die 1399 zur Absetzung Richards II. führten und statt der Plantagenets den ersten Lancaster als Heinrich IV. (1399–1413) auf den englischen Thron brachten. (Näheres bei Diwald, S. 31, und Myers, S. 585.) – Der Nachfolger, Heinrich V. (1413–1422), schaltete sich 1415 in die innerfranzösischen Auseinandersetzungen von Großen des französischen Königreichs ein (deren Einzelheiten ich wieder weglasse; siehe dazu auch Myers, S. 581) und erneuerte seine Ansprüche auf die französische Krone, als er sich militärisch dafür stark genug fühlte. In der Schlacht von Azincourt bei Crécy errangen die Engländer einen großen Sieg. „1417 eroberte Heinrich die ganze Normandie, zwei Jahre darauf stürmten seine Truppen die Schlüsselfestung Rouen. Die Loire verwandelte sich in einen englischen Grenzfluß. Der Frieden von Troyes 1420 gab ganz Frankreich in englische Hände. Letztlich blieb Karl VI. nur die Krone übrig. In der Bastille, im Louvre, kampierten britische Soldaten. … . Heinrich V. und Karl VI. starben 1422. Die Engländer ernannten sofort den Sohn ihres Monarchen zum König von Frankreich. Heinrich VI. war erst ein Jahr alt. Regent wurde sein Onkel, der Herzog von Bedford. Auch der Dauphin, noch nicht ganz zwanzig, meldete sich … zu Wort“ (Diwald, S. 31). –

1428 rückten die Engländer vor Orléans, das als Tor zum und als letztes Bollwerk vor dem Süden Frankreichs galt und verteidigt werden sollte. Hier kam es dann mit Johanna von Orléans 1429 tatsächlich zu der (bekannten) Wende im Hundertjährigen Krieg, dem Ende der Belagerung Orléans’, dem Abzug der Engländer nach Norden, dem immer wieder siegreichen Zug der Jeanne d’Arc mit dem Dauphin nach Reims und dessen Krönung dort zum König als Karl VII., aber auch zu dem mißglückten französischen Sturmangriff auf Paris und der (ebenfalls ja be-

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kannten) Gefangennahme der Jeanne d’Arc durch die mit den Engländern verbündeten Burgunder und zu ihrer von den Engländern erzwungenen Auslieferung. „Nach einem Ketzer- und Hexenprozeß, dessen Ergebnis von vornherein feststand, wurde sie … 1431 auf dem Marktplatz von Rouen verbrannt. Karl VII. hatte sich nach ihrer Gefangennahme nicht mehr um sie gekümmert“ (S.  33).  – Als Herzog Philipp III. von Burgund, der nach dem Frieden von Troyes 1420 (siehe oben) Heinrich  V. von England als französischen Thronfolger anerkannt hatte, 1435 mit Karl VII. einen Separatfrieden schloß,633 war „die Zweifrontenklammer zersprengt …, wurde eine Stadt um die andere von der englischen Besatzung befreit. 1436 zog Karl VII. wieder in den Louvre ein. … 1444 war Frankreich stark genug, den Waffenstillstand aufzukündigen. Die Engländer resignierten bald, als die letzten wichtigen Städte kapitulierten und Guyenne wieder vollständig in französischen Händen war“ (S. 34 f.). 1453 war der Hundertjährige Krieg zu Ende, wenn es auch erst 1475 offiziell zum Friedensschluß gekommen ist. Ludwig XI. (1461–1483) erreichte dabei durch Zahlung großer Summen, daß die Engländer ihre letzten Truppen vom Kontinent abzogen, außer aus Calais (und abgesehen davon, daß die Engländer die Channel Islands behielten, diese bis heute). – Die Wiederbesiedlung auf dem Land setzte schon 1460 ein; dabei konnten die Bauern – wie das bei Kolonisationsmaßnahmen die Regel ist – ihre Rechte verbessern. Ende des 15. Jahrhunderts stellte das Bürgertum schon etwa 80 000 Amtsträger der königlichen Verwaltung und hatte wirtschaftlich an Bedeutung gewonnen. – Eine andere Auswirkung des Hundertjährigen Kriegs war eine „Nationalisierung“ beider Staaten. Jeanne d’Arc war die „überwältigende Personifikation eines jungen Nationalbewußtseins … . England trennte sich weitgehend von den französischen Einflüssen … und profilierte dadurch ebenfalls sein Nationalitätsbewußtsein. Erst seit dem Hundertjährigen Krieg entwickelten sich englische Kultur und englisches Geistesleben mit eigenem Gewicht“ (S. 35). Weiter oben war an zwei Stellen vom Verhältnis der französischen Krone zum Papsttum die Rede. Dazu jetzt die jüngere Entwicklung: Mit der Pragmatischen Sanktion634 von Bourges, 1438, sind auf Antrag der in Bourges tagenden Nationalsynode per Gesetz die Einflußmöglichkeiten des Papstes auf die französische katholische Kirche bei der Gerichtsbarkeit und hinsichtlich der Stellenbesetzung weiter zugunsten des französischen Königs eingeschränkt worden.635 Die Pragmatische Sanktion von Bourges war die Rechtsgrundlage für das spezifisch franzö 633 Vertrag von Arras, der Philipp III. das Zugeständnis der Lehensunabhängigkeit in bezug auf diejenigen Teile des Herzogtums brachte, die französische Lehen gewesen waren (Diwald, S. 64). 634 Edikt oder Gesetz zur Regelung besonders wichtiger Staatsangelegenheiten. Ein anderer sehr bekannter Fall ist das „Habsburgische Hausgesetz“ von 1713 zur Regelung der Thronfolge in weiblicher Linie. 635 Sie ist zwar 1472 aufgehoben, 1499 aber wieder in Kraft gesetzt worden (siehe Merz­ bacher, S. 393).

II. Defiziente Modi

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sische Staatskirchentum („Gallikanismus“), mit dem die französische katholische Kirche „organischer Bestandteil der Staatsapparatur“ geworden ist (Merzbacher, S. 393). Um des sachlichen Zusammenhangs willen nehme ich hier schon vorweg: Das von König Franz I. (1515–1547) 1516 mit Papst Leo geschlossene Konkordat hat päpstlicherseits das französische Staatskirchentum bestätigt. Ab 1445 gab es in Frankreich mit der Rekrutierung der „Ordonnanzkompanien“ die Anfänge eines Stehenden Heeres, was später ein „Wesenselement absolutistischer Staatsregierung“ wurde, wie Merzbacher (S.  389) sagt.  – Die Feudalherrschaft in den Landschaften ist beseitigt,636 das Königtum so weiter gestärkt worden, zum „geschlossenen Einheitsstaat mit absolutistischer Zentralisation“, in dem die Stände zwar noch Beschwerderecht hatten, aber nicht mehr von sich aus mitentscheiden konnten. Ludwigs XII. „große Ordonnance vom März 1499 über die Justiz verkörperte einen regelrechten Kodex, der die Beschwerden der Stände berücksichtigte. Selten arbeitete die französische Gesetzgebung fruchtbarer als gerade während der Regierung Ludwigs XII.“ (Merzbacher, S. 393). – Ich übergehe die Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Burgund nach 1465 und die Versuche der französischen Könige Ludwig  XI., „der Grausame“ (1461–1483), Karl VIII. (1483–1498), Ludwig XII. (1498–1515) und Franz I., sich nach dem Tod des Herzogs Karl der Kühne von Burgund, 1477, auch derjenigen Teile Burgunds zu bemächtigen, die nicht französische Lehen waren und durch (die von Karl dem Kühnen betriebene) Heirat des habsburgischen Erzherzogs Maximilian mit Karls des Kühnen Tochter Maria erbrechtlich an Habsburg gefallen sind (S. 389 ff.; s. a. Lutz, S.  28). Ich übergehe auch die Bemühungen der französischen Könige ab Karl  VIII., die französische Herrschaft in Italien auszubauen (S.  392),637 in der Geschichtswissenschaft auch als Kampf um die Hegemonie in Europa bezeichnet. Am Ende, 1559, im Frieden von Cateau-Cambrésis, einigten sich der französische König Heinrich II. und Karls V. Sohn Philipp II. „unter dem Zwang der finanziellen Erschöpfung“ (Lutz, S. 94). Frankreich verzichtete auf seine Positionen und Herrschaftsansprüche in Italien, das nun zum spanischen (habsburgischen) Herrschaftsbereich gehörte. Frankreich hatte im Osten, auf Kosten des deutschen Reiches, Metz, Toul und Verdun gewonnen (siehe dazu im das deutsche Reich betreffenden Kapitel B.II.2.a)bb)), im Norden nun auch Calais, von England. Habsburg gab seine ererbten Ansprüche auf das Herzogtum Burgund im Umfang des über die Reichslehen Hinausgehenden endgültig auf. Es ist damals nicht nur eine dynastische Verbindung zwischen den Häusern Habsburg und Valois verabredet worden, sondern auch eine entschieden antiprotestantische Pax catholica. Diese kam zwar so, wie in Cateau-Cambrésis vorgesehen, nicht mehr zustande, weil 636

Als letztes großes Lehen ist Bourbon eingezogen worden. Detaillierter bei Diwald, S. 305–324, wobei der Autor natürlich primär Kaiser Maximilian im Blick hat, erst sekundär Ludwig XII.; dann S. 351–378, hier Karl V. und den französischen König Franz I., Lutz, S. 27–30, S. 42–50, S. 65, S. 70–73, S. 77–82, S. 86–94, hier auf der einen Seite Karl V., nach 1556 Philipp II., auf der anderen Franz I., nach 1547 den französischen König Heinrich II. 637

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Heinrich II. bald danach starb. „Aber für die europäische Gesamtsituation blieb es von epochaler Bedeutung, daß an Stelle der … Hegemoniekämpfe … nun die kirchlichen Gegensätze bestimmend auf die zwischenstaatlichen Verhältnisse einwirkten“ (Lutz, S. 94). Die sich in Frankreich ausbreitenden reformatorischen Ideen waren kalvinischer Art.  (Eine Kurzcharakteristik Kalvins steht, in anderem Zusammenhang, schon in dem Deutschland betreffenden Kapitel  B.II.2.a)bb).) In diesen Jahren waren wegen der Hegemonialkriege Heinrichs II. Steuerlast und Staatsverschuldung in Frankreich extrem gewachsen. Periodisch wurden Sonderabgaben eingetrieben. In der Bevölkerung wuchs die Verbitterung, es kam zu Unruhen. Die Kritik an der katholischen Kirche nahm zu: Das Tridentinische Konzil (siehe weiter oben) war mehrmals unterbrochen worden, und die Zweifel daran wurden immer stärker, ob die katholische Kirche überhaupt reformfähig sei. In dieser Phase – fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts – nahm die Anhängerschaft der kalvinischen Lehre in Frankreich enorm zu, weniger beim französischen Klerus (für den selbstverständlich auch die Sicherung der materiellen Existenz wichtig war), wohl aber im mittleren und oberen Bürgertum, und seit dem Ende der fünfziger Jahre sind in Scharen vor allem Angehörige des höchsten Adels, darunter Prinzen, zum Kalvinismus übergetreten, oft sehr wohl aus Glaubensgründen, vermutlich aber oft auch aus Opposition gegen das den Absolutismus anstrebende Königtum. Der Hochadel übernahm sogleich die Führung der reformatorischen Bewegung in Frankreich. – Als König Heinrich II. 1559 starb und schon 1560 auch der auf ihn folgende, 1559 erst 15 Jahre alte älteste von vier unmündigen Söhnen, Franz II., war der nächste Sohn, Karl IX., erst zehn Jahre alt. Wegen des nun folgenden Streits um die vormundschaftliche Regentschaft begann 1562638 der erste der Hugenottenkriege (Zeeden, S. 154 f.). Es gab sehr wohl auch Hochadel, der strikt katholisch blieb. Führend dabei waren die Herzöge von Guise, aus einer französischen Seitenlinie der Herzöge von Lothringen. – Zwar war schon seit den zwanziger Jahren aus Deutschland lutherisches und aus der Eidgenossenschaft zwinglianisches evangelisches Gedankengut nach Frankreich gedrungen. „Die gebildeten Schichten der Akademiker und die vom Humanismus geprägten Intellek­ tuellen zeigten sich dafür aufnahmebereit. Desgleichen sprachen Kaufleute und Handwerker darauf an. Kirchliche Veränderungen wurden dadurch [jedoch] nicht hervorgerufen. … . Wer sich weiter vorwagte, riskierte unter Umständen sein Leben. Denn die Könige Franz  I. und Heinrich  II. hielten streng an dem  … katholischen Staatskirchentum fest“ (S. 153).

Und weil das gallikanische katholische Staatskirchentum ein wichtiges Element ihrer Herrschaft war, hatten die Könige „nicht das geringste Interesse daran, daß diese Säule ihres Thrones von irgendeiner reformatorischen Theologie oder Bewe­ gung ins Wanken gebracht wurde“, und sie verschärften die Strafen für „Häre­sie“ 638 Ausgelöst durch das Massaker von Vassy an einer hugenottischen Gemeinde beim Gottesdienst (Zeeden, S. 161).

II. Defiziente Modi

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und „Ketzerei“ (S. 153) – weswegen ja auch der von Hause aus Franzose Calvin als Student hatte aus Frankreich nach Genf fliehen müssen. In der inzwischen aber erreichten Phase der Schwäche des Königtums kamen die Konflikte zwischen dem der Tendenz gemäß frühabsolutistischen Königtum und der ständischen Autonomie-Bewegung wieder hoch, wegen des Anspruchs des Hochadels auf Mitregierung im Königreich, wegen der alten Abneigung in den Städten und in den Provinzen gegen das zentralistische königliche Regiment. In ihrem Anspruch auf Mitregierung unterschieden sich die hochadligen Anführer der kalvinischen und der katholischen Partei nicht voneinander. Es gab aber, und zwar schon bald nach Beginn der Hugenottenkriege, eine dritte Partei um den Kanzler Michel de l’Hopital,639 die gerade ganz anders als die beiden anderen Parteien „einen starken Staat und als dessen Chef einen starken König“ forderte und „den Staat aus seiner traditionellen Bindung an die katholische Kirche befreien und ihn zur schlichtenden und regulierenden Instanz über die zerstrittenen Konfessionen machen“ wollte (S. 160). Ich beschreibe nicht die Einzelheiten des Verlaufs dieser Jahrzehnte andauernden, das Land zerrüttenden Auseinandersetzungen,640 in die gegen Schluß immer stärker auch Kräfte von außen einwirkten, vor allem Spanien und die Päpste, dann auch England und die Republik der Niederlande; ich beschreibe auch lomäusnacht“, nicht die Vorgänge der bekanntermaßen mörderischen „Bartho­ 1572. Es genügt für uns, wenn ich (vornehmlich gestützt auf Zeeden, S. 167–174) das Wichtigste aus den letzten Phasen wiedergebe, ab 1584. – Damals war auch des regierenden Königs Heinrich III., der 1574 auf den oben erwähnten kinderlosen Karl IX. gefolgt war, kinderloser jüngster Bruder Karl gestorben. Damit gab es außer dem ebenfalls kinderlosen regierenden Heinrich III. keinen Kapetinger mehr aus dem Haus Valois. Der gemäß geltendem Erbrecht nächste Anwärter auf den Thron war zweifelsfrei der Bourbone Herzog Heinrich von Navarra, und er war Hugenotte, überdies der Anführer der hugenottischen Partei. Der Führer der „Liga“, des Militärbündnisses der katholischen Partei, Herzog Heinrich Guise, hat die Thronfolge seitens des Hugenotten zu verhindern versucht, zum einen militärisch mittels des zu Silvester 1584 mit dem spanischen König Philipp II. abgeschlossenen Kriegsbündnisses, zum anderen mittels einer Stellungnahme der Generalstände von Blois, 1588. Diese erklärten als „Grundgesetz“ der französischen Monarchie, nur ein Katholik könne französischer König werden, und das habe Vorrang vor dem gemäß „salischem [fränkischem] Recht … einwandfreien Anspruch“ des protestantischen Thronanwärters. Außer­ dem ist der Throneid so umformuliert worden, daß nur ein Katholik so schwören konnte. „Jenseits der konfessionellen Probleme arbeiteten die Liga und die Generalstände, nicht anders als die Reformierten, systematisch darauf hin, den Kö 639 In Frankreich auch Partei der „Politiques“ (vordergründig wörtlich: der „Politiker“) genannt, was selbstverständlich längst nicht mehr auf den Sachverhalt paßte, den er bezeichnen sollte. Es ging ja um Herrschaft, inzwischen um absolutistische, nicht um Politik. 640 Detailliert bei Lutz, S. 104–108 u. S. 123–132, sowie bei Zeeden, S. 151–176. Auch in diesem Fall setzen die Autoren die Akzente in vielen Hinsichten sehr verschieden.

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nig zu entmachten. Die Generalstände beraubten ihn seiner letzten Finanzquellen und unterstellten ihn ständischer Aufsicht“. Ein Volksaufruhr in Paris, hinter dem der Herzog von Guise stand, raubte dem König den „letzten Rest von Selbständigkeit“ (S. 168). Als Heinrich  III. den Forderungen nicht nachgeben wollte, entwaffneten die Aufrührer die in Paris den König umgebenden Truppen, errichteten eine Bürgerwehr und gaben sich eine städtische Selbstverwaltung. Der so gedemütigte König floh aus Paris, bestellte den Herzog von Guise und dessen Bruder zu einer Unterredung auf sein Schloß und ließ sie, als sie am 23. Dezember 1588 kamen, von seiner Leibwache ermorden. Die Liga erklärte dem König daraufhin den Krieg und ihn zum „Tyrannen, den man wegen seiner Verbrechen gegen das Gemeinwohl umbringen“ dürfe (S. 169). Als sich das katholische Frankreich (Paris, Île de France, der Norden und der Osten) gegen den König wandte, floh dieser in das Feldlager des Bourbonen Heinrich von Navarra, seines hugenottischen Gegners, mit dem er sich verständigte und verbündete. Die Franzosen rief er zum Krieg gegen die Liga und gegen das mit dieser verbündete fremde Spanien auf und bekannte sich zur konfessionellen Toleranz in Frankreich. Heinrich III. ist dann im August 1589 seinerseits von einem jungen Dominikanermönch, der sich Zutritt verschaffen konnte, erstochen worden. Damit war das „Haus Valois“ tatsächlich erloschen. Der Bourbone Heinrich von Navarra hat sofort seinen Anspruch auf die französische Krone geltend gemacht, indem er sich Heinrich IV. nannte.641 Er stand schon länger jener Partei der Mitte, der Partei der sogenannten Politiques, nahe, die nach der Bartholomäusnacht stark Zulauf bekommen hatte. Sie hielt die aus der christlichen Taufe stammende Gemeinsamkeit der Katholiken und der Reformierten für wichtiger als die konfessionellen Unterschiede. Außerdem gelte, daß Gewissensentscheidungen nicht der Gewalt unterliegen dürften. Der Staat habe von den Staatsangehörigen die Beachtung der Gesetze, nicht aber das Bekenntnis zu religiösen Dogmen zu fordern, wohl aber für inneren Frieden zu sorgen. In dieser Sache argumentierten der Protestant Duplessis-Mornay und der katholische Staatstheoretiker Jean Bodin im Prinzip ebenso. Seit den siebziger Jahren nannte sich Heinrich von Navarra „Schirmherr der reformierten Kirche und der verbündeten Katholiken“ (S. 171). Die Einheit Frankreichs war ihm wichtiger als die Kon­ fession. Weil es in Frankreich zwar weit über eine Million Reformierte gab, die Mehrheit der Franzosen aber doch katholisch war und „sich einen protestantischen König nicht würde … gefallen lassen“ (S. 170), hat Heinrich IV. auf den Rat seines (protestantischen) Freundes Sully hin (später Minister des Königs) 1593 wieder den katholischen Glauben angenommen.642 641

Lutz, S. 127, hat das so: „Navarra wurde sofort von seiner Armee und den königstreuen Katholiken [den Truppen des seit Anfang 1589 mit Heinrich von Navarra verbündeten Königs Heinrich III.] zum König von Frankreich ausgerufen.“ 642 Zur Entwicklung dahin ab Herbst 1589 auf päpstlicher Seite siehe Lutz, S. 127 ff.

II. Defiziente Modi

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„Er bot sich den Franzosen nunmehr als Kandidat an, der katholisch, erbberechtigt und Franzose war, und grub damit Philipp  II. von Spanien das Wasser ab [der inzwischen, nachdem es den Guise-Kandidaten nicht mehr gab, von der Liga als katholischer König Frankreichs favorisiert worden war].643  … die Liga hatte jetzt keinen durchschlagenden Grund mehr, sich … [Heinrich IV.] zu widersetzen. Ihre Mitglieder gingen scharenweise zu ihm über. Paris öffnete ihm seine Tore. Die nationale Parole, die er ausgab, als er sagte, er kenne keine Katholiken und Protestanten, sondern nur Franzosen, tat das … [ihre], um Angehörige aller Parteien unter seiner Fahne zu versammeln. Desgleichen zog die begründete Aussicht auf einen einigermaßen gesicherten inneren Frieden die Leute auf seine Seite“ (Zeeden, S. 171).

Der über dreißig Jahre währende Krieg hat Frankreich militärisch erschöpft, das Land verheert, mit Hungersnöten und Seuchen im Gefolge, mit Banditentum und Rechtsunsicherheit. Der Frieden von Vervins, 1598, brachte die Chance zur Regeneration des Landes. Deren eine Grundlage war Heinrichs IV. Edikt von Nantes von 1598. Es gewährte den Hugenotten Gewissensfreiheit und prinzipiell den Zugang zu allen staatlichen Ämtern. Die Hugenotten durften außerhalb von Paris „in bestimmten geographischen Grenzen“ ihren reformierten Gottesdienst ausüben. Das war natürlich nicht Gleichberechtigung, sondern nur ein staatlicherseits gewährtes Privileg. Frankreich blieb unbeschadet dieses Privilegs ein katholischer Staat. Die Hugenotten durften außerdem, in der Hauptsache im Westen und im Süden, mehr als hundert „Sicherheitsplätze“ behalten, deren Garnisonen, obwohl ausschließlich unter hugenottischen Kommandeuren, vom König besoldet wurden.644 Die andere Voraussetzung war, daß Heinrich IV. mit viel Tatkraft und sehr von seinem Minister Sully unterstützt den Wiederaufbau des Staates mit einer wirksam arbeitenden Verwaltung und, mit merkantilistischen Mitteln, den Aufbau der Wirtschaft vorangetrieben hat. Zeeden (S. 288 f., worauf ich verweise) bringt Einzelheiten. Jedenfalls konnte Sully unter diesen veränderten Umständen rund zehn Jahre nach 1598 die Bruttoeinkünfte des Staates zwar nur um elf, die Nettoeinkünfte mittels Überwachung der Verwaltung aber um fünfzig Prozent erhöhen. Der König hat in Paris in großem Umfang gebaut (Näheres S. 289) und damit das Gesicht der Hauptstadt umgestaltet, die im letzten der Hugenottenkriege be 643

Auch als schon abzusehen war, daß Philipp mit seiner Kandidatur für den französischen Thron keinen Erfolg mehr haben würde, hat er seine Armeen nicht aus Frankreich abgezogen. Der letzte der Hugenottenkriege hat sich daraufhin in einen Krieg Frankreichs gegen Spanien verwandelt, in dem Heinrich  IV. Unterstützung der mit Spanien um die Seeherrschaft ringenden Staaten England und Republik Niederlande erhielt. Die komplexen Hintergründe für diese Unterstützung und die Einzelheiten des französisch-spanischen Krieges übergehe ich. Bis 1598 konnten die Truppen Heinrichs IV. die Armeen Philipps II. aus Frankreich verdrängen. Der Krieg endete mit dem päpstlicherseits vermittelten Frieden von Vervins. Im selben Jahr 1598 starb Philipp II. 644 Das System der „Sicherheitsplätze“ bildete zwar sozusagen einen „Staat im Staat“, was in einem absolutistischen System eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist, aber in der Situation von 1598 unumgänglich war. Außerdem konnte Heinrich IV. noch der Loyalität der Hugenotten sicher sein. Das änderte sich nach dem Tod des Königs, als die Ziele der Regentin andere wurden als die Heinrichs IV.

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sonders gelitten hatte. Zeeden bemerkt zur Herrschaft Heinrichs IV.: „So sehr sich Heinrich  IV. und Sully darum mühten, den allgemeinen Wohlstand zu h­ eben  – es gelang ihnen bei weitem nicht, die Gesamtheit der sozialen Schichten in der Hauptstadt und in den Provinzen zu erfassen und die Ärmsten zu erreichen“ (ebenda). Der Kontrast zwischen den glanzvollen Bauten, Plätzen und Straßen in Paris und der Armut und dem Elend der Masse der unter harter Besteuerung leidenden Untertanen war extrem stark. In bezug auf das uns thematisch Interessierende charakterisiert Lutz (S. 132) die Regierungszeit Heinrichs IV. so: Gewinner im konfessionellen Ringen in Frankreich war der „nur für sich selbst stehende, souveräne Staat“. (Zu „souverän“ siehe Kapitel B.II.2.b).) „Er allein war imstande, jenseits der kirchlichen Gegensätze das menschliche Zusammenleben zu ordnen. Dafür schob er im Inneren überall die alten ständischen Freiheitsrechte beiseite. Und nach außen hin emanzipierte sich dieser [früh-absolutistische] Staat … zunehmend auch von allen gesamtheitlichen Bindungen im Sinne der alten Respublica Christiana. Frankreich hat unter Heinrich  IV. diesen neuen Typus staatlicher Existenz zum erstenmal dargestellt. Er wurde in vieler Hinsicht wegweisend für die Entwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts.“

Heinrich IV. ist 1610 von einem Fanatiker ermordet worden. Sein Sohn Ludwig XIII. war damals noch nicht ganz neun Jahre alt. Er wurde zwar 1610 schon König, unterstand aber bis 1617 der Regentschaft seiner Mutter Maria von Medici, die Golo Mann (S. 142) als „landfremd, schwach und töricht“ charakterisiert. Ihre von italienischen Ratgebern „ausgeheckte“ Strategie „sollte nur-katholisch sein, also rom- und spanienfreundlich, und Gegner mit Geld beschwichtigen“. Sully war entlassen worden. All das, was Heinrich wieder zusammengefügt hatte, brach auseinander. Mann (S. 142 f.) zählt auf, wer alles gegen wen und was stand; darauf verweise ich nur. Wichtig für uns sind besonders zwei Vorgänge. Der erste ist: 1614 wurden die Generalstände Frankreichs, der hohe Klerus, die Vertreter des Adels und die des „Dritten Standes“ nach Paris einberufen. Mann sagt dazu: „Die Debatten waren leidenschaftlich, mitunter geistvoll, aber chaotisch“, und er gibt einiges von den Inhalten der Debatten wieder. Ich nehme davon nur dies heraus: Es sei eine Erklärung verlangt worden, der gemäß der König die Krone von Gott habe und für sein irdisches Handeln (keinem Kaiser und) keinem Papst verant­ lerus, wortlich sei, die Regentin habe aber eine solche Erklärung vermieden; der K hier Gallikaner, dort Ultramontane, sei in dieser Sache uneins gewesen. Jetzt die zweite wichtige Sache: „Der junge Bischof von Luçon, Richelieu, ist den Debatten gefolgt und hat gelegentlich in sie eingegriffen,645 wobei er durch die kühle Eleganz seiner Rede wie durch seine scharfe Bestimmung der überparteilichen, unbestechlichen, schlagkräftigen, rationalen Autorität des Staates auffiel. Daß mit den alten Ständen nicht mehr zu regieren, mit der Arroganz des Feudaladels nicht mehr zu paktieren sei, mag er damals beobachtet haben“ (S. 143).

645

Tatsächlich war er Sprecher des Klerus bei den Generalständen.

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Mann fügt hinzu, der junge Bischof habe Schritte unternommen, „um sich bei der Regentin und ihrem Sohn646 günstig bemerkbar zu machen“. Damit hatte er aber erst 1616 einen ersten Erfolg: Maria von Medici berief ihn als Staatssekretär für Äußeres und Kriegswesen in den königlichen Rat. Richelieu (1585–1642) war danach aber zeitweise nicht am Hof (Gründe siehe Zeeden, S. 291). Ludwig XIII. hat ab 1617, nun 16 Jahre alt, ohne die Mutter regiert. Richelieu hatte das Vertrauen des Königs (und das blieb bis Richelieus Tod so) und besaß bald beherrschenden Einfluß auf den jungen Monarchen647 und auf den Staatsrat. Ab 1624 hatte er de facto die Leitung der Regierung Frankreichs inne, auch wenn er erst 1629 zum Er­ sten Minister berufen worden ist. – 1624 war das Königtum auf einem Tiefpunkt, angesichts des Durcheinanders bei den Versuchen zur Einwirkung auf den schwachen König seitens der Königsmutter, von Günstlingen, Prinzen und Cliquen. Die Finanzen waren ruiniert (52 Millionen Livres Staatsschulden). Der Adel rebellierte. Das Parlement in Paris (= Oberster Gerichtshof) wollte Mitsprache in allen Angelegenheiten des Königreichs. Adel, Parlements und Hugenotten pochten auf ihre Vorrechte gemäß Herkommen oder Vertrag; sie wollten Partner der Krone sein, nicht bloß Objekt von königlichen Maßnahmen. Richelieu dagegen wollte unbeeinträchtigt von ständischem Einfluß regieren (Zeeden, S. 292 f.). Seine Ziele waren im Innern „die Einheit des Staates“ und in Europa „für den König ‚den Platz unter den Nationen, der ihm zukam‘“ (Mann, S. 173). Einheit des Staates bedeutete natürlich – das kennen wir schon als wesentliches Merkmal des Absolutismus  – Ausschaltung der Stände, und tatsächlich sind die Generalstände seitens Richelieu nicht mehr einberufen worden und auch nach Richelieu nicht mehr, bis 1789. Einheit des Staates bedeutete hier dann selbstverständlich auch „Ausschaltung der Hugenotten“ als Faktor der Herrschaft im Staat, „die Reduzierung des rebellischen Hochadels,648 die Unterwerfung des Landes unter den einen königlichen Willen“, der de facto freilich der Wille Richelieus war. „Wenn es je eine Inkarnation des seit dem 16. Jahr­ hundert um Verwirklichung ringenden Prinzipes Staatsräson gab, er war es; und hielt durch die schiere Kraft seiner Persönlichkeit649 den König … allen Gegenwirkungen zum Trotz in seinem Bann“ (ebenda). Die Schwierigkeiten der Krone mit den Hugenotten nach dem Tod Heinrichs IV. und die harten, erbittert geführten kriegerischen Auseinandersetzungen mit ihnen in den Cevennen und um die Seefestung La Rochelle beschreibt Zeeden (S. 293 ff.). La Rochelle fiel 1628, der Krieg um die protestantischen Städte im ­Süden endete 646 Von dem Mann sagt, er sei für sich allein nicht fähig gewesen, die Kräfte der Franzosen zu mobilisieren, wenngleich es ihm nicht „an Staatsinstinkt und kaltem Egoismus des echten Monarchen“ (?) gefehlt habe. „Er war langsam, scheu, ohne Charme und Feuer des Vaters“ (S. 143). 647 Richelieu ist durch königliche Protektion Kardinal geworden. 648 Auch die höchsten Adelsämter hat er aufgelöst, das des Admirals 1626, das des Konnetable 1627. 649 Zur Person Richelieus weiter unten.

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1629. Die Hugenotten verloren ihre Sonderrechte im Staat (die „Siche­rheitsplätze“ wurden beseitigt), behielten aber ihre Religionsfreiheit und waren somit ebenfalls bloß noch Untertanen des Königs, die für diesen damit auch Ämter übernehmen konnten. Die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs gegen die Hugenotten waren wieder einmal verheerend (Zeeden, S. 295, bringt Einzelheiten). Richelieu hat es bald aufgegeben, sich ernstlich um Reformen im Innern zu bemühen, „die im Bereich von Finanzen und Steuern dringend erforderlich gewesen wären. Auch um den mittelbar davon betroffenen Gesamtbereich der Wirtschaft kümmerte er sich wenig“ (S. 296). Die enorm hohe Staatsverschuldung ist oben schon genannt worden. Für Kurzfristanleihen waren damals 30 v. H. Zinsen zu zahlen. Weil keine Mittel für den Schuldendienst vorhanden waren, mußten Anleihen dennoch unter solch ruinösen Bedingungen aufgenommen werden. An der miserablen Finanzlage Frankreichs hat sich unter Richelieu nichts wesentlich verändert (S. 296), was, wie wir sehen werden, auch nicht verwunderlich ist. Erfolge Richelieus im Innern gab es, wie Zeeden zeigt, außer der Stärkung der Autorität der Krone gegenüber dem Hochadel (zunächst zumindest jeweils im konkreten Fall), nur auf zwei Gebieten. Erstens brachte Richelieu ein königliches Heer mit über 120 000 Fußsoldaten und einigen tausend Reitern zusammen (dazu die Anfänge einer Flotte). Wir wissen schon aus dem Deutschland betreffenden Kapitel B.II.2.a)bb), daß das Stehende Heer sehr wohl seine Bedeutung auch im Innern650 des absolutistischen Staats hatte, und werden das in bezug auf Frankreich gleich sehen. Die zweite wichtige Maßnahme Richelieus, die erfolgreich war, entstammte nicht einer sorgfältig überlegten Reform, sondern kam „aus purer Not“ (S. 297). Gemeint sind die vom Ersten Minister geschaffenen Intendanturen, Verwaltungspräsidien für Gebilde von etwa Provinzgröße.651 Ihre Inhaber, die „Intendanten“, erhielten als hohe Kronbeamte weitreichende Befugnisse, damit sie sich gegen die aus dem Hochadel stammenden sozusagen Gouverneure der Provinzen (als z. T. altüberkommene Gliederungen Frankreichs)652 durchsetzen konnten. Sie hatten erstens regionaler Aufstände Herr zu werden (deren es besonders in den dreißiger Jahren viele gab), mußten dazu rechtzeitig Militär anfordern und den Aufruhr niederschlagen  – wofür sie die Verantwortung hatten. Zweitens hatten sie Steuern einzutreiben sowie Zwangsanleihen anzuordnen und zu exekutieren. Richelieu hat die Intendanten aus dem Amtsadel (noblesse de robe) genommen, grundsätzlich nicht aus dem alten Hochadel. „Er nahm Intendantenposten aus dem chaotischen ‚System‘ der Ämtervergabe heraus.653 Sie konnten nicht mehr gekauft 650

Das riesige Heer war selbstverständlich vor allem für die Kriege außerhalb Frankreichs bestimmt (die Richelieu schon früh, auch hinsichtlich der zu erzielenden Eroberungen, geplant hat), die dann ja auch folgten. 651 Mit Absicht oft nicht identisch mit den Provinzen älteren Herkommens. 652 Die Sache ist noch komplexer, aber das lasse ich beiseite. 653 Weil die Intendanten unmittelbar vom König (bzw. von Richelieu) abhingen, ist eine Zentralisation erreicht worden, wie es sie außerhalb Frankreichs so nirgends gab (Mandrou, S. 26), wenngleich auf den unteren Ebenen auch die Intendanten nicht alles regulieren konnten. Krüger (S. 175) zufolge muß man berücksichtigen, daß der französische Staat aus drei

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werden, warfen keine lukrativen Einkünfte ab und wurden nur noch an geeignete Leute vergeben“ (S. 297, wo Zeeden noch bemerkt:), eine positive Aus­wirkung der sachgerechten Arbeit der Intendanten sei die „Qualität der französischen Regionalverwaltung im späteren 17. und 18. Jahrhundert“ gewesen. Das war aber die einzige nennenswerte Verbesserung im Inneren, sonst sah das anders aus. Freilich, „Richelieus Innenpolitik654 war ganz wesentlich darauf abgestimmt, die für seine auswärtige Politik654 benötigten Gelder herbeizuschaffen. Ohne Rücksicht auf soziale Folgen verfuhr er vordergründig praktisch, nur um zu Geld zu kommen“ (S. 297), um die Subsidien an andere Staaten zu zahlen, die anstelle Frankreichs in dessen Interesse – so wie Richelieu das Interesse Frankreichs verstand – Kriege gegen die „Feinde“ führten, vor allem gegen den „Feind“ Haus Habsburg. Die Finanzierung betrieb er wie üblich „durch Ämterverkauf und durch Anleihen bei den Pariser Bankiers. Er war auf die Bankiers angewiesen, weil sie allein ihm die benötigten Mittel in gewünschter Höhe flüssigmachen konnten. Sie verlangten dafür Sicherheiten – Richelieu gewährte sie, indem er ihnen die Eintreibung bestimmter Steuern erlaubte. Die Agenten dieser Finanzleute durften die Steuer bis zu siebenundvierzig Prozent heraufsetzen, mit anderen Worten: die Bevölkerung ausbeuten. Das taten sie denn auch, und hierin lag einer der wesentlichen Gründe für die verschiedenen regionalen Aufstände“,

die er ohne Erbarmen hat niederschlagen lassen. Um mittels Ämterverkauf an Geld zu kommen, hatte er „keine Hemmungen, immer neue Stellen zu schaffen“, und die Inhaber solcher Stellen belegte er dann wieder mit „Gebühren“ und zog sie zu Zwangsanleihen heran. „Die Folgen  … waren für die Währung wie für die Staatsfinanzen verheerend“. Das wiederum ruinierte besonders die Bauern und den Landadel. Die so entstehenden schweren Schäden hatten aber als angeblich „unvermeidliche Folgen der Kriegführung“ zu gelten und als solche eben hin­genommen zu werden, und Richelieu „trieb  … den Krieg an allen Fronten­ voran aus Gründen einer ehrgeizigen Außenpolitik, die er als Staatsräson ausgab“ (S. 298). Richelieu baute in jenen dreißiger Jahren, „als die Steuern unerträglich stiegen und die Bevölkerung darbte“, außer einem prächtigen Landsitz bei SaintGermain seine Palais in Paris und im Poitou, die übrigens die des Königs an Größe und Pracht übertrafen, und errichtete bei seinem Schloß im Poitou die Stadt Richelieu. „Diese bevölkerte er mit seiner Klientel; die reichsten Häuser an ihrer Hauptstraße gehörten seinen Anhängern, seinem Kronrat und den Finanzleuten, die das Regime unterstützten und zugleich ausbeuteten“ (S. 299). Richelieu hat aber keine

Gruppen von Gebilden bestand, den pays d’élections, den pays d’états und den pays conquis. Nur bei den pays d’élections gab es keinerlei ständischen Einfluß mehr, in den anderen blieb der König jedenfalls in bezug auf die Besteuerung an die Provinzialstände gebunden, die außerdem eine eigene Steuerverwaltung hatten. Wegen des oben genannten Ämterverkaufs befanden sich die Amtsstellen in erblichem Besitz meist bürgerlicher Käufer, so daß eine Einoder Absetzung von Beamten seitens des Königs nicht möglich war. 654 Tatsächlich nur noch eine extreme Perversion von „Politik“. (Das kommt im folgenden noch oft vor.)

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Rücksicht darauf genommen, daß seine absolutistische Herrschaft Frankreich schwerste Belastungen brachte. „Es war eine seiner leitenden Überzeugungen, daß Frankreich vom Haus Habsburg, und zwar insonderheit von dessen spanischer Linie, permanent bedroht werde und deshalb seine Kräfte darauf konzentrieren müsse, sich durch offensive Außenpolitik654 und aggressive Verteidigung schrittweise von dieser Bedrohung zu befreien; das hieß für ihn, daß Frankreich mit allen verfügbaren Mitteln Spanien, Österreich und deren Verbündete bekämpfen und schwächen, am besten niederwerfen müsse.655 Es lag in der Logik dieser Konzeption, daß sich die Politik654 Frankreichs – nicht nur, aber auch – gegen das Reich als die Einfluß- und Herrschaftssphäre des Kaisers und Landesherrn von Österreich richtete“ (Zeeden, S. 301).

1629 sprach Richelieu „von Schritten, die Ludwig XIII. unternehmen müßte, ‚wenn er sich zum mächtigsten Monarchen der Welt und zum angesehensten Fürsten machen will‘. Und als er 1632 die Chancen und Risiken eines Offensivbündnisses mit Gustav Adolf [dem König von Schweden] gegeneinander abwog, meinte er, es möchte die Chance darin liegen, ‚daß man das ganze Haus Habsburg absolut ruinieren und sich damit für immer von der Furcht, von der Eifer­ sucht [!] und von den Ausgaben befreien könnte, zu denen seine Größe seit langer Zeit Frankreich nötigte; daß man aus seinen Trümmern Nutzen ziehen und daß der König sich zum Chef aller katholischen Fürsten der Christenheit und infolgedessen zum mächtigsten Herrscher Europas machen könnte‘“ (S. 307 f.).

1629 griff Richelieu militärisch in Oberitalien an (Einzelheiten S. 305). Währenddessen verhinderte er, daß ein Waffenstillstand zwischen Spanien und den protestantischen Niederlanden zustande kam. Damit diese den Krieg fortsetzten, ließ er ihnen Geld zukommen, mit der Auflage, mit Spanien keinen Frieden zu schließen, ohne vorher Ludwig XIII. zu benachrichtigen. Im Norden sah sein großangelegter Plan vor, „den König von Schweden aus seinen anderweitigen kriegerischen Verwicklungen herauszulösen und durch ihn den Kaiser bekämpfen zu lassen“ (S.  305). Das gelang ihm auch. Schweden trat 1630 in den Krieg ein, auf Seiten der protestantischen Fürsten gegen den Kaiser, rettete durch Siege 1631 und 1632 die bedrängten Protestanten, verfolgte dabei aber auch spezifisch schwedische Herrschaftsinteressen im Ostsee-Raum. Schweden hatte dabei Teile Norddeutschlands an sich gebracht und gehörte von daher mehrfach dem Reichs­fürstenstand an. Es führte den protestantischen Block an. Französische Truppen haben Ende 1631 das Bistum Metz besetzt, und Anfang 1632 zwang Richelieu den Herzog von Lothringen im Vertrag von Vic, „alle seine  … Verbindungen, sofern sie für Frankreich von Nachteil waren, aufzukündigen, und setzte sich in den Besitz der lothringischen Festung Marsal“ (Zeeden, S. 306). Als König Gustav Adolf 1632 in der Schlacht bei Lützen gegen den kaiserlichen Feld 655 Darin steckt wohl auch Psychopathisches, und Psychopathen an der Herrschaft sind für das eigene Volk und für die anderen Völker besonders gefährlich – wie wir in Deutschland aus der Zeit des „Dritten Reiches“ wieder nur zu gut wissen.

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herrn Wallenstein gefallen war, übernahm der befähigte schwedische Kanzler und Reichsverweser Axel Oxenstierna im Heilbronner Bund die Führung des schwedisch-protestantischen Blocks und darin eine schwedische Vorherrschaft. Die protestantischen Stände mochten sich aber nicht von Oxenstierna dirigieren lassen, „zumal das einst disziplinierte evangelische [schwedische] Bauernheer immer rascher zu einer mordwütenden Soldateska entartete, der man den heiligen Glaubenseifer nicht mehr abnahm“ (Schilling, Aufbruch, S.  445). Es gab Pläne für ein Bündnis der deutschen protestantischen Reichsstände zwischen Schweden und den katholischen Reichsständen. „Dieses Projekt wurde beschleunigt und in eine neue Bahn gelenkt, als die Schweden im November 1634 bei Nördlingen von einem kaiserlich-spanischen Heer … entscheidend geschlagen wurden.“ Kur­ sachsen nahm Verhandlungen mit dem Kaiser auf. Am 30. Mai 1635 ist der Prager Friede geschlossen worden, dem fast alle Reichsstände beitraten, auch das kalvinistische Brandenburg und das katholische Bayern (ebenda). Die Niederlage seines schwedischen Verbündeten und der Prager Friede „ließen es Richelieu … geraten erscheinen, gemäß den in seinen Denkschriften festgehaltenen Gesichtspunkten ‚offen mit den Habsburgern zu brechen‘“, also nun offen in den Krieg einzutreten (Zeeden, S. 307). Ein Friede ohne Mitentscheidung Richelieus würde Frankreich nur geringere Gewinne bringen können. Was zehn Jahre lang gelungen war, den Krieg in den Niederlanden und in Deutschland verdeckt zu führen, schien nicht länger möglich zu sein. Am 19. Mai 1635 hat Richelieu den spanischen Habsburgern den Krieg erklärt. „Er gab damit der letzten, insgesamt dreizehnjährigen Phase des großen Kampfes in Deutschland die Signatur. Fortan durchzogen neben den schwedischen auch französische Armeen das Land. Jetzt erst erreichten die Schrecken der Bevölkerung ihren Höhepunkt und nahm die Vernichtung von Gut und Leben die schlimmsten Ausmaße an. Und nun erst geriet die kaiserliche Sache ernstlich ins Wanken“ (S. 309; über Frankreichs Aktivitäten im offen kriegerischen Bündnis mit Schweden und den protestantischen Niederlanden gegen die spanischen Habsburger in Oberitalien siehe S. 309 ff.). „Nachdem Frankreich derartig massiv gegen Spanien vorgeprellt war, ließ sich, wie Richelieu richtig voraussah, ein Zusammenstoß mit der deutschen Linie des Hauses Habsburg nicht mehr vermeiden. Er glaubte, daß jetzt der Moment gekommen sei, den Kaiser herauszufordern. Nachdem er im September 1634 Lothringen, das er schon seit 1632 besetzt hatte, förmlich annektiert und französische Garnisonen ins Elsaß verlegt hatte, entsandte er französische Truppen bis an den Rhein. Es war kein Wunder, daß Ferdinand II. diese Provokationen nicht schweigend hinnahm: Am 18. September 1635 erklärte er dem König von Frankreich den Krieg“ (S. 309 f.; zu den kriegerischen Ereignissen danach, bis 1648, verweise ich auf Schilling, Aufbruch, S. 447–450, und Zeeden, S. 310–314).

Richelieu ist 1642 gestorben. Er hat die absolutistische Herrschaft in Frankreich durchgesetzt, alle institutionalisierte und andere Mitbestimmung auf den König beseitigt, außer der eigenen. (Hier hat nicht eigentlich der König, sondern der Königs-„Berater“ von sich aus für den König absolutistisch regiert.) Das Besondere am Richelieuschen Absolutismus ist die extreme Rücksichtslosigkeit auch

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gegenüber den (nichtprivilegierten) Untertanen im eigenen Staat. Einige Aspekte davon kennen wir schon. Zeeden bringt im Kapitel „Der Krieg und die Bevölkerung“ in bezug auf Frankreich auf S. 315 f. noch mehr dazu. Ich lasse es mit wenigen Feststellungen daraus genug sein. Von 1630 bis 1640 stiegen die Steuern auf das Vierfache. „Wiederholt schlug die Erbitterung in Selbsthilfe um. Während des Aufstandes der Croquants im Poitou 1636 kam es vor, daß Bauern die örtlichen Steuereintreiber umbrachten und zerstückelten. Folgen des ständig steigenden Steuerdrucks waren es auch, daß einzelne Gewerbezweige regional total ruiniert wurden, zum Beispiel die Gerberei und die Textilherstellung in der Normandie, und daß ganze Dörfer verfielen, weil die Bevölkerung abwanderte. Der Landstrich von Dijon bis zur damaligen Ostgrenze entvölkerte sich vollständig und wurde später niemals wieder in der ursprünglichen Dichte besiedelt. Schon die Subventionierung von fremden Kriegen in fremden Ländern brachte über große Teile Frankreichs eine Verelendung von heute unvorstellbaren Ausmaßen. … . Krieg und Mißernten verschlechterten die schon vor 1629 erbärmlichen ländlichen Zustände in Frankreich bedeutend. Auf die erste große Mißernte von 1630 folgte eine Serie von schlechten Jahren. Die bald einsetzende Hungersnot machte die entkräfteten Menschen für die seit 1626 wieder stärker grassierende Pest anfällig und zog Seuchen nach sich. … . Die grauen­ haften Zustände, die allenthalben im Gefolge des Krieges eintraten, machten diejenigen verhaßt, die man als Urheber ansah“ (S. 315 f.).

Und all dieses Elend kam über das Land um der ehrgeizigen Kriegsziele­ Richelieus willen: Ruhm (gloire), Größe und Hegemonie Frankreichs – und aus „Eifersucht“ auf die Größe anderer – jetzt einmal abgesehen von den verheerenden Folgen dort, wo, anders als in Frankreich, die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Mord und Brand stattfanden, in Deutschland, Lothringen und den Niederlanden. Richelieu wird inzwischen656 von Historikern und anderen Sozialwissenschaftern in Frankreich kritischer beurteilt als „von einer Geschichtsschreibung, die sorgsam um die Verteidigung des monarchischen Prinzips bemüht war“, und mittlerweile werden auch die Gegner der „verdammenswerten Tyrannei“ Richelieus (und ebenso die „Fronde“ – dazu weiter unten – gegen Mazarin) gerechter gewürdigt (siehe Mandrou, S. 26 f.). Im folgenden werde ich öfter aus Mandrou zitieren. Der Autor sieht die Übel des absolutistischen Staats (der im 18. Jahrhundert in Frankreich am weitesten ent­ wickelt war) und nennt sie beim Namen. Statt beschönigender Darstellungen bekommen wir so ein Bild der Wirklichkeit. Kurz nach Kardinal Richelieu ist im Mai 1643 auch König Ludwig XIII. gestorben. Ludwig XIV. (1638–1715) war damals noch nicht fünf Jahre alt. Zwar war er

656 Auch in den großen französischen Lexika („Larousse“) ist Richelieu noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg als „un des plus grands hommes d’État qu’ ait eus la France“ bezeichnet worden.

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ab 1643 nominell schon König, stand aber zunächst unter der Regenschaft seiner Mutter, Anna von Österreich. Nachfolger Richelieus wurde Jules Mazarin (1602– 1661, aus Italien, ab 1640 in französischen Diensten und Mitarbeiter Richelieus;657 nach dessen Tod im Kronrat, ab 1643 Leitender Minister). Mazarin hat Richelieus kriegerische Ziele weiterverfolgt und dessen absolutistische Herrschaft fortgesetzt.658 Er mußte zweimal, 1651 und 1652/53, jeweils für wenige Monate ins Ausland fliehen, als sich Gegner des Absolutismus in den von jener monarchistisch gesinnten Geschichtsschreibung mit dem negativ besetzten Begriff Fronde abqualifizierten Aufständen von 1648/49 und von 1649–1653 gegen ihn erhoben. Auslöser war, daß wieder einmal neue Steuern ersonnen worden waren, um die durch die Verschwendung am Hof noch vergrößerten Finanzschwierigkeiten zu beheben. Wie Mazarin der Fronde Herr geworden ist und nach deren Ende nach und nach die Konzessionen, die er gemacht hatte, wieder zurückgenommen und die Stellung der besonders unbeliebten Intendaten noch verstärkt hat, beschreiben Mandrou (S. 27–30, dazu auch S. 37 und S. 39) und Tapié (S. 298 f.). Das absoluti­stische Regime war nun noch mehr gestärkt. Ludwig XIV. hat den alten Adel, der von der Mitwirkung an der Regierung ausgeschaltet war, „an den Hof von Versailles gezogen“, um ihn persönlich bis ins einzelne zu kontrollieren und so seine „Botmäßigkeit … zu gewährleisten. … Der Hochadel hat sich den höfischen Bräuchen gefügt und sich zum Leben bei Hofe in der vom König vorgeschriebenen Rolle gezwungen. … [er] hörte … auf, eine Gefahr für den Staat zu sein“ (Mandrou, S. 40 ff.). Der Provinzadel ist in den sechziger und in den neunziger Jahren Säuberungen unterworfen worden. Der aus dem Bürgertum hervorgegangene Amtsadel war unbeschränkt zum Gehorsam gegenüber dem König verpflichtet. Ludwig XIV. hat die Bürgermeister der großen Städte aus dem Kreis der ihm besonders ergebenen Notabeln ausgewählt. Die sogenannten kleinen Leute sind unterjocht worden, wenn sie aufmuckten: in Nordfrankreich infolge Hungersnot, generell in Frankreich gegen die neue Stempelsteuer, in der Bretagne gegen die Bedrückung der Bauern durch die Grundherren. „Gegen den ‚gemeinen Pöbel‘ gab es nichts anderes als Gewalt und brutale Unterdrückung“ (S. 42 f.). – Bevor ich etwas zur Wirtschaftsstrategie Ludwigs XIV. sage, muß ich noch einmal in der Zeit zurück. So wie Richelieu für Ludwig XIII. die Herrschaft ausgeübt hat, tat es de facto Mazarin für die Regentin, die Mutter des jungen Ludwig  XIV., Anna von Österreich.  – Unter Mazarin kam es schließlich zum Westfälischen Frieden als (regionalem) Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Ich rufe in Erinnerung zurück: 1635 hatten sich, ohne Schweden und Frankreich, in Prag der Kaiser und die weitaus meisten der protestantischen und

657 Außer Mandrou siehe zu Mazarin besonders Zeeden, S. 337–341. – Auch Mazarin wurde (1641) wie Richelieu zum Kardinal ernannt, obwohl nie zum Priester geweiht. 658 Er hat außerdem sehr stark und offenbar sehr einseitig auf die Erziehung des jungen Königs Ludwig gerade a l s absolutistischer Herrscher eingewirkt. (Dazu s. a. im Annex über Legitimitätsprinzipien, Kap. B. V.6.a).)

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der katho­lischen Reichsstände auf einen Frieden geeinigt, der aber nicht wirksam werden konnte, weil nun, 1635, Frankreich neben Schweden offen in den Krieg eintrat.659 Die langwierigen Friedensverhandlungen hat auf französischer Seite bis 1642 noch Richelieu bestimmt, danach Mazarin. Die von Richelieu angestrebten Landgewinne und die französische Hegemonie in Europa hat Mazarin 1648 im Westfälischen Frieden (Friedensschluß mit Frankreich in Münster)660 weitgehend erreicht und im Pyrenäenfrieden von 1659, der den elf Jahre länger dauernden Krieg Frankreichs mit Spanien abschloß, noch ausgebaut. (Was die Verhandlungen und die Friedensschlüsse betrifft, verweise ich auf Schilling, Aufbruch, S. 445–463, Zeeden, S.  328–331, und Wittram, S.  869 f.)  – Nachdem Mazarin 1661 gestorben war, hat Ludwig  XIV., dreiundzwanzigjährig, die Herrschaft übernommen, und zwar im vollen Sinn des Wortes. Er hat keinen Leitenden Minister661 ernannt, vielmehr selber dessen Aufgaben übernommen, die Mitglieder seiner Familie aus dem (bisher Kron-)Rat entfernt und dort auch keinen Kardinal mehr zugelassen, hat einen Staatsrat bzw. „Hohen Rat“ (Conseil d’en haut) mit ganz wenigen Mitgliedern geschaffen (Tapié: alle waren Bürgerliche; anderswo: waren überwiegend Bürgerliche), die sein Vertrauen besaßen und viel Erfahrung hatten. Hier vor allem wurden die wichtigen Themen der Staatsführung und der auswärtigen Angelegenheiten behandelt, aber auch solche der Rechtsprechung. Ludwig XIV. ließ sich zwar beraten, aber behielt sich selbst alle Entscheidungen vor. Mitbestimmung aufgrund institutionalisierten Mitentscheidungsrechts gab es nicht. „‚Ich werde sehen‘ war einer seiner Lieblingsausdrücke.“ Keines der Mitglieder des Conseil d’en haut „war ein Favorit, jeder dagegen eine erprobte Stütze. Alle wurden mit der Zeit durch Geschenke und Pensionen reiche Leute und blieben doch verläßliche Mitarbeiter des Königs.“ Auf diese Weise blieb der Hohe Adel von der Herrschaft ausgeschlossen, mokierte sich zwar über „diese ‚Regierung der gewöhnlichen Bourgeoisie‘ (Saint-Simon), sah sich aber genötigt, sich mit ihr abzufinden“, schreibt Tapié (S. 298). Er charakterisiert das System so: Mit dem Regieren ohne Premierminister war „ein Regime geschaffen, in dem die Macht662 des Königs keine Grenzen kannte. Alle nachgeordneten Stellen waren in ihren Kompetenzen beschränkt, Gültigkeit hatten allein die im Namen des Königs gefällten Entscheidungen. Er regierte nur mit Ministern, die gänzlich von ihm abhingen, und ließ die Provinzen durch Intendanten verwalten, die ihre Macht662 ausschließlich von ihm empfingen“ (S. 347).

659 Erst in den Jahren nach 1635 ist Deutschland „am allerschlimmsten verheert und nahezu ruiniert“ worden. „Die Soldateska wütete immer zügelloser“ (Schilling, Aufbruch, S. 447). 660 Mit Schweden ist der Westfälische Friede am selben Tag in Osnabrück abgeschlossen worden. 661 Tapié (S. 297) sagt dazu: „Schon der Titel erschreckte ihn, da er anzudeuten schien, daß der König nicht allein der Herr sei und sich einem Hausmeier untergeordnet fände, wie die faulen Könige der Merowingerzeit.“ 662 „Macht“ auch hier wieder im üblich gewordenen Wortunverständnis.

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Für bestimmte Sachbereiche waren zuständig, aber ohne eigene Entscheidungs­ befugnis: der Finanzminister (Contrôleur général des finances), der als Justiz­ minister fungierende Kanzler (Chancelier) und die vier Staatssekretäre (Sécré­taires d’état) für Auswärtige Angelegenheiten, für Kriegswesen, für das Marine­wesen, für Kultus. Diese Sechs bildeten aber nicht etwa einen Ministerrat, sondern besaßen eben Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem König, der „im Mittelpunkt eines jeden Entscheidungsprozesses stand“ und sich meist in persönlicher Audienz unterrichten ließ. Das „eigentlich Charakteristische“ des Regierungs­ systems Ludwigs  XIV. war die „Allgegenwart des Königs“. Es gab keine gute Information und keine Solidarität zwischen den Ministern. Die einzige Institution, „die eine Art Ministerrat darstellt“, war jener oben erwähnte Conseil d’en haut, dem aber nur der Finanzminister und die beiden Staatssekretäre für Auswärtiges und für das Kriegswesen angehörten. „De facto war die Arbeitsteilung unter den Regierungsstellen keineswegs so vollkommen und streng, da etwa das Gewicht des Generalkontrolleurs der Finanzen schwerer wog als das der Staatssekretäre, ja sogar als das des Kanzlers“ (Mandrou, S. 36 f.). Dieses Übergewicht des Finanz­ministers resultierte zum einen aus der von den horrenden Ausgaben für die Kriege verursachten großen Finanznot des absolutistisch rücksichtslos regierten französischen Staates, zum anderen daraus, daß der Finanzminister auch noch für andere Sachbereiche bzw. Aufgaben zuständig war. Das galt besonders für Jean-Baptiste Colbert (1619–1683), der, seit 1661 Finanzminister, später auch noch für die königlichen Bauten, für die Fabriken (Manu­ fakturen) und für das Marinewesen663 zuständig war, es galt aber auch, wenngleich natürlich im einzelnen anders, für den Kanzler Le Tellier und für dessen Sohn Louvois. Colbert hat die Wirtschaftsstrategie des absolutistischen Staates in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts besonders stark geprägt, „vom Erfolg des niederländischen Handels begeistert und von der Einbuße an Edelmetallen durch eine negative Handelsbilanz beunruhigt“ (S. 43). Er brachte Ludwig XIV. dazu, Manufakturen und Marinewesen zu fördern, und zwar, wie Mandrou es beschreibt und bewertet, „wesentlich systematischer, wenn auch nicht wirkungsvoller … als unter seinen Vorgängern“ (S. 43). Die Strategie war die eines auch noch „übertriebenen Merkantilismus“ – oft als „Colbertismus“ bezeichnet. In bezug auf den Seehandel (Ostsee, Westindien, Levante, Ostindien) nahm Colbert „nur die Methoden wieder auf, die bereits ohne großen Erfolg zur Zeit Sullys und Richelieus angewandt worden waren. Er rief Handelskompanien ins Leben“ (S. 44). Diese hatten jeweils für ein bestimmtes Gebiet das Handelsmonopol. Nun beruhte der Erfolg der niederländischen Händler wesentlich auf der Handelsfreiheit. Gerade sie fehlte aber im merkantilistischen System. Mandrou (S. 44 f.) beschreibt die Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben, und bilanziert, daß die Handelskompanien bald nur noch dahinvegetierten und „nie mit den gewaltigen Flotten und der blendenden Handelsorganisation der Niederländer zu konkurrieren“ vermochten (S. 45). Immer 663

Colbert hat die französischen Seestreitkräfte ausgebaut.

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hin wurden eine Zunahme der Bevölkerungszahl und ein allgemeiner Aufschwung auf den französischen Antillen-Inseln und in Kanada erreicht. Die Ergebnisse der merkantilistischen Manufakturwarenförderung seitens Colbert sind laut Mandrou (S. 46) angesichts der Quellenlage schwer zu beurteilen. Es gab „aufsehenerregende Pleiten“ infolge von Fehleinschätzungen. Gemäß „dem gegenwärtigen Stand der Kenntnisse konnte sich erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine annehmbare Bilanz einpendeln, als ein Ausleseprozeß zwischen den Unternehmen stattgefunden hatte.“ In bezug auf die Verteilung der Manufakturen über das Königreich ist die Quellenlage für 1693 bis 1695, zehn Jahre nach dem Tod Colberts, gut, aber daraus lassen sich keine günstigen Schlüsse auf eine erfolgreiche Tätigkeit des Ministers ziehen. „Hier wie im Bereich des Handels ist die Reputation des Colbertismus weit höher als das tatsächlich Erreichte“ (S. 46). Die Kosten des Engagements des Königs außerhalb Frankreichs und für die Bauten in der neuen Residenz Versailles „brachten die wirtschaftlichen Initiativen seines Ministers rasch zum Erlahmen“ (Mandrou, S. 46). Nämlich schon vor dem Krieg gegen die Niederlande, 1672–1678, hat Colbert zu Lasten der Wirtschaftsförderung sparen müssen, weil für andere Zwecke Zuwendungen erfolgten. Die Senkung der taille, die im wesentlichen alle Teile der Bevölkerung außer Adel und Klerus zu zahlen hatten, hat Colbert zwischen 1670 und 1680 wieder rückgängig gemacht, und dieser „ständig zur Sparsamkeit mahnende Finanzminister Colbert räumte in einem Mémoire an seinen König der Finanzierung außenpolitischer Vorhaben Vorrang ein. Er unterschied vier Ausgabengruppen und gliederte sie nach Wichtigkeit: 1.  Seekrieg, 2.  Außenpolitik, 3. Landkrieg und 4. Innenpolitik mit den Vergnügungen des Hofes. Sparen könne man geringfügig am Landkrieg, ganz besonders aber an den innenpolitischen Ausgaben. Als guten Grundsatz empfahl er, an unnötigen Dingen fünf Sous zu sparen, doch mit Millionen um sich zu werfen, wenn der Ruhm, die Gloire, des Königs es erfordere. Das Streben nach Gloire läßt sich in diesem Zusammenhang als außenpolitische Aktivität erkennen, die unter Einsatz militärischer Machtmittel eine Machterweiterung und im Wettstreit der Mächte ständige Rangerhöhung zum Ziel hat; die imperiale Komponente ist unverkennbar. Dieser Ruhm war ein Wert, der mit den Notwendigkeiten des Staates nichts mehr zu tun und sich auch sonst weitgehend von den Realitäten gelöst hatte. Mit ökonomischen Kategorien ist er jedenfalls nicht zu begreifen, denn seine Verfolgung brachte niemandem materiellen Gewinn, sondern führte notwendig zum Krieg. Die Untertanen bekamen das immer zu spüren, direkt durch Kriegszerstörungen oder indirekt durch zunehmenden Steuerdruck und die in solchen Krisenlagen fortschreitende Korruption der Beamten. Verarmte Steuer­zahler wiederum konnten die Staatskasse nicht mehr füllen. Derartigen Argumenten aus der Sicht der Betroffenen aber zeigte sich gerade Ludwig XIV. nicht zugänglich, be­anspruchte vielmehr für sich, aufgrund seiner hohen Stellung, bessere Einsicht und Er­ habenheit über kleinliche Interessen“ (Krüger, S. 177 f., mit Fußn. 26 f.).

Kurz vor seinem Tod, 1683, hat Colbert alle „traditionellen Hilfsmittel“, Geld für den Staat zu beschaffen, die aber auf Dauer schädlich sind, wieder benutzt: die Schaffung neuer Ämter, die verkauft werden konnten (siehe oben), Steuererhöhung und Münzverschlechterung (Mandrou, S. 47).

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Schwer wogen und weitreichende Bedeutung hatten die Eingriffe des Königs auf kulturellem Gebiet, im Religiösen, im Künstlerischen, in der Literatur und in der Wissenschaft. Die Einwirkungen auf die Gallikanische Kirche und gegen den Jansenismus (auch zu diesen beiden siehe oben), die Mandrou (S. 47 f.) nennt, erwähne ich nur. Gravierende Folgen hatte die Verschärfung der Verfolgung der Huge­notten durch die Aufhebung des Edikts von Nantes, 1685 im Revokationsedikt von Fontainebleau. Mandrou (S. 48 f.) beschreibt das im einzelnen. Ergebnis war, daß die Gewissensfreiheit der Reformierten wesentlich beschnitten wurde, die Kalvinisten in ihrer Berufswahl (Ärzte, Anwälte, Angehörige anderer freier Berufe, auch im Buchverlagswesen) und in der Berufsausübung eingeschränkt waren. Das hat im ganzen zur Auswanderung von etwa zwei- bis dreihunderttausend Hugenotten aus Frankreich geführt. Frankreich verlor, in einer Art Aderlaß, absolutistisch und unüberlegt in Gang gebracht, „Vertreter des Geisteslebens, Offiziere, Gewerbetreibende, Meister und Unternehmer der Manufakturgewerbe“ (S.  50). Abgesehen davon: „Die in Frankreich verbliebenen Hugenotten organisierten den Widerstand und wehrten sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in den Cevennen mit Waffengewalt. Das Scheitern der königlichen … [Bestrebungen] in diesem Punkt war offenkundig“ (S. 50). In bezug auf Literatur, Bildende Kunst und Wissenschaft  – so Mandrou (S.  52–55)  – haben die „Beweihräucherer des großen Königs  … gewetteifert, seine Großzügigkeit gegenüber den in Versailles beschäftigten Schriftstellern und Künstlern hervorzuheben, die Schaffung der Akademie der Wissenschaften und den Bau des Pariser Observatoriums sowie den Glanz des neuen Dekors zu preisen. Von solchen Elogen hebt sich die Wirklichkeit jedoch stark ab“ (S. 52), und Mandrou bringt Details über die schlechte Bezahlung. Die 1666 gegründete Akademie der Wissenschaften ist Colbert unterstellt worden (später Louvois; zu diesem siehe oben) und war „lange zu Arbeiten von nur mittelmäßigen Interessen bestimmt. Das ging so weit, daß aus dem Ausland berufene Gelehrte wie Huygens rasch nach Hause zurückkehrten“ (S. 53). Die Verleger und Drucker, unter Einschaltung der Polizei auch die Libellisten und Buchhändler, sind streng überwacht worden, mit dem Ziel, daß nur das gedruckt werden und erscheinen durfte, was dem Lob der Monarchie diente. Beim Bau von Schloß Versailles sind die Künstler und die damals künstlerisch wichtigen Stukkateure stark bevormundet worden. Wer sich dem widersetzte, bekam keine Aufträge mehr, und das führte bald zu bloß noch „Epigonentum“. Mandrou nennt dann die „berühmtesten ‚Verstoßenen‘“. Ergebnis in Versailles war eine „buntscheckige Stilmischung“ am Schloß (S. 55). Das „Journal des Sçavans“ ist 1665, im ersten Jahr seines Erscheinens, als eine Lieferung eine dem jesuitischen Berater des Königs mißliebige Buchbesprechung enthielt, unterdrückt worden und erst im folgenden Jahr, inzwischen jesuitisch gleichgeschaltet, wieder herausgekommen. Unterdrückt wurden die Anhänger der Philosophie des René Descartes und der Philosophie des Nicole Malebranche. Ein

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Professor der Universität Angers durfte seine Lehrtätigkeit nicht mehr ausüben und „wurde … 1675 gezwungen, sich in ein Kloster zurückzuziehen.“ Wer die Verhältnisse durchschaute, hielt sich heraus. So hat der berühmte deutsche Philosoph Leibniz, der 1671/72 in Paris war, finanzielle Zuwendungen und Einladungen zu längerem Aufenthalt abgelehnt. – Der König selbst und bezahlte Schreiber haben den „Ruhm ‚Ludwigs des Großen‘ … besungen. … Mit Fleiß und Ausdauer hat man während der ganzen Regierungszeit  … [intensiv] Propaganda betrieben, um den Zeitgenossen jene strahlende Überlegenheit Ludwigs  XIV. einzutrichtern“ (S.  57).664 Solche Verherrlichung war zwar nicht neu; in Ansätzen hatte es das schon im Absolutismus Heinrichs IV. und Ludwigs III./Richelieus gegeben. Das Besondere bei Ludwig XIV. war die Intensität, mit der er diese Ansätze ausbaute und „dabei weder die ­Mühen seiner Leute noch die für derartige Arbeiten notwendigen finanziellen Kosten scheute.“ Mandrou bringt (S. 58–61) Einzelheiten dazu, danach (S. 62 f.) solche zur Diplomatie, zum Agentenwesen und zu den Geldzahlungen an andere Herrscher, die zugunsten Frankreichs beeinflußt werden sollten. Darauf verweise ich nur. Ebenso verzichte ich auf Einzelheiten der Abläufe der von Ludwig XIV. zwischen 1667 und 1713/14 geführten Kriege,665 und das waren außer noch vielen anderen kriegerischen Aktionen666 vier „regelrechte“, d. h. mit Kriegserklärung eröffnete und mit Friedensvertrag beendete Kriege. Der erste war der Eroberungs­ krieg von 1667/68 gegen Spanien zwecks Annexion eines Teils der (katholischen) spanischen Niederlande (Schilling, Höfe, S. 215 f.; Duchhardt, S. 25 f.), auch „Devolutionskrieg“ genannt,667 er noch ohne Ausweitung zu einem europäischen Konflikt, wie das dann bei den anderen der Fall war. Der zweite, auch als „Holländischer Krieg“ bezeichnet, 1672–1678/79 (Schilling, S.  216–231; Duchhardt, S. 27 ff.), richtete sich gegen die (protestantischen) Vereinigten Niederlande, meist verkürzt mit dem Namen ihrer wichtigsten Provinz Holland auch im ganzen „Holland“ genannt (wie noch bei uns bis heute). Frankreich eroberte die Vereinigten Niederlande bis auf die Provinz Holland, die der Generalkapitän Wilhelm von Oranien weitgehend überschwemmen ließ. Die Wende kam, als Wilhelm den Seekrieg der Niederlande mit England beendete und in Europa für ein Bündnis zur 664 Mandrou schreibt, „daß man lediglich für das erste Jahrzehnt der Regierung des Königs von … einer Vorrangstellung Frankreichs in Europa sprechen kann“ (S. 66). Was danach kam, war nur noch mit „Propaganda, Legende“ (S. 70) zu verkleistern. 665 Mandrou, S. 65–71 u. S. 113–116; Schilling, Aufbruch, S. 198–270; Duchhardt, S. 25–35 u. S. 66–73; Tapié, S. 330 f., S. 336 ff., S. 344–347; Wittram, S. 880–883. 666 So 1670 jene Annektion Lothringens, so 1681, als französische Truppen mitten im Frieden zum einen die Freie Reichsstadt Straßburg mit enorm großem Heeresaufgebot und brutaler Argumentation Louvois’ zur Kapitulation zwangen und militärisch besetzten, zum anderen am selben Tag das zum Herzogtum Mantua gehörende Casale Monferrato, sozusagen der Schlüssel zu Oberitalien (Tapié, S. 331, S. 659 u. S. 661). 667 Er brachte Eroberungen im Hennegau und in Flandern, darunter die Stadt Lille.

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Abwehr der französischen Aggression aktiv wurde. Mandrou (S. 65) sagt dazu: „Der Friede von Nimwegen … 1679 wurde trotz der bitteren Lektion, die er für die … [Hegemonialbestrebungen] der französischen Krone bedeutete, [französischerseits] … als großer Sieg Ludwigs XIV. dargestellt.“ Spanien hat immerhin die Freigrafschaft Burgund und wiederum Grenzgebiete seines (südlichen) Teils der Niederlande an Frankreich abgetreten. Die Vereinigten Niederlande freilich waren der Eroberung durch Frankreich entgangen. Ludwig XIV. konnte damit rechnen, „daß unmittelbar nach dem Friedensschluß Kaiser und Reich nicht sofort wieder zu den Waffen greifen würden“ (Duchhardt, S.  29), wenn er seine Herrschaft im Elsaß ausdehnte  – was gleich ab 1680 geschah und 1681 zu jenem Überfall auf Straßburg und dessen Einverleibung führte. Ab 1680 arbeiteten auch die vom König eingesetzten „Re-unions-Kammern“. Sie hatten zu untersuchen (in wichtigen Fällen notfalls zu fälschen), welche anderen Territorien und Städte irgendwann einmal zwar keineswegs zu Frankreich, aber zu den jetzt von Frankreich annektierten Gebieten (Herzogtum Lothringen, im Elsaß und in der Freigrafschaft Burgund) gehört hatten. Ludwig XIV. ließ diese Territorien bzw. Städte sofort besetzen (re-unieren) und erforderlichenfalls stark befestigen. Kaiser und Reichsstände waren wegen der Angriffe der osmanischen Türken auf die österreichischen Lande, inzwischen bis vor Wien, daran ge­ hindert, diesen neuen Annexionen zu begegnen, die Ludwig XIV. (der insgeheim im Bündnis mit dem türkischen Herrscher war) vornehmen ließ. (Zum Komplex Elsaß, speziell Straßburg, und dazu Casale sowie zu den „Re-unionen“ siehe­ Mandrou, S. 66 f.; Schilling, Höfe, S. 232–240; Duchhardt, S. 29 f.; Tapié, S. 330 f. u. S. 661.) Unter dem Vorwand von Erbansprüchen seiner Schwägerin Elisabeth Charlotte („Liselotte von der Pfalz“) – Erbansprüchen, die im Ehevertrag mit dem Bruder des Königs, Philipp I., Herzog von Orléans, gerade ausgeschlossen worden waren (bei Duchhardt, S. 34, ist der Sachverhalt sehr übersichtlich dargestellt) – und mit der Behauptung, „ein Glacis668 schaffen zu müssen“ (Tapié, S. 336), begann Ludwig XIV. 1688 den „Pfälzischen Krieg“. In seinem Auftrag hat General Mélac die Pfalz und andere Gebiete an Rhein und Mosel durch Niederbrennen der Städte und Dörfer verwüsten lassen. Der Pfälzer Krieg (Mandrou, S. 65 f.; Duchhardt, S. 66 f.; Schilling, S. 252–256; Wittram, S. 881) entwickelte sich schnell zu einem Konflikt europäischen Ausmaßes, in dem sich angesichts der nicht enden wollenden Aggressionen Ludwigs XIV., nicht zuletzt auch aus Entsetzen über die Brutalität des Vorgehens in der Pfalz und selbstverständlich aus sehr verschiedenen Eigen­ interessen, eine große Allianz zusammenfand. Der Friede von Rijswijk, 1697, ist dann auch ein „Friedensschluß ohne [neuen] Gewinn“ für Frankreich geworden (Mandrou, S. 65). „Immerhin gelang es den französischen Diplomaten, die Inte 668 „… ein breites Glacis …, ein wüstes Vorfeld, das die französische Grenze sichern sollte, indem man es deutschen Heeren auf weite Sicht unmöglich machte, dort zu existieren, das heißt, Nahrung, Quartier … [und] Furage zu finden“ (Schilling, Höfe, S. 254).

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gration des Elsaß und Straßburgs in den französischen Staat völker- und vertragsrechtlich endgültig absichern zu lassen, wobei den Bürgern der [zuvor evange­ lischen] ehemaligen Reichsstadt … das Recht [!] gewährt wurde zu emigrieren“; der Herzog von Lothringen bekam wieder sein Territorium, einige der „Re-unionen“ wurden rückgängig gemacht, Barcelona kam wieder zu Spanien (Schilling, Höfe, S. 255 f.). Von 1701 bis 1713/14 dauerte der „Spanische Erbfolgekrieg“.669 Es war schon einige Jahre vorher abzusehen gewesen, daß der letzte spanische Habsburger, Karl II., kinderlos sterben würde. Ansprüche in Spanien und das, was in Europa und in Übersee dazugehörte, erhoben Ludwig XIV. und das österreichische Haus Habsburg. Tatsächlich kam es dabei weniger auf das bessere oder schlechtere Recht der Ansprüche auf den spanischen Thron an als darauf, daß Ludwig XIV. wieder einmal – das ging routinemäßig – die „Gefahr“, den „Alptraum“ der „Umklammerung“ Frankreichs durch die Habsburger behauptete,670 der Kaiser da­ gegen den habsburgischen Hausbesitz in Italien nicht an Frankreich verlieren wollte. Wilhelm von Oranien, inzwischen auch König von England (Wilhelm III.) drang auf eine Teilung. Die Verwirklichung eines ersten Teilungsvertrags, von 1698, zwischen einerseits den beiden Seestaaten England und Vereinigte Niederlande, andererseits Frankreich, scheiterte schließlich, weil der wittelsbachische Kurprinz Joseph Ferdinand von Bayern, der als spanischer König vorgesehen war,671 1699 schon gestorben ist. Weil nur die Nachfolge dieses „einzigen ernsthaft  … [infragekommenden] nichthabsburgischen und nichtbourbonischen Anwärters“ Joseph Ferdinand den status quo nicht wesentlich verändert hätte, wurde ein neuer europäischer Krieg sehr wahrscheinlich (Duchhardt, S.  69). Der kam dann auch, als König Karl  II. von Spanien 1700 tatsächlich starb. Gegen Ende des 1. Jahrzehnts im 18. Jahrhundert war „Frankreich … militärisch am Ende672 und zum Nachgeben gezwungen  …  – es mußte außer Adelstiteln bereits das Versailler Silbergeschirr verkauft werden,673 um den Krieg überhaupt noch not 669 Gut zu verfolgen bei Wittram, S. 913–916; mit viel mehr Details Schilling, S. 257–270; gut auch Duchhardt, S. 68–73; mit z. T. anderen Aspekten, und deshalb mit heranzuziehen sehr nützlich, Mandrou, S. 113–117. 670 Tatsächlich waren die Aggressionen vom absolutistischen Frankreich Richelieus, Mazarins und Ludwigs XIV. ausgegangen. Karl V. hatte ältere Aggressionen seinerzeit noch abwehren können. 671 Enkel Kaiser Leopolds I. aus dessen spanischer Ehe. Er sollte außer der Krone Spaniens die spanischen Niederlande und Kolonien erhalten, Frankreich dagegen Neapel und Sizilien, der Kaiser Mailand, England – das war etwas ganz Neues – maritime Stützpunkte im und am westlichen Mittelmeer. 672 Die beiden sehr gut miteinander zusammenarbeitenden Feldherren Prinz Eugen von Savoyen (für den Kaiser) und Herzog von Marlborough (für die Seestaaten) hatten schließlich Festung nach Festung erobert, dabei auch die beiden entscheidenden Schlachten von Oudenaarde und Malplaquet gewonnen. 673 Der französische Hof hatte immerhin noch etwas zu verkaufen, die Untertanen des „Sonnenkönigs“ waren längst ruiniert, was ich oben im Text zum Abschluß für die Ära Ludwigs XIV. vor allem anhand von Mandrou zeige.

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dürftig weiterführen zu können“ (S. 70 f.), da haben die Alliierten 1708 und 1709 überzogene Forderungen gestellt. „Die Rückgabe Straßburgs und die Errichtung einer Reichsbarriere gegen Frankreich am Oberrhein hätte Ludwig  XIV. nach anfänglicher Weigerung 1710 sogar noch akzeptiert. Unannehmbar war aber das Ansinnen, auf Spanien zu verzichten“ (Schilling, S. 264). (Die Frage ist natürlich: Wieso eigentlich? – falls das nicht zu modern gefragt ist.) 1710 brachten die Parlamentswahlen in England einen Umschwung von den Whigs zu den Tories, die einen Friedensschluß wollten. (König Wilhelm III. war bereits 1702 gestorben.) Daraufhin wurden die Kompetenzen Marlboroughs beschränkt, der den französischen Aggressor ganz niederringen wollte, Marlborough schließlich aller Ämter enthoben. – Die Veränderungen, die sich aus den Friedensschlüssen von 1713/14 für Spanien, Österreich, das Reich, Savoyen, England, die Vereinigten Niederlande und Frankreich ergaben, bringen Schilling (S. 264–268) und Duchhardt (S. 72 f.). Ich nenne nur die Frankreich betreffenden: Frankreich behielt das Elsaß, einschließlich Straßburgs, auch die schon im „Devolutionskrieg“ gewonnene Freigrafschaft Burgund; Spanien war bourbonisch, freilich unter der Auflage eines Verbots der Vereinigung oder auch nur Personalunion mit Frankreich; Frankreich mußte in Nordamerika Neuschottland, Neufundland und Besitzungen in der Hudson Bay an England abtreten. Die 1648 in Münster gewonnene Hegemonie Frankreichs in Europa war verloren. Diese Außenbilanz ist in Beziehung zu setzen zu zwei anderen im Innern. Die eine bringt Duchhardt (S. 73). Das Ende der Zeit Ludwigs XIV. ist durch einen „rapi­den Autoritätsverfall der Krone“ gekennzeichnet, außerdem dadurch, „daß der Staat Ludwigs XIV. beim Ableben des Monarchen [1715] vor dem finanziellen Ruin stand. Die öffentlichen [tatsächlich: die Staats-]Finanzen existierten im wesentlichen nur noch in Gestalt der Staatsschuld, die, bei einem Etat mit beinahe doppelt so viel Passiva wie Aktiva (132 Mio. zu 69 Mio. Livres), die horrende Summe von 3,5 Milliarden Livres erreicht hatte.674 Diese Staatsschuld war bis 1714/15 fast vollständig in die Hände privater Finanzunternehmer geraten, die den Handlungsspielraum der Krone nicht unerheblich einengten. Die Pariser Zentrale zog dann die Konsequenzen aus dieser ungesunden Entwicklung und betraute in einem spektakulären Unternehmen den Schotten John Law damit, über eine ‚Nationalisierung‘ der Staatsschuld die Staatsfinanzen aus dem Griff der privaten Kreditgeber wieder zu befreien  – ein Vorhaben, das ebenso spektakulär scheiterte.“ (Ich komme darauf zurück.)

Die andere, noch schlimmere Bilanz zieht Mandrou (S. 133 f.): „Für die Masse der Bevölkerung, die vom Bodenertrag lebte und die harten Abgaben für die Grundrente [an die Grundherren] ebenso ertragen mußte wie die königlichen Steuern, war die Endphase der Herrschaft des Sonnenkönigs eine lange Qual. Die Hungersnot von

674 Bei Mandrou (S. 136) Abweichungen davon, was aber wohl an anderen Bezugszeitpunkten liegt.

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1709/10 … verschlimmerte noch die Folgen der Verwüstungen und Zerstörungen des seit Jahren andauernden Krieges. … Der Zusammenbruch von 1709/10 war … nur der Endpunkt einer schon lange andauernden Krise.“

Es kamen seuchenartige Erkrankungen hinzu, denen mindestens ein Viertel der Bevölkerung Frankreichs, rund fünf Millionen Menschen, zum Opfer fiel, regional und vor allem sozial verschieden verteilt, „da das platte Land und die kleinen Leute unter der Not stärker litten als die Städte und die besser gestellten Klassen [richtig wohl: Schichten] sowie der Adel.  … Die Wieder­ gesundung des Landes … setzte im Innern Frankreichs, also in jenen Provinzen, die zwar von den Soldatenplünderungen am wenigsten berührt, dafür aber von der Not der Jahre 1709/10 besonders hart betroffen worden waren, erst 1714/15 ein, und sie hatte, als der König starb, in den ländlichen Regionen der Champagne und Burgunds, über die das Elend massiv hereingebrochen war, noch nicht einmal begonnen. Das Ackerland war hier inzwischen von Gestrüpp überwachsen“, der Wiederaufbau des Viehbestands brauchte Jahre. „Die Neukultivierung des … Landes hatte die Wiedererrichtung der abgebrannten Dörfer zur Voraussetzung, ebenso den Ankauf von Geräten … [u. a. m.]. Und diese Aufgabenfülle hatte die Bevölkerung in den Provinzen allein auf sich zu nehmen, ohne dabei auf einen entscheidenden Beistand der Intendanten oder der Regierung in Versailles zählen zu können, wenn man von der Stundung der an den König zu entrichtenden Steuern absieht. Die Regierung führte rücksichtslos noch Jahre hindurch einen Krieg, der das Volk Unsummen kostete“ (S. 134), bis zur „‚Erschöpfung des Volkes‘, auf die Vauban seit langem hingewiesen hatte“ (S. 133). Der persönlich so ruhmsüchtige „Sonnenkönig“ war in Frankreich am Ende seiner Herrschaft verhaßt. „Voltaire schildert die Freudenfeuer, Trinkgelage und Siegesgesänge auf der Straße von Paris nach Saint-Denis, als der Tod des Herrschers bekannt wurde, den man nun ‚König der Steuereintreiber‘ und ‚Kumpan der Wucherer‘ titulierte“ (S. 131). –

Für unsere Zwecke genügt es, wenn ich zum Schluß des Kapitels noch das wiedergebe, was vor allem an Ursachen und als Auslöser für den Ausbruch der Re­ volution von 1789 genannt wird. Erstens: Das Ancien Régime war als Regime nicht mehr zu reformieren. Nicht, als ob es keine Versuche gegeben hätte. So zu Ludwigs XIV. späten Regierungsjahren, als „Ratgeber  … den König vergeblich für Reformen zu gewinnen versuchten, etwa Vauban, Fénelon und Beauvillier“ (Mandrou, S. 142). Auch SaintSimon bereitete, zusammen mit anderen, eine auf die Stärkung der Stellung des alten Adels zielende Reform vor, die der Dauphin (seit 1711), Herzog von Burgund, Enkel Ludwigs  XIV. (von Beauvillier und von Saint-Simon ausgebildet) befürwortete; aber der Thronfolger starb schon 1712 (S. 142). Unmittelbar nach Ludwigs  XIV. Tod, 1715, hat Philipp  II. von Orléans, Neffe Ludwigs  XIV., die Regentschaft für den dann tatsächlich Nachfolger des Königs, Ludwig (XV.), Urenkel Ludwigs XIV., übernommen. Er ging auf die Forderungen des alten Adels ein, anstelle des vom verstorbenen König benutzten Systems der Besetzung der höchsten Staatsämter mit vom König abhängigen Fachleuten meist bürgerlicher Herkunft Versammlungen einzusetzen, in denen der Adel dominierte. Das Parlement (Oberster Gerichtshof) von Paris hatte den Regenten ermächtigt, den Re-

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gentschaftsrat nach eigenem Ermessen zusammenzusetzen. Mandrou, S. 142–147, bringt Einzelheiten über das System der Ratsversammlungen,675 am Ort Paris (weg vom Zentrum des Absolutismus, Versailles), über die wichtigsten Männer darin und dann, daß und warum dieses System sich als für praktische Regierungsarbeit ganz unbrauchbar erwies, wie Philipp von Orléans ab 1718 dieses „Experiment einer aristokratischen Monarchie“ (S. 147) beendete und mit Guillaume Dubois, der 1721 Kardinal wurde und 1722 Leitender Minister, zur vor 1715 bestehenden „Ordnung des Absolutismus“ zurückkehrte (S. 148). Deren Zentrum war dann, als Ludwig XV. 1722 volljährig geworden war und Anfang 1723 die Regierung übernahm, selbstverständlich wieder das Schloß in Versailles.676 Ludwig XV. hat den Regenten bis zu dessen Tod, Ende 1723, als Ratgeber behalten (S. 156). Ab 1726 war Ludwigs Erzieher, der Bischof (später Kardinal) André H. Fleury, Leitender Minister, bis zu seinem Tod, 1743. (Auf ihn komme ich noch einmal zurück.) Ab 1743 hat Ludwig XV. selbst regiert. Seine Günstlingsund z. T. sehr verschwenderische Mätressenwirtschaft hat ihn daran gehindert, im Innern (Verhältnis Bürgertum – Adel) zu reformieren. Erst in den letzten etwa vier Jahren seiner Regierung – er starb 1774 – hat Ludwig XV. die Reformbemühungen seiner Minister mitgetragen, des „Triumvirats“ Herzog d’Aiguillon, Kanzler de Maupeou, der die alten Parlements (Gerichtshöfe) auflöste und durch eine neue staatliche Gerichtsordnung ersetzte, sowie Finanzminister Terray. Duchhardt (S. 138) sagt dazu: „Erst und nur in dieser Phase bestand die Chance, Frankreich von Grund auf – und das heißt: auch auf Kosten der Privilegierten – zu reformieren, den Staat in eine aufgeklärte Reformmonarchie zu verwandeln. Es war für alle Aufklärer und auf eine evolutionäre Entwicklung vertrauenden Beobachter eine herbe Enttäuschung, daß dieses Experiment, ohne daß das Reformwerk bereits wirklich hätte ‚greifen‘ können, nach nur vier Jahren abgebrochen werden mußte, weil Maupeou und Terray von dem neuen König nicht mehr mit ihren … Ämtern betraut wurden.“

Der neue König (1774–1792) war der „wenig geistvolle“ Ludwig XVI. (1754– 1793, hingerichtet). Zwar ist er dazu gebracht worden, den Wirtschaftstheore­ tiker und als Intendanten von Limoges erfolgreichen Praktiker Turgot 1774 zum Marine- und zum Finanzminister zu ernennen, aber das geschah um der Sanierung der Finanzen willen. Deshalb verweise ich auf den folgenden Absatz, in dem erkennbar wird, daß Turgot in Wirklichkeit freilich mehr reformieren wollte als bloß isoliert das Finanzwesen. Turgot ist 1776 wieder entlassen worden. Ludwig  XVI. hat die alten Parlements wieder eingesetzt. Die Restauration erfolgte „vor allem zugunsten der Noblesse de robe“ (S. 138). Mehrere Ereignisse sehr verschiedener Art erschütterten das Ansehen des Königtums und der Dy­ nastie immer mehr, so die Veröffentlichung des Staatshaushalts durch Minister 675

Von den französischen Historikern „Polysynodie“ genannt. Die 1711 geplante Reform am absolutistischen System und die gescheiterte von 1715/18 waren im wesentlichen rückwärts gerichtet. 676

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Necker (dazu siehe weiter unten) und die „Halsband-Affäre“ (1785/86), in die Königin Marie Antoinette ohne eigenes Zutun mitverwickelt war. „Ludwig XVI. versuchte verzweifelt, … in letzter Minute seine Reformbereitschaft durch eine … Justizreform zu beweisen, riskierte aber damit abermals eine heftige Auseinandersetzung mit den Parlamenten [Gerichtshöfen], die sogar schon zum offenen Aufruhr führte, der die Autoritätskrise der Krone schonungslos enthüllte und schließlich nur beizulegen war, indem der König dem Drängen der Privilegierten nachgab und  – erstmals seit 1614  – die Generalstände einberief“ (S.  139; über die mißglückten Bestrebungen zu grundlegenden Reformen siehe auch Weis, S. 83 und S. 102–110). Zweitens wird als Ursache für den Ausbruch der Revolution von 1789 der bankrottreife Zustand der Staatsfinanzen genannt. Zwar gab es in der Zeit der Regentschaft Herzog Philipps von Orléans Versuche  – darunter einen für Frankreich noch ungewöhnlichen  –, die Finanzlage zu verbessern. Mandrou (S.  148) beschreibt, wie die dem Staat seitens der Gläubiger präsentierten Schuldscheine schärfer auf ihre Berechtigung hin überprüft und dann gegebenenfalls angefochten worden sind. Ein Gerichtshof ist „gegen Tausende von Finanzleuten“ vorgegangen, „die sich durch die letzten Kriege bereichert hatten“. Es gab „harte Urteile“; allerdings nur etwa die Hälfte der Gelder, die hätten zurückfließen sollen, kam tatsächlich herein, aus verschiedenen Ursachen. Eine damals durchgeführte Münzneuprägung gehörte ebenfalls zum traditionellen Instrumentarium. Neu für Frankreich, nicht neu in den Seestaaten, waren Maßnahmen, die der Schotte John Law dem Regenten vorschlug. Sie zielten auf eine grundlegende Änderung in der französischen Wirtschaft und im Finanzwesen, die allerdings auch eine Änderung im Sozialsystem (Gleichheit aller in bezug auf die Besteuerung) und kapitalistische Aktivitäten mit sich gebracht hätte. Das Lawsche Programm bestand aus vier eng miteinander verknüpften Punkten. Mit der Realisierung ist 1716 stufenweise begonnen worden. Mandrou (S. 148–155) gibt das Programm wieder, die Entwicklung und Erfolge der ersten Jahre, wie und warum das System im Mai 1720 gescheitert ist, als die Pläne erst zur Hälfte realisiert waren, und welche auch positiven Auswirkungen das Lawsche Experiment trotz seines Scheiterns in der Folgezeit hatte. Ich kann nur darauf verweisen. – Der weiter vorn in anderem Zusammenhang genannte Kardinal Fleury, Leitender Minister von 1726–1743, rechtschaffen, sehr sparsam und auf Frieden bedacht, konnte Frankreich wirtschaftlich und finanziell noch einmal konsolidieren – zwischen 1730 und 1740 war der Haushalt ausgeglichen (S. 162) –, der Erfolg wurde aber dadurch zunichte gemacht, daß Frankreich entgegen Fleurys Absicht nach dem Tod Kaiser Karls VI. 1740 gegen Österreich in den Österreichischen Erbfolgekrieg eintrat, der bis 1748 dauerte und im Frieden von Aachen mit der Niederlage Frankreichs endete. (Dazu und zum nachfolgenden Siebenjährigen Krieg, der Frankreich eine noch schwerere Niederlage brachte, siehe den nächsten Absatz.) Jedenfalls sind die Staatsschulden bis zum Tod Ludwigs XV. auf 4 Milliarden ­Livres gewachsen.

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Ludwig XVI. hat 1774 den Wirtschaftstheoretiker Turgot,677 der von 1761–1774 als Intendant von Limoges auch praktisch tätig war und sich den Ruf eines erfolgreichen Reformers erworben hatte, zum Generalkontrolleur der Finanzen (Finanzminister) ernannt. In seiner nur zweijährigen Amtszeit ist immerhin ein Programm entwickelt worden, „das geeignet gewesen wäre, die Monarchie vor dem drohenden Zusammenbruch zu bewahren (Ausgabendrosselung statt Steuererhöhung, Gewerbefreiheit statt Zunftzwang, Einstellung der Zensur, Wiederherstellung des Edikts von Nantes, Reform des Strafvollzugs, Besteuerung des Klerus, öffentliche Sozialfürsorge usw.)“ (Duchhardt, S. 138; mehr detailliert Weis, S. 99 f.). Turgots erste Wirtschaftsreformmaßnahme, die Freigabe des Getreidehandels im September 1774, traf unglücklicherweise mit einer Mißernte zusammen, die zu Preissteigerungen und zu Unruhen führte. Das brachte Turgot in Mißkredit. Sein Versuch, die Finanzen zu sanieren, scheiterte am Widerstand der Privilegierten und an der am Königshof betriebenen Verschwendung; er wurde 1776 entlassen. Duchhardt fügt an, daß keiner von Turgots Nachfolgern die „Finanzkrise, die sich durch das französische Engagement im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ein weiteres Mal gravierend zuspitzte“, in den Griff bekam, weil keiner von ihnen mehr wagte, „Privilegien, Standesinteressen und  … die Staatsfinanzierung durch private Finanzunternehmer anzutasten“ (Duchhardt, S. 138, dazu auch Weis, S.  83). Der 1777 zum Generalkontrolleur der Finanzen ernannte Jacques Necker, Sohn eines in Genf eingebürgerten deutschen Juristen, „veröffentlichte“678 1781 zum ersten Mal das Budget, verschwieg damals aber noch das katastrophale Defizit.679 Seine Angaben über die Aufwendungen am Hof und über die Zahlung von „Pensionen“ erregten sehr großes Aufsehen und machten ihn populär, führten 1781 aber auch zu seiner Entlassung. Necker ist 1788 (bis 1790) wegen des drohenden Staatsbankrotts zurückgerufen worden. Er hat in der Absicht, die Aussichten für eine Steuerreform zu vergrößern, 1789 die Verdoppelung der Zahl der Vertreter des Dritten Standes680 in den Generalständen angestrebt und auch beim König erreicht, womit der Dritte Stand dort ebenso viele Mitglieder hatte wie Adel und Klerus zusammen; hinzu kam eine (vom König zunächst nicht bewilligte) neue Gewichtung der Stimmen – pro Kopf eine Stimme statt pro Stand –, was zum Ende des absolutistischen Systems geführt hat. – Als dritte Ursache ist das Hegemonialstreben mit seinen Folgen genannt worden, ein im Fall Frankreichs besonders komplexer Sachverhalt. Richelieu, ab dessen 677

Er wird zwar zu den „Physiokraten“ gezählt, weicht von diesen aber dadurch ab, daß er außer dem Produktionsfaktor Kapital auch die Arbeit als Produktionsfaktor berücksichtigt. (Dazu siehe das Deutschland betreffende Kapitel B.II.2.a)bb), dort ziemlich am Ende.) 678 Wie es meistens heißt. Wie gleich ersichtlich, kann von einer echten Veröffentlichung zwecks Durchschaubarmachen tatsächlich keine Rede sein. 679 Das Defizit hat erst Generalkontrolleur Calonne 1787 bekanntgegeben. 680 Einen Präzedenzfall hatte es 1788 in der Provinz Grenoble gegeben, wo die Provinzialstände das von sich aus beschlossen hatten, mit Abstimmung gemäß Köpfen statt, wie althergebracht, gemäß Ständen (Neuhaus, S. 226, dazu auch Weis, S. 108 f.).

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Zeit das Streben nach Hegemonie Kriege über Kriege gebracht hat, zunächst verdeckt, dann offen geführte Kriege, wollte – wie wir hörten – den französischen König, damals (1629) Ludwig  XIII., zum „‚mächtigsten Monarchen der Welt‘“ machen. Tatsächlich besaß Frankreich dann am Ende des Dreißigjährigen Krieges die Hegemonie in Europa, wenn es auch nicht gelungen war, „das ganze Haus Habsburg absolut [zu] ruinieren“. – Ludwig XIV. hat seine ersten Kriege, „mehr oder weniger deutlich aus persönlicher Ruhmsucht und zur Demonstration  … dynastischen Prestiges vom Zaun gebrochen“ (Duchhardt, S. 66; siehe auch Zeeden, S. 358). Das sind – wie der „mächtigste Monarch der Welt“ werden zu wollen und wie die „Eifersucht“ auf das Haus Habsburg – wieder primär irrationale Motive. Hegemoniebestrebungen können aber auch aus vergleichsweise mehr rationalen Überlegungen resultieren, etwa denen, mit der Hegemonie größeren materiellen Nutzen, wirtschaftliche Vorteile zu erzielen. Großbritanniens Streben nach „Beherrschung der Meere“ und nach Herrschaft über Kolonien in Übersee war ganz besonders stark Ergebnis wirtschaftlicher Überlegungen, einschließlich solcher, aus dem Handel mit schwarzen Sklaven für Amerika großen Gewinn zu erzielen. Wirtschaftliche Überlegungen haben sehr wohl auch in anderen Staaten eine Rolle gespielt, nicht zuletzt in den Vereinigten Niederlanden, selbstverständlich im konquistadorischen681 und noch im sozusagen nachkonquistadorischen Spanien und natürlich auch im an Kolonialherrschaft interessierten Frankreich, aber der Wille zur Vorherrschaft in Europa – was es auch kosten mochte – war nicht wesentlich rational begründet, und Richelieus Argument, daß man aus den „Trümmern“ eines absolut ruinierten Hauses Habsburg werde „Nutzen ziehen“ können, ist nicht primär, wenn überhaupt auf materiellen Nutzen bezogen gewesen. – Ludwigs XIV. aus Ruhm- und Prestigesucht in einer Zeit vom Zaun gebrochene Kriege, in der Frankreich die Vorherrschaft in Europa besaß und zu noch mehr Eroberungen nutzen wollte, haben, wie wir sahen, dazu geführt, daß sich eine große Allianz gegen den Aggressor zusammenfand, mit jenem Ergebnis, daß der fran­ zösische König die Hegemonie verlor682 und Frankreich finanziell am Ende war. Wir haben ferner gesehen, daß auch die später zur Sanierung der Finanzen von Fleury erzielten Erfolge und die von Nachfolgern Fleurys unternommenen Versuche wegen neuer Kriege nichts mehr gefruchtet haben, neuer Kriege, die um der Wiedergewinnung der Hegemonie bzw. um des eigenen Prestiges bzw. um

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Wo aber auch der aus dem Humanismus stammende Entdeckungsdrang mitspielte und der auf die Eroberung folgende, oft mit verhängnisvollen Mitteln verbundene Missionseifer. 682 England bzw. ab 1707 „Großbritannien“, das, anders als in bezug auf die „Weltmeere“, hinsichtlich Europas keine Hegemonie-Absichten hatte, hat zur Zeit Wilhelms III., dann wieder im Österreichischen Erbfolgekrieg und im Siebenjährigen Krieg gegen die französischen Hegemonie-Bestrebungen eingegriffen und immer wieder versucht, in Europa ein Gleichgewicht der Kräfte (später balance of power genannt) aufrechtzuerhalten bzw. wiederzu­ gewinnen, selbstverständlich im eigenen Interesse. (Zur britischen Gleichgewichtsstrategie s. a. Mandrou, S. 221.)

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der Schädigung des Prestiges Anderer683 willen in Europa und in Übersee geführt worden sind. Es war wohl auch schon ohne besondere Erwähnung ersichtlich, daß die für das Zustandekommen der Revolution von 1789 als besonders wichtig bezeichneten Sachverhalte und Voraussetzungen in vielem eng miteinander verflochten waren und einander bedingten. Das gilt auch für das jetzt zu nennende Vierte, für die aufklärerische Diskussion in Frankreich. Im Deutschland betreffenden Kapitel B.II.2.a)bb)  ist im Zusammenhang der Kurzbeschreibung der „aufgeklärt absolutistischen“ Systeme außer der Herkunft unseres Wortes „aufgeklärt“ auch die Grundlage der als „Philo­ sophie der Aufklärung“ bezeichneten, im einzelnen sehr variantenreichen Denkrichtung genannt worden: Alles, was ist und gilt, ist am Maßstab der Vernunft, der ratio, zu messen, erforderlichenfalls zu ändern. Während in Deutschland die Vertreter des aufklärerischen Denkens – jetzt einmal ganz abgesehen von den Herrschern Friedrich der Große in Preußen und vor allem Joseph  II. in Österreich, dazu Josephs Bruder Peter Leopold im Herzogtum Toskana – nicht zuletzt Verbesserungsvorschläge zum Nutzen des Gemeinwesens und seiner Glieder vortrugen, war die Kritik der französischen Aufklärer z. T. sehr scharf, bis hin zur Proklamation der „Volkssouveränität“ und bis zur Forderung der Beseitigung monarchischer Herrschaft. Die wichtigsten Köpfe der Aufklärer, Montesquieu, Voltaire, Diderot und Rousseau waren allerdings einig in der Meinung, „daß nicht die ungebildete Masse, sondern lediglich eine geistige Elite zum Regieren geeignet sei, daß die Demokratie684 sich nur in kleinen Staaten voll realisieren lasse … . Der mögliche Kompromiß zwischen Theorie und Wirklichkeit … lief irgendwie auf ein Modell der konstitutionellen Monarchie hinaus. Außerdem übte ein Schriftsteller der zweiten Garnitur … einen bedeutenden Einfluß auf das Denken der französischen Revolution aus, …: Abbé de Mably. Er setzte sich … für eine parlamentarisch-repräsentative Demokratie ein und beeinflußte neben Montesquieu und Rousseau die Gestaltung der amerikanischen und der französischen Verfassungen“ (Weis, S. 89).

In der von mir herangezogenen Literatur schreibt über die Bedeutung der Theoretiker der Aufklärung und ihrer Theoreme als Ursachen der französischen Revolution von 1789, außer Weis, S.  88 ff., und Duchhardt, S.  117–121, sehr ausführlich Schalk, S. 477–512, der dort die Beiträge von Montesquieu und Voltaire besonders würdigt, ebenso die für die Anfangsausbreitung aufklärerischer Ideen so wichtigen „Enzyklopädien“, von Moréris „Grand dictionnaire …“ (1674) über 683 Das betrifft die Unterstützung der britischen Kolonien an der amerikanischen Ostküste in ihrem Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien, 1775–1783, nachdem Frankreich im Siebenjährigen Krieg, 1756–1763, seine Besitzungen in Kanada an Großbritannien verloren hatte. 684 Die geistigen Väter der Revolution, so auch Rousseau, sprachen bekanntlich lieber von république als von démocratie.

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Bayles „Dictionnaire historique et critique“ (1696/97) bis zur berühmten und besonders bedeutenden „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ von Diderot und d’Alembert, unter Mitarbeit führender Philosophen und Vertreter anderer Wissenschaften, darunter Rousseau und Voltaire (35  Bände, 1751–1780), dem sozusagen Standardwerk der französischen Aufklärung, das nicht bloß Wissen vermitteln wollte, sondern soziale Reformen anstrebte, in „Unabhängigkeit von Hof, Adel und Kirche“ (Schalk, S. 494). Weil sich das Ancien Régime als nicht reformfähig erwies und es u. a. deshalb in Frankreich keinen „aufgeklärten Absolutismus“ geben konnte, war der Königshof im Versailler Schloß kein Ort des Austauschs aufklärerischer Gedanken. Die Diskussionen fanden, außer in einer „bis zur französischen Revolution ständig wachsenden Flut von Zeitschriften, Zeitungen, Büchern und Flugschriften“ (Weis, S. 88), in Lesegesellschaften, cercles, salons und noch anderen Orten statt. (Zu diesen siehe Kap.  B.III.1.e).) Weis (S.  21) gibt die Hauptpunkte der These des französischen Historikers Furet wieder, der zufolge die französische Revolution nicht länger als Sieg der Bourgeoisie im Klassenkampf über den Adel und als Sieg des Kapitalismus über den Feudalismus dargestellt werden dürfe, „vielmehr das Ergebnis einer Modernisierungskrise“ gewesen sei. Das wirt dort anschließend in einer mehr differenzierten Betrachtung beschrieben. Weis (S. 21) legt außerdem dar, daß 1789 in Frankreich zeitgleich mehrere Revolutionen abliefen: die der Vertreter des Dritten Standes in den États Généraux, und zwar „des gehobenen Bürgertums“, denen sich zunächst Vertreter des Ersten Standes, und zwar aus dem Niederen Klerus, dann aber auch reformwillige liberale Adlige anschlossen, die Revolution der städtischen Unterschichten in Paris, aber auch in anderen Städten und die Revolution der Bauern auf dem Land, selbstverständlich nicht ohne Zusammenhang hinsichtlich der Verursachung, aber ohne organisatorische Verknüpfung. Dennoch – meint Weis (S. 21) – sei dem mit Teilen des Klerus und des Adels verbündeten Dritten Stand seine Revolution nur gelungen, weil es die beiden anderen Revolutionen gegeben habe, und es sei eines der spezifischen Merkmale der Französischen Revolution, daß in ihr, im Sommer 1789 und noch einmal 1792/93, die Bauern eine entscheidende Rolle spielten (S. 86). Außerdem macht er (S. 86 f.) darauf aufmerksam, erst die jüngere historische Forschung habe erkannt, daß eine „langfristige Ursache der Französischen Revolution“ die starke Zunahme der Bevölkerungszahl im 18. Jahrhundert ge­wesen sei, der in den frühen siebziger Jahren „nicht mehr durch die Ausweitung und Intensivierung des Ackerbaus und die Vermehrung der landwirtschaftlichen Produktion“ Rechnung getragen werden konnte. Im Zusammenhang des Themas Ursachen der Französischen Revolution zum Schluß einige Bemerkungen, die Weis (S. 97) über „Zwangsläufigkeit“ des Geschehens macht: „Beispielsweise hätten mehr Entschlossenheit, Weitblick und taktisches Geschick des Königs und seiner Minister sowie ein Ausbleiben der ungünstigen Natureinflüsse auf die Landwirtschaft in den Jahren 1787 bis 1790 möglicherweise zu einem anderen Ausgang führen können.“ Der zeitliche Zusammen-

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hang zwischen der Struktur- und Finanzkrise des Staates und seiner Eliten mit jener durch die Wetterlage verursachten wirtschaftlichen und sozialen Krise „muß als zufällig angesehen werden. Aber gerade dieses Zusammentreffen hat die Revolution herbeigeführt. Mit den Ereignissen des Sommers 1789 war indessen durchaus noch nicht der weitere Verlauf der Revolution bestimmt. Die revolutionäre Dekade von 1789 bis 1799 stellt keinen einheitlichen Block dar, sondern besteht aus wenigstens sechs verschiedenen Phasen, von denen nicht eine sich zwangsläufig so, wie geschehen, aus der vorher­gehenden entwickeln mußte: die konstitutionelle Monarchie; die von den Giron­ disten regierte Republik; die Diktatur Robespierres und des Wohlfahrtsausschusses, also die Zeit der Terreur; die Herrschaft der Thermidorianer; die Ära des Direktoriums sowie die Machtübernahme Bonapartes. Jedesmal war der Gang des Geschehens durch ein anderes Zusammenspiel geschichtlicher Umstände, Kräfte, Persönlichkeiten und Zufälle bestimmt“ (Weis, S. 97).

Die Französische Revolution hat das unter den Nachfolgegebilden des seinerseits spätestens sichtbar ab König Pippin d. J. schon zum Herrschaftssystem ver­ ystem kommenen Frankenreichs zur Zeit Ludwigs XIV. am stärksten pervertierte S beseitigt, aber nach dem raschen Scheitern der ersten Republik, wie schon aus der Aufzählung der sechs Phasen am Schluß des letzten Absatzes ersichtlich ist, ein auch nur zumindest demokratie-ähnliches System nicht gebracht, noch für lange Zeit nicht. Saint-Simon und Comte „betonen, daß die Revolution zwar die alte Ordnung zerstört, aber keine neue Ordnung begründet habe“ (Landshut, 1956, S. 411). b) Souveränität – Der Souverän und das Beamtentum Das Kapitel schließt inhaltlich an B.II.1.c) an. Wir kennen aus B.II.2.a)bb), daß die ersten Ansätze zur Umwandlung der Fürstentümer in Territorialstaaten zweifelsfrei noch ins Mittelalter zu datieren sind. Es ist dabei eine Ermessensfrage, ob man mit Ganshof (S. 437) sagen will, daß die Reichsfürstenordnung von 1180, mit der Kaiser Friedrich I. sich die Unterstützung der Fürsten gegen Heinrich den Löwen „hatte … erkaufen müssen“, ein „entscheidender Schritt … in Richtung auf die Umbildung … in einen Verband so gut wie souveräner Staaten“ gewesen ist, und (S. 464) in bezug auf das „Interregnum“ von den „fast souveränen deutschen Fürsten“ sprechen mag oder man erst den Augsburger Reichsabschied von 1555 gelten lassen will, weil die Fürsten damals das Recht erhielten, „die im Mittelalter Schritt für Schritt erworbenen Hoheitsrechte und ihre daraus additiv zusammengefügte Landeshoheit fortzuentwickeln zur i n n e r e n Souveränität der Neuzeit“ (Schilling, Aufbruch, S. 243; Sperrung von mir), oder ob man gar mit Eisenhardt (S. 6) die puristische Meßlatte der Staatsrechtslehren des 19. und 20. Jahrhunderts anlegt, für den „die deutschen Territorialstaaten bis zur Auflösung des Deutschen Reiches … 1806 unter der Oberhoheit des Reiches rechtlich eingebunden [blieben]. Die Territorialstaaten und Reichsstädte haben also bis … 1806 nicht das erworben, was man unter Souveränität versteht.“ Für jede dieser Datierungen, auch

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für die mit „1806“, und für noch andere mehr (etwa den Westfälischen Frieden von Osnabrück; siehe B.II.2.a)bb)), gibt es Argumente. Das lasse ich auf sich beruhen und sehe die zu den genannten besonderen Ereignissen gehörenden Daten als auffällige Markierungen in einer langen Entwicklung an. Weil nach dem 14. Jahrhundert die Idee vom Kaisertum als einem „überstaatlichen Sinnbild des christlichen Abendlandes“ verblaßte, sind als erste die mei­ sten der italienischen Staaten faktisch souverän geworden, heißt es bei Merzbacher (S. 400; Einzelheiten S. 413 f.). Gemeint ist, daß die Einordnung in das und die Unterordnung unter das Kaisertum de facto verlorengegangen waren. – Im deutschen Bereich haben sich, was wir ebenfalls aus B.II.2.a)bb)  kennen, die Territorien mehr und mehr zu neuzeitlichen Staaten entwickelt, die nicht nur nach oben, zum König und Kaiser hin, möglichst unabhängig sein, sondern auch innerhalb ihres Territoriums keine Sonderrechte mehr dulden wollten, keine Sonderrechte weltlicher Feudalherren und von Klerus, Städten oder gar dörflichen Hochgerichtsgemeinden. Während ich zu den anderen im folgenden Kapitel im Zusammenhang mit „Untertanenverband“ das Erforderliche bringe, gebe ich nur zu den letzt­ genannten in diesem Kapitel ein Beispiel. Die inwoner der Dorfgemeinde Ochtelfingen (inzwischen „Uchtelfangen“, im Saarland), einer Gemeinde aus der fränkischen Landnahmezeit, hatten erstaunlich lange, bis ins 16.  Jahrhundert, nicht nur das Recht des „Angriffs“ auf Missetäter, sondern auch die Hochgerichtsbarkeit.685 Das „Blutgericht“ wurde inzwischen „aber nicht mehr von der Gesamtgemeinde, sondern von einem aus ihr erwählten Schöffenstuhl gehalten“ (Schwingel, Beiträge, S. 98). Die Vertreter der in der Fußnote genannten Herrschaften haben dann mit den Leuten von Ochtelfingen verhandelt und sie durch Vertrag dazu gebracht, „von ihrem alten gebruch“ abzustehen, „und was zu herlicheit dienet, solle hinvorter den dryen hern … zu gepruchen zu stene“ (S. 96). „Den beiden großen Vertragsschließenden, Lothringen und Nassau-Saarbrücken, ging es um die herlicheit; für diese zu damaliger Zeit längst zu Flächenstaaten gewordenen Territorien war es unerträglich, in ihrem Bereiche eine Ausnahme zu dulden“, bilanziert Schwingel (S. 103), und auf die „Herrlichkeit“ kommt es hier an.686 Sie ist zwar noch nicht ausdrücklich souveraineté im Sinne von Bodin (zu ihm siehe den nächsten Absatz), aber schon nahe daran. Aus B.II.2.a)cc) wissen wir, daß auf Nationalstaats-Ebene zum ersten Mal in Frankreich, in der Regierungszeit Heinrichs  IV. (1589–1610), der „nur für sich selbst stehende souveräne Staat“ errichtet worden ist, im konkreten Fall, um das 685 Das Recht „daruber zu riechten, alle gebot und verbot im dorff und bannen daselbs, zu jagen, vischen und aller herlichheit zu gepruchen one einiche erkentnus den hern davon zu geben  …  .“ Die Gemeinde war damals ein Dreiherrendorf (Graf von Nassau-Saarbrücken, Herzog von Lothringen und ein lothringischer Lehnsmann) und hatte gemäß altem Recht immer „hochgericht und urtelstock … one zutun der herschaften in ihren selbstcosten machen lassen und ufrichten müssen“ (Schwingel, Beiträge, S. 95). 686 Mitteis (S. 60) sagt generell zum Thema: „seine [des Blutbannes] ungeschmälerte Handhabung war eine Prestigefrage ersten Ranges“.

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durch die Hugenottenkriege innerlich zerrüttete, finanziell ruinierte Land über die Konfessionen hinweg zu einen. Wortführer jener in B.II.2.a)cc) erwähnten Gruppe der sogenannten Politiques, die die anarchischen Verhältnisse im Gefolge der Hugenottenkriege durch entscheidende Stärkung des von kirchlichen Einflüssen und Einflüssen aller anderen Kräfte und Gruppen ganz freizuhaltenden Staates überwinden wollten, war der Staatstheoretiker und seit 1577 Kronanwalt in Laon, Jean Bodin (1529 oder 1530–1596). In seiner Schrift „Les six livres de la république“ postuliert er im Begriff souveraineté die absolute Herrschaftsbefugnis des Trägers dieser für unteilbar erklärten Souveränität. Das Wesen des Staates i s t für ihn Souveränität. Sie ist nicht an eine bestimmte Herrschaftsform gebunden, etwa an die Monarchie (die er allerdings bevorzugt), ist „weder zeitlich noch sachlich begrenzt  … und [kann] auch nicht entäußert werden  …  . Übertragungen von Hoheitsrechten nach Art des Mittelalters, als Städte … [und] ­Adlige selbständig öffentliche [tatsächlich: herrschaftliche, und so bald auch in den Städten] Funktionen wahrnahmen und – in Deutschland – königliche Rechte, die Regalien, an die Fürsten gelangten, waren nach diesem Konzept nicht möglich. Sehr wohl war es dagegen möglich, Gewalt [richtig: Befugnis] zu delegieren, etwa an die Beamten“ (Schilling, Aufbruch, S. 341 ff., hier S. 342; zu Bodin s. a. Ueberweg, 3. Teil, S. 158 f.).

Bevor ich zum Beamtentum in der Zeit der Umwandlung des mittelalterlichen Herrschaftssystems in den neuzeitlichen Staat komme, noch eine Bemerkung zu „souverän“ (belegt seit dem 17.  Jahrhundert) und „Souveränität“ (seit 1694; Grimm, Wb., Bd. 16, Sp. 1822), die bei uns Lehnwörter aus dem Französischen sind. Soweit nicht als Lehn- oder gar zunächst als Fremdwort aus dem Franzö­ sischen benutzt, ist Souveränität mit „Oberherrschaft“ oder „Oberherrlichkeit“ zu übersetzen versucht worden.687 Die französischen Begriffe souverain und souveraineté gehen auf lat. supra, „oben“ und „über“, zurück. (Im folgenden Kapitel brauche ich den „Souverän“ noch einmal zusammen mit seinem Gegenbegriff.) Das im Deutschen im Vergleich mit „Souveränität“ ältere, aber noch nicht wie die souveraineté des Bodin als absolute Herrschaftsbefugnis verstandene „Hoheit“ gibt es bereits mhd. als hôchheit, aber erst spät im Mittelalter, und zwar zur Bezeichnung einer Person mit hoher Würde, vor allem für den Herrscher, außerdem zur Bezeichnung der mit der hohen Stellung verbundenen Rechte, besonders der Regalien und der Hochgerichtsbarkeit (Grimm, Wb., Bd. 10, Sp. 1708 f.). Wir wissen aus B.II.2.a)bb), daß mit dem Aufblühen der Städte nach und nach an die Stelle der Naturalwirtschaft wieder Geldwirtschaft getreten ist. Die Territorialfürsten konnten nun (außer Söldnern als Krieger an Stelle der lehnspflichtigen Ritter) Leute als Beamte in ihren Dienst nehmen, ohne ihnen Lehen oder Rechte übertragen zu müssen, aus denen der Lebensunterhalt zu bestreiten war. Die Beamten wurden mit Geld bezahlt, worauf es kein Feudalverhältnis zwischen Herrscher und Dienstmann neuer Art mehr gab. 687 Bodins Verständnis von souveraineté war auf dem Kontinent verbreitet, das englische unterscheidet sich sehr davon.

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Bereits im Spätmittelalter haben die Territorialfürsten oft anstelle von Adligen gut ausgebildete Bürgerliche in ihren Dienst genommen, vor allem juristisch, und zwar im inzwischen rezipierten und an den Universitäten vor allem Italiens dominierend gewordenen (Spät-)Römischen Recht, gebildete, in den neuzeitlichen Staaten dann mehr und mehr Bürgerliche, und dabei nach und nach noch andere als Juristen. Die Beamten wurden – wie wir heute sagen – eingestellt und fest besoldet, sie konnten abgesetzt und entlassen werden. Es kam nicht auf die persönliche Bindung zwischen Lehensgeber und Lehensnehmer an, sondern auf die sachliche und sachkundige Verwaltung von Staatsangelegenheiten seitens solcher Leute, die ihre Tätigkeit im schon modernen Sinn berufsmäßig ausübten, Berufsbeamte waren. Die ganz frühen Formen davon haben wir im Italien betreffenden Kapitel B. II.2.a)aa) kennengelernt. In den deutschen Territorien gab es „früher und konsequenter als anderswo in Kontinentaleuropa die institutionelle Trennung zwischen militärischer und ziviler Sphäre.“ Mittelalterliche Herrschaft gründete im Aufgebot über das Heer des Fürsten. In den nachreformatorischen Territorien wurde ein neues „‚Jus civile‘ … für Kirchen und Eherecht, Steuerwirtschaft und Schul­wesen benötigt  …, [das aber] sprengte das alte Recht  …  . Militärwesen, Kirchenregiment, Landesverwaltung wurden voneinander geschieden“ (Wehler, Bd. I, S. 51). Für Frankreich ab Richelieu (bis zum Ende des Ancien Régime) kennen wir das ganz auf den König bezogene zentralistische und nach und nach vergleichsweise sehr effektive System der Intendanturen. In den absolutistisch und besonders in den aufgeklärt absolutistisch regierten Staaten sind Verwaltung und zugehörige Bürokratie dann immer mehr differenziert und damit natürlich vergrößert worden, mit ihnen die Zahl der Beamten – das zuletzt Genannte allerdings in Abhängigkeit von Intelligenz und Sparsamkeit der Herrscher bzw. von Mangel an Disziplin beim „Ämterverkauf“ (um immer noch einmal schnell an Geld zu gelangen). Ohne sonst auf die Entwicklung des Beamtentums im 19. und 20. Jahrhundert einzugehen, will ich zum Abschluß einen Sachverhalt nennen, der das deutsche Beamtentum noch mit dem Amtsverständnis der Zeit des Lehnswesens verbindet. Der Beamte wird nicht für geleistete Arbeit entlohnt, sondern für das, was von ihm an Dienst und Rat e r w a r t e t wird, weshalb die Gehaltszahlung immer noch, wie die ursprünglich Lehensvergabe, im v o r a u s erfolgt, jetzt zum Monatsanfang. (Aus dieser Sicht der Dinge kann es selbstverständlich ganz unmöglich ein Streikrecht der Beamten geben.)

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c) Monopolisierung von Gewalt – Staatsziel Was nun folgt, schließt sachlich und zeitlich an Kapitel  B.II.1.d)  an. Erst am Übergang zur Neuzeit, 1495, auf dem Reichstag zu Worms, kam es mit der Proklamation des „Ewigen Landfriedens“ für das ganze Reich zum absoluten Fehdeverbot, das „im Laufe der nächsten Jahrzehnte nach und nach [tatsächlich] beachtet“ worden ist (Rödel, S. 116). Das Königtum war aber, wie wir wissen, für die Absicherung der Einhaltung des Gebots zu schwach. Wollte man die gewalttätige Selbsthilfe, die jetzt illegal gewordene Fehde, tatsächlich zurückdrängen, war das nur „über eine Befriedung geschlossener Gebiete“ zu erreichen, „und dafür stellten die werdenden Territorien den gegebenen Rahmen dar“ (Boockmann, S. 310); gewalttätige Selbsthilfe zu unterbinden, erforderte die Begründung eines staatlichen „Gewaltmonopols“, und dies mit wirkungskräftiger Exekutive. Das aber begün­ stigte die ohnehin gegebenen Bestrebungen der deutschen Fürsten, ihre Territo­ rialhoheit zu verstärken. Das absolute Fehdeverbot hat die zuvor Fehdeberechtigten bei Verstößen gegen das Verbot zu Rechtsbrechern gemacht, die mittels staatlicher Gewalt zur „Räson“, dabei unter Umständen ums Leben gebracht werden konnten. Was aber diese „Räson“, mehr neutral formuliert Zweck oder Ziel, des Staates war, also das, um dessentwillen es den Staat gab, ist in der Zeit der Umbildung der mittelalterlichen Herrschaftssysteme zu Staaten sehr unterschiedlich beurteilt worden. Wir brauchen das nicht alles im einzelnen für alle italienischen Staaten und alle deutschen Territorien. Ich bringe nur einiges Charakteristische für die italienischen, deutschen und dann auch die französischen Verhältnisse. Ich erinnere daran (siehe Kapitel B.II.2.a)aa)), daß es in Italien Staaten in Gestalt von „Stadtstaaten“ (jeweils mit contado) schon ab um 1400 gegeben hat, die von Einzelpersönlichkeiten oder danach z. T. in Erbfolge von Gliedern herausragender Familien „als uneingeschränkt souveräne Fürsten“ (Diwald, S. 74) beherrscht wurden, also schon ab der Frührenaissance. Diese Fürsten, aber ebenso die Signoria in Venedig, beanspruchten das Gewaltmonopol. Ich bringe hier noch einmal eine Charakterisierung seitens Diwald (S. 304): Es lasse sich für die Staaten der Renaissance-Zeit in Italien „Absolutistisches nur tendenziell aufweisen, allerdings ausgeprägt“. Das ist von der Zeit und vom kulturellen Umfeld her doch sehr anders als im Fall der Ausbildung des Absolutismus in den Territorialstaaten im „Reich“. In Frankreich ist der „Hundertjährige Krieg“ gegen England erst 1453 zu Ende gegangen. Zum für die Renaissance in Italien Charakteristischen gehörte, daß „die Bewahrung der Herrschaft nicht Selbstzweck, sondern Fundament … einer Regierung war, die sich  … der Kunst, Gelehrsamkeit, Kultur  … verpflichtet fühlte und damit den wesentlichsten neuen Antrieb des Zeitalters realisierte“ (S.  77). „Eine solche Regierung [Diwald beschreibt das jetzt für Ferrara] kostete horrende Summen“, aber Niccolò  III. d’Este „hatte früher als andere Fürsten den funktionellen Zusammenhang zwischen dem

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allgemeinen Wohlstand und dem Steueraufkommen begriffen. … . ‚Meine Untertanen sollen reicher sein als die Untertanen anderer Herrscher.‘ Die Absicht war nicht altruistischkaritativ, sondern zweckbedingt-fiskalisch, und die Wirkung entsprach der Erwartung. Der Fürst senkte die Steuern, und prompt erhöhte sich die Ziffer der Gesamtabgaben“ (ebenda).

Es ging durchaus um Ruhm und Rang, wenn italienische Renaissance-Fürsten Künste und Wissenschaften förderten. Lionello d’Este, Nachfolger Niccolòs III., war hier nicht nur ein großer Mäzen, sondern galt selber als „einer der gelehrtesten Männer Italiens“. Er hielt „sich energisch aus den Händeln und Kämpfen der Staaten heraus“ (S. 78). Sein Bruder Borso, der ihm dann folgte, nannte Kriege eine „Geldverschwendung“. Er führte statt dessen ein luxuriöses Hofleben. Obwohl er, anders als Lionello, seinerseits zu Künsten und Wissenschaften keinen Zugang besaß, hat er sie sehr gefördert, weil im 15. Jahrhundert weltliche Herrschaft nur so für nobel und legitim galt. Weil er keine Kriege führte, florierten Handel und Gewerbe; die materiellen Grundlagen des ferraresischen Staates waren auch von Borsos „verschwenderischer Großzügigkeit“ nicht zu erschüttern. Der jetzt schon stärkere Steuerdruck war für die Ferraresen zu ertragen; außerdem galt Borso bei ihnen als gerecht, sie „verehr[t]en ihn“ (S. 79 f.). – Anders als die Este, die zu den ältesten Adelsgeschlechtern Italiens gehörten, waren die florentinischen Medici reiche Kaufleute und Bankiers und dann auch Grundbesitzer im florentinischen contado. 1421 hat Giovanni di Bicci de’ Medici, der reichste Bürger der Stadt, eine für die Verhältnisse von damals vergleichsweise radikale Steuerreform zu Lasten der großen Vermögen durchgesetzt, mit öffentlicher Kontrolle der Steuererklärungen. „Er setzte auch das erste große Zeichen für das weltgeschichtlich gewordene Mäzenatentum der Medici. Denn er war es, der Donatello förderte, der Filippo Brunelleschi dazu anspornte, die Kuppel des Doms [in Florenz] zu vollenden. Ein Jahrhundert lang hatte der Bau stillgelegen, niemand hatte sich an das letzte Stück gewagt, weil es noch keine Erfahrungen gab,  …  . Brunelleschi riskierte den Bau“ (S.  115 f.). Nachfolger in den Familienunternehmen und erster Mann im Staat wurde Cosimo de’  Medici, wie der Vater mit großer Neigung zu den Künsten begabt, belesen im Griechischen, Lateinischen und Arabischen. Giovanni di Bicci hatte seinem Sohn Cosimo Ratschläge hinterlassen, darunter auch: „‚Wirket dahin, das Volk in Frieden und die Stadt wohlversorgt zu erhalten.‘ Cosimo hat sich daran gehalten“ (S. 117), auch an die alte Regel, „daß Ruhm und Glanz einer Stadt, eines Landes, einer ganzen Epoche vom Stand der Wissenschaften und von der Förderung der Künste abhingen. Cosimo de’ Medici hat diesem Prinzip oberste Richtwerte gegeben“ (S. 118, dort auch Einzelheiten). Vom Enkel Cosimos, Lorenzo I., der den Stadtstaat ab 1469 geleitet hat, schrieb Machiavelli, dieser Medici „sei der größte Schirmherr der schönen Künste gewesen, den es je gegeben habe“. Das betraf konkret vor allem die Dichtung, dann die Architektur und die Malerei, und Lorenzo hat selber musiziert. „… im eigenen Haushalt … mehr als genügsam“, feierte er immer wieder große Feste mit verschwenderischem Aufwand,

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aber „keine Familienbankette, keine Feiern in ausgewähltem Freundeskreis, sondern öffentliche Festlichkeiten, an denen sich ganz Florenz beteiligte: Turniere, Fackelzüge, Maskenfeste, Feuerwerke, Umzüge, Konzerte und Tanzvergnügungen.“ Das war zwar auch „Selbstdarstellung“, aber nicht vor allen, sondern mit allen. „Standesunterschiede“ hat er „ignoriert“ (S. 123). Guicciardini (1483–1540), Jurist und Diplomat im floren­tinischen Dienst und Historiker, Verfasser der ersten Geschichte ganz Italiens („Storia d’ Italia“, 1537–1540), schrieb über das Florenz Lorenzos: „‚Die Stadt genoß den vollkommenen Frieden. Die führenden Bürger waren einig und hielten fest zusammen, und ihre Regierung war so mächtig, daß niemand ihr zu widersprechen wagte. Tag für Tag ergötzte sich das Volk an Schauspielen, Festen und Neuigkeiten. Florenz war im Überfluß mit Lebensmitteln versehen, und alle Gewerbe standen in Blüte. Die Männer von Geist und Talent fanden ehrenvolle Aufnahme und die Möglichkeit, alle Wissenschaften, Künste, alle Begabungen zu pflegen. Im Inneren der Stadt herrschte allgemein Ruhe und Eintracht; nach außen stand sie in höchstem Ansehen, weil sie eine Regierung und ein Oberhaupt von größter Autorität besaß, … [die mit ihren Friedensbemühungen] gewissermaßen ganz Italien im Gleichgewicht hielt‘“ (S. 131),

und Diwald fügt hinzu, dieses Urteil habe Gewicht, „da Guicciardini den Medici gegenüber höchst reserviert war“.688 Hinsichtlich der deutschen Territorien schließe ich an das in Kapitel B.II.1.d) Gesagte an. In den protestantischen deutschen Fürstentümern des 16. und 17. Jahrhunderts waren in der Regel die Fürsten jeweils sowohl weltlicher Landesherr als auch Oberhaupt der Landeskirche. Sie bildeten so die Spitze der „geistlich-weltlichen Doppelordnung der um Wohlfahrt, gutes Regiment und Religion besorgten ‚christlichen Politien‘“689 (Hans Maier, Die Lehre, S. 87). Um „gutes Regiment“ heißt um „gute Ordnung“ besorgt sein, um die „Religion“ heißt um die rechte Verkündigung und den rechten Glauben, der zur Vergebung der Sünden und zum Seelenheil führt. Um „Wohlfahrt“ besorgt sein, muß näher betrachtet werden. Zuvor aber noch eine Bemerkung über etwas, das nicht mehr genannt wird. Wir kennen aus B.II.1.d)  als Aufgabe des mittelalterlichen Gemeinwesens, mittelalterlicher Herrschaft: die Rechtswahrung, d. h. hier die Bewahrung des alten herkömmlichen Rechts, der alten Ordnung  – „altherkömmliche Ordnung“ verknüpft mit „von Gott gegebener Ordnung“. Von der Wahrung des altherkömmlichen Rechts ist konsequenterweise jetzt nicht mehr die Rede;690 denn den nach Territorialherrschaft strebenden Landesherren lag ja schon länger daran, autonome Rechte, die in der alten Rechtsordnung gründeten, einem möglichst einheitlichen Recht im

688 Zu Cosimo und Lorenzo de’  Medici in anderen Zusammenhängen siehe B.II.2.a)aa), ziemlich nahe beim Anfang des Kapitels. 689 Zu „Politie“ s. a. Fußn. 6 in Kap. A. I. 690 „Die Beförderung ‚gemeiner Wohlfahrt‘  – zum ersten und obersten Staatszweck ge­ worden – drängt Recht und Friede im älteren Sinne immer mehr zurück“ (Hans Maier, Die ältere, S. 73).

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Territorialstaat aber entgegenstanden, zumindest zurückzudrängen, möglichst zu beseitigen. „Wohlfahrt“691 ist seit 1501 als wolvart im Sinne von „gutes Ergehen“ belegt, es kommt aus mhd. wol varn, „glücklich leben“; „wohl“ (Adv. zum Adj. „gut“) finden wir entsprechend in allen germ. Sprachen; es kommt aus idg. *u̯ elo-, etwa i. S. v. „Wunsch, Begehr“; im Zusammenhang damit steht auch „wollen“. „Wohlfahrt“ hat etwa den gleichen Sinn wie „Gemeinwohl“,692 dieses anfangs in der Form das gemeine wohl, im 18. Jahrhundert aufgekommen und dem engl. common weal, common-wealth nachgebildet, anstelle des im Deutschen älteren Ausdrucks das gemeine gut (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 3272), das für das 15. Jahr­ hundert belegt ist (Bd. 5, Sp. 3177, dort 3, b, γ). Von dem in Deutschland als erstem (früh-)absolutistisch regierenden Territorialfürsten, dem bayerischen Herzog Maximilian I. (1573–1651), sagt Zeeden (S. 231): „Heil, Sicherheit und Wohlfahrt693 der Untertanen galten diesem bedeutenden 691 Zum jetzt oben unmittelbar Folgenden siehe Kluge/Götze, 16.  Aufl., S.  884, u. Kluge, 23. Aufl., S. 896 (wohl/Wohl/Wohlfahrt) u. Grimm, Wb., Bd. 30 (Wohlfahren, Wohlfahrt). 692 In einer Gesprächssituation mit Partnern aus Staaten mit anderen historischen Erfahrungen hat Hans Maier verglichen und als Ergebnis genannt: „Man kann [statt Gemeinwohl] genausogut Staatsräson oder Nationalinteresse sagen. Gemeinwohl ist für uns ein gleichsam aus unserer territorialstaatlichen Vergangenheit erwachsener Begriff. Es ist bezeichnend, daß die Franzosen und Italiener diesen [ihren] Begriff [Staatsräson oder Nationalinteresse] mehr von der Außenstellung des Staates her konzipieren, während wir dabei mehr von unserer innerstaatlichen, sozialstaatlichen Überlieferung ausgehen“ (Körber-Stiftung, Bergedorfer Gesprächskreis, Protokoll Nr. 80, 1986, S. 55). 693 Hans Maier zeigt im zweiten Teil  von „Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre“, wo er die „Polizeiliteratur und Polizeiwissenschaft bis zum Ende des 18.  Jahrhunderts“ darstellt, im Kapitel „Beginn wissenschaftlicher Systematisierung“ des Polizei-Begriffs (S. 157–162), daß die „älteste Polizeilehre … noch nicht von einem verselbständigten Wohlfahrtszweck aus[geht], sondern im mittelalterlichen Sinn von ‚Recht und Frieden‘  … [und daß die] Wohlfahrt … für sie nur das Ergebnis der vom Herrscher geübten Gerechtigkeit und des sich aus ihr ergebenden Ordnungs- und Ruhe-(Friedens-)Zustands“ ist (S. 157), dann, wie in der Polizeilehre von Oldendorp über Osse und Seckendorff, Luther, Grotius, Pufendorf, Thomasius bis Christian Wolff die Einheit von Recht und Wohlfahrt nach und nach aufgelöst wurde, daß die protestantische Staatslehre den „Polizeigedanken“ nicht „mit eigenem positivem Gehalt zu erfüllen“ vermochte. „Hier sprang die an den Universitäten seit dem Mittelalter gepflegte, von Melanchthon reaktivierte aristotelische Sozialphilo­sophie ein.“ (S. 161) (Warum der Humanist und Geschichtsprofessor der Universität Wittenberg Philipp Melanchthon, 1497–1560, zwar anfangs mit Bedenken, dann aber doch „Ethik“ und „Politik“ des Aristoteles – selbstverständlich unmittelbar aus dem Griechischen und sowieso nicht über Thomas von Aquin – „noch einmal für fast zwei Jahrhunderte“ in die protestantischen Schulen und Universitäten gebracht hat, beschreibt Hans Maier, Die Lehre, S. 78 f. und S.  86 f.) Es geht um die oft in der frühen Polizeiliteratur vorkommende „Berufung  … auf das ‚Glück‘ der Bürger.“ Diese Berufung „verwies in jener Zeit in einer für jeden Gebildeten unmißverständlichen Weise auf die aristotelische Sozialphilosophie zurück, genauer auf jenen Teil  der Ethik, der im Unterricht als ‚Eudämonologie‘ bezeichnet wurde“ (Die­ ältere, S. 162).

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Landesherrn unverrückbar als Regierungszweck“. Den Begriff Heil kennen wir als sozusagen Ziel der Aktivitäten der Anführer germanischer Gemeinwesen für diese, wir dürfen aber davon ausgehen, daß jetzt Seelenheil im christlichen Sinn gemeint war, hier von der katholischen Konfession her verstanden. Den Unter­ tanen „Sicherheit“ zu geben bzw. wiederzubringen, war angesichts der Schrecken und des Terrors im Dreißigjährigen Krieg in Deutschland besonders akut (siehe dazu auch Hans Maier, Die ältere, S. 159). Von „Rechtsbewahrung“ ist natürlich auch beim Bayernherzog nicht mehr die Rede; denn der absolutistisch regierende Fürst verstand sich als die Quelle des Rechts in irdischen Dingen, und was an anderen alten Rechtsquellen und -institutionen noch vorhanden war, im Bereich der Landstände (oder entsprechend), ist im Absolutismus unterdrückt worden. Die „Wohlfahrt“ der Untertanen zu besorgen, war also den Fürsten beider Konfessio­ nen auferlegt. Das heißt, es gab, abgesehen vom Konfessionellen, keine wesentlichen Unterschiede. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben die Enzyklopädisten (zu diesen siehe am Ende von B.II.2.a)cc)), die zwar sehr wohl an der in Frankreich überkommenen ständischen Ordnung festhielten, von denen, die in den oberen Rängen waren, aber gefordert, selber echte Dienstleistungen für das Gemeinwesen zu erbringen. In Preußen hat Friedrich der Große – gegen Machiavell694 – seine, des Königs Aufgabe so verstanden: „erster Diener“ seiner Völker zu sein. (Konkretes dazu, auch zu dem, was nicht gelungen ist, in B.II.2.a)bb), dort, wo es um den „aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen geht.) Staatsziele im Frankreich Richelieus (für Ludwig XIII.) und Ludwigs XIV. waren: „Einheit des Staates“, Ruhm, Größe und Hegemonie, „was es auch kosten mochte“. Zum Schluß noch ein Blick auf die kommunale Ebene im deutschen Reich. Hier gewannen die kommunalen Behörden schon im Lauf des Mittelalters das Gewaltmonopol. Wer innerhalb der Stadt oder nach außen eine Fehde austragen wollte, mußte die Stadt verlassen und wurde zur Hauszerstörung verurteilt. Über die „Aufgaben … des Stadtregiments“ schon im Spätmittelalter – die Städte waren in ihrer Entwicklung, wie ersichtlich wird, auch hier der der Territorialstaaten voraus – bringt Isenmann (S. 146) eine für unseren Zweck sehr gut geeignete Zusammenfassung. Zentralbegriff ist der Rechtsfriede. „Der Friede sichert dem Verband seine Einheit (unio) und die Eintracht (concordia) unter den Verbandsangehörigen. Er ist Voraussetzung für eine gottgefällige Lebensführung und das Seelenheil, für das geistliche und materielle Wohlergehen von Bürgern und Stadt, für

694 Machiavellis „Il Principe“ ist oft mißdeutet worden. Ich verweise auf Kap. B. V.3.b) im Annex „… Legitimitätsprinzipien“. Der autokratisch Herrschende, den Machiavelli dort beschreibt, sollte solche Herrschaft keineswegs um ihrer selbst willen erringen und behaupten. Machiavelli war der Ansicht, nach Lage der Dinge könne es nur einem solchen Fürsten ge­ lingen, die größte Aufgabe jener Zeit in Italien zu bewältigen: die Einigung Italiens.

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den ‚gemeinen Nutzen (bonum commune, utilitas publica)‘695 und die ‚Notdurft‘ der Stadt. Das Gemeinwohl wird weitgehend mit dem zentralen Wert des Rechtsfriedens und seinen sozialen Segnungen identifiziert. … . Erst später fanden die Humanisten für diesen Gestaltungsbereich den Ausdruck ‚gute Polizei‘ (politeia), der vornehmlich dem Territorialstaat zugeordnet wird, aber schon im 15. Jahrhundert in den städtischen Sprachgebrauch als ‚Regierung und Polizei‘, d. h. gute Ordnung, Eingang gefunden hat.“

d) Die Glieder der Gemeinwesen Herkömmlich gab es im Territorium eines Fürsten diejenigen Bewohner, deren Grundherr der Fürst war, außerdem solche Bewohner, die innerhalb des fürstlichen Territoriums einen anderen Grundherrn hatten und dem Fürsten nur insofern untertan waren, als sie zum einen von seinen Regalien, zum anderen von seiner Gerichtsbarkeit betroffen waren. Die Fürsten waren bemüht, „auf einen allgemeinen Untertanenverband hinzusteuern“, also jene Unterschiede aufzuheben (Boockmann, S.  310). Außer neu oder einigermaßen neu auftretenden und zu regelnden Sachverhalten eigneten sich dafür auch solche, die zwar alles andere als neu, aber besonders dringlich waren und immer noch nicht hatten geregelt werden können. Das galt für den Landfrieden, den für das ganze Reich dauerhaft zu begründen in der Stauferzeit mißlungen, der aber inzwischen, 1495, erneut, als „­Ewiger Landfrieden“, proklamiert und, wovon am Anfang von B.II.2.c)  die Rede war, in den folgenden Jahrzehnten auch durchgesetzt worden ist. „Der Adlige, der [nun] nicht mehr in der Lage war, eigene Ansprüche gewaltsam durchzusetzen, sondern sich statt dessen an ein Landfriedensgericht wenden mußte, das der Sache nach ein Gericht des Landesfürsten war, hatte sich aus einem Inhaber autonomer Herrschaftsrechte, der dem Landesfürsten prinzipiell gleich [gewesen] war, beinahe schon in einen [nur noch, wenn auch] privilegierten Untertanen dieses Fürsten verwandelt“ (S. 310 f.).696

Es gilt aber generell, daß die Feudalherren mit der Herausbildung von Staatlichkeit nach und nach ihre Herrschaftsrechte verloren haben, „entweder durch eine Reduzierung der Privilegien auf den Sozialstatus oder durch immer straffere Bindung an die Krone“ (Diwald, S. 269), sei es die Krone königlicher Monarchen, wie in Frankreich (oder Spanien), sei es die Krone deutscher Territorialfürsten. Die deutschen Territorialfürsten steuerten jedenfalls auf die Bildung eines möglichst

695 Auf Blickles Überlegungen zum Verständnis von „Gemeinnutz“ im kommunalen Bereich im 14. Jh., jedenfalls eines anderen Verständnisses als das ursprünglich auf Aristoteles fußende (Blickle, 1991, S. 16 ff.), und im „Republikanismus“ vom 14.–16. Jh. (Blickle, 1986, S. 546–555) will ich nur verweisen. 696 Boockmann schildert im dort folgenden Absatz als Beispiel, wie der Landgraf von Thüringen einem Grafen von Orlamünde-Weimar deutlich gemacht habe, daß auch dieser sich dem nun entstehenden Untertanenverband einfügen müsse.

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einheitlichen697 Untertanenverbandes hin, der außer den Landsassen die Einwohner der Städte umfassen sollte.698 Ich habe eben mehrfach das Wort Untertan benutzt. Wir schauen uns jetzt an, ab wann es belegt ist, in welcher Bedeutung und wie diese sich verändert hat: Das Wort ist adjektiviertes part. praet. (daraus dann das Substantiv) von „untertun“. Ahd. úntartān, mhd. úndertān, in den Bedeutungen „unterjocht“, „unter­ worfen“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 824), hat noch nicht die pseudopolitische Bedeutung von „Untertan einer Obrigkeit“, die es im modernen Wortsinn ab der Neuzeit gab. Das neuzeitliche Wortverständnis ist, wie ich auch am Beispiel zeigen werde, im Spätmittelalter zwar schon sozusagen angelegt, aber noch nicht gegeben. In Grimm, Wb., Bd. 24, Sp. 1861 f., finden wir einige Wortverwendungen von „under­tân“ bereits im Mittelalter, so im Nibelungenlied,699 dann „im sinne des mittelalterlichen frauendienstes“ (des Ritters gegenüber seiner edlen Dame). In der Nürnberger Polizeiordnung700 des Spätmittelalters (13.–15. Jh.) heißt es: Wenn der Stadt Not es erforderlich mache, solle jedermann dem Befehl des Meisters des­ jenigen Stadtviertels, in dem er wohne, „undertan sein“ (gehorchen). Das ist immer noch nicht „Untertänigkeit“ unter eine Obrigkeit, läßt sich einer solchen aber später annähern. Das Substantiv „Untertanen“ haben wir für das Mittelalter ebenfalls aus dem Nibelungenlied und von Gottfried von Straßburg, im Sinne von „untergebene[n] des küchenmeisters“ bzw. eines „jägermeisters“ (Bd. 24, Sp. 1865). Mit Beginn der Neuzeit gewann die pseudopolitische Wortbedeutung „Untertanen einer Obrigkeit“ aber immer mehr Gewicht, wie es die Belege bei Grimm zeigen. Die Veränderung der mittelalterlichen Systeme zu Staaten souveräner Herrscher

697 Duchhardt (S. 168) berichtet, die neue Absolutismusforschung zeige, daß in vielen Fällen in der Praxis „der Absolutismus weit von jenem Grad an Homogenisierung und Nivellierung des Untertanenverbandes … entfernt [blieb], den seine Theorie forderte“, übrigens gerade „in den bevölkerungsreichsten Monarchien – außer in Frankreich z. B. in Österreich und Spanien“. 698 Schilling (Aufbruch, S. 343 f.) zeigt es am Beispiel der „regional bedeutenden Landstadt Lemgo“, die sich heftig „gegen – wie sie es verstand – Übergriffe der Landesregierung in innerstädtische Angelegenheiten“ zur Wehr setzte und in jedem konkreten Fall ihr Privilegium aus älterer Zeit als Beweis sozusagen auf den Tisch legte, und Schilling bringt Einzelheiten; die Landesherren zeigten sich aber zu Ende des 16. Jahrhunderts nicht mehr bereit, „mit ihren Untertanen über einzelne Rechte zu verhandeln oder gar … mit ihnen Verträge zu schließen [wie in jenem in B.II.2.b) genannten Fall von Ochtelfingen]. Die juristisch gebildeten Beamten hatten den Fürsten klargemacht, daß nach dem neuen Staatskonzept Landesherren und Unter­ tanen  … keine gleichberechtigten Verhandlungspartner sein konnten.  …  . Bereits wenige Jahre nach ihrem Erscheinen gehörten [Bodins] ‚Six livres de la république‘ … zum fe­sten Bestand auch kleinerer Fürstenbibliotheken.“ 699 „daʒ guote ros … dô wart im undertân“ (d. h. es wurde ihm vorgeführt, daß er sich darauf setzen konnte, und ihm geschenkt). 700 Polizeiordnung heißt hier (gute) Ordnung des Gemeinwesens (policey ist Eindeutschung von mlat. politia, dieses aus gr. politeía; zur Geschichte des Begriffs Polizei s. Hans Maier, Die ältere, S. 92–151, hier v. a. S. 96 u. S. 105). Erst ab etwa 1800 gewinnt „Polizei“ die uns jetzt geläufige Bedeutung (Kluge, 23. Aufl., S. 639, und Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 574).

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machte die Glieder des Gemeinwesens zu nur noch Untertanen. Das spiegelt sich, wie zu erwarten, auch in der Theorie wider.701 – In vielen Städten verstand sich der Rat sogar schon im 15. Jahrhundert als Obrigkeit,702 so in Ulm „als ‚Obrigkeit‘, die ‚ir vnderthon vnd den gemeinen manne in aller erberkait vnd billichkait zu regieren‘ habe“ (Isenmann, S. 131). „Obrigkeit“ und „Untertanen“, das finden wir wie im Deutschen auch im Italienischen und im Französischen. Die entsprechenden italienischen und franzö­ sischen Bezeichnungen gehen zurück auf einerseits lat. suprā = „oben“ und „über“, andererseits lat. sub  = „unten“, „unter“. Im Italienischen haben wir dann einerseits sovrano (als Adj.) = „souverän“ (hier etwa im gleichen Sinne wie italienisch superiore) und (als Subst.) „der Souverän“, andererseits sùddito703 und soggetto,703 „Untertan“; im Französischen einerseits souverain (als Adj. und als Subst.) mit den gleichen Bedeutungen wie im Italienischen, andererseits sujet; „Souverain“ seit Bodin jedoch als absoluter Herrscher. Die im Mittelalter ehrenvolle Bezeichnung „Bürger“ hat später an Ansehen verloren. Als Freie waren im Mittelalter die in den Städten wohnenden Bürger zur Verteidigung der Stadt verpflichtet. Je nach Vermögen gab es unterschiedliche Auflagen, Bewaffnung bereitzuhalten und im Ernstfall mitzubringen. (Das stammt aus germanischer Tradition, was wir für die Zeit des Tacitus und für die des fränkischen Reichs mit Details kennengelernt haben.) Neben reichen Bürgern, die beritten und besser bewaffnet zu sein hatten, gab es unter den Handwerkern solche, die wegen ihrer geringeren Einkünfte nicht einmal eine Armbrust, son 701 Hans Maier (Die ältere) zeigt in dem bei uns in Kap. B.II.2.c) in Fußn. 693 genannten Überblick über den Wandel in der Theorie über „Polizei“ (von Beginn der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jh.), d. h. für uns, den Wandel von der noch „Herrscher und Volk umgreifenden Rechts- und Pflichtenordnung“ bis zur großen Distanz zwischen einerseits „der prinzipiell allzuständigen und allsorgenden Obrigkeit“ und andererseits dem „Untertan [, der jetzt] in [angeblich noch] politicis et cameralibus ebenso prinzipiell als rechtsunmündig angesehen“ wurde. „Die lutherische Lehre von der Obrigkeit, vom Fürsten als Amtmann Gottes und von der absoluten Gehorsamspflicht der Untertanen in weltlichen Dingen hat auf die Bildung des Polizeibegriffs eine unübersehbare … Wirkung geübt“ (S. 159). – „Wenn gleichwohl auch jetzt noch der Fürst, wie es die lutherische Pflichtenlehre nahelegte, unermüdlich für das Wohl der Untertanen tätig war, so wurzelte dieses Tun doch nicht mehr in einer wechselseitigen Rechts- und Pflichtenordnung; es war die Erfüllung einer einseitigen Sorgepflicht der Obrigkeit, der eine ebenso einseitige Gehorsamspflicht der Untertanen entsprach.“ (S. 160). Bei Thomasius schließlich „gewinnt … die einem pessimistischen Menschenbild korrespondierende Erziehungspflicht der Obrigkeit die Oberhand“; dem Untertanen ist keine „selbständige Gerechtigkeitsverwirklichung“ mehr möglich, „hier wird Polizei zur vernünftigen Pflicht des Monarchen gegenüber einem unaufgeklärten, beschränkten und verderbten ‚Untertanen­ verstand‘“ (S. 161). 702 Belegt seit dem 14. Jh., also seit dem Spätmittelalter, anfangs in der Form „Oberkeit“, dies (abstrakt) als „Höherstehen, Herrschaft“, in der Neuzeit dann konkret, im oben bezeichneten Sinn (s. Kluge, 23. Aufl., S. 596). 703 Lat. zum einen subditum von subdō, zum anderen subiectum von subiciō, beides „unterwerfen“.

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dern nur einen Spieß haben mußten (Isenmann, S. 247). Weil es mehr oder weniger freundlich gesinnte Spötter oder gar Hochnäsige gibt, war „Spießbürger“ bald auch eine spöttische Bezeichnung. Das Wort, norddeutscher Herkunft, wohl studentischen Ursprungs und erstmals 1640 belegt (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 742; Kluge, 23. Aufl., S. 779; beide mit verschiedenen Einzelheiten), wurde schließlich zur spöttischen Benennung des kleinlich denkenden, „engstirnigen“ Menschen verwendet und diente dann generell der Schelte auf die Bürger. In Reichs-Italien sind aus germanischer (langobardischer, fränkischer), dann deutscher Tradition Begriffe erhalten geblieben, die in den Zusammenhang von „Bürger“ gehören. Borghese ist im Italienischen der „Bürger“, borghesia das „Bürgertum“. Beide Begriffe waren auch hier zunächst positiv besetzt, haben dann aber ebenfalls den negativen Sinn von „Spießbürger“ und „Spießbürgertum“ gewonnen, später nach der anderen Seite hin aber alta borghesia die Bedeutung von „gehobener Mittelstand“. – Einige einschlägige italienische Bezeichnungen weichen von dem ab, was wir bisher in diesem Absatz kennengelernt haben. So ist borgo, im Unterschied zu città, „Dorf“ und „Vorort v o r der Stadt“, borghigiano „Dorfbewohner“ bzw. „Bewohner eines Vororts“. Hier ist insofern noch ein Rest des Grundverständnisses von burg erhalten geblieben, als diese von Hause aus ja gerade nicht „Stadt“ gewesen war – falls es hier nicht andere Feinheiten gibt, die ich aber nicht kenne. Hierher gehörende Begriffe aus dem Französischen stammen vor allem aus Gegenden, die von Hause aus zum Reich gehört hatten, später aber unter franzö­sische Herrschaft geraten sind. Bourgeois im Französischen nennt zunächst den Bürger einer Stadt und hat in diesem Verständnis etwa die gleiche Bedeutung wie im Mittelalter bei uns „Bürger“. Bourgeoisie, ab dem 13. Jh. belegt, bezeichnete im Mittelalter, ebenso wie bei uns „die Bürger“, den Stand zwischen Adel und Bauern. Bourgeoisie und bourgeois gewannen im 18. Jh. jedoch eine negative Be­deutung, bourgeois im Sinne von „Spießbürger“. Die Revolutionäre postulierten statt seiner den citoyen als Leitbild des aktiven Glieds des unitarischen Gemeinwesens Frankreich. Da sowohl das hinter bourgeois stehende „Bürger“ als auch das hinter citoyen stehende civis Bezeichnung für das Glied des politischen Gemeinwesens ist, ist die Hochschätzung des citoyen und ist die Geringschätzung des bourgeois seitens der Revolutionäre und der dahinter stehenden theoretischen Überlegungen willkürlich. In Italien wurde aus civitas die città  – was wir wiederum gewöhnlich mit „Stadt“ übersetzen. In ihr wohnen die cittadini, in unseren Übersetzungen „Städter“ oder „Bürger“. Im Italienischen gibt es außerdem enger an das lat. civis angeschlossene Begriffe: civico = städtisch; civile = „städtisch, bürgerlich, zivilisiert, gesittet“, im Unterschied zu bäuerlicher Plumpheit, so im und ab dem mittelalterlichen Verständnis der Sache. Im Französischen wurde aus lat. civitas die cité, mit den citoyens als ihren Bewohnern, den „Städtern“, den „Bürgern“ – wie auch hier unsere Übersetzungen

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lauten. Entsprechend dem ital. civile gibt es civil mit den gleichen Bedeutungen wie dort. Ab der Französischen Revolution ist (siehe oben) citoyen jeweils über die Stadt hinaus auf ganz Frankreich bezogen worden. Zwei Monate nach Beginn der Französischen Revolution, im September 1789, schreibt Christoph Martin Wieland „Staatsbürger“ für citoyen (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 751), dann auch Kant (Grimm, Wb., Bd. 17, Sp. 293). – „Bürger“ und „Staat“ passen natürlich ihrem Wesen gemäß nicht zusammen, geraten aber in den Ideologie-Mix und das Begriffsdurcheinander ab Ende des 18. Jahrhunderts. In diesen Zusammenhang gehört noch das Diktum „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ in einem obrigkeitlichen Aufruf an die Bevölkerung Preußens während der revolutionären Bewegung der Mitte des 19. Jh. Von Hause aus waren die Pflichten und Rechte und damit die Charakteristika der burgāri, als Freie, doch gerade Mitsprache, Mitbestimmung, Mitwirkung gewesen. Wenn jetzt zwar noch „Bürger“ gesagt wurde, war in Wirklichkeit nur mehr „Untertan“ gemeint.704 e) Die Struktur der Örter im frühneuzeitlichen System Kanzlei und Kammer gab es wie im mittelalterlichen705 Herrschaftssystem auch noch im frühneuzeitlichen Staat, der aber „nicht mehr in der Zweiheit von ‚Land und Herrschaft‘ wurzelte, sondern einseitig in der fürstlichen Kanzlei und Kammer seinen Ursprung nahm“ (Maier, Die ältere, S. 130). Das mittelalterliche Lehensverhältnis zwischen dem König und den Großen des Reiches hatte diese zu Rat und Hilfe verpflichtet, wenn jener Rat und Hilfe brauchte. Mit der Heraus­ bildung von Territorialherrschaft im deutschen Bereich waren die Interessen von König und Territorialfürsten – wie wir wissen – in wesentlichen Punkten oft nicht nur verschieden, sondern gegenläufig. Vom Lehensverhältnis war nur noch wenig übrig. Rat holte sich der König bei wenigen Ratgebern, die er in der Regel selber benannte, und das, was beraten wurde, war geheim.

704 Die Forderung, die Untertanen hätten Ruhe zu halten, ist aber älter als aus dem Preußen der Mitte des 19. Jh., „Ludwig XIV. hatte die Regierungsgeschäfte gerade erst in die Hand genommen [1661], als es infolge der Hungersnot, unter der Nordfrankreich litt, zu Aufruhr … kam“ (Mandrou, S. 43). Der Autor berichtet anschließend über noch andere Belastungen bzw. über die Unterdrückung der Bauern seitens der Grundherren sowie über die Unruhen in der Bretagne als Folge. Aber in der ganz auf gloire und Hegemonie ausgerichteten absolutistischen Monarchie dieses Königs waren Neuerungen nicht zu erreichen. „Gegen den ‚gemeinen Pöbel‘ [frz. le bas peuple, le vulgaire] gab es nichts anderes als Gewalt und brutale Unter­ drückung. … Hauptanliegen der Regierung auf dem Feld der Sozialordnung [war]: Was Unruhe stiften konnte, war zu beseitigen.“ 705 Zu den von Ludwig IX. im 13. Jh. geschaffenen zentralen französischen Behörden (z. T. mit anderem Namen, z. T. mit entsprechenden Namen wie bei uns, aber anderer Bedeutung) s. Myers, S. 576.

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Seit dem 14./15.  Jahrhundert ist das Substantiv geheimer 706 belegt: „des künigs geheimer“; später „trat es [das Substantiv] ins wirkliche adj[ektiv] über, womit denn die ergänzung von rat, in gedanken und ausgesprochen, sich an die hand gab“ (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 2366). „Geheim“ als Adjektiv ist erst im 15.  Jahrhundert (spät-mhd.) belegt, zunächst, ebenso wie das ahd. hẹimilīch im Sinne von „zum Haus gehörig“. Mhd. heim(e)lich geht von „einheimisch“ zu „vertraut“ über und bedeutet im 12. Jahrhundert bereits „(Fremden) verborgen“. Das spät-mhd. geheim geht, ebenfalls über jenes „vertraut“, in die heute geläufige Bedeutung von „geheim“ über.707 In den deutschen Territorialstaaten haben die Fürsten, wie wir wissen, den Einfluß der Stände in Finanzsachen und hinsichtlich der Mitsprache in anderen, jetzt Staatsangelegenheiten zurückgedrängt. Auch und gerade in den Territorien hat sich damit die Art der Beratung geändert. Während früher „der deutsche Landesherr mit einer einzigen kollegialen Behörde am Hof [regiert hatte]: dem Rat“ (Zeeden, S. 230), ist nun aus diesem der Geheime Rat für die auswärtigen Angelegenheiten ausgegliedert worden. Das Tempo der Entwicklung war verschieden, und manchmal variieren708 auch die Bezeichnungen. Für die habsburgischen Erblande entstand 1527 als zentrale Hofbehörde der Geheime Rat, in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts auch im Herzogtum Bayern. „Maximilian machte den Geheimen Rat zum wichtigsten Instrument landesherrlicher Entscheidung und Planung.“ Er berief „überwiegend bürgerliche, juristisch ausgebildete Räte, mit denen er die ‚arcana‘ der bayerischen Politik [selbstverständlich nicht mehr der ‚Politik‘, sondern inzwischen der bayerischen herrschaftlichen, und zwar jetzt staatlichen Angelegenheiten] auf der Grundlage der regelmäßig angeforderten Berichte der zentralen Fachbehörden beriet. Die Entscheidung fällte aber der Landesherr selbst, der später dazu überging, anstelle der Beratung durch das Kollegium jeweils nur diejenigen Geheimen Räte anzuhören, die im konkreten Fall kompetent waren“ (Schilling, Aufbruch, S. 323).

706 Entsprechend dem älteren „der heimlicher“ (mhd. heimlîchære), „dem es nachgebildet ist“ (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 2366). 707 Zu dem, was oben im Text steht, siehe Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 250 u. S. 310, „geheim“, „Heim“, „heim“, „Heimat“, „heimlich“, ebenso Kluge, 23. Aufl., S. 306 f. u. S. 365. 708 Eine Variante freilich etwas jüngerer Zeit (im Frankreich Ludwigs XIV.) haben wir in Kap. B.II.2.a)cc) kennengelernt, den Conseil d’en haut, dem nur die vier wichtigsten Mini­ ster angehörten: der Finanzminister (Contrôleur général des finances), der als Justizminister, nicht etwa als Regierungs-Chef fungierende Kanzler (Chancelier) und von den anderen Ministern, die jeweils Secrétaire d’État hießen, nur der für die – wie zu erwarten – Auswärtigen Angelegenheiten und der – weil bei Ludwig XIV. besonders wichtig – für das Kriegswesen, alle vier strikt auf den König bezogen, nicht selbständig entscheidend. Das „geheim“ steckt in Secrétaire d’État. „Sekretär“ (Kluge, 23. Aufl.), seit 15. Jh., aus ml. secretarius, der zunächst „Geheimschreiber“ war und das Geheimsiegel führte (secretarius „zu l.  sēcrētus ‚geheim, abgesondert, besonders, getrennt‘“). – Zu den zur Zeit Ludwigs XIV. schon gut entwickelten Geheimdiensten und zu den Geheimagenten s. Mandrou, S. 220, bzw. Zeeden, S. 339.

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Auch in Brandenburg war im 16. und im frühen 17. Jahrhundert der „Geheime Rat“ die wichtigste Verwaltungsbehörde des Kurfürsten. In den früh im 17. Jahrhundert an Brandenburg gekommenen Gebieten Kleve, Mark und Ravensberg (1614) und (Ost-)Preußen (1618) gab es ebenfalls je einen Geheimen Rat. Aus diesen drei Länderverwaltungsbehörden sind die Finanz- und Domänenangelegenheiten jeweils ausgegliedert und in einer zentralen, gesamtstaatlichen Fach­behörde zusammengefaßt worden, der „Geheimen Hofkammer“,709 ab 1686 in Berlin (Schilling, Höfe, S.  415, dazu S.  339). Ebenfalls unter dem Großen Kurfürsten entstand eine neue zentrale Militärverwaltung, über die Schilling (S. 416 ff.) Einzelheiten bringt. 1722/23 hat König Friedrich Wilhelm  I. beide Oberbehörden zusammengelegt zum (kurz) „Generaldirectorium“. Als neue Fachbehörde entstand das De­ partement für auswärtige Affairen. Der aus dem 16./17. Jahrhundert stammende „Geheime Rat“ war jetzt nur noch für Justiz und Kultus zuständig und somit gewissermaßen eine dritte obere Fachbehörde geworden (S. 419). Der König wollte ursprünglich selber dem „Generaldirectorium“ vorsitzen, „bevor­zugte  … [dann aber] ‚die Regierung aus dem Kabinett‘“ (die sein Sohn, Friedrich II., übernahm und ausbaute). „Der König arbeitete in seinem Kabinett die Akten und Gutachten seiner Minister und Räte durch und entschied durch Marginalvermerke, die sein Kabinettssekretär in die Form sogenannter Kabinettsordres brachte“ (ebenda, wo Schilling Beispiele bringt). Hier kommt es auf den Namen für den Ort der Entscheidung an, den Namen für den wichtigsten Ort im jüngerfrühneuzeitlichen Staat, „Kabinett“,710 in diesem Fall als Bezeichnung für das Arbeitszimmer des absolut regierenden Fürsten. Schilling (S. 419 ff.) gibt eine Beschreibung der Regierungsarbeit Friedrichs  II. mit seinem Geheimen Kabinettsrat im Tagesablauf wieder. – Nur nebenbei erwähnen will ich, daß in „Great Britain“ (so der Name seit 1707) ab Georg I. (1714–1727) die Regierungsentscheidungen in Kabinettssitzungen gefällt wurden, an denen außer dem König „die wichtigsten Minister teilnahmen“ (Mandrou, S. 171). Hier war, anders als in absolutistisch regierten Systemen, das „Kabinett“ i. S. v. „Ministerrat unter Vorsitz von …“ vorgebildet, wie wir es z. B. in der Bundesrepublik Deutschland haben. In Österreich hat Leopold I. aus dem aus der älteren Frühneuzeit stammenden, zu groß und zu unbeweglich gewordenen Geheimen Rat „die Geheime Konferenz ausgegliedert als ein ‚Kabinett‘“, in dem der Kaiser mit wenigen eingeweihten Beratern die Grundlinien dafür festlegte, wie im Innern und nach außen vorgegangen werden sollte. Zur Zeit Kaiser Karls VI. hatte der militärisch und diplomatisch so 709 Generell zum Wachsen der Bedeutung der Kammern innerhalb der Zentralverwaltung der frühneuzeitlichen Territorien Hans Maier, Die ältere, S. 154 f. 710 Zu ital. gabbia, „Käfig“, die Verkleinerungsform gabinetto, das zu frz. cabinet i. S. v. „kleines Gemach“ wurde. Dieses erschien im Deutschen 1591 in der Bedeutung „Nebenzimmer“, im 17.  u. 18.  Jh. als Arbeitszimmer des Fürsten (Kluge/Götze, 16.  Aufl., S.  349; 23. Aufl., S. 415).

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erfolgreiche Prinz Eugen von Savoyen den Vorsitz, war dabei besonders auf militärische und auswärtige Angelegenheiten fixiert, „für die er eine persönliche Geheimdiplomatie aufbaute, das ‚Secret du Prince‘.“ Im Alter hat er allerdings Reformen blockiert (Schilling, Höfe, S. 339). Erst in der Zeit Maria Theresias kam es unter Leitung des Grafen Haugwitz zur Modernisierung der österreichischen Regierung und Verwaltung im Bereich von Kanzlei und Kammer, zu mehr Zentralisierung und zur Beschneidung der Eingriffsrechte der Stände. Eine „zweite Welle institutioneller Reformen“ kam (S. 350), als Graf Kaunitz 1753 Leiter der Staatskanzlei wurde, von Maria Theresia umfassende Befugnisse erhielt, 1760 den „Staatsrat“ schuf, der nur sechs Mitglieder hatte, von denen – um der Trennung von Regierung und Administration willen  – keines einer anderen Regierungsoder Verwaltungsbehörde angehören durfte, mit Ausnahme von Kaunitz, der den Staatsrat leitete und Chef der für die Auswärtigen Angelegenheiten zuständigen Staatskanzlei blieb: „praktisch ein Regierungschef im neuzeitlichen Sinn“ (S. 343 bis, und so zuletzt, S. 353). Kaunitz hat „den inneren Staatsmechanismus zum reibungslosen Funktionieren gebracht“, und Maria Theresia und Kaunitz „verkör­ perten“ zusammen „die neue habsburgische Gesamtmonarchie im Übergang vom höfischen zum bürokratischen Absolutismus“ (S. 354). Damit haben wir den Namen für einen anderen der für den frühneuzeitlichen Staat charakteristischen Örter: Büro,711 anstelle vom im 16. und 17. Jahrhundert üblichen „Schreibstube“. Das System der Büros des jüngerfrühneuzeitlichen österreichischen Staats, zunehmend mit Registraturen und Archiven ausgestattet, ein System mit qualifizierten Berufsbeamten, war schließlich in der Lage – und das wurde im 19. Jahrhundert geradezu zum Ziel –, auch unabhängig vom Herrscher zu „funktionieren“.712 Das ist aber nicht mehr unser Thema. Wir haben gesehen, vor allem die auswärtigen Angelegenheiten und das, was eng damit zusammenhing (Krieg und seine Finanzierung, Geheimdiplomatie und Geheimdienste), sind Sache „Geheimer Räte“, „Geheimer Konferenzen“ oder der Beratung ähnlich kleiner Kreise gewesen oder gar persönliche Angelegenheit. Das heißt aber nicht, als hätte man die anderen Sachverhalte „öffentlich“ erörtert. Publizistik in diesem Sinne gab es nicht. Der Publicist/Publizist (aus neo-l. publicista) jener Zeit war Jurist, hier ein „Kenner des Staatsrechts“, das, wie schon auf Latein 711 Das (nicht klassische) lat. burra ergibt über afrz. bure und dessen Verkleinerungsform burel frz. bureau, das über die Bedeutung „Tuch, mit Tuch bezogener Tisch“ zum „Amtstisch“ und dann zu „Amtsstube“ wurde. Es erscheint im Deutschen 1695 als Fremdwort in der Bedeutung „Schreibtisch“ und dann als „Geschäftszimmer“. Der gelehrte (und ideologische) frz. Begriff bureaucratie, 1764 von dem Ökonomen V. de Gournay („Laissez faire, laissez passer“) geprägt und auf die damals mehr und mehr rationalisierte staatliche Verwaltung seitens fachlich qualifizierter Berufsbeamten bezogen, kam bei uns ab 1790 in Berichten über die Französische Revolution vor, „Bürokrat“ und „bürokratisch“ aber nicht vor 1819 (Kluge/ Götze, 16. Aufl., S. 115). 712 Aus der von mir benutzten Literatur hierzu: Schilling, Aufbruch, S. 324 f.; Tapié, S. 347; Wehler, Bd. I, S. 22; dazu Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 30, „Archiv“, u. S. 607, „Register“, oder 23. Aufl., S. 51 u. S. 675.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

mißverstanden, nur noch ius publicum hieß, es aber nicht mehr war. Was die Untertanen zu wissen und zu befolgen hatten, wurde eben nicht mit ihnen erörtert, sondern ihnen verkündet. In einem System, in dem die absolutistische Herrschaft, wenngleich auf der unteren Ebene nicht ganz ohne Lücken, am extremsten ausgebildet war, wie in dem Ludwigs XIV. in Frankreich, in dem der „‚gemeine Pöbel‘“ Ruhe zu halten hatte (Mandrou, S. 43), paßten zum Mangel an echter Publizistik – und das nicht nur in Frankreich –713 Zensur und Unterdrückung kritischer Äußerungen bzw. oppositioneller Handlungen gegen bestimmte Aspekte oder Maßnahmen absolutistischer Herrschaft oder gar generell. Die Verfasser der „Fürstenspiegel“714 wären noch nicht auf den Gedanken gekommen, die Ergebnisse ihres Nachdenkens hätten geheim zu bleiben. Statt vieler nehme ich hier nur den berühmtesten am Übergang vom Hoch- zum Spätmittel­ alter, Thomas von Aquin, mit seinem „De regimine principum“ von 1265/66; es gilt aber ebenso noch für den Humanisten Erasmus von Rotterdam mit seiner „Institutio principis christiani“ von 1516. Das änderte sich mit der Untersuchung „Fünff Underschiedliche Secreta Politica von Anstellung, Erhaltung und Vermehrung guter Policey und von billicher, rechtmäßiger und nothwendiger Er­höhung eines jeden Regenten Jährlichen Gefällen und Einkommen“ des Straßburgers Georg Obrecht (1547–1612).715 Nicht nur die Gegenstände der Untersuchung waren also „Secreta“,716 auch die „fata libelli“ sind, wie Maier (Die ältere, S. 122 f.) zeigt, für den inneren Wandel von „der älteren Tradition der Fürsten- und Rats­ herrenspiegel“ zur „esoterischen  … ‚Arkandisziplin‘“ „aufschlußreich: Im ge­ heimen hat Obrechts Sohn das Buch nach dem Tode des Vaters 1617 auf eigene Kosten drucken lassen, nachdem es vorher nur wenigen Theologen und Politikern, daneben auch ‚etlichen fürnemen Ständten des Reiches‘ bekannt war; erst 1644 – mehr als dreißig Jahre nach Obrechts Tod – haben sich die Erben des Buchhändlers 713 So etwa die Unterdrückung der Dichter und Schriftsteller Schubart und Schiller durch Herzog Karl Eugen von Württemberg. 714 Das waren entweder dichterische Idealbilder historischer Herrscher oder Darstellungen von Vorstellungen über Rechte und Pflichten der Herrscher und über die Grenzen ihrer Herrschaft, dazu Schriften verwandter Art. Zu Obrechts Schrift s. Hans Maier, Die ältere, S. 122 ff. u. S. 122, Fußn. 125. 715 Ratsherr zu Straßburg, 1575–1612 Professor der Rechte an der Universität Straßburg, 1595 Rektor der Akademie, 1598 städtischer Advokat und Konsulent. (Mehr über G. Obrecht in Hans Maier, Die ältere, 31986, S. 122, Fußn. 124.) 716 Und „Secreta“ von etwas, hier „Politica“, das in Wirklichkeit in jener Zeit den Namen nicht mehr verdiente. – Zu „guter Policey“ bei Obrecht sagt Maier, Die ältere, S. 123: „Nur sekundär und gleichsam auf einem Umweg ist Obrecht zum Thema der ‚guten Policey‘ gekommen. Stand diese für die älteren Polizeischriften noch im Mittelpunkt des Interesses, … so ist sie für Obrecht nur mehr die Voraussetzung und das Mittel für etwas anderes, das er mit seinen consilia und secreta … bezweckt: die Wissenschaft von ‚billicher, rechtmäßiger und nothwendiger Erhöhung eines jeden Regenten Jährlichen Gefällen und Einkommen‘, wie das Ziel der Untersuchungen im Titel seiner Schrift mit entwaffnender Direktheit umschrieben wird.“

II. Defiziente Modi

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Lazarus Zetzner zu einer öffentlichen Ausgabe entschlossen, die dann rasch Verbreitung und Berühmtheit gewann.“ Die alle angehenden Entscheidungen im geheimen zu treffen, ist im deutschen Bereich nicht nur nicht eine Besonderheit der Staaten, es gab das auch in solchen Städten, in denen der Rat zur Obrigkeit pervertiert war. Sogar schon im 15. Jahrhundert bestimmten engere Ratsausschüsse und „geheime Stuben“ vielerorts das städtische Regiment. Nicht nur die Bürger waren nicht mehr gut informiert, selbst der Große Rat verlor an Bedeutung (Isenmann, S. 195 ff.). Für Augsburg im 16. Jahrhundert ist belegt der „wechsel von geheime (pl.), geheime des rats und geheime rät, die stadt hatte namen und einrichtung für geheime angelegenheiten den fürstlichen canzleien entlehnt. … das volle geheimer rath erhielt sich dann durch die nhd. zeit, anfangs und auch noch im 18.  jahrh. sorglos in der vermischung mit geheimer rath als collegium, die eben das ursprüngliche ist“ (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 2366). In einem Zeitalter, in dem einseitig die Obrigkeit bestimmte, was Staatsziel war, konnte es außerhalb des ausschließlich vom Staat, vom Fürsten/König vertretenen Gemein-Interesses nur Separat-/Eigen-Interessen geben.717 Alle von der Mit­ sprache, Mitentscheidung, aber auch Mitverantwortung Ausgeschlossenen waren mit ihren Interessen ins Private abgeschoben. Unter solchen Bedingungen gewann ein bestimmter Ort im Bereich des Staates, am Hof des Fürsten oder bei einem seiner Minister, besondere Bedeutung, das antichambre. Es bringt nicht viel, wenn wir das französische Wort nur mit „Vorzimmer“ übersetzen. Es kommt auf die sy­ stem­bedingten Umstände, auf die Situation der Beteiligten an. Im Französischen ist antichambre Teil  eines Verbs, faire antichambre, das bei uns ebenfalls mit einem Verb, „antichambrieren“,718 gut wiedergegeben wird: dort, wo die Entscheidungen getroffen werden, die eigenen Privat-Interessen unterthänigst vorzutragen (u. U. wiederholt vorzutragen) und um Bewilligung zu bitten, die – wenn sie zustande kam – per „Privileg“ erfolgte. In der Renaissance, im Barock und noch im Klassizismus, also in dem Zeitraum, um den es unter unseren Gesichtspunkten in den Kapiteln von B.II.2.a) ging, war noch ein anderer Topos für das System dieser Zeit charakteristisch: das Schloß.

717 Aus der Sicht Kurfürst Maximilians I. von Bayern vertraten selbst die Stände nur Par­ tikularinteressen, ihren „privatnuz oder gelegenheit“, d. h. das, was ihnen gerade gelegen kam (Schilling, Aufbruch, S. 344 f.). 718 Die Aktionen, um zugunsten von Einzel- oder Gruppen-Interessen auf die Entscheidungen von Parlamentariern oder Mitgliedern von Regierung oder Verwaltung Einfluß zu nehmen, heißen inzwischen statt „antichambrieren“ meist „Lobbyismus“ (von engl. und usamerik. lobby = Wandelhalle des Parlamentsgebäudes, in der der Vertreter von Einzel- oder Gruppen-Interesse auf eine Begegnung ursprünglich mit einem Abgeordneten wartete); der Lobbyismus ist inzwischen – auch äußerlich („Ständige Vertretungen“ in eigenen Räumen in der Hauptstadt, in der Nähe von Parlaments- und Regierungsgebäuden) – moderner und rationeller organisiert.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Das Wort ist „postverbiale Bildung zum st. [d. h. stark flektierenden] Ztw. schließen[,] sowohl ‚Vorrichtung zum Schließen, (Tür-)Verschluß‘, als auch ‚Riegel, Querholz, Sperrbalken‘“; ahd. und mhd. heißt es sloȥ, altniederfränk. sclot, ndd., altfries., mittelengl., altnord. (u. noch anderswo) slot. „Gleichen Ursprungs ist Schloß als Gebäude, das im 13. Jh. aufkommt und sowohl passivisch zu fassen ist wie Klause719 (‚verschlossener, befestigter Bau‘),720 wie aktivisch (‚Tal-, Landsperre‘)“721 (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 675). – Wir müssen zwei Entwicklungen auseinanderhalten. Es geht nämlich nicht an zu sagen: „Seit dem 13. Jh. wird auch eine Burg so [d. h. als „Schloß“] bezeichnet, weil sie das Land, einen Wasserlauf u. ä. sperrt“ (Kluge, 23. Aufl., S. 728). Allenfalls kann es heißen: Seit dem 13. Jahrhundert wird ein zu dieser Zeit errichtetes Bauwerk, das äußerlich einer Burg vielleicht noch ähnlich ist, w e n n es das Land, ein oder mehrere Täler, einen oder mehrere Flußläufe, eine Paßstraße sperrt, also einem anderen Zweck dient, konsequenterweise sloȥ genannt, nicht burc, purch o. ä. „Burg“ ist der Name für einen Topos, der ursprünglich durch die Art seiner Anlage das für Gefahren­ situationen geschützte Zentrum des politischen Gemeinwesens war (wie die Akropolis), später für einen Topos, an dem sich die zu einer Adelsburg gehörenden Abhängigen immerhin im Notfall noch bergen konnten. – Die mittelalterlichen Burgen im in Kapitel B.II.1.f) beschriebenen Sinn und, zunehmend, möglichst auch als Repräsentationsbauten, sind mit dem Aufkommen und der rasch erfolgten Fortentwicklung des Geschützwesens in der Regel722 unbrauchbar geworden und verfallen. „Die im hohen und späten Mittelalter eng miteinander verbundenen Hauptfunktionen der Burg als Wehr- und Wohnbau treten seit der Renaissance nicht selten auseinander“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 84). Es kommt einerseits zum Bau von Festungen,723 andererseits zur Errichtung von komfortabel ausgestatteten für finanzkräftige Adlige724 bis hin zu extrem prächtig und prunkvoll gestalteten „Schlössern“ (Maximum: Versailles) für Kö 719

Lehnwort von lat. clūsa, „‚eingehegtes Grundstück, Kloster‘, Nebenform zu l[at]. clausa, … ‚…das Abgeschlossene‘“, von lat. „claudere ‚schließen‘“, die beide aus der gleichen Wurzel stammen (Kluge, 23. Aufl., S. 447). 720 Einsiedlerklause, so die später wegen der Umwidmung und der Umgestaltung seitens Baumeister Karl Friedrich Schinkel für König Johann den Blinden von Böhmen berühmt gewordene Klause oberhalb Serrig an der Saar. 721 So die Talsperren „Salurner Klause“ und „Berner (= Veroneser) Klause“ im Etschtal. 722 Eine der Ausnahmen ist die „Umgestaltung der Heidelberger Burg zu dem von gewaltigen Bastionen umgebenen kurpfälzischen Residenzschloß im 15./16.  Jh. bis zum Ersatz durch die zweckorientierten Militärfestungen in Mannheim und Frankenthal“ (Wendt, S. 101), 1606–1608. 723 „Der Bau schußsicherer Befestigungen wird seit dieser Epoche zunehmend eine Frage der finanziellen Mittel. Langfristig waren diese nur noch von den Territorien aufzubringen“ (Wendt, S. 100). 724 Durch Umbau von Niederungsburgen in „repräsentative Landschlösser“, oft als Wasserburgen, oder durch Umzug aus den preisgegebenen Höhenburgen in Stadtresidenzen. (Wendt, S. 101 f., nennt archäologisch untersuchte konkrete Fälle aus dem Raum um Heidelberg und Mannheim.)

III. Gesellschaft

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nige und Fürsten, als Residenz-, Jagd- oder Lustschlösser. Je nach Tradition, Geschmack oder auswärtigen Beziehungen ist statt „Schloß“ auch „Palais“ oder „Palast“ gesagt worden. So oder so haben wir es aber mit einem Topos zu tun, der zwar für die Vorstellungen der Untertanen von außen ebenso extrem prächtig wie geheimnisvoll war und es auch sein sollte (siehe Duchhardt, S. 51 f.), in dem sie sich aber nie mehr „bergen“ konnten, der für sie „verschlossen“ war – wenngleich die Ursache der Benennung sloȥ und die Lage in der Landschaft sich im Vergleich mit dem 13. Jahrhundert sehr geändert hatten –, einem Ort für König oder Fürst mit dem zugehörigen „Hof“. Die Zusammenfassung ergibt: Die Örter, an denen die Herrscher der frühneuzeitlichen Staaten ihre Entscheidungen trafen, tragen z. T. Namen, die uns aus dem mittelalterlichen Herrschaftssystem schon bekannt sind: „Kanzlei“ und „Kammer“. Es sind neue hinzugekommen: „Kabinett“ des absolut regierenden Fürsten und „Büros“ einschließlich Registraturen und Archiven mit Aufgaben der organisatorischen Vorbereitung und bei der Ausführung von Entscheidungen. Alle sind abgesonderte Räume – was für sich im Vergleich mit dem Mittelalter noch nichts Neues wäre. Aber die Struktur hatte sich erneut verändert: Der Rückzug der Entscheidungsfindung und der Entscheidung aus der Öffentlichkeit war weiter fortgeschritten, von der sozusagen „lediglich“ Nicht-mehr-Öffentlichkeit ins betont Geheime, ins Arcanum: in den „Geheimen Rat“, in die „Geheime Hofkammer“, in den „Geheimen Kabinettsrat“, in die „Geheime Konferenz“ (dazu Geheim­diplomatie und Geheimagenten), in den Städten in die „Geheimen Stuben“. – Ab der Frühen Neuzeit hat die mittelalterliche Höhenburg, Ort der Verteidigung und repräsentativer Wohnsitz des adligen Grundherren oder Ministerialen wegen neuer Waffentechnik ihren Wert verloren. Die frühneuzeitliche „Festung“ übernahm die Wehrfunktion, das aufwendig und prunkvoll erbaute „Schloß“ die Wohnfunktion und das Hofleben. Den Untertanen war es verschlossen. –

III. Gesellschaft „Sozial“ bezieht sich auf menschliches Miteinander generell, aller Formen und Arten, auch aller Zeiten. Es ist Gegenstand der Allgemeinen Soziologie. (Ich verweise auf Kapitel A.IV., in dem ich das System der Wissenschaften vorstelle und dabei auch die Position der Soziologie darin.) „Gesellschaft“ ist, wie ich in den Kapiteln von B.III.1. zeige, ein bestimmtes historisches Sozialphänomen, dessen Anfänge (soweit bisher zu überblicken) und dessen Entwicklung (Veränderung) und dessen Örter fixiert werden können. Außer den empirischen Befunden gibt es nach Übersetzungen des aristote­ lischen „koinōnía polītikē´ “ ins Lateinische und nach Begriffsverwirrungen und Verfälschungen bei deren Übersetzungen ins Deutsche ein Theorie- bzw. Ideologie-Gebilde „Gesellschaft“, das dann fälschlich zum Grundbegriff der Soziologie als vermeintlich „Gesellschaftswissenschaft“ wurde (dazu Kapitel B.III.2.).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

1. Die empirischen Befunde Die ältesten Befunde, die wir in der Sache haben (Kapitel B.III.1.a)), sind gemeingermanisch – so jedenfalls laut Tacitus, und es spricht, soweit zu über­blicken, auch sonst nichts dagegen. Für die jüngere Entwicklung beschränke ich mich ebenso wie im Fall der Kapitel B.II.1. und B.II.2. auf das Franken-Langobardenreich und seine großen Nachfolge-Gebilde. Erst wenn wir so aus Empirie, aus dem historischen Material, das gewonnen haben, was „gesellschaftlich“ und „Gesellschaft“ wesentlich ausmacht, werden wir in der Lage sein – wiederum nach genauer Beobachtung –, zu beurteilen, ob es auch außerhalb des germanischen Bereichs, etwa in Gemeinwesen z. B. mit anderen indogermanischen Sprachen, „Gesellschaft(en)“ gegeben hat, ebenfalls konkret, und nicht auf dem Weg der Vermutung oder als Theoriekonstrukt. a) Die Anfänge von „Gesellschaft“ in frühen germanischen Gemeinwesen am Hof des Anführers Der Sachverhalt ist uns bereits in Kapitel B. I.1.b) begegnet. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweise ich auf den Text dort, in dem es um den Hof des Anführers geht (mit Index 84). „Gesellschaft“ ist ein Abstraktum, mit der Ableitungssilbe -schaft725 zu „Geselle“, „Geselle“ eine Zusammenfügung des („kollektiven“) „ge-“ zu „Saal“,726 mhd. und ahd. sal, germ. „*sali- m., älter wohl *salaz- n. ‚Saal‘“ = Innenraum des germanischen Einraum-(wohn-)hauses, sofern dieses – und damit auch der Wohnraum – größer war als üblich. „Geselle“ war also ursprünglich jemand, der mit anderen im selben Saal im entsprechend großen Haus wohnte/lebte. Bei Grimm sind genannt: „ahd. gisellaskaf, kiselliscaft, geselliscaft“, „mhd. geselleschaft“ (Wb., Bd.  5, Sp.  4049) und „ahd. ka-, gisello“, „mhd. geselle“ (vgl. Kluge, 23. Aufl., S. 319), alle „aus vorauszusetzendem [*]gasaljo, eigentlich ‚saal-, hausgenosse‘ …, abgeleitet von saal, ahd. sal, altsächs. seli, vornehmer, geräumiger wohnraum“ (Bd. 5, Sp. 4025). Wer diese Gesellen waren, können wir noch bestimmen. Dazu brauchen wir zuvor aber noch etwas anderes. Bei den Germanen vor der Völkerwanderungszeit gab es einen für die Struktur des Gemeinwesens wichtigen Sachverhalt, das Verhältnis des princeps zu seinen comites, was die deutschen Historiker des 19. Jh. 725 Diese Ableitungssilbe gehört zu „schaffen“. Das „t“ in -schaft gibt es erst seit dem 9. Jh. (und fehlt im engl. -ship). Abstrakta i. S. v. „Beschaffenheit“ sind schon im älteren Ahd. belegt für fîantscaf (Feindschaft) u. friuntscaf (Freundschaft). Siehe dazu Grimm, Wb., Bd. 3, Sp. 1462, bzw. Bd. 4, Sp. 167. 726 Wie bei „Gefährte“ zu „Fahrt“. Zu „Saal“ s.  Kluge, 23.  Aufl., S.  698; vgl. mit Kluge/ Götze, 16. Aufl., S. 633.

III. Gesellschaft

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im Anschluß an Joseph von Görres mit den fachwissenschaftlichen Begriffen Gefolgschaft, Gefolge und Gefolgswesen bezeichnet haben.727 Verhältnismäßig ausführlich hat Tacitus (G., 13 u. 14) über die Sache geschrieben: Außer daß jeder freie Germane die Pflicht hatte, zur Volks-/Heeresversammlung zu kommen und am Heereszug teilzunehmen, gab es um die Anführer jeweils eine Schar besonders tapferer Krieger, und zwar z. T. nicht aus dem eigenen Stamm, die sich dem Anführer besonders verbunden fühlten und mit ihm und in ganz besonderer Weise für ihn und seinen Ruhm kämpften. Je größer die Schar solcher Männer um den Anführer war und je tapferer sie waren und je größer ihr eigenes Ansehen, um so höher waren Ansehen und Rang des Anführers. Tacitus nennt noch mehr Einzelheiten; auf eine davon kommt es dann weiter unten für uns an. Die Wörter, um die es jetzt geht, sind bei Tacitus natürlich wieder lateinisch: zum einen princeps (was wir aus Kapitel B. I.1.b) schon kennen) = Anführer, zum anderen comitatus, -us (m.; abstrakt und konkret) = Geleit, Gesellschaft, Gefolgschaft (besonders auf Reisen und Kriegszügen) sowie comites (pl. von comes, -itis) = Begleiter, Gefährten, Gefolge, im römischen Reich vor allem bezogen auf die Begleitung des Provinzstatthalters. Etwa so findet man das normalerweise in lateinisch-deutschen Wörterbüchern. Es ist klar, „Gefolgschaft“ und „Gefolge“ kommen immer deshalb mit vor, weil jene Historiker des 19. Jahrhunderts die auf die Germanen bezo­genen Texte inzwischen so übersetzt hatten. Etymologisch ist das natürlich wertlos. Erst, nachdem diese Übersetzung längst gängige Praxis geworden war, ist doch noch728 ganz vereinzelt ein ahd. Beleg für „Gefolge“ entdeckt worden, „aus einer beschädigten hs. [Handschrift] des 9.  jh.“: gafolgi, „in geistlicher verwendung, von willigem folgen gott gegenüber“ (Grimm, Wb., Bd. 4, Sp. 2150). Es gehört zu ahd. folgēn, altsächs. folgon, aus denen sich mhd. und mnd. volgen entwickelt hat; „germ. *folg- [ist] urverwandt mit kymr. ol ‚(Fuß-)Spur‘, ar ol ‚nach, hinter‘, olafiad ‚Nachfolger‘, korn. ol ‚Fußspur‘  …, die auf idg. *polgh- zurückführen“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 219). Bei Kluge, 23. Aufl. (Seebold), S. 277, heißt es, kymr. ôl „Spur“ passe semantisch zwar gut (und könne auf idg. *polgh- zurück­ gehen), sei aber lautlich mehrdeutig. Dem, was Seebold statt dessen vermutet (möglicherweise Zusammenhang mit „befehlen“), können wir aber nicht „folgen“, meint doch der, der im 9. Jahrhundert gafolgi verwendet hat und dem Verständnis der Sache mindestens elfhundert Jahre näher war als wir, „Nachfolge Christi“, „auf seinen Spuren wandeln“. Mitbeachten müssen wir, daß die erste Missionierung auf dem Kontinent nach der Völkerwanderung gerade von von Hause aus keltische Sprachen sprechenden iro-schottischen Mönchen betrieben worden ist, 727 Grimm, Wörterbuch (Wb.), Bd. 4, Sp. 2150. – Das Wort Gefolge war zuvor überhaupt erst ab dem 17. Jh. belegt, und zwar in Wörterbüchern zur Übersetzung von Wörtern aus anderen Sprachen, z. B. niederländisch ghevolgh für ital. sequela u. frz. suite (ebenda, mit dem kritischen Hinweis auf die Fußnote in Sp. 1127 von Bd. 4); siehe auch Sp. 2151 u. Sp. 2152, bei „Gefolgewesen“ und „Gefolgschaft“. 728 In Bd. 4 des Wb., der 1878 vollendet war, heißt es in Sp. 2150: „vor kurzem“. Die an­ gegebene Quelle datiert auf 1864 (1. Aufl.).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

die ihr eigenes Leben und Wirken als peregrinatio propter Christum deuteten. Aus dieser „Ecke“ kommt das Verständnis von gafolgi. Die Wortneubildungen „Gefolgschaft“, „Gefolgsleute“ usw. der Historiker des 19. Jahrhunderts nachträglich darauf zu stützen, ginge nicht an. Wir haben es mit zwei verschiedenen Sachverhalten zu tun, die wir auseinanderhalten müssen, und zu jedem gehört ein spezifisches ahd. Wort bzw. eine Wortfamilie. Den Grund dafür, daß ein Wort der sal-Ableitungsgruppe zu unserem Sach­ verhalt gehört und nicht gafolgi o. ä., können wir mühelos Kapitel 14 der „Ger­ mania“ entnehmen, wo Tacitus schildert, daß der Anführer seinen comites, und das waren nicht selten viele, nicht nur Streitroß und Angriffswaffe schuldete, sondern sie auch, anstelle von Sold, reichlich, wenngleich einfach zu bewirten hatte. Das ging aber nur – falls nicht die Jahreszeit729 auch einmal eine Bewirtung im Freien des Hofes zuließ –,730 in einem genügend großen Wohnraum, dem Saal. In diesem Sinn waren die mit dem Anführer besonders Verbundenen seine „Gesellen“, seine „Gesellschaft“, und diese Ausdrücke blieben das ganze Mittelalter hindurch üblich (und noch länger), wie ich zeigen werde, wogegen die Verwendung von „Gefolge“ und „Gefolgschaft“ gerade sinnwidrig gewesen wäre: Weder in der Situation des Zusammenlebens am Hof des princeps, im Saal, noch in der des Kampfes „folgten“ die comites dem princeps, seinen „Spuren“, sie waren hier wie dort n e b e n ihm, m i t ihm, gerade nicht „hinter“ ihm. Der Sachverhalt „Anführer und seine Gesellen“ muß im Bewußtsein der Menschen der Völkerwanderungszeit und noch danach eine große Rolle gespielt haben: „von den germanischen wanderstämmen ist es [das Wort gisello u. ä., nicht etwa „gafolgi“] auch in die romanischen sprachen übergegangen“ (prov., altfrz., mlat., 729

Die gute Jahreszeit war allerdings oft gerade die Zeit der Kriegs- und Beutezüge. Wir wissen, soweit ich sehe, in bezug auf die Germanen der Germania libera (Tacitus schrieb um 100 n. Chr.) aus archäologischen Quellen nichts Sicheres über „Mobiliar“ zum Sitzen oder gar Liegen auf einem Platz im Freien. Eine der Sache vielleicht recht nahe kommende Vorstellung davon gewinnen wir aus einem (nur in manchem) Parallelfund. Seit 1976/77 kennen wir den Vorplatz einer in der Römerzeit – das ist in diesem Fall zwischen etwa 100 und 260 n. Chr.  – neben einem Bauernhof („Villa rustica“) gefaßten und mit Platzpflaster aus­ gestatteten Quelle im Raum Darmstadt, zwischen Odenwald-Limes und Rhein. Die Befunde sowie die Art der Keramik, von Glas und Kleinfunden zeigen, daß die Quelle nicht nur zur Wasserversorgung des Bauernhofs, sondern mit ihrem Vorplatz auch zum Essen und Trinken im Freien in schöner Umgebung gedient hat. „Mobiliar“ zum Sitzen und wohl auch zum Abstellen von Schüsseln, Tellern und Trinkgefäßen waren verschieden große Steine, die stets auf der Oberfläche flach vorgefunden worden sind, dazu Bohlen und Bretter (die nicht Teil einer Treppenkonstruktion gewesen sein können). Das „Mobiliar“ gehört wohl mehr oder weniger dicht an das Ende des oben genannten Zeitraums. (Näheres zu den Befunden an der Quelle, um die es hier selbstverständlich nicht gehen soll, siehe in R. H. Schmidt (1980).) Die Bewohner der römerzeitlichen Bauernhöfe jener Gegend zwischen Limes und Rhein waren in der Hauptsache „Einheimische“ zweierlei Art: seit mehreren Generationen ansässige germa­ nische „Oberrhein-Sueben“, ursprünglich aus dem Elbgermanischen, und Nachkommen der latène-zeitlichen Vorbevölkerung, diese wohl keltisch; hinzugekommen sind Einzelne aus verschiedenen Provinzen des römischen Reiches (Schmidt (1996), Teil I, S. 217–221). 730

III. Gesellschaft

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port., span., ital.); aus einer spanischen Urkunde von 804 ist dabei abzulesen, daß hier die gotische Variante (westgotisches Reich in Spanien bis 711) Grundlage des Lehnworts gewesen ist (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 4025). Ebenda heißt es  – und dabei geht es um Wesen und Herkunft von „Gesellschaft“: Das Wort gisello (u. ä.) „scheint aus höfischen verhältnissen der alten zeit entsprossen … zu sein“. Wir können jetzt ergänzen: der ganz alten Zeit, der vor der Völkerwanderung. Dabei bezieht sich „höfisch“ zunächst auf den Hof, auf das dadurch vor-nehme/hervor-ragende Gehöft des germanischen Anführers, daß es einen Saal besaß, der Raum bot für alle Gesellen des Anführers. (Ich zeige in den folgenden Kapiteln, wie sich der Hof nach und nach verändert hat.) „Gesellschaft“ bezeichnet von Anfang an eine G r u p p e von Personen, n i e die Gesamtheit der Glieder des Gemeinwesens, hier einer Gruppe von Personen, die sich vom Gros der Krieger eines Stammes gerade ab- und heraushebt. Soviele solcher Anführer auf einer Ebene731 es gab, soviele „Gesellschaften“ gab es. In einem großen Gemeinwesen mit einem obersten Anführer gab es auf seiner Ebene nur eine solche Gesellschaft, die seiner Gesellen, mit Verschiebungen in der Zusammensetzung gemäß Situation und Zeit, aus der Natur der Sache. Jetzt noch einige Belege aus alt- und aus mittelhochdeutschen Texten. Aus der Natur dieser Texte, dieser Literatur, ist verständlich, daß am häufigsten die Ebene des Königs vorkommt, aber es gibt doch auch andere (alle Beispiele aus Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 4026, Sp. 4049 und Sp. 4051, alle dort mit Quellenangabe, worauf ich verweise). Es geht mir hier nur darum, die Dauerhaftigkeit der Begriffsverwendung zu zeigen. Mehr zu höfischen Gesellschaften des Mittelalters siehe im folgenden Kapitel. Im ältesten erhalten gebliebenen historischen Lied der deutschen Literatur, aus der Feder eines unbekannten rheinfränkischen Verfassers, einem althochdeutschen Fürstenpreislied – wie diese Gattung heißt –, dem „Ludwigslied“,732 das in einer Handschrift des 9.  Jahrhunderts überliefert ist, spricht der westfränkische Ludwig III., der 881 mit seinem Heer die ins Land gefallenen Normannen besiegt hatte, seine Gesellen an: „thanne sprach lûto [laut/mit kräftiger Stimme] Hluduîg ther guoto ,trôstet hiu [tröstet euch/habt nur Mut], gisellion …‘“ (Sp. 4026).

In Heinrich von Veldekes „Eneit“ („Äneis“), dem ersten mittelhochdeutschen höfischen Roman, aus der 2.  Hälfte des 12.  Jahrhunderts, heißt es vom jungen­ Pallas: 731

Schulze (Grundstrukturen, Bd. I, S. 50) sagt in bezug auf das Frankenreich, also für grob ein halbes Jahrtausend nach Tacitus: „Selbstverständlich haben sich [auch] die fränkischen Großen … mit einem Gefolge umgeben“, das aber, wie wir sehen werden, in der Sprache der Zeit, tatsächlich „Gesellschaft“ hieß, in der fränk., dann explizit in der ahd. Form. 732 Köbler, S. XIII: „(882 ?, Niederlothringen ?, a[lt]rh[ein]fr[än]k[isch] ?)“.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

„unde sîn geselleschaft die vil schône ritterschaft…“ (Sp. 4049),

im „Iwein“, dem einen der beiden mittelhochdeutschen Artus-Romane von Hartmann von Aue (um 1200) in einer Anrede an König Artus: „dasz ich iuch (…) gruoʒte [grüßte] … und iwer gesellen über al“ (Sp. 4026),

im „Nibelungenlied“, dem mittelhochdeutschen Epos eines unbekannten Dichters aus dem Donau-Raum, von um 1200: „dô kom der künic Etzel und ouch hêr Dietrîch mit allen sînen gesellen …“ (Sp. 4026),

im „Parzival“, dem um 1200 bis 1210 entstandenen „Entwicklungsroman in Versen“ des Wolfram von Eschenbach, der wahrscheinlich aus einer bayerischen Ministerialenfamilie stammte, heißt es vom König: „er (…) sprach, er wolte gerne komen, dâ wart geselleschaft genomen: sînes landes fürsten drî riten dem künege dannen bî … junchêrren vil âne [= ohne] zahl …“ (Sp. 4049).

In den folgenden beiden Beispielen sind die Kurfürsten die „gesellen“ des Königs, sie „laden“ bzw. „gebieten“ zu einem „gespræche“733, zu einem „tac“ (Tag), zur Fürstenversammlung: Im „Schwabenspiegel“, dem Land- und Lehnrechtsbuch für das außersächsische Deutschland (1275/76, unmittelbar nach dem Ende des „Interregnums“): „der bischolf von Meinze unde der phalnzgrâve von Rîne .., si sollen dar gebieten ir gesellen (die kurfürsten des h. röm. reichs) ze dem gespræche, die mit in [= ihnen] dâ welent, unde der andern fürsten als vil als si ir gehaben megen“ (Sp. 4026);

in der „Österreichischen Reimchronik“ des Ottokar von Steiermark (1260/65 bis um 1320), eines Geschichtsschreibers, der einen Fürsten sagen läßt: „(mich haben) die fursten her geladen zeinem [= zu einem] tac, den die gesellen (die kurfürsten) durch [= wegen] des rîches nôt haben wellen.“ (Sp. 4026)

Im Fortgang des Mittelalters ist ritterliches Leben während mehrerer Jahr­ hunderte allmählich immer förmlicher geworden, mit einer Hinwendung zum Festen und Festlichen und zu Festlichkeiten, mit größerer Bedeutung des Äußerlichen, des Zeichenhaften und der Abzeichen, wenngleich mit Anlässen dahinter. 733

Siehe „Sprache“, „Sprake“ usw., am Ende von Kap. B. I.1.b).

III. Gesellschaft

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Ich bringe hier eines jener Beispiele (es ist spätmittelalterlich): Daß man den Ritter Burckart von Ehingen hat „nant ‚mit dem zopf‘, hett die ursach: er diendt a­ inem hertzogen von Österrich im Österland, der hett ain ritterliche geselschafft, daʒ [d. h. deren Abzeichen] war ain zopff, hette uff ain zeit ain schöne fraw ab­geschnitten und im den geben; also macht er der selbigen schönen frawen zuo eren ain ritterliche geselschafft darausz. diser Burckart von Ehingen bracht sollich geselschafft mit im von Österrych heruff gen Schwaben.“ (Sp. 4051)

Hier bestand die Gesellschaft zunächst am Hof des Herzogs, der Ritter verlegte sie oder brachte einen Ableger dann nach Schwaben. b) Höfische Gesellschaft(en) im Mittelalter Während zur Zeit des Tacitus – jedenfalls soweit dieser davon wußte – der germanische Anführer seinen festen Wohnsitz auf seinem Hof hatte, hatten die Merowingerkönige in ihrem schon größeren Reich mehrere sedes. Sie zogen gemäß den Erfordernissen durch ihr Reich. Das, was in unserer Sprache dann mit „Hof“ oder auch „Hofgut“ (so, wenn der Wirtschaftsbetrieb gemeint ist) und auf französisch mit cour, court bezeichnet wird, heißt bei Gregor von Tours und im „Fredegar“ lat. villa und bezog sich auf einen aus der Römerzeit überkommenen Siedlungs-Typus. Nördlich der Alpen gab es in allen Teilen des Römerreichs zum einen die weitaus am meisten verbreitete Variante villa rustica, den Bauernhof einfacher, aber im Vergleich mit der vorangegangenen Latène-Zeit doch baulich und organisatorisch fortschrittlicher Art (als Einzelgehöft in der Landschaft, auf dem zu ihm gehörenden Grund und Boden, etwa so wie heute unsere Aussiedlerhöfe, aber als Teil einer civitas mit ihrem städtischen Zentrum) und die viel größere und mit größerem Aufwand erbaute villa urbana. (In B.II.1.a) war schon einmal, mit Beispielen, davon die Rede; darauf kann ich verweisen.)734 Die Merowingerkönige haben sicherlich nur größere und mit mehr Komfort ausgestattete villae benutzt, die nun zum Königsgut gehörten. Bei Gregor (V, 49, 374,33 bzw. 375,40) ist zu lesen, daß am Königshof Brinnacum die geistlichen Fürsten zusammenkamen, von außerhalb, also aus ihren Sprengeln; sie wohnten nicht am Hof. Vereinzelt kommt im „Fredegar“ der Name einer villa mehrmals vor. Das ist z. B. beim königlichen Hofgut Clepiacus (auch als „Clippiacus“) bei Paris der Fall (II, 47; I, 83), an welchem Ort es übrigens auch 734 Bei den villae urbanae gab es hinsichtlich Größe und Pracht aufgrund individueller Gegebenheiten aus der Natur der Sache sehr große Unterschiede, bis hin zur Ausbildung der villa urbana auch zum Palast. – Obwohl zumindest für Teile des Dekumatlands für die Anfänge der villae rusticae Einheitsbauweise nachgewiesen ist, gab es doch auch hier nach einiger Zeit deutlich Unterschiede gemäß individuellen Möglichkeiten bzw. Bedürfnissen (s. R. H. Schmidt, 1996, Teil I, S. 211–214).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

ein palacium (I, 78) gab, also bereits, wie später z. B. auch in Aachen, Hof und Pfalz. Leider sind die Angaben im „Fredegar“ darüber, wer zur Gesellschaft des (jetzt) Königs gehörte und wie das Zusammenleben aussah, immer noch extrem dürftig. Für das Jahr 616 heißt es, daß König Chlothar an seinen Hof Bonogillum, wo sich, abgesehen vom Dienstpersonal für die sogenannten niederen Arbeiten, außer ihm zumindest noch die Königin Bertetrud aufhielt, den burgundischen Hausmeier Warnachar und die geistlichen und weltlichen Großen zu Beratungen einberufen hat, „und [er] verlieh seinen Bewilligungen [auf Bitten der Großen hin]735 Gesetzeskraft“ (I, 44). Die Großen des burgundischen Teilreichs lebten also auch hier nicht (mehr) mit dem König an dessen Hof, sondern an ihrem eigenen Ort, sie kamen von dort, in „Hof-fahrt“. An anderen Stellen ist abzulesen, daß die vom Hausmeier zu erledigenden Regierungsgeschäfte vom Palast aus (hier in Clippiacus) geführt wurden (I, 79, 80 und 84) und daß der König (hier Dagobert, in den Jahren 636 und 637) den König bzw. Große unterworfener Völker im Palast empfangen hat (I, 78), wo zumindest bei solchen Anlässen auch gespeist worden ist. Der schwer erkrankte Hausmeier Aega (I, 83) hat aber entweder sowieso mit auf dem Hof gewohnt oder ist, weil erkrankt, an den Hof geholt worden. Über einen besonderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens am Hof (nunmehr) des Königs (statt des princeps) wissen wir aus anderen Quellen. Das am kaiserlichen Hof von Byzanz bestehende Amt des Leierspielers haben der Hof des Hunnenkönigs Attila und dann auch der ostgotische Hof Theoderichs des Großen sozusagen übernommen. Die Leierspieler waren hier ausgebildete Berufssänger, die ihren Gesang von Heldenliedern oder zum Preis des Königs auf dem Instrument begleiteten. Theoderich hat dem Frankenkönig Chlodwig durch Vermittlung des Philosophen Boëthius einen solchen Leierspieler (citharoedus) verschafft,736 wohl noch vor 498. Auch die Höfe anderer Könige nördlich der Alpen übernahmen die Sitte. Archäologische Funde und Befunde aus alamannischen,737 fränkischen,738 angelsächsischen739 und auch gotländischen Gräbern der merowingischen Epoche belegen es, aus Gräbern, die mehrheitlich von unterhalb der Königs-Ebene sind, aber von der Ebene der Großen des fränkischen Reiches bzw. der anderen Reiche. Es handelt sich um Gräber, die neben sehr reichen bis besonders reichen anderen Beigaben bzw. Trachtbestand-Teilen je eine Leier enthielten. Sie zeigen (sagt Stein, Adelsgräber, S. 137, dazu), „daß die Leier im frühen Mittelalter weit verbreitet war. … Die Leiern von Oberflacht und Köln-St. Severin müssen … als Zeugnisse einer höfischen Kultur gewertet werden, die nicht auf den Königs 735

Offenbar ohne die Volksversammlung; wir wissen aber nicht, um was es ging. J. Werner (1954), S. 9 (in S. 11 f. Einzelheiten über die Instrument-Typen). 737 In Oberflacht, Kr. Tuttlingen, in drei Gräbern (Grab 31; „Grab von 1894“; im dritten Fall ist der Zusammenhang unklar): Veeck, S. 36 u. S. 11; dazu Frauke Stein, Adelsgräber (1967), S. 136 f.; Montagu, S. 13 f. 738 Hier nur zu Köln, St. Severin, im Grab P 100, „Grab des Sängers“: Führ. vor- u. frühgesch. Dkm., Bd. 37/1, Köln I, 1, S. 211 f.; dazu Stein, Adelsgräber, S. 111 f. Außerdem andere aus Frankreich u. den Niederlanden. 739 Montagu, S. 114: zu Sutton-Hoo, hier aus königl. Schiffsgrab. 736

III. Gesellschaft

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hof beschränkt blieb, sondern an der auch der fränkische und alamannische Adel Anteil hatte“, offenbar aber eben im Kreis der Großen.740 Dafür, daß es zur Merowingerzeit am Königshof über den Kreis der obersten Reichsbeamten und über die jeweils an den Hof zur Versammlung und Beratung berufenen Großen des Reiches hinaus zumindest Ansätze zu höfischer Gesellschaft mit höfischer Kultur in Dichtung und Gesang (und in Geschichtsschreibung) gegeben hat, sehen wir an Venantius Fortunatus,741 einem lateinisch schreibenden, an Vergil geschulten und auch noch in der Tradition Ovids mit seiner Liebeslyrik stehenden Gelehrten und Poeten am merowingischen Hof, Verfasser von Hymnen, Elegien, Epigrammen, Gelegenheitsgedichten und von HeiligenViten (so der des Martin von Tours). „Seit Venantius Fortunatus im 6. Jahrhundert wird sie [Maria, die Mutter Gottes] in den Hymnen als ‚domina‘ (‚Herrin‘) gepriesen“ (Spechtler, S.  394).742 Es beginnt damit die „Marienlyrik“, im Hochmittel­ alter wichtige Sparte der Dichtung der Trobadors, Trouvères und der Minnesänger. Über den Hof Karls des Großen, also vor und nach 800, und darüber, wer dort die Gesellschaft gebildet und wie gelebt hat, wissen wir vor allem durch Karls des Großen Biograph Einhard vergleichsweise viel. Bevor ich die hier charakteristischen Sachverhalte nenne, noch zwei Vorbemerkungen über Änderungen gegenüber der Merowingerzeit. Als der zuvor Hausmeier Pippin 751 König geworden war, ist das Amt des Hausmeiers praktisch abgeschafft worden. Auch am Königshof hat es Änderungen bei den obersten Ämtern gegeben. (Das möchte ich nicht im einzelnen darstellen, verweise statt dessen auf Mühlbacher (S. 252 f.). Die wichtigsten Hofämter am Hof Karls des Großen habe ich in anderen Zusammen­hängen in B.II.1.a) genannt.) Jetzt soll ein Bild der Gesellschaft am Hof Karls des Großen folgen, das über das sozusagen Amtliche hinausgeht, ohne daß die obersten Beamten deshalb aus der Betrachtung ausgeschlossen werden (Mühlbacher, S. 239–246). Zunächst: Besonders wichtiger Teil der Hofgesellschaft waren Karls Töchter und Söhne. Der König hat, wenn er zuhause war, nie ohne sie gespeist. (Wenn er auf Reisen ging, 740

Zu Oberflacht vgl. Dannenbauer (21975), S. 100 f. Geb. um 530 bei Treviso, gest. nach 600 in Poitiers, in Aquitanien. War, wie Cassiodor (dieser am ostgot. Hof; nach dessen Untergang wichtige Einflüsse auf das benediktinische Mönchtum), letzter Repräsentant der klassisch-antiken Bildung im italisch-gallischen Raum (Boehm, S. 163). Von Ravenna 565 zu einer Pilgerfahrt ins Frankenreich nach Tours ans Grab des hl. Martin, zog dann durch Gallien, wo sich sein Ruhm rasch verbreitete, dann nach ­Poitiers, ins Kloster der Königinwitwe Radegunde; 576 zum Priester, 599 zum Bischof von Poitiers geweiht. 742 Damit diese Sachbereiche aus dem Gesamtbereich „Höfische Gesellschaft im Mittel­ alter“ nicht isoliert stehen, hier noch eine Bemerkung Spechtlers in seinem Kapitel „Erste deutsche Liebeslyrik und Entstehungsthesen“: „Die Hochstilisierung Mariae schafft auch Voraussetzungen für die Darstellung der Dame [frouwe] durch den Sänger des sogenannten hohen Minnesangs um 1200. Die Tradition Ovids mit der Thematik ‚Liebe als Leidenschaft‘ ist bekannt, das lateinische Preisgedicht ist seit Venantius Fortunatus fester Bestandteil der lateinischen weltlichen Dichtung …“, S. 396. 741

B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

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begleiteten sie ihn, die Söhne ritten neben ihm, die Töchter folgten, gesichert von der Leibwache.) Der König hat an seinem Hof die Gelehrten höchsten Ansehens seiner Zeit versammelt, den Grammatiker Peter von Pisa, der zuvor an der alten Schule von Pavia gelehrt hatte, Paulinus, der dann Patriarch von Aquileja wurde, den Langobarden Paulus Diaconus vom Königshof in Pavia, Historiker und Dichter, und noch andere. Der größte von allen war der Angelsachse Alkuin, den Karl 781 in Italien kennengelernt hatte. Alkuin kam 782 nach Aachen; er wurde „das neidlos anerkannte Oberhaupt des Gelehrtenkreises“ (S. 241). Er war auch ein sehr guter Lehrer, der mit Karl und für ihn sehr viel für die Verbreitung der Bildung im Frankenreich getan hat. (Zu einigen Aspekten der Bildung im Zusammenhang mit der Legitimierung von Herrschaft zur Zeit Karls siehe auch Kapitel B. V.6.a) im Annex betr. Legitimitätsprinzipien.) Es sammelte sich um den Kreis der Gelehrten und Lehrer eine Schülerschar, aus der Angilbert (zu ihm mehr weiter unten) und Einhard, Historiker und dann Biograph Karls des Großen, literarisch die wichtigsten waren. Auch Frauen gehörten dem gelehrten Kreis an, so Karls Schwester Gisla und seine Tochter Rotrud. „Die Wissenschaft durchbrach die Schranken der Etikette und überbrückte alle Standesunterschiede, sie schuf im Gelehrtenkreise am Hof zwanglosen heiteren Verkehr  …; sie knüpfte enge Freundschaftsbande zwischen Männern, die, verschieden in Herkunft und Beruf, ein höheres Interesse einte“ (S. 243): die Förderung der Bildung.743 „Die Vertraulichkeit des Verkehrs kennzeichnet auch eine von Alcuin eingeführte angelsächsische Sitte, welche dessen Ungezwungenheit ebenso sehr sicherte, wie sie [und das ist wieder charakteristisch für „Gesellschaft“:] diesen Kreis in sich selbst abschloß. Jedes Mitglied der gelehrten Tafelrunde führte seinen Beinamen und wurde von den Genossen nur mit diesem genannt. So hieß Karl … David, Alcuin nach Horaz Flaccus, Angilbert Homer, Einhard Beseleel nach dem kunstfertigen Erbauer der Stiftshütte, der Erzkaplan [und Erzbischof] Hildebald von Köln … Aaron …“;

es folgen noch viele andere, auch der Kämmerer und der Seneschalk; des Königs Schwester Gisla war Lucia, die Tochter Rotrud Columba (S. 243). Die im Kreis um „David“ entstandene poetische Literatur ist „getreues Spiegelbild“ der Mitglieder dieses Kreises und des Lebens am Hof; sie reicht von bloß Schulgelehrsamkeit bei einigen bis zu sehr hoher Qualität bei Alkuin und gutem Niveau bei Angilbert. Die „Muster“ sind vor allem Vergil und Ovid, seltener Horaz, Lucanus, Martial und Properz, öfter dagegen der christliche Dichter Prudentius und jener „merowingische Hofpoet“ – was nicht negativ besetzt ist –­ Venantius Fortunatus. Ich gebe zwei kurze Proben. Mühlbacher (S. 246) schreibt: „Im Mittelpunkt der höfischen Dichtung steht der ‚David‘ dieser Gelehrtenrunde, König Karl. ‚David liebet die Verse, ertöne, o Leier, in Versen. David liebet die Dichter …‘ (usw.)

743

Über „Die karolingische Reichsreform als Bildungsreform“ L. Boehm, S. 166 ff.

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so singt Angilbert einmal. … . Wie der König werden … auch seine Söhne angesungen, und in zarterer Weise bringen die Poeten auch seinen schönen Töchtern744 ihre Huldigungen dar“, besingen Karls zweite Frau, Hildegard, und seine vierte, Luitgard, rühmen „ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit, ihre Milde und … ihren Geist“ (S. 238). „Einer der Dichtergrüße, die Angilbert an den Hof sendet, feiert den geliebten König, den Freund der Dichter und Gelehrten, …, des Königs Schwester Gisela und dessen Töchter, Rotrud, die hochbegabte, und Bertha, die herrliche ‚Jungfrau‘, ein ‚Mädchen, das würdig und wert ist aller Gesänge der Musen‘,

und endlich seine Freunde am Hofe“ (Mühlbacher, S. 239). So wie vor 600 Venantius Fortunatus zum ersten Mal Maria als domina gepriesen hatte, finden wir 200 Jahre später an Karls Hof Dichtung und Gesang zur Huldigung an verehrenswerte schöne Frauen, aber da ist noch nichts von der Stilisierung der Minne, die wir dann aus dem von den provenzalischen Trobadors beeinflußten westdeutschen Minnesang des Hohen Mittelalters kennen, wo der Ritter seine hohe, dichterisch erhöhte, für ihn nicht zu erreichende vrouwe besingt, gerade als die, die für ihn nicht erreichbar ist.745 Nur selten veranstaltete König Karl Gastmähler, nur an hohen Festen und dann nur im Rahmen großer Gesellschaft. Das Essen war keineswegs spärlich, aber auch nicht üppig. Der König „verabscheute Trunkenheit  … an jedermann, geschweige an sich und den Seinen“. Während des Essens wurde musiziert oder der König ließ sich vorlesen, „mit Vorliebe die Geschichten und Thaten der Alten746 oder Werke des h. Augustin“, besonders „De civitate Dei“ (S. 236). Er übte Gastfreundschaft gegenüber Fremden, bekanntermaßen germanische und auch griechische747 Tugend. „Ihre [der Fremden] Menge konnte fast als eine Last für den Hof, sogar für das Reich bezeichnet werden“. Der König ließ sich aber von den damit verbundenen Unannehmlichkeiten und Nachteilen nicht beeinflussen. „… höher … stand ihm der Ruhm der Freigebigkeit und der Lohn eines guten Rufes“ (S. 237). Zum Schluß zwei Aspekte des Hoflebens, die ich nur kurz erwähne. Der König unterschied sich mit seiner stets fränkischen Tracht im Alltag kaum von „der gemeinen Volkstracht“. An höchsten Festtagen und beim Empfang fremder Gesandtschaften zeigte er etwas mehr Pracht. – Karl hat die Pfalz zu Aachen bauen 744

„Karls Töchter waren sehr schön. Nicht nur die Dichter besingen in begeisterten Tönen ihre Schönheit, auch der nüchterne Einhard bezeugt sie“ (S. 239). Im Rahmen der Schilderung eines Jagdausflugs huldigt Angilbert der Schönheit der Hrouthaid (S. 238). 745 Bertha und Angilbert dagegen hatten miteinander zwei Söhne. 746 Mühlbacher (S. 234) fügt hinzu: „Er, Karl, ließ die uralten deutschen Heldengesänge – ‚die barbarischen Lieder‘ nennt sie Einhard, ‚in denen die Thaten und Kriege der alten Könige besungen wurden‘ – aufzeichnen, um sie der Vergessenheit zu entreißen“; sie sind dann allerdings doch verloren gegangen. 747 Ein Beispiel aus der „Odyssee“ ist 4, 30–36.

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und so stark ausbauen lassen, weil es dort die zuvor im Besitz des römischen Fiskus und deshalb nun zum Königsgut gehörenden Thermalquellen gab, die er zu therapeutischen und mit seiner männlichen Gesellschaft zu sportlichen Zwecken nutzte (S. 235). Die höfische Gesellschaft des Hohen Mittelalters war seit Beginn der Kreuzzüge zunehmend „ritterlich“ geprägt, von einem Rittertum, das sich, vom niederen Adel und den ritterlich dienenden Ministerialen bis hinauf zum König, dem Ideal verpflichtet fühlte, ehrenvoll allen sich nicht selbst Schützenden Schutz zu lei­sten: Klerikern, Frauen, Waisen, Armen, auch den inzwischen nicht mehr waffenfähigen Bauern, der Kirche insgesamt, nun aber auch dem „Heiligen Land“, dem „Grab Christi“, gegen die „Heiden“. Während die Kultur am Hof Karls des Großen unbeschadet der von Einhard monierten Pflege der „barbarischen“ Heldenlieder im wesentlichen eine von Geistlichen getragene lateinische Kultur gewesen ist, war die Kultur an den Höfen des Hohen Mittelalters eine volkssprachliche Laienkultur. „An den … Fürsten­ höfen Frankreichs, vor allem im Süden, hatte sich eine reiche Adelskultur ent­ wickelt. Die Fürsten waren ihre Zentren, der niedere Adel ihre … Träger und Verbreiter. An diesen Fürstenhöfen sangen die Trobadors748 die ersten Minnelieder, dort entstanden auch viele Neuformungen alter Heldenlieder“ (Brunner/Daim, S. 37). Der deutsche Minnesang749 setzt um 1150 im Donauraum eigenständig ein und wird etwa ab 1190 im deutschen Südwesten von der Trobador-Lyrik vor allem der Provence beeinflußt. Das heißt aber nicht, es habe keine Einwirkungen mehr von geistlicher Seite auf die Sitten und damit auf die Kultur der höfischen Gesellschaft gegeben. Wir sehen es weiter unten. „Die adlige Laiengesellschaft des hohen Mittelalters hat die neue Kultur, die im 12. Jahrhundert an den Fürstenhöfen entstand, selbst als ‚höfisch‘ bezeichnet, und sie hat das Programm dieser Kultur in den Begriff hövescheit gefaßt“ (Bumke, S. 67), was nhd. wörtlich mit „Höfischkeit“ wiederzugeben wäre. Charakteristisch dafür – so die zeitgenössischen Quellen – sind zuht und vuoge. Dabei ist zuht (nhd. Zucht) weit von „züchtigen“ entfernt, es rückt näher an unser „züchtig“ heran. zuht ist Ergebnis von „sich beherrschen können“. Das Subst. vuoge gehört zu mhd. v­ üegen (nhd. fügen), etwa i. S. v. passend (= so, wie es schickt) zusammentun (Kluge, 23. Aufl., S. 289). Das „Programm“ der neuen Kultur ist also ein Erziehungs-Programm. Die zur Verfügung stehenden Quellen, sagt Bumke (S. 68), stimmen in den beiden wichtigsten Punkten überein: Die Erziehung ist an den Hof gebunden, und es wird zwischen ritterlicher körperlicher Ertüchtigung und „Einübung von höfischer Haltung und Gesinnung“ unterschieden. Das zuerst Genannte 748 Siehe Lange (S.  181 ff.) über die Trobadors des Südens, vor allem der Provence, ab etwa 1100 (in Altprovenzalisch), deren erster Herzog Wilhelm IX. von Aquitanien war, und (S.  184 f.) über die Trouvères des Nordens, ab etwa 1160 (in anglo-normannischem, cham­ pagnischem und pikardischem Dialekt). 749 Mehr dazu bei Hunkemöller.

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ist prinzipiell nichts Neues; geändert hatten sich aber die Waffen und die Kampfesweise, und es kam weniger auf die Kühnheit des „Helden“ an als auf das Geübtsein, auf die „körperliche Bewegungskontrolle“, die zu Überlegenheit verhalf, weniger auf die Kraft. In bezug auf höfische Umgangsformen wurde „von den jungen adeligen Männern … erwartet, daß sie eine gewisse Redegewandtheit erwarben, Hygienevorschriften beachteten, die Beizjagd mit abgerichteten Vögeln erlernten, Schach spielen konnten“ (S. 69). Auf den ersten Blick könnte man das, was da genannt ist, für arg disparat halten, wir werden aber sehen, daß „Linie“ drin ist. Die Schule für das Erlernen höfischer Gesittung war – natürlich – der „Dienst am Hof“.750 Der „Tischdienst an der herrschaftlichen Tafel [spielte] dabei eine wichtige Rolle …; außerdem mußten die Knappen dem Herrn und der Herrin zu persönlichen Diensten zur Verfügung stehen“ (S. 69). Besonders wichtig war es, sich gegenüber Damen richtig zu benehmen. Bumke (S. 69 f.) sagt und belegt, daß Vorstellungen und Begriffe für das, was zu erlernen war, zum Teil aus römischer Moralphilosophie und Soziallehre stammend, bereits im 10.  und 11.  Jahrhundert in Kreisen der deutschen Hofkapelle (siehe B.II.1.a)) und in Bischofskirchen „zu einem Programm der feinen Hofsitte (…) ausgearbeitet wurden, das in der Folgezeit eine große Ausstrahlungskraft auch auf die adlige Laiengesellschaft entfaltete“. Bumke zeigt den Einfluß, den Hugos von St. Viktor wohl zwischen 1120 und 1130 verfaßte, für die Erziehung von Klo­ sterschülern (Novizen) gedachte Schrift „De institutione novitiorum“ auf die höfische Bildung adliger Laien gehabt hat (S. 70 f.). Es kommt auf die „Korrespondenz von innerer und äußerer Disziplin“ an, besonders in Sachen der Kleidung, der Gesten, der Art zu sprechen und bei Tisch. Auf Gestik und Sprache liegt das Haupt­gewicht. Ich will hier nicht die Einzelheiten wiedergeben, wohl aber ein er­ stes Fazit: „Sicher ist …, daß die Forderungen und Vorschriften der geistlich Gebildeten beim Laien­ adel auf die Bereitschaft trafen, die eigene Sprechweise dem höfischen Protokoll zu unterwerfen. Die adlige Hofgesellschaft fand ihr Selbstverständnis in der Abgrenzung gegenüber allem, was nicht zum Hof gehörte und was nicht den Normen entsprach, nach denen das Leben am Hof organisiert war. Alles, was nicht ‚höfisch‘ war, wurde als ‚bäurisch‘ (dörperlich) ausgegrenzt und dem Spott und der Verachtung preisgegeben. Die Hofgesellschaft wollte sich sichtbar und hörbar von den ‚Dörpern‘ [Dörflern, Bauern] unterscheiden, im Benehmen, in der Kleidung und auch in der Sprache. Höfische Sprache ist durch so­ziale und kulturelle Ausgrenzung geprägt, durch die Ablehnung einer ‚Sprache, die den Regeln des Hofes nicht entspricht‘“ (Bumke, S. 79, mit Fußn. 35: „rede, diu niht des hoves sî“, so Gottfried von Straßburg).

Worauf es ankommt, ist: Gesellschaft des 11.  und 12.  Jahrhunderts bedeutet „Abgrenzung“, so wie die Gesellschaft am Hof des germanischen Anführers zur Zeit des Tacitus vom Gros der Glieder des Gemeinwesens abgehoben war. Das – 750 Der Hof Herzog Welfs V. (gest. 1120) war so hoch angesehen, „daß die Vornehmsten im Land ‚ihm ihre Söhne zur Lehre und Erziehung anvertrauten‘“ (S. 69).

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nicht in einer Theorie, sondern im empirischen Befund – Wesentliche von „Gesellschaft“ ist Absonderung. Im übrigen sind die Unterschiede aber noch groß. Zur Zeit des Tacitus gab es keine ständischen Schranken zwischen den Gesellen des germanischen Anführers und dem Gros der Glieder des Gemeinwesens, geschweige denn Spott und Verachtung. Im Hohen Mittelalter haben wir die ständischen Schranken zwischen dem Adel, der sich dann nach unten abzuschließen beginnt,751 und den dummen (tumben = stummen) Bauern, die nicht zu reden vermögen, nicht höfisch zu reden. Weil auch die Gestik Ausdrucksmöglichkeiten bietet, bedarf es der „Beherrschung aller körperlichen Bewegungen“ (S. 81). Maßstäbe sind „Angemessenheit“ und „Anstand“. Das höfische Protokoll schränkt den „körperlichen Bewegungsspielraum des einzelnen“ ein, bis – besonders bei festlichen Anlässen – hin zum Zeremoniell (S. 82) und zum Ritual (S. 84). In bezug auf Angemessenheit und Anstand waren, was Körperbewegungen betrifft, Frauen stärkeren Beschränkungen unterworfen als Männer. Bumke gibt wieder, was alles einer Dame hier nicht erlaubt war, und bilanziert: „Die höfische Erziehungslehre war nicht auf die Selbstverwirklichung der Frau angelegt, sondern wollte die Frauen auf eine überwiegend passive Rolle in der Gesellschaft festlegen: sie sollten eine Zierde der Hofgesellschaft sein und durch die Sittsamkeit ihres Auftretens als Repräsentantinnen höfischer Tugendhaftigkeit erscheinen“, und er meint dazu: „Dieses höfisch-pädagogische Leitbild war sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Wirklichkeit“ (S. 84 f.). Überall, ob beim Ritual des ritterlichen Zweikampfs, bei der Begrüßung oder bei der Körpersprache der höfischen Minne, kam es darauf an, „durch Eleganz, Vornehmheit und Anstand in den körperlichen Bewegungen“ Mäßigkeit (maze) und Tugendhaftigkeit zu zeigen (S. 86). Hugo von St. Viktor hat sich in bezug auf die Disziplin in der Kleidung, was die Klostererziehung angeht, zu Material, Beschaffenheit, Farbe, Zuschnitt und Schicklichkeit geäußert (S. 87–90), und zwar, indem er sagt, was nicht sein soll. Das ist zugleich indirekt eine Beschreibung der höfischen Kleidung: kostbar, fein, ausländisch, sehr farbig752 bis „zu pfauenhafter Buntheit“, „‚im französischen Schnitt‘“ (S. 88), körperbetont, zuweilen bis zur Enthüllung. Hier hat sich die höfische Gesellschaft nicht vom Tadel Hugos beeinflussen lassen, „weil die adlige Hofgesellschaft in der Pracht ihrer Kleidung einen Ausweis ihrer … Sonder­ stellung sah“ (S. 86). Hier haben wir wieder das Charakteristikum „Absonderung“. Freilich, die „Art des Tragens“ solcher Kleidung mußte erlernt und geübt werden. 751 Nachdem die untere Schicht der Edelfreien mit den Ministerialen zum „Niederadel“ zusammengewachsen war (Näheres in B.II.1.a)). 752 Den Bauern war nur schwarzgraues und graublaues Material erlaubt. Erstmals sozu­ sagen schriftlich gesetzlich vorgeschrieben wurde das im „Bayerischen Landfrieden“ von 1244 (S. 88, mit Quelle).

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Große Bedeutung über das hinaus, was wir bisher über das Benehmen in hö­ fischer Gesellschaft erfahren haben, hatte das Benehmen bei Tisch. Das hat besondere Gründe. Zum einen war das Miteinander-Speisen ein Rechtsakt, durch den die am Tisch Versammelten zu einer Friedens- und Freundschaftsgemeinschaft wurden  – was übrigens bis ins Frühe Mittelalter zurückverfolgt werden konnte (S. 90 f., mit Quellenbeleg). Zum anderen war das festliche Mahl, das der Herrscher seinen Großen aus herrscherlichem oder familiärem Anlaß gab, „die zentrale Veranstaltung“, in der die Existenz des Gemeinwesens und „das Funktionieren von Herrschaft“ nach außen sichtbar wurde. Hier spielte z. B. die Sitzordnung als Rangordnung innerhalb des Herrschaftssystems eine Rolle. – In den Lehrschriften und z. T. auch in der höfischen Dichtung geht es wieder um Disziplin des Benehmens, jetzt speziell bei Tisch, und um Disziplin beim Essen selbst. Bumke nennt einige der wichtigsten Lehren, die der Liebesgott (Dieu d’Amours) im von Guillaume de Lorris noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, also noch im Hochmittelalter geschriebenen ersten Teil753 des „Rosenromans“ dem Liebenden gibt (S. 95 f.). Ich gebe davon nur das wieder, was auch hier die Absonderung der höfischen Gesellschaft charakterisiert: „Zur Liebe ist nur derjenige fähig, der alles ‚Bäurische‘ (vilanie) abgelegt hat. Höfisches Wesen zeigt sich zuerst in der Sprache: der Liebende soll ‚sanft und vernünftig im Reden‘ sein“ („De paroles douz e raisnables“; I, V. 2100),754 d. h. „er soll ‚keine schmutzigen und häßlichen Worte … gebrauchen‘“ („… que tu ne dies/ces orz moz ne ces r­ ibaudies“; V.  2109/10); außerdem „soll er ‚sich vornehm betragen‘“ („cointement mener“; V. 2134). Rüdiger Schnell untersucht den hochmittelalterlichen Minnegesang „von einem Selbstverständnis der höfischen Gesellschaft her  …, wie es sich in Tischsitten, Festen, Turnieren und Vogeljagd dokumentiert“ (S.  108). Darauf sind wir vom zuvor Gesagten her schon etwas755 vorbereitet: Kernpunkt (bei unterschiedlicher Wortwahl) der Forderungen an die zur höfischen Gesellschaft Gehörenden war: Selbstkontrolle, innere und äußere Disziplin, sich beherrschen. Auch Schnell sagt oben gleich anschließend: „Dabei geht es stets um Selbstbeherrschung, Trieb­ bändigung“ bei zugleich „Abgrenzung gegenüber ungebildetem, zügellosem, wildem Verhalten und solchen Personen und Gruppen, die der Affektkontrolle nicht fähig sind“ (S. 108 f.). Daß im Minnegesang, um dessen Verständnis es Schnell geht, vor allem die Männer zeigen müssen, daß sie sich unter Kontrolle haben, „hängt mit der Vorstellung von ihrer körperlichen Überlegenheit zusammen“. Sie könnten den Sexual­ trieb mittels Gewalt befriedigen; 753

König, Eberhard, S. 9 f. Gemäß der Ausgabe München 1976, mit der Übersetzung von Karl A. Otto. 755 Über Turniere und Falknerei hat Hugo von St. Viktor, dem es um die Novizen ging, natürlich nichts gesagt. Was Schnell (S. 126 ff.) darüber bringt, fügt sich seinem Ergebnis, um das es mir oben geht, schlüssig an. Ich verzichte auf Einzelheiten. 754

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

„deshalb müssen gerade sie die Unterwerfung unter die Frau einüben, um sich selbst beherrschen zu lernen. Der Unterwerfungsgestus, so zahlreich zelebriert im Minnegesang, zielt letztlich [jedoch] nicht auf die Unterwerfung unter die Frau, sondern auf die Unterwerfung der eigenen Triebe. … im Minnegesang zelebriert der Adel die freiwillige Unterwerfung unter ein schwächeres Wesen als stolze Geste der Selbstbeherrschung“ (S. 113 f.).

Gemäß im Mittelalter weit verbreiteter Überzeugung war „nur der zur Herrschaft berechtigt und befähigt …, der nicht selbst der Herrschaft der Triebe unterworfen“ war. „Einfacher ausgedrückt: Nur der dürfe über andere herrschen, der sich selbst beherrsche“ (S.  118), und im Minnegesang „mit seiner Themati­ sierung der Selbstbeherrschung“ werde damit, meint Schnell, „einem sich als ‚höfisch‘ verstehenden Publikum die Vorstellung suggeriert, für Herrschaft legitimiert zu sein“ (S.  125), und (S.  127) so werde auch „verständlich, warum sich auch Kaiser und Könige im Dichten von höfischen Minneliedern versucht haben: auch der Minnegesang demonstriert wie die Falknerei den Anspruch des Adligen auf Selbstbeherrschung und Herrschaft.“ (So verständlich und berechtigt es ist, an das Phänomen Minnegesang auch ideologiekritisch heranzugehen und von daher zu überlegen, wieso sich „Kaiser und Könige im Dichten von höfischen Minne­ liedern versucht haben“, sollten wir nicht vergessen: Es kommt vor, daß eine/einer etwas bloß aus Freude an der Sache tut, oder: versucht, ob sie/er es „vielleicht auch kann“756 – abgesehen davon, daß (aus in B.II.1.a) genannten Zusammenhängen) im Hochmittelalter sich auch die Könige/Kaiser als „Ritter“ verstanden haben.) Die – wie erwähnt, ab dem Hochmittelalter sich nach unten zunehmend757 abschließende, jetzt adlige – höfische Gesellschaft des Mittelalters zeigt, nicht überraschend, wieder das Wesensmerkmal von Gesellschaft, das wir in B.III.1.a) kennengelernt haben, wo uns „Gesellschaft“ zum ersten Mal empirisch faßbar war: die Absonderung. Für das Hochmittelalter wissen wir aus diversen schriftlichen Quellen, auch indirekt aus Angaben, die Minnesänger in ihren Liedern oder in ihren Epen758 machen, außerdem manchmal aus Bodenfunden, daß es wiederum Höfe als Zentren der Gesellschaft sowohl beim König und Kaiser als auch bei den Fürsten gegeben hat und nun auch, nicht selten, herunter bis zur Adelsburg, entsprechend abgestuft, was Umfang und Niveau betrifft. So waren z. B. am Hof der Babenberger (­Herzöge von Österreich) in Wien zeitweise gleichzeitig Rei(n)mar der Alte (Reinmar von Hagenau) und Walther von der Vogelweide, die dort auch eine Dichterfehde über ihre unterschiedlichen Auffassungen (Walthers von der Vogel­weide

756 Wenn man gelesen hat: Oswald von Wolkenstein aus Südtirol hört, vielleicht in Konstanz, während des Konstanzer Konzils zu Anf. des 15. Jh., einen Sänger, der niederdeutsch singt, und Oswald sagt wohl „Wetten, das kann ich auch“ (Dieter Kühn, S. 203), setzt sich hin und schreibt, vermutlich „mit kurzem Anlauf“, das Lied Kl. 96 (Schönmetzler, S. 226 f.), wird man Ideologie-Verdacht vielleicht nicht mehr so schnell hervorholen. 757 Im 15. Jh. formalisiert (Boockmann, S. 31 f.). 758 So Gottfried von Straßburg in „Tristan 585“ (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 4054).

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sozusagen ketzerische Auffassung) vom Minnegesang ausgetragen haben. Die größeren Burgen auch des Niederadels wiesen einen Palas auf, das mehr oder weniger repräsentative Wohn- und Aufenthaltsgebäude. In vielen Fällen teilten sich mehrere Niederadelsgeschlechter eine Burg (Ganerbenburg), was zu großer Enge führen konnte, aber auch die Gesellschaft etwas vergrößerte. Rödel, der sich auf viel rheinland-pfälzisches Landesarchiv-Material stützen konnte, macht (S.  93) auch auf den Burggarten als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens auf der Burg während der schönen Jahreszeit aufmerksam: „Wie ein Gegenpol zur Düsternis und Enge der Burg dient der Garten als umhegter Raum von und für Kultur und heitere Lebensart. Die Baumgärten in oder bei einer Burg kennen wir schon aus der mittelhochdeutschen Literatur als besondere Erlebnisräume … . Geselligkeit und Zeitvertreib im blühenden Garten sollten die Einsamkeit langer Wintertage wettmachen.“ c) Adlige außerhöfische Gesellschaften im Mittelalter Im 12. Jahrhundert entstanden in Jerusalem im Zusammenhang mit Kreuzzügen und Pilgerfahrten Krankenpflegegesellschaften, die Hospitäler unterhielten, so die „kirchen- oder tempelherren gesellschaft“, gegründet 1118/19, die später als geistlicher Ritterorden mit ihrem Kurznamen „Templerorden“ hieß,759 und die 1190 von Lübecker und Bremer Bürgern gestiftete „teutsche Gesellschaft“ oder der „teutsche Orden“, später der „Deutsche Ritterorden“ oder die „Deutschherren“. Der sozusagen Anführer (das Oberhaupt) hatte jetzt keine fürstliche Bezeichnung mehr, sondern war mit dem Meisternamen ausgestattet: „Großmeister“ („Grand Maître“) bei den Templern, „Hochmeister“ bei den Deutschherren. Ganz anderen Charakter als die bislang beschriebenen ritterlichen Gesellschaften haben die von jenem Typ, den ich jetzt mit einem Beispiel zeige. (Ich entnehme es Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 4050.) Die Historiker nennen diesen Typ zwar „Ritterbund“, die Ritter selbst sprachen aber in der Regel immer noch von „Gesellschaft“. Die Zeit ist Spätmittelalter: „(der bischof von Paderborn sorgte kräftig für sicherheit der landstraszen) des so wart eine geselschaft gemachet wider in [ihn], daʒ waren ritterschaft in Hessen unde in Westfalen, die hiszen di Dengeler und di furten kloppel“ (auch im Wappen). Neu ist, daß der Zusammenschluß g e g e n einen Reichsfürsten gerichtet war. Ursache ist in der Regel eine tatsächlich oder vermeintlich gegebene Anmaßung des Fürsten gegenüber den Rittern gewesen.

759

Zum Templerorden s. a. Kap. B.II.2.a)cc) (Frankreich), dort bei Philipp IV., „dem Schönen“, 1307 u. 1312. – Die sich nach 1725 von den britischen Inseln auf den Kontinent ausbreitenden Freimaurergesellschaften nannten ihre Versammlungsorte „Tempel“ und die Vorsitzenden der Großlogen „Großmeister“. (Zu den Freimaurergesellschaften s. Kap. B.III.1.e).)

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Das hat mit dem Niedergang des Ritterwesens zu tun (Näheres in Kapitel B. II.1.c)). Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des 14. Jh. hat es kriegerische Auseinandersetzungen nicht nur zwischen Fürsten und Städtebünden, sondern auch zwischen Zusammenschlüssen von Rittern und Fürsten sowie zwischen Rittern und Städtebünden gegeben, zwar nicht nur, aber besonders in Schwaben, im Elsaß, im Westerrich und am Rhein. Es ging, sehr abgekürzt formuliert, nicht zuletzt um die Behauptung von Selbständigkeit gegen Bestrebungen zur Aus­ dehnung fürstlicher Territorialhoheit. Ich nenne hier (aus Bd.  5, Sp.  4051) nur einige der Zusammenschlüsse der „rittere und knehte [= Edelknechte; dazu weiter unten] zů Swoben und an dem Ryne …: etteliche nantent sich Sant Gergen geselleschaft, etliche Sant Wilhelmes geselleschaft, etliche die geselleschaft der­ panthier, oder der lowen geselleschaft“ und, aus einer Augsburger Chronik: „da wurden die herren, die in der gesellschaft waren, überain und widersagten den stetten und zugen auf sie und verpranten in [= ihnen] vil dörfer ab“. Zum Schluß aus Nassau (Sp. 4027): „wieder [= wider] die landtgraven entstundt auch durch die von Nassaw ein bundt, ‚gesellen von der alten minne‘ ihr nam war“. „Knecht“ gab es im Mittelalter in zwei Bedeutungen. Zum einen hießen so Personen in einem bezahlten Dienstverhältnis: Hausgesinde, Tagelöhner, Hilfsarbeiter, Handwerker, die nicht Meister waren (also solche, die i n z w i s c h e n „Gesellen“ hießen),760 das städtische Dienstpersonal, die städtischen Söldner761 (Isenmann, S. 326). Zum anderen hießen diejenigen nicht aus dem „alten Adel“ stammenden, sondern aus der Ministerialität in den hochmittelalterlichen „Niederadel“ Aufgestiegenen, die, obwohl sie ebenfalls ritterlich kämpften und sich ritterlich hielten, „Edelknechte“ statt „Ritter“, wenn sie auf den Erwerb der Ritterwürde verzichtet hatten, der mit hohen Kosten verbunden war (Rödel, S. 34). Also auch hier Abgrenzung der Ritter nach unten, umgekehrt für die nichtritterlichen Knechte der Zusatz „Edel-“ zwecks Erhöhung.

760 Die so sehr ehrende Benennung hatten einander zunächst auch die Handwerksmeister der mittelalterlichen Zünfte gegeben (Näheres in Kap. B.III.1.d)), und ab der 2. H. des 14. Jh. nannten schließlich auch die bis dahin „Knechte“ im Handwerk einander in den von ihnen gegründeten Vereinigungen ebenfalls „Gesellen“, zunächst intern. Ich „erzähle“ hier „nicht“ etwa Nebensächlichkeiten. Allgemein sind für Gesellschaften, neben dem Sich-Abgrenzen der Herausgehobenen nach unten, charakteristisch die Versuche zur Erhöhung. 761 Auch generell wurden die Söldner, also die gegen Soldzahlung Kriegsdienst Leistenden, „Knechte“ genannt, und zwar „Landsknechte“, wenn sie aus „kaiserlichen Landen“ angeworben waren, statt aus Schweizer Kantonen. – Bei Grimm (Wb., Bd. 5, Sp. 4026) heißt es, daß die Landsknechte selber einander „Gesellen“ nannten, wie sie „auch sonst gern ehrende bezeichnungen der ritterschaft auf sich übertrugen“.

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d) Gesellschaften in den mittelalterlichen Städten Es geht in diesem Kapitel um diejenigen Personenvereinigungen in den mittelalterlichen Städten, die in der Sprache jener Zeit tatsächlich „Gesellschaften“ (manchmal auch „Bruderschaften“) genannt worden sind, thematisch nicht um Gilden und Zünfte. Dennoch muß ich auf diese eingehen, weil sonst die uns interessierenden Gesellschaften nicht recht verständlich sind. Weil das Thema dieses Kapitels nur vor dem Hintergrund der Städte-Entstehung und Entwicklung erörtert werden kann, muß ich zu dieser das für uns Wichtige sagen. Daß die Merowingerkönige in den zuvor zum römischen Reich gehörenden Gebieten nördlich der Alpen vieles dort aus spätrömischer Tradition Überkommene ganz oder mit Veränderungen übernommen haben, kennen wir aus B.II.1.a). Aus diesem anderen Zusammenhang wissen wir auch, daß das römische Reich in seinen Provinzen – abgesehen von jeweils nur wenigen Städten mit dem Rechts­ status einer colonia (wie Köln) oder eines municipium (wie Augsburg und Rottweil) und abgesehen von der Ausnahmesituation einer Stadt als Kaiserresidenz (Trier) – in civitates untergliedert war. Diese hatten einen, von heute her ge­urteilt, klein- bis mittelstädtischen Vorort als Zentrum des umliegenden zugehörigen Landes mit den weitaus überwiegend mehr oder weniger gut ausgestatteten Einzelgehöften (Bauernhöfen), den innerhalb des zugehörigen Grund und Bodens errichteten villae rusticae, die aber gleichwohl zusammen mit dem Vorort das als „städtisch“ verstandene Gemeinwesen civitas bildeten. Da das römische Christentum seit Konstantin dem Großen (Kaiser 306–337) offiziell gültige Religion war, wurde die Organisation der Kirche der Gliederung des römischen Reiches angepaßt. Es gab, jedenfalls im Prinzip, für jede civitas einen Bischof, mit in der Regel der Bischofskirche am Vorort der civitas. Diese aus dem spätrömischen Reich überkommene Deckungsgleichheit von civitas und Diözese blieb auch nach dem Untergang des weströmischen Reichs auf dessen Territorium erhalten. Das hat (siehe B.II.2.a)aa)) dazu geführt, daß die Bischöfe in ihrer Diözese, in der sie auch zu residieren hatten, Funktionen übernahmen, die eigentlich Sache römischer Zivilverwaltung gewesen wären, so anfangs auch noch im fränkischen Reich. Diese Stellung der Bischöfe in den civitates führte dazu, daß in den meisten Fällen der Bischof dann Stadtherr der aus der Römerzeit überkommenen, während der Völkerwanderung zwar geschwächten,762 aber nur in wenigen Fällen763 untergegangenen Stadt geworden ist. Das gilt auch für die zuvor Kaiserresidenz Trier, gilt für Köln und für die civitates auf dem Boden des ostfränkischen, später deutschen Reichs, soweit diese civitates noch die Christianisierung zur Römerzeit erlebt hat-

762

Brühl, Bd. I u. Bd. II. Z. B. die Colonia Ulpia Traiana (dicht daneben erst später Xanten) war Mitte des 5. Jh. ganz verlassen. 763

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ten.764 „Je weiter wir nach Westen vorschreiten, um so mehr romanische Bevölkerung blieb erhalten; ebenso nehmen die civitates, die Bischofsitze, an Zahl zu.“ Das gilt noch mehr für Italien, und es kommt folgendes hinzu, das die mittel­ alterliche Stadtherrschaft von Bischöfen zusätzlich hat fördern helfen: „Wie die rhein- und donauländischen Bischöfe in den Normannen- und Ungarnstürmen, so waren es in der Ungarn- und Sarazenennot die oberitalienischen, die zur Verteidigung rüsteten und die Stadtmauern instandsetzen ließen“ (Ennen, Zur Typologie, S. 186). Ennen faßt zusammen: „Wir dürfen … die bischöfliche Stadtherrschaft als eine gemeineuropäische Erscheinung765 des frühen Mittelalters bezeichnen“ (S. 187), und sie zeigt dann, wie die Entwicklung der Städte in Oberitalien und die der Städte nördlich der Alpen danach aber auseinandertrifteten. In Ober- und Mittelitalien ist der Adel bis auf einige und dann im ganzen nicht mehr relevante Ausnahmen freiwillig oder gezwungenermaßen in der Stadt seßhaft geworden, in den repräsentativ erbauten Wehrtürmen. Die Auseinandersetzungen zwischen den Adelsfamilien haben sich innerhalb der Stadtmauern abgespielt. Der Adel hat sich in der Stadt am gewinnbringenden Wirtschaftsleben beteiligt – was dann die Trennung zwischen reichen Kaufleuten und handeltreibendem Adel überwinden half. Rechtlich blieb das umgebende Land, der contado, ländlich, aber die Stadt hat das Land, was Herrschaft und Wirtschaft angeht, immer mehr in ihre Abhängigkeit gebracht. Nicht nur die Adligen in der Stadt, auch die Kaufleute und die Handwerker hatten Landbesitz und verwalteten ihn rationell gemäß kaufmännischen Gesichtspunkten. (All das waren Voraussetzungen für die später erfolgte Stadtstaatenbildung in Ober- und im nördlichen Mittelitalien, zu der allerdings noch anderes hinzukommen mußte. Es hat übrigens auch in Südfrankreich Ansätze zur Bildung von Stadtstaaten gegeben, das inzwischen stärker gewordene französische Königtum hat deren Entfaltung jedoch unterbunden.) Die Bewohner der oberita­ lienischen Städte haben sich – ebenfalls wichtig für das Stadt-Land-Verhältnis – auf ihren Landbesitz während der sommerlichen Hitze zurückgezogen, zur Erholung. Zusammenfassend kann man sagen: Stadt und ihr contado waren sehr miteinander verflochten, jedoch als starke Abhängigkeit des Landes von der Stadt. Die Flächen der oberitalienischen Diözesen/civitates waren relativ klein gewesen, und das blieb so; die Bischofsstadt mit ihrer Bischofskirche war Zentrum nicht nur für die Städter, auch die Landbewohner waren eng mit ihr verbunden. Nördlich der Alpen, besonders im Gebiet des – später – Deutschen Reichs, haben sich viele Diözesen in karolingischer und ottonischer Zeit stark verändert, sehr vergrößert, neue sind hinzugekommen.766 Ein so enges Verhältnis zwischen dem Bischofssitz 764

Im 11. Jh. begann die Trennung geistlicher von weltlichen Kompetenzen. Wovon es auch in alten civitates Ausnahmen gab. Ennen (Frühgeschichte, S. 267) nennt solche auffälligen Ausnahmen z. B. für den Loire-Raum. 766 „Rechts des Rheins und im Norden sind die befestigten Sitze neugegründeter B ­ istümer wichtige Keimzellen der mittelalterlichen Städte, sehr ausgeprägt ist das in Münster in Westfalen, aber auch Osnabrück, Minden und Hamburg sind da zu nennen“ (Ennen, Früh­geschichte, S. 267). 765

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und den Bewohnern des ihn umgebenden Landes wie in Italien war schon deshalb gar nicht möglich. Die Klöster, in merowingischer Zeit noch in den oder ganz dicht bei den Städten, bei den alten civitates angesiedelt, entstanden in karolingischer Zeit einsam in Waldgebieten (z. B. mehrere in den Wäldern um Trier, eines, Mettlach, an der unteren Saar). Viele solcher Klöster, etwa Prüm und Echternach in der Eifel, waren Zentren der Rodung und des Landesausbaus. Die meisten Insassen dieser Klöster waren Adlige, ihre Äbte durchweg. Die Klöster waren organisatorisch, wirtschaftlich und kulturell ländliche, nicht städtische Mittelpunkte. Die „kommunale Bewegung“, in Oberitalien besonders wichtig für die Entwicklung der Städte, gab es auch schon recht früh zwischen Rhein und Maas, aber im Nordwesten des Kontinents sind damals keine Stadtstaaten mit Umland nach Art des contado entstanden. Zwar behielten z. B. im Rheinland Römer-Orte in der Merowingerzeit noch einen gewissen Vorrang, hatten rechtlich aber keine Sonderstellung, unterlagen dem allgemeinen Landrecht. Anders als in Oberitalien gewann bzw. behielt das Land, unbeschadet von Verflechtungen, die es auch hier gab,767 im Verhältnis zu den Städten Eigenbedeutung: Die Adligen errichteten ihre Zentren, ihre Burgen normalerweise auf dem Land, selten als Wehrbauten in der Stadt, sie blieben im großen und ganzen unabhängig von der Stadt. Die in den Städten führend werdenden Familien waren in der Regel anderer Herkunft. Um das für unser Thema – abgesonderte städtische Personenvereinigungen – richtig einschätzen zu können, brauchen wir jetzt einen kurzen Überblick über die anderen Arten und Weisen, auf die im Mittelalter Städte entstanden sind. Die Einbrüche der Awaren im 6. Jahrhundert hatten die Haupthandelsverbindungen zum einen vom Schwarzen Meer an die Ostsee, zum anderen von Italien über die Mährische Pforte ebenfalls an die Ostsee sehr gestört. Ab dem 7. Jahrhundert hat sich ein vornehmlich von Friesen betriebener Fernhandel vom Niederrhein an die Küsten der Nordsee und an die Ostsee entwickelt, aber auch Angelsachsen und Skandinavier spielten im Fernhandel im Nordwesten und Norden eine Rolle (Schulze, Vom Reich, S.  263). Die Fernhandelskaufleute zogen zunächst, wenn es über Land ging, in Karawane (wer hinzukam, schloß sich an), zu Wasser im Schiffsverband, z. T. mehrere Kaufleute zusammen auf einem Schiff. Für unterwegs waren sie nicht nur individuell gut bewaffnet (auch waffentüchtig), sondern miteinander im Schwurverband, in der coniuratio, vereinigt. Darauf kommt es weiter unten an. Ab der Karolingerzeit gab es Anfänge eines besonderen Kaufmannsrechts, mit Privilegien für die Kaufleute: „Es gewährte den privilegierten Kaufleuten beson 767 Kaufleute haben aus ihren Gewinnen auch in Grund und Boden auf dem Land investiert, in stärkerem Maß allerdings erst ab Spätmittelalter. Es kam auch vor, daß reiche Kaufleute in den Landadel heirateten. – Auf die Bedeutung der Ministerialen für die Entwicklung der Städte komme ich später oben im Text zu sprechen. – In „Die europäische Stadt des Mittel­ alters“, 41987, S. 176–180, zeigt Ennen mit Köln, Gent, Huy und Metz Varianten.

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deren Königsschutz, Handelsfreiheit, Zollfreiheit, Sicherung der Münze, Sorge für gerechtes Maß und Gewicht, Befreiung von der Wehrpflicht, Bestätigung des Waffenrechtes sowie Gerichtsstand vor besonderen Kaufleuterichtern. Als Entgelt dafür war der Kaufmann Muntmann des Königs, dem er regelmäßig Abgaben zu leisten hatte“ (Planitz, S.  333). Es gab Verträge zwischen Königen über Schutz und Freiheit jeweils auch der fremden Fernhandelskaufleute im eigenen Gebiet (Einzelheiten siehe Schulze, S. 262). Hinzu kam dann die Befreiung der Fern­handelskaufleute von der Verpflichtung zum „Gottesurteil“ mittels Zweikampf oder Feuerprobe und deren Ersatz durch Anerkennung des persönlichen Eids (konkrete Beispiele bei Ennen, 41987, S. 113 ff.) – was später allgemein mit ins Stadtrecht einging. Der Zusammenschluß von Franken- und Langobardenreich ab der frühen Karolingerherrschaft hat die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Räumen über die Alpenpässe wieder sehr verstärkt. An den Küsten von der Somme bis zur Ostsee sind im 7., z. T. erst im 8. Jahrhundert neue kaufmännisch-gewerbliche Ansiedlungen entstanden (früher von Mediävisten oft allgemein als „Wike“ bezeichnet, in der neueren Mediävistik besser „Emporien“ genannt, dazu Ennen, Frühgeschichte, S. 268); das waren Fernhandelsplätze meistens mit Handwerk, an denen es auch Markt und Kirche gab: Quentowik an der Canche, gegenüber den britischen Inseln, Dorestad an der Gabelung von Rhein und Lek, Haithabu am Südufer der Schlei und Birka im Mälarsee in Schweden, dann um 800 eine Stadtwurt, aus der sich Emden entwickelte. Einige dieser Fernhandelsplätze haben nicht überlebt, so Dorestad, das nach den Normannen-Einfällen und nach einem schweren Rheinhochwasser unterging, und Quentowik.768 Haithabu ist ans Nordufer der Schlei, nach Schleswig, verlegt worden (Ennen, 41987, S. 51–57). Mehr Überlebens-Chancen hatten Emporien, die bei alten Römerorten entstanden, „so die merowingischen vici Namur, Huy, Dinant, Maastricht an der mittleren Maas, …, die portus von Tournai und Metz, die merowingischen Vicus-Münzorte: Marsal, Vic s. Seille, Moyenvic und Dieuze im Mosel-Seille-Gebiet“, diese vier also alle im lothringischen Salzgebiet, ebenso später die „Niederlassungen friesischer Kaufleute bei Köln, Mainz und Worms u. a., die in diesen Bischofsstädten bereits eine einheimische Händlerschaft antrafen“ (S. 59, wo Ennen für alle diese Plätze noch Details in bezug auf die hier günstigeren Voraussetzungen nennt). Ebenfalls schon in fränkischer Zeit sind Kaufmannssiedlungen als „Suburbien“ außerhalb einer schon bestehenden befestigten Ansiedlung entstanden, manchmal von dieser durch den Fluß getrennt, z. B. Verdun (Maas), Paris (Seine), Bamberg (Regnitz).

768 Im 9.  Jh. sind zwischen Ems und Somme dann andere Städte aufgestiegen: Deventer, Tiel, Brügge, Gent, Antwerpen, Valenciennes.

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„Ein Teil der Kaufleute wohnte zuweilen auch in der alten Stadt. Seit dem 10. Jahrhundert wurden manche Kaufmannsniederlassungen durch eine Mauer mit der Stadt verbunden (Köln, Regensburg). Der Wik gewinnt damit den Vorteil der alten Stadt, nämlich um­ mauert zu sein, und die Bewohner der Stadt nehmen teil an der besonderen rechtlichen Stellung der Wikbewohner. [Das zuletzt Genannte ist komplexer, als es sich hier liest. Ich komme weiter unten mit Ennen noch einmal darauf zurück.] Die Initiative liegt in jener Zeit noch bei den Stadtherren, meist Bischöfen. … . Innerhalb der Wiks lassen sich Gilden nachweisen … [zu diesen genossenschaftlich organisierten Gebilden weiter unten]. Höchstwahrscheinlich waren nicht alle Bewohner eines Wiks Mitglieder einer Gilde. So entwickelte sich wohl nicht unmittelbar aus der genossenschaftlichen Organisation die Selbstverwaltung der Städte“ (Nitschke, 21991, S. 358).

Wie wir uns das vorzustellen haben, zeigt dann Ennen an zwei Beispielen (siehe ebenfalls weiter unten). Im ober- und im mitteldeutschen Raum sind viele Städte aus Märkten ent­ standen, die zunächst mit Grundherrschaft verbunden waren, aber die frühen sächsischen und die salischen Könige haben im 10. und im 11. Jahrhundert zwischen Rhein, Elbe und Donau großzügig Marktförderung in der Weise betrieben, daß sie die Märkte jeweils mit Zoll und Münze verbanden. Das hat zwar den Markthandel abgabenpflichtig gemacht, ihn aber auch geordnet, und es waren die benötigten Zahlungsmittel bereitgestellt. „Daß in Verbindung mit Marktprivilegien ein eingegrenzter Bezirk kraft Königsbannes unter besonderes Recht trat, schuf die …Voraussetzung für späteres Stadtrecht“, deren eine unter noch anderen Voraussetzungen jenes oben erwähnte Kaufmannsrecht gewesen ist. „In Magdeburg waren [965] schon die Kaufleute selbst Empfänger für Markturkunden“, also, ortsgebunden, ein rechtsfähiger Verband. „So wächst das Marktleben aus der einseitig herrschaftlichen Bindung heraus“ (Ennen, Frühgeschichte, S. 270). Im 12.  Jahrhundert haben Reichsfürsten mit Genehmigung des Königs eine Reihe von Städten sogleich als Stadt neuen Typs mit Stadtrecht und Privilegien gegründet, indem sie ansiedlungswilligen Kaufleuten günstige Rahmenbedingungen für Ansiedlung und wirtschaftliche Betätigung schufen bzw. anboten. So entstand Freiburg im Breisgau auf Initiative des Herzogs Berthold von Zähringen (Planitz, S. 132–138; dort und ebenso in den nachfolgend genannten Fällen jeweils mit den – im einzelnen unterschiedlichen – Details, auf die ich verzichte). Herzog Heinrich der Löwe hat u. a. München, Landsberg am Lech und Lübeck gegründet (S. 139–148). Viele andere schon besiedelte Plätze sind in der Weise zu Städten erhoben worden, daß sie „das Recht von …“ verliehen bekamen (folgt Name einer Stadt, die bereits länger ein bestimmtes Stadtrecht besaß und nun als Vorbild dienen sollte). Von den Klöstern, die zu den im 10. bzw. 11. Jahrhundert mit Marktrecht ausgestatteten Orten (siehe oben) gehört hatten und in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts zu Städten geworden waren, nenne ich hier nur Herford, Quedlinburg, Fulda und Wetzlar (S. 155 f.). Im 13. Jahrhundert gab es schon mehrere hundert Märkte als Zentren landwirtschaftlich geprägter Bezirke, Märkte, die nun Städte wurden (S. 164), im Schutz einer königlichen Pfalz, eines Kastells oder

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Königshofs (S. 165), aber „noch häufiger … gab es bereits im 13. Jh. Städte, die auf landesfürstliche oder Adelsburgen zurückgingen“ (S. 166). Während im 12. Jahrhundert wirtschaftliche Interessen im Vordergrund standen, ging es am Ende des 12. und im 13. Jahrhundert mehr und mehr um Herrschaftssicherung, auf königlicher Seite bei Friedrich I. und bei Heinrich VI., vor allem aber bei den Landesherren, von denen der Kölner Erzbischof in dieser Hinsicht den Anfang machte (S. 168 f.). Einer Ansiedlung Stadtrecht zu verleihen, ist Sache/Recht des Königs, ist „Regal“ im alten Sinn des Wortes gewesen. Am Ende des 12. Jahrhunderts „waren schon weit über hundert Städte als solche anerkannt“ (Planitz, S. 86); gemeint ist: im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen. Nach dem Tod Heinrichs VI. (1197) haben die Reichsfürsten das Verleihungsrecht usurpiert. Friedrich II. hat es ihnen reichsrechtlich verbriefen müssen. Es genügt für unsere Zwecke, die Entwicklung der Stadt-Entstehung und der dahinterstehenden Interessen zeitlich bis hierher zu verfolgen, und ich kann nun zu den Personenvereinigungen in den mittelalterlichen Städten übergehen. Ich verwende zunächst dieses neutrale Wort Vereinigungen als Oberbegriff, und zwar in der Mehrzahl. Während es „am Hof“ zunächst des germanischen Anführers, dann des Königs, des mittelalterlichen Fürsten, gegebenenfalls des Ritters auf der nicht zu kleinen Burg „die (höfische) Gesellschaft“ prinzipiell jeweils in der Einzahl gegeben hat, bei freilich Veränderungen in der Zusammensetzung, ist in den Städten eine Anzahl von Vereinigungen entstanden – nicht alle zeitgleich –, die sich, wie ich auch hier zunächst neutral formuliere, zu Gruppen zusammenfassen lassen. Die spezifischen Bezeichnungen dafür folgen weiter unten. Im spätantiken Rom haben primär die reichen Großgrundbesitzer, die in Rom wohnten, aber außerhalb Roms ihre Ländereien hatten, in der Kurie, im Senatssitzungssaal, den für das Römische Reich wichtigen Entscheidungen der Magi­ strate die Richtung vorgegeben. In wenigen größeren Städten des Römischen Reiches, so z. B. in Ostia, dem Hafen Roms am tyrrhenischen Meer, in Alexandria, einer Hafen­stadt an der Mündung eines Arms des Nils ins Mittelmeer, in Palmyra, einem großen Handelsplatz in Syrien, bestimmten auch die Kaufleute die wichtigen Entscheidungen ihrer Stadt mit, gehörten zur Oberschicht. „Kaufleute und Handwerker waren in den collegia zusammengefaßt. Viele dieser Vereinigungen besaßen eigene Tempel [als Kultstätten] und Versammlungsräume“ (Ennen, 41987, S. 19). „Tempel“ und die „Versammlungsräume“, also die Örter im Sinne des Kapitels B.II.2.e), sind für das Mittelalter, jetzt verchristlicht, in zwei Hinsichten für uns wichtig, zum einen als öffentliche Kultstätten die Kirche und die Stadt als ganze, hier nicht zuletzt als Ort der Prozessionen, zum anderen der geschlossene sowohl Kult- als auch (allgemein) Versammlungsraum („Haus“) der Gilde für sich. (Ich komme darauf zurück.) Es ist natürlich nicht verwunderlich, daß es die collegia von Kaufleuten und Gewerbetreibenden auch in spätrömerzeitlichen Städten des – später – Franken-

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reichs gegeben hat. Ich nenne hier nur Metz, eine damals ebenfalls vergleichsweise große Stadt, mit Amphitheater und mit großem Aquädukt von den linksseitigen Moselhöhen in die Stadt: Es gab „Kaufleute und in Kollegien zusammengefaßte Gewerbetreibende, darunter“ – die folgende Aufzählung gibt zweifellos nur einen Teil dessen wieder, was damals existiert hat – „die holitores [Gemüsegärtner] und die nautae mosallici [die Moselschiffer] mit ihrem tabularius, ihrem Sekretär; gut bezeugt sind die Metzer Ärzte“ (Ennen, 41987, S. 24). Soweit römerzeitliche Städte von der Völkerwanderung betroffen waren, diese aber überdauert haben,769 ist damit zu rechnen, daß auch Kollegien am Leben geblieben sind, je weiter im Süden des Frankenreiches, um so eher und noch mehr wohl in Italien. Ich bin dem nicht nachgegangen. Die sich in den mittelalterlichen Städten nördlich der Alpen, im Raum zwischen Seine und Rhein, im Norden, östlich des Rheins und im Donauraum etablierenden Personenvereinigungen haben historisch im ganzen mehr andere als römische Wurzeln. Ich rufe zum einen in Erinnerung zurück, daß die Fernhandelskaufleute recht früh ein besonderes (Fern-)Kaufmannsrecht zugebilligt bekommen haben, weil sich bei ihrer Art zu leben das sonst allgemein geltende Recht in manchen Dingen nicht sinnvoll anwenden ließ (siehe auch Ennen, 41987, S. 113 f.). Ich erinnere zum anderen daran, daß sich diese Fernhandelskaufleute, wenn sie in der Karawane oder auf Schiffen unterwegs waren, jeweils zu einer coniuratio, zu einem Schwurverband, zusammenschlossen, für die Zeit der Fahrt über Land bzw. per Schiff. In manchen Fällen hat sich der zuvor bloß Verband auf Zeit nach und nach verfestigt, besonders wenn solche Kaufleute miteinander an einem Platz ansässig wurden. Die „frühmittelalterlichen geschworenen Schutzgilden“ gaben für die in nordwesteuropäischen Städten seit dem 11. Jahrhundert deutlich faßbar werdenden „älteren Kaufmannsgilden“ (Tiel, der sozusagen Haupterbin von Dorestad, um 1020, Valen­ciennes, 1051–1070, St. Omer, um 1200) sozusagen das Vorbild ab (Isenmann, S.  301). Über echte Kontinuität ist nichts bekannt.  – Diese älteren Kaufmanns­gilden770 und ebenso die jüngeren (diese siehe weiter unten) sind

769 Kontinuität im Handwerk (Keramik, Glas, Schmuck, Metallerzeugnisse)  ist für Trier bzw. Köln bekannt. Hinweise in bezug auf den Handel gibt es für Trier (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 140). 770 So wie auch sonst oft sind wiederum die Bezeichnungen nicht einheitlich. Ennen (41987, S.  116) sagt dazu: „Diese Kaufleutegilden des nordfranzösisch-flandrischen, niederländischen, englischen und niederdeutschen Raums“ darf „man nicht mit ‚Gilde‘ genannten Zünften verwechseln“ und (S. 56): „Es gibt in Skandinavien und Niederdeutschland auch Bauerngilden; die Trennung der Berufe war … im Norden nicht so streng.“ – Andersherum verhält es sich im Fall von „Hanse“: ahd. hansa bedeutete allgemein „Schar“ und konnte mit Verschiedenem verbunden werden (etwa zur Kriegerschar, Mägdeschar); mnd. ist hanse, hense auch „Handelsgesellschaft“. „Nachdem das Wort seit dem 12. Jh. für ‚Kaufmannsgilde‘ gebraucht worden war, wurde es 1358 als düdesche hense [Deutsche Hanse] zum Namen des norddeutschen Städtebunds“ (Kluge, 23. Aufl., S. 355). Für unsere Zwecke reicht es aus, wenn ich oben im Text zunächst bei „Gilde“ bleibe. (In bezug auf die Hansen verweise ich auf Isenmann, S. 363.)

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noch nicht der kommunale Schwurverband mit seinem Bürgereid,771 aber „zumindest für Nordwesteuropa ein verbandsrechtliches Modell für den Bürgerverband“ (S. 302). – Aus dem norddeutschen Raum sind Statuten nur für die Flensburger Knutsgilde bekannt, sonst für die älteren Kaufmannsgilden nur Mitgliederlisten. Das Wort Gilde, zum Verb „gelten“, geht auf ahd. gëlt zurück; es gibt Ableitungen auch in den anderen alten germanischen Sprachen; sie haben „Bedeutungen wie ‚Opfer, Zahlung, Steuer; Bruderschaft‘“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 267). In der 23. Aufl., S. 324, heißt es außerdem: „Ursprünglich niederdeutsches Wort … . Gehört offenbar zu Geld in der Bedeutung ‚Abgabe‘. Vermutlich wird dadurch eine Gesellschaft bezeichnet, die gemeinsame Mittel durch Umlage aufbringt. In fränkischen Kapitularien werden solche Bünde (ml. gildonium, gelda) verboten, was darauf hindeuten könnte, daß ursprünglich Opfergemeinschaften so bezeichnet wurden.“ Ein Zusammenschluß von Kaufleuten für nur eine Handelsfahrt ist für Haithabu auf einem Runenstein bezeugt. In Sigtuna in Schweden hat es seit dem 10. Jahrhundert eine Gilde friesischer Kaufleute gegeben (Ennen, 41987, S. 55. f.). Ennen (S. 56 f.) gibt eine Beschreibung dessen, worauf es bei der Gilde ankam; ich zitiere die Teile, die mir am wichtigsten zu sein scheinen (und ergänze sie an einer Stelle aus Planitz und Isenmann): Die Gilde „ersetzt dem Fahrmann die Sippe, in deren Schutz der Ortsgebundene, der seine Heimat nie verließ, war, oder auch den Schutz eines Herrn. Sie ist ein rein bruderschaftliches Verhältnis, das unterscheidet sie von der Gefolgschaft, die einem Herrn dient. Sie ist mehr als eine erweiterte Blutsbrüderschaft, so sehr Elemente der Blutsbrüderschaft in sie ein­ gingen. Denn sie ist auch eine Opfer- und Speisegemeinschaft“ (spätestens im 11.  Jahr­

771

Bei den Schwurverbänden ist getrennte Betrachtung in mehreren Hinsichten zweckmäßig: Für das 9. Jh. nennt Schulze (Vom Reich, S. 367 f.) Schwurverbände der Bauern zur Selbstverteidigung gegen die verheerenden Normannen-Einfälle in einer Zeit, in der die Herrscher des Frankenreichs bzw. seiner Teilreiche die Abwehr nicht mehr leisteten und keine Führung seitens der Spitze des Herrschaftssystems bei der Erfüllung der Aufgabe wirksam war. – Dieser Sachverhalt gehört auch mit in den Zusammenhang eines Typus von Bürger-Initiativen, die zur Selbsthilfe bei der Erfüllung solcher Aufgaben greifen, die das Gemeinwesen tatsächlich – was hier zutrifft – oder behauptetermaßen leisten müßte, aber nicht leistet. (Mehr dazu würde in eine Untersuchung über Bürger-Initiativen gehören, die ich im Rahmen der hier vorgelegten Analyse als C. V. geplant hatte, aber nicht mehr rechtzeitig zu Ende bringe. [Siehe A., Fußn. 118; der Hrsg.]) – Ennen (41987, S. 120) betont, daß wir die Gottesfriede- und die Landfriedebewegung, die auf die Ebene des Reiches zielte, von der/(den) „städtischen Eidgenossenschaft[/en]“ unterscheiden müssen, die jener Bewegung jedoch „im Ziel – der Friedenssicherung – und im Mittel – dem durch Eid … bekräftigten … [gemeinschaftlichen] Handeln – … verwandt“ war. – Zu den Anfängen kommunaler Schwurverbände früh in Oberitalien und „fast zur gleichen Zeit … im nordfranzösisch-flandrisch-rheinischen Raum“ siehe Ennen (41987), S. 136 u. S. 140 (Zitat). Zur städtischen Schwurgemeinschaft mit dem Ziel der Friedenssicherung in den Städten verweise ich auf Isenmann, bes. S. 74 f., dazu S. 80 f.

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hundert verchristlicht772). „Kernbestandteil des Gildegelages ist die Totenehrung, die sowohl in der dem blutsbrüderschaftlichen Verhältnis entspringenden Pflicht als [auch] im kultischen Brauchtum des Männerbundes wurzelt. Als geschworene Brüder waren die Gildegenossen einander zur Totenehrung und zur weitestgehenden Hilfeleistung773 verpflichtet. Die Gilde war zwar durch Eidschwur fest zusammengehalten, daher aber sehr locker organisiert. Sie hatte als Organe Vorsteher, Aldermänner, und die Gildeversammlung. Sie war ein exklusiver Personalverband; die Aufnahme eines Mitglieds war von der Billigung aller Gildegenossen abhängig. Das hauptsächliche Straf- und Zwangsmittel war die Ausstoßung.  …  . Wichtig  … [ist], daß die Gruppe dieser Fernkaufleute, seien es nun selbst handeltreibende Großbauern und Häuptlinge, seien es wiksässige Händler, die der Aufsicht des Wikgrafen unterstanden und vom König geschützt wurden, sich klar abheben läßt von den Unfreien, die große Grundbesitzer, vor allem auch geistliche Grundherren, auf Handelsfahrt aussenden. – Die Wiksässigkeit bedeutet den ersten Schritt der Händler zum Berufskaufmannstum.“

Weiter vorn in diesem Kapitel habe ich kurz erwähnt, daß manches aus dem Kaufmannsrecht in das mittelalterliche Stadtrecht eingegangen sei, ferner zitiert, daß sich die Selbstverwaltung der Städte  – ich wiederhole  – „wohl nicht un­mittelbar aus der genossenschaftlichen Organisation“ (der Gilden) entwickelt habe. Wenn das so ist, fehlt uns jetzt aber die „Erklärung für die Umwandlung des Personalverbandes der Gilde in den bezirksbezogenen Verband der Eidgenossenschaft“ (Ennen, Maasstädte, S.  176), also die Umwandlung in die eidgenössische städtische (kommunale) Organisation. Ennen zeigt an zwei Fällen, in denen Quellenlage und -auswertung günstig sind, nämlich denen von Huy und Dinant an der mittleren Maas, wie sich die Umwandlung vollzogen hat. Ich lasse die Diskussion Planitz/Steinbach/Ennen zu diesem Thema (Ennen, S.  176) und zur Bedeutung der „Eidgenossenschaft“ für die Stadtentstehung (dazu siehe auch Isenmann, S. 90 ff.) hier weg und belasse es, weil wir „Stadtrechtsentwicklung“ nur mittelbar benötigen, beim Beispiel Huy und dabei bloß bei der Wiedergabe einiger Hauptpunkte. Zuwanderung in die Marktorte, starke Aufwärtsentwicklung in der Wirtschaft, Beginn sozialer Differenzierung, Herausbildung eines Patriziats – zu diesem thematisch mehr weiter unten  – erforderten inzwischen am Marktort eine straffer geführte Organisation, als sie die Gilde (älterer Art) als „ein exklusiver Personalverband ohne Zwangsgewalt [Terminus Gewalt wird hier nicht erörtert; siehe B. I.5.] gegenüber Ungenossen“ gewesen ist und was die kommunale „Eidgenossenschaft … in bereits abgeschlossener, ausgereifter und fertiger Form verkörpert. 772 Zur Gilde als christlicher religiös-kultischer Vereinigung sowohl im Verbandsinnern als auch bei der gemeinschaftlichen öffentlichen Teilnahme am kirchlichen Leben (stets verbindlich für alle), besonders bei Prozessionen, durch Übernahme kirchlicher Ämter u. a. m. siehe Isenmann, S. 300. Das gilt aber auch für die Zünfte. (Zu diesen weiter unten.) 773 „… Eideshilfe und Beistand im Zweikampf leisten, ihm auf der Reise, bei Krankheit, Schiffbruch, Gefangenschaft und drückenden Schulden helfen“ (Planitz, S. 78; s. a. Schulze, Vom Reich, S. 262). Die Gilde von St. Omer hat aus ihrer Gemeinschaftskasse „auch Baumaßnahmen für Straßen, Tore und Stadtbefestigung“ finanziert (Isenmann, S. 302).

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Es galt, das Zwischenglied zu finden“ (Ennen, Maasstädte, S. 177; mit mehr Einzelheiten dort und auf S. 177 f. auch das nun Folgende). Stadtherr von Huy war der Bischof. Er hatte das castrum Huy inne, zog den Schiffszoll ein und die Abgaben von landenden Schiffen. In einer Fehde zwischen Kaiser Heinrich III. und Graf Balduin V. von Flandern, Mitte des 11. Jahrhunderts, hat auch Huy Schäden erlitten, die Kollegiatkirche war zerstört. Weil Bischof Theodwin für den Wiederaufbau die Mittel fehlten, hat er sich an die Kaufmannschaft des suburbiums, der außerhalb des befestigten Bischofssitzes entstandenen Ansiedlung, gewandt. Die Kaufleute gaben die Hälfte ihrer „Fahrhabe“ und gewannen dafür die libertas ville, die von lothringischen Großen, einschließlich des Herzogs, garantiert wurde. „Der Bischof gestattete in der libertas den burgenses, wie er die Leute von Huy bezeichnenderweise nennt, die Hut der Burg und die Verwaltung ihrer Einkünfte während der Sedisvakanz, also ein Mitspracherecht im Herrensitz“ (S. 177). Geregelt wurden die Rechtsverhältnisse der Neuhinzuziehenden, das Schuldrecht und das Recht der Stadt Huy. Der in die Stadt zuziehende Unfreie blieb zwar noch unfrei und im Dienst seines Herrn, aber bei diesem lag die Beweislast, und Herausgabe kam nur gegenüber einem gerechten Herrn infrage. Huy bekam weitgehend Asylrecht. Wer außerhalb der städtischen Bannmeile einen Menschen getötet und danach die Stadt erreicht hatte, hatte dort Frieden, solange er bereit war, sich vor Gericht zu verantworten. Eine dem entsprechende Regelung gab es für den, der innerhalb der Stadt einem anderen eine offene Wunde geschlagen hatte und dann in sein Haus geflohen war. Der Friede in der Stadt war ein Hauptpunkt des Stadtrechts; Privatrache sollte ausgeschlossen werden. „Die Stadt selbst ist gedacht als eine libertas, …, ein gefreiter Bezirk … .“ Ennen beschließt die Darstellung dieses Falles: „Die Gemeindebildung in Huy vollzog sich im Zusammenwirken des Stadtherrn mit der zur Selbstverwaltung reifen und organisierten Kaufleuteschaft“ (S. 178). In den Einzelheiten und, was den Zeitpunkt betrifft, sind Entwicklung zur Stadt – „Stadt“ im stadtrechtlichen Sinn – und dementsprechend das besondere Stadtrecht „Stadt für Stadt verschieden“ (Ennen, Die Stadt zwischen, S. 201), sind abhängig von den besonderen Verhältnissen jeder Stadt und in dieser Stadt, von historischen Ereignissen in größeren Zusammenhängen, aber auch von Art und Persönlichkeit des Stadtherrn bzw. von den Interessen der Gründer neuer Siedlungsgebilde sogleich als Städte (Beispiele weiter vorn) oder auch – wie wir wissen – von königlichen Initiativen der Vergabe von Markt- mit Zoll- und Münzrechten. Bedeutung hatten auch sich über das Abendland ausbreitende Ideen und Strömungen. Die eine kennen wir bereits aus B.II.1.d): die Ende des 10. Jahrhunderts einsetzende Friedensbewegung, in bezug auf allgemeinen Landfrieden erst erfolgreich, als das Mittelalter praktisch schon zu Ende war und die Territorialstaaten das sogenannte „Gewaltmonopol“ besaßen (mehr dazu in B.II.2.a)bb) und besonders in B.II.2.c)). In den deutschen Städten ist, historisch aus anderer Wurzel stammend (dazu Ennen, 41987, S. 120) der innere, der städtische Frieden da­gegen schon einige Jahrhunderte früher erreicht worden, als (anstelle des kraft

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königlichen Marktregals vom Grundherrn verordneten Marktfriedens) nun, nach der Bildung der Gemeinde, von dieser selbst durch Eidgenossenschaft besorgte Friedenswahrung. – Als zweites ist die von Oberitalien ausgehende „kommunale Bewegung“ wichtig geworden. Die Bewohner der Städte Nord- und Mittelitaliens forderten schon ab 10., verstärkt im 11. und im 12. Jahrhundert außer mehr wirtschaftlichen Rechten und Freiheiten auch mehr Selbstverwaltungsrechte. „Ohne Kämpfe mit Kaisern und Päpsten, Markgrafen und Bischöfen ging das nicht ab, aber Italien, vor allem die Lombardei, wurde zum klassischen Land der kommunalen Bewegung und des mittelalterlichen Stadtstaates“ (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 101, dazu auch S. 429). Die „kommunale Bewegung“ hat Frankreich und von dort aus Deutschland erreicht. Die Autonomie-Bestrebungen waren auch hier das Ergebnis der größer gewordenen wirtschaftlichen Kraft und des gestiegenen Selbstbewußtseins. „Allmählich fanden sich verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammen, um ihre wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Interessen gegenüber ihrem  … Stadtherren, dem König, einem weltlichen oder geistlichen Fürsten oder einem adligen Grundherren, durchzusetzen. Die treibende Kraft dieser sogenannten kommunalen Bewegung waren die Kaufleute, an manchen Orten von Teilen der stadtgesessenen Ministerialität unterstützt“ (S. 59).

In Deutschland hat aber der Streit zwischen Papst und König um das Recht auf Investitur der Bischöfe im letzten Viertel des 11. und zu Anfang des 12. Jahrhunderts hineingewirkt. In einigen Städten des deutschen Reiches haben sich die Bürger auf die Seite des Königs und gegen den Bischof oder Erzbischof gestellt, der bei ihnen Stadtherr war, so die Bürger von Worms, die ihren Bischof vertrieben (Planitz, S. 105), ebenso in Mainz (S. 106) und in Metz (S. 107) und noch in anderen Städten mehr. Wir kennen aber auch Fälle, in denen es die Stadt als Kommune schon zuvor gegeben hat, so Tull/Toul an der Mosel schon 1069, und Fälle, in denen die Auseinandersetzungen mit (erz-)bischöflichen Stadtherren lange vor dem Investiturstreit begonnen haben, so in Cambrai an der Schelde schon 958, wo die Ursachen natürlich anderer Art gewesen waren und 1076 eine kommunale Eidgenossenschaft zustande kam, die der Bischof 1101 anerkennen mußte (S. 102 f.), in Köln, wo die Ursache für den (mißlungenen) von der Kaufmannschaft ausgegangenen Aufstand von 1074 gegen den Erzbischof ebenfalls andere Gründe hatte, die Aufstandsbewegung sich dann aber mit König Heinrich  IV. verbündete, die Bürger 1106 die Stadtmauern besetzten und die Verteidigung Kölns selber in die Hand nahmen, worauf der Erzbischof wenige Jahre danach genehmigte, „daß sich das ganze Stadtvolk zu einer Schwurgemeinschaft (coniuratio) zusammenschloß, die an den Geschicken der Stadt teilnehmen konnte“ (S. 103). Schulze (Grundstrukturen, Bd.  II, S.  148) sagt in dieser Sache allgemeiner, der Zusammenschluß sei „wohl nicht selten“ durch Gründung eines solchen Schwurverbandes zustande gekommen, ferner, auch wenn die Vorgänge in Trier, Mainz, Speyer, Cambrai, Worms und Köln als „spektakuläre Revolten“ damals bei den Chronisten viel Aufsehen erregt hätten, lasse sich zumindest „an Hand der überlieferten Privilegien“ in den Fällen der (Erz-)Bistümer Halberstadt und Magdeburg gut

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erkennen, daß der Prozeß der „kommunalen Emanzipation“ auch friedlich verlaufen konnte, daß (S. 149) in manchen Fällen die Bürger „Schwächeperioden ihres Stadtherrn“ ausgenutzt oder Geldzahlungen geleistet haben, um ihre Ziele zu erreichen. (Für das zuletzt Genannte haben wir ja Huy als Beispiel.) Von prinzipiell gegebenem Gegensatz könne nicht die Rede sein. Es sei belegt, daß manche Stadtherren ihre Städte sehr gefördert haben. Zur Beteiligung, außer von Handwerkern und Leuten aus den unteren Schichten, in manchen Fällen auch von stadtherrlichen Dienstmannen an den von den Kaufleuten angeführten Aktionen schreibt Schulze (ebenda), diese Ministerialen hätten in ihrer Beteiligung eine Möglichkeit ge­sehen, Unabhängigkeit von ihrem Dienstherrn zu vergrößern. Mit der Erhebung einer Ansiedlung zur Stadt im rechtlichen Sinn veränderte sich die Stellung der dort Ansässigen. Das nun geltende, für jede Stadt spezifische Stadtrecht, anfangs meist in einer Einzelurkunde seitens des Stadtherrn festgelegt, umfaßte vom Stadtherrn gewährte Privilegien (Freiheiten, libertates, Gerechtigkeiten, iustitiae, und Rechte, iura). Zum Stadtrecht gehörte auch Gewohnheitsrecht. Neu hinzu kam „das vom Bürgerverband und seinem Ausschuß (Rat) selbst gesetzte, autonome Recht (Willkür, Satzung)“ (Isenmann, S. 78; dort und ff. auch Einzelheiten zunächst zu den Privilegien). Für unsere Zwecke besonders wichtig ist das Will-kür-recht, d. h. das ge-korene Recht (S. 80 ff.), in dem sich „eine Gemeinschaft ohne Ermächtigung von dritter Seite rechtsgeschäftlich auf bestimmte Verhaltensregeln einigen [kann], die sie künftig beachten will“ (S.  80). Grundlage des „Willkür“-Rechts (auch „Satzung“ i. S. v. „Festgesetztes“ oder „Einung“ i. S. v. „worauf man sich geeinigt hat“ und noch anders genannt) war die Schwurgenossenschaft der Stadtbürger in ihrer Selbstbindung an das selbstgesetzte Recht durch Bürgereid, den auch jeder Neubürger zu leisten hatte. (Zu dem hier genannten Komplex siehe Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 155–160.) Nach der Entstehung der Stadt oder der Stadterhebung hatte anfangs der Stadtherr noch großen Einfluß auf Verfassung und Verwaltung. Seine Beamten nahmen die Gerichtsbarkeit wahr, besorgten die Verteidigung, die Abgaben- und Zoll­ erhebung, wahrten Recht und Ordnung und führten Aufsicht über Markt, Münze, Maß und Gewicht. „Der Beauftragte des Stadtherrn (Vogt, Schultheiß, Richter) spielte besonders in der Zeit vor der Ausbildung der Ratsverfassung eine wichtige Rolle“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd.  II, S.  160). Die städtische Selbstverwaltung war zunächst noch beschränkt, die Städte haben nach und nach diesen Rahmen aber ausgeweitet, die Funktionen der stadtherrlichen Beamten selber übernommen. Die Phasen dieses Prozesses will ich nicht im einzelnen beschreiben, dies um so weniger, als es bei den jeweils frühen Formen städtischer Organe viele Unterschiede gab, Unterschiede, die zeitbedingt waren, d. h. davon abhingen, ob die Stadtgründung oder -erhebung früh oder erst in einer Zeit erfolgt ist, in der die Entwicklung der Dinge, auf die es ankam, schon weiter fortgeschritten war; außerdem gab es Unterschiede regionaler Art. In der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts sind diese diversen Formen bzw. Vorstufen durch die „Ratsverfassung“ ersetzt worden, auch hier in Varianten (S. 161).

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Bevor ich dazu noch etwas sage, der Hinweis, daß es, soweit die Quellenlage ein Urteil erlaubt, in vielen Städten eine allgemeine Bürgerversammlung gegeben hat, anhand der spärlich vorliegenden Quellen nachweisbar ab 11.  Jahrhundert, in Nord- und Mitteldeutschland unter den Namen „Burding“ und „Bursprake“ 774 (conventus civium). Schulze (Grundstrukturen, Bd. II, S. 162) meint, das sei „vermutlich ursprünglich sogar das ausschlaggebende Organ der werdenden Stadtgemeinde“ gewesen, und fügt hinzu: „Schon früh geriet die Bürgerversammlung aber unter den Einfluß der bürgerlichen Oberschicht, vor allem der Groß­kaufleute.“ Aus Isenmann (S. 91) entnehme ich noch drei Varianten („purchding, Schwörmontag, Maientag“), die neben „Bürgersprache“ und „burding“ in anderen Städten gebräuchlich waren, dazu folgendes: „Die beiden Parteien des Gesamtschwurs sind die Bürgerversammlung und der Rat. Die Gesamtheit der Bürger … trat mit oder ohne Teilnahme des stadtherrlichen Vogtes oder Schultheißen ein- oder mehrmals im Jahr … zusammen … . … . Die Bürgerversammlung war primäres Willensorgan der Genossenschaft, sie verlor aber im Laufe der Zeit gegenüber dem Rat an Bedeutung und wurde nur noch in wichtigen Fällen zusammengerufen. Es verblieben ihr jedoch vielfach formelle Mitwirkungsrechte.“ (S. 91) Der „Rat“ der Stadt war ein Kollegialorgan, bestand aus in der Regel zwölf (in größeren Städten meist 24, in kleinen weniger als zwölf) gleichberechtigten Mitgliedern, die ihre Entscheidung mit Mehrheit trafen. Der Rat vertrat die Stadt nach innen und außen, schloß Verträge im Namen der Stadt, besorgte die Verwaltung, konnte Steuern erheben, war für die innere Ordnung verantwortlich, beanspruchte die Wehrhoheit, konnte die waffenfähigen Bürger zur Verteidigung aufbieten, übte die Marktaufsicht aus, beaufsichtigte Gilden und Zünfte (zu diesen weiter unten) und anderes mehr, das ich nicht im einzelnen aufzähle. Der Rat amtierte in der Regel ein Jahr lang, legte Rechenschaft, trat ab (wurde „ruhender Rat“) und übernahm ein Jahr später wieder die Amtsgeschäfte und so weiter. Der Rücktritt für ein Jahr war auch deshalb nötig, weil die Ratsherren (die, anders als die städtischen Bediensteten, nicht besoldet wurden) sich in dem Jahr, in dem ihr Amt „ruhte“, wieder um ihre Geschäfte kümmern mußten. „Schon aus diesem Grunde war Vermögen eine Voraussetzung für die Ratsfähigkeit“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd.  II, S.  162). Ich komme gleich darauf zurück. Zuvor noch zwei andere Sachverhalte. Meistens ist bald nach Einführung der Ratsverfassung die Position des Bürgermeisters geschaffen worden, der die Sitzungen leitete und nach außen als Sprecher des Rats auftrat. (Mehr über die Organisation von Stadtverfassung und -verwaltung, von Gerichtsverfassung und Rechtspflege bei Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 160–170, bei Planitz, er mit vielen konkreten Fällen, S. 302–324.) In B.II.1.a) haben wir am Beispiel des Frankenreichs gesehen, wie ein von Hause aus politisches System zum Herrschaftssystem degeneriert ist. Auch die mittelalter­ 774

Ich verweise dazu allgemein auf Kap. B. I.1.b), dort gegen Ende.

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lichen Städte, deren kommunaler Zusammenschluß als solcher genossenschaftlich war – in der Praxis meistens unter Führung der reichen Kaufmannschaft –, entwickelten sich im Spätmittelalter ebenfalls immer mehr zu Herrschaftssystemen. Isenmann (S. 131) beschreibt das so kompakt, daß ich es wörtlich wiedergebe. „Seine autogene, nicht vom Stadtherrn hergeleitete Legitimation bezieht der Rat aus dem genossenschaftlichen Gemeindegedanken. Ursprünglich ist der Rat ein aus dem Kreis der Reichsten, Vornehmsten und Mächtigsten gebildeter Ausschuß der Bürgergemeinde, in deren Auftrag er handelt. Seine Gebots-, Zwangs- und Strafgewalt [-befugnis] wird aus dem genossenschaftlichen Eid der Bürger konstituiert. Die genossenschaftliche Verbandsgewalt [-befugnis], die der Rat innehat, verselbständigt sich im Laufe des Mittelalters zur obrigkeitlichen Herrschaft; im 14. Jahrhundert ist diese Entwicklung vielfach schon weit fortgeschritten. … . Indem die Genossenschaft das herrschaftliche Prinzip in sich aufnimmt, gewinnt sie an Handlungsfähigkeit, muß sich aber dem herrschaftlichen Verband unterordnen. Im 15.  Jahrhundert bildet der Herrschaftsverband Rat seinerseits engere Ratsausschüsse, ‚geheime Stuben‘ oder einen ‚Geheimen Rat‘, aus. Es handelt sich dabei um Gremien, in denen häufig auf Lebenszeit gewählte, geschäftserfahrene Ratsherren finanzwirtschaftliche, militärische und außenpolitische Aufgabenbereiche übernehmen, als Geheimnisträger keiner ständigen Rechenschaftspflicht gegenüber dem Rat unterliegen und wichtige Entscheidungen ohne Befragung von Kleinem Rat oder Großem Rat treffen oder den Rat doch wenigstens präjudizieren.“

(In B.II.1.f) ging es bei der Darstellung der Struktur der „Örter“ schon einmal um die „geheimen Stuben“ und um den Mangel an Information für die Bürger; darauf verweise ich.) Wir haben gesehen, daß der Staat nicht sozusagen einigermaßen plötzlich am Beginn der Neuzeit entstanden ist, daß die Entwicklung zum Staat schon im Mittelalter anfing. Entsprechend war das auch bei den Städten. Isenmann zeigt (ebenda) an drei Beispielen, Speyer, Lübeck und Ulm, daß sich die Räte im 15. Jahrhundert ausdrücklich als „Obrigkeiten“ über den „Untertanen“ verstanden haben. In den großen und in den mittelgroßen Städten gab es jeweils einige Familien, die in der Stadt dominierten. Sie waren miteinander verschwägert und versippt; aus ihren Reihen kamen die Ratsherren und die Bürgermeister, sie beherrschten die Stadtverwaltung und das Stadtregiment. Es gab Städte, in denen überhaupt nur die Angehörigen ganz bestimmter Familien „ratsfähig“ waren. Der Vorrang dieser Familie gründete natürlich in ihrem Reichtum (dieser letztlich in ihrem Unternehmergeist), stammte mittlerweile aber nicht selten schon aus Tradition. Nach unten fest abgeschlossen war der Kreis dieser Familien noch nicht; Schulze (Grundstrukturen, Bd. II, S. 177) sagt, daß Reichtum allein aber nicht genügte, um aufzusteigen, „man mußte sich erst im Lebensstil anpassen“ und durch Einheirat „den Rang der eigenen Familie erhöhen“.775 775

Schulze hält es für besser, den aus humanistischer Gelehrsamkeit der Frühen Neuzeit wieder aufgekommenen Begriff Patriziat (in den Quellen auch „Ehrbarkeit“) nur auf die führenden Familien derjenigen größeren Städte anzuwenden, „in denen sich die Führungsschicht blutsmäßig deutlich nach unten hin abgeschlossen hat und zu einem Stand mit [pseudo-]poli-

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Mit der Bildung eidgenossenschaftlicher Kommunen haben sich die Gilden verändert (und werden deshalb seitens der Mediävisten als „jüngere Kaufmanns­ gilden“ bezeichnet; Isenmann, S.  302), dabei weniger die „Fahrmännergilden“ oder Fahrtgenossenschaften, die „teilweise aus den nordwesteuropäischen Hansen abzuleiten [sind], die in enger Beziehung zu den älteren Gilden stehen konnten.“ Das „weniger“ an Veränderung liegt in der Natur der Sache. Diese Fernkaufleute (evtl. ihre Beauftragten) „mit gleicher Richtung und gleichem Zielort“ (ebenda) waren zwar ebenfalls auf Fahrt wie die Fernkaufleute der alten Schwurvereinigungen, aber inzwischen mit etwas geringerem Berufsrisiko als jene. Sie beanspruchten das Handelsmonopol in der Richtung, in der sie fuhren, und erwarben Privilegien für Handel und Verkehr in fremden Ländern. In großen nordwest- und norddeutschen Städten gab es mehrere solcher Fahrmännergilden, z. B. in Köln, Dortmund, Soest und Hamburg je drei, in Lübeck etwa zehn, mehrere auch in Rostock, abhängig von der Zahl der Fahrtrichtungen und der Zielorte des Handels der Gildegenossen (Schonen, Stockholm, Nowgorod usw.). Diese Fahrtgenossenschaften lasse ich jetzt beiseite. Der andere Typ der jüngeren Kaufmannsgilden waren die gewerblichen Monopolgesellschaften für die Stadt selbst. Die jüngere Kaufmannsgilde (allgemein) „hat mit der alten Gilde gewisse wohl universelle bruderschaftliche Bauelemente (convivium, Totenehrung, Kasse) gemeinsam, ohne daß sie aus ihr abgeleitet zu denken ist“ (Isenmann, S. 302). Zwar war in vielen Städten die Kaufmannschaft in nur einer Gilde zusammengefaßt, nicht ganz selten gab es aber mehrere nebeneinander. Ich nenne einige davon. Die „vornehmste“ Gilde generell war die der Gewandschneider, d. h. von Großkaufleuten mit dem Monopol nicht nur der Gewandschneiderei, sondern auch des Detail­ verkaufs hochwertiger Wolltuche. Die Münzerhausgenossen hatten das Monopol des Geldwechsels und des Edelmetallhandels. In Köln gab es die St.-JakobsBruderschaft der Waidhändler776 und die Weinbruderschaft (Schulze, Grund­ strukturen, Bd. II, S. 187), in Städten mit Salzvorkommen oder in Bergbau­städten z. B. die Lüneburger Sülfmeister (für die Salinen), die Goslarer Silvani (Montanberechtigten). Um ein Beispiel zu nennen: Die Gewandschneidergilden haben meistens bis ins 14. Jahrhundert ihr Monopol auch des Detailverkaufs gegen Handwerkergruppen verteidigen können (Isenmann, S. 302; dort auch noch mehr über die Münzerhausgenossenschaften). tischen Vorrechten und gewissen Statussymbolen geworden ist. Dazu gehörte die Zulassung zu den ‚Patriziergesellschaften‘, die es in vielen Städten gab (…).“ (Dazu nachher oben im Text noch etwas Inhaltliches für unsere Zwecke.) Im übrigen – meint Schulze – sei es besser, von „Meliorat“ zu sprechen, was außerdem schon eher zur Terminologie der mittelalterlichen Quellen passe, „in denen nicht selten von meliores oder den besten der burger die Rede ist“ (S. 177). – Viel detaillierter in bezug auf Patriziat und in Nuancen anders als Schulze (was, bis auf weniges, das ich noch nenne, für unsere Zwecke zu weit führen würde) bei Isenmann (S. 247 f., S. 269–276 u. S. 278–283) mit einer kritischen Bemerkung auch zum Begriff Meliorat (S. 276). 776 Färberwaid war, bevor Indigo aufkam, die wichtigste Pflanze zur Gewinnung von Farbstoff zum Blaufärben.

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Daß die jüngeren Kaufmannsgilden altes Brauchtum gewahrt haben, war dem letzten Absatz mittelbar bereits zu entnehmen. Als die Verpflichtung zu gegen­ seitiger Hilfeleistung für die Mitglieder der Monopolgesellschaften nicht mehr ganz so wichtig war wie bei den älteren Kaufmannsgilden, weil die neuen Gilden Monopole per Privileg gewonnen hatten und die städtischen Organe vieles für die Kaufmannschaft regelten, was in vorkommunalen Zeiten bruderschaftlich hatte geleistet werden müssen, ist das Ritual in den Gilden immer wichtiger geworden. Der Eintritt in eine Gilde war ein feierlicher Vorgang. Die Gildebrüder kamen einmal oder auch öfter im Jahr zur Gildeversammlung zusammen, auf der ge­ gebenenfalls neue Mitglieder aufgenommen, die Vorsteher gewählt, die Satzung verlesen, gegebenenfalls ergänzt und die  – für alle Mitglieder streng verbindlichen – Beschlüsse gefaßt wurden. Im Mittelpunkt der Gildeversammlung stand aber, gemeinschaftstiftend und bewahrend, das mit „ritueller Feierlichkeit“ begangene Gildegelage (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 188). Das, was ich weiter vorn für die älteren Kaufmannsgilden in bezug auf die Wendung alter heidnischkultischer Elemente ins Christliche genannt habe, gab es auch bei den jüngeren Gilden, meistens inzwischen noch ausgeweitet. Die Gilde hatte einen Heiligen als „Schutzpatron“, sie stiftete eine Kapelle oder einen Altar, trat bei Prozessionen, Wallfahrten und an Kirchenfesten geschlossen als Gilde in Erscheinung. Weil die Gilden rechtsfähig waren, konnten sie Privilegien empfangen (siehe oben: sogar schon vergleichsweise sehr früh im Fall Magdeburg), waren vertragsfähig, konnten Nutzungsrechte und Vermögen erwerben, eigene Gebäude errichten – es waren meistens die repräsentativsten profanen Gebäude der Stadt: die Gildehäuser, bei den hoch vornehmen Gewandschneidern „Tuchhallen“ oder „Gewandhäuser“ genannt (S. 189). Unabdingbar Voraussetzungen für die Aufnahme in eine Gilde waren großes Vermögen, die Zugehörigkeit zur Oberschicht und ein Lebenswandel in Ehrbarkeit. Söhne von Gildemitgliedern wurden bevorzugt, der Eintritt Fremder erschwert, mit der Zeit immer mehr, so daß die Gilden zu „exklusiven Organisationen“ wurden (S. 190). Das Selbstverständnis der in den größeren Städten führenden Familien kommt darin zum Ausdruck, daß sich ihre Glieder in ihrem Lebensstil oft dem Adel anpaßten, sich repräsentative Häuser bauten, zuweilen „als Kopien der Wohntürme des Adels“ (und an italienische Geschlechtertürme erinnernd, so etwa in Regensburg, Basel, Frankfurt a. M., Mainz und Trier). Die reichen Bürger legten sich mit großem Aufwand prächtige Rüstungen zu (so wie viele Adlige sie sich finanziell gar nicht leisten konnten), „dienten im städtischen Aufgebot als Reiterkrieger; sie legten sich Wappen zu und nahmen an ritterlichen Turnieren teil“ (S.  179). Da sie „lehensfähig“ waren und sich im Fall der Einheirat in eine adlige Familie natürlich das Ansehen erhöhte, ist in einzelnen Fällen auch der Aufstieg in den Adel gelungen. „Obgleich das Patriziat mancher Städte Adelsrang für

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sich in Anspruch nahm, wurde es vom Adel nie als ebenbürtig betrachtet. Erst in der frühen Neuzeit wurde die Adelsqualität durch Adels- und Wappenbriefe ab­ gesichert“ (S. 179). In einigen wichtigen Städten haben Glieder führender Familien „exklusive, klubartige Vereinigungen ins Leben gerufen, die nach außen hin in der Regel nur der Pflege der Geselligkeit zu dienen schienen“, aber wohl auch eine Plattform boten, indirekt Einfluß auf die Entscheidungen städtischer Organe zu nehmen. „Die hochgradige Exklusivität, die von diesen Patriziergesellschaften praktiziert und zur Schau gestellt wurde, war hervorragend geeignet, um den Kreis der patrizischen Geschlechter festzulegen und nach unten abzugrenzen.“ Die Patriziergesellschaften sind n i c h t aus Berufsverbänden entstanden, „sondern zur Pflege des geselligen Lebens im ständisch elitären Rahmen gegründet worden“ (S. 190). Ich nenne aus Schulze (Grundstrukturen, Bd. II, S. 191) und Isenmann (S. 303 f.) einige. Die älteste (aber auch Sonderfall) war die 1180 seitens des erzbischöflichen Stadtherrn formell bestätigte „Kölner Richerzeche“ (Zeche777 der Reichen), die bis zur Neuordnung der Verfassung Kölns von 1396 Bestand hatte. Sie war Patrizierverband und zugleich mächtigstes Verfassungsorgan der Stadt (mehr Einzel­ heiten, auch zur Entwicklung der Richerzeche, bei Isenmann, S. 303 und S. 278 f.). Bei den anderen, meistens erst im Spätmittelalter gegründeten, überwog der „ge­ sellig-elitäre Charakter“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 190; dazu kam aber eben ein indirekt ausgeübter Einfluß auf das offizielle Stadtgeschehen). Berühmt war die Lübecker „Zirkelgesellschaft“, mit etwa 50 Mitgliedern aus den führenden Familien,778 hoch angesehen waren in den Hansestädten des Nordostens, von Stralsund über Danzig, Thorn und andere, bis Marienburg, Königsberg und Riga, die „Artusbruderschaften“, darunter die Danziger unter dem Namen Georgen­ bruderschaft im als spätgotisches Bauwerk berühmten „Artushof“. (Hier wird die Bezeichnung für den Ort der Gesellschaft auf der Ritterburg, „Hof“, seitens der Großkaufleute übernommen und noch mit dem Namen des sagenhaften britannischen Königs Artus und seiner ritterlichen Tafelrunde versehen, also erhöht.) In West- und Süddeutschland trafen die Patrizier einander in Trinkstubengesellschaften, manchmal in der „Herrenstube“ (wiederum Angleichung nach oben), die dann noch vornehmer war und gegen eine andere von weniger vornehmer Art in der Stadt abgehoben. Die Leitung der Trinkstubengesellschaft mit ihrer „Stubenordnung“ hatte der „Stubenmeister“. In der Regel gab es 30 bis 60 Mitglieder, die

777

Ahd. gizeh = geordnet, mhd. zech(e), mnd. teche; altengl. teoh(h) = Gesellschaft. „Semantisch ist am ältesten ‚Reihenfolge, Umlage‘“ bei gemeinschaftlichen Unternehmungen. „Daraus einerseits Zeche als alte Bezeichnung von Genossenschaften“ (später solchen im Bergbau, dann, verkürzt, Wort für „Grube“ bzw. „Bergwerk“). Andererseits: „… zechen ‚gemeinsam (essen und) trinken‘“ (Kluge, 23. Aufl., S. 904). 778 Isenmann (S. 282 f.) sagt, Lübeck habe zwar eine „Kaufleutearistokratie“ gehabt, er bezweifelt aber mit guten Gründen, daß man von einem Patriziat sprechen dürfe. – Für das, was uns an der „Zirkelgesellschaft“ als Gesellschaft interessiert, ist diese Unterscheidung aber nicht so wichtig.

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„ehrbaren Gesellen“, wie sie sich nannten. Hier kehrt „Gesellen“ in einer ähnlich herausgehobenen Weise wörtlich wieder, wie wir das in Kapitel B.II.1.c) von einem durch das Westgotische vermittelten romanischen Lehnwort, aus dem spätkarolingischen Althochdeutschen und dann aus dem Mittelhochdeutschen kennengelernt haben. Solche Trinkstubengesellschaften bestanden, unter verschiedenen Eigennamen, in Straßburg, Basel, Frankfurt a. M. (jeweils mehrere, darunter in Frankfurt die allervornehmste, „[Zum] Alten Limpurg“, eine patrizisch-aristokratische), in Ulm, in mehreren Bodenseestädten. „In Ravensburg gehörten der Trinkstubengesellschaft ‚Zum Esel‘ das Patriziat sowie einige Grafen und Ritter der Umgegend an“ (Isenmann, S. 304). Zum Hintergrund sagt Isenmann (S. 303 f.), manche Gesellschaften seien wohl „in Reaktion auf die Bürgerkämpfe und die [pseudo-] politischen779 Ansprüche der Handwerkerzünfte gegründet“ worden. (Auf die Bürgerkämpfe komme ich zurück, wenn es nachher um die Zünfte geht.) Die Errichtung von Trinkstuben in gekauften oder gemieteten Gebäuden sei vielerorts erforderlich gewesen, als die patrizischen Familien das Rathaus oder ein anderes kommunales Bauwerk „nicht mehr allein beherrschten und dort nicht mehr beliebig ihre … Veranstaltungen … abhalten konnten“ – was ihnen dagegen in Nürnberg auch nach den Unruhen von 1348/49 noch möglich war. Nürnberg, für das die Quellenlage hier vergleichsweise sehr günstig ist, besaß auch gemäß strengen Maßstäben ein Patriziat. Isenmann beschreibt es ausführlich (S. 269–274). Für das, was wir gerade erörtern, nehme ich daraus nur dies hinzu: Die Nürnberger patrizischen Familien („Geschlechter“), aber auch nicht patri­ zische waren passiv lehensfähig, d. h. konnten Lehen empfangen. Zu den Adelskriterien gehörte aber außer der Lehens- noch die Stifter-780 und die Turnierfähigkeit; diese beiden waren Nichtadligen verschlossen. Die Nürnberger patrizischen Familien stifteten daraufhin in der Stadt Propsteien und Klöster (zur standes­ gemäßen Versorgung zwar nicht nur, aber vor allem von Töchtern), die zwar, im Vergleich mit den „Stiftern“, minderen Ranges waren, aber ihrerseits nach unten abgeschlossen, nur den „Geschlechtern“ zugänglich. Sie veranstalteten (ab Anfang des 15. Jahrhunderts) eigene Turniere, zu denen nur Angehörige der „zu Rate gehenden“ patrizischen Familien zugelassen waren. Diese Turniere hießen „Gesellenstechen“. Hier haben wir wieder bzw. noch immer das Wort Gesellen in nicht abwertendem Verständnis – im Gegenteil! –, unbeschadet des Umstands, daß es längst im Handwerk die „Gesellen“ gab, die zwar „ausgelernt“ hatten, aber nicht Meister waren und von diesen nach unten ausgegrenzt wurden. Die „Gesellen“ auf den patrizischen Turnieren waren die Patriziersöhne und nur diese. „Beide Ersatzinstitute machen deutlich, daß das Patriziat zwar nicht mit dem Landadel

779 Von „politisch“ kann hier wie im Fall der Patriziergesellschaft natürlich nicht mehr die Rede sein; es ging um Übernahme der oder Teilnahme an der Herrschaft. 780 Stiftsfähigkeit im engeren Sinn war die Möglichkeit, zu einem Domkapitel zu gehören, im weiteren Sinn (und historisch später), in ein Stift (Herren- bzw. Damenstift) aufgenommen zu werden.

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gleichgestellt … [war], bezogen auf den Bürgerverband jedoch eine quasiadlige, stadt­adlige Standesqualität prätendierte. … . Wie Fürsten und Adel – und in Konkurrenz zu ihnen – förderten sie durch mäzenatische Aufträge Kunst und Wissenschaft“ (S. 273). – Die im Mittelalter in den Ständen vereinzelt ab dem 11., besonders ab dem 12. Jahrhundert nach dem Vorbild der Kaufleute gegründeten Vereinigungen von Handwerkern sind also jünger als die der Kaufleute. Die Bezeichnungen waren zunächst, wie im Fall der Kaufleuteverbände, uneinheitlich. Es hat sich aber im deutschsprachigen Raum, von Oberdeutschland kommend über Mitteldeutschland bis in den Norden, nach und nach meistens „Zunft“ durchgesetzt. Mhd. zunft, zumft, ahd. zumft ist zunächst eine obd. Ableitung zu zëman (vgl. „ziemen“, etwa in „es ziemt sich“) mit dem „Einschub eines f zwischen m und t [ähnlich wie in „(Zu-)kunft“ und „Vernunft“] (…). … Grundbed[eutung] ist somit ‚Schicklichkeit, Gesetzmäßigkeit‘, Gegenteil [ist] das dem Hd. [Hochdeutschen] nach­gebildete asächs. missetumft ‚Uneinigkeit, Zwist‘. Über ‚Regel, nach der eine Genossenschaft lebt‘ entsteht im 13. Jh. die Bed. ‚Verband von Handwerkern‘ (…), in der sich das Wort über Mitteldeutschland bis an die Küste ausdehnt“ (Kluge/ Götze, 16. Aufl., S. 910). Handwerke hat es in römischer Zeit nördlich der Alpen vor allem in den römischen Städten und schon in den vorrömischen keltischen Oppida gegeben, auch, aber in geringerem Umfang, bei den Höfen germanischer Anführer frühgermanischer Zeit, verstärkt und differenzierter an den Höfen von Stammesfürsten der Völkerwanderungszeit, an den Höfen und Palatien der westgotischen und der merowingischen Könige nach dem Ende der spätrömischen Herrschaft im west­ römischen Reich, außerdem in oder bei aus der Römerzeit überkommenen Städten.781 Handwerke, z. B. und nicht zuletzt zur Tuchherstellung, kamen zu großer Bedeutung an (und um) für den Fernhandel geeigneten Plätzen im Nordwesten, von Flandern bis Friesland.782 In Friesland ist, wie die Ergebnisse der Grabungen zeigen, die handwerkliche Tuchherstellung aus den bäuerlichen Betrieben heraus in eigens dafür errichtete kleine Werkstatthäuser nahe einem Platz an der Küste ausgelagert worden, von 781 In anderem Zusammenhang habe ich das weiter vorn in diesem Kapitel für die Städte Köln und Trier schon erwähnt; in der Keramikproduktion wurden dann Badorf und Pingsdorf, südlich von Köln bei Brühl gelegen, überregional wichtig. 782 Von der ebenfalls weiter vorn in anderem Zusammenhang schon genannten, am Ende des 8. Jh. gegründeten Stadtwurt Emden (s. Haarnagel in: Friesisches Jahrbuch, Bd. 35, S. 9–78, bes. S. 74 u. S. 77; Artikel „Emden“ von F.-W. Wulf, in: Häßler (Hrsg.), S. 413 f.), von der Wü­ stung Dalem (7.–14. Jh.) bei Cuxhaven (W. Haio Zimmermann; dazu Wulf, S. 330–337; Wulf, Artikel „Langen: Neuenwalde (Dalem)“, in: Häßler (Hrsg.), S. 471 f.) u. von anderen Orten (Peter Schmid, hier S. 9–18 zum folgenden Absatz im Haupttext; Zitat S. 12) ist handwerkliche Herstellung von z. gr. T. für den Export bestimmten wertvollen friesischen Tuchen inzwischen auch archäologisch gut belegt.

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wo aus die „friesischen ‚Bauernkaufleute‘“ ihre Schiffahrt und, auch über Land, ihren Handel trieben. An den Zentren der ländlichen mittelalterlichen Grundherrschaften783 entstanden Handwerksbetriebe für den landwirtschaftlichen Eigenbedarf, vor allem solche der Schmiede und Wagner bzw. Stellmacher, desgleichen bei Klöstern und Bischofssitzen, dort schon mehr differenziert, auch in den sich entwickelnden neuen Städten, wo im Handwerk anfangs die Bäcker und Metzger bei weitem über­wogen, es aber nach und nach ebenfalls zur Differenzierung kam, je größer die Stadt, um so mehr. Die Wirtschaft blühte im 11. Jahrhundert auf. Es kam zur Gründung vieler reicher Stifter, zum Dombau. Die Zahl der Bauhandwerker wuchs sehr. Für den sich üppig entfaltenden kirchlichen Kult (Planitz, S. 89) waren Erzeugnisse vieler Handwerker z. T. in großen Mengen erforderlich. Schulze (Grundstrukturen, Bd. II, S. 179) schreibt, daß in Groß- und Mittelstädten die Handwerker bis zu 50 v. H. der Bürgerschaft stellten.784 Die Anfänge des Zunftwesens in Deutschland sind am Beginn des 12.  Jahrhunderts faßbar: Fischhändler, die natürlich auch meistens Fischer und insofern „Handwerker“ waren, in Worms 1106, die Schuhmacher in Würzburg 1128. Im 13. Jahrhundert gab es in den größeren Städten schon mehrere Zünfte; die „Blüte­ zeit des Zunftwesens“ ist das Spätmittelalter (S. 192). Isenmann (S. 305) sagt, daß die Quellenlage in bezug auf Gründe und Initiatoren der Zünftebildung dürftig ist, daß „Zunftentstehungstheorien“ entwickelt worden sind, von denen er die drei wichtigsten wiedergibt (S. 305 f.). Anfangs hatte der Stadtherr das Recht, die Gründung von Zünften zu gestatten oder zu verweigern, aber auch eine Gründung anzuordnen, die Statuten zu ge­ nehmigen, die Zünfte zu überwachen. Vielerorts sind diese Rechte dann an den Rat der Stadt übergegangen. Die Zunft war gegliedert in Meister, Gesellen und Lehrlinge. Vollmitglieder konnten nur die Meister sein. Sie mußten (überprüfte)  Kenntnisse und Fertig­ keiten besitzen. Das „Meisterstück“ war allgemein ab dem 15. Jahrhundert obligatorisch. Voraussetzung für die Vollmitgliedschaft in Deutschland (regional mit Unterschieden, die ich weglasse)  waren ferner freie und eheliche Geburt, deutsche Abstammung, Redlichkeit und guter Leumund (Isenmann, S. 311 f.). – Die Zunft führte zum Schutz der Verbraucher durch ihre „Beschaumeister“ Kontrollen über die Qualität der Ware durch, sorgte für gleichbleibende Qualität, kontrollierte die Einhaltung der Arbeitszeit, setzte Höchstlöhne fest, damit auch weniger reiche Meister die Gesellen und die Hilfsarbeiter bezahlen konnten, traf Regelungen „für den Einkauf und die Preisgestaltung von unentbehrlichen Rohstoffen“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 193), damit jeder Meister zu diesen 783

Zum „Dorfhandwerk“ Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 75. Isenmann (S.  341–346) beschreibt differenziert, dabei aber sehr übersichtlich „Das Handwerk [im Spätmittelalter] unter den Bedingungen des Zunftwesens“. 784

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Zugang hatte (Vorkauf war nicht gestattet), und unterband unreelle Praktiken der Werbung. Zwecks Ausschaltung ortsfremder Handwerker und der Zulassung ausschließlich der Zunftgenossen des eigenen Gewerbes übte die Zunft „Zunftzwang“ aus und war somit ein Kartell. (Der Zunftzwang ist zum ersten Mal 1149 in Köln für die Bettziechenweber belegt.) Die Gesamtheit der Maßnahmen sollte jedem Zunftmitglied die „gerechte Nahrung“ sichern. Sie war nicht ganz ohne Erfolg, hat aber Unterschiede innerhalb der Zunft nicht verhindert (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 192–195; Ennen, 41987, S. 150 f.; Isenmann, S. 311–315, er besonders differenziert). – Vieles, was wir schon oben von den Gilden her kennen, gab es auch bei den Zünften, in den meisten Hinsichten offenbar in Nachahmung oder Angleichung entwickelt: Unterstützung bedürftiger Zunftgenossen, auch in bezug auf ein angemessenes Begräbnis (Isenmann, S. 308), rituell begangene Festmähler, Pflege geselligen Zusammenseins, Einbindung der Zunft als Zunft ins innerkirchliche Leben (ebenda). „Die Zunft besaß ein Haus oder mindestens eine Stube785 … . Sie verwahrte ihre Statuten und Mitgliederbücher in der Lade. Ein gemütvoll geselliges Brauchtum, Vorsorge und Fürsorge, geregelte Ausbildung des Nachwuchses, Standesgefühl, Sinn für Ehrbarkeit der Person, für Qualität der Arbeit – aber die Butzenscheibenromantik verdeckte auch Enge und Verknöche­ rung“ (Ennen, 41987, S. 151). – Die Zünfte mit ihren im ganzen hohen Mitgliederzahlen hatten große Bedeutung für die Stadtverteidigung, in der Regel seitens der zu Fuß Kämpfenden, während die in geringerer Zahl vorhandenen Reiter aus dem Patriziat oder Meliorat die berittene Truppe und die Befehlshaber für die Miliz stellten. „Nach der Emanzipationsbewegung der sich formierenden Stadtgemeinden gegen den Stadtherrn seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts kämpften im 13. und vor allem im 14. Jahrhundert in einer Reihe von Städten Zünfte … um … Partizipation am Ratsregime der alten Ratsgeschlechter oder einer etablierten Kaufleutearistokratie“ (Isenmann, S.  190). In einigen Städten gelang es, Zunftmeister in den Rat zu bringen. „Die Aufstände und Revolten, an denen sich auch Angehörige der städtischen Unterschichten beteiligten, wurden fast stets von den Handwerksmeistern geführt“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd.  II, S.  195 f.). Isenmann erörtert unter dem Titel „Innerstädtische Unruhen, Bürger- und Verfassungskämpfe“ (auf S.  190–196) auch, inwieweit hier die in der älteren Geschichtsforschung gebrauchten Bezeichnungen „Zunftkämpfe“, „Zunftrevolution“ brauchbar bzw. problematisch sind (S.  191; darauf verweise ich wiederum nur, ebenso wie auf Isenmanns gute Beschreibung der Aufstände in Köln zwischen 1396 und 1513 und ihrer Gründe und Ergebnisse sowie von Aufständen in anderen Städten). Für uns von Bedeutung ist Isenmanns Zusammenfassung der Mißstände im alten Ratsregime (S. 197 f.), die ich mit wenigen Auslassungen wiedergebe. 785 Eine Straßburger Verordnung aus dem 15. Jh. nennt „geselleschaftstuben“ als Versammlungsort z. B. der Zunftgenossen (Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 4067).

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„– Schlechte Finanzverwaltung; … Finanzierung von Schuldendienst und Schulden­tilgung durch Verbrauchssteuern auf lebensnotwendige Güter[;] … Münzmanipulationen und Währungsreformen; – Schlechte Amtsführung,  … [Amtsmißbrauch], Vettern- und Cliquenwirtschaft; Arroganz …; Bildung eines engeren geheimen Rates und Umgehung der Gemeinde in wichtigen Fragen; geheime Bündnisse mit dem Stadtherrn; Geheimniskrämerei im Finanzge­baren; Parteiungen und Pflichtvergessenheit; Korruption und Bestechlichkeit; Veruntreuung von Steuermitteln und städtischem Vermögen; …; Rechts- und Verfassungsverletzungen; Unregelmäßigkeiten bei der Ratswahl; rechtswidrige Gewaltakte gegen Bürger; Begünstigungen durch einseitige Handhabung der Gesetze; Säumigkeit und Parteilichkeit der Rechtsprechung; – … . Gefordert wurden neben der Abstellung der vorgebrachten Beschwerden und Mißstände … eine bessere Information der Bürger über Ratsentscheidungen und [überhaupt] über städtische Angelegenheiten, Rechnungslegung, gemeindliche Beisitzer zu den Ratsämtern und die Beachtung der Bürgerrechte.“

Isenmann (S.  195) zeigt aber auch, daß die genossenschaftliche Verfassung prinzipiell Schwächen hatte. Die eine bestand in der unterschiedlichen Abkömmlichkeit (dazu siehe weiter oben in diesem Kapitel), „die bereits für die Übernahme von Funktionen im Verbandsleben der Zunft eine entscheidende Rolle spielte“. (Es gab im 15. Jahrhundert nur vereinzelt Diätenzahlungen, und nur in geringer Höhe; die reichen Patrizier plädierten im eigenen Gruppen-Interesse gegen Diäten.) Zum anderen sind selbst in Städten mit Zunftmehrheit im Rat außer wegen der Abkömmlichkeit auch „aus Gründen … der Bildung, militärischer, diploma­ tischer und verwaltungstechnischer Fähigkeiten und Erfahrung Patrizier zu Bürgermeistern gewählt“ worden. Da die Ratssitzungen seitens der Zunftvertreter nicht selten schlecht besucht worden sind, ließ „deren Kenntnis der Satzungen und der Geschäftslage … häufiger zu wünschen übrig“. Auch dort, wo die Städte Zunftverfassung hatten, hat der Große Rat an Bedeutung verloren und es kam auch hier „zur Herausbildung beherrschender engerer Ratsausschüsse und ‚geheimer Stuben‘.“ (S. 195) So wie die Zünfte der Handwerksmeister und Kleinhändler erst lange nach den Gilden der Großkaufleute entstanden sind, so auch die Handwerksgesellenvereinigungen786 erst lange nach den Zünften, erst im Spätmittelalter. Die Gesellen und die Lehrlinge787 lebten vor dem Spätmittelalter in sehr vielen Fällen im Haushalt von Meister und Meisterin. Die Lehr- und die Gesellenzeit bildeten damals mei­ stens ein Durchgangsstadium auf dem Weg zu eigener Meisterschaft und Selb­

786

Dazu Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 196 ff.: „Gesellenbruderschaften“; Isenmann, S. 321–335: „Handwerksgesellen und Gesellenverbände“. 787 Förmliche Trennung beider Gruppen und Absonderung von Lehr- und Gesellenvertrag erst im 14. Jh. (Isenmann, S. 322).

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ständigkeit. Infolge wirtschaftlicher Veränderungen änderte sich auch die Situation der Gesellen. Die Zünfte schlossen sich gegen Neuaufnahmen von Meistern weitgehend ab, die Söhne der Meister wurden bevorzugt, die anderen Gesellen waren nunmehr in der Regel sozusagen Arbeitnehmer auf Lebenszeit; die Aussicht auf die Meisterwürde verringerte sich immer mehr. „In der zweiten Hälfte des 14.  Jahrhunderts mehren sich die Nachrichten über Auseinandersetzungen zwischen Meistern und Gesellen“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 196). Zur Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber ihren Arbeitgebern gründeten die Gesellen eigene Vereinigungen, die auch religiöse und karitative Aufgaben übernahmen (ausführlich Isenmann, S. 330 ff.), einander Beistand leisteten – abgestuft in Angleichung an die Zünfte  –, geselliges Leben pflegten und von daher weit mehr waren als „Gewerkschaften“; aber, modern ausgedrückt, sie „nahmen [auch] gewerkschaftliche Funktionen wahr und verhandelten mit der Zunft über Lohnerhöhungen, Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Festsetzung der Bußen bei Vertragsbruch und andere arbeitsrechtliche Probleme“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 197). Bevor ich zu den zeitgenössischen Bezeichnungen der Gesellenvereinigungen komme, zunächst noch zur zeitgenössischen Benennung derer, die bei uns längst „Gesellen“ heißen: „Für alle  …, die in einem bezahlten Dienstverhältnis standen, war die Bezeichnung ‚Knechte‘ üblich, die dann nur noch durch Hinzufügen von Tätigkeits- oder Berufsbezeichnungen spezifiziert wurde. Sie umfaßte das Hausgesinde, Tagelöhner, Hilfsarbeiter, [in unse­rem Verständnis:] Handwerksgesellen, das städtische Dienstpersonal, daneben auch noch die städtischen Söldner. Das Wort ‚Geselle‘ (Saalgenosse) war [damals] ein un­ bestimmter, jedoch [und dies allgemein offenbar schon spätestens seit dem Frühen Mittelalter] emotionaler Gemeinschaftsbegriff, der innerhalb der Zunft bis ins 15. Jahrhundert für den Meister als Zunftgenossen galt. Die Bezeichnung ‚Geselle‘ für ‚Knecht‘ kam seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts allmählich als Ausdruck eines wachsenden Kollektivbewußtseins der Handwerksgesellen und im Zusammenhang mit ihrer Verbands­ bildung im internen Sprachgebrauch auf. [Das heißt, die bisher „Knechte“ benannten sich und einander nun intern ebenfalls mit der Bezeichnung, die bei den Meistern üblich war. Das ist wieder jene auch in anderem Zusammenhang beobachtete Tendenz der Erhöhung.] Ein­gebürgert hat sich die Bezeichnung ‚Geselle‘ im Sprachgebrauch der Zunft und der Obrigkeit seit dem späten 15. Jahrhundert, im 16. Jahrhundert wurde sie vorherrschend“ (Isenmann, S. 326 f.).

Über die Namen der Vereinigungen der Handwerksgesellen heißt es (S. 330), daß in den Quellen meist „Bruderschaft“ oder „Gesellschaft“ stehe, oft auch „Bruderschaft und Gesellschaft“. Jedenfalls ist „Gesellschaft“ wiederum ein abgegrenzter, besonderer, hier über den Knechts-Status sich erhebender Personenkreis mit Prestigeproblemen. Die Einung kam rechtlich durch das Gelöbnis (an Eides statt) der Gesellen zustande. Die Mitglieder willkürten ihre Rechtsordnung in einer Satzung, die intern eine Gerichtsbarkeit für Fälle von Regelverstößen vorsah. Die Vereinigung besaß

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eine eigene „Büchse“ (Kasse), eine (Trink-)Stube, und es gab das „Gebot“, die Gesellenversammlung (S. 330). – In den mittelalterlichen Städten existierten auch geistliche Bruderschaften in vielerlei Gestalt, bestehend aus Laien, Männern und Frauen, und aus Geistlichen. Sie stifteten Altäre, unterhielten die Priester, kamen zu gemeinschaftlichem Gebet zusammen, brachten Geld für Almosen auf und „unterstützten in den Formen von Elenden- und Pilgergilden reisende Fremde und Wallfahrer“. (Isenmann, S.  301, der S.  219 die folgende Variante nennt:) Es gab Priestervereinigungen, die die Priesterschaft der Stadt, oft auch der Pfarreien der Umgebung umfaßten, die sich „dem Zutritt von Laien, Männern und Frauen, häufig aber nur den oberen Schichten öffneten“. Die Mitglieder kamen unter Leitung eines Dechanten zu Anfang eines jeden Monats (lat. Calendae, -arum f.) zusammen – weshalb die Vereinigungen in Norddeutschland auch Kalande oder Kalandsbruderschaften hießen – zu gemeinschaftlichem Gebet „mit anschließendem opulenten Mahl“. – Schulze (Grundstrukturen, Bd. II, S. 198) schreibt, daß im Spätmittelalter religiöse Bruderschaften speziell „zur Verehrung volkstümlicher Heiliger oder zur Teilnahme an Prozessionen“ beliebt waren. So wie man von „der Bevölkerung“, aber nicht sinnvoll von „der (Gesamt-)Gesellschaft“ der Stadt … (folgt Name) sprechen kann, so auch von „der Bevölkerung“, aber nicht sinnvoll von „der Gesellschaft“ im Dorf … (folgt Name) bzw. in der nichtdörflichen Landgemeinde … in Gebieten mit Einzel- und Streusiedlungen. So wie es in der Stadt, wie wir gesehen haben, abgehoben und sich mit der Zeit nach (jeweils) unten mehr oder weniger stark abgrenzend oder gar abschließend, nach (jeweils) oben orientierende Gruppen und Vereinigungen – oft mit dem Namen „…-gesellschaft“  – gegeben hat, gab es Ähnliches auch auf dem Land (aber ohne solche Bezeichnung),788 ganz abgesehen von der Kluft zwischen den landsässigen Adligen auf ihren Burgen bzw. den Äbten in ihren Klöstern auf der einen Seite und den Bauern und den anderen Dorf- und Landbewohnern auf der anderen. „In der Masse der deutschen Dörfer dominierten die Bauern (‚Vollbauern‘, ‚Hufenbauern‘, ‚Hüfner‘), die sich wirtschaftlich, sozial und rechtlich meist sehr deut 788 Ich lasse hier die Frage nach der Entstehung der Dorfgemeinde, die „im hohen Mittel­ alter … in den Quellen … als ein selbständiger rechtsfähiger Verband faßbar“ wird (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 76), unerörtert, ebenso den Streit um die „altgermanische Markgenossenschaft“ (zu dem Gesamtkomplex s. Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 71–82), auch die „Kommunalismus“-Diskussion zwischen Blickle (mit anderen) und den Kritikern (bes. Weitzel). – Ich nehme für unsere Zwecke den Stand der Entwicklung nach dem (regional in vielem unterschiedlich und sowieso nicht überall zeitgleich grob im 12. Jh. erfolgten) Übergang von der „Villikationsverfassung“ zur „Zinshofverfassung“ „in Bayern [das der Autor speziell untersucht] wie im übrigen Deutschland“ (Dollinger, S.  112–131 mit S.  138 f., hier S. 121). Die Abhängigkeiten der Bauern von ihren Grundherren veränderten sich dadurch qualitativ, was im ganzen zu einer Verbesserung führte.

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lich von der übrigen Dorfbevölkerung abgesetzt hatten“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 74). Da haben wir es wieder: „die sich … abgesetzt hatten“. Die Zugehörigkeit zu denen, die sich so abgesetzt hatten, war normalerweise abhängig vom Besitz eines Hofes, wobei es nicht primär auf die Größe (etwa „ganze Hufe“) oder darauf ankam, ob der Besitzer Hintersasse des Grundherrn war (dazu siehe in B.II.1.a)) oder Gutsuntertan oder bloß Pächter, sondern auf die „Rechts­qualität“, auf die von den Mediävisten so genannte „Vollberechtigung“. Nur die Inhaber dieser vollberechtigten Höfe waren Mitglieder der Dorfgemeinde im strengen Sinn: Nur sie hatten das Recht (und die Pflicht) zur Teilnahme an der Gemeindeversammlung, nur sie besetzten die Ämter in der Gemeinde, waren Schöffen (oder Meier) am dörflichen (Nieder-)Gericht. – Diese spätmittelalterlichen Markgenossenschaften besaßen, als ganze, Gemein-Eigentum, „Allmende“ (mhd. almende, al(ge)meinde; Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 15): Wälder, Weiden, Gewässer, Wege u. a. In der Regel hatten nur die Vollbauern uneingeschränkt Nutzungsrecht an der Allmende (z. B. im Wald zum Holzeinschlag, zur Schweinemast im Herbst, zum Laubrechen für die Streu im Stall; z. B. zur Nutzung der Wiesen als Weide). „Der Bauer war damit zugleich ‚Markgenosse‘, ‚Mitmärker‘“ (Schulze, S. 74). Aus diesem Kreis der nach unten – ich zeige gleich, gegen wen – abgegrenzten Vollbauern „hoben sich durch umfangreicheren Besitz und höheres soziales Ansehen die Inhaber bevorrechtigter Höfe (Meierhöfe, Dinghöfe, Kellhöfe, Schulzenhöfe) heraus“. Manche dieser Höfe waren Herrenhöfe gewesen, die in bäuerliches Eigentum übergegangen sind (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 74). Bei Schilling (Aufbruch, S. 144 f.) heißen die Inhaber der großen und mittelgroßen Höfe „Dorfehrbarkeit“ bzw. „Dorfpatriziat“. Jetzt zur Abgrenzung nach unten, gegen die „unterbäuerlichen Schichten“ (Schilling, Aufbruch, S.  58), d. h. gegen die Häusler, auch Gärtner genannt (weil sie meist nur Gartenland, allenfalls wenig Ackerland besaßen) oder Kätner, Kötter, Kossäten (weil sie statt eines Hofs nur eine Kate hatten) und ähnlich. Zwischen ihnen, die keine oder nur sehr eingeschränkte Rechte an der Allmendnutzung besaßen, und den Vollbauern bestand ein „großer wirtschaftlich-sozialer Abstand“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 75). Die Zahl der Häusler nahm im Spätmittelalter wegen der Bevölkerungsvermehrung sehr zu. Die Häusler verdingten sich „als ländliche Lohnarbeiter auf größeren Höfen“ oder als Handwerker oder als Tagelöhner. – Auf einer noch tieferen Stufe waren die Einlieger; sie be­saßen nicht einmal eine Kate, sie wohnten zur Miete. „Mitspracherechte in Gemeindeangelegenheiten wurden diesen Gruppen nach Möglichkeit verweigert, Heiratsverbindungen zwischen ihnen und den Bauern galten als Mißheiraten“ (S. 75).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

e) Gesellschaften im frühneuzeitlichen Staat Die für die Zeit der Renaissance in Italien und des frühneuzeitlichen Staats in Frankreich und Deutschland charakteristischen Gesellschaften waren die Gelehrten Gesellschaften als freie Zusammenschlüsse von „Gelehrten“, die Lese­ gesellschaften und die Freimaurergesellschaften/Logen. Daneben gab es noch einiges andere, außerdem Kreise, cercles, von Personen, die einander in bestimmten „Salons“ oder an anderen bestimmten Orten trafen. Wie zu erwarten am frühesten, ab dem 15. Jahrhundert, gab es die freien Zusam­ menschlüsse von Gelehrten in Italien (dazu Garin, S. 473). Sie gehören in lockeren oder engeren Zusammenhang mit neuen Einrichtungen zur Bildung junger Menschen, die sich für ihr Gemeinwesen engagieren sollten (über die ich aus anderen Gründen in Kapitel B. V.6.a) des Annex „Legitimitätsprinzipien“ mehr sage; im ganzen aber siehe Garin, S. 471–478). Gegen Ende des 17.  Jahrhunderts sind in Frankreich in den Provinzhaupt­ städten,789 mit Genehmigung des Königs und dann staatlich gefördert, Akademien der Wissenschaft, der Künste und der Literatur gegründet worden, „in [denen] sich die örtlich ansässigen Gelehrten vereinigten, dabei aber auch ein geistiges Wetteifern hervorriefen, das sämtliche Oberschichten des städtischen Lebens erfaßte. In den Akademien war für gesicherte Einkünfte gesorgt, um ein gutes Funktionieren solcher gelehrten Gesellschaften zu gewährleisten. Zu ihnen gehörten Adelige, die auf Ehrentitel und feierliche Zusammenkünfte erpicht waren, ebenso Juristen aus den obersten Gerichtshöfen und Mitglieder des reichen Bürgertums.“ (Mandrou, S. 162)

Sie präsentierten neu erschienene Bücher, schrieben Wettbewerbe aus, verteilten Preise und ermunterten junge Talente. Die lokalen Gesellschaften hielten Kontakte zu anderen im Land, auch zu Gesellschaften des Auslands. „Lesungen, Zusammenfassungen von Schrifttum, Kommunikationen und Korrespondenzen … [machten] den Alltagsbetrieb der Akademien“ aus (S. 163). – Ab der Zeit des Regenten Herzog Philipp von Orléans (1715–1723), nach dem Tod Ludwigs  XIV., breiteten sich im Norden Frankreichs von Schottland, von wo damals auch der Bankier John Law gekommen war, und besonders von England her Freimaurergesellschaften, „Logen“,790 aus. Das waren geschlossene Einrichtungen mit geheimem Versammlungsort und mit Aufnahmeritual. In den Logen war Diskussions 789 Auf diejenigen Akademien, die nationale Bedeutung hatten, in Italien (dort in Europa wieder am frühesten) sowie in Deutschland, beide unter den Bedingungen des Fehlens staatlicher Einheit, sowie auf die in Frankreich zwischen 1635 u. 1683 unter den Bedingungen des Einheitsstaats in Paris gegründeten Académies gehe ich hier nicht ein. 790 Näheres über die spätmittelalterliche Bedeutung von „Freie Maurer“ (Steinmetze), die Erweiterung des Personenkreises ab der italienischen Renaissance, den um 1700 in England gegründeten Geheimbund, die dort 1717 entstandene Großloge der Free Masons, über die Lehnübersetzung frz. franc-maçon und 1733 nhd. „Frey-Maurer-Gesellschaft“ s. bei Kluge/ Götze, 16. Aufl., S. 224. – „Loge“ ist entlehnt aus frz. „loge … ‚Kabinetchen in einem Opernhaus‘“ bzw. vom engl. „lodge [in der Bedeutung] ‚Versammlung(s-Ort) der Freimaurer‘“, so

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freiheit üblich und Verschwiegenheit Pflicht – was, zusammen, nicht zuletzt ihren Reiz ausmachte. Hier und in den Gelehrten Gesellschaften wurden übrigens am ehesten Standesunterschiede zwischen Adligen und Bürgerlichen negiert – nicht verwunderlich, denn in England hatte es stets einen intensiven Austausch („Transfer von Geld, Personen und Wissen“) zwischen dem Landadel und dem Wirtschaftsbürgertum vor allem Londons gegeben (Schilling, Höfe, S. 446). Weil vor allem von England kommend, waren in den Logen die Thesen der Aufklärungsphilosophie John Lockes wichtiger Diskussionsgegenstand. – Eine Gesellschaft von besonderem Gewicht für Frankreich und darüber hinaus war die Société des gens de lettres in Paris, um Diderot und d’Alembert (Schalk, S.  494), die Herausgeber der von 1751–1780 erschienenen 35-bändigen „Ency­ clopédie …“. – Auch außerhalb der Gelehrten Gesellschaften, mit den Akademien als ihren Zentren, bestanden im 18.  Jahrhundert u. a. in Frankreich Lesegesellschaften. Vorgängerinnen hierzu791 und partiell auch zu dem, was ich weiter unten über die Salons bringe, gab es in Paris etwa ab Beginn der Regierungszeit Ludwigs XIV. (1661). In Paris zeigten die „oberen Schichten“ damals „großes Interesse für das Geistesleben. Man protegierte Schriftsteller [so z. B. Jean de La Fontaine], sorgte freigebig für ihren Lebensunterhalt … und gefiel sich darin, sogleich ihre neuen Bücher zu lesen und darüber zu diskutieren. … . Den vielfältigen Literaturerzeugnissen entsprachen beim Publikum vielfältige Geschmacksrichtungen. Einzelne Gruppen pflegten bestimmte Liebhabereien, und da und dort bildeten sich besondere Kreise [­cercles]. Im Hôtel792 de Nevers, im Hôtel Richelieu, im Hôtel Soissons oder im Hause der Madame de la Sablière [1636–1693], um nur einige zu nennen, traf man weder dieselben Leute noch dieselben Interessen“ (Tapié, S. 299).

Die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts waren „häufig personell mit den sog. geheimen Gesellschaften [Logen] verzahnt, dem anderen großen Sammel­ becken der Trägerschichten der Aufklärung“ (Duchhardt, S. 123).

„bei Gründung der ersten deutschen Logen in Hamburg und Mannheim 1737“ (S. 459; vgl. mit 23. Aufl., S. 523). – Zu „Loge“ s. a. Fußn. 809 in Kap. B.III.1.g). 791 So etwas hatte es übrigens zu Anfang der zwanziger Jahre des 16. Jh., also rund 200 Jahre zuvor, schon einmal gegeben. Damals ist protestantisches Gedankengut, lutherisches aus Deutschland und zwinglianisches aus der Schweiz, nach Frankreich gelangt. Die Gebildeten, Studierte und vom Humanismus Geprägte, Kaufleute und Handwerker sprachen darauf an. „Im großen und ganzen beschränkte sich das Sympathisieren mit der Reformation auf die Lektüre protestantischen Schrifttums  … in Gesprächszirkeln und auf das Verbreiten einer evangelischen Gesinnung“ (Zeeden, S.  153). Stärkere Wirkung in Frankreich hatte erst die sog. zweite Reformation, die kalvinische, die zu den Hugenottenkriegen führte – was wir aus B.II.2.a)cc) kennen. 792 „Hôtel“ als luxuriös eingerichtetes Stadthaus (im Unterschied zum Landhaus für die Sommermonate), z. B. „Hôtel de Soissons“ in Paris, erbaut von Maria de’  Medici, benannt nach Ch. de Soissons (Sohn des Prince de Condé), der später dort wohnte. Das Wort hat also eine andere Bedeutung als „Hotel“ bei uns und ist auch nicht „Hôtel de ville“ i. S. v. etwa „Rathaus“, „Bürgermeisteramt“, sondern ein vornehmes Privathaus in der Stadt (sise en ville). Vgl. auch Mandrou, S. 346.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Ort der Begegnung für einen mehr oder weniger bestimmten Personenkreis (cercle) war der salon. Das frz. salon ist von it. salone entlehnt, das seinerseits die Vergrößerungsform zu it. sala ‚Saal‘ ist, also, wörtlich, einen großen Saal bezeichnet. – Wir haben hier eine ähnliche Situation wie die der Anfangszeit vor uns: Die mit dem germanischen Anführer lebende Gesellschaft (gelehrt, aber falsch: „Gefolgschaft“) konnte mit jenem nur zusammenleben, weil er auf seinem Hof (Gehöft) einen größeren Innenraum, sal, in seinem größeren Einraumwohnhaus (o. ä.) besaß. Bloß war im Salon der persönliche Mittelpunkt nicht mehr der Anführer des politischen Gemeinwesens (später: König bzw. Fürst – dazu nachher bei „Hof“), sondern in der Regel eine geistreiche weibliche Person, der, als Privatperson, dieser wiederum notwendigerweise große, repräsentative Salon gehörte oder der für sie eingerichtet war. Der „Salon“ war aber nicht nur der Name für den Ort, sondern auch für die regelmäßig dort stattfindende Zusammenkunft von bestimmten von der anderen Bevölkerung im Herrschaftssystem abgehobenen Menschen  – außer interessierten Adeligen auch bürgerliche, in der jüngeren Literatur als Intellektuelle bezeichnete aufklärerisch engagierte Leute – und der Name für den Zirkel, also für die Gesellschaft, die im Salon der Mme. (oder Mlle.) … zusammenkam,793 zur Pflege einer verfeinerten Kultur bei zwangfreier Konversation und kritischer Diskussion und, um ästhetische Maßstäbe zu setzen. Die Menschen, die einander in den Salons trafen, waren „recht unterschiedliche Talente“ (Mandrou, S. 346) und kamen mit sehr verschiedenen Interessen („Glücksspielen, Diskussionen, Hauskonzerten“). Wegen dieser Verschiedenheit gab es, wie oben für die Lesegesellschaften gesagt, Salons, die primär nur von einem bestimmten Personenkreis aufgesucht wurden, andere vornehmlich nur von anderen. Aber die Salons waren keineswegs Orte von Gesellschaften ohne freien Zutritt wie die Logen mit ihrem Aufnahme-Ritus. So berichtet Mandrou (S. 198), daß der Waldeckische Hofrat Nemeiz 1717 einen Fremdenführer für Paris, „Séjour de Paris“, veröffentlichte, „mit ‚getreulichen Hinweisen für Reisende von Stand‘“, der u. a. „nützliche Ratschläge“ erteilte, „damit man sich nicht blamierte und sicheren Zutritt zu allen Salons fand, auf die es ankam.“ Das heißt, daß man, gute „Manieren“ bei „Reisenden von Stand“ vorausgesetzt, offen Zugang zu den Salons hatte. Mandrou (S. 336) schreibt dazu über Rousseau: „Aus den Salons schloß man ihn aus; man war über seine Manieren ebenso schockiert wie über seine Ideen.“ Bevor ich zu den Lesegesellschaften, den Logen, ähnlichen Gesellschaften und den Salons in Deutschland komme, noch etwas zum fürstlichen bzw. könig 793 Ich nenne hier nur einige wenige aus dem 17. Jh.: Marquise de Rambouillet mit ihrer Gesellschaft zur Reinhaltung der Sprache und zur Förderung der Literatur; die Romanschriftstellerin Mme. de Scudéry; die durch ihre Briefe berühmt gewordene Marquise de Sévigné; die Schriftstellerin Mme. M.-M. de Lafayette; Ninon de Lenclos. Schalk (S. 506) nennt mehrere aus dem 18.  Jh., darunter die Schriftstellerin Marquise de Tencin, die Mutter des En­ zyklopädisten d’Alembert; Mandrou, S. 346, nennt Mlle. de Lespinasse, in deren Salon die Enzyklopädisten einander trafen; Mme. d’Epinay, die Rousseau gefördert hat; dazu, S. 154, noch andere.

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lichen Hof im Zeitalter des Absolutismus.794 Während noch im Hochmittelalter die an einem fürstlichen und auch die am königlichen Hof Lebenden eine gut zu überschauende geselleschaft gewesen waren, deren Mittelpunkt, weltlicher Fürst oder König oder Kaiser, sich wie die Anderen in dieser seiner Gesellschaft als „Ritter“ verstand, immer noch als einer der Ihren, wenngleich als primus inter pares, ist im Absolutismus zum einen „der Hof zu groß geworden …, um von den Beteiligten selbst noch in herkömmlicher Weise überschaut zu werden“ (von Kruedener, S. 7). In Bayern waren es im Jahr 1747, zur Zeit von Kurfürst Max III. Joseph, 1 429 Personen (ebenda, S. 9).795 In der Größenordnung ändert sich nicht viel, wenn wir die „zur technischen Abwicklung des täglichen Lebens“ benötigten „Träger der Hofverwaltung, die vom Hofmeister bis zu den Küchenjungen, Stallknechten und Wäscherinnen hinunterreichen“ (S.  8), davon abziehen. Aber nicht nur von der enorm großen Zahl her waren diese am Hof Lebenden796 nicht mehr wie früher „Ge­sellen“ des Anführers, dann des Königs oder des Fürsten; der Fürst oder König war nicht mehr Erster unter Gleichen, sondern absolut regierender Souverän. Für ihn waren sogar die Mitglieder des alten Schwertadels inzwischen Untertanen, wenngleich sie sich hinsichtlich Sozialprestige noch deutlich vom Beamtenadel und von den Bürgerlichen abhoben. In Italien und in Deutschland war das im 18. Jahrhundert nicht so extrem ausgeprägt wie am Hof Ludwigs XIV. in Frankreich mit jenem Kult und der Selbstbeweihräucherung des „Sonnenkönigs“, bis hin zur „Vergöttlichung der königlichen Person“ (S. 99, Anm. 162). Theatervorführungen und Feste aller Art in Versailles waren Veranstaltungen zur Befestigung absolutistischer Herrschaft, im Rahmen eines ständigen Zeremoniells des Herrschers und um den Herrscher, vom „Lever“ bis zum „Coucher“, Tag für Tag, wie von Kruedener797 ausführlich beschreibt, aber auch Schilling (Höfe, S. 19–22). Es ist dann nicht verwunderlich, wenn der Marquis de Dangeau und der Duc de Saint-­ Simon (er allerdings parteiisch) im „Journal“ bzw. in den „Memoires“ beschreiben, wie das Hofleben allmählich trübselig geworden ist (Mandrou, S. 131).

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In Italien sind im 15. Jh. neben den neuen Schulen, die in den Artes liberales unterrichteten, und neben den Akademien die Höfe der Fürsten, in republikanischen Stadtstaaten wie Florenz die städtischen Kanzleien die Zentren der kulturellen Erneuerung gewesen (mehr dazu bei Garin, S. 471 f.). – Zu Ende des 15. und zu Anfang des 16. Jh. hat in der Markgrafschaft Mantua die junge Frau des Herrschers, Isabella d’Este, Tochter des Herzogs Ercole I. von Ferrara (dessen Hof d a s Zentrum der Renaissance-Kultur in Italien gewesen ist) u. a. die neuen, mit der Volkssprache verbundenen Richtungen in der Musik gefördert (Honegger/ Massenkeil, Bd. 4, S. 217). Das war noch nicht „Salon“, der in diese Zeit noch nicht paßt, sondern fürstlicher Hof, aber der Mittelpunkt war eben schon eine Frau, eine „illustre Persönlichkeit“ und „eine der überragenden Figuren der Renaissance“ (Diwald, S. 85), als geistiger Mittelpunkt Mantuas das Frauenideal ihrer Zeit. 795 Dort auch eine Aufschlüsselung, ferner Zahlen für den kurpfälzischen und den württembergischen Hof. 796 Je weniger überschaubar, um so größer war offenbar der Anreiz zum Intrigieren. 797 Der Autor ist freilich der den Denkfortschritt sehr behindernden Theorie Max Webers und dessen Begriffsnominalismus verhaftet.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

In Deutschland waren die Lesegesellschaften, zu denen Duchhardt (S. 122) etwas mehr Details bringt, die wichtigsten und „offensten“ und am weitesten verbreiteten Träger aufklärerischer Ideen,798 seit etwa Anfang des letzen Drittels des 18. Jahrhunderts, „überall in den deutschen Staaten – man hat bisher ca. 500, schwerpunktmäßig vor allem in Nord- und Mitteldeutschland und im Rheinland [,]… ermittelt – … selten mehr als 100 Mitglieder umfassende Organisationen … [also in der Regel überschaubar], Sozietäten, Vereinigungen, die über eigene Bücher- und vor allem Zeitschriftenbestände und Lektüreräume verfügten und die in ihren Statuten ganz im Sinn der aufklärerischen Grundstimmung ihre Ziele umrissen: Verfeinerung der Sitten, Nützlichkeit, Förderung der Wissenschaften usw. [was natürlich zu den sog. Gelehrten Gesellschaften der Akademien überleitet]. Diese Lesegesellschaften waren ab einer bestimmten sozialen Schwelle grundsätzlich für alle ständischen Schichten offen, wobei die Mitglieder, über deren Aufnahme abgestimmt wurde, prinzipiell gleichberechtigt waren. … . Das akademische Bürgertum und die Kaufmannschaft, die neben dem Beamten- und Hofadel den Kern der Sozietäten bildeten,799 haben hier wenigstens an den geistigen Bewegungen der Zeit teilnehmen können, …, und die bürgerliche Mittel- und Oberschicht hat damit auch zum ersten Mal in der Praxis erlebt, daß der Abbau ständischer Schranken durchaus … [nicht bloß] Utopie war“.

Allerdings hat es gerade das, wie wir gesehen haben, tatsächlich schon früher in Freimaurergesellschaften gegeben, es war, weil diese nicht offen in Erscheinung traten, aber nicht sichtbar gewesen. „Neben den Logen [, hier als Ort, der auch „Tempel“ hieß, und als Organisationsform] der Geheimgesellschaften [verstanden,] haben die Lesegesellschaften eine kaum zu überschätzende Rolle bei der Entstehung … ‚interständischer‘ Gruppen gespielt, die mit wachsendem Selbstbewußtsein die Führung zunächst im kulturellen Leben übernahmen; darüber hinaus sind die Lesegesellschaften aber auch zu den Keimzellen der neuartigen ‚Vereine‘ geworden“ (S. 122).800

798 Zur Bedeutung für die Aufklärung in Deutschland siehe Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 320 ff. Wie ungezählte andere verwendet allerdings auch Wehler den Begriff Gesellschaft im Sinne des Theoriebegriffs des 19. Jh., und konkrete Gesellschaften wie die „Lesegesellschaften“ und die patriotisch-gemeinnützigen laufen bei ihm unter „Vereine“. Es geht eben keiner der Ausgangsbedeutung von  – konkret  – „Gesellschaft“ auf den Grund. Wehler bringt mit seiner „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ gerade keine Gesellschafts­ geschichte – von einer solchen weiß er nichts –, er meint eine Sozialgeschichte, die weit mehr umfaßt als eine Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, und das h a t er geleistet. 799 Der hohe Mitgliedsbeitrag bewirkte, „daß sich Binnenegalität mit Außenexklusivität eigentümlich mischte“ (Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 321). 800 Die Lesegesellschaften vom Ende des 18. Jh. sind in Frankreich „nach Ausbruch der Revolution … verboten bzw. zu gesellschaftlichen [gemeint ist: zu geselligen] Clubs reduziert“ worden (Duchhardt, S. 123). – Wie oben zu formulieren, daß die Lesegesellschaften „auch zu den Keimzellen der neuartigen ‚Vereine‘ geworden“ sind, gibt die Entwicklung besser wieder als die Wehlersche Subsumierung unter die „Vereine“ (Fußn. 798). Die Lesegesellschaften stammen noch aus der Welt der abgehobenen Gesellschaften, führen aber in ein neues Zeitalter.

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Laut Duchhardt (S. 123) sind für die Zeit des Absolutismus801 „im Deutschen Reich … mehr als 300 Freimaurerlogen“ (in Frankreich etwa 700, in England noch mehr) nachgewiesen worden, mit zwischen 15 000 und 20 000 Personen, die für kurze Zeit oder länger Mitglied waren: vor allem „Verwaltungsbeamte, Adlige,802 Ärzte, Professoren, Kaufleute“. Es ging dort zwar „nicht um die ‚Verwirklichung eines abstrakten aufklärerischen Programms‘“, de facto wirkten die Negierung der Gräben zwischen den Ständen, die Überkonfessionalität, die praktische Humanität und Brüderlichkeit aber doch aufklärerisch. Weil es im Deutschen Reich keine Hauptstadt gab, wie Paris es für den Einheitsstaat Frankreich war, hat es nirgends so wie dort in ein und derselben Stadt eine solche Vielzahl von Salons gegeben. In bezug auf Preußen schreibt Mandrou (S. 258), daß „Berlin doch zum Treffpunkt der Aufklärer geworden war und die Salons des Bürgertums in der Hauptstadt Besucher aus ganz Europa empfingen.“ Gemeint ist hier die Zeit Friedrichs des Großen. Mittelpunkt der Salons, in Berlin wie auch sonst in deutschen Residenz­städten, waren, ebenso wie in Frankreich, höchst geistreiche Frauen. Es fällt aber auf, daß sie in der Regel, anders als in Frankreich, nicht aus dem Adel oder gar Hochadel (siehe oben), vielmehr aus dem Bürgertum kamen. Ich nenne803 (von im ganzen dennoch weit mehr) nur vier ganz berühmte Salons, hier alle erst von kurz vor der Französischen Revolution und aus der anschließenden Zeit. Ab Ende des 18.  Jahrhunderts entstanden in den Städten „Hunderte von Geselligkeitsvereinen (Harmonie, Eintracht, Ressource) …, daneben eigene Zusammenschlüsse für die Freunde der Musik und des Theaters“ (Wehler, Gesellschafts­ geschichte, S. 320), aber das alles gehört doch im wesentlichen erst ins bürgerliche Vereinswesen804 des 19.  Jahrhunderts, auch wenn vereinzelt Gründungen schon aus der Zeit vor 1789 bekannt sind, so bei der 1781 gegründeten „GewandhausKonzert-Gesellschaft“ Leipzig. 801 Die heute in Deutschland existierenden Logen sind keine Geheimbünde mehr, stehen im Vereinsregister, müssen eine dazu passende Satzung haben und demokratisch verfaßt sein. 802 Darunter auch aufgeklärte regierende Fürsten, von König Friedrich II. von Preußen bis zu Fürst Ludwig im kleinen Nassau-Saarbrücken. 803 In Jena der Salon der Caroline Schlegel aus Göttingen, diese 1793 wegen ihrer Kontakte zum Mainzer jakobinischen Club verhaftet; befreundet mit dem Dichter Friedrich ­Schlegel, dann zunächst Frau von dessen Bruder August Wilhelm, Schriftsteller und Sprach- und Lite­ ra­turwissenschafter, später des Philosophen Fr. W. J. von Schelling; Mittelpunkt eines früh­ romantischen Kreises. – In Weimar der Salon der Novellen- und Romanschriftstellerin J­ ohanna Schopenhauer aus Danzig, der Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, der in Weimar u. a. Goethe, Wieland und die Brüder Schlegel kennengelernt hat. – In Berlin der Salon der Rahel Varnhagen von Ense, geb. Levin, in deren Salon ein großer Kreis von Philo­sophen, Literaten und Künstlern verkehrte und die sich für die Gleichberechtigung der Frauen und der Juden einsetzte. – In Berlin der Salon der Literatin Henriette Julie Herz, in dem u. a. die berühmten Wissenschafter Alexander und Wilhelm von Humboldt verkehrten, später auch der Theologe, Philosoph und Pädagoge Schleiermacher. 804 Dazu siehe Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 317 ff., „Das Vereinswesen“.

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Die jetzt und im nächsten Absatz genannten Gesellschaften sind deutsche Spezialitäten. Sie wollten im einzelnen auf sehr verschiedene Weise Reformen erreichen. Der „aus einem ursprünglich antijesuitischen Affekt“ von Professor Adam Weishaupt (Universität Ingolstadt) 1776 gegründete „Illuminatenorden“ war ein Geheimbund. Weil – so die Überzeugung – Aufklärung, Rechtsgleichheit und Gedankenfreiheit sich nicht „von selbst“ verwirklichen würden, sollten Mitglieder des Ordens in staatliche Schlüsselstellungen gebracht werden. Der Orden ist 1785 vom pfalzbayerischen Kurfürsten aufgelöst worden (Duchhardt, S.  123 f.; mehr zum Orden bei Weis, S. 40 f., und bei Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 324 f., sowie bei Weis in Bosl/Weis, S. 230 ff.). Die private „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“ („Berliner Mittwochsgesellschaft“) kam zusammen, um Reformvorhaben für das Preußische Abgeordnetenhaus vorzubesprechen, so die Justizreform, die auch ziemlich bald danach verwirklicht worden ist (Duchhardt, S. 124). Sie hatte knapp zwei Dutzend Mitglieder, vor allem höhere Beamte, und war eine geschlossene Runde (Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 325). Die im folgenden zu nennenden beiden Gruppen von Gesellschaften sind keine deutschen Besonderheiten, waren aber in den deutschen Ländern bzw. großen Städten sehr weit verbreitet. Unter dem Namen „Patriotisch-gemeinnützige Gesellschaften“ werden die einen zusammengefaßt, wovon manche tatsächlich so ähnlich hießen und wobei sich „patriotisch“ auf das Vaterland im engeren Sinn oder die Vaterstadt bezog, etwa Hamburg, außerdem die Gemeinnützigkeit der Bestrebungen deklarieren sollte. Die anderen waren die „Ökonomischen Societäten“, auch sie im einzelnen mit voneinander abweichenden Namen. In den 1760er Jahren kamen in fast allen Gegenden Deutschlands „ökonomische“, d. h. hier vor allem landwirtschaftliche Gesellschaften auf, so 1764 die „Leipziger Ökonomische Societät“, die Fragen der Wirtschafts- und Sozial­ ordnung erörterten und auch darüber publizierten (Duchhardt, S. 124). „Überall wirkte eine Mehrheit von bürgerlichen Beamten, Pfarrern und Domänenpächtern mit adligen Gutsbesitzern für die gesteigerte Leistung und Kommerzialisierung der Agrarwirtschaft zusammen“ (Wehler, S. 319). Diese Gesellschaften vertraten „Gewerbeinteressen“ (ebenda). Die älteste der patriotisch-gemeinnützigen ist ein 1724–1726 in Hamburg entstandener Gesprächskreis von Herausgeber und Mitarbeitern der Zeitschrift „Der Patriot“ gewesen, die erste Hamburger „Patriotische Gesellschaft“, die jedoch „bald wieder zerfiel. Hier wurden aber bereits jene praktischen, öffentlichen Aufgaben des Gemeinwohls, etwa die der Armenfürsorge, erörtert, die dann zu den Hauptthemen der 1765 gegründeten zweiten Patriotischen Gesellschaft gehört haben“ (O. Brunner, Die Patriotische Gesellschaft, S. 339). Um diese zweite, übrigens heute noch bestehende, haben sich in den 1760er Jahren neben anderen besonders bemüht:

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„der berühmte Bibelkritiker [Hermann] Samuel Reimarus und sein als Arzt tätiger Sohn, beide Professoren am Akademischen Gymnasium, das die Funktion einer philosophischen Fakultät besaß, der Architekt Sonnin, der Erbauer der [barocken] Michaeliskirche, und der für das hamburgische Wirtschafts- und Schulwesen namentlich in den realen Fächern so verdiente Johann Georg Büsch …, der Pastor an der Englischen Kirche in Hamburg“ (S. 339 f.).

Das Namensvorbild für die 1765 gegründete „Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Manufakturen, Künste und nützlichen Gewerbe“, für die „aber von Anfang an die Bezeichnung ‚Patriotische Gesellschaft‘ üblich war“, war die 1754 von William Shipley in England gegründete „‚Society for the Encouragement of Arts, Manufactures and Commerce‘, der 1764 in Paris die ‚Société d’Encourage­ ment de l’Industrie nationale’ nachgefolgt war, die sich selbst als ‚Société Patriotique‘ bezeichnete“ (S. 340). Wehler (S. 319) erwähnt außer den von Brunner genannten Personen summarisch noch „bürgerliche Beamte“ der Stadt und „reiche Stadtbürger“ als Aktive in der Gesellschaft, in der sie einander trafen; sie „erörterten die inneren Probleme der Hansestadt, arbeiteten mit dem Rat [der Stadt], dem so manches Mitglied angehörte, eng zusammen, griffen helfend, auch mit finanzieller Unterstützung, in das Armen-, Gesundheits- und Erziehungswesen, in Gewerbe- und Handelsförderung ein. Im Laufe der Zeit nahmen die ‚Patrioten‘ im Grunde in einer Art Arbeitsteilung mit der Stadtobrigkeit ‚halböffentliche Aufgaben auf ökonomischem, kulturellem und sozialem Gebiet‘ wahr“.

Duchhardt (S. 124) nennt konkrete Maßnahmen: Errichtung von Fachschulen, Schaffung der ersten Flußbadeanstalt in der Elbe, Anregung zur Errichtung eines Feuerlöschwerks und einer Stadtreinigung u. a. m.805 Die Arbeit der für Deutschland genannten Gesellschaften zielte, auf sehr verschiedenen Wegen und Sachgebieten, auf eine Verbesserung der Verhältnisse in der Praxis, nicht auf Revolution, auch nicht im Fall des Illuminatenordens, der sozusagen einen „Marsch durch die Institutionen“ wollte. Obwohl auch in beiden zuletzt genannten Gruppen die bestimmenden Personen noch ganz oder weitaus überwiegend der Oberschicht angehörten, waren diese Gesellschaften doch Ausdruck einer Entwicklung i n ein neues Zeitalter. Umgekehrt existieren auch heute noch „gelehrte“ Gesellschaften in großer Zahl. Ich nenne einige deutsche: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Gesellschaft für deutsche Sprache, wissenschaftliche „Gesellschaften“ oder „Vereinigungen“

805 Die „patriotischen“ nahmen damals übrigens in einigen Hinsichten einen Typ von Bürger-Initiativen der 2. H. des 20. Jh. vorweg, die nicht oder doch nicht primär Forderungen an Kommunen oder Land stellten, sondern sich mit eigenen Bemühungen (Arbeitsleistung, evtl. auch finanziellem oder sächlichem Aufwand, u. U. mit kompetenter Beratung durch Fachleute aus den eigenen Reihen) für das Erreichen eines Ziels einsetzen, z. B. für die Errichtung eines öffentlichen Kinderspielplatzes.

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von Fachvertretern und anderen Interessierten aus bestimmten Wissenschaften (z. B. Deutsche Gesellschaft für Soziologie). Eine Lesegesellschaft besonderer Art war die „Gruppe  47“ deutschsprachiger Schriftsteller und Publizisten (1947 bis 1968/77). Religiöse Ordensgesellschaften gibt es immer noch, so die der Benediktiner und, in anderen Zusammenhängen, die der Johanniter bzw. Malteser, die inzwischen, allein oder zusammen mit einer anderen Organisation, wichtige Hilfsdienste aufgebaut haben; jüngere weltliche Gesellschaften sind das Deutsche Rote Kreuz als nationale Rotkreuzgesellschaft in der 1919 gegründeten Liga der Rotkreuzgesellschaften und die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Auch Freimaurergesellschaften existieren noch. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestehen weltweit Rotary- und Lions-Clubs und ähnliche.  – Der „Geselligkeit“ dienen neben einer kaum zu überschauenden Menge von kleinen und mittel­großen Tanzgesellschaften („Bällen“) auch große, mit viel Aufwand seitens der Veranstalter und der Teilnehmer betriebene, periodisch wiederkehrende Gesellschaften dieser Art (letztlich hervorgegangen aus spätmittelalterlichen, vor allem burgundischen, aquitanischen und provenzalischen, Turnierfesten, später in anderen Rahmen übertragen) als herausragende glanzvolle „gesellschaftliche“ Ereignisse. Im deutschsprachigen Raum ist das berühmteste der „Opernball“ in Wien. Die weit über hundert Tanzsportgesellschaften veranstalten „Turniere“. – Jagdgesellschaften gibt es ebenfalls immer noch, inzwischen zwar nicht im Rahmen höfischer Gesellschaft wie im Mittelalter oder wie am Hof des frühneuzeitlichen Staats. Die moderne Nachfolgerin ist hier die Jagdgesellschaft der alljährlich stattfindenden „Staatsjagd“ in den Bundesländern. Die anderen Jagdgesellschaften sind eine Sache zwar nicht mehr ausschließlich, aber doch noch im großen und ganzen von sozusagen Honoratioren. – Als konkretes Phänomen in einer Zeit, in der es den Salon fast nicht mehr gibt, haben wir inzwischen die „Party“ in vielen Formen, bei der die Zusammenkunft im geselligen Kreis zuweilen außerdem den äußeren Rahmen abgibt für Gespräche und Absprachen über andere Dinge, in einem Nebenzimmer. f) Die Glieder/Mitglieder der Gesellschaften In den germanischen Gemeinwesen der Zeit des Tacitus lebte mit dem An­führer (princeps) an seinem Hof, im großen Wohnraum (Saal) des Wohngebäudes, ein vom Gros der Glieder des Gemeinwesens abgehobener Kreis besonders tapferer Männer, die Tacitus als die comites des Anführers bezeichnet hat, die Gesamtheit der comites als comitatus. Die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts haben das mit „Gefolgsleute“ und „Gefolgschaft“ übersetzt. Für das, was Tacitus mit comites wiedergegeben hat, hatten die Germanen aber, wie ich zeigen konnte, in ihren Sprachen/Dialekten ein eigenes Wort. Es ist eine Zusammenfügung des kollektiven ge- mit der jeweils gegebenen aus dem germ. *salaz- (in der Bedeutung von „Saal“) hervorgegangenen Variante, z. B. ahd.­ gisello bzw. als Abstraktum gisellaskaf.

III. Gesellschaft

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Ich wiederhole jetzt den Inhalt von zwei Sätzen aus Kapitel B.III.1.a): Der Sachverhalt „Anführer und seine Gesellschaft“ muß im Bewußtsein der Menschen der Völkerwanderungszeit und danach wichtig gewesen sein: „von den germanischen wanderstämmen ist es [das germ. Wort] auch in die romanischen sprachen übergegangen“, ins Provenzalische, Altfranzösische, Mittellateinische, Portugiesische, Spanische und Italienische (Grimm, Wb., Bd.  5, Sp.  4025). Wir wissen außerdem aus einer span. Urkunde von 804 (ebenda), daß für das span. Lehnwort aus dem Germanischen die got. Variante die Grundlage gewesen ist (Westgotenreich in Spanien bis 711). Aus dem Althochdeutschen („Ludwigslied“ des 9. Jahrhunderts) über das Mittelhochdeutsche bis ins Spätmittelalter haben wir durchgehend die deutschen Formen des Wortes, von gisellion bis gesellen bzw. das Abstraktum geselleschaft (siehe die Belege in B.III.1.a)). Die Gesellschaften blieben auch nach der Zeit des Tacitus auf den Hof bezogen, aber der Charakter von „Hof“ hat sich geändert, als aus den Gemein­wesen der später den Frankenstamm bildenden Brukterer, Chattuarier (u. a. m.) des 1. Jahrhunderts n. Chr. auf fremdem, zuvor römischem Boden zunächst mehrere kleine fränkische Reiche mit (Klein-)Königen an der Spitze entstanden sind, nach deren Beseitigung Chlodwig das ganze Frankenreich beherrschte. Das Frankenreich hatte statt einer Hauptstadt mehrere sedes an Orten mit zuvor in römischem Reichsbesitz gewesenen, nun in fränkischem Königs-/Reichsbesitz befindlichen prächtig ausgestatteten Höfen (villae urbanae) und Statthalterpalästen. (Genaueres am Anfang von B.II.1.a).) Über die Gesellschaften an diesen Höfen der Merowingerzeit wissen wir nur wenig (siehe B.III.1.b)), über die Gesellschaft am Hof Karls des Großen schon mehr. Zu ihr gehörten berühmte Wissenschafter aus dem Angelsächsischen und aus Italien, dazu Geschichtsschreiber und Dichter sowie die Schwester und die gebildeten schönen Töchter des Kaisers. Obwohl es keine ständischen Schranken gab, hat die Gesellschaft Karls des Großen durch die Annahme von ihr ausschließlich benutzter literarischer (auch biblischer) Beinamen Exklusivität ihrer Mit­glieder geschaffen. Zu den Gesellschaften an den Höfen der Nachfolgegebilde des Franken-Lango­ barden-Reiches nach dessen Zerfall kann ich zu wenig Konkretes sagen, wohl aber, daß noch wie zu Karls des Großen Zeit eine vornehmlich von Geistlichen tradierte Kultur lateinischer Sprache bestimmend war. Das änderte sich, als im mit Beginn der Kreuzzüge (Ende des 11. Jahrhunderts) zunehmend ritterlich geprägten Hochmittelalter das Leben der höfischen Ge­ sellschaften von die Volkssprachen benutzenden Laien bestimmt wurde, die aber Ritter waren. Diese neue adelige Kultur an den Fürstenhöfen haben ihre Träger selber als „höfisch“ bezeichnet (siehe B.III.1.b)). Das ist ziemlich genau tausend Jahre nach den von Tacitus beschriebenen im wesentlichen noch politisch strukturierten germanischen Gemeinwesen. Inzwischen

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waren die Systeme allerdings herrschaftlich geprägt, und das Gros der der Herrschaft Unterworfenen, längst von der Mit- und Absprache über die alle angehenden Dinge ausgeschlossen, war nicht mehr frei. Die Bauern waren nicht nur nicht mehr waffenfähig, sie vermochten auch nicht zu „sprechen“, d. h. die höfische Sprache zu sprechen, die Sprache der Selbstbeherrschung: Sie waren tumb, d. h. dumm und stumm in höfischer Sicht. Die höfische Gesellschaft des Hohen Mittelalters grenzte sich in Sprache, Benehmen und Kleidung von den „Dörpern“, den Dörflern, den Bauern ab, verachtete und verspottete sie. Aus großen und mittelgroßen spätmittelalterlichen Städten (Kapitel B.III.1.d), Text über dem Index 777) kennen wir Patriziergesellschaften, die nicht aus den Berufsverbänden (Gilden) entstanden, „sondern zur Pflege des geselligen Lebens im ständisch elitären Rahmen gegründet“ worden sind, „hervorragend geeignet, um den Kreis der patrizischen Geschlechter festzulegen und nach unten abzugrenzen.“ (Schulze, Grundstrukturen, Bd. II, S. 190) In West- und Süddeutschland waren es die Trinkstubengesellschaften mit ihren in der Regel 30 bis 40 Mitgliedern, den „ehrbaren Gesellen“ – dabei der Begriff Gesellen immer noch so positiv besetzt, wie wir das seit den ältesten uns em­ pirisch bekannten höfischen Verhältnissen und für die Zeit des ganzen Frühen und Hohen Mittelalters wissen. In Lübeck gab es die „Zirkelgesellschaft“, die Gesellschaft eines abgegrenzten elitären Personenkreises, von Stralsund bis Riga die Artusbruderschaften, deren Mitglieder einander als „Brüder“ statt als „Gesellen“ bezeichneten. Die Nürnberger Verhältnisse zeigen wieder deutlich, was „Gesellschaft“ seinem Wesen gemäß ist: sich möglichst so zu präsentieren und zu verhalten wie diejenigen, die noch höher stehen. Soweit das aber vielleicht nicht oder nicht ganz möglich ist, ähnliche Einrichtungen und Veranstaltungen schaffen wie jene, auch eigenes Mäzenatentum entwickeln wie Fürst und Adel und sich seinerseits nach unten abgrenzen bis abschließen. Die beruflich in Zünften organisierten Handwerks-Meister haben ihr geselliges Leben außerhalb der Zünfte in Nachahmung dessen organisiert, was die patri­ zischen oder sich sonst quasi-aristokratisch gerierenden Großkaufleute praktizierten, und haben sich auch in ihrer Selbstbenennung („Gesellschaft“) angeglichen (z. B. B.III.1.d), Fußn. 785). Diejenigen, die wir inzwischen (Handwerks-)„Gesellen“ nennen, hießen von Hause aus „Knechte“ wie alle, die in einem bezahlten Dienstverhältnis waren (Hausgesinde, Tagelöhner, städtisches Dienstpersonal u. a. m.; siehe B.III.1.d), nach Index 787). Als die Knechte im Handwerk ab der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts eigene Vereinigungen bildeten, nannten sie einander „im internen Sprachgebrauch“ selbsterhöhend mit der ehrenden Bezeichnung „Gesellen“, die bei den Meistern für diese üblich war. (Seit dem 14. Jahrhundert gibt es die Absonderung von den Lehrlingen; siehe Fußn. 787). In den Quellen kommen die Vereinigungen der Ausgelernten meist unter den Namen „Bruderschaft“, „Gesellschaft“ bzw. „Bruderschaft und Gesellschaft“ vor.

III. Gesellschaft

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Unter den Gesellschaften im Zeitalter des frühneuzeitlichen Staates (Kapitel B.III.1.e)) waren am wichtigsten und am häufigsten vertreten: Lesegesellschaften und Freimaurergesellschaften (Logen). Wichtig waren ferner die „Salons“ und „cercles“. In den französischen Provinzhauptstädten gab es die Gelehrten Gesellschaften („sociétés“ von Schriftstellern, Wissenschaftern bzw. Künstlern) jeweils mit ihrer „Académie“, besonders in den deutschen Gliedstaaten Patriotisch-gemeinnützige Gesellschaften, ferner Landwirtschaftliche Gesellschaften. Ich fasse zusammen, was wir über die Mitglieder dieser Gesellschaften wissen bzw. wer in den Salons verkehrte. In den Gelehrten Gesellschaften der französischen Provinzhauptstädte: die dort ansässigen Gelehrten, dazu an Titeln interessierte Adelige, Juristen der obersten Gerichtshöfe, reiche Bürger. In den Lesegesellschaften außerhalb der Akademien, ab der Regierungszeit Ludwigs XIV.: obere Schichten.806 In den Salons geistreicher Frauen: interessierte Adelige und (auch) Bürgerliche,806 Literaten, dabei auch Philosophen. Über die Lesegesellschaften in Deutschland heißt es: akademisches Bürgertum und Kaufmannschaft, bzw. an anderer Stelle: aus allen „ständischen Schichten“, aber „ab einer bestimmten sozialen Schwelle“, sowie aus Beamtenadel und Hofadel. In den Freimaurergesellschaften in deutschen Territorien waren: Verwaltungsbeamte, Adlige (auch Hochadlige, auch Landesfürsten), Ärzte, Professoren, Kaufleute (Zugang nur mittels ritueller Aufnahme, so auch in Frankreich und allgemein); in den Salons geistreicher Frauen in deutschen Residenzstädten: Philosophen, Sprach- und Literaturwissenschafter, Theologieprofessoren, Pädagogen, prominente Dichter und Künstler; in den Patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften (hier am Beispiel Hamburg): bürgerliche Beamte, Akademiker vor allen aus Medizin, lutherischer Kirche und Bildungswesen, dazu reiche Bürger als Projektförderer; in den Landwirtschaftlichen Gesellschaften: bürgerliche Beamte, Pfarrer, Domänenpächter, adlige Grundbesitzer, hier erstmals auch einige Klein­ bürger (stadtbürgerliche Handwerker, vermutlich, weil es in diesen Gesellschaften manchmal auch um Dinge ging, von denen die Honoratioren zu wenig oder nichts verstanden). g) Die Örter Der Ort der Gesellschaft des germanischen Anführers (princeps) war der Saal im beim Anführer größeren Wohnhaus seines Hofes/Gehöfts – unbeschadet dessen, daß der Anführer und seine Gesellschaft bei geeignetem Wetter wohl auch auf dem Hof im Freien zusammengewesen sein werden. Das Charakteristische ist 806 Die von mir benutzte Literatur differenziert hier bloß weniger als die auf Deutschland bezogene.

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jedenfalls der Saal. So wie die mit dem Anführer Zusammenlebenden noch keine „geschlossene Gesellschaft“ bildeten – diese Gesellschaft bot Zugang für Leute, die sich als tapfer erwiesen oder anderswo Ansehen gewonnen hatten oder sich bewähren sollten –, aber doch vom Gros der Glieder des Gemeinwesens abgehoben waren, war der Saal zwar kein geschlossener, aber im Vergleich mit dem Platz der Versammlung aller Freien doch ein in bezug auf das Ganze des Gemeinwesens besonderer Raum. Wir wissen aus Kapitel B.II.1.a), daß der fränkische Königshof auf keinen Fall am alten Ort in der Tradition des Hofs des germanischen Anführers stand. Die­ jenigen Franken, die, im Einverständnis (in verschiedenen Formen) mit den Römern oder in Gegnerschaft, zu verschiedenen Zeiten nach Westen, Süden und Südosten vorgedrungen sind, hatten ihre Sitze verlassen. Von Einzelheiten über die neuen Sitze der fränkischen Anführer (gelehrt: „Kleinkönige“) des 5.  Jahrhunderts wissen wir nur wenig, außer in einigen Fällen den Namen des Ortes.807 Fränkische Königshöfe gab es dagegen in großer Zahl, als Wirtschaftshöfe auf jetzt fränkischem Reichs-/Königsland, zuvor römischem Fiskalland. Nur manche dieser Höfe sind in merowingischer Zeit als jeweils regionale wirtschaftliche Basis mit einem am selben Ort bestehenden palacium verbunden gewesen808 bzw. in karolingischer Zeit mit einer dort errichteten Pfalz verbunden worden. In dieser Verbindung waren die Pfalz mit repräsentativ gestalteter Halle (in römischer Palast-Aula- und in germanischer Saal-Tradition) und der Königshof zusammen der Ort der im Vergleich mit jener Gesellschaft der Taciteischen Zeit stark veränderten Nachfolgerin. Schon die Bezeichnung „höfisch“ für die Gesellschaft des Hohen und noch des Späten Mittelalters – hier außerhalb der Städte – nennt uns den Ort: Er ist, auch wenn sich die Gesellschaft noch weiter verändert hat – immer noch der Hof, der Hof des Königs/Kaisers bei den ottonischen, salischen, staufischen Pfalzen, es sind die Höfe von Fürsten, weltlichen Fürsten und Bischöfen, die Höfe auf großen Burgen nichtfürstlichen Adels. Aus in Kapitel B.III.1.b) gegebenem Anlaß habe ich dort, ganz am Ende, einen besonderen Raum, den Burggarten, und seine Bedeutung für das gesellschaftliche Leben auf der Burg genannt. Auf dem Burghof der größeren Adelsburg – „Burghof“ jetzt als freier Platz zwischen den Gebäuden der Burg innerhalb der Burgmauern verstanden – fanden bei zureichender Größe Ritterturniere statt. Örter der Gesellschaften in den Städten, hier der Gilden, waren diesen Vereinigungen gehörende Gildehäuser, oft unter speziellen, das Metier der Gilde bezeichnenden Namen wie „Tuchhalle“ oder „Gewandhaus“. In manchen Städten haben die führenden, aus der reichen Kaufmannschaft stammenden Familien, die das 807

So Childerich I., der etwa 460–482 ein in der Umgebung von Tournai/Doornik an der Schelde stationiertes fränkisches Truppenkontingent im römischen Heer anführte. Childerich „residierte in dieser Stadt“ (Kurt Böhner, in: Böhner et al., S. 84). 808 So das königliche Hofgut Clepiacus bei Paris (s. B.III.1.b), 4. Abs.).

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Stadtregiment beherrschten, das Rathaus oder ein anderes städtisches Gebäude für ihre eigenen exklusiven Festlichkeiten benutzt. Als das nach den in B.III.1.d) genannten Auseinandersetzungen mit den Zünften in fast allen Fällen nicht mehr möglich war, haben die Patriziergesellschaften in gekauften oder gemieteten Häusern ab dem 14. Jahrhundert „Trinkstuben“ für ihre exklusiven Veranstaltungen eingerichtet, in Städten, in denen es mehrere Patriziergesellschaften gab, auch mehrere solcher Stuben, von denen dann die eine durch noch mehr Vornehmheit von der oder den anderen abgehoben war, so z. B. in Frankfurt a. M. Zur „Alten Limpurg“ und „Frauenstein“ (Isenmann, S. 303 f.). Die „Örter“ im Bereich der Zünfte waren, ähnlich wie bei den Gilden, besondere Räume oder Häuser. Ich gebe die Bezeichnungen wieder, die Isenmann (S. 307 f.) am Beispiel Basel nennt (anderswo andere Varianten). Der Ort für den gewerblichen Verkauf, für die Zunftversammlung und für andere Geschäfte der Zunft als Gewerbeverband „mit Zunftzwang, Zunftgerichtsbarkeit in Sachen des Handwerks und Zunftregentschaft durch den Zunftmeister und den Zunft­ vorstand“ war die „Laube“ (Isenmann, S. 307).809 Außer der Zunft als Gewerbeverband gab es die „Gesellschaft“ oder „Stube“ als Zusammenschluß „mit eigener Ordnung, eigenem Gesellschaftsvorstand und eigenem Lokal“, manchmal im selben Haus wie die „Laube“, oft aber woanders. Sie diente dem geselligen Beisammensein, Festmählern und Trinkgelagen, in Nachahmung dessen, was die Gesellschaften der reichen Kaufleute vorgemacht hatten. – Als die Gewerbetätigkeit sehr zunahm, bauten sich die Zünfte Ende des 14. Jahrhunderts eigene, nicht selten sehr repräsentative Zunfthäuser. „Das Zunfthaus erübrigte die Laube und nahm die Stube auf. Es enthielt Trinkstube,810 Sitzungssaal, Rüstkammer,811 Kasse und Archiv“ (Isenmann, S. 308). Als die Handwerksgesellen eigene „Bruderschaften“ oder „Gesellschaften“ gründeten, richteten auch sie sich (Trink-)Stuben ein, für Versammlungen, Gelage und andere Feste. – Staatlich genehmigte und geförderte Gelehrte Gesellschaften in Frankreich benutzten die Räume ihrer „Académies“; Zugang hatten nur Mitglieder. – Kreise mit Interesse am Geistesleben im 17. Jahrhundert kamen im großen Raum im luxuriös ausgestatteten privaten Pariser Stadthaus, „Hôtel“, einer vornehmen bis hoch­ adeligen Person oder Familie zusammen. 809

„Mhd. loube, ahd. louba … aus v[or]d[eutsch] *laub-jōn f. ‚Laubwerk‘ … . Gemeint ist also zunächst ein Schutzdach aus Laub, dann verschiedene leichte Vorbauten … . Schließlich für ‚Vorhalle, Galerie u. ä.‘“ (Kluge, 23. Aufl., S. 505). Das „ahd. [geht] als *laubja ins Roman.: mlat. lobia, ital. loggia, frz. loge“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 440) und – deshalb bringe ich das – kehrt im 18. Jh. von dort, aber i. S. v. engl. lodge als „Loge“ = „Frey-Maurer-Gesellschaft“ und als deren Versammlungsort ins Deutsche zurück (ebenda, S. 459 u. S. 224). 810 So wie es für „Gesellschaft(en)“ charakteristisch ist, sich von dem, was „darunter“ ist, abzugrenzen oder gar abzuschließen, sind auch – wie hier – die Versuche charakteristisch, sich mittels Wahl gleichen Namens denen, die „darüber“ sind, anzugleichen. 811 Kammer zur Aufbewahrung von Kriegsrüstungen. – Die Handwerker waren als Miliz für die Stadtverteidigung sehr wichtig, so wie die Patrizier als berittene Truppe der Stadt und als Anführer.

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Das jetzt Folgende gilt für Frankreich und für Deutschland. Im 18. Jahrhundert und noch danach war der „Salon“ einer gebildeten Frau in einem ebenfalls Privathaus der Ort des Zusammenkommens. Dieser Ort war in interessierten Kreisen wohlbekannt, aber dennoch nicht ohne weiteres zugänglich (Näheres siehe in B.III.1.e)). – Die Freimaurergesellschaften hatten ihren „Tempel“ an geheimgehaltenem Ort. Die Leseräume der deutschen Lesegesellschaften waren selbstverständlich nicht geheim, aber der Zugang war aus finanziellen Gründen de facto nur für Bessergestellte möglich. Fazit ist: Die Örter der Gesellschaft(en) waren vom Gros der Glieder des Gemeinwesens zumindest abgesonderte, in manchen Fällen auch geschlossene, vereinzelt geheimgehaltene Räume.

h) Zusammenfassung Das, was in der Wirklichkeit „Gesellschaft“ und „Gesellen“ waren und sich selber auch so nannte, und zwar von der Gesellschaft am Hof des germanischen Anführers der Zeit des Tacitus über die Höfe von Königen, Fürsten und anderem Adel des Mittelalters bis zu den Höfen der Neuzeit, war stets ein vom Gros der Glieder des Gemeinwesens abgehobener, wenngleich lange Zeit nach unten noch nicht ganz abgeschlossener Kreis von Personen. Während es in jenen germanischen Gemeinwesen ein Sich-Distanzieren der Gesellen des Anführers vom Gros der Freien nicht gegeben haben kann, ist die ritterliche höfische Gesellschaft des Hohen Mittelalters betont auf Distanz gegangen zu den inzwischen nicht mehr waffenfähigen, „tumben“, den dummen und stummen, der (höfischen) Sprache nicht fähigen Bauern, die Gesellschaft am neuzeitlichen Hof zum gemeinen Volk (le bas peuple, le vulgaire). Auch die Personenkreise, die in absolutistisch regierten Staaten der Neuzeit außerhalb des Hofes Gesellschaften angehörten, in Salons verkehrten, waren vom Gros der Bevölkerung deutlich abgehoben. Der Wandel der Gemeinwesen zu absolutistisch regierten Systemen der Neuzeit hat auf der anderen Seite auch das Verhältnis des souveränen Monarchen zur hö­ fischen Gesellschaft verändert, ganz besonders stark in Frankreich unter der Herrschaft Ludwigs XIV. Ein Verhältnis echter Gesell(en)schaft wie am Hof des germanischen Anführers und seiner Gesellen war nun unmöglich. In den Städten sind aus dem Kreis der Personen, die ab Mittelalter in Gilden und Zünften organisiert waren, außerhalb der Gilden und Zünfte Gesellschaften entstanden, um des geselligen Verkehrs willen (wohl auch wegen der Möglichkeit, miteinander zwanglos zu sprechen), um des Feierns von Festen und um der Organisation von Wohltätigkeit willen.

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Sich herauszuheben aus dem Gros der Bevölkerung der Stadt, sich nach unten abzugrenzen, war auch für die Gesellschaften in den Städten charakteristisch: Anspruch auf Besser-Sein, Ehrbar-Sein, Vornehmer-Sein; diejenigen nachahmen, die jeweils noch höheres Ansehen besaßen; möglichst in die nächsthöherrangige Gesellschaft gelangen, eventuell durch Einheirat; die Bezeichnungen annehmen/ übernehmen, die die im Ansehen, im Rang höheren Gesellschaften und deren „Gesellen“ trugen bzw. die diese z. B. für den Ort ihres Zusammenkommens benutzten. 2. Das Theorie- und Ideologiegebilde „Gesellschaft“ Nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hatten es im 19.  und im 20.  Jahrhundert immer mehr Deutsche mit Hegels „an und für sich“, für fast alle Lebenslagen („an und für sich wär’ das gar nicht so schlecht  …“), bis fast jedermann die Formel gebrauchte, fast immer ohne zu wissen, was es philo­ sophisch mit dem „an und für sich“ auf sich hatte. Heute führen Staatsmänner und -frauen, Parteileute, Gewerkschafter und Journalisten „Gesellschaft“ im Mund, wiederum ohne sich davon Rechenschaft zu geben, was denn das spezifisch Gesellschaftliche ist. Das Wort gilt für positiv besetzt. Wer es benutzt, meint seine Rede, seine Schreibe damit zu schmücken. Es klingt nach Wissenschaft, nach Soziologie. Ich habe eine große Zahl von Formulierungen zusammengetragen, in denen deutsche Regierende, Abgeordnete, Parteileute und Journalisten das Wort verwendet haben. Meistens war von der „Gesellschaft (in) der Bundesrepublik“ die Rede bzw. sie war gemeint. Fast nie kam vor „die Gesellschaft in Hessen“, „im Saarland“, nie „die Gesellschaft in (von) Saarbrücken“, „…  Darmstadt“, „…  Frankfurt“. Im Fall der Länder und der Städte hieß es „Bevölkerung“ oder „Einwohner“. Aber auch in bezug auf die Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland macht hier nur dies wirklich einen Sinn. „Die Bevölkerung“,812 „die Einwohner“ läßt sich freilich nicht so leicht bedeutungsschwanger aussprechen wie „die Gesellschaft“ oder gar wie „das gesellschaftliche Ganze“, das man „ins Auge fassen“ müsse, wie „die gesellschaftsrelevanten Entscheidungen“, wie „die Verantwortung vor der Gesellschaft“ oder wie das Wortmonster „die gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten“. Umgekehrt kamen öfter „Gruppen/Kräfte der Gesellschaft“ und deren „unterschiedliche Separatinteressen/Gruppeninteressen“ vor – was aber ebenfalls zur Voraussetzung hat, „die Gesellschaft“ sei das Ganze oder doch zumindest das Insgesamt der Gruppen.

812 Das, was ich hier anspreche, ist ganz außerhalb der im Jahr 2000 geführten Diskussionen über „Bevölkerung“ und „Volk“ im Zusammenhang mit Hans Haackes Erdreichprojekt im Berliner Reichstagsgebäude.

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Heft  115 (1999)813 der von der Körber-Stiftung herausgegebenen Publikation „Bergedorfer Gesprächskreis“, das ich wegen eines anderen Themas gerade zur Hand hatte, habe ich stichprobenartig ergänzend daraufhin durchgesehen, wie „Gesellschaft“ in dem uns hier interessierenden Zusammenhang verwendet wurde. Da war die „Weltgesellschaft“ genannt (S. 81), die „Gesellschaft“ der „Vereinigten Staaten von Amerika“ (S. 87), „unsere gesamte Gesellschaft“ (S. 91), wobei in diesem Fall die der Bundesrepublik Deutschland gemeint war. Wie es kam, daß „Gesellschaft“, das in der Wirklichkeit stets ein herausgehobener Personenkreis und gerade n i e das Ganze war, in Theorie und Ideologie zur Bezeichnung des Ganzen, der Gesamtheit, der „Totalität“ benutzt worden ist, sollte man eigentlich Manfred Riedels Artikel „Gesellschaft, bürgerliche“ (S. 719–800) im historischen Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ entnehmen können. Der Autor beginnt jedoch mit willkürlicher Übersetzung, was die Sache von Anfang an verdirbt. (Dazu unten gleich Näheres.) Wir kennen aus B. I.1.a), daß Aristoteles den in der griechischen Wirklichkeit verwendeten Begriff pólis gelehrt mit koinōnía polītikē´ umschreibt, das heißt für uns: mit „politischem Zusammenleben“, „politischer Gemeinschaft“ oder, besser, mit „politischem Gemeinwesen“ (und zwar besser so, damit wir aus der 1887 von Ferdinand Tönnies in Deutschland angestoßenen mehr weltanschaulichen als philosophischen Diskussion über „Gemeinschaft und Gesellschaft“ herausbleiben). Aristoteles verwendet „koinōnía polītikē´ “, weil er gleich zu Anfang seiner „Politik“ auch noch die (präpolitische)  Gemeinschaft des Hauses, des Oikos, der Sippe, der Kindeskinder nennt. Riedel „übersetzt“ koinōnía (polītikē´ ) mit „(bürgerliche)  Gesellschaft“. Wir kennen aus B. I.1.a)  auch schon das Wortumfeld von koinōnía, das hier relevant ist: koinós, tò koinón, koinóō. Das hat im Pape nirgendwo irgend etwas mit „Gesellschaft“ zu tun. Ich begnüge mich mit wenigen kritischen Bemerkungen814 und beteilige mich auch hier nicht an der Theo 813 Neue Dimensionen des Politischen? Herausforderungen für die repräsentative Demo­ kratie, Sitzung v. 1./2.5.1999 in Berlin; Leitung Prof. Dr. Jutta Limbach. 814 Riedels Behauptung, „bürgerliche Gesellschaft“ s e i die wörtliche Übersetzung, ist hinsichtlich „Gesellschaft“ willkürlich und falsch. Riedel, S. 721, behauptet außerdem: „Die Einführung des Wortes ‚bürgerliche Gesellschaft‘ in die Sprache der politischen Philosophie [gemeint ist: der Philosophie über das Politische, über Politik] geht auf Aristoteles zurück.“ Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Aristoteles hat keine deutschen Wörter eingeführt. Es ist lästig, daß man solche Dinge monieren muß, die das Verständnis verfälschen und Erkenntnisfortschritt verbauen. Verfälschend wirkt ferner, daß Riedel statt „politische“ (deutsch für „polītikē´ “) generell „bürgerliche“ sagt. Eine Übersetzung mit „bürgerlich“ wäre nämlich nur denen gegenüber erlaubt, denen noch bewußt ist oder denen Riedel ausdrücklich wieder bewußt gemacht hätte – was er aber nicht tut, weil er es selber nicht weiß –, daß die Burg der in der Landschaft oft höher gelegene und eigens befestigte Zentralort der germanischen politischen Gemeinwesen war (siehe Kapitel B. I.7.), entsprechend der Akro-polis, für den Fall der Bedrohung des Gemeinwesens. Riedel (S. 725 f.) macht in derselben Art weiter. „Bei Augustinus ist der Terminus ‚bürgerliche Gesellschaft‘ (in der latinisierten Form: ‚societas civilis‘) nur an einer Stelle nachweisbar“. „Societas civilis“ ist selbstverständlich nicht die „latinisierte Form“ des „Terminus ‚bürgerliche Gesellschaft‘“, sondern soll das griechische

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rienbildung. Das gilt ebenso für Theoreme und Programme von Vertretern der Aufklärung, die nach den Schrecken der Religionskriege und angesichts der „äußeren Trennung in Völker und Religionen“ und der „inneren nach Ständen und Klassen, nach Armen und Reichen“ den Fortschritt verlangten von einer wegen der be­stehenden Schranken jetzt negativ eingeschätzten „bürgerlichen“ zu einer „menschlichen Gesellschaft“, zur „idealen Gesellschaft“ der „denkenden­ Menschen“ (S. 753), was nicht Analyse ist, sondern Programm.815 Weil „Gesellschaft“ ab dem 18. Jahrhundert Theorie-Gebilde wurde, gab und gibt es viele Theorien über „Gesellschaft“ auf der Basis von Fixierungen – ausgesprochen oder unausgesprochen  – gemäß den Mustern: „Ich verstehe unter ‚Gesellschaft‘ …“ (Variante: „Man sollte darunter … verstehen“), „Gesellschaft kann man definieren als …“. Ich bringe dazu ein paar Beispiele, ohne auf die In-

„koinōnía politikē´ “ auf lateinisch wiedergeben. – „Wilhelm von Moerbeke, der erste mittelalterliche Übersetzer der ‚Politik‘ (1261), verwendet durchweg ‚communitas‘ bzw. ‚communicatio ­civilis‘, woraus sich die Bevorzugung dieser Begriffe in den Kommentaren … [des] Albertus Magnus und Thomas von Aquin erklären dürfte, denen der lateinische Text des Wilhelm von Moerbeke zugrunde liegt. Daneben kennt Thomas die Wendungen ‚societas politica‘ [!], ‚societas publica‘ [!] und gelegentlich ‚societas civilis‘. Diese zuerst von Cicero benutzte Wiedergabe des griechischen Wortes scheint sich mit den Übersetzungen der Humanisten während des 15. und 16. Jahrhunderts durchgesetzt zu haben“ (Riedel, S. 726 f.). Allen, die Riedel nennt, war klar, wovon sie sprachen: vom „politischen Gemeinwesen“, nicht von einer „Gesellschaft“, es war ihnen klar, daß „civilis“ im Lateinischen dort stehen sollte, wo es im Griechischen „polītikós“ geheißen hatte, aber Riedel ist beharrlich in seiner Willkür, von „Gesellschaft“ sogar auch dann noch zu reden, wenn der Autor, den er wiedergibt, so etwa (S. 727) Albertus Magnus, „communicatio [und nicht etwa societas] civilis, sive politica“ schreibt und ein Sich-darauf-Hinausreden gar nicht möglich ist, ­„ societas“ sei doch „die Gesellschaft“.  – Wir brauchen Realitätsbeschreibung, nicht Scholastik: Wenn ­Riedel (S. 807 ff.) „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ zu Synonymen erklärt, bleibt das falsch, auch wenn er eine Reihe von Autoren anführen kann, die ab einer bestimmten historischen Zeit die beiden Begriffe für synonym e r k l ä r t haben. Wie wir gesehen haben, ist Gesellschaft gerade Absonderung vom Gemeinwesen.  – Das alles ist außerdem ein Musterbeispiel dafür, was geschieht, wenn ältere Sachverhalte mit „modern“ verstandenen und mißverständlichen, hier außerdem ganz neben der Sache liegenden Begriffen erfaßt werden sollen. Als ob es Otto Brunner nie gegeben hätte! – Umgekehrt kriegt Machiavell von Riedel (S.  733) eine Abmahnung: Er „verwendet statt des Terminus ‚bürgerliche Gesellschaft‘ die weniger klar definierte Wendung des ‚bürgerlichen Lebens‘ (vivere civile, politico)“. Auch hier zunächst wieder: Machiavell verwendet selbstverständlich nicht deutsche, sondern italienische Termini. Außerdem ist ital. „vivere civile, politico“ nicht nur nicht weniger klar, sondern mit dieser Satzzeichensetzung ganz präzise. „Vivere“ heißt, wie von den Adverbien/ Adjektiven her deutlich ist, hier „miteinander leben“, und zwar, wenn man’s italienisch auf der lateinischen Basis „civilis“ haben will, „civile“, will man’s auf der griechischen Basis „polītikós“, dann „politico“. Kürzer und genauer als mit „vivere civile, politico“ geht’s nimmer mehr. 815 Der aufklärerische Impetus brachte auch dichterische romantische Schwärmerei hervor, etwa Ludwig Tiecks („14, 175“): „ich hatte mancherlei sehr empfindsame sachen gelesen und die menschliche gesellschaft kam mir als éine grosze, zärtliche familie vor“ (hier gemäß Grimm, Wb., Bd. 5, Sp. 4055), sowie jenes „Seid umschlungen, Millionen“ von Schiller.

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halte näher einzugehen.816 So „empfiehlt es sich, immer dann von Gesamtgesellschaft (Gemeinwesen)817 zu sprechen, wenn es um … geht. Die Diskussionsfrage ist dann die, ob und inwieweit es notwendig, möglich, richtig ist, davon auszugehen, daß …“ (Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Einleitung, S. XV). – „Für den jungen Fichte … stand es fest, daß es erforderlich sei, ‚die Gesellschaft überhaupt nicht mit der besonderen empirisch bedingten Art von Gesellschaft, die man den Staat nennt, zu verwechseln‘. Dieser erschien ihm nur noch als …“ (Conze, in: Böckenförde (Hrsg.), S. 43). – Bei Angermann läuft es so: Es soll weder dieses, noch jenes und auch nicht das unter „Gesellschaft“ verstanden werden, sondern folgendes (in: Böckenförde (Hrsg.), S. 112 ff.). Solches „Definieren“ läßt sich natürlich endlos fortsetzen. Jetzt noch eine Bemerkung zu Habermas’ „Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann“.818 (Auch hier gehe ich nicht auf die Theorien beider Autoren ein.) Während für Habermas feststand, daß „eine an kybernetische Grundbegriffe trotz ­aller Generalisierung gebundene Systemtheorie819 der Gesellschaft scheitert“, zeigte er, wozu nur „eine kritische [d. h. hier: unorthodox an Marx orientierte] Gesellschaftstheorie … in der Lage“ sei (1982, S. 389 f.). Luhmann (1990, S. 342) meinte (im Zusammenhang seines Theorems von der Wissenschaft als „selbstsubstitu­ tiver Ordnung“): „der Zusammenbruch des Marxismus läßt weitgehend offen, welche Gesellschaftstheorie denn anstelle dessen überzeugen und Motive bewegen könnte.“ Tatsächlich ist die Feststellung nicht aufregend, daß der „Zusammenbruch des Marxismus“ in der „Gesellschaftstheorie“ eine Lücke gelassen habe, und es ist deshalb auch nicht wichtig, ob eine andere „Gesellschaftstheorie“ – wie Luhmann sagt: – hier „überzeugen[d]“ substituieren könne. Die „Krise der Soziologie“ ist nicht Folge des „Zusammenbruchs des Marxismus“ und ist der­ jenigen Art von Soziologie, die sich uns heute präsentiert, sozusagen angeboren, ist ihre Elementarkrise. Diese Soziologie war wissenschaftlich praktisch von Anfang an im 19. Jahrhundert umstritten. Die Nachrede lautete: Sie zielt primär auf Veränderung statt auf Erkenntnis. Es hat auch nichts geholfen, daß Max Weber vor etwa hundert Jahren vorschlug, den in der Soziologie korrumpierten Begriff

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Ich habe hier alle Beispiele aus Böckenförde (Hrsg.) genommen, damit der, der doch an den Inhalten interessiert ist (auf die es mir nicht ankommt), alles gleich beieinander hat. 817 „Gesamtg e s e l l s c h a f t “ sagt auch Böckenförde (Einleitung, in: ders. (Hrsg.), S. XV; H. v. m.) fälschlich, obwohl er „Gemeinwesen“ meint – was er dann zur Vermeidung von Unklarheiten in Klammern beifügt. Man könnte in Sachen „Gesellschaft“ eine Satire schreiben, wenn das wissenschaftshistorische Elend nicht so groß wäre. 818 In Habermas/Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? (1971, Frankfurt a. M.). – Die Beiträge von Habermas auch in: Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften, 5., erw. Aufl. (1982, Frankfurt a. M.), S. 369–502. 819 Der für die Möglichkeiten der Nutzung der Kybernetik für eine „systemtheoretische Gesellschaftstheorie“ engagierte Luhmann versteht „Gesellschaft“ als „soziales S y s t e m “ (1971, S.  370 f., Hervorhebung von mir; s.  a. Luhmann, 1970, S.  145, und derselbe, 1990, S. 343).

III. Gesellschaft

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„b ü r g e r l i c h e Gesellschaft“ zu vermeiden; beim untauglichen Begriff „Gesellschaft“ blieb Weber. Einige Soziologen sehr verschiedener Richtungen haben besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Schwierigkeiten bemerkt, in denen ihr Fach steckt.820 Ich nenne einiges davon. Luhmann schreibt im Vorwort zu „Soziologische Aufklärung. [Eigene] Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme“ (1970, S.  5): „Die Soziologie blickt, was praktische Verwendung und theoretische Konsolidierung anlangt, in eine offene, höchst ungewisse Zukunft. All ihren Beständen und jedem ihrer Einsätze fehlt die Gewißheit, dauerhafte Erkenntnis zu sein. Das gilt selbst für empirische Forschung, besonders aber für  … theoretische Überlegungen“, und im Aufsatz „Gesell­schaft“ (S. 141 f.) sagt er: „Überblickt man die Gesamtentwicklung … [bisher vorgetragener] Gesellschaftstheorie, dann fällt ein durchgehender Grundzug ins Auge: Obwohl die Theorie seit Anbeginn [gemeint ist: seit Aristoteles] als Systemtheorie angelegt war, ist eine ausreichende begriffliche Klärung dessen, was mit koinōnía-communitas-societas-Gesellschaft gemeint war, nicht gelungen, ja nicht einmal ernsthaft versucht worden. Der Grundbegriff selbst ­[‚Gesellschaft‘] hat nie eine begründende Funktion erfüllt. Vielmehr hat das gesellschaftstheoretische Denken sich stets durch ein sehr viel konkreteres Problembewußtsein führen lassen. … man sucht Probleme wie Frieden und Gerechtigkeit oder Produktion und Verteilung zu lösen und bestimmt von deren Erfordernissen aus das Wesen der Gesellschaft gleich mit. Gesellschaftstheorie wird nie zur unabhängigen, übergeordneten Instanz, von der aus man beurteilen könnte, ob und inwieweit Frieden, Gerechtigkeit, Produktion, Verteilung überhaupt sinnvolle Probleme und realisierbare Ziele darstellen.“

Das konnte die sog. Gesellschaftstheorie auch nicht werden, wenn man – wie hier auch Luhmann wieder – nicht mit dem Anfang anfängt. Am Anfang von Ari­ stoteles’ „Politik“ steht nämlich nicht koinōnía (das mit „Gesellschaft“ auch noch falsch übersetzt ist), sondern pólis, und erst danach der (erstmals von Aristoteles aufgebrachte) gelehrte Begriff hē koinōnía hē polītikē´. Luhmann hat in seiner Begriffsabfolge „koinōnía-communitas-societas-Gesellschaft“ genau das, worauf es ankommt, nämlich polītikē´ (und entsprechend), weggelassen und landet nach dem Flug von der unspezifischen koinōnía dann bei der ebenso unspezifischen (Theorie-)„Gesellschaft“, dem vermeintlich „Grundbegriff“ der Soziologie, der aber „nie eine begründende Funktion erfüllt“ hat. Es geht aber nicht um die unspezifische koinōnía, sondern um die Polis, um das politische Gemeinwesen821 und dann um die defizienten Modi des politischen Gemeinwesens, um Herrschaftssysteme, um die -kratien und -archien bei den Griechen, um das mittelalterliche Herrschaftssystem in der Nachfolge des Franken 820

Volker H. Schmidt (S. 663) zeigt, daß es auch früher schon Diskussionen über die Krise des Fachs gegeben hat. 821 Was nicht mit Tönnies’ Theorie- bzw. Weltanschauungsbegriff „Gemeinschaft“ verwech­ selt werden darf.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Langobarden-Reichs und um die frühneuzeitlichen Staaten ebendort. Es geht um die im politischen System mitspracheberechtigten und mitentscheidenden Glieder des Gemeinwesens, die in den Herrschaftssystemen mehr und mehr von der Mitsprache und Mitentscheidung über die alle angehenden Dinge ausgeschlossen, zu Untertanen degradiert worden sind und auch heute noch in den alle angehenden Angelegenheiten kaum Durchblick haben. Der bei Gehlen (Zur Lage der Soziologie, in: Eisermann, Die Krise der Sozio­ logie, 1976, S.  8)822 für die Zwecke einer „Definition der allgemeinen Sozio­ logie“823 nicht benötigte „unhandliche, fast gespensterhafte Begriff ‚Gesellschaft‘“ wird auch bei u n s nicht gebraucht. Gar nicht unhandlich und ebenso wenig gespensterhaft ist der Begriff Gesellschaft dort, wo es um die konkret nachzuweisenden Phänomene geht (B.III.1.), die von s i c h aus so heißen. D o r t gehört er hin.

IV. Lange Wege zur „modernen Demokratie“ Die Entwicklung zur antiken, zur „attischen Demokratie“ von den Reformen des Solon, ab 594 v. Chr., über die des Kleisthenes, ab 509, bis zu denen des­ Perikles, 457/456, war ein langwieriger Prozeß. Über ihn wissen wir zwar relativ schon viel mehr als über die Jahrhunderte vor Solon, absolut aber doch recht wenig. Von den Entwicklungen in den inzwischen zu Staaten gewordenen Nach 822 Eisermann sagt in seinem Vorwort, S. V: „Die Krise der Soziologie war von den Mit­ arbeitern des vorliegenden Bandes bereits apperzipiert worden, bevor sie noch in aller Munde war. Sie bildete nämlich das Thema eines sich über vier Semester erstreckenden Vortrags­ zyklus am Institut für Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften der Rhein. FriedrichWilhelms-Universität Bonn, dessen Texte in dem vorliegenden Band präsentiert werden.“ Zur Frage der Bedeutung von „Gesellschaft“ für die Grundlegung der Soziologie haben sich viele Soziologen geäußert. Imbusch (S. 664) sagt zwar zu Recht, daß „‚die Gesellschaft‘ für die Mehrzahl der Soziologen nie der spezifische Forschungsgegenstand war“ – die Mehrzahl hat sich bekanntlich mit Spezialgebieten und mit Spezialfragen befaßt (sog. Bindestrich-Soziologen) –, aber um sie geht es ja auch nicht, und infolgedessen ist das kein Gegenargument. – Zur „Krise der Soziologie“ ist von vielen Seiten noch anderes gesagt worden, so über massiv mit anderen als wissenschaftlichen Mitteln angestrebte Vorherrschaft einer Richtung über die anderen, so über das Auseinanderklaffen von Anspruch bzw. Ankündigung und tatsächlich erbrachter Leistung bei mehreren Richtungen, auch noch anderes mehr. Weil in diesem Kapitel aber nicht die Soziologie, sondern „Gesellschaft“ das Thema ist, gehe ich darauf hier nicht ein. Jedenfalls solange sich Soziologen nicht von ihrem Theorie- bzw. Ideologiebegriff Gesellschaft als vermeintlich Zentralbegriff ihrer Wissenschaft freimachen, werden sie aus d i e s e r „Krise“, genauer: aus ihrem Anfangselend, nicht herauskommen, mal abgesehen von noch anderen Krisen. 823 Wie die Allgemeine Anthropologie/Soziologie zwanglos in das System der Wissenschaften einzuordnen ist und wie ebenso zwanglos ihr Verhältnis zur Allgemeinen Geschichts­ wissenschaft beschrieben werden kann, habe ich in Kap. A.IV. gezeigt.

IV. Lange Wege zur „modernen Demokratie“

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folgesystemen des frühmittelalterlichen fränkisch(-langobardischen) Reiches auf das hin, was wir „moderne Demokratie“ nennen, kennen wir sehr viel mehr Details. Ich gebe davon824 aber jeweils nur einen kurzen Abriß per Fußnote. Am Ende kommt es nämlich mehr auf anderes an. Nach der Französischen Revolution waren auch die Entwicklungen zu den „modernen Demokratien“ langwierige Prozesse. Sie unterschieden sich selbstverständlich wegen des großen historischen Abstands von jenem auf die „attische Demokratie“ hin, es gab nun auch mehr oder weniger große Unterschiede zwischen den Entwicklungen in Frankreich, in Deutschland, Österreich sowie in Italien. Im ab 1789 nach wie vor unitarisch-zentralistisch organisierten Frankreich hat es immerhin fast ein Jahrhundert gedauert, bis sich überhaupt erst einmal das republikanische System hat durchsetzen können.825 824 In England war eine schon viel ältere parlamentarische Tradition wirksam. Für die USA nenne ich zwei Merkmale der Entwicklung: Zum einen gab es eine aus englisch-purita­ nischer, also letztlich kalvinistischer Auffassung stammende republikanische Tradition, aber aufgrund spezieller Erfahrungen galt in England, anders als im calvinischen Genf, der Grundsatz, die Kirche sei vom weltlichen Regiment streng zu trennen. Zum anderen war eine auf neuzeitlicher „Naturrechtslehre“ (dann besonders auf John Locke) fußende Theorie von den „natürlichen“ Rechten der Menschen wichtig. (Betr. USA s.  Morgan, S. 516–520, S. 523 f., S. 538, S. 546 f., S. 566 f.) – Beide Traditionen gehören nicht auf die Hauptlinie der hier vorgelegten Arbeit und übergehe ich deshalb, auch wenn sie nach dem Zweiten Weltkrieg in einigen Hinsichten auf verschiedene Weise Einfluß auf die Entwicklung zur Demokratie in Westdeutschland, in Österreich und in Italien hatten. 825 Auf die sechs revolutionären Phasen bis 1799 (dazu siehe den Schluß von B.II.2.a)cc)) folgten das buonapartische Konsulat und der Premier Empire Napoleons I., nach dessen Niederlage die bourbonische Restauration, dann über krisenhafte Zwischenstufen, unter anderem der des „Roi-Citoyen“, der Second Empire Napoleons III., bis 1870 (Sturz des Empereur). – Nach diesen Rückfällen in Royalismus und Imperatorentum, erneut mit Hegemoniebestrebungen, hat sich ab 1875 das republikanische Regime endgültig durchgesetzt und sich trotz Krisen bis zum Ersten Weltkrieg stabilisiert. Unter schwierigen Nachkriegsverhältnissen bewirkten vor allem große Spannungen zwischen den Parteien in den zwanziger Jahren zunächst eine Instabilität der Regierung, die Poincaré von 1926 bis 1929 überwinden konnte. Ab 1930 geriet Frankreich im Innern in eine schwere Finanz- und Staatskrise: Schwächung des Parlamentarismus, Polarisierung zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten, bei dieser die militante „Action française“ von Maurras und die faschistische Massenbewegung der „Ligue de Croix-de-Feux“. (Faschistische Bewegungen verschiedener Ausprägungen waren damals ein annähernd gemeineuropäisches Phänomen, bis einschließlich Großbritannien.) Ständig verschlechterte sich die Wirtschaftslage, der auch Regierungsbündnisse der „Front Populaire“ nicht Herr wurden. Das System der Dritten Republik war so geschwächt, daß trotz der seit mehreren Jahren betriebenen Aufrüstung der militärische Zusammenbruch nach dem am 10. Mai 1940 eröffneten deutschen „Frankreichfeldzug“ nicht ganz unerwartet kam. – Der neue Regierungschef Marschall Petain schließt Waffenstillstand mit Deutschland und versucht ab 1941, den französischen Staat in einer „nationalen Revolution“ umzugestalten: Abschaffung des Parlamentarismus; Auflösung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, statt dessen korporative Berufsverbände; Dirigismus in der Wirtschaft. Das anfangs von der Bevölkerung unterstützte Regime („État français“; Sitz im unbesetzten Teil Frankreichs) verliert mit der Verschlechterung der Kriegslage für Deutschland an Anhang. Die „Résistance“ verstärkt ihre Aktivitäten. General de Gaulle, seit 1940 in England,

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Aufgrund der anderen historischen Voraussetzungen (siehe in Kapitel B.II.2.a) bb)), wegen der napoleonischen französischen Hegemonialkriege in Europa und der Abwehr dagegen sowie im Zug der deutschen Einigungsbestrebungen ver­ liefen die Entwicklungen nach 1789 im (ersten) deutschen Kaiserreich, danach in Deutschland und in Österreich ganz anders als in Frankreich.826 – Ein republika­ kann die zahlreichen Widerstandsgruppen für die Beteiligung an einem nationalen Befreiungskomitee gewinnen. Er bildet im September 1944 auf dieser Basis eine provisorische Regierung, die von Großbritannien und den USA anerkannt wird. Seinerseits von der äußersten Rechten kommend, begründet er mit sozialistisch und kommunistisch beeinflußten Gruppen ein demokratisches Regime (nach wie vor unitarisch-zentralistisch), dem die Bevölkerungsmehrheit zustimmt. (Der Große Ploetz, 321998, S. 928–957 (Wilfried Loth) u. S. 1443–1449 (Peter Hüttenberger).) 826 Unter dem Einfluß der revolutionären Ereignisse in Frankreich kam es ab 1807 zwar zu Reformen, aber gegen den französischen Imperialismus auch zur Bewegung der „Befreiungskriege“, von Spanien bis Preußen, Rußland und Österreich, die zum einen zur Niederlage Napoleons I. führten, zum anderen aber zur monarchischen „Restauration“, allerdings doch mit einigen Änderungen („Frühkonstitutionalismus“). Es kam aber auch zu Aufständen, zu Massenkundgebungen und zu Revolutionen, wobei liberale und republikanische Bestrebungen mit solchen zusammenfanden, die auf die deutsche Einheit zielten (z. B. „­Hambacher Fest“, 1832). Starkes Anwachsen der Bevölkerungszahl und Mangel an Arbeitsplätzen auf dem Land führten zu Massenauswanderungen, die Anfänge der Industrialisierung zu Übergangskrisen (1844 Weberaufstand in Schlesien); es folgten Mißernten und Versorgungs­k risen.  – In der Revolution von 1848/49 dominierte in der Programmatik der „bürgerliche Liberalismus“, an den Aktionen beteiligt waren auch Gesellen und Fabrikarbeiter und z. B. in Baden auch Bauern; Führung und Zielsetzung waren uneinheitlich. Die „Deutsche Nationalversammlung“ in Frankfurt scheiterte letztlich, dabei besonders am Konflikt um die „großdeutsche“ oder „kleindeutsche“ Lösung bei der nationalen Einigung, die, nach Vorstufen, dann 1871 mit dem Zweiten Kaiserreich im „kleindeutschen“ Rahmen (ohne Österreich) vollzogen wurde: Bundesstaat mit 25 Gliedstaaten; Träger der Souveränität die Gesamtheit der Spitzen der Für­ stentümer und Freien Städte im Bundesrat; preuß. König erblich deutscher Kaiser, in der Regel preuß. Ministerpräsident Reichskanzler, mit Vorsitz im Bundesrat, alleinverantwortlich, aber nicht nach Art parlamentarischer Verantwortung gegenüber dem Reichstag; dieser nur zusammen mit Bundesrat Träger der Gesetzgebung; seine Abgeordneten aus allgemeinen, gleichen und geheimen Direktwahlen. – Hochindustrialisierung im 3. Dr. des 19. Jh. – Während des Ersten Weltkriegs im Sommer 1917 Parlamentarisierung der Reichsverfassung vorbereitet. Kurz vor Kriegsende Verfassungsreform (im wesentlichen parlamentarisches Sy­stem). 1918 Novemberrevolution: Republik. Sozialdemokraten („Mehrheitssozialisten“) setzen parlamentarische Demokratie gegen „Räterepublik“ durch und bleiben  – ob mit in der Regierung oder nicht – zusammen mit der Zentrums-Partei und Teilen der Liberalen staatstragend in der „Weimarer Republik“ (gleichfalls Bundesstaat mit relativ starker Stellung des Reichspräsidenten als Staatsoberhaupt) und in Preußen. Weniger die Deutschland auferlegten Re­ parationsleistungen als die für die Finanzierung des Kriegs ausgegebenen Anleihen bewirken eine Geldentwertung, angesichts zunächst noch geringer Produktion von Verbrauchsgütern, dann wegen der vielen Kriegsfolgelasten im Innern und der Notwendigkeit der Kreditaufnahmen, was schließlich zu katastrophaler Inflation führt, die vor allem den Mittelstand trifft und erst Ende 1923 überwunden wird.  – Wegen der Unvernunft der Staatsmänner vieler Siegerstaaten, die fast rundherum um Deutschland und Deutsch-Österreich den Prinzipien der Wilson-Doktrin (Selbstbestimmungsrecht der Völker) extrem zuwiderlaufende Gebiets­ abtrennungen durchsetzen (worauf neue Vielvölkerstaaten entstehen, z. T. mit Unterdrückungen im Gefolge), können in Deutschland „völkische“ Bewegungen auch in der Sache sehr

IV. Lange Wege zur „modernen Demokratie“

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nisches System erreichte Deutschland und (Deutsch-)Österreich erst nach dem Ersten Weltkrieg. In beiden Fällen war es gemäß deutscher Tradition föderativ aufgebaut. In beiden Fällen erwies es sich dann als noch zu wenig stabil. Die Stabilität ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht worden. Aus B.II.2.a)aa) wissen wir, daß (zwar nicht allein, aber) vor allem in den oberitalienischen habsburgischen Ländern schon vor 1789 Reformen durchgeführt oder eingeleitet worden sind. Italien ist in napoleonischer Zeit unter französische Herrschaft geraten, mit Ausnahme der Königreiche Sardinien (das 1720 mit Piemont vereinigt worden war) und Sizilien, die, beide unter dem Schutz der britischen Flotte, die Unabhängigkeit von Frankreich und ihre Regime bewahren konnten. Piemont-Sardinien gelang die Einigung Italiens als zentralisierte liberalleicht Propaganda gegen die Siegerstaaten betreiben, dabei zugleich gegen den dort üblichen Parlamentarismus und so wiederum zugleich gegen das (angeblich) von dort importierte, den Deutschen angeblich „wesensfremde“ parlamentarische „Weimarer System“ und gegen die Parteien, die die Weimarer Republik stützen. – Von 1924 bis 1928 Konsolidierung mit Stabilisierung der Republik, deren Außenminister Stresemann (Ende 1923–1929) einige Erfolge erzielen kann. Wirtschaftskonjunktur möglich gewesen infolge großen Kapitalzuflusses, bes. aus USA. 1929 hohe Auslandsverschuldung. Anzeichen für neue Krise im Winter 1928/29; 2 Mill. Arbeitslose. NSDAP (Partei-Chef Hitler) bis dahin bedeutungslos, erhält Zulauf. Ab 1930 gelingt keine normale parlamentarische Regierungsbildung mehr. Polarisierung von extrem rechts (NSDAP u. andere „völkische“) und extrem links (KPD), in der Mitte keine Mehrheit mehr. Zeit der „Präsidialregierungen“ und „Notverordnungen“. Reichskanzler Brüning versucht Verfassungsreform: funktionsfähiges parlamentarisches System mit Monarchie gem. brit. Vorbild, scheitert aber. 1929 Weltwirtschaftskrise und „Bankenkrach“. 6 Mill. Arbeitslose Anfang 1932. Im Sommer 1932 NSDAP stärkste Fraktion im Reichstag, am 30.1.1933 Hitler vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler berufen. Es folgten: De-facto-Ausschaltung des parlamentar. Systems und von Grundrechten, auch der Presse­ freiheit, Verbot der anderen Parteien und der Gewerkschaften, Beseitigung des Föderalismus, planmäßig und umfassend Indoktrination und organisatorische „Gleichschaltung“ der Bevölkerung; staatliche Wirtschaftslenkung; Aufrüstung. – NS-Regierung kann in den e­ rsten Jahren Ergebnisse erzielen, die bei der Bevölkerung weitgehend Zustimmung finden, bes. die Verringerung der Arbeitslosigkeit (1933 von 6 auf 4  Mill. infolge allg. Konjunkturaufschwungs, noch ohne Auswirkung der Aufrüstung), danach durch Einführung des „Reichsarbeitsdienstes“, vorab aber durch Aufbau der Rüstungsindustrie. – 1938 Anschluß (Deutsch-) Österreichs (nach dem Er­sten Weltkrieg von österr. Seite offiziell verlangt und beschlossen, von den Siegerstaaten auf franz. Betreiben aber verhindert) und Münchner Abkommen über die Abtretung des Sudetenlands an Deutschland. 1939 muß die Tschechoslowakei auf deutschen Druck der Errichtung eines „Reichsprotektorats Böhmen-Mähren“ zustimmen. Einmarsch deutscher Truppen. Gegen deutsche Forderungen an Polen (Rückgabe Danzigs u. „Korridor“ durch Westpreußen) britisch-französische Garantie-Erklärungen für Polen. Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt mit Verständigung über die Aufteilung Ostmitteleuropas in Interessensphären. Deutscher Angriff auf Polen. Beginn des Zweiten Weltkriegs, der 1945 nach der Eroberung Deutschlands durch Alliierte Truppen u. deutscher Kapitulation endet. – Das in Westdeutschland installierte System (hier Wiederaufbau durch „Marshallplanhilfe“ der USA gefördert), fußt zwar auf den Hauptprinzipien der Weimarer Republik (wiederum Bundesstaat und Republik), jedoch mit Veränderungen überall dort, wo die Weimarer Republik in der Praxis Schwächen gezeigt hatte. (Mehr zur Entwicklung in Deutschland und Österreich ab 1789 in: Der Große Ploetz, 321998, S. 837–912 (Werner Conze u. Andreas Hillgruber) u. S. 1398–1419 (Peter Hüttenberger).)

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parlamentarische konstitutionelle Monarchie.827 – 1946 ist Italien aufgrund einer Volksabstimmung dann Republik geworden. Die überkommene Gliederung in Regionen ist beibehalten, deren Befugnisse sind mit den Föderalisierungsartikeln von 1970 der italienischen Verfassung aber etwas verstärkt worden (eigene Legislativ- und Exekutivkörperschaften), dabei mit das föderalistische Element ver­ stärkenden Sonderregelungen im Fall einiger „autonomer Regionen“ (aus ganz anderen Gründen dazu etwas im Kap. A. V., im letzten Absatz der Fußnote 146). 1997 beschließt das Parlament mehr Dezentralisierung Italiens. Die heute bestehenden Staaten, die letztlich aus dem fränkisch(-langobardisch)en Reich hervorgegangen sind, sowohl die jetzt republikanischen, also Deutschland und Österreich, Frankreich, Italien,828 und auch die nur dem Namen nach Monarchien, in denen die „monarchische“ Spitze im wesentlichen bloß reprä­sentative Funktionen hat, also die drei Benelux-Staaten und Liechtenstein, bezeichnen wir als Demokratien mit der Begründung, das, worauf es ankomme, sei jedenfalls, daß „das Volk herrsche“, eben nicht wirklich ein Monarch und dieser schon gar nicht womöglich „absolut“. Die Systemreparatur von „aufgeklärter“ oder gar „absoluter“ Monarchie schließlich zur „Demokratie“ der Systeme von heute brachte sehr wichtige Verbes­ serungen, aber der Ansatz ist, wie vor zweieinhalbtausend Jahren, immer noch falsch. Es geht zu Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch 827

Nach der Niederlage Napoleons stellte der Wiener Kongreß mit einigen Änderungen (so Genua an Piemont-Sardinien) die alten Verhältnisse wieder her. Verschiedene Gruppierungen strebten die Einigung Italiens an, darunter die „Giovine Italia“ („Junges Italien“) des An­führers der radikalrepublikanischen Richtung, Mazzini. Aufstände zw. 1833 u. 1845 wurden niedergeschlagen. Ein noch schlecht vorbereiteter Krieg Piemonts gegen Österreich 1848/49 ging zwar verloren, verhalf der Bewegung des „Risorgimento“ („Wiedererstehung“) aber zu breiter Zustimmung bei der Bevölkerung Italiens. Graf Cavour, gemäßigt liberal, diplomatisch sehr geschickt, seit 1850 Minister u. 1852 Ministerpräsident für Sardinien-Piemont, das nach der Niederschlagung aller revolutionären Bestrebungen von 1848/49 als einziger ital. Staat die parlamentar. Verfassung beibehielt, leitete die Modernisierung Piemonts ein und schuf bessere Voraussetzungen zur Einigung, die 1859 bis 1861, zunächst noch ohne Venetien und Rom, dann auch gelang und bis 1870 erweitert wurde. – Die Beteiligung am Ersten Weltkrieg brachte große Verluste an Menschen sowie wirtschaftlich und finanziell den Bankrott, den Niedergang des liberalen Systems und den Aufstieg des Faschismus zur Massenbewegung. Ihr Anführer Mussolini gewann 1922 während einer sozialen Krise die Herrschaft in Italien (Berufung zum Ministerpräsidenten) und baute sie diktatorisch aus, mit Unterdrückung der Opposition. Annäherung an Hitler-Deutschland; 1940 Eintritt in den Krieg, ungenügend gerüstet („erst 1942“), Mißerfolge auf dem Balkan und in Nordafrika. Ab 1943 eroberten britische und amerikanische Truppen Italien von Süden her. Ablösung des faschistischen Regimes; Anfang 1944 Zusammenschluß der wichtigsten Widerstandsgruppen, von extrem links bis rechts, danach amerikanisch-britisch beeinflußte Regierungsbildung unter Beteiligung auch des Kommunisten Togliatti (aus Moskau) und des Philosophen Croce. (Mehr detailliert, aber dennoch konzentriert, in: Der Große Ploetz, 321998, S.  1011–1022 (Rudolf Lill, Werner Conze, Andreas Hillgruber) u. S. 1468–1475 (Peter Hüttenberger).) 828 Auch die Schweiz gehört hierzu, ist aber ein Sonderfall, auf den ich nicht eingehe (s. Der Große Ploetz (321998), S. 501 f., S. 1083–1086 (Ulrich Im Hof)).

V. Annex zu den historischen Teilen

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um „-kratie“, um „Herrschaft“, oder, wie auch gesagt wird,829 um „Macht“ (im her­ untergekommenen Verständnis des Wortes; s. B. I.3.). Das ist so in der Praxis, in den Köpfen von trotz aller mit der Demokratie verbundenen Verbesserungen nach wie vor nur Staatsfrauen und Staatsmännern,830 nicht von wirklich Politikerinnen und Politikern, und genau so in den Köpfen der Journalisten wie auch in der Theorie bei den Vertretern der Politikwissenschaft heute (ich verweise auf Ka­pitel A.II.).831 Das ist natürlich nicht verwunderlich, und es ist folglich für die Vergangenheit und für die Gegenwart auch niemandem ein Vorwurf daraus zu machen; denn so hörten und hören wir es ja stets seit Sokrates/Platon und Aristoteles von den Philosophen bis in unsere Zeit, in der Politik bzw. in dem, was dafür gehalten wurde und wird: Es geht um Herrschaft und folglich darum, w i e die Herrschafts­ordnung auszusehen habe. Daß politische Systeme ihrem Wesen gemäß tatsächlich aber gerade nicht Herrschaftssysteme sind,832 hat Konsequenzen. Ihre Grundzüge nenne ich in den Kapiteln von C. I.–III.

V. Annex zu den historischen Teilen: Legitimitätsprinzipien Vorbemerkungen An vielen Stellen und dies bereits in frühen Stadien der jetzt abgeschlossenen Untersuchung bin ich mit „Legitimierung“ von Führung im politischen Gemeinwesen und von Amts- und Herrschaftsausübung konfrontiert worden. Dabei zeigte das historische Material ein breites Spektrum von Legitimitätsprinzipien. Es überwogen dabei zwar bei weitem diejenigen, die – hier zunächst verkürzt formuliert – 829 Mit oder ohne die geläufige Unterscheidung zwischen „Herrschaft“ u. „Macht“, die Max Weber mittels Definition theoretisch festgelegt hat, die uns für unsere Zwecke natürlich genau deshalb nichts bringt. 830 „Die Parteien haben doch in dieser Demokratie einen ganz bestimmten Auftrag, nämlich um Mehrheiten zu kämpfen, sie zu behaupten oder zu erringen. Im Vordergrund steht der Kampf um die Erringung oder Erhaltung der Macht. Das ist für sich legitim“ (Bundespräsident von Weizsäcker u. ehemals Regierender Bürgermeister von Berlin, in: Körber-Stiftung: Bergedorfer Gesprächskreis, Protokoll 80 (1986), S. 37, wo der Autor die kritische Bemerkung anschließt, die Bürger hätten oft den Eindruck, die „Sachprobleme“ seien beim „Kampf um die Macht“ nur zweitrangig). 831 Es hat sich, wie wir dort sahen, in der Sache auch von um 1950 bis Anf. d. 21.  Jh. nichts verändert. (Auch diese Wissenschafter betonen übrigens fast alle, daß Herrschaft bzw. „Macht“ nicht Selbstzweck sein dürfe; aber das reicht eben nicht.) 832 Daß das Wesentliche n i c h t Herrschaft ist, heißt nicht, daß es in den bestehenden demo­ kratischen Systemen Herrschaft nicht gibt. Die demokratischen Systeme  – das macht eben ihre Defizienz aus – sind ja gerade immer noch auf Herrschaft bezogen, auch wenn sie den zuvor bestehenden Systemen eindeutig vorzuziehen sind. Indem ich jene empirisch gewonnenen Befunde vorlege, bringe ich nicht etwa eine AnarchieTheorie. Ich meine, daß es inzwischen außer Frage steht: Es geht mir überhaupt nicht um Theorie.

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inhaltlich eine Legitimierung bringen, es gab und gibt aber auch einige sozusagen formale, die in der Praxis große Bedeutung haben. Eine Übersichtsdarstellung über die Prinzipien, wie ich sie für das brauchte, was jetzt in den Kapiteln von B.I., B.II.1. und B.II.2. steht, habe ich nirgends gefunden. Ich habe es dann selbst versucht, zunächst für die Zwecke einer Vorlesung im SS 1963 in Darmstadt unter dem Titel „Die Prinzipien zur Rechtfertigung poli­ tischer Herrschaft“. Ich habe damals noch nicht beachtet, daß nicht erst „Staat“ unpolitisch ist – das war bereits seit 1958 abzusehen (Kap A.II.) –, sondern daß schon „Herrschaft“ eine Perversion des Politischen ist. (Später habe ich eine überarbeitete Fassung unter dem Titel „Prinzipien zur Legitimierung von Herrschaft und Amt“ gebracht, die aus der Warte von heute schon besser, aber immer noch nicht ganz befriedigend war.) Es geht mir auch bei den Legitimitätsprinzipien nicht um Theorie und nicht um kritische Betrachtung von Theorien, auch nicht um die Bildung von Legitimierungs-Typen nach Art von Max Weber und jüngeren Autoren, die übrigens alle auf Legitimierung von Herrschaft abstellen.833 Das Anliegen ist vielmehr Topik, ist ein sozusagen Topoi-Katalog, aus dem ersichtlich ist, was es im Lauf der Geschichte im Bereich des Politischen bzw. der defizienten Modi konkret an für Legitimierung wichtig Erachtetem faktisch gegeben hat und gibt. Das könnte man für eine recht bescheidene Zielsetzung halten. Das ist es zum einen tatsächlich. Zum anderen erbrachte die nicht auf Herrschaftslegitimierung vorfixierte Topik etwas, das bei einer solchen Vorfixierung nicht hätte gefunden werden können. Tacitus zählt (um 100 n. Chr.) im Kapitel 11 seiner „Germania“ (= G., 11) die­ jenigen Glieder der germanischen Gemeinwesen auf, die in der Volksversammlung aller erwachsenen freien Männer z u e r s t zu Wort kommen, und wir erfahren, wodurch dieses „zuerst“ legitimiert ist. Zunächst spricht der im römischen Verständnis „König“ (rex), falls es in dem Stamm oder Volk einen solchen gibt, anderenfalls Anführer (principes), und nun kommen bei Tacitus die Qualifikationen für das Vorrecht: Lebensalter (dazu siehe Kapitel B. V.2.a)), Rang/Würde im Gemeinwesen (B. V.4.a)), Kriegerehre (B. V.3.a)) und eine Befähigung, die ich, weil Vorhandensein und Nutzung kon­ stituierend für politische Gemeinwesen ist, gleich in Kapitel B. V.1. bringe. Wir erfahren ferner (G., 12, und G., 7), daß die Germanen ihre Anführer, ge­ gebenenfalls den „König“, aus dem Kreis der Vor-nehmen (zu diesen siehe Kapitel B. V.4.a)) auswählen, den Anführer im Krieg gemäß Tapferkeit (G., 7; dazu siehe 833

Kielmansegg (1971) hat vor allem die Typenbildung seitens Weber, Easton, Stern­berger, Ferrero und C. J. Friedrich kritisch betrachtet und die Diskussion weitergeführt. Von Dux stammt eine umfangreiche Untersuchung zum „Strukturwandel der Legitimation“ von Herrschaftsordnungen.

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B. V.3.a)), und Tacitus hat anderswo noch mehr hier Einschlägiges, das ich dann an anderen Stellen bringe. In den Kapiteln nenne ich das, worauf es bei dem Prinzip jeweils besonders ankommt, wobei ich, was davon notwendigerweise theoretisch ist, möglichst knapp halte und mich mit Verweisen begnüge, und bringe dann ausgewählte konkrete Fälle der Anwendung, aus verschiedenen Zeiten und Verhältnissen. In einigen Hauptkapitelüberschriften nehme ich mehrere Prinzipien zusammen, die zwar nicht aus der gleichen Wurzel stammen müssen, bei denen es aber Verbindungen gibt. (Eine andere Sache ist es, wenn historisch zu einer bislang verlangten Qualität oder Qualifikation eine andere hinzugetreten ist, nachdem die erste nicht mehr allein für ausreichend gelten konnte.) 1. Die Befähigung, die alle angehenden Dinge gut zur Sprache zu bringen Die Untersuchungen in den Kapiteln von B. I.1. haben vor allem ergeben: Echt politisch sind Systeme nur dann, wenn die alle angehenden aktuellen Angelegenheiten vor der Absprache/Entscheidung und vor dem Handeln gemäß dieser Entscheidung den Gliedern des Gemeinwesens so zur Sprache gebracht werden, daß sie wissen, um was es geht, und dann mit hinreichend Durchblick mitentscheiden können. Aus der Natur der Sache gehören zu „aktuell“ meistens auch ältere Sachverhalte aus älteren einschlägigen Erfahrungen. Zwar wissen wir aus B. I.1.a) anhand anderer Empirie, daß, jeweils zu Anfang, die griechischen Gemeinwesen der Epoche von um 3 000 bzw. um 2 300 v. Chr. (die bis zum Ende der mykenischen Zeit reicht) und dann wieder der Epoche ab der Dorischen und der Nordwestgriechischen Wanderung weiter nach Mittel- und Südgriechenland politischen Charakter gehabt haben müssen, so wie später die germanischen, von denen Tacitus erfahren hat. Weil uns glücklicherweise die „Germania“ erhalten geblieben ist, haben wir es für die Germanen jener Zeit eindeutig schwarz auf weiß (G., 11), daß nach den Anführern (evtl. „König“), den Männern hohen Alters, dann solchen von hohem Rang und solchen mit Krieger-Ehre diejenigen sprachen, die das, was anlag, gut zur Sprache bringen konnten – worauf Tacitus übrigens sogleich anschließt, daß es bei den Germanen primär auf überzeugenden Ratschlag ankam statt auf Befehlen. Die Konsequenz, die wir aus der Kenntnis der Bedeutung dieser Befähigung für unsere Systeme von heute zu ziehen haben, bringe ich in den Kapiteln von C.II.834

834 Wie das Gemeinwesen untergraben, pervertiert wird, wenn die von Hause aus systemkonstituierende und bewahrende Befähigung mißbraucht wird, hat Cicero beschrieben (siehe die letzten fünf Absätze in B. I.1.c)).

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2. Alter; Autorität, Ansehen a) Alter aa) Seniorat: Erfahrung der Älteren, Altersweisheit, Ehrfurcht vor dem Alter Mit dem in der Fachliteratur verwendeten gelehrten Begriff Seniorat (lat.­ senior = älter, der Ältere; zum Wortstamm sen- = alt) ist hier gemeint, daß in Gemeinwesen oft ältere Menschen wegen ihres Alters eine besondere Stellung einnehmen. Bevor ich Beispiele bringe, ist zu überlegen, was dahintersteht. In rationaler Betrachtung, aus moderner Sicht, lautet die Begründung: Ältere Menschen haben bei der Beurteilung und Bewältigung der alle angehenden Angelegenheiten viel mehr Erfahrung als die Jungen, manche sind sogar weise geworden.835 Deshalb sollte ihr Rat besonders beachtet werden, die wichtigsten Positionen im Gemeinwesen sollten solchermaßen erfahrene Menschen einnehmen. Das Seniorats-Prinzip darf, modern beurteilt, als überwiegend rationales Prinzip gelten, anders als etwa das des Charisma (s. Kapitel B. V.4.b)) und das des Gottesgnadentums (B. V.5.c)) – worüber ich aber, gerade weil Zuordnungen wohl immer nur unter Bedingungen in Frage kommen, keine Typendiskussion führen möchte. Anders ausgedrückt, die Lebenserfahrung zur Bedingung dafür zu machen, daß jemand 835 Daß Alter keine Garantie für Weisheit bietet, ist geläufig; der Gegenbegriff zum „weisen Alten“ ist der „närrische Alte“. Ohne daß es dabei um diesen Gegenbegriff geht, hat Platon einerseits (Politeia, III, 412c) gesagt, diejenigen, die gebieten, sollten doch wohl schon älter sein, andererseits (Politeia, VII, 536c/d): „Denn es ist dem Solon nicht zu glauben, daß alternd einer noch viel zu lernen vermag, …“, aber das gehört zur sokratischen Dialektik des Platon. Aristoteles (Politik, II, 1270b) hielt es für bedenklich, daß den Räten in Sparta (im Rat der Alten, der Gerusia) sogar auf Lebenszeit wichtige Entscheidungen übertragen waren; „hat doch, wie der Körper, so auch der Geist seine Zeit, wo er alt wird“. Daß die Diskussion kontrovers geführt wird, liegt in der Natur der Sache. Dementsprechend gibt es Beispiele nach beiden Seiten. Konrad Adenauer trat das Amt des Bundeskanzlers erst im Alter von 73 Jahren an und blieb darin bis 1963, als er 87 Jahre alt war – in seinen letzten Jahren allerdings nicht mehr so erfolgreich. Es gibt aber auch allgemeine Regelungen betreffend Höchstalter: Nach einem Bericht in der Saarbrücker Zeitung im Sommer 1997 über einen konkreten Fall im Saarland, in dem ein zum Bürgermeister Gewählter sein Amt nicht antreten konnte, weil er „am Tag des Beginns der Amtszeit das 65. Lebensjahr vollendet“ hatte – was der Kommentator zum Anlaß des Vergleichs mit Adenauer genommen hat –, habe ich bei der Rechtsabteilung für Kommunalangelegenheiten im Ministerium des Innern der Regierung des Saarlandes nachgefragt und bekam die Bestätigung (Rechtsgrundlage ist § 54, Abs. 1, KSVG). Der dort zuständige Jurist, mit dem ich sprach, hat – lachend – in bezug auf Adenauer (sicher zu Recht) die Meinung vertreten, das sei doch wohl ganz extrem ein Ausnahmefall gewesen. – Über das Thema, ob es nicht auch auf Bürgermeister-Ebene solche Ausnahmefälle geben kann und man sich auf sie einstellen solle, kann man pro und kontra argumentieren. Ich unterlasse es. Dagegen habe ich keine Zweifel daran, daß es nach dem Fall Adenauer – obwohl extrem die Ausnahme – keine Höchstaltersregelung für Bundeskanzler geben wird.

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eine führende Position im Gemeinwesen einnimmt, ist zweckmäßig und in der Regel eher vernünftig, und schon im Altertum galt, es werde eher gut regiert, wenn man Älteren das Regiment überlasse. In der „Ilias“ (II, 53) beruft Agamemnon, der Anführer mit dem höchsten Ansehen, vor der Volksversammlung/Heeresversammlung zunächst den Rat der „hochgesinnten“ Alten ein, oder (II, 404) die ältesten edelsten aller Achäer. Bei allen wichtigen Überlegungen spielt die Meinung des greisen Nestor eine besondere Rolle. Unter den historisch belegten Regelungen ziehe ich ein Beispiel aus dem germanischen Bereich vor, weil diese Regelung im Sinne des hier behandelten Legi­ timitätsprinzips besonders strikt war, und hänge, in kurzer Erwähnung, zum einen einen charakteristischen Begriff an, der bei anderen germanischen Stämmen üblich war, zum anderen einen Hinweis auf slawische und auf inselkeltische Verhältnisse. Es folgen dann Beispiele aus Sparta, Rom, dem spätmittelalterlichen deutschen Städtewesen und aus unserer Zeit, in denen es unter anderem auch oder überhaupt um „Mindestalter“-Regelungen geht. Sehr strikt gefaßt, kann „Seniorat“ in bezug auf die Erb- und Thronfolge­ ordnung auch bedeuten (wenn das vorher so festgelegt wurde), daß ohne Beachtung des Verwandtschaftsgrads der jeweils älteste Erbberechtigte die Nachfolge antritt. Diese strikte Anwendung des Seniorats-Prinzips ist uns aus dem ersten unabhängigen germanischen Reich auf römischem Boden, aus dem Vandalenreich in Nordafrika (429–534 n. Chr.), bekannt. Geiserich, der erste Vandalenkönig in Nordafrika, hat die Regelung herbeigeführt, daß beim Tod des Königs jeweils das dann älteste Mitglied der Königsfamilie neuer König wurde (zu der nicht gesicherten Herkunft dieser Regelung siehe Wenskus, 1961, S. 329), während bei vielen anderen germanischen Stämmen „Geblütsrecht“ galt (dazu siehe Kapitel B. V.4.c)). Nur kurz erwähnen will ich, daß bei den germanischen Angeln und Sachsen, Friesen und Skandinaviern die regionalen Anführer und Richter „Ealdorman“ (auch kurz „Eorl“, Mz. „Eorlas“), „Alderman“, „Aldorman“ und „Olderman“ (auch „Jarl“, Mz. „Jarle“) hießen – alle sind vom selben germ. Wortstamm –, in der Bedeutung von „Ältester“ (s. z. B. Waitz, Bd. I, S. 182), aber im ganzen „spielen … ‚Älteste‘ bei den Germanen der Römerzeit und späteren Epochen eine viel geringere Rolle als bei anderen Völkern“ (Wenskus, 1961, S. 329, unter Bezugnahme auf Waitz, Bd. I, S. 60, S. 92 u. S. 265; im übrigen Wenskus, S. 325–328). Jedoch: „Besonders die slawische Terminologie erweist den Vorrang der Alten und Ältesten: … [folgen die Begriffe]. Auch bei den Elbslawen galt die auctoritas senectutis viel, wie sie auch in frühen russischen Verhältnissen deutlich wird. Die bei Ost- und Westslawen (wenn auch nicht in identischer Form) auftretende Senioratserbfolge (…) ist ohne das Ältestenrecht nicht denkbar, wenn auch andere Bedingungen mitspielen müssen. Auch das insel­

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keltische Nachfolgerecht (law of tanistry) berücksichtigte gewöhnlich den älteren Ange­ hörigen der Sippe – nicht den ältesten Sohn des regierenden Fürsten“ (Wenskus, S. 325, mit Quellen).

Wenn Wenskus angesichts des zuvor Genannten und der Verhältnisse „bei Griechen (Gerusia), Römern (Senat)“ – bei mir siehe im folgenden – zustimmend sagt, „Die Indogermanisten behaupten für die indogermanische Urzeit eine besondere Bedeutung der Ältesten im Gemeinschaftsleben“ (S.  324 f.), müssen wir „indo­ germanische Urzeit“ korrigieren in „Zeit bald vor dem Auseinandergehen der indogermanischen Sprachen und der diese sprechenden Völker oder Stämme“; denn die „indogermanische Urzeit“ liegt – wie wir aus dem „Exkurs zu den Kapiteln von B. I.“ (s. dort Kapitel B. I.9.b)) wissen – schon im Paläolithikum, und für dieses haben wir in der in Frage stehenden Sache keine Anhaltspunkte. Auf welche Weise die Spartaner (als Dorer) zu ihrem Ältestenrat, zu ihrer Gerusia836, gekommen sind, wissen wir nicht, nur daß diese eine alte Einrichtung war. Im Zug der Fixierung der Verfassung in der „Großen Rhetra“ ist das zuvor schon gültige Legitimitätsprinzip Alter mit zwei anderen Prinzipien verknüpft worden, mit dem der Tüchtigkeit (das für sich in Kapitel B. V.3. betrachtet wird) und mit dem Wahlprinzip (Kapitel B. V.9.): Nun wählten die Spartiaten in ihrer Volks­versammlung 28 Männer im Alter von mindestens 60 Jahren zu „Älte­ sten“ (Geronten), gemäß Tüchtigkeit (aretē´ ). Die Gerusia hatte die Könige zu beraten und die Volksversammlung vorzubereiten; für besonders schwerwiegende Fälle war sie auch Gerichtshof. – Wir sehen die Veränderung, die die „Große Rhetra“ brachte (oder dokumentierte): die Verbindung eines älteren Legitimitätsprinzips mit anderen. Der Sippenälteste war von Hause aus Sippenältester kraft Alters gewesen, dazu konnte man nicht „gewählt“ werden, und dazu paßte auch keine Mindest­altersbegrenzung. Das jetzt verlangte Legitimitätserfordernis Tüchtigkeit zeigt an, daß hohes Alter als nicht mehr allein ausreichend galt. Aus Rom wissen wir, daß der Rat der Ältesten (senatus) ursprünglich aus der Gentilverfassung, der Gliederung des Gemeinwesens in Unterverbände, hervorgegangen ist, deren Angehörige gemeinschaftlicher Abstammung waren. Der Rat der Ältesten bestand in der Zeit der etruskischen Könige Roms aus den Häuptern (patres) der alten, angesehenen und von daher dann patrizisch genannten Geschlechter. Der Senat837 war also ein Adelsrat. Ursprünglich kam man auch hier auf natürliche Weise zur Mitgliedschaft. Das hat sich später geändert, und zwar zum einen so, daß auch hervorragende Männer aus dem Kreis der Plebejer (derer, die nicht aus alten Familien stammten) in den Senat aufgenommen werden konnten, zum anderen wurden die Inhaber bestimmter Ämter (Näheres gleich) nach Ablauf ihrer Amtszeit Senatoren – womit natürlich das Legitimitätsprinzip Alter auch hier partiell preisgegeben worden war. (Der Senat ist bei Ernst Meyer, Ein 836

Wortstamm ger- = alt, besonders i. S. von altehrwürdig, ergraut (Pape, Bd. I, S. ­484–487). Die Bezeichnung Senat ist später in sehr vielen Gemeinwesen für Regierungen oder für sog. Zweite Kammern übernommen worden (Einzelheiten in jedem größeren allg. Lexikon). 837

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führung in die antike Staatskunde, S. 202–205, mit S. 199 f., dargestellt.) Nach den genannten Veränderungen war der Senat ein „Stand“. – Die Regelungen des Mindestalters, das Voraussetzung für die Bekleidung der wichtigsten Ämter in Rom war, gebe ich für zwei Epochen wieder, zum einen für die Zeit des Sulla („Villisches Gesetz über das Amtsalter“ von 180 v. Chr.), zum anderen für gut 300 Jahre später. So wird auch etwas von der Entwicklung sichtbar. Es geht um die drei Ämter, deren Ausübung später den Eintritt in den Senat838 nach Ende der Amtszeit nach sich zog. Für die Quaestur, für die zuvor der Nachweis offenbar von zehn Jahren Dienst im Heer als Qualifikation verlangt worden war, wurde ab 180 v. Chr. ein Mindestalter von 30 Jahren vorausgesetzt, für die Praetur waren es 40, für das Konsulat 43 Jahre (S. 180). In der Zeit des Kaisers Antoninus Pius – er regierte von 138–161 n. Chr. – waren die Mindestaltersgrenzen stark her­ abgesetzt worden: Quaestur 25, Praetur 30, Konsulat 33 Jahre (S. 239). Statt höheren Alters waren nun auch hier andere Erfordernisse wichtiger. Allgemein kann man sagen: Dort, wo die Gemeinwesen nachweisbar gentili­ zisch gegliedert waren, stammt das besondere Gewicht der Alten im Gesamtgemeinwesen aus der Leitung des Gentilverbands seitens des Ältesten dieses Verbands letztlich offenbar aus dem Patriarchat innerhalb der Familie. Daß die Legitimation aus der, im Vergleich mit den jüngeren Gliedern des Gemeinwesens, weit größeren Erfahrung der Älteren stammt, wie die moderne Begründung lautet, wird auch in frühen Zeiten so gesehen worden sein, aber wohl nicht so rational, wie wir das inzwischen gewohnt sind. Solche Art Begründung war wohl verknüpft mit Gefühlsmotivationen, wobei das Gefühl der Ehrfurcht vor dem Alter, besonders vor dem sehr hohen Alter, eine besondere Rolle gespielt hat. Das ab 1433 bestehende Kollegium der „Fünfzehner“ der freien Reichsstadt Straßburg (dem zur Sicherung seiner Unabhängigkeit kein Ratsherr und kein Amtsträger angehören durfte), war zum einen eine Art selbständiger Staats- und Verwaltungsgerichtshof, zum anderen eine Art Gesetzgebungskommission mit Initiativrecht. Es setzte sich aus fünf Konstoflern (Patriziern) und zehn Zunft­ bürgern zusammen. Mindestalter war 33 Jahre (Isenmann, S. 142). Normal ist, daß ein bestimmtes Alter vorgeschrieben wird, das erreicht sein muß, um alle – wie es bei uns heißt – bürgerlichen Rechte in Anspruch nehmen zu können (womit Pflichten verbunden sind), also, worauf es für unsere Betrachtung vor allem ankommt, mitzuentscheiden, heute bei Wahlen und Volksabstimmungen u. ä., historisch, z. B. bei Griechen und Germanen, in der Volks-/Kriegerversammlung. In diesem Alter ist „Volljährigkeit“ erreicht. In meiner Jugend war 838 Die Stellung des römischen Senats war juridisch gesehen keineswegs klar; weil aber „im Senat alle gewesenen hohen Beamten saßen und er so die gesammelte Regierungserfahrung Roms verkörperte, war das Gewicht dieser Autorität natürlich so groß, daß es kaum ein Beamter wagen konnte, anders zu handeln, als es die hohe Versammlung für richtig hielt oder wünschte“. Tatsächlich war der Senat (in republikanischer Zeit) die „Regierung Roms“ (Ernst Meyer, Einführung, S. 204).

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das in Deutschland mit 21 Jahren der Fall, jetzt mit 18 Jahren. Sicherlich war/ist nicht jede/jeder in diesem Alter tatsächlich „erwachsen“, umgekehrt war/ist manche/mancher es schon früher; aber ohne daß allgemein eine Grenze gezogen wird, geht es de facto nicht. – Ernst Meyer (Einführung, S. 83) beschreibt, wie sich der Vorgang in Athen abgespielt hat. – Bei Tacitus erfahren wir, wie Germanen das, auch sie, wie die Athener, damals erst bloß für männliche junge Leute, in feierlicher Form gemacht haben. – Heute geschieht das ganz formlos. Jedenfalls ergab das meine Rückfrage vom 19. September 1997 beim Bürgeramt der Stadt Saar­ brücken. Die/der Volljährige erhält nur vor der nächsten Wahl wie jede/jeder andere Wahlberechtigte die Wahlbenachrichtigung.

bb) Primogenitur Primogenitur ist das Anrecht des/der Ältesten oder Erstgeborenen auf Nachfolge. Es gab und gibt solches Anrecht – wenn entsprechend geregelt – auch im privaten, z. B. im bäuerlichen, Bereich, tritt dort aber nicht mit dem Namen Primogenitur auf. Für uns von Interesse ist das Anrecht in bezug auf politische Gemeinwesen und deren defiziente Modi. Während im Fall des Seniorats (jedenfalls ursprünglich) hohes Alter (mit Erfahrung und vielleicht Weisheit) das Kriterium war, geht es hier nur um „älter als die Geschwister“. Primogenitur gehört, anders als z. B. Seniorat, auch nicht zu den Prinzipien, mit denen (möglichst) sichergestellt werden soll und kann, daß der wohl Bestqualifizierte an die Spitze des Systems gebracht wird. Daß der/die Erstgeborene am besten geeignet ist, kann man vorher gar nicht wissen. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man ebensogut immer z. B. den Zweitgeborenen nehmen – selbstverständlich immer nur dann, wenn es einen solchen gibt. Ziel ist, außer den Besitz zusammenzuhalten, vor allem, Auseinandersetzungen über die Nachfolge zu vermeiden, im Fürstenhaus über die Thronfolge und über die Erbfolge im „Hausgut“. Daß der/die Erstgeborene vielleicht minderqualifiziert ist, wird dafür in den Kauf genommen. Allerdings wird vermutet, daß der/die Erstgeborene nicht ganz ungeeignet sein wird. Im übrigen kann gute Beratung Ausgleich schaffen – so wird zusätzlich angenommen. Das Primogenitur-Prinzip brachte noch den anderen Vorteil (der ebenfalls nichts mit Qualifikation zu tun hat): Der/die Erstgeborene ist, zeitlich, früher in der Lage, die Nachfolge anzutreten, wenn das nötig wird oder in Sonderfällen wünschenswert ist. Ich bringe wieder Beispiele, und zwar Beispiele verschiedener Schärfe der Geltung des Prinzips, zwischen lediglich de-facto-Geltung und förmlicher Regelung. Das erste ist aus der 18. Dynastie des alten Ägyptens: „Als legitimer Thronerbe galt im allgemeinen [es konnte hier also sogar Ausnahmen geben] der älteste Sohn

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aus der Ehe mit der Königin, der bisweilen schon bei Lebzeiten des Vaters zum Mitregenten ernannt wurde“ (Ernst Meyer, Einführung, S. 17), was u. a. der Schulung des Nachfolgers diente. In Assyrien, in dem vom Anfang des 2. Jtds. v. Chr. bis zum Ende des Reiches das gleiche „Haus“ regierte, ist der älteste Sohn (fast immer) Thronfolger gewesen und „führte … bereits hohe Regierungsämter und war schon bei Lebzeiten Stellvertreter des Vaters“, aber es gab keine förmliche Regelung der Primogenitur, weshalb „auch einmal ein jüngerer Sohn die Nachfolge antrat oder es zu Kämpfen um die Nachfolge unter den Söhnen kam“ (S. 34). Ohne daß wir von einer förmlichen Primogenitur-Regelung erfahren, hören wir von Tacitus (G., 32), daß bei den Tencterern, einem germanischen Stamm am rechten Niederrhein, und zwar nicht etwa nur in bezug auf ihre Fürsten, „Gesinde, Haus und Hof, sowie alle Gegenstände des Erbrechtes“ an den ältesten Sohn übergingen.839 In Nordfrankreich (Kapetinger) gab es praktisch Primogenitur seit dem 12./13. Jahrhundert, während – und damit kommt indirekt auch zum Ausdruck, welchen Nachteil die Primogenitur-Regelung mit ihrer Konzentration des Hausguts auf einen einzigen Nachfolger hatte – „im Raum südlich der Loire verschiedene Formen des Gemeinschaftsbesitzes (frérèche, Gan-Erbschaft) entwickelt [wurden], um [zwar] die Zersplitterung … zu verhindern … [, aber auch] die Versorgung aller Glieder zu sichern“ (Lotter, S. 117). Aus dem Heiligen Römischen Reich bringe ich ein Beispiel aus einer Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und römischer Kurie. In dem am 10. Januar 1356 auf dem Nürnberger Hoftag beschlossenen und am 25.  Dezember 1356 auf dem Hoftag zu Metz veröffentlichten Reichsgesetz, der berühmten später so genannten „Goldenen Bulle von 1356“, sind reichsgesetzlich in bezug auf die Nachfolge in den (namentlich genannten) damals vier weltlichen Kurfürsten­ tümern840 Unteilbarkeit und Geltung des Primogeniturprinzips festgelegt worden, damit jeweils Streit um die Kurstimme verhindert würde. Die nunmehr sozusagen Automatik in der Kurfürsten-Nachfolge machte dann auch päpstliche Einflußnahmeversuche auf diese Nachfolge und auf diesem Weg auf die Königswahl sinnlos. In den anderen danach zunehmend ebenfalls zu Territorialstaaten gewordenen Fürstentümern des Reiches setzten sich Regelungen betreffend Unteilbarkeit des 839 In einer Hinsicht gab es laut Tacitus aber eine Ausnahme, die mit der besonderen Bedeutung der Reiterei bei den Tencterern zusammenhängt. Die Pferde des Vaters gingen auf denjenigen Sohn über, der „der mutigste im Kriege“ war (ebenda). 840 In anderer Hinsicht war die Festlegung wichtig, daß bei der Königswahl (jetzt ausschließlich seitens der sieben Kurfürsten) das Mehrheits-Prinzip gelten solle (dazu s.  Kap. B. V.8.). Die Kurfürsten haben für ihre Zustimmung zu den neuen reichsrechtlichen Regelungen vom König die Zubilligung der Territorialhoheit für ihre Fürstentümer gefordert und erreicht. (Zu „Territorialherrschaft“ s. Kap. B.II.2.a)bb).)

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Territoriums und Primogenitur bei der Nachfolge zunächst nur langsam durch. Wegen des Erfordernisses, alle Kräfte möglichst zusammenzuhalten und nicht etwa infolge von Landesteilung zu zersplittern, ist im Zeitalter des Absolutismus der Übergang zur Primogenitur-Regelung danach aber doch fast unausweichlich geworden (vgl. auch Duchhardt, S. 53 f.). b) Autorität, Ansehen Das in Kapitel B. V.2.a) behandelte „Alter“ und die jetzt zu betrachtenden Phänomene Autorität und Ansehen stehen oft in Zusammenhang miteinander, sind aber nicht deckungsgleich. Mit hohem Alter ist oft hohes Ansehen und/oder Autorität verbunden (siehe im vorigen Kapitel z. B. den „greisen Nestor“), aber nicht zwingend, und umgekehrt ist höheres Alter nicht notwendig Voraussetzung für Ansehen und für Autorität. Jedenfalls sowohl „Autorität“ als auch „(hohes) Ansehen“ gelten als besonders gute Voraussetzung dafür, eine führende Position im Gemeinwesen einzunehmen. Ich beginne mit „Autorität“.841 Wir schauen uns zuerst das Wort842 an: auctoritas ist aus dem Lateinischen ins Mittelhochdeutsche übernommen worden als auctoriteit und ist in unserer neuhochdeutschen Form seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Auctoritas ist ein Abstraktum zur Täterbezeichnung au(c)tor, die zurückgeht auf das Verb augere,843 „vermehren“, was Seebold nur dann richtig wiedergibt, wenn dieses „vermehren“ nicht bloß quantitativ gefaßt ist, sondern qualitativ als „erweitern“, „hervorbringen“, „fördern“, und das sowohl beim Zur-Sprache-Bringen, mündlich oder schriftlich, als auch (oder/und)  beim Handeln. Das Abstraktum 841 Die Literatur zum Thema beginnt – nicht verwunderlich, weil auctoritas von Hause aus eine römische Sache ist – mit Cicero (bes. De re publica, 2. Buch, §§ 55–57). Von den zeitgenössischen Schriften nenne ich vor allem Eschenburgs „Über Autorität“. Der Autor sagt in seiner „Vorbemerkung“ (S. 7): „Das Wort Autorität wird viel und vieldeutig gebraucht; im Laufe der Jahrhunderte hat es zahlreiche Umprägungen erfahren. Diese Umprägungen hat das Wort in seiner heutigen Bedeutung gleichsam aufgespeichert, so daß es mannigfaltige, wenn auch mehr oder minder verwandte Sinngehalte ausdrückt.“ Es geht Eschenburg um die „Umschreibung einiger wesentlicher Sinndeutungen … . Vergeblich wird man einem roten Faden nachspüren … . Ich will vor allem historisch aufzeigen, was das Wort in verschiedenen Zeitläuften und politischen Ordnungen bedeutet hat … .“ Hennen/Prigge bringen in „Autorität und Herrschaft“ primär Theorie und Historisches zur Theorie, was ohnehin nicht zu meinem Anliegen paßt; und außerdem gehen sie hinsichtlich der Begriffe z. T. definitorisch vor: „Wir wollen … als ‚…‘‚ … als ‚…‘ bezeichnen“ (S. 13); „… soll ‚…‘ heißen“ (S. 22); „… wollen wir mit ‚…‘ bezeichnen“ (S. 31), ähnlich an noch anderen Stellen. Damit ist für mein bescheideneres Anliegen nichts anzufangen. – Bochenski gibt eine Einführung in die „Logik der Autorität“. 842 Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 43; Kluge, 23. Aufl. (Seebold), S. 69 f. 843 Etymologisch verwandt mit „g[erm]. *auk-a- ‚hinzufügen‘ (g[o]t. aukan …), das auf i[ndo]g. *aug- ‚vermehren‘ (…) zurückgeht“. Davon abgeleitet ist unser Wort „auch“, das ursprünglich bedeutete: „mehr“, „dazu noch“ u. ä. (Kluge, 23. Aufl., S. 61).

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Autorität ist also von Hause aus „Mehrung“, „Erweiterung“, „Hervorbringung“, „Förderung“ bzw. „Urheberschaft“; au(c)tor ist dementsprechend zunächst „Mehrer“, „Förderer“, „Gründer“ bzw. „Urheber“.844 Aus der Bedeutung „Urheberschaft“ folgen dann, sekundär, „Gültigkeit“, „Glaubwürdigkeit“ in bezug auf Sachverhalte, die andere nicht so gut verstehen, nicht so recht beurteilen können, aber zugleich auch, im Stande zu sein, „(guten, mehr durchdachten) Rat“ zu geben  – den dann die anderen, die betroffen sind, auch tunlichst einholen und dann auch befolgen sollten. Das Abstraktum auctoritas tritt schließlich auch personifiziert auf: Jemand ist (jetzt nicht ein Autor, sondern) eine „Autorität“, im Sinne von „maßgebende, Maßstäbe setzende Persönlichkeit“,845 im Sinne von „Person mit hohem Ansehen/ großer Bedeutung“, unter Umständen und nicht selten als „Vorbild“. Ob jemand Autorität „ist“ oder Autorität „hat“, die Autorität ist so oder so persongebunden. Nur in unsauberem Sprachgebrauch gibt es „Amts-Autorität“. Der ein Amt ausübende Beamte hat zur Erfüllung seiner Aufgaben Befugnisse, aber nicht von daher bereits Autorität. Wohl aber, wenn jemand nicht nur be-urteilen, beraten und vorschlagen, sondern von des Amtes wegen, das sie/er innehat, auch anweisen, anordnen oder befehlen kann, wird der Anordnung, dem Befehl leichter, eher bereitwillig Folge geleistet werden, wenn dahinter eine Autorität im beschriebenen Sinn steht. Fehlt diese, so kommen Anweisung, Anordnung oder Befehl aus entweder „befugter“ oder aus usurpierter (Pseudo-)„Macht“846, oder sie kommen ganz offen mit Gewalt daher. Das sind dann aber andere Sachverhalte. Geben solche Täter dennoch vor, Autorität zu sein, so tun sie das zu Unrecht, selbst wenn sie amtlich befugt sind oder „von noch einmal weiter oben“ einen Befehl haben. Beamte, denen die tatsächlich nur aus der Person kommende Autorität fehlt, werden – wie bekannt – nicht selten „autoritär“, wie der jüngere gelehrte Begriff dafür lautet. Auctoritas ist im alten Rom ein Zentralbegriff gewesen. Eschenburg (Über Autorität), der in dieser Hinsicht besonders den Historiker Theodor Mommsen (Römisches Staatsrecht) und den Altphilologen Richard Heinze (Auctoritas. Vom Geist des Römertums) heranzieht, sagt zunächst über die (relativ) frühen Verhältnisse: „Schon zur Zeit der römischen Könige [etruskischer Herkunft] (bis 510 844

„In den Volkssprachen bald eingeengt auf ‚Verfasser, Schriftsteller‘“ (Seebold, Kluge, 23. Aufl., S. 69), „zuerst bei Steinhöwel 1473 … ‚der auctor dises büchlins‘“ (Kluge/Götze, S. 43), inzwischen immerhin erweitert auf Urheber von Kunstwerken. Genaugenommen ist jeder Mensch, der etwas Neues erwirkt/bewirkt, ein Urheber, ein Autor, wenn er sich in seinem Werk, seinem vielleicht Mit-Werk, wiedererkennt. 845 In diesem Sinn auctoritas erstmals bei Cicero in bezug auf den griechischen Philosophen Plato. Paracelsus hat 1530 dieses ciceronische Verständnis des Wortes übernommen (Kluge/ Götze, S. 43). 846 Zum eingeengten und zugleich nicht geklärten Verständnis von „Macht“ und was Macht von Hause aus ist, siehe Kap. B. I.3.

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v. Chr.) bildeten die Häupter oder Abgeordneten der ältesten und reichsten Familien, die principes, einen Ältestenrat, den Senat (…). Man nannte sie die patres (Väter), deren Nachkommen Patrizier hießen. Sie waren die auctores, die durch ihre Bestätigung, durch die auctoritas patrum, den Beschlüssen der Gesetzgebungs- und Wahlkomiteen Gültigkeit verliehen. Sie hatten diesen gegenüber eine ähnliche Stellung wie der Vormund gegenüber dem Mündel“ (S. 12). Zur Zeit des Cicero war die Stellung des Senats institutionell nicht mehr so stark, seine auctoritas dennoch sehr groß. Näheres nachher; zunächst zur Sache einige allgemeine Bemerkungen (Heinze, wiedergegeben von Eschenburg, S. 18 f.): „‚Das ganze private und öffentliche Leben des Römers ist von dem Grundsatz beherrscht, daß er keine wichtige Entscheidung trifft, ohne vorher den Rat derer eingeholt zu haben, die ihm dazu berufen‘“ zu sein scheinen. Grundlage der auctoritas ist: „‚das Gefühl, daß nicht jeder alles, und besonders nicht alles allein versteht; der Respekt vor einer Persönlichkeit, in der überlegene Erfahrung, Sachkunde und Verantwortungsgefühl verkörpert sind, verbunden mit dem Wunsch, immer möglichst sicher zu gehen; das Mißtrauen gegen jede Eingebung … [.] Aber es darf das Korrelat hierzu nicht fehlen, nämlich daß eine genügende Anzahl von Menschen dazu disponiert … [ist], auctoritas auszuüben und die dazu erforderlichen Opfer zu bringen…‘.“

Damit ist zum einen gemeint: Die Bildung der Persönlichkeit „war eine sehr kostspielige Angelegenheit“ (S.  17); zum anderen (wieder Heinze): auctoritas „‚wird erworben durch Bewährung der ganzen Persönlichkeit; sie wird ausgeübt im Dienste und zum Wohle der … res publica‘“ (S. 19). Zur Zeit des Cicero – wir kennen die Sache, was ihre „Potestas-Seite“ betrifft, aus Kapitel B. I.3. – lag die Entscheidungsbefugnis (potestas) in Rom nicht etwa beim Senat, sondern bei den vom Volk ohne Aussprache gewählten Magistraten, d. h. vor allem bei den Konsuln, aber auch bei den Prätoren. Cicero schreibt „dem Senat“ die auctoritas zu. Im Senat saßen alle bereits aus dem Amt ausgeschiedenen Magistrate. „Diese Regierungserfahrenen bildeten den Kern des Senats“ (S. 12), sie hatten dort ihren Sitz auf Lebenszeit, die Magistrate im Amt wechselten prinzipiell jährlich. Eschenburg (S. 12 f.) gibt hierzu Mommsen wieder: „‚Insofern ist der den Magistrat beratende Senat nichts als die hervorragendste Anwendung des das gesamte öffentliche und private Leben beherrschenden Satzes, daß[,] wer eine wichtige und verantwortliche Entscheidung zu treffen hat, vorher den Fall einer von ihm versammelten Anzahl geeigneter Männer vortragen und ihre Meinung über den zu befassenden Beschluß entgegennehmen soll‘“. Zwar war kein Konsul verpflichtet, dem von ihm erbetenen und ihm daraufhin erteilten Rat zu folgen – insofern war er frei –, aber angesichts der auctoritas, die besonders Senatoren sehr hohen Ansehens und großer Erfahrung besaßen, war solcher Rat schwer zu übergehen, und wenn doch, nur mit guten und gut vorgebrachten Argumenten. Ich bin damit zugleich wieder bei jenem Charakteristikum, das wir schon kennen: Autorität ist an die Person gebunden. In Wirklichkeit besaß nämlich nicht die Institution Senat als Gesamtheit847 847 Unbeschadet des Umstands, daß auch im Senat sehr wohl abgestimmt worden ist (Einzelheiten s. Bleicken, 21991, Bd. 4, S. 76 f.).

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die Autorität, diese „beruhte auf der persönlichen [auctoritas] einer beachtlichen Anzahl seiner [des Senats] dreihundert [später mehr] Mitglieder“ (S. 15). Nun noch ein anderer Aspekt der Sache aus römischer Zeit. Es geht um einen jüngeren Zeitgenossen Ciceros, Gaius Octavianus, der nach der Adoption seitens Gaius Iulius Caesar den Namen Caesar angenommen hatte und später erster römischer Kaiser geworden ist, Imperator Caesar Augustus. Oktavian, dem es mittels ihm übertragener und von ihm usurpierter sehr weitgehender Befugnisse gelungen war, den Bürgerkrieg zu beenden, hat 28/27 v. Chr. nur formell das zuvor zerrüttete und beseitigte republikanische System wiederhergestellt, tatsächlich aber sein „Prinzipat“ genanntes Herrschaftssystem zum Kaisertum entwickelt. „Der erstaunliche Erfolg des jungen Caesar bestand nun darin, daß durch den consensus omnium, die freiwillige Übereinstimmung, und durch das Vertrauen … der römischen Öffentlichkeit [der Ausdruck „Öffentlichkeit“ paßte damals allerdings nicht mehr recht] seine Person als der … [einzige] Garant des endlich errungenen Friedens [nach drei blutigen Bürgerkriegen innerhalb von knapp sechzig Jahren] angesehen wurde“ (Pflaum, S. 320). „Was ihn, seiner eigenen Aussage gemäß, auszeichnete, war seine auctoritas: Ansehen und Respekt zugleich, die ihn überall, ohne sein Zutun [welche Aussage zu überprüfen wäre], als Führer … kennzeichneten“ (S. 321). „Prinzeps … war der Titel, den er von nun an führte“, und „er [selbst] hat das neue Amt des Prinzeps geschaffen“ (ebenda). Was Augustus seine auctoritas nannte, paßt in das oben gegebene Bild von „Autorität“, aber wir müssen dabei hinzudenken – was nichts mit „Entlarven“ zu tun hat –, daß Augustus zum einen der große Erfolg der Beendigung der Bürgerkriege zugute gehalten worden ist, er zum anderen alle römischen Legionen unter seinem Befehl hatte und behielt, außer einer einzigen, in Afrika, das ebenso wie alle sonst schon befriedeten Provinzen deshalb unter dem Befehl des Senats statt des Im­ perators stehen konnte. Alkuin, Berater und Freund Karls d. Gr., sagt uns über diesen: „‚… nun …, da das ganze Volk, erlöst von den Mühen des Krieges, in friedlicher Ruhe Eurem Befehl nachzukommen sich beeilt und, aufmerksam vor Eurem Throne s­ tehend, gewärtig ist, was Eure Autorität jedermann vorschreiben wolle, außer[dem] auch für jeden Stand das Rechte zu beschließen, das Angemessene zu befehlen, an das Heilige zu mahnen, damit jeder fröhlich mit den ewig heilsamen Vorschriften nach Hause heimkehre‘“. (Zitiert in Mühlbacher, S. 207, und dieser fährt fort:) „Treffend zeichnet mit diesen Worten Alcuin die Auffassung, welche Karl selbst von der Aufgabe seines Kaisertums hegte.“ Hierzu sind für unsere Zwecke zwei Anmerkungen erforderlich. Erstens, Karl d. Gr. – der sich zum einen um die Ver­ besserung der Rechtsordnung zwar bemüht hat, ihren Verfall in der Praxis aber nicht verhindern konnte,848 der sich zum anderen sehr wohl hat beraten lassen, dessen Reich aber eben seit karolingischer Zeit zum Herrschaftssystem degeneriert ist – konnte ebenfalls „befehlen“, viele seiner Befehle sind jedoch tatsäch 848

Während er in der Förderung von Bildung und Wissenschaft sehr erfolgreich war.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

lich wirkungslos geblieben. Zweitens, wie sehr im Frankenreich zur Zeit der Karolinger beim Gros der Glieder des Gemeinwesens, der zuvor Freien, die Distanz zu den Zielen des Herrschers für das Reich gewachsen ist, das Interesse an den immer kleiner werdenden Möglichkeiten der Mitwirkung sich immer mehr ver­ ringert hat, haben wir in Kapitel B.II.1.a) kennengelernt. Mit der Autorität des Königs im Innern stand es in Wirklichkeit viel schlechter, als Alkuin gesagt hat und wie Karl es gern gehabt hätte; die Autorität des Kaisers nach außen, in der Einschätzung seitens anderer Herrscher, war noch groß, aber nur mehr „noch“. Karls Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme besaß auch davon nicht mehr viel. Im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen Kaisertum, hier Kaiser Friedrich I. („Barbarossa“), und Papsttum, hier Hadrian IV., die ich im einzelnen un­ erörtert lasse, kam es zu einer sehr scharfen Kontroverse wegen einer päpst­ licherseits bewußt zweideutig gehaltenen Verwendung des Wortes beneficium. (Zum Folgenden s. Treue, S. 165 f.) Das Wort, falls unwidersprochen, päpstlicherseits interpretierbar als päpstliches Lehen, hier der Kaiserwürde, des Lehens­ gebers Papst an einen „Lehensnehmer“ Kaiser. „Vor … [der] geschlossenen Front des Kaisers und der weltlichen und geistlichen Fürsten [was es später so kaum noch gab] wich Hadrian endlich zurück“ und ließ beneficium um-interpretieren. „… erstmals [war] auch das in dieser Stärke neue Reichsbewußtsein Kaiser Friedrichs und seiner Umgebung eindrucksvoll an den Tag getreten.“ Die kaiserliche Publizistik jener Zeit propagierte den Begriff des dominium mundi, der Weltherrschaft, im „Welt“-Verständnis der Zeit von damals, d. h. der kaiserlichen Ober­ hoheit über die anderen Königreiche und Fürstentümer. „‚Zugleich proklamierte Barbarossa aber die Unabhängigkeit des Kaisertums von der Kirche, wenn er erklärte, daß er die Krone des Reiches allein der Gnade Gottes und der freien Wahl der Fürsten verdanke‘ (Jordan). Um die gleiche Zeit kam die Benutzung des Begriffes sacrum imperium, die Betonung der Heiligkeit des Reiches aus karolingischer und römischchristlicher Tradition auf, an die Friedrich nun nicht allein begrifflich, sondern auch praktisch-politisch wieder anknüpfen wollte. Und von dieser römischen Überlieferung führte ein weiterer Schritt zum Begriff des dominium mundi, … zu einer Vor­stellung, die insbesondere bei [Kanzler] Rainald und seiner Umgebung sehr lebendig vertreten … wurde“

 – und jetzt kommt die für uns wichtige Sache –, „während Friedrich selbst sich mit der kaiserlichen auctoritas gegenüber den anderen Fürsten [einschließlich der anderen Könige],849 mit gesteigertem Ansehen und Prestige, mit einer besonderen Würde zufrieden geben wollte“ (Treue, S. 165 f.).850 Begründet wurde diese 849 Barbarossas Sohn, Kaiser Heinrich VI., zu dessen Zeit die staufische Kaiserherrschaft auf dem Höhepunkt war, hat allerdings in einer besonderen Situation den Lehenseid des englischen Königs gegenüber dem Kaiser durchgesetzt (Einzelheiten z. B. bei Kienast, S. 575). Meistens haben sich die Könige Frankreichs und Englands dem Kaiserreich nicht mehr verpflichtet gefühlt und sich dementsprechend verhalten. Mehr als das, was Kaiser Friedrich I. für sich reklamiert hat, gab es am Ausgang des Hochmittelalters nicht mehr. 850 Wenskus (1961), S. 317, schließt an die Feststellung, „daß das Verhältnis des Reichs zu den anderen Königtümern unter dem Begriff der auctoritas und nicht unter dem der potestas

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besondere kaiserliche auctoritas bekanntlich (siehe oben) damit, daß sich mit und in der Wahl des deutschen Königs (und von daher des Kaisers) seitens der Fürsten des Reiches der Wille und die Gnade Gottes kundtue. Das nächste Beispiel betrifft „Autorität“ in bezug auf Lehrmeinung, hier philosophisch-theologische Lehrmeinung. Dazu brauchen wir ein paar Vorbemerkungen. Von den Schriften des Aristoteles war im Abendland bis zu den Kreuzzügen nur sehr wenig bekannt. Die arabischen Wissenschafter851 (und über sie die jüdischen) besaßen dagegen die Kenntnis fast aller Hauptwerke des griechischen Philosophen. In arabischer (bzw. jüdischer) Kommentierung hatten sie die Schriften veröffentlicht, und diese waren auf den arabischen Märkten auch zu kaufen. Aus Anlaß der Kreuzzüge kamen Kreuzfahrer und andere in Kontakt mit der arabischen Welt. Das führte, jetzt einmal abgesehen von den kriegerischen Auseinandersetzungen, nicht nur zur Bekanntschaft mit Waren und anderen Gütern, von denen man in den meisten Teilen des Abendlands (vor allem Venedig war Ausnahme) nichts oder nur wenig gewußt hatte, sondern auch zur Kenntnis der Schriften des Aristoteles. Die „Rezeption des Aristoteles“ seitens abendländischer Philosophen und Theologen vollzog sich zwischen, grob, 1150 und 1250. Die römische Kirche hielt sich dabei anfangs sehr zurück, weil – ich verkürze jetzt etwas – aus der averroistischen Interpretation des Aristoteles theologisch ein Pantheismus gefolgert werden konnte. „Das Verdammungsurteil über den averroistischen Pampsychismus (…) traf zunächst auch den Aristoteles. Diese Verbindung aufgelöst und die  … [Kirche] zur Anerkennung des Peripa­tetizismus852 umgestimmt zu haben, ist das Verdienst der beiden Bettelorden, der Dominikaner und der Franziskaner. Sie haben  … die Errichtung zweier Lehrstühle der aristotelischen Philosophie an der Pariser Universität und schließlich deren Aufnahme in die Fakultät erstritten (…). Nach diesem Siege (1254) stieg das Ansehen des Aristoteles schnell zu demjenigen der höchsten philosophischen Autorität; er ward als Vorläufer ­Christi in Sachen der Natur, wie Johannes der Täufer in Sachen der Gnade gepriesen, und er galt von nun an der christlichen Wissenschaft (…) derart als Inkarnation der wissenschaftlichen Wahrheit, daß er in der folgenden Literatur vielfach nur als ‚Philosophus‘ [schlechthin] zitiert wird. – Die Lehre der Dominikaner, bis auf heute die offizielle Philosophie der römischen Kirche, ist durch Albert853 und Thomas854 geschaffen worden“ (Windelband, Lehrbuch, S. 264 f.).

zu verstehen ist, was einer Neuentdeckung des [germanischen] Rangdenkens gleichkommt“, unmittelbar an, auch jener Streit der Königinnen Brunhilde und Krimhild habe sich an Rangansprüchen entzündet. 851 Ich nenne hier nur den wichtigsten: Averroës, 1126–1198. 852 Anderes Wort für „Aristotelismus“, von perípatos, „der Ort zum Umhergehen“, „Wandelgang“, in dem die philosophischen Gespräche der Schule des Aristoteles in Athen geführt worden sind. 853 Albert von Bollstädt (auch: Albert von Lauingen, in Schwaben)  = Albertus Magnus, Domi­nikaner, 1193–1280, lehrte in Köln und Paris. 854 Thomas von Aquin, 1225 oder 1227 bis 1274, Dominikaner, an vielen Universitäten tätig, besonders in Rom und Bologna, Schüler des Albertus in Köln.

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Im hier geschilderten Beispiel wird „Autorität“ in bezug auf philosophische bzw. philosophisch-theologische Lehrmeinung gleich zweimal sichtbar. Späte­ stens ab dem Ausgang des Hochmittelalters war Aristoteles auch im Abendland d i e Autorität, seither, bis heute, ist Thomas von Aquin, der im Anschluß an Albertus Magnus die Philosophie des Aristoteles mit der christlichen Lehre widerspruchsfrei verbunden zu haben meinte, philosophisch-theologisch „Autorität“ in der römischen Kirche. Das nächste Beispiel nehme ich aus dem Spätmittelalter, und zwar aus der spätmittelalterlichen Stadt und ihren Ratsämtern, in unserem Fall aus Nürnberg.855 Die Stadt hatte gleichzeitig immer zwei Bürgermeister, dabei „an den im Mittel­alter so stark betonten Altersunterschied anknüpfend“ einen Jüngeren Bürgermeister und einen Älteren Bürgermeister, „dem die Erledigung der wichtigeren Angelegenheiten und die größere Autorität zukam“ (Isenmann, S. 140). Die sozusagen Autorität des Alters wurde also dadurch erhöht, daß dem Älteren Bürgermeister die Ehre und Aufgabe der Erledigung der „wichtigeren Angelegenheiten“ zukam. Von den königlichen oder fürstlichen Staatsoberhäuptern, die es in Europa in demokratischen Systemen noch gibt, wird gesagt (so Leibholz, S.  94), daß sie „häufig nur auctoritas[,] aber keine potestas besitzen“. Bei genauerem Hinsehen zeigt es sich, daß nicht selten auch nicht viel Autorität vorhanden ist, will man nicht äußerlichen Glanz schon als vorbildhaft und also als nachahmenswert gelten lassen. Ein gewisses Maß an auctoritas bringt, sich menschlich tadellos zu verhalten und von daher Vorbild zu sein – was bei königlichen oder fürstlichen Staatsoberhäuptern und ihren Familienangehörigen natürlich leichter sichtbar ist als bei anderen Menschen. Mit dem Staatsoberhaupt als solchem hat das aber noch nichts zu tun. Wohl aber spielt in manchen Fällen ein Rest vermittelten Ansehens eine Rolle, tradiert in der Erinnerung an das Ansehen und von daher an die Autorität, die Vorfahren aufgrund ihrer Leistungen für das Gemeinwesen gewonnen hatten. Nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Leistung – um dafür einen konkreten Fall zu nennen – besitzt König Juan Carlos I. von Spanien echte Autorität. In einer Situation der Gefahr für Spanien hat er dem rechtsgerichteten Putsch von 1981 durch entschiedenes Handeln die Grundlage entzogen. Staatsoberhäupter ohne potestas856 können sich nur selten auf Ansehens- und Autoritäts-Tradition ihrer Familie857 stützen, sie müssen Ansehen und Autorität mit Leistungen, die sie selber erbracht haben,858 begründen. Der erste Bundes­ 855

Unter einem anderen Gesichtspunkt gehe ich auch in Kap. B. V.6.a) darauf ein. Der Reichspräsident der „Weimarer Republik“ besaß, der französische Président de la République und der italienische Presidente dello Stato besitzen – im einzelnen unterschiedlich – von den Verfassungen her solche potestas. 857 Bundespräsident (1984–1994) Richard Freiherr von Weizsäcker kam aus einer solchen Familie, in der es seit mehreren Generationen Staatsmänner und namhafte Wissenschafter gegeben hat. 858 Was Richard von Weizsäcker u. a. als Präsident des Deutschen Evang. Kirchentags, als Mitglied des Rates der EKD und als Regierender Bürgermeister von Berlin gleichfalls getan hat. 856

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präsident, Theodor Heuß (1949–1959), aus dem schwäbischen Liberalismus, war 1920–1924 Studienleiter und bis 1933 Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin (zu dieser siehe Kapitel  A. I.), 1945/46 Kultusminister für WürttembergBaden, 1948 Vorsitzender der FDP und 1948 Professor in Stuttgart, im Parlamentarischen Rat (verfassungsgebende Versammlung) in Bonn, 1948/49; er hatte großen Einfluß auf die Formulierungen des Grundgesetzes, besonders der Präambel und der Grundrechtsartikel. Er hat rasch im Inland und im (bis wenige Jahre zuvor ja noch feindlichen) Ausland große Autorität gewonnen. – Da ich hier keinen Überblick zur Geschichte der deutschen Bundespräsidenten zu geben habe, muß ich demnach nicht auf jeden von ihnen eingehen. Für unser Thema besonders ergiebig – bei sehr verschiedenem „Naturell“ – sind Gustav Heinemann und Roman Herzog. Heinemann (Bundespräsident 1969–1974), aus dem Bergischen Land kommend, Nationalökonom und Jurist, 1933–1945 in führender Tätigkeit in der evangelischen „Bekennenden Kirche“ gegen die nationalsoziali­stischen Kirchenbestrebungen („Deutsche Christen“); 1945–1952 in der CDU, 1945–1967 Mitglied des Rats und 1949–1955 Präses der Synode der EKD, 1946–1949 Oberbürgermei­ ster von Essen, 1947/48 Justizminister von Nordrhein-Westfalen, 1949/50 erster Bundesinnenminister, zurückgetreten aus Protest gegen Bundeskanzler Adenauers nicht mit dem Kabinett abgesprochenes Angebot zur westdeutschen Wiederbewaffnung den westlichen Staaten gegenüber; ab 1957 bei der SPD und Mitglied des Bundestags; hat als Bundesjustizminister 1966–1969 mehrere Rechtsreformen vorangebracht. Heinemann verstand sich als „Bürger­präsident“, war dabei aber eher „preußisch“-distanziert. – Roman Herzog (Bundespräsident 1994–1999), protestantischer Niederbayer, sehr ernsthaft mit besonders viel Humor, Staatsrechtslehrer, Politiker der CDU, ab 1965 Professor in Berlin, ab 1969 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1­ 978–1983 Mitglied der Regierung von Baden-Württemberg, 1983 Vizepräsident, ab 1987 Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Herzog, trotz seiner Präsidentschaft beim Bundesverfassungsgericht vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten der deutschen Bevölkerung wenig bekannt, hat schon mit seiner Antrittsrede unmittelbar nach seiner Wahl seine Autorität begründet. Er ist bei der Bevölkerung wohl mindestens so wie Theodor Heuß d e r Bundespräsident der Deutschen gewesen; seine Anerkennung auch im Ausland war groß. – Zum Schluß will ich noch einen Fall nennen, der zwar außerhalb des bisher abgesteckten Rahmens liegt, aber ein besonders gutes Beispiel ist: der Staats­ präsident (1953–1980) des alten Jugoslawiens, Josip Broz Tito. Zwar besaß dieser in dem von ihm geführten Staat auch sehr viel potestas – und diese müssen wir immer mitdenken –, aber daß der Vielvölkerstaat Jugoslawien mit all seinen Gegensätzen nicht schon viel früher auseinandergebrochen ist, lag auch an Titos Autorität. Sie ist bereits im Partisanenkampf (1941–1944) legendär gewesen. Die Abkehr der jugoslawischen Kommunisten unter Führung Titos vom Stalinismus, 1948, erhöhte Titos Ansehen und seine Autorität im Landesinnern und besonders im Kreis der „blockfreien“ Staaten. Daß die Einheit des Landes tatsächlich an die

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Autorität der „Integrationsfigur Tito“ gebunden war, hat sich sehr bald nach Titos Tod, 1980, gezeigt, gleich ab 1981. Zum Schluß noch einige Bemerkungen über „Ansehen“, welches Wort sehr oft anstelle von „Autorität“ eingesetzt wird. Neben anderen Bedeutungen von „Ansehen“ verzeichnet das auch Grimm (Wb., Bd. 1, Sp. 457: „4) ansehen [im Sinne von] auctoritas …“) und bringt mehrere Beispiele. Im Vergleich mit „Autorität“ ist „Ansehen“ von Hause aus blaß, man kann auch sagen: weder positiv noch negativ besetzt. Kluge, 23. Aufl., S. 42, sagt dazu, als seit dem 16. Jahrhundert gesichert belegt sei „Ansehen“ als „substantivierter Infinitiv, ausgehend von der Bedeutung ‚Erscheinung‘“, also als das, was zum Vorschein kommt, wenn man jemanden (eventuell genauer) ansieht, abschätzt. Es hat zunächst der Hinzufügung eines positiv besetzten Adjektivs bedurft, um das zu benennen, was wir heute darunter verstehen: „hohes Ansehen“, „große Wertschätzung“ u. ä.859 Auch wenn wir inzwischen diese Adjektive nicht mehr ausdrücklich hinzufügen, sind sie jedoch normalerweise impliziert, oft allerdings un­bewußt. Tatsache bleibt also, „Ansehen“ ist im Vergleich mit „Autorität“ be-dürftig, inhaltsarm. Aber es gibt Fälle, in denen jemand „(hohes) Ansehen“ hat, ohne daß auf sie/ihn die Bezeichnung „Autorität“ wie in den oben genannten historischen Beispielen recht paßt – es sei denn, wir nehmen die Sache in der Weise, die ich in der Fußnote 844 genannt habe: Ein auctor sei jeder, der ein so noch nicht dagewesenes Werk hervorbringt, also etwa eine Schauspielerin, ein Schauspieler mit gut gelungener Darstellung oder ein Handwerksmeister mit einer neuen meisterlichen, ein Techniker mit einer neuen ingeniösen Idee, im Grunde freilich jede/ jeder, die/der sich in dem von ihr/ihm Bewirkten (eventuell im Teamwork Geschaffenen) noch wiedererkennt. Die in Deutschland bei Politikern und Journalisten, aber auch bei Wissenschaftern zu beobachtende Tendenz, „Autorität“ zu vermeiden und statt dessen lieber das (blasse) „Ansehen“ zu verwenden – in den oben gebrachten historischen bzw. in den noch aktuellen Beispielen steht mehrfach „Ansehen“ gleichsam synonym für „Autorität“ –, hängt mit der aus der Erfahrung erwachsenen Abneigung gegen autoritäre bis diktatorische Regime und mit Mißverständnissen in Ideologien der „antiautoritären Bewegung“ ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zusammen, was im einzelnen hier aber unerörtert bleibt.

859

Das ist im Prinzip auch nicht anders z. B. im Französischen. Dort haben wir réputation = (guter) Ruf, Name, Ansehen, von lat. putare  = meinen, etwas für etwas ansehen; estime  = (hohe)  Wertschätzung, von estimer  = abschätzen; considération  = Betrachtung, Erwägung und dann auch = (viel) Achtung, Ansehen; prestige = (hohes) Ansehen.

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3. Tugend/Tüchtigkeit, Tapferkeit; Virtù, Fortuna, Erfolg Die im Titel von B. V.3. genannten Prinzipien der Legitimation bezeichnen sehr wohl Verschiedenes, aber an manchen Stellen gehen die Inhalte auch ineinander über. Das gilt nicht nur innerhalb der beiden Gruppen; in der zweiten Gruppe, die sich, wie wir sehen werden, von der ersten sinnvoll abtrennen läßt, gibt es bei der „Virtù“ auch Zusammenhänge mit „Tüchtigkeit“ aus der ersten Gruppe. a) Tugend/Tüchtigkeit, Tapferkeit Es ist geläufig, daß Platon in seiner „Politeia“ (473c–d) verlangt, die Gemeinwesen sollten von den philósophoi, den Gebildeten, gelenkt werden; diese sollten die Gesetze geben. Die verlangte Tugend860 ist also die Weisheit, die sophía: Die philósophoi erkennen das hinter den lediglich Erscheinungen stehende Wesen der Dinge. – Im „Politikos“ (310e /311a) hat Platon das etwas variiert: Falls ein Gemeinwesen zwei Archonten an der Spitze habe, solle der eine die Tugend der sōphrosýnē (Besonnenheit, Klugheit, Verstand, Selbstbeherrschung) besitzen, der andere die der andreía (Unerschrockenheit, Mut; wörtlich genommen: Mann­ haftigkeit861); wenn aber nur einer an der Spitze stehe, müsse er, ausgewogen, beide Tugenden miteinander verbinden.862 Man muß sich vergegenwärtigen, daß hier ein Theoretiker einen Entwurf vorgelegt hat. Aristoteles orientierte sich in dieser Sache (wie auch sonst meist) etwas mehr an dem, was er an Systemen in Griechenland und anderswo kannte. Von daher neigte er zu der Ansicht, die aristokratischen Systeme, also die von den áristoi, den Be­ sten (in dem nun speziellen Sinn), gelenkten Systeme, seien den anderen vorzuziehen („Politik“, 1265b33). In dieser Hinsicht wäre Aristoteles, wenn es dort auf ihn ankäme, im Kapitel B. V.4.a) zu nennen; wichtiger ist er für uns jedoch mit seiner Charakterisierung der polītikoí: Sie lenkten die Gemeinwesen (worunter er an dieser Stelle nichtmonarchische, sozusagen republikanische versteht), nämlich katà toùs lógous tēs epistē´ mēs, also „mit Vernunft und Sachkunde“ (Politik, 1252a15). Es ist damit allerdings indirekt auch wieder klar, daß in Aristoteles’ Vorstellung nicht jeder zum polītikós geeignet ist. – An anderer Stelle (Politik, 1283a) erklärt er die Gerechtigkeit als die wichtigste aller Tugenden im Gemeinwesen. 860 Die Griechen hatten kein besonderes Wort für Tugend; sie sagten dafür (was dann aber nicht im christlichen Sinn von „Tugend“ verstanden werden darf) aretē´, und das bedeutet Vortrefflichkeit, Güte, im Sinne von agathós = gut, tüchtig. 861 Das gilt dann auch für die virtù (siehe das folgende Kapitel). 862 Platon verwendet an dieser Stelle genaugenommen das Adjektiv (sō´phrōn). Es verweist aber auf das sonst von ihm benutzte Substantiv (sōphrosýnē). – In einem anderen Zusammenhang (Nomoi, 962a–963d, dazu 964b), wo es nicht um die Lenker des Gemeinwesens, sondern um Ziel und Zweck der Politeia geht, nennt Platon die Tugend in ihrer Einheit und (Vierer-) Vielheit: das sehr komplexe Zusammen von Besonnenheit, Weisheit, Unerschrockenheit und Gerechtigkeit.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Da ich nicht Epoche für Epoche in unserer Sache die Geschichte durchmessen, sondern nur Beispiele verschiedener Art geben will, mache ich jetzt einen Sprung ins Mittelalter und gebe eine zusammenfassende Charakterisierung wieder, die ich bei Hans Maier (in: Oberndörfer, 1962, S. 68 f.) gefunden habe: „Man versteht von hier aus, warum die mittelalterliche politische Theorie sich fast durchweg in die Form der Fürstenspiegel kleidet. Das ist … . … vor allem eine Konsequenz aus dem veränderten Verhältnis von Politik und Ethik im christlichen Denken. Wo gutes Leben wesentlich als moralischer Habitus der Einzelperson begriffen wird, als personale Tugend, der sich verschiedene Lebensstellungen wahlweise zuordnen können, da kommt alles auf die persönliche Rechtschaffenheit des Fürsten, wenig oder gar nichts auf die Theorie des guten Staates863 an. Oder vielmehr: die Theorie des guten Staates863 ist jetzt wesentlich die der guten Amtsführung des Fürsten. … . Wohl tritt bei Thomas [von Aquin] mit der Lehre von den regimines und ihrer Bedeutung für das gute Leben der Bürger ein wesentliches Teilstück der alten Politik [des Aristoteles, der inzwischen wiederentdeckt worden war] wieder in den Vordergrund: hinter dem bildhaft-personalen Denken wird erneut das objektive Sein des Staates863 deutlich. Aber es ist bezeichnend, daß diese Lehren eingehüllt sind in einen Traktat, der sich gut mittelalterlich als Tugendweisung für einen Fürsten gibt.“

Die sehr stark von den Besonderheiten der inneren und äußeren Verhältnisse Italiens um und nach 1500 bestimmte Auffassung des Florentiners Niccolò­ Machiavelli von der Tugend (virtù) des Fürsten bringe ich eben wegen dieses besonderen Hintergrunds in einem Kapitel für sich (B. V.3.b)). In seiner im Alter von 27 Jahren 1739, ein Jahr vor Regierungsantritt, noch in Rheinsberg verfaßten und 1740 in Den Haag erschienenen Schrift „Antimachiavell“ hat Friedrich  II. von Preußen gegen den italienischen Renaissance-Autor Stellung bezogen vom Standpunkt des aufgeklärt absolutistischen Fürsten und hat sich damit auch distanziert von der unumschränkten Art absolutistischer Herrschaft (und somit von der Egozentrik des „L’État c’est moi“ Ludwigs XIV. von Frankreich). Er hat sich verstanden als der „erste Diener“ der Völker seines Staates. Pflichterfüllung (hier orientiert am Denken des Stoa-Philosophen Marc Aurel auf dem römischen Kaiserthron in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr.) und mit ihr verbunden die Gerechtigkeit864 waren ihm höchste Tugenden (Ueberweg, 3. Teil, S. 475). Mit ihm war – was Platon für seine Zeit fast ohne Erfolg gefordert hatte  – ein Philosoph, ein hochgebildeter Mann auf dem Königsthron, der „Philo­soph von Sanssouci“. Friedrich II. hat bei der Erneuerung der Berliner „Preußischen Akademie der Wissenschaften“ in den vierziger Jahren seines Jahrhunderts (siehe auch B. V.6.a), letzter Absatz) „eine besondere Klasse für spekulative Philosophie, vier Sitze [Lehrstühle], je einen für Metaphysik (Logik, Psychologie, natürliche Theologie, Naturphilosophie eingeschlossen), für Naturrecht, für 863

Der Ausdruck paßt, wie wir wissen, für das Mittelalter noch nicht, wenngleich in jenen Jahrhunderten immerhin Ansätze zu Staatlichkeit gegeben waren. 864 Friedrich d.  Gr. war in Preußen in gewissem Sinn der Begründer des neuzeitlichen Rechtsstaats, freilich erst in Ansätzen.

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Moral, für Geschichte und Kritik der Philosophie“ eingerichtet, sich selbst an den Arbeiten der Akademie beteiligt (S.  474) und 1770 dort Vorlesung gehalten (S. 475). – Hinsichtlich Pflichterfüllung haben römische und preußische Tugendauffassungen einander charakteristisch berührt, bei Friedrich  II. aber eben in enger Verbindung mit Gerechtigkeit (und mit Toleranz bei jenen Dingen, die jedermanns eigene Sache sind). – In Gemeinwesen früher Zeiten hatte die Tapferkeit der Anführer hohen Rang. Bei Homer sind diese zugleich die tapfersten Helden. Tacitus (G., 7) berichtet über die Germanen: „duces ex virtute sumunt“. Im „Beowulf“ (Quellen aus dem 8. Jahrhundert, die auf das 6. Jahrhundert zurückführen), im „Hildebrandslied“ (Anfang des 9.  Jahrhunderts, zurückgehend auf ein langobardisches Lied)  mit Handlung vor dem geschichtlichen Hintergrund des Ostgotenreichs in Italien um und nach 500 n. Chr., im „Rolandslied“ (Ende 11. Jahrhundert) mit historischem Kern aus dem Jahr 778 n. Chr. und im „Nibelungenlied“ (von um 1200) mit hi­ storischem Kern hinsichtlich des Untergangs des Burgunderreichs am nördlichen Oberrhein um Worms von vor 443 n. Chr. sind Mut und Tapferkeit immer noch m i t charakteristisch, für den südschwedischen Gautenfürsten bzw. die gotischen Helden bzw. für den Heerführer in den Pyrenäen bzw. für die burgundischen und anderen „Könige“ und andere Helden. Mit der – um es vereinfacht auszudrücken – nach und nach erfolgten Differenzierung der Verhältnisse für die germanischen „Könige“ und dann für den Kaiser auf ehemals römischen Gebieten verschoben sich die Schwerpunkte. Das kann ich im einzelnen hier nicht bringen. Zwei Hinweise sollen genügen. Der Ostgotenkönig Theoderich der Große hatte als Berater den römischen Philosophen und Schriftsteller Boëthius (um 480–524), über den auch die erste, noch ganz geringe Aristoteles-Rezeption ins Mittelalter gelangt ist. Karl der Große hat Inhalte und Formen antiker Bildung, die in den Wirren der Völkerwanderungszeit außerhalb Italiens fast nur in Klösten (zum Teil) konserviert worden waren, wiederbelebt. Wir wissen Einzelheiten darüber von dem aus Mainfranken stammenden Klo­ stergründer, Geschichtsschreiber, Vertrauten, Berater und Biographen Karls des Großen, Eginhard (Einhard), um 770 bis 840. Nicht als ob Tapferkeit nach dem Frühen Mittelalter unwichtig geworden wäre, sie war jedoch jetzt eingebunden in andere Zusammenhänge. Wir werden (Kapitel B. V.4.b)), in dem es u. a. um die charismatische Legitimation des „Heils“ geht, das ein Anführer hatte/mitbrachte, noch sehen, daß nicht nur, aber nicht zuletzt auch im nordgermanischen Bereich das „Siegesheil“ im Kampf zwar besonders wichtig gewesen ist, daß aber noch andere – modern ausgedrückt – charismatische Qualitäten ebenfalls hohen Rang hatten, etwa „Ernteheil“, „Wetterheil“, „Mannheil“ (gut mit Menschen umgehen können).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

b) Virtù, Fortuna, Erfolg Die aus dem Rahmen dessen, was ich in B. V.3.a) gebracht habe, herausfallende Ansicht des Niccolò Machiavelli (1469–1527) darüber, wodurch sich ein Fürst (der „Principe“) auszeichnen müsse, um erfolgreich zu sein, wird nur erklärlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der besonderen Situation Italiens zu Lebzeiten Machiavells und von des Autors politischen Erfahrungen sieht. In den mit allen harten Mitteln geführten Auseinandersetzungen Frankreichs und Spaniens um Italien war das Land zerrissen und zerstückelt und fern der nationalen Einheit im staatlichen Bereich,865 die Machiavell so sehr vermißt hat. Machiavell war von 1498 bis 1512, während der ersten Florentiner Republik, Sekretär der für auswärtige Angelegenheiten und Militärsachen zuständigen Zweiten Kanzlei der Republik, kam im Zusammenhang mit einer Verschwörung schuldlos in den Kerker und unter die Folter und zog sich nach seiner Freilassung, 1513, ins Privatleben zurück. Danach entstanden die meisten seiner Schriften (siehe unten). 1519 bis 1527 war er wieder für die Republik Florenz tätig, aber meist außerhalb politischer Praxis, vor allem mit seiner „Istorie fiorentine“, und erst ab 1525 wieder aktiv politisch. In seiner Zeit als Sekretär der Zweiten Kanzlei war er mehrmals in diplomatischer Mission in Rom beim Kirchenstaat, wo er die Verderbtheit des päpstlichen Hofs selbst erlebt hat, er hatte auch mit Cesare Borgia zu verhandeln, der sich die Romagna unterworfen hatte. Machiavell hat in der Zeit seiner eigenen diplomatischen Aktivitäten und auch danach allenthalben Verfall und Elend im staatlichen Bereich Italiens und darüber hinaus kennengelernt. Das (und der für die italienische Renaissance charakteristische Rückgriff auf antike, vor allem auf altrömische Autoren, im Fall des Machiavell außer auf Polybios besonders auf den altrömischen Historiker Titus Livius) hat seine Schriften über die Res publica geprägt. Neben einer Reihe kleinerer Publikationen, in denen er, ebenfalls sozusagen induktiv, aus seinen Erfahrungen, seinen Beobachtungen über Geschehnisse der jüngeren Vergangenheit Regelhaftigkeiten dafür gewonnen hatte, wie man in schwierigen Situationen handeln solle, und außer jener „Florentinischen Geschichte“ sind zwei Werke wichtig geworden, die „Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio“ (zwischen 1513 u. 1522 entstanden, 1531 in Florenz und in Rom erschienen) und „Il Principe“ (1513 entstanden, 1514 handschriftlich herausgegeben, 1532 gedruckt in Rom erschienen). Während das zuerst genannte die ersten zehn Bücher der von Livius beschriebenen Geschichte des antiken Rom und eigene Beobachtungen zum Anlaß nimmt, um (verkürzt formuliert, was ich tun kann, weil es nachher auf diese Schrift nicht mehr ankommt) zu zeigen, was getan werden solle, damit ein schon bestehendes Gemeinwesen in gutem Stand erhalten bleibe, hatte Machiavell mit „Il Principe“ (deutsche Übersetzungen unter dem Titel „Der Fürst“) ein ganz anderes Ziel: die Einigung Italiens, unter Beseitigung der Fremdherrschaft der Franzosen und der Spanier. Machiavell hat das Erreichen dieses Ziels keinem der damals bestehenden regionalen italienischen staatlichen Gebilde zugetraut. Er war der Ansicht, 865

Die Führung Italiens im Kulturellen war da kein Trost.

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unter den nun einmal gegebenen Bedingungen könne das nur einem Fürsten gelingen, der sehr ausgeprägt den – wie Machiavell das aus Livius herauslas – (alt-) römischen Herrschaftswillen besitze (so wie etwa Romulus), der sich ohne Rücksichtnahme durchsetze und die Herrschaft über Italien mit Gewalt usurpiere. In „Il ­ achiavell also nicht von den Fürsten, die ihr Regiment durch Principe“ spricht M Erbfolge, sondern von denen, die sie selber, durch eigene virtù erworben haben. Virtù, im Italienischen aus lat. virtus (zu vir  = der Mann) entstanden, ist für­ Machiavell aber nicht  – wie es meistens verstanden wird  – einfach mannhafte Tüchtigkeit, Mannestugend und Kraft und Befähigung; es muß zunächst Menschenkenntnis hinzukommen. Dazu sind ein paar Bemerkungen über Machiavells Menschenbild erforderlich. Zunächst einmal interessierte es Machiavell nur, wie die Menschen tatsächlich sind, nicht wie sie in moralischer Sicht etwa sein sollten. (Er war „dezidierter Heide“ (Ueberweg, 3.  Teil, S.  13), angesichts des Bildes, das die zutiefst korrumpierte Kirche seiner Zeit bot; und für ihn war die Religion nur noch als klug einzusetzendes Mittel zur Stabilisierung von Herrschaft zu gebrauchen.) Er hat hinsichtlich seines Menschenbildes seine Erfahrungen während seiner Tätigkeit als Sekretär der Zweiten Kanzlei und außerdem andere Beobachtungen heran­ gezogen. Für ihn war das Ergebnis ernüchternd.866 Aber Nüchternheit der Erkenntnis, Selbstgewißheit der Erfahrung, Recht auf Selbstbewußtsein und eigene Lebensgestaltung, frei vom Urteil historischer und religiöser Autoritäten, von daher auch Souveränität der Vernunft, das waren die humanistischen Ideale seit der Frührenaissance, die den der Hochrenaissance zugehörenden Machiavell und sein Bild von fürstlicher Persönlichkeit geprägt hatten. Jedenfalls müsse der Fürst die menschliche Natur in ihrer Wirklichkeit mit all ihren Trieben und Affekten in den Blick nehmen und dementsprechend handeln. (Siehe dazu auch Garin, S. 506.) Mit der Renaissance hatte sich auch das Verständnis von dem geändert, was, von den Griechen überkommen, für die Römer der Antike fortuna gewesen war. „Fortuna in der Renaissance – das ist nicht [mehr] göttliche Willkür und unausweichlicher Eingriff von oben, vielmehr Herausforderung des Menschen; … denn mitbestimmend … sind Virtù und Prudenza [Klugheit, Vorsicht, Behutsamkeit] 866 Ein solches Ergebnis hängt allerdings nicht nur von dem ab, was einer erlebt und beobachtet hat, sondern auch von der Sichtweise, die einer mitbringt, und von dem, auf das er seinen Blick richtet. Ich will mich dazu, ohne daß ich näher auf Baldassare Castigliones „Il Cortegiano“ eingehe, mit einer Bemerkung von Eugenio Garin (S. 481) begnügen: „Wer nacheinander den ‚Principe‘ Machiavellis und den ‚Cortegiano‘ Castigliones liest, muß empfinden, wie weit sie voneinander entfernt sind. Ungefähr zur gleichen Zeit – der ‚Principe‘ von Juli bis Dezember 1513, der ‚Cortegiano‘ von 1514 bis 1518 – und im gleichen kulturellen und politischen Milieu geschrieben, scheinen die beiden Bücher dem ersten Blick [nach] auf verschiedenen Planeten verfaßt zu sein. Im Buch von Castiglione läßt die Welt der RenaissanceHöfe ihr neues Ideal des Adels entstehen und legt dessen Muster fest.“

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geworden. Der symbolische Gehalt besagt, daß hier aller überweltlichen Willkür und dem blinden Zufall die Spitze geboten wurde“ (Diwald, S. 131). Ziel der Aktivitäten des Fürsten, als des virtuoso, ist der Erfolg. Im Verständnis Machiavells ist das zum einen (Pr., XV, S. 46), daß ihm sein Herrschaftsgebiet bzw. sein Staat nicht weggenommen wird, zum zweiten (VII, S. 22), darle un buon governo, ihm, dem Land, eine gute Regierung im Sinne der Friedenssicherung zu geben, nämlich um den Räubereien, den Händeln und der Gewalt zu steuern, zum dritten (XXI, S. 69) soll der Herrscher Handel, Landwirtschaft und Gewerbe in Frieden und ihren Besitz vermehren lassen – und jetzt („Il Principe“ ist von 1513) kommt etwas, das zwar noch nicht merkantilistische Lehre ist, sich ihr in einer Hinsicht aber schon etwas nähert  –, der Herrscher solle vielmehr Belohnungen aussetzen für die, die solches versuchen wollen, in der Absicht, den Wohlstand der Stadt bzw. des Staates zu befördern (d’ampliare la sua città o il suo stato). Auf den Erfolg sind alle Mittel und Werte hinzuordnen, nicht auf (angeblich) Überirdisches. Dabei muß jedes Mittel, jede sozusagen Einzeltugend wohlüberlegt, d. i. mit prudenza (siehe oben) im Gesamtrahmen der virtù zur rechten Zeit zur Wirkung gebracht werden, etwa Freigebigkeit, Härte, Sparsamkeit, Gewalttätigkeit, Freundschaft, Verschlagenheit, Betrug und was es sonst noch alles gibt. Die Reihenfolge der vom Fürsten angewendeten Mittel dürfe, so Machiavell, allein von der Notwendigkeit für die Belange der res publica bestimmt werden. Machiavelli hat, indem er so von der Notwendigkeit, von der necessità, spricht, der Sache gemäß das, was später Staatsräson hieß, schon auf den Begriff gebracht, auch wenn er im Italienischen ein anderes Wort verwendete als das, das dem aus dem Französischen kommenden („raison“) wörtlich näher wäre. Nur ein solcher Fürst besitze wirklich Größe, wirklich virtù, der stets die Chancen des Augenblicks richtig wahrnimmt. Damit sind wir noch einmal bei fortuna. Fortuna867 hat derjenige, 867 Das ist inhaltlich nicht weit von dem entfernt, was wir bei Grönbech, Bd. I, S. 143, lesen über germanische Anführer (und „Könige“), „sowohl Idealbilder wie wirkliche Porträts“. Nur geht es dort, statt wie bei Machiavelli um fortuna und virtù, um das „Heil“ (eine Legitimation, die thematisch in Kap. B. V.4.b) behandelt wird, auf das ich verweise, während ich hier nur das bringe, was ich für den Vergleich brauche), um das Heil, das die großen Anführer und die „Könige“ der Germanen besaßen und das „in der Auffassung der Germanen [ebenfalls] nicht etwas [war], was von außen kommt“ (S. 146). – Bei Grönbech hören wir dann z. B. über Thorstein, den älteren der Ingimund-Söhne: Wie immer die anderen auch vorgingen, selbst wenn sie List oder gar Zauber anwendeten, „immer trafen sie ihn vorbereitet. Er durchschaute alles von vornherein, und wenn er erschien, ‚half keine Augenverblendung, denn er sah alles, wie es war‘ – in seinem ‚rechten Wesen‘, wie es in einer anderen Saga heißt“ (S. 148). Thorstein handelte „mit Kunst … und nicht mit Ungestüm“, er konnte „warten, die Zeit verstreichen lassen“ und „alles vorbereiten“, wenn dies so richtig war, aber, wenn erforderlich, „auch ohne Zögern zuschlagen“, und „immer fällt [dann] der Hieb gerade im rechten Augenblick“ (S. 147). Bei den Unternehmungen der Ingimund-Söhne, um dessen habhaft zu werden, der ihren Vater in ihrer Abwesenheit getötet hatte, gingen sie mit aller Klugheit und Vorsicht zu Werk, dabei Thorstein auch mittels Bestechung eines Verwandten des Täters („‚wir können ihn ja außerhalb deiner Gemarkungen ergreifen, so daß es dir keine Schande macht; sag ihm nur, daß er hier nicht sicher ist; und ein Hundert in Silber kann ich gut entbehren‘“ (S. 148)). –

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der die Dinge, die Sachverhalte sieht, wie sie tatsächlich sind,867 und sich im richtigen Augenblick867 entsprechend verhält. Wollten wir fragen, wie und wann einer erkennt, ob der richtige Augenblick gekommen ist, kann es im Sinne Machiavells nur heißen: Der Mann mit virtù erkennt ihn eben, und: Am Erfolg sieht man, ob der Fürst virtù hat bzw. hatte oder nicht.868 Virtù, fortuna und Erfolg drehen einander im Argumentationskreis. Anders ausgedrückt, Herrschaft im Sinne Machiavells legitimiert sich durch sich selbst. Das ist bei ihm aber nicht biologistisch verstanden, noch nicht sozialdarwinistisch. In solche Richtung geht schon eher das, was Adolf Hitler 1945 am Schluß seines „Testaments“ sinngemäß so formuliert hat: Das deutsche Volk sei (1945) zu Recht unterlegen, da es nicht verstanden habe, sich besser durchzusetzen. 4. Rang, Adel; Charisma, „Heil“; Erb- oder Gentil-Charisma, Sippenheil; „Geblütsrecht“ (dazu Designation); Erblichkeit/Erbrecht Die in der Überschrift genannten Prinzipien sind zum Teil verschiedener Herkunft, es gibt aber auch Zusammenhänge. Von Olaf Tryggvason, einem berühmten Norwegerkönig, heißt es, abgesehen davon, daß er „kühn im Kampfe [war], der Tüchtigste im Gebrauch seiner Waffen; geübt in allen [Waffen-] Spielen“: Er war „immer auf der Hut“, war „tief- und weitschauend in seinen Plänen; klug alle [!] Mittel benutzend, die zum Ziel führen konnten; redegewandt und überzeugend“; und in der Mitte davon steht – das ist freilich eine andere Zusammenstellung als bei Machiavelli, besonders hinsichtlich dessen, was dabei hier fehlt: „Groß, schön, tapfer, tüchtig, freigebig – diese Worte geben die Ganzheit der Tugenden, ohne die kein König auskommen konnte; fehlt ihm eine dieser Eigenschaften, so fehlt ihm alles“ (S. 143). – „Von einem anderen König wird erzählt, daß … ‚er mächtig und weise war und Ernteheil hatte‘ [zu diesem s. Kap. B. V.4.b)]; das Wort, das wir mit ‚weise‘ übersetzen, ist ein sehr bedeutungsvoller Ausdruck in der alten Sprache und sagt soviel wie Klugheit, Schlauheit, Geschmeidigkeit“ (S. 145). – Fazit: Es ist gar nicht so wenig von dem beieinander, was Machiavelli im einzelnen genannt hat: Klugheit, Vorsicht, Schlauheit, Geschmeidigkeit, „Macht“, Listigkeit, Redegewandtheit, Bestechung und eben: „alle Mittel“. Es besteht dabei aber auch kein Zweifel: Selbst in dieser meiner gezielt, aber nicht gewaltsam zusammengebrachten Aufzählung bleiben Unterschiede zu dem, was uns Machiavelli bietet. Meineid, Diebstahl, Mord und noch einiges andere sind ausgeschlossen. Wer solche Untat begeht, wird zum „Neiding“, verliert seine Ehre und damit sein Menschentum (S. 120, S. 128 f., S. 133). Um ein abgewogenes Urteil zu gewinnen, müssen wir uns vor Augen halten: Machiavell trägt in allem, was anderswo für extrem unmoralisch gilt, ganz gezielt so „dick“ auf, wie er nur kann. Nicht bloß, um zu schockieren; er will endlich Italien geeint und die Herrschaft der Fremden beendet sehen, und er meint eben, mit anderen Mitteln gelinge das nicht. 868 Machiavell hat unter den italienischen Fürsten seiner Zeit Cesare Borgia und Lorenzo I. („Il Magnifico“) de’ Medici am höchsten eingeschätzt. Cesare Borgia ist aber schon 1507 in einem Krieg in Navarra gefallen, Lorenzo „Il Magnifico“ 43-jährig 1492 gestorben. Machia­ vell hat seine Schrift „Il Principe“ (1513 in 1. Fassung geschr.), im letzten, dem 26., Kapitel, Lorenzo II. de’ Medici, Herzog von Urbino, einem Enkel des „Magnifico“, gewidmet und ihn zur Einigung des Vater­landes aufgerufen, zu der es aber erst 1859/60 bis 1870 kam.

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a) Rang, Adel In den großen allgemeinen Nachschlagewerken findet man – mit dem Hinweis, das Wort Adel gehe auf ahd. adal = Geschlecht, Abstammung zurück – „Adel“ meist wie folgt oder ähnlich definiert: „Adel“ ist ein aufgrund von Geburt, Besitz oder Leistung ehemals sozial und politisch privilegierter „Stand“ (oder, je nach Gegebenheiten, gar „Klasse“ bzw. „Kaste“) mit einem standes-eigenen Ethos und besonderen Lebensformen. Abgesehen davon, daß dabei „politisch“ unreflektiert ist – wozu ich auf die Kapitel von B.I. verweise –, wird deutlich, daß „Adel“ von seinem sozusagen Ende her definiert worden ist, von dem her, was Adel war, bevor ihm die Privilegien entzogen worden sind. Oft wird besonders betont, über die Entstehungsgeschichte von Adel sei nur Spekulation möglich. Wir werden sehen, daß ein wenig mehr als bloß Spekulatives doch zu gewinnen ist. Voraussetzung ist allerdings erstens, daß wir das Phänomen so sehen, wie es sich von sich selbst her zeigt, und nicht mit vorgefaßten Meinungen an die Sache herangehen – was sich eigentlich (auch hier) von selbst verstehen sollte. Zweitens dürfen wir eben die Kriterien nicht von jeweils Späterscheinungen des Adels, etwa der griechischen Ari­ stokratien zur Zeit Hesiods oder der Klassischen Zeit bzw. des Adels in Deutschland im 19. Jh. oder – wie bei Mosca (S. 340) – des Adels in Italien zu Ende des 19. Jh., nehmen, andernfalls das Phänomen in seiner Frühform bzw. das, was noch davor liegt, sogar verfehlt werden kann, weil es unter solchen Voraussetzungen unsichtbar bleibt. Wir kennen das schon von dem für unser Hauptthema zentralen Sachverhalt des Politischen, daß sich uns das Wesentliche entzieht, wenn wir das Phänomen „von hinten“, vom Staatlichen oder vom sogenannten Gesellschaftlichen her erklären wollen (Kapitel A.II.). Im Griechischen gibt es verschiedene Wörter, die – um es wieder möglichst neutral zu formulieren – im Zusammenhang mit dem, was in diesem Kapitel betrachtet wird, genannt werden. Eugéneia ist, wörtlich, die Wohlgeborenheit. Das Wort ist relativ jung – was man allerdings sowieso schon daraus erschließen könnte, daß es ein zusammengesetztes Wort ist. Homer kannte es jedenfalls noch nicht. Bei ihm steht áristos. Das ist der Superlativ von agathós, für das wir in Wörterbüchern die Übersetzung „gut, tüchtig“ finden. „Agathós … [ist] eines Stammes mit ágamai, ágan, eig[en]tl[ich] der Bewunderung werth …“.869 Bewundernswert ist natürlich der, der sich im Vergleich mit anderen auszeichnet, sich hervortut. Die áristoi sind also die in besonderem Maß Bewundernswerten. Das ist zunächst weder „Adel“ noch „Adelsstand“. In mykenischer Zeit – und aus dieser stammen ja, wie wir wissen, im Kern die „Geschichten“, die uns Homer erzählt – war das besonders Bewundernswerte die Tüchtigkeit im Kampf, die Tapferkeit. Bei Homer sind die áristoi die tapfersten Helden. An einer Stelle (Il., 21, 109) nimmt das Wort aber auch Bezug auf Herkunft/Abstammung, hier allerdings auf eine Abstammung besonderer Art, näm 869

Pape, Bd. I, S. 6.

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lich göttliche. (Zu solcher thematisch Kapitel B. V.5.a).) Daß die Tapfersten Anspruch auf Auszeichnung, dazu nicht zuletzt auf reiche Beute hatten, mußte zu Reichtumsunterschieden führen. In den Zeiten, von denen Homer schreibt, hat es offenbar schon große Unterschiede gegeben. Mit der Dorischen und Nordwestgriechischen Einwanderung sind sie im ganzen wieder viel geringer geworden (B. I.1.a)). Von der Entwicklung zu einer „Aristokratie“ in Teilen Griechenlands im 1. Jtd. v. Chr. ist an verschiedenen Stellen der Kapitel B. I.1.a) und B. I.8. in dort anderen Zusammenhängen die Rede gewesen, dabei auch von den von Hesiod für Askra beschriebenen Mißständen. Darauf kann ich verweisen. Ich bringe jetzt nur noch ein Beispiel für die Abgeschlossenheit der Gruppe derer, die allein Zugang zur höchsten Stellung im Gemeinwesen hatten, aus Thessalien: Der „Tagos“, gewissermaßen der Her-zog, der übrigens immer auf Lebenszeit gewählt wurde, allerdings nur im Kriegsfall Befehlsbefugnis besaß, konnte nur „aus den Grundherren der Pferdezuchtgebiete der thessalischen Ebenen gewählt“ werden (Kirsten, S. 124). Aus der Zeit der Einwanderung der ersten „Protogriechen“ um 3 000 v. Chr., zunächst nur nach Makedonien und Thessalien und dann um 2 300 v. Chr. von dort nach Mittelgriechenland und auf die Peloponnes (siehe B. I.1.a)) – woraus sich danach das achäische Griechentum entwickelte  –, wissen wir keine Einzelheiten über die soziale Gliederung. Dennoch ließ sich auf dem Vergleichsweg etwas für jene Zeit zum Thema beibringen. (Es steht am Ende von „Exkurs zu den Kapiteln von B. I.“.) Während der Dorischen Einwanderung „aus dem Norden Griechenlands in das eigentliche Griechenland“, mit der die – wie wir wissen – schon weit über tausend Jahre zuvor begonnene „Indoeuropäisierung Griechenlands zum Abschluß kam“, muß es „schon eine soziale Gliederung“ gegeben haben, „die dann bei der Seßhaftwerdung auf der Peloponnes in der Bodenverteilung ihren Ausdruck fand: die … [mehr angesehenen] Sippen erhielten den guten Boden in der Ebene, die weniger angesehenen Stammesmitglieder mußten mit dem kargen Boden des Hügellandes und der Berge vorlieb nehmen. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie es mit der … [Sozial-]ordnung der Dorier vor ihrer Abwanderung ins eigentliche Griechenland bestellt war und ob nicht etwa die spezifische Situation der Auswanderung und der Notwendigkeit, neue Wohnsitze und neues Ackerland zu gewinnen, sich rang- und klassenbildend870 ausgewirkt hatte“ (Castritius, S. 24; ähnlich argumentiert in bezug auf die Germanen von Uslar, S. 47 f.). „Fragezeichen sind auch hinter der Theorie zu setzen, daß die Entstehung des Adels und überhaupt jede soziale Differenzierung auf Überlagerung[en]  … der autochthonen (…) Bevölkerung durch erobernd eindringende und sich festsetzende fremde Volksgruppen zurückzuführen seien. Daß diese Auffassung zur Erklärung … häufig nicht ausreicht, zeigt bereits eine kurze Betrachtung der Landnahme der dorischen Lakedämonier (Spartaner)

870

Der Ausdruck Klasse ist zu modern.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

im südlichen Teil der Peloponnes. Die … dort vorgefundene indoeuropäische [achäischgriechische] und nichtindoeuropäische (altmediterrane)  Vorbevölkerung wurde  … nicht durchweg helotisiert,  …, sondern es wurde zumindest eine, wenn auch zahlenmäßig  … nicht allzusehr ins Gewicht fallende Gruppe dieser Vorbevölkerung  – die Frühgriechen (Achäer) von Amyklai871 – in die Adelsschicht der Spartiaten (…) aufgenommen“ (Castritius, S. 25).

Das zuletzt Gesagte ist allerdings kein besonders gutes Argument gegen jene Theorie. In den eigenen „Adel“, der damals noch der „Vollbürgerschaft“ (ebenda) entsprach, mit allerdings großen Besitzunterschieden, sind sicherlich nur Achäer ähnlichen Rangs aus Amyklai aufgenommen worden. (Mit den ­Achäern konnten sich die Dorier offenbar noch ohne größere Schwierigkeiten sprachlich verständigen.) – Auch die Römer kannten mehrere Wörter für die in diesem Kapitel betrachtete Sache. Da ist zunächst patricius, -a, -um = patrizisch, Patrizier, Patrizierin. Das geht zurück auf pater = Vater, was sprachlich wiederum mit „Adel“ noch nichts zu tun hat. Jedoch in der frühesten Zeit, über die wir erste Geschichtskenntnisse über die Römer haben, waren die patres schon mehr als bloß Familienälteste; als Häupter der Familien mit dem höchsten Ansehen waren sie in ihrer Gesamtheit „der Adel Roms“ – wie man das in gelehrter Betrachtung genannt hat –, und zwar politisch präsent (wie wir aus anderem Zusammenhang, Kapitel  B. V.2., schon wissen) im Senat. Das römische Volk bildeten erstens jener „Geburtsadel des Patriziats“, zweitens die wohl persönlich freie, „aber in einem … [Abhängigkeit begründenden] Schutzverhältnis zum Adel stehende Bauernschaft“, die „Klientel“, drittens die Plebs, das „niedere“ Volk, die „Menge“: „zur Hauptsache wohl die aus Handwerkern, Gewerbetreibenden, Händlern und Arbeitern bestehende Bevölkerung der wachsenden Stadt Rom, die vermutlich zu einem nicht ge­ringen Teil  aus zugewanderten Fremden bestand und sich nur zum Teil  ebenfalls in der Klientel der Adelsfamilien befand, zur Hauptsache aber klientelfrei war. Adel und Nichtadel [soweit es die Plebs betrifft] standen … [einander] ursprünglich als zwei ganz getrennte Volksteile gegenüber, Ehen zwischen Patriziern und Plebejern waren nicht möglich. Der Adel allein erhob Anspruch auf alle wichtigen religiösen und damit verbundenen politischen Rechte. Gegliedert war der Adel in gentes, Geschlechter, die ihrerseits in Familien zerfielen  …  . Zu den gentes gehörten aber außer den adligen Geschlechts­ angehörigen, den gentiles, auch die abhängigen Leute, die clientes. Adel und Klienten waren durch ein gegenseitiges Treueverhältnis miteinander verbunden“ (Ernst Meyer, Einführung, S. 157).

Mit „gentiles“ haben wir das zweite Wort unserer Sache. Gens, gentis = Geschlecht hängt zusammen mit genus, generis  = Geburt, Abkunft, Herkunft,­ speziell hohe Geburt.

871

Zu Amyklai siehe auch Kiechle, S. 55–67, bes. aber S. 95 ff.; Bringmann (1980), S. 470.

V. Annex zu den historischen Teilen

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Das dritte Wort in der Sache bringt uns schon deshalb nichts aus historisch früher Entwicklung, weil es erst denjenigen römischen Adel bezeichnet, den es nach den Reformen von 367/366 v. Chr. („der traditionellen Chronologie mit den zum Teil  sicher unhistorischen sogenannten ‚Licinisch-sextischen Gesetzen‘“) gab (S. 161). Zu den Reformen gehörte, „daß nun auch Plebejern das Recht eingeräumt wurde, sich um die Ämter einschließlich des höchsten, des Konsulats, zu bewerben“. Die „wenigen großen plebejischen Familien, denen es gelang, ihre Angehörigen im Wahlkampf in die hohen Ämter zu bringen, … schlossen sich mit dem alten Patriziat zu einem neuen Adel zusammen, in dessen Hand tatsächlich die hohen Ämter und Priestertümer und damit die Regierung Roms lagen, also zu einem Amtsadel. Seine Angehörigen bezeichneten sich als die nobiles, die ‚Angesehenen, Vornehmen‘, die den neuen patrizisch-plebejischen Adel der Nobilität bildeten. Entscheidendes Kriterium war das Konsulat“ (S. 162).

In nobilis = angesehen steckt auch die Bedeutung „in die Augen fallend“. Das hat Ähnlichkeit mit der Bedeutung von griech. ágamai, ágan, (eigentlich:) der Bewunderung wert (Pape, Bd. I, S. 8), und ist sprachlich nur insofern für uns von Interesse. Ich komme zum deutschen Wort Adel und zu dem Bedeutungszusammenhang, in dem es in den älteren germanischen Sprachen steht. In der neubearbeiteten 22. Auflage des „Kluge“ heißt es bei Seebold: „ahd. adal aus g[erm]. *aþala- n., das sonst nur in anord. aðal n. bezeugt ist, als Vorderglied auch im Altsächsischen und vielleicht in gotischen Namen (Athalaricus) auftritt, aber durch seine Ableitungen überall außer im Gotischen vorausgesetzt wird. Die Bedeutung fällt aus­ einander, läßt sich aber einerseits auf ‚Geschlecht, Herkunft‘, andererseits auf ‚Art, Wesen, natürliche Beschaffenheit‘ zurückführen“ (S. 10). Selbstverständlich hat jeder Mensch eine Herkunft. Hier gemeint ist jedoch, daß eine/einer über ihre/seine Herkunft etwas zu sagen weiß,872 sie „namhaft“ machen kann. Nur dann kommt sie/er aus einem (bzw. aus diesem u n d jenem) „Geschlecht“ und hat auf besondere Weise einen „Namen“. (Bei Germanen, die sich ihrer Herkunft bewußt waren, hatte auch der Name des angeheirateten Geschlechts Bedeutung.) Die beiden Begriffe dieser Gruppe geben also inhaltlich etwas her. Das ist weniger deutlich bei den Begriffen der zweiten Gruppe: „Art“, „Wesen“873, „Natur“, „Beschaffenheit“ sind inhaltlich blaß und bedürfen sozusagen eines Adjektivs. (Ich komme darauf zurück.)

872 Das kennen wir auch aus unseren Tagen: Die meisten wissen nur wenig über die Großeltern, fast nichts oder schon nichts mehr über die Urgroßeltern, geschweige denn über diese hinaus. Die familienkundlich Aktiven sind nur Ausnahmen. 873 Zwar läßt sich „Wesen“ bis auf seine idg. Wurzel zurückverfolgen, aber in diese Richtung ist hier offenbar nicht gedacht. In der Nachbarschaft von „Art“, „Natur“ und „Beschaffenheit“ ist auch „Wesen“ nur ein abstrakter Begriff – was er von Hause aus nicht ist.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Außer den beiden eben genannten Gruppen von Bedeutungen hat lange Zeit eine dritte Gruppe in der verfassungsgeschichtswissenschaftlichen, in der mediä­ vistischen und von dort her auch in der frühgeschichtswissenschaftlichen Literatur (hier dann auch in der vom Historischen Materialismus bestimmten Literatur, besonders in der Feudalismusdiskussion) etwa hundert Jahre lang für die Erörterung des Themas Adel eine große Rolle gespielt. Es geht um die – angeblich – Bedeutung „Grundbesitz“ des Wortes Adel. Wir werden sehen, daß eine mehr differenzierte Betrachtung weiterhilft. In der 16. Auflage des „Kluge/Götze“ (1953, S. 8) stand außer dem, was auch Seebold aufrecht erhält (erste und zweite Bedeutungsgruppe): „ahd. adol, ẹdili, asächs. aðali, ẹðili, ags. æðelu ‚(edle)874 Art, Familie, Abstammung‘, anord. aðal ‚Natur, Beschaffenheit, Wesen, Anlage‘; dazu [und jetzt kommt jene dritte Gruppe, die Seebold in der 22. Auflage so nicht mehr hat] … ahd. uodal, asächs. ōðil, ags. ōðel ‚Heimat, Aufenthaltsort875, Land’876, anord. ōðal N[eutrum] ‚Heimat, Eigentum877, Grundbesitz877, Stammgut‘878 (…)“. Seebold zeigt, daß es sich bei den vier genannten Versionen mit langem Vokal am Wortanfang um ein anderes Wort handelt, das durch eine ganz bestimmte altertümliche Art der Ableitung zustande gekommen ist, dagegen nicht mehr um ahd. adal bzw. um die anderen Versionen. Seebold (S. XX, Ziff. 3.14) beschreibt die Art der (heute nicht mehr vorkommenden) Ableitung und die Gesetzmäßigkeit dabei (Dehnung des ersten Vokals), und er gibt ein Beispiel. Daraus geht hervor, daß jeweils beide Wörter, das sozusagen erste und das aus diesem abgeleitete zweite, zwar selbstverständ-

874

Eine Erklärung mit sich selbst ist natürlich unzulässig. In unserer Zeit, in der immer mehr Menschen sich oft woanders „aufhalten“ als dort, wo sie „wohnen“, „ihren Wohnsitz haben“, hat sich die Unterscheidung zwischen „Wohnort“ und „(bloß) Aufenthaltsort“ eingebürgert. Das stimmt nicht mit dem alten Verständnis überein. Diesem zufolge ist Aufenthalt/Aufenthaltsort „der ort, die stätte[,] wo einer wohnt, sich [so­ zusagen eigentlich] aufhält, … geborgen ist“ (Grimm, Wb., Bd. 1, Sp. 637). 876 Zu „Land“  – meine ich  – genügt ebenfalls eine Erläuterung per Fußnote. (Den Sach­ verhalt brauche ich allerdings außerdem noch einmal in einem anderen Zusammenhang.) Mhd. u. ahd. lant, as. land aus germ. *landa- (N.); auch in got., anord., ae. land, afries. land, lond; hierzu im Ablaut schw. (dial.) linda = „Brachfeld“. Außergerm. gibt es ebenfalls Verbindungen. „Die Ausgangsbedeutung könnte  … ‚freies Land‘ gewesen sein, vielleicht ‚Brache‘.“ (Kluge, 22. Aufl., S. 426 f.). 877 Die Begriffe Eigentum und Grundbesitz sind ideologisch belastet. Der Terminus Erbbesitz ist dagegen neutral. – „Eigen“ ist zwar ein Wort, das bis zu seiner idg. Wurzel verfolgt werden kann, bloß hat das mit unserem Verständnis von z. B. Privateigentum und Öffentlichem Eigentum und Eigentum an Produktionsmitteln (zu denen dann „Grundbesitz“ gleich abgestempelt wird)  nichts zu tun, sondern hat einfach die Bedeutung „haben“, „besitzen“ (16. Aufl., S. 161), was als be-sitzen zu verstehen ist. 878 „Stammgut“ müssen wir streichen; es ist zu speziell und bezeichnet (ab Spätmittel­alter) den Besitz adliger Familien, der unveräußerlich war und gemäß Primogenitur (s. Kap. B.V.2.a) bb)) im Mannesstamm ungeteilt vererbt wurde. Das oder Ähnliches wäre zwar auch für frühmittelalterliche Verhältnisse möglich, aber wir wissen nichts davon. Neutral ist wiederum „Erbbesitz“. 875

V. Annex zu den historischen Teilen

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lich inhaltlich miteinander zu tun haben, aber nicht das zweite für das erste stehen kann, wie das bei „Adel“ und den Wörtern der ersten und der zweiten Bedeutungsgruppe (s. o.) der Fall ist. Das heißt: Ahd. uodal, asächs. ōðil, ags. ōðel und anord. ōðal stammen von der Ableitung aus germ. *aþala- (Adel) zu *ōþala-, aber nicht umgekehrt.879 Es wäre also schon von daher nicht zulässig, „Adel“ von „Grund­ besitz“ her ver­stehen zu wollen – abgesehen davon, daß von den vier aus der Ableitung mit Dehnung des ersten Vokals entstandenen germanisch-sprachigen Wörtern überhaupt nur bei anord. ōðal (und dort auch nur unter anderem) „Grundbesitz“880 als Bedeutung genannt (behauptet) wird. Auf solcher Grundlage geht es also nicht an, zu folgern: „Es … [hat] hiernach [den Anschein], als sei die älteste Grundlage des Adelsstandes [zu Adels-S t a n d weiter unten mehr] Grundbesitz, und das wirkt glaubhaft und stimmt zu einem Teil der gängigen Lehren“ (Kuhn, 2 1973, S.  59). Zu „glauben“ gibt es hier sowieso nichts. Im übrigen stellt Kuhn (S. 59 f.) zum Thema „I. Sprachliches“ fest, daß die im Zusammenhang mit „germ. *aþal-“ vorkommenden Termini „wenig Positives zur Aufhellung seines [des Adels] Ursprungs und seiner ältesten Geschichte“ beitragen. Nur im Westgermanischen tritt „*aþaling-/*aþiling- ‚Edeling‘“ auf, aber auch dort ist der Gebrauch nicht einheitlich; in England „nur als Bezeichnung für den Prinzen, den männlichen Angehörigen eines Königshauses, während die Dichtung dies Wort farblos für Männer sehr verschiedener Stellung, wenn auch allermeist vornehmer, [ge]brauchte … . Den übrigen ags. Wörtern dieses Stammes fehlt ein solcher technischer Gebrauch. Für das Abstraktum æðelu setzt das Wörterbuch als Bedeutungen nobilitas, principatus, origo, natales, prosapia, natura, indoles und ingenium an, aber die nobilitas geht nicht über ‚Vornehmheit‘ hinaus, sie ist kein Adel, kein Stand.“

Was gleich anschließend folgt, kann ich übergehen. Von Interesse ist dann wieder (S. 59): „Im Ahd. wiederum sind sowohl ediling … [als] auch adal und edili auffallend selten bezeugt, und eine technische Verwendung deutet sich bei keinem an. Ähnlich ist es auch noch im Nibelungenlied (um 1200) – in ihm fehlt selbst edelinc  –.“ (Einmal ganz abgesehen vom Nibelungenlied, sind wir mit dem, um das es hier geht, sowohl in bezug auf England als auch auf das Ahd. und das Anord. schon sehr tief im, meist schon nahe beim Ende des Frühmittelalters, sehr viele Jahrhunderte (siehe Kapitel B. I.1.b)) nach Tacitus, ge­ aesar.) – Im Norden gibt es, wie in England, für die Prinzen etwas schweige denn C Ähnliches, „eine der vielen nur dichterischen Bezeichnungen für Könige und ‚Fürsten‘. … . Die … [anderen] altnord. Glieder unserer Wortsippe aber sind der Adelssphäre völlig fern geblieben. 879 Wie es, unbedacht, z. B. bei Uslar (S.  47) geschieht: „Das Wort Adel wird nach herrschender Meinung mit dem Wort Odal in Zusammenhang gebracht bzw. [und jetzt kommt es:] davon abgeleitet“. S. Kluge, 16. Aufl., S. 8; *ōþala- gemäß 23. Aufl. 880 Seebold (Kluge, 22. Aufl.) vermeidet ebenfalls die Termini Eigentum, Grundbesitz und Stammgut; er hat – neutral – „Erbbesitz“ und „Stammbesitz“ (S. 10, „Adel“, u. S. 301, dort beim Stichwort Heimat).

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Das Grundwort aðal ist in der Dichtung einige Male als ‚Wesen, Natur, Art‘ bezeugt, und dies mehr von schlechten als guten Eigenschaften – die westgerm. Wörter scheinen [dagegen] immer nur Vornehmheit und hohen Wert zu betonen –, … . Neben aðal steht, im wesentlichen gleichbedeutend, øðli /eðli, das jedoch auch ‚Herkunft‘ und [sagt Kuhn hier vorsichtig] anscheinend ‚Besitztum‘ heißt, dazu aðili als Bezeichnung des Mannes, dem die Durchführung einer Rechtssache zusteht,  …  . Von diesen Bedeutungen werden wenigstens ‚Wesen, Natur‘ samt ‚Herkunft‘ [s. o., Seebolds erste und zweite Gruppe], da sie Verwandte im Westgerm. haben, wenn auch sichere nur im Ags., [relativ] sehr alt sein.“ (S. 59)

Bei Kuhn folgt dann jene sachlich ver-drehte „Ableitung“, aus der das Verständnis von Adel aus Grundbesitz gefolgert worden ist („als sei die älteste Grundlage des Adelsstandes Grundbesitz“), worauf Kuhn sagt: „Es ist jedoch schwer, von hier aus die anderen alten Bedeutungszweige, ‚Wesen, Natur‘ und ‚Herkunft‘, zu verstehen und einzugliedern. Diese zwei sind miteinander leichter zu vereinigen“ als mit den Begriffen der dritten Gruppe (S. 59). Das allerdings trifft so nicht zu; denn Herkunft und Geschlecht sind sehr wohl gut mit Heimat, Land, Erbbesitz/ Stammbesitz aus dem Umkreis der Wörter der *ōþala-Wortsippe in Verbindung zu bringen. Wenn Kuhn fortfährt (S. 60), „und auch aus ihnen [Wesen, Natur und Herkunft] kann sich [viel später] die Standesbezeichnung entwickelt haben“, gilt das jedenfalls gerade für „Herkunft/Geschlecht“, und es gilt ferner: „Doch ist der Schluß, es müsse dann von Anfang an ein Geburtsstand gewesen sein, nicht zwingend“, außerdem: „Es sind auch keine anderen Wörter da, die in die Bresche springen und uns zu einem germanischen Uradel führen, es seien denn …“ (und dann bringt Kuhn eine Sache, bei der nur Ex-silentio-Schlüsse weiterhülfen; solche aber sind sowieso nicht beweiskräftig; S. 60). Wenskus (S.  60: Adel  – „II. Verfassungs- und Sozialgeschichte  – A. Allgemeines“) schließt daran an: „Der Streit um die Existenz eines germanischen Uradels vollzog sich bisher auf der Ebene der Vorstellung vom Adel als einem bevorrechteten Geburtsstand. Entweder wurde ein solcher Adelsstand in vor- und frühgeschichtlicher Zeit völlig geleugnet und gleichzeitig eine egalitär-demokratische Struktur der germ. Verfassung behauptet oder es wurde eine grundsätzliche Kontinuität der mittelalterlichen Adelsherrschaft mindestens seit den Zeiten des Tacitus angenommen.“

Wir wissen bereits aus Kapitel B.I.1.b), daß die germanischen Gemeinwesen, soweit wir von ihnen Kenntnisse haben, weder „demokratisch“ noch „egalitär“ verfaßt waren. Wir wissen nun außerdem, daß es in ihnen keinen Adels-S t a n d gab.881 Wenskus (ebenda) hält den Begriff Adel zur Kennzeichnung der frühen Verhältnisse für nicht brauchbar. Es „sollte eine Terminologie benutzt werden, die von den

881 Ein Stand, und zwar einheitlich, „ist er bezeichnenderweise endgültig oft erst durch die Fürsten … [im] Absolutismus geworden“ (Wenskus, Adel, S. 60).

V. Annex zu den historischen Teilen

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emotionalen Akzenten moderner Strömungen möglichst frei ist“ – es folgt bei ihm ein Beispiel für diejenigen Begriffe, die in diesem Sinne ganz unbrauchbar sind – und er fügt hinzu, es „verbinden sich für uns mit dem Wort Adel Vorstellungen, die aus dem Bereich spätmittelalterlicher Turniergesellschaften und neuzeitlicher Heroldsämter stammen.“ Strenggenommen, hätten wir also in bezug auf die Zeit des Tacitus (und natürlich die Zeit davor) bei der Beschreibung germanischer Gemeinwesen auf den Begriff Adel zu verzichten. U n s e r e Frage lautet folglich: Warum tun wir es dann nicht? Wenskus meint (ebenda), der Begriff müsse von ihm „gleichwohl … benutzt“ werden, „weil es einen neutraleren nicht gibt.“ Wir werden sehen, es geht sehr wohl ohne ihn. (Erst für jüngere Zeiten wird er dann gebraucht.) Obwohl es also bei den Germanen der Römerzeit/Römischen Kaiserzeit, und das auch noch zu der des Tacitus, keinen Adelsstand gab, zeigt der Vergleich zwischen dem, was Caesar, und dem, was Tacitus über germanische Verhältnisse in der uns interessierenden Sache schreiben, Unterschiede. Es wäre angesichts der Zeitspanne von etwas mehr als eineinhalb Jahrhunderten zwischen Caesars „Bellum Gallicum“ und den Schriften des Tacitus, um die es hier geht, und an­ gesichts des römischen Einflusses, der in dieser Zeit direkt und indirekt auf germanische Verhältnisse wirksam war, auch erstaunlich, wenn es solche Unterschiede nicht gäbe. Zunächst gebe ich wieder, was wir für die Mitte des 1. Jh. v. Chr. von Caesar (Bellum Gallicum = B. G.) erfahren. Der Autor macht in der uns interessierenden Sache ganz deutlich Unterschiede zwischen Galliern und Germanen. Er nennt zwar eine nobilitas der Gallier, so in B. G. VI, 12, 3, dort mit Blick auf eines der damals größeren gallischen Völker, nämlich die nobilitas Haeduorum, dann in VI, 13, 2, wo er generell von Gallien spricht und die soziale Gliederung zeigt, die nobiles. Nobilitas und nobiles kommen bei ihm bei der Beschreibung der Ger­ manen dagegen nicht vor. Das wird uns jedoch nicht schon zu der Folgerung verleiten, zu Caesars Zeit habe es bei den Germanen keine Unterschiede hinsichtlich Rang und Würde gegeben. Unbeschadet unseres Wissens darum, daß Caesar manches um der propagandistischen Wirkung auf Rom willen in seine Berichte hat einfließen lassen, daß er dazuerfunden oder gefärbt, aufgebauscht oder verkleinert hat, gibt es doch anderes, bei dem solche Absichten unerfindlich wären. Dazu gehört: Caesar teilt (VI, 13) mit, bei den Galliern, deren Verhältnisse er ja besonders gut kannte, sei das „einfache Volk“ (die plebes, d. i. altertümlich für plebs) etwa den Sklaven gleichgeachtet, könne von sich aus nichts unternehmen und werde zu keiner Beratung herangezogen („nam plebes paene servorum habetur loco, quae nihil audet per se, nullo adhibetur consilio“), und die meisten befänden sich in Hörigkeit der nobiles. Geltung und Ansehen hätten nur zwei Kategorien (genera) von Menschen, die Druiden (der Priesterstand) und, wie er jetzt zur Abwechslung

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

statt nobiles sagt, die equites882, der Ritterstand, in dessen Schuld sich die plebes befände und der über diese willkürlich richte.883 Das sah für Caesar bei den Germanen (jedenfalls bei den West-, einschließlich Elbgermanen; nur solche kannte er) anders aus. Zum einen berichtet er anhand eines konkreten Falles seiner Auseinandersetzungen mit Germanen von deren (hier der Sueben) Gewohnheit/Sitte (mos), Versammlung (concilium) zu halten, um zu beraten, was zu tun sei (IV, 19, 2); zum anderen sahen wir schon in Kapitel B. I.1.b), wie Caesar betont, die Germanen (seiner Zeit) legten besonders Wert darauf, der „einfache Mann“ solle sehen, daß die Großen nicht mehr be­säßen als er – was wohl zu interpretieren ist als: nicht wesentlich mehr. Es gibt wie bei den Galliern auch bei den Germanen der Zeit Caesars hervor­ragende Männer/Anführer (principes).884 In bezug auf die Germanen erwähnt Caesar auch eine Art Älte­ stenrat (senatus), wohl zur Beratung der Anführer, so bei den mit den Römern verbündeten, im Rheinland siedelnden Ubiern (Kapitel IV, 11, 3). An einer Stelle (IV, 13, 4) spricht Caesar auch von maiores (der Usipeter und Tencterer, ursprünglich in Mitteldeutschland, zu Caesars Zeit am Niederrhein siedelnd), was wir übersetzen können mit „die mit dem größten Ansehen“. (Da haben wir übrigens Ähnliches wie „der Bewunderung wert“.) Man könnte auch sagen „die Ehrwürdigsten“. Jedenfalls geht es um Glieder des Gemeinwesens, die sich vom Gros jener Stämme unterschieden, nicht wegen (diplomatisch eingesetzter) Benennung seitens Dritter, hier der Römer, wie im Fall des Ariovist, sondern aufgrund von Qualitäten (aber auch wegen des Alters), die sie von sich aus besaßen.885 Bei Tacitus, gut einhundertfünfzig Jahre später, heißen die herausragenden Männer germanischer Stämme normalerweise, wie seinerzeit bei Caesar, prin­ cipes; gelegentlich (Annalen, 2,  19 und 2,  62) variiert Tacitus mit primores.886 882 In anderem Zusammenhang kann equites aber auch einfach „berittene Leute“/„Reiterei“ heißen; hier ist aber ein Stand gemeint, etwa ähnlich dem Ritterstand der Römer (zu diesem Ernst Meyer, Einführung, S. 199 f.). 883 Das entspricht sehr gut dem, was Hesiod gut sechshundert Jahre früher für Askra in­ Böotien berichtet. 884 Die römischerseits 59 v. Chr. seitens Caesar veranlaßte und vom römischen Senat ausge­ sprochene Benennung des Sueben-Anführers Ariovist als rex kann hier außer acht bleiben. Das war keine von Hause aus germanische Sache. Caesar weiß sonst nichts von germanischen reges. 885 Außerdem nennt Caesar an mehreren Stellen (B. G., VI, 22, 2 u. 23, 4 u. 23, 5) jenen bereits in Kap.  B. I.1.b)  erwähnten magistratus, eine von der Volks-/Heeresversammlung gewählte Führung (nur) für den Kriegsfall, für den ganzen Stamm oder eine noch größere Einheit, die (der ganze Stamm oder die noch größere Einheit) zu Friedenszeiten als Ganzes nicht in Erscheinung trat. Außer der Führung im Krieg oblagen diesem magistratus, zusammen mit den principes, die Zuweisungen – Caesar sagt: für jeweils ein Jahr (aber da ist vieles unklar) – von Ackerland, offenbar im Zuge der Landnahme, wobei zu beachten bleibt, daß der Ackerbau im Vergleich zur Viehwirtschaft bei den Germanen nur geringere Bedeutung hatte (B. G., VI, 22, 1 u. VI, 35, 6). 886 Mehr speziell ist der Terminus praepositi (Germ., 30): Anführer, die die Germanen, hier die Chatten, sich für den Kriegszug per Wahl „voranstellten“, Anführer, die, wie wir von Taci­ tus (Germ., 7) hören, Befehle geben konnten, tatsächlich aber mehr durch ihr Beispiel bewirkten.

V. Annex zu den historischen Teilen

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Beide Begriffe bezeichnen vom Wortstamm her „die Ersten“, im Sinne der im Gemeinwesen Rang-Ersten (über „Rang“ siehe weiter unten). In einem Fall (Historien, 5, 25) sagt Tacitus proceres (von procedo, hier im Sinne von „hervortreten“, „nach vorn kommen“, „hervorragen“). Anders als Caesar spricht Tacitus, und zwar an vielen Stellen, auch in bezug auf Germanen von nobilitas und nobiles, zweifellos damit sich seine Leser eine gewisse Vorstellung auf dem Weg der Analogie mit der römischen nobilitas sollten machen können, die ihrerseits freilich längst ein Adelsstand geworden war, den es bei den Germanen aber noch nicht gab, wie wir wissen. Neu ist zur Zeit des Tacitus folgendes. Die mittlerweile zahlreich gewordenen kriegerischen Auseinandersetzungen zur Landnahme und die Beutezüge hatten Konsequenzen gehabt. Zum einen stieg das Ansehen der Anführer mit dem Erfolg (siehe auch Kapitel B. V.6.b)); zum anderen sind bei der Verteilung des neugewonnenen Landes diejenigen, die mehr dignatio (Ansehen, Würde, Rang) be­saßen, besonders berücksichtigt worden (Germ., 26, wo Tacitus, wie wir schon aus Kapitel B. I.1.b) wissen, allerdings auch anmerkt, daß Boden im Überfluß vorhanden war); bei kriegerischen Auseinandersetzungen und Beutezügen sind, drittens, nicht nur Sachen, sondern auch Menschen „Beute“ geworden, weshalb es nach und nach auch in germanischen Gemeinwesen Unfreie (servi) gab, die aber, anders als bei den Galliern der Zeit Caesars (siehe oben), wo das ganze Volk den nobiles „annähernd versklavt“ war, erstens zahlenmäßig weniger ins Gewicht fielen und zweitens, als zwar Unfreie, doch eine andere Rechtsstellung hatten als die servi in Rom; sie hatten nämlich als sozusagen Pächter nur eine festgelegte Menge an Getreide, Vieh und Kleidungsstücken abzuliefern und wirtschafteten im übrigen für sich. Dennoch bedeutet der Umstand, daß es jetzt nennenswert Unfreie in – wenn auch beschränkt – Abhängigkeit von vornehmen Germanen gab, qualitativ eine Änderung. Das Ansehen jener „Vornehmen“ im Gemeinwesen konnte auf verschiedene Weise aus der Herkunft stammen, etwa aus großen Verdiensten, die die Väter für das Gemeinwesen erworben hatten (Germ., 13), oder Tacitus verweist überhaupt auf eine „berühmte Herkunft“ („claritate natalium insigni“), hier des Brinno aus dem Stamm der Canninefaten, Nachbarn der Bataver im Rhein-Delta und in den Bataveraufstand verwickelt (Hist., 4, 15). Wenskus (1961, S. 314–318) hat zum Verständnis frühgeschichtlicher germanischer Verhältnisse auf den von Stegmann (Wenskus, S. 314 f.) geprägten Terminus der „Vorrangordnung“ zurückgegriffen. Das führt weiter, wenn wir die unglücklichen Implikationen887 weglassen. Außerdem ändern wir den (bei Stegmann un 887 Wenskus meint (S. 315): „Tatsächlich haben bereits die Glieder primitiver ‚egalitärer‘ ungeschichteter Gemeinschaften ihren festen Platz in der Vorrangordnung ihrer Gruppe“, und dies „analog zu der ‚Hackordnung‘ gesellig lebender Tiere“. „Egalität“ ist kein Frühphänomen „primitiver“ Systeme. Der Begriff Hackordnung taugt vielleicht etwas in der Zoologie, in den Humanwissenschaften ist er dubios.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

glücklichen) Sprachgebrauch. Es genügt, wenn wir „Rangordnung“ sagen; in dieser steckt bereits „vor“ und „nach“. Wenskus (S.  316) bringt die Belege für die besondere Bedeutung der Rang­ ordnung in den germanischen Gemeinwesen. Ich gebe sie wieder: „Die Aufnahme in die Hundertschar galt als Rangerhöhung“ („et quod primo numerus fuit, iam nomen et honor est“; Tac., Germ., 6). „Innerhalb der Gefolgschaft herrscht ein Wetteifer um die Rangstellung“ („gradus quin etiam ipse comitatus habet, iudicio eius quem sectantur; magnaque et comitum aemulatio, quibus primus apud principem suum locus“; Germ., 13), aber auch – das möchte ich noch anfügen – der Rang des Anführers hängt davon ab, wie zahlreich und mutig seine Gesellen sind (ebenda). „Bei der Landnahme wird der Boden secundum dignationem verteilt“ (Germ., 26), also gemäß Rang und Würde. „Auch die Bastarnen888 forderten von Perseus von Makedonien gestaffelte Bezüge für ihre Kriegsdienste: hi pacti erant eques denos praesentes aureos, pedes quinos, mille dux eorum“ (Livius, 44, 26). „Bezeichnend für das Rangbewußtsein germanischer Fürsten ist das Verhalten jener zwei Friesenkönige in Rom, von dem Tacitus ann. XIII 54 berichtet“, worauf ich ebenfalls nur verweise. „Auch innerhalb des Adels [wie Wenskus ja mangels Anderem meint sagen zu müssen] gab es Rangunterschiede. Der Angehörige des königlichen Geschlechts stand anderen Adligen voran: quando nobilitate ceteros anteiret [Tac., Ann., XI, 17] sagt Italicus von seinem Geschlecht.“ Das ist eindeutig und ebenso das, was Wenskus (S. 317) über das Fortwirken des Rangordnungsdenkens im Mittelalter bringt. Bei Wenskus (S.  314 f.) kehrt in bezug auf frühgermanische Systeme im Zu­ sammenhang seiner Überlegungen über die Bedeutung der Rangordnung etwas wieder, das wir in bezug auf die frühgriechischen Gemeinwesen in einem anderen Zusammenhang – es ging dort um das Wesen des politischen Systems – schon kennen (Kapitel B. I.8.), nämlich daß vom Herrschaftsgedanken her dem Wesen des Politischen nicht beizukommen ist. Wenskus sagt (S. 314), zwar sei in der Mediävistik das „stark entwickelte ‚Gefühl für Rang und Würde‘ in seiner Bedeutung für die Verfassung des Mittelalters  … nicht völlig unbeachtet geblieben“, und er erwähnt Mitteis und Tellenbach. Nicht weiter aufgefallen sei aber, daß ein System, das wie jene germanischen durch die Rangordnung seiner Glieder charakterisiert ist, sich n i c h t mittels der Begriffe Herrschaft und Genossenschaft bestimmen lasse. Wir können auch so sagen: Die frühgermanischen Systeme waren eben nicht, wie Dannenbauer dann meinte, durch (Adels- bzw. Königs-)Herrschaft gekennzeichnet, aber genausowenig waren sie, wie Waitz es etwa hundert Jahre vorher postuliert hatte, genossenschaftlich (oder sozusagen egalitär-demokratisch). Auf beiden Seiten passen die Begriffe nicht auf die historische Wirklichkeit der Zeit, die in Frage steht.

888 Ein ostgermanisches Volk, das zur Zeit des letzten makedonischen Königs, Perseus, in dessen Krieg mit dem römischen Reich Kriegshilfe geleistet hat (2. H. 2. Jh. v. Chr.).

V. Annex zu den historischen Teilen

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Daß ein Gemeinwesen durch „Rangordnung“ strukturiert ist, heißt: Verschiedenheit (und gerade nicht Gleichheit) gilt für ausgemacht, für erforderlich und selbstverständlich. Adel setzt zwar Verschiedenheit voraus – diese ist die Wurzel von jenem –, aus der Anerkennung von Rangordnung aufgrund von Verschiedenheit bei den Gliedern des Gemeinwesens folgt aber keineswegs zwangsläufig die Herausbildung eines Adelsstandes. Im übrigen ist inzwischen geläufig, wie man der Entwicklung auf „ständestaatliche“ Systeme hin einen Riegel vorschieben kann. – Wenskus (S. 315) meint, der Gedanke des Vorrangs sei „überhaupt rational schwer zu erfassen, und dies mag mit ein Grund dafür sein, daß im Gefolge der Aufklärung der Adel in seiner staatsrechtlichen Stellung angefochten wurde und sich das antike Schema Monarchie : Aristokratie : Demokratie in den Gegensatz Monarchie : Republik verwandelte. Um den Vorrang zu kennzeichnen, muß man Begriffe anwenden, die in sich logisch widerspruchsvoll sind. Das bekannteste Beispiel ist die gerade in unserem Zusammenhang vielbenutzte Wendung primus inter pares, deren Formulierung einer der vergeblichen Versuche ist, diese Erscheinung begrifflich zu erfassen, und die erst unternommen wurde, als die … Rangordnung nicht mehr selbstverständlich war, sondern eine Reflexion hervorrief, indem man sich der Tatsache bewußt wurde, daß die alte889 Forderung nach Gleichheit damit unvereinbar war. Die Irrationalität des Vorrangs hat wohl darin ihren tiefsten Grund, daß er letzten Endes auf charismatischen Vorstellungen beruht.“

Daß Rangunterschiede offensichtlich aus Verschiedenheiten bei den Gliedern des Gemeinwesens resultieren, ist, für sich genommen, noch keineswegs irrational, aber die frühen Versuche, sich vorzustellen, was sich hinter den Unterschieden verbergen könne, hatten offenbar etwas Irrationales, und diese Vorstellungen waren wohl auf Charismatisches fixiert (dazu siehe das folgende Kapitel). Es ist aber auch nach und nach bemerkt worden, daß manches von „Art, Wesen, Natur“ derer, die im Gemeinwesen herausragten, „vor-nehm“, d. h. sozusagen „nach vorn genommen“, waren, aus ihrer Abstammung, aus ihrer Herkunft resultierte und oft wiederkehrte. (Das führte dann in vielen Fällen, in denen charismatische Befähigungen vermutet/geglaubt/behauptet worden sind, zur Postulierung von „Erb-/Gentil-Charisma“ bzw. „Sippenheil“; auch dazu mehr in B. V.4.b).) Damit sind wir an den Anfang zurückgekehrt und können mit Wenskus (Adel, 1973, S.  60)  – wenn e r den Begriff Adel, obwohl eigentlich nicht passend, nolens volens doch verwenden will – sagen, es sei „jene Schicht gemeint …, die

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Die Formulierung ist unklar. Wir erfahren nicht, wer die – angeblich – „alte Forderung nach Gleichheit“ erhoben hat. Aber abgesehen davon, jedenfalls ist die Forderung tatsächlich in vergleichsweise später Zeit erhoben worden. Für Griechenland siehe Kap. B. I.8., für die aus dem germanischen Mittelalter entstandenen Systeme datiert sie ins Zeitalter der Au­f klärung, mit ersten Ansätzen wenig davor.  – Anders als hinsichtlich der Forderung auf Herbeiführung tatsächlich fehlender Gleichheit verhält es sich mit den Aussagen über – angeblich – IstZustände. Hier ist das behauptete Alter sehr hoch – es liegt in frühen Entwicklungsstufen der Menschheit –, diese Aussagen (die bekannteste gehört zum Historischen Materialismus) sind jedoch wissenschaftlich nichts wert, weil spekulativ.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

von Geburt dazu bestimmt war, die Führungskräfte des Gemeinwesens zu stellen, ohne daß von vornherein ein ständischer Abschluß nach unten mitgedacht werden muß“. (Sehr deutlich zum Thema z. B. auch Borst, S. 527.) Während es bei den Franken zwar Rangunterschiede, aber, anders als bei den Sachsen, keinen Adelsstand gab, hat das Frankenreich schon der Merowinger, besonders aber der Karolingerzeit einen neuen Dienst- bzw. Amtsadel des Reiches geschaffen und ausgebaut zur „Reichsaristokratie“ des 8. und 9. Jahrhunderts, aus befähigten Unfreien rekrutiert, die dann dem König verpflichtet waren. Ihre Aufgabe war die Durchsetzung der fränkischen Reichsverwaltung in dem sich nach und nach weiter nach Osten, zunächst, ab 6. Jh., über den alamannischen Siedlungsraum, später auch den der Friesen, Thüringer, Bayern und Sachsen ausdehnenden Frankenreich (siehe in B.II.1.a), Text mit den Indices 409–417, betr. Grafen und Grafschaftsverfassung, dazu in B.II.1.c) Absatz 10). Eine deutsche Besonderheit im Mittelalter in bezug auf Adel ist die aus der Ministerialität (siehe Kapitel B.II.1.a), Text zwischen den Indices 480 und 492) stammende „Reichsritterschaft“ (Rödel, S.  118–127). Kurzzeitig Höhepunkt und zugleich Ende der historischen Bedeutung der Reichsritterschaft war, in einem komplexen Feld (auch konfessioneller Auseinandersetzungen und von daher mitbestimmter Interessen des Kaisers), die „Sickingen-Fehde“ von 1522/23 des Franz von Sickingen und seiner Verbündeten gegen die immer stärker werdende Territorialfürstenherrschaft. Im Heiligen Römischen Reich sah die ständische Gliederung des Adels so aus: Zum Hochadel gehörten der Reichsfürstenstand und die anderen adligen „Reichsstände“. Reichsfürsten waren der König/Kaiser und zum einen die „geistlichen Fürsten“ (geistliche Kurfürsten mit Königswahlrecht, nämlich die Erz­bischöfe von Trier, Köln und Mainz, die anderen Erzbischöfe, Bischöfe, Fürstäbte, Fürst­ äbtissinnen, Fürstpröbste, der Hoch- und Deutschmeister, der Johanniter­meister), zum anderen die „weltlichen Fürsten“ (die weltlichen Kurfürsten mit Königswahlrecht – anfangs Wechsel in der Zusammensetzung –, die Herzöge und die „Herzogsgleichen“, nämlich die Markgrafen, z. B. die von Brandenburg, die Pfalzgrafen, z. B. die von Burgund, und die Landgrafen, z. B. die von Hessen); zu den anderen (adligen) Reichsständen gehörten die gefürsteten Prälaten (Äbte und Pröbste), die gefürsteten Grafen, z. B. die von Nassau, und die Reichsgrafen. Den „Niederadel“ bildeten die Reichsritter als ebenfalls „Reichsunmittelbare“, d. h. als solche, die unmittelbar dem Reich, dem König/Kaiser unterstanden, und die „Landsässigen“, d. h. diejenigen, die nicht reichsunmittelbar, sondern einer Landesherrschaft unterworfen waren (die landsässigen Grafen und die Freiherren). Die adligen (geistlichen und weltlichen) Reichsstände als Gliedgemeinwesen des Reiches und die republi­ kanischen Reichsstände (die Freien u. Reichsstädte, d. h. diejenigen Städte, die „reichsunmittelbar“ waren, also nicht unter Landesherrschaft standen) repräsentierten zusammen und zusammen mit dem König/Kaiser das Reich und bildeten den Reichstag. Dieser war zum einen die Vertretung der Reichsstände gegenüber

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dem König/Kaiser, er hatte zum anderen ab Spätmittelalter u. a. Kompetenzen beim Abschluß von Verträgen, bei der Erhebung von Reichssteuern (z. B. „Türkenschatzung“), bei Verfassungsänderungen, Kriegserklärung und Friedensschluß. Im Hochmittelalter waren die sogenannten lehensrechtlichen Bindungen im Heiligen Römischen Reich (abgestuftes System in einem hochkomplexen Gebilde) besonders wichtig, was ich aber, ebenso wie das Folgende, nicht im einzelnen beschreibe (zum Lehnswesen siehe Kapitel B.II.1.a), Fußnote 391). Ab Spätmittelalter und immer mehr in der Neuzeit haben die in den sich herausbildenden Territorialstaaten im Heiligen Römischen Reich regierenden Fürsten den nichtfürstlichen Adel unter ihre Territorialherrschaft zu bringen versucht und auch tatsächlich weitgehend unterworfen. Der Untergang des Heiligen Römischen Reiches, 1806 im Zuge der napoleo­ nischen Kriege, brachte für den Adel Veränderungen, unter anderem eine – weitgehend – Beseitigung der Adelsprivilegien. Unbeschadet dieser Veränderungen war der Adel im „Zweiten Kaiserreich“, ab 1871 und bis zum Ersten Weltkrieg, immer noch d i e Führungsschicht, allerdings zunehmend – jedenfalls im ganzen – verkrustet und immobil. – 1918 sind die Vorrechte des Adelsstands in den Staaten der „Mittelmächte“ ganz abgeschafft worden. Im Deutschen Reich blieben lediglich namensrechtlich die Adels-Titel be­ stehen, in Österreich auch diese nicht. Sehr früh hat dagegen der Adel in der Schweiz seine Vorrechte verloren. Ende des 14. Jh. war in der Ostschweiz, in der 1. H. des 15. Jh. auch im Westen der letzte „Feudalbesitz“ verschwunden. Mit der Ablösung der schweizerischen Kantone vom Heiligen Römischen Reich, faktisch schon 1499, wenn auch de iure erst mit dem Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Kriegs, 1648, verlor der Reichsadel seine Standesprivilegien. In Frankreich ist mit der Stärkung der Zentralgewalt (im kapetingischen Königtum ab Ende des „Hundertjährigen Krieges“ gegen England, danach unter der absolutistischen Herrschaft der Bourbonen-Könige) die Bedeutung des Adels, anders als im Heiligen Römischen Reich, sehr zurückgegangen, sehr zurückgedrängt worden; in der Mitte des 17. Jh., parallel zur Steigerung des Einflusses Frankreichs in Europa zu Ende des Dreißigjährigen Krieges, war der Widerstand des alten Adels in Frankreich gegen die absolutistische Herrschaft der Zentralgewalt gebrochen. 1789, mit der Französischen Revolution, mußte der (alte)890 französische Adel auf alle Vorrechte und Titel verzichten. Dennoch blieb der Adel in Frankreich 890 Ab 1804 hat Napoleon I. allerdings, und sehr üppig, einen Neuadel geschaffen, bei weitem nicht nur, aber nicht zuletzt zugunsten seiner großen Zahl von Verwandten. (Nur nebenbei: Einen recht witzigen literarischen Niederschlag hat das z. B. bei Theodor Fontane in „Der Stechlin“ gefunden, dort, wo die junge Frau von Stechlin auf der Italienreise vom Trasimenischen See schreibt; in: Die Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 53 (1979/1982), S. 436.)

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nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft (mit gewissermaßen Wechselsituationen, so vor allem um 1848), obwohl er keine Vorrechte mehr besaß, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts de facto doch dominierend. b) Charisma, „Heil“; Erb- oder Gentil-Charisma, Sippenheil Griech. chárisma  = Gnadengabe, Gunstbezeugung, Geschenk, gehört in den Zusammenhang von chaírō = sich freuen, vergnügt sein, und von cháris = Anmut, Liebreiz, Liebenswürdigkeit. Das kann sich beziehen auf erstens körperliche Schönheit; zweitens auf die Gesinnung: Wohlwollen, Geneigtheit, Huld; drittens auf die Handlung der Gunst oder des Wohlwollens, also auf die Gunstbezeugung oder Wohltat. So heißt chárin Diós: durch Zeus’ Gnade und Gunst (Pape, II, S. 1338) . Im christlichen Verständnis (Paulus, 1. Kor. 12–14) ist Charisma eine vom Menschen nicht herbeizuführende, auch nicht durch Sakramente zu vermittelnde Einwirkung des Geistes Gottes, die dem Charismatiker, also dem, dem Charisma zugeschrieben wird, Weisheit, Erkenntnis, Heilungsgabe, prophetische Rede und die Gabe zur Unterscheidung zwischen bösen und guten Geistern verleiht. Im griechischen Verständnis ist Charisma auch die von Menschen vermutete Verbindung eines Charismatikers allgemein mit schicksalbestimmenden „Mächten“, nicht etwa nur Zeus’ Gnade. Überhaupt sind nicht objektive, sondern dem Charismatiker von seinen Anhängern, etwa seinen Gefolgsleuten im Krieg, subjektiv zugeschriebene Eigenschaften charakteristisch. Bei den Griechen sind „Erfolge des Basileus891  … ein Zeichen göttlichen Segens, und die hierin sich manifestierende Nähe des ‚Königs‘ zu den Göttern garantiert auch das Wohlergehen des Volkes (Od. 19,  109–114). Dynastische Nachfolge und Statusvererbung begründen ein Erbcharisma, die Bindung des Heils an das Herrscherhaus; denn für die Position des führenden Basileus wird eine Art Erbfolge anerkannt, die auf dem genealogischen Status seiner von Heroen und damit letztlich von den Göttern abstammenden Vorfahren [siehe Kapitel B. V.5.a)] basiert. Ausdruck dieser Sonderstellung ist auch die Kenntnis der ‚richtigen Normen‘ (thémistes), die das Gemeinschaftsleben regeln und dem Basileus durch die göttlichen Mächte vermittelt werden. Sein Charisma wird bestätigt und gesteigert durch Kriegsglück, das zu weiterer Stärkung seines Einflusses führen kann“ (Welwei, S. 81).

Auch die Perser sahen diese Dinge im wesentlichen ebenso. Jene besondere von den Göttern geschenkte Kraft hieß dort Chvárenah = Lichtglanz, der „den rechtmäßigen König auszeichnete und [auch] zu seinem Amt befähigte“ (Ernst Meyer, Einführung, S. 52). – Wir besitzen einen Ausdruck, der eine gewisse Ähnlichkeit mit „Lichtglanz“ hat. Wir sagen, eine bestimmte Person – was heutzutage zwar nicht nur auf Staatsmänner, aber doch nicht zuletzt auf sie bezogen wird – besitze 891

Zu „basileus“ s. Kap. B. I.1.a), Fußn. 34.

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„Ausstrahlung“.892 Solche „Ausstrahlung“ erhöht die Chancen bei einer Kandidatur vor einer Wahl. (Der Begriff der „charismatischen Persönlichkeit“ wird da­ gegen inzwischen bei uns kaum noch gebraucht, aus Gründen, die sich aus dem letzten Absatz dieses Kapitels ergeben.) Die Germanen kannten den Sachverhalt, der bei den Griechen Charisma hieß, ebenfalls. In den germanischen Sprachen  – aber auch in anderen indogermanischen Sprachen gibt es Verwandtes – gehen die Begriffe, auf die es hier ankommt, auf eine Wurzel zurück, aus der schließlich  – ich kürze das hier ab  – „Heil“ und „heil“ stammen. Die Substantive in den germanischen Sprachen haben Be­ deutungen wie „Glück“, „günstiges Vorzeichen“, „gute Vorbedeutung“, die germa­ nischen und andere indogermanische Adjektive bedeuten „ganz“, i. S. von „unversehrt“, „gesund“, „vollständig“ und ebenfalls „von guter Vorbedeutung“ u. ä.; gotisch „hails“ und altpreußisch „kails“ sind jeweils Trinkgruß und Gegengruß (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 309, bei „heil“ und „Heil“, dazu S. 310, bei „heilig“). Für „Heil“ (und „Heilkraft“) als legitimierende Vermögen hat der dänische Hi­ storiker Grönbech (51954, Bd. I, der deutschsprachigen Ausgabe) in seinen Kapiteln „Heil“ (S. 135–162) und „Heil als Leben der Sippe“ (S. 163–182) auf der Basis einer sehr großen Zahl konkreter Beispiele vor allem aus nordischen, aber auch aus anderen frühgermanischen Gemeinwesen je eine Gesamtdarstellung gegeben. Ich verweise auf sie und bringe hier nur dies: Die legitimierende Kraft oder Gabe tritt zwar besonders, aber doch nicht nur als „Sieges-Heil“ (sigrsæli) auf, das in Zeiten, in denen kämpferische Ausein­ andersetzungen eine so große Rolle spielten, sehr wichtig war, wir kennen zumindest aus dem nordgermanischen Bereich aber auch Begriffe wie (neuhochdeutsch formuliert:) „Ernte-Heil“893, „Vieh(zucht)-Heil“893, „Wetter-Heil“893. Solches „Heil“ wurde Menschen zugesprochen, denen die Ernte fast immer gut geriet, die Tiere fast immer gediehen, die – so widrig die Bedingungen kurz zuvor noch ge­wesen waren –, wenn es drauf ankam, den Wind zum Segeln immer von der richtigen Seite hatten. Von „Mannheil“ war die Rede, wenn jemand besonders gut mit Menschen umgehen konnte und umgekehrt der Freundschaft und Hingabe anderer teilhaftig war. „Ein König ohne Kriege mochte zu den Ausnahmen gehören, aber er sollte friðsæll, friedmächtig, in dem Sinne sein, daß er den Kampf außerhalb der Grenzen 892

Solche Art „Ausstrahlung“ ist ganz besonders Kaiser Friedrich I. von Staufen („Barbarossa“), aber auch seinem Enkel, Kaiser Friedrich II., zugeschrieben worden. 893 In diesen Fällen (jmd. war ársæll, jmd. hatte fésæll, jmd. war byrsæll) sind die anord. Wörter von im Wortstamm anderer Herkunft (nicht wie „heil“), aber ähnlicher Bedeutung (Grönbech, Bd. I, S. 135 f.). Der Stamm ist sæll (glücklich, glückhaft) von germ. *sǣli- (idg. Wurzel *sel- = günstig, guter Stimmung), aus welchem Zusammenhang auch unser nhd. Wort selig kommt (Kluge/Götze, 16 Aufl., S. 718; vgl. mit Kluge, 22. Aufl., S. 666). – Jenseits der Wortbildungen, wohl aber vom Inhalt, von den Vermögen her bietet die erwähnte „Odyssee“Stelle (19, 109–114) eine gute Parallele.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

hielt oder jedenfalls verhinderte, daß er die Felder verheerte“ (Grönbech, Bd. I, S. 140). – Zum „Heil“, dann nicht als Heilkraft, die der charismatischen Persönlichkeit innewohnt, verstanden, sondern als das Heil, das diese dem Gemeinwesen brachte, als sozusagen Ergebnis, siehe Kapitel B. V.6.b). Die Heilkraft eines herausragenden Menschen äußerte sich auch darin, daß „seine Wunden leichter und vollständiger heilten“ (S. 139), in vielen Fällen, z. B. im nordischen Bereich, aber auch für Merowingerkönige, wird von der Fähigkeit berichtet, andere zu heilen. Die Heilkraft konnte auch mit Geschenken an andere weitergegeben werden. Wenn etwa ein Jüngling in eine  – gelehrt  – sogenannte Gefolgschaft aufgenommen war und schließlich seine Tüchtigkeit bewiesen hatte, gelangte er in den Kreis der bewährten Krieger. Der Anführer verlieh ihm dann Waffen, Roß, auch Kleidung und Ringe. Mit diesen Gaben ging nach germanischer Vorstellung das Heil des Herrn auf den Beschenkten über; d. h., die Geschenke erhöhten die Heilkraft auch des Beschenkten. Regelmäßig ruhte in der Vorstellung germanischer Völker und Stämme die Heilkraft nicht nur auf dem Einzelnen, sondern auf dem Geschlecht, auf der Sippe. Die Heilkraft galt als sozusagen erblich/vererblich. Im folgenden Kapitel knüpfe ich daran an. Zuvor, zum Abschluß dieses Kapitels, bringe ich einen uns zeitlich noch recht naheliegenden Aspekt unseres Themas. In der Theorie der Politik zu Anfang des 20. Jahrhunderts, bei Max Weber, hat das Thema „charismatische Persönlichkeit“ eine besondere Rolle gespielt.894 Weber war der Meinung gewesen, wenn die traditionale Herrschaft, die auf dem Glauben an die Heiligkeit altüberkommener, von jeher gegebener Ordnungen beruhe (S. 167), und wenn auch legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab (S. 160) tatsächlich oder vermeintlich versage, werde die Hinwendung zu charismatischen Persönlichkeiten zunehmen. Unter „Charisma“ verstand Weber „eine als außeralltäglich (…) geltende Qualität einer Persönlichkeit  …, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäg­ lichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird“ (S. 179). „Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten.“895 (ebd.; eckige Kl. im Orig.)

Theodor Schieder (Geschichte als Wissenschaft, S. 179) hat sich dazu 1965 geäußert: „Eine besondere Anfälligkeit unserer Zeit für solche charismatische Herrschaft deutet Weber nur an; aus seiner in seinen politischen Schriften erhobenen Forderung nach plebis­ 894

Hier gem. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, erster Halbband (Köln/ Berlin 1964). 895 Ähnlich an anderen Stellen. Ich nenne aus der ebenfalls weitverbreiteten 4. Auflage der Originalausgabe (Tübingen 1956), Bd. II, S. 552.

V. Annex zu den historischen Teilen

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zitärem Führertum und ihm Raum gewährenden Verfassungsformen kann man indessen folgern, daß er aus der Analyse der strukturellen Bedingungen der modernen Zeit zu der Überzeugung von dem Sprung in plebiszitär-charismatische Herrschaftsformen gelangt ist“,

aber auch, daß Weber – dieser ist 1920 gestorben – „die Erfahrungen mit den modernen Formen ‚charismatischen Führertums‘ [Mussolinis, besonders Hitlers, des, wie es hieß, „von Gott/von der Vorsehung gesandten Führers“, dazu Stalins] und der in ihrem Zeichen geübten Gewaltherrschaft“ nicht mehr gemacht hat. „Auch die volle Entwicklung der Herrschaft Lenins erlebte er nicht mehr.“ Sehr differenziert beurteilt Dux (S. 270–281) Max Weber in diesem Zusammenhang. c) „Geblütsrecht“ (dazu: Designation); Erblichkeit/Erbrecht Wenn, wie wir aus dem voranstehenden Kapitel wissen, Gentil-Charisma, Sippenheil für gegeben angenommen wird, liegt es nahe, die im Gemeinwesen Führenden wiederholt (bis: immer wieder) aus demselben Geschlecht, derselben Sippe oder – wie es erst ab der Neuzeit (Grimm, Wb., Bd. 4, Sp. 1796 ff.) in gelehrter Sprache heißt – aus demselben „Geblüt“ zu nehmen. Auch ohne das moderne Wort „Geblütsrecht“ bestand entsprechend umgekehrt schon spätestens seit der Völkerwanderungszeit bei vielen germanischen Völkern und Stämmen ein Anrecht der Blutsverwandten der führenden Familie, daß einer von diesen die Nachfolge antrat bzw. daß – anders als im Fall der „freien Wahl“ (zu „Wahl“ siehe Kapitel B. V.9.) – einer von diesen ausgewählt werden konnte, aber eben einer von diesen. Der für die Entwicklung des Abendlands wichtigste Fall von „Geblütsrecht“ war der des merowingischen Frankenreichs. In ihm gab es auch immer wieder Teilungen des Reichs unter mehrere896 Angehörige der Merowinger-Familie, oft ohne Realisierung eines Auswahlrechts, bei allerdings, zumindest der Idee gemäß, nicht bestrittener Regierung des Ganzen „zur gesamten Hand“. Die Ablösung der Merowinger (nicht nur in Regierung und Verwaltung des Frankenreichs bzw. jeweils von Teilen des Reichs während rund 150 Jahren durch die „Pippiniden“ = „Arnulfinger“ = (später) „Karolinger“ als Hausmeier, sondern schließlich auch) in der Königswürde hat im Hinblick auf das Geblütsrecht eine ganz besondere Neukonstruktion gebracht. Den Karolingern, als vornehme Familie nicht mehr angesehen als andere auch, fehlte die mit dem Untergang der Merowingerkönige verlorengegangene heidnisch-germanische sozusagen Heiligung. Sie ist (siehe Kapitel B. V.5.b)) durch eine christliche Sakralisierung der Königswürde ersetzt worden. Praktisch parallel dazu kam es zu einem für unser Thema „Geblütsrecht“ wichtigen Vorgang. Bei Wilhelm Treue (S. 45) ist er ganz kurz, für unsere Zwecke zureichend, zusammengefaßt. Nachdem der Hausmeier 896 Kriegerische Auseinandersetzungen und Morde haben, wie schon erwähnt, nicht selten die Zahl verringert.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Pippin (III.) auf einer fränkischen Reichsversammlung 751/752 zum fränkischen König Pippin (I.) gewählt, vom päpstlichen Legaten Bonifaz gesalbt und der (degenerierte)  letzte Merowingerkönig, Childerich  III., als „Scheinmerowinger“ aus dem Königsamt entfernt und in ein Kloster verbannt worden war, wozu Papst Zacharias seine Zustimmung gegeben hatte, hat König Pippin umgekehrt dem Papst, der (gemeint ist: das Gebiet, das später Kirchenstaat genannt wurde) von den Langobarden bedroht war, Hilfe zugesagt (Einzelheiten siehe Kap. B.II.1.a)). Daraufhin  – und nun kommt das für uns Relevante  – „salbte der Papst in St. Denis erneut Pippin und [jetzt] auch dessen Söhne – wobei er deutlich werden ließ, es handle sich um die Erhebung nicht einzelner, sondern einer Königssippe, um die Übernahme der germanischen ‚Geblütsheiligkeit‘ [also des Sippenheils] des Königtums ins Christliche“. Ich übergehe jetzt die Entwicklung des Frankenreichs zur Karolingerzeit, die Auseinander-Entwicklung (nach Teilungen) in ein Westreich (später „Frankreich“), in ein Mittelreich (mit den beiden Lothringen, mit Burgund und mit Oberitalien und, von Italien (Rom) her, mit der Kaiserwürde), das dann in der Hauptsache, einschließlich der Kaiserwürde, mit dem Ostreich verbunden blieb, sowie in dieses Ostreich selbst (später Deutsches Reich)897 und gehe gleich über zum Aussterben der Karolinger im Ostreich, 911. Dieses Ereignis war in bezug auf das Geblütsrecht von Bedeutung: Nachdem es also im Ostreich keine Karolinger mehr gab, „wähl[t]en die Großen [des Ostreichs] nicht den französischen Karolinger Karl den Einfältigen, sondern … einen Angehörigen des deutschen Frankenstammes: … Konrad I. von Franken“ (Kienast, S. 537) zum deutschen König, der von 911–918 regierte. Nach dem „Aussterben der alten Dynastie [der Karo­ linger im Osten] tritt das Geblütsrecht (…) zurück. [Ferner:] Der [frei] gewählte König hat kein privates Eigentumsrecht [mehr] am Reich wie Merowinger und Karolinger. [Und das bedeutet außerdem:] Infolgedessen ist das [Ost-]Reich fortab unteilbar“ (S. 538). Konrad I. hat vor seinem Tod, 918, in Ansehung des Umstands, daß er in seinem eigenen Geschlecht für die Zukunft kein Heil mehr erkennen konnte, darauf verzichtet, für seine Sippe ein Geblütsrecht zu begründen, statt dessen den Sachsenherzog Heinrich zu seinem Nachfolger „designiert“. Designation ist nicht eine unverbindliche, sondern eine (auch in solchem Fall immer noch) mit dem Ansehen der Königswürde verbundene und deshalb mit Gewicht ausgestattete Empfehlung. (Zur Designation, die, anders als hier, normalerweise darauf gerichtet war, im Rahmen des bestehenden Geblütsrechts schon vor einer Wahl seitens der Für­ sten möglichst zugunsten einer bestimmten Person aus der eigenen Sippe vorab zu entscheiden, siehe auch weiter unten.) Der Sachsenherzog Heinrich (aus dem Geschlecht der „Liudolfinger“, später „Ottonen“ genannt) ist dann auch von den Stämmen der Franken und Sachsen zum König, als Heinrich I., erhoben worden 897 Näheres hierzu und auch zu dem im folgenden gleichfalls nur abgekürzt Genannten siehe B.II.1.a).

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und hat später auch die Anerkennung der anderen deutschen Stämme erreicht. Mit den Liudolfingern/Ottonen lebte das Geblütsrecht wieder auf. Zwar hat es in Fällen der von einem Teil der Fürsten betriebenen Wahl eines Gegenkönigs immer wieder Versuche zur Durchsetzung der „freien Königswahl“, ohne Geblütsrechtsvorgabe, gegeben, so z. B. auch gegen Kaiser Heinrich IV., mit Erfolg jedoch erst etwa ein halbes Jahrhundert später, im Fall der Wahl von König Lothar III. (von Sachsen), 1125–1137, betont in Abkehr von Geblütsrecht und Designation, hier als Entscheidung gegen Friedrich II. von Schwaben, den Neffen des Saliers Heinrich V. (S. 568). Lothar III. hat dann zwar seinerseits Designation zugunsten von Heinrich dem Stolzen versucht. Tatsächlich folgte aber der Staufer Konrad III. „Die alte volksrechtliche Wahl  … [gemäß] Geblütsrecht“ wurde „endgültig von der freien Fürstenwahl [der freien Wahl des Königs seitens der Fürsten] verdrängt“ (Kienast, S. 576), als Kaiser Heinrich VI., zweitältester Sohn Barbarossas, 1197 starb. Anders im Frankreich der Kapetinger um 1200: Die Könige ließen schon zu ihren Lebzeiten den ältesten Sohn wählen und krönen. So sind Erblichkeit und auch Primogenitur in der Thronfolge zur Regel geworden. Zur Zeit Ludwigs VII. war die tradierte Königswahl nur noch Formalität, nach Philipp II. August gab es sie nicht mehr (Ganshof, S. 449; dazu Kern, S. 39 ff.). Während „Geblütsrecht“ gut zu definieren war (siehe Ende Abs. 1 in diesem Kapitel), ist „Erbrecht“ (hier nur bezogen auf die Legitimierung in Führungs­ positionen im Gemeinwesen) nicht so leicht zu bestimmen. „Erbrecht“ kann „Geblütsrecht“ definitorisch mit einschließen („Geblütsrecht ist Erbrecht, mit der Einschränkung, daß  …“), „Erbrecht“ kann aber auch, und zwar auf verschiedene Weise, konkret enger gefaßt sein. Die Art und Weise hing ab von dem, was alt-überkommen war, oder, später, wie jeweils die getroffenen Regelungen aussahen, Regelungen durch die sogenannten Hausgesetze der „regierenden Häuser“, heute, soweit es noch „regierende Häuser“ gibt, durch Verfassungsgesetze. Es konnte z. B. Erbteilung vorgesehen sein, aber auch, per Erbvertrag, eine „Erbverbrüderung“, die wechselseitig Erbrecht im Fall des Aussterbens eines „Hauses“ zu­sicherte. Die besondere Regelung „Primogenitur“ in der Erbfolge haben wir in anderem Zusammenhang (Kapitel B. V.2.a)bb)) schon kennengelernt. Es liegt ebenfalls eine Variante von Erblichkeit vor, wenn die Ämterverteilung (dort mittels Los-Entscheid) nur die Mitglieder der im Goldenen Buch der Republik Venedig eingetragenen Großen Familien berücksichtigte (siehe Kapitel B. V.7.a)). Während mindestens zwei Jahrtausende lang weithin Legitimierungen gemäß Geblütsrecht oder anderen Varianten des Erbrechts galten, spielen diese inzwischen kaum noch eine Rolle. Die wenigen heute noch „regierenden Häuser“ sind in Wirklichkeit nur noch (oder nur wenig mehr als) repräsentative Institutionen. Die tatsächlich wichtigen Führungs-Positionen in unseren Gemeinwesen im Wege

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

der Erbfolge zu besetzen, gilt als indiskutabel, weil diesem Legitimitätsprinzip die – seit der Aufklärung verlangte – Vernunftbegründung weit überwiegend fehlt. 5. Abstammung von den Göttern, Einsetzung/Berufung/Erwählung seitens der Gottheit, Gottstellvertreterschaft; kirchliche Sakralisierung; Gottesgnadentum Die in den Kapiteln von B. V.5. beschriebenen Legitimitätsprinzipien haben heute praktisch keine Bedeutung mehr. Unter systematischen Gesichtspunkten dürfen sie hier dennoch nicht fehlen. Bei den in B. V.5.a) behandelten bringe ich wenig mehr als eine kurze Bezeichnung, außerdem das Wo und Wann der Gültigkeit. Das bei B. V.5.b) Behandelte trat in einer bestimmten historischen Situation an die Stelle einer in dieser Situation plötzlich fehlenden Legitimation älterer Art. Das in B. V.5.c) beschriebene Gottesgnadentum, von der kirchlichen Sakra­ lisierung nach und nach immer mehr und schließlich ganz abgelöst, hatte immerhin noch in einer Zeit Gültigkeit, die von uns noch nicht so weit entfernt ist. a) Abstammung von den Göttern, Einsetzung/Berufung/Erwählung seitens der Gottheit, Gottstellvertreterschaft Vorweg erwähne ich nur, daß die  – von unserem Thema her gedacht  – legi­ timierende Göttlichkeit der ägyptischen Könige der Frühzeit einen mehr meta­ physischen Charakter hatte (auch wenn sich die Pharaonen als Inkarnation des Horus, des Sohnes von Isis und Osiris, verstanden). „Abstammung von den Göttern“ bei Griechen und Germanen ist dagegen mehr konkret gedacht worden. Für Interessenten an den ägyptischen Verhältnissen (Frühzeit und jüngere Entwicklungen) verweise ich auf Ernst Meyer (Einführung, S. 9–15). Für griechisches Denken war die Vorstellung, daß vornehme Familien göttlicher Abstammung waren (übrigens behauptetermaßen sozusagen „genealogisch im Detail nachgewiesen“), nicht fremd, und von daher auch nicht, daß die Glieder dieser Familien „selbstverständlich … die Anführer und Amtsträger“ in den Gemeinwesen waren (Raaflaub, S.  43). Nicht nur  – um bloß ein besonders bekanntes Beispiel zu nennen –, daß Achilleus als Sohn der Nereïde Thetis und als Urenkel des Zeus galt, die (dorischen) Könige und noch andere vornehme Familien Spartas verstanden sich als Nachkommen des Herakles (Bringmann, 1980, S. 466 f.). Die berühmtesten Fälle behaupteter/angenommener Abstammung von den Göttern bei führenden germanischen Geschlechtern werden berichtet von ost­ germanischen, ursprünglich wohl aus dem nordgermanischen Bereich abgewanderten Völkerschaften bzw. Teilen davon, so vom gotischen „Königs“-geschlecht der Amaler, aus dem auch Theoderich d. Gr. stammte, und vom im Rang ersten

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Geschlecht der Wandalen, den „Asdingen“, das, wie der Name sagt,898 seine Herkunft auf das Göttergeschlecht der Asen (mit Wotan an der Spitze) zurückführte. Es ist übrigens nicht klar, wie alt die Legende bei den Goten bzw. bei den Wandalen ist. – Auf germanische Verhältnisse, dann bei den Franken, komme ich am Anfang von Kapitel B. V.5.b) noch einmal zurück, wo es um die Konstituierung eines neuen Prinzips geht. Eine andere Form des Bezugs zur Gottheit ist die Annahme/Behauptung der Einsetzung/Berufung/Erwählung eines im Gemeinwesen führenden Geschlechts seitens einer Gottheit. Das gab es bei den (indogermanischen) Hethitern, ist von diesen zwar erst aus dem Neuen Reich (etwa 1 400 bis etwa 1 200 v. Chr.) bekannt, in dem generell orientalische Einflüsse stärker wirkten, aber weil das Königtum „als vom Hauptgott des Landes, dem Wettergott, eingesetzt“ galt (Ernst Meyer, Einführung, S. 37 f.), wird es sich wegen des Wettergotts, der, soweit ich sehe, unorientalisch ist, doch um eine indogermanische Tradition handeln. Eine Vergöttlichung des lebenden Königs gibt es bei den Hethitern ebensowenig wie bei den Griechen und später bei den Germanen. – In Babylon ist der Herrscher zwar „von den Göttern zu seinem Amt berufen, von ihnen erwählt und daher … [ihr] Sohn“ („Adoption“), aber nicht selber göttlich (S. 30 ff.) wie bei den Ägyptern. – Bei den (indogermanischen) Persern galt der „König als von dem höchsten Gott des Himmels und der Erde … berufen“ (S. 52), aber auch hier gab es keine Vergöttlichung; wohl aber zeichnete den rechtmäßig regierenden König das göttliche Charisma, das Chvárenah, aus (Kapitel B. V.4.b)). Auf die ab Caesar in Rom einsetzende Vergöttlichung, freilich normalerweise, das heißt der Idee gemäß, nur des toten(!) führenden Mannes, ab Augustus also des Kaisers, als divus weise ich nur hin (Näheres bei Ernst Meyer, Einführung, S. 221 und S. 282 f.). b) Kirchliche Sakralisierung Weil es über das hinaus, um das es jetzt in diesem Kapitel aus der Geschichte des fränkischen Reiches in der Mitte des 8. Jh. geht, damals auch eine kirchlichsakrale Neubegründung des Geblütsrechts gab, mußte ich in Kapitel  B. V.4.c) (Absatz  3) schon etwas zum historischen Hintergrund der Ereignisse um 751/ 752 n. Chr. sagen. Als die Franken auf dem (jährlich gehaltenen) Campus Martis  = „Märzfeld“ (Thing/Heeresversammlung) von 751 beschlossen, die seit fast eineinhalb Jahr 898 Die Endung -ing/-ingen (Varianten: -ungen, -angen), auch mit zwecks besserer Bindung zwischengeschaltetem Konsonanten (z. B. f, w, t und d; siehe oben), drückt die Zugehörigkeit zu dem aus, was im Namen voransteht. Auf diese Weise ist eine sehr große Zahl von Orts­ namen in germanisch besiedelten Gebieten gebildet worden (siehe z. B. in Kap. B. I.1.b) den Text nach Index 103), aber eben auch Namen von Geschlechtern.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

hunderten als Hausmeier in Teilen des Reiches, manchmal auch im ganzen Reich für die nicht selten und schließlich ganz degenerierten Merowingerkönige, zeitweise sogar ohne Könige amtierenden Arnulfinger anstelle der Merowinger zu Königen zu erheben, „war das Ungeheure und an Frevel Streifende dieser Absicht für die Empfindung der Zeitgenossen nicht … [so sehr] die Preisgabe [der Einzelperson] Childerichs III., als vielmehr der Umsturz des merowingischen Geblütsrechts. Hatten die reges criniti899 auch nie eine besondere Weihe durch die Kirche empfangen, so besaßen sie doch in der altheidnischmythischen Wurzel ihres Rechts eine übernatürliche Heiligung, die für das Volksbewußtsein damals noch mehr bedeutete … als ein Segensspruch der Kirche. Ein einzelner Merowinger konnte wohl gestürzt werden; aber dem Geschlecht Chlodovechs [Chlodwigs] rechtskräftig die Thronfähigkeit zu nehmen, dazu war kein Märzfeld imstande. Hatte man noch einige Jahre früher es zur Sicherung der abhängigen Provinzen für nötig gehalten, den längere Zeit leerstehenden Thron wieder mit einem Merowinger zu besetzen, so war jetzt nicht minder Unordnung … zu gewärtigen, wenn das Symbol der … [Reichs-]einheit, das königliche Geschlecht, verschwand und eine Sippe, die auch nicht edler war … als manches Herzogs- und Grafenhaus der Provinzen, das Reich in Besitz nahm. … Zwar verwandelte die Volkswahl [um Neujahr 752] die arnulfingische Dynastie … in eine solche des Rechts; aber dann hat [der zum König gewählte] Pippin doch noch, vermutlich durch die Hand des päpstlichen Vikars Bonifatius, …, sich die Salbung erteilen lassen. … . Sie gab der jungen Dynastie eine [neuartige] übernatürliche Beglaubigung, … . Seit diesem Tag ist die durch das politische [gemeint ist: die durch das aus der neuen Situation erwachsene] Bedürfnis der neuen Dynastie herbeigerufene Weihehandlung nicht mehr aus dem Gebrauch des abendländischen Königtums verschwunden und hat bald einen der Hauptzüge des Gottesgnadentums gebildet“ (Kern, S. 66 ff.).

„Abendländisch“ ist dabei im strengen Sinn zu verstehen, umfaßt also zeitlich nur das Mittelalter. Dieses und die „kulturelle Einheit des Abendlandes“, in Abgrenzung zur Kultur des „Morgenlands“, gingen natürlich nicht sozusagen auf einen Schlag zu Ende. Die Veränderung von „Abendland“ zu „Europa“ war selbstverständlich ein Prozeß, aber das ändert nichts an der Richtigkeit der begrifflichen Unterscheidung. Das von Kern im Zusammenhang mit dem „abendländischen Königtum“ genannte „Gottesgnadentum“ hat zwar sehr wohl eine seiner Wurzeln in der Mitte des 8. Jh., entwickelt sich im territorialstaatlich geprägten Europa der Neuzeit aber in einen Gegensatz zu jener noch mehr universalhistorisch vorhandenen „kirchlichen Sakralisierung“ hinein (dazu dann das folgende Kapitel). Die kirchliche Sakralisierung war gewissermaßen eine Hilfskonstruktion an einer bei den Arnulfingern sozusagen leeren Stelle, da, wo den Arnulfingern die heidnische Heil-igung fehlte, die für sie in jener Zeit auch nicht mehr neu zu erlangen war, besaß aber gerade im noch jungen christlichen Abendland sehr großes Gewicht: „Das junge karolingische Königtum der Franken wurde  … [nach dem Vorbild der Salbung Sauls, Davids und Salomons] an das Königtum des Al 899 Crinitus = langgelockt. Die lange Haartracht der Merowinger war das äußere Zeichen ihres königlichen Geblüts.

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ten Bundes angeschlossen und gewann eine unerhörte, weil in den biblischen Traditionen selbst wurzelnde Sakralität. Der König wurde zum ‚Gesalbten des Herrn‘ …“ (Hans K. Schulze, Vom Reich, S. 96). Die enge Verbindung des fränkischen Königtums mit dem Papsttum war auch sehr im Interesse des Papstes, zunächst zur Abwehr der Langobarden. 754/56 kam es zur „Pippinischen Schenkung“, womit der später so genannte „Kirchenstaat“ entstand – was ich aber hier nicht näher beschreibe (siehe Kapitel B.II.1.a)). Überhaupt liegt in der kirchlichen Sakralisierung der arnulfingischen Frankenkönige die Hauptwurzel für das Italien-Engagement des Frankenreiches, dann des Sacrum Imperium, dann des Heiligen Römischen Reiches sowie für das Bündnis und dann zunehmend für die Auseinandersetzungen mit dem Papsttum, für – von Heinrich IV. über Friedrich Barbarossa bis zu Ludwig dem Bayern – Inve­ stiturstreit, Suprematie-Streit und die (mittelalterliche) Auseinandersetzung über „Volkssouveränität“. c) Gottesgnadentum Ein früh, bald nach 324 n. Chr., entwickeltes Theorem vom Gottesgnadentum des Kaisers, hier Konstantins d. Gr., stammt von Bischof Eusebius von Caesarea, einem Freund des Kaisers. Für Eusebius war „Konstantin … nicht nur der Knecht Gottes, sein Herold, sein Abgesandter, das Werkzeug seiner Macht und Glorie; nicht auf Grund eines Geburtsrechts, wie es die Tetrarchen in Anspruch nahmen, ist er Kaiser, sondern von Gottes Gnaden, fast ‚ungezeugt‘ wie der Gottvater der Arianer. Auf Erden ist er vor allem das fleischgewordene Ebenbild des Gotteswortes; er verwirklicht gleich Christus das in der Schrift Verheißene, indem er zu einem Zeitpunkt in der Geschichte erscheint, der von aller Ewigkeit feststeht; seine Rolle ist die einer Vorsehung“ (Seston, S. 503).

Das, was dann im Westen Gottesgnadentum wurde, hat sich aber aus anderer Wurzel entfaltet. Darum geht es im folgenden. Dem Ausdruck Gottesgnadentum liegt die lateinische Formel Dei gratia  = „von Gottes Gnaden“ zugrunde, die Bischöfe seit dem christlichen Altertum (später auch andere Kleriker) als Bekenntnis ihrer Abhängigkeit von Gott, als Ausdruck der Bescheidenheit und Frömmigkeit ihren Titeln in Briefen und Urkunden beifügten, erstmals auf dem Konzil von Ephesus, 431. Seit Karl d. Gr. übernahmen auch die Könige „gratia Dei“ ständig als Beiwort ihres Königstitels (Kern, S. 79 f.).900 Kern (S. 43, Fn. 95) macht deutlich, wie in der frühmittelalterlichen Vorstellung die Begnadung durch Gott und die Wahl durch das Volk (später: das Volk durch seine Fürsten) miteinander verknüpft waren. „Idealgrund“ des König-

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Die theologische Rechtfertigung gibt der Römerbrief (13,1) des Apostels Paulus.

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tums ist „regelmäßig Gott“, „Realgrund … aber die Wahl: durch die Wahl gibt … Gott seinen Willen kund“. Während anfangs die arnulfingischen/karolingischen Könige ein Übergewicht über die Kirche hatten, haben die Thronwirren in der Mitte und in der 2. H. des 9. Jh. die Stellung des Königtums geschwächt und die der Kirche gestärkt. Das änderte sich zwar noch einmal in der Zeit der Ottonen – was ich ebenfalls nicht im einzelnen beschreibe. Für unser Thema von Interesse ist die (nicht bloß theoretische, sondern mit harten Kämpfen verbundene) Auseinandersetzung zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII., spät im 11. Jh., um die Investitur der Reichsbischöfe und in der Frage, ob die Kirche dem Reich übergeordnet sei und ob der Papst den König und Kaiser auf Eignung für sein Amt hin vorher zu prüfen habe (Approbation). In Abwehr der päpstlichen Ansprüche haben Heinrich IV. und seine Berater die Gott-Unmittelbarkeit des Königtums, also die Nicht­abhängkeit des Gottesgnadentums vom Papst ganz prinzipiell begründet. –901 Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Reich erreichte einen neuen Höhepunkt zur Zeit Friedrichs I. (Barbarossa), als Papst Hadrian IV. 1157 das Reich als päpstliches Lehen („beneficium“) an den Kaiser zu interpretieren versuchte und daraufhin der Kaiser und seine Kanzlei die Unabhängigkeit des Kaisertums von der Kirche noch stärker betonten mit der Feststellung, der Kaiser verdanke die Krone des Reiches nur der Gnade Gottes und der freien Wahl seitens der Fürsten. –901 Der nächste Höhepunkt liegt in der 1. H. des 14. Jh., zur Zeit von Kaiser Ludwig dem Bayern und der Päpste Johannes XXII. und Benedikt XII. Der Kaiser konnte die Eingriffsversuche der Päpste (Approbationsansprüche) zwar abwehren, aber doch nur, indem er eine Stärkung der Stellung der Fürsten zu Lasten der Stellung des Reichs in Kauf nahm. In seine Zeit fällt das Weistum des Rhenser Kurvereins von 1338, in die Zeit seines Nachfolgers Karl  IV. aus dem Haus Luxemburg (der sich als er­ster von den Italien-Ambitionen seiner Vorgänger weitgehend gelöst hat) die Goldene Bulle von 1356 (siehe Kapitel  B.II.2.a)bb)). Päpstliche Approbationsansprüche waren danach überholt und damit auch der Anspruch, über das Gottesgnadentum des Königs und Kaisers befinden zu wollen. Weil sich in Frankreich und in England schon früh – wenn ich, sehr abkürzend, so sagen darf: – Geblütsrecht in Erbrecht verwandelt hatte, hat das Papsttum dort sowieso hinnehmen müssen, daß das Gottesgnadentum der Könige vom Papst unabhängig war und blieb. 901

In den Zeiten jeweils dazwischen haben Päpste ihren Suprematie-Anspruch auch immer wieder einmal durchsetzen können. Einzelheiten dazu bringe ich nicht; es soll jedoch deutlich werden, daß der Prozeß der Loslösung der Sakralisierung des Königtums von der Kirche nicht gradlinig verlaufen ist. – Wenig später als Heinrich IV. hat dann um 1130 auch der Normannenkönig Roger II. sein sizilisches Königtum als ihm „unmittelbar von Gott“ übertragen postu­liert (Ganshof, S. 427). – Über die ersten Suprematie-Ansprüche der Kirche über das hier noch spätrömische Kaiserreich im Westen, formuliert von Bischof Ambrosius von Mailand, siehe Seston, S. 531 f. – Mehr detailliert über die Auseinandersetzungen zwischen Friedrich I. und dem Papst bei Boockmann, S. 90–97.

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Wie die Umwandlung des Geblütsrechts in – zunächst nur tatsächlich gegebenes – Erbrecht mit Primogenitur, bei Wegfall der Wahl (in Frankreich) oder bei Verkümmerung der Wahl zur bloß noch Zeremonie (im Reich), Voraussetzung für Gottesgnadentum der Geburt wurde und wie dies schon im Spätmittelalter dem Absolutismus „den Boden bereitete“, zeigt Kern (S. 39–42). Mit dem Absolutismus902 ist die Formel „Dei gratia“ bzw. „von Gottes Gnaden“ zur Kennzeichnung des unabhängigen, nur Gott verantwortlichen Regiments auch in die Titulatur der weltlichen deutschen Fürsten eingegangen und ist dort bis 1918 geblieben. Gegenbegriff zu „von Gottes Gnaden“, in Theorie und Revolution, wurde „Die Staatsgewalt geht vom Volk aus“ (siehe Kapitel B. V.7.b)). Wie sich die Legitimierung „Dei gratia“ zum lediglich „monarchischen Prinzip“ veränderte, zeigt Otto Brunner in „Vom Gottesgnadentum“, S. 179–184, die Sondersituation in Großbritannien S. 160–164. 6. Prüfung Die Legitimierung für Führungspositionen im Gemeinwesen kann durch Prüfung erfolgen, durch „Prüfung vorher“ (Prüfung im engeren Sinne)  oder durch „Prüfung hinterher“ (Rechenschaftslegung, Überprüfung), mit Bestätigung oder Abberufung. Beide Arten behandele ich getrennt. a) Prüfung vorher, auf Qualifikation oder Qualitäten: Schulung mit erster Bewährung, Bildung, Sachverstand Eine Darstellung, die uns ein Gesamtbild von den so oder so überprüften „Bildungs“-Voraussetzungen zeigt, die angehende Inhaber höherer Führungspositionen/Regierungsämter in historischen Zeiten mitbringen mußten, gibt es, soweit ich die Dinge überblicke, nicht. Es versteht sich, daß ich auch hier nur Beispiele bringen kann, wieder aus verschiedenen Zeiten und Kulturen und möglichst aus verschieden gestalteten Systemen. Generell gilt: Im Bildungswesen  – und der Begriff ist im folgenden weit gefaßt – dient die Prüfung dem Nachweis von Qualifikationen, Qualitäten oder auch von Kenntnissen. 902 Eine theoretische Begründung von Absolutismus und Gottesgnadentum, in Verbindung miteinander, naturgemäß primär an französischen Verhältnissen orientiert, hat der Theologe und (von daher) Historiker Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) verfaßt: „Politique tirée des propres paroles de l’Écriture sainte“ (1709 erschienen). – Zum Gottesgnadentum des Herrschers im Zeitalter des Absolutismus s. a. Duchhardt, S. 37.

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Auch Gemeinwesen früher Zeit auf dem später „Europa“ genannten Kontinent, Gemeinwesen, in denen, wie wir aus Kapitel B. I.1) (und dazu B. V.3.a)) wissen, zwar keineswegs allein, aber doch besonders die kriegerische Tüchtigkeit wichtig war, kannten eine Art Schulung mit einer ersten Bewährungsprobe, also einer Art Prüfung. Vergleichsweise gut sind wir da orientiert über die germanischen Verhältnisse, die freilich einer nur relativ frühen Zeit angehören.903 Der noch junge langobardische „Königs“-Sohn Alboin hatte sich zwar schon im eigenen Heer in einem Kampf gegen die Gepiden ausgezeichnet, mußte sich aber gemäß der geltenden Sitte doch in die (gelehrt so genannte) „Gefolgschaft“, tatsächlich in die „Gesellschaft“ eines fremden Fürsten begeben und sich dort bewähren. Wenn er danach von diesem anderen Fürsten Waffen zum erhöhenden Geschenk erhalten hatte, konnte er auch zuhause „einen Platz am königlichen Tische“ haben (Grönbech, Bd. I, S. 126 f.). Ähnliches wissen wir vom Eintritt des jungen Beowulf in die sog. „Gefolgschaft“ des Königs Hrethel und von der dort zu leistenden Waffenprobe (Schlesinger, S. 148). Da auch Tacitus (Germ., 13) davon berichtet, daß die Jünglinge nobler Herkunft in den comitatus anderer principes eintraten, haben wir es hier offenbar mit einer gemeingermanischen „Bildungs-Institution“ zu tun. In der langen Geschichte des alten Ägyptens ist die Basis, von der aus jemand in hohe Regierungsämter – gemeint ist unterhalb der Pharaonen-Ebene – gelangen konnte, natürlich nicht immer gleich gewesen. Es gab aber oft Zeiten, in denen einfach die Kenntnis der Hieroglyphen-Schrift die Voraussetzung gewesen ist, weshalb dann auch Leute aus dem Volk in solche führenden Positionen gelangen konnten (Mosca, 1955, S. 282). In Kapitel B. V.7.a), in dem es thematisch um die Legitimierung mittels Losverfahren geht, habe ich ein Beispiel für dieses Verfahren aus dem Athen der Zeit der Demokratie und erwähne dort nebenbei, daß ganz bestimmte Ämter doch nicht ausgelost wurden. Das waren die für das Gemeinwesen extrem lebenswichtigen Ämter der, modern formuliert, Generale, der Kämmerer und der Wasserkommissare; sie wurden aufgrund von Qualifikationen per Auswahl vergeben, das der Generale aufgrund von strategischen Fähigkeiten, das der Kämmerer nur an Inhaber größerer Vermögen, damit im Fall von Mißwirtschaft der Regreß nicht etwa erfolglos wäre, bei den Wasserkommissaren aufgrund von wasserkundlichen und wasserbautechnischen Qualifikationen. Wir wissen aus Kapitel B. V.4.a), daß das antike Römische Reich in vor-caesarischer Zeit eine Republik unter Führung des Senats, des Adels, gewesen ist, zunächst des Patriziats, später der Nobilitas. Dazu brauchen wir jetzt folgendes: Ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. hat griechische Kultur immer stärker auf Rom eingewirkt, ab Mitte des 2.  Jahrhunderts gehörte der Besuch der griechischsprachi-

903 Für die absolut genommen, zeitlich viel ältere, aber etwa entsprechende Entwicklungsstufe im frühen Griechentum der Achäer und dann der frühen Dorer und Nordwestgriechen wissen wir nichts aus historischen Quellen über diese Dinge.

V. Annex zu den historischen Teilen

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gen Schulen zum Standard höherer Bildung. Die vornehmen Römer  – und das waren eben praktisch diejenigen, die im Senat das Geschehen in der Res publica bestimmten  – gingen aber bald dazu über, ihren Söhnen, also denen, die demnächst im Gemeinwesen bestimmen würden, von gebildeten griechischen Sklaven oder Freigelassenen als Hauslehrern griechische Kultur vermitteln zu lassen. Im 1. Jahrhundert v. Chr. entstanden in Rom Rhetorenschulen, und die Redekunst (siehe dazu Kapitel B. I.2.) gelangte zu hoher Blüte, weil man mit ihr in höhere Führungspositionen kommen konnte (Weimer/Jacobi, S. 19 f.). Die Söhne von germanischen „Königen“, die germanische Reiche auf römischem Boden errichtet hatten, erhielten nicht selten eine für die Zeit von damals gute Ausbildung. So hat der gallisch-römische Großgrundbesitzer Avitus, der ein enger Vertrauter des Westgotenkönigs und seines Hofes war, den Sohn Theoderich (II.) des „Königs“ Theoderich I. am Königshof in Toulouse zunächst in die Lektüre Vergils eingeführt, später in römisches Recht. Avitus „vermittelte ihm also die zwei entscheidenden Bildungsgüter, die normalerweise zur Erziehung eines römischen Aristokraten gehörten“ (Seston, S. 580). Ungewöhnlich an diesem Fall ist lediglich, daß der Lehrer Theoderichs (II.), Avitus, später, 455 n. Chr., römischer Kaiser wurde. Auch im merowingischen Frankenreich sind die Söhne der Könige offenbar auf die ihnen bevorstehenden Aufgaben vorbereitet worden. Gregor von Tours (IX, 36; Bd. 2, S. 292 f.) berichtet, daß der austrasische König Childebert seinem ältesten Sohn, Theudebert, an den Ort seiner Ausbildung Erzieher (nutricii) mitgegeben hat. Über die Inhalte sagt Gregor nichts; da aber eine Mehrzahl von Erziehern beteiligt war, ist die Ausbildung wohl nicht einspurig gewesen. Über Arnulf, aus vornehmem fränkischen Geschlecht, Vorfahre Karls des Großen, ab 614 Bischof von Metz, ab 623 auch Berater des jungen merowin­gischen Königs Dagobert, wissen wir: „Nach der Sitte der Zeit wurde er als Knabe an den Hof [in Metz] gesandt, um unter der Obhut des Hausmeiers Gundolf sich für den Staatsdienst heranzubilden. … Seiner erprobten Treue wurde die Verwaltung von sechs Krongütern anvertraut, er war an Theudberts Hof ‚unter allen der erste‘“ (Mühlbacher, S. 27; um „Staat“ handelt es sich hier und im folgenden natürlich noch nicht). Über die Situation am Hof Karls des Großen erfahren wir mehr (Mühlbacher, S. 238–251; Quelle ist Karls Biograph Einhard). Gemäß fränkischer Gewohnheit lernten auch die Königssöhne, sobald sie das dafür erforderliche Alter erreicht hatten, reiten, den Umgang mit den Waffen und die Jagd, die Königstöchter weibliche Fertigkeiten. „Besondere Sorgfalt wurde auf ihre geistige Ausbildung verwendet“ (S. 239). „Wie er [Karl] selbst keine Scheu getragen, als Mann noch Schüler zu werden, so ließ er auch seine Kinder, Söhne und Töchter, in den ‚freien Künsten‘ unterrichten. Die seit alters … bestehende Hofschule, welche das Personal für die Kanzlei und den Staatsdienst heranzubilden hatte [‚Staat‘ ist unhistorisch], wurde durch die Berufung der fremden Ge-

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

lehrten, namentlich seit Alcuin an derselben wirkte, zur eigentlichen Hochschule[;] hervorragende Talente gingen aus derselben hervor“ (S. 247; folgt eine große Zahl illustrer Namen).

Alcuin, später in St.  Martin in Tours, hat auf Karls Wunsch auch dort eine Schule eingerichtet, aus der ebenfalls namhafte Leute hervorgegangen sind, u. a. Hrabanus Maurus. An wichtigen Klöstern und Hochstiftern entstanden Schulen, die bekanntesten waren Fulda, Reichenau, dann St. Gallen, die berühmtesten unter den bischöflichen Utrecht, Freising und Lyon. – Gravierend war der Mangel an Unterrichtsbehelfen; der Büchermarkt in Rom existierte nicht mehr. Buch für Buch mußte abgeschrieben, die Vorlagen oft in weiter Ferne gesucht oder entlehnt werden (S. 247). In Aachen gab es immerhin schließlich eine stattliche Bibliothek, die Karl der Große gesammelt hatte (S. 248). – Jene sieben „freien Künste“, die artes liberales, aus dem Römischen überkommen, in denen Karl seine Söhne und Töchter bilden ließ, waren, als „Trivium“, Grammatik, Rhetorik (diese damals nur noch wenig angesehen) und Dialektik (gut geeignet für theologische Beweise und Disputationen, was für wichtiger galt), dann, als „Quadrivium“, Arithmetik, Geometrie, Astronomie (damals noch „Astrologie“ genannt) und Musik. Mit der Geometrie, der „Erdmeßkunst“, war auch etwas Geographie verbunden und „hie und da auch … Naturlehre, so gut man sie in jener Zeit zu bieten vermochte“ (S. 248 f.). Den praktischen Unterricht des Kirchengesangs hat Karl der Große besonders gefördert. Die berühmteste der Sängerschulen jener Zeit war in Metz (wiederbelebt in der 2. Hälfte des 20. Jh., die Schola Mettensis). Gegenstand des Fachs Musik im Quadrivium waren, auf der Basis der Schrift „De musica“ des Boëthius, „wissenschaftliche“ Theorie der Musik, Tonarten und Rhythmus, Klanggeschlechter und ihre Vermischung (S.  249). Mühlbacher sagt (ebenda), das Thema Bildung und Ausbildung abschließend: „Lehrstoff und Lehrmethode, wie sie unter Karl dem Großen eingebürgert wurden, sind für das Mittelalter maßgebend geblieben“. (Mehr zur Bedeutung der artes liberales für das mittelalterliche Bildungswesen und für die Entwicklung der Universitäten siehe bei Boehm, S. 178–182.) „Selten war im Mittelalter ein Thronfolger besser auf seine Aufgabe als Monarch vorbereitet worden als Heinrich III.“, schreibt Schulze (Hegemoniales Kaiser­ tum, S. 374). Sein Vater, Konrad II. (1024–1039), der erste der salischen Könige und Kaiser, sorgte nach seiner Thronbesteigung gleich dafür, daß der 1017 geborene Sohn schon früh zum König erzogen wurde. „Unter der Leitung der Bischöfe Brun von Augsburg und Egilbert von Freising genoß er eine vorzügliche Erziehung. Auch seine Mutter Gisela und der Hofkaplan Wipo, der Biograph Konrads II., beeinflußten seine geistige und religiöse Entwicklung“ (ebenda). An Bildung, Nachdenklichkeit und „Wortgewalt“ überragte Heinrich  III. die meisten mittelalterlichen Herrscher. Der Vater sorgte auch dafür, daß der Sohn unter der Leitung erfahrener Leute „das nötige Rüstzeug für das Regierungshandwerk erwarb. Schon vor dem Aufbruch zum ersten Italienzug wurde der Knabe offiziell zum zukünftigen König erklärt, nach der Kaiser­k rönung Konrads von den deutschen Fürsten zum König gewählt und in Aachen …

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gekrönt. … Um das 1026 durch den Tod des Herzogs Heinrich aus dem Haus der Luxemburger frei gewordene Herzogtum Bayern unmittelbar an die Krone zu binden, verlieh er es seinem Sohn. Mit kaum neun Jahren war der Thronfolger Herzog von Bayern. Nachdem er mit vierzehn Jahren mündig geworden war, wurde Bayern das Gebiet, in dem er selbständig Herrschaftserfahrung sammeln konnte. Weitere Aufgaben wurden ihm 1038 anvertraut, als er zunächst das Herzogtum Schwaben und dann die burgundische Königswürde empfing. Problemlos war diese recht intensive Beteiligung des Königssohnes an der Regierung nicht; es gab Konflikte …, resultierend aus den unterschiedlichen Charakteren von Vater und Sohn“ (S. 374 f.).

Die salischen Könige und Kaiser (1024–1125) hatten außer ihrem Eigenbesitz, den sie dem deutschen Reich zuführten, das ganze Krongut der sächsischen Herrscher (919–1024) übernehmen können. Heinrich III. hat in der sogenannten Königslandschaft um den Harz die Pfalz in Goslar ausgebaut und dort ein Pfalzstift gegründet. Es diente einer effektiven Ausbildung einerseits der Geistlichen für die Hofkapelle (Näheres zu dieser in B.II.1.a)) und für den Reichs-Episkopat, andererseits auch einer „Elite“ von reichs- und kaisertreuen Beamten (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 396). Bei diesen Beamten handelte es sich im wesentlichen um Ministeriale (dazu siehe B.II.1.c)), noch nicht um fest angestellte Beamte wie später in den Territorialstaaten (hierzu weiter unten in diesem Kapitel). Unter anderem als Folge der Kreuzzüge hat das abendländische Rittertum sehr an Bedeutung gewonnen und eigene Lebensformen entwickelt, mit besonderer Bildung. Der Kreis der Zugehörigen ging natürlich weit über den der „Großen“ des Reiches und der anderen Königtümer Europas hinaus. Es kommt mir hier aber nur auf einen bestimmten Aspekt an: Die jungen Ritterssöhne erhielten (in gut ger­ manischer Tradition) immer noch ihre Ausbildung an fremden Höfen, jetzt mehr standardisiert (vom siebten bis zum 14. Lebensjahr als Pagen, vom 14. bis zum 21. als Knappen), ehe sie, nach Bewährung, im Krieg (meist auch Teilnahme an einem Kreuzzug gegen „Ungläubige“), auf der Jagd, im „höfischen Dienst“, nun ihrerseits „zum Ritter geschlagen“ wurden. Von heute her gesehen, war diese Ausbildung immer noch recht schmal, aber im Vergleich mit der frühgermanischen und auch noch mit der der Völkerwanderungszeit (immer mit eingerechnet, daß es auch damals schon nicht nur auf Tüchtigkeit mit den Waffen angekommen ist) doch schon viel breiter (einschließlich musischer Bildung: „Singen [zur Laute] und Sagen“), in den „sieben Vollkommenheiten“ des echten Ritters und in „höfischer Zucht“ (mehr dazu in Weimer/Jacobi, S. 36). Jedenfalls lernten die Adligen, auch die Frauen, lesen und schreiben, und sie „stellten neben die internatio­ nale, lateinische Kultur der Kirche eine ebenso internationale Laienkultur in den Volkssprachen, die am Anfang der europäischen Nationalliteraturen stand“ (Borst, S.  526). Bei der Darstellung konkreter Gesellschaften (B.III.1.) bringe ich in B.III.1.b) die höfische Gesellschaft des Mittelalters und dort auch ritterliche Bildung. Ich wechsle jetzt über zu republikanischen Gemeinwesen, zu den großen freien Städten des Spätmittelalters. Auch Städte, in denen die Zünfte im Rat der Stadt die Mehrheit gegenüber den Patriziern hatten, so z. B. in Basel, wählten sich ihren

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Bürgermeister aus dem Patriziat. Abgesehen davon, daß die Patrizier viel eher „abkömmlich“904 waren als z. B. die Handwerksmeister, spielten die größere Bildung sowie militärische, diplomatische und verwaltungstechnische Fähigkeiten dabei eine Rolle. Außerdem war es wegen des ständischen Ranges der Patrizier günstiger, wenn einer von ihnen den „diplomatischen Verkehr mit der adlig-fürstlichen Umwelt“ führte (Isenmann, S. 195). Ebenfalls aus dem Kreis der Freien u. der Reichsstädte des Spätmittelalters, hier aus Nürnberg, ist das folgende Beispiel. Es zeigt einen Fall von gezielter Schulung, deren Ertrag in der gleich anschließenden Periode gebraucht wurde. Einzelheiten (in anderer Hinsicht) können dem Schluß von Kapitel B. V.6.b) entnommen werden, wo ich diese in anderem Zusammenhang brauche. Hier genügt Folgendes. Nürnberg hatte gleichzeitig, und zwar immer für vier Wochen, stets zwei Bürgermeister, den schon erfahrenen Älteren Bürgermeister und, sozusagen unter seiner Anleitung, den Jüngeren Bürgermeister. Der Jüngere gewann in der Amtszeit der beiden die Erfahrung und auch die Sachkenntnis von dem, was aktuell „anstand“, die er aus institutionellen Gründen nach Ablauf dieser Amtszeit sofort brauchte. 904 Die Abkömmlichkeit war schon im Athen der Zeit des Perikles wichtige Voraussetzung der Mitbestimmung im Gemeinwesen (in seiner damals schon defizienten Form) gewesen. Heuß (S. 275 f.) beschreibt diese Sache für den konkreten Fall „athenische Demokratie“ gut differenziert hinsichtlich der Vor- und der Nachteile. Ich gebe davon nur einige wenige wichtige Aspekte wieder. „Wer aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage nicht über die notwendige Abkömmlichkeit verfügte und es sich nicht leisten konnte, daß ihm ein Tagesverdienst ver­ loren ging, war von dieser Art öffentlicher Betätigung zwangsläufig ausgeschlossen.“ Erst als der misthós dafür – wir sagen dazu „Diäten“ – von Perikles eingeführt worden war, konnte auch die Masse der Athener (selbstverständlich nur die der Inhaber des Bürgerrechts jener Zeit) tatsächlich mitwirken. „Das Entgelt, im allgemeinen zwei bis drei Obolen, für die Ratsmitglieder eine Drachme, war nicht übermäßig hoch, entsprach aber einem bescheidenen handwerklichen Tageseinkommen und wurde daher der Entlohnung für die … [im Gemeinwesen] geleistete Tätigkeit zugrunde gelegt.“ Genauer betrachtet, waren diejenigen, die mitbestimmen konnten, doch nur die Masse der Athener im sehr verengten Sinn, der Athener, die in der Stadt Athen wohnten. „Stellt man sich diese Schar der Diätenempfänger vor, dann erhält die attische Demokratie einen stark kleinbürgerlichen Zug.“ Die Bauern vom Land, aus der athenischen Landschaft Attika – und sie waren ja, wie wir aus den Kapiteln B. I.1.a) und B. I.8. wissen, von Haus aus die Träger der Gemeinwesen –, auch die weniger armen Bauern, konnten trotz Diäten-Regelung faktisch nicht mitbestimmen, weil sie zum einen in Attika zu weit weg wohnten, zum anderen eben doch nicht hinreichend abkömmlich waren. – In manchen spätmittelalterlichen Städten mit Ratsverfassung „wurden … bereits im 14. Jahrhundert für die Teilnahme an den ordentlichen Ratssitzungen als Anreiz für pünktlichen Besuch und für die Übernahme von Ratsämtern Präsenzgelder ausgezahlt, die in Form von Tagegeldern (Diäten) auch die Kommissions- und Gerichtssitzungen abdeckten. Oder es wurden die ständigen Bemühungen … mit einem regelrechten Jahresgehalt (‚Lohn‘, ‚solarium‘) honoriert wie etwa in Nürnberg (15. Jh.), zeitweise in Köln und in Straßburg bis zur Umstellung auf Diäten“ (Isenmann, S. 139). – In den modernen Parlamenten wird ebenfalls nicht Entgelt oder Gehalt gezahlt, sondern eine (zu versteuernde) Aufwandsentschädigung, eben „Diäten“ (von lat. dies = „der Tag“), also Tagegelder, pauschalierte Aufwandsentschädigungen, zum Ausgleich von Verdienstausfall und um den Abgeordneten, jedenfalls grundsätzlich, Unabhängigkeit von fremden Interessen zu sichern.

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Es gab zur Unterstützung der beiden Bürgermeister (in bestimmten Hinsichten) nämlich das ständig bestehende, aber personell ebenfalls alle vier Wochen wechselnde Kollegium der „Fünf Herren“ (siehe B. V.6.b)). In ihm waren außer wiederum zwei, aber eben anderen Bürgermeistern je drei andere Ratsherren, darunter jedoch immer der gerade ausgeschiedene Jüngere Bürgermeister der Vier-WochenPeriode davor. Das 15. Jh. brachte in Italien und von dort aus in anderen Ländern Europas eine kulturelle Erneuerung, die zwei Seiten zeigt, die des Humanismus und die der Renaissance, die aber miteinander verbunden waren. Diesem Zusammenhang ist hier nicht thematisch nachzugehen. Für uns wichtig sind einige herausragende Bildungskonzeptionen. Eine für unsere Zwecke gute Darstellung gibt Eugenio Garin. Er zeigt, daß die kulturelle Erneuerung aus neuen Schulen kam, nicht aus den alten „großen Hohen Schulen“, den Universitäten, die damals noch dem mittel­ alterlichen Denken verhaftet waren. Die neuen Schulen „waren vorwiegend an Höfe und Kanzleien … gebunden“, wurden von italienischen städtischen Gemein­ wesen, aber auch von Fürsten getragen bzw. gefördert. Der neue Schultypus zielte auf eine allgemeine humane Bildung „des in einer ‚freien Stadt‘ geborenen Bürgers … (wie es im Titel eines weit verbreiteten, von Alessandro Piccolomini 1543 herausgegebenen Werkes heißt)“. Es entstanden „Akademien“, freie Zusammenschlüsse von Gelehrten, als „Institutionen …, die den Notwendigkeiten einer Forschung, die an der Universität nicht mehr die geeigneten Strukturen fand, gerecht werden konnte. So entstanden seit dem 15. Jahrhundert zahlreiche berühmte Akademien verschiedener Art und Aufgabe“ (Garin, S. 472 f.). Die älteste ist die um 1460 zur Zeit von Cosimo de’ Medici in Florenz gegründete „Academia Platonica“. – Nach einem ersten Versuch, den der Rhetorik-Professor Gasparino Barzizza 1408 in Padua, hier freilich nur für venezianische Adlige, unternommen hatte, haben der Altphilologe Guarino von Verona (1374–1460), der als Lehrmei­ ster der ersten Generation der italienischen Humanisten gilt, und Vittorino da Feltre (1378–1446) einen Typ von Kolleg in Konviktform (contubernium) zur Pflege jener neuen Art der Bildung verwirklicht (Garin, S. 475). Guarino errichtete 1420 in Verona eine öffentliche Schule im kommunalen Auftrag (Stadt Verona) und eine private Schule für ausländische Schüler in seinem Haus in familiärer und freundschaftlicher Atmosphäre. Der Tag begann mit der Lektüre eines lateinischen Autors und endete mit der eines griechischen, bei zunehmend schwieriger werdenden Texten. Zur Ausbildung gehörten aber auch Leibesübungen, Spaziergänge, Schwimmen, Jagen und Tanzen. Guarino wurde von seiner Frau, seinen Kindern und von externen Mitarbeitern unterstützt. Die älteren Studenten mit schon Erfahrung wurden ebenfalls Mitarbeiter. Guarino verlangte sehr hohes Schulgeld für die Kinder der reichen und einflußreichen Familien – zu den Schülern gehörte auch Leonello d’Este, später Herr über Ferrara, aus der Familie der Markgrafen, später Herzöge Este –, damit er auch ärmere junge Leute aufnehmen konnte, die Lehrer oder Beamte werden sollten (Garin, S. 476). Gegenüber Leonello d’Este, mit dem er auch noch später in Briefwechsel stand, hat Guarino die Ziele

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„einer humanen Erziehung präzisiert, die – statt den Spezialisten zu züchten – den Bürger befähigen sollte, mit den zum Führer und Verteidiger des Vaterlandes notwendigen Tugenden ausgestattet, in guten und in bösen Zeiten zur öffentlichen Verwaltung beizutragen. … Mit anderen Worten: diese ganze auf die studia humanitatis ausgerichtete Erziehung ist eng mit dem Begriff des Bürgers verbunden, der die Jahrhunderte zwischen Quattrocento und Seicento kennzeichnet. Für den Staat sei es von höchstem Interesse, junge Menschen zu haben, die vorbereitet seien, sich neben ihrem Beruf der öffentlichen Sache anzunehmen. Dies ist im großen und ganzen [auch] der Sinn vieler Schriften Vergerios und ebenso das Anliegen großer Schriftsteller wie Leon Battista Alberti. Es ging ihnen nicht so sehr darum, die Herrscher und ihre Söhne als Angehörige der Herrenschicht zu bilden. … Der Mensch, so sagte man immer wieder mit Aristoteles und Cicero, sei ein politisches Wesen und nicht um seiner selbst willen, sondern für das Vaterland und das allgemeine Wohl, für die res publica, geboren. Die Schule müsse ihn vor allem auf die Erfüllung dieser Aufgabe vorbereiten“ (Garin, S. 477 f.). –

Auch in der berühmten „Casa Giocosa“ des Vittorino da Feltre in Mantua, einem Haus, das der Markgraf von Mantua dem Vittorino da Feltre zur Verfügung gestellt hatte, zahlten die Reicheren für die Ärmeren mit. Auch hier stand im Zentrum die universale humane Bildung. „Der Unterricht über die klassischen Werke ging [auch hier] stets mit Leibesübungen … [dazu gleich mehr] einher und vollzog sich in einer Atmosphäre herzlicher Vertrautheit“ (S. 476). Außer der Lektüre der größten Dichter und Rhetoren des Altertums, Homer, Vergil, Demosthenes und Cicero, war für die „Casa Giocosa“ besonders wichtig Marcus Fabius Quintilia­ nus, um 35 bis um 100 n. Chr., ebenfalls ein berühmter römischer Lehrer der Rhetorik mit seinen zwölf Büchern „Institutio oratoria“. Hinzu kamen Mathematik und Musik und von den lange vernachlässigten Leibesübungen hier: „Reiten, Ringen, Fechten, Bogenschießen, Ballspielen, Laufen und Schwimmen“ und auch, was schon Quintilian zu seiner Zeit den jungen Römern empfohlen hatte, Unterricht „im Tanzen und in Anstandsformen“ (Weimer/Jacobi, S. 45 f.). Auf jene in Italien schon ab dem 15. Jahrhundert, später auch in anderen Ländern entstandenen Akademien als freie Zusammenschlüsse von Gelehrten außerhalb der Universitäten komme ich weiter unten noch einmal zurück, wenn es um die Zeit der Aufklärung und um Frankreich geht. Im Folgenden bringe ich drei sehr verschiedene Beispiele dafür, wie im 16., im 17. und in der Mitte des 18. Jh. Thronfolger ausgebildet worden sind, für das 16. Jh. die Ausbildung einer Königstochter, die gar nicht als Thronfolgerin vorgesehen war, es dann aber doch geworden ist. Ich schicke voraus: Soweit zu überblicken, hat zum ersten Mal Kaiser Karl IV. an die Kurfürsten die Forderung nach Mehrsprachigkeit in bezug auf lebende Sprachen erhoben (siehe Boockmann, S. 248). Karl IV. sprach deutsch, lateinisch (im Kirchenstaat noch eine „lebende“ Sprache), französisch, italienisch, spanisch und erlernte Tschechisch, weil er König von Böhmen war. Kaiser Karl V. hat sich besonders Mühe gegeben, seinen 1527 geborenen einzigen Sohn Philipp (II.) zum einen theoretisch gut auf seinen Beruf vorzubereiten,

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zum anderen – und diesen Aspekt will ich hier zeigen – abgestuft an Regierungspraxis heranzuführen. 1547 hat er den nun Zwanzigjährigen mit dem Herzogtum Mailand belehnt, ihm acht Jahre später die Regierung für die Niederlande mit Burgund übertragen, noch einmal ein Jahr später die Regierung nun auch über die vereinigten Königreiche Kastilien und Aragonien mit allen ihren Nebenlanden und mit allen ihren Kolonien (Zeeden, S. 83). Die – später – Königin Elisabeth I. von England ist 1533 geboren, als Tochter von Heinrich  VIII. und seiner zweiten Frau, Anna Boleyn. Elisabeth war beim Tod ihres Vaters etwa 14 Jahre alt. Auf Heinrich VIII. folgte zunächst Elisabeths jün­gerer Bruder als Eduard VI., nach dessen Tod die ältere Schwester als Maria I. Diese starb 1558 kinderlos. Danach war nur noch Elisabeth übrig, nun 25 Jahre alt. Ihre von bekannten Lehrern vermittelte hervorragende Ausbildung, die ich in Umrissen beschreibe, war also zunächst nicht einmal darauf ausgerichtet, daß Elisabeth Königin von England werden würde. Es heißt von ihr: Sie „mußte … unglaublich viel lernen“, war aber auch „gelehrig“. Mit sechs Jahren begann ihr Latein-Unterricht, mit zehn der in Französisch und Italienisch, später in Spanisch und zuletzt in Griechisch. Außerdem erhielt sie Unterricht in den sieben „artes liberales“ (den sieben eines freien Menschen würdigen „Künsten“  = Fächern): in Grammatik, Rhetorik und Dialektik (Philosophie) sowie in den vier „realistischen“ Fächern Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiklehre. „Als sie fünfzehn Jahre alt war, sah ihr Tagespensum vor, daß sie vormittags das griechische Neue Testament las und Sophokles oder Demosthenes ins Englische und wieder zurück ins Griechische übersetzte, nachmittags las sie Livius und Cicero, Melanchthons ‚Loci communes‘, Cyprian sowie ausgewählte Schriften zur Theologie und Politik. Ihr Erzieher Ascham stand im Briefwechsel mit dem weltberühmten Straßburger Gymnasialrektor Johannes Sturm. Ihm schrieb er einmal über seine hohe Schülerin: ‚(Sie) spricht Italienisch und Französisch so gut wie Englisch. Sie hat mit mir oft fließend und gut Lateinisch und in geringerem Maße Griechisch gesprochen. Sie liebt Musik und ist in deren Ausübung sehr geschickt. …‘ – Dank ihrer Sprachkenntnisse verhandelte sie mit den Gesandten der auswärtigen Mächte persönlich. Auf diese Weise umging sie den Staatsrat, so daß dieser nicht immer wußte, was sie gesagt und erfahren hatte“ (Zeeden, S. 132 f.).

Hinsichtlich der Ausbildung des französischen Thronfolgers (dazu im folgenden zunächst Mandrou, S. 31 f.), der, 1638 geboren, erst ab 1661, als Ludwig XIV., selber regierte, gibt es für den theoretischen Teil insofern Unklarheiten, als nicht abzuschätzen ist, wieviel von dem, was hier ursprünglich für den Dauphin kon­ zipiert war, tatsächlich noch bei ihm angekommen ist. Kardinal Richelieu, der Erste Minster des Königs Ludwig  XIII., hatte für den Thronfolger den Gelehrten La Mothe Le Vayer als Präzeptor bestimmt. Dieser hat daraufhin eine Sammlung gemäß Fächern gegliederter Schriften verfaßt, in denen der „Beruf des Königs“ beschrieben war und wo gesagt wurde, welche Kenntnisse ein Herrscher im Finanz- und Kriegswesen, in Beredsamkeit, Ethik, Logik und Physik, in „mecha­ nischen Künsten“, in der Landwirtschaft und in der Geographie haben müsse. Nach Richelieus Tod, 1642, und König Ludwigs XIII. Tod, 1643, hat die Königs-

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witwe die Regentschaft ausgeübt, mit Kardinal Mazarin als Erstem Minister (dieser bis 1661). Die Regentin hat La Mothe Le Vayer von seiner Aufgabe als Erzieher des Thronfolgers entbunden und ihm die Ausbildung von dessen jüngerem Bruder übertragen. Es gibt sichere Anhaltspunkte dafür, daß zumindest einige allgemeine Vorstellungen aus jenen Schriften von La Mothe Le Vayer dennoch Wirkung auf Ludwig (XIV.) gehabt haben, aber Breite und Tiefe einer Einwirkung des Gesamtkonzepts sind eben unklar. Ludwig bekam auf Veranlassung Mazarins den gelehrten Prälaten Hardouin de Péréfixe zum sozusagen Theorie-Ausbilder, der „keineswegs ein dermaßen in sich geschlossenes politisches Wissen hat lehren können“, wie La Mothe Le Vayer es hätte tun können; „im übrigen [hat] die staatsmännische [gemeint ist jetzt die praktische staatsmännische] Ausbildung  … Kardinal Mazarin … selbst in die Hand genommen“ (Mandrou, S 32). Dazu aus anderer Quelle (Zeeden, S. 338 f.) einige Einzelheiten, zunächst zur Person Mazarin, die in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtig ist. Als auffallend galt das „Mißverhältnis zwischen Charakter und Begabung“ bei Mazarin, als kennzeichnend „seine Geschmeidigkeit und Doppelzüngigkeit, sein betrügerisches Wesen, seine Gier nach Geld, Macht und Ehren“; er habe aber „dennoch Größe“ besessen – was ich hier so nur wiedergeben kann. Jetzt zu jener praktischen Ausbildung: „Ludwig  XIV. war fünf Jahre alt, als Mazarins Regiment begann, und durchlief diese Schule bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Noch als Knaben ließ ihn der Minister täglich zwei bis drei Stunden zu sich kommen und gab dem jungen König nichts anderes auf, als zuzuschauen, wie er Befehle erteilte, Kuriere entsandte, Geheimagenten empfing, Entscheidungen traf, Intrigen spann, Komplotte aufdeckte  – und mit alledem den Staat zusammenhielt.“

Als Beispiel für die fachwissenschaftliche, hier juridische Bildung eines präsumptiven Thronfolgers auf seine Aufgaben als dann Thron-Inhaber bringe ich die Übersicht über das Ausbildungsprogramm des Erzherzogs Joseph von Habsburg-­ Lothringen, des Sohns der Kaiserin Maria Theresia aus dem Haus Habsburg und von Kaiser Franz I. aus dem Haus Lothringen, später (1764, noch zu Lebzeiten seines Vaters) in Frankfurt zum römischen König gewählt und (ab 1765, nach dem Tod Franz’ I.) Kaiser als Joseph II. Der neue Kaiser war herausragender Vertreter des aufgeklärten Absolutismus, mit Friedrich dem Großen als Vorbild. Joseph II. hat angesichts der „zerrütteten Verhältnisse“ in Frankreich, die er aus eigener Anschauung kannte, für Frankreich vorhergesagt: „‚die Revolution wird grausam sein‘“ (Conrad, S. 228 f.). – Der Erzherzog ist 1741 geboren. Seine juridische Ausbildung begann, als er 14 Jahre alt war, 1755, und dauerte bis 1759. Conrad (S. 229) schreibt, daß auf „die Erziehung des Erzherzogs  … in der [Wiener] Hofburg die größte Sorgfalt verwandt“ worden sei. Diese Erziehung ist seitens der Eltern, Kaiserin und Kaiser, bereits vor 1755 vorbereitet worden: Die Manuskripte für die „Erziehungsvorträge“ in „Natur- und Völker-Recht“, „Teutsches Staatsrecht“, „Teutsches Lehnrecht“, „Geistliches oder Kirchenrecht“ und „Bürgerliche Rechte und insonderheit der Teutschen“ hat ab 1754 der seit 1748 Professor für Staats- und Lehnrecht („Juris publici et feudalis“) an der neu errichteten Theresianischen Rit-

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terakademie in Wien Christian August Beck ausgearbeitet, der in Jena und Leipzig Jura studiert hatte (S. 229 f.). Beck hat sich in Übereinstimmung mit den Absichten von Kaiser und Kaiserin weitgehend an Samuel Pufendorf orientiert, dem ab dem 17.  Jahrhundert wichtigsten Vertreter der Naturrechtslehre in Deutschland (S. 231). Es ist anzunehmen, daß Erzherzog Joseph auch ein Privatissimum über die „innere Verfassung der österreichischen Erbländer“ bekommen hat, aber daraus ist aus den „Erziehungsakten Josephs II.“ (Näheres dazu: S. 427 f., bei den „Anmerkungen“) im „Haus, Hof- und Staatsarchiv Wien“ nichts zu entnehmen. – Conrad (S. 231–243) bringt zu den Hauptthemen jener „Erziehungsvorträge“, von denen wir wissen, noch mehr an Inhalten, ich kann hier auf ihn aber nur verweisen. Für die zuletzt beschriebenen Fälle sollten wir uns die sicherlich auch hier stattfindenden Überprüfungen bei den zu bildenden und auszubildenden künftig Führungspersonen wohl stark individualisiert vorstellen. Konkretes weiß ich dazu nicht. – Nach diesen vier Fällen, bei denen es um die Ausbildung derjenigen Person ging, die später an der Spitze des ganzen Gemeinwesens stehen sollte bzw. stand (insofern in der Tradition der Ausbildung der Söhne und Töchter frühmittelalterlicher Könige), komme ich jetzt zu Einrichtungen, die zur Heranbildung von für das Funktionieren des Staatsapparats wichtigen Beamten dienten. Das ist wieder näher bei jenen italienischen Bildungseinrichtungen der Frührenaissance, die, gemäß der Konzeption ihrer Initiatoren, nicht primär auf Ausbildung von Fürsten, sondern von aktiven Gliedern der (nicht zuletzt städtischen) Gemeinwesen abstellten, allerdings mit dem Unterschied zum einen, daß jene italienischen Initia­toren des Früh-Humanismus auf möglichst universale Bildung zielten, während es in den frühneuzeitlichen Territorialstaaten in Deutschland letztlich um sozusagen fachliche Kompetenz ging, mit dem Unterschied zum anderen, daß dort Bürger gemeint waren, hier qualifizierte Untertanen. Ich nenne also jetzt Bildungseinrichtungen, die charakteristisch sind für die Territorialstaaten der Neuzeit und die ihre Gründung bzw. Umgestaltung fürstlicher bzw. territorialstaatlicher Initiative verdanken. Ich beschränke mich auf Deutschland. Zum ersten geht es um Universitäten, die selbstverständlich generell zwar nichts Neues waren, von denen aber mit Beginn der Neuzeit einige umgestaltet, andere neu gegründet werden mußten, weil nur so der dringend gewordene Bedarf befriedigt werden konnte, zum zweiten um die „Ritterakademien“, zum dritten um Einrichtungen zwar unterschiedlichen Namens, die man aber unter der Überschrift „Kameralhochschulen“ zusammenfassen kann. In den mehr und mehr zentralistisch organisierten großen und mittel­großen deutschen Territorialstaaten wuchs die Bedeutung einer fachlich qualifizierten Beamtenschaft für den immer größer werdenden „Staats-Apparat“. Mit der Re­ formation kam noch ein anderer Aspekt hinzu. Die dem Protestantismus zugewandten Fürsten mußten praktisch zwangsläufig zum Landeskirchentum übergehen, Landeskirchenordnungen schaffen (oder anderswo schon geschaffene

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übernehmen) und dafür sorgen, daß genügend Pfarrer ihrer Konfession ausgebildet wurden. Das hat in den größeren und mittelgroßen protestantischen Territorialstaaten zur – partiell – Umbildung bestehender Universitäten geführt (z. B. Frankfurt a. d. O., Leipzig, Heidelberg) und zusätzlich zur Gründung anderer Universitäten in anderen Landesteilen (z. B. Königsberg), aber es entstanden auch in kleineren Territorialstaaten, z. B. in Hessen-Kassel (Marburg) und Thüringen (Jena) neue Universitäten (Weimer/Jacobi, S. 57).905 „Die juristische Fakultät gewann neben der theologischen zunehmend an Bedeutung, da die Durchführung [besser: die Durchsetzung] der Territorialgewalt den juristisch vor­ gebildeten Beamten  … [unentbehrlich] machte.  …  . Ein Fürst, der wirklich unabhängig sein wollte, mußte auch die Ausbildung seiner Beamten in die Hand bekommen. Deswegen entstand eine Reihe kleinerer Landesuniversitäten, die ihrem Staate die Pfarrer und [die] höheren Beamten zu liefern hatten. Für diese war der Besuch der Landeshochschule Voraussetzung zur Anstellung“ (S. 58).

Ab dem 16. und bis ins 18. Jahrhundert sind in vielen deutschen Territorialstaaten „Ritterakademien“ gegründet worden.906 Sie waren dem Adel vorbehalten und sollten diesen für den Dienst am fürstlichen Hof ausbilden. Im Zug der „Aufklärung“ sind viele aufgehoben worden – soweit nicht inzwischen in normale Universitäten umgewandelt. Von größerer Bedeutung sind die Kameralhochschulen gewesen. Im Zug der Entwicklung der Territorialstaaten, für die eine zentrale Verwaltung angestrebt wurde, ging es nicht länger an, daß „die Verwaltung … einfach als … [bloß] Kunstfertigkeit der Praxis überlassen blieb oder von der häuslichen Erfahrung des in den Räten und Lokalverwaltungen noch immer vorherrschenden Adels zehrte“ (Hans Maier, 31986, S. 164). Da die an den Universitäten gelehrte, im Grunde durchweg auf Aristoteles fußende Politikwissenschaft keine Verwaltungslehre bot (S. 172), kam es ab dem 16. Jahrhundert auf fürstliche Veranlassung in manchen Territorien zur Gründung besonderer Akademien zur Ausbildung von Kameralbeamten (d. h. etwa: Finanzverwaltungsbeamten), so des 1559 seitens Herzog Chri­stoph von Württemberg gegründeten Vorläufers des „Collegium illustre“ in Tübingen (Hauer, S.  175 ff.). „Durch sie hofften die Fürsten die zur Domänen-, Forst-, Berg- und übri­gen Verwaltung nötigen Beamten zu gewinnen und sie mit den erforderlichen Kenntnissen auszustatten“ (Hans Maier, 31986, S. 172). Weil die Universitäten als 905 Es gab dafür allerdings auch andere Lösungen. In Württemberg hat Herzog Ulrich 1536, nach der Einführung der Reformation, die später unter dem Namen „Tübinger Stift“ berühmt gewordene Ausbildungsstätte für lutherische Theologen gegründet, die anfangs den Namen „Hochfürstliches Stipendium“ hatte. Das soll als Beispiel für die Ausnahmen genügen. 906 Für die Zwecke meines Beitrags zur Vorbereitung jenes in Kap. A. V., Fußn. 147, genannten Gutachtens der Professorengruppe hatte ich mich im historischen Teil wegen 1773 vorgelegter Pläne zur Gründung einer Ritterakademie im Fürstentum Nassau-Saarbrücken auch über diese Bildungseinrichtungen orientieren müssen. – Die in den 1680er Jahren in Halle gegründete ist 1694 in eine Universität umgewandelt worden, die um 1700 in Erlangen gegründete 1743.

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Bildungsstätten für die Verwaltungsbürokratie ungeeignet waren, „mußte der Unterricht der kameralistischen Akademien im gleichen Maß an Ansehen gewinnen, in dem die Lehre sich an praktischen Aufgaben zu orientieren begann und sich in der staatlichen Praxis bewährte“ (S. 176). Ich begnüge mich mit ein paar Bemerkungen zu der im 18. Jahrhundert entstandenen Einrichtung in (Kaisers-)Lautern.907 Diese ist hervorgegangen aus der „Landwirtschaftlichen Gesellschaft“ (später „Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft“), in der auch Herzog Karl II. August von Pfalz-Zweibrücken908 Mitglied war und die sich zunächst um die Verbesserung der Ausbildung der Landwirte in der Praxis und dann um die Ausbildung von Staatsbeamten bemüht hat. Die Anfänge in der Landwirtschaftslehre waren noch bescheiden, später entwickelte sich daraus eine Kameralschule, dann eine Kameralhochschule. Sie sollte jetzt vor allem tüchtige Verwaltungsbeamte heranbilden. Die Hochschule besaß dafür auch bald die besten Professoren ihres Fachs, wurde in Deutschland schnell berühmt, und die Studenten kamen aus dem ganzen Reich. Prestige-Erwägungen der kurpfälzischen Landesuniversität Heidelberg und kurpfälzischer Staatsbeamter führten zu Bemühungen um eine Einpassung der in Heidelberg unerwünschten Kaiserslauterer Hochschulsonderentwicklung in die Universität Heidelberg, schließlich (1784) mit Erfolg. In manchen Territorien sind fachlich spezialisierte Bildungseinrichtungen entstanden, so z. B. in Staaten mit umfangreichem Bergbau zur Ausbildung von Beamten für den Bergbau. Die älteste Bergakademie entstand 1765 in Freiberg in Sachsen, 1775 eine andere in Clausthal im Harz (inzwischen Technische Universität Clausthal-Zellerfeld). Aus den Kapiteln von B.II.2.a) und aus B.II.2.b) wissen wir, daß die neuzeitlichen Herrscher ihre Beamtenstellen vorwiegend mit studierten Bürgerlichen besetzten statt aus dem Adel und warum. Ein ganz anderer Sachverhalt hatte für das Beamtentum, seine Ausbildung und Prüfung, schwerwiegende Folgen. In der Frühen Neuzeit sind die mittelalterlichen Pfründen weitgehend abgeschafft worden. Das betraf auch die darauf einkommensarm gewordenen Professoren an den Universitäten und hat zu einer Kommerzialisierung bei der Vergabe der Doktorgrade geführt, worauf „auf akademische Titel bei der Sicherung eines qualifizierten Verwaltungsnachwuchses für den höheren Dienst kein Verlaß“ mehr war (Bleek, S. 70). Zuerst hat Preußen (König Friedrich Wilhelm I.) – die anderen deutschen Territorialstaaten folgten – „ein System von mehrfach abgestuften Staatsprüfungen und praktischen Vorbereitungs­ zeiten eingeführt, das bis heute weite Bereiche unserer akademischen Berufsausbildung und -zulassung bestimmt, wie die Staatsexamina für Ärzte, Juristen und Lehrer zeigen. Nach 907 Auch hier war jener in der vorausgehenden Fußnote erwähnte, für die Untersuchung der Professorengruppe zu leistende Beitrag die Veranlassung, mich mit der Sache zu befassen. 908 Innerhalb des „Hauses Wittelsbach“ war damals schon abzusehen, daß die Kurpfalz an Pfalz-Zweibrücken übergehen würde, desgleichen Bayern (über die Kurpfalz). Das geschah dann auch.

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Vorbild der 1737 für alle Justizstellen erlassenen Prüfungsordnung und der 1755 errichteten zentralen Justizprüfungskommission wurde 1770 in Preußen die Oberexaminations­ kommission für den Verwaltungsnachwuchs etabliert“ (ebenda).

Auf Studium und erste Prüfung folgten für die „Auskultatoren“ Praxisjahre in den Kammern, eine zweite Prüfung, dann die Beteiligung der Referendare an der Arbeit der Kammern, darauf die Assessorenprüfung, bei Bestehen die Tätigkeit „zunächst als Assessoren und dann auf Planstellen als besoldete Kriegs- und Domänenräte, Steuer- und Landräte sowie Baudirektoren“. Bleek fügt an, daß durch die Institutionalisierung des Prüfungswesens „die Rekrutierung des höheren Beamtennachwuchses aus der relativen Willkür des Monarchen in die reglementierte Selbstkooptation der Bürokratie verlagert“ wurde. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 bestimmte dann: „‚Es soll niemandem ein Amt aufgetragen werden, der sich nicht dazu hinlänglich qualifiziert und Proben seiner Geschicklichkeit abgelegt hat‘“ (zitiert ebenda). Zusammenfassend kann ich sagen: Im Lauf der Zeit, besonders ab der Neuzeit, wurde die Qualifikation der Beamten immer wichtiger. Nicht, als ob auf die Ausbildung der Prinzen und besonders des Thronfolgers verzichtet worden wäre, aber es kam eben in steigendem Maß auf den „Staats-Apparat“ an. Zum Schluß noch zwei kurze Bemerkungen über den Zusammenhang von Akademien und Aufklärung, Bemerkungen im Sinne von Hinweisen. Im 18.  Jahr­ hundert haben in der aufklärerischen Diskussion in Frankreich gegen den staatlichen Absolutismus und gegen die damals bestehende Ordnung außer den Pariser Salons und außer den Freimaurerlogen nicht zuletzt die neu entstandenen bzw. „zu neuem Leben erweckten Akademien“ eine wichtige Rolle gespielt (siehe dazu z. B. Mandrou, S. 154 (Zitat), S. 332 und S. 346). Überhaupt sind Wissenschaftsund Bildungsförderung sowie Aufklärung eng miteinander verbunden gewesen. So hat König Friedrich  II. von Preußen, Vertreter des „aufgeklärten Absolutismus“, gleich nach seinem Regierungsantritt, 1740, nicht nur den bedeutendsten Philo­sophen der frühen deutschen Aufklärung, Christian Wolff, der zur Zeit von Friedrich Wilhelm I. („Soldatenkönig“, Vater Friedrichs II.) seines Amts als Lehrstuhlinhaber in Halle enthoben und aus Preußen ausgewiesen worden war, in Leipzig wieder ins Amt gebracht, Friedrich II. hat auch die aus der 1700 entstandenen „Kurfürstlich-brandenburgischen Societät der Wissenschaften“ hervorgegangene, von Gottfried Wilhelm Leibniz zur Zeit König Friedrichs I. so glänzend entwickelte „Preußische Akademie der Wissenschaften“, die Friedrich Wilhelm I. hatte untergehen lassen, wieder in Gang gebracht. (In anderem Zusammenhang steht dazu auch einiges in Kapitel B.II.2.a)bb) bei Index 605.)

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b) Prüfung hinterher (Rechenschaft ablegen): Erfolg, „Heil“, Bewährung – mit Bestätigung oder Wechsel Wir sind es in unseren freiheitlichen parlamentarischen und präsidial-parlamen­ tarischen Systemen gewohnt, daß in regelmäßigen Abständen über die Zusammensetzung der Volksvertreterversammlungen und über Führungspersonen bzw. die „Grundrichtung“ bzw. über beide in Verbindung miteinander neu befunden wird. Rechtliche Grundlage ist die in der Verfassung oder sonstwie festgelegte Bestimmung über die Wahlperiode. (Grundsätzliches über Wahl siehe am Anfang von Kapitel  B. V.9.) Der Sinn ist, die Möglichkeit eines periodischen Wechsels zu garantieren. Es gibt zwar auch viele Sondersituationen, in denen es zu einem Wechsel kommt oder kommen kann; sie lasse ich aber außer Betracht. Normal ist – grob, aber für unsere Zwecke zureichend formuliert – ein Ausscheiden der zu Anfang der Periode Gewählten aus ihren Ämtern zum Ende der Periode. Was oben mit „Führungspersonen“ und mit „Grundrichtung“ bei der Verfolgung von Zielen für das Gemeinwesen bezeichnet wurde, die periodisch einer Überprüfung (mit Bestätigung oder Wechsel) sollen unterzogen werden können, zeigt deutlich Unterschiede in parlamentarischen und in präsidial-parlamenta­ rischen Systemen. In den präsidial-parlamentarischen wie etwa Frankreich und den USA steht mehr eine Führungsperson, die Person des amtierenden Präsidenten, der sich wieder bewirbt, bzw. die des Präsidentschaftskandidaten etwa der Opposition im Zentrum der Beurteilung, aber nicht ausschließlich. Der amtierende, wieder kandidierende Präsident und der oder die anderen Bewerber ist/sind in der Regel mit der einen oder der anderen der beiden großen Parteien (USA) und deren Grundrichtung mehr oder weniger stark verbunden oder mit einer Partei oder einem Parteienbündnis (Frankreich), womit ebenfalls eine Grundrichtung angezeigt ist. In primär parlamentarischen Systemen, in denen gerade nicht die dort wichtigste Führungsperson, in der Bundesrepublik Deutschland der Kanzler, gesondert vom Volk (wie in Frankreich) oder von vom Volk gewählten Wahlmännern (wie in den USA) gewählt wird, sondern politischen Parteien angehörende Parlamentsabgeordnete, stehen die Parteien im Vordergrund. Aber so wenig es bei Präsidialwahlen ausschließlich um Personen unabhängig von Richtungen geht, so wenig ist auch hier die „Richtungs“-Entscheidung losgelöst von der Führungsperson, hier vom Kanzler, wenn dieser anstrebt, daß seine Partei ihn über die neuzuwählende Parlamentsfraktion erneut als Kandidaten nominiert, bzw. vom Kanzlerkandidaten der stärksten Oppositionspartei. Wie stark die Auseinandersetzung um Wiederwahl oder Wechsel auch im nicht präsidial-parlamentarischen Sy­stem „personenbezogen“ sein kann, ist z. B. ganz besonders deutlich abzulesen an der heftig geführten Kandidatendebatte bzw. -querele Lafontaine-Schröder in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1997/98. Obwohl nicht ein einziger der deutschen Bundeskanzler sich auf eine absolute Mehrheit der Parteifraktion im Deutschen Bundestag stützen konnte, aus der er kam, waren von 1949 bis 1998, also in 49 Jahren, nur sechs verschiedene Personen

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Kanzler. Im Durchschnitt gab es hier einen Wechsel also nur etwa alle acht Jahre. Ungewöhnlich lang (14 Jahre bzw. 16 Jahre amtierten Konrad Adenauer (dreimal wiedergewählt) und Helmut Kohl (viermal wiedergewählt). Auf das Warum kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehen; das ist viel zu komplex. In der attischen Demokratie des 5. Jahrhunderts v. Chr. ging es, anders als in unseren modernen Systemen, kaum um die Alternative von „Wechsel“ und „Wiederwahl“. Bis auf ganz wenige Ämter, die sozusagen beim besten Willen nicht auch noch verlost werden konnten (siehe die Kapitel B. V.6.a) und B. V.7.a)), sollte das Los gerade jeden treffen können; außerdem war die Amtsperiode von vornherein ganz kurz bemessen, zwischen in der Regel einem Jahr (z. B. beim Rat der 500) über 35 Tage (so bei der Prytanie) bis hinunter zu 24 Stunden (beim Epistat); schließlich war wiederum in der Regel Wiederkehr ins Amt gerade ausgeschlossen oder doch erst nach sehr langer Zeit oder (Epistat) nach vergleichsweise sehr langer Zeit (nur einmal einen Tag pro Jahr) möglich. – Von jenen wenigen oben summarisch erwähnten Ausnahmen nenne ich in diesem Kapitel nur die Strategen, die sozusagen Generale. Es gab davon zehn. Jede der zehn Phylen (der Unter­ gliederungen Attikas) wählte einen, mit hier jedoch uneingeschränkter Wiederwahlmöglichkeit. Perikles ist in seiner Phyle oft wiedergewählt worden, und aus dieser seiner zwar der Idee gemäß auf kriegerische Erfordernisse konzipierten, aber ebenso wie alle anderen athenischen Ämter dennoch normal „politischen“ Position heraus, die er 15  Jahre lang innehatte, hat im wesentlichen er Athen geführt.909 Dennoch hat es in Athen „Prüfung hinterher“ gegeben, jedoch auf dubiose Weise. „In Athen konnte jeder Beamte jederzeit abgesetzt werden, und auf jeder der zehn Hauptvolksversammlungen des Jahres wurde dem Volk die allgemeine Frage vorgelegt, ob die Beamten ihre Ämter gut führten. In Athen unterstanden die Beamten während ihres Amtsjahres der dauernden Aufsicht des Rates und hatten nach Ablauf der Amtszeit eine doppelte scharfe Untersuchung in Form eines regelrechten Gerichtsverfahrens zu bestehen sowohl betreffs der von ihnen verwalteten Staatsgelder910 … [als auch] ihrer allgemeinen Amts­ führung. Die Kompetenz der Beamten des demokratischen Staates910 war dementsprechend recht gering, und in Athen konnte zudem gegen den Entscheid eines Beamten an das Volksgericht appelliert werden“ (Ernst Meyer, Einführung, S. 95).

Das liest sich nur dann recht gut, wenn man es auf sich beruhen läßt. Aber: „Vom Fundament des modernen Rechtsstaates, der Gewaltenteilung, ist da nichts zu entdecken. Im Gegenteil, die Art und Weise, wie Athen die Justiz [unmittelbar] zu einer … Funktion des Volkswillens machte, schlägt ihr geradezu ins Gesicht. Die Folgen blieben 909 Wer an einem ausgewogenen Urteil über die herausragende Persönlichkeit des P ­ erikles interessiert ist (das ich hier nicht bringen kann), ohne daß er Spezial-Literatur über Perikles lesen will oder kann, sei verwiesen auf Heuß, S. 261–267 (dazu S. 258 ff., S. 280–287, S. ­304–308 u. S. 317–320). 910 Kritik am unhistorischen Begriff Staat auch hier wie bereits bekannt.

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auch nicht aus. Nicht nur war mit der Massierung von Laienrichtern die Gefahr von häufigen Fehlurteilen heraufbeschworen. Noch mehr fiel ins Gewicht, daß auf dieser Basis überhaupt keine empirisch-rationale Ausbildung des Rechts möglich wurde und wir so vor der erstaunlichen Erscheinung stehen, daß die Griechen … ohne methodische Rechtswissenschaft geblieben sind, weshalb das Abendland auf diesem Gebiet nicht bei ihnen, sondern bei den Römern in die Schule gehen mußte“ (Heuß, Bd.  III, S.  272). Und: „… der Beamte, der zur Beurteilung stand, wurde in keiner Weise mit einem Gremium von sach­ lichem und persönlichem Vorrang und Übergewicht konfrontiert. Alle Sicherungen des Gesetzes- und Verfassungsschutzes standen auf dem Papier, wenn das richtige Urteil keine Chance hatte, sich zu bilden und gegebenenfalls sich in der Menge von hundert Urteilsunfähigen durchzusetzen“ (S. 280), mit der Folge übrigens: „Die exemplarischen Einrichtungen der attischen Demokratie, geboren aus einem abgründigen Mißtrauen gegenüber der Superiorität führender Kreise, waren außerstande, die Bildung einer neuen Elite zu fördern“ (ebenda).

In den Zusammenhang von „Erfolg“ (bzw. Mißerfolg) und (nichtperiodischem, und zwar gewaltsam herbeigeführtem) „Wechsel“ gehören Gegebenheiten aus der germanischen Welt. Das erste Beispiel, das ich bringe, ist aus Schweden. Es ging dort um eine Auseinandersetzung zwischen den Bauern und dem „König“911 (Einzelheiten lasse ich weg): „Diese Kraftprobe zwischen dem Sprecher der Bauern und dem Upsalakönig steigert sich zu einem Symbol des germanischen Königtums, worin sowohl seine eigentümliche Stärke wie seine eigentümliche Schwäche scharf gekennzeichnet ist. Hier wie überall bei den nördlichen Völkern war es die Initiative des Königs, die dem Volke die Aufgaben stellte“, sozusagen die „Richtung“, das „Programm“ konkret vorgab. Er „hat über das hinaus, was wir seine Persönlichkeit nennen könnten, nichts, worauf er sich stützen könnte  …  . All seine Macht sitzt im festen Griff des überlegenen Heils … . … solange die Pläne des Königs mit der Kraft des Heils hervorgebracht werden, folgen die Männer, führen seine Pläne aus … . Wenn das Volk den König wegfegt, dann ist die Ursache die, daß es das Schwinden seines sæli, seiner Sieghaftigkeit, spürt“ (Grönbech, Bd. I, S. 170 f.) –,

was aber nichts daran ändert, daß das Geschlecht, aus dem der „König“ kam, das Sippenheil sehr wohl noch besaß (zum „Sippenheil“ siehe Kapitel B. V.4.b)). Das, was ich in diesem Kapitel als zweites Beispiel aus dem Germanischen bringe, unter dem uns jetzt interessierenden Aspekt, kennen wir schon aus an­ derem Zusammenhang (Kapitel B. V.4.c) und B. V.5.b)). Es ist die Ablösung der degenerierten Merowinger-Könige (insgesamt, jetzt nicht mehr bloß eines Mitglieds der „königlichen“ Sippe), die Ablösung durch das Geschlecht der Arnulfinger/ Pippiniden/Karolinger, ein Vorgang von größerer historischer Relevanz als jener schwedische. Zwar haben die Franken (auch während der rund 150! Jahre Führung des fränkischen Reichs, von Teilen oder auch im ganzen, seitens der Arnul 911

Welcher bei den Germanen (und frühen Griechen) eben alles andere als ein „Monarch“ war, ganz abgesehen davon, daß „König“ ohnehin von Hause aus ganz anderes meint als das, was wir inzwischen darunter verstehen – wie wir aus Kapitel B. I.1.b) (und entsprechend aus B. I.1.a)) wissen.

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finger als „Hausmeier“, d. h. als Reichsverwalter) sehr lange am von Alters her mit dem Ruhm des Sippenheils behafteten Merowinger-Königtum festgehalten (haben zwar zeitweise de facto sogar ohne Merowinger im Königsamt das Reich verwaltet/regiert, haben aber auch zeitweise Angehörige der Merowinger-Sippe wegen der nach außen immer noch relevanten Heils-Tradition und von daher um des Reichszusammenhangs willen Merowinger auf den „Thron“ gebracht), es war aber zunehmend erkennbar und Mitte des 8.  Jahrhunderts nicht mehr zu übersehen, daß von den Merowingern das „Heil“ des Reichs nicht mehr kommen würde, daß aber die Arnulfinger/Pippiniden „erfolgreich“ waren, sich bewährt hatten. Auch der letzte noch vorhandene Merowinger, Childerich, ist insofern mit Gewalt entfernt worden, als er, nach Deklaration als angeblich „unechter“ Merowinger, gegen seinen Willen in ein Kloster gesteckt worden ist. (Freilich, unter den Karolingerkönigen ist das Frankenreich zum mittelalterlichen Herrschaftssystem degeneriert (s. die Kapitel von B.II.1).) Während im Mittelalter die Erblichkeit der (weltlichen) Fürstentümer und der Königreiche immer mehr zur Regel wurde und im Zeitalter des Absolutismus der Normalfall war, haben die (republikanischen) Freien Reichsstädte ihre Führung turnusmäßig gewechselt. Im einzelnen gab es Unterschiede; ich kann nur ein Beispiel bringen. In Nürnberg waren während eines Geschäftsjahres des Rats der Stadt (Beginn an Ostern) insgesamt 26 Bürgermeister im Amt. Von diesen amtierten jeweils für vier Wochen je zwei gleichzeitig, der Ältere Bürgermeister und der Jüngere Bürgermeister (siehe auch Kapitel B. V.6.a)). Sie leiteten die Ratssitzungen und führten die Beschlüsse herbei, die rechtsverbindlich sein sollten. In Ange­ legenheiten jedoch, die den beiden Bürgermeistern zur Vorbereitung oder endgültig zur Erledigung überwiesen worden waren, sind sie vom ständig bestehenden, aber ebenfalls alle vier Wochen in der Zusammensetzung wechselnden Kollegium der „Fünf [Rats-]Herren“ unterstützt worden, in dem außer den beiden Bürgermei­ stern noch drei andere Ratsherren mitwirkten. Weil der eine dieser drei stets der Jüngere Bürgermeister aus den vier Wochen zuvor war (siehe B. V.6.a)), war für Kontinuität gesorgt (Isenmann, S. 140).

7. „Gleichheit“ a) Los: bei – postuliert – hinreichend Gleichheit unter den Auszulosenden Aus vielen Epochen kennen wir Fälle, in denen in Gemeinwesen Ämter durch Los vergeben worden sind, es also dem Zufall überlassen worden ist, wer dann das Amt bekleidete. Ich bringe nachher Beispiele, diesmal aus Athen, aus Rom, aus der Geschichte germanischer Gemeinwesen, aus der Republik Venedig, aus deutschen sozusagen kommunalen Verhältnissen von um 1500, schließlich aus der Gegenwart in Deutschland.

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Zuerst aber wieder zu dem, was dahintersteht. Los-Entscheid ist, wie Würfelspiel und Lotterie, für sich irrational.912 Im Fall der Besetzung von Ämtern müßte man ihn für unvernünftig halten, wenn das Ziel ist, die Ämter mit den dafür am besten Befähigten zu besetzen. Aber bereits ganz ohne Ansehung der empirisch gegebenen Fälle, allein schon durch Nachdenken, läßt sich der Widerspruch auf­ lösen. Los-Entscheid muß de facto, also in der Wirklichkeit, immer dann keineswegs für unvernünftig gelten, wenn es aus der gegebenen Situation gleichgültig sein kann oder (etwa in vielen Situationen zahlreicher Arten von Spielen) sogar gleichgültig sein soll, wen das Los trifft. Gleichgültig kann es sein, wenn die­ jenigen, unter denen die Ämter ausgelost werden, in der Hinsicht oder in den Hinsichten, auf die es ankommt, „gleich“ sind. Wollte man es mit dieser Forderung allerdings strengnehmen, wäre Gleichheit nie zu beweisen. Man behilft sich damit, daß ausdrücklich oder stillschweigend zu „Gleichheit“ der Zusatz „hinreichend“ angefügt und außerdem postuliert wird, „hinreichend Gleichheit“ sei auch tatsächlich gegeben. Es kommt auch vor, daß konkret formuliert wird, was als hinreichend gelten kann und was nicht reicht, so etwa im weiter unten als letztes genannten Beispiel. In Athen, zur Zeit der Demokratie, ist argumentiert worden, die Bürgerschaft der Polis könne nur aus Gleichen (und zugleich Freien) bestehen, und es ist postuliert worden, sie bestehe auch nur aus solchen. „Die in entwickelten Verhältnissen oft zusammentretende Volksversammlung kann alles und jedes im Rahmen der von ihr selbst aufgestellten Vorschriften beschließen und regeln, sie gibt nicht nur Gesetze und wählt die … [für erforderlich geltenden] Beamten und Kommissionen, sondern trifft auch zahlreiche Entscheide in Einzelfragen der Verwaltung und Regierung. Darüber hinaus sind alle Ämter und der Sitz in dem die laufende Verwaltung besorgenden Rat [Näheres gleich] dauernd wechselnde Ehrenämter, in die jeder Bürger … gewählt … werden kann“ (Ernst Meyer, Einführung, S. 74 f.).

Etwas später (S. 90–96) beschreibt Meyer die z. T. hochkomplexen Regelungen für das oder die in vielen Hinsichten angewendeten Losverfahren. Das gebe ich hier nicht alles im einzelnen wieder, bringe aber zwei Beispiele. Wenngleich die Volksversammlung sehr wohl oft tagte und es also wenig „Stau“ gab, ging es doch nicht ohne eine Institution ab, die die laufenden Angelegenheiten erledigte und allgemein die Aufsicht führte, also eine Art Regierung. Zur Zeit des Kleisthenes hatte diese Institution, der „Rat“ (boulē´ ), 500 Mitglieder (Mindestalter 30 Jahre), für jede der zehn Phylen Athens 50. Diese zehn mal 50 waren jeweils in den Untereinheiten des Gesamtgemeinwesens ausgelost worden. Weil die 500 für die Führung der laufenden Angelegenheiten zu viele waren und zu schwerfällig gearbeitet hätten, wurde mittels Los die Reihenfolge festgelegt, in der immer für ein Zehn 912

Larsen, S. 198, weist (ohne Einzelheiten, aber mit Literaturangabe) auf den ursprünglich religiösen Aspekt des Los-Entscheids hin, meint aber, „bei seiner Anwendung … zur Wahl von Räten und Beamten“ habe man in Griechenland doch „nur [an] die politische und profane Seite“ der Sache gedacht.

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tel des Jahres die 50 Ratsmitglieder aus einer Phyle, also ein Rats-Zehntel (Prytanie), die laufenden Geschäfte und die Aufsicht führte. Aus der Mitte der Prytanie bestimmte wiederum das Los immer für nur einen Tag und eine Nacht (ohne Wiederwahlmöglichkeit vor Ablauf eines Jahres) ein Mitglied zum Vorsitzenden, zum Epistat, der auch die Schlüssel zu den Heiligtümern, in denen die Gelder der öffentlichen Hand aufbewahrt waren, sowie das Archiv und das Siegel des Gemeinwesens in Händen hatte. Die Regelung betreffend Prytanie brachte „wenig­ stens eine Überschaubarkeit der Teilnehmer [an den Sitzungen des Rats] und damit ein höheres Bewußtsein der Verantwortlichkeit, andererseits durch die kontinuierliche Funktion mehrere [nämlich etwa 35] Tage hindurch eine gewisse Geschäftskenntnis …, freilich in einem für unsere Begriffe höchst ungenügenden Umfang“, schreibt Heuß (Bd. III, S. 273). Eine fachliche Ausbildung für die Ausübung der allgemeinen öffentlichen Ämter „gab es nicht und schien nicht nötig [zu sein], da die dauernde Anteilnahme“ der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten „genügende Gewähr für die Eignung zu den Ämtern“ zu geben schien (Ernst Meyer, Einführung, S. 95).913 Trotz der Fiktion von der Gleichheit aller konnte aber auch die athenische Demokratie von ihren insgesamt über 30 Ämterkollegien und Einzelämtern einen Teil nicht mittels Los besetzen. Es waren alle die, für deren Führung eben doch die „wirklich Befähigten“ gebraucht wurden (siehe auch Kapitel B. V.6.a), fünfter Absatz). Im Fall der höchsten Ämter für die Kriegsführung, denen der „Strategen“, war dieses Erfordernis nicht zu übersehen. „Hier, wo Leib und Leben jedes athenischen Bürgers914 auf dem Spiel stehen konnten, wurde nicht gelost, sondern dem qualitativen Urteil durch Wahl Raum gegeben“ (Heuß, Bd. III, S. 269). Jedoch auch für andere Ämter brauchte man in Wirklichkeit fachlich qualifizierte Leute (Camp, S. 133, nennt außer den Strategen und den Kämmerern noch die Wasserkommissare, deren erfolgreiche Arbeit damals, besonders in Kriegszeiten, noch weit mehr lebenswichtig war als die ähnlicher Ämter bei uns heute) bzw. solche, die auch andere Voraussetzungen mitbrachten als solche fachlicher Natur. So war für die Ämter der Finanzverwaltung ein bestimmtes Vermögen der Amtsinhaber gefordert, nämlich die Zugehörigkeit zur höchsten Vermögensklasse, „und das hatte den praktischen Grund, daß nur so die Haftung für Fehler und Veruntreuung tatsächlich durchzuführen war“ (Heuß, Bd. III, S. 269). Aus der römischen Geschichte habe ich, falls mir nicht doch Wichtiges entgangen sein sollte, wenig über die Anwendung des Legitimitätsprinzips Los gefunden. Der eine Fall betrifft die Institution des „Interrex“ (ein Sonderamt, das noch auf 913 Zum Thema „Über öffentliche Angelegenheiten mitzusprechen, ist möglich, ohne daß man dies besonders gelernt haben muß“ siehe Kap. B. I.2., betr. Dialog „Protagoras“. 914 Wenn eine Polis Krieg führte, war der Krieg nicht allein Sache der „Kombattanten“, wie wir heute sagen, so daß die „Nichtkombattanten“ unmittelbar nichts mit dem Krieg zu tun hatten und für ihn nicht verantwortlich waren. Die Polis als Personenverband war im ganzen, mit Frauen und Kindern, in der Verantwortung. Im Fall der Niederlage war es möglich, daß a l l e Männer niedergemetzelt und die Frauen und Kinder versklavt wurden.

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die Zeit der etruskischen Könige zurückgeht; Ernst Meyer, Einführung, S. 185 f.). Er bringt für unsere Überlegungen nichts, was hier im einzelnen dar­zustellen wäre. Der andere (S. 186) ist von etwas mehr Interesse. Er betrifft das in Kapitel B.V.2. in anderem Zusammenhang schon erwähnte Praetoren-Amt. Für unsere Zwecke ist wieder Meyer genügend informativ: „Zu den Oberbeamten mit Imperium915 gehörten auch die Praetoren. In der entwickelten Verfassung der Republik gab es sechs Praetoren, von denen zwei, der praetor urbanus und der praetor peregrinus, die Sorge für die Rechtsprechung in Rom hatten, die … [anderen] vier auswärtige Provinzen verwalteten. Sulla erhöhte die Zahl der Praetoren auf acht, unter Caesar stieg sie auf 16, in der Kaiserzeit mit mehrfach wechselndem Bestand bis auf 18. Diese vielen neuen Praetoren waren zum Teil Provinzstatthalter, zum anderen Teil Vorsitzende verschiedener Gerichtshöfe. Die Verteilung der … Aufgaben unter die Praetoren geschah stets erst nach ihrer Wahl und vor dem Amtsantritt durchs Los“ (S. 186).

Nun ist zwar die Relevanz des Legitimitätsprinzips Los keineswegs konstitutiv für Demokratien, aber umgekehrt gilt: Ein System, das trotz seiner (in der Zeit der Republik) Firmierung als „Populus senatusque Romanus“ (erst später „Senatus populusque Romanus“) nie auch nur annähernd eine Demokratie gewesen ist, in dem vielmehr die den Senat bestimmenden Kräfte die Geschicke des Gemein­ wesens bestimmten und in dem die „Überzeugung von der natürlichen Ungleichheit der Menschen“ hinsichtlich ihrer Fähigkeiten (S. 216) galt, kann mit dem Prinzip Los in bezug auf die Auswahl von Amtsträgern nicht viel anfangen. Wohl aber gab es den Los-Entscheid in Rom in Situationen, in denen auch wir im menschlichen Alltag, außerhalb des Politischen, das Los entscheiden lassen („Dann laßt uns knobeln?“), nämlich in den Fällen, in denen mit Argumenten keine Einigung erreichbar ist, aber eine Entscheidung getroffen werden muß. Meyer (Einführung, S. 170) zeigt, daß in Rom in denjenigen Kollegien, in denen Intercessions­ recht bestand, so im Kollegium der beiden Konsuln und im Kollegium der Volkstribunen, eben versucht werden mußte, eine Einigung zu erzielen, z. B. den Antrag gemeinsam einzubringen (damit danach keine Intercession mehr möglich war) oder die Aufgaben zu teilen. „Wenn eine gütliche Vereinbarung nicht stattfand, konnte auch das Los entscheiden“. Hier wird nicht gelost zwischen (postuliert) hin­ reichend gleich befähigten Auszulosenden, vielmehr gleicht die Situation einem Patt, bei dem es aber nicht bleiben darf. Aus der Geschichte germanischer Gemeinwesen erfahren wir: „Bei den Sachsen [der Merowingerzeit], sagt Beda [Beda Venerabilis, „Historia ecclesiastica gentis Anglorum“, V, 10], ward der Herzog durch das Loos aus der Zahl der Für­ sten bestimmt“ (Waitz, Bd. 1, 41953, S. 267). Das Wort Fürsten darf man nicht sehr hochhängen. Es ging um die Anführer in den Gauen. Worauf es ankam, ist: Der Kreis derer, aus denen ausgelost wurde, war recht homogen, d. h. „Gleichheit“ war im wesentlichen gegeben. 915

Im Unterschied zu „potestas“ mit ihrer mehr allgemeinen Reichweite war „imperium“ eine Befugnis, in einem bestimmten Sachbereich „zu gebieten“.

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Das nächste Beispiel, das mir wegen eines anderen Zusammenhangs wichtig ist (siehe am Schluß dieses Absatzes), ist die Republik Venedig. Die Venezianer haben die Regierungsämter zwar durch Los vergeben, aber keineswegs unter allen Bürgern – Venedig war Republik mit einem auf Lebenszeit gewählten Herzog (Doge) –, sondern nur innerhalb des Kreises der „Großen Familien“, die im „Goldenen Buch“ eingetragen waren, das dann außerdem später nach außen (unten) geschlossen wurde (serrata von 1422 bzw. 1510; Ennen 41987, S. 209). Ferner – und deshalb bringe ich das  – hat die Republik Venedig zwischen großen/wichtigen und kleinen/weniger wichtigen Ämtern unterschieden und nur die zuletzt genannten auch zwischen jüngeren, sozusagen ungelernten und erst mit weniger Erfahrung ausgestatteten Mitgliedern der ca. 200 Familien auslosen lassen. Es ist also das in diesem Kapitel betrachtete Prinzip mit Prinzipien aus den Kapiteln B.V.2. und B. V.6.a) verbunden worden. Von kurz nach 1500 stammt der folgende Fall. Die Gemeinde Harlingen im Hochwald, heute Stadtteil der Stadt Merzig/Saar, hatte bis dahin ein „Huber­ gericht“ besessen, ein Gericht, in dem alle Güter-Inhaber (die Gesamtgemeinde, in der Hauptsache: alle Bauern) Niedergerichtsangelegenheiten entschieden hatten. Im Harlinger Weistum heißt es dann (hier gemäß Eder, S. 126 in Verbindung mit S. 25, Fußn. 44): „Wegen zu großer Kosten [von denen zuvor immer alle betroffen waren] hatte der Grundherr, das Trierer Domkapitel, mit Zustimmung des Hubergerichtes vier Mann gezogen, d. h. durch Los ermittelt und als Schöffen vereidigt. Die Auflösung [des Hubergerichts] geschah auf Grund einer Vereinbarung zwischen den Untertanen und dem Niedergerichtsherrn“, dem Domkapitel. Die Schöffen durch Los zu ermitteln, bereitete für die künftige Rechtssprechung inhaltlich zunächst überhaupt keine Schwierigkeiten, weil bis dahin a l l e im Hubergericht Recht gesprochen hatten, also das „alte Recht“, das „Herkommen“ noch kannten. Spätestens eine Generation danach mußte die im Hubergericht noch gegebene Gleichheit der Kenntnis auf anderem Weg hergestellt werden, wenn die auszu­ losenden Schöffen wirklich sollten „weisen“ können. Üblich war, in Zeiten vor der schriftlichen Fixierung, daß in denjenigen Familien, die für die Schöffengerichte (Hoch- und Niedergerichte) meist mit schöner Regelmäßigkeit die „Meier“ (bzw. im Pfalz-Zweibrückischen die „Schultheißen“) und die „Schöffen“ stellten, und zwar oft durch viele Generationen hindurch, die Jungen schon von früh an das alte Recht/Herkommen lernen, sozusagen pauken mußten. – Wir sehen, das, worauf es ankam, war Gleichheit bzw. Heranführung an Gleichheit der Voraussetzungen, bevor gelost werden konnte. Im letzten Beispiel, das nun folgt, aus unserer Zeit – Ermittlung von Schöffen als ehrenamtliche Richter (neben hauptamtlichen), hier aber in Strafsachen, an Amts- und Landgerichten,916 mittels eines dem Los verwandten Verfahrens –, ist, so kann man es formulieren, Gleichheit der Voraussetzungen keineswegs postu­ 916 An 551 Amts- und 23 Landgerichten der alten Bundesrepublik Deutschland und Westberlins zum 1.1.1989 (für vier Jahre) rund 40 000 Schöffen (Horst Zimmermann).

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liert, nicht einmal angestrebt. Vielmehr wird ein „Querschnitt“ durch die Gesamtbevölkerung ermittelt; d. h. es sollen gerade die Verschiedenheiten möglichst repräsentativ in der Auswahl vertreten sein, zwar nicht bei jedem Strafprozeß in einem Amts- bzw. Landgericht – das ist von der Zahl der Schöffen her nicht möglich  –, wohl aber im ganzen Gerichtsbezirk. Das geht wie folgt (hier wieder­ gegeben anhand von Horst Zimmermann). Gemäß den gesetzlichen Bestimmungen „stellen die Gemeinden eines Gerichtsbezirks eine Schöffen-Vorschlagsliste auf, in der Männer und Frauen, alle Altersgruppen und die sozialen Schichten gleichmäßig vertreten sein sollen. Die Liste muß doppelt so viele Vorschläge enthalten, wie Schöffen gebraucht werden. … Früher war es allgemein üblich, daß Parteien, Kirchen und soziale Organisationen die Kandidaten für die Vorschlagsliste benannten. Diese Prozedur erwies sich jedoch zunehmend als problematisch: Geeignete Persönlichkeiten aus Parteien und Organisationen hatten oft bereits zeitaufwendige Ehrenämter und konnten deshalb nicht noch zusätzlich Schöffe werden. … Das Schöffenamt dürfen laut Gesetz nur Ärzte, Zahnärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Apothekenleiter und Abgeordnete ablehnen. … Weil besonders in Großstädten Parteien und Organisationen kaum noch genug Kandidaten benennen können, haben sich mittlerweile die ersten Städte ein neues Verfahren einfallen lassen. In Köln pickt ein Computer nach einem Zufallssystem 12 000 Namen aus dem Melde­ register. Aussortiert werden alle Personen, die laut Gesetz nicht Schöffen werden sollen: Die Liste reicht vom Bundespräsidenten und den Mitgliedern von Landes- und Bundes­ regierungen über Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Polizisten bis zu Pfarrern und Ordensleuten. Dann wird das Strafregister bemüht: Wer zu mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, darf nicht über andere zu Gericht sitzen.“

Daß einerseits Pfarrer und Ordensleute, andererseits alle, die zu mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurden, nicht Schöffen werden können, obwohl auch diese Personengruppen „Schichten“ (o.  ä.) der Gesamtbevölkerung bilden, liegt daran, daß – auf verschiedene Weise – die Ungleichheit jeder dieser beiden Gruppen gegenüber allen anderen Gruppen in für die Situation gerade von Strafprozessen entscheidenden Hinsichten nun doch zu groß ist. Das Ethos der Pfarrer und Ordensleute zielt auf Vergebung; das paßt nicht in Strafprozesse. „Die übriggebliebenen Bürger werden angeschrieben und über die Bedeutung des Schöffenamtes informiert. Davon sind erfahrungsgemäß heute 60 Prozent zur Mitwirkung bereit. Daraus wählt dann der [Schöffen-]Wahlausschuß“, dem ein Amtsrichter, ein Verwaltungsbeamter und zehn von den Gemeinden des Bezirks bestimmte Vertrauensleute angehören, „die benötigten Schöffen“. „Wer dann in welchem Prozeß ‚im Namen des Volkes‘ Recht zu sprechen hat, bestimmt das Los.“

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b) „Volkssouveränität“: bei – postuliert – hinreichend Gleichheit der Voraussetzungen auf seiten derer, die wählen/abstimmen „Volkssouveränität“ besagt, daß die Entscheidungsbefugnis im Gemeinwesen beim ganzen Volk liege bzw. liegen solle. Alle Entscheidungen müßten letztlich auf die Zustimmung des Volkes zurückgeführt werden können. Solche Zustimmung erfolge per Wahl und Kompetenzzuweisung im Rahmen der parlamentarisch gestalteten Ordnung des Gemeinwesens oder per Sachentscheidung in einer Abstimmung, die das Volk unmittelbar treffe. Das Legitimitätsprinzip Volkssouveränität in seiner modernen Variante, ent­ wickelt von der rationalistischen Naturrechtsphilosophie, mit Jean-Jacques Rousseaus Theorie als Höhepunkt, soll die demokratischen Systeme legitimieren. Anders als man demnach erwarten sollte, erweist sich aber seine Bedeutung tatsächlich als geringer, zwar nicht historisch als Kampfruf im 18. Jahrhundert, wohl aber in seiner Legitimationskraft. Vorweg aber noch einige Bemerkungen. Autoren des 19. und noch des 20. Jh. haben Sachverhalte germanischer Gemeinwesen, vor allem die Volksversammlungen (zu diesen siehe Kapitel B.I.1.b)), zur Stützung ihrer These herangezogen, Volkssouveränität sei bereits Kennzeichen dieser germanischen Systeme gewesen, sie haben aber unhistorisch mit Begriffen operiert, die erst auf jüngere Zeiten passen. Noch ganz im spätmittelalterlichen Rahmen halten sich die Überlegungen des Marsilius von Padua (um 1275 bis 1342/43) in „Defensor pacis“ (1324), worin eine auf der Volkssouveränität beruhende, vom Papsttum unabhängige weltliche Herrschaft des Königs/Kaisers postuliert wird. Um Volkssouveränität geht es auch explizit bei Johannes Althusius (um 1563– 1638, Rechtslehrer und Politiker; Professor in Herborn, Hauptwerk „Politica methodice digesta …“, 1603; ab 1604 Stadtsyndikus in Emden). Souverän konnte entweder eine Person sein, etwa der Monarch, oder ein handlungsfähiger Verband: das Volk, organisiert in Ständen, in Reichstagen (Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum, S. 163). Für Althusius ist Ausgangspunkt seiner Theorie noch nicht, wie in der jüngeren Naturrechtslehre, das (angeblich) unsoziale Individuum des „Urzustands“, sondern, hier traditionell mittelalterlich gedacht, das Volk, gegliedert in repräsentative Körperschaften; dazu mehr Details bei Kielmansegg, 1977, S. 89–98. Die das Gesamtthema umfassende Arbeit Peter Graf Kielmanseggs, „Volks­ souveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität“, geht im historischen Teil in der Legitimitätsfrage von den mittelalterlichen Grundlagen und von der Situation des Investiturstreits aus, zeigt dann, wie im Lauf der Jahrhunderte nach und nach neue Ideen oder neue Aspekte hinzugekommen sind, wie neue Ideen in alte Denkmuster eingepaßt wurden, wie neue historische Entwicklungen schon bekannten Ideen ein anderes Gewicht gaben, sie in eine andere

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Richtung wiesen, wie die mittelalterlichen Grundlagen der Thematik immer mehr preisgegeben wurden und wie dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Antithese zum monarchischen Souveränitätsanspruch postuliert werden konnte, alle Entscheidungsbefugnis gehe vom Volk aus. Weil im historischen Teil der Arbeit das für das Verständnis der (alles andere als kontinuierlich verlaufenden) Entwicklung hin auf jene Aussage vom Ende des 18. Jahrhunderts Wichtige kompakt beieinander ist, kann ich darauf verweisen. Am Ende des 18. Jahrhunderts galt als ausgemacht und damit als Grundlage aller Philosophie der Politik: Der Mensch ist von Natur aus, d. h. aufgrund seines Menschseins, als frei, als sich selbst bestimmend (autonom) vorzustellen. Das hat zur Konsequenz, daß die Menschen, wenn sie frei sind aufgrund ihres Menschseins, in dieser ihrer sozusagen Grundbefindlichkeit auch alle gleich seien. – Nun war aber weder eine solche uneingeschränkte Autonomie des Individuums noch jene Gleichheit irgendwo in der geschichtlichen/sozialen Existenz der Menschen aufzufinden. Weil aber beide Postulate im Kampf gegen die These von der monarchischen Souveränität gebraucht wurden, wurden Freiheit und Gleichheit künstlich zurückverlegt in einen  – angeblich  – Naturzustand der Menschen vor aller Geschichte und Sozialität. (Für eine solche Art Philosophie der Politik ist damit ausgerechnet der Mensch seiner „Natur“ gemäß als asozial und ungeschichtlich beschrieben worden.) Ebenso künstlich war dann auch die Konstruktion eines Urvertrags zwischen den Menschen, mit dem diese sich erstens überhaupt zu einem Gemeinwesen zusammenfanden („Sozialvertrag“), was zweitens eine Über­tragung der Entscheidungsbefugnis (die gemäß dieser Theorie im „Natur­ zustand“ ja beim autonomen Individuum gelegen hatte) notwendig machte (in der Literatur, auch bei Kielmansegg, meist „Herrschaftsvertrag“ genannt). Mit diesem Urvertrag (bzw. den beiden Verträgen) habe menschliche Geschichte, menschliche Sozialität begonnen. Legitime Befugnis zu verbindlichen Entscheidungen könne nur zustande kommen, wenn die Menschen freiwillig auf das ihnen von „Natur“ ur-eigene individuelle Selbstbestimmungsrecht verzichten. Sie verzichteten darauf – lautet die Behauptung Rousseaus – aber nicht zugunsten eines ihnen gegenüberstehenden Dritten, sondern zugunsten der Gesamtheit ihrer selbst, d. h. zugunsten des ganzen Volkes, und behielten somit – so jedenfalls die Theorie – die Selbstbestimmung doch. In der historischen Situation, die eine Situation des Kampfs gegen die traditionelle These war, die Befugnis, verbindlich zu entscheiden, liege allein beim Monarchen als dem „Souverän“ (dazu siehe B.II.2.b)), postulierte Rousseau – er allerdings noch mit Blick auf städtische Gemeinwesen wie etwa Genf – die Gegenthese, Souverän sei das Volk und nur das Volk. Rousseau hypostasierte das Volk zu einem Kollektivwesen mit Subjektcharakter, und Kielmansegg (S.  150) charakterisiert dieses Gedankengebilde treffend: „Nur wenn die Gesamtheit der Bürger als e i n Subjekt mit e i n e m Willen von eigener Wirklichkeit vorausgesetzt wird, ist es möglich, sich den Einzelnen als

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durch seine Teilhabe an der Gesamtheit und ihrem Willen frei zu denken, auch dort, wo es ihm nicht bewußt wird.“ Es bleibt dabei aber unerfindlich, wie dieses Kollektivwesen mit Subjektcharakter zustande kommt – falls man dazu mehr wissen will als lediglich die Behauptung: durch den Contrat social. Jener Gesamtwille des Kollektivs, Rousseaus volonté générale, wird jeweils mittels Abstimmung, bei Gleichheit des Stimmrechts aller, in der Volksversammlung ermittelt. Die volonté générale befinde sich in Übereinstimmung mit dem objektiven Gemeinwohl des Volkes, behauptet Rousseau – was aber nicht nachvollziehbar ist, weil niemand mit wissenschaftlichen Mitteln objektives Gemeinwohl eruieren kann. Praktisch, auch für Rousseau, war es, weil Einstimmigkeit des Willens außerhalb aller Realität lag, nicht anders möglich, als den Willen der Mehrheit für den Gesamtwillen jener Art zu nehmen. Rousseau hat sich dann mit der Annahme geholfen, die Minderheit habe sich bloß geirrt und könne und müsse zur Unter­ werfung unter ihr eigenes wohlverstandenes, wahres Wohl gezwungen werden – ein sehr gefährlicher Gedanke (und etwas qualitativ anderes als eine lediglich Re­ spektierung des Mehrheitsentscheids, wie sie in liberalen Systemen verlangt wird; dazu siehe auch das folgende Kapitel). Nun hat Rousseau andererseits auch die Meinung geäußert – es ist dies übrigens nicht seine einzige Inkonsequenz –, es könne auch sein, daß die Mehrheit unrecht habe, also das wahre Wohl des Volkes verfehle. Das führt natürlich zu der Frage, wer das feststellt, daß die Mehrheit das wahre Wohl verfehlt, und wer also dieses wahre Wohl besser kennt als die Mehrheit. (Am meisten bekannt ist der „Beweis“, daß und wie die Kommunistische Partei – das heißt natürlich: ihre Führung – immer das wahre Interesse der Massen erkennt und diese auf den richtigen Weg bringt.) Kielmansegg zeigt im systematischen Teil  seiner Arbeit, daß „Volkssouve­ ränität“ zwar als Schlagwort sehr erfolgreich in der Kampfsituation zu Ende des 18. Jahrhunderts verwendet wurde (u. a. S. 248), daß ihre konstitutiven Annahmen jedoch nicht aufrechtzuerhalten sind (S. 255), daß das Prinzip wegen seiner Widersprüche und sogar Aporien gedanklich nicht in der Lage ist, freiheitliche Verfassungssysteme wirklich befriedigend zu legitimieren. (Das muß man aber im einzelnen in Kielmanseggs sehr subtiler Analyse nachlesen.) Eine Legitimierung demokratischer Systeme müsse also auf andere Weise versucht werden. Kiel­mans­ egg (S. 255) sagt verständlicherweise dazu, daß das nicht mehr Gegenstand seiner Untersuchung über Volkssouveränität sei (gibt aber einige Hinweise darauf, in welcher Richtung man es versuchen könne); es ist natürlich noch weniger Thema der hier vorgelegten lediglich Übersicht. Ich habe das Prinzip der Volkssouveränität in der Titelei des Kapitels unter dem Gleichheitsprinzip subsumiert, und tatsächlich bildet „Gleichheit“ den Kern des „Volkssouveränitäts“-Prinzips. Es geht um die (behauptete) Gleichheit aller, die in

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Abstimmungen oder Wahlen entscheiden. Bloß steht es mit der Fundierung von „Gleichheit“ nicht besser als mit jenen anderen schon erwähnten Aspekten der Volkssouveränität. Um im Rahmen von Kielmanseggs Arbeit zu bleiben, verweise ich hier z. B. auf S.  249–255: „Gleichheit der Mitwirkung, Gleichheit des Einflusses ist das Ziel“ (S. 250). Kielmansegg überprüft die Realität und die Schlüssigkeit der Gedankengänge. Ergebnis ist: „das Ziel ‚gleicher Einfluß für alle auf alle allgemein verbindlichen Entscheidungen‘ kann nicht schlüssig begründet werden“ (S. 254). Das Prinzip „Gleichheit aller“ ist, wie wir gesehen haben, mit im „Volks­ souveränitäts“-Prinzip enthalten, die Prinzipien „Mehrheit“ und „Wahl“ dagegen, obgleich sie bei den Versuchen zur Legitimierung demokratischer Systeme mit „Volkssouveränität“ verknüpft worden sind, gehören in Kapitel für sich. 8. Mehrheit Unter „Mehrheit“ versteht man im Sinne unserer Betrachtung den von der Zahl her größeren Teil  einer, neutral ausgedrückt, Personengemeinschaft. Die Personen­gemeinschaft kann auch privaten Charakter haben (z. B. Familie, Freundeskreis, Club oder Verein); für uns von Interesse ist die Personengemeinschaft des politischen Gemeinwesens bzw. defizienter Modi davon. Wenn das Mehrheits917-Prinzip als Legitimitätsprinzip gilt, heißt das, daß in strittigen Fragen so verfahren werden soll, wie die Mehrheit es will. Die auf diese Weise getroffenen Entscheidungen sind im öffentlichen Bereich – falls so festgelegt – verbindlich, sanktionsgesichert verbindlich auch für die Minderheit. Eine kritische Würdigung bringe ich am Schluß. Aus Kapitel B. I.1.a) wissen wir für Sparta etwas über die Art, wie im Fall von strittigen Entscheidungen der Apella, der Volks-/Heeresversammlung, also einer vergleichsweise großen „Personengemeinschaft“, die Gewichte ermittelt worden sind: Im Normalfall war die Gewichtung einfach an der Stärke des Zurufs fest­ zustellen, im Zweifelsfall durch Auseinandertreten in zwei Gruppen, die dann besser und offenbar für die Verhältnisse von damals zureichend überschaubar waren. Ein dem Auseinandertreten – sogar ohne daß man sich vom Platz wegbewegen muß – ähnliches Verfahren wird auch heute noch bei sogenannten offenen Wahlen und Abstimmungen angewendet (Voraussetzung ist wiederum optische Über-

917 Was im konkreten Fall unter „Mehrheit“ zu verstehen ist, muß für den öffentlichen Bereich (aber auch schon in Vereinssatzungen, wenn Vereine ins Vereinsregister eingetragen werden sollen) vorher festgelegt sein: einfache („relative“) Mehrheit, absolute Mehrheit, Zweidrittelmehrheit usw., Mehrheit der abgegebenen (oder der gültig abgegebenen) Stimmen, Mehrheit aller Stimm- bzw. Wahlberechtigten (Einzelheiten in jedem größeren allgemeinen Lexikon).

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schaubarkeit): das „Handheben“, in der Regel heute für drei Alternativen („dafür“, „dagegen“, „Enthaltung“). In sehr vielen Fällen reicht das vollauf;918 es spart Zeit. Larsen, der thematisch über „Die Entstehung und Bedeutung der Stimmenzählung“ gearbeitet hat, zeigt (S. 195), daß es, nachdem Solon in Athen die Wahl der Beamten vom Areopag auf das Volk, die Volksversammlung, übertragen hatte, „eine Möglichkeit gegeben haben muß, Stimmen abzugeben und diese zu zählen oder zumindest das Stimmenverhältnis abzuschätzen. Wahrscheinlich wurde die Stimme wie in späteren Zeiten durch Handzeichen abgegeben.“ Aus Sparta ist ein Fall einer wahrscheinlich offenen Abstimmung überliefert, von der nicht nur das Ergebnis (Verhältnis Mehrheit zu Minderheit) bekannt ist, sondern auch, wer wie abgestimmt hat.919 In diesem Fall ist die „Personengemeinschaft“ verhältnismäßig klein gewesen. Um die Folgen des Kirchenschismas zur Zeit Kaiser Friedrichs I. von Staufen zu beseitigen, hat Papst Alexander III. 1179 auf einem Laterankonzil entschieden, die Papstwahl solle in Zukunft nur bei Zweidrittelmehrheit im Kardinals­kollegium gültig sein. Ziel war, Streit über die Gültigkeit zuverlässig auszuschließen (Ganshof, S. 437). Im Heiligen Römischen Reich hat sich 1197 die freie Königswahl gegen die an das Geblütsrecht gebundene Wahl durchgesetzt. Während es in England und in Frankreich erbliche Thronfolge gab, war der „Erbreichsplan“920 des Stauferkaisers Heinrich VI. 1196 gescheitert, worauf alle Königswahlen bis 1356 „nicht eigentlich Wahlen in unserem Sinne waren, bei denen sich die Minderheit der Entscheidung der Mehrheit unterwirft, sondern eine Folge von symbolischen, durch das 918

In bei Handheben unklaren Fällen ist noch z. B. im Bundestag der Bundesrepublik Deutschland während der ersten rund 20 Jahre ein dem spartanischen noch mehr ähnliches Verfahren angewendet worden, der „Hammelsprung“. Alle Abgeordneten traten auseinander, verließen den Plenarsaal und kamen jeweils durch eine von drei Türen, die für die drei Möglichkeiten zu votieren geöffnet wurden, zurück, was eine genaue Zählung erlaubte. (Später ersetzte die Verwendung eines elektronischen Zählwerks den „Hammelsprung“.) 919 „König Pausanias wurde nach seiner Intervention in Athen im Jahre 403, wo er zur Re­ stauration der Demokratie beigetragen hatte, vor Gericht gestellt. Der Gerichtshof bestand aus den 28 Geronten, [aus] den fünf Ephoren und [aus] dem zweiten König. Der Prozeß endete mit einem Freispruch, wobei 14 Geronten und der zweite König für Verurteilung, … 14 Geronten und die fünf Ephoren … für Freispruch gestimmt hatten. Da bekannt war, wie die einzelnen gestimmt hatten, scheint es klar [zu sein], daß keine geheimen Stimmzettel … [verwendet] wurden. … Eine offene Abstimmung ist in einer kleinen Gruppe von Ratsmitgliedern oder Beamten, die es gewohnt waren, zusammen zu beraten und zusammenzuarbeiten, nur selbstverständlich“ (Larsen, S. 194 f.). – Geheime Abstimmungen unter Verwendung von „Stimmzetteln“ – es handelte sich um Gefäßscherben (óstraka), in die die Willenskundgabe eingeritzt wurde – sind quellenmäßig belegt für Athen ab früh im 5. Jh. v. Chr. Geheime Abstimmungen waren dort bei den Gerichtshöfen üblich, d. h. bei den Volksversammlungen, die als Gerichtshöfe agierten (S. 201 ff.). 920 Er sah die Erblichkeit der Reichskrone vor und bot dafür den Reichsfürsten die Erblichkeit der Reichslehen an.

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Herkommen geprägten, aber nicht juristisch definierten Handlungen, sodaß bei Uneinigkeit der Wähler [der Reichsfürsten] nur die Gewalt [die kriegerische Auseinandersetzung der zwei oder gar drei „Gegenkönige“] eine Entscheidung herbeiführen konnte“ (Treue, Bd. I, S. 187). Die Stellung des Reiches war schwach und wurde immer schwächer, die Position der Reichsfürstentümer, die sich zu Territorialstaaten entwickelten (dazu siehe B.II.2.a)bb)), dagegen immer stärker. Das „Interregnum“, 1254–1273, nach dem Ende der Stauferzeit bis vor Rudolf von Habsburg, brachte den Tiefpunkt. Mit dem in anderem Zusammenhang in Kapitel B.II.2.a)bb) genannten Reichsgesetz von Nürnberg und Metz, 1356, der „Goldenen Bulle“, ist dann aber die Mehrheitsentscheidung bei der Königswahl förmlich legitimiert worden. Diese wenigstens die Doppelwahlen und die kriegerischen Auseinandersetzungen von Gegenkönigen verhindernde Regelung hatte allerdings – damit die Kurfürsten überhaupt dem Gesetz zustimmten – zur Voraussetzung die Zubilligung der Territorialhoheit seitens des Reiches an diese nunmehr – genau festgelegt – damals sieben Kurfürsten (vier weltliche und die drei geistlichen von Trier, Mainz und Köln), die jetzt allein das Recht der Königswahl hatten. Es gab danach nur noch eine im beschriebenen Sinn strittige Wahl, 1410, dann nicht mehr. Das war, wenngleich die Stellung des Reiches mit der Goldenen Bulle eben zum einen noch mehr geschwächt wurde, zum anderen doch etwas Positives. (Zu den Königswahlen nach der Stauferzeit mehr bei Boockmann, S. 182, S. 185, S. 221 f., S. 267–271 und S. 276.) Das Vernünftige liegt also in der Einigung darauf, daß die (jeweils) in der (friedlichen) Auseinandersetzung unterlegene Minderheit die Mehrheitsentscheidung hinnimmt, sich an sie gebunden fühlt, zwar vielleicht bedauernd, vielleicht aber auch sozusagen zähneknirschend und womöglich sofort wieder protestierend, aber sie eben doch „respektiert“, bis zur nächsten Möglichkeit einer Korrektur, einer Korrektur unter rechtlichen, nicht unter Gewaltbedingungen, z. B. bei den nächsten Wahlen oder einer nächsten Abstimmung. Es ist dagegen mit nichts wirklich belegt, niemand hat tatsächlich je zeigen können, daß die Mehrheit, weil sie Mehrheit ist, die für das Gemeinwohl richtige Entscheidung trifft, nicht im Sinne einer objektiven Gemeinwohlgerechtigkeit (die auch mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu gewinnen ist). Nur mehr vordergründig läßt sich sagen, es sei „gerechter“, wenn die Mehrheit der Minderheit ihren Willen aufzwinge als umgekehrt. Das oft genannte Zusatzargument, wenn es nach dem Willen der Mehrheit gehe, könnten wenigstens jeweils die meisten ihr Handeln als in Übereinstimmung mit ihren Vorstellungen empfinden, gehört lediglich in die Psychologie. Es bleibt uns aber nichts anderes übrig, als das Mehrheitsprinzip anzuwenden, bei gleichem Stimmrecht aller, obwohl wir doch wissen, daß (und das betrifft das Mehrheitsprinzip) Mehrheit keineswegs Gemeinwohl garantiert und daß (und dies betrifft das Prinzip der Gleichheit des Stimmgewichts von jedermann) in den weitaus meisten Hinsichten die weitaus meisten Menschen von den zu entscheidenden

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B. Vorsokratische empirische Grundlegung von Politik und Publizistik 

Sachen angesichts deren Komplexität kaum genügend (bis fast nichts) verstehen. Die Alternativen kennen wir schon: die besserwisserische Gruppe, die, manchmal mit pseudowissenschaftlicher Verbrämung, das allein wahre Wissen vom wahren Wohl des Volkes zu besitzen behauptet: die Jakobiner und die kommunistischen Parteien („Die Partei, die Partei, die hat immer recht …“) oder der von Gott bzw. von der „Vorsehung“ gesandte charismatische Führer dieser oder jener Sorte („der es schon recht machen wird“; „Im Kreml brennt noch Licht“). Was dabei herauskommt, davon hatten wir Anschauungsunterricht. Weil „Mehrheit“ Gemeinwohl nicht garantieren kann, muß Minderheit das Recht auf Opposition haben. 9. Wahl Unter „Wahl“921 versteht man die Möglichkeit zur Entscheidung zwischen Alter­ nativen, ursprünglich aber wohl diese Entscheidung selbst, also den Wählens-/ Wil­lens-921Akt (Grimm, Wb., Bd. 27, Sp. 507). In unserem Zusammenhang geht es darum, daß im Gemeinwesen Führungspersonen/Amtsträger (mit ihren Vorstellungen von dem, was für das Gemeinwesen wichtig ist) ihre Legitimation gewinnen durch Wahl (oder: a u c h durch Wahl) entweder seitens aller (wie wir wissen, historisch zunächst aller erwachsenen Männer) oder seitens derer, die gemäß dem Herkommen oder – um auch die modernen Fälle zu subsumieren – gemäß den im Gemeinwesen gültigen Regeln die Wahlentscheidung treffen. In anderen Kapiteln dieses Annexes und in Kapiteln von B. I.1. haben wir schon Fälle und damit auch Varianten der Legitimation durch Wahl kennen­gelernt: in B. I.1.a)  Wahl in Verbindung wohl mit Geblütsrecht („Volks- und Heerkönig“ der Makedonen), Wahl in den Rat der Alten und Wahl der Ephoren (Lakedai­ monier), Wahl einiger weniger Beamten besonderer Art aufgrund fachlicher Qualitäten (Athen, ab solonischer Zeit), in B. I.1.b), aus Caesar, Wahl der Anführer im Kriegsfall (Germanen), und aus Tacitus, Wahl derer, die in den Gauen und Dörfern Recht sprechen sollten (Germanen), in B. I.1.d)  Wahlkönigtum ­(Hethiter), in Kap.  B. V.2.a)  Wahlprinzip gebunden an das Prinzip „Alter“ (Sparta), in Kap.  B. V.4.c)  Wahlprinzip gebunden an das Geblütsrecht, ferner „freie Wahl“ (in beiden Fällen in bezug auf die Legitimation des deutschen Königs im Mittel­ alter922), in Kap. B. V.7.a) Wahl in Verbindung mit Los (Rom: Praetoren-Ämter) 921 Das Substantiv geht sprachgeschichtlich auf das Zeitwort „wählen“ zurück. „Dieses ist verwandt mit der idg. Wz. *u̯ el ‚wünschen‘ in wollen, teilweise decken sich sogar die Formen: ahd. wẹllen Inf. ‚wollen‘ und ‚wählen‘“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., S. 849). 922 Welche Bedeutung dabei die Designation seitens des amtierenden Königs haben konnte – wenn nämlich dieser große Autorität besaß  –, zeigt Nitschke (21991), Bd.  5, S.  334 (Wahl­ König Ottos I.).

V. Annex zu den historischen Teilen

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und in Kap. B. V.8. Wahl in Verbindung mit Mehrheit (diverse, historisch und aktuell). Darauf kann ich verweisen, und das genügt auch an Beispielen, außer einem Hinweis (wegen Kap.  B. V.8.): England ist ab 1689, nach sehr langer Zeit, zum Wahlkönigtum zurückgekehrt. Die in modernen Verfassungsstaaten relevanten Wahlgrundsätze (z. B. „all­ gemein“ oder „beschränkt“, „direkt“ oder „indirekt“ usw.) und Wahlsysteme (vor allem „Mehrheits-/Persönlichkeitswahl“ oder „Verhältnis-/Listenwahl“ usw.) sind in jedem größeren allgemeinen Lexikon beschrieben und brauchen hier nicht wiedergegeben zu werden. Die konkret gegebenen Ausgestaltungen sind in Verfassung, Satzung oder Wahlordnung festgelegt. Auch das brauchen wir hier nicht. Wohl aber: Wenn Wahl die Entscheidung zwischen Alternativen bzw. die Möglichkeit der Entscheidung zwischen Alternativen ist, kann ernsthaft von „Wahl“ nur dann gesprochen werden, wenn diejenigen, die die Entscheidung treffen sollen, die Alternativen auch tatsächlich kennen, wenn also Einsicht und Durchblick gegeben sind. Das aber ist überhaupt das Thema der hier vorgelegten Untersuchung: daß wir statt noch einmal zweieinhalbtausend Jahre vor allem auf die Betrachtung, wer wie „herrschen“ soll, fixiert zu bleiben, unsere Anstrengungen primär darauf richten, die uns alle angehenden Dinge mit dem Ziel „Einsicht und Durchblick“ besser zur Sprache zu bringen.

C. Konsequenzen Konsequenzen hat unser in B. I. empirisch gewonnenes Grundverständnis von Politik für die Aufgaben und für das Selbstverständnis der Politiker (C. I.). Konsequenzen ergeben sich für die Publizistik, für die Wissenschaft von der Publizistik und für ihre Wissenschaftstheorie (C.II.). Wir brauchen ein anderes Verhältnis zur Sprache (C.III.). Konsequenzen zu ziehen sind aber auch aus Veränderungen an Voraussetzun­ gen, derentwegen seit den Anfängen der Menschheitsentwicklung die Hälfte der Glieder der Gemeinwesen von der Mitentscheidung über die allgemeinen Ange­ legenheiten ausgeschlossen war, Voraussetzungen, die es in den inzwischen hierfür wichtigen Hinsichten so nicht mehr gibt. (Darum geht es in C.IV.)

I. Ein adäquates Verständnis von „Politik“ und von den „Politikern“ Die empirisch gewonnenen Befunde aus B.I. besagen eindeutig: Echt politische Gemeinwesen gründen nicht auf Herrschaft. Zu ihrem Wesen gehört, daß die alle angehenden Angelegenheiten, bevor in diesen Dingen gehandelt wird, öffentlich zur Sprache gebracht werden. Die Glieder der Gemeinwesen sollen die anstehenden Dinge zureichend verstehen, damit sie für „Absprache“ (= Mitentscheidung) zureichend Durchblick haben. Die empirischen Befunde besagen auch, Durchblick bei der Mitentscheidung ist Bedingung der Freiheit. Wenn aber – und das haben wir in B.II.1. und in B.II.2. gesehen – Durchblick und die auf Durchblick, auf Verstehen gründende Mitentscheidung verlorengehen, geht mit dem Politischen die Freiheit verloren. Wichtigste Konsequenz daraus für uns ist: Wir müssen weg vom Verständnis unserer Systeme als „Herrschaftssysteme“. Es geht um Wiedergewinnung von Poli­tizität unter den Verhältnissen von heute. Dazu gehört, außer einer adäquaten zeitgemäßen Publizistik (C.II.2.) und außer einem anderen Verhältnis zu unserer Sprache (C.III.), ein dem Wesen des Politischen angemessenes Verständnis dessen, was dann wieder echte Politik werden soll, und um ein angemessenes Selbstverständnis derer, die dort in der Pflicht stehen. Politiker sollen Ziele und Wege zeigen, haben nicht zu herrschen und sind nicht „an der Macht“. Herrscher- und „Machthaber“-Allüren müssen wieder in den Geruch des Verdächtigen geraten. Das gilt für alle Politiker (Staats­männer,1 Staats 1

Sie nenne ich hier zuerst, weil bei ihnen viel öfter Allüren vorkommen.

I. Ein adäquates Verständnis von „Politik“ und von den „Politikern“ 

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frauen), besonders für Minister und ganz besonders für den  – wie er bei uns heißt – Bundeskanzler. Sehr akut sind seit einigen Jahren jenen Herrscher- und „Machthaber“-Allüren verwandte Aktivitäten, die ebenfalls den Bemühungen zur Rückgewinnung echt politischen Charakters für unsere Systeme gefährlich entgegenwirken. Gemeint ist die Tendenz zu Inszenierung und Show. Heiko Ripper hat 1998 unter anderem beschrieben, in welch großem Stil US-Präsident Ronald Reagan in den achtziger Jahren Selbstdarstellung betrieben hat, so sehr, daß „der Public-Relations-Aspekt mitunter bedeutsamer als Fragen der politischen Planung“ wurde (S. 207).2 Lothar Laux und Astrid Schütz, Psychologen der Universität Bamberg, haben 1996 das Thema „Die Selbstdarstellung von Politikern3  …“ in Deutschland behandelt, im Vergleich mit us-amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen, und gezeigt, welche Bedeutung Inszenierung und Show inzwischen gewonnen haben. Der Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz (Schwerpunkt Wahlforschung) Dr. Jürgen Falter schrieb in einem Beitrag „Medien und ihr Einfluß auf die Wahlen“ 4: „Image wird immer wichtiger. Demgegenüber tritt die Substanz von Politik zurück. Popu­lismus gewinnt zunehmend die Oberhand.“  – Einzelheiten kann ich im Rahmen der hier vorgelegten Untersuchung nicht wiedergeben, dazu nur auf die angegebene Literatur verweisen, die ihrerseits Einzelheiten bringt und weiterführende Literatur nennt.5 Dagegen ist die Bundestagsdebatte vom 30.  Januar 2002 über die Zulassung oder Nichtzulassung des Imports embryonaler Stammzellen6 ein Beleg dafür, daß der Bundestag (freilich als Versammlung von Repräsentanten, nicht mehr aller Glieder des Gemeinwesens) in offener, freier vierstündiger Aussprache und Absprache (Richtungsentscheidung) mit einem Thema hoher Brisanz umgehen kann in bester Agora-/Thing-Art-und-Weise, ohne Fraktions- und Koalitionszwang, allein gemäß Gewissensentscheidung.7 2

Ein Viertel der rund 600 Bediensteten des Weißen Hauses hatte direkt mit „Öffentlichkeits“-Arbeit zu tun (S. 152). 3 Tatsächlich ein defizienter Modus von „Politiker“. 4 SWR. Die Zeitschrift, März 2001. 5 Bundespräsident Johannes Rau hat in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst, epd, (SZ  v. 29.3.2001) den Drang führender Politiker 3 zu „Exklusiv-Interviews“ im Fernsehfunk über zentrale Themen, die primär in den Bundestag gehören (mit der Folge der Schwächung der Stellung des Parlaments), kritisiert und die Sucht vieler Journalisten nach Sensationen und die Neigung, um der Sensation willen Unwichtiges aufzubauschen. 6 Zuvor mehrere Jahre lang unter Wissenschaftern (Biologen, Medizinern und Medizin­ juristen) und in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert mit schwerwiegenden Argumenten dafür und dagegen. 7 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, den komplexen Sachverhalt und die Argumente und Gegenargumente wiederzugeben, es wäre zu umfangreich und gehört auch nicht hierher. Wohl aber bringe ich grob den Ablauf, der für uns von Interesse ist. Eine große Aussprache zum Thema hatte es bereits am 31.5.2001 gegeben: Nur zum Austausch der Argu-

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C. Konsequenzen

Der Bundestag hat sich nicht überspielen lassen. Die Aussprache zur Grundsatzentscheidung, am 30. Januar 2002, sachlich mit Ruhe und mit großem Engagement zugleich geführt (bei gespannter Anteilnahme vieler Zuschauer und Zuhörer), ist danach als „Sternstunde des Parlaments“ u. ä. bezeichnet worden. Mit Absicht nenne ich dazu keinen Beleg – ich möchte niemanden zum Erröten bringen –; denn was da, in bester Absicht, als „Sternstunde“ bezeichnet wurde, müßte eigentlich in allen wichtigen Angelegenheiten das Normale sein.8 Die Aus­sprache vom 30. Januar 2002 hat jedenfalls gezeigt, daß die Bundestagsabgeordneten in Sprache und Absprache sehr wohl zu dem in der Lage sind, was unseren Systemen wieder mehr Politizität bringen kann. Daß wir solches zu selten zu sehen und zu hören bekommen, liegt daran, daß anderswo in Bereichen dessen, was „Politik“ nur noch genannt wird, aber nicht mente, ohne Beschlußabsichten, hat der Bundestag fünf Stunden lang sehr ernst über Pro und Contra zur Embryonenforschung und Prä-Implantationsdiagnostik gesprochen. Als klar war, daß eine gesetzliche Regelung gebraucht werden würde, gab es außer einem Beratungs­ gremium beim Bundesgesundheitsministerium zwar schon die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ (kurz „Bioethik“) für den Bundestag, die diesen normalerweise zu beraten hätte. Von ihrer Zusammensetzung her war allerdings zu erwarten, daß sie nach wie vor gegen den Import embryonaler Stammzellen plädieren würde. Bundeskanzler Schröder hat daraufhin am 8.6.2001 ohne den Bundestag, sozusagen „handverlesen“, einen „Nationalen Ethikrat“ aus 25 Vertretern von Wissenschaft und „gesellschaftlichen Gruppen“ berufen (im historischen Vergleich: etwa einen vom Herrscher eingesetzten Rat). In einem Artikel „Auftakt für des Kanzlers Ethikrat“ schrieb Hagen Straub für die „Saarbrücker Zeitung“ v. 9.6.2001: „Das Gremium … habe … keinen Zeitdruck und sei kein ‚Parlaments-Ersatz‘. Die Politik könne jedoch ‚Verstärkung für Entscheidungen gut gebrauchen‘, begründete Schröder seine x-te externe Runde. Das wird von der Politik – und nicht nur von dieser – teilweise ganz anders gesehen. Im Vorfeld hagelte es förmlich Absagen, unter ihnen auch die des renommierten ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde. Einerseits wohl, weil die Kandidaten den liberalen Kanzler-Kurs in der Bio- und Gentechnik schon für aus­gemacht hielten und sich deshalb nicht instrumentalisieren lassen wollten. Andererseits war der Ethikrat wochenlang heftig in der Kritik und damit auch Schröders Hang zur Problem- und Zuständigkeitsverlagerung. Wenn schon ein neuer Ethikrat, über den in ähnlicher Form das Gesundheitsministerium verfügt, dann doch … angesiedelt beim Bundespräsidenten. Letzteres hatte auch CDU-Chefin Angela Merkel vorgeschlagen. Eine Ansiedlung beim Staatsoberhaupt würde eher Unabhängigkeit garantieren, meinen die Kritiker nach wie vor. Auch aus der SPD. Außerdem gehöre die Debatte ins Parlament, sprich in die Enquete-Kommission Bioethik des Bundestages.“ Diese hat dann am 27.11.2001 ihren Bericht vorgelegt und sich mit 26 : 12 Stimmen gegen den Import embryonaler Stammzellen ausgesprochen. Der von Bundeskanzler Schröder berufene Nationale Ethikrat hat am 29.11.2001 unter Angabe von Bedingungen mit 14 : 9 (2 nicht an­ wesend) für den Import plädiert. 8 Nach jener großen Aussprache v. 30.1.2001, die zur Richtlinienentscheidung führte, kam am 25.4.2002 im Bundestag mit dem „Stammzellengesetz“ eine Regelung zustande, die den Import embryonaler Stammzellen gem. dem schon 1991 in Kraft getretenen „Embryonen­ schutzgesetz“ immer noch grundsätzlich verbietet, aber unter strengsten Auflagen Aus­ nahmen ausschließlich bei „hochrangigen Forschungszielen“ zuläßt, für deren Überprüfung (u.  eventuell Anerkennung) das unabhängig handelnde Robert-Koch-Institut in Berlin zu­ ständig ist.

II. Ein adäquates Verständnis von Publizistik und Publizisten

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mehr ist, die Bemühungen um mehr Politizität de facto gerade unterlaufen werden. Ich nenne dazu hier noch einen Trend, der besonders die Regierungs-Ebene betrifft. Bundespräsident Johannes Rau hat in seiner Weihnachtsansprache 2002 u. a. erklärt: „Was ich von der öffentlichen Debatte erwarte, ist mehr Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit. Wer politisch handelt, muß sagen, was er tut, und tun, was er sagt.“ Das stand offensichtlich im Zusammenhang mit seitens der Opposition massiv vorgetragenen Vorwürfen, die Regierung Schröder habe im Bundestagswahlkampf 2002 die Wähler über wichtige Sachverhalte getäuscht, und mit Gegen­vorwürfen der SPD in bezug auf die Zeit von Bundeskanzler Kohl.

II. Konsequenzen für ein adäquates Verständnis von Publizistik und Publizisten, für die Publizistikwissenschaft und ihre Wissenschaftstheorie II. Ein adäquates Verständnis von Publizistik und Publizisten Vorbemerkungen Hier zunächst einige Vorbemerkungen über die Bedeutung, die die Publizistikwissenschaft für die Politikwissenschaft in Darmstadt hatte. In Kapitel  A. I. ist notiert, daß die Errichtung der ersten politikwissenschaftlichen Lehrstühle an den hessischen Universitäten Darmstadt, Frankfurt und Marburg 1948 beschlossen und der Darmstädter 1951 mit Dr. Eugen Kogon besetzt worden ist. Der Lehrstuhl-Inhaber, von Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie kommend, brachte reiche Kenntnisse publizistischer Phänomene und „Medien“ mit: aus journalistischer und redaktioneller Arbeit bei der Presse während der zwanziger und dreißiger Jahre, zuletzt, vor dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, 1938, für die österreichischen christlichen Gewerkschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er publizistisch vor allem in Frankfurt a. M. tätig, als Mitherausgeber der „Frankfurter Hefte“, in denen er über politische und andere soziale, über publizistische und politikwissenschaftliche Themen schrieb, und als Mit-Inhaber von Verlagen, später auch in Hör- und Fernsehfunksendungen. Er war ein großer Rhetor.9 Als ich 1952 Assistent in Darmstadt wurde, hatte ich keine besonderen Kenntnisse der Publizistik. Allerdings war von jener Arbeit an einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Politikwissenschaft (siehe Anfang von A.II.) her bald klar, daß eine Wissenschaft von der Politik, d. h. einer Wissenschaft von den politischen, den re-publikanischen Gemeinwesen, ohne Verbindung mit der Publizi­ stik (und von daher dann auch mit der Wissenschaft davon) nicht zu begründen 9 Berühmt die Rede in Wiesbaden zum Volkstrauertag 1957, „Das deutsche Volk und seine Toten“, wiedergegeben in Frankfurter Hefte, 13. Jg., Nov. 1958.

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C. Konsequenzen

wäre. Daß es notwendig werden würde, die Grundlegung überhaupt nicht länger mit (noch) einer Theorie (mehr) zu versuchen, sondern auf anderen Wegen, wußte ich damals noch nicht. Für Herrn Kogon ergab sich aus seiner Erfahrung, daß „Öffentliche Meinung“ und die „Medien“ der Publizistik in der Politikwissenschaft mitbehandelt werden müßten  – denn Kollegen der Publizistikwissenschaft hatten wir in Darmstadt nicht –, und er hat dem von Anfang an Rechnung getragen.10 Lehrstuhl-Inhaber und Assistent hatten ab 1952 viele Jahre lang wöchentlich jeweils im Anschluß an die Darmstädter Lehrdarbietungen intensiv und extensiv Gespräche darüber, was wir in unserer Disziplin meinten machen zu wollen und was unter den gegebenen Bedingungen möglich und wie zu erreichen sei. Daran, daß ich selber „Medien“ der Publizistik untersuchen sollte, war damals noch nicht gedacht. Das änderte sich unerwartet aus Gründen, die mit der Publizistik nichts zu tun hatten. Ich wollte mich für Politikwissenschaft habilitieren. Der Dekan der Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaften (Philosoph, auf dessen Empfehlung hin ich in Darmstadt zu der Assistentenstelle gekommen bin) war irrtümlich der Meinung, daß ich dann zuvor in Politikwissenschaft promovieren müsse. (Ständige Dekanatssekretariate, die in solchen Sachen firm sind, hatten wir damals noch nicht.) Aus Zusammenhängen, die ich hier beiseite lasse, habe ich mich im Einverständnis mit Herrn Kogon für eine Untersuchung der Saarpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden, einem damals in Europa und besonders zwischen Deutschland und Frankreich brisanten Thema, und hier zunächst für eine Untersuchung der Kräfte, die im Kräftefeld11 der Saarpolitik aktiv waren,12 darin auch die „Medien“ der Publizistik, periodische und nichtperiodische Presse, Rundfunk und Film (Bd. 1, S. 537–569).13 Das wiederum hat mich dazu gebracht, auch die wichtigste Literatur für eine allgemeine publizistikwissenschaftliche Abteilung der politikwissenschaftlichen Institutsbibliothek14 anzuschaffen. Dank der Förderung seitens der „Vereinigung von Freunden“ der Hochschule wuchs diese Abteilung erfreulich.

10

Siehe Schmidt, Robert H., Publizistikwissenschaft (1963), S. 20. „Gesellschaft“ habe ich auch damals (Bd. I, S. 17) schon als lediglich Namen für das Kräftefeld von divergierende Interessen verfechtenden Gruppen aufgefaßt. Die Kenntnis davon, was „Gesellschaft“ konkret – statt als Theoriegebilde – wesentlich i s t (s. die Kapitel von B.III.1.), hatte ich noch nicht. 12 Promotion 1955 (Nebenfächer Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeographie). Die Dissertation wurde als Bd. I von „Saarpolitik 1945–1957“ in Berlin 1959 veröffentlicht. (Die Bände II u. III, 1960 u. 1962, zeigen die Kräfte des Kräftefelds in Aktion, vom Kriegs-Ende bis zum Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland.) 13 Mehr zur Publizistik in den Bänden  II und III, besonders dort, wo es um allgemeine Wahlen und um die „Volksabstimmung“ (Referendum) von 1955 geht. 14 Zu meinen Dienstaufgaben – die meisten habe ich mir selbst gestellt – gehörte es u. a., mir in der Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt und bei Frankfurter Institutionen Kenntnisse in Bibliothekssystematik und -klassifikation zu verschaffen und eine politikwissenschaftliche Institutsbibliothek aufzubauen. 11

II. Ein adäquates Verständnis von Publizistik und Publizisten

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Ab 1962 habe ich, zunächst im Abstand von vier Semestern, eine Vorlesung zur Geschichte der Publizistik, dazu zu aktuellen Themen der Publizistik in Westdeutschland gehalten (2 + 0), mit Umdrucken zur Entlastung, dazu ein publizistik­ wissenschaftliches Seminar (0  +  2), jeweils gegen Ende mit Exkursionen zur Deutschen Presse-Agentur und zu einer Tageszeitung in Frankfurt, Darmstadt oder Saarbrücken sowie zu einer Rundfunkanstalt in Frankfurt, Mainz oder Saar­ brücken, hier hatten wir jeweils eine studentischerseits gut vorbereitete externe Seminarsitzung zusätzlich mit Praktikern der Publizistik von dort, einschließlich Leuten der Technik.15 Für unser Darmstädter Institut war ich Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Publizistikwissenschaft. Aus der Natur meines oben genannten Primär-Interesses in diesem Fach ergab sich mein Beitrag „Thesen zur Wissenschaftstheorie der Publizistikwissenschaft“ in der Festschrift für Fritz Eberhard.16 1. Name der Wissenschaft Die Wissenschaft, um die es hier geht, gibt es als Wissenschaft in einem wei­ teren Sinn des Wortes (dazu B. I.2.) seit der griechischen Antike. Sie hieß dort R h e t o r i k . Ihr Gegenstand war allerdings in jener Zeit, ab der es eine Lehre der Rhetorik gab (Sophisten), bereits eine Perversion des Zur-Sprache-Bringens der alle Glieder des politischen Gemeinwesens angehenden Angelegenheiten.

15

Näheres in Schmidt, Robert H., Publizistikwissenschaft (1963), S. 23 f. u. S. 26. Publizistik, 11. Jg., Heft 3/4 (1966), S. 407–434. – Daß Politik- und Publizistikwissenschaft an ihrer Basis miteinander verbunden sind (ohne daß sie deshalb an den Universitäten institutionell verklammert sein müßten), und die Folgerungen daraus habe ich dort schon beschrieben, aber den Durchbruch, der jetzt in den Kapiteln von B. I. gelungen ist, gab es noch nicht, d. h. auf empirischen Wegen zu Gesicht zu bekommen, was das Politische vom Prä­ politischen wesentlich unterscheidet und daß von dort her sowohl Politik- als auch Publizistikwissenschaft grundgelegt sind. – Ich habe mich in der hier vorgelegten Untersuchung darauf beschränkt, „empirisch“ zu sagen statt „phänomenologisch“ wie in jenem Aufsatz von 1966 (dort These 7, S. 414 f.). Die Gewichte in der Diskussion zur Erkenntnistheorie haben sich inzwischen verschoben, abgesehen davon, daß bereits 1966 (These 59, S. 423) galt, phänomenologisches Vorgehen würde sich für uns „nicht sehr von dem unterscheiden, was man sonst unter Empirie versteht, etwa im Sinne der Charakterisierung … durch Bochenski“ (es folgten Einzelheiten und der Hinweis mit Fußn. 65 auf Bochenski (1954), S. 24). – Selbstverständlich gilt immer noch, daß die Griechen ursprünglich theō-ría gerade als „Hinschauen“ verstanden haben (siehe wieder These 7), aber in der hier vorgelegten Untersuchung begegnen uns Theorien doch immer im Verständnis von n a c h „der Spaltung von Theorie und Empirie“. – Schließlich war 1966 (S. 426 f.) noch nicht klar, daß bei „Gesellschaft“ zwischen historisch recht genau datierten konkreten Phänomenen von Gesellschaft mit diesem Namen, vom Frühen Mittelalter bis heute, und dem „fast gespensterhaften“ Theorie- und Ideologiegebilde „Gesellschaft“ als angeblich Grundbegriff der Soziologie zu unterscheiden ist. 16

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C. Konsequenzen

Im Zusammenhang mit B. I.1. brauchten wir schon die Kenntnis der Relevanz der Rhetorik für das Wesen des Politischen. Das steht in B. I.2., auf das ich zum Verständnis dessen, auf das es hier, in C.II., ankommt, verweise. (Zur antiken Rhetorik siehe auch Eisenhut, speziell zur griechischen ferner Dover, zur römischen ferner Michel.) Cicero (ermordet 43 v. Chr.) war sowohl in der Praxis als Rhetor/Orator (siehe dazu auch Kapitel B. I.1.c)) als auch in der Wissenschaft von der Rhetorik der größte der römischen und in der zuletzt genannten Hinsicht wohl überhaupt der antiken Autoren. Ciceros Tod ist zeitgleich mit dem Ende der römischen Republik. Ab dann und in der Kaiserzeit hat die Rhetorik sehr an Bedeutung verloren, ist aber nicht untergegangen.17 17

Eisenhut, S. 66 ff. Immerhin war der viel jüngere Cicero-Anhänger Quintilian (um 35 bis 95/100 n. Chr.) „der erste staatliche besoldete Professor der Beredsamkeit“. Er bekämpfte im Sinne Ciceros die – wir können sagen: – „sophistischen“ Auswüchse der Rhetorik. Quinti­lians „Institutionis oratoriae libri XII“ sind vollständig erhalten geblieben. – In der Völkerwanderungszeit hat Augustinus (354–430) die Bedeutung der Rhetorik für die Ausbreitung der christlichen Lehre betont, hat Martianus Capella (um die 2. Hälfte des 4.  Jahrhunderts) den ab dieser Zeit festen Siebener-Kanon der Artes liberales fixiert: das­ Trivium Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das Quadrivium Arithmetik, Geometrie und Astronomie sowie Musik (s. a. Kröner, S. 534), und war Cassiodor (um 490 bis um 583) zur Zeit Theoderichs des Großen hier wichtig. Im Frühen Mittelalter haben Beda Venerabilis (672/73–735) und Alkuin (um 732–804) auf verschiedenen Wegen bewirkt, daß der Kanon der Artes liberales während des ganzen Mittelalters in den „Artistenfakultäten“ gelehrt worden und mit Rhetorik als Schwerpunkt Grundlage für das Studium der „höheren Fakultäten“ geblieben ist, der der Theologie, der Rechtswissenschaften und der Medizin. (Zur Rhetorik bei Augustinus s. Dronke, S. 184–187, zur mittelalterlichen Rhetorik in der Zeit danach, bis Dante, ebenda, S. 187–198.) – Melanchthon (1497–1560), Humanist und Reformator, wurde von Luther für die Reforma­ tion gewonnen und war dann deren erster Systematiker. Wegen der Verbindung des articulus stantis et cadentis ecclesiae „sola gratia, sola fide“ mit dem Prinzip „sola scriptura“ brauchte er zur Interpretation der in der Bibel vorliegenden Offenbarung, und zwar diese nur aus sich selbst heraus, nicht von außen, zusammen mit dem Studium der Theologie auch das Studium der Rhetorik (mehr dazu bei Villwock, S. 113 ff.). (Zur Rhetorik an den protestantischen Universitäten im deutschen Reich zur Reformationszeit, aber im Zusammenhang mit den ersten Ethik- u. Politik-Professuren, siehe Hans Maier (1962), S. 83 f., mit den Fußn. 60 u. 64, und im Zusammenhang mit der Kameralistik, auch an katholischen Universitäten, so der kaiserl.-königl. österreichischen in Freiburg i. Br., siehe Hans Maier (1962), S. 96 f., mit Fußn. 105, wo es statt „Rhetorik“ „Wohlredenheit“ hieß.) – In der Literatur über die Geschichte der Rhetorik wird deren Verfall ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschrieben, und es gibt dort Meinungsverschiedenheiten darüber, ob daran die „apolitische“ Gesinnung des „deutschen Bürgertums“ oder der „Untergang des Lateinischen als der Sprache der Wissenschaft“ die Schuld habe – wofür Fuhrmann plädiert (siehe dort). Auch in diesem Fall, wie in nachciceronischer Zeit, freilich auf jetzt viel niedrigerem Niveau, ist dieser Niedergang eklatant, aber es folgte immer noch nicht der Untergang. So gab es, um ein Beispiel zu nennen, das ich gut kenne, in Darmstadt in der Fakultät  1, für­ „Kultur- und Staatswissenschaften“, 1905–1938 und 1946–1958 „Redekunst“  – wie es damals im deutschsprachigen Raum meist statt „Rhetorik“ hieß. Die „Redekunst“ war, als Lehr­ auftrag oder Professur, noch in alter Artes-liberales-Tradition mit einem anderen Fach der Artes liberales verbunden, ab 1905 mit „Deutscher Sprache“ (statt des alten „Grammatik“), ab

II. Ein adäquates Verständnis von Publizistik und Publizisten

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Ganz unabhängig von der Rhetorik und praktisch ohne Beachtung ihrer weit über zweitausendjährigen Tradition ist um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine „-kunde“, dann „-wissenschaft“ vom Zeitungswesen aufgekommen. Der Anstoß zur Gründung des ersten Instituts für Z e i t u n g s k u n d e an einer deutschen Universität, 1916, ging vom Leipziger Zeitungsverleger Edgar Herfurth aus, der 1909 (500 Jahre Universität Leipzig) eine Geldsumme gestiftet hatte. Aus den Zins-Erträgen sollten vor allem „angehende und zukünftige Journalisten“ gefördert werden. Von Universitätsseite hat sich Karl Bücher 1909 für eine akademische Journalistenausbildung eingesetzt. (Mehr zur Vorgeschichte und den Anfängen des Leipziger Instituts für Zeitungskunde siehe bei Straetz, S. 75–81). Bücher las bereits 1884 in Basel über „Zeitungswesen (Geschichte, Organisation, Statistik)“. Ab 1926, unter Büchers Nachfolger Erich Everth (dieser als Ordinarius) veränderte sich das „Institut für Zeitungskunde“ mehr und mehr zu einer zeitungswissenschaftlichen Einrichtung (siehe S. 82 ff.), mit Umbenennung in „Z e i t u n g s ­ w i s s e n s c h a f t “ allerdings erst nach Everth (S.  85).  – Zu einer ähnlichen Entwicklung wie in Leipzig kam es an der Universität Münster ab 1918 (siehe Pasquay, S. 253 ff.). Dieses Institut ist 1934 umbenannt worden in „für Zeitungswissenschaft“ (S. 254). Der Name „P u b l i z i s t i k “ taucht universitäts-offiziell zum ersten Mal bei dem 1923 in Freiburg in der Philosophischen Fakultät errichteten „Seminar für Publizistik und Zeitungswesen“ auf (Obst, S. 58). „Publizistik“ war hier, soweit erkennbar, noch kein Oberbegriff, der außer der Zeitung auch den Film und den Rundfunk und später noch anderes umfassen sollte (siehe weiter unten bei der Fachzeitschrift „Publizistik“). In Freiburg ging es um die Wirkungen der publizistischen Aktivitäten der Presse. Zu jener Ausweitung kam es erst mit Hans A. Münster als Nachfolger Everths auf dem Leipziger Ordinariat, 1933.18 Wegen der Ergebnisse empirischer Wirkungsforschung hatte sich deren Beschränkung auf die Presse als ungeeignet erwiesen. Deshalb ist Münster im Gegensatz zu anderen ebenfalls im Sinne der NS-Führung arbeitenden Zeitungs­ wissenschaftern, die eine solche strikt einzuhaltende Beschränkung auf die Presse verlangten, entschieden auf seiner Linie geblieben, nur die Erforschung aller publizistischen „Führungsmittel“ – wie es damals statt „Medien“ hieß – als Einheit garantiere die Erkenntnis, wie diese Mittel richtig zur „Volksführung“ eingesetzt werden könnten. „Publizistik“ war für Münster der Oberbegriff für all diese zur Wirkung zu bringenden Mittel (Straetz, S. 87–95). 1938 „trug sich Münster mit 1920 als „Musikwissenschaft und Redekunst“, wofür sich Friedrich Noack (ab 1927 Professor) einige Jahre zuvor habilitiert hatte (Schmidt, Robert H., Publizistikwissenschaft (1963), S. 14 f.). An der Universität Tübingen besteht noch heute ein „Seminar für Allgemeine Rhetorik“. Bis 1988 war Prof. Dr. Walter Jens der Direktor. 18 Dennoch besteht indirekt in bezug auf die „Rezipientenforschung“ ein Zusammenhang zwischen dem Freiburger „Seminar“ und der Entwicklung in Leipzig. Um Wiederholungen zu vermeiden, bringe ich das im Kapitel über die Methoden (C.II.3.).

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C. Konsequenzen

dem Gedanken, das Leipziger Institut für Zeitungswissenschaft in ‚Institut für politische Publizistik‘ umzubenennen“ (S. 93). Zur Umbenennung ist es aber nicht mehr gekommen. Der Name P u b l i z i s t i k (n o c h n i c h t „ P u b l i z i s t i k w i s s e n s c h a f t “ ) hat sich aber dennoch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst mehrheitlich durchgesetzt, jetzt befreit von NS-Ideologie. Von 1926 bis 1944 hatte es die Fachzeitschrift „ Z e i t u n g s w i s s e n s c h a f t “ gegeben. Versuche, sie nach dem Krieg in München wieder herauszubringen, scheiterten. Auf Initiative des vor 1933 in der katholischen Zentrums-Presse aktiv gewesenen Walter Hagemann, der ab 1946 kommissarisch, ab 1948 als a. o. Professor „für Zeitungswissenschaft“ in Münster das 1949 in „für P u b l i z i s t i k “ (H. v. m.; a. i. folgenden) umbenannte Institut leitete, wurde 1951 die Gründung der „Deutschen Gesellschaft für P u b l i z i s t i k “ veranlaßt und Anfang 1956 zusammen mit zwei anderen Vertretern des Fachs, Dovifat und Haacke, die erste Nummer der Fachzeitschrift „Publizistik“ herausgebracht. Nach dem Ausscheiden Hagemanns aus der Universität, 1959, trat die Deutsche Gesellschaft für Publizistik als Herausgeber auf (S. 263 f.), später außer den beiden oben schon genannten Mitherausgebern nun Günter Kieslich (Münster), diese drei „in Verbindung mit der Gesellschaft für Publizistik“. Es kommt mir hier darauf an, die Benennungsschwierigkeiten in den fünf­ ziger und sechziger Jahren zu zeigen. Das betrifft nicht nur Äußerliches. So lautete der Untertitel von „Publizistik“ 1966 „Zeitschrift für die Wissenschaft von Presse, Rundfunk, Film, Rhetorik, Werbung und Meinungs­bildung“. Rundfunk und Film konnte man als im Vergleich zur Presse neue „Medien“ verstehen, „Rhetorik“ als wiederentdecktes schon sehr altes „Medium“. Werbung und Meinungsbildung sind dagegen schwerlich unter „Medien“ zu subsumieren. Da war Klärungsbedarf. Bei den in „Publizistik“ (1966), Heft  3/4, außer den drei Herausgebern („in Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für P u b l i z i s t i k- u n d Z e i t u n g s w i s s e n s c h a f t “ – wie nun gesagt wurde) genannten westdeutschen universitären Instituten bzw. Lehrstühlen hießen vier „für P u b l i z i s t i k “ (Berlin, Göttingen, Mainz, Münster), einer „für Z e i t u n g s w i s s e n s c h a f t “ (München, dazu Wien), einer – und das war ganz neu – „für K o m m u n i k a t i o n s w i s s e n s c h a f t “19, und zwar in der Verbindung „P o l i t i ku n d K o m m u n i k a t i o n s w i s s e n s c h a f t “ (Erlangen/Nürnberg), drei in der 19

Bezeichnend für das Fach, um das es hier in Teil C. geht – soweit man angesichts der Unklarheiten (s. a. die Kap. C.II.2.–C.II.3.) überhaupt von einer Disziplin sprechen kann –, sind Passagen aus dem Gespräch Manfred Rühls mit Franz Ronneberger, wiedergegeben in Kutsch/Pöttker (1997) (s. d.). Rühl, viele Jahre Mitarbeiter Ronnebergers (Ro.) in Nürnberg, fragt Ro.: „Wer hatte die Idee, für einen Lehrstuhl erstmals die Bezeichnung Kommunikationswissenschaft zu wählen?“ Ro. antwortet: „Im Grunde ich selbst. … Ich kam ja aus den Sozialwissenschaften, und da schien mir der Begriff Kommunikationswissenschaft brauchbar [zu sein], der schon gelegentlich als Übersetzung aus dem Englischen (Communications) anzutreffen war. Eingestandenermaßen hatte ich damals keine zureichende Vorstellung von

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Schweiz „für J o u r n a l i s t i k “ (Bern, Zürich und Freiburg; H. v. m.) und so auch ab 1954 in der DDR am zeitungswissenschaftlichen Traditionsstandort Leipzig, zunächst auch noch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik (1990). Inzwischen ist das Fach in Leipzig umbenannt worden in „Kommunikations- und Medien­wissenschaft“ (zu „Medien“ siehe unten). Wie wir das ganz entsprechend für die Politikwissenschaft in Kapitel A. I. kennengelernt haben, kommen als Namen ferner vor: mit Gefahr des Mißverständnisses statt „Publizistikwissenschaft“ nur „P u b l i z i s t i k “ (z. B. bei Weisser, S. 449, aber auch noch bei vielen anderen mehr); die sprachlich besonders schlechten Benennungen „P u b l i z i s t i k a l s W i s s e n s c h a f t “ (Weisser, S. 454), „w i s s e n s c h a f t l i c h e P u b l i z i s t i k “ (S. 458) und „K o m m u n i k a t i o n s p o l i t i k a l s W i s s e n s c h a f t (o d e r d i e W i s s e n s c h a f t v o n d e r K o m m u n i k a ­ t i o n s p o l i t i k ) “ (Ronneberger, S. 400). Die Fachzeitschrift „Publizistik“ heißt inzwischen im Untertitel „Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung“. So wie ab etwa der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts „Kommunikation“ ist inzwischen zusätzlich „Medien“ Mode geworden. Ich nenne hier noch einige Fälle für viele: An den Universitäten Bonn und Trier gibt es „M e d i e n w i s s e n s c h a f t “, in Frankfurt a. M. „T h e a t e r , F i l m - u n d M e d i e n w i s s e n s c h a f t “, in Stuttgart auf Fachhochschul-Ebene die „H o c h s c h u l e f ü r M e d i e n “, hervorgegangen aus dem Zusammenschluß der „H o c h s c h u l e f ü r D r u c k- u n d B u c h m e d i e n “ mit der „H o c h s c h u l e f ü r B i b l i o t h e k s - u n d I n f o rm a t i o n s w e s e n “. Anders als im Fall der Wissenschaft von der Politik, bei der sich der Name „Politikwissenschaft“ (mit den inhaltsgleichen Varianten „Politologie“ und dem sprachlich schlechten „Politische Wissenschaft“) durchgesetzt hat, haben wir hier eine schillernde Vielfalt von Namen. Das ist auch Folge der Unklarheiten bei der Bestimmung des Gegenstands.

dem, was Kommunikationswissenschaft ist oder sein könnte. Ich sah allerdings die Chance, hier auf einem neuen Wissenschaftsgebiet neue Erkenntnisse zu erwerben …“ (S. 28). – Zur Umbenennung des an der seit 1919 bestehenden Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Nürnberg seit 1923 bestehenden „Instituts für Z e i t u n g s k u n d e “ (H. v. m.), das später und so zunächst auch noch nach der Fusion der Hochschule mit der Universität Erlangen „I n s t i t u t f ü r P u b l i z i s t i k “ hieß, s. a. „I n s t i t u t f ü r P o l i t i k- u n d K o m m u n i k a t i o n s w i s s e n s c h a f t Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Bericht über die ersten drei Jahre …“, S. 3. – Später kam es auch in München zur Umbenennung, hier in „K o m m u n i k a t i o n s w i s s e n s c h a f t ( Z e i t u n g s w i s s e n s c h a f t) “; dazu s. Kap. C.II.2. Die Universität Münster hat „P u b l i z i s t i k-“ beibehalten und „K o m m u n i k a t i o n s -“ hinzugenommen.

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2. Gegenstand: Publizistik Selbstverständlich wird hier letztlich entscheidend sein, was unsere Analyse von Politik für die Publizistik erbracht hat. Wir schauen uns aber doch zunächst an, was es zuvor an Versuchen zur Gegenstandsbestimmung gegeben hat. Beiseite lasse ich allerdings alle Benennungen der „Medien“ als (vermeintlich) Gegenstände der Wissenschaft, nach Art von „die Zeitung ist der Gegenstand der Zeitungswissenschaft“ (usw.). Natürlich ist mit solcher Aussage gemeint: wie es gemacht, organisiert wird, daß Zeitung (usw.) „erscheint“. Nicht als ob das nicht wichtig wäre! Ohne seine Stimme gäbe es auch den Rhetor, den Orator nicht. Die „Medien“, außer der Stimme des Rhetors das Schriftstück, das Bild, seit Beginn der Neuzeit das Druckwerk, bis hin zu den „neuen Medien“ der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts,20 sind aber nicht das Wesentliche, sondern eben nur die Mittel, ohne die es keine Publizistik geben kann; d. h. sie sind notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. Der Begriff Medium ist also für die Bestimmung des Gegenstandes einer Wissenschaft unbrauchbar, abgesehen davon, daß „Medium“ wie „Kommunikation“ (zu dieser siehe weiter unten) ein schwammiger Begriff ist.21 Bei den ältesten Versuchen anderer Art, seit es Zeitungskunde gibt, galt die Wirkung, die mit den „Medien“ bei den „Empfängern“ zu erzielen und wie sie zu erzielen sei,21 für das, was untersucht werden müsse. Als bei den „Mittelmächten“ im Ersten Weltkrieg die anfangs gegebene Siegesgewißheit gewichen war, ist publizistisch Interessierten im Deutschen Reich das Versagen der eigenen Seite bei

20 Hans Wagner (1993, S. 501), Rusch (S. 75), Merten (S. 143) und Burkart (Kommunika­ tionswissenschaft, S.  69 f.) bezeichnen die Sprache als Medium bzw. Kommunikations­ medium. Das ist ein arges Mißverständnis. Medium ist nicht die Sprache, sondern die Stimme (für das „Gehör“), entsprechend Schriftstück, Bild, Druckwerk usw. (für das „Gesicht“). Sprache gehört auf eine andere Ebene; sie ist zusammen mit dem Vermögen zu schöpferischem Tun und der Möglichkeit zur Freiheit aus Einsicht/Verstehen/Durchblick eine der drei Konstituanten des Menschseins. Homer läßt den Troianer Antenor den Eindruck beschreiben, den Menelaos und Odysseus auf ihn gemacht hatten, als sie als Boten mit der Forderung gekommen waren, Helena herauszugeben, und läßt Antenor über die Rede des Odysseus (Il., III, 224) sagen: „Aber sobald seiner Brust die Stimme gewaltig entströmte, …“ – phänomenologisch richtig „die Stimme“, selbstverständlich nicht etwa „die Sprache“. 21 Rusch (S. 60) schreibt einleitend: „Modelliert man menschliche Individuen als kognitive, autopoietische Systeme, stellt sich die Frage, wie operational geschlossene, an ihr Medium strukturell gekoppelte Organismen mit geschlossenen Nervensystemen miteinander interagieren können“ und sagt in seiner Fußnote 1 dazu: „‚Medium‘ bezeichnet hier nicht den kommunikationstheoretischen Medienbegriff (Medien als Kommunikationsmittel), sondern den Begriff eines physikalischen bzw. chemo-physikalischen Mediums, in dem autopoietische Systeme – gewissermaßen wie Fische im Medium Wasser – existieren.“ – In der Parapsychologie gewinnt das „Medium“ (angeblich) möglicherweise Verbindung zwischen der Welt der noch Lebenden und der der schon Verstorbenen.

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der Propaganda aufgefallen,22 angesichts der „Wirksamkeit der feindlichen Kriegspropaganda“ (Ackermann/Bruck, S. 182). Dieser Extremfall, Propaganda im Zusammenhang mit einem bestimmten hi­ storischen Ereignis (Erster Weltkrieg), hat sehr dazu beigetragen, daß bei uns Zeitungskunde (später Zeitungswissenschaft, dann Publizistikwissenschaft) weithin zur (jetzt aber mehr allgemeinen) Wirkungsforschung geworden ist. Nach 1933 sah das wie folgt aus: „Hans R. Münster umriß in seiner Leipziger Antrittsvorlesung vom 17. Mai 1934 den Aufgabenbereich der ‚Zeitungswissenschaft‘, die er gemäß ihrer über 250 Jahre alten Tra­ dition23 als die ‚Wissenschaft von der Publizistik‘ auffaßte, mit folgendem Satz: ‚Die Zeitungswissenschaft hat sich sowohl mit der Eigenart der Volksbeeinflussung und geistigen Volksführung aller Völker und Zeiten als auch mit den Methoden im einzelnen ausein­ anderzusetzen … wie auch mit den Mitteln und dem Handwerkszeug zur Durchführung der publizistischen und propagandistischen Absichten‘“ (Starke, S. 9),

und Starke selbst folgert: „während Publizistik der Versuch ist, meinungsbildend zu wirken“ (S. 29), und „nichts anderes [heißt] als geistige Gestaltung von einem zentralen Willen24 her“ (S. 99), erforscht die „Wissenschaft von der Publizistik … die Publizistik in ihrer Wirksamkeit als Führung der Meinung eines Volkes25 und sucht die dabei wirkenden Kräfte zu erkennen“ (S. 142). In „Grundzüge der Publizistik“ hat der bald nach dem Zweiten Weltkrieg im Fach führende Walter Hagemann (Münster i. W.) zunächst als „Mittelpunkt der publizistischen [gemeint ist wohl: der publizistikwissenschaftlichen] Forschung und Lehre“ (1947, S.  11) genannt: die „öffentliche Aussage aktueller26 Bewußt-

22 Ich verweise nur auf Ackermann/Bruck, S. 182 f., wo es um den Verleger Waldkirch geht, und auf Pasquay, S. 253 f. 23 Eine Übersicht dazu bei Dovifat, Publizistik, S. 339 f. Einige Aspekte der Entwicklung im späten 19. und im 20. Jh., die erst in jüngerer Zeit beachtet worden sind, siehe bei Weischenberg, Journalismus als soziales System, hier S. 432–435. 24 Starkes Dissertation ist von 1939, und von daher ist klar, wer mit der „zentrale Wille“ gemeint ist. 25 Eine Meinung können nur Personen haben, nicht ein Volk. Ich komme weiter unten, wo es um „Öffentliche Meinung“ geht, darauf zurück. 26 „Aktualität“ ist ein in der Publizistik viel verwendeter Begriff, meist im Sinne von Nähe einer Nachricht oder eines Berichts über ein Ereignis im Verhältnis zum Zeitpunkt dieses Ereignisses. – Unser Wort „actuel“, jetzt „aktuell“, ist im 18. Jh. aus frz. actuel entlehnt worden; dieses aus spätlat. āctuālis = wirksam, wirklich, zu einem tu-Stamm agere (āctum) = treiben, wirken, betreiben, bewirken; s. a. Kluge, 23. Aufl., bei „aktuell“, wo es dann heißt: „Die Bedeutungsentwicklung verläuft von ‚wirklich‘ über ‚gegenwärtig wirklich‘ hin zu ‚zum gegenwärtigen Zeitpunkt wesentlich‘ [„wesentlich“ hier unreflektiert verwendet, i. S. v. „wichtig“], wobei das Zeitungswesen des 19.  Jhs. eine wichtige Rolle spielte (Tatsachenberichte von soeben Geschehenem).“

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seinsinhalte“ (S. 20).27 Im 19. und 20. Jahrhundert hat es in der Philosophie den meta­physisch-erkenntnistheoretischen Streit darüber gegeben, ob es unabhängig von unserem Bewußtsein, von unserer Erkenntnis wirklich Seiendes („an sich“) gebe. Wir können das hier beiseite lassen, worauf die Hagemannsche Formulierung leichter verständlich lautet: „öffentliche Aussage über aktuelle Sachverhalte“. Ich komme darauf zurück. 1951 nennt Hagemann die Publizistikwissenschaft „die Wissenschaft von der Öffentlichkeit“ (S. 13). „Publizistik“ kann aber nicht „Öffentlichkeit“ s e i n , sondern nur „um Öffentlichkeit bemüht sein“ oder so ähnlich. Hagemann hat 1956 in seinem Beitrag „Wissenschaft von der Publizistik“ (S. 448) dann so zu definieren versucht: „Die Wissenschaft von der Publizistik beschäftigt sich mit dem öffentlichen Meinen und den Formen und Organen seiner publizistischen Beeinflussung. Der Gegenstand ihrer Forschung sind nicht allein die publizistischen Organe Zeitung, Zeitschrift, Film, Rundfunk usw., sondern die Methoden und Techniken, mittels deren die publizistischen Bewußtseins­inhalte in der Öffentlichkeit verbreitet werden.“ Die Unterscheidung zwischen „Publizistik“ und „Wissenschaft von der Publizistik“ ist zwar ein Fortschritt, aber der Versuch zur Bestimmung des Gegenstands ist sprachlich, weil sachlich unbefriedigend. „Öffentliche Meinung“28 bzw. „öffentliches Meinen“ (wessen?) sind wie dann auch Rousseaus opinion générale nebulöse Begriffe. „Meinung“ und „meinen“ ist stets an bestimmte Personen gebunden. Eine „Allgemeinheit“ kann nicht „meinen“. Die sogenannte Personalität einer Allgemeinheit kann nur juridisch fingiert werden. „Meinen“ und „handeln“ – in juridisch festgelegtem Rahmen – kann diese fingierte Person (z. B. die Stadt Augsburg, La République Française)  nur durch bestimmte mit Befugnissen ausgestattete „Repräsentanten“ (in einer unglücklichen Terminologie auch oft „Organe“ genannt). Es folgt bei Hagemann die seit etwa dem Ersten Weltkrieg dominierende Charakterisierung der Publizistik als 27 Hagemann hat 1947 die Sachverhalte genannt, die, obwohl sie von Medien verbreitet werden, die der Publizistik dienen, aus seiner Sicht nicht zur Publizistik gehören: Unter­ haltung, vor allem Spielfilm, Zeitungsroman, Unterhaltungsmusik (S. 20), die Werbung der Wirtschaftsunternehmen, Familienanzeigen und „Kleinanzeigen“ (S. 48, S. 66 f.), aber auch die Sensation um der Sensation willen (S. 20). 28 „Michel de Montaigne ist nach heutigen Erkenntnissen der Schriftsteller, der den Begriff ‚Öffentliche Meinung‘ [l’opinion publique] … 1588 zum erstenmal im Kollektiv­singular benutzt hat. …; es dauert über 150 Jahre, bis ihn Jean-Jacques Rousseau … erneut im Singular erwähnt“ (Raffel, S. 50, mit Quellenangaben). L’opinion publique (auch: l’opinion commune)  ist „für Montaigne eine an Ort und Zeit gebundene herrschende Meinung, die als temporär gültige soziale Realität beachtet wird. Ihre einzige Legitimation erhält sie aus der Tatsache, daß sie sich als alternativenlos und verbindlich darstellt …“ (S. 51). „Das Individuum …  .  … wird sich immer an seiner Umgebung orientieren und sich darum bemühen, ‚den Schein nach der allgemeinen Meinung (orig.: l’opinion commune) zu modeln. Es kümmert uns nicht …, wie es unserm Wesen nach wirklich ergehe, sondern wie es unsern Nachbarn vorkomme.‘ Andererseits wird das Individuum nach erfolgter Integration selbst zu einem der Kontrolleure der Normen der Öffentlichen Meinung durch ein aktives Beobachten, um die gewonnene Stabilität nicht durch Abweichler zu gefährden“ (S. 52). – Montaignes Überlegungen sind vor dem Hintergrund der erbittert geführten Religionsauseinandersetzungen in Frankreich im 16. Jh. zu sehen.

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„Beeinflussung“ und deren Formen. Wenn Hagemann anschließend als Gegenstand der Wissenschaft von der Publizistik auch „die Methoden und Techniken [nennt], mittels deren die publizistischen Bewußtseinsinhalte in der Öffentlichkeit verbreitet werden“, sind mit „Techniken“ wohl kaum Drucktechnik und Radiotechnik gemeint und mit „Methoden“ nicht die in der Wissenschaft verwendeten Erkenntnismethoden. „Methoden und Techniken“ heißt wohl: wie diejenigen, die beeinflussen wollen, es anstellen, daß sie möglichst tatsächlich beeinflussen. Außerdem ist „Bewußtsein“ an dieser Stelle offenbar das Bewußtsein dessen, der Inhalte/Sachverhalte zwecks Meinungsbeeinflussung „verbreitet“. Etwa auf dieser Linie war 1962 auch Haacke (Göttingen): Publizistik ist „alles öffentlich Ausgesagte“ (S.  7), folglich „die Wissenschaft von der Publizistik  … die Wissenschaft von den Massenmedien und ihrer Wirkung auf die Öffentlichkeit“ (S. 8 f.; zu „Massenmedien“ siehe weiter unten). Auch Starkulla (S. 564 f.) fehl-interpretiert Publizistik mit „einsinniger Beeinflussung“. Zutreffend ist: Publizistik kommt in der Wirklichkeit zwar auch so vor, das ist aber nicht ihr Wesen, sondern ihre Defizienz. Starkullas Fehlinterpretation der Publizistik entspricht seiner Fehlinterpretation der Politik und dementsprechend der Politologie. Er meint: „Hier [in der Politologie] geht es um die Erkenntnis eines politischen Prozesses, in welchem Zeitung usw. politische Mittel darstellen, mittels derer politische Subjekte (Publizisten) politische Inhalte (Tatsachen, Ideen) politischen Objekten (Einzelnen, Gruppen, der ‚Öffentlichen Meinung‘) mit ihnen geeigneten politischen Methoden (z. B. Propaganda, Drohungen) oktroyieren, um politische Ziele durchzusetzen“ (S. 563). Wiederum wird die Perversion von Politik mit Politik verwechselt. Roegele (München) hat 1966 für seinen Versuch zur Bestimmung dessen, um das es in der damals in München noch „Zeitungswissenschaft“ genannten­ Disziplin gehe, einen anderen Ansatz vorgetragen. Auch er hatte Einwände gegen das Theorem vom einseitigen Beeinflussungsverhältnis Publizist – Publikum. „Die in München erarbeitete zeitungswissenschaftliche Theorie ist der … Versuch, das Gemeinsame und Auszeichnende zu finden, das zu allen Zeiten … das ‚Zeitgespräch der Gesellschaft‘ als solches konstituiert.“ Es geht dabei um eine „Sicht der Dinge, die das Ganze der Gesprächs-Gesellschaft in den Blick nimmt“, „das Gespräch der Menschengesellschaft …, das ‚Zeitgespräch der Gesellschaft‘“, „bezogen … auch auf Karl Jaspers und seinen Begriff der Kommunikation als ‚Gemeinschaft durch Mitteilung‘“. „Die Münchener ‚Theorie von Zeitung‘“ „besteht darauf, daß diese Kommunikation G e s p r ä c h s charakter habe“ und „Zeitung“ „nicht das bedruckte Papier oder die gesprochene (gefunkte) Zeitung“ ist, welche ja „nur die mit der Zeit sich wandelnden Ausdrucksformen und Beförderungsmittel eben jener Kommunikation vorstellen“ (S. 393 f.). Roegele sah aber dann sehr wohl, daß die (zwar im Vergleich mit anderen Instituten des Fachs tiefer ansetzende) Münchner Zeitungswissenschaft „der unvorbereiteten Öffentlichkeit als ein engerer Bereich, als ein Ausschnitt“ aus der Publizistikwissenschaft erscheint (S. 395).

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Die Terminologie, „Gesprächs-Gesellschaft“, „Zeitgespräch der Gesellschaft“ und „Gespräch der Menschengesellschaft“, wirkt verkrampft, abgesehen davon, daß das Theoriegebilde „Gesellschaft“ hier überhaupt nicht zu gebrauchen ist. Es geht um die konkreten Gemeinwesen, echt politische oder defiziente Modi davon. Jene Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich „Zeitungswissenschaft“ haben trotz der in München tieferen Fundierung des Begriffs Zeitung auch dort zur Umbenennung geführt, aber nicht in „Publizistik“, sondern in „Kommunikations­ wissenschaft“.29 Statt „Publizistik“ in den richtigen Zusammenhang zu bringen – was allerdings auf jener Basis nicht zu machen war und nur auf der Grundlage der Ergebnisse aus B. I.1. und B. I.2. gelingen kann –, macht der Wechsel zum Bestimmungswort „Kommunikations-“ die Wissenschaft, um die es geht, schwammig. Das aber hat die Gegenstandsbestimmung behindert. Zunächst zu Herkunft und Inhalt des Wortes. „Kommunikation“ gehört zum einen inzwischen zum sog. erweiterten Standardwortschatz, war zum anderen ursprünglich und ist z. T. auch heute noch fachsprachlich. Es ist im 16. Jh. entlehnt worden aus lat. commūnicātio = Mitteilung; dies ist das Abstraktum zu commūnicare  = mündlich oder schriftlich mitteilen, teilen mit  …, gemeinschaftlich machen, vereinigen, zusammenlegen; dies zu commūnis  = gemeinschaftlich, all­ gemein, gemeinsam (Kluge, 23. Aufl., S. 466). Einmal ganz abgesehen davon, daß es schon bei physikalischen Phänomenen „Kommunikation“ gibt („kommunizierende Röhren“), beanspruchen Zoologen den Begriff für bestimmte tierische Laute: Das Knurren der Hunde ist „kommunizierend“.30 Kommunikation ist auch das Flüstern Liebender, ist das Gebet zu Gott, ist die Beichte, still miteinander zusammen mit dem Pfarrer oder als Ohren­beichte gegenüber dem Priester, sind „Abendmahl“ und „Kommunion“, ist das Miteinander im Team oder in einem Verein, ist die Sprechstunde des Arztes und vieles an-

29 Kommunikationsforschung kam in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jh. in den USA auf. Berühmt geworden ist die in erster Auflage 1948 erschienene Arbeit von Lazarsfeld/Merton: „Mass Communications. Popular Taste and Organized Social Action“. (Über die Anfänge bereits in Wien in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des 20. Jh. siehe vor allem Lerg, ferner Fabris (1983), S. 208 f., u. Hans Wagner (1993), S. 494.) Solche Forschung gab es nach dem Zweiten Weltkrieg dann auch in anderen Ländern, so in Westdeutschland (s. a. Pasquay, S. 258). Vor allem ab den sechziger Jahren kam gerade dort noch etwas anderes hinzu. Die Publizistikwissenschaft war damals nur an wenigen westdeutschen Univer­sitäten vertreten. Unter dem Namen Kommunikationswissenschaft ließ sich wohl noch anderes als die Publizistik hereinnehmen, war vielleicht eine breitere Basis zu gewinnen und eine stärkere Stellung an den Universitäten zu erreichen. (Wie es in Nürnberg zur Bezeichnung Kommunikationswissenschaft kam, siehe in Kap. C.II.1.; über die Entwicklung der „Zeitungswissenschaft“ in München siehe Roegele, 1997.) 30 Bericht über einen Vortrag von Dorit Feddersen-Petersen, Tierverhaltensforscherin der Universität Kiel, Saarbrücker Zeitung v. 22.1.2002 (Zufallsfund; inzwischen habe ich mich aber vergewissert, daß es in der Tierverhaltensforschung gang und gäbe ist, von Kommunikation zwischen Tieren und von Tieren mit Menschen zu sprechen).

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dere mehr. D. h. Kommunikationswissenschaft kann mit ihrem großen sozusagen Schwamm „Kommunikation“ sehr vieles aufsaugen, und es wird dann sicherlich manches „Interessante“ zu untersuchen sein; das hilft uns aber nichts in der zentralen Sache unserer Gemeinwesen. „Kommunikation“ ist ein dafür ungeeigneter Begriff, und die „Kommunikationswissenschaft“ ist mit diesem Namen auch bereits in Schwierigkeiten. Manfred Rühls Aufsatz von 1985 offenbart die Hilflosigkeit im Fach, und Peter Glotz (S. 250) betont 1990, „daß das Fach auch in seiner heutigen Ausprägung, als Kommunikationswissenschaft, nach wie vor auf ernste Selbstzweifel trifft“, und er gibt dann wieder: „Mit der Wandlung zur Kommunikationswissenschaft habe die Publizistikwissenschaft, so Franz Ronneberger 1978 [S. 15], ‚ihren Gegenstandsbereich über das zu bewältigende Maß hinaus ausgedehnt und muß um ihre Glaubwürdigkeit als Fachdisziplin besorgt sein‘. Ronneberger fürchtet eine ‚Vernachlässigung der theoretischen Anstrengungen zur Ermittlung eines spezifischen Gegenstandsbereichs, der von den Nachbarwissenschaften nicht abgedeckt werden kann‘.“

Ulrich Saxer, ein Schweizer Kollege, schreibt 1980, daß „derjenige, der noch als ‚Publizistikwissenschafter‘ firmiert, sich bereits wie ein wissenschaftlicher Hinterwäldler vorkommen muß, weil er  – vom früheren Umtaufwasser noch naß  – nicht schon wieder die neue Umtaufe in ‚Kommunikationswissenschafter‘ mit­ machen mag“ (S. 525), und: Die „terminologische Entgrenzung dieser Disziplin zur ‚Kommunikationswissenschaft‘ [gemahnt] an Etikettenschwindel oder ist zumindest höchst unpräzis und formuliert bestenfalls eine illusionäre Wissenschaftsprogrammatik“ (S.  533).31  – Merten/Schmidt/Weischenberg sprechen in 31

Glotz meint dem Dilemma zu entgehen, wenn er für die Kommunikationswissenschaft statt eines eigenen Gegenstandsbereichs – er sagt, begrifflich nicht gut, auch: „ihr ‚Material­ objekt‘“ – mit Rühl (dieser 1985, S. 241) ein „Formalobjekt“ fordert, als „eine ‚spezifische Auswahl von Problemstellungen, -behandlungen und -lösungen‘“, „eine eigene ‚Sichtweise‘“ (Glotz, S. 250). Gegen die Bezeichnung Publizistikwissenschaft führt er an: Das Fach „fand [nach den älteren Namen „Zeitungskunde“, danach „Zeitungswissenschaft“] schließlich ein Formalobjekt, allerdings ein überaus zweifelhaftes. Publizistik war nach Emil Dovifat ‚jede öffentlich bedingte und öffentlich bewirkte Unterrichtung und Leitung, die mit Gesinnungskräften durch Überzeugung zu Tun und Handeln führt‘. Damit wurde die Disziplin auf die intentional-informatorische und meinungslenkende Ansprache konzentriert; sie wurde sozusagen zur Propaganda-Wissenschaft  – und damit totalitären Ideologien dienstbar,  …  . Die Kommunikationswissenschaft schließlich war ein pragmatischer … Kompromiß. In dem Bestreben, den ideologischen Streit zwischen Publizistik und Zeitungswissenschaft zu schlichten und einen Leitbegriff zu finden, der international akzeptiert war, griff man auf den Kommunikationsbegriff zurück“ (S. 251). In Glotz’ Argumentation stecken zwei Denkfehler und noch eine Schwierigkeit. Der eine Denkfehler ist (wir kennen ihn schon): Wenn jemand einen Begriff, hier „Publizistik“, mißdeutet, liegt das nicht am Begriff, sondern an dem, der mißdeutet. Der andere Fehler ist: Der Wissenschaftsname im Sinne der Benennung des Gegenstands der Wissenschaft muß sich aus der Sache selbst ergeben, er kann nicht per „Kompromiß“ fixiert werden, und auch „international akzeptiert“ ist hier kein zureichendes Kriterium. –

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ihrer „Vorbemerkung der Herausgeber“ zu „Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft“ (1994, S. 1) von der „Kommunikationswissenschaft, die es als wohldefinierte Disziplin offenbar (noch?) nicht gibt“. (Zu den Schwierigkeiten, „Kommunikation“ zu definieren, thematisch Klaus Merten, 1977.) Roland Burkart (Kommunikationswissenschaft) sagt 1995 in seiner Einleitung: „Das Fach, aus dessen Perspektive der Kommunikationsprozeß in diesem Buch betrachtet werden wird, ist die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. … es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß eine eindeutige … Schwerpunktsetzung eigentlich nicht existiert. In den einschlägigen Fachzeitschriften flackert daher immer wieder die Diskussion um das wissenschaftliche Selbstverständnis auf, … . Zumeist geht es dabei um die Ab- bzw. Begrenzung des Forschungsgegenstandes“ (S. 15 f.).

Da auch Burkart einen solchen nicht angeben kann, bezieht er sich (S. 17) auf Rühl und Glotz. Die Unsicherheit und Hilflosigkeit kommt aber auch darin zum Ausdruck, daß Burkart nicht recht weiß, wie er seine Wissenschaft nennen soll. Heißt’s im Titel des Buches „Kommunikationswissenschaft“, hörten wir eben von der „Publizistik- und Kommunikationswissenschaft“, und im Anschluß an die Bezugnahme auf Glotz und Rühl sagt Burkart, daß er mit seinem Buch einen „Schritt auf dem Weg zu einem Selbstverständnis der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft“ tun wolle, die er (siehe Untertitel und Teil 6) eine „interdisziplinäre Sozialwissenschaft“ nennt. S o sind die „Grundlagen“ einer Wissenschaft jedenfalls nicht zu finden. – Da Jürgen Habermas in der Soziologie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Bedeutung hatte, waren seine 196232 vorgelegte größere Schrift „Struktur­wandel der Öffentlichkeit“ und die daran anschließenden Arbeiten, hier vor allem „Theorie des kommunikativen Handelns“, daraufhin durchzusehen, ob sie etwas für eine Grundlegung der Publizistikwissenschaft hergäben. Sie tun es aber nicht, nicht zuletzt wegen Habermas’ Willkür in der Verwendung von Begriffen. So wie ich nicht mehr „politisches System“ nennen darf, was ein solches nicht mehr, sondern Herrschaftssystem und dann Staat ist, darf ich nicht mehr „Bürger“ (als­ civis, ­polītēs) nennen, was nur noch Pseudobürger ist, und – worauf es hier ankommt – „Öffentlichkeit“, was keine mehr ist. Es kann in der Wirklichkeit keine „bürgerliche Öffentlichkeit“ im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Strukturwandel, S. 12 f.) mehr gegeben haben, allenfalls es sei denn (S. 27) als Theorie-/Ideologiebegriff mit all seinen Widersprüchen; denn die Bedingungen für Öffentlichkeit

Daß es auch mit „Kommunikation“ und „Kommunikationswissenschaft“ seine Schwierigkeit hat, bemerkt Glotz zwar, aber er kommt aus ihr nicht heraus, und was er (S. 252) „zu Methodenfragen“ im – angeblich – „Zwiespalt zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften“ sagt, ist überholt (s. dazu die Kap. A.III. und A.IV.). 32 Die Neuauflage von 1990 hat ein umfangreiches Vorwort (S. 11–50), das ich mitberücksichtigt habe.

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gab es schon längst nicht mehr. Es gab und gibt keine „plebejische Öffentlichkeit“ (S. 16 f.), es sei denn wieder als Theoriebegriff. Das alles wird auch nicht dadurch besser, daß Habermas auf andere Autoren verweist, die solche Theorie akzeptieren (G. Eley) oder als Zeugen solcher Begriffsbildung herangezogen werden. (S. 13; er zitiert hier mit einem Teilsatz H. U. Wehler, 1987, Bd. I, S. 303: „In Deutschland hat sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ‚eine kleine, aber kritisch dis­kutierende Öffentlichkeit‘ herausgebildet.“ In der Wirklichkeit war das schlicht ein kleiner Kreis kritisch disputierender Personen.) Von „repräsentativer Öffentlichkeit“ (S.  63) spricht Habermas, wenn Adlige, kirchliche Würdenträger oder der König nur noch sich und den eigenen Status dem von der Mitwirkung und selbstverständlich von der Herrschaft ausgeschlossenen Volk („Kulisse“) „darstellen“ (S.  17). Habermas fehlt der Maßstab für „Öffentlichkeit“. „Totalitäre Öffentlichkeit“ (S.  47), „vermachtete Öffentlichkeit“ (S.  21) sind Nichtbegriffe. Die „frühe politische Öffentlichkeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts“ (S. 21) gab es seit der Defizienz der frühgermanischen Systeme, also schon seit weit über tausend Jahren nicht mehr; „politische Herrschaft“ (S. 23) ist, wie wir wissen, ein Widerspruch in sich. „Macht“ kommt auch bei Habermas nur im üblich gewor­denen platten (Un-)Verständnis vor (S. 32, S. 35 ff. u. passim). Mit dem Theoriephantom „Gesellschaft im ganzen“ ist nichts anzufangen. Wenn es ums Ganze geht, jeweils gemäß Ebene, geht es um das politische Gemeinwesen dieser Ebene oder um einen defizienten Modus davon, den ich dann aber nicht mehr „politisch“, sondern nur mehr mit seinem spezifischen Namen und seinen spezifischen Charakteristika benennen darf. „Gesellschaft“ ist, wie wir wissen, in der Wirklichkeit immer etwas Abgesondertes, gerade nie das Ganze. Aber der Marxist Habermas (zwar nicht doktrinär im Sinne von Marx-Engels) kann, weil er von Hegel über Marx am unglücklichen Theorem „Gegensatz von Staat und Gesellschaft“ hängt, nicht auf das unselige Theoriegebilde „Gesellschaft“ verzichten, und mit seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ kommen wir zur Grundlegung auch nicht weiter, überhaupt nicht mehr mit Theorie. Habermas beginnt die Einleitung zu „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1990, S. 54) wie folgt: „Der Sprachgebrauch von ‚öffentlich‘ und ‚Öffentlichkeit‘ verrät eine Mannigfaltigkeit konkurrierender Bedeutungen. Sie stammen aus verschiedenen geschichtlichen Phasen und gehen, in ihrer synchronen Anwendung auf Verhältnisse der industriell fortgeschrittenen und sozialstaatlich verfaßten bürgerlichen Gesellschaft [Theoriegebilde], eine trübe Verbindung ein. Allerdings scheinen dieselben Verhältnisse, die sich gegen den überkommenen Sprachgebrauch zur Wehr setzen [was übrigens ‚Verhältnisse‘ nie können, nur Menschen], eine wie immer konfuse Verwendung dieser Worte [siehe Habermas], ja ihre terminologische Handhabung doch zu verlangen. Denn nicht nur die Umgangssprache, zumal die vom Jargon der Bürokratien und der Massenmedien schon geprägte, hält daran fest; auch die Wissenschaften, vor allem Jurisprudenz [muß heißen: Rechtswissenschaft], Politik [muß heißen: Politikwissenschaft] und Soziologie, sind offensichtlich außerstande, traditionelle Kategorien wie ‚öffentlich‘ und ‚privat‘, ‚Öffentlichkeit‘, ‚öffentliche Meinung‘ durch präzisere Bestimmungen zu ersetzen. Zunächst hat sich dieses Dilemma ironisch an

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C. Konsequenzen

der Disziplin gerächt, die ausdrücklich die öffentliche Meinung [ein Ideologie­gebilde] zu ihrem Gegenstand macht: unter dem Zugriff der empirischen Techniken hat sich das, was der public opinion research eigentlich fassen sollte, als unfaßbare Größe aufgelöst, gleichwohl entzieht sich die Soziologie der Konsequenz, diese Kategorien überhaupt aufzugeben; von öffentlicher Meinung handelt sie nach wie vor.“

Wir sind aber keineswegs „außerstande“, die nicht sachgerechten Begriffe „durch präzisere Bestimmungen zu ersetzen“; ich habe gezeigt, daß es geht. Wir können freilich sicher sein, daß auch hier der Einwand kommen wird: „Aber inzwischen w e r d e n die Begriffe doch weit und breit so gebraucht.“ Zweifellos werden sie tatsächlich so verwendet, aber wer das nicht ändert, kommt aus der Misere nicht heraus, und solange die Soziologen mit „Gesellschaft“ als ihrem vermeintlich Grundbegriff und Gegenstand im Prinzip so weitermachen wie seit dem 19. Jahrhundert, wird auch ihnen die Grundlegung ihrer Disziplin nicht gelingen, genausowenig wie den auf „Kommunikation“ umgestiegenen Publizistikwissenschaftern. Auf der Basis der in den Kapiteln von B.I.1. und in B.I.2. empirisch gewonnenen Befunde komme ich nun zur Gegenstandsbestimmung der Publizistik­ wissenschaft, indem ich zur Eingangsbemerkung in C.II. zurückkehre. Das ZurSprache- und Zur-Absprache-Bringen der alle angehenden Angelegenheiten war in den frühen politischen Gemeinwesen insofern nicht schwer, als alle mitberatungs- und mitentscheidungsbefugten (und -verpflichteten) Glieder des Gemein­ wesens an den dafür regelmäßig oder außergewöhnlich festgesetzten Terminen leiblich beieinander waren  – wie wir aus Quellen bezüglich Griechenland und Germanien wissen. Sprache und Absprache fanden also sowieso, lateinisch formuliert, coram publico statt, wobei zwar nicht jeder jedesmal über jede An­ gelegenheit mitsprechen mußte, aber mitsprechen konnte, wenn er wollte. Heute können wir die anstehenden Dinge bereits auf der Ebene der Gemeinden nur noch ganz selten und nur noch in ganz wenigen Hinsichten, auf Ebenen darüber schon überhaupt nicht mehr bei Zusammenkünften nach Art etwa von Agora, Apella, Thing, Sprake usw. be- und absprechen; die Glieder der Gemeinwesen müssen auf andere Weisen über die anstehenden Angelegenheiten, über die verschiedenen Ansichten, Einschätzungen und Argumente, über Absichten, Möglichkeiten und, soweit absehbar, über Folgen informiert werden, wenn sie möglichst zu­ reichend Einsicht in die Sachverhalte, möglichst Durchblick gewinnen sollen. Dafür brauchen wir Publizistik.33 Ohne sie sind politische Systeme nicht „in Gang zu halten“. Das gilt entsprechend als Voraussetzung auch für die Rückgewinnung von Poli­ tizität im Sinne der in C. I. genannten Konsequenzen für unsere ja immer noch am Herrschaftsdenken orientierten Systeme, die außerdem im Vergleich mit den Ge 33 Vo r aller Publizistik brauchen wir natürlich die Bildungsbemühungen in vorschulischen Einrichtungen, in Schulen und danach.

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meinwesen der Frühzeit viel größer und deren Zusammenhänge viel komplexer sind. Die Rückgewinnung der Politizität gelingt nur mit einer auf solche Rück­ gewinnung orientierten Publizistik. Weil es über Ziele in der Politik, über Möglichkeiten und Folgen meistens viele verschiedene Ansichten gibt, brauchen wir zur Information auch eine Vielfalt publizistischer Möglichkeiten. In pluralistischen Systemen ist die Meinungsäußerungsfreiheit in der Verfassung als Grundrecht geschützt, ebenso die „Pressefreiheit“, wie der aus der Zeit der „Aufklärung“, als es noch keinen Rundfunk gab, stammende Ausdruck lautet. Inzwischen bezieht sich der Begriff auch auf Rundfunk und Film. Die „Pressefreiheit“ umfasst, auf der Grundlage der Auslegung seitens der Rechtsprechung, die „Freiheit der Berichterstattung“, das „Verbreitungsrecht“ und das „Informationsrecht“. Über die Nutzung aller allgemein zugänglichen Quellen hinaus besteht ein Anspruch auf Auskunftserteilung seitens der Behörden. Der Sicherung publizistischer Vielfalt dient bei uns ferner das Presse-Kartell-Gesetz von 1976, das die Fusion von Zeitungs- bzw. Zeitschriftenverlagen und inzwischen u. a. auch von Privat-Fernsehsendern von der Genehmigung durch das Bundeskartellamt abhängig macht. Das „erweiterte Zeugnisverweigerungsrecht“ für „Presse“-Leute soll die vertrauliche Behandlung von Informanten für Beiträge im redaktionellen Teil bei Presse und Rundfunk gewährleisten, die gegebenenfalls als Voraussetzung dafür gilt, daß die Ziele Information, Kontrolle und Kritik erreicht werden können. (Über die Pflicht zur Sorgfalt siehe weiter unten.) Die verschiedenen Ansichten darüber, was in den alle angehenden Dingen wichtig und zu tun sei, werden vor allem von Parteien, aber auch von Gruppeninteressenverbänden publiziert. Von den Parteien selbst herausgegebene Presse, im 3. Drittel des 19. und in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung, ist inzwischen fast ganz verschwunden. Die in jener Zeit gegebene, z. T. über Generationen hinweg oft feste Bindung großer Teile der Bevölkerung an diese oder jene Partei ist lockerer geworden, was im großen und ganzen auch für die Bindungen an die Gruppeninteressenverbände wie etwa Gewerkschaften, aber auch an Konfessionen gilt. Wir haben bei uns – und anderswo ist das ähnlich – einige Tages- und Wochenzeitungen sowie wöchentlich erscheinende „Magazine“ mit überregionaler/nationaler Verbreitung, die die alle angehenden Dinge mehr umfassend und mehr detailliert beschreiben und kommentieren, die zwar nicht im engeren Sinn Parteien zuzuordnen, aber doch „weltanschaulichen“ Richtungen verbunden sind („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Handelsblatt“, „Die Zeit“, „Der Spiegel“, „Stern“, „Focus“ – um die wichtigsten zu nennen). Das Gros unserer Bevölkerung „orientiert“ sich, was Presse betrifft, soweit nicht zusätzlich oder allein aus der „Boulevardpresse“, über die alle angehenden Angelegenheiten der Bundes-, Landes-, Regional- und Gemeinde-Ebene aus einer „Regionalzeitung“ (mit „Kreisausgaben“). Die Regionalzeitungen firmieren

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C. Konsequenzen

oft als „unabhängig“ und als „überparteilich“ und können dann in der ­Regel auch so gelten. Regionalzeitungen habe ich viele Jahrzehnte lang beobachtet im Saarland und in der Region Starkenburg (Südhessen ohne Raum Offenbach). Berichterstattung (Nachrichten und „Hintergrund“) über die sowie Kommentierung der überregionalen Themen aus „Politik“ und Wirtschaft werden hier in der Regel weniger detailliert als in den Blättern mit überregionaler Verbreitung geboten, dafür gehen die Regionalzeitungen mehr auf Themen des Landes bzw. der Region ein, in ihren Kreisausgaben auf solche der Kommunen. Im übrigen haben sich die Regional­ zeitungen in Thematik und Bebilderung mehr oder weniger der „BILD“-Zeitung bzw. der „Regenbogenpresse“ angenähert.34 Es gibt viel mehr Sparten als früher, vor allem anstelle des alten „Feuilletons“, aber auch sonst, z. T. täglich, z. T. einmal pro Woche, manche von diesen als Beilagen. Im Saarland und in Starkenburg (und in anderen Regionen) existiert inzwischen jeweils nur noch eine Regionalzeitung. Das hat aber nicht Monopolstellung hinsichtlich Berichterstattung über die und Kommentierung der alle angehenden Angelegenheiten zur Folge. Die weitaus meisten, denen die die Allgemeinheit an­ gehenden Dinge wichtig sind,35 nehmen als Informationsquellen den Fernsehfunk, ARD („Tagesschau“, „Tagesthemen“, „Brennpunkt“) oder ZDF („heute“, „heute journal“) sowie „dritte“ (regionale) Programme, auch RTL, und z. T. den Hörfunk. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD-Anstalten und ZDF) sind zur „Ausgewogenheit“36 in der Programmgestaltung (Berichterstattung und Kommentierung) verpflichtet.37 Berichte und Kommentare der Privatsender spielen für die Zuschauer und Zuhörer nur eine geringe Rolle, weil diese Sender primär an Werbeeinnahmen interessiert sind und sich das (sehr teure)  Berichterstatter- und Kommentatorennetz, wie es die öffentlich-rechtlichen unterhalten, so nicht leisten wollen und dies bei den Zuschauern auch weitgehend bekannt ist.

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Freilich, das Annoncengeschäft bei den Rubrikenanzeigen ist stark rückläufig, die Zahl der Zeitungsleser ist etwas gesunken, die Zeitungen, die nur am Kiosk zu haben sind, machen den Abonnementszeitungen sehr wohl Konkurrenz, die Pressefusionskontrolle wird in manchem sinnwidrig gehandhabt (Peter Glotz im ganzseitigen Gastbeitrag der Saarbrücker Zeitung, S. A 6 v. 10./11.7.2004: „Wenn sich Zeitungsqualität nicht rechnet“, mit Zahlen bzw. Beispielen). 35 Allerdings, so ARD-Jahrbuch 2002, S.  26: „Auffällig ist, dass neben Kriegen ins­ besondere die Berichterstattung über Unglücke und Katastrophen im Erlebnisbereich der Zuschauer die höchsten Einschaltquoten erzielt. Erst danach folgen dramatische [!] innenpoli­ tische Entwicklungen.“ 36 Ronneberger (1977) zeigt, als was „Ausgewogenheit“ meistens interpretiert wird und was sinnvoll darunter verstanden werden kann. 37 In Landesrundfunkgesetzen und durch die „Fernseh-Urteile“ des Bundesverfassungs­ gerichts.

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Die Regionalzeitungen drucken Leserbriefe ab „zur Diskussion über T ­ hemen, Informationen und Kommentare, die in unserer Zeitung erschienen sind“, wie es z. B. in der „Saarbrücker Zeitung“ heißt. Ich habe dort eine Woche lang (24.–30.1.2003) die Leserbriefe beobachtet. Es waren 30.  Die von Päckchen  A sind in der Gesamtausgabe, die von Päckchen B nur in der Kreisausgabe, hier für den Stadtverband Saarbrücken und das Sulzbachtal. Es ging dabei, wie zu erwarten war, um überregionale Themen, um Landesthemen und um Sachverhalte, die einzelne Städte oder Stadtteile betrafen. Manche Zuschriften bezogen sich zum selben Thema auf andere, schon zuvor abgedruckte Leserbriefe, so daß sich über diese Sache eine Art Diskussion entwickelte, selbstverständlich mit mehr Zeitverzögerung als im Fall einer Diskussion bei ein und demselben Thing (oder entsprechend). Ganz abgesehen davon, daß jene Beobachtung über nur eine Woche hin nicht repräsentativ sein und bloß einen Eindruck von der Institution „Leserbriefe“ vermitteln kann, würde uns auch Repräsentativität nichts helfen, weil wir leider keine Vergleichsmöglichkeit haben. Ich erinnere daran, daß wir keinen einzigen Bericht eines Teilnehmers an einer konkreten historischen Volksversammlung früher politischer Gemeinwesen über den Verlauf der Versammlung besitzen. In der „Kommunikationswissenschaft“ ist inzwischen wissenschaftstheoretisch der sog. Konstruktivismus38 verbreitet. Es geht um die Frage: „Stellen die Medien Wirklichkeit dar oder stellen sie Wirklichkeiten her?“,39 d. h. konstruieren sie sie? Dahinter steckt die in der Geschichte der Philosophie alte, erstmals von Demokrit40 gestellte und bis heute oft variierte Frage nach dem Verhältnis der in der Wahrnehmung „erscheinenden“ zu der „wahren“ Wirklichkeit. Wie S. J. Schmidt die Frage im einzelnen beantwortet,41 brauche ich hier nicht wiederzugeben. In bezug auf die Publizistik  – er sagt „Journalismus“  – folgert er jedenfalls daraus (S. 18): „Die Forderung großer Teile der Öffentlichkeit wie von Medien- und Kommunikationswissenschaftlern nach ‚objektiver Bericht­ erstattung‘ ist … zwar verständlich, im Journalismus aber völlig unrealistisch.“ Er schließt aber an: „Natürlich ist bewußte Täuschung moralisch tabuisiert – und die Konkurrenz der verschiedenen Medien führt auch meist rasch zu ihrer Auf­ deckung (…). Aber die Forderung nach objektiver Berichterstattung übersieht, daß Journalisten nicht mehr abverlangt werden kann als intellektuelle Redlichkeit und handwerklich bestmögliche Recherche“. Das reicht für unsere Zwecke aus. Die Pflicht zu intellektueller Redlichkeit und zu handwerklich bestmöglicher Re-

38 „Der Konstruktivismus ist kein einheitliches Theoriegebilde  …  . Vielmehr handelt es sich eher um einen Diskurs, in dem viele Stimmen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zu hören sind“ (S. J. Schmidt, S. 4). 39 Merten/Schmidt/Weischenberg, Vorbemerkung der Herausgeber, S. 1. 40 Windelband, Lehrbuch, S. 90, u. Praechter, S. 108; s. dazu auch S. J. Schmidt, S. 5 f. 41 Ich verweise auf seinen Beitrag „Die Wirklichkeit“, S. 3–19, und aus „Konstruktivismus in der Medienforschung …“, S. 592 u. S. 615–623.

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C. Konsequenzen

cherche in der publizistischen Arbeit besteht ja unabhängig vom erkenntnistheore­ tischen Ansatz, etwa dem des Konstruktivismus oder eines anderen. Weil es darum geht, die alle angehenden Dinge möglichst „öffentlich“ und möglichst durchschaubar zu machen, brauchen wir Publizistik. „Kommunikation“, „Medien“-Arbeit, auch „Journalistik“ reichen nicht aus. Publizistikwissenschaft analysiert die Wirklichkeit der Publizistik. Diese ist ihr Gegenstand, einer der wichtigsten Wissenschaftsgegenstände, die es überhaupt gibt. Die Publizistikwissenschaft mißt die Publizistik daran, was sie leistet, die alle angehenden Angelegenheiten durchschaubar zu machen. Das heißt dann auch, daß Publizistikwissenschaft kritisch betrachtet, was es in der Publizistik an Mängeln, Fehlleistungen und Einseitigkeiten gibt und woran das liegt. Sie betrachtet die Beeinflussungsversuche, einschließlich der Versuche von „Politikern“ zu Verschleierung, Augenwischerei und Show und die dabei benutzten Strategien. Die Publizistikwissenschaft besorgt die kritische Betrachtung und Beurteilung aus allgemeiner und kontrahenten-unabhängiger Warte. Das ist etwas anderes, als wenn bei kontrovers diskutierten Sachverhalten schon Kontrahenten (Personen, Gruppen, Verbände, Parteien) den Vorwurf der Fehlleistung und der Einseitigkeit, Verschleierung, Augenwischerei, Verdummung und Show erheben. Publizistikwissenschaft hat also sehr wohl auch „Beeinflussung“ und „Propaganda“ als Gegenstände  – denn diese gibt es ja  –, aber eben in wissenschaftlich-kritischer Analyse. Auch von daher wird klar, daß die Abkehr von „Publizistik“ hin zu „Kommunikation“ und von „Publizistikwissenschaft“ zu „Kommunikationswissenschaft“ inadäquat ist. Ich habe bisher die Benennung der hier infragestehenden Disziplin als Wissenschaft von der „Massenkommunikation“ (gemäß dem us-amerikanischen Vorbild „mass-communication“; siehe weiter oben) hinsichtlich „Masse“ noch unkommentiert gelassen. Das bringe ich jetzt. Zunächst zum Wort. Ahd. massa ist im 9. Jh. aus lat. māssa = „Teig, Klumpen“ entlehnt worden, dieses aus gr. mãza = „Brotteig“ zu gr. mássein = „kneten“ (Kluge/Götze, 16. Aufl., und Kluge, 23. Aufl.). Dirlmeier zeigt in Anm.  7,5 zu Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“ (Darmstadt 1956, S. 271): Wenn die Griechen von „die Menge, die Leute“ (hoi polloí) sprechen, „schlägt … noch durch, daß es Menschen sind, … . Das Menschliche zu eliminieren, blieb der Neuzeit vorbehalten: ‚die Masse‘“; nämlich als die von den politischen Gemeinwesen bereits zu mittelalterlichen Herrschaftssystemen pervertierten Gebilde noch mehr verkamen, zu den neuzeitlichen Staaten mit der schließlich „Masse“ von Untertanen. „Massenmedien“ sind folglich Gegenstände der Publizistikwissenschaft nur als kritisch zu untersuchende defiziente Phänomene einer pervertierten Publi­ zistik. Wollen wir unser System in Richtung auf „politisches Gemeinwesen“ ent-

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wickeln, dürfen wir die Glieder des Gemeinwesens selbstverständlich gerade nicht als „Masse“ verstehen und so bezeichnen.42 Nun hat 1966 Elisabeth Noelle-Neumann anhand der Ergebnisse empirischer Untersuchungen gezeigt, daß „der Informationsmöglichkeit enge Grenzen ge­ zogen“ sind, und zwar auch „unter den Bedingungen der Pressefreiheit“ (S. 358). Die auch in den USA nach dem Ersten Weltkrieg weitverbreitete Annahme, Informationen an die Leser heranzubringen, bedeute bereits, die Leser zu überzeugen (S. 355), mußte revidiert werden, als empirische Forschung andere Ergebnisse brachte. „Man war verblüfft über das System von Auswahlprozessen, von bewußter und unbewußter, aber psychologisch [gesehen] durchaus planvoller Selektion, die man beim Publikum feststellte“ (S. 356, wo Beispiele folgen). „Im großen und ganzen sind soziale Schicht und wirtschaftliche Interessen, persönliche Ziele und persönliches Bezugssystem – Identifikation, Referenzgruppen – von größerer Bedeutung für die Meinungsbildung als Information“ (S. 358; siehe dazu auch Dröge/ Lerg, S. 269–273). Daß das so ist, kann aber kein Alibi dafür sein, sich publizistisch nicht dennoch intensiv darum zu bemühen, daß die Glieder der Gemeinwesen über die alle angehenden Dinge besser informiert werden, mehr Einsicht, mehr Durchblick für Mitentscheidung gewinnen, als Bedingung der Freiheit. Fehlen sie, führt das zu Herrschaft, zu Unfreiheit, wie die Ergebnisse unserer Untersuchungen in Teil  B. II. zeigten. 42

Burkart (Kommunikationswissenschaft, S.  160) meint zeigen zu können, die Verwendung des Begriffs Massenkommunikation sei nicht störend. Es handele sich ja „um einen ursprünglich anglo-amerikanischen Terminus (mass-communication), der von seiner Ety­ mologie her wohl wenig von jenem abendländischen Ballast [Menschenmassen] mitschleppt“. Außerdem: „Ein in der Fachsprache dermaßen gebräuchliches Wort läßt sich nicht schlicht eliminieren oder einfach durch ein anderes ersetzen. Derartige Bemühungen würden außerdem sehr schnell … als akademische Spinnerei abgetan werden.“ Ferner gelte, daß „nämlich die beiden Wortbestandteile auf strukturelle Grundmuster eines Prozesses verweisen, die für diesen … immer noch charakteristisch sind. Man muß sie nur angemessen interpretieren.“ Das Faktum, daß Menschen nicht als „Masse (mass)“ bezeichnet werden dürfen, kann nicht mit der Aussage übergangen werden, der anglo-amerikanische Terminus mass-communi­ cation schleppe „wohl wenig von jenem abendländischen Ballast“ mit, der mit dem Begriff verbunden ist. Diesen Ballast schleppt er mit, auch wenn amerikanische Autoren es nicht bemerken oder sich darum nicht kümmern sollten. War im Fall „Publizistik“ die Verfälschung (s. o.) eine Sache der Fehlinterpretation seitens der Interpreten, aber nicht im Begriff enthalten, steht die Verfälschung, hier des Menschseins, im Fall „Masse (mass)“ im Begriff selbst, weshalb sich die Verfälschung auch nicht „angemessen [weg-]interpretieren“ läßt. Zweifellos ist ein „in der Fachsprache dermaßen gebräuchliches Wort … nicht schlicht [zu] eliminieren“ – „schlicht“ i. S. v. „so leicht“, und zwar fast so wenig leicht wie „Gesellschaft als ganzes“, aber ohne daß die Soziologen dieses und die Publizistikwissenschafter jenes eben doch preisgeben, wird die Grundlegung der einen wie der anderen Disziplin nicht gelingen, wobei es um alles andere als um „akademische Spinnerei“ geht. Weil aber ein so heruntergekommenes Verständnis des Menschseins als „Masse (mass)“ in der Publizistik mit zur Realität gehört, gehört es sehr wohl auch mit zum Gegenstand publizistikwissenschaftlicher Untersuchung, als defizienter Modus.

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C. Konsequenzen

3. Methoden Ein fundiertes Wissen über echte Methoden der Erkenntnis und über den Unterschied zwischen diesen und den unqualifizierten „Methoden“-Begriffen, den Pseudomethoden sowie den lediglich Verfahren und Techniken der Datengewinnung war in Zeitungskunde, Zeitungswissenschaft, Publizistikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft des 20. Jahrhunderts nicht zu sehen. Die Vertreter der „Zeitungskunde“ hatten noch nicht den Anspruch erhoben, diese sei ein Universitätsfach für sich. Das änderte sich bei Zeitungs-, Publi­zistikund Kommunikationswissenschaft. Schwierigkeiten ergaben sich außer aus dem Mangel an erkenntnistheoretischem Wissen aus dem Mangel an Klarheit darüber, womit es diese Wissenschaft überhaupt zu tun habe. So hieß es anfangs – ich bringe das hier nur summarisch –, es müsse geklärt werden, mit welchen Methoden (Plural) im Fach zu arbeiten sei, oder es gelte, die für das Fach charakteri­ stische Methode (Singular) herauszuarbeiten bzw., umgekehrt, man müsse für alle anderen Wissenschaften offenbleiben, weil deren Gegenstände in die Publizistik „hineinragen“ würden. Hagemann erklärte, es gehe um „Deskription“ im Sinne der Geschichtswissenschaft (Pasquay, S.  257). In anderen sämtlich mehr Nebenbei-Äußerungen sprach Hagemann von „Gesetzen“ oder „Gesetzmäßigkeiten“, die zu erforschen seien. Das hätte selbstverständlich die Methodendiskussion betroffen, wenn diese in einem strengen Sinn geführt worden wäre, was Hagemann aber nicht tat, und sein Aufsatz „Begriffe und Methoden publizistischer Forschung“ enthält nichts Nennenswertes über Methoden. Koszyk spricht (1962, S. 4) von „drei geisteswissenschaftlichen Methoden“, die für die Publizistikwissenschaft in Frage kämen: „1. Die historische … versucht, die Entwicklung von Presse, Rundfunk und Film geschichtlich zu verdeutlichen. 2. Die deskriptive … beschreibt ‚empirisch‘ Wesen, Form und Inhalt der Presse … [usw.] … . 3. Die normative … bemüht sich um die äußeren rechtlich-moralischen und die inneren ethischen Probleme von Presse … [usw.] … .“ „Historische Methode“ ist ein unqualifizierter Methodenbegriff (siehe in A.III. unter diesem Zwischentitel). – Eine Methode kann nicht „normativ“ sein; es kann lediglich eine Wissenschaft, hier die Publizistikwissenschaft, die rechtlichen und die sittlichen Normen darstellen und kritisch betrachten, die, hier für die Presse usw., gelten, und Grundsätze für das Verhalten der publizistisch Tätigen. – Die „deskriptive“ Methode – also schlicht: die zu den Methoden direkter Erkenntnis gehörende Beschreibung – kann z. B. „Form und Inhalt der Presse … [usw.]“ beschreiben. Wie sie „empirisch“ das „Wesen … der Presse … [usw.]“ soll beschreiben können, bleibt unklar, weil wir nicht erfahren, ob unter „Wesen“ das Relevante (im Sinne der idiographisch arbeitenden Historiker) oder die essentia verstanden werden soll. Wenn „essentia“, würde die „Beschreibung“ von Beobachtetem, als Methode direkter Erkenntnis, nicht ausreichen, würden wir die indirekte Methode

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des Schließens brauchen (siehe A.III., unter dem Zwischentitel „Methoden indirekter Erkenntnis“); wir wären dann im Bereich der publizistikwissenschaftlichen Nomothetik (oder mit Hans Albert: der nomologischen Hypothesen), im Fall der historischen Beschreibung der „Entwicklung von Presse, Rundfunk und Film“ im Bereich der idiographischen Disziplinen. Beides ist ganz normal, gleichgültig, ob das eine und das andere von verschiedenen Wissenschaftern besorgt wird oder von ein und demselben, der in beide Richtungen arbeitet – vorausgesetzt, daß er sich das Rüstzeug dafür angeeignet hat. Dröge/Lerg haben den Teil IV ihrer Arbeit zur Kommunikationswissenschaft (S.  257–263) mit „Methoden“ überschrieben, tatsächlich geht es dabei im wesentlichen lediglich um Verfahren der amerikanischen empirischen43 Sozial­ forschung44 (Experiment; field research mit participant observation; field work als non-participant observation mittels Umfrage; content analysis) und um die Schwierigkeiten bei der Hypothesen- und schließlich Theoriebildung. Auch Maletzke (1967) geht noch von dem den wissenschaftstheoretischen Fortschritt blockierenden (vermeintlich) Gegensatz von Naturwissenschaften und „Geistes“-Wissenschaften aus und faßt zusammen: „Wenn wir die Naturwissenschaften einerseits und die Geisteswissenschaften auf der anderen Seite als Extreme auf einem Kontinuum betrachten, nehmen die Sozialwissenschaften eine Mittelstellung dazwischen ein[,] dergestalt, daß sich die extremen Positivisten mit den Naturwissenschaften eins wissen, während der andere ‚Flügel‘ den Geistes­wissenschaften sehr nahe steht. Dazwischen können wir uns eine kontinuierliche Skala von Misch-  … [und] Integrationsformen vorstellen mit jeweils verschiedenen ‚Anteilen‘ der einen  … [oder] anderen Richtung“ (S. 26).

Scharf/Schlie (1973, S. 59) ergänzen: „Maletzke übersieht nicht, daß die Auseinandersetzungen nicht mehr ausschließlich zwischen reinen Positivisten und Hermeneutikern geführt werden. Er erkennt die Verschiebung der Debatte hin zur Diskussion zwischen ‚kritischen Rationalisten‘ [Popper, Albert] und dialektischer ‚kritischer Theorie‘ [Habermas]. Die Diskrepanzen liegen in den Sozialwissenschaften selbst. Dennoch steht die Publizistikwissenschaft für Maletzke ‚als Ganzes betrachtet … zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften‘ [Maletzke, S. 34]“.

43 „Empirisch“, wie in der Soziologie üblich, in eingeengtem Verständnis. Tatsächlich arbeitet auch die Geschichtswissenschaft primär empirisch (s. Kap.  A.III., Fußn.  58). Hans Wagner (1993, S. 493) sieht das zwar, es führt aber auch bei ihm nicht zu einem schlüssigen Konzept vom System der Wissenschaften. 44 Über „sozialempirische Verfahrensweisen“ schon zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jh. vgl. Straetz, S. 86, über Hans A. Münsters „Rezipientenforschung“ mittels Frage­bogen, Interviews und „teilnehmender Beobachtung“, S. 88 ff. u. S. 92.

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C. Konsequenzen

Heinz Pürer (Publizistik, 1972, S. 29) referiert über Günter Kieslich,45 „daß [so Kieslich] die Publizistikwissenschaft keine eigenen Methoden habe“ – was richtig ist, aber nur richtig im Sinne von: es gibt überhaupt keine Wissenschaft, die „eigene“ Erkenntnismethoden für sich allein hat. „In diesem ‚Methodendilemma‘ [das nur vermeintlich ein Dilemma ist; siehe Kapitel A.III.], mit dem für ihn auch das Problem der Standortbestimmung der Publizistikwissenschaft als Geistes- oder Sozialwissenschaft verbunden war, hat Günter Kieslich die Publizistik[-wissenschaft] immer als interfakultative Disziplin gesehen“ –,

womit in unserer Sache natürlich nichts gewonnen ist. Diese Hilflosigkeit in bezug auf Methodenfragen wird besonders deutlich bei Fabris (Publizistik, 1972, S.  25), der schreibt, es gehe um „Möglichkeiten, zwischen extrem sozialwissenschaftlich-positivistischen und extrem geistes­ wissenschaftlich-hermeneutischen oder extrem normativen und extrem wertfreien Positionen einer so verstandenen [?] Publizistikwissenschaft theoretische und methodische Brücken zu schlagen“. Burkart (21995) hat „Methode“ bzw. „Methoden“ in seinem umfangreichen Werk „Kommunikationswissenschaft“ weder im sehr detaillierten Inhalts- noch im Stichwortverzeichnis. In Kapitel C.II.4., „Position [der Publizistikwissenschaft] im System der Wissenschaften“, werden im Rahmen der Unterscheidung zwischen Wissenschaftsgruppen auch wieder die Methoden wichtig. Um Wiederholungen zu vermeiden, bringe ich das in C.II.4. Zum Abschluß eine Äußerung über die Heterogenität im Fach. In jenem in C.II.1. schon genannten Gespräch Rühls mit Ronneberger hat Rühl dann gefragt: „Für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der sechziger Jahre kann gelten: So viel Aufbruch war nie. Neben dem neuen Lehrstuhl in Nürnberg etablierte man in Mainz einen Lehrstuhl für Publizistikwissenschaft und besetzte ihn mit Elisabeth ­Noelle-Neumann, einer aus der Praxis der Demoskopie kommenden Forscherin. Die Wilhelmshavener Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wurde in die Universität Göttingen integriert und damit ein Lehrstuhl für Publizistik, den Wilmont Haacke [Schwerpunkt Zeitschriften] einnahm. Otto B. Roegele kam aus der publizistischen Praxis als Chefredakteur und wurde Ordinarius für Zeitungswissenschaft in München, an einem Institut, das bald ‚für Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft)‘ hieß. [Es folgen bei Rühl noch Einzelheiten über Henk Prakke, einen niederländischen Soziologen in Münster, und über Fritz Eberhard in Berlin, zuvor Intendant des Süddeutschen Rundfunks.] Wie hast du [Ro.] die Zusammenarbeit mit dieser heterogenen Kollegenschaft erlebt, etwa in der wiedergegründeten Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Zeitungswissen 45 Er war 1955–1959 Assistent in Münster i. W. bei Hagemann, 1968 bis zu seinem Tod, 1971, Professor in Salzburg, dort im WS 69/70 mit einer Vorlesung „Methoden der Publizi­ stikwissenschaft“ (so bei Pürer, ebenda).

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schaft …? Gab es für euch so etwas wie gemeinsame Grundlagen oder gar eine gemeinsame Leitlinie für standortübergreifende Lehre und Forschung?“ (S. 29).

Ronneberger: „Dies ist wohl die am schwersten zu beantwortende Frage. Was ohne große Abstimmung als gemeinsamer Gesichtspunkt Konsens fand, war, eine Publizistik- und Kommunikationswissenschaft nicht länger historisierend, sondern in erster Linie als empirische Sozialwissenschaft zu betreiben.  … Zu einer gemeinsamen theoretischen oder auch nur empirischen Forschungspraxis kam es bis zum heutigen Tag nicht, und es ist mehr als unwahrscheinlich, sich so etwas auch nur auszudenken“ (S. 30).

Fazit aus diesem Kapitel ist: Die einschlägige Literatur erbringt über die Metho­ den nur wenig. Hinsichtlich der echten Methoden der Erkenntnis und über den Unterschied zwischen ihnen und, auf der anderen Seite, Pseudo-Methoden, unqualifizierten „Methoden“-Begriffen und lediglich organisatorischen und technischen Verfahren zur Datengewinnung sind wir auch hier auf Kapitel  A.III. angewiesen. Alle Möglichkeiten, die sich von dort her für die Politikwissenschaft ergaben, hat selbstverständlich auch die Publizistikwissenschaft, ebensogut wie überhaupt jede Humanwissenschaft als – im umfassenden Sinne von Kapitel A.IV. – Sozialwissenschaft.

4. Position im System der Wissenschaften Die Durchsicht der Fachliteratur brachte auch zum hier zu behandelnden Thema nur wenig. Systematische Bemühungen um ein System der Wissenschaften waren nicht zu erkennen. Der überholte (vermeintlich) Gegensatz von „Geisteswissenschaften“ und „Sozialwissenschaften“ kam immer noch vor. Gemäß der Zugehörigkeit von Vertretern des Fachs zu bestimmten Richtungen darin gibt es Plädoyers für die Einordnung in die Geschichtswissenschaft bzw. in die „Sozialwissenschaften“. Es lohnt sich nicht, das hier aufzulisten. Ich nenne statt dessen nur Maletzke (1967), der die Herkunft der Trennung der Wissenschaften in Natur- und in Geisteswissenschaften (Dilthey) sehr wohl kennt (S. 17), die Herauslösung der „Sozialwissenschaften“ nennt (S. 18), die sich zunächst „an den Naturwissenschaften zu orientieren“ versuchten (S.  19), mit schließlich Maletzkes Konzept eines offensichtlich als eindimensional verstandenen „Kontinuums“ von den Naturwissenschaften zu den „Geisteswissenschaften“ mit den „Sozialwissenschaften“ dazwischen, alles unpräzise, in „Misch- und Integrationsformen“ auf „einer kontinuierlichen Skala“ (S. 26). Auf dieser ist dann die Publizistikwissenschaft Maletzke zufolge eine „Sozialwissenschaft“, deren „Fachvertreter sich fast immer nur mit einem sehr schmalen Bereich auf diesem Kontinuum beschäftigen und ihre Position oft als die einzig richtige und wichtige gegenüber anderen Abschnitten des Kontinuums betrachteten“ (S. 28 f.). Es läuft dann darauf hinaus, daß Maletzke

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C. Konsequenzen

die „Forderung nach Kooperation und schließlich Integration der verschiedenen Richtungen“ vorträgt (S. 30). Maletzke (S. 6) will zwar „syste­matisch den ‚Standort‘ der Publizistikwissenschaft zwischen Geistes- und Sozial­wissenschaften zu bestimmen versuchen“, den sie „noch nicht gefunden hat“ (S.  45), was auch an „einseitigen Vorurteilen“ auf seiten der Gruppen von Fachvertretern gegen die jeweils andere Gruppe liege; „zudem scheut man sich häufig, die Dinge beim Namen zu nennen, sie ‚radikal‘, also bis zu den Wurzeln hin zu durch­denken“ (ebenda).46 In Wirklichkeit liegt es vor allem daran, daß jene Unterscheidung zwischen „Gei­ stes- und Sozialwissenschaften“ in zweierlei Hinsicht keinen Sinn macht. Zum einen: Die Geschichtswissenschaft ist grundsätzlich nicht weniger empirisch als die mit teilnehmender Beobachtung, Interviews und Fragebogen arbeitende „empi­rische Sozialforschung“. Zum anderen: Maletzke (S.  21) gibt Rothackers Kennzeichnung (31948, S. 13) der „Geisteswissenschaft“ als „‚Wissenschaft von der selbsterschaffenen Welt des Menschen‘“ zwar wieder und gleich danach Rothackers Aufzählung dessen, was dazu gehört, nämlich „‚die Wissenschaften, welche die Ordnung des Lebens in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte … [usw.]47 zum Gegenstand haben‘“, also doch eindeutig Wissenschaften von sozialen Phänomenen sind. Maletzke behält die Trennung von „Geistes­wissenschaften“ und „Sozial­ wissenschaften“ dennoch bei, nicht nur als Darstellung dessen, was andere sagen, sondern als Maletzke selbst, in seiner Arbeit bis zum Ende, und in deren Titel „Publizistikwissenschaft zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften“. Es bleibt uns noch nachzuschauen, was an „Nachbarwissenschaften“ der Publizistikwissenschaft genannt worden ist. Ich fasse zusammen: Vor allem waren es die Politikwissenschaft, die Soziologie (worunter aber eine Wissenschaft von der „Gesellschaft“ verstanden wurde – was dann auch in bezug auf die Wissenschafts 46

Das ist richtig, aber für das zuletzt genannte Manko ist gerade Maletzke ein Beispiel. Zum Zweck jener Standortbestimmung, die doch „systematisch“ erfolgen soll, bei der­ Maletzke aber dennoch nur „kurz“ auf das „Verhältnis [von „Geisteswissenschaften“ und „Sozial­wissenschaften“] zueinander eingehen“, „nach dem Standort der Publizistikwissenschaft [zwar] fragen, [ihn] nicht aber im einzelnen diskutieren“ will (S. 6). Ohne eine solche Diskussion „im einzelnen“ kann die Standortbestimmung aber nicht gelingen. Oder es heißt (S. 17), es gehe darum, den „Dualismus der Wissenschaften … – wenn auch wegen der ge­ botenen Kürze stark vergröbert und simplifiziert – etwas näher [zu] betrachten“. Maletzke will (S. 23) die „positivistische Gruppe“ innerhalb der Sozialwissenschaften „einen Augenblick“ lang untersuchen, oder (S.  28) die Frage nach der Position der Publizistikwissenschaft im­ System der Wissenschaften „wiederum nur skizzenhaft … beantworten“. Oder (S. 34): „Diese Andeutungen mögen genügen, um  …“. In bezug auf einen auf S.  40 f. genannten „Feedback-Vorgang“: „auch hier wieder nur Andeutungen“ (S. 41); und das geht so bis zum Schluß (S. 45), noch einmal zur „Standortbestimmung“: „deren allgemeine Umrisse hier angedeutet wurden“. 47 Zur Erinnerung: Damals sind überhaupt erst die ersten politikwissenschaftlichen Lehrstühle an westdeutschen Wissenschaftlichen Hochschulen besetzt worden. Selbst wenn das Hagemann bekannt war, konnte er über die Entwicklung dieses Fachs noch nichts wissen. Vom Kontext her können wir darauf schließen, daß Hagemann die Publizistikwissenschaft als eine von mehreren sozialwissenschaftlichen Disziplinen aufgefaßt hat, die es mit Politik, mit – wie er (ebenda) sagte – „Öffentlichkeitserscheinungen“ zu tun haben.

II. Ein adäquates Verständnis von Publizistik und Publizisten

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systematik in die Irre führt) und die Sozialpsychologie (sie von der Konzeption „Publizistik zur Beeinflussung der Rezipienten“ her – was hinsichtlich einer Wissenschaftssystematik ebenfalls nicht geklärt war). Besonders akzentuiert wurde in folgenden Fällen: Hagemann (1951, hier „Zum Geleit“, S.  VII) bezeichnete „die publizistische Wissenschaft … [als] Bestandteil eines bisher in Deutschland leider vernachlässigten Forschungszweiges: der Wissenschaft von der Politik“.47 Kieslich (1972, S. 68 f.) beschrieb eine der diversen Richtungen in der Publizistikbzw. Kommunikationswissenschaft, die sich wegen ihrer besonderen „Schwerpunktbildung zwangsläufig in den umfassenden Bereich der politischen Wissenschaft ein[-gliedert]. Sie ist besonders ausgeprägt beispielsweise in der Nürnberger Schule um Franz Ronneberger“. Auch wenn die Ergebnisse der Untersuchungen in unseren Kapiteln von B. I. 1934/35 natürlich noch nicht vorlagen – sie hätten damals freilich auch nicht in die weltanschauliche Linie gepaßt –, ist der gegebene, allerdings nur oberflächlich48 erfaßte Zusammenhang von Publizistik und Politik natürlich auch schon denen aufgefallen, die 1934/35 Publizistik als „Führungsmittel“ („im Dienste der Arbeit für Volk und Staat“, so z. B. Hermann Meyer, S. 210) pervertiert hatten – was aber, wie wir schon wissen, nicht im Begriff Publizistik, sondern in den Interpreten begründet ist. Zur Einordnung ins System der Wissenschaften brauchen wir die Übersicht über das System in Kapitel A.IV., in diesem Fall dort gleich nach Index 75. Das heißt für uns: Die Publizistikwissenschaft gehört zu den Wissenschaften vom Menschen, von den menschlichen Aktivitäten und Hervorbringungen, also zu den Humanwissenschaften und d e s h a l b zu den Sozialwissenschaften. Die Publizi­ stikwissenschaft als nomothetische Disziplin ist dort bei den nomothetischen, von den Ergebnissen aus dem Kapitel A. IV. her als selbständige Wissenschaft unmittelbar neben die nomothetische Politikwissenschaft zu plazieren, die idiographische Wissenschaft von der Geschichte der Publizistik bei den idiographischen Disziplinen, im Rahmen der speziellen Geschichtswissenschaften unterhalb der Allgemeinen Geschichtswissenschaft, und zwar dort in dieser Dimension genau gegenüber der nomothetischen Ausprägung, unmittelbar neben die Geschichte der politischen Systeme (bzw. Geschichte von deren defizienten Modi). Wie später einmal  – vielleicht  – die schwammige „Kommunikationswissenschaft“ einzuordnen sein wird, bleibt offen, weil wir noch nicht wissen, was sie sein soll, überhaupt sein kann. 48 Hans  A. Münster (1935, S.  10) geht von „Polis“ aus, was er, wie längst üblich, falsch mit „Staat“ übersetzt, und von „Res publica“, was er, nicht falsch, aber simplifizierend, von­ populus herleitet, worauf er den in der NS-Ideologie so beliebten, aus der „völkischen“ Tradition übernommenen Begriff „Volk“ für die Argumentation von damals windschlüpfig zur Verfügung hat: „Es ergibt sich, daß beide Worte, das eine aus dem Griechischen, das andere aus dem Lateinischen kommend, nahezu dasselbe bedeuten, nämlich: ‚Volk und Staat betreffende Angelegenheiten‘“. Die fundierte Sicht der Sache siehe dagegen in B. I.

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C. Konsequenzen

5. Erkenntnisziel und eine andere Aufgabe: „Journalisten“-Ausbildung Auch im Fall der Publizistikwissenschaft gilt, wie bei der Politikwissenschaft (siehe Kapitel A. V.): Ziel jeder Wissenschaft ist die Erkenntnis ihres Gegenstands/ Gegenstandsbereichs, der dort gegebenen Phänomene und Zusammenhänge. Soweit die Publizistikwissenschaft über die Beschreibung des Beobachteten hinaus mittels Vergleich zu mehr allgemein gültigen Aussagen gelangen kann, zum einen zu Ablaufregelhaftigkeiten, zum andern zu besser als zuvor fundierten mehr allgemeinen Begriffen, erreicht sie nach und nach Erkenntnisziele der in nomo­ thetischer Absicht arbeitenden Disziplin. Leider ohne nennenswerte wissenschaftstheoretische Grundlegung hat Hagemann (1951, S. 13) als Erkenntnisziel der Publizistikwissenschaft „die Erfassung der Gesetzmäßigkeiten und Gegebenheiten der Öffentlichkeitserscheinungen und Öffentlichkeitsorgane“ genannt. Hagemanns Terminologie in Grundfragen des Fachs ist hier wie auch sonst oft nicht präzise. Mit „Öffentlichkeitsorgane“ sind offenbar die Medien gemeint. Aber wer ist diese Öffentlichkeit, die „Organe“ hat? Oder muß es vielmehr heißen: Was ist Öffentlichkeit? Zur Verbesserung des Verständnisses der für die Publizistikwissenschaft zentralen Begriffe und hinsichtlich Ablaufregelhaftem ist die Publizistikwissenschaft kaum vorangekommen. Nicht zuletzt die Unsicherheit, was dieses Fach denn sei, hat es verhindert. Umfrage, Meinungsforschung sowie Content Analysis, also die auf dasjenige, was meß- und zählbar ist, eingeengte empirische Sozialforschung,49 hat, was Hans Wagner (1993, S. 500) nicht übersieht, zwar „zahlreiche Anregungen und Impulse für die Fachwissenschaft und über sie hinaus ergeben“, aber der „Ausschließlichkeitsanspruch“, mit dem diese Art von empirischer Sozialforschung auftrat, hat nicht nur zur Auflösung klarer Konturen des Gegenstands der Publizistikwissenschaft geführt, sondern auch zum „Theorie-Defizit … bei gleichzeitig wachsendem Wirklichkeitsverlust … . Die Paralle­lität beider Erscheinungen ist keineswegs ein Widerspruch; sie beleuchtet lediglich auf ganz besondere Weise den Praxiswert wirklich tragfähiger Theorien. Die Verbindung beider Erscheinungen potenziert natürlich das Negativ-Image des Faches: Die Theorie-Stagnation schadet dem Renommee in der Wissenschaftswelt, … der Wirklichkeitsverlust … ist (von kurzfristig wirksamen Täuschungen abgesehen) nicht dazu angetan, das ohnehin schon belastete Verhältnis zur … journalistischen und publizistischen Praxis zu verbessern“ (ebenda). „Ganz allgemein und zunächst pauschal [gesagt] kann man beobachten, daß die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft sich auch insoweit amerikanischen Verhältnissen angeglichen hat, als sie die dort längst beklagte Disproportionalität zwischen wachsendem empirischem Datenmüll bei gleichzeitig sinkendem Theorieertrag wiederholt“ (S. 501). 49 Die außerdem nicht bemerkt, daß Geschichtswissenschaft ihrerseits empirische Sozialforschung ist.

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Wir sollten hier, freilich in einem anderen Sinn, näher an der Wirklichkeit bleiben: Die Anfangs-Euphorie, weitreichende Theorien gewinnen zu können, nach einigen Jahren bereits auf nur noch solche „mittlerer Reichweite“ zurückgeschraubt, ist in Soziologie und Politikwissenschaft schon längst noch mehr gedämpft worden (siehe Kapitel A. V., die Absätze von Index 127 bis vor 138), und wir sind da in der Publizistikwissenschaft noch weiter zurück. Theoriebildung, besonders im Kritischen Rationalismus hohes Ziel wissenschaftlicher Arbeit, soll, so meine ich, trotz der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in der wissenschaftlichen Praxis Ziel bleiben, ich selbst lege aber lieber den Akzent statt auf Hypothesenaufstellen auf H i n s c h a u e n , von allen möglichen Seiten, auf das, was sich von sich selbst her zeigt. (Das ist un­ abhängig vom konstruktivistischen Erkenntnistheorie-Ansatz.) Außer um das Erkenntnisziel ging es im Fach um eine außerhalb dieses Ziels liegende Aufgabe, um die einer Berufsausbildung an Universitäten. Solche Berufsausbildung ist an Wissenschaftlichen Hochschulen alles andere als ungewöhnlich, sie ist sogar die Regel. Das gilt für das Jurastudium, das Studium der Theologie, das Medizinstudium für die Approbation, das Studium für die Lehrämter an Schulen, das Dolmetscherstudium, das Studium der technologischen Disziplinen, der Chemie, der Betriebswirtschaftslehre, der Informatik usw., in bezug auf Berufe im Staatsdienst oder in der Privatwirtschaft. Es wäre folglich ganz normal, wenn auch Journalisten eine Universitäts­ ausbildung auf den Beruf hin erhielten, falls für die so Ausgebildeten Bedarf gegeben wäre. Aus anderem Zusammenhang (C.II.1.) wissen wir von dem Interesse eines Leipziger Zeitungsverlegers an der Förderung für „angehende und zukünftige Journalisten“ an der Universität Leipzig, 1909, und davon, daß sich damals auf Leipziger Universitätsseite Karl Bücher für eine akademische Journalistenausbildung eingesetzt hat. In welchem Zusammenhang diese Sache mit Verlegerund mit Journalistenverbands-Interessen jener Zeit steht, stellt Berthold Neff in „Aspekte zur öffentlichen Diskussion um die akademische Journalistenvorbildung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland“ dar. Es wird dort deutlich, daß sowohl innerhalb der Verlegerschaft als auch bei den Journalisten verschiedene Interessen wirksam waren, was zu Meinungsunterschieden führte. Manche Verleger (siehe oben) erklärten Bedarf, andere „verweigerten die Anstellung dieser ‚sogenannten Akademiker‘“ (Neff, S. 63) und ließen nur das Volontariat in publizistischen Unternehmen zwecks Einarbeitung gelten. Es gab Forderungen, „der Staat solle die Regelung der Berufsvorbildung in die Hand nehmen“,50 aber auch Stimmen gegen „allgemeine journalistische Vorbildungsanstalten“;51 außer 50 So 1919 Otto Jöhlinger, leitender Redakteur der volkswirtschaftlichen Abteilung der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ und Dozent der Staatswissenschaft an der Universität Berlin (Neff, S. 67). 51 So 1913 der Chefredakteur der „Kölnischen Zeitung“, Ernst Posse (S.  65), der es für realistisch hielt, „daß ein zur Journalistik besonders veranlagter junger Mensch die höhere

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dem Vorschläge zur Kombination von Universitätsstudium, unter (nicht zwingendem) Einschluß der Zeitungskunde,52 und Einarbeitung im Verlag. Eine Ablehnung jeder universitären Vorbildung der Redakteure aus solchen Gründen, wie sie Stern-Rubarth 1960 (S. 568 f.) für die britische Presse beschreibt, deklarieren betroffene Verleger ihrerseits normalerweise nicht.53 Bedenken gegen eine Journalistenausbildung an Universitäten, bis hin zur Ablehnung, gab es aber nicht bloß auf seiten von Verlegern, sondern in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch Bedenken an Universitäten, ob es dort – überspitzt formuliert – etwas so Inferiores wie Journalistenausbildung geben dürfe. Wichtiger ist anderes wegen seiner Grundsatzbedeutung. Bevor ich das zeigen kann, muß ich vorausschicken: Für den Zugang in die Führungspositionen in den beiden für die Gemeinwesen wichtigsten Bereichen, der Politik und der Publizi­ stik (bzw. dessen, was so genannt wird), gibt es keine geregelte Berufsausbildung mit Eignungsprüfung, nicht für die – um die deutschen Bezeichnungen zu nehmen – Positionen des Bundeskanzlers, der Ministerpräsidenten und der Mini­ster, nicht für die der Verleger, der Rundfunk-Intendanten, der Chefredakteure und der Redakteure. Hier gelten „Begabung“ bzw. „Geschick“ als EignungsvoraussetSchule besucht und sein Universitätsstudium seiner Veranlagung und Neigung entsprechend auf eine Anzahl Studiengegenstände konzentriert, die ihm für die Journalistik wertvoll erscheinen“ (ebenda), womit primär das Studium anderer Fächer gemeint war. An den Universitäten solle es außerdem „journalistische Seminare“ als „akademische Einrichtungen“ geben. 52 So, ebenfalls kurz vor dem Ersten Weltkrieg, Martin Mohr, damals Vorsitzender des Landesverbandes der bayerischen Presse: „Seminarien für Zeitungskunde mit besonderen Übungen für diejenigen, die sich dem journalistischen Berufe zuwenden wollen, als eines der wichtigsten Hilfsmittel in der beruflichen Ausbildung, nicht aber als Vorbedingung für die Ausübung der journalistischen Tätigkeit“ (S. 65), 1930 der Stuttgarter Verleger Carl Esser: „in der Regel über ‚ein bestimmtes Studium …, neuerdings vielleicht auch über eines der an den verschiedenen Universitäten nun bestehenden zeitungswissenschaftlichen Institute‘“ (S. 69). 53 In Deutschland haben Vertreter der Zeitungswissenschaft an den Universitäten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts deutlich gemacht, daß ihre Institute nicht mit Einrichtungen zur Berufsbildung von Journalisten und Verlegern gleichzusetzen seien (Dovifat, Berlin, 1928/29, hier gemäß Neff, S. 69); die Zeitungswissenschaft könne in der akademischen Ausbildung von Journalisten allenfalls vergleichsweise das leisten, was für die Philologen (d. h. hier für die Gymnasiallehrer) die Pädagogik biete (Jaeger, Leipzig, 1926, gemäß Neff, S. 68). Aus Kapitel C.II.2. wissen wir, daß Publizistik von den NS-Ideologen und von Vertretern der Zeitungs-/Publizistikwissenschaft als Mittel zur „Volksführung“ interpretiert worden ist. Hans A. Münster hat 1934 in seiner Antrittsvorlesung als Inhaber des Leipziger Lehrstuhls und als Institutsleiter das „Lehr- und Forschungsziel“ des Instituts genannt: „Popularisierung der politischen Propaganda und Publizistik, Untersuchung der publizistischen Führungsmittel nach Wesen, Wirkung und Methode und, nicht zuletzt, die Ausbildung künftiger Schriftleiter“ (Straetz, S. 86), wie es jetzt statt „Redakteure“ hieß, oder, so Starke 1939 (S. 155): Die „Wissenschaft von der Publizistik  … entwirft den Plan für einen ‚Propagandafeldzug‘“. Schon 1933 war das zeitungswissenschaftliche Studium offiziell als Teil der Schriftleiterausbildung anerkannt, 1935 ist ein einheitlicher Lehrplan amtlich verfügt worden (S. 91). – Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Disziplin erneut, jetzt in der Deutschen Demokratischen Re­ publik, für Zwecke der Erziehung und der Propaganda ideologisch gleichgeschaltet, nun mar­ xi­stisch. Ab 1954 war sie in Leipzig Hochschulfach als „Journalistik“.

II. Ein adäquates Verständnis von Publizistik und Publizisten

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zung; Begabung, Geschick aber müsse man haben, könne man nicht in einer Ausbildung erlernen. Nun braucht aber auch der Grundschul- und der Gymnasiallehrer „pädagogische Begabung“, braucht auch der als Arzt praktizierende Mediziner Geschick im Umgang mit Menschen. Aus Erfahrung wissen wir von pädagogisch unbegabten Lehrern und im Umgang mit Patienten ungeschickten als Ärzte praktizierenden Medizinern und auch von mehr oder weniger ungeschickten Handwerkern. Bei den zuletzt Genannten fällt der Mangel an Begabung und Geschick aber oft eher schon früher, während der Ausbildung, auf als bei Lehrern und bei Ärzten. Pfusch bei Handwerkern und Ingenieuren, wie auch z. B. als Bauleiter, kann für die davon Betroffenen teuer werden. Schäden, die pädagogisch wenig begabte Lehrer (auch Hochschullehrer) und im Umgang mit Patienten ungeschickte Ärzte anrichten, können schwerer wiegen als Handwerker- oder Bauleiter-Pfusch, auch wenn sie sich, anders als jene, meist überhaupt nicht beziffern lassen. Wenngleich es also auch bei Lehrern, bei Ärzten und bei Handwerkern sehr wohl auf Be­gabung und Geschick ankommt, gibt es für sie und noch für viele andere eine in vielen Einzelheiten fixierte verbindliche Berufsausbildung, deren geprüfter erfolgreicher Abschluß Voraussetzung für die Berufsausübung ist.54 Das Ausmaß an Schäden, die zu wenig geeignete Staatsmänner und Staatsfrauen anrichten können, ist wegen des großen Umfangs des Gemeinwesens und der großen Zahl der Betroffenen unter Umständen enorm, und zwar weit über das hinaus, was sich am Staatshaushalt ablesen läßt, nämlich auch hinsichtlich negativer Folgen für das Schicksal, die persönliche Entwicklung vieler Menschen wegen Beschneidung von Chancen, z. B. infolge von gravierenden Mängeln bei den Bildungsmöglichkeiten.55 Trotzdem ist in der Politikwissenschaft an den deutschen Universitäten nie daran gedacht worden, es sollten dort angehende „Politiker/Politikerinnen“ (Staats­ männer/Staatsfrauen) ausgebildet werden. Das galt auch für das (zunächst nur Berliner) Diplomstudium.56 Wir kennen es aus dem alten Griechenland und aus dem frühen Germanien, daß in politischen Dingen jeder Freie mitsprechen und mitentscheiden konnte. Da­ gegen hätten die Griechen – so hörten wir es von Sokrates57 (siehe Platon, am An 54 Gesetze können nicht auf die Bedürfnisse aller Einzelpersonen als solcher zugeschnitten sein, ihnen folglich aus der Natur der Sache niemals in für sie idealer Weise gerecht werden. 55 Welche allerdings nicht nur Staat und Kommunen, sondern in vielem auch Eltern an­ zulasten sind. 56 Zwar gibt es auch in der Politikwissenschaft sehr wohl und zwar in vergleichsweise großem Umfang geregelte Berufsausbildung, für Sozialkundelehrer der Mittelstufe der Gymnasien und für Lehrer an Berufsschulen sowie für Gemeinschaftskundelehrer der gymnasialen Oberstufe, aber das ist eine Sache etwa entsprechend der Juristenausbildung für den Staatsdienst (Richter, Staatsanwälte, Notare) bzw. für Rechtsanwälte und Syndizi, und der Medi­ zinerausbildung auf die Approbation hin. 57 Das ist in absoluter Zeitrechnung zwar früher als das, was Tacitus über die Germanen schreibt, betrifft aber, relativ, eine jüngere griechische Entwicklungsstufe, mit schon mehr beruflicher Spezialisierung.

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C. Konsequenzen

fang von „Protagoras“; bei mir auch in Kapitel B. I.2.) – ein Mitredenwollen aller z. B. in Bausachen oder im Schiffbau nicht geduldet. Das entspricht von dieser Seite her jener Auffassung, daß Politik anders als jene Sachverhalte nicht Gegenstand einer Lehre sein konnte. Wenn es auch heute keine vorgeschriebene geregelte Ausbildung für Staats­ männer und -frauen als solche gibt,58 werden diese Männer und Frauen keineswegs etwa durch das Los aus dem Kreis aller bestimmt. Der Annex „Legitimitäts­ prinzipien“ bringt eine Übersicht über Voraussetzungen, die, jeweils diese oder jene, in früherer Zeit erfüllt sein mußte bzw. die, jeweils diese oder jene, heute gegeben sein muß oder hilfreich ist.59 – Cicero hat die Begabung als wichtige Voraussetzung für die Rhetorik beschrieben (siehe Kapitel B. I.2.), aber auch, daß manches durchaus erlernt werden kann, so daß auch für jemanden, der nur wenig Begabung mitbringt, eine rednerische Befähigung „von Mittelmaß“ erreichbar ist, die gut akzeptiert wird. In der Rheto­ rik der Zeit Ciceros gab es in der Hauptsache nur das Medium Stimme (plus Mimik und Gestik). Mit dem Aufkommen der Presse, dann von Film, Hör- und Fernsehfunk, jetzt der „neuen Medien“ ist bereits die Menge des außerhalb des wesentlich Publizistischen liegenden Technischen und quasi Handwerklichen, das erlernt werden kann und muß, natürlich viel größer. Daß Begabung allein nur noch in Ausnahmefällen, sonst aber nicht ausreicht, ist deshalb inzwischen unbestritten. (Was von dem, das erlernt werden kann, wie und wo erlernt werden soll, darüber gibt es viele verschiedene Meinungen.) Ich möchte zum Schluß zum Thema Ausbildung für publizistische Berufe nur einige der wichtigsten Ausbildungseinrichtungen und damit auch -möglichkeiten nennen, ohne Vollständigkeit bei der Ausbreitung in Deutschland. Nach wie vor hat aber das in publizistischen Betrieben absolvierte „Volontariat“60 große Bedeutung. Einige Universitäten haben im Fach außer der Möglichkeit, das MagisterExamen abzulegen bzw. zu promovieren, einen Diplom-Studiengang Journalistik eingeführt, inzwischen auch einen Bachelor- und  /oder einen Master-Studiengang. In München gibt es außerhalb der Universität die „Deutsche Journalistenschule“ mit deutlich mehr „Praxisbezug“.61 Es entstanden außerdem Hochschulen 58 Der Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Hessen von 1976–1987, Holger B ­ örner (SPD), war von Beruf Baufacharbeiter. Ungewöhnliche Fälle gibt es auch anderswo. Der 40. Präsident der USA, von 1981–1989, Ronald W. Reagan, war zunächst Film- und Fernsehschauspieler. 59 So ist Holger Börner keineswegs einfach aus seinem Beruf als Baufacharbeiter Minister­ präsident geworden; er hat zuvor „Parteikarriere“ in der SPD gemacht: 1962–1963 Bundesvorsitzender der „Jungsozialisten“, 1957–1976 MdB (SPD), 1967–1972 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, 1972–1976 Bundesgeschäftsführer der SPD. – Ronald W. Reagan war 1967–1975 Gouverneur, also gewissermaßen Regierungs-Chef auf der Ebene unterhalb des Gesamtstaates, gewesen, im Bundesstaat California. 60 Ausbildungsziel ist „Einarbeitung“, nicht „abgeschlossene Berufsausbildung“. 61 Über die Zusammenarbeit des Münchner Universitätsinstituts mit der Deutschen Journalistenschule s. Roegele (1997), S. 91 f. – Für die Journalistenausbildung in Deutschland von

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für Film bzw. für Film und Fernsehen, so die staatliche Münchner „Hochschule für Film und Fernsehen“, die mit dem Bayerischen Rundfunk, dem ZDF und der Bavaria-Atelier-Gesellschaft eng zusammenarbeitet. Auf der Basis einer zwar nicht institutionalisierten, aber personellen Zusammenarbeit mit dem Münchner Universitätsfach entstand so eine Hochschule, die „Elemente einer wissenschaftlichen [Abt. „Kommunikationswissenschaft und studium generale“], einer technischen und einer Kunsthochschule in sich vereinigte“ (Roegele, 1997, S. 83 ff.). Journalistenausbildung gibt es inzwischen auch an Universitäten ohne alte zeitungs- oder publizistikwissenschaftliche Tradition wie Leipzig, München, Mün­ ster und Berlin. Ich nenne hier nur Mainz (Aufbaustudiengang Journalistik), Dortmund und Hamburg. Eine Ausbildung speziell von „Online-Journalisten“ gibt es seit 2003 an der Fachhochschule Köln in der Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften (Abschluß: Bachelor). 6. Gliederung Die Großgliederung der Publizistikwissenschaft sieht, analog der der Politikwissenschaft (Kapitel A.VI.), wie folgt aus. Am Anfang steht die sog. Wissenschaftstheorie des Fachs. Ich habe sie mit den Kapiteln von C.II. vorgelegt. Danach folgt bei mir, statt einer Theorie der Publizistik, die (im Sinne der „Vorbemerkungen“ zu Teil B.) empirische vorsokratische Grundlegung der Publizistik im Zusammenhang mit der empirischen vorsokratischen Grundlegung des Poli­ tischen. Das bringen die Kapitel von B.I.1. und Kapitel B.I.2. Es hätte sich anzuschließen die Darstellung/kritische Untersuchung des Sy­stems der Publizistik des eigenen Staats, hier der Bundesrepublik Deutschland (vor dem Hintergrund der Untersuchung des „politischen“ Systems (bzw. defizienten Modus) seitens der Politologen, dabei der wichtigsten „Medien“ und der Hauptprobleme der Publizistik in Deutschland, gegebenenfalls besonders aktuelle Fragen. So wie andere politische Systeme bzw. defiziente Modi von heute außerhalb Deutschlands und Systeme vergangener Epochen seitens der Politologen zu untersuchen sind, ist das seitens der Publizistikwissenschafter auch für die publizistischen Systeme zu leisten (ist mehr oder weniger bereits geschehen). Darauf aufbauend können die publizistischen Systeme miteinander verglichen und Systemtypen herausgearbeitet werden. Als nächstes wäre zu untersuchen, was es an grenzüberschreitender Publizi­ stik gibt, auf welchen Ebenen, vielleicht zunächst vor dem Hintergrund dessen, besonderer Bedeutung wurde die Umwandlung der im Fach so traditionsreichen Universität Leipzig in eine normale, nicht länger marxistisch doktrinierte Hochschule.

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C. Konsequenzen

was über grenzüberschreitende Publizistik in Ländern bzw. Staaten mit im wesentlichen gleicher Hochsprache bekannt ist (z. B. Zusammenarbeit von Medien, soweit es so etwas über lediglich Musikprogramme hinaus gibt),62 aber auch propagandistische Einwirkungen über Grenzen hinweg, ferner übernationale Medienkonzerne – um nur ein paar Sachverhalte zu nennen. In die Gliederung des Faches gehört die Geschichte der Publizistikwissenschaft, beginnend mit der Lehre von der Rhetorik, bis hin zur Publizistikwissenschaft von heute. Eine andere Sache ist die Publizistikgeschichte. Unter systematischen Gesichtspunkten gehört sie zu den speziellen Geschichtswissenschaften, die der Allgemeinen Geschichtswissenschaft nachgeordnet sind  – in meiner Übersicht auf der Seite der Historiographie gerade gegenüber der nomothetischen Publizistik­ wissenschaft. – Das Wesentliche dessen, was wir über die „Anfänge der Publizi­ stik“, über das Zur-Sprache- und Zur-Absprache-Bringen der alle angehenden Angelegenheiten in der Öffentlichkeit des Gemeinwesens bisher empirisch aussagen können, habe ich in den Kapiteln von B.I.1., in B.I.2. und im Exkurs zu den Kapiteln von B.I. gebracht. Da im publizistikwissenschaftlichen Studium die Geschichte der Publizistik nicht fehlen darf, aber nicht zu erwarten ist, daß an den Wissenschaftlichen Hochschulen immer gerade Historiker Lehrveranstaltungen dazu anbieten werden, werden das geschichtswissenschaftlich vorgebildete Publizistikwissenschafter selbst übernehmen oder (zumindest) den Studierenden Fachliteratur an die Hand geben müssen.

III. Ein anderes Verhältnis zur Sprache Am Ende von B.I.2. hatte ich Ciceros Forderungen an die Rhetoren zusammengestellt. Sie gelten auch heute noch für die in der Publizistik Tätigen. An der Spitze stand „gutes/reines Latein“. Ich wiederhole auch die wichtig­ sten anderen Forderungen: Sich klar und deutlich ausdrücken, Wörter benutzen, 62 So das von bundesdeutscher, österreichischer und deutschschweizerischer Seite organisierte Fernsehprogramm „3 SAT“ und das aus deutschen und französischen Beiträgen zusammengetragene ARTE-Fernsehen, um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen. (Zu ARTE und zu dessen Ausbau und zu dem, was es ganz sicher nicht werden wird, s.  Jobst Plog, NDR-Intendant, 1999–2002 ARTE-Präsident, ab 2003 Vorsitzender der ARD, in „arte-Magazin“, 12 (2002), S. 4 f.) An grenzüberschreitender Publizistik gibt es in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch mehr und Älteres als diese beiden Fernsehprogramme, weniger spektakulär, im wörtlichen Sinne (s. z. B. Schmidt, Robert H., Grenzüberschreitende Publizistik, 1978). – Zwar sind die Akzente bei Kleinsteuber (Nationale und internationale Medien­systeme) etwas anders gesetzt, aber das Thema Grenzüberschreitung kommt in dieser Übersichts­ darstellung oft vor. – Zur Theorie der Rolle der „Medien“ im Globalisierungsprozeß verweise ich auf Meckel.

III. Ein anderes Verhältnis zur Sprache

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die gebräuchlich sind und „genau das ausdrücken, was wir bezeichnet oder klargestellt wissen wollen, ohne Doppeldeutigkeit“. „Wörter benutzen, die gebräuchlich sind“, heißt für uns auch: keinen „Insider-Jargon“ benutzen (wogegen besonders oft im Rundfunk verstoßen wird). Dem Gegenstand bzw. dem Charakter der Ereignisse angepaßt/angemessen sprechen bzw. schreiben bzw. abbilden, sozu­ sagen „mit Anstand“. Nicht direkt auf das Reden/Sprechen bezogen zu sein scheinen Ciceros Forderungen, „wieder und wieder lesen“ und „Praxis gewinnen in Hören, Lesen und Schreiben“, und doch sind sie bereits für die Rhetorik und selbstverständlich für die ganze Publizistik unserer Zeit grundlegend. Es geht zum einen um einen „großen aktiven Wortschatz“, der nicht zuletzt „aus der Literatursprache“ gewonnen werden soll, es geht zum anderen bei „Praxis im Hören“ um „richtig hin­ hören“, „gut zuhören“. Ich möchte Ciceros Aufzählung ergänzen um „Praxis im Sehen“, was zum einen heißt: viel Erfahrung im Sehen gewinnen, zum anderen: richtig hinsehen auf das, was und wie es sich von sich selbst her zeigt, nicht im Kopf vorgefertigte Bilder und Begriffe darüberstülpen. Das sind nicht bloß Zusatzforderungen nach sozusagen schönen Zugaben, über die Forderung nach der „Darstellung der Sache“ hinaus, die doch das Eigentliche sei. Das Eigentliche i s t hier das „Zur-Sprache-Bringen der alle angehenden Dinge“, und zwar so, daß diese Dinge zureichend verstanden werden. Die alle angehenden, die „öffentlichen“ Angelegenheiten werden nämlich zu solchen erst dadurch, daß sie öffentlich „zur Sprache gebracht“ werden. Das Zur-SpracheBringen ist also konstitutiv für die Res publica als „öffentliche Angelegenheit“ und damit zugleich für die Res publica als das politische Gemeinwesen. Cicero hatte ein gutes/reines Latein gefordert. Was heißt nun für uns „ein gutes/ reines Deutsch“? Zunächst, „rein“ kann nicht heißen, daß nur noch „ur­deutsche“ Wörter verwendet werden dürfen. Dies ginge schon deshalb nicht, weil sehr viele unserer Wörter aus anderen Sprache übernommen, „entlehnt“ worden sind, Wörter für Sachen, die es zuvor „bei uns“ noch gar nicht gegeben hatte, Wörter, ohne die wir nicht mehr oder nur noch mit sozusagen Verrenkungen auskämen. Die Aufnahme solcher Wörter bereichert unsere Sprache. Zunächst für uns noch „Fremdwörter“, werden sie – so die Erfahrung – in den meisten Fällen über kurz oder manchmal auch sehr lang „eingedeutscht“. Wie in anderem gibt es auch in der Sprache immer wieder Modisches.63 Aus der Natur der Sache hält sich das mehr oder weniger lange und verschwindet dann wieder.64 Modisches ist in der Regel nicht sprachgefährdend. 63

Seit Ende des 20. Jh. ist es bei uns Mode, statt „ja“ „genau“ zu sagen. Das aus dem Niederdeutschen um 1920 in die Umgangssprache eingedrungene „knorke“, i. S. v. „vorzüglich“, „ausgezeichnet“, „besonders gut“ (heute etwa „klasse“), ist verschwunden; das aus der Hegelschen Philosophie (grob um 1800) ins Alltagsdeutsch übernommene „an und für sich“, bei Fontane (um 1900) z. B. in „Der Stechlin“ und bei Hans Scholz (kurz nach 1950) in „Am grünen Strand der Spree“, ist auch um 2000 noch viel in Gebrauch. 64

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C. Konsequenzen

Die Sprachen der Wissenschaften enthalten viele Fremdwörter, ohne die in ihnen nicht auszukommen ist. In der Soziologie ist freilich mit dem Gebrauch von Fremdwörtern arg übertrieben worden. (Sprichwörtlich geworden ist dafür „Soziologen-Chinesisch“.) Immer öfter ist bei „Politikern“, bei in der Publizistik Tätigen und bei Wissenschaftern die unsinnige Behauptung zu lesen und zu hören: „Das  … ist mit dem … überhaupt nicht zu vergleichen/nicht vergleichbar.“ Abgesehen davon, daß jedes mit jedem selbstverständlich verglichen werden kann (bloß sich in den mei­ sten Fällen ein Vergleich wegen offensichtlich gegebener Irrelevanz nicht lohnt), hat, wenn einer behauptet, „das … könne mit dem … nicht verglichen werden“, der Vergleich längst stattgefunden. Die Aussage kann sinnvoll also nur lauten: „Das … ist in dieser und jener Hinsicht anders als das …“. Weil eine solche Präzisierung dann in der Behauptung fehlt, ist ihre Formulierung immer erkenntnisschädigend und deshalb leider nicht nur zum Lachen. Jetzt noch etwas zu den Vereinfachungen, Totalisierungen seitens der terribles simplificateurs unter den Staatsmännern und -frauen und unter den in der Publizistik Tätigen: Es geht nicht an, generell „der Bürger“ zu sagen, etwa „der Bürger will das nicht mehr“, sofern ich nicht einen bestimmten Bürger meine, mit seinem Namen oder etwa mit dem Hinweis „der dort auf dem Bild“. „Den“ Bürger gibt es sonst nicht. Es darf nur heißen „wohl die Mehrheit der Bürger bei uns“, falls das so belegt ist, oder „viele“ oder „etwa … v. H.“ oder „soweit erkennbar, alle“ oder „mehr in den neuen als in den alten Bundesländern“, falls es sich so oder wie es sich sonst jeweils verhält. Differenzierung ist Pflicht. Unqualifiziert ist die Rede „Jetzt ist die Politik gefordert“ (oder ähnlich). „Die Politik“ generell gibt es nämlich nicht, ebensowenig wie „die Wirtschaft“, es sei denn als gelehrten Begriff in unserer Wissenschaft. Statt der unqualifizierten Aussage ist konkret anzugeben, wer oder was gemeint ist, wer in welcher Hinsicht „gefordert“ ist. Übel ist die sich seuchenartig ausbreitende Unsitte, von einem „Gegensatz“ zu reden, wenn wir es tatsächlich nur mit einem Unterschied zu tun haben, besonders übel dann, wenn es um Sozialsachverhalte geht. Grotesk ist die Formulierung „sich gegenseitig“ überall dort, wo es in Wirklichkeit „einander“ heißen muß. „Sich“ ist und bleibt reflexiv, was auch durch das unbeholfen daherkommende „gegenseitig“ nicht aufgehoben werden kann. Das „einander“, für den Bestand der Gemeinwesen so wichtig, ist inzwischen ein nur noch wenig bekanntes Wort, bei den „Politikern“, in der Presse, im Rundfunk, im Alltagsgespräch. Nötig ist in all diesen Hinsichten und im ganzen ein anderes Verhältnis zur Sprache.65 Sprache ist eben nicht bloß ein „Mittel zur ‚Kommunikation‘“ und 65 Mir ist übrigens oft aufgefallen, daß Österreicherinnen und Österreicher mit unsrer Sprache besser umgingen als wir.

IV. Mitsprache und Mitwirkung der „anderen Hälfte“

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„Kommunikation“ folglich nicht das, worauf es ankommt; auch die Tiere kommunizieren bekanntlich. Erst das Sprechenkönnen begründet das Menschsein, zusammen mit dem Schaffenkönnen, als schöpferischer Einbildungskraft und schöpferischem Tun, und zusammen mit dem Verstehen dessen, was uns alle angeht, also zusammen mit Durchblick – Voraussetzung für Freiheit, Freiheit von Herrschaft. Das aber muß ins Bewußtsein unserer Lehrerinnen und Lehrer.

IV. Mitsprache und Mitwirkung der „anderen Hälfte“ Wir wissen, daß jedenfalls bei den Germanen und bei den Griechen die Frauen in hoher Achtung standen, und Ulrich Fischer hat anhand von Funden und Befunden gezeigt (siehe „Exkurs“ bei SK), daß das offenbar in der Schnurkeramischen Kultur (2 800/2 750–2 250/2 200 v. Chr.) ebenso gewesen ist. „Seherinnen“, deren Spruch Geltung hatte, gab es bei den Griechen (siehe Kapitel B. I.8.). Tacitus (Germ., 8) hat von solchen Frauen bei den Germanen berichtet, auf deren Rat die Männer hörten. Aber an den allgemeinen Versammlungen, in denen es um die alle angehenden Angelegenheiten ging, waren die Frauen nicht beteiligt. In den Kapiteln B. I.1.a) und B. I.1.b) habe ich es noch unkommentiert gelassen, daß Recht und Pflicht zur Mitsprache und Absprache über die alle angehenden Angelegenheiten in den politischen Gemeinwesen nur die erwachsenen Männer hatten. Daß das so war, geht aber in eine Zeit zurück, in der es selbstverständlich soziale Zusammenhänge, aber politische Systeme noch gar nicht gab. Praktisch alle Autoren, die über alt- und mittelpaläolithische Gemeinwesen aufgrund von Beobachtungen und anhand von Befunden schreiben und nicht bloß spekulieren, stimmen im folgenden überein: Die Jagd auf Wild ist im Lauf der Ent­wicklung des Homo erectus immer mehr zur gefährlichen Großwildjagd ge­ worden, mit viel Schlepperei schwerer Lasten. (Tierknochenfunde an den Jagdund Lagerplätzen belegen es.) Solche Jagd ist nicht nur nicht mehr als Unternehmen einzelner, sondern bloß noch in der Gruppe möglich gewesen, sie habe sich auch zur Männersache entwickeln müssen, aus Gründen der Unterschiede zum einen bei den körperlichen Kräften,66 zum anderen waren die Frauen wegen Schwangerschaft und „Stillen“ und Betreuen der Kleinkinder mehr oder weniger be- bzw. verhindert. Ich füge von mir aus hinzu: Die biologischen Unterschiede, Kinder empfangen, austragen und stillen zu können oder nicht, sind noch nicht von sich aus die Ur­sachen für die Aufgabenteilung. Diese Unterschiede gibt es bei den Menschen­

66 Behrens (1971, S. 8, Fußn. 3) belegt den „beachtlichen Größenunterschied zwischen den beiden Geschlechtern bei den Menschenaffen“ und folgert, das „werde wohl auch für die ältesten Menschen zutreffen“.

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C. Konsequenzen

affen genauso. Die Menschenaffen sind aber weit überwiegend Pflanzenfresser. Die andere Art der Nahrungsgewinnung, die Jagd, besonders dann die Großwildjagd, hat die Aufgabenteilung erzwungen. Wohl kaum ausschließlich, aber wahrscheinlich doch vor allem, wenn die Männer unterwegs zur Jagd beieinander waren, werden sie über die Jagd gesprochen haben. Außerdem, weil die (Großwild-)Jagd notwendigerweise Männersache war, konnten auch nur Männer Erfahrung darin haben und über Konsequenzen aus solchen Erfahrungen, über Pläne und über Aussichten sprechen. Nun haben die Frauen, wohl mit der jeweils passenden – und soweit möglich – Beteiligung der Alten, der Jugendlichen und der Kinder, mit ihren Tätigkeiten für die kleinen Sozialverbände jener Zeit genau so sehr, nur in anderen Sachen dazu beigetragen, daß die Gemeinwesen überhaupt aufrechtzuerhalten waren, etwa inner­halb der Behausung (Abri oder Höhle oder Zelt) oder in deren Nähe die Nahrungsmittel zuzubereiten, zu konservieren (kühlen, trocknen, dörren, rösten), Pflanzen und Früchte zu suchen, Behausung und Bekleidung zu verbessern, um nur einiges zu nennen. All das war nicht weniger wichtig als die Jagd der Männer zur Versorgung mit Fleisch (und mit Knochen als Zeltbau-Elemente und für die Werkzeugherstellung). Es blieb aber so, und dies bis in die Zeit schon politischer Gemeinwesen – und war dort dann institutionalisiert –, daß nur Männer die Dinge berieten, die sie für alle angehende Angelegenheiten hielten. Was die Frauen taten, galt als in den Rahmen der Familie, allenfalls der Sippe gehörend. Außer der Jagd bestritten die Männer die Kämpfe mit anderen Menschen. Laut Behrens (1983, S. 477), der auch Möglichkeiten zur Deutung der Ursachen bzw. Gründe nennt, belegen anthropologische Befunde die Tötung von Menschen durch Menschen seit den Anfängen der Menschheits-Entwicklung. Die Männer bestritten dann auch die „Kriege“, d. h. die mehr oder weniger organisierten bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen größeren Einheiten (Stämmen, Völkern), auch als kriegerisches Vordringen in von anderer Bevölkerung besiedelte Räume, archäologisch bzw. althistorisch greifbar etwa ab jüngeren Phasen der Jungsteinzeit. Seit 1866 sind die innerdeutschen Kriege für immer vorbei. Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl („Montan-Union“), 1951, ist ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland praktisch nicht mehr möglich. Zu Ende des 20. Jahrhunderts gab es wohl die letzten innereuropäischen Kriege, auf dem Balkan. Auch wenn es in Teilen Asiens und Afrikas und besonders an beider Nahtstelle noch viel länger dauern wird, ist doch schon vorauszusehen, daß die Kriege auf der Erde überhaupt zu Ende kommen und sich zu erd-internen Sicherheits-Problemen wandeln werden, zu Polizei-Sachverhalten im Erdmaßstab, vielleicht im Erdteilmaßstab. Gefährliche Großwildjagd auf z. B. Mammut, Wollnashorn und Bär sowie Schleppen schwerer Beutelasten zum Zweck der Nahrungsmittelbeschaffung gibt

IV. Mitsprache und Mitwirkung der „anderen Hälfte“

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es längst nicht mehr, und es bedarf dafür nicht mehr mit starken Körperkräften begabter Männer. Die Bedingungen, unter denen die Frauen auf den Oikos, auf das „Haus“ (Abri, Höhle, Zelt, Hütte), beschränkt waren, auf die Dinge, die in die Familie, allenfalls in die Sippe gehörten, und unter denen nur die Männer darüber sprachen, was damals nur Männersache sein konnte, sind längst verändert. Daß sich die Frauen die sog. Gleichberechtigung67 so mühsam erkämpfen mußten bzw. noch müssen, ist ärgerlich, ganz abgesehen davon, daß es nicht klug ist, auf das geistige Potenzial, sowohl das des Verstandes als auch das der eher zum Vorteil der Gemeinwesen vielleicht anders strukturierten schöpferischen Einfallskraft, der Hälfte aller Glieder des Gemeinwesens zu verzichten.

67 Die Sache ist in Wirklichkeit noch diffiziler. Daß Frauen den Männern – auch außerhalb des Körperlichen – in manchem nicht gleich sind, muß positiv, als Chancen, gesehen werden.

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Personenregister Abel, Otto  311, 313 Abendroth, Wolfgang  28 Acham, Karl  85 Ackermann, Albrecht  679 Adelung, Johann Christoph  161 f. Adenauer, Konrad  590, 652 Adolf von Nassau (dt. König)  380, 422 Adorno, Theodor W.  42, 88 Aega (Hausmeier)  526 Aëtius 304 Agamemnon  122, 212, 591 Agobard (Erzbischof, Lyon)  371, 373 Aiguillon, Emm.-Armand …, duc d’  493 Aischylos 212–214 Aistulf (langob. König)  322, 324–326 Alarich 140 Albert, Hans  50, 52, 58, 68, 85–87, 693 Alberti, Leon Battista  644 Albertus Magnus  579, 601 f. Albertus Samaritanus  369 Albizzi, Rinaldo degli  405 Alboin 638 Albrecht I. von Österreich (dt. König)  380, 421, 422 Alcuin/Alkuin  346, 528, 599 f., 640, 674 Alembert, Jean le Rond ď  454, 498, 564 Alexander d. Gr.  121 Alexander der Molosser  123 Alexander II. (Papst)  409 Alexander III. (Papst)  411, 664 Alkim, Bahadir  171 Alkinoos  122, 188 Althoff, Gerd  386 f. Althusius, Johannes  452, 660 Ambrosius von Mailand (Bischof)  636 Ament, Hermann  135 f. Ammianus Marcellinus  140, 145, 335, 398 Andersen, Niels H.  284, 286–288, 292, 296 Angermann, Erich  580 Angilbert  528 f. Angilram von Metz  314

Anna von Österreich (frz. Königin)  483 Antenor 678 Antoninus Pius  593 Antonius, Marcus (Orator)  185 f. Antonius, Marcus (Triumvir)  167, 185 Arbogast, Rose-Marie  268 Arendt, Hannah  248 Ariald (Mailand)  409 f. Aribert (Erzbischof, Mailand)  407 f. Ariovist  139, 304, 620 Aristoteles  22–25, 29, 38–40, 68, 71, 79, 88 f., 97, 104, 168, 181–184, 240, ­242–244, 506, 508, 578, 590, 601 f., 605–607, 644, 648 Arminius der Cherusker  139 Arnold von Selenhofen  380 Arnulf von Kärnten  352, 357–359, 461 Arnulf von Metz  316, 639 Ascham 645 Athalaricus 615 Athene 212 Attila (s. a. Etzel)  526 Auffermann, Bärbel  249–251 August der Starke/Aug. II. von PolenSachsen 451 August III. von Polen-Sachsen  416 Augustinus  529, 578, 674 Augustus (röm. Kaiser)/Gaius Octavianus/ Oktavian  133, 162, 167, 191, 599, 633 Aurelius Victor  398 Averroës 601 Avienus Festus, Rufus  382 Avitus (röm. Kaiser)  639 B(u)onaparte, Napoléon(e) (Konsul; s. a. Napoleon I.)  409, 583 Baatz, Dietwulf  223 Bach, Adelheid  270 Bach, Carl Philipp Emmanuel  454 Bach, Johann Sebastian  453 Balduin V. von Flandern  546

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Personenregister

Balduin von Trier (Erzbischof)  422 Ball, John  469 Barth 101 Barzizza, Gasparino  643 Beauvilliers, François Honorat de  492 Bechert, Tilmann  135, 140 Beck, Christian August  647 Beda Venerabilis  657, 674 Behm-Blancke, Günter  293 Behrens, Hermann  270, 290, 299 707 f. Benecke, Norbert  116 Benedikt XII. (Papst)  423, 636 Beowulf 638 Bergstraesser, Arnold  34, 79, 89, 95 Berlichingen, Götz von  427 Bernarding, Rudolph  190 Bertemes, Frenz/François  276, 283–286, 288 f., 292, 295 Bertetrud (Königin)  526 Bertha (Tochter Karls d.Gr.)  529 Berthold von Henneberg (Erzbischof, Mainz) 428 Berthold von Regensburg  388 Berthold von Zähringen  541 Bertrada 311 Besson, Waldemar  190 Beyerle, Franz  215 f. Birley, Anthony R.  101 Birley, Eric  101 Birley, Robin  101 Bleek, Wilhelm  22 f., 25, 27, 29, 92, 649 f. Bleicken, Jochen  163, 166 f., 207, 211, 237, 242, 598 Blickle, Peter  219 f., 340, 508, 560 Bochenski, Joseph M.  596, 673 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  580, 670 Bodin, Jean  441, 444, 474, 500 f., 509 Boehm. Laetitia  527, 640 Boëthius  526, 607, 640 Böhme, Horst Wolfgang  379, 396 Böhner, Kurt  574 Bolander (die Herren v. Bolanden)  380 Boleyn, Anna  645 Bolland, Jürgen  155 Bonifatius  322, 634 Bonifatius VIII. (Papst)  465 Boockmann, Hartmut  314, 370, 391, 396, 411, 413, 419–427, 435, 437, 534, 644, 636

Borgia, Cesare  608, 611 Börner, Holger  702 Borromeo, Carlo  431 Borst, Arno  624, 641 Bosinski, Gerhard  257–260, 263, 268 Bossert, Theodor  171 Bossuet, Jacques B.   637 Brachmann, Hansjürgen  396 Brecht, Arnold  56, 83 Brennus 208 Bringmann, Klaus  114, 124 f., 242, 614, 632 Brinno 621 Brühl, Carlrichard  223, 307, 311, 537 Brun (Bischof, Augsburg)  640 Brundert, Willi  100 Brunelleschi, Filippo  504 Brunhilde (merowing. Königin, Worms)  227, 391, 601 Brüning, Heinrich  585 Brunner, Karl  322, 412, 584 Brunner, Otto  70, 103, 146, 152, 214, 385, 441, 463 f., 568 f., 579, 637, 660 Bruno (Bischof, Tull; s. a. Leo IX.)  409 Bücher, Karl  675, 699 Buchner, Rudolf  313 Büchner, Stefan  273 Buchsteiner, Jochen  190 Bumke, Joachim  530–534 Burckart von Ehingen  525 Burckhardt, Jacob  64 Burkart, Roland  678, 684, 691, 694 Büsch, Johann Georg  569 Caesar, Gajus Julius  134 f., 138 f., 162, 167, 169, 304, 307, 318, 343, 382, 467, 599, 617, 619–621, 633, 657 Cajetan (Kardinal-Legat)  429 Calonne, Charles-Alexandre de  495 Calvin/Kalvin, Johann  431 f., 472 f. Camp, John M.  127, 297, 656 Campe, Joachim Heinrich  208 Cancik, Hubert  170 Capella, Martianus  674 Capelle, Wilhelm  97, 174 f. Capet, Hugo  357, 461 Caskey, J. L.  109 Cassiodor  527, 674 Castiglione, Baldassare  609

Personenregister Castritius, Helmut  613 f. Catlin, George E. G.  27 Cavour, Camillo B. Graf von  586 Chadwick, J.  112 Childebert (I.) (Merow.könig)  309, 639 Childebert II. von Austrasien (Ostreich)  227, 391, 639 Childerich I.  304, 574 Childerich III.  327, 630, 634, 654 Chlodjo 304 Chlodwig (I.)/Chlodovech (Chlodowech)  140, 215, 304 f., 309, 335, 526, 571, 634 Chlothar II. (Merow.könig, Westreich u. Burgund)   335, 526 Christoph von Württ.bg.  648 Christus  601, 635 Chrodechildis/Chlothilde 305 Cicero  167–169, 171 f., 179, 184–189, 211, 398, 579, 589, 596–599, 644 f., 674, 702, 704 f. Claudius, Matthias  453 Clemens V. (Papst)  466 Coelius, Gajus  186 Colbert, Jean-Baptiste  485 f. Colonna (röm. Adelsfamilie)  465 Comte, Auguste  25, 68, 499 Conrad, Hermann  646 f. Constans (Kaiser)  313 Conze, Werner  214, 580 Crassus, Lucius Licinius  168, 171 f., ­185–187 Croce, Benedetto  34 f., 586 Cyprian 645 Dagobert (Merow.könig)  526, 639 Daim, Falco  376 f., 530 Dangeau, Philippe, Marquis de  574 Dannenbauer, Heinrich  140, 142–147, 151 f., 217, 338, 340, 375 David (bibl. König)  347, 634 Demeter 124 Demokrit 689 Demosthenes  173, 644 f. Descartes, René  452, 487 Desiderius (Langob.könig)  329 Diderot, Denis  497 f., 563 Diels, Hermann  97 Diesner, Hans-Joachim  140, 169, 246

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Dietrich von Bern (s. a. Theoderich d. Gr.)  524 Dilthey, Wilhelm  45, 52, 75, 695 Diokletian 407 Dirlmeier, Franz  690 Distelkamp, Bernd  460 Diwald, Hellmut  400, 402, 405–407, 412, 414 f., 426–428, 435, 467, 469–471, 508, 565 Dollinger, Philippe  319, 334, 363, 376–379 Dover, Kenneth  674 Dovifat, Emil  676, 679, 700 Dröge, Franz W.  693 Dronke, Peter  368, 674 Droysen, Johann G.  52, 59 Dubois, Guillaume  493 Duchhardt, Heinz  70, 441, 443–446, 449–453, 456–459, 488–491, 493–497, 509, 519, 563, 566–569, 596, 637 Duplessis-Mournay, Philippe  474 Durkheim, Emile  26 Dux, Günter  588, 629 Easton, David  588 Eberhard, Fritz  673, 694 Eduard III. (Engld.)  466–469 Eduard VI. (Engld.)  645 Eduard, der „Schwarze Prinz“  467 f. Eggers, Hans  101 Eggert, Wolfgang  349 Egilbert (Bischof, Freising)  640 Ehrenberg, Victor  105, 122, 124, 218, ­237–240 Eike von Repgow  388 Einhard  331 f., 345, 527–530, 607, 639 Eisenhardt, Ulrich  499 Eisenhut, Werner  183, 184, 186, 674 Eisermann, Gottfried  582 Eley, Geoff  685 Elisabeth Charlotte s. Liselotte von der Pfalz Elisabeth I. (Engld.)  645 Ellwein, Thomas  91 Engels, Friedrich  245 Ennen, Edith  394, 400 f., 403–406, 413 f., 437, 538–546, 557, 658 Epikur 71 Epinay, Louise de  564 Erasmus von Rotterdam  516

772

Personenregister

Erinyen  212, 214 Erlembald (Mailand)  410 Ermanarich 140 Eschenburg, Theodor  189 f., 195, 596–599 Esser, Carl  700 Este, Borso ď  504 Este, Ercole I. ď (Herzog, Ferrara)  565 Este, Isabella d’  565 Este, Lionello ď (Leonello d’)  504, 643 Este, Niccolò (III.) ď  412, 503 f. Etzel (s. a. Attila)  524 Eugen IV. (Papst)  405, 435 Eugen, Prinz von Savoyen  450, 490, 515 Eurich 215 Eusebius von Caesarea  635 Everth, Erich  675 Fabris, Hans Heinz  694 Falter, Jürgen W.  41, 669 Faulstich, Werner  369 Feddersen-Petersen, Dorit  682 Federmann, Daniel  401 Feger, Otto  335 Felix V. (Papst)  435 Fénelon, François …  492 Ferdinand I. (Kaiser)  431 f., 434 Ferdinand II. (Kaiser)  439, 481, 450 Ferdinand III. (Kaiser)  448 f., 456 Ferrante (König v. Neapel-Sizilien)  407 Ferrero, Guglielmo  588 Festus s. Avienus Feustel, Rudolf  245 Fey, Hans-Joachim  149, 310 Fichte, Johann Gottlieb  580 Fiedler, Lutz  248, 252, 255 f., 298 Fischer, Lars  136 Fischer, Ulrich  231, 290–296, 299, 707 Flechtheim, Ossip  32 f. Fleischer, Helmut  88 Fleury, André H.  493 f., 496 Fontane, Theodor  625, 705 Franke, Peter Robert  104, 123, 127, 245, 297 Franz I. (Frkr.)  429–431, 471 f. Franz I. (Kaiser)  416, 457, 646 Franz II. (Frkr.)  472 Franz II. (Kaiser)  459 Franz III. Stephan von Lothringen s. Franz I. (Kaiser)

Franz von Assisi  388 Franz von Sickingen  429 Franz, G.  398 „Fredegar“  134, 146, 308, 311 f., 327, 336, 525 f. Freidank 393 Freund, Michael  32 Freyer, Hans  26 Friedrich der Weise von Sachsen  429 f. Friedrich I. (König in Preußen)  449, 650 Friedrich I., „Barbarossa“ (Kaiser)  358, 367, 372, 379 f., 384, 387, 410–412, 419–421, 499, 542, 600, 627, 631, 635 f., 664 Friedrich II. (König von Preußen)  446 f., 449, 453–456, 458 f., 497, 507, 514, 567, 606 f., 650 Friedrich II. von Schwaben (Herzog)  631 Friedrich II. von Staufen (Kaiser)  384, 412–414, 419 f., 441, 466, 542, 627 Friedrich III. (König, dann Kaiser)  370, 467 Friedrich V. von der Pfalz (König v. Böhmen)  439 Friedrich V. von Schwaben (Herzog)  379 Friedrich von Hausen  380 Friedrich von Österreich (dt. König)  422 f. Friedrich Wilhelm I. (Preußen; „Soldaten­ könig“)  446 f., 449 f., 453, 514, 649 f. Friedrich Wilhelm von Brandenburg („Großer Kurfürst“)  440, 444 f., 455 Friedrich, Carl Joachim  588 Frirdich, Christiane  273 Fritsch, Thomas  268 Fuhrmann, Manfred  674 Fulco von Reims  357 Fulrad von St. Denis  314, 325 Furet, F.  498 Gablentz, Otto Heinrich von der  33 Gadamer, Hans-Georg  45, 199 Galilei, Galileo  44 Ganshof, François-Louis  340, 411, 413, 463–466, 499, 631, 636, 664 Garin, Eugenio  562, 565, 643 f. Gaulle, Charles de  583 f. Gauzlin (Bischof)  356 Gawantka, Wilfried  240 Gehlen, Arnold  58, 69, 582

Personenregister Geiserich 591 George, Stefan  208 Gianni, Francesco Maria  417 Gierke, Otto von  338 Giersch, Herbert  100 Gigon, Olof  172, 178, 243 Gisela (Kaiserin)  640 Gisla (Schwester Karls d. Gr.)  528 Glotz, Peter  683 Goethe, Johann Wolfgang von  161, 567 Göldner, Holger  295 Gorgias  174–176, 179 f. Görres, Joseph von  521 Gotfrid (der Normanne)  355 Gottfried (Mailand)  410 Gottfried von Straßburg  392, 509, 531, 534 Gottsched, Johann Christoph  453 Götze, Alfred  289 Gournay, V. de  515 Gratian 310 Gravier, J.-F.  93 Gregor III.  343 f. Gregor VII. (Papst)  372, 379, 387, 409 f., 423, 636 Gregor von Tours  134, 305, 308 f., 312 f., 334, 337, 391, 525, 639 Grimm, J. u. W. (Wörterbuch)  103, 150, 152–161, 196 f., 205 f., 217, 219–221, 226, 313, 327, 374 f., 392 f., 400, 501, 506, 509, 512 f., 517, 520 f., 523, 534– 536, 557, 571, 579, 604, 616, 629, 666 Grönbech, Wilhelm  154, 383 f., 610, 627 f., 638 Grotius, Hugo  452, 506 Gschnitzer, Fritz  122 Guarino von Verona  643 Guicciardini, Francesco  35, 505 Guicciardini, Lodovico  401 Guise (allg. u. Heinrich G.)  472–474 Gundolf (Hausmeier)  639 Guntram (König in Burgund)  390, 227 Gust, Dieter  81 Gustav Adolf (Schweden)  480 Guyenne, Eleonore von (Aquitanien)  462 Haacke, Hans   577 Haacke, Wilmont  676, 681, 694 Haarnagel, Werner  555

773

Habermas, Jürgen  42, 45, 88, 97, 199, 201, 580, 684–686, 693 Hachmann, Rolf  135 Hadrian I. (Papst)  329 f. Hadrian IV. (Papst)  600, 636 Hagemann, Walter  676, 679–681, 692, 694, 696–698 Hagen-Arnsburg-Münzenberg 380 Hartmann von Aue  524 Häßler, Hans-Jürgen  555 Haubrichs, Wolfgang  152 Haugwitz, Christian K., (Graf)  515 Häusler, Alexander  290 Heberer, Gerhard  249, 252 Heege, Elke  282, 299 Hegel, G. W. Fr.  52, 79, 97, 577, 685, 705 Heidegger, Martin  42, 97 f., 183, 198 Heimrich (Graf)  356 Heine, Hans-Wilhelm  396 Heinemann, Gustav  603 Heinrich (Herzog, Bayern)  641 Heinrich (VII., dt. König)  420 Heinrich der Löwe (Hzg.)  419, 499, 541 Heinrich der Stolze (Herzog, Bayern, Sachsen) 631 Heinrich I. (dt. König; zunächst Sachsen­ herzog)  362, 364–366, 387, 395 f., 630 f. Heinrich I. (Engld.)  462 Heinrich I. (Frkr.)  461 Heinrich II. (Engld.)  462 Heinrich II. (Frkr.)  433, 471 f. Heinrich III. (Engld.)  465 Heinrich III. (Frkr.)  473 f. Heinrich III. (Kaiser)  378, 387, 408 f., 419, 546, 640 f. Heinrich IV. (Engld.)  469 Heinrich IV. (Kaiser)  372, 378 f., 387, 396, 409 f., 418 f., 547, 631, 635 f. Heinrich V. (Engld.)  469 Heinrich V. (Kaiser)  387, 631 Heinrich VI. (Engld.)  467, 469 Heinrich VI. (Kaiser)  358, 379 f., 413, 420, 542, 600, 631, 664 Heinrich VIII. (Engld.)  645 Heinrich von (Burgund-)Trastamara  468 Heinrich von Kastilien  468 Heinrich von Luxbg./Heinrich VII. (Kaiser)  422

774

Personenregister

Heinrich von Navarra/Heinrich IV. (Frkr.)  473–477, 488, 500 Heinrich von Veldeke  523 Heinze, Richard  597 f. Heinzle, Joachim  384, 388 f., 392 Helena 678 Heller, Hermann  26, 36 f., 382 Helvétius, Claude Adrien  454 Hennis, Wilhelm  32, 89 Herder, Johann Gottfried  399 Herfurth, Edgar  675 Herges, A.  94 Herodot 189 Herrmann, Fritz Rudolf  223 Herrmann, Hans-Walter  451 Herrmann, Joachim  246 Herz, Henriette Julie  567 Herzog, Roman  603 Hesiod  128, 342, 612 f., 620 Heuß, Alfred  114, 119–121, 124–128, 211, 237, 642, 652 f., 656 Heuß, Theodor  602 f. Hildebald von Köln (Erzkaplan u. ­Erzbischof)  314, 528 Hildebrand (Bened.-Mönch) s. Gregor VII. Hiller, Stefan  108–113, 117, 125, 213, 298 f. Hillgruber, Andreas  585 f. Hindenburg, Paul von  585 Hintze, Otto  25, 59, 64, 70, 78 Hippias (Sophist)  174–176 Hippokrates 176 Hitler, Adolf  585, 611, 629 Höffner, Eugen  98 Homer  104–108, 113, 121 f., 128, 132, 188 f., 218, 228, 240 f., 244, 296 f., 343, 612 f., 644, 678 Honegger/Massenkeil 567 Honorius II. (Papst)  409 Horkheimer, Max  88 Horst, Fritz  246 Horst, Katarina  115 Horus 632 Hrabanus Maurus  640 Hrouthaid (Tochter Karls d. Gr.)  529 Hrozný, Bedřich/Friedrich  170 f. Hugo Capet s. Capet Hugo von St. Viktor  531–533

Huizinga, Johan  65 Humboldt, Alexander Frhr. von  567 Humboldt, Wilhelm Frhr. von  567 Hunkemöller, Jürgen  530 Hus, Jan  426, 429 Husserl, Edmund  42, 45 Hüttenberger, Peter  584–586 Ignatius von Loyola s. Loyola Im Hof, Ulrich  586 Imbusch, Peter  582 Ingimund 610 Innozenz III. (Papst)  413 Iordanes  138, 140 Irmingard (Kaiserin)  348 Isenmann, Eberhard  319, 387, 391 f., 507 f., 510 f., 517, 536, 543–545, 548–551, 553–560, 575, 593, 602, 642 Isis 632 Jacobi, Juliane  639, 641, 648 Jacobshagen, Burkhard  270 Jaeger 700 Jaeger, Werner  174 Jansen, Cornelius  456 Jeanne d’ Arc/Johanna von Orléans  469 f. Jeanne, Tochter Phil. IV. (Frkr.)  466 Jens, Walter  139, 675 Jeunesse, Christian  268 Jobst von Mähren  424 Jockenhövel, Albrecht  295, 299 Johann der Blinde (Böhmen)  424, 518 Johann II. (Frkr.)  467 f. Johann Sigismund (brand. Kurfürst)  445 Johann von Sachsen  430 Johanna I. von Navarra  465 Johannes (XXIII.) (Papst)  405 Johannes der Täufer  601 Johannes XXII. (Papst)  423, 636 Jöhlinger, Otto  699 Jöris, Olaf  257 Joseph II. (Kaiser)  416 f., 448, 456–459, 646 f. Joseph-Ferdinand von Bayern  490 Juan Carlos I. (Spanien)  602 Judith (Kaiserin)  348, 350 Jünger, Ernst  34 Justi, Johann H. G. von  399

Personenregister Kant, Immanuel  25, 42, 51, 512 Karl d. Einfältige (Westreich)  353, ­356–358, 361, 630 Karl der Böse von Navarra  468 Karl der Kühne von Burgund  467, 471 Karl Friedrich, Markgraf von Baden  459 Karl I., d. Gr.  146, 215, 220 f., 258, 310 f., 314–316, 322, 324–333, 335–338, ­340–347, 353–356, 362, 369 f., 384 f., 394, 527–530, 571, 599 f., 607, 635, 639 f. Karl II. (Spanien)  490 Karl II. Aug. von Pfalz-Zweibrücken  649 Karl II., der Kahle (westfränk.)  348–353, 360 f., 461 Karl III. (Kaiser)  354, 356 f., 461 Karl III. von Bourbon-Montpensier  430 Karl III., der Dicke  352, 354, 356 f. Karl III., der Einfältige (westfränk.)  461 Karl IV. (Kaiser)  424 f., 636, 644 Karl IX. (Frkr.)  472 f. Karl Martell  316 f., 320, 322 f., 326 f., 332, 336, 343–346 Karl V. (Frkr.)  467 f. Karl V. (Kaiser)  428–435, 471, 644 f. Karl VI. (Kaiser)  456, 494, 514 Karl VI., der Wahnsinnige (Frkr.)  468 f. Karl VII. (Frkr.)  467, 469 f. Karl VIII. (Frkr.)  407, 471 Karl von Anjou  414 Karl von Liechtenstein  450 Karl von Niederlothringen  353 Karl XII. (Schweden)  415 Karlmann (Bruder Kaiser Karls III.)  461 Karlmann (Bruder Pippins d. J.)  345 Karlmann (Sohn Pippins d. J.)  329 Karlmann (Westreich)  355 f. Kastendiek, Hans  22 f. 83 Kaunitz, Wenzel Anton Graf  515 Keiling Horst  136 Kern, Fritz  631, 634–636 Kiechle, Franz  614 Kielmansegg, Peter Graf  588, 660–663 Kienast, Walter  600, 630 Kieslich, Günter  327, 353, 413 f., 435, 676, 694, 697 Kilian, Lothar  247, 264–269, 292, 298 Kimmig, Wolfgang  119

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Kind, Claus-Joachim  273 Kirsten, Ernst  121, 124, 237, 353, 613 Kissinger, Henry  90 Kistenmacher, Hans  81 Klein, Ernst  451 Kleinsteuber, Hans J.  704 Kleisthenes  213, 237, 241, 582, 655 Klengel, Horst  170 Kleomenes der Spartaner  125, 139 Klytaimnestra 212 Kneipp, Jürgen  277 f. Köbler, Gerhard  523 Kocka, Jürgen  70 Kogon, Eugen  28, 33 f., 671 f. Kohl, Helmut  652, 671 Köllner, Adolph  149 König, Eberhard  533 König, Hans Günter  206, 280 König, Werner  164 Konrad I. (dt. König)  361 f., 364, 630 Konrad II. (dt. Kg. u. Kaiser)  378, 408, 640 Konrad III. (dt. König)  462 Konradin von Staufen  380, 414 Konstantin d. Gr.  310, 537, 635 Konstanze (Tochter Manfreds von Sizilien)  414 Konstanze (Tochter Rogers II. von Sizilien)  358, 413 Koselleck, Reinhart  214 Köstermann, Erich  398 Koszyk, Kurt  692 Kramer, Willi  395 Kranz, Walther  97 Kreuz, Angela M.  270, 279 Krimhild (Worms)  601 f. Kröner, Hans-Otto  203, 674 Kruedener, Jürgen Frhr. von  565 Krüger, Kersten  442, 478 f., 486 Kühn, Dieter  534 Kuhn, H.  617 f. Kuhn, Heinrich  151 Kuhn, Helmut  79 Kühn, Herbert  101, 268 f. Kuhnen, Hans-Peter  310 Kunter, Manfred  206 Kuper, Rudolph  276 Kutsch, Arnulf  676

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Personenregister

La Fayette, Marie-Madeleine de  564 La Fontaine, Jean de  563 La Mothe Le Vayer, François  645 La Sablière, Marguerite de  563 Labouvie, Eva  393 Lafontaine, Oskar  651 Lamprecht, Karl  59, 64, 75, 346, 355 Lancaster (England)  467, 469 Landshut, Siegfried  29, 36–40, 499 Landulf (Mailand)  409 Lange, Wolf-Dieter  530 Lantfrid 335 Lanzo (Capitano)  408 Larsen, J. A. O.  655 Lasarna/Labarna 169 Latacz, Joachim  106 f., 170 Lautenbach, Manegold von  372 Laux, Lothar  669 Law, John  491, 494, 562 Lazarsfeld, Paul Felix  682 Le Tellier, Michel  485 Leibholz, Gerhard  28, 100, 602 Leibniz, Gottfried Wilhelm  453, 456, 488, 650 Lenclos, Ninon de  564 Lenin, Wladimir I.  629 Leo IX. (Papst)  409, 413 Leopold I. (Kaiser)  444, 449, 456, 490, 514 Lepidus (Triumvir)  185 Lerg, Winfried B.  682, 693 Lespinasse, Julie de  564 Lessing, Gotthold Ephraim  453 Lichardus, Jan  283 Lill, Rudolf  417, 586 Limbach, Jutta  578 Linder, Katharina  208 Lindig, Sabine  277 f. Liselotte von der Pfalz  489 Liutprand (Langob.könig)  344 f. Livius  608 f., 645 Locke, John  583 Lorris, Guillaume de  533 Lösche, Peter  32 Loth, Wilfried  584 Lothar I.  348–353 Lothar II.  352 Lothar III. (dt. König)  631

Lotter, Friedrich  302, 382, 376, 409, 418 f., 595 Louvois, François Michel Le Tellier  485, 487 f. Ludwig (Herzog Touraine)/L. von Orléans  468 f. Ludwig (II.,) der Deutsche  348–352, 361 Ludwig (III.,) d. J. (ostfränk.)  352, 354 Ludwig (IV.,) das Kind (ostfränk.)  352 f., 361 Ludwig (V.,) der Faule (westfränk.)  353, 461 Ludwig I., der Fromme (Kaiser)  311, 328, 336, 339, 343, 347–350, 358, 371, 461, 600 Ludwig II., Kaiser (Italien)  352 Ludwig III. (westfränk.)  354, 523 Ludwig IV., der Bayer (Kaiser)  372, ­422–424, 635  f. Ludwig IX., der Heilige (Frkr.)  414, ­464–466, 512 Ludwig VI. (Frkr.)  462 Ludwig VII. (Frkr.)  461 f., 631 Ludwig XI., der Grausame (Frkr.)  467, 470 f. Ludwig XII. (Frkr.)  471 Ludwig XIII. (Frkr.)  480, 482 f., 488, 496, 645 Ludwig XIV. (Frkr.)  440, 442, 444, 449 f., 455, 464, 482–492, 496, 499, 512 f., 516, 562 f., 565, 606, 645 f. Ludwig XV. (Frkr.)  415, 492–494 Ludwig XVI. (Frkr.)  493–495 Ludwig, Fürst von Nassau-Saarbrücken  567 Ludwigslied 523 Luhmann, Niklas  192–195, 580 f., 580 f. Lukrez 71 Lüning, Jens  207, 270, 272 f., 276–278, 280–282 Luther, Martin  160, 429–432, 506, 674 Lutz, Heinrich  428, 431 f., 471–474, 476 Mably, Abbé de  497 Machiavelli, Niccolò  25, 34, 193, 202, 400 f., 504, 579, 606, 608–611 Madsen, T.  288 Maier, Hans  22 f., 91, 95, 434, 442, 451, 505–507, 509 f., 512, 514, 516, 606, 648 f., 674

Personenregister Maier, Reinhard  282, 299 Malebranche, Nicole  487 Maletzke, Gerhard  693, 695 f. Malorix (der Friese)  141 Mandrou, Robert  440 f., 444, 453–455, 458, 478, 482 f., 485–494, 496, 512–514, 562–564, 567, 645 f., 650 Manegold von Lautenbach  372 Manegold, Karl-Heinz  57 Manfred von Sizilien  414 Mania, Dietrich  252–255 Mann, Golo  440, 476 f. Marbod 139 Marc Aurel  606 Marcel, Etienne  468 Marg, Walter  128 Maria (Mutter Gottes)  527, 529 Maria I. (Engld.)  645 Maria Theresia (Kaiserin)  415 f., 450, ­456–458, 515, 646 Maria von Burgund  471 Marie Antoinette (frz. Königin)  494 Marinatos, Nanno  129 f. Marius, Gajus  187 Markward von Annweiler  380 Marlborough, John Churchill, Earl  490 f. Marsilius von Padua  372 Martin V. (Papst)  412 Martin von Tours  314, 527 Martin, Jochen  113, 117 f., 134, 165 Marx, Karl  88, 97, 199, 580, 685 Mattar, Michael  82 Matthäus, Hartmut  115, 130 Matthias (Kaiser)  438 f. Maupeou, René-Nic. de  493 Maurer, Friedrich  137 Maurras, Charles  583 Max III. Joseph (Bayern)  565 Maximilian I. (Kaiser)  427 f., 441, 471 Maximilian I. von Bayern  438 f., 441, 506 f., 513, 517 Maximilian II. von Bayern  440, 449 Mazarin, Jules  482–484, 490, 646 Mazzini, Giuseppe  586 Meckel, Miriam  704 Medici, Avarardo … de’  405 Medici, Cosimo de’  405 f., 414 f., 504, 643 Medici, Giovanni … de’  405, 504

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Medici, Giuliano de’  406 Medici, Lorenzo de’  405–407, 504 f., 611 Medici, Maria de’ (frz. Königin)  476, 563 Medici, Piero de’  406 Meier, Christian  56, 104, 120, 122, 128, 198, 210, 212–214, 233–237, 241 f., 245 Meier-Arendt, Walter  207, 268 Melac, Ezéchiel  489 Melanchthon, Philipp  23, 430, 506, 645, 674 Menelaos 678 Merkel, Angela  670 Merten, Klaus  678, 683 f., 689 Merton, Robert King  682 Merz, Anton  92 Merzbacher, Friedrich  426 f., 470 f. Meyer, Arnold Oskar  398 f. Meyer, Ernst  122, 124, 130–134, 592–594, 614 f., 620, 626, 632 f., 652, 655–657 Meyer, Ernst Wilhelm  28 Meyer, Hermann  697 Meysembourg, Jean-Jacques  94 Michel, Alain  674 Mitteis, Heinrich  124, 385, 420, 436, 500 Modderman, Pieter J. R.  273–276, 278 f. Mohr, Arno  32 Mohr, Martin  700 Moll, Peter  81 Mommsen, Hans  70 Mommsen, Theodor  597 f. Montagu, Jeremy  526 Montaigne, Michel de  680 Montesquieu, Charles de …  497 Moréri 497 Morgan, Edmund S.  583 Moritz von Sachsen  432–434 Mosca, Gaetano  612, 638 Moscherosch, Johann Michael  147 Mühlbacher, Engelbert  146, 152, 302 f., 312–326, 328–346, 348–361, 369–371, 373, 527–530, 599, 639 f. Müller, Johannes  291 f. Müller-Karpe, Hermann  129, 163, 169 f., 228, 256 f., 272, 298 Münster, Hans A.  675, 679, 693, 697, 700 Mussolini, Benito  586, 629 Myers, A. R.  466–469, 512

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Personenregister

Napoléon I. (Empereur)  583–586, 625 Napoléon III. (Empereur)  583 Narr, Wolf-Dieter  84 Naschold, Friedrich  84 Naumann, Friedrich  27 Necker, Jacques  493–495 Neff, Berthold  699 f. Nemeiz (Waldeckischer Hofrat)  564 Nestor  591, 596 Neuhaus, Helmut  455, 495 Neumann, Franz  32 Neumann, Sigmund  83 Niemeier, Wolf-Dietrich  130 Nietzsche, Friedrich  198 Nikolaus II. (Papst)  409 Nithard 349 Nitschke, August  310, 321, 335, 337, 353, 378, 387, 409, 461, 541, 666 Noack, Friedrich  675 Noelle-Neumann, Elisabeth  691 Nogaret, Wilhelm von  465 Oberndörfer, Dieter  22, 32, 74, 79, 89 f., 606 Obrecht, Georg  516 Obst, Bernhard  675 Octavianus, G./Oktavian s. Augustus Odo von Metz  314 Odo, Graf von Paris  356–358, 461 Odysseus 678 Oettinger, Norbert  171 Oexle, Otto Gerhard  387, 392 f. Olberg, Gabriele von  303 Oldendorp, Johannes  506 Orest  212, 214 Orschiedt, Jörg  249–251 Osiris 632 Osse, M.  506 Oswald von Wolkenstein  534 Otfried von Weißenburg  158, 375 Otto I., d. Gr. (Kaiser)  151, 666, 337 f., 365 Otto II. (Kaiser)  151 Otto III. (Kaiser)  151 f. Otto von Brandenburg  380 Otto von Niederlothringen  353 Otto, Karl A.  533 Otto, Pfalzgraf von Burgund  421 Ottokar von Böhmen  421

Ottokar von Steiermark  524 Ovid  527 f. Oxenstierna, Axel (schwed. Reichsverweser)  481 Özgüc, Tahsin  170 Pääbo, Svante  251 Pape, W.  104 f., 121 f., 124, 238 f. Pappenheim (Reichsmarschälle)  380 Paracelsus 597 Parzival 524 Pasquay, Anja  675, 679, 682, 692 Paul III. (Papst)  431 Paulinus (Patriarch, Aquileja)  528 Paulus (Apostel)  626, 635 Paulus Diaconus (Pavia)  528 Pausanius (König, Sparta)  664 Pazzi, Francesco de’  407 Péréfixe, Hardouin de  646 Perikles  132, 175, 177, 237, 582, 642, 652 Perseus (König, Makedonien)  622 Peschel, Karl  135 Pétain, H. Philippe  583 Peter III. von Aragon  414 (Peter) Leopold (Großherzog, Toscana)/ Leopold II. (Kaiser)  416 f., 459, 497 Peter Leopold s. (Peter) Leopold Peter von Pisa  528 Petrasch, Jörg  206 f. Petrus Damiani  372 Pflaum, Hans-Georg  599 Phaidros  180, 183 Philipp I. (Frkr.)  461 f. Philipp II. August (Frkr.)  461–463, 631 Philipp II. von Makedonien  121, 123 Philipp II. von Orléans  492–494 Philipp II. von Spanien  434, 471, 473, 475, 644 f. Philipp III., der Gute (Burgund)  467, 470 Philipp IV., der Schöne (Frkr.)  461, 465–467 Philipp VI. (Frkr.)  467 Philipp von Hessen  430, 432 Philipp von Schwaben (dt. König)  421 Philipp von Valois/Philipp V. (Frkr.)  466 Piccolomini, Alessandro  643 Pindar 242 Pippin (Enkel Pippins I., d. J., Sohn Karlmanns) 329

Personenregister Pippin (Sohn Karls d. Gr., Italien)  335, 339 Pippin d. Ä.  316 Pippin d. M.  316 Pippin I. (III.), d. J. (Frankenkönig)  140, 146, 311, 316, 322–327, 329–331, 336, 342, 344–346, 499, 527, 629 f., 634 f. Pippin I. von Aquitanien (Sohn Ludwigs d. Fr.)  348–350 Pippin II. von Aquitanien  350 Pius II. (Papst)  406 Planitz, Hans  397, 540–542, 544 f., 547 Plantagenet (Engld.)   469 Platon  38–40, 71, 89, 97, 104, 167 f., 172–176, 178–183, 187, 189, 242, 244, 587, 590, 597, 605, 606 Plog, Jobst  704 Poincaré, Raymond  583 Polybios  167, 608 Popper, Karl R.  48 f., 85–87, 693 Posse, Ernst  699 f. Pöttker, Horst  676 Praechter, Karl (s. a. Ueberweg)  97, 173–176, 178 f., 689 Prakke, Henk  694 Preuß, Joachim  270, 282, 292, 299 Prodikos  174 f. Prokop 134 Protagoras  174–179, 656, 702 Prudentius Clemens, Aur.  528 Pufendorf, Samuel Frhr. von  452, 506, 647 Pürer, Heinz  694 Pyrrhos der Molosser  123 Quintilianus, Marcus Fabius  644, 674 Quintus Ennius  382 Raaflaub, Kurt  632 Radegunde (Königin)  527 Rainald (Kanzler Barbarossas)  600 Räkel, Hans-Herbert S.  379 Rambouillet, Marquise de  564 Ranke, Leopold von  60, 69 Rapoport, Anatol  43 Rau, Johannes  669, 671 Reagan, Ronald  669 Rei(n)mar d. Alte/von Hagenau  534 Reimarus, Hermann Samuel  569 Reitel, François  94

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Remigius 305 Riario, Girolamo  406 Richard II. (Engld.)  468 f. Richelieu, Armand J.  476–486, 488, 490, 496 Richthofen, Karl  150 Rickert, Heinrich  56, 58 Riedel, Manfred  578 f. Ripper, Heiko  669 Robert Guiscard  358 Robert II. (Frkr.)  461 Robespierre, Maximilien de  499 Rödel, Volker  366, 380 f., 590, 591 Röder, Franz-Josef  92 Roegele, Otto B.  681 Roger I. (Norm.könig)  358 Roger II. (Norm.könig)  358, 413, 636 Ronneberger, Franz  676 f., 694 f., 697 Roscher, Wilhelm  648 Rothacker, Erich  65, 75, 696 Rotrud (Tochter Karls d. Gr.)  528 Rousseau, Jean-Jacques  35, 346, 497, 564, 660 Rudolf I. von Habsburg (dt. König)  380, 421 f., 665 Rudolf II. (Kaiser)  438 Rühl, Manfred  676, 694 Ruprecht von der Pfalz (dt. König)  425 Rusch, Gebhard  678 Saint-Simon, Claude-Henri de (Comte/ Graf) 499 Saint-Simon, Louis de Rouvroy (Duc/Her­zog)  484, 492, 565 Salomon (bibl. König)  634 Sartori, Giovanni  83 Saul (bibl. König)  634 Saxer, Ulrich  683 Scaevola Augur, Quintus Mucius  168, 171 f., 187 Schachermeyr, Fritz  108, 116–119, 207 Schadewaldt, Wolfgang  51, 97, 196 Schaefer, Hans  240 Schalk, Fritz  497 f., 563 f. Scharf, Wilfried  693 Scheler, Max  58 Schelling, Friedrich-Wilhelm  567 Scherer, Anton  264 f., 269

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Personenregister

Schieder, Theodor  75, 78, 628 f. Schiller, Friedrich  399, 516, 579 Schilling, Heinz  428 f., 432–440, 442–451, 454–458, 460, 481, 484, 488–491, 499, 509, 513–515, 517, 561, 563, 565 Schirmer, Alfred  229 Schlechta, Karl  19 Schlegel, August Wilhelm  567 Schlegel, Caroline  567 Schlegel, Friedrich  567 Schleiermacher, Friedrich D. E.  567 Schlesinger, Walter  638 Schlie, Otto  693 Schliemann, Heinrich  106 Schmid, Carlo  28, 34 Schmid, Peter  555 Schmidt, Helmut  92 Schmidt, Richard  26 Schmidt, Robert H.  31, 33, 40 f., 53 f., 81, 92–94, 98–102, 206, 221, 275, 318, 522, 525, 671–673, 675, 704 Schmidt, Siegfried J.  683, 689 Schmidt, Volker H.  582 Schmidt, Wieland  380 Schmidt-Wiegand, Ruth  225 Schmitt, Carl  32 Schmoller, Gustav von  25 Schnabel, Johann Gottfried  161 Schnell, Rüdiger  533 f. Schnurr, Ch.  128 Scholz, Hans  705 Schönmetzler, Klaus J.  534 Schopenhauer, Arthur  161, 567 Schopenhauer, Johanna  567 Schröder, Gerhard  651, 670 f. Schubart, Christian Fr. D.  516 Schulze, Hans Kurt  156, 227, 246, 310 f., 314, 331, 334, 340, 347–351, 353 f., 358–368, 372, 376–381, 387, 393 f., 396 f., 403, 407–411, 413, 419, 436, 518, 523, 539 f., 543–545, 547–553, 556–561, 572, 635, 640 f. Schulze, Winfried  59 f., 70, 78 Schütz, Astrid  669 Schwabedissen, Hermann  282 Schwantes, Gustav  135 Schwarz, Hans-Peter  74 „Schwarze Prinz“, Der (Engld.)  467 f.

Schwingel, Karl  154, 222, 393, 500 Schwitalla, Guntram  277 f. Scipio Aemilianus Africanus d. J.  167 Scudéry, Madeleine de  564 Sebastian von Heusenstamm (Erzbischof, Mainz) 434 Seckendorff, V. L. von  506 Seebold, Elmar  158, 200 f., 229 f., 373 f. Seeher, Jürgen  171 Seneca 68 Serre, David  251 Sestan, Ernesto  405 Seston, William  310, 314, 334, 635 f., 639 Sévigné, Marquise de  564 Sforza, Caterina  415 Sforza, Francesco  412 Shipley, William  569 Sickingen, Franz von  381 Sigifrid der Normanne  355 Sigismund von Böhmen (Kaiser)  424 f. Sixtus IV. (Papst)  406 f. Sixtus V. (Papst)  413 Smend, Rudolf  33 Snell, Bruno  113 Soissons, Charles de  563 Sokrates  38–40, 71, 97, 168, 172 f., ­176–181, 187, 189, 242, 587 Solon  127, 213, 237, 241, 582 Sonnenfels, Joseph von  399 Sonnin, Ernst Georg  569 Sophokles 645 Spahn, Martin  53 Spatz, Helmut  280 Spechtler, Franz V.  527 Spehl, Harald  81 Spengler, Oswald  34, 64 Sprandel, Ralf  152 Spranger, Eduard  75 Stalin, Iossif W.  629 Stammer, Otto  33 Stanislaus I. Leszczyński  415 Starke, Gerhard  679, 700 Starkulla, Heinz  681 Starling, Nick J.  272, 280 f., 286 Stechlin, Armgard von  625 Stegmann, K.  621 Stehli, Petar  272 Stein, Erwin   30

Personenregister Stein, Frauke  152, 526 f. Stein, Lorenz von  25 Steinacker, Harold  303 Steinbach, Christoph Ernst  208 Steinhöwel 597 Steinmetz, Wolf-Dieter  282, 289 Stephan II. (Papst)  322–326, 329, 344 f. Stephan IX. (Papst)  409 Sternberger, Dolf  33, 588 Stern-Rubarth, Edgar  700 Stoll, Heinrich  148 Straetz, Sylvia  675, 693, 700 Straub, Hagen  670 Street, Martin  43 Stresemann, Gustav  585 Strickrodt, Georg  92 Sturm, Johannes  645 Suárez, Francisco  452 Suerbaum, Werner  398 Sulla  593, 657 Sully, Maximilien   474–477, 485 Sulpicius 187 Swieten, Gerard van  457 Syagrius 304 Tacitus  131 f., 134 f., 139, 141, 143–148, 185, 195 f., 211 f., 219, 224, 245, 304, 307 f., 318, 332 f., 336, 342 f., 366, 374 f., 382, 389, 426, 510, 520–523, 525, 570 f., 588 f., 594 f., 617, 619–622, 701 Tapié, Victor-Lucien  483 f., 489, 515, 563 Taute, Wolfgang  271 Tawananna 170 Tedald (Erzbischof, Mailand)  410 Tellenbach, Gerd  622 Terberger, Thomas  256, 259 f. Terray, Joseph-Marie  493 Tertullian 398 Thassilo 336 Theaitetos  176, 178 f. Theoderich d. Gr. (Ostgoten; s. a. Dietrich von Bern)  305, 526, 607, 632, 674 Theoderich I. (König, Westgoten)  639 Theoderich II. (König, Westgoten)  639 Theodwin (Bischof, Huy)  546 Thersites 106 Theudebert (merowing.)  639 Thieme, Hartmut  254, 256

Thomas von Aquin  384, 393, 506, 579, 601 f., 606 Thomasius, Christian  452, 506, 510 Thorstein 610 Thukydides  32, 127, 132, 237 Thurnwald, Richard  232 Tieck, Ludwig  579 Tilly, Johann  438 Timm (Wirtschaftswissenschafter)  100 Tito, Josip Broz  603 f. Togliatti, Palmiro  586 Tönnies, Ferdinand  578, 581 Topitsch, Ernst  42 Torre (allg., Mailand)  412 Trastamara, Heinrich von  468 Treue, Wilhelm  437, 600, 629 f., 665 Tritsch, Franz  126 Tryggvason, Olaf  611 Turgot, A. R. J.  459, 493, 495 Tyler, Wat  469 Ueberweg, Friedrich  501, 606, 609 Ulfilas 205 Ulrich von Württ.bg.  648 Uslar, Rafael von  140, 303 Valentinian 310 Varnhagen von Ense, Rahel  567 Vauban, Sébastien … de  492 Veeck, Walther  526 Venantius Fortunatus  527, 529 Ventris, Michael  112 Vergeot, Jean  93 Vergil  527 f., 639, 644 Verritus (der Friese)  141 Villwock, Jörg  674 Visconti (allg. u. Giangaleazzo)  412 Vittorino da Feltre  643 f. Vogel, Bernhard  91, 190 Vogelgesang, (Anna) Catherina  156 Voltaire  454, 497 Wagner, Hans  678, 682, 693, 698 Wahl, Joachim  206, 280 Waitz, Georg  142–144, 150 f., 154, 411, 591, 657 Walde, Alois  203 f. Waldkirch, Wilhelm  679

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782

Personenregister

Waley, Daniel  403 f., 412 Walther von der Vogelweide  160, 380, 534 Wandruszka, Adam  447, 450 Waremundus de Eremberg  401 Warnachar (Hausmeier)  526 Weber, Max  75, 78, 191 f., 565, 580 f., 587 f., 628 f. Wehler, Hans-Ulrich  70, 502, 515, 5­ 66–569, 685 Weimer, Hermann  639, 641, 644 Weinacht, Paul-Ludwig  398–402 Weis, Eberhard  415–417, 455, 457, 459 f., 494 f., 497–499, 568 Weischenberg, Siegfried  679, 683, 689 Weishaupt, Adam  568 Weisser, Gerhard  677 Weitzel, Jürgen  340, 560, 714 Weizsäcker, Richard Frhr. von  190, 587, 602 Welf V. (Herzog, Bayern)  531 Welwei, Karl-Wilhelm  122, 125, 128 f., 626 Wendt, Achim  396, 518 Weniger, Gerd-Christian  261–263, 300 Weninger, Bernhard  257, 287 Wenrich von Trier  372 Wenskus, Reinhard  147, 232, 246, 303, 591 f., 600 f., 621–624 Wenzel (dt. König)  412, 425 Wenzel II. (Kg. v. Böhmen)  421 Wenzel III. (Kg. v. Böhmen)  422 Werner, Joachim  526 Wido von Osnabrück  372 Wido/Guido (Erzbischof, Mailand)  408–410 Widukind von Corvey  365 Wieacker, Franz  189

Wieland, Christoph Martin  512 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von  240 f. Wilhelm (Herzog von Bayern)  432 Wilhelm II., der Eroberer  358 Wilhelm IX. von Aquitanien  530 Wilhelm von Moerbeke  579 Wilhelm von Ockham  373 Wilhelm von Oranien/Wilh. III. (Engld.)  488, 490 f. Wilhelm, Gernot  134, 170 Wilson, Woodrow  584 Windelband, Wilhelm  55 f., 58, 60, 75, 689 Winkler, Jürgen R.  41 Wiora, Walter  70 Wipo (Hofkaplan)  640 Wittram, Reinhard  426 f., 440, 484, 489 f. Wolf, Gisela  273 Wolff, Christian  195, 452 f., 456, 506, 650 Wolfram von Eschenbach  380, 524 Wotan 633 Wulf, Friedrich-Wilhelm  555 Wulfila s. Ulfilas Xenophon 97 Xerxes 165 Zacharias  322, 324, 344 Zeeden, Ernst Walter  413, 440, 442, ­472–484, 506 f., 513, 563, 645 f. Zetzner, Lazarus  516 f. Zimmermann, Horst  658 f. Zimmermann, W. Haio  555 Zittel, Bernhard  75 Zwingli, Ulrich  429 f.

Sachregister Aachen  310, 312, 314, 352, 359, 528 f. –– Hoftag; Reichstag  347, 339, 370  Abendmahl 430–432 abgesonderte (bis geheime u. geschlossene) Orte 519 Abhängigkeit (Unfreiheit) der Bauern (s. a. Grundherrschaft)  235, 339–341, 362–364 (sich) abheben, abgrenzen, absondern, ­ abschließen  523, 528, 531–534, 539, 550 f., 553–556, 558–566, 574–578 Abkömmlichkeit 642 Abläufe (s. a. Regelhaftigkeit)  50, 55 Ablaufregelhaftigkeiten s. Regelhaftigkeit  Abri  708 f. absolut, Absolutismus  25, 405–407, 413–415, 433, 437–442, 444, 446 f., 481–485, 493, 495, 503, 507, 565, 567, 576 –– Italien 407 –– Dt.  433, 437–451 –– Frkr. 471–493 –– Aufgeklärter A.  415–417, 438, 451–460, 497, 646, 650  „Abstammung der Menschen“/Abstammungslehre  101, 249 Abstammungsgeschichte s. HominidenEntwicklung  Abstand, histor.  52 f. Abstimmungen (Volks-)  660, 663–665 Abstrakt-Allgemeines 55 Äbte, Abteien  338 f., 366, 376, 394 Achäer, achaisch, Altgriechen, altgriechisch  119, 125 f., 128, 613 f. Ackerbau  113, 118, 120, 146–148, 271, 306 Action française (Maurras)  583 Adel, adlig (s. a. nobiles, Nobilität; Beamtenadel)  611–618, 623 f. –– Grld.  117 f., 120, 612–614 –– Hethiter (auch Hattier)  169 f. –– Rom  165 f., 614 f. –– Gallien (Caesar)  619 f.

–– Germanen  143–145, 147 (Dannenbauer); 615–618 (Kluge/Götze, Kluge, Kuhn); 618 f., 621–624 (Wenskus); 619–622 (Caesar, Tacitus) –– Franken  305, 331 –– Sachsen  331, 335 –– MA (s. a. Reichsaristokratie; Graf; Ministerialen; Hochadel; Niederadel; Ritter; Edelknechte; Valvassoren)  160, 375–379, 381 f., 385, 530–532, 534–536, 539, 552–555, 571, 576, 624 f., 641 –– ital. Stadtstaaten  403 f., 407–409, 413, 538 –– Renaissance 609 –– dt. Terr.staaten, ohne Preußen  419, 437, 567, 573, 625 –– Preußen (s. a. Offiziersdienst; Prestige)  440, 444–448, 567 –– Dt. ab 1871  625 –– Frkr. (s. a. Prestige)  463, 465, 472 f., 476–478, 483 f., 490, 492 f., 495, 498, 562–564, 567, 573, 625 f. –– Schweiz 625 –– Neuzeit 576  Adelsprivilegien  612, 625 f. Adels-„Stand“  612, 617 f. Aduatuker 135 Aftervasall 366 Aggressor (Frkr.)  450, 489–491, 496 Agilolfinger 366 Agora (s. a. Volksversammlung; Bundestagsdebatte; Diskussion in Presse)  104 f., 113, 125–128, 182, 242, 297 Agora von Athen  128 (alte); 127 (neue) Ägypten  116, 594, 632, 638 Akad. f. Raumforschung u. Landesplanung Hannover  53, 81 f. Akademie der Wissenschaften –– Berlin 453 –– Frkr. 487  Akademien  24, 562, 565, 575, 643, 647, 649 f.

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Sachregister

Akro-polis  228, 578 Akten als Quellen  52–54 Aktengläubigkeit 54 aktuell, Aktualität  589, 679 Alamannen (Alemannen), alamannisch  137, 143, 147 f., 215, 304, 306, 308, 315 f., 335, 348 Aldenhover Platte  272, 281 Alemannien/Schwaben  335, 348 Alexandria (Nil)  542 Algebra 76 allgemein s. gemein  Allgemeinbegriffe  51, 55, 83, 698 allgemeine Aussagen (s. a. Allgemein­ begriffe)  47–50, 58, 80 Allgemeinwohl s. Gemeinwohl Allmende 561 Allod, Allodial-  340 „Alltagsgeschichte“ 55 Alte Geschichte, Althistoriker  101, ­104–189, 191, 198, 202–205, 207 f., ­210–216, 227–247, 296 f., 300–313, 318, 375, 573 f., 576, 578, 582, 588 f., ­591–593, 595, 597–599, 605, 607, ­612–615, 619–622, 626–629, 632 f., 635, 638 f., 652–657, 663 f., 666, 673 f., 701 f., 704 f. –– Begriff; Ort i. System d. Wiss.  63, 76 –– als Zugang z. Politischen  98 „alte Ordnung“ (Grld.)  128, 232, 235, 237 Alter –– Höchst- 590 –– Mindest-  592–594, 655, 666  „Alternativ-Analyse“  86 f. Alternativen (bei der Wahl der Führungs­ personen)  666 f. Altfranzösisch 351 Altfriesisch 158 Altgriechen s. Achäer  Althistoriker und „Entstehung der Polis“  112, 233–241 Althochdeutsch  138, 351, 354 Altniederfränkisch  138, 351 Altsächsisch  138, 158, 615 Alzey 337 Amaler (Goten)  632 Amsivarier/Amsivarii (s. a. Angrivarii)  224, 304

Amt, Amtsträger, Beamte (s. a. Ministerialen)  142–144, 308, 314, 316, 330, 334–336, 338 f., 342, 366, 369 f., 377, 381–383, 391 Ämtervergabe, -verkauf, -verpachtung  502 –– Frkr.  463, 478 f., 486, 491, 495 –– Dt. 408  Amtsadel/Noblesse de robe (Frkr.)  478, 483 Amtsperioden, Amtszeit  652, 654–656 Amyklai 614 Antwerpen 540 Analogie 48 Analyse, allg.  45 Analysis 76 Analyt. Wiss.theorie  49 f. Anamnese 47 Anarchie 236 Anatolien  110 f., 134 Anax s. Wanax  Andernach 352 Anführer (s. a. princeps) –– Gallier 620 –– Germanen  138 f., 142–146, 148, 319, 336, 341 f., 362, 620  Angeln u. Angelsächsisch  138, 140, 591 „Angewandte Naturwissenschaften“ ­ (technolog. Disziplinen)  57 angleichen nach oben, nachahmen  552 f., 572, 575 Angrivarii 224 animal sociale  68 Anjou (Haus A.)  412, 414, 462 –– Anjevinisches Reich  462  Anleihen, auch Zwangs-A.  479, 491 Anpassung  252 f. Anschluß (Deutsch-)Österreichs  585 Ansehen 604 Anthropogeographie  61, 72 Anthropologie  57 f., 62, 65, 68–72, 101, 249–252, 270, 294 f. –– Verh. zur Allg. Sozialwissenschaft  65–70 –– Verh. zur Bildungswissenschaft (Pädagogik) 70 –– Verh. zur Gesamtgeschichtswissenschaft  65, 67, 70 –– Verh. zur Ökologie  72 –– nichthistoriographische  48 f., 51 –– nomothetische 65–79

Sachregister –– idiographische (historiographische) s. Humanwissenschaften, idiogr. –– philosophische  58, 76 –– naturwiss. (zoologische)  58, 76  Anthropomorphismus 61 antichambre  517 Antrustionen  318 f. Anzeigen in der Presse  680 Apella  114, 124–126, 228, 297 Approbation seitens Papst  636 Apsishaus  109 f., 114, 298 Apulien 358 Aquitanien  315–317, 336, 348, 387, 462, 465 Araber (s. a. Sarazenen)  316 f. Aragon (Haus A.)  412, 414 Arbeit, rabota, *orbho-  199 Arbeitslosigkeit 585 arcana  513 archagétes  120 archaisch i. S. v. primitiv s. dort  Archäologie (s. a. Vorgesch.wiss.)  43, 63, 72, 101, 133, 309 -archie 39 Archiv, Archivwesen  33, 52 f., 515 arianisches Christentum  305 Aristokratie/Adelsherrschaft/Adelsrepublik (Polybios) 165–167 aristotel. Sozialphilosophie  506 Aristoteles-Rezeption  506, 601 f., 607 Arithmetik 76 Arkandisziplin 516 Arles, Arelat (s. a. Burgund, Königreich)  311 Arnulfinger (s. a. Karolinger)  316, 629 artes liberales  639 f., 645, 674 f. Artusbruderschaften, „Artushof“  553, 572 Asci-burgium 230 Asdingen (Wandalen)  633 Asen 633 Askra (Grld.)  128 Assyrien 595 Ästhetik 76 Astronomie, moderne  61, 76 Asyl 546 Athen  118 f., 127–129, 240, 295, 297, 301 –– Demokr.  638, 642, 652 f., 655 f., 664 Attika  109, 111, 117–119, 126 f., 295, 301, 642, 652

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auctoritas senectutis  591 auctoritas/Autorität  33, 604 –– Rom 596–599 –– MA 600–602 –– NZ 602–604  Aufgeklärter Absolutismus  415 f., 451–460, 497, 646, 650 Aufklärung (s. a. Aufgeklärter Abs.)  451 f., 563 f., 579, 632 –– Frkr.  497 f., 563 f., 567, 650 –– Dt.  566–568, 650 Aufruhr s. Unruhen, … Aufrüstung  583, 585 Augsburg  365, 517 –– Reichstag  427, 429 f., 432, 434  Augsburger Interim  432 Augsburger Reichsabschied  434–436 Augsburger Religionsfriede  434 Augsburgische Konfession  430 Aula (Palast-A.)  313, 394, 574 Aurignacien 268 Ausbeutung 479 Ausbildung (zum/zu) –– an Akad. i. Italien der Renaiss.  643 –– Arzt 701 –– Beamten (a. i. Staatsapparat)  24, 638 f., 641, 643 f., 647–650 –– Führungs- u. Verwaltungspersonal i. d. Stadt  642, 644, 647 –– Handwerker  557, 701 –– Ingenieur, Bauleiter Bautechniker  57, 701 –– Kämpfer (fränk./germ. u. röm.)  318 –– Kleriker  457, 459, 641, 647 f. –– Lehrer, Hochschullehrer  701 –– Nach-, Thronfolger/Anführer (Ks., Kg., Adel, Ritter)  638–641, 644–647 –– Politiker, Staatsmann  700–702 –– Publizisten, Verleger, Intendanten, Redakteur u. Journalisten s. Journalistenausbildung –– Rhetoriker 186  –– servientes/ministeriales  376 f. Ausgewogenheit 688 Auslese 252 Aussagen (s. a. Allg. Aussagen)  58, 41 Außenpolitik 96 „Ausstrahlung“ 627

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Sachregister

Austrasien (s. a. ostfrk. Reich; Neustrien)  227, 316, 391 Auswanderungen  487, 584, 613 Auswärtige Angelegenheiten –– Ressort  442, 484 f., 513–515 –– Finanzierung (Frkr.)  486 Autorität s. auctoritas Autoritätsverfall, Ansehensverlust (frz. Königtum)  491 f., 494 Avignon (Päpste in A.)  412, 425, 466 Baalberger Kultur/Gruppe  282, 290 f., 299 Babenberg(er) (Haus B.)  361, 419, 534 Babylon 633 Badorf (südl. v. Köln)  555 Bajuwaren 137 Baltisch  267, 292 Bamberg 540 Bandkeram. Kultur s. Linienband- u. s. Stichbandkeram. Kultur  „Bankenkrach“ 585 barbarisch 235 Barcelona 490 bargildi  217 Bartholomäus-Nacht 401 Basel  552, 554 –– Univ. 675  basileús  120, 122 Basissätze 50 Bastarnen 622 Bataver 304 Bauern  113, 120, 235, 271, 306 f., 309, 340, 393, 560 f. –– als Stand  219, 511, 531 f., 560, 572 –– Rolle in Frz. Revol.  498  Bauernkriege 429 bäurisch  531, 533 Bayern, bayerisch  24, 91, 96, 137, 143, 208, 281 f., 305, 315 f., 335–337, 348, 350 f., 354 f., 360, 362–364, 372, 377, 388, 419, 421–423, 432, 438–441, 448–450, 481, 490, 506 f., 513, 524, 532, 560, 565, 568, 624, 641, 649, 700, 703 Beamte, Beamtentum (s. a. Amt; Streikrecht)  413 f., 448, 463 f., 478, 501 f., 638 f., 641, 643, 647–650 Beamtenadel (s. a. Ministerialen)  565, 573 Bedingungen der Gültigkeit  49 f.

Beeinflussung  679–681, 683, 690 Befehl  589, 597, 599 Befragung (s. a. Fragebogen; empir. Sozialforschung)  53 f. „Befreiungskriege“ 584 Befugnis, Entscheidungs-B.  189–191, 195, 383, 501, 597–599 Begabung  184–186, 700–702 Begriffe (zentrale)  58 f., 83, 87 Behaviorismus  83 f. bekanntmachen   157, 313, 369 f., 397 Belastungen, Bedrückungen  318, 321 f., 332 f., 338 f., 341 Belgica 304–306 „Bellum Gallicum“  619 f. Benediktiner 386 beneficium  320, 366 Beobachtung  43–47, 49 „Beowulf“ 607 Beratung für Herrscher  416 f., 441, 455, 465 Bergbau 649 „Bergedorfer Gesprächskreis“  32, 506, 578, 587 Berlin 567 –– Univ.  676, 694, 699 f., 703  Berliner Mittwochsgesellschaft s. Ges. von Freunden der Aufklärung Bern (Univ.)  677 Bern/Verona (Etschtal)  518 Berufsausbildung an Univ., generell (s. a. Journal.ausbildung)  699 Beschreibung 45–47 Bestechlichkeit s. Willkür u. Bestechlichkeit von Richtern und Beamten  Beute  146, 148, 208, 211 Bevölkerung 577 Bevölkerungszahlzunahme (18.Jh., Frkr.) 498 Bewaffnung (s. a. Waffenrecht u. -pflicht; Spießbürger)  318, 321, 510 f. Bildungswissenschaft (Pädagogik)  70, 74 –– Verh. zur Allg. Humanwiss./Allg. Anthropologie  70, 76  Bilzingsleben (Thür.)  231, 250, 253–255 Binnen-Egalität 566 Binnenkolonisation  454, 470 Biologie s. Botanik; Zoologie  Birka (Schweden)  540

Sachregister Bischheimer Gruppe  282, 295 f. Bischöfe, allg. (s. a. Investitur; römische B. s. Papsttum)  307, 366, 372, 402–404, 408, 420, 537 f., 541, 546 f. Bistümer, allg.  308, 537 f. –– als Reichsstand  394  Bliesgau (Saarld.)  156, 208, 222 Blutrache s. Rache  Bodenurkunden  62 f. Böhmen  421 f. Bologna  430, 433 –– Univ.  404, 411  Bonn (Univ.)  677 Bonogillum 526 bonum commune (s. a. Gemeinwohl)  204, 384, 508 Böotien, Boiotien  109–111, 117, 119, 126 Botanik  61 f., 76 Bourbon, Bourbonen  357, 461, 491 Bourgeois (s. a. Bürger)  511 Braisne  344 f. Brandenburg/Br.-Preußen 444–450, ­453–456 Brandgräber (s. a. Urnenbrandgräber), Brandbestattung 295 Bretagne, Bretonen  349, 462, 468, 483 Brinnacum 525 Bruderschaften, bruderschaftlich  544 f., 552 f., 559 f., 572, 575 Brügge 540 Brühl 555 Brukterer 303 Büchervervielfältigung vor Gutenberg  640 Buchstabenschrift, griech.  112 Bundeskanzler (Dt.)  651 f. Bundesplan Kaiser Karls V.  433 Bundespräsidenten (Dt.)  602 f. Bundesrepublik Dt.  651 Bundesstaat s. Föderation  Bundestagsdebatte, bestes Niveau  669 f. bur/nāh-gibūr/noch-pūr/neigh-bour; bura/ ge-buerding/ge-buyrdin  153 f., 217–219, 225 f., 549 Burding (s. a. bursprake) 397 Burg, Burgenbau (s. a. Niederungsburgen; Höhenburgen) –– germ.  223 f., 228–230, 395, 578 –– MA  378 f., 395 f., 419, 518 

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burgāri/burgware/Bürger; burgenses (s. a. bourgeois; citoyen; Spießbürger)  223–226, 385, 391 f., 510–512, 546 Burgenordnung Heinr. I.  365, 395 Bürger-Eid  544, 548 f. Bürgerhaus (Stadt)  397 Bürger-Initiativen  81, 385, 544, 569 Bürgerkämpfe (MA-Stadt)  557 „bürgerliche Gesellschaft“  578 f., 581 Bürgerliche im Staatsdienst  447, 470, 484, 492, 502, 513 Bürgermeister  549, 558, 642 f. Bürgerrechte 460 Bürgertum  382, 389, 393, 403, 455, 460, 470, 472, 483, 493, 498, 511, 562 f. –– gelehrtes/akademisches B.  453, 566 f., 573, 674  Bürgerversammlung/Burding/Bursprake (Stadt)  397, 549 Burggarten  535, 574 Burggraf  366, 378 Burgund, burgundisch (s. a. Arles/Arelat; Hochburgund; Niederburgund)  315, 330, 348, 351, 356, 362, 387, 412, 492, 570 –– Reich der Burgunder  305, 607 –– Königreich (a. Teilreich des fränk. R.; a. Gebiet des später wieder K.); nur Hochburgund  227, 352, 360, 379, 387, 390, 462, 526, 630, 641; 352, 357, 461 –– Grafschaft (Pfalz-, später: Freigr.)  421, 434, 450, 471, 489, 491, 624, 645 –– Herzogtum/Herzöge  24, 336, 400, 434, 441, 462, 467, 469–471, 492 –– Haus B.  470 f.  Burgunden/Burgunder  137, 140, 305, 356, 390, 607 Burgwacht, B.-besatzung  377, 379 Büro, Bürokratie  445, 502, 515, 650 bur-sprake (s. a. Burding)  153, 155 f., 397, 549 Buße s. Sühne  Byzanz, byzantinisch s. Ostrom  Calais  470 f. Cambrai  304, 397, 433, 547 Cammersachen, Cameralwissenschaft (s. a. Kammer; Kameralistik)  24 Campo Malo  408 Canninefaten 621

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Sachregister

cappa  314 Casale Monferrato  488 f. castrum s. Burg  cei-vis, civis  203, 222 f., 225 f., 391 centena  143 cercles  498, 562, 564 Cevennen  477, 487 Chamaven 303 Champagne  465, 492 chancelier (Justizminister)  485, 513 Chaonen  122, 245 Chartres 462 Chatten  137, 305, 620 Chattuarier 303 Chemie  60–62, 76 Cherusker 140 Christentum, Christianisierung  305, 331, 336 Chur-Rätien 348 Chvárenah  626, 633 citharoedus  526 citoyen  511 f. Civilisation (cei-; *haima-; **tkei) 203–205 civitas  138, 203, 223, 305, 307 f., 321, 334, 391, 525, 537–539 Clausthal (Univ.)  649 Clepiacus/Clippiacus (/Clippiacum)  525 f., 574 Cluny, Cluniazenser, cluniazensisch  386, 462 Colbertismus 485 collegia in Handel u. Gewerbe (spätröm.)  542 f. Collegium illustre (Tübingen)  648 Colmar 349 colonia  537 comes, comitatus s. „Gefolge“, „Gefolgschaft“; Graf  comites (s. a. „Gefolge“; Graf)  148, ­520–522, 570 comitium  162 common weal, c. wealth  506 communicatio civilis  579 communitas  579, 581 co-moinis/communis (s. a. meinen; gemein)  156–159, 166, 219, 222, 224 f. concilium  138 condottiere  412 coniuratio s. Schwurverbände  conseil d’en haut  484 f., 513

consules s. Konsuln  contado  417, 538 f. „contrat social“ s. „Sozialvertrag“ controleur général des finances (Finanz­ minister)  485, 493, 495, 513 „(Il) Cortegiano“  609 Croix-de-Feux, Ligue de  583 Cromagnon-Mensch  251 f. Croquants 482 curia in compotis (Frkr.)/Rechnungskammer  464 curia regis  313 –– Frkr.  463 f.  damos  112, 124 f., 239, 243 Dänen (s. a. Normannen)  349 Danzig  553, 567, 585 Darmstadt (Univ.)  671–674 Datengewinnung  43 f., 72 Datenverarbeitung  73, 76 Dauphiné 412 Deduktion 48 definieren  579 f. defizient, Defizienz s. Politizität u. ihr Verlust; Publizistik, auch Defizienz Demokratie  233–238, 241, 415, 497 –– als Systemreparatur  182, 213, 237 –– antikes Griechenland (s. a. Athen, D.)  132, 167, 212 f., 241–243, 301, 582 –– Neuzeit 583–587  „Demokratie-Wissenschaft“   29 demos  124 „Der Staat“ als Übers. v. „Politeia“  98 f. Deutsche Hochschule für Politik  27, 29 f. Deutsche Nationalversammlung  584 „Deutschenspiegel“ 388 Deutscher Orden  421, 535 Deutsches Reich (Frühe Neuzeit), Glieder  450 f. Deutsches Reich (MA; s. a. Hlg. Röm. Reich)  305, 310, 326, 361, 367, 379, 383, 387 Deutschland (19. u. 20.Jh.)  584–586 Deventer 540 Devolutionskrieg 488 dialekt. Methode  45 Diäten 642 Diedenhofen  311, 329 –– Reichstag 370 

Sachregister Dienerschaft 319 Dienst, -mann, -lehen, -pflicht (s. a. Ministerialen)  318–320, 363, 366, 375–378, 419 Dieuze 540 Differenzierung von Regierung u. Verwaltung  442, 454, 464 dignatio  621 Diktatur (Dt. u. Italien)  585 f. Dinant  540, 545 Ding s. Thing Diözesen s. Bistümer, allg. (s. a. civitas)  Dipl.-Studium Politologie  30, 701 diplomat. Vertretungen  414 „Discorsi … “   608 Diskus von Phaistos  134 Diskussion (in Presse u. Funk)  689 Dithmarschen 393 Dmanis(s)i (Georgien)  249 DNA-Analyse 43 Doge  403, 413 Dogmatik, dogmat. „Methode“  42 Domänen  306, 311, 340, 454 –– herzogl. u. gräfl. (Frkr.)  463 Dom-Bau 556 Dominikaner 601 „donauländisch“   282, 295 f. Doornik/Tournai  304, 540 Dordona (Grld.)  245, 297 Dorer (Dorier), dorisch  113 f., 118–122, 124, 126 f., 613 Dorestad  540, 543 Dorf  258, 276, 279, 281 f. dörperlich, Dörfler  531, 572 Dortmund 551 –– Univ. 703  Dreißigjähriger Krieg  439 f. Dritte Republik (Frkr.)  583 Dritter Stand  219, 394, 495, 498 Druiden 619 Dt. Ges. f. Publ.wiss.  673, 676 Dt. Journalistenschule  702 Dt.-frz. Hochschulinst. f. Wirtschaft u. ­ Technik, Saargemünd  53, 81 Durchblick  344 f., 582, 667 f., 686, 691 Duss s. Dieuze  Duurstede 349 Echternach 539

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Edelfreie (s. a. Adel, MA)  376–379, 381, 532 Edelherren (s. a. Adel, MA)  379 Edelknechte 536 Edikt von Nantes (auch Aufhebung)  475, 487 Egisheim (Elsaß)  409 ehrbar, Ehrbarkeit  550, 552, 554, 557, 561, 572, 577 Ehrengeschenke f. Anführer  132 f. Ehrgeiz (Frkr.)  482 Eid  344 f., 351, 360, 366 f., 392 Eidgenossenschaft (Schweiz)  59, 428 f., 440, 472 Eidgenossenschaften, allg. komm. s. Schwurverbände; der Kaufl. s. Gilden Eifersucht (Frkr.)  482 Eigenkirchen 418 Einheit des (dt.) Reiches s. Reichseinheit Einheit des (frz.) Staates  507 Einheitsstaat (Frkr.), unitar.-zentralist.  471, 583 f. Einigung –– Deutschlands  584 f. –– Italiens  507, 585 f., 611 Einraumwohnhaus, germ.  520, 564 Eintracht 507 „Einung“ der Gesellen  559 „Einung“, kommunale  548 „Einwohner“ 577 Einzelgrabbestattung  288, 291 f., 296 Einzelgrabkultur (EGK)   270, 288–290, 292, 296, 298–300 eiráōn, eiréas  105 ekklēsía  127 Elbgermanen 137 Elementarmaschinen 66 Elis, Eleer  239–241, 295 Elite, elitär  553, 572, 653 –– geistige 497  Elsaß  348 f., 352, 450, 481, 489–491, 536 Emanzipation, kommunale s. Selbstverwaltung, k. Emden  540, 555 Empire, 1. u. 2. (Frkr.)  583 Empirismus, Empiriker, Empirie, empirisch (s. a. Hinschauen von allen Seiten)  42, 97 f., 102

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Sachregister

–– emp. „Methoden“, emp. Sozialforschung  26, 42, 47, 73, 75, 84 f., 692 f., 698 –– Geschichtswiss. als emp. Wissenschaft  51 Emporien  540 f. „Encyclopédie …“ (1751–1780)  498, 563 „Eneit“ (Heinr. von Veldeke)  523 England (danach s. Großbritannien)  358, 450, 462, 490 f., 496, 501, 583 Enquetekommission Bioethik  670 Entfremdung 199 Entvölkerung (Frkr.)  482, 487 Enzyklopädien, Enzyklopädisten  497, 507, 563 Epirus, Epiroten  240, 297 Episkopat s. Bischöfe, allg.  Erbbesitz 616 Erblichkeit des Lehens  340, 361, 366, 376, 378 Erbreichsplan  461, 664 Erbzinsrecht 363 Erdbestattung (Körper- oder Leichenbrand-)  295 f. Erdwerke –– LBK  272 f., 276, 279–281 –– MK, TBK u. spätneolith.  283–289, 291 f., 295 f.  Erhöhungs- u. Angleichungsversuch (s. a. angleichen nach oben, nachahmen)  536, 550, 557, 559 Erkenntnismethoden s. Methoden Erkenntnistheorie 76 Erkenntnisziel 79–95 Erlangen(-Nürnberg), (Univ.)  648, 676 f. Erlernbarkeit, Lehrbarkeit  184–188 Ernsthaftigkeit 671 Ernteheil  607, 627 érō  106 Eroberungen, Eroberungskriege, Expansion  332, 340, 342, 344, 462 f., 466, 468, 489 Ertebölle-Ellerbek-Kultur 282 estat/État  401 étai  218 État français (Vichy)  583 Etatismus (österr. Länder)  456–459 Ethik  23, 76 Ethikrat, Nationaler  670 Etrusker  164–166, 219, 222

Euböa 126 „Eumeniden“ des Aischylos  212–214 Europ. Akad. Otzenhausen  93 Evolution  249, 252 f. „exakte Wissenschaften“  43, 51 f. Exklusivität  552 f., 566 Experiment (s. a. Versuch)  43 f., 49, 87 Fachzeitschrift (Ztgs.-, dann Publ.wiss.)  676 Fahrmännergilden, Fahrtgenossenschaften  551 Falsifikation  48 f. familia  376 Faschismus  583, 585 f. Fehde, -wesen, -verbot  213, 370 f., ­384–389, 426 f., 429, 503, 507 Feindschaft  209, 211 f. Feldforschung, archäol.  46 Fernhandel,  -splätze  539–541, 543 Ferrara 412 Festung, Befestigung (frühneuztl.)  518 f. Feudalherrschaft, Ende (Frkr.)  471 Feudalisierung, Feudalismus  319 f., 366 f. Feuernutzung, -erzeugung  253 fideles  390 f. Film  676 f. Finanzwissenschaft 24 fiscalini  340 Fiskal-Land  306, 311 f. Flächenstaat s. Territorialstaat  Flandern  462, 464, 488 Flensburg 544 Florenz  404–407, 412–416, 429, 504 f., 565, 608, 643 Flugschriften 371 Föderation, föderativ, Föderalisierung  585 f. Folter, Abschaffung  458 Fontenoy 350 Förster 377 Forstlehre  101 f. Forum Romanum  162, 211 Fragebogen (s. a. Befragung)  47 franci homines  305 Franken, fränkisch; Frankenreich, auch Teilungen u. Zerfall (s. a. Altniederfränkisch; Moselfränkisch)  132, 137 f., 140, 148, 150, 152, 302–318, 321–338,

Sachregister ­340–345, 347–355, 357, 383, 394 f., 397, 540, 574, 636, 639 Franken-Langobardenreich  302, 330, 520, 540, 571, 581–583, 586 Frankenthal 518 Frankfurt a. M.  552, 554, 672 f., 687, 671 –– Reichstag 370 –– Univ. 677  Frankfurt (Oder; Univ.)  648 Frankfurter Inst. f. Sozialforschung  88 „Frankfurter Schule“  88 Frankreich  310, 320, 340, 358, 367, 394, 440, 450, 595 –– nach Frz. Rev.  583–586, 651 Frankreichfeldzug (1940)  583 Franz. Revolution  492–499, 583 –– sechs Phasen  499  Franziskaner  388 f., 601 Frauen (zeitlicher Asp.) –– frühgeschichtl.  206, 260, 279, 293, ­707–709 –– Grld.  656, 707, 709 –– Germanien  216, 707 –– MA  320, 355, 393, 409, 560 –– höf. Gesellschaft  527–529, 531 f., 534, 571, 641 –– Hoch-MA: Leitbild  532 –– Renaissance-Hof 565 –– Neuzeit  458, 659 –– Salons  564, 567 –– Emanzipation 567  Frauen (sachlicher Asp.) –– Achtung u. Beachtung  707 –– Bedeutung von Kämpfen u. Kriegen der Männer 708 –– Beschränkung auf oíkos 707–709 –– Stellung im Gemeinwesen  156, 245, 293, 320, 329, 375, 466, 528 f., 532, 534, 659 –– Verschiedenheit als Chance  709 –– Wegfall der Hindernisse f. „Gleichberechtigung“  708 f. frei, Freie, Freiheit, im Freien, Freiheitsverlust, unfrei, Unfreie, Unfreiheit (s. a. Leute (!); ingenui; franci/liberi homines; liberti; Königsfreie/Königszinser; Halbfreie; Grundholden; servi/servientes; Hörige; Leibeigene)  120 f., 209, 226 f., 292, 305, 308 f., 312, 318 f., 327 f., 331–333, 337–

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343, 362, 364, 366 f., 375 f., 378 f., 389–391, 393, 437, 545 f., 619, 621, 624, 668, 691 Freiberg (Sachsen; Bergakad.)  649 Freiburg i. Br.  419, 450 –– Univ.  674 f.  Freiburg (Schweiz; Univ.)  677 „Freiburger Schule“  79, 87, 89, 91 f., 95, 97 Freigericht   340 Freigrafschaft Burgund s. Burgund  Freiherren 393 Freimaurergesellschaften  453, 535, 562 f., 566 f., 570, 573, 575 f., 650 Freising 640 frérèche  595 „Freundschaft“  208 f., 384, 520 Freundschaft, freundschaftlich  167, 212, 528 f., 533, 610, 627, 643 Friede, Friedensgebot, Fr.sicherung (s. a. Friedensbewegung; Landfr., Gottesfr.; treuga Dei)  33, 35, 205, 209, 384–389, 504–508, 544, 546 f., 610, 665 Friedensbewegung (MA)  369, 386–389, 546 Friedenspflicht 149 Friesen, Friesisch, Friesland (s. a. Altfriesisch, Ostfriesland)  103, 137 f., 141, 150, 159, 316 f., 351–355, 364, 393, 539 f., 555 f., 591 frō, frō-  363, 374, 390 Fronde (Frkr.)  482 f. fronen, Frondienst, Fronhof  363, 377, 390 Front Populaire/Volksfront  583 Frühe Neuzeit (s. a. Neuere Geschichte; Zeitgeschichte)  23–25, 35, 68 f., 80, 219 f., 222, 381, 407, 415–417, 427–460, 471– 503, 505–519, 562–569, 573, 575 f., 579, 584 f., 596, 606–611, 624 f., 637, 644– 650, 654, 658, 660–662, 667, 674, 682 –– Begriff 63  Frühgeschichte/-geschichtswiss. s. Vor- u. Frühgesch.wiss.  Frühmittelalter  39, 137 f., 140, 146 f., 151 f., 154, 156, 158 f., 215, 220 f., 227, ­304–306, 309–311 f., 314–371, 373, 376, 383–387, 389–391, 393, 395 f., 403, 413, 461 f., 521, 523, 525–530, 538–547, 555, 559, 571, 574, 583, 599 f., 607, 616 f., 624, 629–631, 633–636, 639–641, 647, 653 f., 657, 673 f.

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Sachregister

„Führungsmittel“, publizist.  675, 697 Fulda  541, 640 „Fünfzehner“ (Straßburg)  593 „funktionieren“, auch ohne den Herrscher  515 Fürst, allg.  373–375 Fürsten (MA)  367, 376, 379 f., 389, 391, 393–396 „Fürstenspiegel“-Literatur  516 f., 606 Gallien, „Gallien“, Gallia  135, 148, 168, 303– 307, 311, 314, 318, 334, 527, ­619–621 Gallier, gallisch  135, 382, 527, 619, 639 Gallikanismus, gallikanisch  448, 471 f., 476, 487 gallorömisch  305, 319 Ganerbschaft, Gan-Erbenschaft  219, 595 Gau  321, 334 f., 341 Gedankenfreiheit 568 „Gefolge“, „Gefolgschaft“ (tatsächlich Gesellschaft, Gesellen; s. dort)  145 f., 306– 308, 311, 318 f., 334, 390, 521 f., 570 „gehegt“  124, 149 f., 228, 230, 291, 518 geheim (s. a. arcana; sécrétaires …)  442, 513–517, 550, 558, 562, 566, 568, 576 Geheimagenten 513 Geheimdienste 513 Geheime Hofkammer  514 Geheime Konferenz  514 Geheime Stuben  517 Geheimer Kabinettsrat  514 Geheimer Rat (Fürst, Kg.)  442, 513–517 Geheimer Rat, g. Stube (MA, Stadt)  550, 558 Geheimschreiber 513 Geheimsiegel 513 „Geisteswissenschaften“  56, 59 f., 75, 695 f. Geistlicher Rat  442 Geldwirtschaft  306, 308, 313, 320, 382, 501 „Gelehrte Gesellschaften“  562 f., 569 Gelnhausen 396 Gemälde, jungpaläolith.  231 f. gemein(d/t)(s)man(n), gemein(d)er 158, 219–222, 225 gemein, allgemein, comoinis/communis, ungemein, ge-meinen/ge-meinden, Gemeinheit (s. a. meinen, comoinis, gemein(d/t) (s)man(n), …)  156–162, 166, 218 f., 222, 224 f.

„gemeines Volk“  160, 576 Gemeinnutzen s. Gemeinwohl  „Gemeinschaft“ (Tönnies)  581 Gemeinschafts-Einrichtungen, -Leistungen –– LBK  272, 276 –– MK u. TBK  287  Gemeinwesen (allg.)  103 Gemeinwohl (s. a. Wohlstand/Wohlfahrt, Wohl, „wahres“; bonum commune) als Ziel der Politik od. Herrschaft  33–35, 38, 159 f., 182, 190, 204, 383 f., 474, 506, 508, 568 f., 662, 665 f., 670 Genauigkeit 43 generalia placita  341 generalisieren  58, 61, 74, 64 Generalstände (états généraux)  394, 465, 467, 473, 476 f., 494 f. Genf  431, 661 Genossenschaft 368 –– Gaug. 338  –– Fahrtg. 551 –– Markg.  560 f. –– Stadt als G.  549 f. Gent  539 f. gentes, Gentilverfassung (Rom)  592, 614 Genua 586 Genugtuung s. Satisfaktion  Geographie  61, 76 Geologie  61, 76 Geometrie 76 Gerechtigkeit als Ziel der Politik od. Herrschaft  33–35, 38, 383 f., 606 f. Gerichtsbarkeit (Frkr.)  463 f. Gerichtsverfassung  221 f., 335–338, ­341–343, 363 f., 377 Gerichtsversammlung (Volksvers. als G.; s. a. Agora; Volksvers.; Gerichts­ verfassung)  121, 141 f., 149, 169, 173, 212, 244, 336, 341–343, 347, 365 Germanen –– Name 135 –– Sprache  136 f., 267, 292 –– Gemeinwesen  591, 607, 610, 615, ­619–622, 627 f., 638 f., 641, 653 –– i. d. Vorgeschichte  135 f., 292 –– linksrheinisch 135 „Germania“ (Tac.)  135, 139–141, 144–148, 185, 203, 211 f., 219, 245, 334, 343, 374,

Sachregister 389, 521 f., 588 f., 595, 607, 619–622, 638, 707 Gerusia, Geronten  592 Gesamtgeschichtswissenschaft (s. a. „Universalgeschichte“)  62–65, 67 Geschenk s. schenken  Geschichtsbild 482 Geschichtsphilosophie  73, 75 Geschichte, Geschichtswissenschaft, Historiographie (s. a. „Alltagsgeschichte“; „Mikrohistorie“; Sozialgeschichte; Gesamtgeschichtswissenschaft)  25, 46 f., 51–65, 67, 70, 72, 76, 97, 103, 130 –– als empir. Wiss.  51 –– positivistische Richtung  52  –– für einzelne Sachgebiete  57 f., 61, ­63–65, 67, 70, 72, 74 f., 77 –– für einzelne Zeitabschnitte  76 Geschicklichkeit  700 f. Geschirr, hölzernes (Erfindung des)  201 geschlossen, g. Gesellschaft, g. Räume  395, 568, 575 f. „Gesellschaft“ als Theorie- u. Ideologie-Gebilde  33, 35, 37 f., 399, 519 f., 577–582 –– „Gesamtgesellschaft“ 580 –– „Gesellschaftsgeschichte“ (Wehler)  566  –– „Gesellschaftswissenschaft“ s. bei Soziologie als „G.“ „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“  568 Gesellschaft, Gesellen als Realitätsgebilde  519 f., 576 f., 582 –– am Hof des germ. Anführers  131, 145, 311, 319, 399, 520–524, 531 f., 570 f., 576 –– am Früh-MA-Hof  525–530, 571, 576 –– am Hoch-u. Spät-MA-Hof  523–525, 530–535, 571 f., 574, 576 –– adlige außerhöf. (MA)  535 f. –– in MA-Stadt  537, 542 f., 553 f., 557– 560, 572 –– im frühneuztl. Staat  562–569, 573, 576 –– zur Wende 20./21.Jh.  569 f. –– Gesellen im Verständnis von heute (Handwerksgesellen)  556, 558 f., 572  Gesetzmäßigkeiten  51, 85, 87 Gesinde  319, 340 Getreideanbau, spätmesolith.  278 Getreue (fideles)  351, 390 f.

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Gewalt, „Gewalt“ (s. a. Rache)  205–216, 384–389 –– Ausgangsverständnis  205 f. –– in frühen Kulturen  206–208, 280 –– Allgemeines  213 f. –– „Befehls-, Verfügungsgewalt“  33 –– gegen den „gemeinen Pöbel“  483  Gewaltmonopol  385–388, 439 f., 448, 503, 507, 546 Gewandhaus  552, 574 „Gewandhaus-Konzert-Gesellschaft“ 567 Gewißheit 48 Ghibellini (s. a. Guelfen)  412 Gildehaus 574 Gilden  541–545, 551 f. „Giovine Italia“  586 Gleichberechtigung 455 Gleichgewichtsstreben –– Florenz  406 f., 412, 505 –– England 496  Gleichheit, Ungleichheit (relative) des ­ Besitzes  143, 147, 308 Gleichheit vor dem Gesetz  416 f., 458, 568 Gleichheit, Ungleichheit  140, 231 f., 235, 622 f., 654–659, 661–663 gloire (Frkr.) s. Ruhm  Glück (a. als höchstes Gut)  24, 38, 88 f. gnädig 390 Goldene Bulle (1356)  370, 424 f., 434, 595, 636 Gönnersdorf b. Neuwied  257–261 Goslar  551, 641 Goten (s. a. Ostgoten, Westgoten)  134, 140, 190, 215, 607, 615, 632 f. Gotisch  101, 137 f., 157, 195, 197, 200, 204 f., 229, 383, 523, 615, 627 „Gotisch“ (Eggers)   101 Gottesfriede  386 f. Gottesgnadentum  346 f., 455, 476 Göttingen 567 –– Univ.  25, 28, 100, 249, 676, 681, 694  Gottunmittelbarkeit 372 Gräberfelder LBK  274–276 Grabhügel (s. a. Tumuli)  110, 282, 290 f., 294, 298 f. Graf, Grafschaft (s. a. Burg-; Mark-; Pfalz-Gr.)  318, 321, 330, 334–339, 341 f., 370, 375, 393

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Sachregister

-graphie  21 f. Gravettien 256 Grenoble 495 Griechenland/griechisch (Großgliederung, ztl.)  591–593, 607, 612–614, 626, 638 f., 642, 652 f. –– Griechen (frühe) auf dem Balkan  107–129 –– ca. 3 000–2 300 (Norden)  108–110, 613 –– ab ca. 2 300 (Mitte u. Pelop.)  111–116, 613 –– myken.  115–119, 127, 612 f. –– dorische u. nw.-griech. Einwanderung  118–126, 613  Großbritannien 514 „großdeutsch“ 584 Große des Reiches  313, 317, 319–325, ­327–330, 335, 338, 340, 342, 344 f., 351, 353, 358, 360 f., 367, 385–387, 390 Großgartacher Gruppe (GG)  280 f. Großgrundbesitz 145–147 Großsteingräber s. Megalithgräber  Grund und Boden, Grundbesitz  306–308, 333, 390 „Grundbesitz“ („Adel“ angebl. von „G.“)  616 f. Grundherr, Grundherrschaft  145 f., 159, 308, 362–364, 373, 377, 390, 393, 395 f., 437, 459, 491, 561 –– G.en (Frkr.)  465  Grundholden  363, 390 Grundhörigkeit 340 Grundrechte, Ausschaltung von G.  585 Gruppeninteressen (s. a. Separatint.)  577 Guelfen (Guelfi), guelfisch (s a. Ghibellini)  412 Gut (a. höchstes Gut); gutes, tugendhaftes Leben  24, 38 Gute Ordnung des Gemeinwesens  24, 35, 38 gutes Deutsch  145, 188, 705 f. gutes Latein  188, 704 f. Gutsherrschaft (Preußen)  444, 448, 454 f. Guyenne (Herzogtum)  465 Habsburg (Haus H.), habsburgisch  416, 421 f., 424, 433, 450, 480 f., 490, 496

habsburg. Länder (Oberitalien)  585 Habsburg-Lothringen 415 Haffküstenkultur  267, 292 Hagenau, Elsaß  396 Haithabu  540, 544 Halberstadt 547 Halbfreie 305 halböffentlich 569 Halle (Univ.)  249, 648 Hambacher Fest  584 Hamburg  538, 551, 563, 568 f. –– Univ. 703  „Hammelsprung“ 664 Hammeraxt, durchbohrt s. Streitaxt  Handel, 17.Jh. (Frkr.)  485 f. Handelskrieg 455 Händler s. Kaufleute; s. a. Gilden  Handwerk, Handwerker  391, 540, 548, 554–557, 573, 575 Handwerksgesellen  556, 558 f., 572, 575 Handwerkslehrlinge  556, 558 Handwerksmeister  556, 558, 572 Hanse(n)  543, 551 Hansestädte (s. a. einzelne H.städte)  543, 553 Harlingen (Merzig, Saar)  658 Hatti, hattisch  170 „Haupt- und Staatsaktionen“, „-akteure“  54, 59 f., 69, 75 Hauptstadt  305, 310, 567 Haus –– Magdalénien  257 f. –– LBK  271–275, 278 f. –– RK 281 –– StBK 280 –– kurz, zweiräumig  114 –– germ. 148  „Haus“ („das ganze H.“)  23 Hausgut, Hausbesitz („Hausmacht“)  367, 424, 490, 594 f. Häusler 561 Hausmeier  316–318, 320, 322, 327, 335 f., 343, 345 f., 484, 526 f., 629, 634 Heer u. Heeresorganisation, Germanen u. Frankenreich 317–322 Heerbannrecht  318, 321, 337–339, 366 Heeresversammlung s. Volksv. … als ­ Heeresversammlung

Sachregister Heerfahrt, Heerfolge, Heerfolgepflicht (s. a. Wehrpflicht), auch -Verweigerung; Heerbannbuße  318 f., 332 f., 338 f., 367 „Heerkönigtum“  120–123, 125 Hegemonie  471 f., 480, 482, 488 f., 491, 495–497 Heidelberg  206, 250, 337, 439, 518 –– Univ.  24, 30, 91, 425, 648 f.  Heil, germ.-heidn.  322, 383 f., 607, 610, 623, 627 f. Heilige Schrift (auch „sola scriptura“) 431 Heiliges Römisches Reich/Sacrum (Romanum/Romanorum) Imperium  310, 320, 326, 337 f., 367 f., 379, 383, 388, 391, 393, 600, 624 f. Heiligtümer/Kultstätten (s. a. Tempel, Grld.) –– indogerm. 130 –– LBK  277 f. –– MK u. TBK  284–289, 292 –– Griechen  130, 296 f. –– nordgriech. Stämme ohne Städte  245, 296 f. –– Kreta  129 f. –– Germanen 130 –– Röm. Reich und MA  542  Heiligung, kirchl.  322 Hennegau 488 Herford 541 Herkommen 384 Herr (s. a. Herrschaft; Grund-; Lehns-; Stadt-; Landes-; Guts-; Edel-Herr; Ratsherren; Signorie) –– allg., Etymologie  363, 373–375 –– Adliger  536, 554, 418 (als Schutzherren v. Klöstern) –– Anführer 628  –– Burgherr (s. a. Burggraf)  396 –– Christus 635 –– dominus (s. a. Herrschaft)  309, 405 –– Freie Herren, freiherrlich  393, 395, 427, 624 –– Gerichtsherr (s. a. Gerichtsverfassung)  364, 658 –– Große des Reiches  337, 365, 372, 387, 462 (frz.), 463 –– Hausherr 307 –– Herr seiner selbst s. Selbstbeherrschung –– Leibherr 364

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–– Patron 307 –– Schirmherr  474, 504 „Herrenstube“ 553 Herrin –– (domina, als Maria, die Mutter Gottes)  527 –– als Frau des Hofherrn  531  Herr-lichkeit 500 Herrschaft  32, 35, 39 f., 172, 179, 199, 234, 373–375, 587 –– Linienbandkeram. Kultur  275 –– Schnurkeram. Kultur  293, 296 –– Grld.  117 f., 121–123, 131–133, 172, 182, 213, 234–237, 241 –– Röm. Reich  167 f. –– Frankenreich  309 f. –– MA (H. und Herrschaftssystem)  309 f., 346 f., 357, 362, 364, 366–368, 384 f., 389 f., 396 –– Neuzeit –– ital. Stadtstaaten (s. a. Podestat; Signorie)  400, 405 f., 407, 412–415 –– dt. Terr.staaten (s. a. Herr-lichkeit; Landesherrschaft, hier Finanzierung; Grundherrschaft; Gutsherrschaft in Preußen) 417–425 –– Deutsches Reich  433 f. –– Frankreich (s. a. Feudalherrschaft, hier Ende der f.; Grundherrschaften)  401, 462–466  Herrschaft und „Hochkultur“  231 f. Herrschaftsanspruch des Kaisers im MA  309, 346 f. Herrschaftsbefähigung 534 Herrschaftsformen, H.systeme, H.ordnungen  39, 74, 97, 167, 172, 193, 241–243 „Herrschaftsvertrag“ 661 „Herzog“  120 f. Herzog, Herzogtümer –– Anführer im Krieg  335  –– Stammes-H. –– alter Art  335 f. –– neuer Art  337, 361 f., 364, 366 f., 418 –– sozusagen Ämtsherzöge  336 Hessen 535 Hessen-Kassel 648 Hethiter 633 Hethiter, hethitisch  106–108, 126, 130, 164, 169–171

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Sachregister

Heuristik 52 Hieroglyphen  112, 171 „Hildebrandslied“ 607 Hinschauen von allen Seiten (s. a. empir.)  699 Hintersassen  340, 363 f., 366, 377 Hist. Materialismus  35, 616, 623 „histor. Schule der Nationalökonomie“  64 Historiographie s. Geschichtswissenschaft  Hochadel  169, 393, 396, 418, 466, 472 f., 477 f., 483, 567, 575, 624 Hochburgund (s. a. Burgund)  352, 357, 461 Hochgericht, Hochgerichtsbarkeit  221 f., 235, 341, 500 „Hochkulturen“, frühe  231 f. Hochmittelalter  148, 156, 158, 160, 313 f., 320, 366–368, 372, 376–380, 384, ­386–388, 393, 396 f., 403 f., 409–413, 418–420, 523 f., 527, 530–536, 541–543, 546–549, 556 f., 560, 565, 571 f., 574, 576, 595, 600–602, 625, 631, 636, 641, 664 Hochschule f. Film u. Fs.  703 Hof –– des germ. Anführers  148, 311, 394, ­520–523, 564, 570 f., 573 f., 576, 639 –– MA (König u. „Große“/„Fürsten“ u. and. Adel); „höfisch“  312–314, 394–396, 523, 525–535, 574, 576 –– Renaissance (u. a. Ferrara, Mantua)  503 f., 565, 609 –– fürstl., königl., im Absolutismus (höfisch, Höfling)  442, 448 f., 565, 576  Hof, bäuerl. (s. a. villa rustica)  340, 560 f. Hof-fahrt  313, 319, 366, 526 Höfling (s. a. „(Il) Cortegiano“)  576 Hofschule Karls d. Gr.  639 f. Hoftag(e) (s. danach Reichstag(e); einz. Orte: Aachen, Nürnberg, Metz, Ronkalische Felder, Speyer, Worms)  313, 347, 365, 394, 411, 419, 422, 424, 595 Hoguette, La-H.-Kultur  278 Hoheit 501 Höhenburgen  378, 396, 518 f. Hohenzollern (Haus H.)  445–447 Höhlen  204, 231 f., 253 Holden s. Grundholden; huldigen Holländischer Krieg  488 Holstein  282, 437 Hominiden-Entwicklung 248–254

–– im System der Wiss.  76  homo erectus/ergaster; h. heidelbergensis; h. sapiens neanderthalensis; h. sapiens sapiens   249–252 Hörige, Hörigkeit (s. a. Abhängigkeit … der Bauern)  340, 377 Hotel (luxur. Stadthaus)  563, 575 Hubergericht  222, 658 Hudson Bay  491 Hugenotten, H.-Kriege  472 f., 475, 477 f., 487 huldigen 390 Humanisierung des Krieges  447 Humanismus, hum. Ideale (Italien)  609, 643 Humanwissenschaften, Anthropolog. Wissenschaften (s. a. Anthropologie) –– Allg. Humanwissenschaft, Allg. Anthropologie  57 f., 65, 76 –– idiographische (s. a. Geschichtswissenschaft; s. a. Anthropogeographie)  70, 72, 76–78 –– nomothetische s. Anthropologie, nomothetische  Hundertjähriger Krieg  465, 467–470 Hundertschaft (hunaria, hunria, honnending, hundding u. ä.)   143, 221 f. Hungerkrisen, Mißernten  454, 475, 482, 491 f. Hussiten 426 Huy  539 f., 545 f., 548 Hypothesen  49 f., 699 –– nomologische 50  Identifikation mit dem Gemeinwesen  338, 341 f., 357 idiographisch  55 f., 58–67, 70, 72–78 Ilion/Ilios (s. a. Troia; Hethiter; Luvier)   106 Illuminatenorden 568 Illyrer  119, 163 f. imperium  657 „individualisierend“  58 f. „individualistisch“  59 f. Individuum, Individualität, individuell  55, 231, 288, 292, 392 „indo-europäisch“ s. indogermanisch  indogerm. „Urzeit“  592 Indogermanen, indogerm. Zusammenhang  108, 110 f., 129 f., 132, 169, 196, 230 f., 264–270

Sachregister Indogermanisch („Indoeuropäisch“)  108 f., 134, 170 f., 200, 614 Induktion, induktiv (s. a. nomothetisch)  48–51, 55, 59 f., 78–80, 83, 608 Industrialisierung 584 Inflation 584 Informationsmöglichkeiten, Grenzen der I.  691 Ingelheim 311 ingenui  305 Ingolstadt (Univ.).  568 Innenpolitik 95 Inquisition 431 Inszenierung i.d. „Politik“  669 Integration 33 Intendanten, Intendanturen  478 f., 484, 502 intercessio, Intercession  657 Interessen (Separat-, Partikular-, Gruppen-, Einzel-) s. Separatint.  Internationale Politik/Beziehungen  96 Interregnum  388 f., 421, 499 Interrex (Rom)  656 Interview (a. Intensiv- u. halbstruktuiertes)  47, 53 f. Investitur, I.-Streit  310, 379, 408 f., 410 f., 418, 462, 547, 635 f., 660 Isonomie  234 f., 237, 241 Italien (s. a. Langobarden; Franken-Lango­ bardenreich)  348, 350, 357 f., 379, 607 f., 611, 640 –– Einigung  326, 585 f., 608, 611 –– 18.–20.Jh.  583, 585 f.  Italiker  164 f., 207 f. „Iwein“ (Hartmut von Aue)  524 Jacquerie 468 Jahrgeding  149, 220 Jansenismus  417, 456 f., 486 Jastorfkultur, Jastorfgruppen  136 Jena 567 –– Univ.  249, 647 f.  Jesuiten, (anti-)jesuitisch  431, 457, 487, 568 Journalismus 679 Journalisten-, Publizistenausbildung  675, 699 f., 702 f. „Journalistik“ 677 Juden –– Toleranzpatente  457 f.

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–– Gleichberechtigung 567  Jugoslawien 603 Juristen, J.-Ausbildung (Frühneuzeit)  382 Justizreform  455, 458 f., 502 Kabinett 514 Kaiser, Kaisertum, (west-)röm. (s. a. Römisches, von Franken übernommen; spätröm.)  169, 306 f., 310, 347, 599, 633, 635 f. –– Art Kabinett  314 –– Gesetzgebung  347, 369, 387 –– K.bad 312 –– K.erlasse 223 –– K.wohnung/-residenz s. palatium –– Leibwache 319 Kaiser, Kaisertum, oström.  309, 324–326, 526 Kaiser, Kaisertum (Heilig. Röm. Reich)  310, 346–348, 367, 372 f., 378, 388, 390, 394, 409–411, 423 f., 433, 436 f., 443, 466, 500, 595, 599–601, 607, 624, 630, 660 –– „absolutio“ vom Gesetz  405 –– als Dichter und Ritter  534 –– erste Reichsbehörde v. Person des K. gelöst 427 –– Gedenkstiftungen 391 –– Kabinett 514 –– Gesetzgebung/K.recht  347, 369, 387, 389 –– k.lose Zeit  380 –– K.krönung, letzte in Italien  430 –– K.urkunden  151 f. –– Kanzlei s. Kanzlei –– „Karolinischer ‚Kaiserstil‘“  449 –– Kirchenstaat, Verh. z.  413 –– Königtum, frz., Verh. z.  465, 476 –– palatium/Palast s. dort –– Publizistik 600 Kaiser (2. K.reich, Dt.)  375, 584 kaiser-/reichstreu  403, 407, 411, 641 Kaiserslautern (Hochschule)  649 Kaisertum (röm.)  599 Kalande 560 kalvinisch, kalvinistisch, Kalvinisten  431 f., 434, 439, 445 f., 472 f., 481, 487, 563, 583

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Sachregister

Kameralistik, Kameralisten, Kameralwissenschaft, Kameral(hoch)schulen  23 f., 647–649 Kammer, Kämmerer, Kameralismus (s. a. ­ curia in compotis)  312 f., 377, 395, 442, 451, 481, 487, 512, 514 f., 563, 583 Kantone (Preußen)  446 Kanzlei Karls d.G.  639 Kanzlei, Kanzler (s. a. Staatskanzlei)  314 f., 370, 394, 434, 473, 512 f., 515 Kapelle  314, 394 Kapetinger (s. a. Valois ; Bourbon ; Orléans)  357, 461, 473, 631 Kapitularien (s. a. Reichsgesetze)  315, 369 f. Kapitulation, dt. (1945)  585 Kapläne, Erzkaplan  314 f. kappa  314 Kärnten 421 Karolinger, karolingisch  302 f., 306, 313, 315 f., 384–386, 629 f., 634 f., 653 f. Karolinger-Reich (Ende)  461 kath. Reichsstände  431, 433, 438 kath., Katholizismus (s. a. Kirche, röm.) –– röm.-kath. Christent. (Spätant. u. Früh-MA) 305 –– neuztl.  430 f., 433 f., 438, 446, 472  Kätner 561 Kaufleute  391, 394, 397, 538–553, 575 Kaufmannsrecht  539–541, 543 Kausalität 44 –– „aus Freiheit“  51  Keilschrift 171 Kelten  135 f., 208, 211, 223, 240, 522, 555, 591 f. Keltisch  109, 118, 169, 205, 229, 319, 382, 521 Kimbern 208 Kirche, röm. (s. a. kath.; Kirchenreform; Konzile; Papsttum)  313, 325 f., 329 f., 394, 413, 425 f., 429, 432, 452, 456, 476, 595, 601 f. Kirchengesang 640 Kirchengut 320 Kirchenhoheit, fürstl. (s. a. Staatskirche)  448 Kirchenrat 442 Kirchenreform  408, 425 f., 462 –– österr. Absolutismus  416 f., 457 f.  Kirchenschisma 425

Kirchenstaat (einschl. Dukat, römischer)  317, 322–326, 330, 343–346, 372, 406, 412 f., 415, 422, 433, 586, 608, 630, 635, 644 Kirchenverfassung (kalvin.)  431 Klause 518 Kleidungsanfertigung 253 „kleindeutsch“ 584 Kleisthenes, Reformen des  237 Kleriker im Staatsdienst  457 f. kléros  120 Klientel  306 f., 318 f., 390, 614 Klöster, allg.  539, 541, 554 Klostergründungen 418 kluniazens. Reformen  408, 418, 462 Knechte  377, 536, 559, 572 Kodifizierung des Rechts  210–216 koinōnía poliīikḗ  38 f., 68 f., 104, 519, 578 f., 581 „kollektivistische Geschichtsschreibung“  59 f., 75 Köln  137, 272, 279, 304, 314, 354, 391, 397, 422, 424, 437, 456, 526, 528, 537, 539–543, 547, 551, 553, 555, 557, 624, 628, 642, 659, 665, 699 –– Univ. (u. K. Klosterschule)  26, 30, 601 –– FH 703 –– Reichstag 428  Kolonisation, innere  454, 470 Kommissare (Frkr.)  463 f. Kommunale Bewegung  403, 414 f., 547 Kommunalismus-Diskussion  219, 340 Kommunalpolitik  95 f. Kommunikation  369, 681–684 „Kommunik.politik als Wiss.“  677 „Kommunik.wiss.“  676, 682–684 „Kommunik.wiss. (Ztgswiss.)“   677, 682, 694 „Kommunik.- u. Medienwiss.“  677 Konfessionen, allg. (s. a. kalvin.; kath.; lutherisch; zwinglianisch)  442, 445 f., 507 „König“ (s.a. „Heerkönigtum“) –– Griechenland  120–123, 125, 130–132 (Kreta), 241 –– Hethiter  130, 169 f. –– Latiner  165 f. –– Germanen  139–142, 653  König u. Position d. K. (Germ., allg., u. Franken; MA)   304–306, 335, 366–368

Sachregister Königin (Franken- u. Ostreich), Aufgaben  312 f. Königreich Burgund s. Burgund, Kgr.  Königsberg  445, 449, 553 –– Univ.  26, 648 Königsboten  315, 338 f., 342, 369 f. Königsfreie/Königszinser 340 Königsfriede s. Landfriede  Königshof s. Hof  Königsrechte s. Reichsrechte  Königswahl (s. a. Kurfürsten) –– Hl. Röm. Reich  367, 461, 664 f. –– Frkr. 461  Königszinser 217 Konkordate  435, 471 Konkret-Einzelnes 60 Konkret-Individuelles  55, 59, 61 Konradiner 361 Konstanz (s. a. Konzil)  411 (Vertrag); 430 –– Univ. 91  konstitut. Monarchie  417 Konstofler (Straßburg)  593 Konstruktivismus  689 f. Konsulat, Konsuln, K.-Verfassung –– Rom  593, 598, 615 –– Italien (MA)  403 f. –– bonapart. 583  Kontakte LBK nach außen  276–279 Kontinuität  654, 656 Konzil von –– Basel  426, 435 –– Ephesus 635 –– Konstanz  405, 425 f., 429 –– Trient  431–433, 472  Konzile, allg.; Konziliarbewegung  425, 431–433 Körber-Stiftung  32, 578, 587 Kosmologie, moderne  61, 76 Krain 421 Krankengeschichte 47 -kratie  39, 235, 241, 243, 587 Kreta  114–116, 119, 126, 128–134 Kreuzzüge  379, 464 f. Krieg, Humanisierung d. Kr. s. dort  Kriege, krieger. Auseinandersetzungen (gr. Zahl, lange Dauer; s. a. Hundertjähr. Kr.; Dreißigjähr. Kr.)  206 f. u. 280 (LBK); 207 f. (indogerm.); 322, 327 f.,

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331–333, 338, 342, 384 f., 440, 479–482, 484, 486, 488–490, 494–497 Kriegsgefangenen-Hochschule Featherstone Parc Camp (Camp 18)  99–102 Kriegsgreuel, -elend, -folgen  440, 467 f., 481 f., 484, 486, 489 Kriegskosten, große  466 f., 469, 471 f., 479, 486, 490 f. Kriegsrat 442 Kriegsziele (Frkr.)  480–484 Kritik, krit. „Methode“  42 „Kritische Theorie“  580, 693 „Kritischer Rationalismus“  85, 87, 693, 699 Krondomäne (Frkr.)  462–466 Krongut s. Reichsgut Kronvasallen 366 Kryptobegriffe 51 Kultfeiern 384 Kultstätten s. Heiligtümer/Kultstätten Kulturelles, Eingriffe L. XIV.  487 f. Kulturgeschichtswissenschaft  59, 75 „Kulturwissenschaften“  56, 58 Kunststoffzeit 72 Kurfürsten, Kurstimmen, Kurwürde  338, 367, 421–425, 432, 439, 443, 595, 665 Kurie (curia) 165 Kurpfalz, kurpfälzisch  439, 518, 565, 649 Kybernetik  76, 580 „Laeten-Problem“ 304 Laienkelch 433 Laienkultur (MA)  530–535 Lakedaimonier (s. a. Sparta)  121, 123 f., 241, 297, 666 Lakonien 118 „Lamprecht-Streit“ 59 Land als Grund und Boden s. Grund und Boden Land als Personalverband s. Personalverband Land, Landrecht, Landvolk (s. a. Personalverband) 124 Landadel (Brand.-Preuß.)  447 Landesausbau 539 Landesherrschaft, deutsche –– Finanzierung  436 f., 439–446, 449–451 Landeshoheit 379 Landeshoheit, kirchl.  430, 435 Landeskirchentum  430, 435, 647

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Sachregister

Landessteuern  436 f., 439 f., 445, 449 f. Landfriede  370, 387, 389, 426–430, 544, 546 Landgraf 366 Landrecht (preuß.)  455 Landsasse, Landsässige  392, 624 Landsberg am Lech  541 Landsknechte (s. a. Söldner)  536 Landstädte  394, 437 f., 509 Landstände  394, 436 f., 439–442, 444 f., 450 f., 455, 458, 507, 515 Landtag  439, 445 Landwehr 365 Landwirtschaftl. Gesellsch.  649 Langobarden, L.-Reich  137, 305, 308, 317, 322–330, 343–345, 347, 390, 403, 638 Languedoc 467 Languedoil 467 „Larousse“ 482 La-Tène-Kultur  136, 208 Laterankonzil von 1179  664 Latino-Falisker, Latiner  164–167, 207, 222 Latium  164 f. Laube 575 Lausitzer Kultur  163 Lautverschiebungen  138, 166 Lechfeld 365 Lehen, frz., an engl. König  465, 468 Lehen, Lehnswesen, Lehnsherr(schaft)  319–321, 366–368, 377 f., 382, 390 Lehensfähigkeit 554 Lehenspyramide  366 f. Lehnstage 436 Lehrbarkeit s. Erlernbarkeit   176–178, 185 f. Lehrlinge s. Handwerkslehrlinge  Leibeigene, Leibeigenschaft  340, 364, 366, 459 Leier, Leier-Spiel  526–528 Leipzig (Univ.)  648, 675–677, 679, 699 f., 703 Leitender Minister  477, 484, 493 Lemgo 509 Lerna 109–111 Lesegesellschaften  453, 498, 562–566 Leute, liut(i), *leudi-, *leudh-, *leudheros, eleútheros, līberī u. ä.  225–227, 389 Lex salica s. salisches Recht  liberi homines  305

libertas (Stadt als l.)  546, 548 liberti  305 „Liga“ –– Dt.  431, 438 –– Frkr. 473–475  ligesse  367 Lille 488 Linear A  112 Linear B  112, 114, 122 Linienbandkeram. Kultur (LBK)  206 f., 268, 270–282, 296, 300 Liudolfinger s. Ottonen  Liutizen 169 Lobby, Lobbyismus  517 Logen s. Freimaurergesellschaften; s. a. Laube -logie  21 f. Logik 76 Lombardenbund 411 Lothringen, Lothringer (a. Lotharingien, Lotharinger)  337, 351 f., 357, 415, 450, 480–482, 488–490 Lübeck  541, 550 f., 553 „Ludwigslied“ (9. Jh.)  354, 523 Lüneburg 551 lutherisch  429 f., 445 f., 472, 563 Lützen (Schlacht bei L.)  480 Luvier, Luwisch  111, 134, 164, 170 f. Luxemburg (Haus)  422, 424, 636, 641 Lyon 640 Maastricht 540 „Macht“  31–37, 39, 587 Macht –– griech. u. lat. Begriffe, bei uns mit „Macht“ übersetzt; Begriffsdurchein­ ander 188–191 –– moderner „klassischer“ Begriff; Kritik  191–196 –– originäre Bedeutung  196–202  Magdalénien  257–264, 268 Magdeburg  541, 547 Magisches 245 Magistrate (Rom)  598 mahal-, *maþla-, māl, *mōd-/mād-, mōt, ge-mot, gamōtjan, møta, meet u. ä.  150 f., 217, 341 „Maifeld“ (Franken)  146 Mailand  310, 407–416, 431, 434, 490

Sachregister Mainfranken 607 Mainz  379 f., 540, 547, 552 –– Univ.  676, 694, 703  Makedonen  121, 240 Makedonien  108–110, 121, 125, 240, 295, 613 malli publici  341 malman/mahlleute  152, 217, 219, 225 Malplaquet 490 Malstatt, Mathalstatt, Madalstat u. ä.  150–152 Mannheil  607, 627 Mannheim  518, 563 Manufakturen  485 f. Marburg (Univ.)  430, 648 Marienburg 553 Marienlyrik 527 Marine u. Seekrieg (Frkr.)  485 f. Mark Brandenburg  444 f. Markgenossenschaft (Spät-MA)  560 f. Markgraf, Markgrafschaft  318, 366, 378 Markt, Märkte, Marktplatz  242, 540 f., 545– 549 Marsal  480, 540 Marschalk, Marschall  312, 377 „Marsfeld“ (Rom)  162 Marsfeld, Märzfeld u. Maifeld  327, 344– 346 Marshallplanhilfe 585 marx. Propaganda in DDR-Journalistik  700 Marxismus, „Zusammenbruch des M.“  580 „Märzfeld“ (Franken)  146, 324, 327, 345 f., 633 f. Masse, „M.medien“, „M.kommunikation“  681, 690 f. Material-, a. Datengewinnung  43 f., 47, 51, 82 Mathematik  73, 76 Max-Planck-Inst. f. evolut. Anthropologie  251 Mäzenatentum u. staatl. Förderung  405, 414, 503–505, 555, 572 Medien 369 Medien d. Publizistik  671 f., 677 f. „Medienwiss.“ 677 Medizin  71 f., 76 Meerssen (Vertrag von)  352 Megalithgräber, M.-Kultur  286–288, 291, 299

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Mehrheit (Entscheidung mit M.)  141, 423 f., 549, 595, 663–667 Mehrsprachigkeit  644 f. Meier 377 meinen, *moino- (s. a. gemein; communis)  156 f. Meinung, M.bildung. (s. a. Öff. M.)  672, 676, 679–681 Meinungsforschung  84, 686, 698 Meister s. Handwerksmeister  meliores, Meliorat  551 Mensch, anatomisch moderner  251 Menschenkenntnis  609 f. Menschsein 199 Merkantilismus  448, 451, 454 f., 485 f., 610 Merklo 327 Merowinger, merowingisch, Merowingerzeit  140, 151 f., 304, 309 f., 313–316, 318, 327, 367, 484, 629 f., 634, 653 f., 624 Merowingerkönige, allg.  525, 527 Metaphysik 76 Methoden (s. a. Verfahren zur Material-, Datengewinnung) –– qualifizierte, echte Methodenbegriffe  44–51 –– M. direkter Erkenntnis  44–47 –– M. indirekter Erkenntnis (des Schließens) 48–51 –– unqualifizierte Methodenbegriffe  41 –– Pseudomethoden  42 f.  Moyenvic/Medewich 540 Metz  137, 223, 316, 329, 351 f., 356, 370, 433, 471, 480, 539 f., 543, 547, 639 f., 665 –– Abtei; Bischof/Bistum  151; 152, 314, 316, 354, 480, 547, 639 –– Hoftag  424, 595 –– Univ. 94  Michelsberger Kultur (MK)  282–285, 288 f., 292, 295 f. „Mikrohistorie“ 55 miles  379 miles perpetuus s. Stehendes Heer  „Militärdemokratie“ 246 Minden 538 Ministerialen  339, 366 f., 376–382, 391, 393, 395, 419, 519, 524, 530, 532, 539, 547 f., 624, 641

802

Sachregister

Ministerrat (L. XIV.)  484 f. Minne, Minnegesang, Minnesänger (dt.)  380, 527, 529 f., 532–534 minoische Kultur  114–117, 128–134 Mission, kath.  431 Mißstände im städt. Regime (MA)  557 f. Mitsprache s. Sprache u. … als Wesen des Politischen  Mittelgriechenland  108, 110, 117, 121, 125, 298 Mittelmeer, westl.  490 Mittelniederdeutsch 138 Mittelreich Lothars I. u. II.  349–352 Mittelstand 584 Molosser  121–123, 240, 295, 297 Monarchie, „Monarchie“, Monarch(en) (s. a. „König“)  120–122, 131, 167, 237, 242 f., 586 –– Beseitigung (s. a. Frz. Revolution)  497 –– konstitutionelle 497  Monopol i.d. Publizistik; Vielfalt  687 Moralische Wochenschriften  453 Moralverfall im Frankenreich  385 Moselfränkisch  154, 351 Motten  395 f. München 541 –– Univ.  676 f., 681 f., 694, 702 f.  Münchner Abkommen  585 Mundschenk 377 municipium  537 Münster i.W.  538 –– Friede (s. a. Westf. Friede)  484, 491 –– Univ.  675–677, 679, 694, 703  Münzstätte  540 f., 546 Münzverschlechterung 486 Mykene, mykenische Kultur  112–120, 128 f. nachahmen s. angleichen nach oben  „Nachbarwissenschaften“ –– d. Politikwiss.  73–75, 88, 95 –– d. Publizistikwiss.  683, 696 f.  Nachfolge  591 f., 594–596, 626, 629–632 Nalbach (Saarld.)  154 Namur 540 Nassau  536, 624 –– Mitgl. d. Hauses  380, 422  Nassau-Saarbrücken  381, 451, 500, 567, 648

Nationalbewußtsein (Frkr. u. Engld.)  470 Nationaler Ethikrat s. Ethikrat, Nat.  Nationalinteresse 506 Nationalisierung der Staatsschuld (Frkr.) 491 Naturalwirtschaft  308, 313, 382 f. Naturgesetze  51, 62, 78 f. Naturrechtslehre, neuztl.  23 f., 452, 583 Naturwissenschaften  56, 58, 60 f., 75, 83 f., 98, 100 –– nichthistoriographische 48–50  „Naturzustand“ der Menschen  661 Navarra  465, 474 Neandertaler  250 f., 256 Neapel  431, 434, 490 Neapel-Sizilien/Unteritalien-Sizilien (Kgr. (e); s. a. Sizilien)  358, 406 f., 412–414, 420, 441, 490, 636 Neolithisierung  271, 278, 282 Neuadel, napoleon.  625 Neuere Geschichte (s. a. Frühe Neuzeit; Zeitgeschichte)  24–27, 52 f., 55–60, 64, 66, 67–69, 71 f., 74 f., 83, 103, 302, ­373–375, 492–499, 512, 577, 583–586, 611 f., 625 f., 687, 708 –– Begriff 63  Neufundland 491 Neulandgewinnung (Preußen)  454 Neuschottland 491 Neustrien (s. a. westfrk. Reich; Austrasien)  316, 330 Neuzeit, „Beginn“  397 „Nibelungenlied“  524, 607, 617 Nichtangriffspakt, dt.-sowj.  585 Niederadel  381 f., 390, 393 Niederburgund (s. a. Burgund)  352, 360, 462 Niederdeutsch  388 f., 401, 534, 543 f., 705 niederes Volk  389 Niederfränkisch s. Altniederfränkisch  Niedergericht  221, 342, 377, 561 Niederlande  273 f., 434, 352, 485, 543 –– kath. 488–490 –– prot./Vereinigte N.  450, 480–482, 485 f., 488–491  Niederländisch  138, 351 Niederlothringen  337, 340 Nieder-Mörlen (Bad Nauheim)  277 f.

Sachregister Niederrhein, preuß. Gebiete  445, 447 Niederungsburgen, bes. Turm- u. Turmhügelburgen  395, 518 Nimwegen, Friede von  489 Nimwegen/Nijmegen  354, 489 –– Reichstag  350, 370  nobiles, Nobilität  615, 619–622 nochpūr, napar, Nachbar s. bur  nomadisieren  205, 248 -nomie  21 f. nomologisch  50, 84–87 nómos  56, 63, 123, 236 Nomothetik, nomothetisch (s. a. Typen, Typologie)  50, 55 f., 58–61, 64–67, 69, 73–75, 78, 80, 82 f. Nordgermanen  136 f., 246 Nördlingen (Schlacht bei)  481 Nordwestgriechen  112–114, 118–122, 127 Normandie  278, 358, 461–463, 469, 482 Normannen  159, 349–360, 362, 385, 413, 420, 441, 461, 523, 538, 540, 544, 636 Normannisch 530 Notare  314, 337 Notverordnungen 585 Nowgorod 551 NSDAP 585 NS-Propaganda  683, 700 Nürnberg  370, 428, 430, 554, 602, 642, 654 –– Hoftag; Reichstag  424, 430, 595 –– Univ.  694, 697  Oberbegriffe 51 Oberflächlichkeit 669 Oberflacht  526 f. Oberlothringen  137, 340, 360 Oberpfalz 439 Oberschicht  549, 562 f., 566, 569 f., 576 Obodriten 169 Obrigkeit  460, 509 f., 517, 550 Ochtelfingen (Saarland)  500 Oder-Weichsel-Germanen 137 „öffentliche Meinung“  679–681, 685 f. Öffentliches Recht  25 Offenheit 227 öffentlich, Öffentlichkeit (auch Verlust der Ö.), „öff. Aussage“ (s. a. „öff. Meinung“)  31, 35, 227 officium  377

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Offiziersdienst, -ausbildung, -ehre (Preußen)  446 f. oikonomía  21 oíkos  578 Ökologie  72 f., 76 Ökonomie, Ökonomik  21, 23–25, 29, 77 Ökonomische Gesellschaften  568 Olduway 249 Ontologie 76 Opinion Research  84 Opposition, Recht auf O.  666 Orakel von Delphi  245 ordo, Ordnung (gute, gerechte) d. Gemeinwesens/Recht, herkömmliches/Wohlordnung  33–35, 38, 156, 384, 392 f., 505 orient. Systeme (frühe), hier Einflüsse  116 f., 129–131, 170, 301, 379 oriental. Einfluß auf antikes Grld.  130 Orléans  305, 462, 468 f. –– Haus O.  357, 461  Örter des Politischen (s. a. Staat)  227–230 Osnabrück  152 f., 217–219, 264, 372, 538 Osnabrück, Friede von (s. a. Westf. Fr.)  484, 500 Österreich (18.–20.Jh.)  583–586 Österreich, österr. Länder  419–422, 432, 434, 491 ostfränk. Reich  310, 316, 326, 345, 348, 351–353, 357, 367 f., 383 Ostfriesland  103, 158 f. Ostgermanen  136 f. Ostgoten, ostgotisches Reich  140, 305, 390, 413, 526, 607 Ostgotisch 383 Ostpreußen  444 f., 447 Ostrakismos, óstraka (Athen)  297, 664 Ost-Rom, oströmisches Reich, Byzanz, ­ byzantinisch  121, 305, 309, 322, ­324–326, 330, 358, 403, 413, 419, 526 Ottonen, ottonisch  306, 311, 314, 376, 378, 394, 407, 419, 538, 574, 630 f., 636 Oudenaarde 490 Pädagogik s. Bildungswissenschaft  palacium, Palast, Pfalz  526, 574, 576 palais, Palast  309, 479, 519 Paläoanthropologie  202, 248–253

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Sachregister

Paläontologie  61, 76 Palas (MA-Burg)  535 Palast  133 f., 309 –– Kaiser-P., röm.  310 f., 313, 394  Palast-/Pfalz-Aula  310, 313 „Palast“  133 f. „Palatin“ 162 palatium  307, 309–312 Palmyra 542 Päpste, Papsttum (s. a. Avignon; Kirchenstaat) –– P.tum allg.  305, 317, 322–326, 330, 367, 372 –– Verlust an Einfluß auf das Reich ­423–425 –– Stellung in der Kirche (s. a. Konziliar­ bewegung) 431  päpstl. Hof  608 Papstwahl 664 Paris  305, 310, 461 f., 540, 563 parlamentar. System(e)  583–586, 651 parlamentum/parlement/Oberster Gerichtshof (Frkr.)  464, 477, 492–494 Parnaß 240 Partei-Eigeninteresse 670 Parteien 651 Partikularismus 320 „Parzival“ (W. von Eschenbach)  524 Passauer Vorfriede  434 Pataria  409 f. Patriarchat (Rom)  593 patricius  614 patricius Romanorum  326, 330, 372 Patrimonialgerichtsbarkeit, Paternalismus  417, 448 Patrimonium Petri  413 Patriotisch-gemeinnützige Gesellschaften  568 f. Patriziat, Patrizier  550–555, 557 f., 592 f., 598, 614 f. Patriziergesellschaften  551, 553 f., 572 Patron, röm.  307 Patronat s. Vogtei  Pavia  325, 330, 528 pays conquis  479 pays ď élections  479 pays d’ états  479 Pazzi-Verschwörung  406 f. Peloponnes  108–111, 113 f., 117–120, 124, 128, 175, 300, 613 f.

Perser  626, 633 Personalverband  105, 121, 124, 305 Persönlichkeit, Achtung vor  231 f. Persönlichkeitsbildung 598 Pest  467, 482 Pfalz (Königs-/Kaiserpfalz)  306, 309–314, 394–396, 419 Pfalz, Pfälz. Krieg  489 Pfalzgraf  315, 337 f., 366 Pfalz-Zweibrücken 649 Pferde (Domestikation, Verwendung)  109, 116 f., 163–165 Pflichtenlehre (luth.) für Fürsten  510 Pflichterfüllung 607 Phaēllo/Phaēnnis   245 Phänomenologie, phänomenologisch  45, 76 Philosophen der Aufklärung  453 f. Philosophie  19, 21, 73 f., 76, 97–101, 173, 179, 187 Physik  60–62, 76 Physiokraten  459, 495 Piemont-Sardinien s. Sardinien …  Pietismus  446 f. Pingsdorf (südl. v. Köln)  555 Pippiniden (s. a. Karolinger)  316, 629 pleb(e)s, Plebejer  592, 614 f., 619 f. podestà, Podestat  404 f., 413 Poetik 76 Poitiers  317, 320, 527 „Polarisierung“ rechts-links  583, 585 Polen  143, 268, 282, 290, 388, 415 f., 440, 445 Polen, Angriff auf P. (1939)  585 Polis, pólisma  35, 37 f., 104 f., 112, 121, 124, 212 f., 216, 218, 225, 243 polit. Gemeinwesen, seit wann?  247, 258, 263 f., 279 polī´teía, politia, Politie(n), policia, (gute) Policey (u. ä. Schreibweisen)  24 f., 39, 104, 243, 434, 451, 505 f., 508 f., 516 polī´tēs  216 f., 224 f. Politik; das Politische, hier Versuche zur Definition des Gegenstands d. Politikwiss. 30–40 Politiká, Tà  23, 30 f., 40 Politikberatung (auch „Vordenken für die Praxis“)  24, 89–94

Sachregister Politiker (Ausbildung zum P. s. Ausbildung)  30, 668 f. Politikgeschichte im System d. Wiss.  77 Politikwissenschaft –– Stellung im System der Humanwissenschaften  30, 77  –– Einrichtung von Lehrstühlen an wiss. Hochschulen in Deutschland  22, 28–30 Politikwissenschaft, alte und neue Namen –– „Political Science“  26–29, 31, 83 –– „Policey“ s. bei politeía, … –– „Politics is the science of the method of social organization“ 27 –– „politiká“, „politica“, „Politik“  23, 25, 30 f., 40, 88 –– „Politik als Wissenschaft“  26 f., 95 –– „Politik als wissenschaftliche Betrachtungsweise des Staats“  26 –– „Politikwissenschaft“  30, 94, 100, 669 –– „Politik- und Kommunikationswissenschaft“ 676 –– „Politische Wissenschaft“  27–29 –– „Politische Wissenschaften“  29 f., 95 –– „Politologie“ 30 –– „Polizeywissenschaft“ (u. ä. Schreib­ weisen)  24 f. –– „Professio Ethices vel Politices“ 23 –– „Wissenschaftliche Politik“  28 f., 95 –– „Wissenschaft von der Politik“  29 „Politiques“ (les)/(die) „Politiker“  402, 473 f., 501 politisch, das Politische s. Sprache u. … als das Wesen des Politischen; s. a. Politizität u. ihr Verlust  „Politische Geschichte“  64 Politizität und ihr Verlust; polit., auch genossenschaftl. Gemeinwesen u. ihre Defizienz zum Herrschaftssystem  225–227, 232, 237, 242, 301–303, 308, 317, 326–332, 340–343, 347, 364–366, 368, 375, 395, 448, 549 f., 558, 581 f., ­668–671, 681 Polizei (im mod. Sinn)  448, 509 Polizeiordnung(en) –– Begriff allg. 509 –– Landes-P. 435 –– Reichs-P.  421, 434 f. –– städt. P. (Nürnberg)  509 

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Pommern  282, 447 Pongiden  248 f. Populismus 669 Positivismus 26 potestas  598, 602 f., 657 PR („Public Relations“)  669 Pracht-Entfaltung  448 f., 475 f., 479 Prädestinationslehre 432 praetur, Prätoren (Rom)  593, 598 Prag  438 f. –– Fenstersturz 438 –– Friede  481, 483 f. –– Kirchenreformbestrebungen 425 –– Univ. 425  „praktische Wissenschaften“, Praxis als Gegenstand der Wiss.  22 f., 89 f., 94 präpolitisch, präpol. Gemeinwesen/Gemeinschaft, Sippe, oíkos  208–210, 213, 227, 384 f., 388, 578 präsidial-parlamentar. Systeme  651 Präsidialregierungen 585 Predigt 369 Presse 687 –– als Quellen  53  –– Pressefreiheit  687, 691 –– Propaganda  678 f., 681, 683, 700, 704 –– regionale  687 f. –– überregionale 687 Prestige  448, 465 Preuß. Akad. der Wissenschaften  606, 650 prévôts; prévôtés  463 f. Priester-Ehe (prot.)  433 Primatanspruch der Päpste  409, 431 „primitiv“  235, 238, 294 f.,368 Primogenitur  631, 637 princeps (Anführer) –– Etymologie 374 –– Gallier 620 –– Germanen  132, 139–141, 144–146, 369, 374 f., 389 f., 520–523, 570, 573 f., 576, 620 Prinzipat (Oktavian)  599 „(Il) Principe“  608 f. Privilegien (auch Abschaffung)  458 f., 463 f., 517 probieren, Erprobung  44 Prognosen  80, 82, 84, 87 Propsteien 554

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Sachregister

„Protestation“, Protestanten, prot. Reichsstände  430–434, 438 f. Protokoll  46 f. Provence  307, 330, 352, 357, 412, 461, 530 provinzialrömisch  101, 216, 313 Provinzialstände (Frkr., états provinciaux)  394, 467, 479, 495 Prozeßhansel, Prozeßfreudigkeit  337, 460 prudenza  609 f. Prüm  350, 354, 359, 539 Psychologie  56, 71, 74, 76 Publikation der Kapitularien u. Reichsgesetze  315, 369 f. Publikationen, aufklärerisch –– Dt. 453 –– Frkr.  497 f.  Publizist, hier Ausbildung zum P. s. bei Ausbildung  „Publizistik“ als Öffentliches Recht  372 f. „Publizistik“ im abs. Staat (Staatsrecht)  515 f. „Publizistik- u. Kommunik.wiss.“  684, 694 Publizistik, auch Defizienz der P. (s. a. Rhetor, Rhetorik; Öffentlichkeit; Sprache und …)  368–373, 671–673, 675–677, 681, 686 f., 690 Publizistikgeschichte im System d. Wiss.  77 Publizistikwissenschaft (s. a. Zeitungswiss.; s. a. die defizienten Ausprägungen „Kommunikationswiss.“ u. „Medienwiss.“)  683, 690 –– Name –– „Publizistik“ 673–677 –– „Publizistik als Wiss.“  675–677 –– „Politik- u. Kommunik.wiss.“  676 f. –– „Publizistik- u. Zeitungswiss.“  676, 694 –– Gegenstand 678–691 –– Methoden 692–695 –– Position im System der (Human-)Wiss.: Sozial- weil Humanwiss.; nomothetisch  77, 695–697; 697 –– Selbständigkeit  690, 697 –– Erkenntnisziel 698–703 –– Gliederung  703 f. –– Bedeutung für Politikwiss. an Univ. Darmstadt  671 f.  Pyrenäen-Friede 484

Quadrivium s. artes liberales  quaestur, Quästoren (Rom)  593 Qualifikationen (der Anführer)  594 Qualitäten (der Anführer)  607 Quantifizierung, quantitative „Methode“  42 f. Quedlinburg 541 Quellen, -editionen, -kritik, -lage  45, 52–54 Quentowik 540 Quierzy 356 –– Reichstag 350 –– Reichsversammlung  324 f., 345  Quotenwettbewerb 669 Rache  208–216, 246, 141, 384 Rachinburgen 336 Radio-Carbon-(14C-)Verfahren 43 Rang/Würde, Rangunterschiede im Gemeinwesen  140, 147, 305, 308, 600 f. „Rat“  442, 512 f. Rat, Ratsherren, städt. (s. a. Gilden; Zünfte)  549 f., 557 f. Räterepublik 584 Rationalität 245 Ratsfähigkeit 550 Ratsstube 397 Ratsverfassung  391, 397, 548 f. Raub  146, 148, 208, 211 Raum-Erschließung 418 Ravenna 403 –– Exarchat  322–325, 413, 527  Ravensburg 554 Recherche  689 f. Recht, altes (auch Bewahrung)  505–507 Recht, Herrscher als Quelle des R.  507 Rechtsfriede  507 f. Rechtsgeschichte im System der Wiss.  77 Rechtsgleichheit s. Gleichheit vor dem Gesetz  Rechtskodifizierung  210 f., 214 f. Rechtsprechung 307 Rechtsstaat  460, 606, 652 Rechtsunsicherheit 386 Rechtsverständnis (germ.; röm. Kaiserzeit; Karl d. Gr.)  347, 369 f., 384 „Rechtswegstaat“ 460 Rechtswissenschaft –– als „Nachbardisziplin“ der Politikw.  73 f., 88 

Sachregister –– im System der Wiss.  77 Rechtswissenschaft, methodische (Athen; Rom) 653 rede/(die) ge-rede/heim-ge-rede/heimrat  154 „Redekunst“ (Rhetorik)  674 f. Redlichkeit, intellektuelle  689 Re-education to democracy  27 Reformation  429–432, 435, 444 Reformen (österr. Länder)  416 f., 450, ­456–459 Reformfähigkeit u. -versuche (frz. Staat)  478, 492–496, 498 Reformfähigkeit, kath. Kirche (s. a. Konzile)  472 Reformierte  430, 434, 446, 457, 473–475, 487 Regalien s. Reichsrechte Regelhaftigkeit/Ablaufregelhaftigkeit 49, 51, 62, 67, 75, 80 f., 608, 698 Regensburg  264, 388, 541, 552 –– Reichstag  432 f., 443, 448–450  Regierung, gute  610 Regierungsbehörden/Regierungsapparat –– Italien 404 –– Frkr. 463 –– Absolutismus (allg. u. dt.)  442, 448 –– Österr.  514 f. –– Preußen 454  Regiment, gutes  505 Regionalplanung  95 f. Regionalverwaltung (Frkr.), Ende 17. u. 18.Jh.  478 f. Registratur 515 Reichenau 640 Reichs-/kaisertreu s. kaiser-/reichstreu Reichsabteien 394 Reichsarbeitsdienst 585 Reichsaristokratie 313 Reichsburgen 396 Reichs-Einheit, -Bewahrung  434, 438 Reichsgerichte (s. a. R.-kammergericht, R.-hofrat)  426, 443 f. Reichsgesetze –– Karolingerreich (Kapitularien)  315, 369 f. –– Hlg. Röm. R. Dt. Nation (s. a. Goldene Bulle)  220, 369, 427, 434 f., 443, 595, 665 –– Röm. Reich  223 

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Reichsgut im frk., dann Hl. R. Reich (s. a. Reichsrechte)  306, 320, 367, 378, 419 Reichshofrat  442, 460 Reichskammergericht  427, 429, 433, 438, 442, 460 Reichskanzler, ab 1871  584 f. Reichskreise  428 f., 436, 443, 450 Reichsland (MA)  378, 380, 396, 419 Reichsmatrikel  426, 428, 436 Reichs-Polizeiordnung s. Polizeiordnung Reichspräsident  584 f. Reichsprotektorat Böhmen u. Mähren  585 Reichspublizistik (Reichsrecht)  25 Reichsrecht, fränkisches (Lex Salica)  s. salisches Recht  Reichsrechte u. -gut in Italien  411, 419 Reichsrechte/Regalien (s. a. Reichsgut)  366, 420 f., 542 Reichsreformbestrebungen  425–429, 436 Reichsregiment  394, 427 f. Reichsritterschaft  429, 451, 624 Reichsstädte  219, 367, 394, 423, 425, 427, 430, 433, 437, 450 f., 499, 624, 641 f., 654 Reichsstände  393 f., 427 f., 430 f., 436–438, 442–444, 624 Reichssteuern  426–428, 433, 437, 625 Reichstag (Dt., seit 1871)  577, 584 f. Reichstag(e) (Hlg. Röm. R.; s. davor Hoftag(e); einz. Orte: Aachen, Augsburg, Diedenhofen, Frankfurt/M., Köln, Nimwegen, Nürnberg, Quierzy, Regensburg, Salz, Speyer, Worms)  146, 315, 328, 339, 350, 370, 394, 410, 427–430, ­432–434, 436, 438, 442 f., 448–450, 503, 624, 660 Reichsunmittelbare 624 Reichsversammlung  328, 340–342, 344 f. Reichsvikar(iat)  338, 405, 414, 433 Reichs-Wehrverfassung, -Aufgebot, -Verteidigung  428 f., 433, 436, 443 f., 450 Reims 305 Reiseherrschaft 310 Reiterheer  317, 320 f., 327, 332, 365 Relativismus 176 Relevanz  47, 52 Religion –– LBK  277 f. –– TBK, EGK, SK  288, 293

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Sachregister

–– Griechen  129 f., 245 –– Kreta  129 f. –– Germanen 293  Renaissance 609 Reparationsleistungen 584 Reparatur an den defizienten Systemen  125, 127, 177, 182, 213, 232, 237, 301 republik. System  583–586 république  497 Res publica  150, 167 f. –– Machiavell 610 Residenzen 519 –– Vorderasien 126 –– Kreta 115 –– Griechenland  117 f. –– weström. Kaiser  133, 309–311, 407, 537 –– R./sedes (Frankenkönige)  304–306, 310–314, 525, 571 –– Frühe Nz.  518 f. –– frz. Könige  310, 486, 518 f.  Residenzstadt  126, 567, 573 „Résistance“ 583 „Restauration“  583 f., 586 „Re-unions“-Kriege  450, 489 f. Revolution  80, 83 –– Frz. von 1789 ff.  492–499 –– Warum keine in Dt.?  460, 569 –– 1848/49 –– Dt. 584 –– Italien 586 –– Nov. 1918  584  Rezipientenforschung  675, 693 Rheinland  303–305, 382 Rhein-Weser-Germanen  135, 137 Rhenser Kurverein  423, 636 rhéō, rhētós, rhḗtra, Rhetor, Rhetorik (s. a. „Redekunst“, „Wohlredenheit“)  24, 105 f., 168, 171–188, 368–373, 671, 673–676, 678, 702 Rhetorenschulen (Rom)  639, 644 Rhetra, die Große  125, 592 Ribémont 352 „Richerzeche“ 553 Riga  553, 572 Rijswijk, Friede von  489 f. Ritter, Rittertum, ritterlich, Ritterlichkeit, Ritterheere, R.turniere (s. a. Reichsritterschaft) –– vor dem MA

–– Myk. Griechen  117 –– Gallien 382 –– Rittertum, Entstg. a. d. Reiterheer  317, 320 f. –– Aufstieg a. d. Ministerialität  378–382, 393 –– als Stand  393 –– Ritterbürtigkeit 320 –– R. als Aftervasallen  366 –– Ausbildung z. R.  641 –– Ritterlichkeit  379, 387, 530–532 –– r. Kultur  380, 641 –– Turniere 574 –– Kge./Ks. als Ritter  534 –– Nachahmung d. Bürgerliche  552 f. –– Ritterheere  320, 411, 437 –– R. als Fehdeführer  387 –– „Ritterbund“  535 f. –– Ablösung d. Söldner  320, 382, 437  „Ritterakademien“  647 f. Robertiner/Rupertiner  357, 461 Rodung 539 „Rolandslied“ 607 Rom, Römer, Römisches Reich, römisch (s. a. Ostrom; Westrom; spätrömisch; Rom (Stadt); gallorömisch; provinzialrömisch; Kirche, röm.; Kirchenstaat; patricius Romanorum; römisches Recht; vorrömisch)  22, 49, 62 f., 132 f., 135, 137–140, 144–149, 162, 164–167, 169, 172 f., 184, 189, 191, 196, 202 f., 207 f., 210 f., 213 f., 216, 222–224, 229 f., 247, 275, 301–316, 318 f., 333 f., 336, 347, 363, 368 f., 375, 384, 390 f., 394, 398, 403, 426, 521 f., 524 f., 530 f., 537, 539 f., 542 f., 555, 571, 574, 588, 591–593, ­596–600, 606–609, 614 f., 619–622, 630, 633, 638–640, 644, 653 f., 656 f., 666, 674 Rom, Ruma, Römer (Stadt)  133 f., 162, 164–167, 184, 186, 207 f., 211, 219, 222, 301 f., 305, 309 f., 313, 315, 322–325, 330, 344, 353, 360, 403, 408–411, 430, 457, 465 f., 542, 592, 601 (Univ.), 608, 614, 622, 639 f. Römerbrief 614 römischer Bischof s. Papsttum  römischer Einfluß auf Germanen  140, 368

Sachregister römisches Heer  308, 316, 318 römisches Recht  211, 214, 305, 330, 404, 427, 464 f., 502, 639 Römisches, von Franken übernommen  304–311, 314 f., 318 f., 331, 334 Ronkalische Beschlüsse (a. d. R. Feldern)  411 „Rosenroman“ 533 Rössener Kultur (RK)  289, 295, 301 f., 312 f. Rothenburg o. d. T.  396 Royalismus (Frkr.)  583 Rücksichtslosigkeit gegen eigene Bevölkerung (Frkr.)  481 f. Ruhm u. Ruhmsucht, Prestige (Frkr.)  465, 480, 482, 486, 492, 496 f., 507, 512 Ruhm und Rang durch u. a. Mäzenatentum (ital. Stadtstaaten)  503–505 Ruin der Wirtschaft (Frkr.)  482, 486 Rundfunk  688 (öff.-rechtlich), 688 (privat) Runen 137 Rußland  80, 99, 116, 264, 266, 273, 290, 388, 440, 450, 584, 591 Saal im Wohngebäude d. germ. Anführers   148, 311, 313, 520, 522, 564, 570, 573 Saarbrücken –– Grafschaft 451  –– Stadt  151, 221 Saargauer Hochgerichtsbezirk  393 Saargegend, Saarland (s. a. Bliesgau)  151 f., 154 Sacco di Roma  430 Sachkenntnis, Sachkunde, Sachverstand  176–180, 187 f., 502 Sachsen, sächsisch  137–140, 147, 150, 217, 225, 305, 308, 316 f., 321, 327 f., 330 f., 335–338, 350, 352, 355, 360, 362–365, 368, 378, 387 f., 419, 541, 591, 624, 630, 641, 657 –– Könige u. Kaiser s. Ottonen –– Territorialstaaten  24, 416, 424, 429 f., 432–434, 451, 455, 481  „Sachsenspiegel“  150, 388 Sacrum (Romanum/Romanorum) Imperium s. Heiliges Römisches Reich  Salier, salisch, Salfranken –– Salfranken  303, 341, 395

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–– Könige der Salfranken  304, 394 –– salisches Recht (Lex salica)  215, 303, 305, 336, 341, 370, 473 –– Könige u. Kaiser a. d. ostfränk. Adelsgeschl. S.  311, 369, 378, 391, 394, 419, 541, 574, 640 f.  Salon(s)  453, 498, 562–565, 567, 570, 573, 576, 650 Salurn (Etsch)  518 Salz (Elsaß)  370 Salzburg (Univ.)  693 Salzburger Land  208 Salzgebiet, lothr.  540 Sankt Gallen  640 Sanssouci  449, 606 Sarazenen  317, 320, 352, 355–358, 538 Sardinien/Sardinien-Piemont  413, 415, 585 Sarup (Dänemark)  284, 286–288, 292, 296 Satisfaktion 386 Satzung, kommunale s. Einung, komm.  schaffen, schöpfen, schöpferisch, schaben, Schaber, *skap-/*skab-  198–201 Schaftlochaxt s. Streitaxt  Schalk 375 Schenk 377 schenken, Schenkungen, Geschenke  306, 308, 390 Schimpansen der Elfenbeinküste  248 Schlesien  154, 282, 389, 449 f., 584 Schleswig –– Herzogtum 437  –– Stadt 540 Schleswig-Holstein (s. a. Holstein)  267, 282, 395 Schließen, Schlußverfahren  48–51 Schloß 517–519 Schmalkaldischer Bund, Schm. Krieg  430, 432 Schnurkeram. Kultur (SK)  267–270, ­289–296, 298–300 Schöffen, Schöffengericht  221 f., 336, 341, 370, 500, 561, 658 f. Schola Mettensis  640 Schonen  264, 551 Schöningen b. Helmstedt  200, 254 Schreibstube 515 Schrift, frühe Vorstufe  231, 254

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Sachregister

Schriften (s. a. Hieroglyphen; Linear A; Linear B; Buchstabenschrift, griech.)  231 Schriftlichkeit  51, 62 f. Schule von Salamanca  452 Schulpflicht, allg.  454 Schultheiß  341, 548 f., 658 Schulung von … s. Ausbildung zum …  Schutzherrschaft, Schutzpflicht  146, 307, 318 f., 363 f. Schwaben (s. a. Alamannen; Sueben)  143, 154, 316, 335, 337, 355, 360, 364, 525, 536, 601, 641 „Schwabenspiegel“  388 f., 524 schwed. Heer  481 schwed.-protest. Block  480 Schweden  108, 143, 264, 267, 290, 415 f., 440, 450, 480 f., 483 f., 540, 544, 653 Schweiz  137, 143, 149, 157, 218, 283, 340, 393, 421, 536, 563, 586, 625, 677, 704 „Schwellenzeit“ 397 Schwurverbände, -genossenschaften, kommunale (auch „Eidgenossenschaften“; der Kaufleute s. Gilden)  385, 391, 544 f., 547, 549, 551 Second Empire (Frkr.)  583 sécrétaires d’ état  485, 513 Seeherrschaft  475, 496 Seelenheil  505, 507 Seherinnen, Seher  245 Seignorie (Frkr.)  463 f. Selbstbeherrschung  530, 533 f. Selbstbest.recht der Völker  584 Selbstdarstellung (s. a. Show)  669 Selbsterhöhungsversuche s. Erhöhungs- …  Selbsthilfe-Organisation 385 Selbstverherrlichung (auch Kosten)  449, 488 Selbstverwaltung, kommunale  546–549, 557 selig 383 Semiotik 76 Senat (Rom)  592 f., 598 f., 614, 657 Senatoren, röm., im Frankenreich  307 Seneschalk, Seneschall  312, 377 Seniorat 590–594 Sensation 680 Separatinteressen/Partikularint.  33, 37, 320, 446, 517, 577 sergents  378

Serrig (Saar)  518 servi, servientes  305, 376 Seuchen  467, 475, 482, 492 Show  669, 690 Sicherheit, Ruhe  203–205, 506 „Sicherheitsplätze“ (Hugenotten)  475 Sickingen-Fehde  429, 624 Siebenjähriger Krieg  450 Siegesheil  607, 627 Signorie (Italien)  404–406, 413 f. Sigtuna (Schweden)  544 Simonie 408 Sippe  103 f., 139, 143, 208–213, 215, 227, 246, 254, 256, 262, 278 f., 287, 289, 322, 383 f., 544, 578, 592, 613, 627–630, 634, 653 f., 708 f. Sippenheil 383 Sitte –– dt. Wort, Etymologie  210  –– nómos  56, 63 Sittenverfeinerung  530–533, 565 „Sizilianische Vesper“  414 Sizilien (s. a. Normannen; Neapel-Sizilien)  163, 165, 175, 179, 358, 412–414, 585 Skandinavier 591 Slawen, slawisch  109, 163, 166, 169, 317, 331, 359, 362, 591 societas –– ohne Adjektiv  581 –– civilis  399–401, 578 f. –– politica 579 –– publica 579  „Société des gens de lettre“ um Diderot u. d’Alembert 563 Soest  397, 551 Soissons 305 „sola scriptura“ s. Heilige Schrift Söldner, Landsknechte, Söldnerheere  320, 382, 412, 437, 440, 463, 468, 501, 536, 559 Solonische Reformen  127, 213, 237 Sonderrechte (s. a. Privilegien), auch Besei­ tigung  478, 500 „Sonnenkönig“ 490–492 Sophisten, Sophistik  71, 172–181, 183 souverän, Souveränität  391, 402, 441, 443, 445, 499–501, 661 –– Übergang zur Souv. durch Vertrag  500

Sachregister sozial  33, 69 f., 86 f., 519 Sozialforschung, emp. s. Empirismus  Sozialgeschichte, Sozialgesch.wiss. (s. a. Wirtschafts- u./o. Sozialgeschichte)  54 f., 60, 70, 75, 566 „Sozialvertrag“ 661 Soziologie  26, 39 –– als Allg. Sozialwissenschaft  67–71, 74, 76, 519 –– als „Gesellschaftswissenschaft“  26, 68 f., 74 f., 83 f., 519, 577–582, 696 –– Einrichtung von Lehrstühlen an wiss. Hochschulen in Deutschland  26  Span. Erbfolgekrieg  490–492 Spanien  434, 480 f., 490 f. Spanische Mark  340 Sparsamkeit  446, 449 Sparta, Spartaner  123–125, 129, 175, 232, 240, 590, 592, 613 f., 663 f. Spätantike (s. a. spätrömisch)  133, 136–138, 140, 143, 148, 205, 214–216, 221, 303 f., 306–311, 313 f., 318, 334–336, 383, 398–391, 394, 413, 525, 537, 542 f., 571, 574, 591, 607, 619, 635, 639 spätgotisch 553 Spätmittelalter  22 f., 171, 189, 219–223, 310, 319 f., 369–371, 380–382, ­388–391, 393 f., 412, 421–429, 434, 452, 464, 500–503, 507–510, 513. 516–518, 524 f., 535 f., 539, 550 f., 553–562, ­570–572, 574 f., 593, 595, 602, 616, 619, 624 f., 636 f., 641–643, 658, 660, 665 spätrömisch  140, 143, 196, 230, 306 f., 313 f., 318, 336, 363, 367, 383 f., 387, 391, 394, 537, 542, 555, 636 Spekulation, spekulat. „Methode“  42 Speyer  422, 547, 550 –– Hochschule 603 –– Hoftag; Reichstag  422, 430, 433  Spießbürger 511 Spontaneität/Freiheit  44, 51 Sprache  201 f., 248, 254, 704–707 Sprache u. Absprache über die alle angehenden Angelegenheiten in der Öffentlichkeit als das Wesen des Politischen (s. a. Volksversammlung; (Volksvers. als) Gerichtsvers.)  104–106, 150–157, 168 f., 171 f., 187, 198, 201 f., 225–228,

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­244–247, 263 f., 279, 292, 368, 668, 673 f., 686 f. Sprache, Germanen (Gemeingerm., germ. Sprachgruppen; s. a. Indogermanisch) 136–138 „Sprachgeschichte“, „Deutsche“ (Barth)  101 Sprachmaterial, altes  98 „Sprachwissenschaft“, „Allg.“ (Eggers)  101 sprake/sprâchâs/Sprache/Gespräche (s. a. bursprake; rede/(die) ge-rede/heimge-rede/heimrat)  152 f., 155 f., 549 St. Omer  543, 545 Staat, „Staat“, Staatlichkeit (s. a. Beamte; souverän; Untertanen; Bürger; citoyen)  25, 32–39, 52 f., 68 f., 74, 78, 103, 148, 160, 227, 232, 237, 302, 389, 443, 397–519 –– Wort-Bedeutungsgeschichte 398–401 –– Entwicklung zum Staat (It., Dt., Frkr.) 402–499 –– Örter der Entscheidung  512–519  Staats- (Frkr.) –– einnahmen (s. a. Steuererhöhungen u. -senkungen; Ämterverkauf; Anleihen)  463, 474 f., 479, 495, 504, 516 –– führung (L. XIV.)  484 –– kirche (s. a. Gallikanismus)  471–473 –– räson  477, 479 –– verschuldung u. Sanierungsversuche  472, 477–479, 490 f., 493–496  Staatsapparat  647, 650 „Staatsbürger“ 512 Staatsbürgerkunde 27 Staatsentstehung s. Territorialstaaten, deutsche, Entstehung  Staatskanzlei 515 Staatskirche, josephin.  448 Staatslehre  26, 31, 73, 100 Staatsräson, allg.  503, 506, 610 Staatsrat 477 Staatsrechtslehre  25 f., 31, 74 Staatswissenschaft(en)  24 f. Staatszweck 503–508 städt. Selbstverwaltungsrechte  458, 463 f. Stadtbürgertum 382 Stadt, Städte (s. a. civitas; Landstädte; Hanse­städte; Reichsstädte)  223,

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Sachregister

2­ 29–231, 238–240, 365, 388, 391, 393 f., 396 f. –– Entwicklung, Neugründung, Förderung (MA)  537–542, 545–548  Städtebünde (s. a. Hanse(n))  543 Städtegründung, -förderung (Dt.)  419, 454 Städteplanung (Ital.)  414 Stadtherr, -herrschaft  403, 410, 537 f., 541, 546–548, 556 f. Stadtrecht  540–542, 545–548 Stadtstaaten, Stadtstaatenbildung (Italien), allg.  404–407, 410–415, 417, 503, 538, 547 Stamm  240, 246, 384 Stammesaufgebot (zum St.hzgt.)  362 Stammesgebiet 351 Stammesherzogtümer s. bei Herzog  Stammesrechte  303, 305, 330, 367, 370, 388 –– germ. 220  Stammesverband, Stamm (Franken)  303–305, 316, 336, 361, 366 Stand, Stände, Standesunterschiede (auch Überwindung; s. a. Reichsst.; Landst.; Generalst.; Provinzialst.; Dritter Stand; Bauern als Stand; Adel; Adels-„Stand“) –– als (Zu-)Stand  398, 400 –– Stand/status i. S. v. ordo  143, 145, 219, 293, 305, 319, 331, 335, 339, 346, 374, 376, 381, 392–394, 401 f., 441, 427, 443, 445, 468, 511, 528, 531 f., 550 f., ­563–567, 593, 599, 620 Ständefreiheit  438, 447 f., 463 f. stásis  213 Statistik –– als (urspr.) frühneuzeitl. Staatskunde  24 –– im Verständnis von heute  54 –– statistische „Methode“  42 f.  stato, lo  400 status  319, 398–401 Staufer, staufisch, Stauferzeit  311, 394, 396, 419–421 Stehendes Heer  433, 440, 443–445, 448 f., 471, 478 Steiermark 421 Steingeräte der Altsteinzeit  199 f. Steinheim a.d. Murr  250 Steinkistengrab  110 f., 114, 291, 299 Steuer (Frkr.)

–– -bewilligung  465, 467 f. –– -erhöhungen (u. -senkungen)  466, 468 f., 472, 479, 482 f., 486  Steuer auf gr. Vermögen (Florenz)  504 Steuern (Dt.) s. Reichsst.; Landesst.  Steuerpflicht des Klerus  458 (Österr.); 465, 494 f. (Frkr.) Steuerprivilegien, Beseitigung (Mailand, Toskana) 416 Stichbandkeram. Kultur (StBK)  280 Stift (Adels-St.)  554, 556 Stiftungen, Stiftungsrecht  92 f. Stimme als Medium  678 stiure/Steuer (als ursprünglich Ehrengabe)  132, 146 Stoa 606 Stralsund 553 Straßburg  424, 430 f., 450, 488–492, 516, 554, 557, 593, 642 „Straßburger Eide“  351 Streikrecht (dt. Beamte)  502 Streitaxt  108–110, 114, 267, 282, 290 f., 298 f. Streitwagen 116–118 „Strukturen“  51, 65 f. Stube (s. a. „Herrenstube“; „Trinkstuben“)  575 „Stückwerks-Technologie“ 87 stumm/tumb  214, 532, 572, 576 Stuttgart (FH)  677 Subjekt 510 Subjektivismus  175 f. Subsidien  440, 449, 479 f., 488 Suburbien  391, 540, 546 Subventionierung fremder Kriege im frz. Interesse (s. a. Subsidien)  482 Sudetenland 585 Sueben, Sweben, suebisch (s. a. Alamannen)  137 f., 143, 304, 343, 620 Sühne, Buße  141, 210–216, 384, 386 Supranationale Politik  96 Suprematie (-Anspruch/-Streit; s. a. ­ Primat-A.)   310, 372, 410, 465, 636 Sutton-Hoo (Engld.)  526 Swanscombe (Engld.)  250 synthetische Beschreibung  45 f. System der BRD  95 f. System der Wissenschaften  582 Systeme als Bez. f. Gemeinwesen  103

Sachregister Systemkonzeption; Systemtheorie  193–195, 580 f. Systemveränderung s. Defizienz  Systemvergleich 96 Tagelöhner  559, 561 tagós  120 f. Talheim b. Heilbronn  206 tanistry, law of  592 táphos  111 Tat (Größe der)  34 f. Täuschung  46, 179, 201, 689, 693, 698 f. Technik 56–58 technolog. Disziplinen  57, 59 „Teilöffentlichkeit“ 369 Teilungen (Reichs-T., R. der Franken (u. Langob.))  315, 329 (R.einung), 347, 350–352, 371 (R.einheit) témenos  120 Tempel (Kultstätte) –– Griechenland  129 f., 296 –– Röm. Reich und MA  542  „Tempel“ (Loge)  566, 576 Templer-Orden (tempelherren gesellschaft)  464, 466, 535 Tencterer  595, 620 Terra ferma  412 f. Territorialstaaten, deutsche –– Entstehung u. Ausbau  417–421, 434 f.  Territorium, Territorialisierung, Territorial­ staat, -hoheit, -fürsten  382, 385, 391, 396, 595 f., 624 f., 647–649 Tetrarchie 310 Teutoburgiensis, Saltus …  229 f. Teutonen 208 teutsche gesellschaft (Dt. Ritterorden)  421, 535 „Theater-, Film- u. Medienwiss.“  677 Theben  112, 114, 117 Theologie  73, 76 Theorie  41, 49 f., 85–87, 174, 587–589, 673 –– der Politik  19, 38–40, 84, 95, 97, 167, 204, 240, 383, 510, 606, 628, 637 Theoriebildung  698 f. Theoriengeschichte 96 Thespiai 128 Thessalien  108–110, 117–120, 125 f., 240, 295, 298, 613

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Thing/Ding, ge-ding  149–151, 155 f., 220, 336, 340–342, 370 Thorn 553 Thrakien  110, 298 Thronfolge (Frkr.)  461, 466, 472–476, 482 f., 492 f. Thüringen, Thüringer  137, 305, 315 f., 352, 364 f., 368, 648 Tiel  540, 543 Tier-Mensch-Übergangsfeld  248 f. tiers état  219 f., 394 Tirol  393, 441 Toleranz 607 Toleranz, konfess.  446 f., 457 f., 474 Topik  45, 79, 588 Toskana (Großherzogtum)  415–417 Totenritual  285, 295 f. Tournai/Doornik  304, 540 Tours  527, 640 „Tres faciunt regulam“  49 Treue, Treuepflicht, Treueid (s. a. Getreue; kaiser-/reichstreu)  146, 148, 307, 319– 321, 336, 363, 366 f., 371, 390, 436, 465, 614, 639 treuga Dei  387 Trichterbecherkultur (TBK), Trichterbechergruppen  270, 282–287, 289–296, 298 f. Tridentin. Reformen (s. a. Konzil von Trient) 431 Trier  307, 310 f., 372, 537, 543, 547, 552 –– Univ. 677  „Trinkstuben“  553 f., 560, 575 trivium s. artes liberales  Trobadors  527, 530 Troia (s. a. Ilion/Ilios)  105–107 trojan. Krieg  106 f., 113 f. Trouvères  527, 530 Truchseß 312 Tübingen (Univ.)  675 Tübingen „Coll. illustre“  648 Tübinger Stift  648 Tuchhalle 574 Tüchtigkeit  592, 605 Tugend (aretḗ) 38 Tull/Toul  391, 409, 433, 547 tumb/dumm/stumm/stumpf  532, 572, 576 Tumuli (s. a. Grabhügel)  110 f., 114 Tungrer 135

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Sachregister

Türkengefahr  430, 489 Türkenschatzung 625 Turmburgen  395 f. Turmhügelburgen (Motten)  395 f. Turniere  533, 552, 554, 574 týmbos  111 Typen der Legit.prinzipien  587 f. Typen, Typologie  75, 78, 81 „Tyrannei Richelieus“  482 Überkonfessionalität 567 Ubier 620 Uchtelfangen (Saarld.)  500, 509 Ulm  157, 218, 273, 425, 430, 510, 550, 554 Ultramontane 476 Umbrer 164 „Umstand“  150, 221 f., 336, 341 Umwelt 252–254 unabhängige Rechtssprechung  455 Unabhängigkeitskrieg (nordamerik.)  495, 497 UNESCO 31 unfrei, Unfreie, Freiheitsverlust s. bei frei,…  Ungarn  317, 359–362, 364 f., 385 ungemein s. gemein  Ungleichheit s. Gleichheit …  „Union“ (prot. Militärbündnis)  438 unitar.-zentralistisch (Frkr.)  583 f. „Universalgeschichte“ (s. a. Gesamt­ geschichtswiss.) 74 Universitäten (s. a. einzelne Orte)  648 f. Universitätsgründungen  425, 430 unpolitisch  37 f. Unruhen, Aufruhr, Aufstände (Frkr.), auch Unterdrückung  440, 459, 466–469, 473 f., 479, 482 f., 495 Unsicherheit im Karolingerreich  349, ­353–357, 385 Unsicherheit in Frkr. (U. des Rechts, U. für Leib u. Leben)  475 Unterdrückung krit. Äußerungen  516 Unterhaltung in publ. Medien  680 Unterschicht –– dörf1. 561  –– städt. 548 Untertanen  366, 443, 446, 460, 483, 486, 508–510, 512, 519, 565 Untertanenverband  366, 508 f. Urbanität 414

Urbar 377 Urgeschichte/-gesch.wiss. (s. a. Vorgeschichte) 62 „Urgesellschaft“ 245 Urkunden, hist.   25 Urnenbrandgräber  119, 163 Urnenfelderkultur, -wanderung  119, 163 „Urzeit“ 245 USA  583–586, 651 Usipeter  304, 620 Utrecht 640 Val Camonica (Lomb.)  164 Valenciennes  540, 543 Valois (Haus V.)  357, 461, 466 f., 471, 473 f. Valvassoren  378, 407 f. Vandalen s. Wandalen  Vasall, Vasallität (s. a. Aftervasall)  319–321, 338 f., 360, 363 f., 366 f. –– Mehrfachvasallität  320, 367  Vatikan 440 Venedig  412 f., 658 Veneter 163 Verallgemeinerung (s. a. Allgemeinbegriffe; allg. Aussagen)  82 Verbesserungsvorschläge (d. Aufklärer)  497 Verdun  433, 540 Verdun, Vertrag von  349, 351 Vereine  566 f. vereinfachen 43 Verelendung als Kriegsfolge (Frkr.)  482, 492 Verfahren zur Material-, Datengewinnung  43 f. Verfassungsgesch.wiss. 25 Verfassungslehre 100 Verfassungsrecht (s. a. Stammesrechte)  370 vergleichen, „Vergleichende“/„Allgemeine“ Wissenschaften  65 f., 80, 82 f. Ver-heerung  316 f., 475, 482, 484, 489 Verkehrsnetz 455 verkünden s. bekanntmachen  Vernunft als Kriterium, Vernunftbegründung  452, 456 f., 632 Verona  403, 643 Versailles  449, 483, 486 f., 492 f. Versammlungsplatz (s. a. Volksversammlung)  263 f., 289, 291 f., 296 f.

Sachregister Verschwendung  468, 483, 486, 493, 495, 504 Versorgungskrisen 584 verstehen  45, 52, 75 Versuch, Versuchsbedingungen (s. a. Experiment)  46, 49 Verw. gesch. wiss.  25 Verwaltung  400, 412–414, 416, 419, 434, 441 f., 445–451, 478 f., 502, 515 Verwaltung, burgundische  24 Verwaltungslehre, -rechtslehre  25, 451, 648 f. Verwaltungssystem, spätröm.-zentralist.  305, 307 f., 311 Verwaltungswissenschaft 100 vici  540 Vic-sur-Seille/Wich/Weich a.d. Selle (Lothr.)  480, 540 Viehwirtschaft  113, 118, 147, 306 f. Vielfalt in der Publizistik s. Monopol …  Vielvölkerstaaten 584 „vier Wände“ (die …)  227, 278 villa rustica u. villa urbana  312, 522 (v.r.), 525 Villikation, Villikationsverfassung  377, 560 virtuoso  610 Vögte, Vogtei (auch Kirchenschutzvogtei)  338 f., 364, 378, 380, 418 f., 421, 548 f. Volk (des Volkes Urteil)  346 „völkische“ Bewegungen  584 Völklingen/Saar  151 f. Volksaufgebot (Heinr. I.)  365 „Volksführung“  675, 679, 700 Volkssouveränität  372 f., 417, 497 Volkssprache  530, 565 volkssprachl. Kultur  641 Volksversammlung (s. a. Agora; Thing; (Volksvers. als) Gerichtsversammlung)  104–107, 113 f., 121, 124–129, 138–142, 149–155, 157, 162, 166, 169, 171, 173, 225 f., 230, 234 f., 244 f., 247, 292, 297, 301, 305, 321 f., 324, 327–330, 333, 340 f., 343–347, 368, 384, 655, 689 –– ausdrücklich als Vers. der Wehrfähigen/ Heeresvers.  106, 121, 124, 138–142, 149, 169, 297, 305, 321, 327, 330, 333 Volksvertreter  328, 651 Vollberechtigung, bäuerl.  560 f. Volljährigkeit  593 f.

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„Vollkommenheit des Lebens“ als Ziel d. Politik od. Herrschaft  89 Volontariat  699, 702 volonté générale  662 Vorgeschichte, Vorgesch.wiss. (Vor- u. Frühg.wiss.; s. a. Urgeschichte)  107–111, 113–117, 119, 125 f., 133–137, 140, 148, 151, 163 f., 169 f., 199 f., 206 f., 215, 221–223, 228, 231, 247, 253–301, 304, 309, 318, 395 f., 518, 522, 526, 537, 555, 664 –– Begriff u. Verfahren  43, 63, 72, 75, 98, 101 f., 125 f., 202  vorrömisch  62, 555 „Vorsokratiker“ 97 Vosagus, Wasgenwald, Vogesen  152 Waffenrecht u. -pflicht  333, 393 Wahl  367, 592, 629–631, 634, 636, 651 f., 663–667 Wahlanalysen 84 Wahrhaftigkeit 671 Wahrheit 689 Wahrscheinlichkeit/W.-Rechnung  50 f., 73 Walternienburger Gruppe  292 (w)ánax  122 Wandalen 591 Warf  150, 228 Warndt 152 Wehrpflicht (s. a. Heerfolge)  305 Wehrtürme, adlige (in Städten)  538 f., 552 Weimar  250, 567 Weimarer Republik  23, 26 f., 584 f., 602 Weißer Berg (Schlacht am)  439 Weistum  156, 220 Welfen, welfisch (s. a. Guelfen, guelfisch)  348 Weltanschauungslehre (NS-)  98 Weltkrieg im 18. Jh.  450 Werbung  676, 680 Wergeld  212, 215 Werk, ver-wirklichen  88, 181, 196, 198 f., 201 f., 597, 604 Werkzeug  199 f., 248, 252 f. Westerrich/Westerreich 536 Westfalen 536 Westfälischer Friede  440, 442 f., 483 f., 491, 500

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Sachregister

westfränk. Reich  316, 345, 351–358, 361 Westgoten, westgotisch  140, 215, 305, 308, 315, 334, 390, 523, 554 f., 571, 639 „westisch“ (Neolithikum)  295 f. Westrom, weströmisches Reich  305 f., 310 f., 387, 391, 394, 402, 407, 537, 555 Wetterheil  607, 627 Wetzlar 541 Wich/Weich a.d. Selle/Vic-sur-Seille (Lothr.)  480, 540 Widerstandsgruppen (s. a. „Résistance“)  583 f., 586 Wiederaufbau nach 2. Weltkrieg  585 Wien  449, 534 –– Univ.  425, 676, 682  „Wike“  540 f. Wilhelmshaven (Hochschule)  694 Willkür von …, willkürlich  609 f., 620, 650 Willkür von Beamten, Bestechlichkeit von Richtern in Griechenld., Frankenreich (s. a. Mißstände i. städt. Regiment (MA))  128, 339, 342 „Will-kür“-Recht, „Willküren“ (städtisch)  548, 559 Wilson-Doktrin 584 Wilusa  106 f. Windische Mark  421 Wirklichkeit statt nur Verfassungstext  31 f. Wirkung, W.forschung  678–681 Wirtschaft, spätröm.-fränk.  306, 308 Wirtschafts- und/oder Sozialgeschichte  25, 64, 77 Wirtschaftsförderung, -lenkung, -dirigismus (s. a. Merkantilismus)  448, 451, 454 f., 485, 583, 585 Wirtschaftskrisen 583–586 Wirtschaftsweise –– LBK  207, 271–273, 279 f. –– west- bzw. ostindogerm. Gruppen  266 –– TBK 282 –– Griechenland  114–120, 134. 241 –– Italiker 164 –– Germanen  146 f.  Wirtschaftswissenschaft(en) (auch als „Nach­bardisziplin“)   21, 57 f., 73 f., 88, 100 Wissenschaftsgeschichte  57 f., 61

Wiss.geschichte d. Pol.wiss.  22 f. Wiss.geschichte d. Publ.wiss.  704 Wittelsbach (Haus W.)  649 Wittenberg (Univ.)  429 Wohl, „wahres“/„wohlverstandenes“  662, 665 f. „Wohlredenheit“ (Rhetorik)  674 Wohlstand u. Steuersenkung (Zusammenhang)  503 f. Wohlstand/Wohlfahrt, gemeine, als Ziel der Politik, der Herrschaft (s. a. Gemeinwohl)  33–35, 38, 89 f., 446, 505–507 Worms  221, 350, 372, 395, 540, 547, 556, 607 –– Hoftag; Reichstag  328, 365, 410, ­427–429, 503 –– Reichsversammlung 354  –– W.er Konkordat  387 –– W.er Reichsmatrikel  427 f. –– W.er Edikt  429 f. Würde der Menschen  44, 232 Würde/Rang s. Rang/Würde  Württemberg 648 Würzburg  391, 419 Xanten 537 Zähringer 418 Zeitgeschichte, Zeitgeschichtswiss. (s. a. Frühe Neuzeit; Neuere Geschichte)  22, 26–37, 40 f., 61, 72, 79–103, 191, 569 f., 577, 583–586, 594, 602–604, 611, 628 f., 640, 651 f., 658 f., 664, 669–673, ­675–689, 691–700, 702–705, 708 –– Begriff  53, 63, 75  Zeitungskunde  675, 679, 683, 700 Zeitungswissenschaft  675, 679, 681, 683, 700 „Zeitungswissenschaft“ (Fachzeitschr.)  676 „Zeitzeugen“ (auch Gefahren bei Auswertung als Quellen)  53 zeltartige Behausungen  253, 259 Zeltbespannung 253 Zensur 516 Zentralisierung  402, 413, 441 f., 447–449, 466, 471, 477, 502, 513–515 zentralistisch  583 f.

Sachregister Zentralorte –– LBK  277 f. –– MK 288 –– spätneolith.  291 f.  Zentrierung auf den Herrscher  402, 441 f., 448, 466, 484, 502, 513 f. zentrifugale Bestrebungen  418 Zerfall d. karoling. Reiches  342 f., 345, 347–359, 385 Zins-Einnehmer 377 Zinshofverfassung  377, 560 „Zirkelgesellschaft“  553, 572 Zölibat 408 Zoll  541, 546 Zöllner 377

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Zoologie  61, 76 zṓon polītikón (s. a. animal ­sociale)  37, 40, 68 Zunftzwang  416, 495, 557, 575 Zünfte  404, 545, 549, 554–559, 575 Zunfthaus 575 Zunftwesen, Entwicklung  556–559 Zürich (Univ.)  677 Zustand s. Stand/Zustand  „Zwangsläufigkeit“ in der Geschichte  498 f. Zweiter Weltkrieg  583–586 Zweites Kaiserreich (Dt.; Frkr. s. Second Empire) 584 zwinglianisch  429–431, 434, 472, 563 Zwölftafelgesetz (Rom)  211