Von der Natur der Politik und ihren Formen: Kleine Schriften. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll [1 ed.] 9783428558476, 9783428158478

Neben seinen Büchern wurden von Tilo Schabert in den vergangenen fünfzig Jahren zahlreiche Buchbeiträge und Artikel für

158 114 4MB

German Pages 460 [461] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Von der Natur der Politik und ihren Formen: Kleine Schriften. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll [1 ed.]
 9783428558476, 9783428158478

Citation preview

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 197

TILO SCHABERT

Von der Natur der Politik und ihren Formen Kleine Schriften Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll

Duncker & Humblot · Berlin

TILO SCHABERT

Von der Natur der Politik und ihren Formen

Beiträge zur Politischen Wissenschaft

Band 197

TILO SCHABERT

Von der Natur der Politik und ihren Formen Kleine Schriften

Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-15847-8 (Print) ISBN 978-3-428-55847-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Zeit ist in der Wissenschaft ein Erlebnis von Überraschungen. Man plant in die nähere, in die weitere Zukunft hinein, mit einem Vorhaben forschender Art. Etwas soll aufgeklärt werden, und das Projekt soll in der dafür veranschlagten Zeit auch durchgeführt werden. Ist man erfahren und dazuhin unabhängig genug, mag man sich einen gänzlich offenen Zeithorizont einräumen. Aber dann kann es sehr wohl so sein, dass die Zeit nicht mitspielt, und sich mit ihr zeigt, dass man zu viel von ihr schon verloren hat, und es an der Zeit ist, einen Schluss zu machen, sei es ohne Ergebnis, sei es mit einem auf vertretbare Weise eingeschränkten Ergebnis. Zu einer Praxis von Wissenschaft gehört denn ganz wesentlich die Technik einer Zeitökonomie. Das ist gewissermaßen eine eigene Disziplin, die der praktizierten wissenschaftlichen Disziplin sowohl vorausgeht wie auch innewohnt. Man muss ihr gehorchen, will man beim rhythmischen Geschehen zwischen Forschen und Mitteilen des Erforschten zu etwas kommen. So kann man nicht immer zu allem, was einen in der Wahrnehmung seiner Wissenschaft beschäftigt, gleich ein Buch schreiben. Im Sinne der besagten Disziplin bietet sich stattdessen das Abfassen von Artikeln an. Und man erfährt, dass das Gebot der Zeitökonomie befreiend sein kann. Denn in all der Zeit, in der man Zeit mit der Wissenschaft verbringt, fällt einem immer wieder dies oder jenes auf, dem forschend nachgegangen werden könnte oder gar sollte. Solche Überraschungen stellen sich meist gerade dann ein, wenn man über einen bestimmten Gegenstand arbeitet und sich dabei unvorhergesehen in thematischer Hinsicht etwas auftut, das einen packt. Jetzt diesem nachzuforschen, geht aber nicht, so sagt das Gebot der Zeitökonomie. Aber hat man sich nicht mit diesem Gebot angefreundet, und mit ihm die Überraschungen, die Forschen ständig mit sich bringt, in ein zeitlich gebändigtes Arbeiten, in der Form eben nicht von Büchern, sondern von Artikeln eingebracht? Diese Erfahrung einer schöpferischen Bändigung stellt sich indes allein nach einer längeren Zeit des Umgangs mit Wissenschaft ein. Man kann zurückschauen auf die „kleineren Schriften“, die neben den gegebenenfalls veröffentlichten Büchern das besonders Interessante darstellen: den Umgang mit dem Erlebnis von wissenschaftlichen Überraschungen. Die Überraschungen haben sich offenbar eingefunden. Aber was zeigt ihre Folge?

VI Vorwort

Im vorliegenden Fall hat der Herausgeber dieses Bandes, Frank-Lothar Kroll, mit der von ihm vorgenommenen Gruppierung und Anordnung einzelner meiner Schriften einen von diesen offenbar gebildeten Kreis einander zugehöriger Artikeln veranschaulicht, der mich, ihren Autor, gewissermaßen belehrt. Ich sehe durch ihn, was ich zuvor so nicht gesehen hätte. Das ist das Erste und Wichtigste, wofür ich Frank-Lothar Kroll zu danken habe. Mit hoher hermeneutischer Kunst hat er sich in Arbeiten, die ich zwischen 1978 und 2015 veröffentlicht hatte, hineingedacht und ihre inneren Zusammenhänge wie auch die ihnen jeweils eigenen Akzente deutlich gemacht. Ich möchte ihm weiterhin dafür danken, dass von ihm überhaupt der Vorschlag zu diesen „Kleinen Schriften“ ausging, er mich damit, ja wirklich, überrascht hat. Dem folgte ein enormer zeitlicher und editorischer Einsatz für die Aufbereitung all der Texte auf ein Manuskript hin, das dem Verlag zur Drucklegung übergeben werden konnte. Ich wurde kontinuierlich über den Fortgang seiner Arbeit von ihm unterrichtet, und wusste, dass Hinweise, die ich das eine und andere Mal geben konnte, stets willkommen waren. Auch diese Zusammenarbeit, in einem mehr und mehr freundschaftlichen Geist, war sehr wertvoll für mich. Alle Texte habe ich, bevor ich sie Frank-Lothar übergab, durchgesehen, zumeist auch überarbeitet, mit weiteren Angaben in den Anmerkungen ergänzt, und, wenn ich sie ursprünglich in englischer oder französischer Sprache verfasst hatte, ins Deutsche übertragen. Dr. Florian R. Simon, Verleger von Duncker & Humblot, danke ich für seine konstruktive Aufnahme des Buchprojekts und für die Gespräche, zu denen er mich im Zusammenhang mit dem Projekt empfing. Die Herstellung des Bandes lag in den Händen von Frau Heike Frank. Ihre kompetente und effiziente Arbeit habe ich dabei schätzen gelernt. Ihr gilt ebenfalls meine Anerkennung. Baierbrunn, im September 2020

Tilo Schabert

Inhalt I. Politische Theorie Über den Wert und die Bedeutung von Politik. Die Bürgerschaft der politischen Akteure  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Macht, Legitimität, und Wahrheit: Über das Problem, Begründungen politischer Ordnung zu begründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die reale Natur von Regierungen: Ausbildungen von Macht in konstitutionellem Gewand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Das Projekt Demokratie. Die Freiheit und ihre Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Wider die Allmacht des Parlaments. Die Verfassungstheorie von Michel Debré . 45 II. Politische Philosophie und Ideengeschichte Prophetische Politik. Ein Thema im Denken Platons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Chaos und Kosmos: eine Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Im Netz der Kulturen und Zivilisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Eine patriotische Rede über den europäischen Körper  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Das Paradies in der Politik. Ein Kapitel negativer Kosmologie . . . . . . . . . . . . . . 105 Die Stadt der Politik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Wie werden Städte regiert? Wissenschaft und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 III. Eric Voegelin – Persönlichkeit und Werk Die Werkstatt Eric Voegelins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Zu einer Brücke zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein hin: Die Sprachen Eric Voegelins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Die Vorlesungen von Eric Voegelin an der Universität München im Sommersemster 1964 „Hitler und die Deutschen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

VIII Inhalt IV. Atlantische Brückenschläge Die Atlantische Zivilisation. Über die Entstehung der einen Welt des Westens . . 231 Das Experiment mit Macht und Freiheit. Die zweite Gründung der USA vor 200 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Die Freiheit im Labyrinth. Amerikanische Wahlkämpfe sind chaotisch und schöpferisch zugleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Im Namen der Freiheit. Wieso wir dringend Eliten brauchen . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Das Paradox der Macht. Anmerkungen zur Regierungspraxis in Washington, Paris, und Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 V. Französische Perspektiven Ansätze zu einer Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich . . . . . . 273 Die stille Revolution. Das politische Frankreich in einer radikalen Veränderung . 297 Die Schneisen zur Freiheit. Frankreich auf dem Weg in die Große Revolution von 1789 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Frankreich und die baltischen Staaten in der Zeit der Präsidentschaft von François Mitterrand 1988–1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Paris – Bonn. Wahrnehmungen aus Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Von einer gewissen Leichtfertigkeit in den deutsch-französischen Beziehungen . . 339 VI. François Mitterrand – Politik und Persönlichkeit Ein klassischer Fürst. François Mitterrand im Spiegel einer vergleichenden Regierungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Ein Schwabe im Élysée. Vom Abenteuer des Forschens in der Innenwelt von Regierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 In der Mitte der Macht herrscht Stille. Erinnerungen an François Mitterrand . . . 389 Das Bezeugen des Präsidenten – die Meisterung seiner selbst . . . . . . . . . . . . . . . 393 Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens. Zwei Gespräche mit François Mitterrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

InhaltIX VII. Begegnungen und Bilder Auf dem Athos strahlt eure Zivilisation! Im Untergrund lebendige Geschichte – ein Gespräch in Thessaloniki über Byzanz und Maastrichts bürokratische Kreuzfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Eine späte und nun lange Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte. Zu den Erinnerungen von Helmut Kohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Roben für Robespierre. Roberto Racinaros Haftgeschichte entlarvt den Tugendterror italienischer Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Sachverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

I. Politische Theorie

Über den Wert und die Bedeutung von Politik Die Bürgerschaft der politischen Akteure Ich wurde zwei Mal in ein politisches Amt gewählt, zum ersten Mal 1964 ins Studentenparlament der Universität München (dessen Präsident ich auch eine Zeitlang war), und zum zweiten Mal 2002 in den Gemeinderat der Gemeinde Baierbrunn (Landkreis München).1 Ich beginne die folgenden Überlegungen damit, von einer bestimmten Beobachtung zu berichten, die ich in beiden Versammlungen machte, als ich deren Mitglied war. Beide Körperschaften gingen aus demokratischen Wahlen hervor, zur politischen Repräsentation des „Volkes“, das heißt einmal dem einer Studentenschaft, und zum anderen dem einer Kommune. Weder an ihrer Zusammensetzung noch am Verhalten ihrer Mitglieder und deren Umgang miteinander fiel etwas auf, das man als außergewöhnlich bezeichnen könnte. Alles geschah und erschien nach dem herkömmlichen Muster – der verfahrensmäßige Ablauf der Beratungen während der Sitzungen, die rechtliche Absicherung von Entscheidungen und Vorgehensweisen, die Sprache, in der Ansichten und Erstdruck in ungarischer Übersetzung in: Tilo Schabert, A politika méltóságáról és jelentősegéről, Budapest: Századvég Kiadó, 2013, S. 7–16; Veröffent­lichung der englischen Originalfassung in: The Second Birth. On the political beginnings of human existence, Chicago: Chicago University Press, 2015, S. 123–129. – Die deutsche, teilweise neugeschriebene Fassung hier wurde vom Autor besorgt. 1  Die Mitglieder des Studentenparlaments wurden in allgemeinen, geheimen und freien Wahlen durch die an der Universität eingeschriebenen Studenten gewählt. Von studentischen Gruppen, die zumeist mit politischen Parteien in Verbindung standen, wurden dafür Kandidatenlisten aufgestellt. Die erste Aufgabe des Studentenparlaments bestand in der Wahl seines Präsidenten und dann in der des „Allgemeinen Studentenausschusses“ (ASTA). Dieser bildete die Exekutive im System der Repräsentation der Studentenschaft, gleich einer Regierung, mit einem Sprecher an seiner Spitze, der die ganze Tätigkeit des ASTA zu leiten hatte und für diese verantwortlich war, sowie mit einzelnen Mitgliedern, die mit der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben – Finanzen, rechtliche, soziale, kulturelle Angelegenheiten – betraut waren. Die finanziellen Ressourcen des ASTA waren beträchtlich. Zur Aufgabe des Studentenparlaments gehörte es, den Haushalt des ASTA zu genehmigen und das Verwalten von dessen Finanzmittel zu kontrollieren. Das so skizzierte System der studentischen Repräsentation war ein Teil der Selbstverwaltung der Universität. Diese war zu jener Zeit rechtlich noch in einer solchen Weise organisiert, dass die Universität eine hohe Autonomie gegenüber der übergeordneten staatlichen Autorität, dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst, besaß.

4

Über den Wert und die Bedeutung von Politik

Urteile ausgetauscht wurden, die Kleidung, in welcher man erschien, die persönlichen Interessen und Vorlieben der einzelnen Mitglieder. Wäre da nicht die institutionelle Funktion gewesen, nämlich ein „Studentenparlament“ zu sein, ein „Gemeinderat“, man hätte keinen Unterschied zu sehen vermögen zwischen dem Leben und Tun der Mitglieder dieser beiden Körperschaften und dem der Menschen allgemein. Aber es gab einen Unterschied. Für sich sichtbar war dieser nicht. Noch war er etwas, das plötzlich entdeckt wurde. Er kam nur allmählich und vage ins Bewusstsein des Beobachters, wie eine Ahnung zuerst, die hervorgerufen wurde durch Wahrnehmungen verschiedener Art. Doch dann geriet diese zu einer Vorstellung, die mehr und mehr Form annahm. Der Beobachter erlebte die Mitglieder jener Versammlungen, und er sah, was ihm das Geschehen einer Metamorphose zu sein schien. Das Übliche an den gegebenen Umständen verschwand natürlich nicht aus seiner Sicht. Er bemerkte indes, dass es den politischen Repräsentanten offensichtlich daran gelegen war, ihrer Tätigkeit in einer besonderen Weise nachzugehen. So als ob sie bei der Wahl in ihr politisches Amt eine Verwandlung erfahren hätten, traten sie jetzt mit Verhaltensweisen auf, in denen sich unzweifelhaft ein entschiedener Glaube an den Wert und die Bedeutung von Politik ausdrückte. Ihre Sitzungen, so schien ihr Verhalten zu sagen, waren für sie auch ein Auftreten auf einer Bühne. Und das lag für sie nicht daran, dass sie sich berieten. Solches taten andere Leute woanders auch. Die Bühne entstand vielmehr durch die Auffassung, die sie offensichtlich von sich hatten. Denn mit ihnen, dies machte ihr Verhalten klar, war eine Figur von Personen entstanden, die sich unter allen menschlichen Gruppierungen durch das Tun besonders heraushebt, dem sie gilt: das ist die Politik. Wann immer die Mitglieder der Versammlungen, von denen hier gesprochen wird, auf der von ihnen geschaffenen Bühne agierten, erschien vor aller Augen was ich die „Bürgerschaft der politischen Akteure“ nennen würde. Und während den normalen politischen Geschäften nachgegangen wurde, war es diese, an der sich für den Beobachter erwies, was es ist, das die Tätigkeit, „Politik“ genannt, auszeichnet. Am Anfang jeder Sitzung musste, beginnen wir mit diesem Beispiel der Anschauung, das Protokoll der vorangegangenen Sitzung genehmigt werden. Das konnte eine trockene Angelegenheit sein, die routinemäßig erledigt wurde. Mitunter indes äußerten Mitglieder der Versammlung Einwendungen bezüglich des Wortlauts an einer bestimmten Stelle des Protokolls oder, wichtiger, der Wiedergabe einer Debatte, die erfolgt war und dessen, was aufgrund dieser entschieden worden war. Der Grund dafür war keineswegs oder allenfalls recht selten eine bloße Neigung zum Murren. Solchen Einwendungen lag viel eher das Anliegen zugrunde, dass die Aufzeichnungen zu den Sitzungen genau, objektiv und vollständig sein sollten.



Über den Wert und die Bedeutung von Politik5

Die sie vorbrachten, bekräftigten damit ganz offensichtlich die Vorstellung von einem genuinen Protokoll, das heißt von aufgezeichneten Worten und Sätzen, in denen die Beratungen und die Entscheidungsfindung der Versammlung ganz zutreffend wiedererschienen. Sie waren offensichtlich der Ansicht, dass politische Repräsentanten mit bedeutsamen Dingen zu tun hatten. Man hatte diese mit Ernst und Würde anzugehen, darüber sollten keine Zweifel aufkommen, noch sollte es jetzt wie auch zukünftig nicht übersehen werden. Man konnte die Mitglieder der Versammlungen auch dabei beobachten, wie sie die gleiche Haltung einnahmen, was die Regeln für den Ablauf ihrer Sitzungen anbetraf. Diese waren natürlich gesetzlich sowie durch die jeweilige Geschäftsordnung vorgegeben. Und wiederum war es so, dass ein Abweichen von diesen Regeln, oder, eher, ein Versuch dazu, nicht unbemerkt blieb. Und dann wurde es umgehend missbilligt. Denn auf das Einhalten der Regeln wurde sorgsam geachtet, und manche wachten geradezu darüber. Manchem Protest lag unzweifelhaft ein gewisser prozeduraler Dogmatismus zugrunde. Aber zu der allgemeinen Sensitivität bezüglich der Einhaltung der Regeln gab es ein anderes und wirklich wichtiges Motiv. Das war das Bestreben, den spezifischen Charakter der politischen Angelegenheiten zu wahren und zu schützen, für den man eine Verantwortung übernommen hatte, als man Mitglied der entsprechenden Versammlung wurde. Erinnern wir uns nur daran, dass im Falle einer demokratisch konstituierten Republik das Wesen des politischen Regimes die Freiheit ist. Und natürlich ist hier die Einhaltung der Regeln besonders entscheidend. Es gibt keine Freiheit, wenn dem Regelwerk, durch das diese begründet und gesichert wurde und wird, nicht die höchste Macht zukommt. Solche gehobenen Gedanken, Lehrern der Politischen Theorie natürlich wohlbekannt, waren vielleicht bei einigen Mitgliedern unserer Versammlungen im Kopf, wenn dort Ermahnungen dahingehend geäußert wurden, dass man sich doch bitte an die Regeln halte, sie achte und würdige, und sehe, dass sie der Schutz gegen jede Willkür und Unrechtmäßigkeit bei der Ausführung der allen in der Versammlung aufgetragenen Angelegenheiten seien. Man musste indes nicht von den angeführten gehobenen Gedanken befeuert sein, um solche Ermahnungen vorzubringen oder ihnen zu folgen. Das Entscheidende war die gewohnheitsmäßige Anerkennung der geltenden Regeln. Den Mitgliedern der Versammlungen schien bewusst zu sein, dass sie selber für die Geltung der Regeln einstanden. Diese waren ihnen als „Höheres“ zwar vorgegeben, aber sie selber, mit ihrer Versammlung – einem Organ politischer Repräsentation – verkörperten ja auch die Regeln. Und demnach wurde die Aufforderung, sich an die Regeln zu halten, nicht selten mit Leidenschaft vorgebracht. Und manchmal sogar in einer Art von Ergriffenheit. Die Regeln beschrieben ganz offenbar ein Sanktuarium.

6

Über den Wert und die Bedeutung von Politik

Zwei Lebenswege und die Wahl des einen davon: statt der Politik die Wissenschaft 1964 dachte ich an einen Lebensweg in der Politik. 2002 konnte ich auf eine Lebensgeschichte als Wissenschaftler in universitären Diensten zurückschauen. Der eine Lebensweg wurde letztlich nicht beschritten. Ein anderer wurde indes verfolgt, den ich überhaupt nicht vorgehabt hatte. Biographisch gesehen unterscheiden sich die beiden Arten von Lebensweg beträchtlich voneinander. Die Wende vom einen hin zum anderen könnte so als eine doch erstaunliche verstanden werden. Ein echter Politiker, würde man dann sagen, ist hauptsächlich nach außen, auf andere Menschen hin orientiert. Ein wahrer Wissenschaftler dagegen konzentriert sich auf sein Werk und lebt deswegen zurückgezogen. Eine Wahl gewinnt man, indem man bei so vielen Veranstaltungen wie nur möglich und dabei vor so vielen Wählern wie nur möglich auftritt. Ein wissenschaftliches Buch dagegen wird kaum abgeschlossen, wenn man sich zu den vielen Mittagessen mit so vielen Kollegen wie nur möglich trifft. Wer, so möchte man zugeben, würde solchen Beobachtungen widersprechen wollen? Indes schließen die zwei so verschiedenen beruflichen Lebenswege, was für eine jeweils ganz andere Lebensweise sie auch auferlegen, keineswegs aus, dass in dem einen wie in dem anderen dem gleichen Streben nachgegangen werden kann. Es gab in meinem Fall tatsächlich keine Wende. Die Politik blieb der Lebenspol, auch nach der Orientierung hin zur Wissenschaft. Nichts änderte sich an der Bedeutung, die der Politik beigemessen wurde, an dem Verständnis ihres Werts. Nur dass die Erfahrungen davon nicht bei Wahlkämpfen, Parteiveranstaltungen, Sitzungen politischer Gremien (mit der einen oben behandelten Ausnahme) gemacht wurden, sondern vielmehr in Seminarräumen, Hörsälen, Bibliotheken und am Schreibtisch. Ein Grund dafür lag natürlich in der wissenschaftlichen Disziplin, deren Betätigung zum Beruf geworden war: die Politischen Wissenschaften.2 Aber auch dann, bei der Ausübung der Politische Wissenschaften als Beruf, können die beiden Sphären, die der Wissenschaften und die der menschlichen Gesellschaft, als sehr voneinander verschieden empfunden werden. Es gibt genügend Bei2  Ich erlernte die Disziplin an dem von Eric Voegelin 1958 gegründeten Institut für Politische Wissenschaften an der Universität München. Voegelin baute das Institut dezidiert als ein interdisziplinäres und interkulturelles Institut auf, mit Angehörigen solcher Fächer wie Geschichtswissenschaft, Philosophie, Sinologie, Japanologie, Islamwissenschaft. Jurisprudenz, Nationalökonomie, Psychologie, Ethnologie. Und ­ also handelte es sich bei der am Institut gelehrten Disziplin um eine mit verschiedenen Zweigen, die, integrativ praktiziert, in ihrer Bezeichnung einen Plural trug: Politische Wissenschaften. Ich hielt mich stets an diese Vorstellung meines Fachs. Mit einem Plural wird es im Übrigen auch in Frankreich, Italien und Spanien bezeichnet: ­sciences politiques bzw. scienze politiche und ciencias políticas.



Über den Wert und die Bedeutung von Politik7

spiele dafür, wie abgehoben man sich auf der einen Seite gegenüber der anderen dünkt. Warum soll sich ein Adept der Politik der Mühe unterziehen, sich in die Existenz eines Wissenschaftlers hineinzudenken, um nachzuvollziehen, was eine solche Existenz überhaupt ist? Warum soll ein von seinen Theoremen ergriffener Wissenschaftler sich unter die Leute mischen und viel Denkzeit damit „verlieren“, einer von ihnen zu sein? Ein amerikanischer Kollege (Edward C. Banfield) erinnerte gerne an die Geschichte – und machte sich einen Spaß daraus – eines Religionssoziologen, den er gekannt hatte, und der in der Ausübung seiner Disziplin ein Buch nach dem anderen veröffentlicht hatte, ohne jemals ein „Gotteshaus von innen“ gesehen zu haben. War das nicht eine Art von Vertrauensbruch? So mag man sich fragen, wenn man es sich recht überlegt. Ein Ausdruck von Geringschätzung seitens dieses Religionssoziologen? Gegenüber den religiösen Gemeinschaften, über die zu forschen und wissenschaftlich zu reden er vorgab? Wenn die Politik der Lebenspol blieb, wie ich von meiner eigenen Erfahrung her berichte, auch nach der Wende zur Wissenschaft, dann konnte die Wahl der wissenschaftlichen Disziplin, die Politischen Wissenschaften, dafür nicht der einzige und ausschließliche Beweggrund gewesen sein. Die polis und die Wissenschaft Wissenschaftler gehören als deren Bürger einer politischen Gemeinschaft an. Und dieser, der polis, so würde ich sagen, gebührt all ihre Aufmerksamkeit. Sie sollten ihre Existenz auf ihren Erhalt und ihre Wohlfahrt hin fördern. Einerseits ist es die polis, die ihnen die Grundlage ihrer Existenz als Wissenschaftler bereitet hat und fortlaufend gewährt, jene großartige Freiheit nämlich, ihr Leben, im Unterschied zu allen anderen Mitbürgern, ganz mit Lernen, Forschen, Reflektieren verbringen zu können. Andererseits erwächst den Wissenschaftlern aus dieser Lebensform gegenüber der polis ein hohes Maß an Macht. Es gibt keine Wissenschaft, die nicht direkt oder indirekt das Leben und die Existenz der polis betrifft oder in sie eingreift, und bei manch einer ist das auf beträchtliche, wenn nicht entscheidende Weise der Fall. Beide, polis wie Wissenschaftler, sind Handelnde in demselben schöpferischen Prozess. Um ihre Existenz aufrechtzuerhalten, benötigt die polis eine Produktion von Wissen, und bei diesem Schaffen von Wissen und Können sind Wissenschaftler die wesentliche Figur. Alles Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis in der polis ist ein politisches Unterfangen für die polis. Es ist keine Tätigkeit abseits von der Politik, von dem Prozess jener gestaltend regierenden Kreativität, durch welche menschliche Gemeinschaften hervorkommen und aus der heraus sie leben. Es gehört vielmehr von sich aus zu diesem „Regieren“, zu jener anhaltenden schöpferischen Anstrengung also, durch welche eine Gesellschaft ans Werk geht, im Entwerfen, Begreifen und

8

Über den Wert und die Bedeutung von Politik

Lenken ihrer selbst. An der die polis verfassenden Kreativität nimmt jede wissenschaftliche Disziplin teil. Unter allen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es indes eine, deren Gegenstand eben diese Kreativität ist. Es sind die Politischen Wissenschaften. Es kann ihr deswegen, mit einigem Grund, eine besondere Stellung unter den Wissenschaften zugesprochen werden. Sie ist für die Architektur der polis die Wissenschaft zu dieser Architektur. Man kann sich die Politischen Wissenschaften nicht anders als eine architektonisch angelegte Disziplin denken. Denn die Wirklichkeit der polis ist höchst vielgestaltig und in dieser Vielgestalt formenreich. Sie ist dabei ein stetes Geschehen, da alle ihre Formen fließende sind, einen Formenfluss von „Gestalten“ darstellen, die immer wieder anders zugegen sind. Das Konstante an ihr ist ihr Zustand steter Bewegung. Deswegen vereitelt sie gewissermaßen alle Versuche, sie zu greifen und für sich als ein Objekt des Erforschens vor sich zu haben. In dem Augenblick, da jemand sagt, „dies“ ist die Wirklichkeit der polis, ist die besagte Wirklichkeit schon wieder eine andere. Die polis ist natürlich in ihren Erscheinungen faktisch wahrnehmbar, und so hindert die Politischen Wissenschaften nichts daran, diese Erscheinungen zum Gegenstand empirischer Studien zu machen (und täten sie es nicht, verfehlten sie ihre Aufgabe). Aber die Vorstellung, dass solche Studien eine Wirklichkeit der polis einfingen, die man gerne wie ein sicheres Objekt vor sich hätte, ist gänzlich illusorisch. Wer fasst, was ständig in Bewegung, ein Fluss von Formen ist? Beides, all die Bewegung wie der Formenfluss, bilden was die Wirklichkeit der polis ist. Sie bewirken, dass diese eine nicht zu fassende, aber auch, dass sie eine vorhandene ist, in all diesen Gebilden, Strukturen, Anordnungen, Zusammenkünften, Vereinigungen, Parteiungen, Regeln, Verfahren, Gesetzen, Bräuchen, Bestimmungen, Handlungsmustern, Konventionen, und in vielen anderen Vorkommnissen einer Gestalt, welche die enorme Konstruktion ausmachen, die im allgemeinen die „Ordnung“ einer Gesellschaft genannt wird. Mit dieser Konstruktion ist die polis für uns tatsächlich gegenwärtig, zur Wahrnehmung durch unsere Sinne wie durch unseren Geist. Denn wir haben sie erzeugt. Ihr Ursprung ist die menschliche Kreativität auf die polis der Menschen hin, und die Kraft zu ihrem Vorhandensein ist in dem Maße gegeben, wie jene Kreativität eine politische ist. Dann liegt das schöpferische Unterfangen vor, in dem der Sinn von Regieren zu sehen ist. Die Politischen Wissenschaften beginnen gewöhnlich mit einem Untersuchen des Regierungswesens. Sie erfüllen sich in einer Analyse und einem Begreifen politischer Kreativität, und „erfüllen sich“ ist hier in einer aristotelischen Bedeutung zu verstehen: erst in dem Prozess seiner Ausbildung erreicht etwas die ihm gemäße Form.



Über den Wert und die Bedeutung von Politik9

Eine bestimmte Praxis der Politischen Wissenschaften Ich kam zur Formulierung dieser Auffassung der Politischen Wissenschaften durch die soeben angeführten Überlegungen.3 Wie aus anderen Schriften hervorgeht,4 sind die ihr zugrundeliegenden Einsichten das Ergebnis eingehender Forschungen, und nicht etwa eines bloßen Anflugs gelehrtenhafter Erkenntnis. Ich wusste von ihnen noch nichts, als ich mich in die Politischen Wissenschaften einübte und eine Ausübung derselben aufnahm. Doch es schlug dabei etwas durch, ohne dass es mir wirklich gegenwärtig war, das mich immer aufmerken ließ, wenn ich „Politik“ wahrnahm. Was war es? Ich würde es hier, vorderhand, als ein „gewisses Gespür für die Bedeutung von Politik“ beschreiben. Dieses Gespür, so sehe ich es jetzt, war ein Anfang, der Anfang, besser gesagt. Es stimulierte, beunruhigte, machte neugierig, wies hin, ließ ein Urteilen zu, signalisierte Sinn. Eine schlüssigere Motivation für eine Ausübung der Politischen Wissenschaften als das, was sich da durchsetzte, konnte es nicht geben. Aus herkömmlicher Sicht fehlte nichts an ihr. Doch das besagte Gespür wurde mit der Zeit auch als ein mitreißendes empfunden. Es brachte mich hin zu Wahrnehmungen von politisch erscheinenden Dingen, aus denen heraus sich eine Sicht auf eine Weite von Untersuchungsfeldern ergab, an der gemessen sich die gemeinhin praktizierte politische Wissenschaft in einem entschieden zu engen Rahmen zu bewegen schien.5 Was spannen menschliche Gesellschaften nicht alles auf in dem Schaffensprozess, mit dem sie sich entwerfen, begreifen, und selber lenken! Welche Kreativität ist dabei am Werk! Was alles sind die Modi und Ausformungen dieser Kreativität! Die Praxis der Politischen Wissenschaften, der ich bislang nachgegangen war, musste angeglichen werden. Was als „Politik“ ins Blickfeld gekommen war, das war, wie ich es später formulierte, all die Kreativität der Menschen auf ihre polis hin. Folglich hatten die Politischen Wissenschaften, um ihrer Sache gerecht zu werden, jenem schöpferischen Prozess nachzuspüren, der 3  Siehe dazu die Diskussion dieser Auffassung der Politischen Wissenschaften durch verschiedene Autoren und von verschiedenen Ausgangspunkten aus in: John von Heyking/Thomas Heilke (Hg.)., The Primacy of Persons in Politics: Empiricism and Political Philosophy, Washington, D.C.: Catholic University of America Press, 2013. 4  Siehe Tilo Schabert, Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin/New York: De Gruyter, 1989, Id. Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart: Klett-Cotta, 2002; sowie die in diesem Band enthaltenen Schriften: „Wie werden Städte regiert?“, „Das Paradox der Macht. Anmerkungen zur Regierungspraxis in Washington, Paris und Bonn“, Id., „Ein klassischer Fürst“, „The true forms of government: The constitutional movements of power“, auf Deutsch. 5  Als Beispiel kann dienen: Tilo Schabert, Die Architektur der Welt. Eine kosmologische Lektüre architektonischer Formen, München: Fink, 1997.

10

Über den Wert und die Bedeutung von Politik

die polis hervorbringt und erhält. Dieser war zu erforschen. Ihm hatten die Politischen Wissenschaften zu gelten. Und da es bei ihm um das Leben der Menschen geht, sind Zeugnisse von ihm überall zu finden, bei allen menschlichen Gesellschaften, den vergangenen wie den gegenwärtigen, und dort in jedem Bereich, in der Literatur, Kunst, Philosophie, Architektur, Religion, Wirtschaft, Rechtswesen, und natürlich im Bereich des Regierungswesens. Im Prinzip kann er deswegen anhand von Materialien beispielsweise aus dem Alten China ebenso wie aus den Vereinigten Staaten Amerikas heute, aus der Geschichte der Rechtstheorie oder aus den Diskursen zur Literaturtheorie erforscht werden. In jedem Fall wird die Arbeit des Wissenschaftlers einen schöpferischen Prozess aufdecken, der in seiner politischen Bedeutung stets der gleiche ist. Um diese klassische Natur des Prozesses wirklich wahrzunehmen, bedarf es allerdings vergleichender Studien. Die Praxis der Politischen Wissenschaften, zu der ich hingeführt wurde, gebot denn, ihretwegen Grenzen zu überschreiten, und ihr in der Art eines Reisens nachzugehen, zu verschiedenen Disziplinen, Kulturen, Ländern, Epochen hin, und hin und her zwischen diesen. In mancher Hinsicht gleichen die vorgelegten Forschungsergebnisse dann einem Reisebericht. Man wandert mit durch die einzelnen Gebiete, die aufgesucht wurden, und man erfährt, wie in jedem von ihnen und verschiedenen zusammen einem transkulturellen, transdisziplinären, transhistorischen Erforschen schöpferischer Politik nachgegangen wurde. Und wie die Gestalten schöpferischer Politik und deren Ausformungen von Macht in diesen Gestalten erfasst wurden. Alle erfolgten Explorationen zeugen davon. Sie brachten zum Vorschein was Politik wesentlich ist: Kreativität. Im Reisebericht sind zwei zentrale Kapitel enthalten. Sie handeln jeweils von einer Exkursion in die inneren Bereiche einer Regierung.6 Was die Anschauung von Politik betrifft, die ich hier formuliere, waren diese Forschungen „im Feld“ entscheidende Etappen. Die Praxis grenzüberschreitenden Forschens, und besonders die des Überschreitens der Grenze zwischen der akademische Welt einerseits und andererseits der von der „Bürgerschaft der politischen Akteure“ gebildeten Welt erwies sich für das Verstehen von Politik als überaus fruchtbar. Der erste und maßgebliche Lehrsatz, der begriffen wurde, lautet: Die Realität ist die Unterrichtende, nicht eine gebrauchsfertige Wissenschaft schon voll ihrer eigenen Modelle und Methoden. Und auch nicht das allgemeine Vorstellen von Politik, durchdrungen, wie es ist, von Missverständnissen und verkehrten Ansichten. Von diesen heben sich die 6  Siehe die Exkursionen über die berichtet wurde in Boston Politics und Wie Weltgeschichte gemacht wird.



Über den Wert und die Bedeutung von Politik11

durch die Feldforschungen gewonnenen Einsichten scharf ab. Mit ihnen stellte sich ein Verständnis von Politik ein, das ganz und gar verschieden ist von den Anflügen von Verachtung und Hohn, Irrglauben und Vorurteil, die gewöhnlich mit dem Reden der Leute einherkommen, wenn sie ihre Meinungen zur Politik von sich geben. Auch hier schien klar zu werden, dass Politik begreift, wer deren Wert und Bedeutung erkennt. In der Geschichte der Politischen Wissenschaften wurde wiederholt die Erfahrung eines „neuen“ Aufbruchs in der Praxis dieser Wissenschaft artikuliert. Jedes Mal – denken wir an Niccolò Machiavelli, Ibn Khaldun, Alexis de Tocqueville, Eric Voegelin – wurde die Erfahrung auf die Einsicht zurückgeführt, dass es da eine Wirklichkeit der Politik gebe, auf welche die herkömmlichen Auffassungen zu ihr nicht passten.7 Folglich wurde gefordert, die Politischen Wissenschaften auf die wahrgenommene Wirklichkeit der Politik hin neu auszurichten. Und die erwähnten Lehrmeister nahmen derartige Neuausrichtungen vor. Diese stellen eine ehrwürdige Tradition in der Praxis der Politischen Wissenschaften dar. Sie wird hier gewürdigt, wie es unser Text suggeriert, mit einer Verbeugung gegenüber den Lehrmeistern. Die Wahrheit des Menschseins, oder: Die überragende Gegebenheit der Politik Schließlich ist noch etwas zu den ursprüngliche Bezügen der wissenschaftlichen Arbeiten zu sagen, über die hier gesprochen wird. Nach dem, was schon angeführt wurde, dürfte die Feststellung nicht überraschen, dass der Hintergrund dieser Arbeiten das Wissen von den Grauen des 20. Jahrhunderts war. Der totale Verrat am Menschen durch Menschen, die Erhebung des Mordens zur Tugend, der Wechsel vom Vorrang der Vernunft zur ungezügelten Dominanz der Phantasie, das waren die Themen, die für ein Arbeiten im Bereich der Politischen Theorie dringlich zu sein schienen. Es zeichnete sich mit ihnen ein Korpus von Forschung und Analyse ab, den Gegenstände ausmachten wie: Revolution, revolutionäres Bewusstsein, die Wirren der Moderne, der Triumph säkularistischer Geister, die Illusion menschlicher Vollkommenheit, die Entstellung der Sprache, moralische und intellektuelle Blendungen und der Furor, der Fanatismus, die Verzweiflung, der Irrsinn als deren existentielle Folge. Ob ihres Ausmaßes waren Studien zu diesen Gegenständen nur aus der Perspektive dieser Frage sinnvoll: Gab es eine Wahrheit des Menschseins, die wiedergefunden werden konnte? Was immer die Antwort, oder eher: die 7  Siehe meine Studie: „Zu einer Brücke zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein hin. Die Sprachen Eric Voegelins“, unten, S. 209–224.

12

Über den Wert und die Bedeutung von Politik

Antworten sein würden, eines war als gewiss anzusehen. Die Politik war den Menschen auf eine überragende Weise vorgegeben. Ihre Wirklichkeit macht ihr Menschsein aus – als die „erste“ Wirklichkeit, das heißt die bestimmende und regierende Wirklichkeit, alle Menschen betreffend, überall. Sie, die Politik, ist die Macht, die Unheil zeitigt, wenn verbogene Geister über Menschen herrschen. Sie ist die Macht, die Wohlfahrt bereitet, wenn die Weisheit, welche die Tugend der Gerechtigkeit bringt, das politische Tun zähmt und die polis gestaltet. Die Suche nach der Wahrheit des Menschseins konnte nichts anderes sein als eine Suche nach der kreativen Kraft der Politik. In diesen beiden Formen: der einen, welche diese Kraft pervertiert und sie dennoch gebraucht, und der anderen, die Menschen, wie sie die Verantwortung annehmen, welche die kreative Kraft der Politik mit sich bringt, zu ihrer Menschheit führt, der ihnen gegebenen Gestalt ihrer Existenz. Die polis ist ein von Menschen geschaffenes Artefakt, in welcher Form auch immer, sei es in der eines konstitutionellen Regimes, zum Beispiel, oder in dem einer bösen Herrschaft. Den Menschen ist die mit einer außerordentlichen Würde verbundene Stellung gegeben, die Macht der Politik in dieser Welt zu verstehen und darin die Schöpfer der politischen Welt zu sein, für die sie selber mit ihrem Wissen die Verheißung sind.

Macht, Legitimität, und Wahrheit: Über das Problem, Begründungen politischer Ordnung zu begründen Jede politische Ordnung und ihr Ausfluss, politische Macht, müssen, wie man sagt, legitimiert sein. Darüber stimmt man allgemein überein. Niemand bezweifelt die grundsätzliche Korrelation zwischen politischer Macht und deren Legitimation. Indes werden Probleme angemeldet, wenn es um das Verhältnis zwischen einer Legitimation politischer Macht und der Wahrheit geht, die für diese Legitimation beansprucht wird. Man zweifelt in unseren Tagen an der Möglichkeit, von politischen Ordnungen sagen zu können, sie seien legitim, weil sie in einer allgemein eingesehenen Wahrheit begründet seien. Es wird als schwierig angesehen, auf der Ebene von „Wahrheit“ Kriterien anzugeben, die es gestatten, selbstverständlich zwischen politischen Herrschaftssystemen zu unterscheiden, die als „legitim“ beziehungsweise als „illegitim“ anzusehen sind. Die Schwierigkeit legt exemplarisch der Artikel „Légitimité“ in der in Paris erschienenen Encyclopaedia Universalis offen.1 In drei Schritten dekonstruiert er das Problem der Legitimität. Man benötige eigentlich, so wird gesagt, ein „objektives Kriterium der Legitimität (critère objectif de la légitimité)“. Eine Regierung müsse wirksam sein können, also anerkannt sein. Das, so wird weiter erklärt, nehme man zumindest an. Doch eine solche Annahme sei kein wirkliches Kriterium dafür, zu wissen, ob eine Regierung „legitim“ sei oder nicht. Wie wäre es dann mit der „Akzeptanz der Bevölkerung (adhésion popu­ laire)“? Könnte das ein Kriterium sein? Aber nein, nicht wirklich, so erfahren wir. Man denke nur an den „Herdentrieb der Massen (grégarisme des foules)“. Also müsse man damit sehr vorsichtig sein, dieses Kriterium heranzuziehen. Ein drittes Kriterium schlägt der Artikel denn vor. Man könne an die „Rechte der menschlichen Person (droits de la personne humaine)“ denken, um zwiErstdruck in englischer Sprache unter dem Titel „Power, Legitimacy, and Truth: Reflections on the Impossibility to Legitimise Legitimations of Political Power“, in: Legitimacy/Légitimité. Proceedings of the Conference held in Florence June 3 and 4, 1982 – Actes du colloque de Florence 3 et 4 juin 1982, ed. Athanasios Moulakis, Berlin/New York: De Gruyter, 1986, S. 96–104. – Die deutsche, teilweise neu formulierte Fassung hier wurde vom Autor besorgt. 1  Cf. Paul Bastid, „Légitimité“, in: Encyclopaedia Universalis, Bd. 13, Paris: Encyclopaedia Universalis, 1990, S. 579–581.

14

Macht, Legitimität, und Wahrheit

schen legitimen und illegitimen Regierungssystemen zu unterscheiden. „Eine Regierung“, so wird ausgeführt, „sollte allein in dem Fall als illegitim – im konkreten und nicht bloß formellen Sinne des Wortes – angesehen werden, wenn sie ganz offen gegen die unumstrittenen moralischen Regeln verstößt, welche die Grundlagen jeder Zivilisation sind.“2 Wer wollte dem, abstrakt gesehen, nicht zustimmen? Aber dann liegt es auch nahe, dieses Kriterium empirisch zu testen. Von wie vielen der derzeit 194 Staaten in der Welt könnte gesagt werden, dass sie unzweifelhaft die „Rechte der menschlichen Person“ achten, sie in keiner Weise in der Ausübung ihrer Macht verletzen? Vielleicht 10 oder 15, oder allenfalls 20? Jeder empirische Test zeigt, dass auch dieses Kriterium nicht weiterhilft. Auf jeden Fall nicht, wenn wir im uns betreffenden Kontext der Moderne eine Legitimität politischer Macht in einer allgemein eingesehenen Wahrheit begründet wissen wollen. Das damit gegebene grundsätzliche Problem ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts, also zur Zeit der ansetzenden Moderne, auf eine klassische Weise von Pascal behandelt worden. Auf was gründen die Menschen die „Haushaltung der Welt (économie du monde)“, die sie regieren wollen, so fragt er in seinen Pensées. Und erklärt rund heraus, dass es dazu keine Wahrheit geben könne, alle Begründungen seien hier relativ, nämlich jeweils an das gerade Gegebene gebunden: Umstände, Ort, Zeitpunkt. „In dem Brief Von der Ungerechtigkeit kann die Persiflage von den Erstgeborenen, die alles erben, vorkommen. Mein Freund, Sie sind diesseits der Berge geboren, also ist es gerecht, dass Ihr ältester Bruder alles erbt. – Weshalb töten Sie mich? – Er wohnt jenseits des Wassers. – Weshalb töten Sie mich? – Weshalb? Wohnen Sie nicht jenseits des Wassers? Mein Lieber, würden Sie diesseits wohnen, wäre ich ein Mörder und es wäre ein Verbrechen, Sie solcherart zu töten; da Sie aber am anderen Ufer wohnen, bin ich ein Held, und was ich tue, ist recht. – Worauf wird der Mensch die Einrichtung der Welt, die er regieren will, gründen? Auf die Laune des Einzelnen? Was für eine Verwirrung! Auf das Recht? Er kennt es nicht. – Sicherlich würde man, kennte er es, niemals diesen Grundsatz aufgestellt haben, der von allen Grundsätzen, die die Menschen kennen, der gewöhnlichste ist: dass jeder den Sitten seines Landes folgen solle; der Glanz der wahren Gerechtigkeit würde alle Völker bezwungen haben, und die Gesetzgeber hätten nicht an die Stelle dieses unveränderlichen Rechts die Hirngespinste und Launen von Persern und Deutschen zum Vorbild gewählt. Man würde das Recht in allen Staaten und zu allen Zeiten gehegt finden, während man so kein Recht und Unrecht findet, das nicht mit dem Klima das Wesen ändere. Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über Wahrheit;  … diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum.“3 2  Ebd.,

S. 580, Spalte 2. Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), übs. und hrsg. Ewald Wasmuth, Heidelberg: Lambert Schneider, 1963, S. 147 f. Übersetzung hier leicht verändert. 3  Blaise



Macht, Legitimität, und Wahrheit15

Pascal will seine Leser nicht gleich ganz enttäuschen und wendet sich – wie sich herausstellt, eher rhetorisch allerdings – dem juristischen Antidot zu, das angesichts der von ihm beschriebenen misslichen Lage gewöhnlich angeboten wird. Das ist die Idee vom Naturrecht. Er hat dazu folgendes zu sagen: „Man behauptet, dass das Recht nicht in diesen Usancen [diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum] liege, sondern in den Gesetzen des Naturrechts (lois na­ turelles) wohne, das allen Ländern gemeinsam sei. Sicher würde man hartnäckig auf dieser Ansicht bestehen, wenn die Willkür des Zufalls, die die menschlichen Gesetze unter die Menschen säte, wenigstens eines getroffen hätte, das allgemeingültig (universelle) ist; das Lustige aber ist, dass sich die Menschen aus Laune so gründlich unterschieden haben, dass es keines gibt. – Der Raub, die Blutschande, der Mord an Kindern und Eltern, alles hat seinen Ort unter den tugendhaften Handlungen.“4

Die Menschen sollten begreifen, dass die Gerechtigkeit eine Tochter der Zeit ist. Wer politischen Autoritäten gehorcht, gehorcht seiner eigenen Vorstellung. Das Gerechte hat etwas Unwirkliches an sich. „Diese Verwirrung ist der Grund, dass einer sagt, das Wesen des Rechts sei die Autorität des Gesetzgebers, ein anderer, der Nutzen des Herrschers, ein dritter der gegenwärtige Brauch, und das einzig Gewisse ist: dass gemäß der reinen Vernunft nichts an sich gerecht ist, alles schwankt mit der Zeit. … . Nichts ist so fehlerhaft als jene Gesetze, die die Mängel abstellen wollen; wer ihnen folgt, weil sie gerecht seien, folgt der Gerechtigkeit, die nur in seiner Einbildung besteht, nicht aber in der Wirklichkeit des Gesetzes: es ist ein Gesetz, aber nicht mehr. … . Die Kunst, gegen den Staat zu wühlen, ihn umzustürzen, besteht darin, die überkommenen Bräuche dadurch zu erschüttern, dass man bis an ihren Ursprung hinabsteigt, um dadurch ihren Mangel an Berechtigung und Recht (défaut d’autorité et de justice) auf­ zudecken.“5

Alle politische Ordnung ist legitim, weil sie schon existiert, wenn man nach ihrer Legitimität fragt. Allein ihr Vorhandensein rechtfertigt sie, die reine Tatsache also, dass mit ihr das Zusammenleben der Menschen, die ihr unterworfen sind, nach einem Anschein von Recht funktioniert. Aber man darf eine Wahrheit dieses Arrangements nicht erwarten. Ganz im Gegenteil. Denn es handelt sich, so das harte Wort von Pascal, um eine „Usurpation“. Recht bzw. Legitimität wird vorgegeben, ist aber nicht da. Und dieser „Wahrheit“ darf das Volk nicht gewahr werden. „Sie wurde einmal ohne Begründung gegeben“, und da die politische Ordnung mit ihr funktioniert, „ist sie vernünftig geworden. Man muss sie als echt, ewig betrachten, und ihr Herkommen verbergen, wenn man nicht will, dass sie bald ende.“6 4  Ebd.,

S. 148. S. 149. 6  Ebd., S. 150. 5  Ebd.,

16

Macht, Legitimität, und Wahrheit

Pascals Problem hat sich nicht aufgelöst, wie modernere Studien zeigen. Maurice Hauriou, zum Beispiel, führte den recht vagen Begriff einer parakonstitutionellen „Leitidee (idée directrice)“, ein, mit der die Legitimität einer politischen Ordnung zu begründen sei.7 Was sie rechtfertigt, bleibt indes bei ihm schleierhaft. Die Anwendung politischer Macht rechtfertigt sich ihm zufolge lediglich durch ihre Funktion, etwas zu erstellen, und nicht durch einen Nachweis ihrer sie legitimierenden Herkunft.8 Georges Burdeau weicht in seiner Abhandlung Droit Constitutionel et Institutions Politiques9 ebenfalls auf ein rein funktionales Verständnis der Legitimität von politischer Herrschaft aus. Ihm zufolge ist diese legitim, wenn eine „Konvergenz der Bestrebungen seitens der betreffenden Gesellschaft und den Zielen dieser Macht“ vorliegt. Dann könne man von einer „vorherrschenden Repräsentation der erwünschten gesellschaftlichen Ordnung“ sprechen, die das konstitutionelle und rechtliche System rechtfertige. Gesetze drückten die sozialen Vorstellungen aus, die in einer Gesellschaft gerade gängig wären. Die Funktion der politischen Macht liege darin, „den Ansprüchen zu genügen, die das gesellschaftliche Bild der erwünschten Zukunft“ enthielten.10 Nichts mehr von einer Korrelation zwischen Legitimität und Wahrheit – einer transzendenten Wahrheit natürlich. Und doch hat es eine lange Tradition gegeben, in der eine solche Korrelation reflektiert und theoretisch formuliert wurde. Als rechtlicher Begriff wurde legitimus mit dem Römischen Recht eingeführt. Er wurde im Privatrecht verwendet, kam dann aber auch im politischen Bereich in Wortverbindungen wie imperium legitimum oder potestas legitima zur Anwendung. Mit dem Christentum erhielt die Legitimität politischer Herrschaft eine deutliche transzendente Begründung, indem sie auf Gott zurückgeführt wurde. In der irdischen Macht drücke sich eine göttliche Wahrheit aus, so die Lehre, jene werde stellvertretend für Gott ausgeübt. Omnis potestas a Deo, so hatte es Paulus – nach den landläufigen Worten – formuliert.11 Thomas von Aquin erweiterte die christliche Lehre, indem er der paulinischen Formel eine entscheidende Feststellung hinzufügte. Wenn eine Gemeinschaft von Menschen einem König untertan sei, der sich zu einem Tyrannen entwickelt habe, dann missbrauche der König seine Macht, und die betreffende Gemeinschaft handle rechtens, wenn sie diesen König absetze Hauriou, Droit Constitutionel, Paris: Sirey, 1929, S. 73 ff. ebd., S. 20. 9  Georges Burdeau, Droit Constitutionel et Institutions Politiques, 17. Ausgabe, Paris: Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence, 1976. 10  Ebd., S. 23. 11  Römer 13, 1. Die exakte Formulierung von Paulus ist: Non est enim potestas nisi a Deo. 7  Maurice 8  Vgl.



Macht, Legitimität, und Wahrheit17

oder seine Macht beschränke. Denn König sei er geworden durch das Recht von Menschen, sich einen Herrscher zu geben (ad ius multitudinis alicuius pertineat sibi providere de rege). Man dürfe deshalb nicht denken, dass sie unrechtmäßig handelten, wenn sie ihn, seines tyrannischen Verhaltens wegen, absetzten. Denn ihm sei es anzulasten, dass der Vertrag (pactum), den sie mit ihm geschlossen hätten, hinfällig geworden sei. Er habe nicht getreu seines königlichen Amtes gehandelt.12 Die ihm nachfolgenden „Thomisten“, wie Luis de Molina (1535–1600) und Francisco Suárez (1548–1617), hielten sich an diese Lehre. Molina entwickelte in seinem Werk De Iustitia e Iure eine Theorie des Rechts politischer Herrschaft (dominium iurisdictionis), der zufolge die Ausübung von Macht auf den Willen und die Billigung (arbitrio e beneplacito) seitens des Volkes ausgerichtet sein müsse.13 Suárez seinerseits erklärte, dass politische Herrschaft allein ex consensu communitatis, also aus einer ursprünglichen Übereinkunft der betroffenen Menschen hervorgehe.14 Oft, so gesteht Suárez ein, seien Reiche und Königtümer durch pure Gewalt entstanden, doch dann sei es nicht zuletzt möglich gewesen, die jeweiligen Herrscher mit der Zeit als legitim anzuerkennen. Nach dieser Überlegung gibt es eine Legitimität politischer Herrschaft auch a posteriori. Mit der aufziehenden Moderne schwächte sich die transzendente Begründung politischer Herrschaft ab. „Wahrheit“ blieb zwar noch im Spiel, aber nunmehr in der Form eines „Naturrechts“, von dem niemand so recht wusste (bzw. weiß), wo genau es angesiedelt ist. Bei „Gott“? In der Welt oder vielleicht doch außerhalb dieser? Bei den Gesetzen der „Natur“? Und wer und wo ist dann diese „Natur“? Doch konnte sich Jean Bodin Ende des 16. Jahrhunderts vorstellen, dass sich so eine Begründung von Herrschaft denken ließe. Es war eine Art von geometrischem Rationalismus, der hier vorausgesetzt wurde. Die Menschen, so die Logik, handeln vernünftig, weil es ihnen als vernünftig erscheint, dies zu tun. „Ich gehe von dem Prinzip aus, dass die Untertanen dem König gehorchen, und möchte damit zeigen, dass in diesem allein alle Hoheit liegt, aber der König auch den Gesetzen der Natur (lois de la nature) gehorcht, das heißt seine Untertanen nach der von Natur gegebenen Gerechtigkeit regiert und ihr Handeln leitet. … Das ist also das wahre Merkmal des Königtums, wenn der fürstliche Herr sich in der gleichen Weise so sanft und auf die Gesetze der Natur eingehend verhält, wie er seine Untertanen ihm gegenüber als gehorsam wünscht. … Wenn die Untertanen den Gesetzen des Königs gehorchen, und der König den Gesetzen der Natur gehorcht, wird das Gesetz auf der einen wie auf der anderen Seite die Herrin (maîtres­ 12  De

regno ad regem Cypri, Buch I, Kap. 7. Iustitia e Iure, Tract II, Disp. 614, Tract. V, Disp. 73. 14  De legibus ac Deo legislatore, Buch III. 13  De

18

Macht, Legitimität, und Wahrheit

se) sein. … Denn es folgt daraus eine gegenseitige Freundschaft des Königs zu den Untertanen hin, und der Gehorsam der Untertanen gegenüber dem König, in der Weise einer gefälligen und sanften Harmonie der einen mit den anderen, und aller mit dem König: Und das ist der Grund, warum diese Monarchie als königlich und legitim anzusehen ist.“15

Das lose Band der hier angerufenen Logik zerriss mit der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft. Dieser Riss zeigt sich zum Beispiel deutlich bei der großen Debatte, die sich im frühen 19. Jahrhundert ob der Frage entwickelte, wer nun zur Herrschaft in Frankreich legitimiert sei: Napoleon oder die Bourbonen. An ihr nahmen René Chateaubriand, Germaine de Staël, Franҫois Guizot, Alexis de Tocqueville, Benjamin Constant, Joseph de Maistre, Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, Pierre-Paul RoyerCollard teil. Die Debatte hatte drei Konsequenzen. (a) Zum einen verflachte sich die Vorstellung von Legitimität, indem sie jedweden Bezugs zu einer transzendenten Wahrheit entledigt wurde. Guizot drückte diese Trennung mit der Erklärung aus: „Das Prinzip der Legitimiät [politischer Macht] liegt in ihr und in ihr allein, in seiner Moralität und seiner Vernunft.“16 Nicht anders argumentierte der deutsche politische Denker Constantin Frantz. Er zeigt sich in seiner Studie über Louis Napoleon von der Französischen Revolution und deren Folgen, wie er sie sieht, gänzlich erschüttert. Den „ganzen Bestand der traditionellen Institutionen“ habe diese „exstirpirt“, wie „nicht minder die politische Denkweise der Menschen vollständig umgewandelt“.17 Über die „Idee der Legitimiät“ nachzudenken, sei deswegen von „allerhöchster Bedeutung“.18 Um diese Aufgabe zu verstehen, müsse man sich aber „von den unklaren Vorstellungen befreien, welche das Legitimitätsprincip umhüllen“, also „den Wahn aufgeben“, dass das „Königtum [für das Frantz eintritt, indes infolge der Französischen Revolution auch als verloren ansieht] auf irgend einem abgesonderten und absoluten Grunde beruhe und daher unzerstörbar erhalten bleibe“. Eine Legitimität königlicher Herrschaft wie politischer Herrschaft überhaupt kann in der verwandelten Welt nach der Französischen Revolution nicht mehr wahrlich begründet werden. „Denn nichts“, so fasst Frantz zusammen, „ist auf Erden absolut, sondern Alles ist an tausend Beziehungen gebunden, mit denen es steht und fällt.“19 15  Jean Bodin, Les six livres de la République (1583), Québec: Bibliothèque PaulÉmile-Boulet, 1993, Chapitre III, S. 124  f. http://aberkane.yolasite.com/resources/ bodin…six %20livres %20republique.pdf (aufgerufen am 13. Sept. 2019). 16  Franҫois Guizot, Histoire des origines du gouvernement représentatif en Europe, Paris: Didier, 1851, S. 354. 17  Constanin Frantz, Louis Napoleon, Berlin: Schneider, 1852, S. 69. 18  Ebd. 19  Ebd., S. 72.



Macht, Legitimität, und Wahrheit19

(b) Unvermeidbar entwickelte sich zum zweiten in der post-revolutionären Zeit eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Lehren zur Legitimität, von denen für jede beansprucht wurde, sie sei die gültige. (c) Und zum dritten wurde die Legitimität politischer Macht dem Wandel der Zeit unterworfen. Wie sich die Zeiten änderten, so würden sich auch die Begründungen von politischer Herrschaft ändern. Friedrich Gentz formulierte diese Ansicht in aller Klarheit: „Das Princip der Legitimität, so heilig es auch seyn mag, ist in der Zeit geboren, darf also nicht absolut, sondern nur in der Zeit begriffen, und muß durch die Zeit, wie alles Menschliche, modificirt werden. Für einen neuen Ausfluß oder einen geoffenbarten Willen der Gottheit hielt ich es nie. Die höhere Staatskunst kann und muß unter gewissen Umständen mit diesem Princip capituliren.“20 Kapitulieren? Die Wahrheitsfrage bezüglich des Herleitens und Begründens politischer Macht ist nicht erledigt, auch wenn es unmodern ist, sie zu stellen. Aber niemand hindert uns, dies zu tun.21 Und was die Pragmatik von Politik anbelangt, so hat die Französische Revolution hier keineswegs dermaßen zugeschlagen, wie es den genannten Autoren im frühen 19. Jahrhundert schien (und es ist ja auch bemerkenswert, dass diese die „positiv“ einzuschätzende Erfahrung der Amerikanische Revolution und das diese begleitende politische Denken der Gründungsväter ignorierten). Menschliche Gesellschaften bedürfen weiterhin einer Legitimierung ihrer Existenz und deren Ordnung. Auch wenn ihnen die Theoretiker nicht zu helfen wissen – ihnen allenfalls eine Legitimation a posteriori (Bodin) oder im Modus eines puren Relativismus (Frantz) anbieten –, so haben sie gewissermaßen für sich selbst gesorgt beziehungsweise tun dies. Für diese pragmatische Form eines Begründens politischer Macht würde ich den Ausdruck synkretistische Legitimi­ tät vorschlagen. Um ihn zu verdeutlichen, möchte ich die folgende Äußerung von Alexis de Tocqueville anführen. „Ich halte diese Maxime“, schreibt Tocqueville in seiner Studie zur Demokratie in Amerika, „wonach in Regierungsangelegenheiten die Mehrheit eines Volkes das Recht hat, alles zu tun, für verwerflich und abscheulich. Und dennoch setze ich den Ursprung aller politischen Macht in den Willensäußerungen der Mehrheit an. Widerspreche ich mir selbst?“22

20  Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller. 1800–1829, Brief Nr. 134, August 1815, Stuttgart: J. G. Cotta, 1857, S. 202–203. 21  Vgl. das Kapitel „Im Körper“ in: Tilo Schabert. Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz, Freiburg/München: Alber, 2009. 22  Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, Bd. I, Paris: Gallimard, 1961, S. 261.

20

Macht, Legitimität, und Wahrheit

Tocqueville widerspricht sich nicht, denn, wie er es sieht, gibt es in demokratischen Gesellschaften noch zwei andere Träger von Legitimität, und sie wirken gegen den reinen Willen der Mehrheit. Das sind zum einen die in einer demokratischen Gesellschaft überlieferten und gelebten Wertvorstel­ lungen, Einstellungen, Umgangsformen, die Tocqueville „Sitten“ (moeurs) nennt, und zum anderen die bürgerschaftlichen „Vereinigungen“ (associa­ tions), zu denen sich Mitglieder der Gesellschaft für ein gemeinsames Einschalten in den demokratischen Prozess zusammenschließen.23 „Mein Ziel war es“, so schreibt Tocqueville, „am Beispiel Amerikas zu zeigen, dass die Gesetze und besonders die Sitten es einem demokratischen Volk erlauben können, frei zu bleiben.“24 Und: „In unserer Zeit ist aus der Freiheit, sich zu einer Vereinigung (association) zusammenzutun, eine nötige Garantie gegen die Tyrannei der Mehrheit geworden.“25 Nach dem Tocqueville’schen Modell wird nicht mehr danach gefragt, wie es mit der Wahrheit der Legitimität politischer Macht stehe, sondern danach, wie, wann, und unter welchen Umständen eine bestehende politische Ordnung ihre Legitimität erlange. Danach ist es nur noch sinnvoll, von Legitimität in der Weise einer Wechselbeziehung zu sprechen, einer Wechselbeziehung zwischen Regierung und Regierten. Legitimität wird a posteriori erzeugt, durch Überzeugen, Vereinigen, Zusammenbringen. Der Test, den sie bestehen muss, ist so denn nicht eine philosophische Wahrheit, sondern die Meinung des Volkes. Der consensus universalis, der eine Gesellschaft tatsächlich zu einer Gesellschaft macht, trägt sich nicht einmalig mit deren Gründung zu, sondern immer wieder danach. Die Frage politischer Legitimität ist im politisch-sozialen Feld zu verorten, und keineswegs mehr eine Sache der philosophischen Suche nach der guten und gerechten Gesellschaft. Die Konsequenzen sind dreifach. (1) Politisch-soziale Felder sind stets in Bewegung und deswegen gibt es ebenso beständig eine Spannung zwischen Legitimität und Illegitimität. Was legitim sei, erscheint je anders im Prozess der Zeit, heute so und morgen so. (2) Die politisch-sozialen Felder sind ausdifferenziert, es gibt darin verschiedene Segmente, und jedes davon ist als eine „Legitimitätsprovinz“ zu erkennen. Nicht eine Gesellschaft ist zu sehen, der eine Legitimität zuzuschreiben ist, sondern eine Anzahl von solchen Provinzen, die um die Legitimität der umfassenden Gesellschaft konkurrieren. (3) Da die Frage von Legitimität ihrer philosophischen Dimension entledigt ist, wird diese Konkurrenz nicht in der Weise einer Wahrheitssuche verfolgt, 23  Ebd. S. 43, 238, 264, 285, 300, 319, 322, 329 bezüglich die moeurs, sowie ebd. S. 7, 194 ff. und Bd. II, Paris: Gallimard, 1961, S. 117, 125, 306, 318 bez. die asso­ ciations. 24  De la Démocratie en Amérique, Bd. I, a. a. O., S. 329. 25  Ebd., S. 197.



Macht, Legitimität, und Wahrheit21

sondern politisch-sozial ausgetragen. Und das heißt in der Form von politisch-sozialen Konflikten, bis hin zu Spaltung beziehungsweise Spaltungen der Gesellschaft, unter der Drohung des Bürgerkriegs. Indes: es wurde gerade gesagt, dass moderne Gesellschaften, was die Frage ihrer Legitimität anbelangt, pragmatisch für sich selber sorgen, mit synkretistischen Lösungen. Es gibt drei exzellente Beispiele dafür: Die amerikanische Republik, die ihre Legitimität in hohem Maße der stets zu erreichenden Zustimmung des Volkes anvertraut hat, und dies jedoch in feste Formen einfasste, die gewissermaßen eiserne Wahrheiten repräsentieren. Die Fünfte Republik Frankreichs, die dem Volk ganz die regelmäßig zu erreichende Legitimation der Staatsmacht in der Person des Staatspräsidenten anvertraut, und zugleich getragen wird, vom unauflöslichen Erbe der Französischen Revolution. Die Bundesrepublik Deutschland, die den demokratischen Willensprozess sich dermaßen ausbilden lässt, dass er so ausgelegt werden kann, als vollziehe dieser die ihn legitimierende Legitimation nicht mehr nach, bewirke nicht, was durch ihn wirke. Während doch eine Verfassung, das Grundgesetz, vorgegeben ist, die ex consensu communitatis geschrieben ist und in ihrer täglichen Anwendung die ursprüngliche Übereinkunft bei der Gründung der Bundesrepublik wie die in sie eingegangenen Voraussetzungen zur Wiederholung bringt. Das ist das Seltsame moderner Legitimationen politischer Macht: Unerschütterliches in relativistischen Formen. Wahrheiten ohne Wahrheit.

Die reale Natur von Regierungen: Ausbildungen von Macht in konstitutionellem Gewand Regierungsformen: Fiktion und Realität Alle Formen von politischer Ordnung sind Phänomene von Bewegung. Die klassische Typologie politischer Verfassungen, die Plato entwarf und Aristoteles modifizierte, stellt deswegen beides dar: eine Beschreibung der verschiedenen vermessenen Verfassungen – Monarchie, Aristokratie, Oligarchie und so weiter – und die Übergänge von einer Verfassungsform zu einer anderen, wie beispielsweise von der Aristokratie zur Oligarchie. In der Welt menschlichen Handelns ist nichts beständig, stellte Aristoteles in der Art eines von ihm formulierten kosmologisch-politischen Gesetzes fest.1 Die Formen politischer Verfassungen, die aus menschlichem politischem Handeln entstehen, sind von diesem Gesetz nicht ausgenommen. Ihr Status in der Wirklichkeit von Politik ist der eines institutionellen Vorkommens zwischen Gründung und Verfall. Sie scheinen Gebilde von fester Gestalt zu sein, und doch haben sie, gemessen an den realen Kräften des menschlichen Lebens, kein größeres Gewicht als das von fiktiven Gefügen.2 In Platos Theorie politischer Verfassungen wie in der des Aristoteles erscheinen die verschiedenen Erstdruck in englischer Sprache unter dem Titel „The True Form of Governments: The Constitutional Movements of Power“ in: The Primacy of Persons in Politics. Empiricism and Political Philosophy, hg. John von Heyking, Thomas Heilke, Washington, D.C.; The Catholic University of America Press, 2013, S. 3–22. Übertragung ins Deutsche vom Autor, mit Veränderungen und Erweiterungen des Textes. 1  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1104a5; vgl. auch Plato, Politikos, 269d. 2  Vgl. die Ausführung des amerikanischen Soziologen Charles Cooley: „Institutionen sind keine abzutrennende Dinge, sondern vielmehr Phasen eines allgemeinen und zumindest teilweise homogenen Denkobjekts. Sie sind Wahrnehmungssysteme beziehungsweise organisierte Einstellungen der öffentlichen Vernunft, und allein durch Abstraktion können wir sie als Dinge für sich selbst ansehen. Allein in Menschen und nirgendwo sonst kann eine Institution gefunden werden. Das reale Vorhandensein der Verfassung der Vereinigten Staaten, zum Beispiel, haben wir in den traditionellen Vorstellungen der Leute und der Tätigkeit von Richtern, Gesetzgebern und Verwaltungsbeamten. Das geschriebene Dokument ist allein zur Verständigung da, wie eine Bundeslade für einen Vertrag, die das Aufrechterhalten der Tradition gewährleistet.“ (Charles H. Cooley, „Social Organization. A Study of the Larger Mind (1909)“ in: The Two Major Works of Charles H. Cooley, Glencoe: Free Press, 1956), S. 314).

24

Die reale Natur von Regierungen

Regierungsformen, so ist zu vermerken, viel mehr in einem Zustand der Bewegung als in dem einer Beständigkeit. Dieser Vorgabe folgt die hier entworfene Regierungstheorie. Jedes politische Regime, so wird erklärt, ist, institutionell gesehen, eine Fiktion. Es existiert in einer Sphäre institutioneller Zuschreibungen. Und es ist darin in konstanter Bewegung. Wir sagen, da ist ein Fluss, und fürs Praktische reicht dies aus. Tatsächlich aber ist da kein Fluss, sondern vielmehr Wasser, das dahin fließt und dahin fließt, dessen unaufhörliche Bewegung wir aber für uns mit dem Namen „Fluss“ festhalten. Nach der Zeit von Plato und Aristoteles zielten Untersuchungen von Verfassungsformern weitgehend darauf ab, sie in ihrem institutionellen Vorkommen zu beschreiben und zu typisieren. Dieses Vorgehen führte allgemein, vermutlich im Zuge einer unbeabsichtigten Konsequenz, zu einer kognitiven Verzerrung in der Praxis der Politischen Wissenschaften. Man dachte nicht mehr daran, dass Verfassungsformen fortdauernd in einem Zustand der Bewegung sind, und sich deswegen, sollte man auf festgesetzte und dauerhafte Formen aus sein, in derlei Weise einem wissenschaftshaften Zugriff entziehen. Viel eher ging man davon aus, dass Verfassungsformen einfach „da“ sind, solide wie es ihre institutionelle Aufmachung anzuzeigen scheint, wann immer sie in der Praxis der Politischen Wissenschaften ein Gegenstand der Betrachtung sein sollen. Indes, politische Ordnungen zerfielen oder wurden umgestürzt, und die Politischen Wissenschaften, einerseits an ihrer herkömmlichen Einstellung bezüglich des Problems von „Bewegung“ und „Form“ bei Regierungen festhaltend, beschäftigten und beschäftigen sich andererseits in der Tat mit dem Phänomen von „Bewegungen“ im Vorhandensein von Verfassungsformen. Entsprechendes wurde und wird dann unter Begriffen wie „Transformation“, „Wandel“, oder „Revolution“ abgehandelt – jedoch immer auf institutionelle Erscheinungen bezogen, und an der fiktiven Wahrheit derselben vorbei. Dies kann deutlich an Ciceros Schriften De Legibus und De Re Publica abgelesen werden. Da ist noch immer die von den griechischen Autoritäten getreu übernommene Nomenklatur. Aber die philosophische Sensitivität für die sie vorzeichnenden kosmologischen und existentiellen Fragen ist verschwunden. Cicero wählte eine rein funktionale Methode. Für ihn sind Regierungsformen numerisch zu verstehen. Regierungsformen sind verschieden, weil es eine Verschiedenheit der Anzahl derer gibt, die regieren. Cicero entwickelte seine Typologie von Regieren unter der Annahme einer solchen numerischen Kausalität. In De Legibus stellte er kategorisch fest: „Die Ausbildung einer Republik in der Form ihrer Regierung geschieht durch ihre Vorsteher (magistratus) und genau mit deren Zusammenstellung (ex eorum compositione) ergibt sich die Form ihrer Verfassung (rei publicae genus).“3



Die reale Natur von Regierungen25

Aus historischer Perspektive betrachtet, vollzog Cicero eine, wie ich es nennen würde, „empirizistische Wende“, die in den Politischen Wissenschaften bis heute auf die Theorie der Verfassungsformen nachwirkt. Eine entsprechend klare Entscheidung artikuliert in De Re Publica Scipio Africanus der Jüngere, der Protagonist der Schrift. Er lässt seine Zuhörer wissen, dass er „nicht zufrieden mit den Schriften“ bezüglich der res publica ist, welche uns die „hervorragendsten und weisesten Männer Griechenlands“ hinterlassen haben.4 Was er über das Regierungswesen wisse – eine Kenntnis, die er im Begriff ist, auszudrücken –, hat er, so versichert er, weit weniger durch die Lektüre von Büchern als vielmehr mittels „praktischer Erfahrung (usus)“ und die zuhause erworbenen „Vorschriften und Regeln (praecepta)“ erworben.5 Allein, praktische Erfahrung und Vorschriften und Regeln beziehen sich auf augenfällige Dinge von einer (scheinbar) kontinuierlichen und stabilen Natur. Sie als Mittel zum Erwerb von Wissen zu wählen heißt, Sachverhalte vorauszusetzen, bei denen nichts den Charakter von Bewegung hat. Cicero – in den Worten von Scipio Africanus – baute seine Regierungslehre nach einer Methode auf, welche Regierungen zu soliden Dingen macht. Und als solche konnte dann von diesen gedacht werden, dass sie festbleibende Objekte von Untersuchungen, Beschreibungen, und Vergleichen sein können. Seine Gedanken zum Regierungswesen entwickelnd, schwebte Cicero eine res publica diuturna vor – ein Gemeinwesen, das zuallererst „dauerhaft“ ist.“6 Um diese Dauerhaftigkeit zu erreichen und zu erhalten, bedarf es nach dem Autor von De Re Publica einer ganz bestimmten Institution des Regierens. Einer solchen nämlich, die dem Überlegen, Ratschlagen, Entschließen gilt. Ein consi­ lium, nach Ciceros Begriff. Diese Funktion muss jemandem übertragen werden. Und dazu gibt es, so lesen wir, numerisch gesehen drei Möglichkeiten. Entweder „vertraut man sie einer Person oder einer Anzahl ausgewählter Bürger an, oder sie wird von allen Bürgern übernommen.“7 Aus seiner empirizistischen Wende heraus kommt so Cicero zu der Ansicht, dass es drei Grundarten von Regierungswesen (genera rerum publicarum) gibt: das Königtum (regnum), die Aristokratie (dominatus optimatium), und die Volksherrschaft (civitas popularis).8 Von Plato und Aristoteles her kann man kaum sagen, dass das eine Neuigkeit ist. Doch: da ist etwas Neues. Der kalte Funktionalismus von Ciceros Darstellung. 3  De

Legibus, III, 5. Re Publica, I, 22. 5  Ebd. 6  De Re Publica, I, 26. 7  Ebd. 8  Ebd. 4  De

26

Die reale Natur von Regierungen

Immerhin, das Problem der „fortwährenden Veränderungen und Abfolgen von Regierungsformen“ wird in De Re Publica aufgeworfen.9 Scipio spricht davon, wie er von seinen Zuhörern gedrängt wird, ihnen doch zu offenbaren, was ihm zufolge die „beste“ Regierungsform sei. Er sagt, dass in seinen Augen eine vierte Art des Regierens zu empfehlen wäre. Keine der drei vorher erwähnten würde er für sich allein billigen. Woran indes zu denken wäre, sei eine „Mischung (genus permixtum)“ der drei.10 Und wieder bleibt es bei der rein funktionalen Aussage. Nichts wird theoretisch durchdrungen, begründet und ausgeführt. Kaum hat Scipio seine Aussage zu der „Mischung“ gemacht, kehrt er zu den drei Verfassungsformen Königtum, Aristokratie und Volksherrschaft zurück. Und erklärt, dass es schwierig sei, vergliche man sie miteinander, die eine oder die andere vorzuziehen.11 Wozu aber dient eine Nomenklatur von Regierungstypen, wenn sie nichts mehr besagt? Ciceros empirizistische Wende hinterlässt eine Theorie politischer Verfassungsformen, die leer ist. Die Macht dazu, eine Macht zu sein Das Problem von „Bewegung“ und „Form“ im Bereich des Regierungswesens verlangt nach einer Erforschung der Welt der Regierungen, die alle Sphären dieser Welt empirisch durchdringt und zu präzisen Analysen führt. Plato gab sich nicht damit zufrieden, allein jene Sphäre zu erkunden, die durch die verschiedenen Formen der politischen Verfassung einer Gesellschaft bekannt ist. Er spürte Bewegungen von Regieren auch in der menschlichen Seele nach und erkannte, dass es diese Bewegungen sind, welche die verschiedenen Arten von politischer Verfassung bewirken und jeweils formen. Um die Genesis und das Funktionieren einer Aristokratie zu verstehen, muss man die Dynamik der aristokratischen Disposition in den Seelen der herrschenden Aristokraten verstehen. Dem Wechsel von einem politischen Regime zu einem anderen gehen Bewegungen in den Seelen derer voraus, die einen solchen Wechsel ersehnen. In ihren Seelen haben Kräfte zu herrschen begonnen, die sie dazu bringen, unter einer anderen Regierungsform leben zu wollen. Jeder politischen Verfassung einer menschlichen Gesellschaft entspricht eine ihr gleichgeartete Verfassung der Seelen derer, die diese Gesellschaft mit sich gestalten. Der erste Satz dieses Beitrags sei noch einmal hervorgehoben: Alle Formen von politischer Ordnung sind Phänomene von Bewegung. Differenzieren wir nun, in empirischer Hinsicht, diese Aussage. Sie trifft, erstens, auf 9  Vgl.

De Re Publica, I, 29. Re Publica, I, 35. 11  Ebd. 10  De



Die reale Natur von Regierungen27

der Ebene von Verfassungsformen zu; wie, zweitens, auf der Ebene der Seele; und, drittens, trifft sie auf der Ebene von Regierungen zu. Von dieser Ebene kann auch gesagt werden, dass sie die der politischen Macht ist, oder, ganz präzise, der politischen Kreativität. Während eine Verfassung eine Gesellschaft formt, macht deren Regierung sie gegenwärtig: hier, durch diese Aufstellung, genannt „Regierung“, ist die Gesellschaft real, lebt sie, handelt durch sich, mit sich, für sich. Indes, das Leben einer Gesellschaft durch ihre Regierung geschieht nicht von allein. Regierungen sind kein Teil der körperlichen Welt. Sie haben kein eigenes Leben. Sie sind ein reines Werk politischer Schöpferkraft. Sie zu schaffen und dann sich selbst zu überlassen, genügt ganz gewiss nicht. Eine Regierung muss geschürt, vorangetrieben, bewegt, angekurbelt werden, durch ein eigenes schöpferisches Handeln, das ihr die Kraft, die Macht – die virtù in Machiavellis Sprache – gibt, selbst in schöpferischer Weise operativ zu sein. Wenn in ihr diese Macht, auch Macht zu sein, nicht beständig erzeugt wird, wieder und wieder, wird die Regierung unvermeidlich – und in den meisten Fällen sehr rasch – ein politisch leeres Gebilde werden. Nach wie vor wird es einen institutionellen Komplex von Regierung geben, aber dieses Gebilde – wie groß und imposant es auch sein mag – wird uns nicht täuschen. Die Figur des schöpferischen Akteurs, den diese Regierung einmal darstellte, wird aus ihrer Erscheinung verschwunden sein. Das andere Paradigma für die Untersuchung von Regierungen Wer aber bewerkstelligt die Bewegung von Kreativität, die aus der Aufstellung „Regierung“ tatsächlich eine Regierung macht? Wer schürt, treibt an, sammelt Macht und macht mit ihr die Regierung mächtig? Wer bringt die Schöpferkraft auf, die dem institutionellen Komplex einer Regierung die Macht dazu gibt, selbst eine schöpferisch operative Kraft zu sein? Personen. Dies ist die alleinige Antwort. Es gibt zwei Möglichkeiten, eine Regierung zu betrachten. Man kann sich auf ihre institutionelle Erscheinung konzentrieren, oder aber sich eingehend mit den Leuten beschäftigen, die einem ins Blickfeld kommen, wenn man der Arbeit einer Regierung unmittelbar nachgeht, indem man die Personen, die beim „Regieren“ sind, in ihren Büros aufsucht (oder sie, wenn es passender ist, was nicht selten der Fall ist, an einem anderen Ort trifft). Wird der erste Weg gewählt, wird das Wahrnehmen des Beobachters nur entlang der Institutionen dahingleiten, und das Wirkliche der betrachteten Regierung wird im Dunkel bleiben. Zu der Wahrheit von Regierungen gehört, dass ihre Arbeit und ihre Zielsetzungen nie voll transparent sind. Es gibt „Geheimnisse“. Was für welche, möchte man fragen. Im Falle einer Stadt, zum Beispiel, von der viel saniert und neu gestaltet wird, sollte die

28

Die reale Natur von Regierungen

Stadtregierung sorgsam sein, verschwiegen, zumindest für eine bestimmte Zeit. Denn ein Plan für die Erneuerung eines Stadtviertels, wird, wenn er öffentlich bekannt wird, unweigerlich eine Immobilienspekulation auslösen. Sie wiederum wird auf den Plan zurückwirken, und erheblich veränderte Bedingungen für ihn schaffen. Folglich wird man von vornherein die Möglichkeit, den Plan zu verwirklichen, wahren müssen, indem man ihn bis zu dem Zeitpunkt „geheim“ hält, da es seiner Verwirklichung am wenigsten schadet, wenn er erst dann öffentlich bekannt wird. Über den zweiten Weg forschend – man geht ins Feld – wird man des Zustands der Bewegung sogleich gewahr. Man sieht sich in einem dynamischen Feld. Es wird von Personen gebildet, und der empirische Status von Personen – mit ihrer physischen Existenz in der physischen Welt – ist von eindeutiger Evidenz. Methodisch gesehen, hat man nichts, das einen zweifeln ließe, das Forschen ungewiss machte. Man bewegt sich auf festem Grund. Und wieder möchten wir, aufgrund dieser Erfahrung, auf die Spannung zwischen Fiktion und Realität verweisen, die uns hier antreibt: In allen Formen, die Politik annimmt, sind allein die Personen wirklich, die in der Welt dieser Formen, von Personen aufgeführt und bestimmt, zu finden sind. Gewiss, Regierungen sind, so die erste Aufgabe, im Modus ihrer institutionellen Erscheinung zu erfassen. Sie existieren materiell, und sie tun dies mit ihren rechtlichen, administrativen, und prozeduralen Strukturen. Um aber auf die „Regierung“ in Regierungen zu kommen – also auf die Macht, die in diesen auch die Macht ist –, bedürfen wir eines Paradigmas, das uns zu Anderem, nicht dem Institutionellen hin dirigiert. Dieses Paradigma wurde hier soeben konturiert. Es beruht auf der Beobachtung von Personen. Der spezifische Fall des konstitutionellen Regimes Unter allen Regierungsformen gibt es eine, an der sich der Primat von Personen in der Politik besonders illustrativ aufzeigen lässt. Das ist das konstitutionelle Regime.12 Warum? Die Anlage eines konstitutionellen Regimes, so wäre zuallererst zu sagen, ist paradox. Mit ihr wird bezweckt, eine Form von Regierung einzurichten, mit der ein Regime der Freiheit entsteht und, insbesondere, erhalten bleibt. Aber Regieren verlangt notwendigerweise das Ausbilden und den Gebrauch von Macht – also eine machtvolle Regierung. 12  Vgl. hierzu den Beitrag „Das Projekt Demokratie. Die Freiheit und ihre Verfassung“ in diesem Band (S. 39–44), sowie den Abschnitt „In der Freiheit“, in: Tilo Schabert, Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen mensch­ licher Existenz, Freiburg/München 2009, S. 144–154, und das Kapitel „Gestalt in der Moderne: Das konstitutionelle Regime“ in: Tilo Schabert, Das Gesicht der Moderne. Zur Irregularität eines Zeitalters, Freiburg/München: Alber, 2018, S. 208–222.



Die reale Natur von Regierungen29

Genau dies indes bedroht die Freiheit – eine Regierung, die machtvoll ist. Es passt nicht zu der Idee einer Regierung, deren Zweck vor allem das Gedeihen der Freiheit ist. Das konstitutionelle Regime muss deswegen in einer solchen Anlage ausgedacht werden, dass Regierungsmacht von vorneherein durch eine Reihe von Vorkehrungen in der Verfassung und im institutionellen Aufbau des Regimes geschwächt wird. Der ganze Regierungsapparat wird unterteilt, fragmentarisiert, hierarchisch abgestuft, räumlich auseinander gestreckt, und so in Einheiten zerlegt, zwischen denen eine gegenseitige Behinderung von Macht vor sich geht. Das ist das Paradox im Zentrum der konstitutionellen Form des Regierens. Einer Regierung wird Macht verliehen und gleichzeitig wird ihr diese genommen. Es kann nicht wirklich überraschen, dass Regierungen, die nach der Art eines konstitutionellen Regimes verfasst sind, auf die Herausforderung des Paradoxes, in das sie hineingestellt sind, reagieren. Unter dem Impuls und der Anleitung ihrer Häupter machen sie den Primat von Personen in der ­Politik zum Prinzip ihrer Art von Regieren. Und damit gewinnen sie all die Macht, die ihnen formell – vom Design der Regierungsordnung, der sie vorstehen – versagt ist. So lässt sich jetzt die Antwort auf die Frage anvisieren, die vorher aufgeworfen wurde: Warum ist das konstitutionelle Regime besonders dafür geeignet, das Primat von Personen in der Politik aufzuzeigen? Mit ihrer historischen Entwicklung wie mit ihrer gegenwärtigen Realität zeigen eben konstitutionell verfasste Regierungen, wie sehr sie das ihnen innewohnende Paradox mit einem Primat von Personen zu beherrschen versuchen. Wir sind denn zu entsprechenden Forschungen angehalten. Einige der Grundzüge solcher Forschungen werden hier vorgestellt. Sie mögen nicht zuletzt dazu verhelfen, die strenge Empirie wie den theoretischen Gewinn des Forschungsprogramms wahrzunehmen13. Die „Regierung“ von Bundeskanzler Helmut Kohl und das para-konstitutionelle Organ „Koalitionsausschuss“ Schaut man nach einem herausragenden Beispiel einer Regierung, bei der das Primat von Personen wahrlich das oberste Prinzip des Ausübens von Regieren war, so kann man kein besseres wählen als das der Regierung des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl.14 Natürlich war dessen Regierung 13  Siehe zu unseren eigenen Forschungen: Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin: De Gruyter, 1989 und Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart: Klett-Cotta, 2002. 14  Man könnte auch das ebenso instruktive Beispiel der Regierungsweise des französischen Präsidenten Franҫois Mitterrand wählen. Vgl. den Beitrag „Ein klassischer Fürst“ in diesem Band (S. 345–378).

30

Die reale Natur von Regierungen

entsprechend der Bestimmungen des deutschen Grundgesetzes gebildet worden, die, zusammen mit der Geschäftsordnung für Bundesregierungen, den Rahmen für ihre Tätigkeit abgaben. Das Grundgesetz lässt den Bundeskanzler innerhalb der Bundesregierung eine überragende Stellung innehaben. Aber es definiert die Bundesregierung gleichfalls als Kollegialorgan. Betrachteten wir das Grundgesetz allein, würden wir denken, dass die Bundesrepublik Deutschland durch die Bundesregierung regiert würde. Dem Land stünde ein Kollegialorgan vor, gebildet aus Kanzler und Ministern. Sie zusammen würden über die Regierungsgeschäfte beraten und gemeinsam dabei zu Entscheidungen kommen. Indes wurde die Bundesrepublik unter Kanzler Kohl in beträchtlichem Maße über das „System“ personaler Macht regiert, das Helmut Kohl innerhalb der politischen Welt der Republik aufgebaut hatte, und das auf zwei Säulen beruhte, seiner Kanzlerschaft, sowie dem Vorsitz seiner Partei, der CDU. Es bestand aus Myriaden von politischen Freundschaften und Allianzen, und überall ins Land hinaus hatte Kohl seine Fürsprecher, Vertraute, Berater, Förderer, Informanten, für ihn Handelnde. In der Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands konnte der Kanzler Deutschlands Schicksal in einer monokratischen Weise in die Hand nehmen. Er hatte das Bundeskabinett – von der Verfassung her das Organ im Zentrum der Regierungsordnung – auf ein „Notariat“ herabgedrückt, wie es ein langjähriger Beobachter des Kohl’schen Systems verzeichnete.15 Stattdessen wurden Entscheidungen bei Treffen informeller Zirkel im Kanzleramt oder in Kohls Wohnhaus (dem offiziellen „Kanzlerbungalow“ in Bonn oder Kohls Privathaus in Oggersheim) vorbereitet und getroffen. Die Zusammensetzung dieser Zirkel wurde von Kohl beständig und absichtlich fließend gehalten. Auf diese Art kam allein ihm eine konstante Macht zu, als einziger Herr der von ihm im konstitutionellen Gefüge veranstalteten Machtprozesse, mit denen er das Bundeskabinett neutralisierte. Indes gab es eine bestimmte Grenze für die Macht, welche Kohl zur Ausübung von Macht zusammenzog. Er war Kanzler einer Koalitionsregierung. Sie wurde im Parlament von seiner Parteiformation, der CDU/CSU, zusammen mit der Partei der Liberalen, der FDP, getragen. Nur mit dieser Koalition hatte er für seine Politik die nötige Mehrheit im Bundestag. Vom guten Funktionieren der Koalition also hing die Existenz seiner Regierung ab. Es war eine Erfordernis, die, schon vor Kohl, bei Koalitionsregierungen zur Ausbildung eines para-konstitutionellen Organismus geführt hatte: den sogenannten „Koalitionsausschuss“. Er ist ein Musterbeispiel für das hier betrachtete Phänomen von „Bewegungen“ politischer Macht im Vorhandensein 15  Karl Feldmeyer, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Bonn, im Interview mit dem Autor, Bonn, 26. Februar 1997 (Aufzeichnung des Interviews im Archiv des Autors).



Die reale Natur von Regierungen31

von Verfassungsformen. Denn aus ihm ist mittlerweile ein Ersatzorgan für die Bundesregierung geworden. Im institutionellen Gefüge der Bundesrepublik ist das oberste Regieren des Landes – nach dem Vokabular des Konstitutionalismus: die „Exekutive“ – in die Surrogat-Institution „Koalitionsausschuss“ verlagert worden.16 Bundesregierungen in der Geschichte der Bundesrepublik waren zumeist Koalitionsregierungen. Jedes Mal bestand – und besteht unentwegt – der Regierungsapparat einer Koalition aus einem vielgestaltigen und verzweigten Komplex von Arbeitsgruppen, Ausschüssen, Beratungsrunden, halb informell, halb formell verfassten Gremien (alles oft wieder mit Untergruppierungen), mehr oder weniger regelmäßigen losen Treffen, persönlichen Begegnungen und Konsultationen. Alles war (bzw. ist) dazu bestimmt, die Regierungsarbeit der Koalition zu organisieren und zu bewältigen. Aber auch, und ganz gewiss nicht zuletzt, zu dem Zweck, die Koalition selbst instand und geschäftsfähig zu halten. Ist sie nicht organisiert, kann sie nicht regieren, und sie ist nicht angemessen organisiert, wenn ihr Zusammenhang nicht in einem so fließenden Zustand gehalten wird, dass dieser Zusammenhang stets an das Spiel der Kräfte innerhalb der Koalition angepasst werden kann. So kann es geschehen, dass eine Koalition mehr mit sich selbst als mit ihrer Aufgabe, dem Regieren, beschäftigt ist. Dann fällt in ihr nach und nach die Macht aus, die in ihr akkumuliert sein müsste, damit die zur Ausübung von Macht bestimmte Regierung – also hier die Koalitionsregierung – auch zum Regieren mächtig ist. Helmut Kohl geschah das nicht. Er setzte in seiner Koalition mit den ­ iberalen das von ihm aufgebaute System personaler Macht ein. Es machte L ihn, den Bundeskanzler, und damit auch die von ihm als Kanzler angeführte Regierung mächtig. Doch im Koalitionsausschuss und dem weiteren organisatorischen Verkehr zwischen den Koalitionspartnern stieß er auf eine Grenze. Und er beachtete sie. Er verhielt sich klug. Nach dem Zeugnis von Hans-Dietrich Genscher, Vorsitzender der FDP und von 1982 bis 1992 Außenminister in der Koalitionsregierung, brachte Helmut Kohl während dieser zehn Jahre nicht ein einziges Mal seine Richtlinienkompetenz auf oder berief sich gar auf sie, um nach seinen Vorstellungen allein das Vorgehen der ganzen Regierung festzulegen17. 16  Instruktiv sind dazu empirische Berichte wie: „Scharniere der Koalition: Wie die Zusammenarbeit zwischen den beiden Regierungsfraktionen funktioniert: Kleine Fachzirkel und Elefantentreffen“, in: Das Parlament, 12. April 1986, S. 16; Günter Bannas, „Kein Mitglied der kleinen Runden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juli 2006, S. 4; Günter Bannas, „Nie wieder Sonntag? Wie der Koalitionsausschuss seine politischen ‚Durchbrüche‘ erzielt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Juli 2006, S. 10. 17  Interview des Autors mit Hans-Dietrich Genscher, Berchtesgaden, 1. August 2006 (Aufzeichnung des Interviews im Archiv des Autors).

32

Die reale Natur von Regierungen

Die symbolische Signifikanz des leeren Büros Die Bewegungen politischer Macht, welche die Häupter konstitutioneller Regierungen herbeiführen, beginnen vor ihrem Einzug in das politische Amt, in das sie gewählt wurden; in der Tat etliche Zeit vor dem Beginn ihres Regierens. Eine Betrachtung der Umstände dieses Beginns ist außerordentlich lehrreich für die hier intendierte Regierungslehre. Gehen wir ihr denn erst einmal nach. Der neue Präsident, Kanzler oder Premierminister kommt an dem Tag, da er seine Regierungsarbeit aufnehmen will, in das Büro, das nun das seine sein wird. Und er wird entdecken, dass es leer ist. Am 4. März 1933 war Franklin D. Roosevelt in das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika eingeführt worden. Kurz nach dieser Zeremonie saß er am Schreibtisch im Büro des amerikanischen Präsidenten, dem Oval Office, und wollte mit seiner Arbeit, der Erledigung erster Regierungsgeschäfte, beginnen. Aber auf oder in dem Schreibtisch befand sich nichts, mit dem er sich hätte an die Arbeit machen können. Nicht einmal ein Bleistift oder ein anderes Schreibutensil war da. Roosevelt musste in den Gang vor dem Oval Of­ fice hinausrufen, damit ihn jemand hörte und auf sein Ansuchen reagieren konnte, das präsidentielle Machtvakuum zumindest mit etwas Macht auszufüllen, nämlich der Macht, sich Notizen zu machen.18 Als der neu gewählte Präsident Mitterrand und seine Berater am 21. Mai 1981 zum Regieren im Élysée-Palast ankamen, stellten sie fest, dass dort keine Akten aus der Präsidentschaft von Mitterrands Vorgänger, Valéry Giscard d’Estaing, zu finden waren. Der ausgeschiedene Präsident hatte nichts hinterlassen.19 Gleiches entdeckten die Mitarbeiter Helmut Kohls, als sie nach dessen Wahl zum Bundeskanzler in das Bundeskanzleramt einzogen. Ein großer Teil der Akten des vorigen Kanzlers, Helmut Schmidt, war verschwunden.20 Einem Neuankömmling im Amt eines Regierenden kann es auch widerfahren, dass ihm die Anerkennung seiner Macht verweigert wird. In seiner Geschichte der amerikanischen Präsidentschaft von Truman bis Reagan gibt William Leuchtenberg diese Szene wieder: „Nach der Beerdigung von FDR [Franklin Delano Roosevelt] versammelten sich im Weißen Haus zweihundert von dessen Anhängern, um Roosevelt zu ehren. Als Präsident Truman den Raum betrat, stand niemand auf.“21 18  Vgl. Arthur M.Schlesinger Jr., The Age of Roosevelt. The Coming of the New Deal, Boston: Houghton Mifflin, 1957, S. 2. 19  Vgl. Jacques Attali, Verbatim I, Paris: Fayard, 1993, S. 21. 20  Bericht von Kohls damaligem Berater Horst Teltschik im Interview mit dem Autor, München, 18. Juli 1994, (Aufzeichnung des Interviews im Archiv des Autors). 21  William E. Leuchtenberg, In the Shadow of FDR. From Harry Truman to ­Ronald Reagan, Ithaca: Cornell University Press, 1985, S. 3.



Die reale Natur von Regierungen33

Die Präfiguration von Regierungen in Parteiungen von politischen Freunden Wie fühlt man sich bei einem solchen Beginn? Man fühlt sich keineswegs entmutigt. Man fühlt sich vielmehr stark. Denn dieser Beginn in der institutionellen Sphäre – man übernimmt das Amt, in das man gewählt wurde – ist keinesfalls der Beginn einer Ausübung von Macht. Für einige Zeit schon, noch als Aspirant auf das nun eingenommene politische Amt, hatte der Neugewählte eine Schar politischer Freunde und Alliierter um sich gesammelt, und agierte als deren Anführer. Man könnte sie auch seine „persönliche Partei“ nennen. Sie bildete sich auf seinem Weg dorthin aus, für sich und andere aus ihr Regierungsmacht zu erlangen. Diese Partei besaß für sich allein schon Macht, noch im Vorhof der Regierungsmacht. Das war die Macht einer Parteiung im allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Prozess, und, insbesondere, in der „offiziellen“ politischen Partei, innerhalb der und auf die hin sie einem Machterwerb diente. Diese Macht seiner Parteiung nimmt ein in ein Regierungsamt neu Gewählter mit sich. So beginnt er in der institutionellen Sphäre zwar neu, nicht aber in der Sphäre politischer Macht. Hier ist er schon ein Routinier – und hat zum Regieren ein wirkungsvolles Werkzeug: seine Parteiung.22 Der neu Gewählte wird maßgeblich auf seine Parteiung zur Aktualisierung und Ausdehnung der ihm mit seinem Amt gegebenen Macht zurückgreifen. Er wird Leute seiner persönlichen Partei mit wichtigen Positionen in seiner Regierung betrauen. Sie haben sich schon vorher, bei der politischen Arbeit der Parteiung vor seiner Wahl, in das Regieren eingeübt, indem sie sich für ihn, noch den Kandidaten, mit all den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen Fragen beschäftigt haben, denen er, würde er gewählt, sich zu stellen hatte. Die Einzelnen unter ihnen hatten sich entsprechend spezialisiert, sie waren für bestimmte Fragen zuständig. Würde man ihren organisatorischen Zusammenhang ins Institutionelle übersetzen, so sähe man eine Regierung. Oder, anders formuliert: In diesem organisatorischen Zusammenhang erkennen wir eine Präfiguration der Regierung, die ein Kandidat bilden wird, wird er in das Amt eines Regierungschefs gewählt. Eine institutionelle Bewegung von Macht ausführend, ziehen Parteiungen von Freunden mit ihrem zum Haupt einer Regierung gewählten Anführer in die Institutionen des gegebenen Regierungsapparats ein und machen diese der „Regierung“ gefügig, die sie mit sich selbst herbeigebracht haben. Oft wird – bedauerlicherweise – diese Bewegung übersehen. Wird sie wahrgenommen, ist es – wiederum nicht selten – schwierig, sie zu erfassen. Man muss die 22  Vgl. hierzu meine detaillierte theoretisch-empirische Studie zu der Parteiung des Bürgermeisters von Boston, Kevin White in: Boston Politics, S. 99–210.

34

Die reale Natur von Regierungen

Kenntnisse eines Eingeweihten haben, oder die Bewegung auskundschaften. Das eine oder/und das andere wird auf jene zutreffen, die am Beispiel des amerikanischen Präsidenten Barack Obama aufgezeigt haben, wie eine Parteiung von Freunden sich zur „Regierung“ über das Regierungswesen eines Landes macht. Obama, so wird klar, regierte die amerikanische Regierung durch die Personen, mit denen er „seine“ Regierung zur Zeit seiner Wahlkampagne vorgeformt hatte. Das waren die politischen Freunde, Berater und Alliierten, die er für sich vornehmlich an der Harvard Universität und in Chicago gewonnen hatte, wie durch eine Ausweitung dieser Bündnisse, an anderen Orten.23 Über das Freundschaftsnetz, mit dem Franҫois Mitterrand im Mai 1981 den Regierungsapparat Frankreichs übernahm und während seiner ganzen Präsidentschaft beherrschte, sprechen wir in anderen Beiträgen zu diesem Band.24 Das Monokratische Maximum „Dem [amerikanischen] Präsidenten“, so stellte Woodrow Wilson in seiner Studie Constitutional Government in the United States (1908) fest, „steht es frei, sowohl dem Gesetz wie seinem Gewissen nach, eine so mächtige Person zu sein, wie er es nur sein kann. Die Grenze sind allein seine Fähigkeiten. Aus seinem Amt wird immer das werden, wozu er den Scharfsinn und die Kraft hat.“25 Aber, so staunen wir, gibt es nicht Regeln für das Regieren eines amerikanischen Präsidenten? Wo sind sie? Sind solche Regeln doch aufgestellt, so scheint uns, denken wir an die mit der amerikanischen Verfassung gesetzten Normen für das Regierungswesen des Landes. Gewiss, aber das ist nur eine formale Antwort. Das wahre Regieren eines amerikanischen Präsidenten ist in Wilsons „was immer“ zu finden, das heißt in der Machtap23  Siehe: Mike Dorning/Christi Parsons, „Inside Obama’s inner circle. Ahead of likely presidential campaign, senator relies on core of trusted advisers“, Chicago Tribune, 14.  Januar 2007; Shailagh Murray, „In Obama’s Circle, Chicago Remains the Tie That Binds“, Washington Post, 14. Juli 2008; Reymer Klüver, „Konzentrische Kreise“, Süddeutsche Zeitung, 30. Oktober 2008; Lyon Sweet, „Obama’s inner circle of friends: Jarrett, Whitaker, Nesbitt and Pritzker on Election Day“, Chicago Sun Times, 4. November 2008; Peter Nicholas, „A close-knit inner circle. The ‚Friends of Barack‘ include neighbors and classmates – some of whom follow him to Washington“, Los Angeles Times, 9.  November 2008; Klaus Brinkbäumer, „The Obama’s Second Inner Circle“, Spiegel Online International, 9. Januar 2009; „Presidents need somebody to talk to“, The Washington Times, 23. Februar 2010. 24  Siehe „Das Paradox der Macht. Anmerkungen zur Regierungspraxis in Washington, Paris und Bonn“; S. 263–270; „Ein klassischer Fürst. François Mitterrand im Spiegel einer vergleichenden Regierungslehre“, S. 345–378. 25  Woodrow Wilson, The Papers of Woodrow Wilson, hg. Arthur S. Link, Bd. 18, Princeton: Princeton University Press 1974, S. 115–116.



Die reale Natur von Regierungen35

paratur, die sich der Präsident, unter den paradoxen Bedingungen der konstitutionellen Regierungsform, mithilfe seines „Scharfsinns und seiner Kraft“ beschafft, und deren Ausmaß allein durch seine „Fähigkeiten“ begrenzt ist.26 Es ist deswegen nicht verwunderlich, was Louis Koenig in seinem Buch The Chief Executive zum Regieren der Präsidenten George Washington, Andrew Jackson, Abraham Lincoln, Woodrow Wilson, Theodore Roosevelt und Franklin D. Roosevelt erklärte. Sie hätten sich in der Ausübung der ihnen durch ihr Amt gegebenen Macht ein „Maximum an Freiheit (maximum liberty)“ genommen.27 Ähnliches schrieb Stephen Hess in seiner Studie The Presiden­ tial Campaign. Was man, von außen betrachtet, als „präsidentielle Größe“ ansehe, sei oft dadurch erreicht worden, dass „das verfassungsmäßige Mandat [dem Machtanspruch des Amtsinhabers] gefügig gemacht wurde.“28 Schaut man nach Europa, wird man erkennen können, dass Bewegungen politischer Macht wie die hier beschriebenen die Wirklichkeit konstitutioneller Regimes dramatisch verändert haben. Mit ihrer Studie The Powers Behind the Prime Minister. The Hidden Influence of Number Ten vermelden Dennis Kavanagh and Anthony Seldon unverblümt, dass das System der britischen Kabinettsregierung tot und durch ein „Bonapartistisches System“ ersetzt worden sei.29 Schon vor ihnen hatte Peter Hennessey bekundet: „Number 10 [der Sitz des britischen Premierministers] ist allgegenwärtig.“30 Von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde 2009 gesagt, dass sie durchaus dazu geneigt wäre, ihre Macht als Kanzlerin zu der weit größeren eines amerikanischen Präsidenten auszudehnen.31 Nicolas Sarkozy richtete nach seiner Wahl zum französischen Präsidenten 2007 eine „Hyper“-, eine „Ultra-Präsidentschaft“ ein, so urteilten Beobachter. Dies erlaubte ihm, den Premierminister, den Ministerrat, das Parlament, die Mehrheitsparteien zu kontrollieren, und, darüber hinaus, einen beträchtlichen Druck auf die Opposition, die Gewerkschaften, die Medien und große Konzerne auszuüben. Wie es schien, hatte er 26  Nach Ciceros Ansicht (De Re Publica I, 45) bedarf eine Republik, um gut organisiert zu sein, eines „obersten und königlichen Elements (quiddam praestans et re­ gale)“. Ciceros „quiddam“ und Wilsons „was immer“ sind äquivalent. 27  Louis W. Koenig, The Chief Executive (rev. ed.), New York: Harcourt, Brace & World, 1968, S. 11. 28  Stephen Hess, The Presidential Campaign, Washington D.C.: Brookings Institution, 1978, S. 9. 29  Dennis Kavanagh/Anthony Seldon, The Powers Behind the Prime Minister. The Hidden Influence of Number Ten, London: HarperCollins, 1999, S. 291. Vgl. auch: Bernard Donoughue, The Heat of the Kitchen, London: Politico’s, 2003. 30  Peter Hennessey, „The Blair Style of Government“, in: Government and Opposition, Nr. 33. 1998. hier: S. 15. 31  Vgl. Stefan Braun, „Merkel höhlt die CDU aus“, in: Süddeutsche Zeitung, 12. Januar 2009.

36

Die reale Natur von Regierungen

sich zum Chef einer Regierung im institutionellen Gefüge eines konstitutionellen Regimes gemacht, der „auf alles Einfluss nahm, alles entschied“.32 Bei der gegenwärtigen Entwicklung konstitutioneller Regimes können wir denn eine hochgradige Konzentration von Regierungsmacht in den Händen der Person allein wahrnehmen, die der jeweiligen Regierung vorsteht, als Präsident, Kanzler(in), Premierminister. Das ist in den betreffenden Verfassungen nur bedingt angelegt. Aber diese Verfassungen bedingen wiederum eine machtvolle Reaktion auf die von ihnen gewollte Paralyse von Regierungsmacht. Im Falle von Frankreich allerdings wurde die Konzentration von Regierungsmacht beim Übergang 1958 von der Vierten zur Fünften Republik ganz formell zum Kern der neuen Verfassung gemacht. Das „präsidentielle“ Regime, das aus ihr hervorgeht, wurde vom Gründer der V. Republik, ­Charles de Gaulle, eindeutig definiert: „Die Regierung hat jenseits von mir keinerlei reale Existenz. Sie gibt es nur durch mich.“33 Bei einem Interview wurde Henri Guaino, Redeschreiber von Präsident Nicolas Sarkozy und Chefintellektueller im Élysée, gefragt: „Herr Sarkozy verstärkt den präsidentiellen Charakter des Regimes. Ist er ein aufgeklärter Despot?“ Guaino antwortete: „Aufgeklärt, ja. Despot, nein! Politik aber muss verkörpert werden. Die Demokratie ist nicht nur ein System unkörperlicher Regeln. Sie ist auch ein Machtsystem, das sichtbar zu sein hat.“34 In Reaktion auf das konstitutionellen Regimes innewohnende Paradox der Macht dehnten Regierungschefs ihre Macht zu einem monokratischen Maximum aus. Die Frage erhebt sich dann, ob dieses Paradox – die Macht zum Regieren wird gegeben und dann wieder entzogen – von den „Monokraten“ mit ihrer Regierungsweise und für diese aufgelöst worden ist. Denn es scheint ja tatsächlich so, dass das Auswirken ihrer Regierungsweise auf die Regierungsordnung zu der Gegebenheit eines monokratischen Regimes im Gefüge des konstitutionellen Regimes geführt hat. Ein demokratisch gesonnener Beobachter würde nun wohl sagen, dass konstitutionelle Regimes natürlich nicht in monokratische Regimes schlechthin übergehen sollten. Das wird unter regulären Umständen auch nicht geschehen. Konstitutionelle Regimes widerstehen durch ihre Verfassung einem solchen Vorgang. Denn früher oder später gelangt jedes monokratische Regime innerhalb eines konstitutionellen an sein Ende, wenn bei Wahlen diejenigen, die es ausgebildet haben, nicht mehr gewinnen und also ihre politischen Ämter verlieren. Das ist der Grund, 32  Vgl. Christophe Jakubyszyn/Sophie Landrin, „Le grand Meccano de Nicolas Sarkozy“, Le Monde, 26. Dezember 2008, S. 13; Arnaud Leparmentier, „La ‚rupture‘ de M. Sarkozy a cédé devant la réalité“, Le Monde, 4.–5. Januar 2009, S. 7. 33  Siehe: Alain Peyrefitte, C’était de Gaulle. Vol. 1: La France redevient la France, Paris: Editions de Fallois, S. 116. 34  Le Monde, 22.–23. Juli 2007, S. 6



Die reale Natur von Regierungen37

warum allgemeine Wahlen so außerordentlich wichtig sind für die Existenz und das Fortleben eines konstitutionellen Regimes, also einer Herrschaft der Freiheit. Aber die Tendenz zu einer Ausbildung monokratischen Regierens im Gefüge einer konstitutionellen Regierungsordnung kann nicht bestritten werden. Wie soll dann diese widersprüchliche Dynamik, die heutiges Regieren unter der Vorgabe eines konstitutionellen Regimes kennzeichnet, beurteilt werden? Eine Antwort kann nur dadurch gefunden werden, dass man die Bewegungen von Macht, welche Personen auf ihrem Weg zur Regierungsmacht und dann bei ihrer Ausübung derselben vollführen, so detailreich wie möglich ausmacht, ihnen folgt, und so versteht, was an Regierungsmacht sie akkumulieren und wie sie diese organisieren. Je nach dem Ergebnis kann man mehr oder weniger genau die Differenz zwischen dem durch die Verfassung gegebenen politischen Mandat einerseits und dessen Ausdehnung auf ein monokatisches Maximum hin andererseits bestimmen. Es sei noch einmal betont: Die Entwicklung innerhalb konstitutioneller Regimes hin zu einer monokratischen Konzentration politischer Macht läuft seit längerem und vielerorts ab. Sie hat ihre eigenen institutionellen Auswirkungen. Die bedeutendste und am ehesten wahrnehmbare liegt mit dem überaus umfangreichen Anwachsen und dem immer größeren institutionellen Gewicht der Regierungszentralen vor: wie des Bundeskanzleramts, dem Präsidialamt im Élysée, dem White House, Downing Street 10. Ursprünglich bestanden diese Regierungszentralen aus einer Handvoll von Mitarbeitern des jeweiligen Hauptes der Regierung. Heute sind sie gewaltige Machtmaschinen, mithilfe derer das Regierungshaupt eine unverhältnismäßige Intensität und Stärke persönlicher Macht ausüben kann – unverhältnismäßig, nimmt man die Vorgaben der Verfassung für die Amtsmacht zum Maßstab. Das letztmögliche Ergebnis einer solchen Machtkonzentration in der Form des monokratischen Maximums hängt von den ihr vorausgehenden und sie mitbedingenden institutionellen und politischen Umständen wie von der Fähigkeit des Amtsinhabers oder der Amtsinhaberin ab, das aufzubringen, was nach Wilson nötig ist: Scharfsinn und Kraft. Die Umstände indes können sich ändern. Und eine Machtstellung auf der Ebene des monokratischen Maximums ist natürlicherweise unsicher. Es ist sehr wahrscheinlich, dass beim Geschäft, all die personale Macht zu erhalten, die man akkumuliert hat, Fehler gemacht werden, kleinere und größer, mitunter auch fatale. Augenblicke der Müdigkeit stellen sich ein, und gewöhnlich häufen sie sich mit der Zeit. Die Liebe zur Politik und der Enthusiasmus, der sich einem vermittelt und den man fühlt, wenn man die eigene Existenz zum Träger von Interessen und Projekten anderer macht, und sie dadurch ausweitet, vervielfacht und erhöht,

38

Die reale Natur von Regierungen

werden durch Widerstände von allen Seiten auf eine grausame Art beansprucht. Wie stark sind sie? Was alles halten sie noch aus? Es wird Begegnungen mit der menschlichen Natur geben, die auszehrend für diese Liebe und diesen Enthusiasmus sind. Einige Monate nachdem er aus seinem Amt ausgeschieden war, vertraute Bostons ehemaliger Bürgermeister Kevin White dies der Studentenzeitung der Harvard University, The Harvard Crimson, an: „Wenn man wünscht, in die Politik zu gehen, muss man die Leute mögen. Dann war es soweit, dass ich begann, sie nicht mehr zu mögen. Es war Zeit, aus der Politik auszuscheiden.“35 Eine monokratische Praxis des Regierens erregt nach einer gewissen Zeit die Neugier einer zunehmend breiten Öffentlichkeit. Was sie für die konstitutionelle Regierungsordnung bedeutet, wird allerdings nicht gleich wahrgenommen, da ja das Monokratische formal mit der Position eines Regierungschefs übereinstimmt. Deswegen wird das Phänomen der Monokratie zuerst als eine Manifestation einer guten und effizienten politischen Führung angesehen – bis die Anzeichen eines monokratischen Regimes mehr und mehr sichtbar werden, wenn nicht sogar auffällig. Dann wird die Öffentlichkeit mehr wissen wollen. Sie wird sich das monokratische Regime vornehmen. Das zusammen mit den aufgestauten eigenen Fehlern des Regimes, ist im Allgemeinen der Anfang vom Ende (wie langsam der Prozess des Endens auch sein mag) eines monokratischen Regimes im Gefüge einer konstitutionellen Regierungsordnung. Indes: Monokratische Regimes innerhalb konstitutioneller Regimes werden immer und immer wieder aufgerichtet werden. Die Bewegungen politischer Macht, von denen wir hier gesprochen haben, hören nie auf – die Bewegungen von Personen hin zur Regierungsmacht und, erringen sie diese, mit dieser.

35  Vgl. Boston Politics, The Creativity of Power, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1989, S. 209.

Das Projekt Demokratie Die Freiheit und ihre Verfassung Es gibt keine Alternative zur Demokratie. Wuchtig und wirkungsvoll, nicht wahr. So ein erster Satz, der aufschallt wie ein Trompetenstoß. Das wäre doch ein Anfang. In sechs Wörtern das Wesentliche gesagt. Dem Thema einen Auftritt gegeben, der ganz für eine Vorführung beschaffen ist, die glatt ablaufen wird. Wir können uns schon einmal zurücklehnen. Es werden zwar noch viele Sätze folgen, die uns interessieren, vielleicht sogar packen werden. Wir warten darauf. Doch keiner, das ist abzusehen, wird es mit dem ersten aufnehmen können. Der traf. Und machte uns darob sogleich, eher zum Nachteil eines offenen Nachdenkens, parteiisch. Uns, die Darsteller und zugleich Zuschauer in der Arena der Demokratie. Emphatischer Beifall hier, verwundertes Kopfschütteln dort. Wie überwältigend wahr, so das Empfinden auf der einen Seite, man kann da nur, nein, muß zustimmen: Es gibt keine Alternative zur Demokratie. Wie hochfahrend dieser Satz, dem entgegen die Reaktion auf der anderen Seite, wie kann man so übersehen, was noch immer zuallererst kommt: die Freiheit der Menschen zu freiesten Gedankenspielen und Denkwegen in Sachen Politik. Es müßte möglich sein, sich beispielsweise für eine Tyrannei entscheiden und sagen zu können, mit ihr den Menschen das Beste bringen zu wollen, oder nicht? Nein, es ist nicht möglich. Hat man sich einmal dazu bereitgefunden, die Angelegenheit wahrlich durchzudenken. Dazu taugen indes verkürzte Sätze nicht. Wie unser erster hier, der, Trompetenschall hin, treffsichere Wirkung her, solch ein verkürzter Satz ist. Mit ihm – diesem Satz zur Demokratie – erscheint zwar „Wahres“, wenn wir aus einem Wissen der Wahrheit heraus sprechen, für die er steht, und die Verkürzung nichts anderes ist als ein rhetorisches Mittel. Aber er sagt nicht wirklich aus, was auszusagen wäre. Durch ihn leuchtet Erkenntnis nur hindurch. Das Wissen von Demokratie, in dem wir diese für uns erkennen, ist – oder wird uns – gegenwärtig allein in dem anderen Satz. Dem unverkürzten. Er lautet: Es gibt keine Alternative zu der Ordnung des Regierens von Menschen, die nach demokratischen Grundsätzen aufgebaut ist und den notwendigen Geset­ zen ihrer demokratischen Natur gehorcht. Erstdruck

in: Die Gazette (München), Nr. 8, (Dezember 2005), S. 17–21.

40

Das Projekt Demokratie

Doch: Wie hätten wir mit einem so langen und so komplizierten Satz beginnen können? Uns über ihn treffen? In ein gemeinsames Denkgespräch eintreten, über alle Verfremdungen des gedruckten Worts hinweg? Wohl schlecht. Es wäre der falsche Anfang gewesen, mit dem unverkürzten Satz einzusetzen. Mit ihm zu Beginn hätten wir uns so schnell verloren wie er uns zusammenbrachte. Denn: Der Satz ist sperrig, und wer kein besonderes Motiv dazu hat, wird sich nicht durch ihn hindurch winden. Jedem interpretativen Auskundschaften jedenfalls stellen sich Kloben von Begriffen quer, die auf das Sprachfeld des ganzen Satzes diesen verdunkelnde Schatten werfen. Die Konstruktion des Satzes strahlt eine Aura der Abweisung ab. Alles an ihm sieht aus nach einer geschlossenen Satzfestung. Wer wollte ein anderes Bild, eine andere Vorstellung von ihm fassen? Wir. Nachdem wir nun schon mittendrin sind, uns doch nicht zurückgelehnt, sondern vielmehr den Szenenaufbau mitverfolgt haben, nicht ohne eine gewisse Spannung. Und jetzt steht vor uns ein Satz, den wir einnehmen sollen wie eine Festung. Wie machen wir das? Machen wir es überhaupt? Einen Satz „einnehmen“ wie eine „Festung“? Eine seltsame Lage. So als wären wir bei kriegerischen Dingen und nicht bei Dingen des Denkens. Aber ist Denken nicht etwas Fließendes, Austastendes, ja auch Spielerisches? Und ist der komplizierte, sperrige Satz schließlich nicht auch nichts anderes als eine Manifestation von Denken? Dann wäre, was in ihm sprachlich eingefangen wurde, Fließendes, Austastendes, ja auch Spielerisches? Gewiß. Und die Festung? Wir setzen nicht dazu an, sie einzunehmen, natürlich nicht. Vielmehr machen wir beim Szenenaufbau nun selber mit, und stellen uns vor, wir nähmen in einigen Akten des Mitvollzugs an jenem Denken (dem fließenden, austastenden, ja auch spielerischen … ) teil, durch das Demokratie wissend gemacht wird. Wir stellen uns ferner vor, daß wir auch beim sprachlichen Fassen dieses Denkens der Demokratie dabeibleiben. Und dann, so dürfen wir vorgreifend schon ahnen, würden wir einen Wechsel der Perspektive vollzogen haben und hätten auf unseren Satz – den unverkürzten – die ganz andere Sicht. Denn er leuchtete vor uns gewissermaßen von innen heraus in den Strahlen des Denkens, aus dem er entstand, und zeigte uns das Aufscheinen einer Wahrheit, dem wir selber gefolgt sind. Bedenken wir zuerst die Redewendung von den „demokratischen Grundsätzen.“ Und nehmen von ihnen sogleich die Einfassung der begrifflichen Abstraktion weg. So können wir auf ihren Aufbau schauen und sehen, daß sie keineswegs abstrakte Prinzipien, sondern Ausdruck einer ganz konkreten Erfahrung sind: der unseres Körpers. Sie stellen eine – und sagen wir sofort: sehr kluge – politische Antwort auf das körperliche Geschick all unserer Existenz dar. Machen wir es uns klar: Wir sind nur, insoweit wir Körper sind. Was aber körperlich ist, kann verletzt, vernichtet, ergriffen und hinweggeschleppt, gefangen genommen und eingesperrt, schutzlos der Witterung



Das Projekt Demokratie41

ausgesetzt, aller Nahrung beraubt werden. Durch dieses Gesetz des Körpers wird unsere Existenz von unserer Geburt an regiert. Wir sind mit unserem Körper schon Subjekt von Macht. Wer aber wird diese ausüben? Andere, indem sie die naturhaft gegebene Möglichkeit ergreifen, durch unseren Körper über unseren Körper – und damit ganz über uns – ihre Herrschaft aufrichten zu können? Oder eine jede und ein jeder von uns gänzlich für sich selbst allein, als Eigner und damit Souverän seines eigenen Körpers? Ist das Regieren meines Körpers nicht ausschließlich meine Sache, da ich der Körper bin, der mich regiert? Ja, natürlich, werden wir sagen, und somit einen Denkweg weitergehen, auf den uns die Einsicht in die politische Evidenz unseres Körpers brachte, und für den diese Einsicht auch der Stern der Orientierung bleibt. Ich muß mir nur vorstellen, daß mir zum Beispiel gesagt würde, ich könne mich, also meinen Körper, in dieser Welt nicht mehr frei bewegen, und ich blicke hoffnungsvoll auf zum Stern der Demokratie. Denn er strahlt die Versprechen aus, die uns mit unserem Körper gegeben sind, damit wir in der Form unseres Körpers leben können. Wir nennen sie „natürliche Rechte“: Jeder Mensch ist der Souverän seiner Existenz. Andere dürfen nur insoweit Macht über ihn haben, als er ihnen diese Macht, genauer: dieses Maß von Macht übertragen hat, unter den von ihm gesetzen Bedingungen. Die Souveränität aller Menschen über sich selbst verweist jede allgemeine Macht und Herrschaft in Bereiche zwischen ihnen. Auf diese Weise werden sie einerseits in ihrer körperlichen Identität vor Macht und Herrschaft geschützt und diese werden andererseits zu Gegenständen von Übereinkünften, die Menschen frei in ­Gegenseitigkeit miteinander schließen. „Gesetze“ genannt, verwandeln diese Übereinkünfte die ursprünglich körperlichen Beziehungen zwischen den Menschen in rechtliche. Das „Wunder“ demokratischer Grundsätze kann alltäglich geschehen: Mit ihnen finden sich Menschen in einer Ordnung, die ihr Verhalten zueinander von ihren Körpern abstrahiert, sie also vom körperlichen Geschick ihrer Existenz „befreit“. Sie sind Bürger im geistig verfaßten Raum der aus ihren Rechten geborenen Herrschaft ihrer selbst („Demokratie“) anstatt Körper in einer reinen, von der Macht der Körper regierten und durch die Willkür dieser Macht gekennzeichneten Körperwelt. Zu einer Ordnung befreit? Ist das nicht eine seltsame Vorstellung? Es wird uns so nicht scheinen, zu unserer Überraschung vielleicht, schauen wir auf den Denkweg, den wir schon gegangen sind, zurück, und verfolgen die Trasse, die er uns anzeigt, gedanklich weiter vorweg. Als Eigner und Souverän meines Körpers bin ich selbstverständlich „frei geboren“, aber ich bin in dieser naturhaften Freiheit auch schnell ein hilfloses Geschöpf. Wie soll ich sorgen für meine Nahrung, meine Kleidung, meine Unterkunft, mich schützen vor Tieren und unwirtlicher Natur, und die mannigfaltigen und gewaltigen Fähigkeiten, die Menschen gegeben sind, entfalten, mit ihnen Werke in

42

Das Projekt Demokratie

der Welt schaffen, die in diese eingehen und zu Teilen von ihr werden, so als hätte ich eines Schöpfers Hand? Allein? Wie wenn es andere meiner Art, deren Bedürfnisse und Wünsche die gleichen sind, nicht gäbe? Eher doch in Konkurrenz mit ihnen? In Auseinandersetzungen, einen Krieg gar, geratend, der nur darauf hinauslaufen kann, daß ich jeden unterwerfe, der sich mir entgegenstellt, oder daß ich selbst unterworfen, also meinerseits unfrei werde? Rhetorische Fragen. Bliebe es bloß beim „frei geboren“ und käme nichts anderes, sehr viel anderes hinzu, wäre meine naturhafte Freiheit das flüchtigste aller Phänomene in meiner Existenz. Die Freiheit zu einer freien Existenz habe ich nur, wenn andere sie mit mir teilen, sie ihre Freiheit in der meinen anerkennen und ich meine Freiheit in ihrer anerkenne. Nur in einem Raum von Freiheiten, der so entsteht, wird die Sorge um meine Existenz eine freie bleiben und werde ich mein Leben zu einem blühenden machen können, unbedroht und in einer Gemeinsamkeit mit anderen, die ebenso, zu einer vollen Erblühung ihres Lebens, an diesem Raum von Freiheiten teilhaben. Da es indes von allein, sozusagen „von Natur aus“, einen solchen Raum von Freiheiten nicht gibt, muß dieser erst in einer gegenseitigen Anerkennung der Freiheit eines jeden ausgespannt und dann nach Maßen, Struktur und Formen seines Zustands aufgebaut, sowie mit Funktionen seines Erhalts ausgestattet werden. In der Sprache der politischen Wissenschaften: Er muß, damit er wirklich werde und es bleibe, „gegründet“, „verfaßt“ und „regiert“ werden. Haben wir uns aber da nicht einen Widerspruch beschert? Was soll das heißen: Die Freiheit in eine „Verfassung“ bringen und ihre Wirklichkeit darin „regieren“? Eine bedingte Freiheit etwa, immer gemahnt, sich an dies und an jenes zu halten? Ja, gewiß. Was aber, so müssen wir uns nun schon fragen, ist uns dann noch überhaupt an „Freiheit“ geblieben? Kann es sein, daß wir mit der Ordnung, in die wir unsere Freiheit einbrachten, uns unsere Freiheit nahmen? Was für ein Paradox, in das wir uns offenbar verwickelt haben: Eine weggenommene Freiheit zur Wahrung der Freiheit! Jedoch ist das offenbare Paradox nicht ein Ergebnis unseres Denkens. Es ist in der politischen Struktur unserer Existenz, der körperlichen, die zuallererst immer Subjekt von Körpermacht ist, gegeben. Wir haben es mit unserem Denken nur transparent gemacht. Ich nenne es das „Paradox der Freiheit“ und ich spreche, um dies gleich vorwegzunehmen, von ihm aus auch, was die Anlage eines wahrhaft demokratischen Regierens anbelangt, von einem „Paradox der Macht“. Denn wir wollen ja in unseren Gedanken die Demokratie aufrichten als eine Ordnung des Regierens von Menschen, die den Gesetzen ihrer demokratischen Natur gehorcht. Wir müssen demnach bei deren Konstitution (ihrer „Verfassung“) zwei Aufgaben bewältigen: Zum einen die Errichtung von Machtfigurationen, mittels derer „regiert“ wird, und



Das Projekt Demokratie43

zum anderen ein Arrangement dieser Machtfigurationen dergestalt, daß dabei alles Regieren eines für die Freiheit ist, sich dieses mit seinen eigenen Mechanismen also daran hindert, etwas anderem zu dienen als unserer Freiheit. Dies ist das von uns selbst zu verursachende Paradox der Macht, mit dem wir auf institutionell kreative Weise dem existentiell gegebenen Paradox der Freiheit gerecht werden. Ein Weg, auf dem eine Art wundersamer Wandlung geschieht. Denn wir nehmen uns zwar unsere naturhafte Freiheit weg, indem wir sie in unsere Ordnung des Regierens einbringen, aber wir erhalten statt ihrer eine regierende Freiheit. Diese aber ist der naturhaften an Macht weit überlegen. Die regierende Freiheit macht alle, die unter ihr geeint sind, zu meinen Freunden und, wenn es sie zu verteidigen gilt, zu meinen Alliierten. Mit der naturhaften Freiheit indes bin ich immer für mich allein, und habe zur Verbündeten nur die mir eigene Gewalt, die mich mit Sicherheit einmal im Stich lassen wird, nämlich dann, wenn ich unfähig der allein von mir geforderten Sorge um meine Existenz sein werde. Was nun genau ist das von uns selbst zu verursachende Paradox der Macht? Dies: Eine durchgehende Negation politischer Macht in allen Prozs­ sen ihrer Ausbildung. Wir übergeben Macht und nehmen sie wieder weg. Wir bestellen Träger von Macht und behindern diese am Gehen. Wir schaffen Gebilde von Macht und versetzen sie in ein sie verwirrendes Spiel. Wir initiieren Prozesse von Macht und unterbrechen diese regelmäßig. Wir delegieren Macht und halten sie bei uns. Wir rufen die Macht aus und wollen nicht, daß sie sich zeigt. Ein wahrlich paradoxes Vorgehen. Wie erklären wir es uns? Regieren, so können wir uns sagen, bedeutet: Macht ausüben. Damit aber Macht ausgeübt werden kann, muß erst Macht ausgebildet werden. Jedes Regieren demnach verlangt nach Macht. Doch wieviel davon? Vom Regieren her gesehen hieße die logische Antwort: Es kann nicht genug sein. Regieren heißt in Bewegung bringen und in Bewegung bringen kann man unendlich viel. Zu allem Regieren gehört denn immer die Erfahrung, daß es an Macht „fehlt“. Zu der schon vorhandenen Macht muß, in anderen Worten, immer noch mehr Macht hinzukommen: der Durst ist nicht zu stillen. Wir sollten, erkennen wir dies, indes nicht anklagen (wozu wir, an dieser Stelle unseres Nachdenkens angelangt, zuerst wohl neigten). Wir klagten die Lage der Menschen an, und diese wäre doch dafür nicht im geringsten Subjekt. Es ist, wie es ist, für die Menschen. Sie regieren sich, wie sie es müssen: durch die Ausübung von Macht. Wir können Besseres tun, wir in der natürlichen Souveränität über uns selbst, wir, der Souverän für die uns gemäße demokratische Herrschaft. Denn wir können unser Paradox der Macht praktisch inszenieren; – indem wir bei der Organisation unseres Regierungswesen alle politische Macht zerteilen, in eine überaus große Zahl von Machtzentren, die hori-

44

Das Projekt Demokratie

zontal ganz über es hinweg wie vertikal auf alle seine Ebenen verteilt sind, und in ihm wie ein Chaos wirken, ganz in Entsprechung zu unserem Paradox; – indem wir alle Macht in der Zeit begrenzen, wir sie nur für bestimmte Perioden übertragen, also dafür sorgen, daß sie immer wieder zu uns „zurückkehrt“ und wir uns zu einem neuen Machtauftrag entscheiden können, und dies so arrangieren, daß das absolute Innehalten der Macht durch uns, in den berühmten „Wahlen“, möglichst häufig geschieht, damit durch die so verursachte Unruhe und die so erzeugten Unsicherheiten unser Paradox seine Kraft erhält, sogar erhöht noch durch das Gebot wonach alle, die von uns einmal in ein politisches Amt gewählt worden sind, sich nur ein oder höchstens zwei Mal zur Wiederwahl stellen dürfen; – indem wir es schließlich vielfach möglich machen, Inhaber politischer Macht von ihrer Machtposition auch schon vorzeitig abzurufen, wenn sie in der Ausübung von Macht diese offensichtlich für die ihre halten und nicht mehr zu wissen scheinen, daß alle ihre Macht eine nur von uns geliehene ist. Es gibt keine Alternative zu einer starken Freiheit. Und von dieser sprechen wir, sprechen wir von Demokratie.

Wider die Allmacht des Parlaments Die Verfassungstheorie von Michel Debré I. In den letzten vierzig Jahren wurde in Frankreich die republikanische Herrschaftsform zweimal neu begründet: 1944 nach der Befreiung von der deutschen Besatzung, 1958 nach dem Aufstand der französischen Armee in Algerien. Beide Male war die Neugründung der französischen Republik vornehmlich ein Werk des Generals de Gaulle. Ja, die mythische Aura, die Charles de Gaulle als historische Figur umgibt, hat sogar bewirkt, daß wir im allgemeinen mit diesen Gründungsakten in unserer historischen Erinnerung keinen anderen Namen verbinden als den des Generals. Schon nach kurzer, vom Mythos ‚de Gaulle‘ unbezauberter Überlegung wird uns selbstverständlich klar, daß die IV. und die V. Republik natürlich nicht ausschließlich aus dem Wirken eines allein handelnden Gesetzgebers ‚de Gaulle‘ hervorgegangen sind. An dem nomothetischen Werk, das in geschichtlich ferneren Zeiten von einem Solon, Moses oder Lykurg allein geschaffen wurde, nehmen im gegenwärtigen Zeitalter der Demokratie sehr viele Personen und sehr verschiedene Personengruppen teil. Dennoch ist es auch hier zumeist möglich, annähernd zu bestimmen, welche Wirksamkeit ein Einzelner in diesen herrschaftsbildenden Gründungsprozessen – die nicht zuletzt Gruppenprozesse sind – entfaltet und welchen Einfluß er auf das Ergebnis ausgeübt hat. Dabei wird man selten jemanden finden, der eine so herausragende Stellung einnimmt, daß er an die klassische Figur des Nomotheten erinnert. Und noch seltener wird es sein, daß der Betreffende in seinem gesetzgeberischen Handeln etwas verwirklichen kann, was er zuvor in einem theoretischen Werk niedergelegt hat. Doch eben so jemanden hat es bei der Gründung der V. Republik gegeben: es war Michel Debré. Auf die Rolle eines maßgeblichen Verfassungsvaters, die er 1958 bei der Ausarbeitung der Verfassung der V. Republik einnahm, hatte sich Debré durch eine jahrzehntelange Beschäftigung mit verfassungstheoretischen Pro-

 Text der Antrittsvorlesung des Verf. vom 28.6.1978 an der Ruhr-Universität Bochum. Erstdruck in: Der Staat 18 (1979), S. 269–282.

46

Wider die Allmacht des Parlaments

blemen eingeübt1. Seine ersten Studien hinsichtlich einer zukünftigen Verfassung Frankreichs unternahm er während des 2. Weltkrieges als Angehöriger der Résistance; sie führten zu der 1943 zusammen mit Emmanuel Monick verfaßten Schrift „Refaire la France“, die einen ebenso detaillierten wie theoretisch wohlbegründeten Verfassungsplan enthält. Ferner war Debré zur selben Zeit im „Comité Général d’Etudes du Conseil National de la Résistance“ daran beteiligt, für de Gaulle und seine provisorische Regierungsgruppe Pläne auszuarbeiten, nach denen Frankreich, wenn es einmal befreit war, neu gestaltet werden sollte. Er organisierte die Arbeit an einer neuen französischen Verfassung und redigierte den aus ihr hervorgegangenen schriftlichen Verfassungsentwurf. Auch nach der Befreiung fuhr Michel ­Debré fort, seine Vorstellungen zu einer Verfassung Frankreichs zu artikulieren und einzubringen in die Diskussion über die Gründung einer neuen französischen Republik. Während der Jahre 1945 und 1946 verfaßte er für de Gaulle – der ja bis zum 20. Januar 1946 Chef der provisorischen Regierung Frankreichs war – mehrere verfassungstheoretische Memoranden, in denen er die in der Assemblée Constituante stattfindenden Arbeiten an der Verfassung der neuen IV. Republik einer zusehends kritischeren Analyse unterzog. Das Ergebnis entsprach dann auch keineswegs den Vorstellungen Debrés; er hatte sich eine ganz andere Form republikanischer Herrschaft gewünscht und konnte sich mit ihr auch nie – ebensowenig wie de Gaulle – versöhnen. Dennoch wurde er Senator der IV. Republik und zugleich einer ihrer fruchtbarsten Kritiker: weil er nicht aufhörte, über Verfassungsreformen nachzudenken, auch zu der Zeit, als er keinerlei Möglichkeit sah, sie in die politische Wirklichkeit umzusetzen. Doch 1958 eröffnete sich Debré dazu eine neue und geradezu einmalige Gelegenheit. De Gaulle ernannte ihn zum Justizminister in der letzten Regierung der IV. Republik, deren hauptsächlichste Aufgabe es war, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Denn dieses Mal sollten die Verfassungsarbeiten nicht durch eine Assemblée Constituante, sondern durch mehrere, über die Person von de Gaulle miteinander verbundene Fachgremien geleistet werden. Als Justizminister gehörte Debré zu dem wichtigsten dieser Gremien: einem Ministerausschuß, der nicht mehr als ein halbes Dutzend Personen umfaßte und unter dem Vorsitz de Gaulles sowohl die Grundzüge der neuen Verfassung bestimmte, als auch den schriftlichen Vorentwurf erstellte, der den anderen Gremien dann zur Begutachtung vorgelegt wurde. Zur redaktionellen Vorbereitung der Sitzungen dieses Ministerausschusses – bei denen im Pro1  Vgl. zum Folgenden: M. Debré, Une certaine idée de la France, Paris 1972, S. 16 ff., 42 ff., 72 ff., 148 ff.; sowie: N. Wahl, The Constitutional Ideas of Michel Debré, in: Theory and Politics – Theorie und Politik, FS C. J. Friedrich, 1971, ­ S.  259 ff.



Wider die Allmacht des Parlaments47

zeß der Beratungen auch wieder die Abänderungsvorschläge der anderen Gremien diskutiert und gegebenenfalls berücksichtigt wurden – hatte jedoch de Gaulle noch ein gesondertes Expertenteam eingesetzt und den Vorsitz darüber – und somit eine Schlüsselfunktion – seinem Justizminister und Vertrauten Michel Debré übertragen2. Die Verfassung der V. Republik ist natürlich von de Gaulles eigenen verfassungstheoretischen Ideen geprägt; andererseits ist unverkennbar, daß sie weitgehend der Verfassungslehre Michel Debrés entspricht. In seiner Autobiographie berichtet Debré, daß de Gaulle selber ihm gegenüber von „Ihrer [also Debrés] Verfassung“ zu sprechen pflegte und Debré gibt seinerseits bei diesem Anlaß das Kompliment natürlich zurück3. Aber wie dem auch sei – selbst wenn die Verfassungslehre Debrés nicht ihren fast vollkommenen Ausdruck in der Verfassung der V. Republik gefunden hätte, so wäre sie immer noch eine der beachtenswertesten verfassungstheoretischen Leistungen in diesem Jahrhundert. Als Debré in der Résistance die Grundzüge seiner Verfassungstheorie entwarf, war er, wie viele andere seiner Landsleute, vom Erlebnis der Niederlage Frankreichs im Jahre 1940 geprägt. Er suchte nach Gründen für die inneren Schwächen der III. Republik, die diese zu einem so leichten Opfer des Hitlerschen Angriffs gemacht hatten. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich dabei auf die erschreckende Abwesenheit von politischer Macht, die sich in der Agonie der III. Republik offenbart hatte. Nach Debrés Analyse war diese Machtkarenz im Institutionengefüge der III. Republik keineswegs durch äußere Einflüsse herbeigeführt worden; vielmehr trat sie wegen prinzipieller Mängel in der Verfassungsordnung dieser Republik auf. Die weitgehende Handlungsunfähigkeit der französischen Regierung gegenüber der Hitlerschen Kriegspolitik führte Debré auf eine unzeitgemäße Verfassung zurück: in einer Situation, in der für Frankreich eine wirkungsvolle Ausübung konzentrierter politischer Macht vonnöten gewesen wäre, war diese Verfassung der wesentliche Grund dafür, daß sich keine solche Macht hatte bilden können. Vor diesem Erfahrungshintergrund hat Debré seine Verfassungstheorie ausgeformt. Ihre Grundzüge, wie er sie noch als Angehöriger der Résistance entwarf, blieben bis zur Ausarbeitung der Verfassung der V. Republik unverändert. Dafür erweiterte sich der sie umspannende Erlebnishorizont durch die Erfahrungen Debrés in der IV. Republik; seiner Verfassungstheorie wieder2  N. Wahl (Fn. 1); ders., Aux origines de la nouvelle Constitution, in: Revue Française de Science Politique, 1959, S. 30 ff.; F. Goguel, L’élaboration des institutions de la République dans la Constitution du 4 octobre 1958, in: Revue Française de Science Politique, 1959, S. 67 ff.; J.-L. Debré, Les Idées Constitutionnelles du Général de Gaulle, Paris 1974, S. 141 ff. 3  M. Debré (Fn. 1), S. 72.

48

Wider die Allmacht des Parlaments

sprachen diese nicht, sie bestätigten nur, was er seit langem kritisierte: daß in Frankreich die parlamentarische Regierungsform durch die Exzesse eines allmächtigen Parlaments entstellt worden war. II. Die verfassungstheoretischen Schriften Debrés sind im wesentlichen nach einem dreiteiligen Muster gegliedert; dieses entspricht der logischen Sequenz, der Debré bei seinen Untersuchungen gefolgt ist. Der erste Teil besteht aus einer Diagnose der Fehlkonstruktionen in den Verfassungsordnungen der III. und IV. Republik, wobei diese Diagnose teilweise in eine grundsätzliche Kritik des ungezügelten, seiner ihm eigenen Logik überlassenen Parlamentarismus übergeht. Im zweiten Teil wird einerseits das Bild eines von innen wie von außen bedrohten Frankreichs gezeichnet und andererseits demgegenüber die Vorstellung von einem starken französischen Staat entwickelt, der in erneuerter Form seiner klassischen Aufgabe als Träger einer zivilisatorischen Mission sowohl in Frankreich selber wie in der übrigen Welt wieder gerecht wird. Im dritten Teil schließlich unterbreitet Debré seine Therapie: nämlich die Grundzüge einer Verfassungsordnung, bei der die Herrschaftsform des parlamentarischen Regimes so modifiziert ist, daß sie unter den spezifischen Bedingungen Frankreichs wieder eine wirksame Ausübung politischer Macht erlaubt. Mit den folgenden Ausführungen möchte ich diese drei Teile der Debréschen Verfassungslehre – in der genannten Reihenfolge und in notwendigerweise geraffter Form – darstellen. Als er 1943 seine Ansichten über die Gründe für den Niedergang der III. Republik formulierte, lastete Debré dem Parlament dieser Republik kein geringes Vergehen an: „Das französische Parlament hat Bankrott gemacht und es hat Frankreich in diesen Bankrott hineingezogen!4“ Und in dieser Verurteilung des französischen Parlaments griff Debré sogar bis zur Form des Nekrologs: „Frankreich ist an dem Parlament, das es gekannt hat, zu Tode gegangen …5.“ Gewiß, die zitierten Sätze wurden von Debré verfaßt, als er 31 Jahre alt, Angehöriger der Résistance und voll des Widerwillens gegen das unrühmliche Ende der III. Republik war. Aber von diesen Umständen her erklärt sich nur die sprachliche Form, nicht die inhaltliche Aussage seines Urteils. Was also ist die sachliche Begründung, auf die Debré seine wahrhaft radikale Kritik des französischen Parlamentes stützt?

4  M. Debré, Refaire la France. L’effort d’une génération (M. D. unter dem Pseudonym: Jacquier-Bruère, zus. mit E. Monick), Paris 1945, S. 146. 5  M. Debré (Fn. 4), S. 155.



Wider die Allmacht des Parlaments49

Wenn man die einschlägigen Ausführungen Debrés in seinen einzelnen Werken systematisch zusammenfaßt, dann zeigt sich, daß seine Kritik des Parlaments der III. Republik – und man muß hinzufügen: auch des der IV. Republik – in ihrer Begründung die folgenden acht Punkte umschließt: 1. In der III. und IV. Republik hatte es zwischen den drei klassischen Gewalten – Legislative, Exekutive, Judikative – nur eine formelle Teilung der politischen Macht gegeben. Denn in der politischen Praxis hatte sich mehr und mehr alle Macht – oder präziser: alles Machtpotential – beim Parlament konzentriert. Als Form politischer Herrschaft hatte sich die „Herrschaft einer Versammlung“ – ein régime d’assemblée – etabliert. In diesem Regime, so definiert Debré, „gehört die Gesamtheit der Macht – rechtlich wie tatsächlich  – allein dem Parlament … Die Macht ist im Parlament, besonders in einer der beiden Kammern des Parlaments, der Nationalversammlung, angesiedelt. Die Nationalversammlung ist die Regierung, die Nationalversammlung ist das Gesetz, die Nationalversammlung ist der Staat6“. 2. Die Allmacht des Parlaments manifestiert sich vor allem darin, daß es praktisch die Regierungsgewalt an sich gezogen hat. Es kann allein nach seinem Belieben entscheiden, welche zeitliche Dauer und welche Handlungsfreiheit es einem von ihm bestellten Ministerrat gewährt. Demgegenüber ist das Parlament selber gewissermaßen unantastbar: es kann von niemandem aufgelöst werden, außer durch sich selbst. Diese Allmacht des Parlaments ist es, in der Debré den entscheidenden Defekt der Form parlamentarischer Herrschaft erblickt, wie sie in der III. und IV. Republik praktiziert wurde. So schreibt er zur III. Republik: „Die Verfassungsgeschichte der III. Republik ist nur allzu bekannt. Das Werk von 1875 war ein unvollkommenes Werk. Seine Biegsamkeit hat alle Arten von Anpassungen zugelassen, und besonders diese: … die fortschreitende Schwächung der Regierung zugunsten des Parlaments. … Die Instabilität der Regierungen, Grundregel und Tradition der III. Republik, ist der Beweis für die unbestrittene Macht, welche die parlamentarischen Versammlungen an sich gerissen haben.“ Und zur Verfassung der IV. Republik bemerkt Debré: „Die neue Verfassung … hat diese parlamentarischen Sitten akzentuiert, welche die vorangegangene Verfassung entstellt hatten. … Eine einzige Versammlung hält die Souveränität in Besitz. Sie teilt diese weder mit dem Rat der Republik … noch mit der Regierung … Die Nationalversammlung herrscht und sie herrscht allein7.“ 3. Die Macht des Parlaments ist nicht zuletzt deshalb unbeschränkt, weil auch der Präsident der Republik nur eine sehr schwache Stellung im Institu6  M. Debré, Préface zu: M. Blocq-Mascart, La Prochaine République sera-telle Républicaine?, Paris 1958, S. III; M. Debré, La Nouvelle Constitution, Tours 1958, S. 2; ders. (Fn. 3), S. 152. 7  M. Debré, La République et ses problèmes, Paris 1952, S. 39.

50

Wider die Allmacht des Parlaments

tionengefüge der III. bzw. IV. Republik hat. „Niemand hört auf seine Reden“, so erklärt Debré, „niemand wendet sich an den Élysée-Palast“. Der Präsident besitzt „weder Autorität, noch Entscheidungsgewalt“, aus seinem Amt erwächst der Republik keinerlei „Stabilität oder Beständigkeit“. Und durch diese Abwesenheit von Macht an der Spitze des Staates fällt nach Debré eben die Gegenkraft aus, die die Exzesse des Parlaments am ehesten hätte verhindern können. Ohne Rückhalt bei einem starken Präsidenten verliert die Regierung ihre wichtigste Stütze; aus ihr wird, so formuliert Debré in pamphletistischem Stil, ganz einfach die „Zusammenkunft der Kommissare einer parlamentarischen Mehrheit“, Wenn aber eine parlamentarische Versammlung dermaßen unbeschränkt alle Macht ausübt, so hat sich das parlamentarische Regime in die Herrschaft eines Konvents verwandelt. Es gleitet langsam über in die Diktatur8. 4. Das französische Parlament hat seine unbeschränkte Macht mißbraucht. Diesen Vorwurf präzisiert Debré, indem er vor allem auf drei Mißstände im parlamentarischen Leben der III. und IV. Republik hinweist. Zum einen hatte die Allmacht des Parlaments ihre notwendige Kehrseite: die geringsten Probleme im täglichen Regierungsgeschäft konnten nicht gelöst werden ohne eine Entscheidung des Parlaments. Zum anderen konnte sich das Parlament nicht der Versuchung enthalten, das Karussell von Auflösungen und Neubildungen von Regierungen ständig in Bewegung zu halten. Und schließlich befleißigte sich das französische Parlament in sehr hohem Maße eines ganz besonderen Abstimmungsmechanismus: der Abstimmung per Vollmacht. Einige Fraktions-Vorstände genügten, um bei Abstimmungen die Stimmen von Dutzenden abwesender Abgeordneter als deren Bevollmächtigte abzugeben. Das französische Parlament zeichnete sich dadurch aus, daß es auch ohne seine Mitglieder arbeiten konnte9. 5. Die Macht des Parlaments ist zerteilt auf seine Fraktionen. Und die Fraktionen sind sich sehr uneins darüber, wie die Machtfülle zu gebrauchen wäre, die das Parlament an sich genießt. Denn die Fraktionen werden im Parlament je nach der Angehörigkeit der Abgeordneten bei verschiedenen Parteien gebildet, und die Parteien wiederum vertreten sehr unterschiedliche, sich widersprechende Interessen und Ideologien. Um einen Ausgleich der Interessen im Parlament zu erreichen, müssen also die Parteien, d. h. die Parteiführungen in den Entscheidungsprozeß des Parlaments miteinbezogen werden, oder umgekehrt formuliert: ohne Mitwirkung der Parteileitungen

8  M. Debré (Fn. 4), S. 117 f.; ders., Refaire une démocratie, un état, un pouvoir, Paris 1958, S. 21 f.; ders. (Fn. 3), S. 142; ders. (Fn. 7), S. 39. 9  M. Debré, Ces Princes qui nous gouvernent, Paris 1957, Repr. Paris 1975, S. 97; ders. (Fn. 4,) S. 131 f.; ders., Refaire une démocratie (Fn. 8), S. 24.



Wider die Allmacht des Parlaments51

kann die Allmacht, die dem Parlament potentiell eignet, nicht wirklich ausgeübt werden10. 6. Die ausschlaggebende Rolle, welche die Parteien bei der Ausübung parlamentarischer Macht innehaben, wird durch das Stichwahl- bzw. Verhältniswahlrecht, wie es in der III. und IV. Republik gültig war, besonders gefördert und aufrechterhalten. An ihm liegt es, daß die Eigenschaft der Franzosen, sich aufzuspalten in sehr viele ideologische Richtungen und Lager, sich auch auf der Ebene der nationalen Repräsentation voll auswirken kann, so daß die staatliche Macht letztlich nichts anderes mehr ist als ein Gegenstand des Streits zwischen vielen Parteien. 7. Die Vorherrschaft der Parteien in der Regierungspraxis des Parlaments führte zu einer Usurpation staatlicher Macht durch partikulare Interessen. Debré bestreitet nicht, daß politische Parteien ein notwendiges Mittel sind, die Balance zwischen staatlicher Macht und gesellschaftlicher Freiheit zu halten. Aber er unterstreicht, daß die Parteien eben nur ein Mittel sind und auf keinen Fall faktisch die Inhaber der Souveränität werden dürfen. Die Parteien repräsentieren nicht die ganze Nation, sondern Teile der Nation; sie dienen nicht dem Staate als solchem, sondern sind Erscheinungen innerhalb des Staates11. Und nicht zuletzt sind sie Instrumente persönlicher, d. h. privater Ambitionen. Wenn also die Regierungspraxis eines Parlaments weitgehend zusammenfällt mit der Aktivität der Parteien, dann mag sich dieses Parlament zwar ‚souverän‘ nennen, aber in Wahrheit ist es der Gefangene der privaten Interessen. Denn die Allmacht, die es potentiell besitzt, wird durch die Widersprüche der in ihm vorherrschenden partikularen Interessen, durch den Streit mit sich selber uneiniger Parteien zerteilt. Die privaten Interessen verbünden sich allein, um sich die Pfründe der Macht zu teilen. Auch diese Form politischer Herrschaft hat ihren Zweck: nämlich die Macht zum Vergnügen derer zu benützen, die sie ausüben. Eben deshalb sind „Ces Princes qui nous gouvernent“, diese Prinzen, die uns regieren – wie der Titel eines Buches von Debré heißt – auch nicht bereit, dieses politische System zu reformieren, das, so Debré, „uns durch den Verfall des Staates zum Tode der Freiheit führt12“. 8. Die Allmacht des französischen Parlaments resultierte letztlich in einer Ohnmacht des französischen Staates. Wo ein nationaler Wille hätte herrschen sollen, regierten partikulare Interessen. Frankreich, das seine Existenz über-

Debré (Fn. 7), S. 39 f.; ders. (Fn. 9), S. 28 f. Debré (Fn. 4), S. 149; ders. (Fn. 9), S. 91; ders. (Fn. 7), S. 37. 12  M. Debré, Refaire une démocratie (Fn. 8), S. 22; ders. (Fn. 4), S. 146; ders. (Fn. 7), S. 32, 40, 51. 10  M. 11  M.

52

Wider die Allmacht des Parlaments

haupt einem geeinten und starken Staat verdankte, befand sich ohne Führung nach innen und ohne Macht nach außen13. Doch schließlich wurde, zumindest in den Augen Debrés, durch diese Einsicht auch der Weg zu einem neuen, weder durch äußere Gefahr noch durch innere Schwächen bedrohten Frankreich vorgezeichnet. Eine Erneuerung Frankreichs erforderte nämlich vor allem eine Erneuerung der Autorität und der Macht des französischen Staates, und dieses Vorhaben wiederum mußte durchgesetzt werden wider die Allmacht des Parlaments. Frankreich bedurfte einer neuen Verfassung, durch die eine echte parlamentarische Demokratie wiederhergestellt wurde, weil sie der Macht des Parlaments feste Grenzen setzte. III. Aber warum, so könnte man fragen, beleuchtet denn Debré mit seiner grellen Kritik allein die negativen Seiten des französischen Parlamentarismus in der III. und IV. Republik? Liegt seiner Kritik etwa eine prinzipiell antiparlamentarische Einstellung zugrunde? Angesichts der historischen Beispiele, auf die sich Debré bezieht, könnten wir zunächst antworten: gewiß, dieser lehnt eine ganz bestimmte Art parlamentarischer Herrschaft ab, keineswegs aber die parlamentarische Regierungsform als solche. Jedoch wäre diese Antwort nicht vollständig, da sie eine historische Lehre außer acht ließe, die Debré aus der älteren und neueren Geschichte Frankreichs zieht. Debré bringt diese Lehre in seinen Schriften sehr häufig und (doch) in ziemlich gleichlautenden Formulierungen vor: „Frankreich ist gleichermaßen davon bedroht, von einer äußeren Macht unterworfen zu werden wie im Inneren in die Anarchie zu verfallen14.“ – „Unsere Gesellschaft geht durch eine sehr schwere Krise hindurch. Sie ist auf eine tiefgehende Weise geteilt … Unsere äußere Lage ist prekär15.“ Die geschichtliche Existenz der französischen Nation wird von Debré im Modus eines historischen Pessimismus begriffen; angesichts der Antagonismen in der französischen Gesellschaft, die sich in einer ideologischen Zerstrittenheit und politischen Uneinigkeit der Franzosen manifestieren, und angesichts der Kriege, Unterwerfungen und außenpolitischen Verstrickungen, in denen sich Frankreich in diesem Jahrhundert bewähren mußte und – noch – bewährt, 13  M. Debré (Fn. 9), S. 27, 92; ders., Rapport sur la Réforme de l’Etat et la Révision Constitutionnelle, Rassemblement du Peuple Français. Assisses Nationales de Nancy, 23.–25. Nov. 1951, S. 3. 14  M. Debré (Fn. 3), S. 148. 15  M. Debré (Fn. 7), S. 50; ders. (Fn. 3), S. 143; ders. (Fn. 12), S. 19; ders. (Fn. 9), S.  72 f.



Wider die Allmacht des Parlaments53

befürchtet er die äußerste Katastrophe: den Untergang Frankreichs als freie und souveräne Nation. Diese Befürchtung ist der Grund, warum sich Debré für Frankreich eine besondere Form parlamentarischer Herrschaft wünscht. Prinzipiell hätte er nichts gegen eine Regierungsform einzuwenden, bei der die Macht vornehmlich von einem Parlament, also einer Versammlung relativ vieler Personen, ausgeübt würde. Die Mangelerscheinungen in der französischen Politik, so stellt er unmißverständlich klar, sind keine strukturellen Mängel der Demokratie überhaupt16. Aber gerade weil Frankreich an diesen Mangelerscheinungen leidet, kann es nicht unter einem „régime d’assemblée“ existieren, unter einer Herrschaftsform, die ihren Zweck in Zeiten eines dauerhaften Friedens und bei einer in sich geeinten Gesellschaft durchaus erfüllen kann, jedoch völlig ungeeignet dafür ist, Frankreich vor dem drohenden Niedergang zu bewahren17. Was ist dann die Form parlamentarischer Herrschaft, die Frankreichs Renaissance ermöglicht? Debré hat auf diese Frage sehr ausführliche Antworten gegeben, nämlich die Verfassungen, die er für Frankreich entwarf. Aber allen einzelnen Ausführungen seiner Verfassungslehre ging eine prinzipielle Antwort voraus. Frankreich existiert nur dann, wenn es als machtvoller Staat existiert. Denn wenn die französische Geschichte etwas lehrt, dann dies: die Größe der französischen Nation wurde nacheinander von den Königen Frankreichs, den Jakobinern der Revolution, den Bonapartisten und Bürgern des 19. Jahrhunderts nur deshalb errungen, erfolgreich verteidigt und wieder erneuert, weil diese über die unterschiedlichen Herrschaftsformen hinaus ein ihnen allen gemeinsames Ziel verfolgten: die unbestrittene Vormachtstellung des französischen Staates in allen Angelegenheiten der französischen Gesellschaft. Und eben aus dieser spezifisch französischen Herrschaftstradition leitet Debré die eine, fundamentale Bedingung für eine neue Form parlamentarischer Herrschaft ab: diese muß so beschaffen sein, daß auch bei ihr sich die Einheit und die Größe der französischen Nation in einem machtvollen Staat manifestieren18. IV. Die einzelnen Ausführungen in den verfassungstheoretischen Schriften Debrés, durch die diese neue Form parlamentarischer Herrschaft vorgezeichnet wird, lassen sich aufteilen in zwei Gruppen. Die eine Gruppe bildet einen Erläuterungstext zu den Prinzipien der Debréschen Verfassungslehre; die Debré (Fn. 7), S. 32. Debré (Fn. 7), S. 35, 38. 18  M. Debré (Fn. 3), S. 140, 146; ders. (Fn. 7), S. 39; ders. (Fn. 6), S. XI. 16  M. 17  M.

54

Wider die Allmacht des Parlaments

zweite Gruppe ergibt einen detaillierten Verfassungsplan. Im folgenden möchte ich diese beiden Teile der Verfassungslehre Debrés kurz vorstellen. Den Verfassungsentwürfen Debrés unterliegen im wesentlichen die folgenden fünf Grundsätze: 1. Eine Verfassung hat einerseits die Bildung eines politischen Regimes zu ermöglichen, das stabil ist; sie muß andererseits Garantien für die Ausübung der Menschen- und Freiheitsrechte schaffen. Es ist die Kunst des Verfassungsgebers, in der Verfassungskonstruktion ein Gleichgewicht zwischen menschlicher Freiheit und staatlicher Macht zu finden. Als Richtschnur, so erklärt Debré, kann dabei der Erfahrungssatz dienen, daß die Regierung um so stärker sein muß, je liberaler das politische Regime ist19. 2. In der Republik wird politische Macht ausschließlich durch Wahlen begründet. Der Souverän – das Volk – bekundet seinen Willen nicht durch Repräsentanten in einer parlamentarischen Versammlung, sondern allein durch allgemeine Wahlen. Die Wahl ist der einzig authentische Ausdruck der Souveränität. Der Gang zu den Urnen ist demnach der Ausgangspunkt eines Aktes der Delegation, bei dem der Inhaber der Macht, nämlich das Volk, gewissermaßen eine Vollmacht ausstellt, aufgrund der eine bestimmte Gruppe von Personen – Regierung genannt – dazu befugt wird, die Macht des Souveräns als dessen Bevollmächtigten auszuüben20. 3. Der republikanische Begriff der Machtdelegation durch Wahlen ist sehr wohl zu unterscheiden von einem Begriff der Repräsentation, wonach es bei Wahlen darauf ankomme, daß im Parlament und damit in der Ausübung der Macht möglichst alle politischen, sozialen, beruflichen und religiösen Gruppierungen in der französischen Gesellschaft vertreten sein müßten. Eine derartige ‚spiegelgleiche‘ Vertretung der Wählerschaft lehnt Debré entschieden ab, sie würde in seinen Augen dem eigentlichen Zweck von Wahlen, nämlich der Begründung politischer und das heißt: handlungsfähiger Macht, zuwiderlaufen21. 4. Das einzige Wahlrecht, das dem republikanischen Souveränitätsbegriff entspricht, ist das Mehrheitswahlrecht. Denn insofern als in der Republik die Macht allein durch Wahlen begründet wird, dient das dafür gültige Wahlsystem nicht nur dem Zweck, die Prozeduren für die Abstimmung zu regeln, sondern dient vor allem dazu, das formelle Verfahren für jenen Gründungsakt zu sein, durch den der Souverän, das Volk, die allein ihm Debré (Fn. 3), S. 146, 151; ders. (Fn. 4), S. 131; ders. (Fn. 7), S. 28. Debré (Fn. 12), S. 26; ders. (Fn. 7), S. 44; ders. (Fn. 9), S. 22, 92. 21  M. Debré (Fn. 3), S. 144; ders. (Fn. 7), S. 35.

19  M. 20  M.



Wider die Allmacht des Parlaments55

eigene Macht an die von ihm gewünschten Bevollmächtigten überträgt und somit – im Modus dieser Machtdelegation – politisch handlungsfähig wird. Eben dieses Ziel – die Befähigung des Souveräns zum politischen Handeln – kann aber nur unter den Bedingungen eines Mehrheitswahlrechts erreicht werden, das die Bildung einer breiten Mehrheit unter den Vertretern des Volkes herbeiführt. Es würde demgegenüber nicht erreicht werden, wenn die Wahlen nach dem System der Verhältniswahl stattfinden würden, das zwar viele französische Politiker bevorzugen, nach der Ansicht Debrés aber unter den besonderen Bedingungen der französischen Politik nur dazu führte, daß sich die politischen Parteien sehr vermehrten und die Vertretung der nationalen Macht – wie er sich ausdrückt – „pulverisiert“ würde. Deshalb hat sich Debré auch während der ganzen Zeit seiner politischen und publizistischen Tätigkeit unnachgiebig und mit aller Überzeugungskraft, die ihm zur Verfügung stand, für die unbedingte und unwiderrufliche Einführung des Systems der Mehrheitswahl mit nur einem Wahlgang eingesetzt. So bemühte er sich auch bei der Ausarbeitung der Verfassung für die V. Republik sehr darum, daß die Mehrheitswahl als konstitutionelles Prinzip – und ein damit verbundenes Verbot der Verhältniswahl – durch einen entsprechenden Absatz in der Verfassung festgesetzt würden. Sein Mißerfolg in dieser Sache entbehrt nicht der Ironie: während in die Verfassung der V. Republik andere von ihm vertretene Verfassungsgrundsätze, mit denen er sich weit weniger identifizierte, aufgenommen wurden, konnte er sich gerade mit diesem Anliegen, das er mit einem missionarischen Eifer betrieben hatte, nicht durchsetzen22. 5. Der fünfte Grundsatz der Verfassungslehre Debrés schließlich betrifft die Legitimität der republikanisch begründeten Macht. Nach Debré muß eine Regierung vor allem drei Bedingungen erfüllen, um sich als politische Autorität in der Republik zu legitimieren. Sie muß, erstens, immer wieder die Zustimmung der Regierten finden, sowohl durch Wahlen, als auch durch andere, weniger manifeste Weisen der Billigung. Sie muß, zweitens, auf ersichtliche Weise um das Gemeinwohl, den öffentlichen Nutzen bemüht sein. Und sie muß, drittens, in ihrem Handeln nichts mehr achten als die Würde der menschlichen Person23. Der Verfassungsplan, den Debré anhand dieser fünf verfassungstheoretischen Grundsätze entworfen und in seinen verschiedenen Schriften in mehrere Fassungen gebracht, aber nicht wesentlich abgeändert hat, behandelt hauptsächlich den Aufbau, die Zuständigkeiten und die Arbeitsweisen der 22  M. Debré (Fn. 12), S. 27, 29; ders. (Fn. 4), S. 149; ders. (Fn. 3), S. 75 f., 158 f.; ders. (Fn. 7), S. 44, S. 57. 23  M. Debré (Fn. 3), S. 140 f., 147 f.

56

Wider die Allmacht des Parlaments

drei Institutionen: Präsident der Republik, Parlament und Regierung sowie deren gegenseitige Beziehungen. In der Verfassungsordnung, wie sie Debré vorschwebt, nimmt der Präsident die alle anderen Institutionen tragende Stellung ein. Als Inhaber des höchsten Amtes in der Republik ist er für deren Existenz im umfassendsten Sinne verantwortlich: er ist der Repräsentant der Nation, der in den wichtigsten Belangen für diese handelt, ihre Unabhängigkeit erhält und ihre Legitimität bewahrt. Um diese Aufgaben zu erfüllen, muß er mit Machtbefugnissen ausgestattet sein, die es ihm erlauben, in allen gesellschaftlichen Konflikten als Schiedsrichter entscheiden und auch die notwendigen Maßnahmen gegenüber den Interessengruppen durchsetzen zu können. Dabei darf seine Rolle als Schiedsrichter nicht so verstanden werden, daß er etwa ein Vermittler zwischen den Kontrahenten sei; vielmehr steht er kraft seiner Autorität über allen politischen Parteien, über allen gesellschaftlichen Gruppierungen, über allen Interessenverbänden, allen sozialen Kräften und allen kollektiven Leidenschaften. Er ist der Chef des Staates, durch den das Leben der Nation in einen Willen gebündelt und mit republikanischer Legitimation geführt wird. Debré hat denn auch für diese Präsidentenfigur, bei deren Entwurf er sich ausschließlich von den spezifischen politischen Bedürfnissen Frankreichs leiten ließ, eine neue Formel geprägt: er nannte sie „den republikanischen Monarchen“. In seinen monarchischen Eigenschaften sollte der Präsident einige der Vorzüge aktualisieren, die der konstitutionelle Monarch in England besitzt; in seinen republikanischen Eigenschaften dagegen sollte er sich durch einige der Vorzüge auszeichnen, über die der amerikanische Präsident verfügt. Dennoch sollte er keinem dieser beiden Modelle gleichkommen, sondern eben vielmehr einen ganz neuen, der besonderen Situation Frankreichs angemessenen Typus von Staatschef verkörpern24. Auch wenn er den Präsidenten mit sehr weitgehenden Kompetenzen versah, so visierte Debré doch nicht ein Präsidialregime an. Die Traditionen französischer Politik, so erklärte er, erlaubten kein anderes als das parlamentarische Regime. Wenn man sich in Frankreich zu weit vom parlamentarischen Regime entferne, würde man Gefahr laufen, sich von der Demokratie zu entfernen25. Allerdings, so betont er, sei eine Fortdauer des parlamentarischen Regimes nur unter zwei Bedingungen möglich: zum einen müßte die Regierung aus ihrer völligen Abhängigkeit vom Parlament befreit und zum anderen müßten die Befugnisse des Parlaments auf seine wesentlichen Auf-

24  M.

143 f.

Debré (Fn. 12), S. 16, 20; ders. (Fn. 4), S. 115–123; ders. (Fn. 3), S. 77 f.,

25  M. Debré, La Nouvelle Constitution, Tours 1958, S. 2; ders. (Fn. 12), S. 21; ders. (Fn. 4), S. 147.



Wider die Allmacht des Parlaments57

gaben beschränkt werden26. Dabei kann die erste Bedingung nicht gestellt werden ohne die zweite, und so ist diese eigentlich Debrés conditio sine qua non: eine Renaissance der Macht des französischen Staates ist allein möglich durch eine Eingrenzung der Macht des französischen Parlaments27. Debré schlägt deshalb vor, die Funktionen und Kompetenzen des Parlaments durch die Verfassung wie folgt zu regeln: 1. Dem Parlament wird ein präzise definierter Bereich von Kompetenzen zugeordnet, auf den es sich beschränken, den es aber auch mit keiner anderen Institution teilen muß. Dieser Bereich – der domaine parlementaire – umfaßt bestimmte Bereiche der Gesetzgebung, das Budgetrecht und die Kontrolle der Regierung28. 2. Das Parlament kann nur unter bestimmten Voraussetzungen und nicht jederzeit darüber abstimmen, ob eine Regierung im Amt bleiben soll oder nicht. Die Möglichkeit, nach Belieben die Regierung stürzen zu können, wird ihm also entzogen29. 3. Die Arbeitszeit des Parlaments wird genau festgelegt; sie verteilt sich auf zwei Sitzungsperioden im Jahr, wobei jede von dreimonatiger Dauer ist30. 4. Die Zahl der ständigen Parlamentsausschüsse wird auf ganz wenige beschränkt31. 5. Abgeordnetenmandat und Ministeramt sind inkompatibel32. 6. Bei Debatten im Parlament müssen die Abgeordneten vorher genau festgelegte Redezeiten einhalten33. 7. Es gibt nur noch einen Abstimmungsmechanismus: die persönliche Stimmabgabe. Stimmübertragungen sind ausgeschlossen34. 8. Dem Parlament wird das Recht, sich selbst auflösen zu können, entzogen. Dafür wird das ausschließliche Recht zur Parlamentsauflösung auf die Exekutive – d. h. den Präsidenten – übertragen35. Mit diesen Regelungen beabsichtigte Debré zweierlei zu erreichen: zum einen sollten die Mitglieder des Parlaments dazu angehalten werden, sich 26  M.

Debré Debré 28  M. Debré 29  M. Debré 30  M. Debré 31  M. Debré 32  M. Debré 33  M. Debré 34  M. Debré 35  M. Debré 27  M.

(Fn. 7), S. 45. (Fn. 3), S. 154; ders. (Fn. 12), S. 30. (Fn. 4), S. 131 f., 152 f.; ders. (Fn. 3), S. 153 f.; ders. (Fn. 12), S. 24 f. (Fn. 4), S. 132 f.; ders. (Fn. 3), S. 152 f.; ders. (Fn. 12), S. 25. (Fn. 4), S. 151; ders. (Fn. 12), S. 23. (Fn. 25), S. 7; ders. (Fn. 9), S. 175. (Fn. 25), S. 9 f.; ders. (Fn. 12), S. 31; ders. (Fn. 9), S. 175. (Fn. 25), S. 8. (Fn. 25), S. 8; ders. (Fn. 9), S. 175; ders. (Fn. 12), S. 24. (Fn. 4), S. 133, 152.

58

Wider die Allmacht des Parlaments

nicht mehr, wie früher, ihren unbegrenzten Machtambitionen, sondern vielmehr ihren eigentlichen Aufgaben zu widmen; und zum anderen sollte das Parlament als Institution von seiner früheren Machtusurpation, in der es faktisch alle Macht allein ausgeübt hatte, zurückgeführt werden auf die ihm allein zukommende Machtpartizipation, bei der es wieder in der Ausübung der Macht mit anderen Institutionen zusammenwirkte. V. Man würde demnach Debré gründlich mißverstehen, wenn man ihm antiparlamentarische Intentionen unterstellte. Gewiß, er will das französische Parlament partiell entmächtigen. Aber er will dies nicht deshalb, weil ihm nichts an der parlamentarischen Form politischer Herrschaft liegt, sondern weil er das parlamentarische Regime für das einzig legitime in Frankreich hält und es deshalb unbedingt davor bewahren will, sich in eine der Formen seiner Entartung zu verwandeln. „Alle diese Maßnahmen“, so erläutert Debré denn selber, „die dazu führen werden, bzw. dazu führen sollten, daß das Parlament weniger zahlreich, … weniger chaotisch, weniger umfassend in seiner Kompetenz, weniger willkürlich in seinen Entscheidungen ist, sind der Aufgabe, welche eine parlamentarische Versammlung hat, keineswegs abträglich. Im Gegenteil, sie erhält dadurch erst ihre wahre und besondere Bedeutung36“. „Ich behaupte, daß in den neuen Regeln, die das, was die Rolle des Parlaments sein soll, präzisieren, genauer herausheben und eingrenzen, nichts weniger angelegt ist als ein Sieg des Parlamentarismus über sich selbst37.“ Indem er diesen Anspruch erhob – den französischen Parlamentarismus zurückzubinden an die Prinzipien der gewaltenteilenden Herrschaft – hat Debré seine Verfassungstheorie mit einer bestimmten Entwicklungslinie in der Geschichte des modernen Konstitutionalismus verknüpft. Erinnern wir uns: Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Idee einer konstitutionellen Begrenzung und Teilung politischer Macht in der Auseinandersetzung mit der absolutistischen Machtausübung durch einen Monarchen ausgeformt. Aus der Perspektive derer, die damals für den Konstitutionalismus eintraten, konnte es sich bei dieser Auseinandersetzung allein darum handeln, die Übermacht des Monarchen in dem Maße zu verringern, wie die Machtpartizipation des Parlaments vergrößert wurde. Einmal abgesehen von den bekannten Rückschlägen, konnte dieses angestrebte Gleichgewicht zwischen Regierungsmacht und parlamentarischer Macht im späten 18. Jahrhundert und im Laufe des 19. Jahrhunderts in nicht wenigen westlichen Gesellschaften herbeigeführt werden. Die politische Theorie des Konstitutionalismus 36  M. 37  M.

Debré (Fn. 12), S. 26 f. Debré (Fn. 3), S. 161, 153, 160; ders. (Fn. 12), S. 30 f.



Wider die Allmacht des Parlaments59

erhielt dann auch ihre klassische Ausprägung im liberalen Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts. Doch – obwohl sie hervorgegangen war aus dem Widerstand gegen den monarchischen Absolutismus, konnte auch die Praxis der konstitutionellen, gewaltenteilenden Herrschaft in neue Formen des Absolutismus entgleisen. Unter den Fällen derartiger Entgleisungen werden im allgemeinen am ehesten jene wahrgenommen, bei denen das konstitutionelle Regime verzerrt wird durch eine Übermacht der Exekutive. Hingegen gibt es natürlich auch den entgegengesetzen Fall, und eben dieser wurde von Debré bei der III. und IV. Republik Frankreichs konstatiert: die Entgleisung des konstitutionellen Regimes in einen Absolutismus des Parlaments. In der Geschichte des modernen Konstitutionalismus gehört Debrés Verfassungslehre demnach einer dritten, nach-klassischen Phase an. In dieser Phase sind die wesentlichen Ziele des Konstitutionalismus nicht nur längst erreicht, sondern schon wieder überschritten worden: sie müssen erneut angestrebt werden, aber dieses Mal gegen die Praxis des Konstitutionalismus selbst.

II. Politische Philosophie und Ideengeschichte

Prophetische Politik Ein Thema im Denken Platons I. Propheten und Prophezeiungen im Geschehen von Politik In Platons Dialog Politikos findet sich ein Ausdruck, der, was die politische Natur der menschlichen Existenz und die ihr geltende Wissensdisziplin anbelangt, eine auffallend andere Bezeichnung für die letzere als den allgemein benützten Begriff „Politische Wissenschaft“ anbietet. Die gewöhnlich so angeführte Disziplin wird hier nämlich die anthrōpon koinotrophike epi­ steme – die „Wissenschaft vom Hüten der Menschen auf ihre Gemeinschaft hin“ genannt.1 Es wäre gewiß nützlich, diese Bezeichnung im Kopf zu behalten, wenn wir uns im folgenden, geführt von Platon, mit dem Thema „Prophetische Politik“ beschäftigen. Denn sie als begrifflichen Leitstern nehmend, wird es uns um einiges leichter fallen, zu verstehen, warum Propheten und Prophezeiungen in Platons politischer Wissenschaft vorkommen und warum dies gerade an bestimmten denkweisenden Stellen in der Ausarbeitung dieser Wissenschaft geschieht. Um zu hören, was Platon, oder vielmehr die Teilnehmer an den Gesprächen, die er wiedergab, über Prophetie und Propheten sagten, müssen wir uns den Dialogen Menon, Politeia, Laches, Timaios, Philebos, Politikos, Ion, und Charmides zuwenden. In jedem dieser Dialoge hat sich das Gespräch einoder mehrmals auf unser Thema gerichtet. Werden die entsprechenden Gesprächspassagen zu einem Textensemble zusammengestellt und dann in vergleichender Weise und im Zusammenhang gelesen, lassen sie den Komplex von Begriffen, Ausdrücken und Formeln erkennen, durch den Platons Denken über Prophetie und Propheten zu erschließen ist. Auch wenn er es nicht ausdrücklich sagte, beziehungsweise durch die Redner in den genannten Dia­ logen sagen ließ, so lag es Platon gewiß an einer Theorie des Prophetischen, an einem Wissen um dessen Natur, Ursprung und Sinn, Ereignis und Wirkung. Das analytische Vokabular, das er zu diesem Zweck entwickelte, macht es unzweifelhaft deutlich.

Erstdruck in: P. Nitschke (Hrsg.), Politeia – Staatliche Verfaßtheit bei Platon, Baden-Baden, Nomos, 2008, S. 105–122. 1  Politikos, 267d.

64

Prophetische Politik

Einige Grundbegriffe daraus seien sogleich angeführt. Um die Figur eines Propheten anzuführen, benützte Platon die Bezeichnungen mantis (Augur, Wahrsager) oder prophetes (Bote, Künder, Herold, Prophet), und er bildete mit diesen Bezeichnungen, in Akten der Differenzierung, spezifischere Ausdrücke wie alethōs mantis (wahrer Prophet), mantis theios (göttlicher Prophet) oder prophetes ton mellontōn (Künder/Prophet zukünftiger Dinge) aus. Wenn es um Prophetie ging, sprach er wieder abwechselnd von manteia (Weissagung, Voraussage, Wahrsagung) oder propheteia (Vorhersagung, Prophezeiung, Offenbarung). Schon diese wenigen Beispiele zeigen ein volles Erfassen des prophetischen Ereignisses an – so wie man es am ehesten aus der Bibel kennt. Und man könnte sodenn vermuten, von einer frappanten Ähnlichkeit des Vokabulars hier wie dort dazu geführt, daß aus Platons Dialogen und aus der Bibel Gleiches über Prophetie und Propheten zu erfahren ist. Doch die nominale Ähnlichkeit der Vokabularien täuscht. Platons Lehre zur Prophetie und zur Figur des Propheten, so wird mit den nachfolgenden Ausführungen ersichtlich werden, unterscheidet sich beträchtlich von den vergleichbaren biblischen Darstellungen.2 2  Zunächst wären die biblischen Texte zum Alten Israel („Altes Testament“) und die aus christlicher Quelle („Neues Testament“) auseinanderzuhalten, da sie neben Ähnlichem/Gleichem auch sehr Verschiedenes zu Propheten, und deren Status und Funktion, wie zu Prophetien, und deren Geschehen und Bedeutung, sagen. (1) Platons Lehre zum Prophetischen unterscheidet sich vom Prophetentum im Alten Israel vor allem durch dies: Der Herrscher Israels, nach dem Bund, das dieses mit ihm geschlossen hat, ist allein Gott; im „geschichtlichen“ Prozeß der Ausübung seiner Herrschaft über Israel, und seines Führens desselben, beruft Gott auch Einzelne oder mehrere zu „Propheten“ (hebr. sing.: nabi’, mit dem urspr. Wortsinn von: „der Herausgerufene“, plur.: nebi’ im), indem er durch diese spricht („Ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern und meine Worte in seinen Mund geben; der soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde.“ 5. Mose 18, 18, vgl. auch 2.  Mose  7,1; 5  Mose  18, 15; Jer 1, 9) oder handelt („Aber hernach führte der Herr durch einen Propheten Israel aus Ägypten …“ Hosea 12,14). Propheten sind Sprechende und/oder Handelnde für Gott, doch dieser ist immer der „Herr“ in der sich entfaltenden Geschichte von Israel und seinem Gott. In der Mitte von Platons Lehre zum Prophetischen hingegen ist der Mensch, der die Verantwortung für sein Leben ganz selber tragen und diese folglich in ganz bewußter Form – mit der Wahl seiner Weise, zu leben – übernehmen muß. ‚Gott ist schuldlos‘ – heißt bei Plato der hierzu entscheidende Satz: Denn der Mensch ist „Herr“ seiner selbst. Die Rolle von Propheten ist eine ganz andere: Sie sind Figuren in dem „bewußtseinsbildnerischen“ Prozeß, durch den Menschen die ihnen gestellte primär-existentielle Aufgabe erkennen: Sie haben sich selbst zu „regieren“. Allerdings können sie nach Plato zu dieser Erkenntnis auch hingeführt, ja zu ihr geradezu gezwungen werden (die „große Not“ im Mythos von der Herrschaft des Kronos, die „Wahl des Loses“ in der Erzählung von Er). Und im Regieren ihrer selbst haben sie nicht immer, eher selten, jene Geisteskraft, die sophrosyne, durch die dieses Regieren ein gutes wird. Sie können vernunftlos handeln, und dann kann ein Gott korrigierend eingreifen, durch Propheten, die er zu Sprechern und handelnden Beauftragen seiner



Prophetische Politik65

Eine Interpretation der betreffenden Stellen in den Dialogen Platons wird des weiteren die Erkenntnis erbringen, daß dieser Propheten und Prophezeiselber macht. In dieser Rolle sind Propheten bei Plato den Propheten im Alten Israel am ähnlichsten, wenn diese in „prophetische Verzückung/Begeisterung/Ekstase“ (nb’ hitpael) dadurch gerieten, daß der „Herr seinen Geist über sie kommen ließ“, um sie und mit ihnen Israel zu führen (vgl. 4. Mose 11,25.29; 1. Sam 19,20 ff.). Sehr different wiederum erscheint das Prophetische im Alten Israel gegenüber dem bei Platon, denkt man an: – die Stellung von Moses als singulärer Prophet („Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose …“ 5. Mose 34,10); – das gemeinsame Auftreten zahlreicher (z. B. von vierhundert) Propheten als einer „Schar von Propheten“ (hebel nebi’ im; vgl. 1. Sam, 10, 5. 10; 19, 20; 1. Kön 22, 6. 12, 3. Kön 22, 6); – das Berufsprophetentum (vgl. 2. Kön 17, 13); – den Konflikt zwischen diesem und einzeln aufstehenden Propheten, welche die herrschenden, den Geboten Gottes widrigen und von den Berufspropheten mitgetragenen Zuständen anprangerten, und zunehmend den Untergang Israels ankündigten: Amos, Hosea, Micha, Jesaja, Jeremias, Hesekiel, Habakuk. Zefanja; – die Distanzierung dieser Propheten von den „Propheten“, die bis zu Aussagen geht wie: „Amos antwortete und sprach zu Amazja: Ich bin kein Prophet noch ein Prophetenjünger … .“ (Amos 7, 14), „Die Propheten weissagen Lüge …“ (Jer 5, 31, vgl. Jer 14, 14; Hes 13); „Unsere Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da …“ (Ps 74, 9); – die Rolle der von Gott dazu erwählten Propheten, sein Richten über Israel anzukündigen und dessen Errettung zu verheißen (vgl. Jer 1, 10 ff.; 14–15; 23; Hos 9, 7). Doch: Der Konflikt zwischen „wahren“ und „falschen“ Propheten erforderte eine Möglichkeit zwischen den einen und den anderen unterscheiden, den wahren Propheten erkennen zu können. Jer 28, 9 benennt das Kriterium: „Wenn aber ein Prophet von Heil weissagt – ob ihn der Herr wahrhaftig gesandt hat, wird man daran erkennen, daß sein Wort erfüllt wird.“ Platon behandelte das gleiche Problem, gab ihm indes eine andere Lösung: das Urteil der sophrosyne. (2) Propheten und Propehzeiungen haben in den christlichen Texten nicht die Bedeutung wie in denen zum Alten Israel. Als prophetische Figuren erscheinen allein Johannes der Täufer (Mt 3, 1–4) und vor allem der Autor der Geheimen Offenbarung, der, nachdem er „vom Geist ergriffen“ (egenomēn en pneumati/fui in spiritu) wurde, „Worte der Weissagung“ (propheteia) spricht (Offb 1, 3. 10). Denn Jesus ist der Überwinder des Prophetentums (Joh 8, 49–58), vor den christlichen Gemeinden können zwar Propheten auftreten (1. Kor 14, 24–40), doch sind diese hierarchisch eingeordnet („Und Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer …“ 1. Kor 12, 28), und über allem Prophetischem steht die Liebe, angesichts deren Erkennen „unser prophetisches Reden Stückwerk ist“ (ek merous prophēteuomen/ex parte prophetamus; 1. Kor 13, 1–10). Und Paulus – hier wäre eine Parallele zu Platon zu sehen – will prophetische Rede geprüft sehen: „Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles (panta de dokimazete/omnia autem probate), und das Gute behaltet.“ (1. Thess 5, 20–21). (3) Platons Lehre zur Prophetie und zur Figur des Propheten hat besonders im arabischen wie im jüdischen religiösen und politischen Denken nachgewirkt. Was das erstere anbelangt, so ist hier zuallerst an Al-Fārābī (ca. 870–950 n. Chr.) zu denken. In seinem Werk mit dem Titel Kitāb Ārā’ ahl al-madīna al fādila (verschiedentlich

66

Prophetische Politik

ungen drei elementare Funktionen im Geschehen von Politik zugeschrieben hat. (1) Prophezeiungen spielen schon bei den ersten Entscheidungen zu der übersetzt

als: ‚Die tugendhafte Stadt‘, ‚Der vollkommene Staat‘, ‚Über die Prinzipien des idealen Staates‘, ‚Abhandlung über die Vorstellungen der Bewohner der tugendhaften Stadt‘) schrieb Al-Fārābī, ganz in Entsprechung zu Platons Lehre, dem Lenker der Regierungsgeschäfte (arab. ra’îs) unter dessen Funktionen auch die des Propheten (nabî) zu. Die Seele des ra’ îs – nabî sei vollkommen und in Einklang mit dem göttlichen Geist; zur Prophetie (nubuwwah) sei er fähig dank seiner Einbildungskraft, mit der er die göttliche Offenbarung (wahy) empfange (Kitāb Ārā’ ahl al-madīna al fādila, Kap. XXVII); Prophezeien sei die höchste Stufe der Vollkommenheit, zu der menschliche Imagination gelangen könne, und könne sich im Wachen wie im Schlaf ereignen, dabei empfange der Prophet mittels seiner Vorstellungskraft göttliches Wissen zur Gegenwart und zur Zukunft (Kap. XXV). Gleiche Gedanken Al-Fārābīs finden sich in seiner Schrift Kitāb tahsîl al-sa’âdah (Über die Erreichung des Glücks). Zum Umkreis der letzteren gehören auch Al-Fārābī’s Schriften ‚Über die Stadt‘ bzw. ‚Über die Staatsleitung‘: Al – siyāsa al-madiniyya, die auch als ‚Abhandlung über die Anfänge/Prinzipien des Vorhandenen‘ bekannt ist (dt. Übs.: Die Staatsleitung von Alfārābi. Eine metaphysische und ethisch-politische Studie eines arabischen Philosophen,aus dem Nachlass von F. Dieterici, hg. P. Brönnle, Leiden 1904), und das ‚Buch über die Religion‘ (Kitāb al-milla wa-nusūs ukhrā), insbes. die Abschnitte 1–2 (vgl. Book of Religion, in: Alfarabi, The Political Writings, übs. Charles E. Butterworth, Ithaca-London 2001, S. 87 ff.). Al-Farabi’s – und damit platonische/neoplatonisch: plotinische Gedanken – zur Prophetie übertrug Moses Maimonides (1135–1204) ins jüdische Denken, mit seiner von ihm auf Arabisch verfaßten Schrift Führer der Unschlüssigen (arab. Titel: Dalālat al hā’irīn, Titel der hebr. Übertragung: Moreh Nevukhim), und dort mit den Kapiteln XXXII–XLVIII. Das Kapitel XXXVI beginnt mit dem Satz: „Prophetie ist, wahrhaft und wirklich, eine vom Göttlichen ausgeschickte Emanation (al-fayd) mittels des aktiven Intellekts (al-‚aql al-fa‘’âl), zuerst in des Menschen rationale und dann in dessen imaginative Geisteskraft; sie ist die höchste und vollkommenste Stufe, die der Mensch erreichen kann, sie besteht aus der vollkommensten Aktualisierung der imaginativen Geisteskraft.“ Unter „aktivem Intellekt“ ist hier die unterste, zehnte Stufe in der den Kosmos durchwaltenden und im Göttlichen seienden und von diesem emanierenden Geistigkeit zu verstehen. Er besteht in einer Verknüpfung (wofür Maimonides den arab. Begriff al-muttasil benützt, hebr.: devêqûth) von göttlichem Intellekt mit dem Menschen. Der aktive Intellekt war für Al Farabi (wie für Avicenna) die Quelle der göttlichen Emanationen in die menschliche Welt, Maimonides übernahm diese Sicht. Wesentliche Elemente von Platons Lehre zum Prophetischen finden sich im Führer der Unschlüssigen wieder: Das prophetische Ereignis wird von Gott ausgelöst und endet mit dessen Entschluß. Damit es sich ereignen kann, müssen die menschliche Sinne (nicht nur der menschliche Geist!) „ruhen und untätig sein“, nur so ist die imaginative Geisteskraft des Menschen für das Empfangen der göttlichen Eingaben bereit. Die Fähigkeit, zu prophezeien, ist keine natürliche Eigenschaft des Menschen, und kann von diesem auch in keiner Weise erworben werden. Die Modi prophetischer Emanationen sind der Traum und die Vision. Unmittelbar von Platon könnte die Aussage von Maimonides in Kap. XXXVII sein: Es kann vorkommen, daß das göttliche Eingeben (die Emanation) nur die imaginative Geisteskraft, nicht aber die logischrationale erreicht, wegen eines Unvermögens der letzteren; das ist der Fall, wenn



Prophetische Politik67

politischen Gestalt einer Gesellschaft eine maßgebliche Rolle. (2) In der Figur des politischen Propheten verbinden sich, des Regierens einer Gesellschaft wegen, die göttliche und die menschliche Sphäre. (3) Mittels prophetischer Ereignisse greift Gott – der Gott oder ein Gott – in die Regierung einer Gesellschaft ein, indem er sich in die Figur des Politikers versetzt und die Ausübung regierungsgewaltiger Politik für einen „göttlichen“ Augenblick in das, was ich hier „Theopolitik“ nenne, verwandelt.3 Diese drei, Propheten und Prophezeiungen im Geschehen und Gestalten von Politik zugeschriebenen Funktionen zeigen sich rasch bei der Lektüre der einschlägigen Stellen in den Dialogen Platons. Hingegen ist nicht gleich ersichtlich, welche Bedeutung ihnen im Zusammenhang von Platons politischer Theorie überhaupt zukommt. Sie sind elementare Funktionen, soviel ist klar, aber warum, so wird man sich erst einmal fragen, sind sie elementar? Um auf eine Antwort zu stoßen, wird es nötig sein (so darf wohl im Vorgriff auf das, was hier im weiteren einsichtig werden soll, schon gesagt werden), sich an die heuristischen Leitsätze zurückzuerinnern, mit denen Platon gearbeitet hat, als er seine Theorie der Politik schuf. (1) Der erste dieser Leitsätze4 wird im Politikos ausgeführt, mit der Erzählung über die Herrschaft des Kronos. Er ist überhaupt der Grund dafür, daß die Erzählung wiedergegeben wird. Und diese kleidet den heuristischen Leitsatz in ein mythisches Gewand, wodurch sich wiederum die Kunde, die er enthält, erneut – und sprachlich: nachdrücklicher – mitteilen läßt, sich für folgende Wiedererzählungen besser eignet: Wer immer die Situation der Menschen bedenkt, sollte mit Reflexionen über deren körperliche Existenz beginnen. Denn mit ihren und durch ihre Körper sind die Menschen in eine ganz bestimmte existentielle Lage versetzt; sie gehören einer Ordnung (taxis) an, die ihre Existenz unter eine gleichermaßen absolute und tiefgründige – je nach Stimmungslage könnte man auch sagen: grausame – Wirkung bringt. Diese Ordnung, so wird im Politikos so deutlich klargestellt, daß wirklich kein Mißverständnis aufkommen kann, ist nicht diejenige, welche den „göttlichen Dingen“ gilt. Nach der für sie geltenden taxis ist jenen nämlich eine „absolute und fortwährende Unveränderlichkeit“ gegeben, immer schon und Staatslenker

und Gesetzgeber „wahre Träume“ haben, herrliche Dinge in seltsamer Weise und mit geheimen Fertigkeiten tun, obwohl sie keine weisen Menschen sind. 3  Den Begriff „Theopolitik“ führte ich anläßlich des Vortrags ein, den ich ebenfalls unter dem Titel „Prophetische Politik“ bei der Eranos-Tagung der Amici di Eranos im August 2001 auf dem Monte Verità in Ascona hielt. Der vorliegende Text geht auf diesen Vortrag zurück. 4  Das Anführen eines „ersten“ und dann eines „zweiten“ Leitsatzes und so fort soll keinesfalls eine Hierarchie einführen; sie ist vielmehr allein als eine numerische Folge zu verstehen, die dem einfachen Zwecke dient, Platons heuristische Leitsätze einen nach dem anderen zu behandeln.

68

Prophetische Politik

für immer. Im Bereich derjenigen Wesen jedoch, die „einer körperlichen Natur teilhaftig“ sind, gilt eine gänzlich gegenteilige Bedingung der Existenz. Hier ist alles Leben stets und durchgängig gekennzeichnet von Bewegung, Wandel, Zerbrechlickeit, virtueller Zerstörung.5 Durch ihre Körperhaftigkeit unter diese „Ordnung“ gestellt und infolge dessen in großer Not, müssen die Menschen unbedingt noch zu einer anderen, einer „zweiten“ Ordnung kommen, aus der ihnen zufließt, was ihr Mangel gänzlich mit der ersten ist: Lebensmacht. (2) Der zweite heuristische Leitsatz betrifft die Vielfalt der Wesen und Dinge, die es gibt: Was da ist, als „Welt“, „Wirklichkeit“, ist nicht eins, sondern in dem Zustand einer Vielheit. Diese Vielheit weist natürlich durch sich selbst schon auf eine Vorstellung von Einheit hin (jedes Einzelne in der Vielheit ist ein Einzelnes in der Vielheit), aber bildet nicht notwendigerweise eine tatsächlich vorhandene Einheit, eine Weise von Ordnung, durch die im Vielen Eines erscheint. Ein derartiger Übergang vom Vielen zu einem Einen des Vielen, erfordert, nach Platon, regierungsgewaltige Anstrengungen. Wenn die Welt in der Form einer Ordnung erscheint, dann ist diese Ordnung geschaffen worden, und zwar politisch. Denn die für sie rechte Ordnung der Wesen und Dinge ist die Schöpfung einer Gemeinschaft, eine koinonia: „Die Weisen aber behaupten, o Kallikles, daß auch Himmel und Erde, Götter und Menschen nur durch Gemeinschaft (koinōnia) bestehen bleiben, und durch Freundschaft (philia) und Schicklichkeit und Besonnenheit und Gerechtigkeit, und betrachten deshalb, o Freund, die Welt als ein Ganzes und Geordnetes (kosmos), nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit.“6 (3) Der dritte heuristische Leitsatz gilt, in einer Parallele zum zweiten, der in der menschlichen Seele vorhandenen Vielfalt von Kräften: Wieder stellt sich, in Platons Sicht, das Problem des Einen und des Vielen. Denn das plurale Kräftefeld der Seele – der psyche, zu der nicht zuletzt die Vernunft (nous) gehört – ist von sich aus nicht strukturiert, noch ist es durch sich allein auf das Ziel hin bestimmt, eine Stimmigkeit der in ihm vorhandenen Kräfte auszubilden, durch welche diese, mit sich wechselseitig identisch, tatsächlich eine Seele sind. Die Seele hat natürlicherweise viele Meister und jeder davon will sie ganz beherrschen, und kämpft sodenn mit allen anderen darum, über die Seele seine Macht aufzurichten. Wenn dem nicht entgegengehandelt wird, wird die durch und durch „ungerechte“ Seele herauskommen, deren Kräfte alle gegeneinander einen „Bürgerkrieg“ (stasis) führen.7 Wie in der äußeren Welt der Wesen und Dinge auch, sind in der inneren Welt der Seele regierungsgewaltige Anstrengungen erforderlich, damit die Seele in der 5  Vgl.

Politikos, 269d–e. 508a. 7  Vgl. Politeia, 444b. 6  Gorgias,



Prophetische Politik69

latent kriegerischen Verwirrung ihrer Kräfte nicht in einen ganz unrechten Zustand gerät, sondern sie vielmehr zu der ihr rechten Form hin geführt wird, in der alle ihre Kräfte in einer Übereinstimmung miteinander sind, so daß da „Eines statt des Vielen“ ist.8 Die Seele, denn, hat ihr eigenes Werk zu verrichten, das psyches ergon,9 in Platons Worten, durch welche sie die vielen Teile, die sie ausmachen, in die Gestalt bringt, die allen einzelnen Teilen zusammen und ihr im Ganzen gerecht ist. Dieses Werk, in der Seele für diese, ist unzweifelhaft ein politisches, wird es doch mittels der drei Tätigkeiten von „sorgen“ (to epimeleisthai), „regieren“ (archein), und „beraten“ (bouleuesthai) vollzogen.10 (4) Gegenstand des vierten heuristischen Leitsatzes schließlich ist das empirische Kriterium, anhand dessen der Unterschied zwischen „Unordnung“ und „Ordnung“ erkannt werden kann: Beide Zustände, so Platons Argumentation, entstehen je nach der Wahl, die hinsichtlich des grundsätzlichen Problems – das Eine versus das Viele – getroffen wird. Wenn von dem Vielen, das da ist, die Teile alle gelassen werden, je allein für sich, werden die Folgen Streit und Krieg sein. Wenn indes die Teile, durch ein Regieren eines jeden, dazu gebracht werden, ein Ganzes auszumachen, werden alle miteinander eins, weil zur Freundschaft aufeinander bezogen sein. Die Seele des Menschen denn ist mit ihren Kräften wohl regiert, der die Erfahrung macht: Ich bin „Freund meiner selbst“ (philos eautō).11 II. Das Neue: Der Gott der Sorge hat sich zurückgezogen Wägt man die vier angeführten heuristischen Leitsätze und die mit ihnen verbundenen Gedanken zusammen ab, wird man aus ihnen wohl kaum einen anderen Schluß ziehen als diesen: Die Menschen benötigen zu ihrer Existenz eine politische Wissenschaft von der Art, daß diese das Wissen und die Leitkunst ist, durch die sie sich auf ihre Gemeinschaft hin zu hüten vermögen, wie auf ein Leben, in dem sie Freund mit sich selbst und mit anderen sind, und auch mit der Welt.12 (Platon stellte im übrigen nachdrücklich klar, daß diese Abfolge – Freund mit sich selbst, mit anderen, mit der Welt – mit der Seele zu beginnen hat, die die ihr rechte Form gewonnen hat: nur ein gerechter Mensch wird gerecht zu anderen Wesen und anderen Dingen sein). Auf eben diese Not der Menschen hin, eines Wissens zu bedürfen, durch das sie 8  Vgl.

ebd., 443e. die spezifische Tätigkeit der Seele. 10  Politeia, 353d. 11  Ebd., 443d. 12  Vgl. hierzu: Tilo Schabert/Matthias Riedl (Hrsg.), Die Menschen im Krieg, im Frieden mit der Natur – Humans at War, at Peace with Nature, Würzburg 2006. 9  Wörtlich:

70

Prophetische Politik

sich sorgen können um ihre Existenz, hat Platon seine politische Theorie entfaltet. Und in zweien seiner Dialoge wird die existentielle gleich politische Not der Menschen ganz besonders thematisiert: Sie ist dort Gegenstand prophetischer Botschaften. Die eine dieser beiden Botschaften ist mit dem Politikos zu vernehmen, am Ende der im Dialog wiedergegebenen Erzählung von der Herrschaft des Kronos; und die andere mit der Politeia, bei der Erzählung des Er, die diesen Dialog beschließt. Die prophetische Botschaft, die im Politikos mit der Geschichte von der Herrschaft des Kronos überbracht wird, ist in Worte gefaßt, die sehr dringlich klingen. Sie machen deutlich, daß die Botschaft außerordentlich bedeutsam und höchst aktuell ist. Und es fällt auf, ist im Dialog unüberhörbar, daß der Anlaß, wegen dessen die Geschichte erzählt wird, drei Mal hintereinander angegeben wird, einmal am Anfang, ein zweites Mal im späteren Teil, wie die Geschichte ihrem Ende zu geht, und, schließlich ein drittes Mal, an deren Schluß, wo die Lehre, die aus der prophetischen Botschaft zu ziehen ist, deutlich verkündet wird. „Allein von dem Ungemach (pathos), das die Ursache (aitia) von all dem ist, hat noch niemand erzählt. Jetzt aber muß es berichtet werden.“13 „Weshalb wir aber diese Geschichte aufgebracht haben, das muß jetzt erklärt werden …“.14 „Und nun sind wir eben bei dem angekommen, worauf diese ganze Rede ausging.“15

In Frage steht die Zukunft des Menschengeschlechts, die Bedingung selbst des menschlichen Lebens. Es erscheint gewiß, daß die Menschen alle zugrunde gehen werden, wenn nichts unternommen wird. Deren Lage gegenwärtig ist die einer „großen Not“ (megale aporia).16 Etwas von größter Tragweite hat sich in ihrem Leben ereignet: jenes „Ungemach“ (pathos), von dem im Politikos – wie um die Wiedererzählung der Geschichte von der Herrschaft des Kronos einzuführen – zwei Dinge gesagt werden: Es ist der „Grund“ (aitia) für die Erzählungen von der Herrschaft des Kronos. Und: Das Geschick des Ungemachs selbst ist bislang nicht enthüllt worden. Nun aber ist der Augenblick gekommen, da das epochale Ereignis, und vor allem dessen Bedeutung, zu offenbaren sind. „Jetzt muß es berichtet werden.“ Die Geschichte von der Herrschaft des Kronos wird im Politikos wiedererzählt, damit die Menschen ihre Lage erfahren: Sie sind in einer großen Not. Die Wiedererzählung beginnt mit der hier schon erwähnten Feststellung, was die erste und elementare Bedingung anbetrifft, unter der in dieser Welt 269c. 272e. 15  Ebd., 274b. 16  Ebd., 274c. 13  Politikos, 14  Ebd.,



Prophetische Politik71

alle Wesen und Dinge, also auch die Menschen existieren: Jene sind einer „körperlichen Natur teilhaftig“, und deswegen bei ihrer Existenz in deren Form nie stabil, „unveränderlich“; jederzeit können sie aus ihrem Leben in einen Zustand des Zerfalls, der Zerstörung, und schließlich Auslöschung abgleiten – wenn nicht die entsprechende Sorge aufgebracht wird, die sie vor einem solchen Lauf ihres Schicksals bewahrt. In den frühesten Zeiten des Universums, so geht die Geschichte von der Herrschaft des Kronos im Poli­ tikos weiter, sandte indes eine Quelle von Unsterblichkeit außerhalb der sterblichen Welt „göttliche Impulse“ (theias aitias)17 aus. Sie versahen das Universum für einen „bestimmten Zeitraum“ immer mit Lebenskraft. „Der Gott (theos) selbst“ machte sich zum „Leiter“18 der Welt, und begleitete diese, und hielt sie damit davor zurück, ihrer natürlichen Tendenz zum Verfall zu folgen, ihrer Auflösung zu. So empfing sie vom „Schöpfer“ (demiour­ gos) jedes Mal ein „neues Stück Unsterblichkeit“.19 Irgendwann jedoch, zu einer späteren Zeit, überließ der Demiurg die Welt ihrer selbst. Mit der vollkommenen Katastrophe zur Folge: Das Universum nützte im ständigen Wandel seine Lebenskraft ab und kehrte schließlich seinen Lauf um. Von schöpferischer Kraft ausgezehrt, nahm es die Bahn zu seinem Verfall. Eine Zeit „gewaltiger Zerstörung“ trat ein, die „nur ein geringer Teil des menschlichen Geschlechts“ überlebte.20 Doch ein anderer Kreislauf im Leben des Universums begann, als der „göttliche Agent“ erneut intervenierte und das Universum wieder in den ­„Besitz von Lebenskraft“ kommen ließ.21 Es konnte einen weiteren „Umschwung“ seines Lebens vollziehen, und, nach einer wieder erfolgenden Intervention des Gottes, noch einen, und, in Wiederholung, noch einen. Doch die Geschichte von der Herrschaft des Kronos wird im Politikos natürlich nicht in der bloßen Absicht wiedererzählt, die Umschwünge des Universums zu schildern. Das Motiv vielmehr ist die prophetische Botschaft, die „Enthüllung“ des aktuellen pathos in der Lage der Menschen. Das Motiv wird auch zusehends augenfälliger, in dem Maße, wie die Erzählung der Geschichte vorangeht. Zum einen wird genauer ausgeführt, was die Herrschaft des Kronos existentiell und politisch für die Menschen bedeutete, und zum anderen wird dann diese Deutung dazu eingesetzt, herauszustellen, wie überaus relevant die Geschichte für die Menschen derzeit ist. Zu dem hier gegebenen Zweck ist es nicht nötig, die im Politikos ausgeführte Beschreibung von dem „Leben der Menschen unter der Herrschaft des 17  Ebd.,

270a. 269d. 19  Ebd., 270a. 20  Ebd., 270b–d. 21  Ebd., 270a. 18  Ebd.,

72

Prophetische Politik

Kronos“22 ganz nachzuzeichnen – ein paradiesisches, gänzlich sorgenfreies Leben (bios automatos), in dem sich alles spontan und wie von alleine regelte. Dafür sollte alle Aufmerksamkeit den existentiellen und politischen Bedingungen jenes Lebens gelten, die zusammen mit der Beschreibung desselben aufgeführt werden. Denn sie geben die Folie ab, durch die man das über die Menschen hereingebrochene „Ungemach“, ihre „große Not“, erst richtig sieht. Im Zeitalter des Kronos, so wird gesagt, mußten die Menschen nicht im Geringsten für sich selber verantwortlich sein, weil die ganze Verantwortung für ihre Existenz getragen wurde von einem „Gott der Sorge“ (epimeloumenos theos). Folglich waren sie selber auch nicht politisch tätig, sondern nur dieser Gott; er war der „regierende Hirte“, der die Menschen, seine „Pfleglinge“, durch ihr Leben führte und ihnen dieses mit der „Sorge seines Regierens“ garantierte. Eine ausdrückliche Aussage zur Frage politischer Ordnung macht diese Abwesenheit aller Politik unter den Menschen überdeutlich: „Unter seiner [des Gottes der Sorge] Hut gab es keine Verfassungen (politeiai)“.23 Umso einschneidender war das Ereignis, welches das gegenwärtige Zeit­ alter herbeiführte, und dessetwegen nun, infolge der Bahn, die das Universum seitdem nahm, das Zeitalter des Kronos weit, weit zurückliegt: Der Gott, der sich zum „Gott der Sorge“ gemacht hatte, hat sich zurückgezogen, er ist nicht mehr der „Steuermann“ (kybernetes) der Welt. Was für ein Vorgang! Was für eine totale Veränderung der menschlichen Lage! Was für ein radikaler und tiefgreifender Umschwung! Was für ein Ungemach in der Tat, wenn man diese Bedingung menschlicher Existenz jetzt mit jener vergleicht, welche den Menschen unter der Herrrschaft des für sie sorgenden Gottes zuteil war. Damals lebten sie in einem Paradies. Jetzt aber müssen sie eines existentiellen Verlustes gewahr werden, der gewaltiger nicht hätte sein können: Sie sind „aus der Fürsorge der Gottheit entlassen, die uns regierte und hütete“.24 Die im Politikos mit der Wiedergabe der Geschichte von der Herrschaft des Kronos aufgenommene „Erzählung“ (logos) ist an ihr Ziel gelangt. Was sie deutlich machen sollte, den Anlaß zu der Wiedergabe der Geschichte, ist mit der Geschichte in aller Klarheit herausgestellt worden. Dazu trug das mythische Gewand der Geschichte bei, das erstaunen ließ, und dann vor allem die erbrachte Offenbarung. Diese war der wahre Grund für das Erzählen der „mythischen“ Geschichte. Hört, so wird gesagt, hier ist die Erzählung, durch die den Menschen die Wahrheit ihrer Lage, wie sie jetzt ist, offenbart wird. Ihnen wird nämlich prophezeit: Ihr müßt für Euch selber verantwort22  Vgl.

ebd., 271d–272d. 271e. 24  Ebd., 274b. 23  Ebd.,



Prophetische Politik73

lich sein, Ihr müßt Euch selber regieren, Ihr müßt Euer Leben als ein gänzlich politisches führen – „… sie wurden von größter Not bedrängt. … Denn nachdem, wie eben gesagt, die göttliche Fürsorge den Menschen entzogen war, mußten sie ihre Lebensführung (diagōge) und die Fürsorge (epimeleia) für sich nun selbst in die Hand nehmen.“25 III. Die Erzählung des Er Kein Zweifel, dies ist die von Platon ausformulierte Einsicht: Die Wissenschaft von der politischen Existenz der Menschen – die episteme politike – geht aus Prophetischem hervor. Sie ist in ihren Anfängen ein prophetisches Wissen. Die frühesten ihrer Lehrer sind Figuren, Stimmen in prophetischer Gestalt. Dementsprechend verkündet im Politikos eine prophetische Stimme diese eine erste Wahrheit, welche die Menschen für den Verfolg ihres Lebens kennen müssen: Die Tätigkeit „Regieren“ ist die Voraussetzung ihrer Existenz, es gibt keinen Vollzug ihres Lebens ohne diese Bedingung.26 Und es gibt eine nachfolgende Wahrheit, der sich die Menschen natürlich ebenfalls aufschließen müssen. Sie wird am Ende der Politeia angeführt, nicht zufällig, wie gleich zu sehen ist. Von einem Propheten ausgesprochen, feierlich und emphatisch, gilt sie der großen Aufgabe, der sich die Menschen zu stellen haben, machen sie sich daran, „ihre Lebensführung (diagoge) und die Fürsorge (epimeleia) für sich nun selbst in die Hand zu nehmen.“ Und die Aufgabe ist eine doppelte. Denn die Menschen können nichts zur Führung ihres Lebens tun, wenn sie zuvor nicht etwas anderes getan haben. Stets muß eine bestimmte erste Handlung vollzogen werden vor jeder anderen Handlung, mit der sie ihr Leben geschehen machen: Sie müssen eine Wahl treffen. Es gibt diese und es gibt jene Weise, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, sich selber zu regieren. Der Gestalten, die ein menschliches Leben haben kann, gibt es sehr viele. Menschen können nicht ein Regieren ihrer selbst einfach so angehen. In der existentiellen Situation, welche die ihrige ist, wird es nie zu einem Anfang kommen, wenn von ihnen zuvor nicht eine Wahl getroffen worden ist. Um sie mitzuteilen, faßte Platon diese Wahrheit wieder in das Gewand einer mythischen Geschichte. Das ist die Erzählung des Er am Schluß der Politeia.27 Dort, das heißt ganz am Ende des Dialogs, wird auch, wie im 25  Ebd.,

274c–d. die parallelen Ausführungen in Tilo Schabert, Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin/New York 1989, S. 1 ff. 27  Zum weiteren Verständnis sei der Anfang der Erzählung hier angeführt: „Ich will dir indessen keine Erzählung des Alkinoos mitteilen, sondern von einem gar wackeren Manne, nämlich Er, dem Sohn des Armenios, dem Geschlecht nach ein 26  Vgl.

74

Prophetische Politik

Politikos bei der Erzählung von der Herrschaft des Kronos, der Anlaß, aus dem im Dialog die mythische Geschichte von Er erzählt wurde, genannt, und zwar in prophetisch überhöhten Worten, die zeigen, daß dringlich ist, worum es geht: Die Geschichte, „gerettet und nicht verloren gegangen“, wurde, so wird gesagt, erzählt, um „uns zu retten“ (sozein); um für das, was sie besagt, „Gehör zu finden“ (peithein); um mit den letzten Sätzen die Verheißung einer guten Lebensreise auszusprechen, einer Wanderung durch die Welten der Körper und Seelen, auf der wir „uns wohl befinden“ (eu prattomen).28 Der Inhalt der Erzählung wird dementsprechend von dem Begriff „Wahl“ (airesis) bestimmt. Das zeigt sich auch, unübersehbar, an der Häufigkeit, mit der die Wörter „wählen“ und „Wahl“ in der Geschichte vorkommen. Das „Wählen“, dessetwegen sie erzählt wird, ist offensichtlich eine außerordentlich wichtige Angelegenheit. Bei ihr geht es, so wird denn auch erklärt, um das „größte Wagstück“ (pas kindynos), das zu bewältigen es in der menschlichen Existenz gibt, um die richtige Entscheidung darüber nämlich, welche Lebensweise man wählen soll unter den so überaus vielen möglichen, um eine Entscheidung im übrigen, die noch dadurch nicht leichter gemacht wird, daß man bei ihr die Form des Lebens, welche dieses „gut“ (agathos) und nicht jene, welche es „schlecht“ (kakos) macht, treffen sollte. Weit weniger als von allem anderen, das es betrifft, ist das eigene Leben die Folge einer Wahl, die man selber traf. Und der Einsatz ist sehr hoch. Denn die Entscheidung, die zu vollziehen ist, kann zu einem begnadeten Leben führen; sie kann aber auch, ist sie falsch ausgefallen, ein Leben ganz im Übel bringen. Eine Wahl ist angesagt, wie sie wichtiger wahrlich nicht sein könnte. Der Prophet, der am Ende der Politeia auftritt, läßt denn, wie er zu sprechen anfängt, nicht den geringsten Zweifel an der eminenten Bedeutung der Angelegenheit, um die es geht. Seelen sind versammelt, um zu einem neuen Lebenszyklus aufzubrechen, nachdem sie, von Richtern nach ihrem Tod als „Gerechte“ erkannt, in den Himmel (ouranos) einziehen konnten und dort gewohnt hatten, oder, als „Ungerechte“ verurteilt, auf eine „tausendjährige Pamphylier, welcher einst im Kriege tot geblieben war, und als nach zehn Tagen die Gebliebenen schon verwest aufgenommen wurden, ward er unversehrt aufgenommen und nach Hause gebracht, um bestattet zu werden. Als er aber am zwölften Tag auf dem Scheiterhaufen lag, lebte er wieder auf und berichtete sodann, was er dort gesehen. Er sagte aber, nachdem seine Seele ausgefahren, sei sie mit vielen anderen gewandelt und sie wären an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei aneinandergrenzende Spalten gewesen und am Himmel gleichfalls zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen hätten Richter gesessen, welche, nachdem sie die Seelen durch ihren Richterspruch geschieden, den Gerechten befohlen hätten, den Weg rechts nach oben durch den Himmel einzuschlagen …, den Ungerechten aber den Weg links nach unten …“ (Politeia, 614b–c). 28  Vgl. Politeia, 621b–d.



Prophetische Politik75

Wanderschaft unter der Erde“ (ge) geschickt worden waren.29 Jetzt sind sie vor Laches, die Tochter der Notwendigkeit, geladen worden, in deren Schoß „Lebensmuster“ (biōn paradeigmata) zu ihrer Auswahl bereit liegen. Das wird die umfassend entscheidende Ersthandlung sein, mit der sie den Anfang zum Anfang ihres neuen Lebens machen werden: die Wahl ihres Lebensmusters. Für den Vorgang der Wahl eines Lebensmusters durch jede der anwesenden Seelen werden alle aufgefordert, ein Los zu ziehen, auf dem eine Nummer steht; und so wird, mit der Nummernfolge, auch die Abfolge festgelegt, nach der jede Seele weiß, wann sie an der Reihe ist und vorzutreten hat, um ein Muster für ihr neues Leben zu wählen. Der Prophet, der zu den versammelten Seelen spricht, eröffnet jedoch das Ziehen der Lose nicht sofort. Vielmehr richtet er an die Seelen noch Worte der Ermahnung und führt ihnen die ganze Tragweite der Entscheidung vor, die jede von ihnen zu fällen hat. Jede Seele, so sagt er, wird ganz allein für das verantwortlich sein, was sie wählt. Die getroffene Entscheidung wird ausschließlich die ihrige sein: „Eintägige Seelen! Ein neuer todbringender Umlauf beginnt für das sterbliche Geschlecht. Nicht euch wird ein göttlicher Daimon erlosen, sondern ihr werdet den Daimon [eures Lebens] wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in welcher er dann notwendig verharren wird. Die Tugend [= Fähigkeit zum guten Leben] hat keinen Herren über sich, von ihr, je nachdem wie man sie ehrt oder geringschätzt, wird man auch mehr oder weniger haben. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos (theos anaitios).“30

Nachdem er dies gesagt hat, so geht die Erzählung weiter, wirft der Prophet die Lose unter die Seelen, und jede nimmt eines, und sieht, welche Nummer sie gezogen hat. Als dann das Ziehen der Lose beendet ist, breitet der Prophet die Umrisse der Lebensweisen vor den Seelen auf dem Boden aus, in einer weit größeren Anzahl als die Versammelten. Die Lebensmuster sind sehr verschieden, unter ihnen finden sich Leben von Tieren aller Art und vielerlei menschliche Leben. Da sind Muster für eine tyrannische Existenz, oder Lebensweisen, durch die man Ansehen auf sich zieht, seiner Persönlichkeit, oder Schönheit, oder körperlichen Stärke wegen. Bei anderen Lebensmustern ist alles miteinander vermengt, wie Reichtum mit Armut, und Krankheit mit Gesundheit. Und so scheint nun der Augenblick dafür gekommen, daß die Seele, die dasjenige Los gezogen hat, das sie als erste wählen läßt, aus den vielen verfügbaren Lebensmustern dieses oder jenes für sich nimmt. Doch noch einmal erhebt der Prophet seine Stimme, zum Ratgeben und zu einer letzten Ermahnung: „Auch dem letzten, welcher hinzunaht, wenn er mit Vernunft gewählt 29  Vgl.

ebd., 617e und 614d ff. 617e (Unterstreichung von mir, T. S.).

30  Politeia,

76

Prophetische Politik

hat und sich tüchtig hält, liegt ein angenehmes Leben bereit, kein schlechtes. Darum sei weder, der die Wahl beginnt, sorglos, noch der sie beschließt, mutlos.“31 Jeder Mensch sollte diese Wahrheit kennen. Niemand sollte nicht das Wort vernommen haben: Dein Leben ist eine Folge Deiner eigenen Entscheidung. Allen Menschen, so endet Platons Politeia, sollte deswegen vor allem anderen diese Sorge gelten: Sie sollten mit Hilfe der dafür richtigen Erkenntnis, richtigen Wissenschaft (mathemata) zu dem „aufwärts führenden Weg“ (anō odos) geleitet werden, an dessen Ende sie, aufgrund der richtigen Wahl zwischen „besserem und schlechterem Leben“, „Freund mit sich selbst und den Göttern“ (philoi ōmen kai tois theois) sein werden.32 Werden die Menschen die Botschaft hören? Werden sie bestehen angesichts des „größten Wagstücks“? Sind sie vorbereitet für die richtige Wahl? Sie werden keine Entschuldigung haben, so das Urteil Platons, wenn sie versagen. Und so nahm er die Erzählung von Er in die Politeia auf und gab sie mit dieser erneut wieder, zur Überlieferung jener prophetischen Wahrheit, die alle Menschen angeht, und die jede und jeder erkennen kann an der nackten Erscheinung menschlichen Wahns: „Nachdem jener [der Prophet] nun dies gesprochen … ‚Darum sei weder, der die Wahl beginnt, sorglos, noch der sie beschließt, mutlos,‘ … sei der, welcher das erste Los gezogen, sogleich darauf zugegangen und habe sich die größte Tyrannei erwählt; aus Torheit und Gier aber habe er gewählt, ohne alles genau zu betrachten, und so sei ihm das darin enthaltene Geschick, seine eigenen Kinder zu verzehren, und anderes Unheil entgangen. Nachdem er es nun mit Muße betrachtet, habe er auf sich losgeschlagen und seine Wahl bejammert, nicht beachtend, was der Prophet vorhergesagt: Denn er habe nicht sich selbst dieses Unheils Schuld beigelegt, sondern das Glück und die Götter und alles eher als sich selbst angeklagt.“33

IV. Der Weg des Prophezeiens Die Botschaft ist deutlich. Ihre Bedeutung ist klargelegt worden. Damit sie gehört werde, wurde sie mit größtem Nachdruck mitgeteilt. Und doch: Sie überwindet nicht notwendigerweise menschliche Torheit. Diese ist so sehr eine Qualität des menschlichen Geistes wie die Weisheit. Sollte jener vielleicht sodenn, um Gefäß für Prophetisches sein zu können, in einer bestimmten Weise seiner selber beraubt werden? Ja, so argumentierte Platon, in dessen Sicht dies der Weg war, eine Prophezeiung zu übermitteln, sollte es sich beim Übermittler um einen Menschen handeln. Niemand, so wird im 31  Ebd.,

619b. ebd., 618e und 621c. 33  Politeia, 619c. 32  Vgl.



Prophetische Politik77

­ imaiaos erklärt, werde zu einem „wahren Vorhersagen“ fähig sein, solange T er seines Geistes gänzlich mächtig sei; vielmehr hätte ein Mensch die Gabe dazu nur unter der Bedingung der gegenteiligen Geistesverfassung: „… wenn entweder seine Geisteskraft im Banne des Schlafes liegend gebrochen ist, oder wenn er durch Krankheit oder irgendeine Art von Verzückung (enthou­ siasmos) geistesschwach geworden ist.“34 Der Weg des Prophezeiens ist eine Entmächtigung des Geistes, wie sie der Schlaf, eine Krankheit oder eine Übernahme des Geistes durch einen Gott herbeiführen, der diesen buchstäblich in Besitz nimmt und mit Göttlichem füllt. Gott nämlich verleiht „dem menschlichen Unverstand (aphrosyne) die Seherkraft (mantike).“35 Doch es bedarf dazu noch bestimmter Voraussetzungen. Der Geist muß offenliegen wie zu einer Übergabe, und so reglos sein, wie wenn es ihn nicht mehr gäbe. „Jeder Mensch“, so wird im Ion gesagt, „ist unfähig, Orakel zu sprechen (chresmōdein), während er am Besitz seiner Vernunft festhält.“36 Ein Mensch ist des Prophezeiens nur fähig, wenn sein Geist ein entleertes Gefäß geworden ist. Gott „nimmt“ denn zuerst jenen „die Vernunft“, durch die er, als seine „göttlichen Wahrsager“ (chresmōdois), sprechen möchte. Dann, und nur dann, werden die anderen Menschen, welche die Worte der göttlichen Wahrsager hören, auch wissen, daß diese nicht deren Worte sind, weil ihnen ja „ihre Vernunft nicht innewohnt“, sondern daß es vielmehr „der Gott selbst ist“, der sie ausspricht, und daß dieser nur durch jene chresmōdois zu ihnen spricht.37 V. Theopolitik Prophetie ist eine Weise Gottes, auf die menschlichen Angelegenheiten einzuwirken, unmittelbar, wie sofort unterstrichen werden sollte, um Platons Auslegung richtig wiederzugeben. Es ist er, der Gott, der dann handelt, und niemand sonst, als dessen Repräsentant oder Beauftragter etwa. Hört in den Worten des Propheten, so könnte man sagen, die Stimme Gottes. Und in den Entscheidungen, die unter der Wirkung der Stimme getroffen werden, handelt der wegweisende Gott. Die Menschen, durch die ein solches theopolitisches Ereignis geschieht, sind sich natürlich dessen prophetischer Figuration bewußt, des „göttlichen“ Enthusiasmus, der ihren Geist durchzieht. Doch werden sie kaum die Weisheit des göttlichen Regierens verstehen, die sich durch sie manifestiert. Denn Gott hat sich ganz ihres Geistes bemächtigt, zu seinem regierenden Vorgehen in menschlichen Angelegenheiten. Sie selbst sind in ei34  Timaiaos, 35  Ebd. 36  Ion,

71e.

534b. 534c–d.

37  Ebd.,

78

Prophetische Politik

nem solchen Moment „göttlich“ (theiōs) geworden. Gott hat sich in sie eingeatmet und sie in seinen Besitz genommen (Platon’s Ausdruck ist katechein), sie sind voll des Gottes (entheos), der sie treibt.38 Dieser hat sie in seinen Dienst gestellt, für ein Regieren von Göttlichem unter den Menschen. Wenn Menschen regieren, so wird im Menon gesagt, lassen sie sich dabei gewöhnlich nicht von Wissen (episteme), sondern von den Meinungen leiten, die verbreitet sind (eudoxia).39 Gelegentlich jedoch werden sie „große Geschäfte glücklich vollbringen, ohne etwas eigentlich zu wissen von dem, worüber sie reden“.40 In einem solchen Moment wird ein Ereignis von Theopolitik geschehen sein. Und daraufhin, so wird in dem Dialog ferner bemerkt, könnte auch von „Lenkern des Regierungsgeschäfts“ (politikoi) gesagt werden, daß sie „göttlich“ sein können und „begeistert“, „angehaucht und bewohnt von dem Gotte“.41 VI. Prophetien müssen geprüft und beurteilt werden Ereignisse von Theopolitik wirken menschlicher Torheit entgegen. Wenn sie geschehen, ereignen sie sich durch Menschen, die eine Kraft der Überzeugung, eine „Begeisterung“ vorzeigen, die sie offensichtlich davon trägt. Sicher, die Äußerungen dieser Menschen lassen aufhorchen, machen staunen, reizen die Neugier, fangen die Aufmerksamkeit der Zuhörer ein; doch wird, was sie vortragen, kaum eine logisch aufgebaute Argumentation sein, mit einer unabweisbaren Feststellung nach der anderen. Die Zuhörer prophetisch sprechender Menschen werden von deren Worten gebannt sein, aber werden sie auch wirklich wissen, wer hier spricht? Da scheint es so, daß ein politi­ kos, also jemand, der politische Macht innehat und ausübt, so spricht und so handelt, als sei er unter einer „göttlichen“ Inspiration, aber durchzieht ihn tatsächlich der Atem des Göttlichen? Unter den Lauten auf der Bühne der menschlichen Welt ist plötzlich eine Stimme zu hören, die so klingt, als käme sie von einer anderen Welt, aber ist sie Gottes Stimme? Ein Mensch spricht wie ein Prophet, und doch: Wer sagt uns, daß dies ein wahrer Prophet ist? Das kann sehr wohl ein Scharlatan (alazōn) sein, der nur die Maske eines Propheten trägt, und einen Schwindel aufführt, voll der Berechnung allein, wie er ein Publikum beeindrucken und dessen Beifall gewinnen kann. Wie können wir es wissen? 38  Vgl. Menon, 99d; Ion, 534b. – Vgl. Al-Fārābī’s Äußerung: „… God is also the governor of the virtuous city, just as He is the governor of the world …“ (Alfarabi, The Political Writings, S. 112). 39  Menon, 99c. 40  Ebd., 99d. 41  Ebd.



Prophetische Politik79

Indem wir sophronos sind, antwortete Platon, das heißt: weise, wohl überlegend, klug, von besonnenem Geist. Wir müssen ihnen gegenüber nicht hilflos sein, so erklärte er, wenn wir prophetische Worte hören, noch gänzlich ratlos, wenn wir darangehen, sie verstehen und deuten zu wollen. Es gibt die intellektuelle Kraft der sophrosyne: die Geisteshaltung von Weisheit aus Mäßigung, Selbstbescheidung, Gleichmut. Mit ihr können wir die „Scharlatane abwehren“ und feststellen, wer die „wahren Propheten“ sind.42 Prophetien müssen geprüft und beurteilt werden, will man erkennen, ob sie wahre Prophetien sind. Und die Richterin (epistates), die über den Prozeß des Erwägens und Entscheidens präsidiert, ebenso wachsam wie kompetent, lenkend wie hutvoll, ist die Weisheit, die uns die sophrosyne eingibt. Propheten selber haben keinerlei Autorität bezüglich der Wahrheit ihrer Worte. „Dem Verzückten und noch in diesem Zustande Verharrenden ziemt es nicht, über seine Gesichte und eigenen Aussprüche ein Urteil zu fällen.“43 Kompetent für ein Urteil über Prophezeiungen kann nur sein, wer außer solchen ist und nichts Prophetisches an sich hat. Man ist dazu „nur“ Mensch (nicht göttlich angehaucht), und muß, nach menschlicher Maßgabe allein, ganz „bei Sinnen“ sein. „Vielmehr kommt es dem Verständigen (ganz bei Sinnen seienden: emphronos) zu, die Aussagen seiner Sehergabe und gött­ licher Begeisterung im Wachen oder im Schlafe sich in das Gedächtnis zurückzurufen und wohl zu erwägen und alle gehabten Erscheinungen durch Nachdenken genau zu unterscheiden, in welcher Weise und wem das ein Bevorstehendes oder Vergangenes oder Gegenwärtiges, Gutes oder Übles, vorbedeutete. … Darum bestelle auch das Gesetz die Gilde der Wahrsager zu Richtern über gottbegeisterte Weissagungen.“44 Regieren ist erster (in der Zeit) und prinzipieller (in der Sache) Modus menschlicher Existenz. Für ihr Leben ist es den Menschen die Bedingung. Gewöhnlich regieren sich diese jedoch nicht anhand dessen, was wahr ist, sondern anhand dessen, wovon sie meinen, daß es wahr sei. Sehr viel Unsinniges geschieht deshalb bei ihrer Lenkung ihrer Angelegenheiten. Sie hätten es nötig, bitter nötig, von Propheten zu lernen, Worte des Wissens zu hören, die sie nicht gleichgültig lassen, weil es prophetische sind. Die Menschen könnten indes auch den anderen Weg einschlagen, jenen nämlich, der sie selber „aufwärts“ führt, den Weg der Erkenntnis. Auf diesem Weg würden sie, im eigenen Regieren, ein Regieren ihrer selbst zu erreichen vermögen, mit dem sie sich „wohl befinden“. Wird es soweit kommen? Daß Menschen die Kraft der sophrosyne in ihrer Seele haben, und diese die Regentin ihrer 173c, Timaiaos, 72a–b. 72a. 44  Ebd., 71e–72b. 42  Charmides, 43  Timaiaos,

80

Prophetische Politik

Seele ist, und damit die „Regierung“ bildet, mit der sie ihre Menschengesellschaft ordnen und lenken können?45 Was diese Fragen anbelangt, so hinterließ Platon den Bericht von einem „Traum“ des Sokrates: „So vernimm denn, sagte ich [Sokrates], meinen Traum … Wenn nämlich die Besonnenheit (sophrosyne) in ihrer von uns jetzt festgesetzten Gestalt die Herrschaft (arche) über uns führe, was wäre die Folge? Würde dann nicht in allem und überall nach der Erkenntnis (kata tas epistemas) verfahren werden? Kein Steuermann, der sich dafür ausgibt, tatsächlich aber keiner ist, würde uns täuschen, auch kein Arzt, kein Feldherr, überhaupt niemand würde, ohne daß wir dahinter kämen, sich den Anschein geben können, zu wissen, was er nicht weiß. Und bei solchem Sachverhalt würde sich allerdings für uns ergeben, daß wir körperlich gesünder wären als jetzt und daß wir in See- und Kriegsnot auf Rettung rechnen könnten und daß all unsere Geräte, unsere Kleidung, unser Schuhwerk, kurz alles, was wir brauchen, mit voller Sachkunde angefertigt wäre und noch manches andere, weil wir von wirklichen Werkmeistern bedient würden. Und wenn es dir recht ist, wollen wir einräumen, daß auch die Wahrsagekunst ein Wissen (episteme) des Zukünftigen sei und daß die Besonnenheit (sophrosyne) als Leiterin derselben die Scharlatane nicht aufkommen lassen würde, sondern nur die wirklichen Wahrsager als zuständige Propheten der Zukunft für uns dulden würde. Daß nun das menschliche Geschlecht, also versorgt, mit erkennendem Verstand handeln und leben würde, das begreife ich. Denn die Besonnenheit als unsere Wächterin würde nicht zulassen, daß sich der Unverstand als Mitwirkender bei uns einschleichen würde.“46

45  Vgl.

Charmides, 172d. 173a–d.

46  Ebd.,

Chaos und Kosmos: eine Kongruenz Im kosmologischen Verstehen der westlichen Philosophie, Theologie und Literatur war und ist der Begriff „Chaos“ so gegenwärtig wie kaum ein anderer. Das geht zurück auf die Erzählung, die Hesiod in seiner Theogonie vom Beginn der Welt brachte. „Früher als alles entstand das Chaos/ἤτοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ’“, so hebt die Erzählung an (Theogonie 116–210). Im Stil eines Gedichts geschrieben, gibt sich die Theogonie als Offenbarung durch eine prophetische (θεσπιν) Stimme (32). Hesiod setzt seine Erzählung ausdrücklich von den falschen Dingen (ψευδεα) ab, die zu „äußern uns allen geläufig ist“ (27), und er erklärt, dass Musen sie ihm bekundet haben – um Wahres (αληθεα) zu sagen (28), über „das, was ist, was sein wird, und was zuvor gewesen ist“ (38). Hesiods kosmogonische Wissensbegier war durchgängig. Was, so wollte er wissen, geschah genau zu jenem Moment, dem Beginn, mit dem alles anfing, jenem Moment also, als für jedes Anfangen ein Beginn gemacht wurde?1 Der Beginn der Welt (αρχη), so berichtet Hesiod, fing mit dem Chaos an – „χαος ward zuerst“ (116). Der Ausdruck χαος in der Theogonie bedeutet denn nicht „Wirrwarr“ oder „Unordnung“. Etymologisch gesehen kommt er von dem Verb χαινειν her, das ein „aufklaffen“, ein „gähnen“ bezeichnet. Indem er in einem Auftreten des χαος den Beginn erblickte, mit dem alles anfing, nahm Hesiod diesen als ein Offenwerden, ein sich ausweitendes Auseinanderklaffen, ein Raumschaffen wahr, das formen- und konturenfrei endlos schien. Stellen wir es uns wie einen Ur-raum für ein Aufkommen der Möglichkeit eines Raumes für einen Kosmos, eine Welt vor. Nicht von ungefähr ist χαος grammatikalisch ein Neutrum. Es benennt eine Wirklichkeit, in der noch nichts zu Dingen aufgeteilt ist, wie es im Aufstellen des Kosmos dann geschieht. Für Hesiod besteht das Chaos „außerhalb“ des Kosmos fort, seine Wirklichkeit verschwindet keineswegs „nach“ der Einrichtung der Weltordnung. Erstdruck in englischer Sprache unter dem Titel „Chaos“ in: Antony Grafton/Glenn W. Most/Salvatore Settis (Hrsg.), The Classical Tradition, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2010, S. 190–191. Übertragung ins Deutsche vom Autor, mit Umarbeitungen des Texts. 1  Zum Unterschied zwischen „Anfang“ und „Beginn“, der für jede Kosmologie und denn für jede Art von Schöpfung zu sehen ist, vgl. den Abschnitt „Im Beginn“, in: Tilo Schabert, Die zweite Geburt des Menschen, S. 21–24.

82

Chaos und Kosmos: eine Kongruenz

So schildert er zwei Genealogien, von denen die wichtigste natürlich die der Götter ist. Sie führt zur kosmischen Ordnung unter der Herrschaft des Zeus. Die zweite beginnt mit dem Nachwuchs des Chaos, Erebos (Dunkelheit) und Nyx (Nacht), und setzt sich mit deren Nachkommen fort. Sie wirken in den Kosmos hinein, aber greifen nicht auf dessen Ordnung aus. Göttliche Mächte des χαος begleiten stets den Kosmos. Sie konstituieren die Dunkelheit aus der sich dieser erhebt. Nach ihrer Einführung blieb die Vorstellung vom Chaos im westlichen Denken ein dieses prägende Element. Wer über „Ordnung“ sprach, ließ es nicht aus, auch vom „Chaos“ zu sprechen. Aber die Deutung dessen, was es denn nun sei, und was aus ihm folge, fiel sehr unterschiedlich aus. Die klarsichtige Intuition des Hesiod hatte ein Maß gesetzt, an das nicht jede oder jeder herankam. Viel eher wurde das begriffliche Erfassen vereinfacht, gemäß einer simplen Chronologie: bevor alles in einen cosmos, einen mundus gebracht wurde, gab es das „Chaos“, verstanden als „Verwirrung“ und „Unordnung“. Einen „rohen und ungeordneten Klumpen“ (rudis indigestaque moles), einen „wirren Klumpen ohne irgendeine Ordnung“ (confusa sine or­ dine moles) müsse man sich vorstellen, so schrieb Ovid in den Metamorpho­ sen (1, 7), beziehungsweise der Ars armatoria (2, 467). Er drückte damit eine Ansicht aus, die von anderen Autoren der lateinischen Antike geteilt wurde (Vergil, Plutarch, Lukian, die Stoiker), und sich in späteren Jahrhunderter weit ausbreitete. Sie ist bis heute die allgemeine. In der christlichen Kosmologie wurde die Vorstellung vom Chaos zwar rezipiert, aber dann geschickt in ihrem Sinne verarbeitet. Gott hatte die Welt ex nihilo geschaffen, so die christliche Lehre. Doch es gab auch den biblischen Bericht: „Am Anfang (hebr.: berêshîth) schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war wüst und leer (hebr.: tohû-wâ-bohû).“ (Genesis, 1, 1–2). Er veranlasste die christlichen Theologen zu einem semantischen Zug von einer anhaltenden Auswirkung: Sie setzten „Chaos“ mit dem tohû-wâ-bohû (in der Vulgata wiedergegeben als „brach und kahl“) gleich, und das hieß, dass es nicht der Beginn von allem war, sondern eine Folge des von Gott initiierten Beginns. Es war in die christliche Schöpfungslehre eingebaut. Aber es ließ christlichen Denkern dennoch keine Ruhe. Warum war Gottes Schöpfung nicht ganz von ihrem Anfang an vollkommen? War vielleicht das Auftreten eines Chaos selbst für den allmächtigen Gott bei seiner Schöpfung der Welt nicht zu vermeiden? Das widersprach sich natürlich. Wie konnte aber dann das Problem des Aufkommens eines Chaos in Gottes Schöpfung gelöst werden? Origenes griff auf die „göttliche Weisheit“ zurück, die „immer bei dem Vater war (sapientia, quae semper erat cum padre)“ (De prin­ cipiis, 1, 4.4). Denn „in Weisheit wurde alles gemacht (in sapientia omnia facta sunt)“ und in der Weisheit Gottes war schon immer alles da (semper fuerit), und zwar in einem Zustand der praefiguratio et praeformatio, bevor



Chaos und Kosmos: eine Kongruenz83

es überhaupt geschaffen wurde (1, 4.5). Folglich tat sich in der Schöpfung Gottes nicht wirklich ein Chaos auf. Um dies klarzustellen und das Problem des Chaos definitiv zu beseitigen, unterschied Thomas von Aquin in seiner Summa theologica (1, 9.66, art.1) zwischen der Zeit, zu der die Welt geschaffen wurde, und der logischen Anordnung, nach der sie geschaffen wurde. Das Wirrwarr, welches die Alten Chaos nannten (confusio quam antiqui voca­ verunt Chaos), so erklärte er, ging dem Ordnen der Welt nicht wirklich voraus. Vielmehr lag es vor ihr nur nach der Logik dieses Ordnens (sed solum origine vel ordine naturae). In der Renaissance indes kam wieder eine Vorstellung vom Chaos auf, die der von Hesiod gleichwertig war. Nikolaus von Kues sprach von einem „Chaos des rein Möglichen (chaos merae possibilitatis)“, das den Geist eines Menschen im Augenblick des Todes erfassen könne, wenn sich dieser in seinem Leben von der Wahrheit abgewandt und so darin gefehlt hätte, sich Gott zu nähern. Für immer von einem unveränderlich ewigen Leben ausgeschlossen, werde er in ein „Chaos der Verwirrung (chaos confusionis)“ gestürzt, um unablässig und grenzenlos eine tödliche Agonie zu erleiden (De docta ignorantia, 3,10,241). In dem kosmologischen Gedicht Microcosme (1562) von Maurice Scève2 schafft Gott als eine erste Manifestation seiner Schöpfungskraft ein „großes Chaos“, das in einem gleißenden Licht weit aufklafft. Dem epischen Gedicht Faerie Queene von Edmund Spenser zufolge beziehen alle Dinge von der Welt ihre Existenz aus einem Chaos in der Welt: „For in the wide wombe of the world there lyes, / In hateful darkness and in deepe horrore, / An huge eternall Chaos, which supplyes / The substaunces of natures fruitful progenyes.“ (Faerie Queene, 3, 6,36). Hesiods χαος erschien erneut, insbesondere durch die Stimme von Dichtern. So war es auch ein Dichter, dem eine Übertragung, um sich das χαος vorstellen zu können, in der reinsten möglichen Form gelang, über die Worte Hesiods hinaus, an der Grenze des Vermögens sprachlichen Ausdrucks: John Milton im Paradise Lost. Worte werden aufgesetzt, doch sie widersetzen sich der Sprache, negieren sie: „… the hoary deep, a dark / Illimitable ocean with­out bound, / Without dimension; where length, breadth, and highth, / And time and place are lost, where eldest Night / And Chaos, ancestors of Nature, hold / Eternal anarchy …“ (Paradise Lost, 2. 892-96). Unendlich jenseitig, umgibt dieses Chaos Himmel und Hölle, Erde und Paradies, und doch ist es ganz in der Welt, als „Schoß der Natur“ und „vielleicht ihr Grab“ (2. 911). Wie John Milton versuchte auch Jakob Böhme mit einer angemessenen Bildersprache die schiere Hoheit des Chaos auszudrücken. In seiner spiri­ 2  Zu Leben und Werk von Maurice Scève siehe: https://francearchives.fr/ commemo/recueil-2010/39041 (aufgerufen am 9. Nov. 2019).

84

Chaos und Kosmos: eine Kongruenz

tuellen Kosmologie ist das Chaos die maßgebliche Quelle aller Wirklichkeit. Es ist die „verborgene Welt“, aus der das „Reich der auessern Natur dieser Welt“ hervorgeht (Mysterium Magnum, 33. 32). Das Chaos ist die „Wurzel der Natur“, aus der nur Gutes sprießt (33. 37). Es ist „von Ewigkeit“ her der Ursprung der geistigen Welt gewesen, von Licht und Dunkelheit, von Himmel und Hölle (Clavis, 22–23). Selbst das Paradies ist ein Zeugnis des Chaos (Mysterium Magnum, 33. 36). Tief verborgen, öffnet sich das Chaos indes durch den Regenbogen, dessen Farben die vier Elemente oder Qualitäten des Seins in der „Tiefe“ reflektieren (33. 32–33). In seiner Philosophie der Mythologie vermerkte Friedrich Wilhelm Joseph Schelling deutlich Hesiods kosmologischen Wahrnehmungssprung. Dessen Vorstellung vom χαος kommentierend, sagte er, dass die Theogonie die ersten Bewegungen der Philosophie aufweise, die sich von der Mythologie weg aus dieser heraus entfalte.3 Mit der Theogonie hatte das Fragen begonnen: Was ist der Prozess der Realität? Und diesem Fragen, wie wir wissen, wandte sich die Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert besonders zu. Man sah im Begriff „Chaos“ die zentrale Kategorie für das Verstehen der Welt. Eine Theorie des Raums, so formulierte die Philosophin Hedwig ConradMartius, konzentrierte sich naturgemäß auf den Ur-Raum oder den apeiri­ schen Raum, das heißt auf Hesiods χαος.4 Ilya Prigogine seinerseits, herausragender Vertreter der „Chaos-Theorie“ in den Naturwissenschaften, verkündete das „Ende der Gewissheiten“.5 Das Chaos war und ist mit uns von allem Anfang an. Ja, was wir als Ordnung der Wirklichkeit ansehen, geht aus Strukturen des Chaos hervor.6

3  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie/1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 45 f. 4  Hedwig Conrad-Martius, Der Raum, München: Kösel, 1958, 15.13.3,72–86; 13.4, 329–346. 5  Vgl. Ilya Prigogine, La fin des certitudes: temps, chaos et les lois de la nature, Paris: Odile Jacob, 1996. 6  Siehe den Beitrag „Ereignis und Gesetz. Das Zusammenspiel von Ordnung und Unordnung im Universum“, von Ilya Prigogine (zus. mit Tilo Schabert) in: Tilo Schabert/Erik Hornung (Hg.), Strukturen des Chaos, München: Fink, 1994, S. 129– 149.

Im Netz der Kulturen und Zivilisationen I. Woraus geschieht Geschichte? Es ist erstaunlich. Eine Frage wird gestellt: Woraus geschieht Geschichte?, eine Runde von Experten wird dazu konsultiert, und die Antwort, die aus ihr kommt, ist ganz eine einhellige. Die Frage, zudem, ist schwierig und komplex. Und die befragten Experten haben zu verschiedensten Zeiten, aus verschiedensten Anlässen, in verschiedenster Weise über sie nachgedacht und geschrieben. Auszuschließen ist, daß sie sich abgesprochen haben; sie hätten solches, selbst wenn ihnen eingefallen wäre, es zu tun, schwerlich ausführen können, zeitlich und räumlich getrennt wie sie es waren. Den im Zeitenlauf Späteren waren, so darf zwar angenommen werden, die Schriften der Früheren nicht unbekannt, aber von keinem der Befragten könnte behauptet werden, beileibe nicht, daß er nichts Eigenständiges zu sagen hätte. Und doch: Diese Einhelligkeit bezüglich unserer Frage. Erstaunlich also der erste Befund, der hier mitzuteilen ist. Befragt wurden Herodot, Thucydides, Vergil, Flavius Josephus, Augustinus, Erasmus, Kant, Hegel. Ihre überraschend gleichartigen Äußerungen zu der Frage: Woraus geschieht Geschichte?, sind Gegenstand dieses Beitrags. Dieser ist phänomenologisch aufgebaut. In den Äußerungen, die zu untersuchen waren, lassen sich drei Argumentationsschichten unterscheiden: eine empirische, eine analytische und eine hermeneutische. In den entsprechenden Texten sind diese Schichten ineinander verwoben, logisch indes sind sie aufgestuft, von der empirischen über die analytische zu der hermeneutischen Schicht. Diese Stufenfolge gibt der Beitrag hier in seiner Gliederung wieder. Auf jeder der drei Argumentationsschichten sind des weiteren ihr zugehörige Schlüsselbegriffe zu erkennen, in denen sich das jeweils Geäußerte konzentriert, wie für ein gedankliches Merkraster. An dieses hält sich der Beitrag, er wird aus ihm heraus entwickelt, zum Nachvollzug dessen, was die Experten in der Runde zu unserer Frage sagen.

Erstdruck in: P. Nitschke (Hrsg.), Der Prozess der Zivilisationen: 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert, Berlin, Frank & Timme, 2014, S. 167– 179.

86

Im Netz der Kulturen und Zivilisationen

II. Empirisches Sie setzen alle bei einer unmittelbaren Schilderung jenes Ablaufs menschheitlicher Schicksale an, der gewöhnlich „Geschichte“ genannt wird. Von diesem sind sie offensichtlich überaus beeindruckt, und sie zeigen die empirische Wahrheit dessen, was sie eines Verstehens wegen so beschäftigt, deutlich an, mit entsprechenden Erklärungen, wie es Herodot und Flavius Josephus tun1, oder indem sie sich bei ihren Äußerungen, wie Erasmus oder Hegel, auf bekannte historische Fakten und Ereignisse stützen. Die Neueren wirken angesichts des von ihnen Gesehenen bestürzt, ja entsetzt. Um auszusprechen, was sich ihnen bietet, genügt ihnen offensichtlich die gewöhnliche Sprache nicht. Sie verwenden vielmehr eine Bildersprache, und diese ist in drastischer Weise expressiv. Gleich einer „Schlachtbank“ zeige sich die Geschichte, sie sei ein „Schauspiel der Leidenschaften“, der „Gewalttätigkeit“, die aus jenen folgten, so hören wir von Hegel anläßlich seiner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte2. Kant, nichts anderes beobachtend, erklärt in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger­ licher Absicht, daß es in der Natur „unserer Gattung“ angelegt sei, für sich selbst eine „Hölle von Übeln“ schaffen, in einer „barbarischen Verwüstung“ enden zu können.3 1  Vgl. die ersten beiden Sätze von Herodots Historien: „Herodot aus Halikarnaß veröffentlicht hiermit seine Forschung, auf daß die menschlichen Werke bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit geraten, und damit große und wunderbare Taten der Griechen und der Barbaren nicht ohne Gedenken bleiben. Vor allem aber soll man erfahren, warum [Herodot benützt hier im Griechischen den Begriff „aitia“ = Ursache, Grund] sie gegeneinander zum Kriege schritten. (Herodot, Historien, Buch I, Gr.-Dt., hg. Josef Feix, München 1963, S. 7). – Vgl. ferner Historien, Buch I, 5, 3: „Aber ich will den Mann nennen, von dem ich sicher weiß, daß er die Feindseligkeiten gegen die Griechen begann.“ – Flavius Josephus erklärt, er wolle „die Taten beider Parteien [der Römer und der Juden] genau und vollständig berichten“, … „dem Gedächtnis das vorher noch nicht Erzählte“ übergeben und die „Geschehnisse der eigenen Zeit“ darstellen. Er lege „nach erheblichem Aufwand an Geld und Arbeit Griechen und Römern … das Gedenkwerk [μνημη] über die vollbrachten Taten vor  …“ Gehe es doch „um Geschichtsschreibung, bei der man „die Wahrheit sagen [ταληθη λεγειν] und mit viel Mühsal die Tatsachen zusammensuchen muß  …“ (Fla­ vius Josephus, De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg, Gr.-Dt., Bd. I, hg. Otto Michel, Otto Bauernfeind, Darmstadt1959, 19823, Buch 1, 4,9; 5.16). 2  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Band I: Die Vernunft in der Geschichte, hg. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 80 und S. 79. – In dieser Edition sind die Zusätze enthalten, die Georg Lasson bei seiner Ausgabe von 1917 aufgrund von Mitschriften von Hörern Hegels in diese aufgenommen hatte. Vgl. dazu die Erläuterungen von Johannes Hoffmeister a. a. O., S. VII ff. und S. 272 ff. Aus diesen Zusätzen wird an einigen Stellen hier zitiert. Dies wird an der jeweiligen Stelle mit dem Vermerk „Lasson“ kenntlich gemacht.



Im Netz der Kulturen und Zivilisationen87

Die Alten reden unumwunden. Mit „Raub“ (von Königstöchtern), „Zwist“, „Frevel“, „Zerstörung“, „Feindschaft“ beginnen Herodots Historien, und das geht nur so fort in der von ihm berichteten Geschichte des Zivilisationenkampfs zwischen Griechen und „Barbaren“ (Persern).4 Im Jüdischen Krieg von Flavius Josephus wimmelt es nur so von Wörtern wie „Krieg“, „Zwietracht“, „Streit“, „Neid“, „Rache“, „Zorn“, „Aufruhr“, „Zwist“, „Zwiespalt“, „Plünderungen“, „Blutbad“.5 Es mag so sein, wie Flavius Josephus mit dem ersten Satz seiner Schilderung des „Krieg(s) der Juden gegen die Römer“, behauptet, daß dieser der „größte im Vergleich nicht nur mit den Kriegen unserer Zeit (war), sondern auch mit all denen, von denen wir Kunde übernommen haben“6 Unzweifelhaft indes war jener Krieg, folgt man Flavius in seiner Schilderung, ein ganz schrecklicher. Krieg, Streit, Streit, Krieg – oder: Menschheitsgeschichte. „Arma canto – Waffentat künde ich“, erklärt Vergil mit den ersten Worten der Aeneis, seiner Geschichte von der Gründung Roms und den Waffengängen Roms zur Herrschaft über die Oikumene.7 Was bewegt Menschen, auf diese Weise hervorzubringen, was ihre Geschichte sein wird? Sich zu verewigen als Schöpfer einer „Schlachtbank“? „Wut“, erwidert Vergil8, „Neid“, „Zorn“, „Rache“ führt Flavius Josephus als 3  Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke in zehn Bänden, hg. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Darmstadt 1964, 19713, S. 43. – Voltaires Essai sur les moeurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII ist eine Geschichtserzählung leichter Hand. Sie will unterhalten, und so fallen Voltaires Beobachtungen und Urteile entsprechend packend und unverblümt aus, wie die zum Beispiel zur Geschichte Roms. Sie passen gänzlich in das von unseren Experten hier gezeichnete Bild: Die Römer waren am Anfang, so schreibt Voltaire, „ein kleines und barbarisches Volk, … die ersten Könige Roms waren Chefs von Banditen … . Wenn man den römischen Historikern glaubt, begann dieses kleine Volk damit, die Mädchen und den Besitz seiner Nachbarn zu rauben … es bestritt seine Existenz, indem es immer Krieg führte, schließlich hatte es, nach fünf Jahrhunderten, indem es weit mehr ein Kriegsvolk wie alle anderen Völker war, alle diese unterworfen, eins nach dem anderen, von der Adria bis zum Euphrat. … Bei dieser Räuberei war die Vaterlandsliebe das Wichtigste … Diese Vaterlandsliebe bestand darin, für die römische Masse das heranzuschaffen, was man bei den anderen Nationen geplündert hatte: das ist die Tugend der Diebe. Das Vaterland lieben hieß, zu töten und die anderen Menschen auszurauben … .“ (Essai sur les moeurs et l’esprit des nations …, Bd. I, Paris 1963, S. 180 f., Übs. T. S.). 4  Vgl. Historien, Buch I, 1, 1,4; 2, 1,3; 3,2; 5,1. 5  Vgl. De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg, Buch 1, 4,10; 7, 19,21; 9,26; Kap. 1. 1,31; 2, 34; Kap. 10. 6,208; 7,210; 9,214; 10,215, 217; Kap. 11, 1,218; 2,222; 5,228. 6  Ebd., Buch 1, 1,1. 7  Vergil, Aeneis, Lt.-Dt., hg. Johannes Götte, München 1955, 19805, I,1. 8  Ebd., I,150.

88

Im Netz der Kulturen und Zivilisationen

Motive an9, Kant spricht von „Torheit“, „Eitelkeit“, „Bosheit“10. Das sind Antriebe, die aus dem Innern von Menschen kommen. Sie wirken hinaus in die Welt. „So brach“, berichtet Thucydides, „in ständigem Aufruhr viel Schweres über die [griechischen] Städte herein, wie es zwar geschieht und immer wieder sein wird, solange Menschenwesen sich gleichbleibt.“11 Wer von Wut getrieben wird, stellt etwas an, und schafft so draußen in der Menschengemeinschaft ein Ereignis (in der Regel, nach der Art dieses Antriebs, ein böses). Die Menschen erzeugen ihre Geschichte aus sich selbst. Ihre Seele – empirisch präzise: jeweils die Seele jeweiliger Menschen – ist der Schaffensgrund menschlicher Historie. Augustinus, Erasmus, Kant wollen mehr davon wissen. Sie schauen tiefer in die menschliche Seele hinab. Den durchdringendsten Blick wirft Erasmus. Ungeheuerliches sieht er, wie wir aus seiner Schrift Die Klage des Friedens erfahren. „Eine tödliche Krankheit des menschlichen Geistes (humani ingenii morbus)“ nämlich, die darin besteht, daß dieser „ohne Kriege nicht existieren kann“12. Im Innersten des Menschen wütet ein „unersättlicher Wahn“, so sagt Erasmus auch, und dieser Wahn macht den Menschen zum kriegslüsternen Schicksal der Welt. Er ist darin geschlagen von „Blindheit“13; seine Bosheit, Kants Diagnose, ist ihm natürlich, wie die ihm eigene Zerstörungssucht“. Das ist, was auch Augustinus am Menschen sah, als er nach der Triebkraft forschte, aus der sich erklärt, was die Menschen in dieser Welt anstellen und ihre „Geschichte“ nennen. Sie liegt in der Seele, und an ihrer Stärke dort läßt Augustinus keinen Zweifel aufkommen. Er gibt ihr, der von ihm diagnostizierten Herrschsucht, in De Civitate Dei nicht nur einen Namen, sondern gleich noch andere aus dem weiteren Wortfeld. Sie ist, wir sollen es nicht überhören, Lust, Begierde, Gier – dominandi libido, imperii cupiditas, regni cupiditas.14

9  De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg, Buch  1, Kap. 10, 6,208; 9,214; Kap. 11, 2,222; 5,228. 10  Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 34. 11  Thucydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, III, 82 (zitiert nach: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Gr.-Dt., Übs. Georg Peter Landmann, München 1993). 12  Erasmus von Rotterdam, Querela Pacis. Die Klage des Friedens, in: Ausgewählte Schriften, Lt.-Dt., Fünfter Band, Übs. Gertraud Christian, Darmstadt 1968, S. 427. – Zur Kriegssucht der Menschen und ihrem entsezlichen Kriegeführen vgl. ebd., S.  403 ff. 13  Ebd., S. 399. 14  Aurelius Augustinus, De Civitate Dei, Buch I, Einleitung, hier zitiert nach der lt.-engl. Ausgabe in der Loeb Classical Library: Augustine, City of God, 7 Bde., Cambridge, Mass.-London 1966, Bd. I, S. 13; Buch IV, VI, City of God, Bd. II, S. 23, 25.



Im Netz der Kulturen und Zivilisationen89

III. Analytisches „Wenn es nur Begierde ist, was die Völker treibt“, so erklärt Hegel, entstünde kein „Werk“, sondern nur „Verderben“ und „Zerstörung“15. Was er damit sagen will, hören wir hier gleich. Worum es gehen kann, erschließt sich umgehend durch einen Ausdruck Kants, den wir deswegen auch sofort anführen: „das Leere der Schöpfung“.16 Dieser Ausdruck erscheint im Zuge von Äußerungen Kants zu den Anfängen der Menschheit.17 Jenen schreibt er die Qualität eines „arkadischen Schäferlebens“ zu, tut dies jedoch nur, um gleich die historische Defizienz von Arkadien herauszustellen. Denn wären die Menschen dort verharrt, so führt Kant aus, wären „alle (menschlichen) Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen“ geblieben. Und was war, wäre weiter so gewesen: eben „das Leere der Schöpfung“. Doch da gab es den Menschen. Und er hat eine kosmogonische Berufung. Denn ihm oblag – obliegt – es, so Kant, jene Leere „auszufüllen“. Mit seinem „Werk“, nach Hegels Wort, nämlich der von ihm in historischer Weise veranstalteten Welt. Wundern wir uns also nicht, so argumentieren Kant und Hegel, wie sie beginnen, ihre Empirie zum Geschehen auf der „großen Weltbühne“18, so Kants Ausdruck, zu analysieren. Die Schrecklichkeiten, mit denen die Menschheit ihre Geschichte schreibt, sind „notwendig“; „nichts Großes in der Welt“, sagt Hegel, ist „ohne Leidenschaft vollbracht worden“19. Er erblickt in den Leidenschaften der Menschen die „Mittel“ für das Herbeiführen von Geschichte. Nur durch sie bauen die Menschen das „Feld“ für ein Geschehen von Geschichte auf.20 Dabei ist ein „Tribut des Daseins“ zu bezahlen, „ungeheuerste Opfer“21, und dieser existentielle Preis wird eben mit den „Leidenschaften der Individuen“22, also mit Streit, Zwietracht, Zerstörung entrichtet. Kant äußert sich nicht weniger bestimmt. Mit Entschiedenheit trägt er seine Gedanken zu der existentiellen Schaltung – so würde ich es nennen – beim Menschen vor, die diesen dazu bringt, Arkadien zu verlassen und in jene Entwicklung einzutreten, aus der dann seine Geschichte wird. Kants 15  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S. 176 (Lasson). Vgl. ferner S. 81. 16  Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 38. 17  Vgl. ebd., S. 37­39. 18  Ebd., S. 34. 19  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S. 85; vgl. S. 30, 79, 83 (Lasson), 87. 20  Ebd. S. 80; vgl. ferner S. 87. 21  Ebd. S. 80. 22  Ebd. S. 105 (Lasson), und ferner S. 80.

90

Im Netz der Kulturen und Zivilisationen

Schlüsselbegriff dafür ist „ungesellige Geselligkeit“.23 Danach sind die Menschen durch ihre Anlage so geschaltet, daß sie ihre Mitgenossen „nicht wohl leiden, von denen aber auch nicht lassen“ können.24 Das ist, so gibt Kant zu verstehen, ein Trick der „Natur“ (Kants Begriff in Ersatz des Begriffs „Gott“)25; hätten die Menschen einerseits nicht eine „Neigung, sich zu verge­ sellschaften“, und andererseits nicht einen „großen Hang, sich zu vereinzel­ nen“ (also egoistisch zu sein), hätten sie nie ihren „Hang zur Faulheit“ überwunden (und wären in Arkadien geblieben). So aber hat die „Natur“ in ihre Existenz untereinander einen „Widerstand“ eingebaut. Jeder will „alles bloß nach seinem Sinne richten“, aber alle sind dagegen, und folglich werden in ihm „alle Kräfte des Menschen erweckt, … getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen“.26 Kant gebraucht an einer Stelle seiner Darlegung des Ausgangs mensch­ licher Geschichte aus der menschlichen Natur den Begriff „pathologisch“27. Ja, gewiß, wie anders auch sollte man die von ihm angeführte „Unvertragsamkeit des Menschen“ qualifizieren? Doch er läßt von seiner aufklärerischen Fortschrittsprojektion nicht los. Die „Not“, so trägt er, die Projektion weiter ausfüllend, vor, in welche die Menschen durch all ihre Zwietracht und Kriege geraten, ist unvermeidlich. Denn sie ist, Kant zufolge, das „Mittel“ – der Begriff, den Hegel im gleichen Sinne benützt –, durch welche die Menschen schließlich zur Vernunft gebracht, nämlich dazu angetrieben werden, „aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinauszugehen und in einen Völkerbund zu treten“28. Das ist, wie es scheint, ein diabolischer Mechanismus der von Kant so gerne angeführten „Natur“. Da es diese ist, die mit ihm wirkt, fehlt denn auch in Kants Analyse der von den Menschen geschaffenen Schreckensgeschichte29 jegliches Wort zu deren Verantwortung. Sie morden und brandschatzen, rauben und vergewaltigen30, aber sie begehen diese Schandtaten gewissermaßen im Auftrag der „Natur“.31 23  Idee

zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 37. S. 38. 25  Vgl. z. B. ebd., S. 38 f., 41 f., 47 f. 26  Ebd., S.  37 f. 27  Ebd., S. 38. 28  Ebd., S. 42. – „Die Not erfand die Staaten“, schreibt Erasmus, „die Not lehrte sie das Bündnis untereinander“ (Querela Pacis. Die Klage des Friedens, a. a. O., S. 369). 29  Wie in Hegels Analyse. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S.  78 ff. 30  Vgl. z. B. die ausführlichen und teilweise drastischen Schilderungen von Augustinus, in: De Civitate Dei, Buch I, I, VII, XVIII. Oder die gleichermaßen deutlichen Worte zum gleichen Thema von Erasmus (a. a. O. S. 371 und S. 399). 24  Ebd.,



Im Netz der Kulturen und Zivilisationen91

Kann es das sein? Eine im voraus erteilte metaphysische Amnestie für die Vollstrecker in der Geschichte, was immer diese tun? Da scheint etwas zu fehlen. Wir merken es deutlich, wenn wir uns in unserer Runde weiter umhören. Denn dort reden Herodot, Vergil, von dem „Frevel“32, den die Menschen bei ihren Taten begehen, so ruhmreich jene auch sein mögen, von der „Schuld“33, die sie sich mit ihnen aufladen.34 Den Menschen ist sie Bestimmendes vorgegeben, und daraus folgt „Notwendigkeit“. Aber sie müssen sich für das, was sie tun, so wird uns gesagt, auch verantworten. Erasmus dringt wieder tiefer, indem er in der Natur des Menschen das sie Bewegende ausforscht, die Seele. Um über das endlose Kriegeführen hinweg zu kommen, so argumentiert er, nützt es nichts, allein an die Triebkonstitution des Menschen zu denken. Denn diese ist nicht das einzige ihn Bewegende im Menschen. Vielmehr ist, was ihn bewegt, selbst in Bewegung, und das sieht so aus: „ein und derselbe Mensch kämpft mit sich selbst, die Vernunft führt Krieg mit den Leidenschaften“35. Wird aber das ersichtlich, so ist auch zu erkennen, daß die Begierden, welche die Menschen zu Kriegen antreiben, „verkehrte Begierden“36 sind. Sie sind Ausfluß menschlicher Unvernunft; in der den Menschen bewegenden Bewegung  – seiner Seele  – haben sich beim „Kampf (des Menschen) mit sich selbst“ gegen die Vernunft die Leidenschaften durchgesetzt. Sie fälschen die seelische Bewegung. Und so fordert Erasmus, um die Kriegeslüsternheit der Menschen zu überwinden, dieses ein: „die Quellen selbst müssen gereinigt werden“37. 31  Die menschliche Kälte – oder handelt es sich um eine Art großdenkerischen Zynismus? –, die Hegel an einigen Stellen seiner philosophischen Weltgeschichte offenbart, frappiert. S. z. B. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S. 76, „Es kann auch sein, daß dem Individuum Unrecht geschieht; aber das geht die Weltgeschichte nichts an, der die Individuen als Mittel in ihrem Fortschreiten dienen.“, oder S. 99 f.: „Werfen wir weiter einen Blick auf das Schicksal dieser welthistostorischen Individuen, so haben sie das Glück gehabt, die Geschäftsführer eines Zwecks [zu sein], der eine Stufe in dem Fortschreitungsgange des allgemeinen Geistes bildet. Aber sie, als von dieser ihrer Substanz auch unterschiedene Subjekte, [Lasson: sind das, was man gemeinhin glücklich nennt, nicht gewesen. … . Man kann fragen: was haben sie für sich gewonnen? Das, was sie gewonnen haben, ist ihr Begriff, ihr Zweck, das, was sie vollbracht haben. Gewinn anderer Art, ruhigen Genuß haben sie nicht erreicht.“ Hegel qualifiziert dies als einen „schauderhaften Trost“. (ebd.)]. – Oder S. 105 [Las­ son]: „Eine große Gestalt, die da einherschreitet, zertritt manche unschuldige Blume, muß auf ihrem Wege manches zertrümmern.“ Doch es gilt eben für ihn: „Das Recht des Weltgeistes geht über alle besondern Berechtigungen …“ (a. a. O., S. 109). 32  Herodot, Historien, Buch I, 2,1. 33  Herodot, Historien, Buch I, 4,1. 34  Vgl. De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg, Buch 1, 4; 9.23–11,27. 35  Querela Pacis. Die Klage des Friedens, a. a. O., S. 379. 36  A. a. O., S.  419. 37  Ebd.

92

Im Netz der Kulturen und Zivilisationen

IV. Hermeneutisches In unserer Runde wird weit ausgeholt. Es geht um Geschichte und: um die „Welt“, die „Natur“, die „Schöpfung“, den Menschen, die, wie Flavius Josephus erklärt, historische „Wahrheit“38. Man will hinter die Menschheitsgeschichte kommen, und das durch eine Aufschlüsselung des Gangs der Welt überhaupt. Mit dem „Rätsel der Vorsehung“ – Hegels Ausdruck39 – hält man sich auf, damit man es auflöst. So hörte sich Herodot in Ägypten die „Geschichte der Menschheit“ an, die man ihm dort „einstimmig“ berichtete, und er fügt sie in seine Historien ein.40 In Vergils Aeneis tritt Jupiter, der „Vater der Menschen und Götter“, auf, und entrollt das „Buch geheimer Verheißung“, damit gewußt werde, was vornehmlich den Römern gilt: daß sie die „Herren der Welt“ sein werden, denen weder „in Raum noch Zeit eine Grenze“ gesetzt ist; Jupiter verleiht ihnen ein „endlos Reich“.41 Die „Geschichte der Geschichte“ will Hegel wissen, also das, was mit der Geschichte eigentlich vorgeht.42 Nach einem von ihm selbst benützten Bild interessieren ihn am „Teppich der Weltgeschichte“ vornehmlich die Längsund Querfäden, die vom Webstuhl aus gesponnen wurden.43 Dieser ist für ihn sein Platz, der des Webers des Weltenteppichs. Von dort aus hält er seine Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, und teilt deren geschichtshermeneutischen Fund mit: die Menschen führen mit ihrer Geschichte zwar das Schauspiel ihrer Leidenschaften auf, aber Autorin dieses „Werks“ ist die „Vernunft“, von ihr wird „die Welt regiert“.44 Kant stellt zwei weltregierende Figuren vor: einen „weisen Schöpfer“45, und die von ihm bevorzugt genannte „Natur“, unter welcher wohl die säkulare Version des weisen Schöpfers zu verstehen ist. Auch sie leitet menschliche Geschichte an und verfaßt diese vorausschauend. Man dürfe annehmen, so erklärt Kant, „daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit Bello Judaico. Der Jüdische Krieg, Buch 1, 5,16. Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S.  81. 40  Historien, Buch II, 4. 41  Aeneis, a. a. O., I, 254–262, 278–282. 42  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S. 20 (Lasson); vgl. auch S. 25, wo Hegel von der Aufgabe der Philosophie spricht, eine „Geschichte a priori“ zu konstruieren. Und ferner S. 29: „Wir müssen in der Geschichte einen allgemeinen Zweck aufsuchen, den Endzweck der Welt …“. (Lasson). 43  Ebd., S. 83 (Lasson). 44  Ebd., S. 87; vgl. auch S. 28, mit der Aussage, daß „die Vernunft die Welt beherrscht“. 45  Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 39. 38  De

39  Georg



Im Netz der Kulturen und Zivilisationen93

nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre“46 In der „Geschichte der Menschengattung“ erkennt er einen „verborgenen Plan der Natur“.47 Jene ist im Modus solcher Auslegung nicht zuletzt Offenbarung. „Man sieht:“, so hören wir denn von Kant, „die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben“.48 Allerdings gilt diese Kantsche Vision nicht einem Reich der Erlösung. Das Geschaute ist prosaischer, obgleich des Elements der Verheißung nicht frei. Wenn alles mit der menschlichen Geschichte so läuft, wie es die „höchste Absicht“ der „Natur“, Kants Weltenfürstin, ist, werden die Menschen jenen „weltbürgerlichen Zustand“ erreichen, der hervorgebracht wird von den Fürsten dieser Welt: sie regieren am Ende so, wie es die Weltenfürstin „Natur“ schon immer wollte.49 Von Fürsten und ihrem Regieren spricht auch Erasmus, beim Überlegen darüber, ob die Geschichte der Menschen anderes bieten könne als bloß ein Schreckensbild. Er macht sehr deutlich, daß er erzieherisch wirken will und sich Verhältnisse unter den Menschen vorstellen kann, die nicht aus Zwietracht und Streit hervorgegangen sind. Was ist der Erasmische Weg? „Die Quellen müssen gereinigt werden“, sagt Erasmus, und er sinnt mit dieser Forderung nicht auf den Menschen abstrakt oder die Menschen allgemein, sondern auf eine ganz bestimmte Figur in der Welt der Menschen: die des Fürsten. Die seelische Katharsis, die Erasmus als Einleitung einer anderen, nicht mehr von Streit und Krieg gekennzeichneten Geschichte vorschwebt, ist ein Geschehnis, das sich konkret in der Seele eines Fürsten vollzieht und ihn zum „guten Fürsten“ (bonus Princeps) macht.50 Auf diese Figur des guten Fürsten setzt Erasmus, für die Gemeinschaft aus Menschen in einem einzelnen Herrschaftsgebiet wie – und das ist hier hervorzuheben – für die Menschheit.51 Einen guten Fürsten zeichnet unter anderem die Gabe zur Freundschaft aus. Bindungen aus Freundschaft aber bringen Gutes hervor. Und so stellt sich Erasmus ein Regime der Welt vor, das nicht mehr bestimmt wird vom Streit, sondern von einer Freundschaft unter unseren Fürsten. „Die Herrscher“, so erklärt er, „sollten sich untereinander verbinden, aber nicht durch Heiraten und die gewöhnlichen Bündnisse, sondern durch aufrichtige und wahre Freundschaft“.52

46  Ebd., 47  Ebd., 48  Ebd.

49  Ebd.,

S. 48. S. 45.

S. 39, 47. Vgl. auch, insbesondere zur Rolle der „Natur“, S. 34, 36, 38. Pacis. Die Klage des Friedens, a. a. O., S. 421. 51  Vgl. seine große Schrift zur Fürstenerziehung: Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten, a. a. O., S.  112–357. 52  Querela Pacis. Die Klage des Friedens, a. a. O., S. 423. 50  Querela

94

Im Netz der Kulturen und Zivilisationen

V. Das Geschehen von Geschichte: Eine politische Kosmogonie in der Gestalt von Streit Auf die Frage hin: Woraus geschieht Geschichte? wurde uns aus unserer Runde von Experten heraus ein Programm nach dem anderen für die Welt vorgestellt, von einem Anfang her bis zu einem Ende,53 und die Welt ganz umfassend. Dieses Vorstellen zog gedanklich nicht weniger als eine kosmogonische Entwicklung nach. Die Welt, so die Vorstellung, geht durch eine Geschichte ihrer Schöpfung. Sie geschieht und sie geschieht denn in der Weise einer Kosmogonie. Diese Kosmogonie ist für die Menschen ihre Geschichte. Sie sind darin Prinzipal, für das Vorantreiben der Kosmogonie allerdings nicht die einzige Macht. Andere Mächte wirken gleichfalls: göttliche Figuren, Fürsten, Regierungs- und Verfassungsinstanzen (wie die „Natur“, die „Vernunft“). Sie formen mit den Menschen ein gemeinsames Feld des Handelns, dessen Schaffung eine Geschichte von Spannungen, Gegensätzen, Kampf, Kollisionen ist. Die geschehende Welt – also die Kosmogonie, die wir als „Welt“ bezeichnen – ist eine Welt der Machtausübung. Seien wir denn nicht darüber erstaunt, daß die vorgestellte Kosmogonie durch und durch eine politische ist, und das Geschehnis der Welt vor allem als eine Sache des Regierens aufgefaßt wird. Gott, die Götter, die Menschen, sind in dieser Welt Politiker.54 An einer Stelle seiner Vorlesungen zur Weltge­ schichte spricht Hegel von der „Herrschaft des Kronos, der Zeit, der seine Kinder, die Taten, die er erzeugt, wieder aufzehrt“. Nichts also an „Geschichte“ geschieht hier, kein „Werk“, sprich: Welt. „Es war das goldene Zeitalter, ohne sittliche Werke“, so zuerst Hegels geringschätziger Kommentar. Doch es geht ihm um eine bestimmte und, wie sich zeigt, in seinen Augen bedeutsame Beobachtung. So fährt er fort und erklärt, einen frappieren53  Vergil zum Beispiel erzählt seine Geschichte „vom Ursprung her“ (ab origine) bis zum Weltfrieden unter Cäsar, den er eschatologisch ausmalt (Aeneis, I, 283–296; 372 ff. – Herodot’s Perspektive ist nicht zuletzt die „Geschichte der Menschheit“ (ανϑρωπηια πρηγματα, Historien, Buch II, 4). – Augustinus erklärte bezüglich De Civitate Dei, daß er vom „Ursprung“ (exortus) der beiden Gesellschaften, der von Gott herkommenden und der irdischen, her schrieb, auf das Ende (finis) beider hin (De Civitate Dei, a. a. O., S. 4–5). – In der Klage des Friedens schaut Erasmus bis auf die „Anfänge des Lebens“ (vitae primordia) zurück, und argumentiert vehement zugunsten der Idee eines „dauerhaften Friedens“ (solida pax) bzw. „allgemeinen Friedens“ (publica pax). Vgl. Querela Pacis. Die Klage des Friedens, a. a. O., S.  369, 419, 449. – Die „weltgeschichtliche“ Anlage von den Anfängen menschlicher Geschichte auf ein Ziel derselben hin ist bei Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht wie bei Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte natürlich evident. 54  Vgl. dazu Tilo Schabert, Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz, Freiburg-München 2009, S. 21,101, 125 ff.



Im Netz der Kulturen und Zivilisationen95

den Ausdruck benutzend: „Erst Zeus, der politische Gott, … hat die Zeit dadurch bezwungen, daß er ein sittliches wissendes Werk geschaffen, den Staat hervorgebracht hat“55. Der politische Gott, dies ist Zeus – gleich Jupiter, dem politisch gesonnenen bei Vergil –, über Götter und Menschen thronend, wie er politische Macht ausübt und die Welt aus dem Kreis des Wirklosen heraus, in dem sie nicht geschehen kann, zu der Geschichte ihres Geschehens in politischer Form befreit. Flavius Josephus zielte, wie er zu Beginn seiner Darstellung des Jüdischen Kriegs sagte, auf eine „charakteristische Gestalt der Erzählung“56. Sie ergab sich durch das zu Erzählende selbst. Es ist der Streit. Den anderen, die in der Runde sprachen, erging es wie ihm. Bedacht wider Wut, Geisteszucht wider Leidenschaft, Friede wider Krieg, in solcher Gestalt verstanden sie das Geschehnis der Welt.57 Und mit ihr sahen sie den Ausgang der Welt aus Macht und Politik. Man kann sich fragen, inwieweit der kosmogonische Streit in ihren Augen ein zeitlicher – also möglicherweise einmal endender – oder ein struktureller – also ein nicht zu beendender Streit ist. Manche Äußerungen, wie die Vergils von der oikumenischen pax romana, oder wie die des Erasmus von der Herrschaft der Freundschaft unten den Fürsten der Welt, lassen vermuten, daß ein Aufhören des Streits nicht ausgeschlossen wird. Die Geschichte der Welt, wie sie bisher geschah, wäre dann tatsächlich in der Weise suspendiert, wie sie das Wort „Ende“ suggeriert. Kants Lehre von der „Endabsicht“ der Geschichtsherrin „Natur“ paßte vollendet zu der Auffassung des kosmogonischen Streits als eines zeitlichen. Doch gerade Kant formuliert auch die gegenteilige Deutung, wonach der Streit ein struktureller ist, und „am Ende“ kein Ende ist. Denn man müsse sich fragen, so sagt er, „ob nicht die Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist, am Ende … in einem noch so gesitteten Zustande … alle bisherigen Fortschritte in der Kultur … wieder vernichten werde“.58 Etwas sträubt sich. Wissen wir vom geschichtsschaffenden Menschen nicht doch noch etwas anderes? Wir wissen es. Die Schlüsselworte dazu kennen wir: Besonnenheit und Mut. Die uns belehrende Rede über sie, wiedergege55  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S. 176 f. (Lasson, Hervorhebung von mir, T. S.). 56  De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg, Buch 1, 5,16. 57  Erasmus hat seine ganze Klage des Friedens in dieser Gestalt angelegt. 58  Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a.  a.  O., S. 43. – Vgl. dazu auch die Aussage von Thukydides zur menschlichen Natur: „… wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird …“ (Geschichte des Peloponnesischen Krieges, a. a. O., I, 22).

96

Im Netz der Kulturen und Zivilisationen

ben von Thucydides, wurde gehalten von den Korinthern anläßlich des bevorstehenden Krieges gegen die Athener: „Denn daran erkennt man den Besonnenen, daß er sich stillhält, solang ihm kein Unrecht geschah, und den Tapferen, daß er, beleidigt, den Frieden aufgibt für Krieg und zu guter Zeit aus dem Krieg wieder zu einem Vergleich kommt, daß er sich weder vom Kriegsglück zu weit locken läßt noch im Genuß des gemäßlichen Friedens ein Unrecht hinnimmt.“59 Niemand, der besonnen ist, sucht grundlos Streit. Niemand, dem ein Konflikt aufgezwungen worden und der besonnen ist, wird ihn leidenschaftlich lieben und mit ihm nicht aufhören wollen. Der Mut des Besonnenen zum Krieg ist ein Mut zum Frieden. An ihm bricht sich der Streit der Welt. Wenn es zum Geschehnis der Welt im Streit eine dem Streit entgegenstehende Lehre gibt, ist diese die einzige. Es gibt keine andere.

59  Thucydides,

Geschichte des Peloponnesischen Krieges, a. a. O., I, 120.

Eine patriotische Rede über den europäischen Körper Europa ist ein attraktiver Raum. Dieser Erdteil macht begehrlich. Seine Geschichte lehrt es: Europa ist seit langem das Objekt hegemonialer Visionen. Die Götterlehren der alten Griechen faßten es – von heute aus gesehen – geradezu prophetisch. Denn in ihnen war ‚Europa‘ nicht nur die göttliche Nymphe, mit deren Namen die Griechen jenen Teil der Erde bezeichneten, in welchem sie wohnten, gegenüber dem anderen, zweiten Teil, welchen sie – nach der anderen Nymphe – ‚Asien‘ nannten. In einer weit verbreiteten Sage war ‚Europa‘ auch eine Figur, die ein gewaltiges Begehren auf sich zog. Die Sage erzählt von Europa – hier als Königstochter eine Prinzessin –, wie sie Blumen am ‚phoinikischen Strand‘ (der Mittelmeerküste des heutigen Libanon) pflückt. Sie gefällt Zeus, dem Göttervater, der sich in sie verliebt. Jener nähert sich ihr in ‚Stiergestalt‘, in der Figur „eines ungemein schönen weißen Ochsen“, wie Benjamin Hederich in seinem mythologischen Lexikon schrieb1 und verhält sich zu Europa so zärtlich, daß diese auf den Rücken des Stieres steigt. Und nun hat es Zeus eilig: Er rennt mit Europa hinweg, „kehrete sich auch an kein Schreyen und Klagen der Europa“ und entführt sie „über die See hinweg bis nach Creta“… .2 Zeus, der Stier, das war noch der gewissermaßen spielerische Mythos. Aber dann kamen wirkliche Mächte und sie verfolgten ihre hegemonialen Visionen in Europa, dem realen Raum. Rom, in der Ausdehnung seines Weltreiches; die Päpste und die deutschen Kaiser im Mittelalter, die einen mit dem Anspruch eines geistlichen, die anderen mit dem eines weltlichen Imperiums; Napoleon, im Kampf mit Europa um ein Empire, die Tuilerien mit dem Palatin verwechselnd. Und man tat dies wie ‚selbstverständlich‘.

Erstdruck in: Politik und Politia. Form und Probleme politischer Ordnung. Festgabe für Jürgen Gebhardt zum 65 Geburtstag, hrsg. von W. Leidhold, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2000, S. 341–346. 1  Benjamin Hederich, Gründliches Mythologisches Lexikon (1770), Nachdruck Dannstadt 1996, Stichwort „Europa“. – Zu den Mythen und Geschichten über ‚Eu­ ropa‘ vgl. ferner: Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft. hg. G. Wissowa, 11. Halbband, Stuttgart 1907, Artikel „Europe“. 2  Hederich, a. a. O.

98

Eine patriotische Rede über den europäischen Körper

Ein Enea Silvio de Piccolomini, zum Beispiel, der zuerst Kanzleisekretär Kaiser Friedrichs III. und dann, ab 1458, römischer Papst unter dem Namen Pius II. war, erfüllte ganz die Vorstellung von einem ‚humanistischen‘, sprich: kultivierten Gelehrten und Schriftsteller, in seiner Zeit wie in der Sicht der Nachwelt. Und doch setzte er sich in der Schrift, die er Deutschland widmete, mit dessen Lage in einer Sprache auseinander, die vornehmlich dazu geschaffen ist, wie es scheint, sich über die Dynamik imperialer Politik zu verständigen: „Du versteigst dich zu der Behauptung, die deutsche Nation (natio Germanica) sei verarmt, die einstige Herrin de Welt (domina gentium) sei zur Magd (ancilla) erniedrigt und liege kraftlos am Boden, verstoßen und verachtet. Nein, wir haben es erwiesen, Deutschland ist nicht arm, nicht machtlos, nicht verachtungswürdig, dieses Land, das so weithin herrscht, das im Glanz so vieler herrlicher Städte leuchtet, das so viele durch Waffenruhm (armorum gloria) und Macht (potentia) hochberühmte Fürsten hat. – Aber du wirst dagegen einwenden: ‚Unter Karl dem Großen, dem Kaiser aus unserm Volk, haben außer Deutschland auch Gallien, Italien und Spanien den Deutschen gehorcht. Unter den Ludwigen, den Ottonen, den Heinrichen, den Friedrichen haben wir ein großes Reich beherrscht (latissime dominati sumus). Jetzt dagegen haben wir außer dem deutschen Sprachgebiet nichts mehr in Besitz (extra Theutonicam linguam nihil obtinemus), ja sogar Italien, einst das sicherste dem Reich untertänige Land (iuris imperii certis­ sima provincia ), gehorcht uns nicht mehr.‘ Wir geben zu, euer Reich (impe­ rium) ist heute nicht mehr, was es unter Karl war, und eure Macht (potentia) hat nach den Friedrichen nicht unbeträchtliche Einbuße erlitten. Aber die Schuld kann man unmöglich dem apostolischen Stuhl zuschieben; und wenn euer Volk wollte, könnte es nicht daran gehindert werden, den alten Ruhm (gloria) wiederzuerlangen.“3 In den europäischen Raum hinein wurde hegemoniale Politik gleichfalls von Geschlechtern oder einzelnen Staaten betrieben, wie von den Bourbonen und den Habsburgern, oder von England, das im Konzert der europäischen Mächte, welches es im 18. und 19. Jahrhundert unter der verführerischen Formel eines „Gleichgewichts“ so gerne arrangiert hätte, natürlich die Möglichkeit sah, darin die erste Geige zu spielen. Im europäischen Raum stießen hegemoniale Visionen auch gegeneinander und ihre Träger und Verfechter machten sich die Ausdehnung ihrer Machtprojektionen gegenseitig streitig. Rom konkurrierte mit Byzanz, und entlang der Weltengrenze, welche diese beiden Mächte durch Europa zogen, stellten sich noch im jugoslawischen Krieg unserer Tage gegensätzliche Allianzen und Sympathiekoalitionen europäischer Staaten – und Kirchen – auf. Die 3  Enea Silvio Piccolomini, Deutschland, Übs. Adolf Schmidt, Köln/Graz 1962, 118 f.



Eine patriotische Rede über den europäischen Körper99

Teilung Europas durch Imperien – was müßte man dazu viel sagen? Das ist unsere unmittelbare Erinnerung, die Geschichte Europas in diesem Jahrhundert. Eine Geschichte von Verwüstungen. Wenig mehr, und aus dem Erdteil wäre im Weltkonflikt um seine Beherrschung ein Ödland geworden. Europa macht begehrlich. Die Leidenschaft teilte sich von früh an den Europäern selber mit. Sie gönnten sich gegenseitig nicht den Genuß ihres Raums und konnten davon nicht genug besitzen. In der Gewalt ihrer euro­ päischen Leidenschaft waren die Europäer nicht zu übertreffen. Jahrhunderte von Schlachten, Tod, Zerstörung: alles, um die Nymphe – ein Stück europäisches Land, das Befrieden nationaler Eifersucht, Träume von Bemächtigung – zu ‚entführen‘. Niemand – und wenn, dann nur die jeweilige Macht selbst – sollte Europa gegenüber übermächtig sein; und dazu war alles recht: Krieg, Verrat, Morden, die unheiligste Allianz, der Pakt mit dem Verbrecher. Die europäische Leidenschaft schrieb eine Geschichte der Vergewaltigung. Man muß es natürlich verstehen: Es gibt in der menschlichen Welt keinen Raum, der politisch nicht besetzt ist. Auch noch der ‚entfernteste‘ Stamm im ‚tiefsten‘ Regenwald unterliegt der Machtprojektion, die eine politisch herrschende Macht über den Raum wirft, in welchem dieser Stamm lebt (und natürlich braucht sie dazu von ihm überhaupt nichts zu wissen). Die Räume der Welt ziehen Machtansprüche an. Oder umgekehrt formuliert: Sie unterliegen der Ausdehnung von Machtsphären. Auf der Machtebene ist in dieser Welt nichts ‚unberührt‘, auch wenn es auf der Ebene physischer Kontakte so scheint. Für die Macht gibt es keine terra incognita. Sie steckt ihre Ziele auch über Gebiete ab, die sie real noch gar nicht kennt. Und wenn es zu physischen Kontakten kommt, dann geben sich die ‚Pioniere‘ (seien sie der Eroberung, des Handels oder der Wissenschaft wegen gekommen) gebührlich arrogant und meistens auch: gewalttätig.4 Sie machen ‚Entdeckungen‘. Doch Entdeckungen werden von dem definiert, der sie macht. Ob sie wahrlich Entdeckungen sind, ist eine ganz andere (eher zu verneinende) Frage. Und eine mittlerweile antiquarische Frage. Wenn amerikanische Aufklärungsflugzeuge aus 20 Kilometern Höhe alle Räume dieser Erde bis zur Größenordnung von 30 Zentimetern herab photographisch erfassen können, wird von der Projektion amerikanischer Macht der ganze Erdraum und in ihm noch der geringste Fleck berührt. Die Welt ist vom Herrschaftswissen Amerikas besetzt. Bosnien liegt in Europa, aber nicht eine europäische, sondern die amerikanische Luftaufklärung überschaute den dortigen Krieg. Die euro­ päischen Mächte mußten sich von der amerikanischen Regierung informieren lassen. Das ist die Tatsache der Hegemonie. Europa sitzt auf einem amerikanischen Rücken. 4  Vgl. z. B. die neuere Studie: Mark Cocker, Rivers of Blood, Rivers of Gold. Europe’s Conflict with tribal peoples, London 1998.

100

Eine patriotische Rede über den europäischen Körper

Europa könnte sich in eine vermeintliche Bestimmung schicken und glauben, daß die Zeit gekommen sei, wo die ‚active Weltkultur‘ ihren Sitz in Amerika hat, wie Julius Fröbel vor mehr als hundert Jahren vorauszusehen glaubte. Oder es redete sich ein, dann mehr östlich geneigt, was Paul Valéry von ihm sagte, daß es ein ‚kleines Vorgebirge des asiatischen Kontinents‘ sei. Solches wäre dann das andere Extrem gegenüber jener Selbstherrlichkeit, in die sich Europa in der frühen Neuzeit unter dem Eindruck seiner kolonialen Eroberungen und seiner technischen Unterwerfung der Natur verirrte. „Eu­ ropa sufficientissima sibi (est) – Europa ist sich seiner mehr als genug“, so las es sich 1544 in der Cosmographia Universalis von Sebastian Münster.5 Und wenn die Nymphe eine Frau würde? Aus der Göttin, die sich verführerischer Gewalt hingibt, eine Gestalt widerstehenden Willens? Aus der Prinzessin, die eitel ihren Leidenschaften gehorcht, eine Person wacher Vernunft? Aus der Selbstverliebten, die darin so verführbar ist, eine besonnene Agentin eigener Entscheidungen? Aus Europa also eine souveräne Macht in seinem Raum? Und siehe da: Ein Europa entsteht, in dem Gewalt, die historische Versuchung Europas, durch Verständigung, Europas historische Verheißung, ersetzt wird. Ein Europa bildet sich aus, das seiner selbst mächtig ist. Ein Kontinent, der nach innen im Frieden mit sich selber und nach außen reale Gestalt seiner selbst für die Blicke der Welt ist. Ein Europa, das mit Fernand Braudel sagt: „L’ Amerique ne commande pas seule.“ – „Es ist nicht so, daß Amerika allein befiehlt“.6 Und gerade gegen diese Verwandlung Europas, worin nichts Minderes liegt als ein Neubeginn seiner Geschichte, richtet sich Skepsis, wenn nicht offene oder verdeckte Ablehnung. Warum? Es entsteht mit Europa etwas, das es in der Geschichte politischer Ordnungsformen bislang nicht gab. Ein Zusammenschluß eigener Art, für den es in jener Geschichte weder Vorbild noch Parallele gibt. Die gewöhnliche Vorstellungskraft wird von diesem ‚Europa‘, das da entstehen soll, strapaziert. Man muß träumen können und seinen Träumen vertrauen. Wenn es um den Inhalt des Geldbeutels geht, ist dies zugegebenermaßen schwierig. Doch Schöpferisches verlangt Phantasie, und daran ermangelt es den Menschen in Europa keineswegs, man sehe sich nur um. Europa ruft nach dem euro­ päischen Menschen, der so reich ist an Imagination. Es kann nur in dem Maße entstehen, wie seine Räume ausgefüllt werden von einem europäischen Patriotismus der Phantasie. Von Europa her und auf dieses hin denken, für dieses vorstellen, schöpfen, gestalten – dies wäre die Einübung einer euro­ Münster, Cosmographia Universalis (1544), 1, 2, 2. Braudel, Civilisation Matérielle et Capitalisme. Paris 1967. S. 352.

5  Sebastian 6  Fernand



Eine patriotische Rede über den europäischen Körper101

päischen Imagination. Und es wäre mehr, nämlich die Ausbildung eines europäischen Raums in der Vorstellungskraft der Menschen Europas. Hier hätten sie ihre erste agora. Europa als gemeinsamer Raum ihrer schöpferischen Phantasie. Doch es sind Ängste im Spiel. Und jene, die an Europa so gerne zweifeln, weil sie schon anderes beabsichtigen, spielen auch mit diesen Ängsten. Das ist die Partei der Para-Europäer und ihr Spiel mit dem Feuer. Daß gegenüber Europa Ängste aufkommen, ist verständlich, wenn auch in gewisser Weise paradox. Denn die Idee zu einer Europäischen Union ist ja nicht neu. Sie wurde schon 1713 vom Abbé de Saint Pierre ausgeführt, in seiner Schrift über den ‚Unaufhörlichen Frieden in Europa‘. Wenige Jahrzehnte später sprach Rousseau davon (nun doch etwas voreilig), daß es ‚heutzutage‘ keine Franzosen, Deutsche, Spanier, selbst keine Engländer mehr (auch damals offensichtlich splendid), sondern nur noch ‚Europäer‘ gebe. An Europa dachte ebenfalls Edward Gibbon, als er zur selben Zeit seine Geschichte des Verfalls und Un­ tergangs des Römischen Reiches schrieb. Er zog aus dieser die Lehre daß an Europa sich nicht das Unglück Roms wiederholen sollte, und Gibbon empfahl seinen Zeitgenossen zur Abwehr einen europäischen ‚Patriotismus‘. Im 19. Jahrhundert erhob sich der Nationalismus. Er fachte die euro­päische Leidenschaft zum kriegerischen Feuer unter Europas Völkern an. Doch diesem Wahn widersetzten sich auch einzelne Stimmen, für das Gewissen des Kontinents, Stimmen, die inspiriert waren von der europäischen Vision. Victor Hugo mit seiner Rede über die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘, diesem ‚unermeßlichen Bauwerk der Zukunft‘, zu dem sein eigenes Volk, das französische, die Nation der republikanischen Freiheit, der demokratischen Solidarität, der universellen Toleranz, schon so viel beigetragen hätte. Oder Ernest Renan und seine kühle Zurückweisung der Nation, mit welcher er auf den Nationalismus antwortete (was ihn bis heute nicht davor bewahrte, als dessen Zeuge angerufen zu werden). Was sei dieser neue Gott, die Nation? ‚Nichts Ewiges‘! Wie Nationen entstanden seien, so würden sie vergehen. Die wahrscheinliche Entwicklung in Europa ginge indes über sie hinaus. Jenseits der Nationen, so sah Renan trefflich voraus, liege eine ‚europäische Konföderation‘. Europa dürfte die Europäer nicht ängstigen. Sie sind längst mit ‚ihrem‘ Europa, der Idee, vertraut. Und doch liegt eben hier für sie das Problem: Ihre Idee wird wirklich. Und mit diesem realen Vorgang – Hugos ‚unermeßlichem Bauwerk der Zukunft‘ – haben es die Europäer noch schwer. Sie lieben die Idee und sie schaudern zurück vor der körperlichen Wahrheit ihrer Liebe. Der Grund ihrer Ängste ist nicht Europa. Dessen Idee macht ihnen gewiß keine Angst. Sie kostet nur Gedanken, und von Gedanken kann man endlos viele ausgeben und dann noch immer damit handeln ohne jeden Bedacht ei-

102

Eine patriotische Rede über den europäischen Körper

ner Konsequenz. Mit dem ‚Bauwerk‘ hingegen verhält es sich völlig anders. Aus der Zeit freischweifender Visionen wird eine Zeit drängender Pläne. Diese erzeugen Druck, sie schreiben Zeiten vor, und verlangen, daß es mit ihnen vorangeht. Versprechungen, die man sich gab, werden eingefordert, und man schloß nicht Verträge, um sie nicht einzuhalten. Das Bauwerk, dazuhin, wird teuer, wen wundert’s? Visionen, wenn sie denn welche sein sollen, kosten ihr Geld. Das Schlimmste jedoch ist, so sprechen die Ängste, daß niemand so recht weiß, wie der Bau einmal ausschauen wird. Es basteln an ihm viele Handwerker und Architekten herum und dazuhin streiten sie sich viel und nachhaltig untereinander. Es dauert auch schon so lange und die Wege zur Baustelle werden immer schwieriger. Wohin führen sie eigentlich? In ein ‚unermeßliches Bauwerk der Zukunft‘? Ja, haben wir uns denn da nicht viel zu viel vorgenommen? Und ist der Bau mittlerweile nicht ziemlich schief, ein ganz anderes Gefüge als unsere reine Idee? Die Europäer leben indes schon mitten im Raum ihrer Zukunft. Sie haben längst damit begonnen, Europa seinen Körper zu geben. Nur sehen sie offenbar diese Gestalt ihrer alten Liebe nicht. In der zunehmenden Verkörperung ist die reine Vorstellung über die Jahre hinweg mehr und mehr verschwunden. Darüber kann man traurig sein und in Europas Seele wartet ein Gefühl geschichtselegischer Resignation auch nur darauf, von einer Trauer über Verlorenes bestärkt zu werden. Und in diesem einen europäischen Extrem spiegelt sich wie immer das andere, jene Leidenschaft gewaltigen Begehrens, sich an Europa zu holen, was es nur dem bietet, der es nimmt. In ‚Brüssel‘ ist Europa nicht mehr wiederzuerkennen. Ja natürlich, die mythische Nymphe hat sich verwandelt, in eine wirkliche Person. Und zu ihrer körperlichen Erscheinung gehört, daß sie durchaus ‚attraktiv‘ ist. Denken wir zum Beispiel an die eine Ausbildung ihres Körpers, die in ‚Luxemburg‘ modelliert wird, von den Richtern am Europäischen Gerichtshof. Jene nämlich sind damit befaßt, mit ihren Urteilen um Europa eine ‚Verfassung‘ zu schließen. Sie holen aus den europäischen Verträgen zusehends eine ‚konstitutionelle Charta‘ heraus und geben so der Europäischen Union das Gewand einer Verfassung. Aus Europa wird ein Raum eigener – europäischer – Identität. Diese läßt sich konstitutionell – in der Weise von Verfassungsprinzipien – definieren: die Geltung der repräsentativen Demokratie, die Herrschaft des Gesetzes, das Gebot sozialer Gerechtigkeit, die Achtung der Menschenrechte. Die an diesen Prinzipien orientierte Rechtsprechung des Gerichtshofs eint mehr und mehr die Union. Sie beeinflußt das Machtspiel zwischen deren Institutionen. Und sie formt und kontrolliert in der ganzen Union die Ausübung staatlicher Macht: innerhalb der Einzelstaaten, seitens dieser Staaten, wie auch der Union selbst.



Eine patriotische Rede über den europäischen Körper103

Europa existiert – in der Form einer ‚Verfassung‘, die so nicht vorgesehen war und nun schon stückweise eine ist. Es wird noch einiges auf sie hin zu bewerkstelligen sein, wie am Körper Europas überhaupt. Die Verwandlung Europas verlangt praktische Arbeit. Sie erweist sich in einem Patriotismus der Vernunft. Leidenschaft soll der Übereinkunft und die Geschichte hegemonialer Visionen in Europa der Zukunft von Europa weichen. Daß Europa souveräne Macht sei im Raume Europas – und vor den Blicken der Welt. Dies ist die Botschaft eines europäischen Patriotismus der Vernunft. Und dies ist die Herausforderung eines europäischen Patriotismus der Phantasie.

Das Paradies in der Politik Ein Kapitel negativer Kosmologie Was heißt das: „Das Paradies in der Politik“? Die Menschen sind politische Wesen, weil sie körperliche Wesen sind. Ihre Körper sind die Form ihrer Schöpfung und diese herrschen über sie mit einer furchtbaren Macht. Man mag in die physische Logik aller Anthropogonie nicht eintreten wollen. Doch die Wahrheit der Form, in welche die Menschen mit ihrer Schöpfung fallen, erzählen die Menschen durch ihr Leben selbst. Sie können nicht anders als daß sie mit ihren Körpern zeigen, was mit ihnen durch diese geschieht. An der Form, in welcher das schöpferische Ereignis ‚Mensch‘ Gestalt ist, ist nichts zu ändern. Es ist nur deren Wahrheit zu erkennen. Sie ist eine Wahrheit voll der Macht: Die Menschen werden von ihren Körpern in ihre Körper eingeschlossen. Die Weisen der Macht in dieser Physik der Anthropogonie sind zwei. Ihre Körper treiben die Menschen auseinander. Und sie machen sie einander undurchsichtig. In der Form ihrer Körper können die Menschen nur getrennt voneinander sein. Und diese Form ist die Wand eines jeden gegenüber jedem. Ihre Körper verlangen, daß sie sich im Raume verteilen; es kann nie einer an derselben Stelle sein, wo ein anderer ist. Und die Körper sind Erscheinungen, durch die sich die Menschen einander zeigen, ohne daß jemals der eine den anderen gänzlich sieht. In der Form ihrer Körper sind die Menschen viele. Und diese Form bildet für jeden den Einen vor, der anders als alle anderen ist. Ihre Körper gibt es in schier unendlicher Zahl. Und die Körper projizieren Grenzen um die Person jeweils eines jeden, die einzig ist im Vielen; unendlich oft zerteilen die Körper das Unendliche in die Stücke des Individuellen. Das Leben der Menschen ist durch ihre Körper schon immer politisch geformt. Das politische Lebewesen ist politisch, weil es zuallererst als Körper politisch ist. Es existiert im Modus seiner Schöpfung, nämlich in körperlicher Gestalt, und seine Schöpfung versetzte es mit dieser Gestalt in den Modus einer politischen Schöpfung. Das Politische der menschlichen Existenz liegt im schöpferischen Ereignis dieser Existenz selber. Sie geschieht in einer Erstdruck

in: Sapientia, Jg. LXII, Bd. 221/222 (2007), S. 77–128.

106

Das Paradies in der Politik

Form, die sie als Existenz ganz politisch macht. Körper führen das Ereignis auf, welches ‚Mensch‘ heißt; und in Körperereignissen beginnt das Spiel der Bewegungen unter Menschen, welche diese ‚Politik‘ nennen. Keine Aufteilung an Raum, die nicht eine Verteilung der Körper ist; keine Verständigung, die nicht eine Verständigung über die Mittel des Körpers ist; kein Streben nach Wohlfahrt, das nicht ein Streben nach der Wohlfahrt des Körpers ist; keine Geselligkeit, die nicht eine Geselligkeit der Körper ist; kein Friede, der nicht ein Friede der Körper ist. Und so kommt es, daß das politische Leben der Menschen nie endet. Es müßte schon die Schöpfung enden, in der Menschen die Menschen im Modus ihrer Körper sind.1 Das tut sie vorerst nicht, soviel wir wissen. An ein Ende der Politik zu denken ist eine Übung, die nützlich sein mag, aber dann ist sie es nicht für die politische Wissenschaft, sondern für die Kunst der Ironie. Ich habe vom Ursprung der Politik in der körperlichen Schöpfung des Menschen gesprochen, weil diese Verbindung von ‚Körper‘ und ‚Politik‘ in der Anthropogonie das Problem aufgibt, welches seine Lösung nirgendwo anders findet als in einem ‚Paradies der Politik‘. (Und unter Lösung verstehe ich hier ein Aufheben des Problems: Es wird zum Verschwinden gebracht). Auch zum Leben des Menschen mit der Politik gehören Paradiesvorstellungen. Ja, auf ein Paradies in der Politik mag sich alle Hoffnung richten, wenn man an die Körper denkt, die mit Macht den Menschen zur Macht gegenüber seinesgleichen machen. Da Menschen nur immer Mensch und wieder Mensch sein können, entrinnen sie der Logik ihrer Schöpfungsform nicht. Ihre körperliche Schöpfung ist eine politische Schöpfung. Und ihre Körper zerteilen ihre Welt. Und diese Welt ist eine Welt der Macht. Und sie bringt die Menschen zu einem Leben im Modus und den Gestalten der Politik. Die Menschen können sich schwerlich gegen ihr Erscheinen als ‚Menschen‘ stellen und die Form der Schöpfung meiden, in der es sie gibt, auf daß sie körperlos und nicht mehr in der Gestalt von Körpern geschaffen seien. Die Wahrheit ihrer Form ist verbindlich: Sie existieren in der Verbindung von Körper und Politik, erscheinen nicht anders als in ihr, und können das Problem dieser Verbindung nur mit ihren Körpern zu bewältigen suchen. Genauer gesagt: Alle Menschen leben so mit dem Problem. Aber die Stimme, die ihnen sagt: ‚Ihr könnt Euch von dem Problem erlösen!‘ blieb unter ihnen nicht still. Sie sang vom Paradies, dem ganz unwahrscheinlichen, auch nie verhießenen, das grundlos in jeder Hoffnung, Wahn schon im Traum ist. Die Menschen hörten den Widerruf; sie vernahmen den Gegenklang der 1  Im Timaios (52d–92c) stellt Platon einen großen Teil des Prozesses der Kosmogonie im Modus einer Anthropogonie dar. Und die Anthropogonie wiederum kreist um das Phänomen der „Körper“.



Das Paradies in der Politik107

Schöpfung, wie von einer anderen, entgegengesetzen Schöpfung her. Der Satz, den die Stimme in ihre Seelen sang, stürzte alle Weisheit um, die ihnen Schöpfungslehren gegeben hatten. Er verhieß den Menschen in ihrer körperhaften Form das, was ihnen diese Form gerade zu verbieten schien: ‚Seht, Ihr könnt das Paradies in der Politik finden!‘, so vernahmen sie die wunder­ samen Worte. In der Politik? Also im Modus unserer Körper? Bei aller uns hindernden Macht in der Körperwelt? Ein Paradies? Alle Menschen leben mit dem Problem der Verbindung von Körper und Politik, indem sie es mit ihren Körpern zu bewältigen suchen. Alle. Doch: Einige hat die Stimme erreicht. Sie waren wie alle in der Macht ihrer Körper. Und sie haben das Paradies in der Politik gesucht. So gibt es zwei Geschichten zu erzählen. Mit der einen wäre von der Politik zu berichten, wie diese das Leben der Menschen formt. Wie aus den vielen, die sie sind, Einzelne, einzelne Gruppen, eine Gesellschaft hervorgeht, und wie die Figuration von Gesellschaft die für Menschen notwendige Gestalt ihres Zusammenlebens ist. Wie es auch davon, von der menschlichen Gesellschaft, wieder nicht eine, sondern viele, und dann noch in sehr unterschiedlichen Arten der Zusammenschlüsse gibt. Wie für alle Menschen die Politik die Angelegenheit ist, dem Vielen zu begegnen und wider die Herrschaft des Teils eine Struktur der Teile zum Teilen einer Gemeinsamkeit im Herrschen zu errichten. Wie alle die Vielen bleiben, in ihre Körper zerteilt, von eigener Macht getrennt, und in der Weise der Politik doch die Gestalt einer Einheit sind. Diese Geschichte erzählte Aristoteles, als er seine Lehren zum Leben der Menschen im Modus der Politik von dem Satz her aufbaute: „Denn eine Vielheit (πληϑος) seiner Natur nach ist der Staat (πολις).“2 Und jeder Mensch ist Zeuge dieser Geschichte. Denn er lebt in ihr, ist Bürger des plethos, Einzelner in jener Vielheit, die verfaßt ist zur Einheit der polis. Keine Menschengesellschaft, die den Satz des Aristoteles nicht nacherzählt. Wir müssen die Natur der politischen Dinge nicht noch mehr demonstrieren. Hingegen fehlt uns noch die andere Geschichte. Die Geschichte vom Paradies in der Politik. Oder vielmehr die Geschichte davon, wie das Paradies in der Politik zu denken wäre. Dies ist eine wundersame Erzählung, an die man glauben muß. Daher ist die Zahl derer beschränkt, die von ihr ergriffen werden. Man muß, um den gebotenen, religionsartigen Enthusiasmus zu teilen, auch bereit sein, wie ein Gott sich zu erheben, der in dieser Schöpfung eine ganz andere denkt – und schafft. Man muß sich vorstellen können, daß die Menschenschöpfung noch einmal aufgenommen und dann auf ein anderes Ergebnis hin geleitet wird. Das Problem in der Schöpfung des Menschen ist 2  Politik

1261a18.

108

Das Paradies in der Politik

dessen Körper. Und die kosmologische Frage daraufhin ist: Müssen die Menschen das sie bedrängende Problem ihrer Körper hinnehmen oder müssen sie es nicht? ‚Wir müssen es nicht!‘ ist eine der beiden möglichen Antworten. Sie ist der Beginn unserer wundersamen Erzählung. Nehmen wir sie nun denn auf und folgen wir den Berichten, die uns alles das sagen, was sich einem mit der Schöpfung konkurrierenden Glauben enthüllt: Wie es den Menschen gelingt, daß von ihnen all die ihr Leben formende Macht ihrer Körper abfällt. Wie es geschieht, daß die Menschen in ihren Körpern, durch ihre Körper und mit ihren Körpern die andere Schöpfung erreichen. Und wie bei den Menschen sich alles so einstellt, daß sie dort im Paradies sind – in einer Welt der Körper, die von dem Problem des Körpers befreit sind. Eine wundersame Erzählung. Denn: Welche Welt! Welches Paradies! Wie in Worten von Sartre beschrieben: „Ich denke mir, daß es anstelle von Geheimnissen eine Herrschaft der Transparenz geben muß, und ich kann mir sehr wohl den Tag vorstellen, an dem zwei Menschen keinerlei Geheimnisse mehr voreinander haben werden, weil es für niemanden mehr überhaupt noch irgendwelche Geheimnisse geben wird; das subjektive Leben, ebenso wie das objektive Leben, wird dann gänzlich dargeboten und hingegeben … Ich denke mir im übrigen, daß sich diese Veränderung nur über eine wirkliche Revolution vollziehen wird. Jeder muß völlig für seinen Nachbarn existieren, und dieser muß seinerseits gänzlich für den anderen existieren … Eine solche Gesellschaft wird sich, wohlgemerkt, als eine Weltgesellschaft auf alle Menschen erstrecken müssen, denn sollt­en nur an einem einzigen Ort in der Welt Ungleichheiten und Privilegien übrigbleiben, würden die Konflikte, welche diese Ungleichheiten auslösten, nacheinander wieder den ganzen gesellschaftlichen Körper erfassen.“3

Oder in Worten von Fichte: „Ich bin dir [dem Unendlichen = Gott] verwandt, und was ich rund um mich herum erblicke, ist Mir verwandt; es ist alles belebt und beseelt, und blickt aus hellen Geister-Augen mich an, und redet mit Geister-Tönen an mein Herz. Auf das mannigfaltigste zerteilt und getrennt schaue in allen Gestalten außer mir ich selbst mich wieder, und strahle mir aus ihnen entgegen, wie die Morgensonne in tausend Tautropfen mannigfaltig gebrochen sich selbst entgegen glänzt.“4 „In diesem Lichtstrome fortgeleitet schwebt der Gedanke, unaufgehalten und derselbe bleibend von Seele zu Seele, und kommt reiner und verklärt zurück aus der verwandten Brust. Durch dieses Geheimnis findet der Einzelne sich selbst, und versteht, und liebt sich selbst nur in einem anderen; und jeder Geist wickelt sich los nur von andern Geistern, und es gibt keinen Menschen, sondern nur eine Menschheit, kein einzelnes Denken, und Lieben, und Hassen, sondern nur ein Denken, und Lieben, und Hassen in und durch einander.“5 3  J.-P. Sartre, „Ce que je suis“, in: Le Nouvel Observateur, Nr. 554, 23.–29. Juni 1975, S. 72, 76. 4  J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, 3, in: Sämmtliche Werke, hg. J. H. Fichte, Bd. 2, Berlin 1845, S. 315.



Das Paradies in der Politik109

Kosmologie und Negative Kosmologie Sie wollen die andere Schöpfung erreichen. Jene Schöpfung, in der das Leiden der Schöpfung nicht herrscht, wie es die Menschen kennen. Die Erzählung vom Paradies in der Politik ist nicht nur eine Geschichte. Sie ist vor allem ein kosmologischer Kommentar. Sie unterzieht die Schöpfung – die Wirklichkeit der Schöpfung – einer schöpfungstheoretischen Kritik. Das Problem des Körpers in der Schöpfung des Menschen ist keine einzelne Erscheinung in der Schöpfungswelt. Vielmehr zeigt sich in ihm das Problem der Schöpfung selbst – wie es sich in allem anderen von ihr zeigt. Nichts ist von ihr, nichts an Schöpfung, das nicht auseinandergeführt und aufgeteilt, getrennt und vereinzelt, auf sich hin in sich abgeschlossen und für sich gesondert, fremd für anderes und von anderem entfernt, Teil über Teil, Fragment nach Fragment, Stück gegen Stück ist, nichts also ist von ihr, nichts an Schöpfung, das nicht die endlose Zersplitterung einer im schöpferischen Anfang in ihre Wirklichkeit gehobene Gestalt, die nie einzuholende Erinnerung an das Ereignis ‚Schöpfung‘ ist. Das ist das Leiden der Schöpfung, wie es die Menschen kennen: Diese zerfällt, wie sie entsteht. Die Schöpfung ist nicht ihre Gestalt. Sie löst sich als Schöpfung ganz zu sich selber auf, geht auf ihre Wirklichkeit zu in ihre Wirklichkeit auseinander, gliedert und zergliedert sich in ihre zerstiebende Einheit, in die Teile ihrer unendlichen Teilung. Dieses Leiden der Schöpfung ist der Grund, der die Autoren der Erzählung vom Paradies in der Politik dazu brachte, ihre Geschichte in der Weise eines kosmologischen Kommentars zu entfalten. Sie sahen im Problem des Menschen das Problem der Schöpfung. In dem einen – dem des Körpers in der Schöpfung des Menschen – spiegelte sich für sie ein anderes, viel umgreifenderes wider. Sie erkannten in ihm das Problem, das die Schöpfung durch sich selber stellt. Seine Botschaft ist ungeheuerlich: Schöpfung ist Zerfall.6 5  Ebd., S. 316. – Vgl. auch S. 271 und 276 f.: „Es ist die Bestimmung unsers Geschlechts, sich zu einem Einigen, in allen seinen Teilen durchgängig mit sich selbst bekannten, und allenthalben auf die gleiche Weise ausgebildeten Körper zu vereinigen. … . In diesem einzig wahren Staate wird überhaupt alle Versuchung zum Bösen, ja sogar die Möglichkeit, vernünftigerweise eine böse Handlung zu beschließen, rein abgeschnitten sein … Nach der untrüglichen Einrichtung in einem solchen Staate ist jede Bevorteilung und Unterdrückung des andern, jede Vergrößerung auf desselben Kosten nicht nur sicher vergeblich, und alle Mühe dabei verloren, sondern sie kehrt sich sogar gegen ihren Urheber; und ihn selbst trifft unausweichlich das Übel, das er dem andern zufügen wollte. … Der Gebrauch der Freiheit zum Bösen ist aufgehoben …“. 6  Für eine detailliertere Diskussion des Problems der Schöpfung vgl. T. Schabert, Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz, Freiburg, Alber, 2009, S. 97–106.

110

Das Paradies in der Politik

Was können die Menschen tun, die bedrängt von der Macht ihrer Körper sind und dies nicht hinnehmen wollen? Sie können sich zunächst frei von der Last – oder ‚Qual‘, um Jacob Böhmes Begriff zu nehmen – ihrer Lage fühlen. Die Schöpfung zerfällt, nicht ihre Welt, oder genauer: ihre Welt mit der Schöpfung. Aber dann wird es schwieriger. Es ergeben sich Folgerungen und diese lassen sie nicht frei (es sei denn, sie würden sich ihnen entziehen und somit aufhören, dorthin weiterzugehen, wohin ihr Motiv sie führt). Die Folgerungen zeigen sich klar und gebieten ihnen, für das Verfolgen ihres Motivs auch den Weg zu wählen, der dafür der angemessene ist: Sie müssen sich mit der Schöpfung auseinandersetzen. Denn diese ist der erklärende Anfang. Aus der Schöpfung kommt die Erscheinung der Menschen in der Form ihrer Körper; und mit der Schöpfung hebt die Macht der Zertrennung an, welche die Menschen in die allgemeine Einsamkeit loser Teile, in die gegenseitige Fremdheit lauter Einzelner zwingt; und in der Schöpfung wird für den Menschen sein Leben und seine Existenz zergliedert strukturiert. Sie müssen sich mit der Schöpfung auseinandersetzen. Aber wie? Da sind die Fragen, die sie sich fragen können: Wie wäre die Schöpfung zu verstehen, damit ihr Leiden verstanden werden kann? Was ist dessen Grund? Geht ihr dieser voraus, sodaß sie die Schöpfung für das Leiden wäre, das sich an ihr zeigt? Oder entsteht ihr Leiden erst mit ihr selbst, dem Ereignis ‚Schöpfung‘? Wie leiden die Menschen mit dem Leiden der Schöpfung? Was ist dann das Leiden ihrer Welt? Ist es immer so, daß sie das Leiden der Schöpfung überkommt? Oder können sie Schutz davor finden? Ist alles, was überhaupt ist, gleich der Schöpfung, die leidet? Oder leidet nicht alles, das ist, mit dem Leiden der Schöpfung? Da ist die Schöpfung? Und dann, nicht noch das Andere? Wo? Wo ist es? Wo? Wie setzten sich Menschen mit der Schöpfung auseinander? Dies ist, in der Folge der aufgeworfenen Fragen, nicht mehr die Frage. Für die Erzählung, von der ich hier spreche, kam mit den Fragen eine Einsicht, die sie ganz auf eine Kritik der Kosmologie ausrichtet. Der Weg der Auseinandersetzung ist klar. Alle Kosmologie lehrt, daß in dem Ereignis ‚Schöpfung‘ alles dieser Schöpfung sich voneinander trennt. ‚Schöpfung‘ ist ‚Trennung‘. Aber in dieser Trennung – und hier ist die Kritik – geschieht mit der Schöpfung noch eine weitere, ‚zweite‘ Trennung. Die in ihre Vielfalt sich zerteilende Schöpfung scheidet sich von dem einen Anfang, aus dem sie kommt, und wird Gegenpart eines ‚Anderen‘ in einer komplementären Antinomie. Dieses ‚Andere‘ ist das ‚Eine‘, jener Anfang der Vielfalt von Schöpfung, der mit der Schöpfung von dieser ‚zurückbleibt‘. Das Eine ‚entrückt‘ dem Vielen, in welches die Schöpfung hinausgeht. So erfolgt mit dem Ereignis der Schöpfung auch die zweite Trennung: Sich voneinander unterscheidend, treten – als voneinander getrennt – das Eine und das Viele auf. Nichts erscheint so absolut auseinander zu sein wie sie. Und doch stellt sich in eben diesem



Das Paradies in der Politik111

‚Auseinander‘ noch anderes dar. In ihrem getrennten Erscheinen – wie sie sich voneinander unterscheiden – ‚verbinden‘ sich das Eine und das Viele wieder. Denn das Eine ist das Eine gegenüber dem Vielen und das Viele ist das Viele gegenüber dem Einen. Ihre Trennung ist schöpferisch: Jedes ist für das andere das, was das ganz Andere für jedes ist; jedes entwirft sich im anderen und löst vom anderen als Einziges sich selber ab; jedes erscheint mit dem anderen, dessen absoluter Gegenpart es ist, und so auch der Verweis auf eben jenes andere, absolut. Die Kritik der Kosmologie erfaßt, differenzierend, die zwei Trennungen im Ereignis ‚Schöpfung‘. Sie kann ein doppeltes Tableau der Schöpfung zeichnen, einem Diptychon nicht ungleich. Auf der einen Seite ist das Bild der in sich zerfallenden Schöpfung, Welt der Menschen; auf der anderen Seite das Bild des immer Einen, Welt des Göttlichen, unendlich in allem mit sich unaufhörlich gleich. Die Bilder sind zwei Teile eines Bildes, welches die Geschichte des Ereignisses ‚Schöpfung‘ zeigt. Und sie sind zwei völlig verschiedene Bilder, da sie von jener Geschichte zwei einander ganz entgegengesetzte Geschichten zeigen. Das Diptychon der Schöpfung ist die Erklärung für die Erzählung vom Paradies in der Politik. Diese schöpft sich aus der Vision des auseinanderklaffenden Bildes und schildert das Drama der widersätzlichen Bildhälften. Sie faßt eine Vision des Leidens und so schiebt sich in diese auch die Vision des Heils: Das Ineinanderschieben der getrennten Bildhälften in ein einziges Bild. Von der Bewegung der sich ineinander schiebenden Bildhälften wird im Folgenden noch mehr zu sagen sein. Nach der Erzählung, die hier wiedergegeben wird, zeichnen sich in dieser Bewegung die Konturen des Paradieses ab. Doch zuvor noch muß von dem Drama gesprochen werden, das sich aus den zwei Bildern entwickelt, die jedes für sich ein gänzlich vom anderen verschiedenes Bild und doch die zwei Teile eines Bildes sind. Die in sich zerfallende Schöpfung und das immer Eine spiegeln gegenseitig ihre Scheidung. Ihre Trennung ist schöpferisch. Sie führt zu der ihnen gemeinsamen Geschichte in ihrer Trennung. Da ist auf der einen Seite das πληϑος απειρον, die Vielfalt ins Unendliche, von der Platon im Parmenides spricht.7 Und da ist die Zerteilung: Eine Abfolge von Emanationen teilt den Anfang der Schöpfung in zahllose Anfänge 7  Parmenides 144a. – Vgl. auch 144b: „Unter Alles also, welches als Vieles ist, ist das Sein verteilt und verläßt nichts von allem Seienden, weder das kleinste noch größte … Zerschnitten [κατακεκερµατισται] also ist es in Kleinstes und Größtes und auf jede mögliche Art Seiendes, und es ist mehr als alles geteilt, und es sind unzählige Teile des Seins [απεραντα της ουσιας].“

112

Das Paradies in der Politik

auf. Und die Seite zeigt die Vereinsamung: Je mehr entsteht, je mehr gerät auseinander, in jene αλλοτριοτης, in der alles von allem entfremdet ist.8 Auf der anderen Seite währt änderungslos das immer Eine, schöpferischer Anfang und doch absolut bei sich, wie von ihr unberührt der Schöpfung entrückt, die von ihm ausgegangen ist. Dies ist ο ϑειος, in Platons Wort,9 der eine Gott, der ‚Gott‘ ist: Einzig wie sein Name im Tetragramm, ha-Shem ha-Meforash, in dem er unfaßbar ist.10 In sich unaufhörlich gleicher ϑειος, und doch der Gott mit sich in Bewegung, wie von einem Anfang aus, der ins Offene, aus dem einzig Einen fortzuführen scheint zu sich aufteilendem Anderen, eine Bewegung sodenn wie die, vermeintlich, aus der die Schöpfung kommt. Wenn nicht der Kreis wäre, zu dem sich die Bewegung biegt, in das Eine von ‚Anfang‘ und ‚Ende‘ also, in das Gleiche im Anderen. Wenn es nicht die Bewegung des Gottes wäre, wie es die patristische Theologie fand, der trinitarisch einer in drei verschiedenen Personen ist.11 Und da ist, auf der einen Seite der zerfallenden Schöpfung wieder, das menschliche Geschlecht, das diesen Lauf der Dinge sieht und sein Verlangen nicht zurückdrängen kann, sich darüber zu empören.12 Die kalte Logik des Seins schockiert die Menschen. Sie fragen sich, warum in jeder Gestalt der Schöpfung noch ein jedes Zeichen von deren Leiden ist, warum noch für alles ein Zerfall die Folge von Schöpfung ist. Sie erfahren sich selbst von dieser Logik verstellt, zu jener Satire der Wände, die sie als ihr Schöpfungsdrama aufführen. Einander undurchdringlich, in ihren Körpern unsichtbar, spielen sie sich wie zum Spott die Menschen vor, die keiner sieht: Jeder ist jedem eine Wand und alle bewegen sich zwischen den Wänden wie zwischen 8  Vgl.

Symposion 197d. Politeia 379a–383c; Politikos 269a–274e; Theaitetos 150c, 176b–c; Phaidros 278d; Timaios, 30a ff., 53a f., 69b; – Vgl. auch F. Solmsen, Plato’s Theology, Ithaca 1942; P. Boyance, „La religion du Platon“, in: Revue des Études Anciennes, 49, 1947, S. 178–192; V. Goldschmidt, La religion de Platon, Paris 1949; J. K. Feib­ leman, Religious Platonism. The influence of religion on Platon and the influence of Platon on religion, London 1959; F. P. Hager, Der Geist und das Eine, Bern/Stuttgart 1970. 10  Wie auch an der scheinbar expliziten Stelle: Ex 3,14. 11  Vgl. hierzu den Abschnitt über die Vorstellung der patristischen Theologen zur Perichorese in: T. Schabert, Modernität und Geschichte, Würzburg 1990, S. 88–90. 12  Vgl. J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 266: „Auch schon in der Betrachtung der Welt, wie sie ist, abgesehen vom Gebote, äußert sich in meinem Innern der Wunsch, das Sehnen – nein, kein bloßes Sehnen, – die absolute Forderung einer bessern Welt. Ich werfe einen Blick auf das gegenwärtige Verhältnis der Menschen einander selbst, und gegen die Natur; auf die Schwäche ihrer Kraft, auf die Stärke ihrer Begierden und Leidenschaften. Es ertönt unwiderstehlich in meinem Innern: So kann es unmöglich bleiben sollen; es muß, o es muß alles anders, und besser werden.“ 9  Vgl.



Das Paradies in der Politik113

Menschen. Der Kosmos der Menschen ist eine Welt der Masken, ihr Wissen voneinander die Schau verdunkelter Seelen. Und das zum Spott. Die Menschen kennen sehr wohl das Drama, dessen Darsteller sie sind. In ihrer Satire erschallt das Gelächter der Schöpfung.13 Empörung? Nein. Ein Wort, dessen Mutter die Schwäche ist. Die andere Schöpfung, vielmehr, der paradiesische Weg, die Vereinigung mit dem immer Einen14 wie es dort ist, auf der anderen Seite, der des Schöpfers, welcher absolut Schöpfer: das Nichts seiner Schöpfung ist. Dies ist jener dort, der sein kann, ohne ‚es‘ zu sein, der zu nichts wird, wie von ihm her etwas wird, selbst nicht zum ‚Schöpfer‘. Er setzte sich als ‚Schöpfer‘ aus, seinem Werk gegenüber, und dieses ließe, wie noch jedes Werk, seinen Schöpfer nicht mehr frei. Solches geschieht nicht. Denn jener dort bleibt absolut, ganz in sich eins, ist nichts in nichts, ist also nicht in einem mehr wie eins und nicht in der einen und anderen Weise als eins. Er ist die Klarheit, der in sich spiegelnde Blick, das Sehen, das in seinen Strahlen sich selber fängt. Er ist die Transparenz, die Fülle im Licht, das allseitige Wissen, ein Erkennen schleierlos, die hellste Wahrheit. Und er ist der Schöpfer, absolut, da in aller Freiheit von seiner Schöpfung: Sie verstellt ihn nicht. Die Menschen erregt er. Er ist Figur ihres Staunens, ihres Denkens, ihres Neids. Sie kennen in der Schöpfung solches nicht, da sich diese wie ein Schleier zwischen sie und ihre Erfahrung von Erkenntnis, Wissen, Licht, Klarheit zieht. Doch sie sehen genug, um die Spiegelung zu erkennen. Jener Schöpfer dort ist der Andere. Und in der revolutionären Wendung heißt der Satz: Er ist der Andere für sie. Sie wissen nur, indem sie das zu Erkennende von anderem unterscheiden. Und dort ist schon immer unterschiedenes Er13  Vgl. ebd., S. 266: „Ich äße nur, und tränke, damit ich wiederum hungern, und dürsten, und essen und trinken könnte, so lange, bis das unter meinen Füßen eröffnete Grab mich verschlänge, und ich selbst als Speise dem Boden entkeimte? Ich zeugte Wesen meines gleichen, damit auch sie essen und trinken, und sterben, und Wesen ihresgleichen hinterlassen könnten, die dasselbe tun werden, was ich schon tat? Wozu dieser unablässig in sich selbst zurückkehrende Zirkel, dieses immer von neuem auf dieselbe Weise wieder angehende Spiel, in welchem alles wird, um zu vergehen, und vergeht, um nur wieder werden zu können, wie es schon war; dieses Ungeheuer, unaufhörlich sich selbst verschlingend, damit es sich wiederum gebären könnte, sich gebärend, damit es sich wiederum verschlingen könne? Nimmermehr kann dies die Bestimmung sein meines Seins, und alles Seins.“ – Vgl. ebenfalls: G. Scholz Wil­ liams, „Gelächter vor Gott: Mensch und Kosmos bei Franck und Paracelsus“, in: Daphnis, Bd. 15, H. 2/3, 1986, S. 463–481. 14  Vgl. R. D. Laing, The Bird of Paradise: „Who is not engaged in trying to impress, to leave a mark, to engrave his image on the others and the world – graven images held more dear than life itself? We wish to die leaving our imprints burned into the hearts of the others. What would life be if there were no one to remember us, to think of us when we are absent, to keep us alive when we are dead?“ (The Politics of Experience and The Bird of Paradise, Harmondswoth 1967 = Penguin Books, S. 152).

114

Das Paradies in der Politik

kennen, ohne jedes Unterscheiden. Sie wissen nur, indem sie die zu findenden Einsichten in der Folge der Zeit eine nach der anderen fassen. Und dort ist alles Einsehen in einem einzigen und sofortigen Akt.15 Er ist der Andere für sie. Ihr Ausweg. Die unverstellte Gestalt. Die Schöpfung wie das Antlitz Gottes. Und in dessen Mitte der Mensch.16 Die in sich zerfallende Schöpfung und das immer Eine folgen in ihrer Trennung einer gemeinsamen Geschichte. Es ist die Geschichte ihrer komplementären Antinomie, wie sie soeben ganz knapp skizziert wurde. Dabei wurde auch die Methode der Verbildlichung gewählt und von der Vorstellung eines ‚Diptychon der Schöpfung‘ gesprochen. Diese Bildvorstellung sollte jedoch nicht nur den Zweck einer Veranschaulichung erfüllen. Sie sollte auch ein bestimmtes Sehen erzeugen: Den Blick für das Diptychon. Denn gewöhnlich würde man das Diptychon nicht sehen. Wahrlich, nur einem besonderen Blick bietet sich das auseinanderklaffende Bild und das darin sich abspielende Drama der beiden widersätzlichen Bildhälften. Doch der Blick ist unabdingbar, will man sehen, was hier gesehen werden soll. Schon zuvor wurde gesagt, daß die Erzählung, die hier wiedergegeben wird, ‚wundersam‘ sei. Sei es noch deutlicher, also definitorisch ausgedrückt: Die Erzählung vom Paradies in der Politik reflektiert die Wahrheit der mensch­ lichen Existenz in unwahrscheinlicher Form. Und deswegen sieht man das Diptychon gewöhnlich auch nicht. Erst der Blick für das Diptychon bringt die Erzählung in das Bild, in dem sie stimmig ist. Man sieht die Vision des Heils in der Vision des Leidens. Man sieht das Eine im Vielen und das Viele im Einen. Unter dem Blick für die Schöpfung im doppelten Tableau zeigt sich das Paradies – wahrscheinlich.17 15  Vgl. Giordano Brunos Satz: „Sicut et mens divina uno actu simplicissimo in se contemplatur omnia simul sine successione …“, in: Summa Terminorum Metaphysicorum, Jordani Bruni Nolani Opera Latine Conscripta, Neapel/Florenz 1879–1891, Bd. I, IV. Teil, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, S. 32. 16  Vgl. J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, a. a. O., S. 256: „Welche Einheit und Vollendung in sich selbst, welche Würde der menschlichen Natur! … Ich bin durchaus mein eignes Geschöpf. Ich hätte blind dem Zuge meiner geistigen Natur folgen können. Ich wollte nicht Natur, sondern mein eignes Werk sein; und ich bin es geworden, dadurch daß ich es wollte.“ 17  Vgl. ebd., S. 288 f.: „Ich bin Glied zweier Ordnungen; einer rein geistigen, in der ich durch den bloßen reinen Willen herrsche, und einer sinnlichen, in der ich durch meine Tat wirke. … Diese zwei Ordnungen … sind von dem ersten Augenblicke der Entwickelung einer tätigen Vernunft an, in mir, und laufen neben einander fort. Die letztere Ordnung ist nur eine Erscheinung für mich selbst, und für diejenigen, die mit mir in dem gleichen Leben sich befinden; die erstere allein gibt dem letztern Bedeutung, Zweckmäßigkeit, und Wert. Ich bin unsterblich, unvergänglich, ewig, sobald ich den Entschluß fasse, dem Vernunftgesetze zu gehorchen; ich soll es nicht erst werden. … Ich ergreife durch jenen Entschluß die Ewigkeit, und streife das



Das Paradies in der Politik115

Seit altersher gibt es in den antiken und den europäischen Kulturen ein ‚Wissen‘, das sich aus dem Blick für das Diptychon erklärt. In der Figur des Hermes Trismesgistos wird eine der initiierenden Gestalten dieser Tradition von Wissen erkannt. Landläufig setzt man sie mit einer ‚esoterischen‘ Linie in der Geschichte des Denkens gleich. Doch dies verzerrt die Konturen dieser Geschichte nur und beschreibt sie nicht, denn dann wären nicht nur Böhme oder Swedenborg Repräsentanten einer Kultur ‚esoterischen‘ Wissens, sondern auch Plotin, Averroes, Roger Bacon, Ficino, Giordano Bruno, Rousseau, Novalis, Schelling, Hegel.18 Mit Absicht spreche ich von einer ‚Kultur‘ jenes Wissens, das sich aus dem Blick für das Diptychon erklärt. Denn es brachte seine ihm eigenen kulturellen Formen hervor: die Initiation; die Illumination; den Kult sozialer Intimität; das symbolische Sprechen und das Fassen der Welt in einer Welt der Symbole; die duale Existenz in der geistigen Sphäre einerseits und der materiellen andererseits; die Geistesreisen zwischen den beiden Welten, der Welt des Einen und der Welt des Vielen, zwischen einem Reich in der Euphorie der Fülle und Universen in der Qual der Zerteilung. Vor allem diese ‚Geistesreisen‘ – wie ich sie hier nenne – schärften den Blick für das Dip­ tychon und füllten ihn, sich wiederholend, mit dem Erlebnis einer Existenzund Lebenskultur. Der Geistesreisende hielt fest am Blick und wurde zum Wanderer von einem Schöpfungsbild in das andere. Novalis schrieb: „Wir haben 2 Systeme von Sinnen, die so verschieden sie auch erscheinen, doch auf das innigste mit einander verwebt sind. Ein System heißt der Körper, Eins, die Seele. Jenes steht in der Abhängigkeit von äußern Reitzen, deren Inbegriff wir die Natur oder die äußre Welt nennen. Dieses steht ursprünglich in der Abhängigkeit Leben im Staube und alle andere sinnliche Leben, die mir noch bevorstehen können, ab, und versetze mich hoch über sie. Ich werde mir selbst zur ewigen Quelle allen meines Seins, und meiner Erscheinungen; und habe von nun an, unbedingt durch etwas außer mir, das Leben in mir selbst.“ 18  Cf. F. Chr. Baur, Die christliche Gnosis, Tübingen 1835; A. Viatte, Les sources occultes du romantisme 1770–1820, Paris 1928; R. Schneider, Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen, Würzburg 1938; E. Benz, Schellings theologische Geistes­ ahnen, Wiesbaden 1955; A. Koyré, Mystiques, spirituels, alchimistes du XVIe siècle, Paris 1961; E. Benz, Les sources mystiques de la philosophie romantique allemande, Paris 1968; M. H. Abrams, Natural Supernaturalism: Tradition and Revolution in Romantic Literature, New York 1971; W. Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt 1972; D. P. Walker, The Ancient Theology: Studies in Christian Platonism from the Fifteenth to the Eighteenth Centuries, New York 1972: F. Yates, The Rosicrucian Enlightenment, Boston 1972; A. Faivre, L’ésotérisme au 18e siècle en France et en Allemagne, Paris 1973; D. Walsh, The Mysticism of Innerworldly Fulfillment. A Study of Jacob Boehme, Gainesville 1983; E. Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal mit einer historischen Begründung, ed. J. Dvorak, Frankfurt 1990, in particular chapter 2: „Die Brüderschaft der Genies und der Tiefenbegriff“, p. 83seq.

116

Das Paradies in der Politik

eines Inbegriffs innerer Reitze, den wir den Geist nennen, oder die Geisterwelt. Gewöhnlich steht dieses letzere System in einen Associationsnexus mit dem andern System – und wird von diesem afficirt. Dennoch sind häufige Spuren eines umgekehrten Verhältnisses anzutreffen, und man bemerckt bald, daß beyde Systeme eigentlich in einem Volllkommenen Wechselverhältnisse stehn sollten, in welches jedes von seiner Welt afficirt, einen Einklang, keinen Einton bildeten. Kurz beyde Welten, so wie beyde System sollen eine freye Harmonie, keine Disharmonie oder Monotonie bilden. Der Übergang von Monotonie zur Harmonie wird freylich durch Disharmonie gehn – und nur am Ende wird eine Harmonie entstehn. In der Periode der Magie dient der Körper der Seele, oder der Geisterwelt. /Wahnsinn – Schwär­ merey./ Gemeinschaftlicher Wahnsinn hört auf Wahnsinn zu seyn und wird Magie. Wahnsinn nach Regeln und vollem Bewußtseyn. Alle Künste und Wissenschaften beruhn auf partiellen Harmonien. /Poëten, Wahnsinnige, Heilige, Propheten./“19

Der menschliche Geist auf kosmogonischen Wanderungen – so könnte man thematisch zusammenfassen, was zuletzt ausgeführt wurde, und man sollte angesichts der Formulierung für einen Augenblick innehalten, um ganz die Aussage wahrzunehmen, die sie birgt. Denn sie markiert den ‚kosmologisch-revolutionären‘ Übergang, den der Blick für das Diptychon eröffnet. Jene zweite Trennung im Ereignis der Schöpfung, in der das Eine und das Viele sich voneinander unterschieden, ist, wie es scheint, nicht definitiv. Geistesreisende – so demonstriert es ein bestimmtes Wissen, das tradiert wird von einer bestimmten Kultur – bewegen sich in der Trennung schöpferisch über diese hinweg. Sie vollbringen jedes Mal, wenn sie bei ihren Wanderungen zwischen den beiden Welten, der des Einen und der des Vielen, über die eine hinausgehen, um in die andere einzutreten, einen Wechsel im Schöpfungsbild. Wenn es zuvor die in ihre Erscheinungen sich auflösende Schöpfung war, die sich dem Blick des Geistesreisenden darbot, so ist es jetzt die Allgestalt des Einen, die seinen Blick erfüllt.20 Und fällt der Blick wieder auf das Viele zurück, so ereignet sich, wo vorher noch die immer gleiche Fülle des Einen war, nun das Schauspiel der zunehmend zerfallenden Schöpfung. Wandernd von einem Schöpfungsbild in das andere ‚sieht‘ der Geistesreisende jedes Mal die Schöpfung in der Folge seiner jeweiligen Wanderung. Er macht eine weltenbringende Erfahrung: Seine Wanderungen sind 19  Novalis, Schriften, Bd. 2, Das philosophische Werk I, Hg. R. Samuel, Stuttgart 1960, S.  546 f. 20  Vgl. J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, a. a. O., S. 317: „Das Universum ist mir nicht mehr jener in sich selbst zurücklaufende Cirkel, jenes unaufhörlich sich wiederholende Spiel, jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären, wie es schon war: es ist vor meinem Blicke vergeistiget, und trägt das eigne Gepräge des Geistes; stetes Fortschreiten zum Vollkommneren in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht.“



Das Paradies in der Politik117

kosmogonisch. In ihnen liegt der Weg. Denn sie bringen vor seinen Blick ‚diese‘ oder die ‚andere‘ Schöpfung. In der Erfahrung des Geistesreisenden ist der Blick für das Diptychon weltenrevolutionär: Er legt den Weg zur an­ deren Schöpfung frei, die Pfade in das Paradies. Unter einer Bedingung, es sei wiederholt: daß man die Schöpfung wie der Geisteswanderer sieht, im doppelten Tableau. Denn dieses erschließt sich allein einem bestimmten Sehen (wie schon hervorgehoben wurde), das unter den Menschen nicht die allgemeine Sehweise ist. Die Menschen schauen gewöhnlich die Schöpfung wie sie ist, in all ihrer Vielheit, ihrer Vielfalt. Sie wissen sich als Einzelne unter Einzelnen und suchen in ihrer Wahrnehmung der Welt nicht den Widerruf der Welt, in ihrem Erleben der Schöpfung nicht den Gegenklang der Schöpfung. Und es könnte von den Menschen auch niemand auf Geistesreisen gehen, die weltenrevolutionäre Erfahrung des kosmogonischen Wanderns machen, wenn es nicht eine besondere Eigenschaft des menschlichen Geistes gäbe, die den Menschen dazu befähigt, sich immer noch anderes vorstellen zu können, als das, was er jetzt und hier sieht. Dies ist die Phantasie. Sie ist die Eigenschaft, die den Menschen erst ‚frei‘ für ‚Anderes‘ macht. Mit seiner Phantasie ist der Mensch der Gott seiner Träume. Es gibt nichts, das er sich im Raum seiner Phantasie nicht vorstellen könnte; alles kann dort gedacht und wahrgenommen, empfunden und ausgemalt werden. Von den Eigenschaften des menschlichen Geistes ist die Phantasie jene, durch welche dieser ausschweifen und auf Wanderungen durch die Unendlichkeit möglicher Vorstellungen aus diesen zu figurativen Universen vereinen kann was er mag. In seiner Phantasie und durch diese ist der menschliche Geist kosmogonisch. Was er an Welt bildet, ist eine Welt der Phantasie. In jeder Erzählung von einem Paradies in der Politik ist deshalb die Phantasie die Übermittlerin, Garantin und messianische Figur für die Vollführung der frohen Botschaft. Es wird für die Menschen keine Welt des Einen im Vielen geben, keine vom Problem ihrer Körper befreite Welt, wenn nicht die Phantasie die Göttin über der Welt, die schöpferische Wahrheit ist, der alles unterliegt. Wiederholen wir, was so entscheidend ist: Von der Phantasie wird gedacht, daß sie die Göttin über der Welt, die schöpferische Wahrheit sei, der alles unterliegt. Denn dies ist die Einschätzung der Phantasie (oder der Imagination), ohne die keine Erzählung vom Paradies in der Politik auskommt: „Without Imagination, which, in truth, / Is but another name for absolute power / And clearest insight, amplitude of mind, / And Reason in her most exalted mood.“21 Noch jede solche Erzählung baut darauf, bedarf sie doch, 21  Wordsworth, The Prelude, or Growth of a Poet’s Mind. An Autobiographical Poem, Book XIV, lines 189–192. – Vgl. auch: Novalis, Schriften, Bd. 2, Das philosophische Werk I, a. a. O., S. 275: „Das grösseste Gut besteht in der Einbildungskraft.“ –

118

Das Paradies in der Politik

um ‚wahr‘ zu sein, des weltenrevolutionären, kosmogonischen Blicks. Und dieser eröffnet sich in der Phantasie allein. In Eros and Civilization schilderte Herbert Marcuse seine Fassung der Erzählung vom Paradies in der Politik. Dem Zusammenhang von ‚Phantasy and Utopia‘ widmete er ein eigenes Kapitel. Daraus seien einige Passagen zitiert. Sie spiegeln vollendet die Welt aus dem Blick für das Diptychon. Man sieht auf der einen Seite des Tableaus das Leiden der Schöpfung und auf der anderen die paradiesische Kosmogonie: „… phantasy (imagination) retains the structure and the tendencies of the psyche prior to its organization by the reality, prior to its becoming an ‚individual‘ set off against other individuals. And by the same token, like the id to which it remains committed, imagination preserves the ‚memory‘ of the subhistorical past when the life of the individual was the life of the genus, the image of the immediate unity between the universal and the particular … In contrast, the entire subsequent history of man is characterized by the destruction of this original unity … The genus now lives in the conscious and ever renewed conflict among the indivuals and between them and their world. Progress under the performance principle proceeds through these conflicts. The principium individuationis as implemented by the reality principle gives rise to the repressive utilization of the primary instincts, which continue to strive, each in its own way, to cancel the principium individuationis … In and against the world of the antagonistic principium individuationis, imagination sustains the claim of the whole individual, in union with the genus and with the ‚archaic‘ past. As a fundamental, independent mental process, phantasy has a truth value of its own – namely, the surmounting of the antagonistic human reality. Imagination envisions the reconciliation of the individual with the whole … While this harmony has been removed into utopia by the established reality principle, phantasy insists that it must and can become real, that behind the illusion lies knowledge. … phantasy cancels the established principium individuationis itself. The image of a different form of reality contains the lost unity between the universal and the particular … Its truth value is enhanced by the fact that the image belongs to mankind over and above the principium individuationis. Gegenüber dieser modernen Auffassung zur Phantasie (bzw. Imagination) gab es noch in der Renaissance die Zweifel von Gianfrancesco Pico della Mirandola, der in seiner Schrift De Imaginatione (1501) die Ansicht vortrug, die Imagination sei gegenüber der Vernunft zwar autonom, doch sie müsse in ihrer Autonomie auch vernünftig sein (vgl. De Imaginatione, Lt.-dt., hg. E. Kessler, München 1984, insbes. S. 55, 57, 61, 63, 97). – Und noch früher, in der Antike, gab es die Warnungen von Platon und Aristoteles, wonach die menschliche Phantasie sehr menschlich, also in all der gött­ lichen Erinnerung, die sie wachruft, von unüberwindbaren Schranken begrenzt, für Irrtümer anfällig und durch die von ihr geborenen Illusionen gefährlich sei. Vgl. Platon, Politeia 236b–c, 265a, 266b–d, 380d, 508b, 509d, 510b, 511d–e, 571e, 572a; Kratylos 423d–e, 430b, 431c, 432b ff; Symposion 211a; Timaios 71c–72b; Sophistes 264b. – Aristoteles De Anima 428a10, 431b. – Vgl. auch den Abschnitt „Die Entfesselung der Phantasie“ in: Verf., Modernität und Geschichte, S. 75–78.



Das Paradies in der Politik119 The truth value of imagination relates not only to the past but also to the future …“.22

Die Stimme, die von dem Paradiese singt, dem ganz unwahrscheinlichen, auch nie verhießenen, das grundlos in jeder Hoffnung, Wahn schon im Traum ist, die in die Seelen wundersame Worte singt, welche alle Weisheit umstürzen, die ihnen Schöpfungslehren eingeflößt hatten, diese Stimme singt das Lied einer Offenbarung. Strophe um Strophe füllt sie den Geist derer, die auf sie horchen, mit dem Klang der Botschaft aus, daß alle Schöpfung noch ein­ mal möglich sei. Und Strophe um Strophe wurde auf den vorangegangenen Seiten aufgezeichnet, was von der Stimme zu ‚hören‘ ist, auch wenn man sie selber nicht vernimmt: Dies ist der Text des Lieds. An dessen Ende kommt nun keine Strophe mehr, sondern nur noch ein einziger, letzter Satz. Diesen hat ein dafür überaus berühmter Autor formuliert. Es steht fest, daß die Schöpfung anders wird. Die Botschaft der Stimme ist in das Selbstbewußtsein des Menschen eingegangen. Das von der Stimme gesungene Lied hat sich in Wissen verwandelt. Schöpfung wird sein, was der Mensch mit der Zunge seines Geistes ausspricht. Dies ist die Stimme sodenn in der Sprache des menschlichen Denkens. Was das heißt, dazu braucht es noch den einen letzten Satz. Dann ist der Text dieses Lieds vollständig, das wir hier zu hören versuchten. Es ist Hegels Stimme, die am Ende spricht: „Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus“.23

Die Politik und das Paradies (I) ‚Wenn die Menschen Engel wären‘: Die Weisheit der Politischen Wissenschaft Ein Denken über Menschen formt umso mehr religiöse Gedanken aus, je weniger es religiös ist. Oder anders ausgedrückt: Ein politisches Denken, das sich unter Menschen entfaltet, die von religiösen Überzeugungen zum Ver22  H. Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud (1955), New York 1962 (= Vintage Books Edition), S. 129–135. – In An Essay on Liberation (Boston 1969, S. 26) spricht Marcuse auch von einer „Rationalität der Imagination“. 23  Hegel an Niethammer, am 18. Oktober 1808 aus Bamberg. (Briefe von und an Hegel, hg. v. J. Hoffmeister, Bd. 1, 1785–1812, Hamburg 1952, S. 253). – Vgl. auch die ersten Passagen des Dritten Buches von Fichtes Die Bestimmung des Menschen, die in dem Absatz gipfeln: „Hier, scheint es, liegt der Punkt, an welchen das Bewußtsein aller Realität sich anknüpft; die reelle Wirksamkeit meines Begriffs, und die ­reelle Tatkraft, die ich mir zufolge jener zuzuschreiben genötigt bin, ist dieser Punkt. Verhalte es sich indes mit der Realität einer Sinnenwelt außer mir wie es wolle: Realität habe ich, und fasse ich: sie liegt in mir, und ist in mir selbst einheimisch.“ (a. a. O., S.  248–251).

120

Das Paradies in der Politik

ständnis und zur Führung ihres Lebens inspiriert und angeleitet sind, muß nicht seinerseits – sozusagen noch einmal – die grund­sätzlichen Fragen von Menschen zu ihrer Existenz auslegen, die schon in jenen religiösen Überzeugungen ausgelegt sind. Das politische Selbstverständnis der betreffenden Menschen und ihre religiösen Überzeugungen bilden zusammen in symbiotischer Form ein ‚Kosmion‘ von interpretativen Aussagen zur menschlichen Existenz, wenn auch in ganz unterschiedlicher Intensität. Umgekehrt harren die Fragen der Menschen zu ihrer Existenz einer Antwort, wenn sich Erhellungen dazu nicht – oder nicht mehr – in einer Religion oder religiösen Mythen finden (bzw. finden lassen). Die ‚Last‘ des Antwortens fällt dann ganz auf die gesellschaftliche – sprich: politische – Selbstverständigung der Menschen. Diese ist schon schwer genug. Muß sie doch jenem factum brutum begegnen, das selber Fragen über Fragen aufwirft: Daß die Menschen nie anders als in Gesellschaft leben und dies die erste und im weiteren Lebensvollzug die absolute Bedingung ihrer Existenz ist. Und die gebotene Selbstverständigung wird nicht dadurch leichter, daß die Menschen sich alles dabei gegenseitig erklären wie vermitteln müssen, auf politische Weise, sowie die gefundenen Deutungen und Begründungen dann auch gemeinsam glauben müssen, auf politische Weise, und ihre so gebildeten Überzeugungen schließlich zu dauerhaft wirksamen, ob ihrer öffentlichen Geltung allgemein beachteten Glaubenssätzen machen müssen, auf politische Weise. Wenn folglich ein politisches Denken allein politisch bleibt – also ein Denken über den Menschen ist, das jenen ganz in den Spiegel seines politischen Lebens drängt und ihn nur darin sieht –, so legt sich auf dieses eine Last, die es nicht wirklich tragen kann. Da sind die Fragen, die Erhellung und Erklärung fordern: Was sind Menschen? Woher kommen sie? Wofür leben Menschen? Warum sterben sie? Was ist der Tod? Können Menschen dazu etwas wissen? Was wissen sie? Was ist Wissen? Warum leiden die Menschen? Warum gibt es Böses? Woher kommt es? War das Leben der Menschen immer gleich? War es schon anders? Was ist die ‚Geschichte‘ vom Menschen? Wer erzählt sie? Warum streiten sich die Menschen? Warum sind sie zueiander ungerecht? Was herrscht da im Leben der Menschen? Welche Macht? Welche Mächte? Sind diese menschlich? Gibt es eine Bestimmung des Menschen? Wessen Bestimmung ist sie? Was könnte sie sein? Wie will ein politisches Denken, das allein politisch bleiben will, all diese Fragen lösen?, so wird man sich fragen. Und man wird erkennen müssen: Es wird sie nicht lösen, diese Last nicht aufnehmen können. Denn es hätte nichts wirklich zu Fragen zu sagen, die nach einem politischen Denken verlangen, das es nicht ist. Ein politisches Denken nämlich, das auch ein Denken über den Menschen ist. Es wüßte keine Antworten. Die notwendigen Fragen dazu hat es sich nicht gestellt.



Das Paradies in der Politik121

Und da sind das factum brutum und all die Schwierigkeiten, die aus ihm aufsteigen. Wie will ein politisches Denken hier begründen, deuten, erklären, vermitteln, wenn das erste, womit es den Menschen kommt, die Haft der Gesellschaft ist, in die es diese nimmt: ‚Eine Erklärung für Eure Existenz haben wir nicht, aber mit ihr leben müßt Ihr schon‘? Natürlich, etwas anderes als ihr Leben haben die Menschen nicht. Allein, sie würden gerne wissen: Warum? Wie will ein politisches Denken begründen, wenn es nur mit dem begründen kann, was es selbst nicht erhellt und das überhaupt noch zu deuten und zu erklären wäre: Diese politische Lebensform aller Menschen aus der Folge ihrer Form in der Schöpfung? Ein Denken über Menschen bildet, je weniger es religiös ist, umso mehr religiöse Gedanken aus, weil noch jedem menschlichen Denken diese eine Aufgabe gegeben ist: Die Sorge des Menschen. ‚Wie bin ich Mensch?‘ Oder präziser: ‚Wie werde ich Mensch, Mensch unter Menschen?‘ Dies ist die Frage, die sich jedem Menschen mit seiner Existenz stellt. Und es ist die Frage, auf die hin jeder Mensch durch seine Existenz eine Antwort gibt, in der einen oder anderen Weise. Denn er gestaltet für sein Leben seine Existenz, sorgt sich also um diese, in der einen oder anderen Weise. Wie er existiert, wird jeder Mensch sich selbst zur Frage, zu der Sorge, die er um sich selber hat. Wie bin ich Mensch? Warum bin ich es unter anderen? Warum verhält es sich so, daß die Menschen sind wie sie sind und nicht anders? Warum? Und warum soll ich mir Sorge sein, Schöpfer eines Menschen in meiner Existenz? Was aber nennt man Mensch? Wer zu diesen und anderen Fragen der gleichen Art Antworten sucht, also die Sorge des Menschen in die Sorge seines Denkens faßt, wird in seinem Denken über den Menschen noch immer ‚Politisches‘ denken, wie und wohin er auch seine Suche vorantreibt. Und er wird in seinem Denken auf die Antworten zugehen, die in religiöser, in mythischer Weise zu geben sind. Die Sorge des Menschen ist eine ‚politische‘ wie sie eine ‚religiöse‘ Sorge ist. Sie ist zu einem Ausdruck im Mythos offen wie sie zu einem Ausdruck in der politischen Theorie offen ist. Sie ist Stoff zum Erzählen und Stoff zur Wissenschaft. Auf den Spuren der Vorstellung von einem Paradies in der Politik stoßen wir denn auf Zeichen der Vorstellung auch im Zusammenhang von Untersuchungen, Aussagen, Darstellungen, in der sie augenscheinlich kein Thema ist. Und es wird von ihr selbst dabei auch nichts gesagt; Gedanken zu einer paradiesischen Form der politischen Existenz des Menschen werden nicht geäußert. Dennoch ist sie als Thema in einer ‚negativen‘ Weise präsent, wie wenn das Thema aufgeworfen und gleich wieder abgewiesen worden wäre, sodaß nur etwas wie die ‚Erinnerung an die andere Möglichkeit, die nicht möglich ist‘, bleibt.

122

Das Paradies in der Politik

Erinnern wir uns, und denken zurück an den Grund, aus dem heraus alle Überlegungen zu einem Paradies in der Politik beginnen: Mit ihrer Schöpfung fallen die Menschen in die Form ihrer Körper. Dies ist eine furchtbare Wahrheit. Oder differenzierend gesagt: Sie ist eine furchtbare Wahrheit, wenn man die Sorge des Menschen allein in ihrem Lichte liest. Dann wird man gewiß gewillt sein, sich vorzustellen, in das Leben überzuwechseln, das die hier wiedergegebene Erzählung verheißt. Um die Sorge des Menschen zu lesen, ist jene Wahrheit aber keineswegs die einzige Quelle an Licht. Erhellendes Licht scheint noch von sehr vielen anderen Quellen her, religiösen, mythischen, politischen, philosophischen, literarischen, künstlerischen. Im Scheine des Lichts, das aus diesen Quellen strömt, wird die Wahrheit zwar nicht milder, die aus dem Körper des Menschen spricht. Aber sie ist darin nicht diese Wahrheit, die so machtgebietend ist. Im Gegenteil: Sie wird von einer Architektur vieler anderer Wahrheiten, die dann ebenfalls sichtbar sind, eingefaßt und durch diese Architektur in ‚ihre‘ Stelle eines Wahrheits- oder besser: Sinnraumes eingepaßt. Auf diese Weise wird sie nicht nur erträglicher, sondern vor allem auch erklärt. Aus dem Gefüge des Sinnraums, dem sie angehört, folgt auch der Sinn dieser Wahrheit. Sie wird nur noch ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ bedeutsam sein, je nach dem Sinnraum, der sie umfaßt. Die Wahrheit der körperlichen Form, in welche die Menschen mit ihrer Schöpfung gefallen sind, kann denn überwältigen und bezwingen – wenn sie kosmologisch konsequent entfaltet und in solcher Entfaltung zum Weg menschlichen Denkens wird. Dann suchen Menschen ihr gegenüber ‚Befreiung‘, in der Verheißung eines Paradieses in der Politik. Und diese Befreiung wird durch ein ‚rein‘ politisches, von allen religiösen, mythischen Sinnräumen losgelöstes Denken ausgedacht, das in dem Maße, wie es die ihm zufallende kosmogonische Last auf sich nimmt, selbst zu einem religiösen Denken wird. In wenigen Momenten werden wir im Werk Rousseaus einem solchen Denken begegnen. Diese Wahrheit kann aber auch wie ‚verschwunden‘ erscheinen – wenn sie in einen Sinnraum so eingepaßt ist, daß sie dort ganz aufgefangen und zum Teil eines abgeschlossenen Deutungsbildes wird. Dann ist sie gewissermaßen ‚entschärft‘ und für die Menschen eine Aussage über ihre Existenz, die sie nur noch symbolisch trifft. Sie wissen, daß sie Körper und somit in der Macht ihrer Körper sind. Die Vorstellung von einem Paradies mit ihren Körpern, durch ihre Körper, in ihren Körpern könnte nur eine flüchtige Erinnerung sein. Sie wäre die ‚Erinnerung an die andere Möglichkeit, die nicht möglich ist‘. In der Form dieser ‚Erinnerung‘ wurde die Vorstellung von einem Paradies in der Politik auch in der Darstellung von Sinnräumen ausgespart, in denen es keine Stelle gibt, wo sie auftauchen könnte. Dennoch wird in den betref-



Das Paradies in der Politik123

fenden Darstellungen eine Stelle für sie ausgezeichnet. Dies geschieht in einem abgeschlossenen, konkreten Deutungsbild. In erklärendem Zusammenhang werden Wesen gezeichnet, von denen man sich vorstellt, daß sie von den Menschen ganz verschieden, diesen aber auch wieder sehr ähnlich seien: die ‚Engel‘. Und in der Deutung einer Existenz von ‚Engeln‘ wird jene paradiesische Vorstellung von einer ‚Herrschaft der Transparenz‘ ausgelegt, unter der man ‚keinerlei Geheimnisse mehr voreinander‘ hat, weil es für ‚niemanden mehr überhaupt noch irgendwelche Geheimnisse‘ gibt, und unter der ‚jeder Einzelne sich selbst nur in einem anderen versteht und liebt‘ und jeder weiß, daß ‚in allen Gestalten außer mir ich selbst mich wieder schaue‘ – wenn es nicht die Worte von Sartre und von Fichte wären, die hier angeführt wurden. Sie wurden schon zuvor zitiert – wir erinnern uns –, als Worte über das gemeinschaftliche Paradies der Menschen unter der Bedingung ihrer Körper. In seiner Schrift De vulgari eloquentia fand Dante die gleichen Worte für eine Gemeinschaft vieler in der einen Transparenz aller zu allen. Da spricht er von einer „ganz unmittelbaren und unaussprechlichen Genüge des Geistes, kraft deren einer dem anderen sich gänzlich eröffnet (promptissimam atque ineffabilem sufficientiam intellectus, que uel alter alteri totaliter innotescit per se)“.24 Für Sartre und Fichte, auf ein Paradies in der Politik hin denkend, handelte es sich um eine Qualität des menschlichen Geistes. Dante hingegen deutet sie nach der Sinnarchitektur der christlichen Religion. Und in dieser ist eine derartige „Eröffnung ihrer glorreichen Gedanken“ allein den Engeln reserviert. Menschen können sich eine ‚Herrschaft der Transparenz‘ sehr wohl vorstellen. Doch ist sie in dem Sinnraum, in dem sich Dante bewegt, schon längst besetzt. Sie ist Teil eines Deutungsbildes, das die Menschen vollendet betrifft, indem es sie gänzlich ausspart. Sie könnten ‚keinerlei Geheimnisse mehr voreinander haben‘ und ‚in allen Gestalten außer ihrer selbst sich selber wieder schauen‘ – wenn sie wie ‚Engel‘ keine Körper hätten. Doch sie haben Körper, sind keine ‚Engel‘. Ihre Körper hindern sie an einer paradiesischen Transparenz: „Auch durch geistige Schauung, nach Art eines Engels, gelingt es niemandem, in den andern einzudringen: da durch Dicke und Undurchsichtigkeit des sterblichen Körpers der menschliche Geist bedeckt wird (nec per spiritualem speculationem, ut angelum, alterum alterum introire contingit, cum grossitie atque opacitate mortalis corporis humanus spiritus sit obtentus).“25 Ein Denken über Menschen, das auf die Fragen der Menschen antworten will, öffnet sich gleichermaßen den Sinnräumen des religiösen und des politischen Denkens. Es spricht religiös ‚Politisches‘ aus und politisch ‚Religi24  De

vulgari eloquentia, I,2. I,3.

25  Ebd.,

124

Das Paradies in der Politik

öses‘. Dante zeichnete eine ‚Herrschaft der Transparenz‘ nach der Sinnarchitektur der christlichen Religion aus. ‚Engel‘ versinnbildlichen die ‚Erinnerung an die andere Möglichkeit, die nicht möglich ist‘. Sie stellen im Kontrast zu den Menschen die ‚Körperlosen‘ dar, die sich gegenseitig ganz durchdringen können, einander völlig durchsichtig sind. Und sie sind wieder die Figuren der Deutung, wie die ‚Herrschaft der Transparenz‘ an einer klassischen Stelle des politischen Denkens angesprochen wird. Es ist die Stelle in den Federalist Papers, an der James Madison im Prozeß eines politischen Denkens ein Denken über den Menschen vollführt: „But what is government itself but the greatest of all reflections on human nature?“26 Madison sieht jenes ‚Paradies‘, das in den Regierungen der Menschen negativ aufscheint. Jede Regierung symbolisiert die geschlossenen Tore, ist eine ‚Erinnerung an die andere Möglichkeit, die nicht möglich ist‘: „If men were angels, no government would be necessary.“ Wer sich mit der Einrichtung von Regierungen beschäftigt, muß wissen, daß diese unter den Menschen notwendig sind, und was für eine Art von Regierung deshalb nötig ist. Denn die Menschen sind keine ‚Engel‘. Wie sie sich regieren, müssen sie sich im Modus ihrer Körper regieren. Und diese sind weder durchsichtig, noch können sie sich gegenseitig durchdringen. Die Körper sind Masken und Hindernis, sie bringen Unkenntnis und Gefahr. Dagegen müssen die Menschen in der Form ihrer Regierungen Vorkehrungen treffen. Keine ihrer Regierungen hat die paradiesische Transparenz, die eine Regierung von ­ ­‚Engeln‘ hätte: „If angels were to govern men, neither external nor internal control on government would be necessary.“ Doch dies ist kein Grund, die Vorstellung von einem Paradies in der Politik zu verwerfen. James Madison zeigt, daß die ‚Engel‘ sehr wohl das Sinnbild einer Lehre sind. Es bezeichnet jene ‚Erinnerung an die andere Möglichkeit, die nicht möglich ist‘, aus welcher das Wissen der Menschen um den Sinn ihrer Regierungen kommt. Alles Regieren wird blind, wenn es die ‚Engel‘ nicht mehr sieht. Das Paradies ist Teil jeder Regierungslehre. Wer vor den verschlossenen Toren steht, allein der erreicht die Weisheit der Politischen Wissenschaft. Die Politik und das Paradies (II) Eine ‚Gemeinschaft der Herzen‘: Die Vision von Jean Jacques Rousseau Weisheit ist die Vernunftgestalt derer, die in ihrem Geiste gelassen sind. Sie stehen in einer Sinnarchitektur, die ihnen im schöpferischen Gestalten 26  Federalist

Papers, Nr. 51.



Das Paradies in der Politik125

ihrer Existenz gestaltende Orientierung gibt. Ihre Sorge – die Sorge des Menschen – lastet nicht auf ihnen allein. Sie ist über das ganze Gefüge eines Sinnraums verteilt, der sie birgt, wie Wanderer zu ihrer Existenz, die auf ihren Wanderungen bemerken, daß sie schon längst in der Welt ihrer Existenz unterwegs sind. Die Sorge erscheint nicht geringer, aber sie teilt sich nicht als die Not mit, die überwältigt und bezwingt. Sie erfordert ein Werk, von dem man schon weiß, wie es geht. So erdrückt die Sorge nicht, bedarf nicht menschheitlicher, kosmogonischer Anstrengungen. Vielmehr bietet sie sich an zur Übung, als Eingewöhnung in eine menschliche Haltung. Diese Haltung ist die Gelassenheit. Ein von Sinnräumen losgelöstes, sogenanntes ‚autonomes‘ Denken erfährt die Sorge hingegen in ihrer vollen kosmologischen Konsequenz. Es wird unter der Last, die es auf sich lädt, nicht lange verharren können. Jene verlangt nach göttlichen Kräften. Von Menschen als Menschen allein läßt sie sich nicht tragen. Die Sorge des Menschen, wenn er mit ihr allein ist, hält dieser nur mit der Vorstellung aus, daß Menschliches auch Übermensch­ liches, er wie ein Gott-Mensch fähig zu seiner eigenen Schöpfung sei. Er wird denn auf Befreiung von den Fesseln sinnen, in die ihn all die Welt legt, die nicht die seine ist. Und er wird sich mit selbst verzaubern und sein Denken paradiesisch machen.27 Und wenn dieses dann die Wahrheit der körperlichen Form, in welche die Menschen mit ihrer Schöpfung gefallen sind, berührt, wird es, wie er sich denkt, auferweckend wirken und in einer politischen Transfiguration den Menschen­körper für eine götterhafte Existenz aller in allen öffnen: Vollendung in wechselseitiger Interpenetration und gegenseitiger Transparenz.28 Dies ist das politische Paradies, für das Jean-Jacques Rousseau sein Werk und, durch dieses und mit diesem verknüpft, die para-messianische Figur von ‚Rousseau‘, dem in ihm sich den Menschen offenbarenden ‚wahren‘ Menschen, schuf.29 An der Geschichte vom Paradies in der Politik haben eine 27  „Der grösste Zauberer“, so schrieb Novalis zu romantischen Zeiten, „würde der seyn, der sich zugleich so bezaubern könnte, dass ihm seine Zaubereyen wie fremde, selbstmächtige Erscheinungen vorkämen. Könnte das nicht mit uns der Fall sein?“ (Novalis, Schriften, Bd. 2, Das philosophische Werk I, a. a. O., S. 612). 28  Das Programm von Habermas ist nicht viel anders. Vgl. z. B. die folgende Passage aus Technik und Wissenschaft als Ideologie (Frankfurt 1968, S. 164): „Freilich würde sich erst in einer emanzipierten Gesellschaft, die die Mündigkeit ihrer Glieder realisiert hätte, die Kommunikation zu dem herrschaftsfreien Dialog aller mit allen (meine Hervorhebung, T. S.) entfaltet haben, dem wir das Muster einer wechselseitig gebildeten Identität des Ich ebenso wie die Ide der wahren Übereinstimmung immer schon entlehnen.“ 29  Vgl. Lettre à Christophe de Beaumont, in: J.-J. Rousseau, Œuvres Complètes, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Bd. IV, Paris 1969 (im weiteren zitiert als: OC, IV), S. 928: „J’ai écrit sur divers sujets, mais toujours dans les mêmes principes, toujours

126

Das Paradies in der Politik

Reihe von Autoren geschrieben (und einige wurden ja schon genannt). Doch keiner hat sie besser erzählt – oder mehr durchlitten – als Rousseau. Alles ist exemplarisch gegeben und paradigmatisch gefaßt: der Blick für das Ditpychon; das doppelte Tableau der Schöpfung und das Drama der widersätzlichen Bildhälften; die ekstatische Inspiration; die Rituale und die Sprache der Initiierten; die Kosmologie in der Logik der Körper, mit denen das Böse geschichtlich ganz wahr und mit deren gesellschaftlicher apokatastasis das vollendet Gute wiedergefunden wird; der Glaube an die Wirklichkeit ändernde Macht der Verzauberung (gleich der ‚Verklärung‘ im klassischen theologischen Diskurs); die Geistesreisen zwischen selbstvergessenem Glück im Gefühl Gottes und der verfremdeten Existenz in einer entstellten Welt; die kosmogonischen Wanderungen im Medium der Imagination, aus der Todesstarre in Masken unter den Lebensbaum der Phantasie; die Stimme aus der ‚anderen‘ Schöpfung, anfeuernd, begeisternd, gebietend, kündend, verheißungsvoll. Rousseau, so hören wir es von ihm, kannte das „irdische Paradies“ (para­ dis terrestre). Nicht nur wohnte er zeitenweise darin. Er wußte auch, worin und wodurch es bestand. Es liegt im Lande der Menschen, im Garten Eden ihrer Gesellschaft, wenn jeder sich einem jeden in einer „Gemeinschaft der Herzen“ (société des coeurs) gänzlich öffnet und so alle in den Herzen aller sich vollkommen schauen. Im Menschenparadies von Rousseau erscheint die ‚andere‘ Schöpfung. Die Frage der Fragen: Warum?, Warum geschah die Welt?, Warum ereignete sich als Schöpfung die Geschichte, die das Gute und das Böse brachte?, sie wird von Rousseau gestellt. Und er gibt eine Antwort. „Ich habe diese schwierige Frage des Ursprungs des Bösen gelöst.“30 Auch im Menschenparadies von Rousseau gibt es einen Lebensbaum, das lignum vitae.31 Er wird von den Menschen selber gepflanzt, durch die Intimität ihrer Gemeinschaft. Wer davon ißt, ist paradiesischer Mensch. Doch wehe dem, der nicht davon essen will. Er schafft das Böse: „Le plus méchant des hommes est celui qui s’isole le plus, qui concentre le plus son coeur en luimême, le meilleur est celui que partage également ses affections à tous ses semblables.“32

la même morale, les mêmes maximes, et, si l’on veut, les mêmes opinions.“ – Les Confessions, in: Œuvres Complètes, Bd. I, Paris 1959 (im weiteren zitiert als OC, I), S. 3: „Das hier ist, naturgetreu und in seiner ganzen Wahrheit genau gezeichnet, das einzige Bild vom Menschen, das es gibt, und das es wahrscheinlich nicht noch einmal geben wird.“ 30  Emile (Manuscrit Favre), OC, IV, S. 225. 31  Vgl. Gen. 2,9; Ez. 31,3; 31,5-6; 31,8; 31,9; Dan. 4,12; 4,17; Ap. 2,7. 32  Lettre de J. J. Rousseau à Mr. d’Alembert sur le Théatre, in: J.-J. Rousseau, Citoyen de Genève, à Mr. d’Alembert, sur son Article Genève dans l’Encyclopédie et



Das Paradies in der Politik127

Rousseau nimmt die Sorge des Menschen losgelöst von der Sinnarchitektur seiner Kultur, dem Christentum, auf. Die Allegorien, mit denen die Bücher der philosophes im 18. Jahrhundert illustriert wurden, symbolisieren überaus deutlich die Abwendung Rousseaus von der christlichen Tradition, wie die der anderen Autoren aufklärerischer Schriften. Wenn in diesen Allegorien maskierte Bösewichter unschuldigen Schönheiten nachstellen, gehörnte Untiere gegen herkuleische Helden streiten, ungestalte Fabelwesen den nachtwachenden Philsophen beim Denken stören, so ist die ‚Aufklärung‘ in bildliche Szene gebracht. In krasser Schwarz-Weiß-Malerei zeigen die aufklärerischen Sinnbilder den verachtungsvollen Todesstoß, den der ‚aufgeklärte‘ Philosoph gegen das ‚abergläubische‘ Christentum führt. An diesem Modell, das die christliche Religion und rationales Denken unvermittelbar gegeneinandersetzt, haben Voltaire und d’Alembert, Rousseau und Diderot, Holbach und Helvétius ihre philosophie entwickelt. Man muß sehen, daß jene Spiritualität eines genuinen Christentums, wie es in der Patristik ausgebildet worden war, aus der ‚christlichen‘ Kultur des 18. Jahrhunderts so gut wie verschwunden war. Man beschäftigte sich statt dessen mit einer erstarrten theologischen Dogmatik. Und bei dieser handelte es sich nicht mehr darum, die biblische Offenbarung existentiell zu vermitteln. Vielmehr stellte sie ein von den Menschen abgehobenes Lehrgebäude doktrinaler Sätze dar. Als die theologische Fakultät der Sorbonne Rousseaus Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen verurteilte, folgte sie ihrem puren dogmatischen Reflex: Der Autor dieser Schrift habe den Lehrsatz von der Erbsünde der Menschen geleugnet. Doch die leugnende Tat Rousseaus war eine ganz andere. Er hatte in Konkurrenz zum Christentum eine andere ‚Religion‘ ausformuliert – die Lehre vom paragöttlichen Menschen. Die philosophes sahen keinen Anlaß, das doktrinär verformte Christentum aus seinem Zustand zu befreien. Waren es doch die Theologen und kirch­ lichen Würdenträger selbst, die ihn überall und fortwährend für überaus echt erklärten. Jeder kritische Geist mußte hier dazu verlockt sein, die geistige Korruption zu geißeln und ihrer Verkommenheit zu überführen. So kann sich Diderot in seinen Pensées Philosophiques die Rolle eines Revisors zulegen, der einen völligen Bankrott aufspürt. Wo Voltaire in seinem Dictionnaire philosophique zum Christentum noch etwas einfällt, läßt er die Gelegenheit nicht verstreichen, um das Opfer noch einmal gründlich und mitleidlos mit Sarkasmen zu überschütten. Über Pascal sprechen Voltaire und Diderot, bloß weil er als ‚christlicher‘ Denker ein Dorn in ihren aufklärerischen Augen ist, le projet d’établir un théatre de comédie en cette ville, Amsterdam 1759 (Œuvres de J.-J. Rousseau, Bd. III), S. 177.

128

Das Paradies in der Politik

das Verdikt aus, ein „Misanthrop“33, eine „unnütze Existenz“34 gewesen zu sein. Einige Sätze aus Rousseaus Lettre à Christophe de Beaumont genügen, um zu dokumentieren, wie leicht auch für ihn die vernichtende Kritik dessen ist, was er Christianisme moderne nennt: „Man fragt einen Christen nicht mehr, ob er Gott fürchtet, sondern ob er rechtgläubig ist.“ – „Die Kirche entscheidet, daß die Kirche das Recht hat, zu entscheiden.“ – „Diejenigen, die ein Geschäft daraus machen, das Paradies zu verkaufen, nehmen für ihre Ware Kredit auf, so oft sie es können.“ – „Eine der Bequemlichkeiten des modernen Christentums besteht darin, sich einen gewissen Jargon sinnloser Wörter zurechtgelegt zu haben, mit denen man allem genügt, nur nicht der Vernunft.“35 Rousseaus Werk, wird es an seinem Anspruch gemessen, macht die christliche Religion (wie jede andere jenseits des Menschen begründete Religion) überflüssig. Es entwirft eine Heilsgeschichte, die – wie die christliche – zwischen dem Menschen im Paradies, seinem Sündenfall und seiner Erlösung spielt. Es erzählt eine moderne Heilsgeschichte, die eine absolut menschliche Geschichte ist. Sie ereignet sich am Menschen, durch den Menschen, im Menschen allein. Dieser ist schöpferischer Modus seiner Welt. Wie er ist, so sind für ihn die Dinge. Es gibt keine andere Geschichte als diese, die der Mensch für sich selber schreibt. Geschichte geschieht, weil sich das Ereignis ‚Mensch‘ vollzieht. Der Mensch muß als Mensch geschehen, um in die Fülle einzutreten, die er ist. In der Heilsgeschichte, die von seiner ursprünglich paradiesischen Existenz ausgeht, zu seiner Vertreibung aus dieser und seinem völligen Verfall führt, und mit seinem Eintritt in ein neues Paradies endet, legt sich der Mensch historisch aus und offenbart sich ganz seiner selbst. Er selber ist die Erfüllung, der Sinn seiner Geschichte. Das Werk Rousseaus ist das Dokument dieser Offenbarung. In Rousseau sieht der Mensch sein ganzes Antlitz. All die Sorge des Menschen ist darin gefaßt. Das Antlitz ist die Antwort, die der Mensch sucht. Es gibt keine Fragen mehr. Nur noch den Menschen, in Verzauberung über sich selbst. In die Vision der para-messianischen Figur von ‚Rousseau‘, dem „Modell für das Studium des Menschen“36, trat Jean-Jacques Rousseau an einem Oktobertag des Jahres 1749 ein.37 Er befand sich zu Fuß auf dem Weg nach 33  Voltaire, Lettres Anglaises, 25. Brief, Paris 1964, S. 151 (= Libertés, J. J. Pauvert).

Mémoires pour Cathérine II, Paris 1966, S. 98 (= Classiques Garnier). à Christophe de Beaumont, OC, IV, S. 620, S. 948, S. 974, S. 1023 f. 36  Les Confessions, OC, I, S. 3. – Vgl. auch Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 765, S. 829. 37  Vgl. zum folgenden: Les Confessions, OC, I, S. 351, Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 828, Lettre à M. de Malesherbes (12. Jan. 1762), OC, S. 1135 f.; Lettre à Christophe de Beaumont, OC, IV, S. 927. 34  Diderot, 35  Lettre



Das Paradies in der Politik129

Vincennes (nahe Paris), um Diderot, der im dortigen Schloß inhaftiert war, zu besuchen. Im Gehen las er im Mercure de France. Er stieß dabei auf die Preisfrage, welche die Akademie von Dijon für dieses Jahr ausgeschrieben hatte: ‚Hat der Fortschritt der Künste und Wissenschaften mehr dazu beigetragen, die Sitten zu verderben oder zu verbessern?‘. Und er wurde bei der Lektüre dieser Frage von einer Illumination erfaßt.38 „In dem Augenblick, wie ich diese Worte las“, so beschrieb es Rousseau in den Confessions später, „schaute ich eine andere Welt und wurde ich ein anderer Mensch.“ In Rousseau wurde ‚Rousseau‘, der die Menschen zu sich selbst erlösende Mensch unter den Menschen geboren. Als er in einem seiner vier Briefe an Malesherbes „die wahren Motive meines ganzen Verhaltens darstellte“, deutete Rousseau die Illumination ausführlich. Es war, so sagt er, eine „plötz­ liche Eingebung, ich fühlte den Geist wie von tausend Lichtern geblendet, Haufen von lebendigen Ideen zeigten sich dort alle auf einmal, Mengen von großen Wahrheiten erleuchteten mich während einer Viertelstunde.“ Von der Macht seiner Visionen ergriffen, erfuhr Rousseau einen Widerspruch, wie er größer nicht sein konnte. Auf der einen Seite sah er im Menschen das edelste aller Wesen, das „fühlen kann, was Ordnung, Schönheit, und Tugend sind“; den Menschen, der es „nicht lächerlich findet, zu denken, daß alles für ihn gemacht ist, und er selbst bewunderungswürdig ist, als Ruhm und als König der Erde, die er bewohnt.“39 Andererseits erblickte Rousseau auch dies: „Welches Schauspiel! Wo ist die Ordnung, die ich geschaut habe? Das Bild der Natur bot mir nur Harmonie und Ebenmaß, das des menschlichen Geschlechts bietet mir Zerfahrenheit, Unordnung! Zwischen den Elementen herrscht Einklang und die Menschen sind im Chaos! Die Tiere sind glücklich, allein ihr König ist im Elend!“40 Die Illumination öffnete Rousseaus Augen für den Blick auf eine „schockierende Dissonanz in der universalen Harmonie“.41 Am Maß der „idealen und zauberhaften Welt“ gemessen, welche er mit der Illumination betrat, konnte die Welt, in der Rousseau lebte, nur als eine verfallene, ja eine böse erscheinen. Doch mit der Illumination war in Rousseau auch der „neue Mensch“ erstanden. Dessen Geburt ist Rousseaus messianischer Impuls. Rousseau weiß, daß er den Zerfall der Welt aufheben wird.42 38  Zum hier gebrauchten Begriff ‚Illumination‘ vgl. das Fragment Fiction ou Morceau Allégorique sur la Révélation, OC, IV, S. 1044 ff. 39  Vgl. Fragments Divers, Œuvres Complètes, Bd. II, Paris 1961 (im weiteren zitiert als: OC, II), S. 1323; Emile, OC, IV, S. 582. 40  Emile, OC, IV, S. 583. 41  Ebd., S.  589 f. 42  Vgl. ebd., sowie Lettres Morales, OC, IV, S. 1084: „Je me crois envoyé du Ciel pour perfectionner son plus digne ouvrage …“.

130

Das Paradies in der Politik

Die ‚ideale Welt‘, so erkennt er, ist in ihr Gegenteil verkehrt. Wo dem „Bösen alles glückt und der Gerechte unterdrückt bleibt“, da kann sich keine „Gesellschaft von zuverlässigen, zärtlichen und treuen Freunden“ bilden. Rousseau macht, wie von dieser überwältigt, die Entdeckung: „Ich sehe das Böse auf der Welt.“43 Doch er hat den Weg des Heils gesehen, in der Illumination. „Oh Monsieur“, fuhr er denn fort, Malesherbes die Illumination von Vincennes zu schildern, „wenn ich jemals das Viertel dessen hätte niederschreiben können, was ich … sah und fühlte, mit welcher Klarheit hätte ich alle Widersprüche des Gesellschaftssystems sichtbar gemacht, mit welcher Kraft hätte ich allen Mißbrauch unserer Institutionen dargelegt, mit welcher Einfachheit hätte ich gezeigt, daß der Mensch von Natur aus gut ist und daß ausschließlich durch diese Institutionen die Menschen böse werden.“44 Der Weg des Heils liegt in der Verwandlung der menschlichen Gesellschaft. Die Erlösung ist politisch. Rousseau beginnt sein messianisches Werk, in der Form seines politischen Denkens. Und er bringt seine eigene Existenz in das Werk der Erlösung ein. Die Welt ist zerrissen und in Rousseaus Bewußtsein geht der Riß zuallererst durch seine Existenz. Er, Rousseau, ist das Subjekt der ‚schockierenden Dissonanz in der universalen Harmonie‘. Sie ist das Leiden seines Lebens, das er – nach seiner Vision in der Illumination – nun in zwei Hälften zerschnitten sieht, die so ungleich sind, daß er sie wie die getrennten Leben zweier ganz verschiedener Personen betrachtet.45 Aus dem Werk Rousseaus sprechen zwei: Ein „erster“ (premier) und ein „zweiter“ (second) Rousseau. Der erste Rousseau, so ist in den Dialogues zu lesen, war ein „friedfertiger und sanftmütiger Mensch“. Sein Leben erfüllte sich in der Intimität (intimité) innigster Freundschaft. In einer Gesellschaft von Freunden konnte sein Herz, für die Anhänglichkeit geschaffen, sich ohne Vorbehalt hingeben (son coeur fait pour s’attacher se donnoit sans reserve). Der zweite Rousseau hingegen kennt statt dem vollkommenen Einssein mit anderen in Freundschaft nur noch den trennenden Haß auf die Menschen (haine pour le genre humain). Er ist zu einem „hartherzigen, ungeselligen und düsteren Menschen“ geworden, der sich darin übt, die Welt zu verachten und zu fliehen.46 Während der erste Rousseau in einem himmlischen Paradiese weilte, jener „Gesellschaft 43  Emile, OC, IV, S. 589 f.; Ecrits sur l’Abbé de Saint-Pierre (Projet de Paix Perpétuelle), Œuvres Complètes, Bd. III, Paris 1964 (im weiteren zitiert als OC, III), S. 583. 44  Lettre à M. de Malesherbes (12. Jan. 1762), OC, I, S. 1135 f. 45  Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 676. 46  Ebd.



Das Paradies in der Politik131

der Herzen“ (société des coeurs)47, die aus der allseitigen Hingabe aller Herzen zueinander erwuchs, umfängt den zweiten Rousseau die Verdammnis, in die er gefallen ist, die „Hölle in den Herzen der Bösen“.48 Rousseau widmete der Stadt Genf seine Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Im Widmungstext zeichnete er einen Staat von Menschen nach dem Bilde der société des coeurs. Und er beschreibt dabei das von ihm idealisierte Genf, „einen Staat, wo alle einzelnen sich untereinander kennen, weder die obskuren Ränke des Lasters noch die Bescheidenheit der Tugend sich den Blicken und dem Urteil der Öffentlichkeit entziehen können, und wo diese angenehme Gewohnheit, sich zu schauen und sich zu kennen, aus der Vaterlandsliebe viel mehr eine Liebe der Bürger zueinander als eine Liebe zu irdischen Gütern gemacht hat.“49 Doch dieses „glückliche Vaterland“ sieht Rousseau gefährdet.50 Sein Glück stammt zwar von alters her. Aber es muß noch bewußt und damit erst wirklich beständig gemacht werden. Der eine Genfer, der um die Gründe des Glückes seines Vaterlandes weiß, der selbst durchdrungen ist, „von einer zärtlichen und uneigennützigen Zuneigung zu meinen fernen Mitbürgern“51, widmet Genf „aus dem Grunde meines Herzens“ seine Abhandlung und schickt ihr die Ermahnung voraus: „Möge eine Republik, die so weise und so glücklich beschaffen ist, immer währen, für das Glück ihrer Bürger und als Beispiel der Völker. Das ist der einzige Wunsch, den man Euch noch entgegenbringen kann, und die einzige Sorge, um die ihr Euch noch zu kümmern habt. An Euch liegt es nun, nicht Euer Glück zu machen, Eure Ahnen haben Euch von dieser Mühe befreit, aber dieses Glück durch einen weisen Gebrauch dauerhaft zu machen. Von Eurer ständigen Einheit, Eurem Gehorsam gegenüber den Gesetzen, Eurer Achtung gegenüber Euren Ministern, davon hängt Eure Zukunft ab. Wenn unter Euch der kleinste Keim von Bitterkeit oder Miß­ trauen bleibt, säumt nicht, ihn wie einen unheilvollen Bazillus, von dem frü­ her oder später Euer Elend und der Ruin des Staates ausgehen würden, zu zerstören: Ich beschwöre Euch, alle in den Grund Eurer Herzen einzukehren und die geheime Stimme Eures Gewissens um Rat anzugehen.“52 Die Bürger von Genf sollten unter sich nicht die öffentlichen Eigenschaften völliger Transparenz und vollkommener Intimität verlieren, die für Rousseau der Sinn jeder menschlichen Gesellschaft sind. Das wahre Leben der Menschen liegt in dem „irdischen Paradies“ (paradis terrestre), das Rousseau in seinen Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 820. OC, IV, S. 592. 49  2. Discours, OC, III, S. 112. 50  Ebd., S. 115. 51  Ebd. 52  2. Discours, OC, III, S. 116. – Die Kursivierungen sind vom Verf. (T. S.). 47  Rousseau, 48  Emile,

132

Das Paradies in der Politik

Schriften immer wieder gleich beschreibt: Menschen sind in Gemeinschaft miteinander so eins, daß sie wie Götter gegenseitig ihre Herzen lesen können.53 Dies ist das Paradies, in welchem die Menschen weilten, wären sie wirkliche Menschen, und über das Rousseau – als ‚Rousseau‘, einzig ‚wahrer‘ Mensch unter den Menschen, sprechend – sagt, daß er selbst noch dort gewesen wäre, in den Tagen seiner Kindheit. Jedoch: Das Paradies des „ersten Menschen“ ist längst entschwunden. Die Menschen sind den Weg ihrer Verderbnis gegangen und haben das Böse hervorgebracht. Nichts an paradiesischer Unschuld überlebt in dieser Welt. Die ‚Hölle in den Herzen der Bösen‘ legt sich noch über das reinste Herz und reißt es aus dem Paradies seiner grenzenlosen Hingabe an die Innigkeit vollkommener Gemeinschaft. „Wider meinen Willen in die Welt geworfen“54, sieht sich Rousseau gefangen in einer gefallenen Menschheit. Auch er hat das Paradies verloren und ist wie alle anderen Menschen von sich selbst entfremdet. Er trägt in sich das ‚Paradies‘, die Bestimmung menschlicher Existenz, und bleibt doch daraus vertrieben durch das ‚Böse‘, inmitten all der anderen, einander verfremdeten, sich voreinander verbergenden Menschen. Der Riß in der Schöpfung geht mitten durch Rousseaus Existenz. Er durchzieht dessen Herz. Dieses, dafür ‚geschaffen, sich vorbehaltslos hinzugeben‘, müßte die Fülle der Menschheit sein, sie umschließen. Doch die Menschen, die Rousseau in seinem Herzen spürt, sind ihm völlig fremd. Die Welt ist verkehrt. Rousseaus Herz ist „zerrissen“: coeur déchiré.55 Rousseau aber gibt die société des coeurs, auch wenn die des ‚ersten Menschen‘ unwiderruflich verloren ist, keineswegs auf. Jenes ‚Paradies‘, welches sich damals wie von selbst ergab, das wird jetzt, in der Welt des Bösen, erst wirklich bewußt. Und im ‚zweiten Rousseau‘ ist der ‚erste Rousseau‘ auch nicht gänzlich verloren. Denn die Natur von dessen Existenz, sein in Hingabe sich erfüllendes Herz, ist erhalten geblieben, wenngleich als ein zerris­ senes Herz. In seinem ‚Herzen‘ barg sich für Rousseau, wider allen Zerfall, das Element, in dem die Einheit menschlicher Existenz aufbewahrt blieb – zu ihrer Wiedergewinnung. Und er erfährt dieses Element als imperativ: Das ‚Herz‘ treibt den ‚zweiten Rousseau‘ dazu an, auf Wege und Weisen zu sinnen, welche die Menschen wieder zu einer Gesellschaft in ‚Innigkeit‘ (inti­ mité) verschmelzen lassen. „… ich fing an, mein Jahrhundert und meine 53  Les Confessions, OC, I, S. 9 ff., S. 20 f., S. 521; Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 679 f., S. 905, Les rêveries du promeneur solitaire, 8. Promenade, OC, I, S. 1083. 54  Les Confessions, OC, I, S. 368. Vgl. auch Les rêveries du promeneur solitaire, 3. Promenade, OC, I, S. 1012: „Jetté dès mon enfance dans le tourbillon du monde …“. 55  Vgl. Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 826; Lettre à M. de Malesherbes (18. Jan. 1762), OC, I, S. 1144.



Das Paradies in der Politik133

Zeitgenossen zu verachten, und spürte, daß ich wohl kaum unter ihnen einen Zustand fände, der mein Herz zufriedenstellen könnte; ich band es nach und nach von der menschlichen Gesellschaft los und schuf mir eine andere in meiner Imagination.“56 Wider seinen Willen in die Welt geworfen, wurde Rousseau von der Welt wieder frei, wie er sein ‚Herz‘ von ihr löste und mit diesem auf Geistesreisen ging. Und es führte ihn in die ‚andere‘ Schöpfung. An der Hand seines ‚Herzens‘ fand Jean-Jacques Rousseau sein „Modell“.57 In seinem Geist, in der Phantasie, die sein Herz in ihm entzündet hatte, erblickte er die gesuchte Welt allmenschlicher Versöhnung. Der Seher einer „idealen Welt“58 reihte sich in die Tradition der Inspirierten ein.59 Er trug ein Werk menschheitlicher Offenbarung zu der Kultur jenes Wissens bei, das sich aus dem Blick für das Diptychon erklärt, und für das es, wie er selber sagt, diesem „eigentümliche Zeichen“ gebe, über welche sich die „Initiierten gegenseitig erkennen“.60 Rousseaus Rede vom coeur bestätigt ihn deutlich, wenn man dieses Sprachsymbol mit ähnlichen Symbolen aus den Traditionen des neuplatonischen und des theosophischen Denkens vergleicht. In seiner Aurora schrieb Jacob Böhme: „Ich bin auch nicht in Himmel gestiegen, sondern derselbe Himmel ist in meinem Geiste offenbaret, daß ich im Geiste erkenne die Wercke und Geschöpfe Gottes: auch so ist der Wille dazu nicht mein natürlicher Wille, sondern es ist des Geistes Trieb.“61 Rousseau sagt dasselbe in seinem Fragment Sur Dieu: „Notwendigerweise folgt aus seiner unendlichen Kraft, daß sich diese auf uns ausdehnen muß, und wenn sie sich auf uns gleichsam wie die Quelle aller Weisheit ausdehnt, will er, daß wir uns gemäß der Prinzipien der Weisheit verhalten, die er in unseren Geist eingesetzt hat; er hat uns also dazu zwingen und uns in die Notwendigkeit versetzen können, der Ordnung unserer Ratschlüsse zu folgen, welche die Grundlage der 56  Lettre

à M. de Malesherbes (12. Jan. 1762), OC, I, S. 1135. Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, 936. – Vgl. auch: Lettre à M. de Malesherbes (4. Jan. 1762), OC, I, S. 1132: „On suit son coeur et tout est fait.“ 58  Vgl. Les Confessions, OC, I, S. 427 f.; Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S.  668 f. 59  Vgl. zu dieser Tradition im 18. Jahrhundert: A. Viatte, Les sources occultes du romantisme, illuminisme, théosophie (1770–1820), 2. Bde., Paris 1927, 19652, F. R. Dumas, Les magiciens de Dieu. Les grands Illuminés des 18e et 19e siècles, Paris 1970; A. Faivre, Kirchberger et l’illuminisme du 18e siècle, Den Haag 1966. 60  Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 672. – Vgl. auch ebd., S. 668: „Car tout ce que je vous dirai ne sauroit être entendu que par ceux à qui l’on n’a pas besoin de le dire.“, und: Lettre à Christophe de Beaumont, OC, IV, S. 1028: „Pour entendre le langage des inspirés il faudroit être inspiré soi-même.“ 61  J. Böhme, Aurora oder Morgenröthe im Aufgang, Stuttgart 1955, § 95 (= Nachdruck der Ausgabe von 1612). 57  Vgl.

134

Das Paradies in der Politik

Tugend und der Religion sind.“62 Der „Geist des Menschen“, so führt Böhme in der Aurora aus, sei „nicht allein aus den Sternen und Elementen herkommen, sondern es ist auch ein Funcke aus dem Lichte und Kraft Gottes darinnen verborgen“.63 Dieser Funcke ist Rousseaus ‚Herz‘ (coeur), das gleichfalls mit der scintilla animae (Eckharts „Seelenfünklein“) im mystisch-neuplatonischen Symbolismus verglichen werden kann.64 Die Übereinstimmung zeigt sich klar, wenn man all die anderen Sprachsymbole zusammenstellt, die Rousseau in seinem Werk stellvertretend für das Symbol coeur gebraucht: „Funke von Genie“ (étincelle de génie), „inneres, intimes, eingeborenes Gefühl“ (sentiment intérieur, interne, intime, inné), „Funke dieses himmlischen, göttlichen Feuers“ (étincelle de ce feu céleste, divin), „himmlische, innere Stimme“ (voix céleste, intérieure), „göttliches Modell“ (divin modèle), „Stimme des Gewissens“ (voix de la conscience), „Instinkt der Natur“ (in­ stinct de la nature), „Keim der Güte“ (germe de bonté), „göttlicher Instinkt“ (instinct divin), „erhabene Emanation der ewigen Substanz“ (sublime émana­ tion de la substance éternelle).65 Die Stimme, die das Paradies verheißt – hier ist sie, unüberhörbar. Welche Wahrheit auch übermittelt sie dem, der sie hört! Welche Gewißheit, welche Zuversicht! Sie dringe, sagt Rousseau, bis in die geheimnisvollsten Schichten unseres Herzens und bringe in diesen, gegen die in die Wirre gehenden Neigungen und eigensüchtigen Absichten des Herzens, die noch geheimere 62  Fragments

sur Dieu et sur la révélation, OC, IV, S. 1034. § 96. 64  Die Studien Endre von Ivánkas zur Entstehung der scintilla animae-Doktrin haben gezeigt, daß diese nicht allein neuplatonischen Ursprungs ist, sondern auch auf Elemente der stoischen Psychologie zurückgeht, in der die Seele als Funken (apó­ spasma) des kosmischen Urfeuers (pyr technikón) interpretiert wird. Erst im Medium neuplatonischer Spekulation wird dieser Funken nicht mehr nur als Partikel des göttlichen Weltgrundes verstanden, der sich in den Kosmos, diesen gestaltend, ausgebreitet hat, sondern als ‚Seelengrund‘ aufgefaßt, der vom Weltgrund abgespalten und so, als ein exilierter Teil desselben, auf diesen seinen Ursprung hin gespannt ist. Genau jene Autoren, welche diese stoische Psychologie ausarbeiteten, wie jene, welche sie in Verbindung mit dem Neuplatonismus zur scintilla animae-Doktrin ausformten, hat Rousseau bestens gekannt: Cicero, Diogenes Laertius, Macrobius, Boethius, Origenes und Plutarch. Vgl. E. von Ivánka, Apex mentis, in: W. Beierwaltes (Hg.), Platonismus in der Philosophie des Mittelalters Darmstadt 1969; M. Richebourg, Essai sur les lectures de Rousseau, Genf 1934. – Zur Präsenz Platons in Rousseaus Denken vgl. C. W. Hendel, Jean-Jacques Rousseau moralist, Oxford 1934; P. Burgelin, La philosophie de l’existence de J.-J. Rousseau, Paris 1952. 65  Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 671, 687 f., 829, 864, 972; La Nouvelle Héloïse (II, 17), OC, II, S. 255; Discours sur l’économie politique, OC, III, S. 248 f.; Fragments Politiques, OC, III, S. 507; OC, IV, S. 222, 1048, 1102, 1104, 1111 f., 1138 f. – Vgl. auch: Novalis, Das philosophische Werk I, a. a. O., S. 548: „Gotteskinder, göttliche Keime sind wir.“ 63  Aurora,



Das Paradies in der Politik135

Weisung zu Gehör, allein ihr zu folgen, der „unfehlbaren Richterin über das Gute und das Böse“, und leite uns so, durchaus wider uns selbst, auf den Weg der Wahrheit. Sie führe uns aus dem „Labyrinth unseres Irrens“ und mache uns den „Göttern gleich“.66 „N’avez-vous jamais éprouvé“, so schreibt er, „ces transports involontaires qui saisissent quelquefois une âme sensible à la contemplation du beau moral et de l’ordre intellectuel des choses, cette ardeur dévorante qui vient tout à coup embraser le coeur de l’amour des célestes vertus, ces sublimes égarements qui nous élèvent au-dessus de notre être et nous portent dans l’empyrée à côté de Dieu même?“67 Rousseau vernahm die Botschaft der Stimme schon vor der Illumination auf dem Weg nach Vincennes. Nach der Illumination verstand er die Botschaft ganz. Worin er sich in der Viertelstunde seiner Vision befunden hatte, dies war kein Traum. Es war die Wirklichkeit! Die bloß menschliche, vor allem philosophische Weisheit hatte ihn, wie er es im 8. Buch der Confes­ sions und im 2. Dialogue schildert,68 nie irgendwohin anders als in ein „Chaos“ seiner Gefühle und seines Denkens versetzt. Und nun hatte er dieses Chaos weit hinter sich gelassen, auf seiner Geistesreise in ein „anderes Universum“, in ein „wahrhaft goldenes Zeitalter“, in eine „Gesellschaft einfacher, weiser und glücklicher Menschen“. Hier sah er Szenen der Wahrheit, und diese erfüllten ihn so sehr, daß er allein noch darauf sann, „alle seine Visionen zu verwirklichen“. Sein ‚Herz‘ begann ihm eine „würdige Sprache“ zu diktieren, zum Staunen ganz Europas. „Vulgäre Seelen“, so meinte er, erlägen schlicht seiner Eloquenz. Die anderen aber, die wie er im Lande der Erleuchteten wohnten, würden in ihm mit Freude einen der Ihren erkennen. Denn ein „Funke dieses göttlichen Feuers“, so schreibt er später, hatte sich in ihm entzündet. Und dieser erweckte ihn zu einem „neuen Leben“.69 Von den „lebhaften Aufwallungen“, die sich von nun an in seinem Herzen zutrugen, so bekennt er, gingen „Funken von Genie“ aus, die „während zehn Jahren des Deliriums und des Fiebers in seinen Schriften glänzten“.70 So geschah auf dem Weg nach Vincennes nicht nur Rousseaus Erleuchtung, sondern zugleich auch seine Auferstehung in die wahre Welt des Menschen, das wiedergefundene ‚Paradies‘. Indem eine „verzehrende Glut“ und 66  Lettre à M. de Franquières, OC, IV, S. 1138, S. 1111 f. – Vgl. auch Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 829; La Nouvelle Héloïse (II, 17), OC, II, S. 255; OC, IV, S. 1104, S. 1145. 67  J. J. Rousseau, Corréspondance Générale, hg. Th. Dufour, Paris 1924–1934, Bd. III, 1925, S. 360. 68  Vgl. auch: La Nouvelle Héloïse (I, 18), OC, II, S. 78; Mémoire présenté à Monsieur de Mably sur l’éducation de M. son fils, OC, IV, S. 19, S. 1099. 69  Fragments sur Dieu et la révélation, OC, IV, S. 1048. 70  Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 829. – Vgl. die parallelen Aussagen von J. Böhme, Aurora, §§ 11–17.

136

Das Paradies in der Politik

„erhabene Verzückungen“ sein Herz ergriffen, wurde er über sich selbst hinausgetragen und in die Wohnung der Seligen geführt, in das „Empyreum an der Seite Gottes selbst“.71 Sein Leiden an dem so bösen Widerspruch, für die Intimität, die wahre Anhänglichkeit einer société des coeurs geboren und gleichzeitig der Unmöglichkeit ausgesetzt zu sein, auf ihm verwandte Seelen – also ‚wirkliche‘ Menschen – zu treffen (l’impossibilité d’atteindre aux êtres réels), fand ein Ende, wann immer er sich imaginär in der Gesellschaft von Wesen befand, die den Sehnsüchten seines Herzens entsprachen. So mußte er den ‚göttlichen Funken‘ seines ‚Herzens‘ glühend halten und aus einem „Kult des Herzens“72 den Kult seines Lebens machen. Denn jede Geistesreise, auf die er ging, wenn in ihm der ‚Funke‘ aufglühte, brachte ihm die Erfahrung einer existentiellen Vollendung. Nur „im Empyreum unter bezaubernden und fast engelhaften Wesen“ war er wieder er selbst, hingebungsvoll aufgehoben in einer Gemeinschaft anderer, die sich ebenso hingaben wie er. „Indem ich völlig das menschliche Geschlecht vergaß, schuf ich mir Gesellschaften von Geschöpfen, die wegen ihrer Tugend und wegen ihrer Schönheit ebenso vollkommen wie himmlisch waren, Gesellschaften von zuverlässigen, zärtlichen und treuen Freunden, so wie ich sie hier auf der Erde niemals fand. Ich bekam einen solchen Geschmack daran, in dem Empyreum inmitten bezaubernder Wesen zu schweben, daß ich dort die Stunden, die Tage verbrachte, ohne zu zählen.“73 „Und indem ich diese schönen Tage mit all den Szenen meines Lebens, die mir angenehme Erinnerungen zurückgelassen hatten, sowie mit all jenen Szenen erfüllte, die mein Herz noch ersehnen konnte, wurde ich bis zu den Tränen von den wahren Freuden der Mensch71  Lettres

Morales, OC, IV, S. 1101. wesentliche Kult ist jener des Herzens“, bekennt im Emile der savoyardische Vikar, Rousseaus personfizierter ‚Glaube‘ (Emile, OC, IV, S. 627). – Alle modellartige Entwürfe, die Rousseau entwickelte, sei es im Bereich der Gesellschaft (Contrat Social), sei es in dem der Geschichte (1. und 2. Discours), dem der Erziehung (Emile), oder dem der dramatischen Kunst (Lettre sur les spectacle), bauen auf dem Kult des Herzens auf. Selbst seinen Auftragsarbeiten, die weniger spekulativ als empirisch ausgeführt werden mußten, wie die Considérations sur le Gouvernement de Pologne und der Projet de Constitution pour la Corse, diente der Kult als theoretische Grundlage. Obwohl er an diese beiden Arbeiten mit einem ausgeprägt pragmatischen Sinn heranging und dafür einen beachtlichen Aufwand an empirischen Forschungen betrieb, ordnet er auch hier letztlich alles dem Prinzip des ‚Herzen‘ zu. Rousseau will die Korsen allein zu den Gesetzen der Natur hinführen, die „dem Herzen befehlen und nicht den Willen tyrannisieren.“ (Projet de Constitution pour la Corse, OC, III, S. 950). Die Überlegungen zur polnischen Regierungsform leitet er ein, indem er feststellt: „Es wird niemals eine andere gute und dauerhafte Verfassung geben als jene, bei der das Gesetz über die Herzen der Bürger regiert.“ (Considérations sur le Gouvernement de Pologne, OC, III, S. 955. Vgl. auch ebd., OC, III, S. 959, S. 961, S. 965). 73  Les Confessions, OC, I, S. 427 f. 72  „Der



Das Paradies in der Politik137

heit gerührt, Freuden, so köstlich und so rein, und zur Stunde so weit weg von den Menschen.“74 Aber jedesmal, wenn er aus seiner „zauberhaften Welt“, aus der „anderen Welt“, der „idealen Welt“, der „neuen Welt“ dem „anderen Universum“75 zu den Menschen, die ihn umgaben, zurückkehrte, sah Rousseau das Böse. Die Menschen lebten in der Unordnung, im Verfall; ihre gesellschaftlichen Institutionen bestünden, so schrieb er im Emile, nur aus Irrsinn und Widerspruch.76 Dennoch: Das Böse, das Rousseau überall sieht, hat seinen Ursprung nicht im Menschen. Der ‚göttliche Funke‘, welcher jeden Menschen zur ewigen und guten, zu Himmelsfeuer aufglühenden Substanz seines ‚Herzens‘ beseelt, macht die Natur des Menschen – eben sein Herz – inkorruptibel. Die „Unordnung“ rührt nicht von der „Konstitution der Menschen“ her, sagt denn Rousseau ganz kategorisch.77 Sie entspringe vielmehr einem „geheimnisvollen Gegensatz zwischen der Beschaffenheit des Menschen und der unserer Gesellschaften“.78 Das Böse ist geschichtlich. Und es ist vor allem politisch. Alles, so erklärt Rousseau, sei aus den Händen des Schöpfers gut hervorgegangen, unter den Händen der Menschen aber sei es dann entartet.79 Jene haben gefehlt, sie haben etwas grundsätzlich falsch gemacht. Dies ist die „Einrichtung der Gesellschaft“.80 Das Böse rührt aus einer ‚bösen‘ Politik. Es kommt von dem ‚Sündenfall‘ der Menschen in die gesellschaftliche Geschichte ihrer Existenz. Wer denn zu einer Vorstellung des wahren Lebens der Menschen vordringen wolle, dürfe sich nicht, so sagt Rousseau, auf das Selbstverständnis beziehen, das sich die Menschen im Laufe ihrer gesellschaftlichen Existenz angeeignet hätten. Denn einmal gefallen, habe sich der Mensch so von seinem natürlichen Zustand (état de nature) entfernt, daß er sich an eine zweite Natur (seconde nature) gewöhnt habe, und „unsere Vorurteile“ setzten jene so an die Stelle der ersteren (première nature), daß „keiner mehr von uns diese kennt“.81 Der „natürliche Mensch“ (homme naturel) hat sich, nach den 74  Lettre à M. de Malesherbes (26. Jan. 1762), OC, I, S. 1140 (Unterstreichung des Verf.). 75  Vgl. zu diesen Begriffen: Les Confessions, OC, I, S. 427 f., S. 351; Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 668 ff.; La Nouvelle Héloïse (2. Préface), OC, II, S. 12, S. 15; (ebd., I, 18), OC, II, S. 79; Emile et Sophie ou les solitaires, OC, IV, S. 894; Fragments sur Dieu et la révélation, ebd., S. 1047. 76  Emile, OC, IV, S. 306. 77  Fragments Politiques, OC, III, S. 478. 78  Rousseau, Juge de Jean Jacques, OC, I, S. 828. 79  Emile, OC, IV, S. 245. 80  La Nouvelle Héloïse (IV, 11), OC, III, S. 478. 81  Emile (Manuscrit Favre), OC, IV, S. 152.

138

Das Paradies in der Politik

Worten Rousseaus, in den „künstlichen Menschen“ (homme artificiel) entfremdet.82 Einmal dabei, den natürlichen Zustand zu verlassen, hat sich die Menschheit umso mehr ihrer selbst entfremdet, je mehr sie in ihrer weiteren Entwicklung fortschritt. In dem Maße wie die Menschen neue Fertigkeiten und neue Kenntnisse erwarben, in dem Maße beraubten sie sich ihrer Mittel, sich selbst zu erkennen.83 Um die „erste Natur“ des menschlichen Geschlechts zu erforschen, zieht Rousseau es deshalb vor, zu „hypothetischen Überlegungen“ (raisonnements hypothétiques) zu greifen.84 Er will das „Bild der ersten Zeiten“ entwerfen, die menschliche Existenz ex arches beschreiben, indem er zuerst „alle Tatsachen abweist“ (denn sie würden das Problem kaum berühren)85 und dann den Linien folgt, welche die „reinen Regungen der Natur“86 zeichnen. Mit dieser Absicht zieht er sich 1753 sieben Tage lang in den Wald von Saint-Germain zurück. „Ich suchte dort, ich fand dort das Bild der ersten Zeiten, dont je tracois fièrement l’histoire; je faisois main basse sur les petits mensonges des hommes, j’osois dévoiler leur nature, suivre le progrès du tems et des choses qui l’ont défiguré, et comparant l’homme de l’homme avec l’homme naturel, leur montrer dans son perfectionnement prétendu la véritable source de ses misères. Mon âme exaltée par ces contemplations sublimes s’élevoit auprès de la divinité, et croyant de là mes semblables suivre dans l’aveugle route de leurs préjugés, celle de leurs erreurs, de leurs malheurs, de leurs crimes, je leur criois d’une foible voix qu’ils ne pouvaient entendre. Insensés, qui vous plaignez sans cesse de la nature, apprenez que tout vos maux vous viennent de vous. De ces méditations resulte le Discours sur l’inégalité.“87 Die ‚hypothetischen Überlegungen‘ schälen aus dem Menschen eine ‚erste Natur‘ heraus, die die Imperative des ‚Herzens‘ – der ‚Stimme‘ – anthropologisch faßt. Und die ‚reinen Regungen der Natur‘ zeichnen auch die Linien einer menschlichen Existenz, die der Stimme würdig ist. Der Mensch, so führt Rousseau aus, sei zum „Herren aller Dinge“ (maître de tout), zum „König der Erde“ (roi de la terre) berufen, in dem der Sinn aller Schöpfung liegt.88 Auch sollten die hypothetischen Überlegungen zu der „urprünglichen Konstitution“ des Menschen zeigen, was dieser „aus sich selber hat, was er 82  Les Confessions, OC, I, S. 389, 2. Discours, OC, III, S. 192 f. – Vgl. die Ausführungen zum homme sauvage: ebd., S. 135 f., S. 192 f. 83  Ebd., S.  122 f. 84  Ebd., S. 127, S. 133. 85  Ebd., S. 132. 86  Emile (Manuscrit Favre), OC, IV, S. 97. 87  Les Confessions, OC, I, S. 388 f. 88  Vgl. Anm. 51, sowie: Emile (Manuscrit Favre), OC, IV, S. 91; Emile, OC, IV, S. 582. Dort steht auch der Satz: „Où y a-t-il de si riducule à penser que tout est fait pour moi, si je suis le seul qui sache tout rapporter à lui?“.



Das Paradies in der Politik139

sich selbst verdankt“ (ce qu’il tient de son propre fond).89 Das mitgeteilte Ergebnis ist kaum noch überraschend: Es ist alles. Jener Satz, der am Anfang des 1. Discours steht, der wiederum der Anfang des Werkes von ‚Rousseau‘, der para-messianischen Figur ist, läßt keinen Zweifel. Der Mensch ist sein eigener Anfang schlechthin. „Dies ist ein großes und schönes Schauspiel, zu sehen, wie der Mensch, gewissermaßen aus eigener Kraft, aus dem Nichts hervortritt.“90 So steht es dort, am Anfang von Rousseaus Offenbarung. Der „natürliche Menschen“ besitzt also göttliche Eigenschaften. Dies sind die Friedfertig­keit und die Unschuld, eine vollkommene Unhabhängigkeit und eine grenzenlose Freiheit. Die Wünsche des Menschen und seine Macht, sie zu erfüllen, sind im Gleichgewicht. Was immer er bedarf, er erlangt es sofort.91 Er befindet sich in jenem Selbstbesitz, wie ihn nicht anders die scholastische Theologie für Gott, esse ipsum subsistens, hätte formulieren können: „Der natürliche Mensch ist in sich alles, er ist die numerische Einheit, das absolute Ganze.“92 Doch in der göttlichen Selbstgenügsamkeit seiner ersten Natur fehlen dem Menschen noch die Wahrnehmung und die Erfahrung seiner selbstgeschaffenen Göttlichkeit. So ist er an sich zwar, aber noch nicht wirklich vollkommen. Denn er ist es, hegelianisch gesprochen, erst mit und durch sich selber. Er ist der, der er ist, indem er der ist, der er wird. Rousseau erklärt es so, daß er den Naturzustand wie einen Schwebezustand schildert. Wären die Menschen darin verhaftet geblieben, so „wären wir gestorben, ohne gelebt zu haben“. Das Leben des natürlichen Menschen, die heureuse vie de l’âge d’or, war ein „Zustand, der dem menschlichen Geschlecht immer fremd blieb, entweder weil es ihn verkannt hat, als es ihn hätte genießen können, oder weil es ihn verlor, als es ihn hätte kennenlernen können.“ Denn als „natürliche Menschen“ hätten die Menschen weder Güte in ihren Herzen noch Sittlichkeit in ihren Handlungen gehabt, und sie hätten nie dieses überaus „köstliche Gefühl der Seele“ gekostet, das die „Liebe zur Tugend“ ist.93

89  2.

Discours, OC, III, S. 122. Discours, OC, III, S. 6. – Vgl. Novalis, Das philosophische Werk I, a. a. O., S. 554: „Die Welt hat eine ursprüngliche Fähigkeit durch mich belebt zu werden – Sie ist überhaupt a priori von mir belebt – Eins mit mir. Ich habe eine ursp[rüngliche] Tendenz und Fähigkeit die Welt zu beleben – Nun kann ich aber mit nichts im Verhältniß treten – was sich nicht nach meinem Willen richtet, oder ihm gemäß ist – Mihin muß die Welt die ursp[rüngliche] Anlage haben sich nach mir zu richten – meinem Willen gemäß zu seyn.“ 91  2. Discours, OC, III, S. 158, S. 283; Emile, OC, IV, S. 304. 92  Emile, OC, IV, S. 249. Vgl. auch 2. Discours, OC, III, S. 159 ff. 93  Du Contrat Social (1. Version), OC. III, S. 283. 90  1.

140

Das Paradies in der Politik

Der Mensch muß zuerst die Katastrophe seiner Existenz – die ‚Hölle in den Herzen der Bösen‘ – erfahren. Denn nur so kann er den Weg zu sich selbst beschreiten und dann seine Existenz im himmlischen Paradies – in der ‚Gemeinschaft der Herzen‘ – auch als Werk seiner selber wissen. Als Herr aller Dinge, vollkommen unabhängig und grenzenlos frei, ist der ‚natürliche Mensch‘ doch nicht ganz absolut. Er hängt in seiner ‚natürlichen‘ Weise davon ab, daß seine Bedürfnisse und deren Befriedigung stets miteinander ausgeglichen sind. Seine Vollkommenheit ist keine für immer fertige; sie muß vielmehr ständig wieder hergestellt werden. Eben diese expansive Tendenz – vollkommen zu sein, indem er sich stets wie vollkommen hält – gefährdet den ‚natürlichen Menschen‘. Entzieht sich ihm das Geringste, ist seine Existenz nicht mehr ‚absolut‘. Der ‚Sündenfall‘ des Menschen in Rousseaus Heilsgeschichte ereignet sich denn so: Der ‚natürliche Mensch‘ kann etwas, das er begehrt, nicht mehr durch sich selbst befriedigen. Wie dies geschieht, stürzt er aus seiner ‚gött­ lichen‘ Vollkommenheit. In jenem Augenblick, so erklärt Rousseau, als ein Mensch die Hilfe eines anderen nötig hatte (dès l’instant qu’un homme eut besoin du secours d’un autre), begann die Verfallsgeschichte des mensch­ lichen Geschlechts.94 „Die Kraft des Menschen ist so auf seine natürlichen Bedürfnisse und auf seinen primitiven Zustand zugeschnitten, daß er, wenn sich dieser Zustand auch nur um ein Geringes ändert oder seine Bedürfnisse zunehmen, der Unterstützung seiner Mitmenschen bedarf, sodaß, wenn schließlich seine Wünsche die ganze Natur umfassen, der Beistand des ganzen Menschengeschlechts kaum ausreicht, diese Wünsche zu stillen. Auf diese Weise machen uns die Ursachen, die uns böse werden lassen, auch noch zu Sklaven, und unterjochen uns, indem sie uns verderben.“95 Und mit diesem Anfang der Geschichte – Werden und Sein fallen im Menschen auseinander – entsteht auch ein Zwang zur Gesellschaft. Der gefallene homme naturel – gerade noch frei und für sich allein lebend wie ein wilder Gott – bedarf der Unterstützung anderer. „Jedes soziale Verhältnis ist ein Zeichen der Unzulänglichkeit: Wenn jeder von uns der anderen nicht bedurft hätte, hätte er kaum daran gedacht, sich mit ihnen zu vereinigen.“96 Durch seinen ‚Fall‘ gerät der Mensch in eine unheilvolle Dialektik. Je mehr er seine Existenz zu verwirklichen sucht, desto mehr pervertiert er sie. Seine Fähig94  2. Discours, OC, III, S. 171. – Vgl. Emile, OC, IV, S. 503 und auch 2. Discours, OC, III, S. 164: „Le premier qui ayant enclos un terrain, s’avisa de dire, ceci est à moi, et trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la sociéte civile.“ 95  Du Contrat Social (1. Version), OC, III, S. 281 f. – Vgl. auch Emile, OC, IV, S. 587. 96  Emile, OC, IV, S. 503.



Das Paradies in der Politik141

keit, sich zu vervollkommen (perfectibilité), die aus dem Kreis der Selbstgenügsamkeit in einen linearen Fortschritt von Selbstsucht entgleiste, zieht ihn immer mehr von den „ruhevollen und unschuldigen Tagen“ seiner „ursprünglichen Lage“ weg und wird zur Quelle des Übels. Neue Erkenntnis wird mit neuen Irrtümern, die Tugend mit dem Laster erkauft.97 All jene Fähigkeiten, die er natürlicherweise nur virtuell besaß, nun aber ausformt – wie die Vernunft –, bringen den Menschen Unheil.98 Aus ihnen werden die Werkzeuge, die ihnen dazu helfen, sich ihr aufgezwungenes Leben in Gesellschaft auch noch gegenseitig unerträglich zu machen. War jeder im natürlichen Zustand mit sich selbst glücklich, und waren so alle untereinander gleich, so unterscheiden und zertrennen sich die Menschen mehr und mehr; sie werden einander so ungleich wie der Philosoph dem Narren, der Edle dem Gemeinen, der Herr dem Knecht.99 Die Existenz des gefallenen Menschen ist so verzerrt, daß dessen agens movens – das expansive Ausgreifen, sich alles anzueignen –, zu einer Freiheit ausholt, die sich selbst in Ketten schließt. Die ‚göttlichen‘ Eigenschaften des ‚natürlichen Menschen‘ – Freiheit, Herrschaft über seine Welt, Selbstgenügsamkeit, Gleichheit, Glück, Unabhängigkeit –, sind an dem „Punkt, wo wir sie sehen“, in ihr Gegenteil verkehrt – in Sklaverei, Privateigentum, Arbeit, Ungleichheit, Selbstsucht, Unheil. „Die Gleichheit verschwand, das Eigentum entstand, die Arbeit wurde notwendig und die weiten Wälder verwandelten sich in liebliche Fluren, die mit dem Schweiß der Menschen begossen werden müssen und auf denen man bald mit der Ernte die Sklaverei und das Elend keimen und wachsen sieht.“ – „Das Glück des einen schafft das Elend des anderen.“ – „Die Menschen werden, indem sie gesellschaftlich werden, unglücklich und böse.“100 Der Fall des Menschen in die Geschichte seiner Selbstentfremdung gelangt im politischen System des „Despotismus“ zu seinem „äußersten Ende“. Hier vollendet sich die Verkehrung der menschlichen Existenz. Der Punkt sei wieder berührt, so sagt Rousseau, „von dem wir ausgegangen sind“. Alle seien „wieder gleich, da sie nichts sind“.101 Und dieser Punkt, daran läßt 97  2.

Discours, OC, III, S. 142. OC, IV, S. 304. 99  1. Discours, OC, III, S. 25, 2. Discours, OC, I, S. 123, S. 174. 100  2. Discours, OC, III, III, S. 171, Du Contrat Social (1. Version), S. 283, S. 288. 101  2. Discours, OC, III, S. 189 f. – Rousseau entfaltet sein Denken nach dem Muster, dem auch ‚später‘ Hegel und Marx folgen. In einem Kommentar zu den eben zitierten Sätzen Rousseaus zeigte sich Friedrich Engels von dieser Geistesverwandtschaft überzeugt: „Und so schlägt die Ungleichheit wieder um in die Gleichheit, aber nicht in die alte naturwüchsige Gleichheit der sprachlosen Urmenschen, sondern in die höhere des Gesellschaftsvertrags. Die Unterdrücker werden unterdrückt. Es ist Negation der Negation. Wir haben also schon bei Rousseau nicht nur einen Gedankengang, der dem in Marx’ Kapital verfolgten auf ein Haar gleicht, sondern auch im 98  Emile,

142

Das Paradies in der Politik

Rousseau keinen Zweifel, sei jetzt erreicht: zu seiner Zeit, in der Mitte des 18. Jahrhunderts. „Die Gesellschaft“, so erklärt er seinen Zeitgenossen, „bietet den Augen des Weisen nurmehr eine Ansammlung künstlicher Menschen (hommes artificiels), alles ist auf den bloßen Schein beschränkt. Wir haben nurmehr ein trügerisches und frivoles Äußeres. Ehre ohne Tugend, Vernunft ohne Wahrheit, Vergnügen ohne Glück.“102 Alles ist Schein. Wo ehemals Menschen waren, wandern Masken umher. Die Schleier hochgezüchteter Kultur verbergen die Bosheit unmenschlicher Menschheit. Die absolute Selbstentfremdung des Menschen ist die äußerste Negation alles dessen, was er ‚ist‘. Nach der Logik des Denkens Rousseaus heißt dies: Sie ist die äußerste Negation alles dessen, was er natürlich war (wenn auch in vielem nur virtuell) und wieder – und nun erst wirklich – werden soll. Der geschichtliche Prozeß menschlicher Selbstverwirklichung kam im Despotismus an sein ‚äußerstes Ende‘. Und er reichte darin ‚zurück‘ an seinen äußersten – ‚ersten‘ – Anfang. Denn der ‚künstliche Mensch‘ sieht den Menschen absolut. Er sieht im Spiegel seiner ganzen Künstlichkeit die ganze Wirklichkeit des Menschen. Es ist nur alles verdreht. Seiner selbst absolut entfremdet, nimmt sich der Mensch seiner selbst ebenso absolut gewahr. Der ‚künstliche Mensch‘ ist das ‚äußerste Ende‘ der Selbstentäußerung des Menschen. Und er ist viel mehr. Er ist auch ‚Anfang‘, da er den Menschen ‚am Anfang‘ (wenn auch verdreht) und in diesem Anfang zugleich vollkommen ausgestaltet zeigt. Und er ist ein überaus wirklicher, nämlich ein Anfang, der schon gemacht worden ist. Der ‚künstliche Mensch‘ existiert, also in dieser, seiner Negation, auch der vollkommene Mensch. Nur eines ist hier denn noch zu tun. Und Rousseau formuliert es präzise: Auf die Selbstentfremdung des Menschen folgt die „Rückkehr des Menschen zu sich selbst“ (retour de l’homme à lui-même). An einer Stelle der Notizen, die er unveröffentlicht hinterließ, beschreibt Rousseau, wie diese Rückkehr vorgestellt werden könnte. „Versuchen wir bei irgendeinem Teil der Regierungskunst das, von dem man wünschte, daß man es bei allen Wissenschaften machte; zerstören wir alles, was geschaffen wurde, das ist augenblicklich das Beste, was zu machen ist.“103 Im „Jahrhuneinzelnen eine ganze Reihe derselben dialektischen Wendungen, deren Marx sich bedient, Prozesse, die ihrer Natur nach antagonistisch sind, einen Widerspruch in sich enthalten. Umschlagen eines Extrems in sein Gegenteil, endlich als Kern des Ganzen die Negation der Negation. Wenn Rousseau also 1754 den Hegel-Jargon noch nicht sprechen konnte, so ist er doch, 16 Jahre vor Hegels Geburt, tief von der HegelSeuche, Widerspruchsdialektik, Logoslehre, Theologik usw. angefressen.“ (F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1962, S. 129–131). 102  2. Discours, OC, III, S. 192 ff. 103  Fragments Politiques, OC, III, S. 480.



Das Paradies in der Politik143

dert der Revolution“, das Rousseau herannahen sieht, schreibt er den Satz: „Alles, was die Menschen gemacht haben, das können die Menschen auch zerstören.“104 Doch ein Denken betrügt sich, begreift es in der Zerstörung seine ultima ratio. Selbst in dieser würde es immer noch sich selbst manifestieren. Zwar könnte es sich zynisch verhärten, noch allemal den „besiegten König, der sich wütend unter den Trümmern seines Thrones begraben will“, verachten.105 Aber es wäre dann nur noch die Lüge für die Revolution, welche nichts mehr von ihrem Geist weiß und mit sich selbst zufrieden ist. Rousseau artikulierte eine Rhetorik der Zerstörung und blieb hinter ihr zurück. Er kannte klassische Einsichten zum revolutionären Prozeß und wußte, daß die Herrschaft der Ungleichheit ihr revolutionäres Ende selbst besorgt, je fortgeschrittener sie ist, und daß auf eine Revolution, die den einen Tyrannen stürzt, oft bloß ein neuer Tyrann folgt.106 So pries er die Zerstörung und lehnte sie zugleich ab. Nein, es sei völlig falsch, nun anzunehmen, daß man „die Gesellschaften zerstören, Dein und Mein abschaffen“ und in die „Wälder zurückkehren“ müsse, um dort „mit den Bären zu leben“. Wer die Menschen zu ihrer ursprünglichen Gleichheit zurückführen wolle, der strenge sich ganz vergeblich an.107 Rousseaus Argumente zielen auf eine andere Lösung ab – auf das Paradies in der Politik. Er will keine gewöhnliche Revolution. Er will die Revolution. Und dies ist die Katharsis der „verdorbenen Herzen“ (coeurs corrompus). Seien die Herzen der Menschen einmal verdorben, so sagt er, so würden sie es immer bleiben. Es gebe dagegen kein Heilmittel, es sei denn, so führt er andererseits aus, es ereigne sich eine „große Revolution“. Diese große Revolution ist die Revolution der Herzen. Indem sie aus dem „Übel selbst das Mittel beziehen, das es heilen soll“, so erklärt Rousseau, könnten die Menschen aus ihrer verfallenen in eine wieder göttlich-reine Existenz zurückkehren. Er teilt auch mit, daß er die revolutionäre Katharsis des Herzens an sich selbst schon vollzogen hat und die Menschen nun seinem Beispiel folgen könnten. „Ich beschränkte meine Reform nicht auf äußere Dinge. Ich fühlte, daß diese selbst noch nach einer weitaus mühseligeren verlangte. Ich ging daran, mein Inneres einer strengen Prüfung zu unterziehen. Eine große Revolution war es, die sich in mir abspielte, eine andere moralische Welt war es, die sich meinen Blicken enthüllte.“108 Rousseau 104  Emile,

OC, IV, S. 468. S. 469. 106  2. Discours, OC, III, S. 113, 190. 107  2. Discours, OC, III, S. 207. – Vgl. auch 1. Discours, OC, III, S. 95. 108  1. Discours, OC, III, S. 56, Du Contrat Social (1. Version), S. 288; Les rêveries du promeneur solitaire, 3. Promenade, OC, I, S. 1015. 105  Ebd.,

144

Das Paradies in der Politik

hofft, wie er weiter sagt, daß seine „mühseligen Forschungen“ eines Tages „Revolution unter den Menschen“ machen würden.109 Er gibt so zu erkennen, daß für ihn die epoche einer universalen Revolution aller Herzen bevorsteht, die aus dem historischen Prozeß, in den der Mensch notwendig gefallen war, um erst Mensch, wenngleich in Ketten, zu werden, in eine Erlösung hinausführt, in der alle Knechtschaft gesprengt und das Göttliche in der Menschheit zum Selbstgenuß der Menschen befreit wird. Denn die Menschen, denen die Leidenschaften wie ihm, Rousseau, für immer die „ursprüngliche Einfachheit“ zerstört hätten, begännen davon überzeugt zu sein, daß die „göttliche Stimme“ (voix divine) das ganze Menschengeschlecht zu dem Licht und dem Glück der himmlischen Geister rufe (apella tout le Genre-humain aux lumières et au bonheur des celestes Intelligentes).110 Der Aufstieg zu dem „wahren Modell der Vollkommenheit“ – von dem wir alle ein Abbild (image) in uns trügen –, dieser Aufstieg zu der „unveränderlichen Substanz“ des „ewigen Seins“ (Etre Eternel)111 ist allerdings an jene irreversible Folge der Geschichte gebunden, die im Negativen den Wendepunkt festlegt, von dem die revolutionäre Katharsis der Herzen überhaupt ausgehen kann. Die Menschen sind durch ihren Fall für immer Menschen in Gesellschaft. Und so kann eine Revolution der menschlichen Existenz nur eine Revolution der gesellschaftlichen Existenz der Menschen sein. Das Heil der Menschen ist politisch. Die ‚Stimme‘ ist immer hörbarer geworden. Die Botschaft wurde ausgesprochen. Die Erlösung hat schon begonnen. Rousseau kündet das Paradies. Wir würden sagen, daß er das Modell einer intrasubjektiven Einheit aller Menschen entwirft, in der jeder in jedem ist, alle sich gegenseitig durchdringen und füreinander völlig durchsichtig sind. Und wir würden auch sagen, daß in diesem Modell, nach der Trinitätslehre christlicher Theologie, die Perichorese der drei göttlichen Personen im einen Gott zu erkennen ist.112

109  Ebd.,

OC, I, S. 1018. Discours, OC, III, S. 207. 111  La Nouvelle Héloïse (III, 17), OC, II, S. 358. 112  Zum theologischen Begriff der Perichorese vgl. H. A. Wolfson, The Philosophy of the Church Fathers, Bd. I, Faith, Trinity, Incarnation, Cambridge (Mass.), 19642, S. 418 ff.; M. J. Scheeben, Handbuch der Katholischen Dogmatik, Freiburg 19483 § 123, S. 435 ff. – Zu einer theologisch-sozialen Deutung interpersonaler Einheit vgl. G. Kranz, Liebe und Erkenntnis. Ein Versuch, München/Salzburg 1972, S. 99 ff. und S. 130 ff. – Zur Übertragung des Perichorese-Modells in die Politik vgl. Verf., Natur und Revolution. Untersuchungen zum politischen Denken im Frankreich des 18. Jahrhunderts, München 1969, S. 68 ff., ders., Modernität und Geschichte, S. 88–90. 110  2.



Das Paradies in der Politik145

Rousseau wählte natürlich andere Worte. Er beschrieb das Paradies der Menschen für die Menschen unter den Menschen in seiner Sprache. Hören wir die Stimme aus Julie, ou La Nouvelle Héloïse: „Sie sind gestern abgefahren, und wir bildeten wieder aus uns dreien eine bezaubernde Gesellschaft, da nichts im Grunde der Herzen übrigblieb, das man einander hätte verbergen wollen (une société d’autant plus charmante qu’il n’est rien resté dans le fond des coeurs qu’on veuille se cacher l’un à l’autre). Nach sechs Tagen, die bei nichtssagenden Unterhaltungen mit gleichgültigen Leuten verlorengingen, haben wir heute eine Matinée nach englischer Art verbracht, vereint und in der Stille, im Genuß sowohl des Vergnügens, zusammen zu sein, wie der Anmut innerer Sammlung. Unzweifelhaft ist dieser Zustand des Beschauens (état de contemplation) einer der größten Reize empfindsamer Menschen. Man will gegenseitig gänzlich empfangen werden, der eine im anderen (On veut être recueillis l’un dans l’autre). Zwei Stunden sind so zwischen uns verstrichen, in dieser Regungslosigkeit von Ekstase (immobilité d’extase), die tausendmal angenehmer ist als die kalte Ruhe der Götter Epikurs.“113 Unschwer ist hier als Existenzweise ein Empyreum zu erkennen, das jetzt jedoch nicht mehr aus den sublimen Verzückungen einer einzelnen ekstatischen Seele, sondern vielmehr aus der Interaktion verschiedener Personen hervorgeht. Als Umkehrung einer gänzlich mit sich entfremdeten Gesellschaft kann die Revolution der Herzen nur ein gemeinschaftlicher Akt sein, in dem sich eine Gesellschaft des Scheins zur Wahrheit menschlicher Wirklichkeit wandelt. Im dialektischen Umschlag einer Verneinung des Verneinten bildet sich an der ‚despotischen‘ eine ‚bezaubernde‘ Gesellschaft ab, werden an der Verschleierung in der Lüge eine Durchdringung sich offenbarender Herzen, an der Verdinglichung ‚künstlicher Mensch‘ ein kommunikatives Handeln bis zur völligen Identität, an der „unbändigen Aktivität der Eigenliebe“ ekstatische Erfahrungen gemeinschaftlicher Vollkommenheit wirklich. Da ist die paradiesische Liebe. Sie ist die gemeinschaftliche Liebe. Allein in der „Sphäre von zwei oder drei Liebenden oder Freunden, die immer mit sich allein beschäftigt sind“, so schreibt Rousseau, lerne man die „Menschheit lieben“.114 Da ist die paradiesische Gesellschaft. Sie ist ein „Volk von Göttern“ (peuple de Dieux), frei aller Lüge und Heuchelei, wie aller arcani imperii. Alle, die ihr angehören, kennen einander so, daß sich nichts, aber auch nichts mehr von jedem unter allen verbirgt. Untertanen und Souverän, privater und 113  La Nouvelle Héloïse (V, 3), OC, II, S. 557 f. – Die Unterstreichungen im Deutschen sind vom Verf. 114  La Nouvelle Héloïse (2. Préface), OC, II, S. 14. – Vgl. auch Poésies, OC, II, S. 1170: „Ah! qu’avec moi le Ciel rassemble/appaisant enfin son courroux/Un autre coeur qui me ressemble/L’age d’ôr renaîtra pour nous.“

146

Das Paradies in der Politik

öffentlicher Raum, individuelle und soziale Existenz sind aufgelöst in einer herrschaftsfreien Identität aller mit allen. Alles ist im Fluß und alles ist im Einen, da einer im anderen und alle in jedem sind.115 Da ist der paradiesische Staat. Er ist der Staat der irdischen Glückseligkeit (félicité terrestre), in dem „diese himmlische Stimme jedem Bürger die Vorschriften der allgemeinen Vernunft diktiert“, und in dem „die Stimme des Volkes in der Tat die Stimme Gottes“ ist. Reine Freude, so erklärt Rousseau, gebe es nur in der Form öffentlicher Freude, „die wahren Gefühle der Natur sind allein im Volk vorhanden“.116 Und da ist die paradiesische Göttlichkeit. Sie ist die Innigkeit von Menschen, die wie eine Person in mehreren Personen, wie ein Körper in mehreren Körpern sind, denn sie können sich „gegenseitig durchdringen“ (se péné­ trer réciproquemment).117 Das Schauspiel der société des coeurs, so sagt es Rousseau selbst, hat etwas „Magisches, Übernatürliches an sich, das den Geist und die Sinne mit sich fortreißt; man vergißt alles, man vergißt sich selbst, man weiß nicht, wo man ist.“118 Oh, doch. Man ist in der anderen Schöpfung. Dort, wo es ‚man‘, ‚Ich‘, ‚Du‘, ‚Wir‘, ‚Sie‘, ‚diesen‘ und ‚jenen‘, den ‚einen‘, den ‚anderen‘ nicht mehr gibt. So ist ‚man‘ seiner selbst vergessen, gewiß. Das Viele ist aufge115  Du Contrat Social (III), OC, III, S. 406; OC, IV, S. 883.  – Vgl. dazu die Ausführungen von J. Daniélou über die Vorstellung der Ecclesia paradisus in der christlichen Theologie, in seinem Text: „Terre et paradis chez les Pères de l’église“ in: Eranos-Jahrbuch 22 – 1953, S. 433–472, insbes. S. 461, S. 464, S. 467. 116  Les rêveries du promeneur solitaire (7. Promenade), OC, I, S. 1066; Lettre à M. D’Alembert sur son Article Genève, Paris 1967, S. 249; Economie Politique, OC, III, S. 246, S. 248, S. 950. 117  1. Discours, OC, III, S. 8. – Vgl. J. Daniélou, Terre et paradis, S. 467 ff., zur christlichen Idee vom paradisus anima; insbes. die Feststellung: „Ce Paradis céleste lui-même n’est qu’une dernière théophanie de ce qui est finalement l’archétype premier, le Dieu trinitaire caché de la théologie apophatique.“ (S. 471). 118  La Nouvelle Héloïse (I, 23), OC, II, S. 79. – Nach der Lektüre von Rousseaus La Nouvelle Héloïse schrieb Moses Mendelssohn: „Ich war in einer Zauberwelt, wo ich nichts begreifen, wenig glaubwürdig finden, und alles desto kräftiger glauben sollte. Mein Geist war zu der hohen Entzückung nicht vorbereitet genug, in welcher wir sehen, was noch kein Auge entdeckt hat, mit den Händen greifen, wo nichts ist, hören, schmecken, glauben und uns schämen zu fragen: warum?“ (M. Mendelssohn, Gesammelte Schriften, hg. v. G. B. Mendelssohn, Leipzig 1843–45, Bd. IV, S. 320). – Vgl. auch K. H. Bohrer, Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror, München 1970, S. 60: „Der Sirenengesang in den Sätzen Adornos ist ihre musikalische Qualität: eine orchestrale Aufeinanderfolge begrifflich überinstrumentalisierter Behaupt­ungssätz, die den Nachweis ihrer These oft schuldig bleiben, aber gleichzeitig den Eindruck suggerieren, diesen Nachweis gerade vollbracht zu haben.“



Das Paradies in der Politik147

löst in einem einzig Einen, alles Getrennte wieder absolut eins, jeder Unterschied aufgehoben. Und alles Leiden am Zerfall der Schöpfung beendet. Göttliche Funken glühten auf, wie der Mensch ‚zu sich selbst zurückkehrte‘, und entfachten sich zum lodernden Gottesfeuer. Die Menschen machten die Schöpfung zu ihrem Fest. Sie vollzogen in der ‚großen Revolution‘ die Theurgie des Menschen für den Menschen. Magisch? Rousseau verfaßte präzise, sprachlich sehr wohl nachvollziehbare Anweisungen. Danach gewinnen die Menschen das Paradies im öffentlichen Schauspiel ihrer absoluten Gemeinschaft. Die Erlösung geht den Weg des Theaters. Im Tanz um den Baum ihrer Selbstanschauung,119 als Schauspieler, die ihre eigenen Zuschauer, und selber die Verfasser des Theaters sind, das sie aufführen, holen die Menschen die Sonne der Vollkommenheit an den Himmel ihrer Gemeinschaft. „C’est dans les Républiques que [les spectacles] sont nés,“ so schreibt Rousseau in seinem Brief über das Theater, „c’est dans leur sein qu’on les voit briller avec un véritable air de fête. A quels peuples convient-il mieux de s’assembler souvent et de former entr’eux les doux liens du plaisir et de la joie, qu’à ceux qui ont tant de raisons de s’aimer et de rester à jamais unis? Mais n’adoptons point ces Spectacles exclusifs qui renferment tristement un petit nombre de gens dans un autre obscur; qui les tiennent craintifs et immobiles dans le silence et l’inaction; qui n’offent aux yeux que cloisons, que pointes de fer, que soldats, qu’affligeantes images de la servitude et de l’inégalité. Non, Peuples heureux, ce ne sont pas-là vos fêtes! C’est en plein air, c’est sous le ciel qu’il faut vous rassembler et vous livrer au doux sentiment de votre bonheur. Que vos plaisirs ne soient efféminés ni mercenaires, que rien de ce qui sert la contrainte et l’interêt ne les empoisonne, qu’ils soient libres et généreux comme vous, que le soleil éclaire vos innocens Spectacles, vous en formerez un vous-mêmes, le plus digne qu’il puisse éclairer. Mais quels seront enfin les objets de ces Spectacles? Qu’y montrera-t-on? Rien, si l’on veut. Avec la liberté, partout où regne l’affluence, le bien-être y regne aussi. Plantez au milieu d’une place un piquet couronné des fleurs, rassemblez-y le peuple et vous aurez une fête. Faites mieux encore: donnez les spectateurs en spec­ tacle; rendez les acteurs eux-mêmes; faites que chacun se voie et s’aime dans les autres, afin que tous en soient mieux unis.“120

119  Zum Thema ‚Symbolismus des Baums und Paradies‘ vgl. J. Daniélou, Terre et Paradis, a. a. O., S.  433 f. 120  Lettre sur le Théatre, S. 188 f. (Die Unterstreichungen sind von mir, T. S.). – Vgl. auch S. 180: „… c’est que, pour nous approprier les Drames de notre Théatre, nous les composions nous mêmes, et que nous ayons des Auteurs avant des Comédiens.“

148

Das Paradies in der Politik

Die Politik und das Paradies (III) ‚Paradise Now‘: Das ‚Living Theatre‘ Das von der Stimme gesungene Lied singen Menschen fort, die das Lied verzaubert. Sie warten schon lange auf etwas ähnliches wie eine Botschaft, die sie aus der erdrückenden Wahrnehmung jenes Leidens erlöst, das sie in der Schöpfung sehen. Welch ungeheuerlicher Anblick in ihren Augen, welche vernichtende Erfahrung in ihrem Geist, diese Schöpfung, die sich auflöst in ihrem Entstehen und ihre vollendete Form in dem Zustand ihres Zerfalls hat! So ergreift sie das Lied und sie nehmen gläubig die Botschaft auf, die ihnen die Stimme, die sie hören, bringt. Die zu ihrer Wirkung gerufene Kraft der Verzauberung – dieses ‚Magische‘ nach Rousseaus Worten – kann in ihrer Entfaltung auch nicht machtvoll genug sein. Wer auf Geistesreisen zu einer anderen Schöpfung geht und in ihnen die gesteigerte Erfahrung der kosmogonischen Wanderung sucht, verlangt nach der allerhöchsten, nämlich der Macht zur Weltenwandlung. Das Begehren ist: Es ereigne sich die Revolution der Schöpfung. Es gelinge den Menschen, in ihren Körpern, mit ihren Körpern, durch ihre Körper eins zu sein. Es zeige sich die Welt der Körper, die von dem Problem des Körpers befreit sind. Und die Form des Begehrens ist: Es geschehe die Transmutation des Menschen in der Vielzahl aller Menschen zu einer Gemeinschaft. Wie soll solches gelingen? Die Methode wurde von Rousseau deutlich gezeigt. Die Erlösung geht den Weg des Theaters. Wenn als ‚Theater‘ inszeniert wird, was Rousseau darunter versteht: Das öffentliche Schauspiel einer menschlichen Gemeinschaft, die sich selber für sich selber vor sich selber aufführt. Aus dem Vielen verschiedener, getrennter Körper soll sich Eines bilden und den Menschen, die diese Körper sind, die Erfahrung bringen, mit all ihren Körpern ineinander wie ein Körper zu sein. Dies ist ein öffentliches Ereignis, wie es auch ein öffentliches Schauspiel ist, das in Formen geschieht, welche Körper, so getrennt und vereinzelt wie sie sind, zu Weisen ihres Zusammenspiels inszenieren, zu einer Einheit der Darstellung, die vor aller Augen entsteht und die ‚magische‘ Verwandlung schafft: Aus Teilen ist Eins geworden und das Eins ist in den Teilen so sichtbar, wie wenn die Teile in dem Eins verschwunden wären, das sie zeigen. Die Revolution der Schöpfung ist ‚Schauspiel‘. Sie ist Körpertheater mit dem Ziel einer ‚theatralischen‘ Transmutation des Menschen in der Vielzahl aller Menschen zu einer Gemeinschaft. Wer dieses Schauspiel inszenieren und über es Regie führen will, setzt bestimmte Mittel ein: Gesänge, Tanz, Sprechrituale, Verhaltensriten, Lichtzauber, Tonrhythmen, Zeichen sakraler Art, Elemente religiöser Liturgien, und immer wieder Körperakte für den Vollzug des Spiels, d. h. die ‚Verwandlung‘ von Körpern zu der Sprache, die



Das Paradies in der Politik149

das Spiel zur ‚Schau‘ der ‚anderen‘ Schöpfung in den Körpern macht. Das erlösende Körpertheater ist Welttheater, es buchstabiert die Schöpfung neu. Am 14. Juli 1968 brach der Tag der Erlösung an, der erste Tag einer anders geschriebenen Schöpfung. Menschenkörper vereinten sich zur Verwandlung der Menschheit. Im Kreuzgang des ehemaligen Karmelisterklosters in Avignon trat die amerikanische Theatergruppe The Living Theatre zur Premiere des Schauspiels auf, das den Titel trug: Paradise Now. Seit Februar 1968 hatte sich die Gruppe unter der leitenden Inspiration ihrer beiden Gründer, Judith Malina und Julian Beck, darauf vorbereitet, diese „Reise“ (jour­ ney) ins Paradies zu inszenieren. Für drei Monate, von Februar bis April 1968, hatte sie sich in einem verlassenen Feriendorf in der Nähe von Cefalù auf Sizilien selbst schon wie eine paradiesische Gemeinschaft konstitutiert, in einer größtmöglichen körperlichen, emotionalen und geistigen Offenheit fürund miteinander. In den von einer üppigen, tropischen Vegetation umgebenen Hütten des Villagio Magico lebten sie abgeschieden, auf sich und ihr Werk, die Inszenierung des Paradieses, konzentriert.121 Mit Gymnastik, Yoga und Meditation, unter weitgehendem Verzicht auf den Schleier von Kleidung, übten sie ihre Körper darauf ein, sich paradiesisch wahrzunehmen. Sie unterredeten sich über ihre Vorstellungen vom Paradies, um sich ein Bild von diesem zu machen. Und sie suchten die Inspirationen und das Wissen, welche die Pforten zum Paradies öffnen würden. Sie atmeten in ihren Geist die Theatertheorie von Antonin Artaud, Weisungen aus dem chinesischen Orakelbuch I Ging und dem Tibetanischen Totenbuch, Lehren von Jean-Jacques Rousseau, Martin Buber und R. D. Laing, Gedanken aus der Kabbalah, dem Chassidismus und Tantrismus ein. Und sie formten aus allem die Vision der erlösten Welt im ‚Schauspiel‘ ihrer Körper. Diese, zum Paradies inszeniert, so erwarteten sie, machten das Paradies wirklich. Julian Beck, die Leitfigur in der Existenz des Living Theatre, äußerte sich in Schriften verschiedentlich über das Motiv, das ihn zu seiner Theaterarbeit bewegte. Er hatte im Leben der Menschen das Leiden der Schöpfung und im Theater die kosmogonische Therapie dagegen entdeckt. Das Ziel von Theater sei ‚Verwandlung‘ (transformation), Antwort insbesondere auf die Not des Menschen, ein ‚anderer‘ werden zu müssen, verwandelt und dann frei von Chronos, dem Tyrannen, der seine eigenen Kinder verschlingt, und geheilt von der Zertrennung, die Menschen voneinander abhält und einander zu Fremden macht, so als ob jeder für sich selber ganz ausschließlich sei.122 In 121  Die symbolische Bedeutung der zeitlichen Daten, 14. Juli, 1968, wie der Orte, Avignon, Villagio Magico, sollte nicht übersehen werden. – Über die Geschichte des Living Theatre informiert: J. Tytell, The Living Theatre. Art, Exile, and Outrage, New York 1995. 122  Theandric. Julian Beck’s Last Notebooks, hg. v. E. Bilder, annotiert v. J. Malina, Philadelphia 1992, S. 4 f., S. 29.

150

Das Paradies in der Politik

den Wahrnehmungen Julian Becks mischen sich Empörung und Verzweiflung zu einer Deutung der Welt, für die eine Erlösung von dem Leiden, das die Schöpfung beherrscht, allein noch aus einem Gelächter über diese Schöpfung kommen könnte: „Nothing has worked, not Isaiah, not Gautama, not Jesus, not Gandhi, not Michelangelo, not Shelly (sic), not anyone, not the great Indian sages of east and west, we are placidly falling over the waterfall of the twentieth century into the fire of the twenty-first, and we laugh about it all the way.“123 Dies ist: Das Entsetzen in der Verlorenheit. Das Gelächter, in dem die Sprache untergeht. Die Gewißheit, es gebe kein Heil. Und dann: Der Gesang der Stimme. „Theatre can change it all. All and everything.“124 Das war das Lied, das Julian Beck vernahm, wie er Antonin Artaud zuhörte. Über diesen schöpfte er unmittelbar aus der Kultur jenes Wissens, das sich aus dem Blick für das Diptychon erklärt. Artauds Botschaft galt einem Theater, dessen Auftrag eine „Therapie der Seele“ sei. Die Welt litte an einer Verwirrung, so erklärte er, an dem Riß (rupture), der alles durchziehe, sodaß Worte, Gedanken, Zeichen nicht mehr die Sprache der Dinge seien, die sie bedeuten sollten.125 Angesichts dieses Leidens der Welt – die dahinschlittere und sich selber morde, ohne sich dessen gewahr zu werden – müsse man die „religiöse Idee des Theaters“ erneuern und darüber wieder in den Besitz der „schöpferischen und formenden Kräfte“ gelangen, die „alles regieren“. Theater ist für Artaud Alchemie: Es ist Wirkung auf die „Gestalt der Dinge“. Es ist „magische Operation“. Es ist „magische Macht“. Eine kritische Formulierung von Augustinus umwendend betont Artaud: Ja, der „höhere Sinn“ des Theaters liege genau darin, unter den Menschen die sie „errettende Epidemie“ (épidémie salvatrice) zu inszenieren.126 Die Menschen finden im Theater ihre Erlösung, weil das Theater die Erlösung in der Sprache ihres Leidens ausspricht: In den Körpern. Die Schöpfung, die in den Menschen zu Körpern zerfallen ist, wird durch Körper neu buchstabiert. In einer physique du geste absolu – nach Artauds Formel – bilden Körper Akte, mit denen jeder Körperakt einzelner Gestus und absoluter Gestus ist, Akt einer Schöpfung in Körpern, die in den Körpern die eine Schöpfung bleibt.127

123  Ebd., 124  Ebd.

S. 166.

125  A. Artaud, Le Théatre et son double, in: ders., Œuvres Complètes, Bd. IV, Paris 1964, S. 12, S. 102. 126  Ebd., S. 13, S. 38, S. 56, S. 58 ff., S. 74 f., S. 95 f. 127  Ebd., S. 75. Vgl. auch S. 111.



Das Paradies in der Politik151

Das erlösende Theater ist Körpertheater. Die Schauspieler darin bilden „Hieroglyphen“. Ihre Körper schreiben das Heil. „Je dis que la scène est un lieu physique et concret qui demande qu’on le remplisse, et qu’on lui fasse parler son langage concret. Je dis que ce langage concret, destiné aux sens et indépendent de la parole, doit satisfaire d’abord les sens, qu’il y a une poésie pour les sens comme il y en a une pour le langage, et que ce langage physique et concret auquel je fais allusion n’est vraiment théâtral que dans la mesure où les pensées qu’il exprime échappent au langage articulé.“128

Als sich in den Jahren von 1947 bis 1951 die Theatergruppe um Julian Beck und Judith Malina herausbildete, füllte sie Artauds Theorie des Theaters mit den Körpern der Schauspieler aus, die sich zum Living Theatre gruppierten. Die „konkrete und physische Sprache“ nahm Form an. Das Körpertheater des Living Theatre stellte sie dar und schrieb mit ihr die Erlösung der Menschenkörper auf die Theaterbühne. Vom landläufigen Theater, so notierte Julian Beck, werde der Körper immer noch mehr in die Form eines ‚Objekts‘ gedrängt (confined to thinghood). Dagegen müsse man aufbegehren, denn „wir kämpfen um unser Leben“. Im Theater müßten die, welche an ihm teilnehmen (und damit meinte er die Schauspieler wie die Zuschauer), ihren „heiligen Körper“(holy body) erfahren können, wie auf einer Reise zu jenem „verlorenen Kontinent, dem Körper, der anderen Galaxie“. Julian Beck beschrieb diese Reise mit Worten, in denen er Rousseaus Programm der Perichorese wiederholt. Denn sie soll eine Reise der Schauspieler „in andere Personen“ sein, in solcher Weise, daß sich die Akteure und die Zuschauer zusehends „ineinander auflösen“ (dissolve in each other), in die „gemeinsame Schöpfung“ hinein.129 Auf der Suche nach der „alchemistischen Formel“ (alchemical formulae), so notierte Julian Beck weiter, bewegte sich das Living Theatre auf jene Lösung zu, die es in dem Plan für Paradise Now fand. „We consulted the oracles, we used the arcs of our bodies, our lurching minds, incantation, raising and lowering body heat, breath, wind, human contact, patterns of light, spells, rituals, visions, dreams.“ Das Living Theatre faßte mit Paradise Now den Plan für ein „alchemistisches Theater“, das „Gold in Brot verwandelt“.130 128  Ebd., S. 45. – Zur neueren Auseinandersetzung mit Artaud vgl. die beiden Artikel „La Passion selon Artaud“ und „Un théâtre contre le culte du texte“ von Ber­ trand Poirot-Delpech in: Le Monde, 8./9. März 1998, S. 12. 129  J. Beck, The life of the theatre, San Francisco 1972, Abschnitte 32, 39. – Zur allgemeinen Dimension und Wirkkraft dieser Ideen in der zeitgenössichen Kultur vgl. den Abschnitt „Szene-Kultur: Das Verhältnis zum Körper“, in: Ch. Conti, Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegung in Deutschland von 1890 bis heute, Hamburg 1984, S. 175–182. 130  Ebd., Abschnitt 48.

152

Das Paradies in der Politik

Am 14. Juli 1968 wurde das ‚alchemistische Theater‘ im Cloître des ­Carmes zu Avignon inszeniert. Das Living Theatre initiierte die „Reise vom Vielen zum Einen und vom Einen zum Vielen“, Paradise Now. In dem ihm zugrundeliegenden Textbuch werden als Vorgaben der Inspiration zu dem Stück die Kabbalah, Chassidische und Tantrische Lehren, das I Ging und „andere Quellen“ genannt (wozu, wie verstreute Hinweise ergeben, R. D. Laing, Martin Buber, der Talmud und die Bibel gehörten). Darin heißt es auch, daß die Reise zu einer „Einheit von Schauspielern und Zuschauern“ führen soll, in der „Objekt und Subjekt verschwunden sind“ und nur das „Eine bleibt“. Mit ihr geschehe die Große Verwandlung, so wird gesagt, die Transfiguration der Schauspieler und all derer, die sich mit diesen zu der „spirituellen und politischen Reise“ (spiritual and political voyage) aufgemacht hätten. „The plot is The Revolution“. Es gehe bei der Reise darum, immer mehr in jene „Eigenschaften von Heiligkeit“ zu versinken, welche „die Attribute Gottes sind und die Eigenschaften des Menschen werden können“.131 Die Pforten zu dem Paradies der Körper sollten sich öffnen. Mit dem Schlüssel, den das Living Theatre durch sich selbst besaß. Und nach diesem Inszenierungsplan: Rung I The Rung of Good and Evil Rite I The Rite of Guerilla Theatre Vision I The Vision of the Death and Resurrection of the American Indian Action I The Revolution of Cultures Rung II The Rung of Prayer Rite II The Rite of Prayer Vision II The Vision of the Discovery of the North Pole Action II The Revolution of Revelation Rung III The Rung of Teaching Rite III The Rite of Study Vision III The Vision of the Creation of Life Action III The Revolution of Gathered Forces

131  Paradise Now. Collective Creation of the Living Theatre. Written down by Judith Malina and Julian Beck, New York 1971 (= Vintage Books), S. 5–13.



Das Paradies in der Politik153 Rung IV The Rung of the Way Rite IV The Rite of the Universal Intercourse Vision IV The Vision of Apokatastasis Action IV The Exorcism of Violence and The Sexual Revolution Rung V The Rung of Redemption Rite V The Rite of the Mysterious Voyage Vision V The Vision of the Integration of the Races Action V The Revolution of Action Rung VI The Rung of Love Rite VI The Rite of Opposite Forces Vision VI The Vision of the Magic Love Zap Action VI The Revolution of Transformation Rung VII The Rung of Heaven and Earth Rite VII The Rite of New Possibilities Vision VII The Vision of the Landing on Mars Action VII The Revolution of Being Rung VIII The Rung of God and Man Rite VIII The Rite of I and Thou Vision VIII The Vision of Undoing the Myth of Eden Action VIII The Permanent Revolution

Dieses Schema füllte das Living Theatre mit allen Sinnen aus, für eine Wirkung auf alle Sinne: Für die Augen die Ansicht eines Körperspiels zwischen Bewegung und Form, wie im Geschehen einer Schöpfung, und die Schau orchestrierender Farben, wie in der Gliederung einer Schöpfung; für die Ohren die Rezitative von Klangrhythmen und Wortliturgien, wie im Aussprechen einer Schöpfung, und der Chorus von Weisungen, wie im Ordnen einer Schöpfung; für die Hände, die Haut, die Nasen und Münder das Begegnen der Körper in einem Opus von Berührungen und Verbindungen, wie im Ausgestalten einer Schöpfung, und die Skulpturen körperlicher Akte, wie in der Geburt einer Schöpfung. Und allen Sinnen das hymnische Körperfest, die Inkantation der Körper.

154

Das Paradies in der Politik

Sie begannen mit dem Lied der Stimme, brachten die Stimme als Stimme der Revolte zu Gehör. „I am not allowed to travel without a passport“, so hob einer der Schauspieler an, und die anderen folgten ihm, wiederholten mehrmals denselben Satz, und jeder richtete sich damit an einen der Zuschauer. Noch sei jeder der Schauspieler von allen anderen Menschen getrennt, so heißt es im Regiekommentar, offizielle Grenzen hielten ihn zurück. „Die Tore zum Paradies sind ihm verschlossen“.132 Diesem ersten klagenden, an die Paradiestore pochenden Satz folgten weitere beschwörende Worte: „I don’t know how to stop wars.“ – „You can’t live if you don’t have money“. – „I am not allowed to smoke marijuna.“ – „I am not allowed to take my clothes off.“ – Und die Worte der Beschwörung wurden wieder in den Kreis der Zuschauer hinein gesprochen, damit auch sie den Weg wahrnahmen, den die Schauspieler in dem Ritual ihrer Worte zurückgelegt hatten. Diese hatten mittlerweile alle ihre Kleider abgeworfen („soweit es das Gesetz erlaubt“, sagt allerdings die Regieanweisung). Nackt, in der Bloßheit, ganz in der Wahrheit also ihrer Körper, „stehen die Schauspieler“, wie der Regiekommentar sagt, „vor den Toren zum Paradies“.133 Sie hatten in der Entkleidung ihrer Körper aber auch den Weg ‚zurück‘ in den Naturzustand gefunden. Aus ihrer Körpersprache erstand der „natürliche Mensch“. Und ihr Spiel zeigte die Entzweiung der Welt. Hier war die Welt der Vertreibung, das Böse aus menschlicher Schuld: „Under the pavement of New York you can hear the Indians“. Und dort war Eden, der Garten, in dem der Paradiesvogel das Lied vom Geheimnis des Wissens singt: „If I could turn you on If I could drive you out of your wretched mind If I could tell you I would let you know“.134

I would let you know. Und doch: Inmitten des Living Theatre war die Botschaft vernommen worden. Die Schauspieler stimmten vom Lied der Stimme die Strophe der Offenbarung an, in einer mosaischen Szene: Erste Frage: Antwort:

„Where Are You?“ „Here I Am“.

Zweite Frage: „How Long Will You Live?“ Antwort: „It Is Time To Revolt.“ 132  Ebd.,

S. 15. S. 16–19. 134  Ebd., S. 19–27. – „Die vier Zeilen „If I could turn you on …“, zitiert im Textbuch zu Paradise Now, sind entnommen aus: R. D. Laing, The Politics of Experience and The Bird of Paradise, (Fn. 17), S. 152 bzw. S. 156. 133  Ebd.,



Das Paradies in der Politik155

Und dann die Dritte Frage: „What Do You Want?“ Die Frage an den, der Einlaß begehrt. Die Frage der Prüfung. Die Frage nach der Wahrheit der Intention. Allein dem öffnen sich die Tore zum Paradies, der für es bereit ist. Durch dessen Pforten gelangt, wer geöffneten Auges vor ihnen steht, im Lichtgewande paradiesischer Erkenntnis. Der in das Paradies einzieht, folgt einer Vision: Der Vision, zu der er geladen ist. Die Schau paradiesischer Existenz geht dem Eingehen in diese voran. Die Frage: Was willst Du? ist die Erinnerung an die Vision der Antwort. Sage, daß Du Dich ganz dem Paradiese geöffnet hast, und Du wirst an Dir das Paradies erkennen. Schreibe Dich in die Botschaft von der Erlösung ein, und Du wirst den Text der Erlösung künden. Spreche die Vollkommenheit der Schöpfung aus, und Du wirst Körper ihrer Vervollkommnung sein. Die Frage war gestellt worden: Was willst Du? Und das Living Theatre bildete diese Antwort: To make the world glow with creation. To free all the energy wasted in financial transaction. To make life irresistible. To cut all the bureaucratic wasted time out of life. To feed all the people. To free men from armies. To change the demonic forces into the celestial. To stop distorting the mind of the people. To remove the causes of violence. To stop crippling the human body with frustration. To do useful work. To learn how to breathe. To work for the love of it and not for the money. To live longer than we do. To live without the police. To be free of the system. To change myself. To get rid of central control. To get rid of the class system. To supply what we need. To re-invent love. To seek what we desire. To make each moment creative. To stop wasting the planet. To be free of the force of The State. To stop dying of competition. To be free to create. To break down the walls that alienate. To get rid of a life of material greed. To get to know God in His madness. To make the destination clear.135

Das Living Theatre bildete die Antwort mit den Körpern seiner Schauspieler, die sich zur Syntax und den Worten der Erwiderung formten. Ein Schauspieler nach dem anderen war aus der Gruppe herausgetreten und hatte einen der Sätze ausgesprochen, diesen mit seinem Körper für die Wahrnehmung aller gefaßt. Jeder der Sätze in der Sequenz der Antwort wurde von einem Körper zum Geschehen ‚auf der Bühne‘ gemacht. Körper sprachen die Antwort. Sie formten die Antwort zu dem Schauspiel, das sie zeigten. Und es 135  Ebd.,

S. 39–41.

156

Das Paradies in der Politik

geschah ‚magisches Theater‘: Das Wort wurde Bild, das Ausgesprochene Wirklichkeit. Die Körper schrieben die Antwort. Sie war in diesen zu ‚sehen‘. Denn die Schauspieler verwandelten sich zu Buchstaben. Sie praktizierten mit ihren Körpern die symbolische Magie des Alphabets. Nach Lehren aus der religiösen Mystik bildet das Alphabet mit der begrenzten Anzahl seiner Buchstaben das Ganze der Schöpfung ab. Es symbolisiert die Einheit im Vielen. Vom ersten zum letzten Buchstaben – von Alpha zu Omega – umschreibt es die universale Zeit vom Anfang der Welt bis zu deren Ende. Es bedeutet, wie mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets zwischen aleph und taw, die Gesamtheit aller Dinge. Die Schöpfung wurde von ihrem göttlichen Schöpfer mit Worten geschaffen, und diese Schöpfungsworte drücken die Buchstaben des Alphabets aus. Sie sind die schöpferischen Zeichen für die Welt. Wer sie benützt – also in den Buchstaben des Alphabets schreibt –, übt auf die Dinge und das Geschehen in der Welt die göttliche Macht ihres Schöpfers aus.136 Und die Schauspieler des Living Theatre griffen zur physischen Magie der Menschen­buchstaben.137 Sie formten mit ihren Körpern selber die Buchstaben für ihre Schrift auf der Bühne. Sie luden ihre Körper zu magischen Zeichen auf, aus welchen die Macht zur Weltenschöpfung spricht. In Menschenkörpern ist das Schöpfungswort und in ihrer Körpersprache der Weltbeginn. Körper sagen Körpern ihre Schöpfung: Wir schreiben die Welt. Mit dem Abschluß der Antwort, nach deren letztem Satz („To make the destination clear“), war, entsprechend der Regieanweisung, die Frage gestellt worden: „What is this called?“ Ja, wahrlich, wie war dies zu benennen, was zu schauen war? Was bedeutete die Schrift, die das Living Theatre auf die Bühne schrieb? Die Schauspieler formierten sich zu einem physiko-magischen Akt. Sie taten wie angewiesen.138

136  Vgl. Paul Casanova, „Alphabetes magiques arabes“, in: Journal Asiatique, Nr. 19, 1921, S. 37–55, und 1922, S. 250–262; F. Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie, Leipzig 19252; M. Idel, „Talismanische Sprache in der jüdischen Mystik“, in: T. Schabert/R. Brague (Hg.), Die Macht des Wortes, München 1996 (Reihe Eranaos, Bd. 4), S. 299–334, insbes. der Abschnitt über die Lebendigkeit (hiyyut) der Buchstaben, identisch mit göttlicher Kraft (koah ’Elohi), S.  316 ff. 137  Vgl. dazu: I. Schabert, „Buchstäblicher Doppelsinn: Bildbuchstaben und Text“ in: K. Dirscherl (Hg.), Bild und Text im Dialog, Passau 1993, S. 129–144; dies., „Das Doppelleben der Menschenbuchstaben“, in: S. Kotzinger/G. Rippl (Hg.), Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam-Atlanta 1994, S. 95–106. 138  Paradise Now, S. 42.



Das Paradies in der Politik157 „And with their bodies the actors spell out the word:“ „ANARCHISM“ „What is anarchism?“, folgte sogleich die weitere Frage, wie die Weisung: „And with their bodies the actors spell out the word:“ „PARADISE“ „and chant the word:“ „NOW“

In Menschenkörpern geschah die Kosmogonie der Erlösung. Körper buchstabierten die ‚andere‘ Schöpfung. Sie formten sich zum schöpferischen Wort, das Körper wurde: Paradies. Die in Körper zerfallene Schöpfung holten Körper in ihre Einheit zurück. Sie schrieben in die Schöpfung das Erlösungswort hinein: Das Wort ihres Anfangs. Das PARADIES der Menschenkörper brachte der Welt das heilende Wort. In Körper zerfallen, fügte sie sich in Körpern wieder zusammen. Menschenkörper zeichneten die Große Befreiung auf die Bühne der Welt: Körper, vom Problem des Körpers befreit. Und alle, die dem Living Theatre ‚zuschauten‘, sahen es. Ja, und sollten dem völlig teilhaftig werden, im Paradise Now. Der Regiekommentar sah denn auch vor, daß sich ‚Schauspieler‘ und ‚Zuschauer‘ von nun an mehr und mehr miteinander vermengten, um sich am ‚Ende‘ in der „vollkommenen Stadt (City Absolute)“ zu finden, in der „alles die Mitte ist“, es „keine Türen und Wände“ gibt, und wo „all things say ‚thou‘ and all hands are joined in an unending embrace.“ Das menschliche Spiel sollte an seinem ‚Ende‘ übergehen in einen göttlichen ‚Anfang‘. „The absolute collective cannot be ‚made‘,“ so schließt der Regie­kommentar zu Paradise Now, „it can only be called and summoned. Since it has always existed it needs only to be named and addressed aright in order to appear. In its rapture, in the white heat of its thoughts, in its lion’s might, the heart will lead us to the City Absolute … This is the beginning.“139

139  Ebd., S. 45 ff., S. 149. – Zur neuesten Lage unserer Gesellschaften unter der Herrschaft des Gebots der Transparenz vgl. S. Benvenuto, „Postmoderner Voyeurismus“, in: Lettre International, H. 41, 1998, S. 101, z. B. folgender Absatz: „Diese voyeuristische Neigung unserer Gesellschaften wird heute nicht von einem englischen Ausdruck bezeichnet, sondern ausnahmsweise von einem russischen: Glasnost, Transparenz. Alles muß durchschaubar sein, nichts darf verdeckt oder geheim bleiben. Die Durchsichtigkeit der Information erscheint heute als grundlegendes Erfordernis der Demokratie – darüber hinaus ist sie heute aber eine Leidenschaft, die die Ethik, die Ästhetik und das Wissen unserer hyperindustrialisierten Gesellschaft durchtränkt.“

158

Das Paradies in der Politik

Das Paradies der Körper: Der magische Mensch Die ‚spirituelle und politische Reise‘ zum Paradies der Menschen in ihren Körpern ist eine Reise in den Glauben an den magischen Menschen. Überzeugender – noch logischer, noch konsequenter, noch eindringlicher – wie das Living Theatre kann man es nicht zeigen. Ein Paradies der Körper, das Paradies in der Politik, ist nur zu denken, wenn man den Menschen ‚magisch‘ sieht. Aber was heißt das: Den Menschen ‚magisch‘ sehen? Davon handelt die Geschichte von der ‚Stimme‘ und dem ‚Blick‘. Sie wurde soeben erzählt. Es ist nicht schwer, das Lied der Empörung zu hören, mit dem die Geschichte beginnt. Die Stimme, die es singt, wird von allen Menschen vernommen. Es ist der Gesang ihres Leidens im Leiden der Schöpfung. Und der Antrieb, aus dem sie schöpferisch sind. Aus dem Lied der Empörung entstehen die Strophen der menschlichen Kultur. Diese sind Widerhall der ‚göttlichen‘ Stimme. Werden wir es in unseren Werken erkennen, das verlorene Paradies? Und dann erscheint der ‚Blick‘. Das Fenster ist die Phantasie. ‚Draußen‘ zeigt sich die ‚andere‘ Schöpfung. Aus ihr erklingt die Stimme. Zum Lied fügt sich ein Schauen. Die Phantasie ist schöpferisch. Sie weitet und füllt sich, holt zu dem Lied von ‚draußen‘ Bilder der ‚anderen‘ Schöpfung herein. Das Fenster teilt sich zum Diptychon. Im Wechsel des Blicks wechseln Welten. Am Fenster seiner Phantasie sieht der Mensch den Traum seiner Macht. Vor seinen Augen zieht ‚Göttliches‘ vorbei, die vollkommenen Spiegelungen seines Geistes. Werden wir es in uns hereinholen, das verlorene Paradies? Am Fenster seiner Phantasie sieht der Mensch den Traum seiner Macht. Dies ist der magische Blick. Er führt Menschen in eine ganz andere Geschichte als jene, die man vom Menschen kennt. Und daher, so dachten wir, müßte sie denn wenigstens erzählt werden.

Die Stadt der Politik Eine Stadt sei ein Kunstwerk, so wird gerne gesagt, und es erscheinen dann dazu vor dem geistigen Auge die üblichen Bildzitate aus schönen Reisebüchern oder Architekturbänden wie die Silhouette von Florenz oder das Pano­ rama von Paris mit den Seine-Inseln und Notre Dame in der Mitte. Eine Stadt ist ein Kunstwerk, gewiß, daran wollen wir nicht zweifeln. Aber bevor sie ein Werk baulicher Ästhetik oder irgendeiner anderen Art ist, ist sie ein Werk nach dem Bilde der Politik und der Gesellschaft, die sich zu ihr, der von Menschen geschaffenen Schöpfung ‚Stadt‘, verständigt und in der sich die Menschen zu einer Form ihrer selbst, einer Gestalt von Politik und Gesellschaft, gefunden haben. Die Stadt ist Bild ihrer Bildnerin. Und diese Bildnerin trägt einen Namen: Er heißt ‚Politik‘.1 Florenz und Siena gefallen uns, wie es Perugia und Arezzo tun, oder andere ‚alte‘ Städte, welche auf eine, wie es scheint, ganz ‚natürliche‘ Weise ästhetisch anziehende und gesellschaftlich inspirierende Stadtkörper für ein Leben von Menschen mit Menschen sind. Doch nichts daran ist natürlich, alles vielmehr das Ergebnis eines Vorgehens alter Zeiten, auf das ohne weiteres das moderne Wort ‚Stadtplanung‘ paßte: Ein überaus enges und detailliertes, und mitunter so hypertrophes Regelungswerk baulicher, wirtschaft­licher und gesellschaftlicher Vorgaben, daß man meinen möchte, man habe sich in der Epoche geirrt und sei nicht, wie gedacht, beispielsweise im Siena der frühen Renaissance, sondern in einer heutigen Stadt unter der Herrschaft der modernen Bürokratie. Die Schönheit alter Städte ist Kunst. Sehr wohl, und der Beiklang von ‚Künstlichem‘ sollte nicht überhört werden. Denn sie ist das Werk politisch bewußter und – fast noch wichtiger – politisch ständig aufrecht erhaltener Gestaltung, ein Werk, hergestellt und erhalten mit den Mitteln von Gesetz, Vorschrift, Verordnung, Kontrolle, Steuern, Gebühren, gesellschaftlichen Maßnahmen und Eingriffen, planerischen und politischen Entscheidungen. Dies Erstdruck in: G. von Graevenitz (Hrsg.), Die Stadt in der Europäischen Romantik, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2000, S. 273–276. 1  Was ich hier vortrage, wird nicht ganz ohne Vorbereitung formuliert (sonst wäre die Kürze sträflich). Vgl. Verf., Boston Politics. The Creativity of Power, München/ New York 1989; „Wie werden Städte regiert“, siehe in diesem Band, S. 163–189; Verf., Die Architektur der Welt. Eine kosmologische Lektüre architektonischer Formen, München 1997.

160

Die Stadt der Politik

sind die klassischen Mittel politischer Herrschaft und Macht: In den Amts­ stuben derer, die sie anwenden, sind sie langweilig und papieren lebenslos, dürr und grau in ihrer Paragraphenform; und dann in der Stadt draußen, der sie gelten, sind sie Adern schöpferischer Kraft und Impulse zu Lebensformen und gesellschaftlicher Gestalt, Unruhe stiftend, Widerspruch herausfordernd, Anteilnahme gebietend, die Bewegung des menschlichen Lebens in der Bewegung dieses Gehäuses menschlichen Lebens haltend, das ‚Stadt‘ heißt. Warum ist München, um zu abstrakten Sätzen auch eine Anschauung zu bieten, noch immer eingebettet in herrliche Landschaften nach bayerischer Art? Läge es in Amerika, hätte es sich längst bis in die Alpen hinein ausgedehnt, Oberbayern aufgeschluckt, und Salzburg und Innsbruck zu Vorstädten einer Metropolis nach kalifornischen Ausmaßen gemacht. Das oberbayerische Land wäre übersät mit Ein- und Mehrfamilienhäusern, kleineren und größeren Villen, Appartementkomplexen, Einkaufszentren, Versorgungs-, Verwaltungsund Sportgebäuden, wie es durchschnitten und bedeckt von den Verkehrswegen wäre, mit denen sich München – nach dem Muster des Urbanisierungsprozesses einer sich ausdehnenden Metropolis – in die es umgebenden Felder und Wiesen ausgestreckt und sich diese krakenhaft angeeignet hätte.2 Doch München liegt nicht in Amerika, sondern in einem europäischen Land, in dem es zu der Zivilisationsform ‚Stadt‘ offenbar – noch, möchte man fast sagen – Vorstellungen gibt, die zum einen eine bestimmte Stadt­ vision beinhalten und zum anderen mit einem gesellschaftlichen Konsens korrespondieren, der sie trägt und der es erlaubt, sie in der Weise verbind­ licher Normen auch allgemein durchzusetzen. Denn die faktische Wahrheit ist ziemlich brutal: Planungshoheitliche Beschränkungen wie städtische und regionale Entwicklungspläne, Flächennutzungspläne etc. dämmen die Ausdehnung Münchens, wie die anderer oberbayerischer Gemeinden, machtvoll ein, mit der unvermeidlichen Folge, daß Bauland wegen der planerisch, also ‚künstlich‘ aufrechterhaltenen Knappheit des Angebots überaus teuer ist (wenn es überhaupt zu haben ist) und unzählige Träume vom eigenen Haus oder auch nur der größeren Wohnnung wegen der hohen Kosten denn bloße Träume bleiben. Amerikaner würden sich in eine solche Verdichtung von Stadt nicht zwingen lassen. Sie wollen, auch der Stadt und deren Gestalt gegenüber, vor allem die ‚Freiheit‘, das heißt die indivuelle Wahl jedes Einzelnen zu seiner Art von ‚Glück‘. Europäer hingegen lassen sich ‚zwingen‘, weil die winzigen Appartements – ‚winzig‘ verglichen mit den Häusern der amerikanischen suburbia –, in denen viele von ihnen leben, den entscheidenden Vorzug haben, daß diese inmitten der Stadt ihrer Stadtvision sind: nicht in der Einöde eines gestaltlos zerfließenden Siedlungsbreis, sondern im ver2  Sehr eindrücklich dazu sind die Bildvergleiche in: K. Lynch, A Theory of Good City Form, Cambridge, Mass. 1981.



Die Stadt der Politik161

dichteten Raum einer von allen Lebensregungen angefüllten und durch diese aufs Vielfältigste gestalteten Stadt.3 Neben München gibt es also noch die oberbayerische Landschaft. Kein ‚Urbanisierungsprozeß‘ (welch irreführend aseptischer Begriff!) hat sich die Isar hinauf bis in die Alpen hinein vorgefressen. Diese Sachlage ist alles andere als natürlich. Sie ist reine Kunst. Ein Kunstwerk: ‚München eingebettet in herrliche Landschaften nach bayerischer Art‘. Die Schöpfer dieses Kunstwerks aber sind Politik und Gesellschaft, die Politik in der Form von politischen Institutionen mit ihren planerischen Vorgaben und Entscheidungen, die Gesellschaft in der Form einer Vision von Stadt, welche die Bürger dieser Gesellschaft gemeinsam (er)tragen. Warum gibt es in Paris, so könnte man sich zur vertiefenden Anschauung noch weiter fragen, so viele kleine, von privaten Kaufleuten – und nicht selten ‚Originalen‘ – unterhaltene Läden, in denen man im näheren Umkreis alles findet, was man sucht, beim Metzger um die Ecke, beim Käsehändler und dem Bäcker einige Schritte die Straße hinunter, beim Tante-Emma-Laden im Nachbarhaus, beim Obstgeschäft auf dem zwei Straßenkreuzungen entfernten Boulevard? In deutschen Städten wird man lange wandern müssen, um auf ein solches Paradies alltäglicher Lebensqualität zu stoßen (dafür wird im angegrünten Deutschland umso mehr über die ‚Lebensqualität‘ geredet). Was hat hier Paris voraus? Wieder die gestalterische Macht der Politik: Sie zwingt die Todesengel der Tante-Emma-Läden, die Großmärkte, die Einkaufszentren, die grandes surfaces, wie man sie im Französischen nennt, mit dem einfachen aber wirksamen Mittel von amtlichen Verordnungen, vor den Toren von Paris zu bleiben. Man läßt sie in die Stadt intra muros nicht hinein. Eine Stadt ist das Ergebnis gestalterischer Entscheidungen. Und an diesen Entscheidungen nehmen nicht nur die Menschen teil, die in der Wahrnehmung von Regierungs- oder Verwaltungsfunktionen für eine Stadt oder auf diese hin politisch handeln. Vielmehr nehmen daran alle die Menschen teil, die irgendeine Handlung ausführen, von der eine Stadt mitgestaltet wird: der Architekt aus Übersee, der sich bei einem Wettbewerb durchsetzt und nun das neue Museum in der Stadt nach seiner Art bauen wird; der Journalist eines großen Blattes, der mit seinen preisenden Artikeln über die Stadt diese anziehend für viele und vielerlei Menschen macht; der Wirtschaftsmanager, der sein Unternehmen dazu bringt, das neue Werk hier und in keiner anderen Stadt anzusiedeln; diese eine Familie wie viele andere in der Stadt, die sich dazu durchringt, doch nicht ins Grüne hinauszuziehen, sondern der Stadt, auch in beengten Wohnverhältnissen, treu zu bleiben; der junge Student, der mit seinen Freunden abends eine 3  Vgl das Konstrastbild einer ‚europäischen‘ Erfahrung ‚amerikanischer‘ Stadtwirklichkeit, wie es die klassische Studie von Jane Jacobs entwarf: The Death and Life of American Cities, London 1962.

162

Die Stadt der Politik

Kneipe und damit das Ambiente der Stadt belebt, und sich nicht für autistische Computerspiele in seine Bude vergräbt; der Stadtbewohner, der auf den Gebrauch seines Autos in der Stadt weitgehend verzichtet und ihr so, wie andere, die das gleiche tun, die Chance zu einer Stadt für Menschen gibt … Das Kunstwerk Stadt ist in seiner Weise einzigartig. Denn es bildet seine Schöpfer ab. Es ist das Zeichen der Menschen, die in diesem von ihnen geschaffenen Gebilde ihre Vision von menschlicher Gesellschaft auslegen. Europäer, um es wieder anschaulich zu verdeutlichen, erstaunen regelmäßig über das gesichtslose Aussehen amerikanischer Städte, diesen Häusermeeren zum Gebrauch, gezeichnet von der reinen Herrschaft der wirtschaftlichen und sozialen Funktionen, denen sie dienen.4 Und sie sind besonders erstaunt, wenn Amerikaner nicht ebenso erstaunt wie sie selber sind. Für jene ist das alles überaus ‚selbstverständlich‘. Denn zum amerikanischen Selbstverständnis gehört keinesfalls eine städtische, sondern vielmehr eine agrarische Vision des menschlichen Lebens, auch wenn sich diese nicht anders als in der Illusion von suburbia realisieren läßt.5 Städte haben in der amerikanischen Kultur nur den Status zweckmäßiger Einrichtungen, so nützlich wie das Vorhandensein eines post office, eines saloon, eines hard ware und eines grocery store an einer junction irgendwo in der Wüste. Das Leben eines freien Bürgers der amerikanischen Republik spielt sich woanders ab: auf seinem Besitz, dem Landgut des gentleman, oder dem Hof und den Feldern des Farmers (und Surrogatformen wie eben suburbia oder dem country club). Im Freiraum seines Besitzes ist der Bürger Herr seiner selbst, niemand kann ihn zu irgendetwas zwingen, ihm etwa vorschreiben, sein Haus in dieser oder jener Farbe anzustreichen, es mit schiefergrauen oder ockerfarbenen Dachziegeln zu bedecken. In einer euro­päischen Stadt müßte er sich solchen Vorgaben beugen, Dutzenden von dieser Art. Wo bliebe die Freiheit? In Europa würde man ihm antworten, daß zur Freiheit auch die Verpflichtung des Gemeinsinns gehört, eine allgemein schöne und also in gleichen Bauelementen gehaltene Stadt zu fördern und zu schaffen. Der Sprecher für Amerika würde entgegnen, daß man ihn so vor die Wahl stellt, zwischen einem allgemeinen Zwang zum guten Stil und der Freiheit zum individuellen, und folglich auch schlechten Geschmack zu entscheiden. Da sei es für ihn klar, wie er sich entschiede: für die Freiheit natürlich – und seien die amerikanischen Städte noch so häßlich.6 4  Und man ist sich schnell darüber einig, daß es Ausnahmen gibt: San Francisco und Boston, und, vielleicht noch, Teile von Chicago oder Seattle. 5  Vgl. Oscar Handlin/John Burchard (Hrsg.), The Historian and the City, Cambridge, Mass. 1963. 6  Der hier wiedergegebene Dialog ist nicht ganz so imaginär wie er erscheinen mag. Er ist inspiriert von Gesprächen des Verfassers mit Edward C. Banfield, dem Interpreten amerikanischer Stadtauffassung in klassischer Ausprägung.

Wie werden Städte regiert? Wissenschaft und Wirklichkeit Wenn ich mich im folgenden so äußern würde, wie man sich als Wissenschaftler äußern kann, würde ich nichts Geringes riskieren. Ich hätte einen Leser zwar immer noch ‚vor‘ mir, aber bald nicht mehr bei mir, bei dem, was ich sage. Ich würde diesen langweilen. In dem Bemühen, bei der Mitteilung von Wissenschaft diese selbst zur Mitteilung zu machen – sie also in einer Weise mitzuteilen, daß es sich bei dem Mitgeteilten um nichts anderes denn um Wissenschaft handeln kann –, hätte ich die Möglichkeit verscherzt, noch irgend jemandem wirklich etwas mitzuteilen. Ich würde Leser verloren haben, bevor diese überhaupt ein Interesse an diesem Text gefunden hätten. Ich werde als Wissenschaftler mich in einer Weise wissenschaftlich äußern müssen, die anders ist als die Wissenschaft, welche sich um die Frage herum ausgefaltet hat, um die es hier geht: Wie werden Städte regiert?1 Würde ich der Sprechweise dieser Wissenschaft folgen, würde ich riskieren, wovon ich soeben sprach. Ich würde mit einer Fallstudie beginnen und in dieser Fall­ studie zerfaserte sehr bald der Faden dieser Untersuchung. Man erführe zwar scheinbar alles über den Entscheidungsprozeß zum Neubau eines Krankenhauses in Oberuntersuchungsstadt, wenn die Aufmerksamkeit – dies vorausgesetzt – nicht zuvor erlahmte, unter der Einwirkung der langwierigen und ins Minutiöse verästelten Darlegung all der verwirrend vielen Einzelheiten, zu denen sich dieser Fall, würde er nur erforscht worden sein, wie es sich gehört, leichterdings aufgehäuft hätte. Aber man fände auch, daß das Verhältnis zwischen dem Aufwand, der veranstaltet worden ist, und dem Ergebnis, das schließlich vorliegt, arg gering wäre. Es mag ja sein, daß es für die Aufhellung von Politik in Städten förderlich ist, den Fall ‚Neubau eines Krankenhauses in Oberuntersuchungsstadt‘ analytisch zu rekonstruieren. Wäre es aber wirklich notwendig, diesen Fall zu verfolgen bis in jede Einzelheit hinein, die für ihn relevant zu sein scheint?

1  Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich im wesentlichen, in empirischer wie theoretischer Hinsicht, auf meine Studie: Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin/New York 1989 (mit ausführlichen Materialdarstellungen und Hinweisen auf weiterführende Literatur). Erstdruck in: Tilo Schabert (Hrsg.): Die Welt der Stadt. München/Zürich 1991, S. 167–198.

164

Wie werden Städte regiert?

Natürlich, würde uns der Wissenschaftler sagen, dem es angelegen ist, sich in die Wirklichkeit städtischer Politik so zu vertiefen, daß ihm von dieser nichts, gar nichts entgangen ist, wenn er aus der Tiefe wieder hochkommt und von Erkenntnissen spricht. Denn das Exerzitium führte in der Tat zu Erkenntnissen. Allerdings handelte es sich um andere als jene, die man erwartet hätte; Wissenschaft ist ja immer eine Ironie. Im Verfolg seiner Fallstudie kann unser Wissenschaftler zu der einen Erkenntnis gekommen sein: Er hat für seinen Fall noch immer nicht alle Fakten gesammelt, es wären wohl da und es wären wohl dort noch weitere zu finden, und überhaupt würde der eine Fall nicht genügen, etwas von allgemeinerer Art sagen zu können, es müßten vielmehr, wäre der eine Fall einmal ganz erforscht, zusätzliche Fälle angegangen und gleichermaßen gründlich durchleuchtet werden, was immer noch nicht viel hieße, denn die einzelnen Fälle nützten nichts, solange es nichts gäbe, wodurch sie miteinander verglichen werden könnten. Also ginge es des weiteren darum, eine Vergleichsmatrix zu entwerfen, wobei aber zu berücksichtigen sei, daß diese nur insoweit gelten könne, wie sie empirisch abgesichert sei; und dies sei natürlich nur zu leisten durch eine Fallstudie, eine zweite, eine dritte, und sofort und sofort, wie beschrieben. Aus diesem Zirkel finden viele, die sich auf Fallstudien eingelassen haben, nicht wieder heraus. Unserem Wissenschaftler, den wir uns hier vorstellen, kann aber auch Glücklicheres geschehen sein. Er kann im Verfolg seiner Fallstudie zu der anderen, ihn rettenden Erkenntnis gekommen sein. Denn diese Erkenntnis hält ihn davor zurück, noch weiterhin in der endlosen Möglichkeit der Wirklichkeit, Fakten herzugeben, den Weg zu sehen, diese Wirklichkeit zu fassen. Er erkennt, daß es so viele Fakten gibt, wie er davon finden will, oder umgekehrt formuliert: Der Umfang einer Fallstudie wird durch den Umfang der sie hervorbringenden Forschung und nicht etwa durch den ‚Fall‘ abgesteckt; dieser ist nur das gedankliche Konstrukt des Forschers, der sich vorgenommen hat, einen ‚Fall‘ zu untersuchen; den ‚Fall‘ in der Wirklichkeit gibt es dann allein in der Weise wie der Forscher sich diesen aus der Wirklichkeit herausschält, indem er sich denkt, so müßte sich der ‚Fall‘ in der Wirklichkeit ereignet haben. Wer sich in die Realität städtischer Politik vertieft, wird bei dem, was er nach einiger Zeit alles weiß, nicht notwendigerweise etwas wissen. Und das, was er uns sagen kann, wenn er nicht noch immer forscht, wird überdies uns selbst betreffen. Wir sind es, die sich sagen, es gebe eine Wirklichkeit städtischer Politik. Aber gibt es sie? Selbstverständlich, werden wir uns selber sofort zureden, schließlich gibt es Städte. Und Städte werden regiert. Unsere Anschauung beirrte uns jeden Tag, würden wir uns in diesen Gewißheiten täuschen. Die Stadt – wir sehen sie, spüren sie, können sie, plastisch wie sie ist, unmittelbar greifen. Und ihre



Wie werden Städte regiert?165

Regierung  – auch sie ist uns unzweifelhaft anschaulich; in deren zentralem Gebäude zum Beispiel, dem Rathaus; oder in den Geschäftigkeiten der Stadtpolitiker, über die der Ortsanzeiger schreibt; oder in den Behörden, die uns förmliche Briefe senden, Zahlungsaufforderungen zumeist, was diese Briefe ganz unvergleichlich macht in ihrer Qualität für die Anschauung. Und doch, es wäre etwas voreilig, würde ich jetzt etwa folgenden Satz formulieren: Die Wirklichkeit städtischer Politik ist, wie städtische Wirklichkeit überhaupt, eine Sache alltäglicher und allgemeiner Erfahrung. Wäre dem so, könnten wir uns Städte und ihr Regierungswesen näher besehen, sehr genau besehen sogar, und alles wäre uns danach noch so anschaulich wie zuvor. Doch es wird sich, gehen wir diesen Weg, etwas anderes ereignen. Die städtische Wirklichkeit vor uns wird sich auflösen. Die Stadt unserer Anschauung – die uns gewisse Stadt – zerfällt, wie wir sie als Objekt unserer Anschauung – die für uns wirkliche Stadt – untersuchen. Im Modus unserer Anschauung existiert die Stadt, in sich zusammenhängend, als ganzes Ensemble in vielfacher Wirklichkeit, so kompakt, daß wir von der Stadt, die jeweils gemeint ist, nur den Namen nennen müssen, um in der Anschauung das Ganze dieser Stadt zu evozieren: München. Im Modus unserer Analyse hingegen entdecken wir eine Stadt nur immer verschieden, auseinandergeklafft, in all die Facetten zerteilt, die wir an ihr, wie wir sie auf das eine, auf das andere hin untersuchen, sehen: ihre Architektur, ihre Wirtschaft, ihre Rechtsordnung, ihre Kultur, ihre Sozialstruktur, ihren Verkehr, ihren Wohnungsmarkt, ihre Verwaltung, ihre Politik. In der Analyse ist eine Stadt immer die Stadt der Analyse, die Stadt des Verkehrsplaners oder die Stadt des Juristen, die Stadt des Geographen oder die Stadt des Soziologen, die Stadt des Historikers oder die Stadt des Ökonomen. Deshalb blieben auch alle Versuche erfolglos, eine wissenschaftliche und gleichzeitig allgemeine Definition für das Phänomen Stadt zu finden. Wissenschaftlich zerfällt jede Stadt in ‚Städte‘. Den Zusammenhang einer Stadt finden wir nur vor und jenseits der wissenschaftlichen Analyse, in der Stadt unserer Anschauung.2 2  Auf klassische Weise hat dies Werner Sombart formuliert: „Ich denke, … daß die Antwort: was unter einer ‚Stadt‘ zu verstehen sei, verschieden ausfallen wird, je nachdem die Merkmale uns von einer anderen Stelle gegeben oder von uns erst zu schaffen sind. Jenes ist der Fall, wenn wir Gesetzeskunde treiben, bestimmte Urkunden interpretieren wollen oder dergleichen. Selbstverständlich haben wir dann nur zu fragen: was ist eine ‚Stadt‘ im Sinne des Gesetzes vom  … Hier ist die Begriffsbestimmung eine Interpretationskunst. Der von der Wissenschaft durch Interpretation gewonnene Begriff mag als analytischer Begriff bezeichnet werden. Ganz etwas anderes ist es aber, wenn wir den Begriff selbst bilden dadurch, daß wir beliebige Merkmale zusammenstellen und zur Einheit zusammenfügen. Alsdann ist keine Stadt da, ehe wir sie nicht gedacht haben. Man kann die diesem Verfahren entspringenden Begriffe ganz allgemein synthetische Begriffe nennen. Über ihre ‚Richtigkeit‘ entscheidet allein der Zweck: sie sind richtig, wenn sie zweckmäßig sind.“ (Sombart,

166

Wie werden Städte regiert?

Kulissen und Masken Wenn ich dies etwas anders formulieren würde, könnte ich also sagen: Wir wissen, was eine Stadt ist, aber was eine Stadt wirklich ist, wissen wir nicht. Die Tugend der Bescheidenheit bekommt natürlich auch der Wissenschaft; diese kann einer allgemeinen Sympathie gewiß sein, wenn sie eingesteht, daß sie über bestimmte Dinge zwar etwas und dann aber nichts weiteres mehr zu sagen vermag. Nur ist die Sympathie des Publikums kein Maßstab für die Wissenschaft, und hinter der Sympathie harrt auch die gleichfalls allgemeine Erwartung, daß die Wissenschaft vor sich selbst nicht aufgibt; sie ist doch die Disziplin derer, die nie aufgeben, weil sie sich in der Kunst geübt haben, ständig aufzugeben. Die Kunst, sich selbst ständig in Frage zu stellen, praktizieren Wissenschaftler sehr gerne; die Disziplin hingegen, Fragen beständig zu stellen, befolgen sie meistens sehr behutsam. Niemand liebt es, immerzu im Ungewissen zu sein, auch Wissenschaftler nicht. Und die Praxis des sich wiederholenden Aufgebens wissenschaftshafter Propositionen trägt zumal noch den Anschein mit sich, dies sei die wahre Wissenschaft. Es muß doch viel gedacht werden, wo ein Paradigma neben dem anderen steht, ein Modell auf das andere folgt, ein Diskurs nach dem nächsten kommt. In der Literatur zu der Frage: ‚Wie werden Städte regiert?‘ wimmelt es von Paradigmen, Methodologien, Redeweisen, Theorien. Und das, worauf die Frage eigentlich zielt, wird nicht oder nur dürftig erklärt.3 Man weiß, wie Städte regiert werden, aber wie Städte wirklich regiert werden, das weiß man nicht. Und statt der Disziplin, nie aufzugeben, übt man die Kunst, ständig aufzugeben. Angesichts der arcana städtischer Politik und der scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten, in diese einzudringen, wird Wissenschaft zu einer Strategie umformuliert, weitere Wissenschaft zu vermeiden. Man gibt auf, wo man beginnen sollte, nicht aufzugeben. Man bescheidet sich in seiner Wissenschaft, wo man in der Anstrengung zur Wissenschaft gänzlich unbescheiden sein sollte, und bekennt, wie die Autoren eines Buches über Politik in einer deutschen Stadt, was nicht bekannt werden dürfte: „Wissenschaft hört hier auf, wir können allenfalls Eindrücke wiedergeben.“4

Werner: Die vorkapitalistische Wirtschaft, 2. Aufl., München/Leipzig 1916, Nachdruck München 1987, Bd. I, 1, S. 127). 3  Vgl. die Übersicht von Fried, Robert C.: Comparative Urban Policy and Performance, in: Greenstein, Fred I./Polsby, Nelson W. (Hrsg.): Handbook of Political ­Science, Bd. 6, Politics and Policymaking, Reading 1975, S. 305–379. 4  Ellwein, Thomas/Zoll, Ralf. Wertheim. Politik und Machtstruktur in einer deutschen Stadt, München 1982, S. 95.



Wie werden Städte regiert?167

Wer nicht mehr wissen will, was er nicht weiß, erklärt, daß er das, was er nicht weiß, deshalb nicht weiß, weil man es nicht wissen könne. Er umstellt die Wirklichkeit mit perzeptuellen Kulissenwänden, die er aus seinem vorhandenen Wissen heranschiebt. Und nun kann er beruhigt forschen. Er wird Aufregendes herausfinden: Es ist Zeit für einen Kulissenwechsel. Aber er wird auch feststellen, wie konstant die Produktion von Wissenschaft in den Kulissen ist: Man weiß nie mehr, aber man weiß dies immer auf eine andere Weise. Aus dem Kulissenrepertoire der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung möchte ich drei ihrer Wissenschaftsparavents hervorziehen und kurz beschreiben; sie gehören zu den wichtigsten. Den Anlaß dazu geben diese Paravents einmal selbst. Sie stehen uns im Wege; erfassen wir sie also und tragen sie beiseite. Zum anderen werden die Paravents von denen, die uns in den Städten regieren, als eben dies benützt, was sie sind: als Mittel des Verbergens. Die Regierenden sprechen, wie sie es von den Wissenschaftlern gehört haben, und erklären in deren Worten, was sie in Wirklichkeit nicht sagen wollen; sie setzen sich die Theorien und Modelle der Wissenschaftler als Masken auf. Schaut, wie bei uns regiert wird. Und wir zeigen es euch nach den Methoden eures Vorgehens. Eure Deutungen sind die Mittel unserer Deutungen. Alles ist euch wie uns gleich transparent. So reden die Regierenden. Und die Wissenschaftler sehen nicht, daß die Transparenz die Maske ist. Aber sie haben die Masken ja selber verfertigt. Wie die „black box“ zum Beispiel, jenen Paravent, dessen amüsanter Name „schwarze Schachtel“ nicht vermuten ließe, daß er von jenen vor sich hergetragen wird, die sich an der sonst eher trockenen Systemtheorie orientieren. Das Theorem ist so einfach wie vernichtend, es macht Wissenschaft zwecklos. Eine Stadt bildet ein politisches System; dieses System ist einerseits insoweit zugänglich, als man das, was ihm eingespeist wird, und das, was aus ihm herauskommt, jeweils exakt messen kann. Andererseits ist das System insofern ganz unzugänglich, als sein Inneres aller empiristischen Erkenntnisnahme verschlossen ist. Denn das Innere des Systems ist der Raum, in dem „Politik“ beziehungsweise das geschieht, was man sich von außerhalb unter dieser vorstellt: Machtgeschäfte, ungebührliche Absprachen, Einfluß der Leidenschaften, und, natürlich, Korruption. Wer die „black box“ sehen will, sieht sie auch: angeschwärzte und daher unbegriffene Politik. Ähnlich wird jener andere Paravent aufgerichtet, der auf der marxistischen Lehrbühne steht. Der Prozeß unserer gesellschaftlichen Existenz nimmt mehr und mehr die Form einer allgemeinen Verstädterung an. Den gesellschaftlichen Prozeß analysieren aber heißt, ihn in seiner fortgeschrittensten Form zu analysieren. Also sind Städte der gesellschaftliche Ort, an dem die Konflikte der Gesellschaft – der noch immer kapitalistisch, will sagen antagonistisch

168

Wie werden Städte regiert?

strukturierten Gesellschaft – am besten zu erkennen und am zureichendsten zu untersuchen sind. Wer sich für den gesellschaftlichen Prozeß interessiert, muß sich für das politische Geschehen in Städten interessieren, für jene Phänomene im Raume der urbanen Agglomerationen, in denen sich die Ausübung ökonomischer und gesellschaftlicher Macht einerseits und die sozialen Folgen beziehungsweise der Widerstand gegen dieselben andererseits manifestieren: Stadtsanierungen, räumliche Trennung einzelner Bevölkerungsteile, Hausbesetzungen, Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen, einseitige wirtschaftliche Funktion von Städten im Prozeß einer weltumspannenden, räumlich-ökonomischen Arbeitsteilung, das Problem städtischer Agglomerationen selbst, unkontrolliert wachsend und doch allein gesellschaftlich bestimmt. Man könnte dem Theorem folgen, zumindest aus Neugierde, wenn nicht unter der Annahme, die politische Realität in Städten werde instruktiv analysiert, aus einer ganz bestimmten Sicht. Doch der Paravent der Methode läßt von der Wirklichkeit nur wenig durch. Auf der marxistischen Lehrbühne erscheinen Städte bloß schemenhaft, schaut man entsprechende Studien an; es wird ein anderes, nicht ihr Stück gespielt. Den dritten Paravent, von dem ich hier noch sprechen will, halten beide Seiten, die Praktiker der Stadtpolitik wie deren Analytiker aufrecht. Er scheint genau das nicht zu sein, was er ist, nämlich eine politische Kulisse, und er eignet sich daher wie nichts anderes so gut dafür, die Politik des Regierens in Städten zu maskieren. Die Unverfänglichkeit des Namens täuscht: ‚local government‘ in der angelsächsischen, ‚administration municipale‘ in der französischen, ‚kommunale Selbstverwaltung‘ in der deutschen politischen Sprache. Die gängigen Begriffe suggerieren eine von der Politik getrennte, gewissermaßen ‚bloße‘ Verwaltung lokaler Dinge, die es bei diesen wie bei keinem anderen ‚Verwalten‘ menschlicher Angelegenheiten gibt. Diese selbst sind, von ihrer Natur her, politisch, und so ist denn auch alles politisch, was etwas in ihnen oder auch nur sich selbst in ihnen bewirkt. Eine kommunale Selbstverwaltung geht von Menschen aus, wird von Menschen ausgeübt und richtet sich auf Menschen zurück, und dies geschieht politisch: in endlos vielen wie in äußerst vielfältigen Bewegungen zwischen sehr zahlreichen Menschen. Wie kann nur eine von all diesen Bewegungen nicht politisch sein? Jeder Verwaltungsakt ‚bewegt‘ etwas, und er richtet diese Bewegung, im einfachsten Falle, als eine Bewegung zwischen Menschen aus, die ausgelöst wurde von einer anderen Bewegung und ihrerseits die auslösende Bewegung ist für wieder eine andere, weitere Bewegung. Als ‚Verwaltungsakt‘ ereignete sich zwischen Menschen ein Bewegungsprozeß, durch den unter ihnen geschieht, was für Menschen das Politische ist: Sie werden zusammengeführt, getrennt, beglückt, enttäuscht, belohnt, bestraft, befördert, herabgesetzt, bereichert, ärmer, wissender, unwissender gemacht. In das



Wie werden Städte regiert?169

Deutsche des Verwaltens paraphrasiert, hätte sich hingegen das Geschehen fest zusammengezurrt und erschiene wie ein politikferner, realitätsneutraler, ganz papierner Vorgang: Ein Kommunalbeamter wendet eine Vorschrift an, die betroffenen Bürger müssen sich der Vorschrift beugen. Aber natürlich wird auch hinter dieser Darstellung – diesem Paravent – menschliche Wirklichkeit, und also Politisches, geformt, und zwar zumeist sehr empfindlich: Das vor Jahren gekaufte Grundstück darf nun doch nur anderthalbstöckig bebaut werden, eine große Familie wird sich hier nicht entfalten können. Die Erzählung Man kann sich verlieren, in seinem Forschen, wenn man einzudringen versucht in das Regierungswesen von Städten. Und man kann immerzu abgleiten, an jenen Kulissenwänden, von denen es umstellt ist. Man riskiert nichts, wenn man sich fragt: Wie werden Städte regiert? Aber man riskiert die Antwort selbst, will man die Frage wirklich beantworten. Die wenigen, die es versucht oder den Versuch zumindest durchdacht haben, erheben wie aus einem Mund eher warnende Töne. Man wolle zuletzt ja ein Bild politischer Wirklichkeit präsentieren, das tableau politique von Städten, wie sie regiert werden. Aber dazu müsse man zuvor eine Kleinstarbeit leisten, die der des Detektivs nicht unähnlich sei; dieser muß erst mühselig Steinchen für Steinchen sammeln, bevor er das Mosaik aus Personen, Ereignissen, Sachen entwerfen kann, aus dem heraus dann ersichtlich wird, was vorher nicht sichtbar war: das gesuchte, in sich schlüssige Geschehen. Der Weg zur politischen Wirklichkeit von Städten führt zu dieser hin und von dieser weg. Man muß in die black box hineingehen, in die Innenwelt der städtischen Regierungswelt. Und man muß ‚draußen‘ bleiben, in einem betrachtenden Abstand zu der Regierungspraxis, die man sieht; denn erst aus diesem Abstand zeigt sich, was man sieht: die gesehene Regierungspraxis in ihren gesuchten Formen. Die politische Wirklichkeit von Städten ist weder in dem zu fassen, was sie im einzelnen alles ist, noch in dem, was sie darstellt. Würde man sich auf die Einzelheiten konzentrieren, würde man die Stadt regiert sehen von diffusen Einflüssen in einem chaotischen Feld unübersichtlich vieler Personen. Würde man sich auf das Gesamtbild konzentrieren, würde man die Stadt regiert sehen von ihren sozialen, politischen Gestalten, wie man sie allgemein kennt: der Stadtrat, die Verwaltung, die Honoratioren, die Wirtschaft, die Parteien, die Interessengruppen, die Öffentlichkeit. Doch Städte werden nicht auf diese noch auf jene Weise regiert. Wie sie regiert werden, dies läßt sich nur in dem Modus sagen, den man in der Malerei den Pointillismus nennt. Im Blick auf jede Einzelheit gewinnt der Betrachter gegenüber allen Einzelheiten das ganze Bild. Man darf die Wirklich-

170

Wie werden Städte regiert?

keit städtischer Politik nicht wissen wollen, man muß sie erzählen. Erst im Erzählen erscheint sie, die städtische Politik, und zerfällt nicht, wie in der empirischen Analyse, und entzieht sich nicht, wie im systematischen Zugriff. Ich habe, wie ich mich hier zu äußern begann, zu erzählen begonnen, um die politische Wirklichkeit, von der wir etwas erfahren wollen, selbst auftreten zu lassen: im Modus dieser Erzählung. Sie hat uns schon einiges erzählt. Hören wir ihr noch weiter zu. Figuren Städte werden autokratisch regiert. Dies mag schockierend klingen, aber es ist wahr. Die Macht, der das politische Geschehen in Städten unterliegt, ist die Macht einzelner; und die Figur des Bürgermeisters (beziehungsweise des Oberstadtdirektors, City Manager oder Chief Executive) ist fast immer jene politische Figur, in der die autokratische Macht auftritt. (Ich behaupte also nicht, daß man es stets mit dem Bürgermeister selber zu tun hätte; es kann im konkreten Geschehnis auch jemand anders sein, der als ‚Bürgermeister‘ handelt; so wie es möglich ist, daß es mehrere sind, die in die Figur schlüpfen.) Wir haben natürlich alle eine demokratische Scheu, autokratische Dinge beim Namen zu nennen. Aber man muß noch keineswegs die Demokratie verloren sehen, wenn man entdeckt, daß sie in Städten autokratisch regiert. In den Vereinigten Staaten richten Bürgermeister seit langem schon über ihre Städte eine machtvolle, personale Herrschaft auf; der Bürgermeister als „Boss“ seiner Stadt ist in der amerikanischen Politik kein außergewöhnliches Phänomen; es manifestiert noch immer die Demokratie, wenn auch sehr mächtig. Wie anders als mit Macht wollen sich freie Bürger im Chaos von Chicago oder New York regieren?5 So offen, wie man es nicht vermuten würde, wird in Frankreich über städtische Autokratien und die einzelnen Stadtfürsten im Lande gesprochen. Sowohl in der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit wird dafür ein ganz farbiges und sehr plastisches Vokabular verwendet, das, nicht von ungefähr, der höfischen Welt entnommen ist. Jacques Chaban-Delmas, Bürgermeister von Bordeaux und darüber hinaus mächtigster Mann in der Region, ist der „Duc d’Aquitaine“, der Herzog von Aquitanien; Valéry Giscard d’Estaing, nicht nur ehemaliger Präsident und Abgeordneter in Paris, sondern auch Lokal­ 5  Vgl. z. B. Zink, Harold: City Bosses in the United States: A Study of Twenty Municipal Bosses, Durham 1939; Lowi, Theodore J.: At the Pleasure of the Mayor. Patronage and Power in New York City 1898–1958, New York 1964; Bean, Walton: Boss Rueff’s San Francisco: The Story of Union Labor Party, Big Business and the Craft Prosecution, Berkeley 1972; Rakove, Milton: Don’t Make No Waves, Don’t Back No Losers. An Insider’s Analysis of the Daley Machine, Bloomington 1975.



Wie werden Städte regiert?171

politiker in der Auvergne, ist der „auvergnesische Potentat“, der seine Provinz beherrsche wie ein bevormundender Gott; Jean Royer, Bürgermeister der Stadt Tours, ist der „prince solitaire“, der einsame Fürst, für den es keinen anderen Vertrauten seiner Macht gebe als sich selber; und Jacques Médecin, Nizzas langjähriger, im September 1990 zurückgetretener Bürgermeister, war der König seiner Stadt, „le roi“, „le seigneur tout-puissant“.6 Eine ähnlich ausdrucksvolle Sprache benützt man in Deutschland, wenn es um Stadtpolitik geht, noch eher vereinzelt; ein breiterer Gebrauch stieße sich am vorgeschobenen Paravent, der „kommunalen Selbstverwaltung“, die sprachlich natürlich nur Sachliches durchläßt; zudem scheinen sich weder Öffentlichkeit noch Wissenschaft sonderlich für die Sprachwelt städtischer Politik zu interessieren. Dabei können Erkundungen darin zu Begriffen führen, die sich, da sie so aussagestark sind, sofort einprägen. Die „Fachbrüder“, zum Beispiel, oder die „Grenzgänger“, oder die „Vorentscheider“ sind solche Begriffe. Von Vorentscheidern wird geredet, wenn man die Personen meint, die im Vorfeld institutioneller Entscheidungen entscheidend agieren. In den Grenzgängern erblickt man die politische Figur derer, die zwischen zwei verschiedenen Welten – zwischen Rathaus und Wirtschaft, Partei und Verwaltung, Protestbewegung und Regierung beispielsweise – hin und her wandern und diese in ihrer eigenen Person miteinander vermitteln. Und Fachbrüder heißen jene Akteure im Bereich städtischen Regierens, die durch zwei Dinge miteinander verbunden sind. Erstens: Sie sind beruflich vom gleichen Fach, erkennen sich also gegenseitig in dem, was sie jeweils sind: Architekt, Ingenieur, Finanzexperte, Verwaltungsjurist. Und zweitens: Gegen die Fachbrüder kommt, wenn sie sich in einer Sache einmal verständigt haben, niemand mehr an, der allein noch sachliche Argumente anführt. Wer ihnen widerstehen will, muß politisch handeln. Denn dies haben die Fachbrüder schon getan, indem sie im Gewande ihrer fachlichen Kompetenz sich zur geballten Macht der Experten zusammenschlossen, welche die Lösung des anstehenden Problems schon gefunden und damit ja eigentlich auch beschlossen haben (wie sie bei sich meinen). Fachbrüder gibt es auch in anderen Bereichen, nicht nur in der Stadtpolitik. Doch sie zeigen in diesem Bereich – wie auch die Grenzgänger und die Vorentscheider – etwas an, das im folgenden mehr und mehr offenbar werden wird, anhand weiterer, ähnlicher Phänomene. In 6  Vgl. Bercoff, André (Hrsg.): La France des Seigneurs. Le nouvel ordre féodal, Pais 1989, S. 299–307 (Abschnitt über Jacques Chaban-Delmas), S. 631–636 (Abschnitt über Valéry Giscard d’Estaing), S. 381–387 (Abschnitt über Jean Royer), S. 181–199 (Abschnitt über Jacques Médecin). – Über Jacques Chirac wird als Bürgermeister von Paris gesagt, er sei der einzige „Herr an Bord“ (Le Monde, 22./23. Juni 1986, S. 6). – In einer Beschreibung von Gaston Defferre als Bürgermeister von Marseille werden Begriffe benützt wie „Diktator“ und „Despotismus“ (Le Monde, 8. Februar 1988).

172

Wie werden Städte regiert?

der Innenwelt städtischer Regierungswelten stellen Figurationen wie die der Fachbrüder keine außergewöhnliche, sondern typische Erscheinungen dar. Konfigurationen Städte werden durch personale Konfigurationen und nicht durch ihre politischen Institutionen regiert. Zu dieser Aussage führen aktuelle empirische Beobachtungen; und es führen zu ihr historische Studien. Eine Momentaufnahme zum Beispiel zu dem Machtgefüge in Lyon im Jahre 1721 und zu den Formen, durch die es kontrolliert wird, ergibt folgendes Bild: „Die Stadt beherrschen, das heißt: man knüpft vor allem ein umfassendes System persönlicher Beziehungen und webt ein Netz von Möglichkeiten, einzugreifen und zu kontrollieren; man kennt die Menschen, in jedem Bereich, an jedem Fleck, und man vermag es, über sie Einfluß auszuüben.“7 Gleiches kann vom Regieren gegenwärtiger Bürgermeister (oder ihrer Kollegen unter anderem Namen) gesagt werden. Sie sind die Meister im politischen Spiel ihrer Stadt, und auf sie hin und von ihnen her existiert, neben der konstitutionell vorgegebenen Regierung, noch eine andere, zweite Regierung: das personale Regime, durch das sie wirklich herrschen. Seltsamerweise scheint man im allgemeinen nicht wahrzunehmen, wie attraktiv in der Politik die Stellung eines Stadtfürsten ist. Nicht wenige französische Politiker ziehen das Amt eines Bürgermeisters in der Provinz dem Amt eines Staatssekretärs oder sogar dem eines Ministers in der Hauptstadt vor, insbesondere seit den Dezentralisierungsgesetzen von 1982; während sie hier allein herrschen, nehmen sie dort an der Macht nur teil; hier verfügen sie über einen prächtigen Regierungssitz, dort werden ihnen zu wenige Räume in einem dazuhin häßlichen Betonbau zugewiesen; hier können sie Hof halten, umgeben von den vielen, die in ihren Diensten stehen, dort sind sie nur Höflinge, müssen Bündnisse und Koalitionen schließen, wo jede Loyalität bloß geliehen ist. Warum sollten sie nur mitspielen, wenn sie das Spiel selbst sein können? Amerikanische Politiker, die Bürgermeister von großen amerikanischen Städten wie New York, Chicago, Minneapolis, Atlanta, Houston, Los Angeles oder San Francisco sind, regieren nicht Städte, sondern jeweils eine ganze Stadtprovinz, die im Vergleich nicht wenige amerikanische Bundesstaaten, legt man die üblichen Maßstäbe an wie Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft, kulturelle Bedeutung usw., weit übertrifft. Das Gewicht einer solchen Stadtprovinz in der amerikanischen Gesellschaft ist nicht unbeträchtlich und ent7  Garden, Maurice: Formes de Contrôle du Pouvoir Local: Lyon en 1721, in: Livet, Georges/Vogler, Bernard (Hrsg.): Pouvoir, Ville et Société en Europe 1650–1750, Paris 1983, S. 175.



Wie werden Städte regiert?173

sprechend genießt das Stadtoberhaupt – oder sollte ich nicht besser sagen: der Stadtfürst – im politischen Leben Amerikas eine herausgehobene Stellung (es sei denn, der Amtsinhaber nimmt die Möglichkeiten dazu nicht wahr). Ed Koch hätte nicht die nationale Ausstrahlung gehabt, die er besaß, trotz seiner sprachlichen, intellektuellen und politischen Talente, wäre er bloß der Gouverneur von North Dakota und nicht der Bürgermeister von New York gewesen. Jesse Jackson, demokratischer Präsidentschaftskandidat 1988, überlegte sich lange, ob er nicht Bürgermeister von Washington, D.C., der amerikanischen Bundeshauptstadt werden wolle; dieses Amt in dieser symbolischen Stadt wäre sein nationales Sprungbrett gewesen. John F. Kennedy überwand 1960 seine ganz starke persönliche Antipathie gegenüber dem damaligen Bürgermeister von Chicago, Richard Daley. Er bewarb sich um das Präsidentenamt, Daley aber kontrollierte auf dem demokratischen Parteikonvent einen ganzen Block von Delegiertenstimmen. Der Präsidentschaftskandidat machte dem Bürgermeister die Aufwartung, wie es dieser von ihm erwartete, und erhielt, was er begehrte: die Delegiertenstimmen aus der Daleyschen Provinz, Cook County, Chicago. In deutschen Staaten haben Bürgermeister, wie wir aus unserer Geschichte wissen, schon immer herausragende, oft führende Rollen im Regieren dieser Staaten eingenommen, nicht zuletzt bei der Wiedererrichtung einer staat­ lichen Ordnung und bei der Begründung wie dem Aufbau unserer Republik nach der Kapitulation 1945.8 Oder umgekehrt und auf die Bundesrepublik bezogen formuliert: Wer Bundeskanzler oder zumindest Kanzlerkandidat, Bundespräsident oder Ministerpräsident eines Landes werden will, erhöht seine Chancen beträchtlich, wenn er erst Stadtoberhaupt von Köln oder München oder Berlin oder Frankfurt oder auch Saarbrücken gewesen ist. Man weiß zu regieren, wenn man eine Stadt zu regieren weiß. Denn die Aufgabe, eine Stadt zu regieren, erfordert eine schöpferische Politik. Wer sie wahrnimmt und erfüllt, erfährt ein politisches Wirken, das er nirgendwo sonst erfahren kann. Er kann das, woraufhin er regiert, in der Gestalt der Stadt, die er regiert, auch erzeugen. Sie ist die plastische, sichtbare Manifestation seiner Politik: die Stadtgestalt als Gestalt der von ihm intendierten Gesellschaft. Durch die Gestaltung der Stadt, über die er regiert, gestaltet er die Gesellschaft, die er dort regiert. Er ist Politiker und Schöpfer. Deshalb gibt es unter Bürgermeistern sehr häufig Meister der politischen Kunst. Sie werden von der Aufgabe ‚Stadt‘ angezogen, von diesem exemplarischen Herausfordern ihrer Kunst der Politik. Sie suchen die Möglichkeit, paradigmatisch zu regieren. Und sie finden sie in ihrer Stadt. 8  Vgl. Tigges, Hans: Das Stadtoberhaupt. Porträts im Wandel der Zeit, Baden-Baden 1988.

174

Wie werden Städte regiert?

Begleiten wir einen Bürgermeister dabei, wie er sich die Bedingungen dazu verschafft, schöpferisch zu regieren. Was werden die Stationen seines Weges, das heißt die Konfigurationen seiner personalen Herrschaft sein?9 (1) Die kleine Regierung. Unmittelbar um sich herum wird er zuallererst einen Kreis von Personen schließen, der zusätzlich zur förmlich konstituierten Stadtregierung eine ‚kleine‘ Regierung bildet: seine Regierung (wobei es meistens Überlappungen zwischen der konfigurativen und der konstitutionellen Regierung gibt). Die ‚kleine‘ Regierung wird natürlich nie so genannt, man spricht schlicht, so als wär’s dies bloß, von dem ‚Büro des Bürgermeisters‘, dem ‚cabinet de maire‘, dem ‚Mayor’s Office‘. Doch die Zahl der Personen, die diese erste Konfiguration umfaßt, zeigt deren wahre Funktion sehr wohl an. Sie kann, wie zum Beispiel in Marseille unter Bürgermeister Defferre, 40 Personen, sie kann aber auch, wie zum Beispiel in Boston unter Bürgermeister White, 800 Personen betragen (und somit gleich groß sein wie die Zahl der Mitarbeiter des amerikanischen Präsidenten im White House).10 Allerdings ist es keineswegs einfach, derlei Zahlen präzise festzustellen. Man muß hierfür Detektivarbeit leisten. Denn die ‚kleine‘ Regierung ist ja eine Regierung, mit welcher der Bürgermeister schöpferisch und deswegen etwas ungesehen regieren will, und so besteht sie nicht zum geringsten Teil aus Personen bzw. Stellen, die nicht im Etat des Bürgermeisters auftauchen; vielmehr sind diese irgendwo sonst in den städtischen Institutionen bzw. dem städtischen Haushalt unter Bezeichnungen, die nichts verraten, versteckt. Die detektivische Forschung wird auch durch die Entdeckung angeregt, daß sich in der ‚kleinen‘ Regierung Politik und Freundschaft überschneiden. Es ist geradezu spannend, die persönlichen Verflechtungen zwischen den Personen zu rekonstruieren, die als Freunde um einen Bürgermeister geschart dessen ‚kleine‘ Regierung konstituieren. (2) Der Hofstaat. An der nächsten Station seines Weges wird unser Bürgermeister sich mit Personen zusammentun, die in die Ausfaltung seines 9  Vgl. zum folgenden, für den englischen Bereich: Gyford, John: Local Politics in Britain, London 1976; Boynton, Sir John: Job at the Top. The Chief Executive in Local Government, London 1986; für den deutschen Bereich: Banner, Gerhard: Zur politisch-administrativen Steuerung in der Kommune, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, Bd. 1, 21. Jg. (1982), S. 26–47; für den schweizerischen Bereich: Win­ disch, Uli: Mythes et Réalités de la Politique Locale, in: Annuaire Suisse de Science Politique/Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft, 20.  Jg. (1980), S. 135–149; für den französischen Bereich: Froment-Meurice, Anne: Comment faire de sa mairie un fief, in: Pouvoirs, 24 (1983), S. 45–56; Garraud, Philippe: Un maire urbain sur deux est fonctionnaire, in: Le Journal des Elections, 6 (1988), S. 18–19; Fayolle, Gérard: Des Élus locaux sous la Vc République, Paris 1988; für den amerikanischen Bereich: Schabert, Tilo: Boston Politics, a. a. O. 10  Vgl. Marion, Georges: Gaston Defferre, Paris 1989, S. 205; Schabert, Tilo: Boston Politics, a. a. O., S.  59 f.



Wie werden Städte regiert?175

Regimes eine jeweils ganz individuelle Qualität einbringen. Sie bilden seinen Hofstaat, in den Rollen beispielsweise des „Kronprinzen“, den er zwar heranzieht, aber nicht herankommen läßt, oder des „Hoftheologen“, der für ihn denkt und schreibt, oder der „Mandarine“, die im Mantel seiner Macht eigenständig mitregieren. Die meisten Mitglieder des Hofstaats bekleiden öffent­ liche Ämter, aber nicht alle, und die Ämter, die sie innehaben, gehören nicht immer zu denen, die im Institutionensystem der Stadt besonders herausgehoben oder wichtig sind. Man erkennt sie nicht von allein, in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Hofstaats. Wieder muß man erst nachforschen, um langsam die Konturen der Konfiguration und dann durch diese die Personen zu erfassen, aus denen die ganze Konfiguration besteht. Umgekehrt verhält es sich so, daß Mitglieder des Hofstaats ein öffentliches Amt in untergeordneter Stellung oder gar keines versehen und doch weithin bekannt sind. Ihre Rolle ist auffällig, wie die des alter ego zum Beispiel, jenes Anderen, in dem – oder der – ein Bürgermeister sich selbst und was er will gänzlich wiedererblickt. Alter ego und Bürgermeister verschwimmen in der Wahrnehmung anderer sehr häufig, man weiß dann nicht, wer von beiden nun das gesagt oder jenes entschieden hat, und natürlich ermöglicht dies beiden in der Figur jeweils des anderen sehr frei zu regieren. Zu dem Hofstaat zählen des weiteren Personen, von denen jede in diese Konfiguration schöpferischen Regierens spezifisch schöpferische Fertigkeiten einbringt. Der Entrepreneur ersinnt neue Regierungsprojekte und lenkt sie in erfolgversprechende Bahnen; das Finanzgenie schöpft Geldquellen, die immer spärlich fließen, finanzielle Gestaltungsmöglichkeiten ab; der Vasall führt die Aufträge aus, um die sich niemand reißt; und im Schatten, abseits der allgemeinen Wahrnehmung, zählt zum Hofstaat des Bürgermeisters ebenfalls die Figur, über die er auch von dort etwas hört und dort sich mitteilt, wo er selber nie auftritt. (3) Das Netz. Folgen wir ihm zur dritten Station seines Wegs, werden wir unseren Bürgermeister dabei beobachten können, wie er über seine Stadt ein Netz institutioneller Kontakte zieht, an den politischen Institutionen der Stadt vorbei und über diese hinaus. Er will ganz nahe bei denen sein, die er regiert, um alles aufzunehmen, was sie bewegt und alles zu übermitteln, was er ihnen nahebringen möchte. Dazu genügen ihm weder Stadtverwaltung noch Parteien oder Verbände, diese sind in ihrer verfestigten Institutionalität viel zu weit von der unmittelbaren Wirkungssphäre seiner Person, also seiner Regierung, entfernt. Er wird vielmehr an eine Konfiguration von Personen denken, die überall in der Stadt seine „eyes and ears“ sind, wie man so treffend im Amerikanischen sagt. Natürlich würde der Zweck dieser Konfiguration verfehlt, wenn sie keine andere Form hätte als diesen Zweck: die Stadt im Netz des Bürgermeisters. Das Gewebe, das unser Bürgermeister spinnt, webt er in eine Form ein, in der es aufgeht: in ein Netz von Stadtteilvertretungen oder in ein Netz von Außenstellen des Rathauses in Bezirken der

176

Wie werden Städte regiert?

Stadt, in ein Netz von personellen Verbindungen zu den gesellschaftlichen Gruppen und Vereinigungen in der Stadt oder in ein Netz von Beiräten und Bürgerkomitees. (4) Die Satelliten. Die vierte Station seines Wegs wird für unseren Bürgermeister schon vorgezeichnet sein, durch ein System parakommunaler und interkommunaler Institutionen. Städte werden ja nicht allein über die klassischen Institutionen, die man im Rathaus findet, sondern zusehends auch über Einrichtungen regiert, die gewissermaßen Außeninstitutionen, „Satelliten“ der Stadtregierung sind; sie finden sich vor allem im ökonomisch-technischen Bereich und im Bereich der interkommunalen Zusammenarbeit. Es handelt sich, denken wir an die Bundesrepublik, um Einrichtungen wie städtische oder überörtliche Verkehrsbetriebe, Wasserwerke, Siedlungswerke, Wohnungsbaugesellschaften, interkommunale Planungsverbände, Arbeitsgemeinschaften, Zweckverbände. Oder es handelt sich, so im außerordentlich differenzierten französischen Bereich, etwa um eine autonome Verkehrsdirektion (régie autonome de transport), eine Messegesellschaft (société pour la foire), ein Amt für Stadtgestaltung (agence d’urbanisme), einen öffentlich-privaten Wirtschaftsverband für Flächenplanung und Flächennutzung (société d’éco­ nomie mixte d’aménagement), ein Büro für Sozialhilfe (bureau d’aide so­ ciale), eine kommunale Bank (crédit municipal), ein Unternehmen für Parkplätze (société de parking), oder eine Verwaltung staatlicher Sozialwohnungen (office de HLM). Gleichermaßen komplex ist das Satellitensystem jeder größeren amerikanischen Stadt, dies zeigen schon Zahl und Vielfalt der allgemeinen Bezeichnungen für ihre Außeninstitutionen an. Sie können Com­ mission oder Board, Agency oder District, Authority, Administration oder Department heißen. Unser Bürgermeister wird das Satellitensystem seiner Stadt kontrollieren wollen, und er wird deshalb folgendes tun: Zum einen wird er in das System eine Konfiguration von Personen einziehen, die mit ihm, mit seiner Macht, verbündet sind; dies geschieht, indem er Verbündete in die betreffenden Institutionen einschleust, oder dort selber Verbündete gewinnt. Zum anderen wird er sich in dem System, soweit ihm dies möglich ist, als Gründer neuer Institutionen betätigen und dabei institutionelle Satelliten schaffen, die Satelliten im System und vor allem Satelliten im Gefüge seiner Herrschaft sind.11

11  Das Satellitensystem französischer Städte wird exemplarisch beschrieben in: Lorrain, Dominique, La montée en puissance des villes, e.h. 305 (1989), S. 6–21.



Wie werden Städte regiert?177

Konstellationen Städte werden im Modus einer institutionellen Hypertrophie regiert. Es gibt in einer Stadt immer mehr Regierungsinstitutionen, als dies notwendig zu sein scheint. Man wird diesem Satz im allgemeinen sicherlich zustimmen. Doch ich möchte nicht die Assoziation verfolgen, die sich wahrscheinlich eingestellt hat: zuviel Bürokratie, zuviel Gängelei. Ich möchte dagegen das „zuviel“, das „mehr“ präzisieren. Städte werden im Modus einer institutionellen Hypertrophie regiert, das ist schon richtig. Aber es ist anders richtig, als man es gemeinhin annimmt. Städte werden immer im Modus einer institutionellen Hypertrophie regiert. Oder, provokanter formuliert: Wenn in einer Stadt kein hypertrophes Regierungswesen festzustellen ist, dann wird diese Stadt auch nicht wirklich regiert. Sie wird hingegen gut, sie wird schöpferisch regiert, wenn die Hypertrophie des Regierungswesens außerordentlich ist. Ein Übermaß – Übermaß in Anführungszeichen – von Institutionen, Regelungen und Vorschriften stellt seit langem die umfassende Konstellation im Regierungswesen von Städten dar. Schauen wir uns das Beispiel oberitalienischer Städte im 13. und 14. Jahrhundert an. In Siena wird das Errichten neuer Wohnhäuser durch Baugenehmigungen, die man vorher einholen muß, so gesteuert, daß „diejenigen, die bauen, (auch nicht) den Straßenverkehr oder irgendwelche Rechte der Kommune beeinträchtigen“. In Cremona darf ein Eigentümer sein Haus nur dann abreißen, wenn er die Absicht hat, ein besseres zu bauen. In Parma unterliegt die Gestaltung von Balkonen, Arkaden, Außentreppen genauen gesetzlichen Regelungen, der Fluß von Passanten, Wagen und Tieren in den Straßen der Stadt soll von allen baulichen Behinderungen frei gehalten werden. Überhängende Bäume müssen regelmäßig zurückgeschnitten werden. Etwas ähnliches sieht ein Erlaß der Stadt Siena aus dem Jahr 1248 auch für die männliche Bevölkerung vor. „…  was das Haar angeht, das die Männer zu lang tragen, so muß es so geschnitten sein, daß aus rückwärtiger Sicht zumindest ein Teil ihres Nackens sichtbar bleibt.“12 Wo es viele Vorschriften gibt, gibt es viele Beamte, und natürlich scheint dann eine Stadtverwaltung ins Exotische auszuwuchern, wie in Pisa zum Beispiel, wo im 13. Jahrhundert zur städtischen Regierung auch ein Beamter „für entlaufene Kinder und Tiere und für sonstiges verlorenes Eigentum“ gehört.13 In der Öffentlichkeit verbreitet sich der Eindruck, das hypertrophe Regierungswesen der Stadt solle vereinfacht werden. Im Jahre 1293 entschließen sich die Florentiner, die Statuten ihrer Stadt neu zu fassen. Die Daniel: Die italienischen Stadtstaaten, München 1969, S. 99 f. S. 75.

12  Waley, 13  Ebd.

178

Wie werden Städte regiert?

Überlegungen, die sie dazu bewogen haben, klingen ganz zeitgenössisch. Viele der städtischen Gesetze, so heißt es, sind „überflüssig, einige sind unklar, einige widersprechen einander und andere ähneln einander; Zweifelsfälle und Differenzen ergeben sich täglich … und verursachen täglich in zunehmendem Maß Schwierigkeiten und Beschwerden“. Doch die Statuten der Stadt, so wird von den Reformern in Florenz argumentiert, sollten miteinander übereinstimmen und folglich sollten die überflüssigen Statuten gestrichen werden, „so daß, was übrigbleibt, klar, begreifbar und in kürzester Form dargeboten wird“.14 Den Florentinern ist es, wie allen Stadtgemeinden bis heute, nicht gelungen, in der politischen Verfassung ihrer Stadt alles so klar, begreifbar und kurz zu halten, wie sie es sich wünschten. Eine Stadt produziert, solange in ihr Politik geschieht, ein Übermaß an Institutionen und Vorschriften. Die Auswüchse können zwar zurückgestutzt werden, für eine bestimmte Zeit. Aber die Tendenz zur Hypertrophie selber kann nie ganz herausgelöst werden – es sei denn, es würden in der Stadt alle Möglichkeiten, Politik zu betreiben, zum Abbruch gebracht. Eben dies jedoch ist sein ‚Ende‘, auf das ein hypertrophes Regierungswesen sich ständig zubewegt. Das Übermaß an Institutionen, Regelungen und Vorschriften droht die Bewegungen zu blockieren, durch die Politik allein geschieht. Wo ist noch Raum für politische Entwürfe, Initiativen, Visionen, wenn diesen Bewegungen auf das Gestalten politischer Wirklichkeit hin von überall her die Gestalten einer festen politischen Wirklichkeit entgegenstehen? Die Wirklichkeit der Politik ist paradox – Platos Einsicht natürlich, in der Politeia fomuliert.15 Unser Bürgermeister will schöpferisch regieren, er will Dinge anders machen und Neues beginnen, er will seine Stadt gestalten. Aber es ist schon alles gestaltet, die Stadt existiert. Und es werden die Dinge, die zu regeln sind, schon geregelt, und es ist überall schon etwas, wo etwas Neues einen Platz bräuchte, und es sind allem schöpferischen Regieren schon zahllose Regierungsakte vorausgegangen. Die Welt der Stadt ist ausgefüllt, sie wird nicht jeden Tag neu gegründet. Die sie regieren, mögen sie verwalten, aber wie sollen sie noch schöpferisch sein?

14  Ebd.

S. 93. 472a–473e.

15  Politeia



Wie werden Städte regiert?179 Tabelle 1 Die Stadt München in ihrem Netz interkommunaler Institutionen (Stand März 1989) – Bayerischer Städtetag – Deutscher Städtetag – Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) – Regionaler Planungsverband München – Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum München – Verein zur Sicherstellung überörtlicher Erholungsgebiete in den Landkreisen um München e. V. – AG Kommunale Denkmalpflege – Deutsche Städtereklame – Münchener Forum e. V. – Deutsches Institut für Urbanistik – Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor GmbH – Wirtschaftliche Vereinigung Deutscher Versorgungsunternehmen AG – BAYERNGAS GmbH – Erdgas Südbayern GmbH – Münchner Verkehrs- und Tarifverbund GmbH – Hochtemperaturreaktor Planungsgesellschaft mbH – Verband Bayerischer Gas- und Wasserwerke e. V. – Verbund Kommunaler Unternehmer e. V. – Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe – Schulverbände mit anderen Gemeinden – Anstalt für Kommunale Datenverarbeitung in Bayern (AKDB) – Allgemeine Ortskrankenkasse München – Arbeitsamt München – Bayerische Verwaltungsschule – Kommunaler Arbeitgeberverband Bayern (KAV) – Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände (VKA) – Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren (AGBF) – Zweckverbände und Zusammenarbeit im Rahmen von Zweckvereinbarungen mit Gemeinden in der Region München zur Abwasserbeseitigung – Gartenamtsleiterkonferenz beim Bayer. und Deutschen Städtetag – Arbeitskreis der Gutachterausschüsse für Grundstückswerte der kreisfreien Städte in Bayern (Fortsetzung nächste Seite)

180

Wie werden Städte regiert?

(Fortsetzung Tabelle 1) – Zweckvereinbarung über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Abfallbeseitigung zwischen dem Landkreis München und der Landeshauptstadt München nach Art. 8 KommZG. – Landesarbeitsgemeinschaft für das Schlacht- und Viehhofwesen in Bayern – Weltverband der Großstädte im internationalen Gemeindeverband (IULA) – Arbeitsgemeinschaft für Nichtseßhafte – Projektbeirat zum Fahrdienst für Behinderte – Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft – Bayerische Krankenhausgesellschaft – Rat der Gemeinden Europas – Zweckverband Bayerischer Landschulheime – Zweckverband Staatliches Gymnasium Pullach im Isartal Quelle: Landeshauptstadt München, Direktorium Tabelle 2 Die Stadt Nürnberg in ihrem Netz inner- und interkommunaler Institutionen (Stand März 1989) Städtische Werke Nürnberg GmbH Energie- und Wasserversorgungs-AG Nürnberg Verkehrs-AG Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Nürnberg mbH Eisenbahnjahr Ausstellungsges. mbH Werkstatt für Behinderte der Stadt Nürnberg, Gemeinnützige GmbH Flughafen Nürnberg GmbH Nürnberger Gobelin-Manufaktur GmbH Nürnberger Messe- und Ausstellungsgesellschaft mbH Rhein-Main-Donau AG Siedlungswerk Nürnberg Mittelfränkische Kabelgesellschaft mbH Region 7 Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung Arbeitsamt Nürnberg Bildungszentrum der Stadt Nürnberg Blindenanstalt Festausschuß Nürnberger Fastnacht e. V. Friedrich Freiherr von Haller’sche Forschungsstiftung Nürnberg



Wie werden Städte regiert?181 Justizvollzugsanstalt Nürnberg Bayerische Landesgewerbeanstalt Planungsausschuß im Planungsverband der Industrieregion Mittelfranken Kunst- und Kulturstiftung Dr. Joseph E. Drexel Dr.-Fritz-Erler-Stiftung Sigmund-Schuckert-Stiftung Umlegungsausschuß Verein Naherholungsgebiet Lorenzer Reichswald und Umgebung e. V. Zweckverband „Abwasserbeseitigung im unteren Schwarzachtal“ Zweckverband „Schwarzachgruppe – Wasserversorgung“ Zweckverband „Sondermüllplätze Mittelfranken“ Zweckverband „Wasserversorgung Knoblauchsland“ Rettungszweckverband Nürnberg Zweckverband Verkehrsverbund Großraum Nürnberg Fluglärmkommission Sicherheitsgesellschaft am Flughafen Nürnberg mbH Kunstpädagogisches Zentrum im Germanischen Nationalmuseum Bayerischer Städtetag Deutscher Städtetag Stadtsparkasse Nürnberg Stiftung „Altenhilfe der Stadtsparkasse Nürnberg“ Bayerische Landesbank – Girozentrale Nürnberg

Quelle: Stadt Nürnberg Tabelle 3 Mitgliedschaften der Stadt Nürnberg in Vereinen, Verbänden o. ä. (Stand März 1989) Abwassertechnische Vereinigung e. V. Albrecht-Dürer-Gesellschaft Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e. V. (ADAC) Arbeitsgemeinschaft Altnürnberger Landschaft Arbeitsgemeinschaft der Bayer. Fachakademien für Sozialpädagogik Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Bayer. Berufsfeuerwehren (AGBF/Bayern) Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren im Bundesgebiet (AGBF) Arbeitsgemeinschaft der Musikakademien, Konservatorien und Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland (Fortsetzung nächste Seite)

182

Wie werden Städte regiert?

(Fortsetzung Tabelle 3) Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern Arbeitsgemeinschaft Deutscher Sportämter Arbeitsgemeinschaft für das Schlacht- und Viehhofwesen in Bayern Arbeitsgemeinschaft für Jugendfilmarbeit und Medienerziehung Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe Arbeitsgemeinschaft universitäre Erwachsenenbildung Arbeitskreis für gemeinsame Kulturarbeit Bayerischer Städte Bayerischer Büchereiverband e. V. Bayerischer Kommunaler Prüfungsverband Bayerischer Landesverband für Gefangenenfürsorge Bayerischer Landesverein für Heimatpflege e. V. Bayerischer Musikrat Bayerischer Städtetag Bayerischer Volkshochschulverband Berufsverband hausw. Fach- u. Führungskräfte e. V. Bibliotheksverband Mittelfranken e. V. Bundesring der Kollegs Bundesverband Materialwirtschaft und Einkauf (Einkäuferclub Nürnberg) Bund Naturschutz in Bayern e. V. Carl-Duisberg-Gesellschaft e. V. Deutsch-Amerikanisches Institut Nürnberg e. V. Deutsche Burgenvereinigung e. V. Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie Deutsche Olympische Gesellschaft Deutscher Arbeitsring für Lärmbekämpfung e. V. Deutscher Betonverein e. V. Deutscher Bibliotheksverband e. V. Deutscher Bühnenverein Deutscher Feuerwehrverband e. V. (DFV) Deutscher Fremdenverkehrsverband Deutscher Kanal- und Schiffahrtsverein RMD e. V. Deutscher Museumsbund Deutscher Städtetag Deutscher Verband für Wasserwirtschaft und Kulturbau e. V. Deutscher Verband für Schweißtechnik e. V. Deutscher Verein für Kunstwissenschaft e. V.



Wie werden Städte regiert?183 Deutscher Verein für öffentliche Fürsorge Deutsches Institut für Puppenspiel Deutsches Institut für Urbanistik Deutsches Institut für Vormundschaftswesen Deutsches Museum Deutsch-französische Gesellschaften der Bundesrepublik e. V. Deutsch-israelische Gesellschaft Fachverband der bayerischen Standesbeamten Fachverband der Kommunalkassenverwalter e. V. Förderergesellschaft der Bundesanstalt für Fleischforschung e. V. Forschungsgesellschaft für das Straßenwesen e. V. Fränkische Arbeitsgemeinschaft e. V. Fränkische Bibliophile Gesellschaft Frankenbund Fremdenverkehrsverband Franken e. V. Gemeinn. Gesellschaft Gesamtschule e. V. Gesellschaft der Freunde von Bayreuth Gesellschaft der Freunde der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg e. V. Gesellschaft für Deutsche Postgeschichte e. V. Gesellschaft für Familienforschung Gesellschaft für Fränkische Geschichte e. V. Gesellschaft für Musikforschung Gesellschaft zur Förderung der finanzwirtschaftlichen Forschung e. V. Gesellschaft zur Förderung des Windsbacher Knabenchores GfK Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung Gutenberg-Gesellschaft Intern. Council on Archives Internationale Kunstausstellungsleitertagung (IKT) Internationale Theaterwoche Erlangen Internationale Vereinigung der Musikbibliotheken (AJBM) Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg Internationaler Gemeindeverband, Arbeitsgruppe: Vereinigung der Großmärkte Internationaler Museumsrat (ICOM) Kläranlagen-Nachbarschaft Nr. 53 Mittelfranken/Erlangen-Höchstadt der Ab­ wassertechnischen Vereinigung Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (Fortsetzung nächste Seite)

184

Wie werden Städte regiert?

(Fortsetzung Tabelle 3) Kommunaler Arbeitgeberverband Bayern (KAV) Landesbund für Vogelschutz in Bayern e. V. Landesverband Bayern für Jugendwandern Landesverband der Campingplatzunternehmer Lichttechnische Gesellschaft e. V. Martin-Behaim-Gesellschaft e. V. Darmstadt Orff-Schulwerk-Gesellschaft e. V. Pestalozzi-Fröbel-Verband Rat der Gemeinden Europas Rudolf-Steiner-Schulverein e. V. Technische Vereinigung der Großkraftwerksbetreiber e. V. (VGB) Universitätsbund Erlangen e. V. Verband deutscher Musikschulen Verband deutscher Schullandheime Verband deutscher Städtestatistiker Verband kommunaler Städtereinigungsbetriebe (VKS) Verein Bayerisches Feuerwehrerholungsheim e. V. Verein Creditreform e. V. Verein der Badefachmänner e. V. Verein Deutscher Sicherheitsingenieure e. V. Verein für Binnenschiffahrt und Wasserstraßen e. V. Verein der Freunde und Förderer des Schulmuseums Verein für Geschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg Verein für Kommunalwirtschaft und Kommunalpolitik Verein Naherholungsgebiet Lorenzer Reichswald und Umgebung e. V. Verein Naherholungsgebiet Sebalder Reichswald e. V. Verein Naturpark „Fränkische Schweiz – Veldensteiner Forst“ Verein zur Förderung der Leibesübungen und des Sportstättenbaus Verein zur Förderung der Industriearchäologie Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e. V. (VFDB) Verkehrswacht Nürnberg e. V. Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Nürnberg Wilhelm-Vershofen-Gesellschaft Wissenschaftliche Buchgesellschaft Zentrum für angewandte Mikroelektronik (ZAM) e. V. Quelle: Stadt Nürnberg



Wie werden Städte regiert?185

Die Einen und das Viele Städte werden immer anders regiert, als sie schon regiert werden. Alle die Regierungen, die sich in ihnen schon verwirklicht haben, formen jedes weitere Regieren vor. Dabei hat von diesen Regierungen jede ihrerseits über die vorhandenen Formen hinausgegriffen, um auch wirklich eine Regierung zu sein. Die politische Wirklichkeit einer Stadt ist zugleich die Wirklichkeit ihrer politischen Geschichte. Schöpferisches Regieren hat sich aufgehäuft, in Institutionen, Vorschriften und Regelungen, die nun das Labyrinth sind, in dem schöpferisches Regieren sich noch immer ereignen soll. Eine Stadt wie München zum Beispiel ist derzeit in 40 interkommunale Institutionen eingebunden, darunter solche Einrichtungen wie der Regionale Planungsverband München, der Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum München, der Münchner Verkehrs- und Tarifverbund oder die Zweckverbände im Rahmen von Zweckvereinbarungen mit Gemeinden in der Region München zur Abwasserbeseitigung. Diese 40 Institutionen bilden ein politisches Feld vielfältiger Einflüsse und Interessen, von zahlreichen und sehr unterschiedlichen Akteuren bestimmt. Wie wird darin regiert? Schöpferisch, sicherlich. Aufgrund meiner Anfrage, ob man mir eine Liste der Institutionen geben könne, mit denen München im interkommunalen Bereich verbunden sei, (Tabelle  1) mußten im Münchner Rathaus, wie der Stadtdirektor in seiner Antwort vom 22. März 1989 mitteilte, erst die einzelnen Referate befragt werden, in welchen Institutionen bzw. Einrichtungen die Stadt München mit anderen Kommunen zusammenarbeitet. Eine bessere Manifestation schöpferischen Regierens könnte es nicht geben. Man regiert, aber es ist nicht so entscheidend, durch welche Institutionen man regiert. Denn die Institutionen sind nicht der Prozeß des Regierens. Alles Regieren bewegt sich durch die Institutionen über die Institutionen hinaus. Alles Regieren ist ein Prozeß von Personen. In der Bewegung des Regierens sind allein die Personen konstant, die diese Bewegung vollführen, aufeinander zu, voneinander weg, miteinander, gegeneinander. Jede Realität von Regieren muß bei den Personen gesucht werden, welche diese Realität bilden. Im Labyrinth der Institutionen gibt es die regierende Konfiguration: die Personen, die regieren. Und in der diffusen Masse der Menschen in der Stadt gibt es ihr ähnliche Konfigurationen: die Zusammenhänge von Personen, von denen, nach ihr, der eine oder andere zum Zusammenhang der nächsten Regierung werden wird. Die gesellschaftliche Welt einer Stadt ist schon immer auf ihre Regierung hin vorstrukturiert. All die vielen, die eine Stadt ausmachen, sind für sich nicht nur die vielen, die man kaum kennt. In verschiedenen Zusammenhängen sind sie für sich auch, unter den vielen, die einen, die sich kennen. Eine Stadt wird gewissermaßen vielfach regiert, von all denen, die sich verschiedentlich untereinander kennen und sich miteinander auf die

186

Wie werden Städte regiert?

Stadt hin, ihretwegen, in ihrem Interesse verständigen. Eine dieser personellen Verbindungen wird regieren, aber sie wird nur diejenige sein, die gerade regiert. Die Regierung einer Stadt ist ihre Regierung an der Oberfläche. In der Tiefe hat ihre Regierung einen anderen, aber sehr klassischen Namen. Parteiungen Städte werden im Modus der Freundschaft regiert. Dieser Aussage haftet in unseren Ohren ein romantischer Unterton an, in dem Wort Freundschaft schwingen schöne Vorstellungen von einem besonderen Einklang und Vertrauen zwischen Menschen mit. Doch der Begriff Freundschaft kann auch einen Zusammenhang zwischen Menschen bezeichnen, den sie unter sich wegen der Sache herstellen, die er hervorbringt. „To have friends, is Power.“ – „Wer Freunde hat, der hat Macht“, so brachte Thomas Hobbes die Sache auf eine lakonisch kurze, einprägsame Formel. Über eine gewisse natürliche Macht (natural power) verfüge auch jeder einzelne, durch den Gebrauch seiner köperlichen und geistigen Fähigkeiten. Freunden aber wachse eine Macht ganz anderer Qualität zu. Sie besäßen die Stärken aller, zu einer Stärke vereinigt (They are strengths united).16 Die in Städten regieren, verfügen über Macht nicht erst seit dem Moment, da ihnen das Regieren übertragen wurde. Der Prozeß verläuft umgekehrt. Sie besaßen schon sehr viel Macht und durch ihr Regieren wird diese Macht bloß manifest. Sie besaßen sehr viele Freunde, sehr viele Bundesgenossen in ihrer Stadt (wie auch außerhalb) auf das Ziel hin, diese Stadt zu regieren. Sie verfügten über die individuellen Stärken vieler, zu einer Stärke vereinigt. Und aufgrund dieser Stärke – der politischen Macht, die aus tausend Freundschaften wächst – regieren sie. Wahrscheinlich hört sich das noch immer ungewohnt an, so sehr sind wir daran gewöhnt, uns vorzustellen, alle Macht des Regierens würde durch Parteien kanalisiert und diese Parteien seien weit weniger Freundschaftsverbände als vielmehr Organisationen, die von der konkreten menschlichen Wirklichkeit abgehoben und für sich ganz festgefügt, manch einer würde sagen: ganz erstarrt sind. In der Geschichte der Politik ist diese Form von ‚Partei‘ aber eher eine Ausnahme, sie bildete sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts aus und es frägt sich, angesichts der entsprechenden Entwicklungen in der gegenwärtigen Politik, ob sie noch lange überlebt. So verfestigt Parteien in einer ihnen eigenen Institutionalität sind, so wenig scheinen sie noch die passende Form für den Prozeß zu sein, durch den politische Macht hergestellt und legitimiert wird. 16  Hobbes,

Thomas: Leviathan (I,10), Harmondsworth 1972, S. 150.



Wie werden Städte regiert?187

Im Unterschied zu den Parteien auf der staatlichen Ebene sind die politischen Parteiungen in Städten viel mehr dem gemeinsamen Ursprung, der politisch intendierten Freundschaft, verhaftet geblieben. Sie sind vom Ausflug in die Moderne zurückgeblieben, oder, umgekehrt formuliert: Sie bewahrten Politik in ihrer klassischen Form, Politik im Modus der Freundschaft. Unser Bürgermeister – wenn wir ihn uns wieder vorstellen – ist über persönliche Bindungen sehr eng mit dem gesellschaftlichen Leben seiner Stadt verflochten. Er hat über Jahre hinweg ein Kapital an Sympathie angesammelt, das ihn politisch trägt. Man kennt ihn vielerorts, und viele sind ihm verpflichtet, er hat etwas für sie getan, und sie wissen, sie können sich wieder an ihn wenden. Er seinerseits erinnert sich eines jeden und weiß ihn, wie jeden anderen seiner Anhänger, auch einzusetzen im Aufbau und in der Erhaltung seiner Macht. Sie alle sind Freunde, in der Wahrnehmung des gegenseitigen Nutzens; in der Empfindung, gemeinsam Spaß zu haben an der Politik; in dem Bewußtsein, sich der Sache wegen vereinigt zu haben, welche die wesentliche Sache der Menschen ist: gemeinsam zu leben.17 Im empirischen Vergleich erscheinen die politischen Freundschaftsverbände in den Städten, die dortigen Parteiungen, in verschiedenen Formen. In der Bundesrepublik bilden sie sich im allgemeinen innerhalb der institutionalisierten Parteien aus. Ihre Existenz wird dort wie in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend registriert, so als handle es sich um leicht abseitige Erscheinungen. (Obwohl sie natürlich im Vergleich zu den institutionalisierten Parteien die politisch weitaus authentischeren Erscheinungen sind.) In den Vereinigten Staaten heißen die Parteiungen in den Städten seit langem „machines“; wenn sie in ihrer Effizienz für den Erwerb, die Erhaltung und die Ausübung politischer Macht so gut ‚geölt‘ sind, wie sie es in Chicago unter Bürgermeister Daley oder in Boston unter Bürgermeister White waren, kann man sich keinen zutreffenderen Ausdruck denken.18 In amerikanischen Städten sind die „machines“ die eigentlichen Parteien, man ist zwar Demokrat oder Republikaner, aber das ist eine allgemeine, noch sehr diffuse Orientierung; entscheidend, bei Wahlen etwa zum Bürgermeisteramt oder zum Stadtparlament, ist vielmehr der personale Bezug zu dem einen Kandidaten, für den man sich engagieren mag, als Anhänger in jener Parteiung, die dieser um sich schart.

17  Vgl. zu den drei Arten der Freundschaft: Aristoteles: Nikomachische Ethik VIII 1156 a 10–1156 b 15. 18  Zu Bürgermeister Daley vgl. Rakove, Milton: Don’t Make No Waves, Don’t Back No Losers, a. a. O.; zu Bürgermeister White vgl. Schabert, Tilo: Boston Politics, a. a. O.

188

Wie werden Städte regiert?

In Frankreich siedeln städtische Parteiungen zwischen den institutionalisierten Parteien, sie entstehen in deren Mitte, bewegen sich dann aber auf eine getrennte Existenz in eigenständigen Gestalten zu und bleiben den Parteien dennoch verhaftet, über personelle Verschränkungen. Jacques Médecin, der langjährige Bürgermeister von Nizza, gehörte dem gaullistischen Parteiverband an (wie seine Anhänger) und er war gleichzeitig der Chef seiner Partei, der Parteiung, die in Nizza herrscht: le parti niçois. Der Bürgermeister von Metz, Jean-Marie Rausch, zählt sich zwar zur Partei der Christdemokraten, den Zentristen, aber er gewann sein Amt nicht durch diese Partei, sondern über seine eigene Wahlliste, seine eigene Parteiung. Er verfügte, als er 1971 zum erstenmal gewählt wurde, über einen schon existierenden réseau, wie der französische Ausdruck dafür heißt, über ein Netzwerk von politischen Allianzen, das die Metzer Gesellschaft wie die lokalen Institutionen der Politik durchzog. Seitdem hat er den réseau ausgebaut, vom zentralen Ort in Metz über die politischen Orte der Region, Lothringen, zu den Orten der nationalen Regierung in Paris und mittlerweile, wie andere Bürgermeister, weiter zu den Orten Europas, Brüssel und Straßburg. Das Geflecht seiner Macht ist ausgedehnt, die Interessen der von ihm regierten Stadt werden an vielen Orten, entlang vieler Achsen verfochten.19 Die Geometrie des Regierens Städte werden geometrisch regiert. Die Bewegungen der Politik, in denen sich das Regieren einer Stadt ereignet, erstrecken sich weit über ihren zentralen Ort, das Rathaus, hinaus. Sie vollziehen sich entlang zahlreicher Achsen politischen Handelns, die vom Rathaus zu anderen Orten in der Stadt, und von der Stadt zu den politischen Orten der Region, und weiter zu denen der Provinz, des Bundesstaates, und noch weiter zu den Orten der nationalen Regierung und, für größere europäische Städte, der Europäischen Gemeinschaft führen. Um Einfluß in Washington für sich zu nehmen, unterhalten amerikanische Städte dort ihre eigenen Vertretungen, oft von nicht weniger als einem Dutzend Lobbyisten besetzt. Und europäische Städte sind mehr und mehr dabei, über Verbände, Europaabgeordnete oder regionale Regierungen Handlungs- und Einflußachsen zu der Eurokratie in Brüssel zu schmieden. In der Geometrie städtischen Regierens gibt es nationale Unterschiede. In der bundesrepublikanischen Stadtpolitik folgen ihre Achsen den Einflußschneisen der politischen Parteien. In Italien bilden Politiker durch ihre eigene Person politische Achsen zwischen Städten, Regionen und Rom; machtvolle Politiker in der italienischen Hauptstadt sind zugleich Provinzfürsten ihrer Partei und in dieser Eigenschaft Anführer eines ausgedehnten Klientel19  Vgl.

die Beilage: Villes au Futur: Metz, in: Le Monde, 28. Okt. 1988, S. 19–27.



Wie werden Städte regiert?189

systems, sie sind die Knotenpunkte für die Stränge zwischen Zentrum und Peripherie. In der französischen Stadtpolitik ziehen einzelne Politiker in ähnlicher Weise Linien der Macht von den Städten zu den Departements, zu den Regionen, zu der Regierung in Paris. Sie häufen von Ort zu Ort politische Mandate an – in Frankreich nennt man dies den cumul des mandats – und bilden so über ihre Person Achsen politischen Handelns quer durch das französische Regierungssystem. Man regiert seine Stadt, steht dem Generalrat des Departements vor, in dem die Stadt liegt, gehört der Nationalversammlung an und ist womöglich noch Staatssekretär oder Minister in der Pariser Regierung. Man regiert seine Stadt und man regiert überall dort noch mit, wo über die Geschicke der Stadt auch noch entschieden wird. In den Vereinigten Staaten schließt sich dieses Liniengefüge nicht selten zu einem „eisernen Dreieck“ (iron triangle), wie man es dort nennt, zusammen. Ein Experte für Stadtfinanzen ersinnt, als Mitglied eines Instituts für Politische Wissenschaften, eine neue Form der Städtebauförderung, er wechselt kurz darauf über ins Ministerium für Städtewesen in Washington und setzt dort seine Ideen in die Gesetzeswirklichkeit um, wenig später wechselt er wieder den Ort seiner Tätigkeit und wird der Verantwortliche für Stadtentwicklung in einer amerikanischen Großstadt. Und dort vollzieht er nun die Städtebauförderung, wie er sie sich ursprünglich ausgedacht hatte, und wie er sie dazwischen zum Gesetz gemacht hat. Schöpferische Politik Die Regierenden im Feld städtischer Politik sind erfinderisch. Sie müssen erfinderisch sein. Denn eine Stadt fordert die Kunst des Regierens exemplarisch heraus. Alles muß gestaltet werden: die kleine Regierung, der Hofstaat, das parainstitutionelle Netz, die Satelliten, das Gewebe politischer Allianzen, die Parteiung der Freunde. Alles ist scheinbar vorbereitet, durch die konstitutionelle Regierung, und nichts geschieht, wenn nicht zuerst die andere Regierung geschaffen wird: die zweite, personale, konfigurative Regierung. Politik ist ihrem Wesen nach schöpferisch, als Urheberin und Bewahrerin menschlicher Gesellschaft. Sie ist nichts anderes als schöpferisch, denn sie bewahrt eine Gesellschaft nur, indem sie diese ständig neu erzeugt. Und sie ist – wie ich zu zeigen versucht habe – besonders schöpferisch, wenn es um die Formen geht, in denen sie sich realisiert – die Formen des Regierens. Die Frage: Wie werden Städte regiert? war letztlich die Frage: Was sind die Formen schöpferischer Politik? Diese Frage aber kann man am besten beantworten, wenn man damit beginnt, davon zu erzählen, wie Städte regiert werden. Doch es ist Zeit, uns zu verabschieden vom Prozeß schöpferischer Politik. Tun wir so, als ob wir an einem Ende wären und nicht am Beginn.

III. Eric Voegelin – Persönlichkeit und Werk

Die Werkstatt Eric Voegelins I. Ein jeder Text, so könnte man sagen, ist die Totenmaske seiner Schöpfung.1 Einmal abgeschlossen und von seinem Autor gewissermaßen verabschiedet, wird der Text fortan betrachtet und studiert als das dastehende Werk einer Schöpfung, hinter welchem jene selbst den lesenden Augen, die sich mit ihm beschäftigen, wie entschwunden ist. Das schöpferische Leben, das den Text überhaupt hervorbrachte, ist in der Wahrnehmung derer, die nun jenen lesen, von dessen finiter Gegebenheit abgelöst worden, von der förmlichen Starre des Textes in der Zeit (um ihn wird es in aller Überlieferung unendlich gehen, gibt es auch editorische Revisionen) wie im Prozeß der Lektüre (ist er doch dafür die normative Figur: Das vom lesenden Auge Gelesene). Nach der Schöpfung beginnt das Leben des Geschaffenen: Wahrlich ein ausgreifendes, reichhaltiges Leben, blicken wir nun zu unserem Beispiel hin und schauen uns die weiter und weiter anschwellende Literatur zur Interpretation des Werks von Eric Voegelin an. Jenem voraus ging natürlich aber dessen Erzeugung. Die Schriften Voegelins entstanden aus der Tätigkeit eines schöpferisch Handelnden: Voegelin bei der Arbeit. Und mit dieser Wendung ist mein Vorhaben hier auch schon ausformuliert. Ich möchte angesichts des Werks von Eric Voegelin das eine und das andere zu dessen Schöpfung sagen, auf die Tätigkeit hinter der Maskenstarre der Texte zeigen, aus der jene entstanden und durch welche sie geformt worden sind. Dabei sollen insbesondere der räumliche Aufbau wie die räumliche Ausdehnung dieser Tätigkeit sichtbar werden: Denn Voegelin bei der Arbeit muß man sich vorstellen als Voegelin in seiner Werkstatt. Voegelin verfaßte sein Werk allein. Doch er schuf es nicht allein. Zum Schaffen seines Werkes gehörte Voegelins Werkstatt – das Geistesatelier, zu dem er um sich andere versammelte, die seine schöpferische Existenz nähren und insbesondere sein Werk mit vorantreiben konnten.

Erstdruck

in: Zeitschrift für Politik 49 (2002), S. 83–95. dieser Formulierung kam ich durch den Ausdruck „Totenmaske der Konzeption“, der sich in Louis Hays Aufsatz „Die Dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer ‚critique génétique‘ “ (Poetica, 16. Bd., 1984, H. 3–4, S. 307–323) findet (S. 310). 1  Zu

194

Die Werkstatt Eric Voegelins

Bei den folgenden Ausführungen zu Voegelins Werkstatt stütze ich mich vornehmlich auf persönliche Erfahrungen und Einsichten; diese reichen in die Sechziger Jahre zurück, als ich in München an dem Institut für Politische Wissenschaften in der Konradstrasse zu studieren begann, an dem Eric Voegelin wirkte, und dabei die Werkstatt (als die ich sie nun nachträglich erfasse) kennenlernte, zu der er (als Teil seiner über München weit hinausreichenden größeren Werkstatt) den unter seiner Leitung (besser: seiner Inspiration) befindlichen Bereich des Instituts gemacht hatte. Tätig in jener Werkstatt wurde ich 1968, als ich meine Doktorarbeit abschloß, mit der ich bei Voegelin im Wintersemester 1968/69 promovierte, und sich dieser zusehends mit An­ fragen von Informationen in den Bereichen an mich wandte, die er mit mir assoziierte (Theologie, französische Geistesgeschichte). Zum Teil waren es dann durchaus kleinere Forschungsaufträge, die sich aus solchen Anfragen entwickelten (und für die ich über einen wissenschaftlichen Hilfskraftvertrag auch bezahlt wurde). Ich fand die Sache recht aufregend, neu und lehrreich: Einem Gelehrten dicht bei der Arbeit zu folgen, ihn zu beobachten, wie er ihm noch unbekanntes Wissen faßt, sich einen Weg des Erkennens macht, Anregungen zum Forschen aufnimmt, verwirft, beiseiteschiebt, dabei sprunghaft sein kann, ebenso wie beharrlich – das hatte ich bislang noch nicht erfahren. Den nachhaltigsten Eindruck machte Voegelin damals auf mich durch seine Emotionalität. Ein einzelnes Zitat, das man irgendwo gefunden hatte und, wie er es dann sah, eine ganz außerordentliche Bedeutung hatte (die andere allerdings nicht immer erkennen konnten), konnte ihn für Tage in Hochstimmung versetzen, während derer er immer wieder auf diesen ‚Fund‘ zurückkam. Ein anderes Mal wieder provozierte beispielsweise ein für ihn herangeschafftes Buch seinen wütenden Ärger: Da bediente sich jemand einer in Voegelins Augen entfremdeten (‚ideologischen‘) Sprache und an das, was dann in dem Buch stand, mochte Voegelin dann schon nicht mehr heran („Was soll ich damit?“), auch wenn er wußte (woran man ihn aber oft vergeblich erinnerte), daß die hier ausgebreiteten und ihn interessierenden Materialien für die Sprache, in der sie dargeboten wurden, nichts konnten. In Voegelins Werkstatt wirklich trat ich indes ein, als ich seiner Einladung folgte, zum 1. Oktober 1970 für zwei Jahre an der zur Stanford Universität in Kalifornien gehörenden Hoover Institution on War, Revolution and Peace die Stelle eines Reserch Fellow zu übernehmen, die Voegelin besetzen konnte. Natürlich war in den Briefen, die wir dazu austauschten (sein Einladungs-, mein Annahmeschreiben), von einer ‚Werkstatt‘ keine Rede. Vielmehr schenkte mir Voegelin mit der Stanforder Fellowship zwei Jahre freiesten Forschens (und Lernens). Mit dieser verknüpft waren tatsächlich keinerlei formelle Verpflichtungen. Dafür nahm Voegelin bald nach meiner Ankunft etwas auf, mit dem mir, weil es so regelmäßig, das heißt: fast täglich, geschah, allmählich bewußt wurde, daß ich für eine längere Zeit auf eine nun



Die Werkstatt Eric Voegelins195

doch gewissermaßen ‚verpflichtende‘ Weise ein Mit-Tätiger mitten in Voegelins Werkstatt geworden war: In einer zuerst so unmerklichen Weise wie sich ‚Riten‘ unter engen Freunden, Partnern entwickeln können, begann Voegelin, mich morgens aus seinem Arbeitszimmer in seinem Haus an der Sonoma Terrace in Stanford in meinem Appartement in der Webster Street in Palo Alto – nie ohne daß er sich dabei diskret eines stillschweigend vorausgesetzten gegenseitigen Übereinkommens dazu versicherte – anzurufen, um mit mir in einem halb-, dreiviertelstündigen Gespräch das zu besprechen, was er am Abend und in der Nacht zuvor geschrieben oder was ihn bei seiner damit zusammenhängenden Lektüre-, besser: Denkarbeit – beschäftigt hatte. Weitere Weisen wie diese, mit anderen seine Werkstatt zu formen und in ihr zu arbeiten, wurden mir in Stanford/Palo Alto ebenso bald vertraut, zum einen indem ich selber daran beteiligt war, in unterschiedlichen Graden, und zum anderen durch reine Beobachtung. Es blieb bei alldem nicht aus, daß über die persönlichen Erfahrungen hinaus zunehmend meine wissenschaftliche Neugier geweckt wurde: für dieses Phänomen, das ich mit der Zeit eben, um es als solches zu erfassen, Eric Voegelins ‚Werkstatt‘ nannte. Diese wissenschaftliche Neugier wiederum wurde bestärkt durch zwei sie objektivierende Erkenntnisse. Was ich in Voegelins Werkstatt erfahren hatte, so stellte sich über Voegelin-erforschende Gespräche im Feld von Voegelin-Associates heraus, das hatten andere auch erfahren, und so verfestigte sich das ursprünglich persönlich Eindruckshafte zu einem allgemeineren Sachverhalt. Und ein Blick über die Fachgrenzen hinaus, in die Literaturwissenschaft,2 machte klar, daß das Phänomen einer Werkstatt, wie sie Voegelin für seine und bei seiner Arbeit – seiner Denkund Schreibarbeit – unterhielt, von der Analyse des Prozesses der Schöpfung literarischer Schriften her sehr wohl bekannt und in einzelnen Fällen auch eingehend beschrieben worden ist. Hierzu klassische Studien tragen denn auch Titel wie: Dickens at Work, Byron’s Don Juan – The Making of a Master­piece, Keats’ Craftsmanship.3 Literarische Schöpfungen, so zeigen diese Studien, entstehen handwerklich, werkstatthaft, mit viermal gefalteten und so zur Beschreibung mit vier verschiedenen Textweisen geeigneten Blättern, sowie mit Tinte in unterschiedlicher Farbe, nimmt man das Beispiel von Charles Dickens, in einem regelmäßigen Schreibprozeß täglich zwischen 9 Uhr morgens und 2 Uhr mittags, der vom Autor selbst – nach demselben Beispiel immer noch: Charles Dickens – mit reflektierenden, kommentierenden Schaffensberichten in Briefen an andere begleitet wird, die zeigen, wie 2  Für

den, wie schon so oft, Ina Schabert die Führerin war. Butt/Kathleen Tillotson, Dickens at Work, London 1957; Truman Guy Stef­ fan, Byron’s Don Juan, Vol.  I, The Making of a Masterpiece, Austin/London 1957; M. R. Ridley, Keat’s Craftmanship. A Study in Poetic Development, Oxford 1933. – Vgl. des weiteren die Literaturangaben bei Louis Hay (Anm. 1). 3  John

196

Die Werkstatt Eric Voegelins

er sein Werk in seinem Schreibquartier mit Schreibplänen vorbereitet oder nachträglich durchsichtig gemacht hat.4 II. Im Haus an der Sonoma Terrace hatte Eric Voegelin seinen eigenen Arbeits- und Schlaftrakt; hier waren die Bücher aufgestellt, mit denen er arbeitete (während der größere und, antiquarisch gesehen, wertvollere Teil der Voegelin’schen Bibliothek den Salon des Hauses zierte), und stapelten sich in und auf Regalen die kartonierten Mappen (die typischen hellgelben amerikanischen folders), in denen Voegelin lose Materialien – Arbeitsnotizen, Briefe, Fotokopien (mit denen er außerordentlich gerne arbeitete), ihm zugesandte Manuskripte – abgelegt hatte, gemischt mit Zeitschriften (wie dem von ihm regelmäßig gelesenen Encounter) und Tageszeitungen (das von ihm gleich morgens gelesene und wegen der Börsenkurse konsultierte Wall Street Journal, die ihm später am Tag von seiner Frau Lissy aus einem Zeitungs­ laden in Palo Alto zusammen mit seinem täglichen Zigarrenvorrat gebrachte New York Times). Sein Büro an der Hoover Institution benutzte Voegelin allein für praktische Geschäfte (Erledigung seiner Korrespondenz, Telefonate, Organisation seiner Reisen mithilfe seiner Sekretärin). Hier keineswegs auf amerikanische Weise öffentlich-sichtbar umtriebig (etwa seine Arbeitstage in seinem Büro – bei stets offener Tür zu diesem – auf dem Campus verbringend), sondern ganz das klassiche Bild eines alteuropäischen Gelehrten erfüllend, zog sich Voegelin in Stanford, so wie er es vorher in München und davor in Baton Rouge getan hatte, zur kreativen Arbeit in das auf diese hin arrangierte Werkstattzimmer in seiner Wohnung zurück (wo er dazuhin von Lissy Voegelin, soweit er es wünschte, abgeschirmt und mit allen physischen Lebensnotwendigkeiten bestens versorgt wurde). Voegelin begann den Tag gegen 8 Uhr, und in die Stunde danach fielen auch die Anrufe, bei denen er mit mir über das in der vergangenen Nacht Gedachte und Geschriebene sprach. Wenn er in sein Büro ging, erschien er dort zwischen 9 und 10 Uhr; blieb er zuhause, verbrachte er die Stunden bis zum Lunch um 13 Uhr mit weiteren Telefonaten, Lesen, und Arbeiten im Garten (wo er so hartnäckig wie vergeblich gegen die „fungi“ im Rasen anging). Zu den morgendlichen Telefonaten zählte häufig ein besonders wichtiges: Der Anruf bei dem Börsenmakler von Merrill Lynch, über den Eric Voegelin seine Kauf- und Verkaufsaufträge an der amerikanischen Börse tätigte. Der Gelehrte betrachtete sich nämlich auch als „Geschäftsmann“, wie er sich im Oktober 1980 bei einem unserer Gespräche selbst benannte, als wir uns für ein paar Tage in Florenz sahen und er stets die International 4  Vgl.

John Butt/Kathleen Tillotson, Dickens at Work, S. 19 f., S. 25–27.



Die Werkstatt Eric Voegelins197

Herald Tribune mit sich trug, und als erstes, wenn wir uns trafen, die daraus erfahrenen neuesten Börsenkurse und seine durch diese nun stimulierten Absichten in der Börsenspekulation besprach: „Haben Sie von dem Flugzeugunfall mit einer Lockheed-Maschine gelesen? Die Kurse von Lockheed sind drastisch gefallen. Das ist die Kaufgelegenheit! Natürlich decke ich mich jetzt mit Lockheed-Aktien ein.“ An den normalen Tagen in Stanford ‚verschwand‘ allerdings der Geschäftsmann, wie der Telefonierende, Lesende, Gärtner, sobald Voegelin und seine Frau ihren gemeinsamen Lunch beendet hatten, und sich Voegelin für eine lange Mittagsruhe absentierte, bei der er absolut nicht gestört werden wollte (ein ihn unkontrolliert hier erreichender Anruf – wer das geschafft hatte, der hatte es hingekriegt, sich es mit ihm des längeren gründlich zu verderben.) Von der Siesta tauchte Voegelin kaum vor 16 Uhr auf und nunmehr war er dies: Der sich an seine Arbeit machende Gelehrte. Mit Aufzeichnungen, Skizzen, und Entwürfen (die zuletzt in graphische-architektonische Schemata für einen geplanten Text unmittelbar ‚vor‘ diesem Text übergingen) bereitete er sich auf sein Schreiben (und seine damit eng zusammenhängende Vortragstätigkeit) vor. Und er schrieb natürlich. Die Stunden des so schaffenden Gelehrten dehnten sich bis über Mitternacht hinaus, und wurden an normalen Tagen nur durch das mit Lissy zwischen 19 und 20 Uhr gemeinsam eingenommene Abendessen unterbrochen, von dem sich Eric, durch seine Frau noch mit reichlich Kaffee (dem leichteren amerikanischen allerdings) versorgt, alsbald wieder in sein Werkstattzimmer zurückzog. Im Übergehen vom Arbeiten zum Schlaf verbrachte Voegelin dann oft noch einige Momente mit der Lektüre eines der Kriminalromane, die sich in den Regalen um seine Bettstatt anhäuften. Voegelin schrieb gewöhnlich an einem Tag 1 bis 1 ½ Seiten, mit großzügigen Rändern versehenen und anderthalbzeilig gefaßten Schreibmaschinenseiten, die er direkt in seine alte mechanische Schreibmaschine tippte. In Zeichen umgerechnet werden dies ungefähr 2.000–2.300 gewesen sein, doch Voegelin rechnete so nicht. Natürlich wollte er im Schreiben eines Textes vorankommen, aber ‚Vorankommen‘ bedeutete für ihn hier zuallererst, in der auszudrückenden Einsicht und in der sprachlichen Fassung derselben so ‚wahr‘ und so ‚klar‘ wie nur möglich zu sein; stets war er der erste (zeitlich wie prinzipiell), der diesen Maßstab selber an seine Texte anlegte. Deswegen wollte er den vielen Platz am Rande und zwischen den Zeilen seiner Schreibmaschinenseiten. Denn kaum hatte er diese verfaßt, begann er mit einem schwarzen Filzstift darin herumzukorrigieren, an seinen Worten und seiner Syntax zu ziselieren und umzubauen, Begriffe, Satzteile ausstreichend, nachfüllend, hin- und herschiebend, den Text insgesamt prägnanter und flüssiger, ansprechender und eleganter machend. War er damit fertig, gab Voegelin die nun schon ‚zweite‘ Version der von ihm geschriebenen Seiten (aber noch

198

Die Werkstatt Eric Voegelins

befanden sich ‚erste‘ und ‚zweite‘ Version auf demselben Blatt) seiner Sekretärin. Diese tippte daraufhin alles ganz neu ab. Es entstand die ‚dritte‘, von Voegelin selber eingehend verbesserte, und nunmehr auch tippfehlerfreie Version. Was nun diese betraf, so war Voegelin – gehen wir hier von seinem regelmäßigen Verhalten aus – zwar noch immer für Korrekturvorschläge offen, aber diese mußten jetzt, sollten sie bei ihm auf Gehör stoßen, mit einem Kommentar einhergehen, der sich mit seinem Text überhaupt, also nicht nur mit dessen Sprache, sondern auch mit dessen Inhalt grundsätzlich auseinandersetzte. Dementsprechend begann Voegelin, das Geschriebene zu verabschieden. In Form von Fotokopien verteilte er es unter ausgewählten Personen als neueste Teile seines Werkes. Doch zuvor hatte er durchaus noch mehr an ‚Werkstatt‘ als bloß sich, seine Schreibmaschine und seine Sekretärin in das Verfassen der nun verteilten Seiten eingebracht. Der Arbeitsprozeß zwischen der ‚ersten‘ und der ‚zweiten‘ Version dauerte naturgemäß eine gewisse Zeit, manchmal einige Stunden allein, manchmal einen und darüber hinaus mehrere Tage. In dieser Zwischenzeit wurden von Voegelin andere in die Werkstatt hereingeholt oder, besser gesagt, von ihm durch sie und mit ihnen eine erweiterte Schreibwerkstatt konstituiert: Mit Lissy Voegelin, seit langem, immer wieder, und meistens zuallererst; sie las häufig sofort, was Eric schrieb, oder er las ihr dies und jenes vor, oder probierte mit ihr Sätze aus, die ihm im Kopf schwebten; und natürlich konnte niemand sonst so frei wie sie ausrufen: „Aber, Eric, das versteht doch keiner!“, „Du machst hier wieder einmal eine petition of prin­ ciple“ (und mit dieser Lieblingsformel meinte sie: ‚So geht das nicht, bitte erst noch einmal neu denken‘). Lissy Voegelin besaß viel klaren Verstand und ein hochentwickeltes, über die Lektüre englisch- und deutschsprachiger Literatur ständig gepflegtes Sprachgefühl; beide Gaben brachte sie wirksam und anhaltend in Erics Werkstatt ein (ein Beitrag zu dessen Werk, den die Voegelin-Forschung erst noch zu berücksichtigen hat). Seine Frau konnte Voegelin in ihrem gemeinsamen Haus natürlich unmittelbar in seinen Arbeitsprozeß einbeziehen; bei anderen mußte er sich um den Ausbau seiner Werkstatt zielstrebiger bemühen. Die eine Weise, auf die er regelmäßig und mit großer Vorliebe dazu initiativ wurde, habe ich schon genannt: Er griff zum Telefonhörer und rief die Personen an, denen er von seinem Schaffen, dem gerade ablaufenden, berichten und mit denen er darüber sprechen wollte. Diese Anrufe tätigte er besonders intensiv zu den Zeiten intensiven Schreibens, und dann vor allem in der Zwischenzeit zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter‘ Version. Und er beschränkte sie selten auf eine Person allein. Daß ich in Stanford von ihm so häufig angerufen wurde, hing nicht zuletzt auch damit zusammen, daß es sich hier um Ortsgespräche, also trotz ihrer Länge (und die Pacific Telephone rechnete auch local calls nach ihrer zeitlichen Dauer ab) noch immer um billige Telefongespräche handelte, wäh-



Die Werkstatt Eric Voegelins199

renddes die Ferngespräche nach Atlanta zu Gregor Sebba und nach Hawaii zu Manfred Henningsen, zwei telefonische Werkstattverbindungen, an denen Eric Voegelin sehr viel lag, von diesem wegen der beträchtlich höheren Kosten in ihrer zeitlichen Folge dosiert wurden. Mit einer zweiten Weise, mit der er einen in seine Werkstatt zog, konnte Voegelin einen immer wieder überraschen, und dazuhin, wenn man nicht zurückschreckte und in stummer Verlegenheit inoperativ wurde, außerordentlich effektiv. Er wandte diese Methode bevorzugt an, wenn man ihn auf einer seiner Reisen oder bei einer seiner Gastprofessuren irgendwo in seinem Hotel oder seinem Gastquartier besuchte, das Treffen eher als Höflichkeits- oder Freundschaftsbesuch gedacht gewesen war (zumindest im Kopf des Besuchers, der Besucherin), und man mit dem, was dann geschah, im Augenblick gewiß nicht rechnete: Daß Eric Voegelin gleich als man sich sah, kaum hatte man sich gegenseitig begrüßt, ein paar Blatt Papier hervorziehen würde, auf denen in tippfehlervoller Maschinen- oder krackeliger Handschrift stand, was er vor Ort in den letzten Tagen, mitunter in den letzten Stunden gar, an Text geschrieben oder an Denkprozeß schematisch, begrifflich aufgezeichnet hatte, er einem umstandslos diese Blätter mit der Aufforderung zur sofortigen Lektüre übergeben, keinerlei Anstalten machen würde, einem diese Aufgabe zu erleichtern, mit einem einladenden Lächeln, einigen überleitenden Worten etwa, er einen vielmehr nur ganz gespannt anblicken würde, und auf den seinem Geschriebenen, seinem Gedachten angemessenen, weil es mitvollziehenden – im Idealfall: schöpferisch mitvollziehenden – Widerhall wartete. Manchmal griff er auf einen mit dieser Methode auch im Haus an der Sonoma Terrace zu, und das dann besonders gerne bei einem der abendlichen Dinners, zu denen Lissy und Eric Voegelin häufig Gäste von überallher einluden, und Eric in dem Moment, als Lissy die Gäste nach dem Servieren des Desserts vom Eßzimmer in den Salon zu einem Grand Marnier (dem von ihr bevorzugten Digestif) oder Cognac bat, diesen oder jenen Gast beiseitezog und ganz zum Mißlieben Lissys mit sich in sein Arbeitszimmer nahm – um diesen (von dem er zumeist schon wußte, daß er sich von ihm etwas erhoffen konnte) sodann mit den neuesten Sätzen Eric Voegelins zu überraschen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Ergebnisse seiner Arbeit in seiner Werkstatt für diejenigen, die er zu ihr zählte, nicht das Interessanteste in der Welt sein könnten. Waren sie doch die Spiegel, die mit ihren Reflexen das Bild des durch sein Denken schreitenden Eric Voegelin mitproduzierten – und wie sollten sie dann dieses nicht voller Interesse in sich aufnehmen wollen? Voegelin selber half des weiteren kräftig nach, durch besagte Telefonanrufe und durch die von ihm in einem außerordentlichen Maße benützte briefliche Methode zur Konstitution und Aufrechterhaltung seiner Werkstatt. Eine sicherlich größere Studie könnte der zeitlich wie bezüglich der Adressa-

200

Die Werkstatt Eric Voegelins

ten sehr umfangreichen und, was die letzteren anbelangt, auch weit ausgefächerten Korrespondenz Eric Voegelins unter dem Aspekt der ‚Werkstatt‘ gewidmet werden. Hier sei nur an einem – allerdings, wie ich denke, recht typischen – Beispiel die spiegelhafte Werkstattkonstitution in Briefform dokumentiert. An dem Brief nämlich, den Eric Voegelin am 19. Juni 1966 in Englisch an seinen amerikanischen Kollegen und Freund Robert Heilman kurz nach Erscheinen von Anamnesis5 schrieb.6 Robert Heilman erhielt mit diesem Brief – eingerahmt durch einige anfängliche Neuigkeiten und Kommentare zu Voegelins Tätigkeit in München und allgemein in Deutschland, sowie ein paar abschließende Mitteilungen zu Reisevorhaben und Plänen für den Sommer – eine komplette und konzise Vorstellung von Anamnesis, des neuesten Buches seines Freunds aus der Feder von diesem selbst – so als habe sich Voegelin gegenüber Heilman zu seinem Werk in der Weise einer Selbstoffenbarung seines Schöpfers aussprechen wollen. Die zwei Seiten des Briefes, mit denen Eric Voegelin Anamne­ sis vorstellt(e), sind ein Selbstbildnis Eric Voegelins bei der Arbeit, in dem Darstellungen verschiedener Stadien dieser Arbeit und damit Voegelins, des Schöpferischen, einander überlagert sind. Sie können, wenn man es so sieht, dementsprechend auf mehrere Weisen (je im einzelnen wie dann zusammengebracht) gelesen werden: Als ein Text der Selbstkommentierung, mit dem Voegelin sein Werk nach dessen Abschluß selber auslegt. Als eine inhaltliche Beschreibung, mit der Voegelin angibt, was es materiell mit seinem Werk auf sich hat. Als ein denkgeschichtliches Memorandum, mit dem Voegelin seine Arbeit in ihrem Verlauf wie ihren Ergebnissen nach historisch einordnet und epochal deutet. Als ein Arbeitsplan für sein Werk, den Voegelin so zum und beim Prozeß des Entstehens des Werkes im Kopf gehabt oder auch erst jetzt, in der Rückschau, niedergeschrieben haben mag. „Das ist meine Philosophie des Bewußtseins (philosophy of conscious­ ness)“, so heißt es über das Buch zu Anfang des Briefes. Und: „Ich wollte mit einer neuen Darstellungsform (literary form) in der Philosophie experimentieren.“ „Let me explain“, fügte Voegelin sogleich an und schrieb dann (im wesentlichen) weiter: Heraklit sei der erste Denker gewesen, der Philosophie mit einer Erforschung der Seele (psyche) in ihren Tiefen – ihren Spannungen, ihrer Dynamik, ihrer Struktur – gleichgesetzt habe. Diese Auslegung (exegesis) der Seele oder des Bewußtseins sei von da an die zentrale Angelegenheit von Philosophie geblieben. Doch sei dies dann historisch 5  Eric Voegelin, Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966. 6  Brief (in Englisch) von Eric Voegelin an Robert Heilman, datiert: June 19th, 1966. Vgl. Hoover Institution (Stanford), Voegelin Papers, Box 17, Folder 9 und Box 39, Folder 15 (Original); in Mikrofilm: Rollen 17 und 37.



Die Werkstatt Eric Voegelins201

durch die Philosophie im sekundären Sinn, das Mitteilen sowohl der Ergebnisse der Auslegung als auch der spekulativen Konsequenzen überlagert worden. Deshalb vollziehe sich Philosophie in der Geschichte als ein Auf und Ab einer Exegese des Bewußtseins und einer dogmatischen Formulierung von deren Ergebnissen, einer Rückkehr zum ursprünglichen Bewußtsein, neuer Dogmatisierungen usw. Gegenwärtig stünden wir vor der Aufgabe, uns einer beträchtlichen Anhäufung von Dogmen zu entledigen und die ursprünglichen Erfahrungen von der Spannung des Menschen zum göttlichen Grund seiner Existenz wiederzuerlangen. Eine authentische Exegese des Bewußtseins könne indes allein durch die Form unmittelbarer Beobachtung und des meditativen Aufspürens der Struktur der Psyche erfolgen. Jene Struktur wiederum sei nicht etwas Gegebenes, das mit Lehrsätzen zu beschreiben wäre, sondern selbst ein seelischer Prozess, für den Sprachsymbole in dem Maße zu finden seien, wie er voranschreite – ein Prozess auch, der die Lebenszeit eines Menschen ausfülle. Davon rührten die Probleme der Darstellungsform her. Heraklit selber hätte die Form des Aphorismus gefunden. Eine andere Form sei die via ne­ gativa der christlichen Meditation, wie sie Descartes noch benutzt habe. Er selbst nun sei in der von ihm im Folgenden beschriebenen Weise vorangegangen, so fuhr Voegelin fort, und skizzierte dann die Sequenz seiner eigenen bewußtseinsexegetischen Exerzitien, mit denen er in Baton Rouge im Herbst 1943 begonnen und die er, so sagte er, im zweiten Halbjahr 1965 abgeschlossen habe. In diese, den einen Teil von Anamnesis konstituierende Sequenz seien im weiteren acht historische Studien eingebaut, die – als zweiter Teil seines Buches – zeigten, wie die historischen Phänomene von Ordnung zu der Art von Analyse führten, die in der meditativen Erforschung des Bewußtseins kulminierten. So werde das ganze Buch von einem doppelten emprischen Verfahren zusammengehalten: Einer Bewegung, die von den historischen Phänomenen von Ordnung ausgehe und zu der Bewußtsseinstruktur führe, denen sie entstammten, und umgekehrt einer Bewegung, die von der Analyse des Bewußtseins ausgehe und zu den Phänomenen von Ordnung führe insoweit die Struktur des Bewußtseins das Instrument zur Interpretation der historischen Phänomene sei. „Well“, so beschloß Eric Voegelin seine Ausführungen, unter Zurückweisungen, die ihm gewiß wichtig waren, und unter selbstangestellten Vergleichen, die gewiß vielsagend sind, „wir werden sehen, wie sich die Öffentlichkeit zu dieser neuen Darstellungsform stellen wird, die weder vorsokratisch, noch klassisch, noch christlich ist, auch wenn sie gewisse Affinitäten zu der Mystik Plotins und des Dionysius Areopagita hat, und The Cloud of Unknowing dabei nicht zu vergessen ist.“7

7  Ebd.

202

Die Werkstatt Eric Voegelins

III. Voegelin war in seiner Werkstatt gegenwärtig wie ein Geistesfürst. Er brachte sein Schaffen nicht bloß voran, er regierte es.8 Schöpferhaft, und so zum einen voll der Autorität, die ihm, dem Schöpfer seines Werks, durch dieses zufloß und ihn in der Wahrnehmung anderer (mit nützlichen Folgen für seine Werkstatt) zu der Autorität Eric Voegelin im Reich des Denkens machte.9 Zum anderen aber auch ganz in der Freiheit, gegenüber seinem eigenen Werk der diesem nicht Unterworfene, sondern der von diesem stets Freie zu sein, frei nämlich, vom einmal Geschaffenen wieder wegdenken und sich im Wahrnehmen, Erfahren, Denken abweichlerisch neugierig, ja umstürzlerisch verhalten zu können. Eric Voegelin erschien zu seiner Arbeit in der Figur des geistesmächtigen Denkfürsten. Und er erschien in der Figur des Rebellen, der respektlos provozierte, radikal auslangte – im Raum seines eigenen Denkens und, das dazuhin liebend gerne, im Wahrnehmungsraum anderer. So konnten Dinners, zu denen Lissy und Eric Voegelin mit anderen in einem Restaurant – in meiner Erinnerung im Peking auf dem Camino Real am Rande des Campus von Stanford oder dem eleganteren Mandarin in Palo Alto (also chinesischen und als solche von Eric Voegelin bevorzugten Restaurants) oder dem Tadich Grill in San Francisco (den Lissy Voegelin wegen des dort gebotenen exzellenten seafood bevorzugte) – zusammengekommen waren, experimentelle Züge annehmen (mitunter für den größten Teil ihrer Dauer), wenn Eric Voegelin nach aufgenommener Unterhaltung (und ohne Rücksicht darauf, ob der nun folgende Arbeitsgang alle Anwesenden interessierte oder ihnen überhaupt genehm war), neueste Ideen, die ihm im Verfolg seines Denkens, seines Werkes so gekommen waren, vortrug und offensichtlich erst einmal ‚testen‘ wollte: Mit der von ihm dann immer gleichermaßen eingehaltenen Art, sie als überaus unvertraute, schockierend unorthodox klingende, doch als weitreichende ideelle Entdeckungen vorzubringen. Bei Vorlesungen und Vorträgen ging Voegelin meistens genauso vor, zumal in der Diskussionsrunde, und zeugte dann mit seinem Erscheinen in der Figur des rebellisch zu dem Ungewöhnlichsten hinausdenkenden experimentellen Geists unter den ihm Zuhörenden natürlich die schöpferische Aufregung, angesichts der er wie nirgendwo sonst auf seine Werkstatt sah. Außerordentlich bemerkenswert ist, daß Voegelin gerade zu solchen Gelegenheiten andere für sein Denken, für eine Beschäftigung mit seinem Werk gewann. 8  Zum Zusammenhang von ‚Schöpferischem‘ und ‚Regieren‘ vgl. Verf., Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz, Freiburg 2009, Kap. „Im Körper“ und „In der Freiheit“; sowie Verf., Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002. 9  Und zu bedenken hierzu wäre beispielsweise das in seinem Werk manifeste konkurrenzhafte Verhältnis Voegelins zu Hegel.



Die Werkstatt Eric Voegelins203

Auf seine Werkstatt sehen so wie er, wie er sie alltäglich und allseits vor sich hatte und zum Wirken für sein Werk in sein Schaffen rief – wäre dies nicht der Blick, den wir hier zuletzt einnehmen müßten? Aber wie? Versuchen wir es über die drei im folgenden noch geschilderten Blickfänge. Im Oktober 1968 lernte Eric Voegelin in Rom bei einem Kongreß des Istituto Accademico di Roma die Ur- und Frühgeschichtsforscherin Marie E. P. König kennen. Aus dieser Begegnung erwuchs eine wissenschaftliche Beziehung, die beide Gelehrte für ihre Arbeit als überaus stimulierend und förderlich erfuhren und dementsprechend pflegten.10 „[Voegelin]“, so berichtete Marie E.P. König später zu der die Beziehung herbeiführenden ersten Begegnung, „hielt einen Vortrag am Istituto Accademico di Roma und ich auch. Er kam gleich zu mir und sagte: ‚Wir müssen zusammenarbeiten.‘ “11 Warum? Eric Voegelin sah in seiner Wahrnehmung der neuesten und sich rasch anhäufenden Erkenntnisse zur Ur- und Frühgeschichte, insbesondere zu der Altsteinzeit, etwas für ihn sehr Aufregendes: In den Felsenbildern und in den in Felsen eingeritzten Zeichen, welche die Menschen des Paläolithikums hinterlassen hatten, erblickte er eine ‚weitere‘ menschheitliche Symbolordnung unter all denen, die für ihn im Verfolg seines universalen Werkes zur Geschichte menschheitlicher Symbolordnungen, Order and History, relevant waren. Während er fortfuhr, auf die noch ausstehenden Bände von Order and History hinzuarbeiten, die den drei schon veröffentlichten Bänden noch fol­ gen sollten (was dann mit The Ecumenic Age 1974 und In Search of Order 1987 geschah), wurde ihm gleichzeitig zusehends klar, daß dem Band I seiner Universalstudie zu den menschlichen Symbolordnungen, Israel and Re­ velation, gewissermaßen ein Band „0“ zu den über neueste Forschungen immer bekannter werdenden Symboliken der paläolitischen Menschheitskultur vorangehen könnte. Marie E. P. König wurde deshalb für ihn – wie wegen ihrem eigenen unorthodoxen Weg als einer ihren originären Ideen allein verpflichteten Privatgelehrtin – die überaus geschätzte Führerin in die Welt der Altsteinzeit, die ihn hinsichtlich der Forschungsliteratur und insbesondere der von ihm selber unternommenen Forschungsreisen zu Stätten altsteinzeitlicher Kultur (u. a. in Spanien, England, auf Malta und Hawaii) beriet, ihn in ihrem Haus in Saarbrücken mit ihrem eigenen Forschungsmaterial bekannt machte, wie ihn persönlich durch die Höhlen in der Ile-de-France führte, in denen sie ihm unmittelbar ihre Erkenntnisse zur altsteinzeitliche Symbolik zeigen konnte.12 10  Vgl. zum folgenden: Gabriele Meixner, Auf der Suche nach dem Anfang der Kultur. Marie E. P. König. Eine Biographie, München 1999, insbes. S. 139 ff. 11  Ebd., S. 139. 12  Voegelins Forschungsbemühungen zu Band „0“ hin hielten über die Jahre an, wie eine Stelle aus einem Brief aus dem Jahre 1973 zeigt: „Die Reisepläne fuer diesen Herbst sind noch nicht ganz ausgearbeitet. Wenn irgendwie moeglich, moechte

204

Die Werkstatt Eric Voegelins

Bei einem der Anrufe, die ich von Voegelin in Palto Alto morgens erhielt, es war im März 1971, stellte er mir abrupt die Frage: „Kennen Sie den Begriff Egophanie?“ Ein „Nein“ war natürlich die (sicherlich nicht unerwartete) Antwort, denn noch bis zum Abend zuvor hatte es einen solchen Begriff auch nicht gegeben. „Wissen Sie“, so sprach Voegelin dann weiter, „ich habe den Begriff gestern abend aufgestellt, gegenüber dem Begriff der Theophanie.“ Und er erklärte weiter, daß die Revolte des modernen Menschen gegen Gott in der Erscheinung des ‚absoluten Ichs‘ gipfele, das der moderne Mensch als seinen Existenzstatus reklamiere – und sich damit an die Stelle Gottes setze. An die Stelle Gottes setzen wolle, so wandte ich sogleich ein, denn gelungen sei das dem modernen Menschen nicht, und wir seien uns doch gewiß darüber einig, daß dies jenem auch nie gelingen könne. Voegelin bestritt dies selbstverständlich nicht, er selber betonte beständig, daß ein modernes Denken in der Revolte gegen die Realität des Göttlichen nur Imaginäres, nichts Wirkliches reflektiere. Das ‚Ego‘ als Gottes-Sein des Menschen konnte noch so oft und so beharrlich postuliert werden, es gab es nicht, und es konnte also im Ereignis einer ‚Egophanie‘ auch nicht ‚erscheinen‘. Meinen Einwänden dieser Art setzte Voegelin nichts weiter entgegen, weder sagte er, er ließe wohl besser von seiner neuesten begrifflichen Erfindung ab, noch erklärte er, er hielte an ihr fest. Der ‚Test‘ jedenfalls war vollzogen, und Voegelin zog daraus sein Ergebnis. Er führte den Begriff „Egophanie“ in The Ecumenic Age ganz formell als ein neues sprachliches Symbol zur Analyse der von ihm nun so genannten „egophanic revolt“ moderner Denker ein.13 Nach der Lektüre zweier neuer von ihm verfaßter Texte, Wisdom and the Magic of the Extreme und The Beginning and the Beyond, schrieb ich Eric Voegelin am 27. Februar 1981 einen Brief, den er mit einem Brief seinerseits vom 11. März 1981 beantwortete. „Den meisten Ihrer kritischen Fragen wuerde ich zustimmen“, so ließ mich Voegelin liebenswürdigerweise wissen, „besonders da ich eben an ihrer Beantwortung im Band V [In Search of Or­ der] arbeite.“14 Wenn er sie indes nicht selbst schon früher beantwortet habe, so liege das an einem Grund, den ich, wie er glaube, in meinen kritischen Fragestellungen „zu leicht“ genommen habe. Und so schien er zu einer kritischen Korrektur dessen anzusetzen, was er als meine ‚kritischen Fragestellungen‘ auffaßte. Doch Voegelin holte in diesem brieflichen Werkstattgeich die neuen Ausgrabungen im Iran sehen. Leider sind sie schwer zugaenglich, und die Vorbereitung erfordert einige Zeit.“ (Brief von Eric Voegelin an Verf., 4. April 1973, Archiv des Verf.). – Des weiteren reicherte Voegelin seine Bibliothek in den siebziger Jahren kontinuierlich durch eine große Zahl von Büchern zur Ur- und Frühgeschichte an. 13  Eric Voegelin, The Ecumenic Age, Order and History, Bd. 4, Baton Rouge 1974, S. 260. 14  Brief von Eric Voegelin an Verf., 11. März 1981, Archiv des Verf.



Die Werkstatt Eric Voegelins205

spräch zu etwas ganz anderem aus. Zu einer Selbsterklärung nämlich, mit der er methodisch seine Schaffensweisen enthüllte: Seine Verpflichtung für das absolut Schöpferische, seine unbegrenzte Offenheit zur Empirie, seine umstürzlerisch sich auswirkende Neugier, seine gewissermaßen bildhauerische Arbeit an Begriffen, zum Aufbau graphisch visualisierbarer Symbolkomplexe, jener Formen, die zugleich ‚Ende‘ als auch ‚Anfang‘ im Vorgang seines Schaffens waren, Vollendung seiner Denkarbeit vor dem Schreiben, und Denkplan nach dem Beginn des Schreibens. Voegelin zu sich selbst, im Geistesatelier: „Meine Bewusstseinsanalysen gehen so weit – und nicht weiter – wie das jeweils an[a]lysierte historische Material es erlaubt. Ich habe keine fertige „Theorie“, die ich anwende. Jede nicht-begruendete Generalisierung koennte zu Konflikten mit historischen Bewusstseinssymbolen fuehren, die mir noch nicht bekannt sind, oder die ich uebersehen habe. Eben habe ich z. B. bei Augustine [sic] das Symbol des sacrificium confessionis bemerkt, das alles ueber den Haufen wirft, was in der Literatur ueber die Confessiones als autobiographisches Werk gekohlt wird, und das neue Klassifizierungen erfordert, an die ich bisher nicht gedacht habe. Sie haben jedoch durchaus recht, wenn Sie bemerken, dass eine ganze Reihe der entwickelten Bewusstseinssymbole nicht isoliert stehen, sondern zu Verkettungen herausfordern. Solche Verkettungen nenne ich „Komplexe“ von Symbolen, die nicht gegeneinander isoliert werden duerfen. In Florenz habe ich angefangen Kataloge solcher Komplexe zusammenzustellen und lege Ihnen einen solchen ersten Versuch bei. Inzwischen bin ich mit diesem Problem, in der Arbeit am Band V, schon sehr viel weitergekommen. Aber immer noch: Nichts ohne Begruendung in den geschichtlichen Bewusstseinserscheinungen.“15

Auf den folgenden beiden Seiten sind, auch zur Abschließung dieses ­ eitrags, die beiden Blätter wiedergegeben, auf denen Eric Voegelin im B Herbst 1980 in Florenz seine „Komplexe“ von Symbolen für das Voranschreiben von In Search of Oder erarbeitete. Wenn man nun in jenem Buch die Seiten 15 und folgende beziehungsweise 29 und folgende aufschlägt und von der jeweiligen Seite an zu lesen beginnt, so kann man, hält man die Blätter mit den „Komplexen“ neben sich, eine literarische Schöpfungsgeschichte nach rückwärts verfolgen – in ihre Schöpfung selbst.

15  Ebd.

206

Die Werkstatt Eric Voegelins



Die Werkstatt Eric Voegelins207

Zu einer Brücke zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein hin: Die Sprachen Eric Voegelins Ich habe keine Wahl In einem Brief vom 1. Januar 1953 an Alfred Schütz warf Eric Voegelin bezüglich des Höhlengleichnisses in Platons Politeia die folgende Frage auf: „Von wem wird dieser Mensch zur Umwendung, zur periagoge, ‚gezwun­ gen‘?“1 Und er fügte den Kommentar an: „Hier haben Sie das Gnadenproblem auf der Platonischen Stufe der Einkleidung in Gleichnisse und Mythen.“2 Der „Zwang“ in der Höhle stellt nach Voegelin den gleichen Akt einer Intervention dar, den das Christentum unter den Begriffen „Offenbarung“ oder „Gnade“ kennt, nämlich einen „erlebte[n] Eingriff der Transzendenz in das menschliche Leben.“ Für ihn als „Theoretiker der Politik“, so fuhr Voegelin fort, „gibt es da keine Wahl“. Denn Fragen dieser Art – „Von wem wird dieser Mensch zur Umwendung, zur periagoge, ‚gezwungen‘?“ – würden eben im „geschichtlichen Material“ auftreten. Und deswegen müsse er sich „damit auseinandersetzen“.3 Das „Material“ leitet das Erkennen an, und gewiß nicht der Forschende. Dies war für Voegelin immer das oberste Prinzip aller Forschung.4 Der Forscher muß offen gegenüber allem sein, das er erfährt (erfahren kann) – geErstdruck in: Hans-Jörg Sigwart (Hrsg.), Staaten und Ordnungen. Die politische und Staatstheorie von Eric Voegelin, Baden-Baden, Nomos, 2016, S. 239–254. 1  Alfred Schütz und Eric Voegelin. Eine Freundschaft, die ein Leben ausgehalten hat. Briefwechsel 1938–1959, hg. Gerhard Wagner, Gilbert Weiss, Konstanz: UVK, 2004, S. 456. – Der wissenschaftliche Dialog zwischen Schütz und Voegelin, weitgehend dokumentiert durch diesen Briefwechsel, erstreckte sich über drei Jahrzehnte. Seine außerordentliche Bedeutung liegt darin, daß er Teil des Denk- und Schaffensprozesses von Voegelin war, und folglich für jede Beschäftigung mit Voegelins Werk eine unerläßliche Erkenntnisquelle ist. Bezüglich der Freundschaft zwischen den beiden Gelehrten und ihres fortdauernden Gesprächs vgl. Gilbert Weiss, „Political Reality and the Life-World: The Correspondence between Eric Voegelin and Alfred Schütz, 1938–59“, in: Politics, Order, and History. Essays on the Work of Eric Voegelin, hg. Glenn Hughes, Stephen A. McKnight, Geoffrey L. Price, Sheffield: Sheffield Academic Press, 2001, S. 125–42. 2  Ebd., S.  456 f. 3  Ebd., S. 457. 4  Vgl. die folgende Bemerkung Voegelins in seinem Brief vom 29. März 1945 an Alfred Schütz: „Ich bin für Kant: erst kommt das Faktum der Wissenschaft, nachher

210

Die Sprachen Eric Voegelins

genüber dem Erfahrenen selbst, wie gegenüber der Reflexion von Erfahrenem in dieser oder jener Ausdrucksform (das ist dann das „Material“). Durch seine Offenheit werden Wirklichkeit einerseits und menschliches Bewußtsein andererseits füreinander offen, der Forschende läßt Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit, die sich in einer gegebenen Erfahrung manifestiert, in sein Bewußtsein; und es kann umgekehrt sogar das geschehen, was erlebt wird als ein „Eingriff“ von „Transzendenz“ in das „menschliche Leben“. Das Bewußtsein des Forschers (beziehungsweise, um genau zu sein, jedes Menschen) muß sich, zu seiner Ausbildung, über Erfahrungen aufbauen, das heißt, über Erfahrungen von Wirklichkeit, durch die es seine eigene Wirklichkeit erhält, als das Bewußtsein, in dem Wirkliches gegenwärtig geworden ist, und von dem der Forscher als sein eigenes weiß. In einem anderen Brief an Alfred Schütz, datiert vom 17. September 1945, trieb Voegelin die Logik seines methodologischen Verständnisses noch weiter voran, indem er erklärte: „Ideen, und insbesondere politische Ideen, sind nicht theoretische Propositionen über eine Realität, sondern sind selbst Bestandteile der Realität.“5 Vermischte Voegelin denn Wirklichkeit und Bewußtsein und setzte sie einander gleich? Nein. Eine Radikalität des Denkens war für ihn stets nur eine Methode seines Denkens, und nicht dessen Absicht. Er strebte danach, die Probleme, die er sah, so klar und so angemessen wie nur möglich zu erfassen. Ideen sind Bestandteile der Realität. Das dachte er, gewiß. Aber sie werden natürlich allein durch das Bewußtsein wahrgenommen (zumindest in der menschlichen Erfahrung). Es gibt unzweifelhaft eine Verschiedenheit zwischen dem „Bewußtsein“ einerseits als dem Feld – dem Feld inmitten der Realität – wo all das von der Realität wahrgenommen wird, das Erfahrungen übermitteln, und der „Realität“ andererseits, aus der heraus Erfahrungen kommen und auf welche sie sich beziehen. Dieses Auseinandergehen ist das Problem in der Mitte des Voegelin’schen Denkens, auf das es sich richtet, um das es kreist. Also jene Bewegung zu einem Wissen hin, durch welche, inner­ halb der Wirklichkeit, zwei Sphären, nämlich Wirklichkeit und Bewußtsein, als je für sich und doch aufeinander bezogen aufscheinen. Die folgenden Überlegungen gelten Voegelins Anstrengungen, diese Bewegung zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein zu einem Wissen hin gedanklich auszuloten und sprachlich auszudrücken. Sie werden als entscheidend für Voegelins Vorankommen im Verfolg seines Werkes angesehen. Dementsprechend gehen unsere Überlegungen von den „großen“ Schriften Voegelins aus: Israel and Revelation, The World of the Polis, Plato and Aris­ kann man sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man das eigentlich gemacht hat.“ (Ebd., S. 229). 5  Alfred Schütz und Eric Voegelin, S. 266.



Die Sprachen Eric Voegelins211

totle, The Ecumenic Age, The Beginning and the Beyond, und The Beginning of the Beginning. Dabei wird The Ecumenic Age, also der vierte, erst viele Jahre nach dem Erscheinen der ersten drei Bände abgefaßte Band von Order and History aus einem ganz bestimmten Grund besonders zu beachten sein. Denn er ist das Ergebnis eines „Durchbruchs“ in Voegelins Anstrengungen, Wirklichkeit und Bewußtsein aufeinander beziehen zu können. Voegelin hatte schon lange an dem Sprachproblem in seiner Auslegung von „Wirklichkeit“ und „Bewußtsein“ und insbesondere der Bewegung zwischen ihnen gearbeitet. Jetzt begann er damit, sich darauf zu konzentrieren. Die Sprache selbst als das Feld der Dynamik zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit wurde für ihn ein vornehmliches Thema seines Nachdenkens. In The Begin­ ning of the Beginning fügte er den Begriffen „Wirklichkeit“ und „Bewußtsein“ den Begriff „Sprache“ als einen dritten Terminus in ein- und demselben „Komplex“ zu. Es sei durch die Sprache, so hielt er fest, daß Wirklichkeit sprechend werde, für das Bewußtsein, also für das Bewußtsein, das in Erwiderung auf jenes „Sprechen“ der Wirklichkeit entstehe und sich ausbilde. Die Frage nach einem Erkennen von Wirklichkeit wurde zur Frage nach dem Weg, in die Geschichte (story) der Realität hineinhören zu können. Auf der Suche nach einer angemessenen Theorie des Bewußtseins, dem entscheidenden Bauteil in der Architektur seiner Theorie der Politik, sah sich Voegelin dazu angehalten, eine dafür geeignete Theorie der Sprache zu entwickeln. Das kollektive Unbewußte: „Eine Weiterung der Problematik, der ich für den Augenblick ausweichen wollte.“ Das Vorgehen, das für unsere Überlegungen gewählt wird, ist strikt phänomenologisch. Es wird nicht beabsichtigt, allgemein eine Beschreibung und Analyse des Problems der Begrifflichkeit von „Realität“ und „Bewußtsein“ im Denken von Voegelin anzustellen. Vielmehr geht es uns darum, die Sprachen – und man beachte den Plural – auszumachen, in und mit denen es Voegelin unternahm, die Bewegung zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit auf ein Wissen hin zu verstehen und zu erklären. Über die Jahre hinweg entwickelte Voegelin ein ganzes spezifisches Vokabular, und bildete mithilfe dieses Vokabulars eine Reihe von Sprachen aus, um sein sich ausformendes Denken bestmöglich auszudrücken. Sowohl das Vokabular wie diese Sprachen können phänomenologisch aufgewiesen werden, in ihren konstitutiven Teilen wie in ihrer jeweiligen Architektur. Eine solche phänomologische Darstellung möchten wir hier vorlegen. Voegelin machte sich spät im Verfolg seines Werkes an die Ausarbeitung des Vokabulars, von dem wir sprechen. Noch 1958, in seinem brieflichen Dialog mit Alfred Schütz, zeigte er sich bereit, für sein eigenes Denken über

212

Die Sprachen Eric Voegelins

das Problem von Bewußtsein und Wirklichkeit einen konzeptuellen Begriff zu benützen, den er nicht selber ausgearbeitet hatte. Es handelt sich um den von Carl Gustav Jung eingeführten Begriff des „kollektiven Unbewußten“. Der Jung’sche Begriff und überhaupt auch der allgemeine Terminus „das Unbewußte“ waren, wie es scheint, für eine Reihe von Jahren im Dialog zwischen Schütz und Voegelin Begriffe von theoretischer Relevanz. So verwies Voegelin zum Beispiel am 6. Oktober 1945 in einem Brief an Schütz auf dessen „ausgezeichnete Bemerkungen über das Unbewußte in der Psychoanalyse“.6 Allem Anschein nach interessierte sich Voegelin zu der Zeit sehr für das „Unbewußte“.7 Warum? Eine Antwort erschließt sich aus jenem Brief. Voegelins Verweis auf die „ausgezeichneten Bemerkungen“ seines Freundes geht dort nämlich eine lange Passage über die nach Voegelin „empirisch“ gegebene „Analogie“ zwischen der „kosmischen Ordnung“ und der Sphäre der „politischen Sinngebungen“ voraus.8 Für Voegelin bilden die „politischen Sinngebungen“, also die symbolisch-mythischen Ordnungen, durch welche der Sinn menschlicher Gesellschaft ausgedrückt und repräsentiert wird, in der gesellschaftlichen Welt der Menschen die kosmische Ordnung nach. Sie stellen ein „kosmisches Analogon“ dar.

6  Ebd.,

S. 277. zum Beispiel die entsprechende Bemerkung in einem Brief, den Voegelin am 29. Januar 1947 an William Y. Elliott richtete: „In den letzten Monaten war ich damit befaßt, den Abschnitt über Platon in meiner ‚Geschichte (History)‘ zu überarbeiten und, für den größten Teil, gänzlich neu zu schreiben. Nachdem ich meine Untersuchungen zu Schelling und Vico abgeschlossen hatte, zeigten sich mir gewiße Probleme klarer und ich fand, daß ich jetzt eine vernünftige Interpretation des Spätwerks von Plato (Politikos, Timaios, Critias), das gewöhnlich vernachlässigt wird, leisten konnte. Ich fand insbesondere eine Lösung für das Atlantische Problem [damit ist das von Platon beschriebene Atlantis gemeint] im Sinne einer Symbolik des Unbewußten.“ („To William Y. Elliott“, in: The Collected Works of Eric Voegelin (im weiteren: „CW“), Vol. 29, Selected Correspondence 1924–1949, hg. Jürgen Gebhardt (Columbia /London: University of Missouri Press, 2009), S. 496.) Und am selben Tag erläuterte Voegelin in einem Brief an Alexander von Muralt: „In den letzten Jahren habe ich mich häufig mit Jung beschäftigt, seine Psychologie enthält mehr (wie ich glaube) als es ihm selber klar ist. Jung wird durch seine Unfähigkeit, sein Material theoretisch durchzuarbeiten, behindert: ich glaube, er ist philosophisch zu ungebildet oder vielleicht zur Theorie einfach unbegabt. Auf jeden Fall bringen seine Untersuchungen über Psychologie und Religion, und insbesondere das letzte Werk über Psy­ chologie und Alchimie wunderbares Material zur Geistesgeschichte – von Jung selbst im Grunde unbenützt. In Psychologie und Alchimie finden sich Formulierungen, die wortwörtliche Zitate von Schelling sein könnten, aber ich habe den Eindruck, daß er das nicht weiß, und daß er keine klare Vorstellung vom metaphysischen Umfang seiner Ideen hat.“ („To Alex von Muralt, January 29, 1947“, in: CW 29, S. 497 ff. – Alle Zitate aus dem Englischen wurden vom Verfasser ins Deutsche übertragen.). 8  Alfred Schütz und Eric Voegelin, S. 277. 7  Vgl.



Die Sprachen Eric Voegelins213

Für unseren Zusammenhang ist die Sprache bedeutsam, die Voegelin gebrauchte, um die gesellschaftliche und existentielle Wirkung der Errichtung der „kosmischen Analogie“ (die er in seinem Brief auch als „cosmion“ bezeichnet9) zu beschreiben. Denn diese Errichtung, so erklärte er, erzeuge eine „quasi-Natur“ für die aus ihr folgenden menschlichen Handlungen und Institutionen. In ihr, jener „quasi-Natur“, sei eine den Menschen „vorgegebene“ und von ihnen „fraglos“ hingenommene „Struktur des Alltags“ zu sehen.10 „An einer bestimmten Geschichtsstelle“ fände sich der politisch handelnde Mensch eben in „den Strom [der Geschichte] hineingeboren.“11 Angesichts solcher Äußerungen erscheint es ganz logisch, daß Voegelin, kaum daß er sie in dieser Art von Sprache formuliert hat, auf die „ausgezeichneten Bemerkungen“ seines Freundes über das „Unbewußte in der Psychoanalyse“ verweist. In der Tat, setzt man die Vorstellung vom „Unbewußten“ an, insbesondere in der Art, wie sie C.G. Jung verstand, wird man auch annehmen, daß die Wirklichkeit im eigenen Geist ihr Werk verrichtet, ohne daß man dessen gewahr ist. Denn das Unbewußte, so Jungs Ansicht, ist allen Menschen gemeinsam. Es enthält vor-persönliche Elemente in der Psyche jedes Menschen, die kollektive Repräsentationen von vergangenen Erfahrungen sind, und in ihrer Gesamtheit das Ganze der menschlichen Geschichte abdecken. Jung benützte deshalb bevorzugt den spezifischen Begriff „kollektives Unbewußtes“. Er wollte damit die eingeborene und, historisch wie gesellschaftlich, universale Natur des Unbewußten bezeichnen. An ihm nehmen die Menschen grundsätzlich durch ihr Mensch-Sein teil; im Modus ihrer Erfahrungen  – in ihren Träumen, ihren literarischen und künstlerischen Werken, beispielweise – ist ihnen ein Bezug zur Welt gemeinsam, mit dem sie geboren werden. Jungs Begriff des kollektiven Unbewußten läßt deshalb an eine mächtige, wenn nicht übermächtige Kraft im menschlichen Geist denken. Sie prästrukturiert ein menschliches Leben, sowohl in der persönlichen wie in der gesellschaftlichen Dimension.12 Zu der fraglichen Zeit – 1945 – hielt auch Voegelin so etwas wie das Jung’sche „Unbewußte“ für eine reale Erscheinung, wie seine soeben angeführte Wortwahl – „quasi-Natur“, „vorgegebene Struktur“, „empirisch gegeben“ – anzeigt. Die Menschen sind in den historischen Strom des Erfah9  In seinem Brief an Schütz erwähnte Voegelin ausdrücklich, daß er den Begriff „cosmion“ dem Werk von Adolf Stöhr mit dem Titel „Wege des Glaubens“ (Wien/ Leipzig: Braumüller, 1921), entnahm. 10  Alfred Schütz und Eric Voegelin, S. 277. 11  Ebd. 12  Carl Gustav Jung präsentierte seine Gedanken zum „Unbewußten/kollektiven Unbewußten“ in verschiedenen Schriften. Einen einführenden Überblick bietet das Kapitel „Approaching the Unconscious“, in: Carl G. Jung et al., Man and his Symbols, London: Aldus, 1964, S. 18–103.

214

Die Sprachen Eric Voegelins

rungsgeschehens ganz hineinversetzt, sie müssen in ihrer suchenden Aufnahme von Wirklichkeit nicht nach einem Anfang noch einem Ende von ihr ausschauen: denn sie werden geführt vom „Unbewußten“ oder vielmehr, nach der noch mehr ontisch aufgeladenen Jung’schen Figur, von dem „kollektiven Unbewußten“. Doch im Jahr 1958 protestierte Schütz: „Besonders schwierig aber ist es für mich, Ihnen darin zu folgen, daß Sie die das Transzendenzerlebnis verkörpernden Symbole im Unbewussten verankert wissen wollen, wobei Sie manchmal – vielleicht im Sinne Jungs und Kerényis13 – von kollektivem Unbewussten sprechen.“14 In seiner Antwort wies Voegelin die Kritik seines Freundes nicht zurück. Ganz im Gegenteil. Er stimmte ihr zu und erweiterte sogleich das Feld der Untersuchung, wie er es bei wissenschaftlichen Gesprächen immer tat. Das von den beiden Freunden diskutierte Problem – die Bewegung zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein auf ein Wissen hin – gehörte offensichtlich in einen Kontext von Reflexion und Forschung, der so ausgedehnt und komplex war, daß Voegelin – selbst Voegelin – angesichts seiner schieren Weite zurückwich: „Und mit der Schwierigkeit des ‚Unbewussten‘ haben Sie nur allzurecht – nur, wenn man diese ‚Hypothese‘, wie Sie sagen, nicht braucht (und ich stimme Ihnen zu), so muss man sie durch eine andere ersetzen: durch die der Varianten göttlicher Manifestationen in der Seele, wie eben das Unbewusste der mythischen Figuration, das ‚Wort‘ der Offenbarung, die Ratio der Philosophie, und wahrscheinlich eine Reihe anderer … Und das ist eine Weiterung der Problematik, der ich für den Augenblick ausweichen wollte.“15 Der Baum des Denkens, der aus der himmlischen Wurzel sprießt Als er Alfred Schütz diese Antwort gab, war Voegelin dabei, den großen Schnitt zu vollziehen, mit dem er seine geschichts- und politiktheoretische Arbeit radikal anders anlegte. Er gab völlig das Vorhaben einer von ihm verfaßten „Geschichte der Politischen Ideen“ auf, an dem er jahrelang gearbeitet hatte, und begann in der Ausformulierung seines Denkens gänzlich neu. Dies führte zu Order and History, seinem magnum opus, von dem die ersten drei Bände 1956 und 1957 erschienen. Mit der Kehre in seinem Den13  Karl Kerényi (1897–1973) war ein in Ungarn geborener und in der Schweiz lebender Religionswissenschaftler, speziell auf dem Gebiet der altgriechischen Religion und Mythologie. Vgl. zu Kerényis Werk: John von Heyking, „The Intermediaries of the Eranos Festival: Hermes and Orpheus“, in: Tilo Schabert (Hg.), The Eranos Movement. A Story of Hermeneutics, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016, S. 58–72. 14  Alfred Schütz und Eric Voegelin, S. 555. 15  Ebd., S. 557.



Die Sprachen Eric Voegelins215

ken begann Voegelin natürlich auch das Problem von Wirklichkeit und Bewußtsein anders anzugehen. Er wechselte die Sprache aus, mit der er das Problem behandelte. Was er tat, war folgendes. Unter Einsatz seines beträchtlichen Wissens und Vermögens in Angelegenheiten der Sprache, entwickelte er eine Sprache der Bewegung, mithilfe derer die Bewegung zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein zu einem Wissen hin erfaßt und in der Weise einer vollkommenen Entsprechung – Wirklichkeit auf der einen, Bewußtsein auf der anderen Seite – ausgedrückt werden konnte. Das war ein geschicktes Vorgehen, und es war verlockend. Eine sprachliche Bewegung würde in die Bewegung zum Wissen hin eingehen, dieser folgen, und dann eine jener entsprechende Sprache hervorbringen. Das würde zu einer Sprache der Bewegung führen, durch welche die Bewegung zum Wissen hin die Qualität einer unmittelbaren Augenscheinlichkeit und Durchsichtigkeit erhielte, und zwar in einem Maße, daß Wirklichkeit, im Modus von Sprache, unmittelbar übertragen wurde ins Bewußtsein. Wenn wir die Einleitung für Israel and Revelation ansehen, können wir die ersten Schritte zur Ausführung dieses Projekts nachgehen. Als Voegelin in der Einleitung exegetisch von der Bedingung menschlicher Existenz wie von der Natur der Wirklichkeit sprach, beschrieb er beide in einem Zustand von Bewegung. „Der Mensch“, so sagte er, „ist ein Akteur (actor), der eine Rolle im Drama des Seins (drama of being) innehat.“16 In Bewegung zu sein, ist die Natur der Wirklichkeit, und deswegen ist das Wort „Drama“ der angemessene Begriff, um die existentielle Situation zu bezeichnen, in welche der Mensch versetzt ist. Und was den Menschen selbst anbelangt, ist dieselbe Art von Sprache – eine Sprache, die Bewegung übermittelt – anzusetzen: Er ist „Akteur“ im „Drama des Seins“, mit der „Rolle“, die er in diesem Drama „spielt“. Alles ist Bewegung, und das Bewußtsein, das der Mensch bezüglich der Wirklichkeit ausbildet, formt sich gleichfalls in einem Prozeß der Bewegung aus. Diesen Prozess bezeichnete Voegelin mit dem Begriff „Teilhabe (participation)“. Und es sei daran zu erinnern, daß „participation“ der zentrale Begriff in dem ersten Band wie in den folgenden vier Bänden von Or­ der and History ist. Der Mensch (der Akteur, der versetzt ist in eine Bewegung) macht Erfahrungen von Wirklichkeit (von dem Seinsdrama, das ganz Bewegung ist), die zu jedem Mal eine Erfahrung von Bewegung sind: „eine 16  Eric Voegelin, Order and History, Vol. I, Israel and Revelation, CW, Vol. 14, hg. Maurice P. Hogan, Columbia/London: University of Missouri Press, 2001, S. 39. Im Kontext unserer Untersuchung sollte hervorgehoben werden, was Maurice Hogan in seiner Einführung zu dem Band bemerkte: „In seinen späteren Jahren widmete Voegelin seine Aufmerksamkeit dem Erzählen, der Erzählform, dem Ereignis, so in Order and History, Vol. V, In Search of Order. Dieser Band hier zeigt seine Sensibilität für die sprachliche Vermittlung von menschlicher Erfahrung.“ (CW 14, S. 13).

216

Die Sprachen Eric Voegelins

Erfahrung der Teilhabe (experience of participation)“.17 Alles ist Bewegung. So wird in der Bewegung des Menschen zu einem Wissen hin, zwischen der Wirklichkeit, auf die sich seine Suche nach Wissen richtet, und dem Bewußtsein, das sich ihm als seines bei dieser Suche erschließt, auch alles Wissen, das er dabei erfassen kann, eine „Erfahrung der Teilhabe“. Order and History ist Voegelins Unternehmen, eine solche Erfahrung zu erforschen und zu ergründen: ihre Architektur, ihre Elemente, ihre Dynamik. Er konzentrierte sich darauf und er hielt an dieser Aufgabe – und an keiner anderen – fest. Denn jene experience of participation, so sah er es, ist das Einzige, von dem der Mensch etwas wirklich weiß. Man könnte nun vermuten, daß diese Logik von Voegelins Denken einfach aus der Sprache folgt, die er hier verwendet hat. Wenn man an die Wirklichkeit, so könnte man sagen, und innerhalb dieser weiterhin an den Menschen Sprachwendungen anlegt, welche beide – Wirklichkeit und Mensch – im Zustand einer Bewegung darstellen, dann erscheinen sie natürlich auch in einem Zustand der Bewegung. Ein solcher Einwand könnte nicht zurückgewiesen werden, mit der Ausnahme eines einzigen Falls – dem Fall einer Erfahrung nämlich, die ob der absolut gültigen Qualität, die ihr als Tatsache oder empirisches Ereignis zukommt, unbestreitbar ist. Und in der Tat, von genau einer solchen Erfahrung ging Voegelins Logik aus. Er gab bei allem Denken und Forschen stets dem Erfahren – und dem Erfahrenen – den Vorrang. Und also einem Denken, das angeleitet wird. In der Höhle von Platons Gleichnis wird der vorgestellte Mensch gezwungen (Voegelins Ausdruck!) sich herumzudrehen und sich der Öffnung oben in der Höhle zuzuwenden.18 Da ist die unbestreitbare Tatsache einer Erfahrung, 17  CW 14,

S. 41. Höhlengleichnis stellt in der Form einer Erzählung das empirische Ereignis einer Initiation in eine Existenz zum Wissen hin dar. Der Zustand des NichtWissens, das sollte hervorgehoben werden, schließt ein Nicht-Wissen der Tatsache ein, daß man sich in einem solchen Zustand befindet. Anstatt diesen Mangel zu erkennen, nimmt die nicht-wissende Person an, daß sie Wissen besitzt – das „Wissen“, das ihr Nicht-Wissen in ihrem Kopf erzeugt hat. Von daher die „Schatten“ in Platons Erzählung, welche die Menschen sehen, die am Grund der Höhle an deren Wand gefesselt sind. Da nun der, der nicht-wissend ist, denkt, er sei wissend, reagiert er auf Anreize, seinen Zustand zu ändern, eher mit Widerstand. Ignoranz ist für sich eine starke Macht, in vielen Kleidern: Faulheit, die Tendenz, alles aufzuschieben, zu verschleppen, die tausenderlei Ausreden des Vielbeschäftigten, Frechheit und Anmaßung, unverblümte Feindseligkeit. Sie muß in ihrer Macht gebrochen werden, durch eine stärkere Macht, wie die des nach Wissen begehrenden Eros, wenn er vom nicht-wissenden Kopf Besitz ergreift. Daraus ergibt sich das, was Plato des weiteren erzählt: von den unten an die Höhlenwand Gefesselten wird einer von seinen Banden befreit, und gezwungen aufzustehen, und sich umzuwenden, und seine Augen auf das Licht zu richten, das vom oberen Höhlenrand herunterscheint. Das Höhlengleichnis gibt Erfahrenes wieder, nämlich die empirische Einsicht in jene Dynamik der mensch­ 18  Platons



Die Sprachen Eric Voegelins217

welche gemacht wird, und diese Erfahrung ist die eines Eingreifens. Eine Bewegung geschieht, das Herumwenden (periagogē), und da ist die Bewegung (wer „zwingt“ die von ihren Fesseln befreite Person dazu, sich herumzuwenden?), die eine Bewegung auslöst (eben zu der periagogē). Es versteht sich von selbst, nach Voegelins Denken, auf diese Bewegung (die, welche „zwingt“) einzugehen, ihr zu folgen, und zu erforschen, was sich in ihr zu offenbaren scheint. Gewiß, ein Verstehen und Deuten der Dynamik zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein ist eine Frage der Sprache. Aber es ist zuvor eine Frage der Offenheit für eine Offenbarung von Wirklichkeit, in der sich die Tatsache einer Erfahrung und über diese Bewußtsein ausbilden kann. Aus der Offenbarung von Wirklichkeit kommt das erfahrungsschaffende Ereignis; danach erfolgt die Interpretation, also das Empfangen der Offenbarung durch den Menschen in der Sprache. Jedoch ist der soeben gefundene Ausdruck „in der Sprache“ noch ungenau. Wir sagten, daß sich Voegelin für die Artikulation von Erfahrungen eine ihnen entsprechende Sprache vorstellte. Um diese oder jene Erfahrung auszudrücken, wird ihm zufolge die bestimmte Sprache benötigt, die in einer bestmöglich vollendeten Weise mit dem übereinstimmt, wovon die Erfahrung gemacht wurde.19 In The World of the Polis führte Voegelin eine exemplarische Demonstration dieser Vorstellung aus. Dabei ging es um eine Exegese der unmittelbaren (unmittelbar wahren) Erfahrung, durch welche eine Offenbarung von Wirklichkeit in der menschlichen Erfahrung geschieht. Voegelin führte die Exegese aus und griff dafür im ersten Band von Order and History zu einer mystisch-poetischen Sprache: „Das, was durch den Verstand erfaßt wird, wird nicht in der Art eines Objekts diskursiven Redens erfaßt. Die fortschreitende Bewegung zum Licht [des Erkennens] hin gipfelt in einer Erfahrung höchster Wirklichkeit, die nur in dem Ausruf ‚Ist!‘ ausgedrückt werden kann.“ Voegelin bezieht sich hier auf Parmenides, der diesen Ausruf äußerte.20 Für „Philosophie“ findet er von daher das Bild vom „Baum des Denkens, der aus der himmlischen Wurzel sprießt“.21 Im Modus ihrer höchsten Intensität hält für einen Augenblick eine Offenbarung von Wirklichkeit den Prozeß der Bewegung – der „participalichen Natur, welche den Eintritt von Wissen – und zuletzt philosophischer Erkenntnis – in die menschliche Existenz bestimmt. Platons Erzählung ist deshalb eine Gründungsgeschichte: mit der Erfahrung, von der sie berichtet, beginnt die Erfahrung von Philosophie. 19  Vgl. dazu Tilo Schabert, „Things Turned Into Sounds. The Eranosean Hermeneutics“, in: The Eranos Movement, S. 9–56. 20  Eric Voegelin, Order and History, Vol. II, The World of the Polis, CW, Vol. 15, hg. Athanasios Moulakis, Columbia/London: University of Missouri Press, 2000, S. 282. 21  Ebd., S. 285. „Philosophie, im engsten Sinne, als der Baum des Denkens, der aus der himmlischen Wurzel sprießt, ist die Schöpfung von Parmenides und Plato“.

218

Die Sprachen Eric Voegelins

tion“ in Voegelins Sprache – an, in dem Menschen Wirkliches bewußt wird und in dem ihr Bewußtsein von Wirklichem sich ausbildet.22 Die Erfahrung dichtester Wirklichkeit wird, wie das parmenische ‚Ist!‘ zeigt, in der Weise einer begeisternden Vision gemacht. Das menschliche Bewußtsein von Wirklichkeit wird erfüllt mit Wirklichkeit. Während es zuvor Ereignis einer Bewegung war, hat es sich nun in das Ereignis eines Zusammenfließens gewandelt. In diesem überwältigend großartigen Augenblick ist Wirklichkeit, durch und durch, und keine Verschiedenheit ist mehr da, in eben diesem Augenblick, zwischen präsenter Wirklichkeit und dem Bewußtsein des Menschen, der die Erfahrung dieser Präsenz macht. Der Ausruf von Parmenides drückt denn eine vollkommene Entsprechung zwischen Wirklichkeit und menschlicher Erfahrung aus. Und so ist es ganz logisch, daß ihn Voegelin für sein eigenes Werk des Verstehens der partici­ pation übernahm. Doch diese Teilhabe – die Bewegung zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein zu einem Wissen hin – ist ein Prozeß, der von zwei Anstößen geleitet wird. Nach Platons Gleichnis wird die eine Person in der Höhle dazu gebracht, sich herumzuwenden. Sie macht diesen Zug des Herumwendens aber auch selbst, und setzt ihn mit einer Bewegung aufwärts fort, angezogen von dem leuchtenden Licht, das von oben herabscheint. Es gibt, so erklärte Voegelin in The World of the Polis, eine „Machtgestalt in der Seele“, die „den Denkenden antreibt“, und die später, in der Sprache der Philosophie, der „Eros des Philosophen“ genannt wird.23 „Der Mensch ist ein Akteur, der eine Rolle im Drama des Seins innehat“, so hatte Voegelin in Israel and Revelation erklärt. Gewiß, aber wie weiß der Mensch von diesem Drama und von der Rolle darin, die die seine ist? Er wird es durch seine „Seele“ oder seine „Psyche“ oder sein „Bewußtsein“ wissen, nach drei äquivalenten Begriffen in Voegelins Vokabular. Mit seiner Seele ist es, daß der Mensch den Anruf der Wirklichkeit vernimmt: diesen zu ihm gerichteten Anruf, der von ihr ausgeht, von ihr seine Wegweisungen zu erhalten, und sie zur Sache seiner existentiellen Suche zu machen. Und es ist mit seiner Seele, daß der Mensch den Antrieb verspürt, der ihn zu einer Suche nach Wissen anhält und so dem erhaltenden Anruf zu entsprechen. 22  Vgl. dazu den Abschnitt über „Die Verwandlung der Zeit: der Augenblick“ in: Das Ordnen der Zeit, hg. Tilo Schabert und Matthias Riedl, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 12–13, sowie Giovanni Moretto „Der Augenblick bei ­Soeren Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher“, in: Schleiermacher and Kierke­ gaard. Proceedings from the Schleiermacher – Kierkegaard Congress in Copenhagen, October 2003, hg. Richard Crouter, Theodor Jorgensen und Claus Osthoevener, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2006, S. 299–312. 23  CW 15, S. 278. Vgl. dazu Tilo Schabert, Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz, Freiburg/München: Alber, 2009, den Abschnitt „Im Eros“ , S. 107–124.



Die Sprachen Eric Voegelins219

Als Voegelin den dritten Band von Order and History, Plato and Aristotle, schrieb, konzentrierte sich demnach seine Denkanstrengung nicht mehr auf den „Akteur, der eine Rolle im Drama des Seins innehat“, sondern vielmehr auf eine Analyse der Seele. Er wollte dieses „Element des Suchens“ – die zetesis in der Sprache Platos, und Voegelin übernahm das Wort in sein eigenes Vokabular – erforschen, durch welches im Menschen seine Seele wächst. „Die erhellende Untersuchung, das zetema, wird nicht von außen an die ursprüngliche Erfahrung herangetragen, so als sei diese ein lebloses Objekt, vielmehr ist das Element des Suchens (zetesis) in der Erfahrung enthalten und entfaltet sich in die Untersuchung hinein.“24 Danach strebend, Wirk­ liches zu erkennen, trifft der Mensch Wirkliches in seiner Erfahrung der participation an. Deshalb ist es diese Erfahrung, die Erfahrung der sich öffnenden Seele in der Begegnung mit Wirklichem, die der Mensch vor allem erforschen sollte. Denn indem die Seele sich zur Wirklichkeit hin öffnet, wird sie die offene Seele: offen für alle Wirklichkeit, wächst sie zu sich selber aus. Dies ist dann die Seele, durch die der Mensch in seiner eigenen Existenz die Bewegung der Wirklichkeit entdeckt: den „logos“, den er sucht. Und so bemerkte Voegelin: „Wir können hinter Plato immer noch Heraklit hören, der auf einfache Weise sagen konnte: ‚Ich erforschte (edizesamen) mich selbst (B  101); und der das Ergebnis seines Forschens, das Wachsen der Seele in ihre eigene Gestalt, in den einen Satz bringen konnte: ‚Was der Seele eigen ist: ein Logos, der aus sich selber größer wird.‘ (B 115).“25 Strukturen und leitende Linien Der dritte Band von Order and History, Plato and Aristotle, wurde 1957 veröffentlicht. Erst 1974, also siebzehn Jahre später, setzte Voegelin Order and History mit der Veröffentlichung eines vierten Bandes, The Ecumenic Age, fort. Doch „fortsetzen“ trifft nur äußerlich, nicht wirklich zu. Bei den ersten drei Bänden von Order and History ging Voegelin für deren Gegenstand von einer „Geschichte“ von „Symbolisierungen“ aus, in welchen die Erfahrungen der Menschen von ihrer Teilhabe am Prozeß der Wirklichkeit nacheinander – gewissermaßen auf einer unlinearen Zeitachse – ausgedrückt sind. Beispielsweise, so nahm Voegelin an, folgte die Philosphie als Symbolform den „früheren“ Symbolformen mythisch-kosmologischen Denkens und ersetzte diese. In The Ecumenic Age verwarf Voegelin diese Annahme und führte stattdessen die Vorstellung eines „Feldes“ von Symbolisierungen ein, innerhalb dessen diese, durchaus als Phänomene in der Dimension der Zeit, 24  Order and History, Vol. III, Plato and Aristotle, CW, Vol. 16, hg. Dante Germino, Columbia-London: University of Missouri Press, 2000, S. 138. 25  Ebd., S. 139.

220

Die Sprachen Eric Voegelins

sich miteinander überschneiden, als voneinander verschiedene parallel zu­ einander auftreten, zu verschwinden scheinen und wieder neu gegenwärtig sind. Voegelin, der Autor von The Ecumenic Age, überdachte das ganze Voegelin’sche Werk, und setzte für dessen „Fortführung“ mit einer Sprache an, die wiederum durch und durch anders als die früheren Sprachen Voegelins war, insbesondere hinsichtlich unseres vornehmlichen Themas hier, der Bewegung zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein auf ein Wissen hin. Bei einer Analyse dieser „neuen“ Sprache fallen vor allem zwei Dinge auf: Voegelin beendete erstens seine bisherige Praxis, in sein Vokabular Begriffe von anderen (wie zum Beispiel von Plato) aufzunehmen, und wenn er es dennoch einmal tat, dann nur um den betreffenden Begriff hilfsweise zu gebrauchen. Und zweitens sind nun aus seinem Vokabular poetische oder mystische Begriffe entfernt, es ist ein entschieden technisches geworden. In ihm erscheinen als zentrale Sprachelemente Begriffe und Formulierungen wie: Strukturen von Sinn, sinnhafte Strukturen in der Geschichte, Vielfalt der Kernpunkte von Sinn, Feld der Geschichte, pluralistisches Feld von geistigen Ausbrüchen, Strukturen des erfahrenden Bewußtseins, Linie entlang der göttliche Wirklichkeit erfahren wird, Bewegung zum ganz Anderen hin, Bedeutungsmuster, Bedeutungsnetz, Pluralität von Knotenpunkten. Mit The Ecumenic Age machte Voegelin einen sprachlichen Sprung. Durch das neue technische Vokabular wurden seine Untersuchungen nicht nur in The Ecumenic Age, sondern auch in seinen späteren Schriften strukturiert, insbesondere im fünften und letzten Band von Order and History, der den Titel In Search of Order hat. Dieses Vokabular bestimmte in der Tat die Architektur des Voegelinschen Denkens von The Ecumenic Age an bis zu Voegelins Tod. Dafür muß ein wesentliches Motiv vorgelegen haben. Doch während Voegelin in der Einleitung von The Ecumenic Age ausführlich von dem Übergang von der Vorstellung einer diachronen Folge von Symbolisierungen zu der neuen Vorstellung ihrer synchronen Pluralität sprach, sagte er dort schlichtweg nichts darüber, daß sich dieser Übergang in der Architektur einer neuen Sprache abspielte, noch führte er irgendetwas zu dem Motiv oder, genauer, zu den Motiven aus, durch die sich die Wahl dieser neuen Sprache erklären ließe. Indes, eine Wahl war getroffen worden, absichtlich und wohlüberlegt. Wir erfahren dies durch einen Brief Voegelins vom 21. Juli 1960 an Donald R. Ellegood, den Direktor der Louisiana State University Press, also des Verlags, der die ersten drei Bände von Order and History veröffentlicht hatte, und immer noch auf den nächsten Band des vorgesehenen Gesamtwerks wartete. In diesem Brief berichtete Voegelin zum einen von den methodologischen Problemen, die ihn bislang an einer Fortführung von Order and ­His­tory gehindert hatten, und dann, zum anderen, von dem Ereignis – dem „wundersamen“ Ereignis, könnten wir sagen –, das den Weg für das große



Die Sprachen Eric Voegelins221

opus wieder freigab. Voegelin erklärte, daß er im Gebiet seiner Untersuchungen das Äquivalent der Relativitätstheorie entdeckt habe, und er spielte natürlich auf die Relativitätstheorie Albert Einsteins an, welche die Disziplinen der Physik und Astronomie revolutioniert hatte.26 Anstelle einer unlinearen Abfolge der Symbolordnungen, die das beherrschende Prinzip der Darstellung (ein Prinzip allerdings, dem das „Material“ zusehends entgegenstand) für die ersten drei Bände von Order and History (wie für die geschichtstheoretischen Werke beispielsweise von Voltaire, Auguste Comte, G. W. F. Hegel) war, lag vor Voegelin jetzt ein Forschungsfeld, das dem relativistischen Raum der Physiker und Astronomen glich, wo die Zeit kein absoluter Faktor, sondern ein relativer im Verhältnis zum Raum, und umgekehrt der Raum ein relativer zur Zeit, war.27 Plötzlich erschien es klar, wie die Arbeit am opus wieder aufgenommen werden konnte, sowohl hinsichtlich des Materials wie der Sprache. Die zu bestimmende „Ordnung“ des „Feldes“ sind die Linien, Knotenpunkte, Strukturen, Richtungsanzeigen, Bewegungen, die aus dem Material herausstechen, welches das Feld ausmacht, und die sich so dem Forscher zeigen. Und die Sprache, mit der diese Ordnung zu erfassen ist, ist die Sprache, welche diese Linien, Knotenpunkte, Strukturen, Richtungsanzeigen, Bewegungen durch sich selber anzeigen. Voegelin, der Physiker sozusagen des Kosmos menschlichen Denkens, nahm nun die Haltung des distanzierten Beobachters ein, der kühl berichtete, was er sah: „Das ‚Ding‘, das Mensch genannt wird, entdeckt von sich, daß es Bewußtsein hat, und, als 26  „To Donald R. Ellegood, July 21, 1960“, CW, Vol. 30, Selected Correspondence 1950–1984, hg. Thomas A. Hollweck, Columbia-London: University of Missouri Press, 2007, S. 420–1: „Das ganze Werk [von Order and History] hat, verglichen mit den vorherigen Bänden, eine andere Beschaffenheit erhalten, aufgrund der Tatsache, daß ich nun nicht chronologisch mit einer Detailanalyse der Materialien wie bei den ersten drei Bänden vorgehe, sondern mittels einer weitgespannten Überschau der entscheidenden theoretischen Probleme. Dieses Vorgehen wurde notwendig weil mehrere Zivilisationen bezüglich der gleichen Probleme behandelt werden; und dies wurde infolge eines unglaublichen Glücksfalls möglich: ich stieß auf etwas wie eine Relativitätstheorie im Feld der symbolischen Formen, und die Entdeckung des theoretischen Modells, das alle Formen jedweder Zivilisation abdecken wird, ermöglichte eine kürzere Darstellungsweise des Ganzen, wie ich es mir vorher nicht erträumt hätte.“ – Was diesen Brief und die Folgen für die weitere Entwicklung von Voegelins Werk anbelangt, siehe die Erläuterungen von Thomas Hollweck und Paul Caringella in ihrer Einleitung zu: What is History? And Other Late Unpublished Writings, CW, Vol. 28, hg. Thomas A. Hollweck und Paul Caringella, Baton Rouge-London: Louisiana State University Press 1990, S. XII–XV. 27  In ihrer gerade angeführten Einleitung bemerken Thomas A. Hollweck und Paul Caringella: „Das Bild, das durch Voegelins Briefe [an die Louisiana State University Press] entsteht, ist das eines Gelehrten, der versucht, den reichen Umfang seiner Entdeckungen auf ein Buch hin zu bewältigen, während das Material es hartnäckig zurückweist, in eine Form gebracht zu werden, die auf es überhaupt nicht paßt.“ (CW 28, S. XV).

222

Die Sprachen Eric Voegelins

Folge, entdeckt es das menschliche Bewußtsein als den Bereich der Wirklich­ keit, in dem der Prozeß der Wirklichkeit wie wenn er aufleuchtete klar wird. Und wie das Feld des noetischen Bewußtseins sich in der Zeit durch eine Abfolge von Denkern ausfaltet, wird weiterhin zu dem Feld selbst erkannt, daß es zur Struktur der Wirklichkeit gehört.“28 Die Sprache, in der Erfahrung zum Ausdruck kommt In Voegelins Denken erschien von nun an, neben Bewußtsein und Wirklichkeit, ein drittes großes Thema: die Sprache. Als eine Folge seiner Entdeckung des „Felds“ von Symbolordnungen rückten Begriffe in Entsprechung zu diesem Feld – wie „Struktur“, „Raum“, „Bewegung“ und die anderen, die schon angeführt wurden – in seiner sprachlichen Aufmerksamkeit nach vorne. Diese Begriffe bildeten den Kern der neuen Sprache, umzeichneten aber auch die Aufgabe, das Erforschen der menschlichen Erfahrung – also diesen „Bereich der Wirklichkeit, in dem der offenbarungshafte Anruf von der göttlichen Seite her zusammenkommt mit der suchenden Erwiderung von der menschlichen Seite aus“29 – im Modus einer Suche nach der Sprache zu verfolgen, durch welche die menschliche Erfahrung in all ihrer Weite und all ihren Dimensionen „zum Ausdruck kommt“.30 Es zeigte sich als notwendig an, so führte Voegelin in The Beginning and the Beyond aus, den „Bewegungen der Seele“ zu folgen, wie sie im bewußten Akt der participation die Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit ergründet und „versucht, die Sprache zu finden, welche ihre exegetischen Bewegungen ausdrücken wird“.31 In The Beginning of the Beginning warf Voegelin das Problem erneut auf: „Was ist diese Struktur in der Wirklichkeit, die, wenn sie erfahren wird, den Gebrauch des Begriffs ‚Sprache‘ veranlaßt?“32 Denn nach Voegelin gab es derzeit keine Sprache, die auf die „Bewegung“ zwischen „Anruf“ und „Erwiderung“ ange28  CW 17, S. 236 (meine Hervorhebung, T. S.). – Was die hier von Voegelin gebrauchte Sprache anbelangt, so vgl. auch z. B. S. 54: „Das Jenseitige und der Anfang (The Beyond and the Beginning) als Begriffe, die die Richtungsanzeigen ausdrücken, in denen die göttliche Wirklichkeit erfahren wird, sind bis heute der unübertroffen genaue Ausdruck der Sache geblieben“; oder S. 74: „Die Existenz des Menschen ist Teilhabe an der Wirklichkeit. Diese erlegt die Pflicht auf, die Struktur der Wirklich­ keit, soweit sie erkennbar ist, noetisch zu erforschen, und sich geistig mit der Einsicht in ihre Bewegung vom göttlichen Anfang zum göttlichen Jenseits ihrer Struktur auseinanderzusetzen“ (meine Hervorhebung, T. S.). 29  CW 28, S. 173. – Für das „technische“ Vokabular vgl. auch S. 174–180. 30  Ebd., S. 177: „… die Sprache, in welcher die Erfahrung zum Ausdruck kommt“. 31  Ebd., S. 185. Auf derselben Seite spricht Voegelin von dem „Wunder der Wirklichkeit, die hineinbricht in die Sprache ihrer Wahrheit.“ 32  Eric Voegelin, Order and History, Vol. V, In Search of Order, CW, Vol. 18, hg. Ellis Sandoz, Columbia-London: University of Missouri Press, 2000, S. 29.



Die Sprachen Eric Voegelins223

wendet werden konnte.33 Und die Schwierigkeit, eine angemessene Sprache zu finden, war im 20. Jahrhundert umso mehr eine drängende, als dieses eine Zeit ohne allgemein anerkannte Diskursmodelle war, die dafür ausreichten, die sprachlichen Probleme überhaupt aufzunehmen (geschweige denn zu klären), die Voegelin ausgemacht hatte.34 Die sprachliche Arbeit, die zu tun war, erforderte eine tatsächlich grundlegende Suche nach einer neuen Sprache. Sie hatte mit einem wahren Beginn zu beginnen. Eine gewisse Anzahl von Prinzipien für den Gang der Suche mußte genau angegeben werden. Voegelin formulierte drei solcher Prinzipien aus. (1) Die zu findende Sprache wird diejenige Sprache sein – und wirklich nur diese –, die aus einem aktuellen Prozeß der participation hervorgeht.35 (2) Ihre Begriffe werden exegetische und keine beschreibenden sein.36 (3) Sie wird die Wirklichkeit der Dinge nicht vollständig ausdrücken, wenn sie nur aus Begriffen dieser Welt und ihrer Zeit besteht.37 Im Prozeß der participation erforscht die Seele die Erfahrung göttlicher Wirklichkeit.38 Daraus ist zu schließen, daß die Sprache, die der Mensch zur Artikulation seiner Erfahrung göttlicher Wirklichkeit sucht, „selbst vielleicht nicht vollständig von dieser Welt ist“.39 Im Prozeß der participation nimmt der Mensch auf, was ihm offenbart wird, und durch diese Offenbarung erfaßt er die göttlichen Begriffe der Wirklichkeit. So begreift der Mensch, daß die „Wirklichkeit eine Geschichte (story) ist, die in der schöpferischen Sprache Gottes ausgesprochen wird“.40 Über diese Formulierung Voegelins kann und wird man sich den Kopf zerbrechen. Sie ist so außerordentlich wie anscheinend abschließend. Die Begegnung von Bewußtsein und Wirklichkeit geschieht auf der „Brücke“ der Sprache. Gewiß, als Voegelin, am Abend seines Lebens, The Beginning and the Beyond und The Beginning of the Beginning schrieb, wich er nicht mehr vor der schieren Weite des Problems zurück, das die Bewegung zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein zu einem Wissen hin aufwirft. Denn er wußte jetzt, daß diese Bewegung im wesentlichen eine sprachliche Bewegung ist. Eine menschliche Erwiderung auf den göttlichen Anruf (der Anruf, sich zur Wirklichkeit hin zu öffnen) ist möglich, in einer bewußten und ausdrück­ 33  CW 28,

S. 179. S. 188: „Wir sind mit der Situation konfrontiert, die dem 20. Jahrhundert eigentümlich ist, keine allgemein anerkannte Sprache oder literarische Form zu haben, um die grundsätzlichen Probleme der Wahrheit und Sprache zu behandeln, die sich aus unserer derzeitigen Kenntnis der historischen Mannigfaltigkeit ergeben.“ 35  Ebd., S. 179. 36  Ebd., S. 185. 37  Ebd., S. 175. 38  Ebd., S. 185. 39  Ebd., S. 175. 40  Ebd., S. 185. 34  Ebd.,

224

Die Sprachen Eric Voegelins

lichen Weise, weil der Mensch den Anruf durch eine bestimmte Sprache aufnehmen kann. Dies ist die Sprache, die er aus der Wirklichkeit heraus begreift, wenn diese, im Ereignis von Anruf und Erwiderung, sich offenbart. In The Beginning and the Beyond hielt Voegelin denn fest: „Die Sprache der noetischen Philosophie ist die Sprache, die aus der Erwiderung auf die göttliche Bewegung hervorgeht.“41 Und in The Beginning of the Beginning erklärte er: „Die Sprachsymbole [durch welche die Erfahrungen der participa­ tion ausgedrückt werden] entfalten sich als Teile der sich entfaltenden Wahrheit der Wirklichkeit.“42 Die soeben angeführte Formulierung Voegelins, die „Wirklichkeit ist eine Geschichte (story), die in der schöpferischen Sprache Gottes ausgesprochen wird“, mag als ein abschließendes Wort gelesen werden. Aber das ist es nicht. Denn das „Feld“ – das ganze Feld menschlicher Erfahrungen, wie sie gemacht und artikuliert wurden, und ihm ganz gilt das Werk Voegelins – öffnete sich erneut. Es war weiter geworden und in neuer Weise auch durch die Entdeckung strukturiert worden, daß die Sprache, neben Bewußtsein und Wirklichkeit, die dritte Komponente in ein- und demselben „Komplex“43, und im übrigen, in vielerlei Hinsicht, dabei die entscheidende Kompenente ist. Die Wirklichkeit ist ein Ereignis in der und durch die Sprache. Und das Bewußtsein bildet sich aus, indem es sich diesem Ereignis erschließt. Ein­ fache menschliche Sprachen reichen nicht aus, das Ereignis ganz zu durchdringen. In dieser Phase seines opus fuhr Voegelin natürlich fort, Teile der verschiedenen Sprachen, die er im Laufe der Entwicklung seines Werks aufgenommen hatte, zu gebrauchen. Aber von nun an konzentrierte er seine Suche auf die Sprache selbst und ihre Weise als Sprache des Ereignisses „Wirklichkeit“. Er wollte verstehen, wie es The Beginning of the Beginning zeigt, wie eine Geschichte (tale) beginnt, wie sie strukturiert ist, wie sie aufgenommen werden muß, um ihre Wahrheit zu erkennen. Eine strenge sprachliche Empirie44 wurde zur Form seines Begehrens, die Wahrheit der Wirklichkeit zu erfassen, oder vielmehr die „göttliche Bewegung“. 41  Ebd.,

S. 187. S. 36. 43  Ebd., S. 32: „Aus der Analyse geht der Komplex Bewußtsein-WirklichkeitSprache hervor.“ 44  Betreffs der empirischen Ausrichtung von Voegelins politischer Wissenschaft ganz allgemein vgl. Barry Coopers Feststellung am Ende des Kapitels „Eric Voegelin, Empirical Political Scientist“, in seinem Buch „The Restoration of Political Science and the Crisis of Modernity“ (Toronto/New York: Edwin Mellen Press, 1989), S. 282: „Eine empirische politische Wissenschaft schließt die Analyse des Bewußtseins durch das Bewußtsein des Analytikers ein. Dieses Bewußtsein gehört jemandem und dieser Jemand ist in einer andauernden Anstrengung mit einem Offen-Sein zur Wirklichkeit hin und der reflektiven Überprüfung dieser Anstrengung befaßt. Man kann kaum an etwas mehr Empirisches denken.“ 42  CW 18,

Die Vorlesungen von Eric Voegelin an der Universität München im Sommersemster 1964 „Hitler und die Deutschen“ Zwei überragende Kritiken des Hitler’schen Totalitarismus teilten das gleiche, aber in der Koinzidenz nur scheinbar überraschende Schicksal. Sie blieben beide für lange Zeit unveröffentlicht, nachdem sie formuliert worden waren. Das waren Die Dritte Walpurgisnacht von Karl Kraus, und die Vorlesung Hitler und die Deutschen, die Eric Voegelin 1964 an der Universität München hielt. Das Werk von Karl Kraus, der 1936 starb, erschien erst 1952. Sein Autor hatte sich 1934 dazu entschieden, die von ihm schon korrigierten Druckfahnen nicht an den Verleger zurückzugeben. Der Band, zu dem der Rohtext der Vorlesung Voegelins (gest. 1985) zum ersten Mal und dann in englischer Übersetzung ausgearbeitet worden war, erschien mit einer ähn­ lichen Verspätung, nämlich im Jahr 1999.1 Die hier auf Deutsch wiedergegebene „Erinnerung“ wurde als Beitrag zur darauffolgenden französischen Ausgabe der Vorlesungen verfasst.2 Voegelin selbst hatte im August 1964 für die Veröffentlichung seiner Vorlesungen einen Vertrag mit dem Piper Verlag in München geschlossen. Doch dabei blieb es, kein Buch folgte dem Vertrag.3 Karl Kraus nahm in Wien mit seinen kultur- und gesellschaftskritischen Vorträgen und Schriften die Rolle eines öffentlichen Kritikers der aktuellen Verhältnisse ein. In ähnlicher Weise zielte Eric Voegelin mit seiner HitlerVorlesung auf eine unmittelbare Wirkung. In der Kleinen Aula der Universität, in welcher seine Vorlesung stattfand, hatte er vor sich das Publikum, das er erreichen wollte: uns, die Studenten, die gekommen waren, um seiner Vor­

Erstdruck auf Französisch in der französischen Ausgabe von Voegelins Vorlesungen: Hitler et les Allemands, übs. von Mira Köller und Dominique Séglard, Paris: Seuil, 2003, S. 13–16. Die deutsche, teilweise neu formulierte Fassung hier wurde vom Autor besorgt. 1  Eric Voegelin, Hitler and the Germans, transl., ed., and introduced by Detlev Clemens and Brendan Purcell, Columbia-London: University of Missouri Press, 1999 = The Collected Works of Eric Voegelin, Vol. 31. 2  Siehe oben, Fn. 1. 3  Erst 2006 erschien eine deutsche Ausgabe. Siehe: Eric Voegelin, Hitler und die Deutschen, Hg. Manfred Henningsen, München: Fink, 2006.

226

Die Vorlesungen von Eric Voegelin im Sommersemester 1964

lesung zu folgen, und dies mit einem immer größeren Interesse taten, sowie durch uns die junge Generation von Deutschen, die wir repräsentierten. „Sie wollen wissen: Warum?“ „Wie Hitlers Einwirkung auf die Deutschen möglich war?“ „Sie erhalten keine wirkliche Antwort auf Ihre Fragen? Im Deutschland von heute? Und aus welchen Gründen?“ „Was ist diese Komplizenschaft zwischen Hitler und den Deutschen, durch die sich erweist, was geschah? Und immer noch geschieht: diese skandalös spärliche Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit in Ihrem Deutschland heute? Denn es handelt sich gewiss um eine ebenso grauenhafte wie psychopathologische Komplizenschaft. Sie kann indes – und hören Sie mir jetzt gut zu, liebe Studenten – sehr wohl einer Analyse unterzogen werden, die sie erklärt. Diese wie eine Sprachlosigkeit daherkommende post-hitlersche Bestürzung, die man Ihnen anbietet, ist nicht alles. Beileibe nicht. Ich sage das Ihnen. Und ich werde es Ihnen zeigen.“ Er faszinierte uns. Er provozierte uns. Dieser bilderstürmerische Professor, der unsere Neugierde an sich zog, mit der Weise, wie er sich seinem Gegenstand annäherte. Das wirkte auf uns ebenso anregend wie irritierend. Was das Thema seiner Vorlesung anging, so war uns eine „Einführung in die Politischen Wissenschaften“ angekündigt worden. Zu unserer nicht geringen Überraschung begann er die Vorlesung indes damit, sich, wie er sagte, einer „weitgehend ungeklärten Präsenz der neuesten deutschen Geschichte im heutigen Deutschland“ zuzuwenden. Und was war das dann? Etwa wirklich Politische Wissenschaft? Oder schlicht Zeitgeschichte? Vielleicht Sozialpsychologie? Oder – welch verblüffendes Gefühl! – Theologie? Denn „Gott“ kam viel in den Ausführungen Voegelins vor. Seine Terminologie schien sowieso mehr in die Religionswissenschaften als in die Politischen Wissenschaften zu passen, aber auch der Literatur entlehnt zu sein! Um die Natur des Nationalsozialismus zu erklären, benützte Voegelin einen Katalog von Kriterien, den er nicht aus wissenschaftlichen Werken, sondern vielmehr aus Romanen, Dramen, und Gedichten gewann. „Sie wollen begreifen? Kein Problem. Man muss nur lesen können.“ So forderte er uns in der Aula der Münchner Universität heraus. Und zählte die literarischen Werke auf, die zu lesen er uns empfahl, und auf die er bei fast jeder seiner Vorlesungen zurückgriff: Die Dämonen und Die Merowinger oder Die totale Familie von Heimito von Doderer, Doktor Faustus von Thomas Mann, Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, Die Schlafwandler von Hermann Broch, die Heiligen Sonnette von John Donne, Gargantua und Pantagruel von François Rabelais, King Lear von William Shakespeare, Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch, Don Quijote von Miguel de Cervantes und, natürlich, Die Dritte Walpurgisnacht.



Die Vorlesungen von Eric Voegelin im Sommersemester 1964227

Eric Voegelin praktizierte mit uns eine erleuchtende Politische Wissenschaft, voll der Überraschungen und der mitreißenden Aufklärung. Hatte er so all unsere Aufmerksamkeit für sich gewonnen, erläuterte uns Voegelin auch, was er tat. Er machte uns mit seiner Methode vertraut, welche jenen unter uns, die sich auch für die Geschichtswissenschaften eingeschrieben hatten, eher wieder als eine ungewöhnliche erschien. An das Thema „Hitler und die Deutschen“ könne man nur herangehen, so sagte er, wenn man sich zuerst um die sprachlichen Mittel dafür gekümmert habe. Ein eigenes Instrumentarium von Begriffen sei für den Zugang zu ihm nötig. Der kritischen Befassung mit dem Thema „Hitler und die Deutschen“ müsse das Fassen einer kritischen Sprache dafür vorausgehen. Eine solche Sprache – und also das mit ihr dann gegebene Instrumentarium kritischer Begriffe – kannten wir indes nicht. Voegelin entwarf sie in seiner Vorlesung systematisch und zeigte auf, was sie der theoretischen Analyse an Mitteln bot: Ironie, Satire, Polemik, Termini philosophischer Prägnanz. Das war für uns das linguistische Exerzitium eines Wachwerdens, einer Erhellung. Es hatte die Wirkung einer politisch-ethischen Impfung. Der Tod war die primäre und finale Realität des Nationalsozialismus. Karl Kraus hatte dies schon im Frühjahr 1933 festgestellt. Und er hielt diesem Tod das Leben der wachen, und kritischen, und damit immunisierenden ­Intelligenz entgegen. Als er Die Dritte Walpurgisnacht niederschrieb und mit dieser Schrift die paralysierende Erfahrung „Hitler“ parierte. Ihr erster Satz: „Mir fällt zu Hitler nichts ein“ blieb nicht der einzige. „Hitler“ entzog sich nicht begreifender Sprache. Sie war machtvoll genug, schon vor dem Morden den mörderischen Charakter des Nationalsozialismus zu erkennen. Karl Kraus führte es mit einer einfachen Analyse der Nazi-Sprache vor. Eric Voegelin nahm 1964 diese kathartische Methode wieder auf. Er verband die Klarsicht von Karl Kraus mit der Weisheit von Sokrates. Man kann es erlernen, ein gerechter Mensch zu sein. Jede und jeder ist zur „Tugend“ fähig. Aber genau hier versagten Hitler’s Deutsche. Sie unternahmen nichts dagegen, so stellte Voegelin heraus, dass die irrende Ignoranz von Blöden, eine große Dummheit die Macht über ihre Existenz gewann. Eine solche Existenzform ist einem nicht vorgegeben. Man übernimmt sie, richtet sich in ihr ein. Auf der einen Seite legte uns Voegelin eine erschreckende Kritik vor. Streng genommen entschuldigte die Deutschen nichts dafür, dass sie sich Hitler unterwarfen. Auf der anderen Seite wirkte Voegelins Kritik wie eine Ablösung. Niemand, so verstanden wir, ist zu diesen Verfehlungen verdammt, die Hitler zu seiner Herrschaft verhalfen. Im Gegenteil, man kann es erlernen, das Rechte zu tun. Bei der Diskussion im Anschluss an eine der Vorlesungsstunden zweifelte ein Student daran. Er meinte die Deutschen entschuldigen zu müssen, die eben von Hitler „verführt“ worden seien. Das war ein Einwurf, wie ihn Voegelin offenbar liebte. Er gab ihm die Gelegenheit zu

228

Die Vorlesungen von Eric Voegelin im Sommersemester 1964

einer jener erinnerungswürdigen Sentenzen, mit denen er, halb ermahnend, halb ironisch, seine Rede über „Hitler und die Deutschen“ unterstrich: „Zu den Menschenrechten, verehrter Herr, zählt nicht das Recht, blöd zu sein. Sie haben keineswegs das Recht zu einer Existenz als Dummkopf.“ Man kann es sich vorstellen. Voegelins Vorlesungen waren weit mehr als was man gewöhnlich „Vorlesung“ nannte. Sie waren Ereignisse. Seine Zuhörer begriffen recht schnell, und mit immer mehr Spannung, dass ihnen neue intellektuelle Überraschungen geboten würden, wenn Voegelin dienstags um 10 Uhr 15 wieder in der Kleinen Aula ans Pult ging. So als wäre man auf einer Abenteuerreise, konnte man sich fragen: Womit wird uns Voegelin heute verblüffen? Wird er wieder vergnüglich ein Klischee aufspießen? Wer wird dieses Mal das Opfer seiner beißenden Ironie? Auf welche neueren Lesefrüchte, aus Zeitungen, Dokumentationen, Studien wird er zurückgreifen und sie in seine Analyse einarbeiten, wie zum Beispiel jenen Leserbrief aus der Süddeutschen Zeitung, geschrieben von einem Münchner in der Butter­ melcherstrasse, der für eine bestimmte Geisteshaltung so dekuvrierend war, dass Voegelin das, was sich da offenbarte, gleich das „Buttermelchersyndrom“ nannte? Voegelins dramatischer Auftritt sagte uns zu, wie das handwerkliche Verfahren, mit dem er seine Vorlesung Woche für Woche entstehen ließ und entwickelte. Denn es schloss uns ein. Voegelin reagierte in jeder Vorlesung auf unsere Reaktionen bei der vorangegangenen, auf die Einwände, die Nachfragen, die wir vorgebracht hatten. Und wir konnten – wie aufregend – mitwirken. Das Thema der Vorlesung hielt uns auch außerhalb der Kleinen Aula gefangen, war nicht aus unserem Kopf gewichen, wenn wir dies und jenes lasen, eine Zeitung, eine Zeitschrift, ein Buch. Wir gingen an unsere Lektüre heran, wie wenn wir uns auf einer Jagd befänden. Nahm doch Voegelin bereitwillig und gerne jeden Hinweis auf einen sein Vorlesungs­ material vielleicht anreichernden Fund auf. Wie faszinierend war es dann, wenn wir uns mit unserem Part hier und da in der Vorlesung wiederfanden. Sie war wahrlich außergewöhnlich, diese Vorlesung, und wurde unter denen, die ihr gefolgt waren, bald legendär. Sicher, die aufrüttelnde und aufklärerische, deutende und demonstrierende Stimme war die Stimme Eric Voegelins. Sein Auftritt war unerbittlich kritisch, polemisch, satirisch. Doch aus diesem sprach die Leidenschaft eines Erziehers. Wir sahen es. Voegelin wollte uns das Land der Vernunft zeigen. Dieses lichte Land, wo die Menschen ihre Wahl kennen und sie treffen: statt der tyrannischen Blindheit der Unwissenden das Rechte in ihrer Seele und mit dieser das Rechte in ihrer Gesellschaft. Es gab für uns keinen Zweifel. Indem er von dem Menschen redete, der sich „jeden Tag dem Urteil Gottes stellen konnte“, redete Eric Voegelin von uns.

IV. Atlantische Brückenschläge

Die Atlantische Zivilisation Über die Entstehung der einen Welt des Westens Es gibt so viele Arten von Sprache in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. Wenn ich nun Sprache nicht aus ihr her kenne, werde ich für den ein Barbar sein, zu dem ich spreche, und der, der zu mir spricht, wird für mich ein Barbar sein. 1 Kor. 14, 10–11

I. Zwei Welten, eine Zivilisation Europa ist nicht ohne Amerika und Amerika ist nicht ohne Europa zu denken. Das Verhältnis zwischen den beiden ist ein archetypisches; es bildet ein Beispiel jener binären Strukturen in unserem Weltverstehen, die uns in anderen Beispielen gewiß gegenwärtig sind. Es gibt den Menschen und doch gibt es ihn nur in der Zweiheit von Mann und Frau. Sinnliche Wahrnehmungen erschließen die Welt und doch erschließen sie diese nur in Kontrasten wie in dem von Licht und Dunkel oder in dem von Lust und Schmerz. Sätze teilen etwas mit und doch tragen sie Aussagen nur in der alternativen Behauptung des einen oder des anderen. Nichts definiert die Unendlichkeit des physikalischen Raums und doch ist er Raum nur in der Erfahrung solch gegensätz­ licher Verweise wie ‚Ruhe‘ gegenüber ‚Bewegung‘, ‚oben‘ gegenüber ‚unten‘ oder ‚Osten‘ gegenüber ‚Westen‘. Es ist kein Zufall, daß Amerika erst in seiner europäischen Dimension wirklich Amerika ist, und ebensowenig Zufall ist es, daß Europa erst in seiner amerikanischen Dimension wirklich Europa ist. Europa kannte Amerika, bevor es Amerika entdeckt hatte. Und Amerika spricht zu Europa, selbst wenn es sich von Europa scheinbar abwendet. Um diese Beziehung zu bezeichnen, dafür eigneten sich verschiedene Begriffe. Ich habe schon von einer binären Struktur, von einem archetypischen Verhältnis gesprochen, man könnte auch sagen, es handle sich um einen Dualismus, um eine Identität in der Differenz oder, metaphorisch, um Schwestern, die sich ebenso ähneln, wie sie voneinander verschieden sind. Wichtiger als Begriffe freilich ist die Meinen ältesten amerikanischen Freunden gewidmet, Jim † und Anne-Marie Rhodes. Erstdruck in: P. Haungs (Hrsg.): Europäisierung Europas? Baden-Baden 1989, S. 41–54.

232

Die Atlantische Zivilisation

Einsicht, daß uns hier eines jener Muster in unserem Weltverstehen vorliegt, über die wir in unserem Erkennen der Welt nicht frei verfügen können: sie sind die Muster der Welt, so wie wir diese erkennen. Amerika wurde als zivilisatorische Unternehmung in einem mimetischen Kontrast zu Europa ­ konstruiert. In der amerikanischen Welt sollte etwas vollendet werden, was in der europäischen Welt nicht vollendet worden war und, aus amerikanischer Sicht, auch nicht zu vollenden sein würde: die wahrhaft menschliche Zivilisation. Im Bewußtsein der Menschen kann es offenbar keine Zivilisation geben, wenn es nicht gleichzeitig auch Barbaren gibt. Bevor Amerika es ihm nachmachte, hat sich Europa als Zivilisation in einer binären Weltinterpretation definiert. Hören wir Herodot zu, wie er seine Zivilisationsgeschichte eröffnet: „Herodot aus Halikarnaß veröffentlicht hiermit seine Forschung, auf daß die menschlichen Werke bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit geraten, und damit große und wunderbare Taten der Griechen und der Barbaren nicht ohne Gedenken bleiben.“1 Die Welt des Herodot ist zweigeteilt; von der Welt der Perser (der Barbaren) grenzt er die Welt der Hellenen, von den Reichen des Ostens die Zivilisation des Westens ab; und er benennt die beiden Teile der Welt mit Namen. Drüben im Osten, wo die Perser sind, liege Asien; hier aber, im Westen, im Lande der Griechen, da liege Europa.2 Die Zivilisationsgeschichte, die uns Herodot hinterlassen hat, berichtet von einer Auseinandersetzung, in der eine Welt gegenüber einer anderen ihrer selbst gewiß wird: Europa erfährt sich in der Polarität zu Asien. Griechen wie Römer verharrten bei der Vorstellung von einer Ost-WestSpannung, bei einem gegensätzlich konstruierten Verständnis menschlicher Zivilisation, obwohl sich zugleich die geographische Lehre durchsetzte, wonach die Erdfläche dreigeteilt sei, nämlich in Europa und Asien, und in Libyen (d. h. Afrika).3 Die mentale Struktur – hier die eine Welt und dort ihr Gegensatz – blieb mächtiger als bloße Erdkunde. Diese empirische Beobachtung zur Eigenheit des menschlichen Bewußtseins gegenüber der Empirie werden wir des weiteren noch einige Male machen können. Hellas bewahrte sich als Hellas im Kontrast zu der nicht-hellenischen, nicht-europäischen, ‚barbarischen‘ Welt, im Widerstand gegen den Despotismus östlicher Herrscher, in der Verachtung für den Prunk und Pomp der Perser, in der Ablehnung des ‚asiatischen‘ Stils: überbordend, machtheischend, hochgeschraubt – ungriechisch. Und Rom erhielt sich als Rom so lange, wie es den Konflikt Historien, Gr.-dt., hrsg. J. Feix, München 1963, S. 6–7. S. 8–9. 3  Vgl. Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, hrsg. G. Wissowa, 11. Halbband, Stuttgart 1907, Nachdruck Stuttgart 1958, Artikel „Europe“, Spalten 1287–1309. 1  Herodot, 2  Ebd.,



Die Atlantische Zivilisation233

zwischen Imperium und Oikumene, zwischen seinem Anspruch auf Beherrschung der ganzen Welt und der begrenzten Herrschaft dieses Anspruch in der Welt aushielt.4 Cato forderte zwar immerfort die Zerstörung Karthagos, aber er erklärte auch, daß Rom Karthagos bedürfte, um in diesem den gemäßen Gegenpart zu haben, dem gegenüber Rom sich als Rom beweise.5 Hannibals Elefanten fügten sich ausgezeichnet in das römische Weltbild ein, sie bestätigten die Furcht der Zivilisierten vor dem Fremdartigen alles Anderen. Von der Furcht, ihre Zivilisation werde in der Begegnung mit einer anderen Welt nicht bestehen können, wurde auch die Welt der Christenheit erfaßt, als im 8. Jahrhundert n. Chr. wieder Ost gegen West, Asien gegen Europa stand. Aus dem Osten waren die Araber bis tief in den Westen hinein vorgedrungen; aus Syrien bis vor die Tore Konstantinopels; aus Nordafrika über die Eroberung Spaniens bis in das südliche Frankreich. An die kriegerische Weise der Weltenpolarisierung muß kaum erinnert werden. 732 stellte Karl Martell zwischen Tours und Poitiers den Statthalter des Kalifen, Abd arRahman, und besiegte ihn. Die sprachliche Weise der Weltenpolarisierung muß hingegen erst vorgestellt werden, wiewohl sich durch sie, wie nur durch wenige andere sprachliche Daten, die historische Identität des europäischen Bewußtseins begrifflich fassen läßt. Denn in einer zeitgenössischen Schilderung der Schlacht wurde für diejenigen, die sich der Araber erwehrt hatten, ein Name eingeführt, den die römisch-germanisch-gallischen Krieger Karl Martells bis dahin nicht gehabt hatten. Isidor Pacensis, ihr Chronist, nannte sie Europenses – die Europäer. Im Weltenkonflikt um die Form menschlicher Zivilisation waren für ihn alle Unterschiede eingeschmolzen bis auf zwei: gegenüber der Welt aus dem Osten, der Welt der Araber, aktualisierte sich die Welt des Westens, die Welt der Europäer.6

4  Vgl. E. Voegelin, World-Empire and the Unity of Mankind, in: International Affairs, Bd. 38, Nr. 2, April 1962, S. 170–188; ders,. Order and History, Bd. IV, The Ecumenic Age, Baton Rouge 1974, S. 117 ff., 207 ff.; A. Toynbee, A Study of History, London 1972, S. 250, 266 ff., 316, 510 ff., 531 ff. 5  Cato, De Bello Carthaginiensi, in: H. Malcovati (Hrsg.), Oratorum Romanorum Fragmenta, Turin 19301, 19552, L. 195; Cato, Origines (Fragmente), IV, 7. Vgl. auch Sallust, Historienfragmente, X. 6  Isidor Pacensis Chronicon, Patrologiae Latinae Cursus Completus (P. L.), hrsg. J.-P. Migne, Bd. XCVI, Paris 1862, Spalte 1271: „Statim nocte praelium dirimente, despicabiliter gladios elevant, atque in alio die videntes castra Arabum innumerabilia ad pugnam ses reservant, et exsurgentes de vagina sua diluculo prospiciunt Europen­ ses (meine Hervorhebung, T. S.) Arabum tentoria ordinata, et tabernacula ubi fuerant castra locata, nescientes cuncta esse pervacua, solliciti neper et putantes ab intimo esse Saracenorum phalanges ad praelium praeparatas, mittentes exploratorum officia, cuncta repererunt Ismaeliterum agmina effugata, omnesque tacite pernoctando cuneos diffugisse repatriando.“

234

Die Atlantische Zivilisation

II. Zwei Zivilisationen, eine Welt Europa fuhr fort, sich selbst in einer Polarität zu Asien, kontrastiv zu allem ‚Asiatischen‘ zu erfahren.7 Es erhob sich auch zu dem Selbstgefühl, in dem es ihm vorkam, daß es doch einzigartig sei als Zivilisation, gerade im Vergleich mit anderen Kulturen, Kontinenten und Zivilisationen.8 Und es erfand Amerika. Es erfand Amerika, je mehr es von ihm wußte. Die amerikanische Fabel, von Europa für sich erzählt, absorbierte die amerikanische Empirie, nicht viel anders als noch heute, wenn es da zum Beispiel darum geht, amerikanische Politik (d. h. hier: Politik in den Vereinigten Staaten) in ihren eigenen Kategorien zu begreifen und nicht in denen europäischer Politik.9 Das Erfin7  Vgl. F. G. Hahn, zur Geschichte der Grenze zwischen Europa und Asien, in: Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Leipzig, 1881, S. 83–104; C. Kohler, Un sermon commémoratif de la prise de Jérusalem par les croisés, attribué à Foucher de Chartres, in: Revue de l’Orient Latin, Bd. VIII, 1900–01, S. 162; W. Fritzemeyer, Christenheit und Europa, München 1931, S. 18–29; E. von Rotterdam, Brief an Hans Rinck, 17. März 1530, in: Opus Epistolarum des. Erasmi Roterodami, recto P. S. Allen, Bd. VIII, Oxford 1934, S. 382–385; G. Atkinson, Nouveaux horizons de la Renaissance Française, Paris 1935, S. 234, 307; F. Le Van Baumer, England, the Turks and the common corps of Christendom, in: American Historical Review, Bd. I, 1944–45, S. 26–48; A. Saitta, Dalla Res Publica Christiana agli Stati Uniti di Europa, Rom 1948, S. 53–54, 59, 72, 101; F. Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 1949, S. 146–47; H. Gollwitzer, Zur Wortgeschichte und Sinndeutung von Europa, in: Saeculum, Bd. II, 1951, S. 161–71; A. Pic­ colomini, Germania, hrsg. A. Schmidt, Köln 1962, S. 20–21, 66–69, 96–99. – Die Polarität bleibt aktuell. Vgl. z. B. G. Konrad, Der verbale Kontinent, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 151, 2. Juli 1988: „In Budapest zu leben heißt für mich, daß ich mich mit dem einen Kopf dem Osten und mit dem anderen dem Westen verschrieben habe. Wir leben hier an der Westflanke des Ostens, an der Bruchlinie zweier Zivilisationen … Europa existiert dadurch, daß sich die Europäer dessen bewußt sind, daß sie sich nicht mehr nur der engeren Grenzen ihrer eigenen Patria bewußt sind. Ihr Blick richtet sich auf Europa als Ganzes, insbesondere dann, wenn sie sich außerhalb Europas aufhalten.“ 8  Vgl. hierzu und zum folgenden: A. L. Pinelo, El Paraíso en el Nuevo Mundo, Lima 1943; E. O’Gorman, La idea del Descubrimiento de América. Historia de esa Interpretación y Critica de sus Fundamentos, Mexico 1951; A. Gerbi, Presencia de América en el Pensamiento Europeo, Bogotá 1952; L. Zea, América en la Historia, Mexico 1957; B. Penrose, Travel and Discovery in the Renaissance, 1420–1620, Cambridge, Mass. 1960; J. H. Parry, The Age of Reconnaissance, London 1963; H. Baudet, Paradise on Earth, New Haven 1965; R. Ruland, America in Modern European Literature. From Image to Metaphor, New York 1976; G. Arciniegas, America in Europe. A History of the New World in Reserve, New York 1986. 9  Wenn ein amerikanischer Politiker – zuletzt machtvoller Speaker des Repräsentantenhauses – am Ende seiner Karriere resümiert: ‚All Politics is local‘, wer versteht das dann in Europa? Vgl. Th. ‚Tip‘ O’Neill, Man of the House, New York 1987, Kap. 1.



Die Atlantische Zivilisation235

den hatte seinen Grund. Christlicher Weltgeographie und christlicher Heilslehre zufolge konnte Amerika eigentlich nicht existieren. Eine andere Sphäre der Erde – außerhalb des bekannten Kontrasts, ‚östliche Barbaren dort, westliche Zivilisation hier‘ – und in dieser Sphäre eine andere Zivilisation und beide dem Gesichtskreis der christlichen Welt völlig entzogen – dies konnte nicht sein. Gott hätte von ihnen gesprochen, wenn es sie gab. Kolumbus überdeckte seine Beobachtungen mit biblischen Bildern, wie er bei seiner dritten Reise das Ausmaß des Landes zu ahnen begann, auf das er gestoßen war. Vom Garten Eden sprach er, oder von einem großen Wasserbecken, das gespeist sei von einer Quelle im irdischen Paradies.10 In eine andere Zivilisation eingedrungen zu sein, die nicht von seiner Welt war, dies kam dem Europäer nicht in den Sinn. Es gab auch Europäer, die gründlicher über das reflektierten, womit Eu­ ropa in Berührung gekommen war, und sich nicht bloß einließen auf die Erfindung eines Amerikas der europäischen Imagination. Amerigo Vespucci natürlich, wie sein Brief Die Neue Welt (Mundus Novus) aus dem Jahre 1503 bezeugt; oder Lopez de Gómara, der 1552 in der Widmung, mit der er Karl V. seine Historia General de las Indias übereignete, schrieb: „Das bedeutsamste Ereignis seit der Erschaffung der Welt (abgesehen von der Menschwerdung und dem Tod von Ihm, der sie schuf), ist die Entdeckung Amerikas.“11 Das ‚bedeutsamste Ereignis seit der Erschaffung der Welt‘ – diese Datierung bezog sich natürlich auf den biblischen Schöpfungsbericht, nicht etwa auf die Kosmologie der Mayas; aber die Mayas hätten auch schon gewußt, daß es sie gab, und alleine die notwendigen Erklärungen dafür anbieten können. Wo Europa sein Amerika fand, da war es schon – sein Amerika. Die Europäer hätten Amerika auch wirklich entdecken, es aus sich heraus erfahren können. Aber zu dieser Erfahrung wäre mehr vonnöten gewesen als die Sensibilität eines Lopez de Gómara. Wem ist es möglich, eine Welt zu sehen, die nicht die Welt ist, die er kennt? Europa kannte seine Welt und keine andere. Und den intellektuellen Sprung über den okeanos, den hat es damals 10  Vgl. Ch. Kolumbus, 3. Reise (1498–1500), Oeuvres de Christophe Colombe, hrsg. A. Cioranescu, Paris 1961, S. 233–235. Vgl. ferner: Pierre Martyr Anghiera (Pietro Martire d’Anghiera), De orbe novo (1530), dt. Ausgabe: Peter Martyr von Anghiera, Acht Dekaden über die Neue Welt, übers. u. hrsg. H. Klingelhöfer, 2 Bde., Darmstadt 1972–1973, II, 9; L. Olschki, What Columbus Saw on Landing in the West Indiens, in: Proceedings of the American Philosophical Society, Bd. 84, 1941, S. 633– 59. 11  F. Lopez de Gómara, Primera y Segunda Parte de la Historia General de las Indias, Madrid 1852, S. 156 (= Biblioteca de Autores Españoles, Bd. 22): „La mayor cosa después de la creacion del mundo, sacandol a encarnacion y muerte del que lo crió, es el descubrimiento de Indias; …“.

236

Die Atlantische Zivilisation

nicht geschafft. Amerika blieb im Bannkreis der europäischen Imagination: an Europa gebildet, nach Europa geformt, in Europa gedeutet zu werden. Aus einer Entdeckung, die keine war, folgte das eine: die Entstehung der Amerika und Europa gemeinsamen westlichen Zivilisation. Und es folgte das andere: die Vernichtung der Zivilisation im Alten Amerika. Das Ziel, Amerika nach Europa zu bilden, wurde zu der Zeit in Europa ganz deutlich formuliert. Kolumbus sei zu seiner zweiten Reise aufgebrochen, „um die Welt zu einen und diese fremden Länder in die Form unserer Welt zu bringen“, so erklärte 1528 der spanische Humanist Hernán Pérez de Oliva in seiner Historia de la Invención de las Yndias.12 Und Garcilaso de la Vega, el Inca, spanischer Geschichtsschreiber amerikanischer Herkunft, schrieb wenige Jahrzehnte später: „Es gibt nur eine Welt, und wenn wir von der Alten Welt und der Neuen sprechen, so geschieht das deshalb, weil die letztere von uns vor kurzem entdeckt wurde und nicht etwa deshalb, weil wir meinten, es gebe zwei Welten.“13 Nein, für das Verständnis alles Amerikanischen sollte es nur die Formen der europäischen Erfahrung geben. Was bei der Eroberung von Mexiko geschah, dies beschrieb denn ein literarisch vorgebildeter Zeuge so, als wär’s ihm ergangen wie in einer Ritterromanze: nur chevalereske Kämpfe, kein Morden, Wüten, Völkerschlachten.14 Und wenn einem Buchdrucker die Illustrationen für ein Buch über ein altamerikanisches Volk in Brasilien fehlten, dann griff er zu denen, die er zur Hand hatte: zu Bildern, die das Leben der Türken darstellten.15 Dem weltenfüllenden Blick des Europäers war alles andere offenbar gleich exotisch, die amerikanische Peripherie sah nicht viel anders aus als die asiatische. Auch wenn sie die Form des Vergleichs benützten, um die Existenz anderer Zivilisationen in die Wahrnehmung Europas einzuordnen, konnten sich europäische Autoren nicht von ihrer europäischen Erfahrung lösen. Im Gegenteil, sie kamen zu dem Schluß, daß der europäischen Erfahrung nichts fehle. Europa sufficientissima sibi (est), Europa ist sich seiner selbst genug, so las es sich 1544 in der Cosmographia Universalis von Sebastian Münster.16 de Oliva, Historia de la Invencíon de las Yndias, Bogotá 1965, S. 53–4. de la Vega, Los Comentarios reales de los Incas (1609), hrsg. H. H. Urteaga, 6 Bde., Lima 1918, I, 1 (= Colección de historiadores clásicos del Perú). 14  B. Diáz del Castillo, Historia Verdadera de la conquista de la Nueva España (1575), hrsg. C. Sáenz de Santa María, Barcelona 1975, 1, XXXIII; 2, XCIV, CXXVI, CLIII. – Vgl. auch L. Olschki, Storia Letteraria delle Scoperte Geografiche, Florenz 1937. 15  Vgl. E. Larsen, Frans Post, Interprète du Brésil, Amsterdam 1962. 16  S. Münster, Cosmographia Universalis (1544), I, 2, 2. 12  H. Pérez 13  G.



Die Atlantische Zivilisation237

Entsinnen wir uns noch etwas der Signatur der Zeit und versetzen uns ins Europa des 16. Jahrhunderts, in sein Selbstgefühl, aus zwei ganz mächtigen Quellen gespeist. Da lockte Amerika, zukünftiges Europa, von Europa geschaffen, als Bild seiner selbst. Und da lud die Natur, die physische Welt, zu ihrer Unterwerfung ein, entmachtet vom Fortschritt Europas in der Meisterung naturbeherrschenden Könnens. Bislang war doch gedacht worden, daß die Grenzen der Welt und die Grenzen menschlicher Macht im wesentlichen fest seien. Jetzt aber schien die Welt in Bewegung zu sein und jenes wahrhaft weltenrevolutionäre Projekt begonnen zu haben, aus dem den Menschen die Möglichkeit erwuchs, die Grenzen der Welt und ihrer Macht nicht nur zu verschieben und auszudehnen, sondern immer weiter zu verschieben und mehr und noch mehr auszudehnen, immer so weit, wie die Kraft der Zivilisation reichte, die sie verschob. Europa im 16. Jahrhundert begriff, daß es diese Zivilisation sei.17 Die zivilisatorische Verheißung, dem Menschen sei alles erreichbar, wenn er nur weit genug vorstieße, diese Verheißung gewann, wie jedermann weiß, ihre besondere amerikanische Gestalt in den Vereinigten Staaten. Aber sie hatte natürlich zuvor ihre Gestalt durch Europa erhalten, durch das Europa im Zugriff auf die Welt, durch das Europa in der Projektion seiner Zivilisation dorthin, wo die Verheißung in besonderem Maße wahrscheinlich war – Amerika. Der Aufbruch Europas in die Moderne fand in Amerika sein Ziel. Ein spanischer Hauptmann, Bernardo de Vargas Machuca, fing diese Konfiguration der beiden Sphären der neu entstehenden, einen Welt in seiner Selbstdarstellung ein. Er veröffentlichte 1599 in Madrid ein Buch, in dem er seinen Kriegsdienst im spanischen Amerika wie auch dieses selbst beschrieb. Das Eingangsbild des Buches zeigt ihn selbst, in der einen Hand sein Schwert, in der anderen zwei Kompaßgeräte über einer Erdkugel haltend. Darunter steht: A la espada y el compás Más y más y más y más. Mit dem Schwert und dem Kompaßgerät Mehr und mehr und mehr und mehr.18

17  Vgl. T. Schabert, Gewalt und Humanität. Über philosophische und politische Manifestationen von Modernität, Freiburg-München 1978, S. 120 ff., 193 ff.; ders., Modernity and History, in: Diogenes, Nr. 123, Fall 1983, S. 110–124 (nachgedruckt in: A. Moulakis (Hrsg.), The Promise of History. Essays in Political Philosophy, Berlin 1985, S. 22–32). 18  B. de Vargas Machuca, Milicia y Descripción de las Indias, Madrid 1599, Titelbild.

238

Die Atlantische Zivilisation

III. Eine Welt, eine Zivilisation Keine Welt ist ohne Gegenwelt, auch wenn es scheinbar nur darum geht, Gleiches in Gleichem wahrzunehmen. Die Erscheinung Europas im euro­ päischen Amerika – im europäischen Südamerika vor allem – wirkte auf Europa selbst zurück. Es entdeckte wieder einen Kontrast. Es genoß seinen amerikanischen Machtrausch; und je weniger es diesem widerstand und Altamerika zerstörte, desto mehr wurde Europa des irdischen Paradieses gewahr, das sich ihm in Amerika dargeboten hatte. In seiner Selbstkritik an dem, was es in Amerika tat, kehrte sich für Europa das Verhältnis in der Einschätzung der beiden Weltsphären um. Die eigene Weltsphäre, so augenscheinlich ‚zivilisiert‘ sie war, wurde nun für korrupt gehalten, als barbarisch angesehen. Mit der westlichen Weltsphäre aber, mit Amerika, wurde das Bild von dem ‚Goldenen Zeitalter‘ der Menschheit verknüpft. Dort, so hatte zum Beispiel Pietro Martire d’Anghiera in seiner 1530 erschienenen Schrift De orbo novo berichtet, dort sei noch der Zustand einer ursprünglichen Vollkommenheit der Menschen zu finden, jener Zustand also, von dem Europa zwar nicht durch eigene Anschauung, sehr wohl aber durch seine Mythen und durch die biblischen Erzählungen schon immer gewußt hatte.19 Jetzt kam zum Wissen die Anschauung hinzu, das verloren geglaubte Paradies in Amerika wiedergefunden zu haben. Natürlich bildete sich in der europäischen Imagination auch jetzt ein von ihr erfundenes Amerika, nicht aber das wirkliche Amerika ab. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – hat sich der Kontrast, nach dem Amerika (d. h. die Vereinigten Staaten) immer das exemplum optimum sein soll, das Europa nicht ist, tief in das Bewußtsein der Europäer und in das der Amerikaner (d. h. der Amerikaner der Vereinigten Staaten) eingeschnitten. Ohne diesen Kontrast wüßten die Europäer auch heute nicht, an wem sie sich messen müßten, und die Amerikaner wüßten nicht, gegenüber wem sie sich messen müßten. Vierhundert Jahre lang hat sich Europa durch seine Dichter, Philosophen, politischen Denker darauf ausgerichtet, in Amerika zu suchen, was im Westen nur zu finden sei: der Erde einziges Paradies, ‚Earth’s only Paradise‘ in den Worten Michael Draytons, englischer Dichter in der Sehnsucht nach Virginia.20 Und fast ebenso lang hat sich Amerika in seiner Selbstauslegung darin bestimmt, in der Gemeinsamkeit mit Europa zu finden, was im Kontrast zu Europa zu suchen sei: ‚our uniqueness‘, jene EinzigartigMartyr von Anghiera, Acht Dekaden über die Neue Welt, op. cit., VIII, 2–3. Drayton, „To the Virginian Voyage“ in: R. C. Bald (Hrsg.), SeventeenthCentury English Poetry, New York 1959, S. 48. – Die Stelle lautet auszugsweise: „VIRGINIA,/Earth’s only Paradise./Where Nature has in store/Fowle, Venison, and Fish,/And the fruitfull ’st Soyle,/Without your Toyle,/Three Harvests more,/All greater then your Wish. …“. 19  P.

20  M.



Die Atlantische Zivilisation239

keit Amerikas, die, wie Daniel Boorstin, einer ihrer Interpreten, sagt, nur in Bezug auf Europa zu beschreiben sei.21 Natürlich ist Amerika einzigartig. Es ist einzigartig als Produkt der europäischen Imagination. Das ‚Paradies‘, der ‚Erde einziges Paradies‘ wurde gegründet: in den nordamerikanischen Kolonien, in dem politischen Raum der Vereinigten Staaten, – die ich im folgenden gleichbedeutend mit dem Wort ‚Amerika‘ meine, – in all den ‚utopischen‘ (und zumeist bald wieder zerfallenden) communities, zu denen sich Amerikaner (oder andere, die dafür nach Amerika gekommen sind) immer wieder zusammenschließen, nach wie vor, in der immer gleichen Gewißheit, in Amerika den argen Gesetzen dieser Welt zu entkommen. Über das Sendungsbewußtsein Amerikas ist viel geschrieben worden; das wäre nicht unbedingt nötig gewesen. Amerika ist die Sendung.22 Und es ist etwas anderes. Alles politische Denken weitet sich an dem Punkt, da es wirklich politisch wird, zu der Vision einer Gesellschaft aus, in der Menschen wahrhaft Menschen sein können. Die Vision existiert in tausendfachen Varianten; die Gesellschaft aber, der sie gilt, kann es nur einmal geben: diese eine, den Menschen als Menschen gemäße Gesellschaft. Dazu braucht es, zusätzlich zur Vision, auch sehr viel politische, politisch-institutionelle Pragmatik. Man muß sich darauf verstehen können, die Möglichkeit der Menschen, auch Menschen zu sein, ihre Freiheit also, in Institutionen der Freiheit so auszutarieren, daß es trotz der Institutionen auch bei der Freiheit der Menschen bleibt. Die Gründungsväter der amerikanischen Republik haben diese Pragmatik des Politischen nicht nur angemessen durchdacht, sie haben sie auch schöpferisch ins Werk gesetzt. Das andere – und ich würde sagen: wichtigere –, was Amerika auch ist, ist dies: Demonstration der Freiheit.23 An der Erfahrung der Demonstration haben aber beide, Amerika und Eu­ ropa, von Anfang an teilgenommen; aus ihr erwuchs die europäisch-amerikanische ‚Wertegemeinschaft‘, und in ihr begründet sie sich auch weiterhin. Sie vereint Amerika und Europa zu der einen, gemeinsamen Welt, in der beide, einmal aufeinander bezogen, einmal voneinander distanziert, jener Kultur der Freiheit verpflichtet sind, die zwischen ihnen im 18. Jahrhundert entstand: die atlantische Zivilisation. 21  D. Boorstin, America and the Image of Europe. Reflections on American Thought, New York 1960, S. 12. 22  Vgl. K. D. Bracher, Providentia Americana: Ursprünge des Demokratischen Sendungsbewußtseins in Amerika, in: Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag, Hrsg. A. Dempf, H. Arendt, F. EngelJanosi, München 1962, S. 27–48. 23  Vgl. T. Schabert, Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin/New York 1989.

240

Die Atlantische Zivilisation

Schon die eine große Frage des 18. Jahrhunderts haben sich Europa und Amerika gemeinsam gestellt: Wie kann die politische Macht, durch die allein es eine menschliche Gesellschaft gibt, so gestaltet werden, daß es die Macht der Freiheit ist? Darüber wurde nicht nur in Paris und London, sondern ebenfalls in Boston und Philadelphia nachgedacht, mit einer gelehrten Kenntnis und mit einer denkerischen Konsequenz, die auf beiden Seiten der Frage gleichermaßen angemessen waren. Zur Geographie der Aufklärung gehört das Café Procope in Paris – dort sahen sich die Autoren der Freiheit in Frankreich, wie Buffon, Raynal, Voltaire, Diderot, D’Alembert, der Abbé Mably. Zur Geographie der Aufklärung gehört auch die Green Dragon Tavern in Boston – wo sich ab 1760 die ‚sons of liberty‘ trafen, zum Aufstand der Freiheit in Amerika: John Hancock, reichster Mann in Neu-England, Samuel Adams, genialer Stratege revolutionärer Politik, John Adams, sein Neffe, der später zweiter Präsident der Vereinigten Staaten werden wird, James Otis, Rhetor der Rebellen, der eine Rede zur Anmahnung amerikanischer Rechte halten wird, mit der, wie John Adams bemerkte, das ‚Kind der Unabhängigkeit geboren wurde‘, Paul Revere, der Kurier seiner Freunde, Sendbote der Freiheit, zwei Ärzte und aufklärerische Rebellen, Dr. Benjamin Church und Dr. Joseph Warren. Die große Frage des 18. Jahrhunderts wurde international diskutiert, die Aufklärung reiste, wie wir wissen, und wir denken dabei vornehmlich an Rousseau, zu Besuch bei David Hume, an Voltaire in der Tafelrunde Friedrichs II., an Diderot, eingeladen von Katharina II. nach St. Petersburg. Doch wir sollten dann auch an Thomas Jefferson denken, auf seiner grand tour durch Europa, voller Neugier, aber auch voller Selbstbewußtsein; er wußte, was er sehen und er wußte, wen er sprechen wollte; er hatte die Kultur Europas schon in Amerika erlernt. Seine europäischen Gesprächspartner erkannten in ihm einen „Amerikaner“, der in der Lektüre der griechischen und römischen Klassiker – die er im Original las – ebenso bewandert war wie in der Kultur der Renaissance; Jefferson verkörperte ganz das Ideal des uomo universale, klassisch gelehrt und eigenständig kreativ in seinen Arbeiten als Rechtsgelehrter, politischer Denker, Staatsmann, Architekt, Zeichner, Musiker, Astronom, Geometer, Physiker. Er bewegte sich gleich souverän in der einen Zivilisation, der er sich angehörig wußte, jenseits wie diesseits des Atlantik. Und er suchte die gegenseitigen Fähigkeiten und Kenntnisse zu fördern, wo und wie er es konnte, so wie es sich in einer gemeinsamen Zivilisation ergibt, in der die einen von den anderen lernen, was ihnen von diesen noch nicht oder nur unzureichend bekannt ist. Wie er durch England, die Niederlande, das westliche Deutschland, Südfrankreich und Norditalien reiste, machte sich Jefferson ausführliche Notizen, von allem, was er sah und entdeckte, was ihm erzählt und erklärt wurde, um später in Amerika von Europa auch alles zu wissen, was Amerika von Europa noch nicht wußte. In



Die Atlantische Zivilisation241

Virginia sollte es ebenfalls Olivenbäume, italienischen Reis und Gräser wie in Frankreich geben, also sandte er Samen dieser Pflanzen über das Meer. Jefferson kam am Ende seiner grand tour nach Amerika mit über 130 Kisten Gepäck zurück. Er führte von Europa eine Sammlung zeitgenössischer Gemälde und Skulpturen mit sich, eine Bibliothek (die der Grundstock für die Library of Congress sein wird), die vielen Skizzen seiner architektonischen Erkundungen (auf die er sich dann unter anderem stützen wird bei seinem architektonischen Meisterwerk – den klassischen Gebäuden der von ihm gegründeten Universität von Virginia). Jeffersons Blick für die Zweiseitigkeit der atlantischen Zivilisation blieb ungetrübt. Er nahm an Europa in Amerika teil und er nahm an Europa aus Amerika teil. Die Französische Revolution, die in Terror ausartete, und die darauffolgende Diktatur des Napoleon stießen ihn ab, er distanzierte sich entschieden von diesem neuen Despotismus der Europäer. Dieser selbstbewußte Amerikaner suchte als beste Lebensform aber auch eine philosophische Existenz in der Gemeinschaft mit Freunden, also die platonisch inspirierte Akademie, wie er sie aus der Tradition Europas kannte. In Monticello, dem von ihm selbst entworfenen Landhaus im palladianischen Stil, kam er dieser Lebensform sehr nahe, der amerikanische Weise in Virginia, dem anderen Europa. Ebenso wie Jefferson verkörperte auch Benjamin Franklin exemplarisch die atlantische Zivilisation. Einer auf beiden Seiten des Atlantik von seiner Erscheinung faszinierten Öffentlichkeit führte er wirkungsvoll vor, zu welcher Fülle menschlicher Realität die Kultur der Freiheit einen Einzelnen befähigt. Er kam aus sehr bescheidenen Verhältnissen, aber als freier Amerikaner in Pennsylvanien hatte er seine Talente genutzt, in den Sprachen (er brachte sich selbst Spanisch, Latein und Italienisch bei), in der Physik (er entdeckte das Prinzip des Blitzableiters), in der Technik (er erfand einen bestimmten Typus von Ofen), in dem Verfassen wissenschaftlicher Werke (die ihm viele Leser und viel Anerkennung in der Welt der Gelehrten eintrugen), in der öffentlichen Verwaltung (unter anderem als innovativer Vorsteher des amerikanischen Postwesens), und natürlich in der Politik, als einer der Gründer der amerikanischen Republik. Diesem Sohn Amerikas fiel in Europa die Rolle des atlantischen Repräsentanten zu; überall in Europa erblickte man im  Modus der Aufklärung eine fortschrittlichere, freiheitliche Zivilisation; Frank­lin bildete sie ab. Gelehrter unter europäischen Gelehrten, wurde er in London in die Royal Academy aufgenommen, in Paris in die Académie des Sciences; Intellektueller unter europäischen Intellektuellen, wurde das Gespräch mit ihm von allen gesucht, die auf eine humane Zivilisation hin dachten, voran von den führenden Aufklärern wie Voltaire, Diderot, d’Alembert, Buffon, Turgot, Helvétius; in der Freiheit des Amerikaners unter Europäern, die um die Freiheit kämpften, wurde er für diese zum Symbol der Freiheit selbst; schon zu seinen Lebzeiten hatten die philosophes im Café Procope

242

Die Atlantische Zivilisation

eine Büste Franklins aufgestellt; als die Nachricht von seinem Tode eintraf, wurde sie mit schwarzem Flor behängt und an der Wand der Schriftzug angebracht: ‚Franklin ist tot‘. Die Aufklärung, die Geburt der westlichen Kultur der Freiheit, geschah hier wie dort, in Amerika wie in Europa. Im 18. Jahrhundert trennte der Atlantik nicht, er verband. Wenn es Distanzierungen gab, so waren es Distanzierungen im Namen der gemeinsamen, der transatlantischen Zivilisation. Europa und Amerika sprachen zueinander im selben zivilisatorischen Diskurs. Die Frage war allein: Würde Amerika, der ‚Erde einzigartiges Paradies‘ erfüllen, was sich Europa von ihm erhoffte? Amerika enttäuschte nicht, es führte Europa das ‚Einzigartige‘ vor. „Die Amerikaner“, so deutete John Jay, einer der amerikanischen Gründungsväter, die amerikanische Revolution „sind das erste Volk, dem der Himmel eine Gelegenheit gewährt hat, über die Formen der Regierung, unter denen es leben wird, zu beraten, und darunter eine auszuwählen.“24 Und Thomas Jefferson erklärte: „Wir können nicht mehr sagen, daß es unter der Sonne nichts Neues gebe … Denn dieses ganze Kapitel ist in der Geschichte des Menschen neu“.25 Doch in der Wahrnehmung der außerordentlichen Ereignisse in Amerika entdeckte sich Europa nicht bloß als Zuschauer. Es begriff sich auch als Teil dieser Welt, für welche die Amerikaner allgemein handelten. Amerikas Revolution war auch Europas Revolution. Jenseits des Atlantiks gelang Menschen ein Akt politischer Zivilisation, der für alle Menschen, also auch denen diesseits des Atlantiks, ein Akt der Befreiung war: er demonstrierte, daß politische Macht und menschliche Freiheit nicht Gegensätze sein müssen, sondern versöhnt werden können in einer Herrschaftsform, unter der alle Macht die Macht der Freiheit ist. Im revolutionären Moment der atlantischen Zivilisation, in der Verwirk­ lichung der europäisch-amerikanischen Aufklärung durch die amerikanische Revolution, erfuhren Europäer und Amerikaner eine gemeinsame Universalität. „Gott helfe Amerika, sich den Weg in die Freiheit zu erkämpfen“, so schrieb ein norwegischer Kleriker, „damit die Menschheit nicht in Knechtschaft untergehe.“26 Und Richard Price, Pastor und Freund Benjamin Frank­ lins in London, verkündete: „Wahrscheinlich wage ich mich nicht zu weit 24  J. Jay, Charge to the Grand Jury of Kingston County, in: H. Niles (Hrsg.), Principles and Acts of the Revolution in America, Baltimore 1822, Nachdruck New Jork 1876, S. 181. 25  Th. Jefferson to Dr. Joseph Priestley, 21. März 1801, in: Th. Jefferson, Writings, hrsg. v. M. D. Peterson, New York 1984, S. 1086. 26  Vgl. S. Skard, The American Myth and the European Mind, Philadelphia 1961, S. 17.



Die Atlantische Zivilisation243

vor, wenn ich sage, daß die amerikanische Revolution, neben dem Einzug des Christentums unter den Menschen, sich als der wichtigste Schritt im fortschreitenden Gang der Menschen zum Besseren erweisen wird.“27 IV. Eine Welt – und ihre Gegenwelt Was geschieht einem Paradies der Menschen, wenn es dieses einmal gibt? Es stellt sich natürlich heraus, daß es nicht ist, als was es gedacht wurde: paradiesisch. Mit der Gründung der amerikanischen Republik wurde Amerika wahr, jenes Produkt der europäischen und durch diese auch der amerikanischen Imagination. Seine Wahrheit aber war bloß menschlich. Die atlantische Zivilisation teilte sich wieder auf, wie Amerika und Europa sie bewußt wahrnahmen, in dem einen historischen Moment, da sie meinten, die gleiche Erfahrung der Freiheit zu machen – und merkten, daß im konkreten Vergleich doch vieles anders sei. Aber sie ist deswegen nicht verschwunden, die atlantische Zivilisation, alles andere als das, sie existiert nurmehr fort, so wie Dinge unter den Menschen existieren: im Kontrast zueinander, einmal füreinander, einmal gegeneinander, in der Polarität der einen Welt und ihrer Gegenwelt. Noch zugespitzter gesagt: Europa müßte Amerika und Amerika müßte Europa erfinden, gäbe es nicht für beide jeweils die andere Welt, die Gegenwelt zur eigenen Welt. Die Freiheit bedarf ihres Spiegels, des distanzierten Blicks auf sich selbst, der ihr ihre Wirklichkeit zeigt: daß es sie gibt. Alle Dinge werden nur plastisch in der Vielfalt, in der Zerteilung, durch die jedes für sich seine Wirklichkeit gegenüber allen anderen gewinnt. Doch die Freiheit ist mehr als bloß ein Ding, eine Sache, ein Prinzip. Die Freiheit ist die Vielheit. Ihre Wirklichkeit ist unendlich konkret. Sie vereinzelt, wer allgemein, sie vermehrt, wo eines, sie trennt, was verbunden war. Sie ist jedes Einzelne unter all den Einzelnen, von denen es unendlich viele gibt. So entflieht die Freiheit aller Anschauung, es sei denn, sie schaut auf sich selber hin aus der Vielfalt ihrer Welt auf jene Welt, die sie in ihrer Vielfalt bildet. Die Freiheit ist nur durch die Freiheit zu erkennen, in der Verdoppelung, in dem Kontrast, in jener Distanz zu sich selbst, in der allein es die Freiheit gibt zu der Erfahrung der Freiheit. Amerika und Europa existieren in Freiheit. Sie existieren in ihr, indem es beide, Europa und Amerika gibt. In der atlantischen Zivilisation haben sie sich vereint, zu einer Welt der Freiheit. Und sie haben sich getrennt, um diese Welt zu erhalten. 27  Dr. R. Price, Predigt „On the Love of Our Country“, Nov. 1789, zit. bei: R. Ruland, America in Modern European Literature, op.cit., S. 21.

Das Experiment mit Macht und Freiheit Die zweite Gründung der USA vor 200 Jahren Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden zweimal gegründet: Zum erstenmal am 4. Juli 1776, als die 13 Gründungsstaaten ihre Unabhängigkeit gegenüber der Kolonialmacht England erklärten; und zum zweitenmal am 17. September 1787, als der Verfassungskonvent in Philadelphia die Verfassung verabschiedete, nach der die Vereinigten Staaten seitdem regiert werden. Wenn die USA in wenigen Wochen, am 17. September 1987, den 200. Jahrestag – das Bicentennial – ihrer Verfassung feiern, dann feiern sie ihre zweite, ja ihre eigentliche Gründung. Das Land erhielt die Verfassung, durch die es schon zwei Jahrhunderte lang beweist, daß etwas gelingen kann, was seine Gründungsväter selbst als „Experiment“ ansahen: Politische Macht und menschliche Freiheit müssen nicht Gegensätze sein, freie Bürger können sich selbst in Freiheit regieren, sie können ihrer Freiheit die Macht geben, die diese braucht, um mit Macht die Freiheit aller zu sichern und zu bewahren. Damals, im Sommer 1787, war es mit der „Union“ der 13 amerikanischen Staaten nicht gut bestellt. Sie war erst wenige Jahre zuvor, am 1. März 1781, durch die „Konföderationsbeschlüsse“, die erste amerikanische Verfassung, begründet worden. Und schon zeigte sich die „Union“ jedermann in einem Zustand fortschreitender Zerrüttung. Wer Artikel 2 der Konföderationsbeschlüsse las, durfte sich darüber nicht wundern: „Jeder Staat behält seine Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit und jedwede politische, gesetzgebende und richterliche Gewalt, die nicht ausdrücklich durch diese Konföderation an die Vereinigten Staaten übertragen worden ist.“ Der Name The United States of America sollte keinesfalls eine Vereinigung der 13 Staaten, sondern bloß einen Staatenbund bezeichnen, in dem jeder Einzelstaat für sich souverän blieb. Es gab zwar ein gemeinsames Regierungsorgan, den konföderativen Kongreß, in dem jeder Staat gleichberechtigt mit allen anderen vertreten war. Aber dem Kongreß fehlten all jene Befugnisse, die er benötigt hätte, um wirklich regieren zu können. Über Angelegenheiten des Handels und der Besteuerung entschieden weiterhin allein die Einzelstaaten. Jeder Staat erließ seine eigenen Gesetze, prägte sein eigenes Geld und erhob an seinen GrenErstdruck

in: Süddeutsche Zeitung (Feuilleton-Beilage), Nr. 168, 25./26. Juli 1987.

246

Das Experiment mit Macht und Freiheit

zen Zölle, welche die Einfuhr von Waren aus den anderen amerikanischen Staaten behinderten, währenddes der amerikanische Markt von europäischen Waren überschwemmt wurde. Die Briten hatten noch immer nicht, wie im Pariser Friedensvertrag von 1783 vereinbart worden war, alle ihre Garnisonen vom Territorium der Vereinigten Staaten abgezogen. Warum sollten sie? Die Vereinigten Staaten – sie waren ein schwächliches Gebilde, schlecht regiert. Die wahren Mächtigen im Lande, die Volksvertretungen in den Einzelstaaten, betrieben Lokalpolitik, ohne Interesse am Schicksal des gemeinsamen Experiments – Amerikas. Nur unter großen Anstrengungen kam es im föderativen Kongreß zu einer Mehrheit, durch die der Pariser Friedensvertrag am 14. Januar 1784 ratifiziert werden konnte. Wo sie vereint hätten auftreten sollen, im Kongreß, waren die „Vereinigten Staaten“ so untereinander uneins, daß sie sich nicht einmal über einen Sitz für ihren Kongreß einigen konnten; der wanderte statt dessen von Philadelphia nach Princeton, von dort nach Annapolis, von Annapolis nach Trenton, von Trenton nach New York. Ein paar Jahre nach den Konföderationsbeschlüssen war jedermann klar, daß die Vereinigten Staaten so keinen Bestand haben würden. Wenn das Experiment Amerika – eine Gesellschaft freier Bürger, die sich in Freiheit selbst regieren – noch gelingen sollte, dann mußte über die Anlage des Experiments, über die Verfassung der Vereinigten Staaten, noch einmal neu beraten werden. Und dies geschah zwischen dem 25. Mai und dem 17. September 1787. Nach Philadelphia, in die Staatskanzlei von Pennsylvania, war ein Verfassungskonvent einberufen worden, 55 Delegierte aus 12 Staaten (Rhode Island, eifersüchtig auf seine Souveränität bedacht, hatte die Einladung zur Teilnahme abgelehnt), unter ihnen Benjamin Franklin und George Washington, eine „Versammlung von Halbgöttern“, wie Thomas Jefferson angesichts der Liste der Delegierten bemerkte. An den Konvent war der Auftrag ergangen, die Konföderationsbeschlüsse, also die erste Verfassung der USA, zu überarbeiten. Als er am 17. September 1787 seine Arbeit beendete, legte er eine ganz neue Verfassung der Vereinigten Staaten vor: Danach sollte eine Zentralregierung eingerichtet werden, mit einem Präsidenten als Organ der Exekutive und einem Kongreß aus Senat und Repräsentantenhaus als Organ der Legislative, und die Macht dieser Zentralregierung sollte stärker als die der Einzelstaaten sein. Von diesem Ergebnis ihrer Beratungen wurden die Mitglieder des Konvents selber überrascht. Erst als sie auseinandergingen, wurde ihnen ganz bewußt, daß sie die Vereinigten Staaten in den Prozeß einer nochmaligen, zweiten Gründung hineingeführt hatten. Wie würde der Prozeß ausgehen? Damit sie gültig wurde, mußte die neue Verfassung erst von den Einzelstaaten ratifiziert werden. Doch kaum war der



Das Experiment mit Macht und Freiheit247

Verfassungstext veröffentlicht, da zirkulierten in verschiedenen Staaten schon Flugschriften, die zu seiner Ablehnung aufriefen. Hatten die Amerikaner denn nicht eine Revolution ausgefochten, um sich von der Tyrannei des britischen Königs zu befreien? Und jetzt sollten sie, kaum hatten sie ihre Freiheit errungen, einer Verfassung zustimmen, die ihnen erneut eine mächtige Regierung verordnete, eine Zentralregierung, von der nur zu befürchten war, daß sie sich rasch zur Despotie entwickeln würde? Eine große Debatte entbrannte – für und wider den Verfassungstext von Philadelphia. Federalists stritten sich mit Anti-Federalists, die Befürworter der Verfassung mit deren Gegnern. Aus diesem Streit ist der bis heute maßgebliche Kommentar zur amerikanischen Verfassung – der Verfassung von Philadelphia – hervorgegangen: The Federalist, Der Föderalist. Er wurde ursprünglich in der Form von 85 Zeitungsartikeln verfaßt, die zwischen dem 27. Oktober 1787 und dem 28. Mai 1788 als Serie in den New Yorker Zeitungen The Independent Jour­ nal, The New York Packet und The Daily Advertizer unter dem Pseudonym „Publius“ (nach dem römischen Konsul Publius Valerius Poplicola) erschienen. Die einzelnen Artikel wurden jedoch nicht von einem Autor, sondern von drei verschiedenen Autoren geschrieben, und es handelte sich dabei um führende Köpfe der amerikanischen Gründergeneration: Alexander Hamilton, James Madison (später Präsident der USA) und John Jay. Vordergründig verfochten sie mit ihren Federalist Papers die Neuordnung der Vereinigten Staaten durch die Annahme der neuen Verfassung. Doch in Wirklichkeit leisteten sie viel mehr. Sie schufen einen klassischen Text zur Kunst des freiheitlichen Regierens – zu einer Kunst also, die alle Menschen zu allen Zeiten angeht.

Die Freiheit im Labyrinth Amerikanische Wahlkämpfe sind chaotisch und schöpferisch zugleich Was macht der amerikanische Politiker, der, beispielsweise Bürgermeister von Boston, Gouverneur von Kalifornien oder Senator im Kongreß von Wa­ shington werden, also eine öffentliche Wahl gewinnen will? Wendet er sich an seine Parteifreunde, um deren Unterstützung für seine Pläne zu suchen? Tritt er gegen Konkurrenten in seiner Partei an, um formell als deren Bewerber für das erstrebte politische Amt aufgestellt zu werden? Und woher nimmt er das Geld für seinen Wahlkampf? Von der Partei? Wer hilft ihm, den Wahlkampf zu organisieren? Ebenfalls die Partei, deren Mitglieder und deren Apparat? Bei der Wahl für ein öffentliches Amt in den Vereinigten Staaten wird, ganz anders als in der Bundesrepublik, nichts dergleichen geschehen. Wer sich in den USA für eine politische Karriere interessiert, verschwendet nur wenige Gedanken an seine Partei, denkt aber sehr viel darüber nach, ob er das Zeug zum freien Unternehmer im politischen Geschäft besitzt. Wahlen in Amerika sind nicht mehr nur politische Vorgänge, sondern vor allem auch wirtschaftliche Unternehmungen, an denen sehr viele, bei Präsidentschaftswahlen Tausende von Menschen beteiligt sind. Jedem Kandidaten, ob er nun Stadtrat einer Kleinstadt oder Herr im Weißen Haus werden will, fällt die Rolle des freien politischen Unternehmers zu, der sich um den Aufbau, die Organisation und Finanzierung seines persönlichen Wahlkampf­ unternehmens sorgen muß. Nicht die Parteien, sondern diese Wahlkampf­ unternehmen der Kandidaten sind die politischen Instrumente, mit denen in Amerika Wahlen ausgetragen werden. Als im November 1980, bei den Präsidentschaftswahlen Jimmy Carter gegen seinen Herausforderer Ronald Reagan verlor, mußte auch sein Vizepräsident, Walter F. Mondale, aus dem Amt scheiden. Mondale zog sich scheinbar in die Privatwirtschaft zurück, als Mitglied einer Anwaltskanzlei. Nun ist er Präsidentschaftskandidat der Demokraten. Was geschah in der Zwischenzeit? Mondale hat sich in den vergangenen vier Jahren sehr wenig als Anwalt und um so mehr als freier politischer Unternehmer betätigt. Er plante, organisierte und betrieb das „Unternehmen“ PräsidentschaftskandidaErstdruck

in: Süddeutsche Zeitung Nr. 255, 3./4. November 1984.

250

Die Freiheit im Labyrinth

tur. Gleich nach der Niederlage Carters, vier Jahre vor dem nächsten Wahltermin, gründete er sein persönliches Wahlkampfunternehmen, das „Komitee für die Zukunft von Amerika“. Um das Unternehmen in Gang zu bringen, reiste er unablässig kreuz und quer durch die USA, hielt Vorträge, umwarb Personen, die er für das Gelingen seines Unternehmens braucht, knüpfte Kontakte zu Geldgebern, schuf ein über das ganze Land gezogenes Netzwerk von politischen Bundesgenossen. In Washington D.C. mietete er Büros an, stellte Sekretärinnen und einen Stab von Wahlkampfstrategen, Marktforschern, Redeschreibern, Umfragespezialisten, Finanzexperten, Managementberatern und Werbefachleuten ein. Im September 1983 beschäftigte Mondales Organisation 95 bezahlte Mitarbeiter, bis zum März 1984 wuchs die Zahl auf 175 an. Unterstützt von diesem Stab und einem immer stärkeren Heer freiwilliger Helfer, bestritt Mondale die 26 Vorwahlen (Primaries), in denen er sich gegen die anderen demokratischen Präsidentschaftsaspiranten, vor allem gegen Gary Hart und Jesse Jackson, durchsetzte. Geschick und Effizienz bewies seine Organisation unter anderem im „Vorwahlkampf“ um die Wahlordnungen der Primaries. Diese Wahlordnungen werden von lokalen Parteigremien aufgestellt, die sie auch wieder abändern können. Sie sind daher keinesfalls, wie die Wahlgesetze in der Bundesrepublik, dem Wettbewerb der Kandidaten entzogen, sondern politische Instrumente, die dazu benützt werden können, die Wahlchancen eines bestimmten Politikers zu erhöhen – und entsprechend die Chancen der Konkurrenten zu vermindern. Bei den Vorwahlen der Demokraten in diesem Jahr haben zahlreiche Wahlordnungen den Kandidaten Mondale begünstigt. Kein amerikanischer Präsident geht in einen Wahlkampf ohne sein persönliches Wahlkampfunternehmen. Zwar stellt sich der eine als „Demokrat“ und der andere als „Republikaner“, also jeweils als Kandidat einer der zwei großen amerikanischen Parteien vor. Beide Parteien existieren aber nicht in der Form von dauerhaften und festgefügten Organisationen. Sie können den jeweiligen Kandidaten nur in bescheidenem Maße helfen. Zu Wahlzeiten gehen die Parteien jeweils in den Wahlkampfunternehmen ihrer Spitzenkandidaten auf, wie jetzt die demokratische Partei in der politischen Organisation Mondales und die republikanische Partei in der Organisation Präsident Reagans. Für den Aufbau und die Arbeit ihrer Wahlkampfunternehmen benötigen die Kandidaten Geld, viel Geld, und dabei sind sie im wesentlichen auf sich allein gestellt. Sie müssen ihr Unternehmen nicht nur organisieren, sondern auch finanzieren. Als sich Abraham Lincoln, der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, im Jahre 1848 um einen Sitz im Repräsentantenhaus bewarb, beschaffte er sich 200 Dollar zur Finanzierung seines Wahlkampfes. Er gab 75 Cents aus; wurde gewählt und schickte 199,25 Dollar an diejenigen zurück, die ihm das



Die Freiheit im Labyrinth251

Geld gespendet hatten. Bei den letzten Wahlen für das Repräsentantenhaus, im Jahre 1982, wurden in einem Wahlkreis im Bundesstaat Massachusetts von den rivalisierenden Kandidaten, der Republikanerin Margaret M. Heckler und dem Demokraten Barney Frank, insgesamt 2,5 Millionen Dollar für den Wahlkampf aufgewandt. Barney Frank, der den Sitz im Repräsentantenhaus gewann, brachte davon den größeren Teil, nämlich 1,5 Millionen auf. Seine Wahlkampforganisation gab allein 300.000 Dollar aus, um an dieses Geld, an die Wahlspenden von mehr als 17.000 Amerikanern zu kommen. Dem einen oder anderen amerikanischen Politiker gelingt es, einen erfolgreichen Wahlkampf mit einer vergleichsweise bescheidenen Kasse zu führen. Aber das sind die Ausnahmen. Für alle übrigen Kandidaten ist jeder Wahlgang ein Unternehmen, das immer kostspieliger wird. Zwischen 1952 und 1980 stiegen die Lebenshaltungskosten in den Vereinigten Staaten um 210 Prozent, die finanziellen Aufwendungen für Wahlkampagnen hingegen um 759 Prozent. Bei den öffentlichen Wahlen, die im Jahre 1980 stattfanden, gaben die Kandidaten insgesamt 1,2 Milliarden Dollar aus (davon entfielen 275 Millionen auf die Präsidentenwahl). Aus diesem Grund haben es besondere jene schwer, die sich zum erstenmal als freie politische Unternehmer betätigen. Sie müssen eine immer höhere finanzielle Schwelle überwinden, um sich überhaupt als Kandidaten bekannt zu machen. Ihre Partei, die Medien, finanzkräftige Geldgeber und eine größere Anzahl von Wählern interessieren sich für sie erst, wenn sie durch Wahlerfolge bewiesen haben, daß es sich lohnt, auf sie zu setzen. Sie müssen also für sich werben, vor allem im Fernsehen. Doch in Los Angeles oder New York kostet ein Werbespot von 30 Sekunden in den Abendstunden derzeit 100.000 Dollar. Wer als unbekannter Kandidat nicht über solche Summen verfügt oder nicht ersatzweise auf andere Kommunikationsmittel zurückgreifen kann, der kann nur noch auf viel Glück und außergewöhnliche Umstände zu seinen Gunsten hoffen. Oder er borgt sich viel Geld und handelt nach dem Motto: „Gewinne die Wahl und kümmere dich nicht um die Kosten.“ Wer in den Vereinigten Staaten die Karriere eines freien politischen Unternehmers verfolgt, geht also viele Risiken ein. Er geht das Risiko ein, über Jahre hinweg ein Wahlkampfunternehmen aufzubauen, das über Nacht, nach der verlorenen Wahl, nutzlos wird. Er geht das Risiko ein, sich hoch zu verschulden. Wenn er sehr geschickt im Sammeln von Wahlspenden ist und sich zur Wiederwahl in ein Amt bewirbt, das er schon erfolgreich ausgeübt hat, dann kann es ihm gehen wie Howard Metzenbaum, dem demokratischen Senator aus Ohio: Der schloß seinen Wahlkampf zu seiner Wiederwahl 1982 mit einem Überschuß von 862.000 Dollar ab, die er bei seinem nächsten Wahlkampf einsetzen kann. Wenn aber jemand einen Karrieresprung wagt und knapp bei Kasse ist, dann kann es ihm auch gehen wie Morris Udall, der

252

Die Freiheit im Labyrinth

1976 erfolglos zu einer Präsidentschaftskandidatur ansetzte: Er betrieb sein Wahlkampfunternehmen noch weitere sechs Jahre, bis 1982 – um Schulden abzutragen. Es sind im wesentlichen Veränderungen im Verhalten der Wähler, welche die Politiker dazu gebracht haben, ihre Wahlkampagnen immer aufwendiger zu führen. Bis in die fünfziger Jahre gaben viele Amerikaner über mehrere Wahlperioden hinweg ihre Stimme immer wieder derselben Partei; sie waren „Stammwähler“, die zudem über die Parteiorganisationen – die damals noch stabiler und effizienter waren – ohne allzu großen Aufwand erreicht und für einen Kandidaten der Partei gewonnen werden konnten. Seitdem haben aber immer mehr Wähler ihre Loyalität zu einer Partei aufgekündigt und sind dazu übergegangen, jeweils neu zu entscheiden, wem sie ihre Stimme geben. Sie sind in ihrem Wahlverhalten unabhängiger geworden, wollen also mit weit mehr Werbekunst als früher überzeugt werden. Im Jahre 1960 erklärten sich noch 35 Prozent als loyale Stammwähler einer der beiden großen Parteien, der Demokraten und der Republikaner. In den zwanzig Jahren danach, bis 1980, sank der Anteil der Stammwähler auf 26 Prozent. Andererseits gaben sich 1960 erst 23, 1980 aber 34 Prozent als „Unabhängige“ aus. In der gleichen Zeit löste sich das organisatorische Gefüge der Parteien zusehends auf, und die Parteifunktionäre verloren immer mehr ihren früheren Einfluß, während die „Basis“ ein immer größeres Mitspracherecht gewann. Den Parteikonventen gehörten früher selbstverständlich die herausragenden Amtsträger der jeweiligen Partei an: die Mitglieder des Senats, des Repräsentantenhauses, die Gouverneure. Und die Angehörigen dieses politischen Establishments traten in den Konventen als führende Figuren auf. Heute sind sie dort nur noch in geringer Zahl vertreten. Und sie müssen, wie andere Delegierte auch, um ihren Einfluß auf die Entscheidungen des Parteikonvents kämpfen. Ein Kandidat kann die Wähler kaum noch über die Parteien erreichen. Die Wähler sind bindungslos. Sie sind aber auch, in ihren Erwartungen an die Politik, sehr anspruchsvoll. Ein Paradox? Nur scheinbar. Die Regierung hat das Leben dieser Wähler inzwischen immer mehr reglementiert, und die Wähler haben – Stichwort: Wohlfahrtsstaat – viele Erwartungen beziehungsweise Forderungen an die Regierung anzumelden. Die Wählerschaft ist in zahllose Interessengruppen zersplittert. Und jede dieser Gruppen pocht auf ihre Inte­ ressen. Das zwingt die Kandidaten zu hohem organisatorischen und finanziellen Aufwand, damit sie möglichst viele umwerben und überzeugen können. Barney Frank aus Massachusetts hielt im Wahlkampf vor zwei Jahren Veranstaltungen für 150 verschiedene Interessengruppen ab: „Barney Frank und die Umweltschützer“, „Barney Frank und die Alten“, „Barney Frank und die Armenier“, „Barney Frank und die Automobilgewerkschaftler“ …



Die Freiheit im Labyrinth253

Angesichts der Schwäche der politischen Parteien und der sozialen Zersplitterung der amerikanischen Wählerschaft erfüllen die Wahlkampforganisationen der Kandidaten eine eminent wichtige politische Funktion: Sie schaffen aus der Masse der Wahlbürger politisch handlungsfähige Gruppierungen. Sie bündeln die Wünsche, Bestrebungen, Interessen der Wähler. Sie sind die Treibriemen im Mechanismus der amerikanischen Politik. Was in anderen Ländern noch die Parteien leisten, leisten in den Vereinigten Staaten heute die „eingetragenen Vereine“ der politischen Kandidaten. Sie sind wie konzentrische Kreise angelegt. Zum innersten Kreis gehört nur eine kleine Anzahl von Personen – die Familienmitglieder, die engsten Freunde und die seit langem bewährten Berater des Kandidaten. Hier herrscht eine Vertrautheit, wie sie nur durch Familienbande und Freundschaften entsteht. Außenseiter haben es schwer, Zugang zu finden. Die meisten der Mitglieder werden einer breiteren Öffentlichkeit erst bekannt, wenn man ihrer maßgeblichen Rolle im Wahlkampf des Kandidaten gewahr wird. Wahrscheinlich ist es vielen amerikanischen Wählern nicht geläufig, daß die wichtigsten Leute in Mondales Organisation Robert G. Beckel, John Reilly, Michael Berman, Maxine Isaacs und James A. Johnson heißen. Sollte Mondale Präsident der USA werden, würden sie jedoch schnell sehr vielen Leuten inner- und außerhalb der Vereinigten Staaten bekannt sein: Sie würden als Schlüsselfiguren im Weißen Haus auftauchen. Der nächste Kreis besteht aus dem Wahlkampfstab des Kandidaten, den Wahlstrategen, Wahlanalytikern, Redeschreibern etc., die für die Zeit des Wahlkampfes angestellt werden. Ist dieser Kreis noch relativ eng gezogen – ihm gehören selten mehr als ein paar hundert Personen an -, so reicht der dritte schon sehr viel weiter. Zu ihm gehören Tausende von freiwilligen Helfern, die die Präsenz der Organisation im ganzen Land, an den Straßenecken und in der Nachbarschaft ausmachen. Organisationen wie der Mondales zum Beispiel gelingt es überdies, Helfer von dritter Seite „auszuleihen“, etwa von der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, die ungefähr 150.000 Freiwillige mobilisieren kann. Mit ihrem vierten Kreis greift die Organisation über die Schar der Anhänger, die dem Kandidaten in persönlicher oder politischer Loyalität verbunden sind, hinaus und bezieht einen Wirtschaftszweig ein, der in den letzten 10 bis 15 Jahren entstanden ist: die Branche der selbständig operierenden Politikberater (political consultants). Die „machen“ und „verkaufen“ politische Kandidaten. Sie treten als Geschäftsleute auf, haben ihre eigenen Firmen gegründet – „David Garth and Associates“, „Research Analysis Corporation“ heißen zwei der berühmteren – und bieten politische Dienstleistungen an: Wahlanalysen, Umfragen, computergestützte Wahlprognosen, Werbung, das Marketing von Kandidaten. Ihr politischer Einfluß ist weitaus stärker als man allgemein annimmt, und sie haben die entsprechenden Diva-Allüren entwickelt. Die berühmtesten – Patrick H. Caddell (Berater für Mondale), Robert Squier,

254

Die Freiheit im Labyrinth

David Garth, Joseph Napolitan, Stuart Spencer, Richard B. Wirthlin (Berater für Reagan), Richard A. Viguerie – können es sich leisten, sich die Politiker auszusuchen, für die sie arbeiten. Und sie haben auch eine gewisse Macht über ihren Kandidaten. Edward Koch, der Bürgermeister von New York, mußte auf Geheiß seines Beraters David Garth Gewicht abnehmen; der Bürgermeisterin von Chicago, Jane Byrne, wurde von ihrem Berater Dan Rose klargemacht, daß es in der Politik nicht vorteilhaft sei, den Mund mit einem grellroten Lippenstift zu bemalen. Eine der berühmteren Beraterfirmen kann ohne weiteres ein Honorar von 200.000 Dollar dafür verlangen, daß sie einen Kandidaten bei einer einzige Wahlkampagne berät. Von den Politikberatern und deren Firmen haben sich eine ganze Reihe auf das Werben von Wahlspenden spezialisiert Sie besitzen Datenbanken, denen sie jederzeit ganz spezielle Adressenlisten entnehmen können, beispielsweise von Personen überall in den USA, die bereit sind, Geld für einen Kandidaten zu spenden, der für ein Verbot des ungehinderten Verkaufs von Schußwaffen eintritt, oder von jenen Personengruppen, die Kandidaten unterstützen wollen, welche die Belange der Homosexuellen vertreten. Überhaupt ist die Finanzierung von Wahlkämpfen zu einem Problem geworden, das nicht nur den Parteien, sondern auch den einzelnen Kandidaten entglitten ist. Um zu verhindern, daß über Wahlspenden ein ungebührlicher Einfluß auf die Politik ausgeübt wird, hat man immer strengere Gesetze erlassen. So darf zum Beispiel eine Privatperson in einem Jahr nicht mehr als 25.000 Dollar spenden, und von einem der unabhängigen Spendenkomitees darf ein einzelner Politiker höchstens 5.000 Dollar empfangen. Diese sogenannten „Politischen Aktionskomitees“ waren schon seit langem vor allem von Gewerkschaften und Industriebetrieben zur Unterstützung ihnen freundlich gesinnter Politiker gebildet worden. Gegen die gesetzliche Regelung wurde geklagt, doch sie wurde 1976 vom amerikanischen Obersten Gericht bestätigt. Die Komitees dürfen nach dieser Entscheidung zwar nicht mehr als 5.000 Dollar an einen Kandidaten geben, aber – unter dieser Grenze – beliebig viele Kandidaten unterstützen. Und umgekehrt: ein Kandidat darf die Höchstsumme von beliebig vielen Spendenkomitees erhalten. Die Folge: In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl dieser Komitees von 608 auf über 3.400. Immer mehr Wahlspenden fließen über die Komitees, die nicht von Politikern, sondern von Industriefirmen, Verbraucherverbänden, Interessengruppen, Religionsgemeinschaften, konservativen oder liberalen Bürgervereinigungen, Gewerkschaften kontrolliert werden. Der Wahlkampf der Kandidaten für den amerikanischen Kongreß im Jahre 1982 wurde schon zu einem Drittel von den Komitees finanziert. Alle Erregung, alles Erstaunen über die heutige Art, in Amerika Wahlkämpfe zu führen, würde – so darf man spekulieren – James Madison, einen der Gründungsväter der amerikanischen Republik, ungerührt lassen; Madison



Die Freiheit im Labyrinth255

wollte, daß die amerikanische Gesellschaft immer in kreativer Aufregung und konfliktgeladener Bewegung bleibe. Die Freiheit, deretwegen die Vereinigten Staaten gegründet wurden, könne, so Madison vor 200 Jahren, nur dann erhalten werden, wenn sich auch das Widerspiel der gesellschaftlichen Interessen und die Spannungen zwischen den politischen Institutionen andauernd fortsetzten. Im Prozeß der amerikanischen Demokratie solle aus scheinbar wirren Zuständen immer wieder neu die Freiheit aller Bürger hervorgehen. Denn die Politik der Freiheit verlange unübersichtliche, ja labyrinthische Verhältnisse, die von den Bürgern immer wieder in neuen, gemeinsam gefundenen politischen Formen überwunden werden müssten. Das Labyrinth sei jedem einzelnen Schutz gegenüber allen anderen und allen gemeinsam das Gehäuse der Freiheit. Diese Dramaturgie manifestiert sich am deutlichsten im politischen Schauspiel amerikanischer Wahlen. Amerikanische Wahlkämpfe sind chaotisch und doch zugleich schöpferisch. Sie treiben Wähler wie Kandidaten auseinander und führen sie wieder zusammen; sie lassen zahllose Interessen mitspielen und sieben aus diesen das gemeinsame Interesse heraus; sie verwandeln demokratische Politik in umstürzlerische Energie und bündeln diese in veränderten politischen Strukturen. Ein Schauspiel, das sich selbst inszeniert – das Schauspiel einer schöpferischen, weil chaotischen Demokratie.

Im Namen der Freiheit. Wieso wir dringend Eliten brauchen Kürzlich in Amerika. Chicago. In einem Restaurant. Eine Tischgesellschaft von Amerikanern, in die ich eher zufällig hineingeraten war. Etwas mit ihnen zu bereden hatte ich nicht, so hörte ich vor allem zu: dem Rechtsanwalt, dem Schriftsteller, dem Immobilienmakler, dem Psychologen, dem Professor. Sie erzählten von sich selbst. Und es hob sich aus der Tischgesellschaft ein Amerika eigenartiger Menschen ab. Zum einen diese Art, sich bloßzulegen. So, als kenne man sich aufs Intimste. Doch eh‘ ich mich versah, fand ich mich vor das jeweils Allerheiligste geführt: die fundamentalistische Religion, zu der sich der Professor die Wissenschaft seines früheren Lehrers anverwandelt hatte; die mystischen Erfahrungen, die der Psychologe angeblich jeden Tag zu sich nahm wie andere Leute ihr Frühstück; den Verschwörungs- und Geheimniskult, den sich der Schriftsteller aus konservativem Gedankengut herausgekeltert hatte und noch in seinem Äußeren zelebrierte; das Sammel­ surium fernöstlicher Weisheitslehren, das sich der Immobilienmakler in den Kopf gesetzt hatte. Ein seltsames Bild, das Amerikaner da von ihrer Gesellschaft entwarfen. Ihrem ersten Auftreten nach – die gleichen Höflichkeitsfloskeln, die gleichen Abläufe am Esstisch – schien jeder von ihnen aus derselben Gesellschaft zu sein. Ich sah eine glatte Fläche des perfekten förmlichen Umgangs. Doch dann wurde ich weggeführt in eine Landschaft voller Verwerfungen. Dort erschien Amerika bizarr. Wie ein Exotarium – Menschen gestylt nach verschiedensten Sorten von Geschmack. Eine einzelne Beobachtung, gewiss. Aber da wären weitere anzubieten – wie die Begegnung in Boston mit einem Ethnologen, der in seiner Karriere an der Spitze angekommen ist, nämlich auf einer für ihn eingerichteten und ihn materiell bestens stellenden Professur an der Harvard Universität. Was will er? Von Harvard wieder weg. Obwohl nur seitens eines Elternteils mexikanischer Herkunft (der andere gehörte zur vornehmen Oberschicht NeuEnglands), hat er sich zum „Chicano“ stilisiert, nicht nur in seinem Auftreten, sondern vor allem auch in seinem Kopf: Mit diesem ist er ein Mensch mexiErstdruck unter dem Titel: „Im Namen der Freiheit. Wir haben dieselben Rechte, aber nicht dieselben Begabungen: Wieso wir dringend Eliten brauchen", in: Süddeutsche Zeitung, 28./29. Mai 2005, Nr. 120, S. I.

258

Im Namen der Freiheit

kanischer und nicht amerikanischer Kultur. Im Ambiente von Harvard schafft das Reibereien. Dafür ist an dieser amerikanischen Institution noch zu viel von „Amerika“ mächtig. Also möchte der Chicano-Professor sie mit einer anderen Uni tauschen, in den USA natürlich, aber wo „Amerika“ weniger gilt oder mehr Raum ist für das Exotarium. Und dieses breitet sich aus. Nicht nur entwickelt sich die amerikanische Gesellschaft zu einer immer bizarreren Schaustellung privater Eigenstile unter der Oberfläche der Rest-Verbindlichkeiten, die Amerikaner in ihrem ersten Auftreten noch zu „Amerikanern“ machen. Auch diese selbst werden schon dem Exotarium angepasst. Niemand soll sich an nichts mehr stoßen müssen. The Language Police, die „Sprachpolizei“, als Titel für ein Buch über die Richtlinien, nach denen die zuständige amerikanische Regierungsbehörde Schulbücher empfiehlt beziehungsweise verwirft – das ist schon stark. Aber Diane Ravitch, die Verfasserin des Buches, das 2004 erschienen ist, berichtet Sachen, da staunt man nur. Ein Essay über Erdnüsse wurde abgelehnt, weil manche Kinder allergisch auf Erdnüsse reagieren; eine Erzählung über Delphine, weil das Kinder diskriminiere, die nicht am Meer, also in einer Umwelt ohne Delphine leben; eine Geschichte von einem blinden Bergsteiger, weil sie nahelegte, dass es einer blinden Person schwerer fallen dürfte, einen Berg zu besteigen. Nicht verwunderlich, dass die Behörde ­erwog, folgende Themen ganz aus Textbüchern zu verbannen: Politik, Religion, Arbeitslosigkeit, Waffen, Abtreibung, persönliche Lebensstile, teure Konsumgüter. Und nun die These: Gäbe es in Amerika noch die zivilisatorisch formende Kraft einer Elite, würden dort andere Maßstäbe für die allgemeine Bildung gelten als jene der Sprachpolizei. Doch die alte, angelsächsisch und vornehmlich von weißen Männern geprägte Elitenschicht der USA hat in den vergangenen Jahrzehnten halb abgedankt, halb ist sie beiseite geschoben worden. Mit Präsident John F. Kennedy hatte sie ihren letzten großen Auftritt. Natürlich tauchen in der Öffentlichkeit noch Personen auf, die an sie erinnern, aber eben nur erinnern. Jene Elite ist für immer aus der amerikanischen Gesellschaft in ihrer Funktion als formbildend-schöpferische Schicht verschwunden. Das wurde gewollt: eines Amerikas wegen, das nicht eine Vorstellungswelt für all seine vielen inneren Differenzen nach Geschlecht, Lebensstilen, Ethnien, Kulturen und Religionen hat, sondern sich vielmehr in genau all diesen Differenzen zur Vorstellung bringt. Doch was ist Amerikanern nun gemeinsam, von denen der eine sich ein buddhistisch-shintoistischtaostisches „Amerika“ vorstellt, der zweite ein okkultes, der dritte ein mystisches, der vierte ein fundamentalistisch-religiöses? Aus dem wieder ein anderer geistig ausgewandert ist, während er doch in ihm lebt? Am Ende nicht mehr als die glatte Fläche eines perfekt förmlichen Umgangs.



Im Namen der Freiheit259

Elite gleich obere Zehntausend und ihre Vormundschaft? Nicht doch. Machen wir zur Verständigung ein Experiment: Niemand will eine Elite. Aber was will man auch nicht? Dass die Gesellschaft, in der man lebt, in ihre Teile auseinanderfällt? Nein, sie soll Leute haben, die in ihr kursieren und so Fäden des Zusammenhangs ziehen. Dass sie lahm, fade, unproduktiv ist? Nein, sie soll so schöpferisch wie möglich sein. Dass die Maßstäbe, die sie braucht, allein ein disziplinierender Staat mit Verordnungen setzt? Nein, sie soll die aus sich selber hervorbringen. Dass in ihr, der demokratisch verfassten, eine Gleichheit aller mit allen herrscht und diese egalitäre Herrschaft jedes Besondere, Auffällige, Herausragende niederzwingt? Nein, sie möge doch jeder und jedem von uns die Freiheit lassen, uns auszutoben, uns etwas abzuverlangen, uns am Ungewöhnlichen zu erproben, für das Bessere uns einzusetzen, so gut zu sein, dass wir damit überzeugen. Wie das? Hat sich in das Experiment ein dialektischer Teufel eingeschlichen und uns zum Ausplaudern von elitehaften Wünschen verführt, die wir nicht haben, sobald jemand an sie das Etikett „Elite“ hängt? Keine Angst, im Augenblick muss hier niemand mutig sein. Andere machen uns vor, wie in einer Republik das natürliche Begehren der Menschen nach Auftrieb und Exzellenz aufzufangen und gesellschaftlich zu nutzen ist. Frankreich. Gewiss ein Land demokratischer Leidenschaft. Doch zugleich ein Land, das offen und bewusst Eliten produziert. Warum? Damit, beispielsweise, die französische Diplomatie in der internationalen Politik mächtiger ist als Frankreich. Wie der damalige Außenminister Frankreichs, Dominique de Villepin, in der Sitzung des UN-Sicherheitsrats zur Irak-Frage im Februar 2003, als er allein mit der Kraft seiner Argumente und Rhetorik die Weltmacht herausforderte und in Schranken wies. Die französische Lehrerschaft ist gestaffelt, eine der Spitzenpositionen erhält nur, wer „auswählende“ Studien durchlaufen hat und in deren Abschluss letztlich „ausgewählt“ wurde: über jene besondere, außerordentlich anforderungsvolle Zentralprüfung für ganz Frankreich, bei der immer nur wenige durchkommen. Wer sie schafft, erhält für immer eine Beschäftigung an einer guten Schule mit einem ermäßigten Lehrdeputat. Unter denen, die sie bestehen, wird gleich wieder differenziert, entsprechend den Noten. Die Besten dürfen sich die besten Schulen aussuchen. Dort werden sie, aufgrund der Langzeitwirkung dieses Systems, hervorragende Schüler vorfinden, mit denen sie wieder hervorragend arbeiten können: Elitenbildung.Wozu? Eliten sind eminent nützlich, und deswegen bringt sie Frankreich für sich hervor. Eine Auswahl setzt Standards und macht diese in die Gesellschaft hinein wirksam. Kürzlich in Paris. Ein Abend bei Freunden. Deren Tochter macht gerade ihr Examen an der École Normale Supérieure, einer der französischen „Eli-

260

Im Namen der Freiheit

teschulen“. Es steht noch die Prüfung in ihrem Spezialgebiet bevor: Deutschland. Sie kennt sich glänzend aus, ob wir über den Dreißigjährigen Krieg sprechen, die Architektur Bambergs oder das Innenleben der CDU. Sie drückt sich blendend aus. Während sie etwas ausführt, analysiert sie es gleichzeitig, man merkt förmlich, wie sie beim Reden ihre Stichpunkte ordnet, ihre Argumente methodisch aufbaut. Sie tritt geschmeidig auf und zugleich selbstbewusst. Jede gesellschaftliche Organisation hätte in ihr eine exzellente Repräsentantin. Frankreich führt jedes Jahr Hunderte junge Menschen zu dieser Qualität. Es weiß, warum. Eine Demokratie irrt, wenn sie, was in ihr an Elite ist, nicht aus sich herausholt. Sie sündigte wider ihren Geist, wollte sie nichts von Eliten wissen. Sie könnte auf Dauer nicht bleiben, was sie doch sein soll: freie Herrschaft eines freien Volkes für seine Freiheit. Was taten Hitler, Stalin, ihre Vasallen und Zöglinge, um die ihnen verfallenen Völker allumfassend – bis in die Seele jedes Einzelnen hinein – beherrschen zu können? Sie vernichteten schnell und systematisch alle unabhängigen und voneinander unterschiedenen gesellschaftlichen Einrichtungen und Verbindungen, in denen sich die ihnen untertanen Menschen hätten halten können, gegen ihre Verwandlung in Massenwesen, mit denen alles anzustellen war. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, bildeten die Deutschen, nach der geballten Wirkung von NaziTyrannei und totalem Krieg, eine weitgehend eingeebnete Gesellschaft. Sie hatten den größten Teil des Weges zu einer Gleichheit aller schon hinter sich, als im Osten des Landes das Experiment einer vollends klassenlosen Gesellschaft veranstaltet und im Westen der Weg in die Gleichheit mit der Ausbildung einer massendemokratischen Gesellschaft immer breiter, gewissermaßen autobahnähnlich wurde. Nun können alle Deutschen sich tummeln in der Welt, und ihre Regierung schnüffelt zu ihrer Überwachung in jedes ihrer Bankkonten hinein, ohne dass sie gefragt oder darüber auch nur informiert werden. Sie durften die Verantwortung für Not, Krankheit und Alter bei ihrer Regierung ablegen, und nun lehrt diese ihnen dafür das Betteln: Schieß‘ bitte noch etwas mehr Steuern in die Rentenkasse. Sie gewöhnten sich eine hohe Empfindlichkeit für das Recht an, über das eigene, private Leben selbst zu bestimmen. Und geht es darum, einmal für begrenzte Zeit einer der politischen Führungsschichten in der Republik anzugehören und so das Regieren des Landes im Griff engagierter Bürger zu halten, sind viele von ihnen unempfindlich für dieses Recht: Bei den Kommunalwahlen in Bayern im Frühjahr 2002 fanden sich in manchen Gemeinden nicht genügend Kandidaten für die Sitze im Gemeinderat und das Amt des Bürgermeisters. Was für eine „freiheitliche“ Republik, in der alle ihre private Freiheit über alles lieben, währenddes die öffentliche Freiheit, die Freiheit der Republik, wie verlassen dasteht, schamlos preisgegeben!



Im Namen der Freiheit261

Wer regiert Deutschland? Bürger der Freiheit, die Elite eines freien Lands? Oder ein Regierungswesen der angleichenden Gleichheit? Die Frage ist alt, denn sie ist eine grundsätzliche und wurde deshalb auch ausführlich in einem Werk diskutiert, auf das zurückzugreifen immer angebracht ist, will man das Wesen der Demokratie und ihre Probleme verstehen: die in zwei Bänden 1835 und 1840 erschienene Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ von Alexis de Tocqueville. Seiner glühenden Liebe zur Freiheit wegen feierte er die Demokratie nicht nur, sondern nannte und bedachte auch die in ihr liegenden Gefahren. Von diesen hielt er jene, die im Namen der Gleichheit auftaucht, für die schlimmste. Für sie, so erklärte er, sind Demokratien geradezu naturgemäß anfällig. Erliegen sie dieser Gefahr, stirbt die demokratische Freiheit einen ebenso sanften wie sicheren Tod. Am Ende zeigt sich, was wir sehr wohl sehen können, wenn wir es sehen wollen: „Ich erblicke eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen … Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt: Seine Kinder und seine besonderen Freunde sind für ihn die ganze Menschheit; was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, aber er spürt sie nicht; er lebt nur in sich und für sich selbst, und wenn ihm auch noch eine Familie bleibt, so kann man doch zumindest sagen, ein Vaterland hat er nicht mehr. Über diesen Bürgern erhebt sich eine gewaltige Vormundschaftsgewalt, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen.“ Eine gewaltige Vormundschaftsgewalt oder, so Tocquevilles hartes Wort dafür: Despotismus. Statt Freiheit. Noch immer „demokratisch“, aber in der Weise, dass jeder Einzelne sich fesseln lässt, weil „er sieht, (dass) weder ein Mann noch eine Klasse, sondern das Volk selbst das Ende der Kette hält“. Welch großer Irrtum von Demokraten gegen die Demokratie! Welcher Anschlag auf die Freiheit, fahrlässig gemacht! Die Entartung freiheitlicher Herrschaft in eine gewaltige Vormundschaft geschieht nicht zwangsläufig. Bürger der Freiheit können und müssen – um der Freiheit willen – ihr entgegen handeln. Wie? Indem sie unter und mit sich gesellschaftliche Verbindungen schaffen, die jeden aus seiner Schwäche und Isolation als Einzelnen herausholen und alle zusammenfügen zu „einem gebildeten und mächtigen Bürger“, wie Tocqueville schrieb, „den man sich nicht gefügig machen kann“. Das Mittel gegen die Vormundschaft beziehungsweise die Entartung der Demokratie sind reale Repräsentationen bürgerschaftlicher Freiheit: das Auftreten von Bürgern in einer Darstellung freier Bürgerschaft, die Freiheit gesellschaftlich sichtbar macht. Da sind Menschen, die zusammen den Tugenden der Freiheit verpflichtet sind: der Unabhängigkeit, dem schöpferischen Aufbegehren, der kämpferischen Exzellenz, der selbstgestellten Verantwor-

262

Im Namen der Freiheit

tung, dem Stolz auf Wissen und Kompetenz, und die diesen Tugenden der Freiheit einen gesellschaftlichen Körper geben. Sie bilden kollektiv, nach Tocquevilles Begriff, eine „aristokratische Person“. Wir haben auch ein Wort dafür: Elite.

Das Paradox der Macht Anmerkungen zur Regierungspraxis in Washington, Paris, und Bonn Wir wissen, wer im Weißen Haus, im Élysée, im Bundeskanzleramt regiert: der amerikanische, der französische Präsident, der deutsche Bundeskanzler. Ihre Gesichter, ihre Namen sind wohlbekannt. Wir wissen, welche Funktion sie im politischen System ihres Landes versehen. Wir wissen, daß sie über alles verfügen, was sie zum Regieren benötigen: das Mandat der Wähler, Unterstützung durch die Gesellschaft und die Institutionen des Regierungswesens, einen Stab von Mitarbeitern, modernste Informations- und Kommunikationsmittel, einen Amtssitz. All dies wissen wir, und doch wissen wir von der Sache des Regierens sehr wenig, wenn wir nicht mehr als „all dies“ wissen. Was wirklich wissen wir, wenn wir wissen, daß im Weißen Haus der amerikanische Präsident regiert? Stellen wir uns die Situation konkreter vor. Am Schreibtisch im Oval Office sitzt eine einzelne Person. Der amerikanische Präsident. Nemen wir an, es sei sein erster Tag im Amt. Noch ist für ihn alles neu. In der Person am Schreibtisch stauen sich politische Energie und große gesellschaftliche Pläne. Dem Präsidenten gehört die Macht, welche die amerikanische Verfassung ihm gibt Der Präsident führt die Regierungsgeschäfte der Vereinigten Staaten. Und nun will diese Person am Schreibtisch im Oval Office die Vereinigten Staaten regieren. Am 4. März 1933 beispielsweise bestand eine solche Situation. Franklin D. Roosevelt hatte gerade den Amtseid als Präsident geleistet, befand sich nun im Oval Office und wollte am Entwurf seiner Regierungserklärung arbeiten. Er konnte es nicht. Sein Vorgänger, Herbert C. Hoover, hatte alles ausgeräumt, die Schubladen im Schreibtisch waren leer, es ließ sich kein Blatt Papier, kein einziger Bleistift finden. Roosevelt, gehbehindert und allein im Raum, rief durch die offene Tür den Gang hinunter, jemand solle ihm Schreibzeug bringen. Es dauerte einige Zeit, bis ihn jemand hörte und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten die ersten Instrumente des Regierens besorgte: Papier und etwas zum Schreiben.

Erstdruck

in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 188, 17./18. August 1985.

264

Das Paradox der Macht

Roosevelts Nachfolger, Harry S. Truman, konnten acht Jahre Amtszeit nicht von der Macht des Präsidenten überzeugen. Schon Monate vor seinem Ausscheiden aus dem Amt bedauerte er seinen Nachfolger: „Hier wird er sitzen und er wird sagen: ‚Tut dies! Tut jenes‘ und es wird nichts passieren“. Sicher: die Macht des amerikanischen, des französischen Präsidenten, des deutschen Bundeskanzlers, sie gibt es. Aber es gibt sie auf zwei ganz verschiedene Weisen. Durch die jeweilige Verfassung sind jeder dieser Regierungsfiguren bestimmte Machtbefugnisse übertragen, die in einzelnen Artikeln formell festgelegt und übrigens enger sind als man gemeinhin glaubt. Von dieser formellen Macht hebt sich ein erheblich größerer Machtbezirk ab: die Wirklichkeit der Machtausübung. Der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer, dehnte seine formelle Macht zu einer so umfassenden personalen Macht aus, daß die Republik, die er regierte, als Kanzlerdemokratie bezeichnet und ihm von Kritikern entgegengehalten wurde, er regiere wie ein Alleinherrscher. Der Nachfolger, Ludwig Erhard, erbte zwar das Amt, aber nicht die Adenauersche Macht; und er vermochte es nicht, dieselbe personale Macht aufzuspannen. Und wieder traten Kritiker der Kanzlermacht auf. Dieses Mal aber war ihnen der Kanzler nicht zu stark, sondern zu schwach. An seiner Amtsmacht gemessen, aktualisierte Erhard jedoch sehr wohl eine gewisse personale Macht; er vermehrte die formelle Macht seines Amtes durch die wirkliche Macht seiner Person in diesem Amt; an der Machtfülle Adenauers gemessen, aktualisierte Erhard hingegen eine beträchtlich geringere personale Macht; er verminderte also die Kanzlermacht durch die Ausübung seiner Macht als Kanzler. Die Macht eines Bundeskanzlers ist nicht konstant. Sie ist etwas Unbestimmtes, Unbeständiges, Fließendes. Sie gibt es einmal mehr und einmal weniger – je nach der Intensität, mit der die Person, die Kanzler ist, Macht als Kanzler aktualisiert. Wirklich Bundeskanzler, wirklich Präsident im Élysée oder im Weißen Haus zu sein – wie wenig hierbei selbstverständlich ist, dies erfuhr Roosevelt im Moment seines Machtantritts: wie sollte er in einem Weißen Haus, das leergeräumt war, regieren? Wie sollte er überhaupt regieren? Meister der Regierungskunst wie Roosevelt, Adenauer, de Gaulle regierten, indem sie zuallererst in das Innere ihrer Regierung hineinregierten. Als Strategen einer Machtfülle, die ihre formellen Befugnisse weit überstieg, waren sie immer in hohem Maße mit ihrer Macht beschäftigt. Sie verwendeten viel Zeit und Energie auf die Organisation ihrer Macht, auf den Macht­ apparat der sie trug – weil sie sonst sehr rasch in ihre bloße Amtsmacht zurückgefallen wären. Sie beherrschten viele jener Personen und Institutionen, die verkürzt „Regierung“ heißen, und sie schöpften daraus die personale Macht, die sie besitzen mußten, damit sie durch diese Regierung das Land draußen wirklich regieren konnten.



Das Paradox der Macht265

Denn einem Inhaber personaler Macht, also dem Inhaber von wirklicher Macht, die größer ist als seine formelle Macht, entgleitet die größere Macht, wenn er sie nicht fortlaufend erneuert. Seine personale Macht ist nicht durch Amtsmacht, sondern allein durch ihn begründet worden, und allein durch ihn existiert sie fort. Um die Machtfülle, die er für sich aktualisiert hat, zu halten, muß er mehr als bloß ihr Inhaber sein: Er muß vor allem ihr Schöpfer sein, der sie stets neu erzeugt. Regierungsmacht ist ein Prozeß der Machtschöpfung. Eine Regierung ist daher alles andere als nur die Agentur des Politikers. Sie ist selber eine Sache der Politik, ihr erstes, und, in gewissem Sinne, ihr wichtigstes Produkt. Die Machtschöpfung setzt schon in dem Feld der Informationen an, aus welchen der Inhaber von Regierungsmacht sein politisches Wissen gewinnt. Man könnte meinen, daß sein Amt insofern gut organisiert sei, als Mitarbeiter aus der Masse der ständig angesammelten Informationen das herausfiltern und zu einer handgerechten Vorlage verarbeiten, was für ihn an Information relevant ist. Dies wäre ein Irrtum. Denn jede Information am Hofe der Macht bezweckt etwas Politisches. Der Inhaber exekutiver Macht wird schnell zum Gefangenen des Informationssystems in seinem Amt, wenn er dasselbe nicht beharrlich durchbricht und seine Arbeitsweise darauf anlegt, in der Gewinnung seiner Informationen unabhängig und darüber hinaus fähig zu sein, das, was er von einer Informationsquelle weiß, durch eine andere kontrollieren zu können. Bundeskanzler Adenauer griff zu dem Verfahren, die Informationen, die er erhielt, von allen Intentionen ihrer Überbringer dadurch abzutrennen, daß er diesen keine Gelegenheit bot, über den Eindruck, den das Mitgeteilte auf ihn machte, etwas Wesentliches zu erfahren. Er hörte seinen Besuchern aufmerksam zu, nahm alles auf, was man ihm sagte – und schwieg sich weitgehend darüber aus, was er von all diesem hielt. Seine Besucher verließen ihn, ohne zu wissen, ob und, wenn ja, mit welchem Ergebnis sie ihn „beeinflußt“ hatten. Präsident Roosevelt bezog nicht nur sein Wissen aus einer Vielzahl verschiedener Informationskreise. Er benutzte auch immer mehrere für eine Sache zugleich. Daher konnte er gewöhnlich zu jedem Bericht, den er zu einer bestimmten Angelegenheit erhielt, aus einem oder mehreren anderen, aber komplementären Berichten noch weitere Informationen hinzufügen und so den jeweiligen Berichterstatter der unvollständigen oder gar fehlerhaften Arbeit überführen. Die Berichterstatter konnten oft nichts dafür, hatte Roosevelt doch alles von vornherein so arrangiert, daß sie sich in dem Netz verheddern mußten, das er über sie mit seinen vielen, sich überschneidenden Informationskreisen zog.

266

Das Paradox der Macht

Andere Personen zu dem zu bewegen, was man selber will – dies ist überhaupt das zentrale Problem einer Strategie der Machtschöpfung. Wer regiert, kann nie ohne andere regieren – oder er beherrscht nur noch Details und nicht mehr das Ganze. Jimmy Carter kümmerte sich um alles und jedes und blieb darob weitgehend machtlos im Amt des Präsidenten. Ein Kanzler oder ein Präsident muß die Verantwortung und die Kompetenzen für seine Regierungsgeschäfte verteilen, aber er muß sie so verteilen, daß er in allem regiert, auch wenn für ihn viele andere im einzelnen „regieren“. Präsident Eisenhower gliederte seine Mitarbeiter zu einer doppelten Struktur der Kompetenzverteilung. Einerseits übertrug er an einzelne ganz offen Regierungsverantwortung; dadurch entstand die äußere Struktur einer Machtdelegation. Andererseits zog er einige wenige Mitarbeiter dazu heran, alle anderen bei der Arbeit diskret zu beobachten und zu überprüfen; dadurch entstand die innere – und weit weniger sichtbare – Struktur einer Machtkonzentration. Kanzler Adenauer schottete die Personen, die ihm regieren halfen, systematisch voneinander ab; die dienstlichen Arbeitsvorgänge waren so geregelt, daß sie alle auf Adenauer zuliefen und daher niemandem so recht einen Grund gaben, mit jemandem anderen zu kooperieren. Die Kompetenzen waren verteilt, aber im Vollzug derselben hielt jeder jeden anderen auf Distanz, oder er überschritt seine Kompetenzen; sich mit anderen zu verständigen, war allein Adenauers Privileg. Er regierte, und die ihm regieren halfen, halfen ihm, daß nur er regierte. Roosevelt wiederum zog um sich Kreise, zahllose Kreise von Kompetenzen, die sich überschnitten und überlagerten; ein chaotisches Gewirr. Keiner, der ihm regieren half, entkam diesem Gewirr; jedem wurde ein Kompetenzbereich zugeteilt, den die Bereiche anderer durchdrangen, nur wußte dieser oft längere Zeit nicht, daß es sich so verhielt, und wenn er es erfuhr, war er sich meistens immer noch ungewiß, wie viele Kreise er störte und wessen Kreise es waren. Darüber hinaus drückte sich Roosevelt häufig sehr undeutlich aus, wenn er jemandem die Verantwortung in einer bestimmten Sache übertrug; um überhaupt handeln zu können, musten seine Mitarbeiter den Umfang ihres Handelns selber abstecken; dabei stießen sie unweigerlich gegeneinander – und genau dies hatte Roosevelt bezweckt: Wer sich durchsetzte, gehörte zu den Fähigen, die er aufspüren und an sich ziehen wollte, und überdies verhalfen ihm die Konflikte unter seinen Mitarbeitern dazu, gegenüber allen der überlegene Vermittler und Schiedsrichter zu sein. Wenn die Macht des Regierens auf viele andere in einer Weise verteilt werden soll, daß diese im einzelnen „regieren“, man selbst aber in allem regiert – dann gibt es ganz bestimmte Personen, mit denen diese Strategie der Machtschöpfung besonders gut gelingt. Es sind die Freunde des Regierenden.



Das Paradox der Macht267

Freunde rebellieren nicht, wenn sie in die Pflicht genommen werden. Einem Freund kann man viel mehr antun, als man einem Fremden je antun könnte. Und Freunde haben sich längst entschieden, wer von ihnen der Erste ist, bevor dieser der Erste im Staate wird. Auch Freunde müssen beherrscht werden, wenn man mit ihnen regiert, aber sie können nicht anders regieren als man will – sie wären sonst keine Freunde. François Mitterrand regiert Frankreich, er regiert Frankreich im Élysée, und er regiert Frankreich im Élysée mit seinen Freunden. Es sind nicht wenige, ihre freundschaftlichen Bande mit Mitterrand sind differenziert, und sie haben ganz verschiedene Rollen inne. Sie gliedern sich auf in mehrere Freundeskreise, die sich teilweise überlagern und deren Zusammensetzung sich häufig verändert. In ihrer fließenden Konfiguration gibt es nur ein beständiges Element, das ist Mitterrand selbst, der jeden dieser Kreise als der Mittelpunkt, der ihnen gemeinsam ist, konstituiert. Eine derzeitige Momentaufnahme der gens Mitterrandia ergibt folgendes Bild: Zum Kreis der ältesten Freunde Mitterrands gehören im Élysée Guy Penne, der für den außenpolitisch überaus bedeutsamen Bereich der französischen Afrikapolitik, und Charles Salzmann, der für Meinungsumfragen und Gesellschaftsanalysen zuständig ist, sowie François de Grossouvre, der bis zum 1. Juli 1985 hauptamtlich mit besonderen, meist geheimen Aufgaben betraut war, und diesen seitdem „nur“ noch als Freund Mitterrands nachgeht, dessen Alter ego er überdies ist. Andere Mitglieder dieses Kreises, die zuvor im Élysée gearbeitet haben, sind mittlerweile an wichtigen Außenstellen der Regierung Mitterrand tätig: André Rousselet bei Havas, einer Agentur für das private Fernsehen; Paul Guimard bei der Haute Autorité de la Communication Audiovisuelle, einer Art Medienkommission; Paul Legatte beim Conseil Constitutionnel, dem französischen Verfassungsrat; Pierre Nicolay beim Conseil d’État, dem Staatsrat. Weitere Außenbeziehungen des Élysée, sowohl in Frankreich als auch im Ausland, werden von Mitgliedern der Familie Mitterrands betreut: von Mitterrands Sohn Jean-Christophe (der eine Zeitlang im Élysée angestellt war), den Brüdern Jacques und Robert Mitterrand, der Schwester Geneviève Delachenal, dem Neffen Jacques Landry. Ein anderer Kreis Mitterrandscher Freunde setzt sich aus Personen zusammen, die Regierungsämter bekleiden oder sich mit dem Staatschef im Élysée als Privatpersonen treffen, um politische Angelegenheiten zu beraten – und zu entscheiden. Zu diesem Kreis zählen: Jack Lang, der französische Kulturminister, Georges Beauchamp, der schon genannte André Rousselet, Patrice Pelat, François Dalle, Christine Gouze-Renal, die Schwester von Mitterrands Frau Danielle, sowie Roger Gouze, deren Bruder.

268

Das Paradox der Macht

Auch der Schwager Mitterrands, Roger Hanin, ist am Prozeß des Regierens beteiligt, im letzteren wie in einem weiteren Kreis, der sich insoweit noch mehr in den persönlichen Bereich erstreckt, als er sich in Mitterrands Privatwohnung in der Rue de Bièvre versammelt. Neben Roger Hanin gehören diesem Kreis unter anderem an: Irène Dayan, die Frau eines verstorbenen, sehr engen Freundes Mitterrands, Jean Riboud von der großen Industriefirma Schlumberger, die schon erwähnte Christine Gouze-Renal, Roland Dumas, der derzeitige Außenminister, sowie Jean-Noël Jeanneney, der Intendant von Radio France. Jedes Jahr an Pfingsten trifft sich Mitterrand bei Cluny mit Freunden zu einer längeren Wanderung, einem politisch-persönlichen Ritual, das fast schon so legendär ist wie die machthütende Einsamkeit de Gaulles in Colombey-les-deux-Églises. Zu diesem Kreis gehören Charles Hernu, der französische Verteidigungsminister, und Kulturminister Jack Lang. Und im Élysée selber hat sich Mitterrand außer mit seinen älteren Freunden noch mit einem größeren Kreis von.jüngeren Mitarbeitern umgeben, mit denen er das persönliche Vertrauen teilt, das politische Freunde füreinander haben. Im täglichen Regierungsgeschäft verwalten und wachen sie über die arcana imperii Mitterrandscher Macht: Jacques Attali, Jean-Louis Bianco, Michel Charasse, Jean-Claude Colliard, Jean Glavany, Michel Vauzelle. Fließende Konfigurationen von Freundeskreisen formen die Regierungspraxis französischer und amerikanischer Präsidenten sowie deutscher Bundeskanzler. An dieser Feststellung ist nichts Schockierendes – es sei denn, man vergißt, daß schon seit langem die Kunst der Politik und die Kunst der Freundschaft miteinander verbunden sind und, früher wie heute, in vielfältigen Formen als Eines praktiziert werden. Doch die Regierenden im Weißen Haus, im Élysée, im Bundeskanzleramt haben während der letzten Jahrzehnte überdies die personale Einbindung ihres Regierens immer stärker ausgeformt und dadurch zusehends „regierungsähnlicher“ gemacht. Aus den fließenden Konfigurationen von Freundeskreisen entstanden fließende Konfigurationen exekutiver Macht, die beschrieben werden können als eine „zweite Regierung“. Die zentralen Orte dieser Konfigurationen sind das Weiße Haus, der ­ lysée, das Bundeskanzleramt – Regierungsgebilde, die keine der jeweiligen É Verfassungen vorsah. Ein Maß für die Bedeutung dieser Orte ist die Zahl derer, die dort beschäftigt sind. Sie hat sich anhaltend erhöht: beim Bundeskanzleramt von 111 Personen im Jahre 1949 auf 483 Personen im Jahre 1985. Die personelle Stärke des Élysée ist auf derzeit 744 Personen angewachsen. Und die Zahl der Personen, die im Weißen Haus arbeiten, hat in den letzten Jahren zwischen 500 und 600 geschwankt. Doch der amerikanische Präsident verfügt nicht nur über Mitarbeiter im Weißen Haus, sondern



Das Paradox der Macht269

auch über all jene, die in den zahlreichen Ämtern, Beiräten und Behörden arbeiten, aus denen insgesamt das Executive Office des Präsidenten besteht. Dieses Office umfaßt fast 5.000 Personen. Auch der Bundeskanzler kann über sein Amt hinaus auf weitere Mit­ arbeiter zurückgreifen – im Bundespresseamt beispielsweise, in dem derzeit 720 Personen tätig sind. Die Angehörigen des Bundeskanzleramts und die des Bundespresseamts befinden sich, wenn sie ihre Situation amtlich erklären, in zwei getrennten Institutionen, von denen jede für sich eine Oberste Bundesbehörde ist. Wenn sie ihre Situation hingegen politisch interpretieren, wissen sie sehr wohl, daß sie sich in einer Konfiguration exekutiver Macht, der des Bundeskanzlers, befinden. Die zentralen Orte der Konfigurationen exekutiver Macht sind in sich wieder in kleinere machtgeometrische Figuren gegliedert. So sehr sich Präsidenten und Kanzler in ihrem persönlichen Arbeitsstil unterscheiden, so erscheinen ihre engsten Mitarbeiter doch immer wieder in der Figur des „Kleeblatts“ oder des „Dreiecks“. Ebenfalls regelmäßig – soweit es hier Regelmäßiges gibt – nimmt jemand den Platz des Alter ego ein, der anderen Person, in der sich der Regierende so sehr geschützt weiß, daß man durch sie unmittelbaren Zugang zu ihm findet. Wieder andere Personen erscheinen in der Figur von Hoftheologen oder in der von Mandarinen, die ihre eigene, kleinere Machtoperation am zentralen Ort der Macht betreiben. Jeweils eine größere Anzahl von Mitarbeitern umfassen die Einheiten, die im Bundeskanzleramt „Referate“ oder „Gruppen“, im Élysée „Cabinets“ oder „Secrétariats“ und im Weißen Haus „Offices“ heißen. Während diese Einheiten noch mehr oder weniger sichtbar sind, gehören die Gebilde, die sich aus den zentralen Orten in den zwischen- und außerinstitutionellen Raum hinaus erstrecken, schon großenteils einer Terra incognita an. Und doch sind sie die bevorzugten Instrumente für Entscheidungen. Es sind geschmeidige Instrumente, die den Wendungen politischer Abläufe aufs engste angepasst und doch in ganz unverfänglicher Weise eingesetzt werden können: ein Ausschuß für das und ein „Committee“ für jenes, ein solcher „Rat“ und ein solcher „Conseil“, ein Ad-hoc-Gremium für dieses oder eine „Task force“ für jenes Problem. Wer immer zu diesen Gebilden eingeladen wird, aus denen setzen sie sich auch zusammen. Ihre Form ist flüssig, ständig veränderlich. Sie umfassen Regierende quer durch die Institutionen des Regierungswesens – und nicht selten Personen von außerhalb. An diesen Erläuterungen ist nichts Geheimnisvolles – es sei denn, man übersieht die Wirklichkeit allen Regierens: Personen. Denn das, was wir in verdinglichender Sprache „Regierung“ nennen, gibt es nicht. Was es gibt, sind Personen – Personen, die regieren.

270

Das Paradox der Macht

In den konstitutionellen Regimen wie denen der Bundesrepublik, der Vereinigten Staaten und der Fünften Republik sind die Personen, die regieren sollen, in ein Paradox der Macht gestellt. Sie sollen und können nicht allein regieren; durch die Verfassungen ist die politische Macht nicht auf einen oder wenige konzentriert, sondern auf viele verteilt: Macht soll – in den Worten Montesquieus – Macht begrenzen. Doch diese Zerteilung der Macht ist auch ein elementares Machthindernis: für eben die Personen, die regieren sollen. Die Lösung, die amerikanische, französische Präsidenten, deutsche Bundeskanzler gefunden haben, war immer diese: der Entwurf von Regierungsmacht als personaler Macht und die Realisierung dieser personalen Macht in einer „zweiten Regierung“. Dieser Entwurf beruht auf dem personalen Element politischen Handelns. Die „zweite Regierung“ kann daher nie zur eigentlichen Regierung werden – sie wäre sonst wirkungslos. Doch ebenso wirkungsschwach wäre die institutionelle Regierung ohne die partiell verborgenen Konfigurationen exekutiver Macht. Das Paradox der Macht kennt nur eine fortlaufende Lösung: das unendliche Spiel exekutiver Macht zwischen personaler Verborgenheit und institutioneller Offenbarung.

V. Französische Perspektiven

Ansätze zu einer Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich „Die Partei ist, wie schon das Wort (pars) bedeutet, allerdings nur ein Theil eines größeren Ganzen, niemals dieses Ganze selbst. Die politische Partei kann daher auch nur das Bewußtsein eines Theils der Nation in sich haben; sie darf sich niemals mit dem Ganzen, dem Volk, dem Stat identificiren. Keine Partei kann für sich allein bestehen; nur die Gegenpartei neben ihr macht ihr Dasein und ihre Entwicklung möglich. Die Faction ist das Zerrbild der Partei, die entartete Partei. So nöthig und nützlich die Parteien sind auf der höheren Stufe des bewußten und freien Statslebens, so unnöthig und verderblich sind die Factionen. Im gesunden Leben der Völker entwickeln sich die Parteien, in krankhaften Zuständen gewinnen die Factionen an Macht. Die Parteien vervollkommnen den Stat, die Factionen zerreißen ihn.“ J. K. Bluntschli, Charakter und Geist der Politischen Parteien, 1869.

Verwirrende Phänomene Wer sich mit den politischen Parteien im heutigen Frankreich beschäftigen und dabei zu mehr als oberflächlichen Impressionen gelangen will, wird sehr rasch feststellen müssen, daß er nur so lange imstande ist, den Gegenstand seines Interesses in festen Umrissen und einer gleichförmigen Beschaffenheit wahrzunehmen, wie er sich an die sprachlichen Konventionen des politischen Alltags hält. In der alltäglichen, vorwissenschaftlichen Beschreibung politischer Prozesse werden in Frankreich wie anderswo ganz selbstverständlich Institutionen ausgemacht, die „politische Parteien“ zu nennen wären, da sie im allgemeinen die politischen Funktionen erfüllen, die man gemeinhin mit dem Begriff „Partei“ assoziiert. Diese unreflektierte Gewißheit über den Gegenstand hält einer wissenschaftlich-analytischen Betrachtungsweise jedoch keineswegs stand. Denn im Modus einer wissenschaftlichen Analyse erscheinen die französischen Parteien und deren Konfigurationen sowohl als äußerst

Dem Text liegt der Habilitationsvortrag zugrunde, den der Verf. am 18. Januar 1978 vor der Fakultät der Sozialwissenschaftlichen Abteilung der Ruhr-Universität Bochum gehalten hat. – Das Manuskript wurde am 6. Mai 1978 abgeschlossen. Erstdruck in: Zeitschrift für Politik 25 (1978), S. 357–376.

274

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

komplexe wie sich häufig verändernde Phänomene1. Und so könnte der Analytiker durchaus versucht sein, sich der Aufgabe, diese Phänomene zu erklären, dadurch zu entledigen, daß er sie bloß beschreibt. Dies würde das Eingeständnis bedeuten, daß die Wandlungen der französischen Parteien so häufig und deren Vielgestaltigkeit so verwirrend sind, daß es kein Erklärungsmodell geben könne, das diese Erscheinungsformen politischer Parteien in Frankreich zureichend erhellt. Und, in der Tat, wie sollte es möglich sein, analytisch diesen Erscheinungsformen beizukommen, wenn sie sich durchaus zu der Konfusion steigern können, wie sie Jacques Faizant in einer Karikatur französischen Parteiwesens festgehalten hat:

„Es versteht sich von selbst, daß die wichtigen Anträge der Theorieuntergruppe,

die wir im Kreis der Untersektion der Minderheitsfraktion bilden,

die ihrerseits von der autonomen Tendenz des­ jenigen Teils unserer Bewegung abgelöst ist,

1  Hinsichtlich dieser spezifischen Erscheinungsweise französischer Parteien führten z. B. André Siegfried und Maurice Duverger im Abstand von fast vierzig Jahren dasselbe aus: „Es gibt bei uns keine, im englischen Sinne dieses Begriffs, organisierten Parteien; wir haben nur Gruppen, die so unbestimmt in der Kontur und so beweglich sind wie Wolkengruppen, und fast immer ohne wirkliche Disziplin“ (A. Siegfried, Das heutige Frankreich. Sein Charakter. Seine Politik. Seine Parteien, Stuttgart 1931, S. 39). – „La première originalité de nos partis politiques, c’est leur faiblesse, leur infirmité. On appelle ‚partis‘ chez nous des étatsmajors sans troupes, des comités sans. militants, des petits groupes de notables locaux, des poignés de politiciens professionnels ou semi-professionnels, sans rapport avec les grandes organisations populaires qui portent ce nom dans les nations voisines“ (M. Duverger, La Démocratie sans le peuple, Paris 1967, S. 7).



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich275

die sich wieder vereint hat mit der unabhängigen, ergänzenden Kraft,

die unsere Verbindungsgruppe

in der zeitweiligen Koalition der Ideenströmungen darstellt,

die von der Spaltung der großen politischen Blöcke ausgegangen ist,

(daß diese Anträge) das Verlangen eines jeden einzelnen

Bürgers nach einer europäischen Einheit artikulieren.“

Einschränkend muß hier jedoch sogleich hinzugefügt werden, daß eine derartige Konfusion in der gegenwärtigen Parteienlandschaft Frankreichs allenfalls als partielle Erscheinung auftreten und wohl kaum deren Zustand im Ganzen kennzeichnen wird. Dafür gibt es ganz bestimmte Gründe, von denen ich hier die zwei wichtigsten und daher auch bekanntesten kurz anführen möchte: Erstens: Durch die Verfassung der V. Republik wurden den Parteien – im Vergleich zur IV. Republik – die wichtigsten Funktionen im Prozeß der Herrschaftsbestellung und Herrschaftsausübung entzogen; diese wurden auf den

276

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

Präsidenten der Republik übertragen. Die Vorstellung von der dementsprechend veränderten Funktion der Parteien wurde von den Gaullisten – bis vor einiger Zeit – am beispielhaftesten vertreten und auch praktiziert. Demnach füllen Parteien im Institutionengefüge der V. Republik keine eigentlich politische, sondern eine subsidiäre Rolle aus: Ihre vornehmste Aufgabe ist die Unterstützung des Präsidenten, die Absicherung seiner Politik im gesetzgeberischen Prozeß des Parlaments. Zweitens: Das Wahlrecht für die Nationalversammlung ist so angelegt, daß die Mehrheitsbildung in der Assemblée Nationale durch eine oder einige wenige Parteien begünstigt, der Einzug kleiner Parteien und damit die Zersplitterung der Volksvertretung in viele Fraktionen behindert wird. Und die Bestimmungen für die Wahl des Präsidenten der Republik zwingen die Parteien geradezu, sich wenigstens soweit zusammenzuschließen, daß sich am Ende nur noch zwei Wahlblöcke – wenn nicht schon im ersten, so doch schließlich im zweiten Wahlgang – gegenüberstehen2. Wenn auch die Rahmenbedingungen des Regierungs- und Wahlsystems der V. Republik sich in stabilisierender und konzentrierender Weise auf das französische Parteiengefüge ausgewirkt haben, so ist dieses noch immer, wenn auch in geringerem Maße, durch seine komplexen und nicht selten sich wandelnden Erscheinungsformen gekennzeichnet. Ein Versuch, es zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse zu machen, wäre daher unzureichend angelegt, wenn er allein bei dem äußeren Bild ansetzen würde, das die französischen Parteien bieten. Vielmehr müßte vor allem danach gefragt werden, ob es nicht hinter der Vielfalt ihrer sehr veränderlichen Erscheinungsformen konstante Grundzüge und Prozeßmuster gibt, durch deren Erhellung es möglich würde, diese Erscheinungsformen einzuordnen in eine adäquate Erklärungsstruktur. Mutationen Wenn man die verschiedenen Parteiformationen im zeitlichen Längsschnitt – etwa im Zeitraum von 1944 bis 1977 – betrachtet, wird man entdecken, daß nur sehr wenige den ganzen Zeitraum über bestanden haben. Alle anderen sind entweder verschwunden, nachdem sie schon vor oder gerade zu Beginn dieses Zeitraums gegründet worden waren, oder wurden erst 2  Vgl. z. B. dazu: D. Pickles, The Fifth French Republic. Institutions and Politics, London 1968, S. 47 ff.; dies., The Government and Politics of France, Bd. I, Institu­ tions and Parties, London 1973, S. 149 ff.; Douglas W. Rae, The Political Consequences of Electoral Laws, New Haven/London 1967; F. Borella, Les partis politiques dans la France d’aujourd’hui, Paris 19742, S. 45 ff.; J. A. Laponce, The Government of the Fifth Republic: French Political Parties and the Constitution, Berkeley 1961.



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich277

später gegründet und sind mittlerweile auch verschwunden oder sind erst vor einigen Jahren gebildet worden und bestehen noch. Diese Entdeckung würde nichts Besonderes offenbaren, wenn sie allein zu der Feststellung führte, daß diese Kette von auftauchenden und wieder verschwindenden Parteiformationen nichts anderes als eine Abfolge von unterschiedlichen, jeweils ganz anderen und ganz neuen Parteien wäre. Von wenigen Ausnahmeerscheinungen abgesehen, stellen die Auflösungen und Neubildungen der Parteiformationen jedoch nicht das Ende älterer und die Gründung neuer, sondern vielmehr die Mutationen ein und derselben Parteien dar. Politische Parteien in Frankreich weisen offenbar das besondere Merkmal auf, daß sie sich als „Partei“ verschiedentlich auflösen, um sich dann wieder neu zu formieren. So haben sich beispielsweise die Partei der Gaullisten zwischen 1944 und 1976 insgesamt achtmal – also durchschnittlich alle vier Jahre – und die Partei der Anhänger Giscard d’Estaings zwischen 1962 (dem Jahr ihrer Gründung) und 1977 insgesamt dreimal – also durchschnittlich alle fünf Jahre – aufgelöst und wieder neu formiert3.

3  Die Umwandlung der „Fédération Nationale des Républicains Indépendants“ (wie sich die Giscardianer von 1966 bis 1977 nannten) in den „Parti Républicain“ wurde auf einem (Gründungs-)Parteitag am 19./20. Mai 1977 in Fréjus vollzogen. Im Gründungsmanifest werden – wie schon so oft und in so vielen anderen Fällen zuvor – wieder das ganz „Neue“, die „Union“ jenseits ideologischer, politischer Differenzen, und – im Rückbezug auf die Französische Revolution – das Credo des Republikanismus akzentuiert: „Avec le Parti Républicain, voici le temps de renouveau …“ (Parti Républicain, Fréjus Mai 1977, S. 3). „Le parti républicain est d’abord une union: l’union de tous ceux qui se réclament de l’action du Président de la République  …“ (ebenda, S. 6). „Le Parti Républicain n’a pas choisi son nom au hasard. Son ambition est d’être digne de l’idéal de la Revolution française, qui a inspiré deux siècles d’histoire républicaine et qui s’incarne dans les institutions de la Ve République  …  Aujourd’hui, à son tour, le Parti Républicain veut porter l’espérance des Français  …  Cette autre dimension de la politique exige un nouveau langage  …  Ensemble,  …, nous construirons un grand parti pour la République  … A Fréjus est né un nouveau parti: le nôtre“ (ebenda, S. 21 f.).

278

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

Die folgenden drei Schaubilder stellen die Mutationsprozesse bei den Gaullisten, den Unabhängigen Republikanern (Giscardianer) und den Zentristen dar:

RPF = Rassemblement du Peuple Français UNR = Union pour la Nouvelle République UDT = Union démocratique du Travail UD-Ve Rép. = Union des Démocrates pour la Ve République UDR = Union des Démocrates pour la République RPR = Rassemblement pour la République

CNI = CNIP = FNRI = PR =

Centre National des Indépendants Centre National des Indépendants et Paysans Fédération Nationale des Républicains Indépendants Parti Républicain



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich279

MRP = Mouvement Républicain Populaire CNIP = Centre National des Indépendants et Paysans

Nun ist wohl kaum anzunehmen, daß diese Umbildungen etwa deshalb stattfinden, weil die Beteiligten ein Vergnügen darin finden oder vielleicht meinen, Manöver in der Organisationstechnik von Parteien durchführen zu müssen. Eine solche Annahme würde auch spätestens durch eine Analyse der zahlreichen Fälle derartiger Umbildungen widerlegt. Diese ergibt nämlich einen empirischen Befund, demzufolge die Mutation einer Partei dann am wahrscheinlichsten ist, wenn eines oder mehrere der folgenden Probleme in der Existenz dieser Partei gelöst werden müssen: 1. Eine Partei soll sich in ihrem Organisationsmodus ändern, soll sich also beispielsweise von einer reinen Honoratiorenpartei – einem parti de no­ tables – zu einer Partei mit einer großen und aktiven Mitgliederschaft – einem parti de militants – entwickeln.

280

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

2. Eine Partei soll „erneuert“ werden, so daß sie im Verfolgen ihrer politischen Ziele aktiver und erfolgreicher sowie attraktiver für potentielle Mitglieder und Wähler wird. 3. Eine Partei unterliegt dem Prozeß einer allgemeinen ideologischen und politischen Um- bzw. Neuorientierung. 4. Eine Partei durchläuft Spaltungs- und Wiedervereinigungsprozesse, bei denen die einzelnen Teile im Falle der Spaltung ihre frühere Identität soweit bewahren, daß eine Wiedervereinigung möglich bleibt, und im Falle einer Wiedervereinigung ihre innerparteiliche Autonomie soweit treiben, daß sich auch zukünftig Spaltungen ereignen können. 5. Eine Partei soll neueren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen angepaßt werden, wie zum Beispiel strukturellen Veränderungen in der allgemeinen Wählerschaft, einem bevorstehenden Herrschaftswechsel, für den personelle und organisatorische Alternativen bereitzuhalten sind, oder auch und nicht zuletzt Veränderungen bei den anderen Parteien. 6. Eine Partei soll eine neue Führung erhalten. Tendenzen und „Familien“, „Links“ und „Rechts“ Das Phänomen der häufigen Auflösungen und Neukonstituierungen französischer Parteien ist jedoch mit einer Erhellung der möglichen Veranlassungen zu solchen Mutationen noch nicht ausreichend analysiert. Vielmehr sollte es doch wohl auch unter dem Aspekt der Frage untersucht werden, worin im einzelnen Fall die Kontinuität und Identität einer Partei überhaupt bestehen könnten, wenn diese „Partei“ in relativ kurzer Zeit in ganz unterschiedlicher Form – unter verschiedenen Namen, mit anderen Statuten, einer anderen Führung und anderen Organisation – auftritt? Oder prägnanter formuliert: Was ist das für eine „Partei“, die offenbar jenseits institutioneller Formen existiert und sich als Institution nur in einer Abfolge von „Parteien“ zeigt? Diese Frage kann – zumindest teilweise – mit Hilfe eines Querschnitts durch die gesellschaftliche und kollektiv-psychologische Tiefendimension der französischen Parteien beantwortet werden. Wie durch das folgende Schaubild verdeutlicht wird, dehnt sich diese Tiefendimension in drei Stufen aus: – An der Oberfläche befinden sich die Parteien in ihrer äußeren Form als gesellschaftliche und politische Institutionen. – Weiter tiefer erscheinen jene umfassenderen, größeren parteipolitischen oder ideologischen Gruppierungen, die in Frankreich die „politischen Fa-



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich281

milien“ genannt werden: Die Konservativen, die Linken, die Zentristen, die Gaullisten … – Und noch weiter in der Tiefe wird im allgemeinen nur noch die ganz grundsätzliche Konstellation von zwei sich gegenseitig ausschließenden Lebenshaltungen, der Dualismus von „Rechts“ versus „Links“, ausgemacht. Im einzelnen sei zu diesen „Stufen“ – in der soeben genannten Reihenfolge – noch folgendes ausgeführt: Innerhalb der französischen Parteien treten – wie bei Parteien in anderen Ländern auch – unterschiedliche ideologische oder interessenpolitische Strömungen und Tendenzen – courants, tendances genannt – auf. In vielen Fällen jedoch sind diese courants in ihrer personellen Repräsentation und innerparteilichen Organisation so sehr voneinander abgegrenzt und befinden sich in so starker Konkurrenz zueinander, daß die betreffende Partei weniger eine in sich einheitliche als vielmehr eine föderativ aufgebaute Partei darstellt. François Borella zufolge setzt sich zum Beispiel die neue Sozialistische Partei unter Mitterrand aus mindestens vier courants zusammen: einem mittleren Flügel, gegenwärtig in der Minderheit und an einer größeren Distanz zur Kommunistischen Partei interessiert, einem traditionellen Flügel, Restbestand aus der alten Sozialistenpartei, der S.F.I.O., einem linken Flügel, organisiert im Centre d’études des recherches et d’éducation socialiste (C.E.R.E.S.) und

282

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

einem pragmatischen, modernistischen Flügel, dem Mitterrand selbst angehört4. 4  F. Borella, Les partis politiques dans la France d’aujourd’hui, S. 165. – Jean-François Bizot vermerkt ebenfalls vier Tendenzen im P.S. und identifiziert sie im einzelnen wie folgt: a) die Anhänger Mitterrands, ⅓ der Mitglieder, b) die Anhänger von Pierre Mauroy, ¼ der Mitglieder, c) der C.E.R.E.S., ¼ der Mitglieder, und d) die Gruppe der „autogestionnaires“, 10–15 % der Mitglieder (J.-F. Bizot, Au parti des socialistes, Paris 1975, S. 15). – Einem parteieigenen Bericht vom Gründungskongreß des P.S. (11. bis 13. Juni in Epinay-sur-Seine) zufolge könnten auch fünf Tendenzen unterschieden werden: „Le congrès d’unification est convoqué pour les 11, 12 et 13 juin à Epinay-sur-Seine. Le débat s’engage autour de cinq grandes motions suivantes: – Savary-Mollet qui préconise la poursuite d’un débat idéologique avec le Parti communiste  …  – Poperen qui invite à discuter des garanties que la P.S. est en droit d’exiger du P.C.  …  – Nord-Bouches-du-Rhône qui prône un accord avec les radicaux et des conversations avec les communistes marquées du sceau de la prudence. – Mermaz-Pontillon qui suggère des ripostes concertées avec le P.C., des initiatives communes au Parlement … – le C.E.R.E.S. qui propose la conclusion avec le P.C. d’un programme commun de gouvernement. Au vote indicatif, les délégués répartissent ainsi les mandats dont ils sont porteurs: Savary-Mollet 30400 (34 %), Poperen: 10900 (12 %), Defferre-Mauroy: 25900 (30 %), Mermaz-Pontillon: 14400 (15 %), C.E.R.E.S.: 7800 (8,5 %)  …  En commission des résolutions, deux synthèses sont réalisées entre les motions Mermaz-Pontillon, Nord-Bouches-du-Rhóne et ­ C.E.R.E.S. d’un côté, Savary-Mollet et Poperen d l’autre. Les tenants du débat idéologique s’opposent aux partisans d’une discussion sur des thèmes concrets avec le P.C. Par 43926 mandats contre 41757, c’est cette dernière position qui est approuvée par le congrès. Les organismes dirigeants étant désormais désignés à la représentation proportionelle, sur la base des votes indicatifs, le comité directeur comprend 28 Savary-Mollet, 23 Mauroy-Defferre, 13 Mermaz-Pontillon, 10 Poperen et 7 C.E.R.E.S“ (Secrétariat National à la Formation du Parti Socialiste (H.), Histoire du Parti Socialiste. De l’unité de 1905 à l’unité de 1971, S. 69 f.). – Vgl. auch die folgenden Ausführungen zum Kongreß des P.S. in Grenoble vom 22. bis 24. Juni 1973: „Ce Congrès a été soigneusement préparé aussi bien par M. Mitterrand et ses alliés que par les animateurs des tendances qui s’opposent à lui  …  La principale de ces tendances est constituée par le C.E.R.E.S., aile marchante et puissante du parti, qui souhaiterait que celui-ci prenne nettement parti en faveur de l’autogestion; … Deux autres tendances présentent au Congrès des projets de motion. Il s’agit de ‚Bataille socialiste‘ … et de la tendance ‚Poperen‘ … Ces tendances reprochent à M. Mitterrand d’assurer un pouvoir personnel. C’est en fait le problème clé du parti. M. Mitterrand, appuyé par M. M. Defferre et Savary, est assuré de 65 % des mandats. Son courant est donc largement majoritaire“ (L’Année politique, économique, sociale et diplomatique en France 1973, Paris 1974, S. 61 f.). – Die Annäherung des P.S. unter Mitterrand an die Kommunisten hat aber auch einige Gruppen (courants, tendances?) dazu veranlaßt, die Sozialistische Partei zu verlassen und eigene Parteien zu gründen: so den Mouve­ ment Démocrate Socialiste (M. Lejeune, E. Muller), die Présence Socialiste (L. Boutbien) und die Fédération des Socialistes Démocrates (E. Hintermann). Anläßlich des Ausscheidens der von ihm angeführten „3. Tendenz des Sozialismus“ aus dem P.S. und seiner Konstituierung als „F.S.D.“ hielt Eric Hintermann eine Rede, die sehr illustrativ für die komplizierten Zusammenhänge „Partei – Tendenzen – Familie“ ist: „Chers Camarades, Je m’adresse à vous, au nom de la troisième tendance: celle d’un



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich283

Bei anderen Parteien ist es ähnlich: In seiner Studie über die älteste französische Partei, die Radikalen, hat de Tarr sechs courants unterschieden: radicaux classiques, radicaux de gauche, néo-radicaux, radicaux gaullistes, radicaux de gestion, radicaux mendésistes5. Und bei der Republikanischen Partei, den früheren Unabhängigen Republikanern, der Partei Giscard d’Estaings, meldeten sich wenige Monate nach ihrer Neugründung im Mai 1977 sogenannte giscardiens de gauche, „Linksgiscardianer“, öffentlich in einer überregionalen Tageszeitung zu Wort und stellten sich als die Vertreter einer eigenständigen Version des Giscardianismus vor6. socialisme sans lien avec le parti communiste et d’une politique réformiste plutôt que de rupture avec la société actuelle … la troisième tendance est interdite au P.S. depuis le congrès de Pau où j’ai eu la tâche difficile d’être son représentant après l’avoir été pendant 6 ans au Comité Directeur, votant toujours, et, sur la fin, seul, contre l’alliance privilégié avec le Parti Communiste. En effet, depuis début 1975, la tendance socialiste sans les communistes a été privée de toute représentation dans les instances nationales  …  La Fédération des Sociales Démocrates est un parti politique à l’extérieur du P.S., à défaut d’être une tendance à l’intérieur …“ (Socialisme 2000, Organe de la F.S.D., Numéro spécial, S. 5). 5  F. de Tarr, The French Radical Party. From Herriot to Mendès-France, London 1961. 6  Le Monde, 20. September 1977, S. 10: „Libres opinions: Giscardiens de Gauche“. In diesem Artikel wird u. a. folgendes ausgeführt: „La volonté spécifique du giscardien de gauche se donne pour objectif primordial l’affirmation d’un réformisme courageux qui mette définitivement en confiance, au sein de la majorité présidentielle, cette partie de la gauche … qui y a participé en 1974 … Cette action ne nécessite en aucun cas un nouveau parti mais implique peut-être au sein de ceux qui existent déjà … une structure d’animation résolument progressiste. Les leaders et les militants giscardiens de gauche – nous en sommes sûrs – existent, c’est le moment opportun pour qu’ils se manifestent comme tels.“ – Die Situation bei den Zentristen wird in einem internen Schreiben sehr zutreffend gekennzeichnet: „Cependant, durant de longs mois, les tentatives de regroupement des centristes auxquelles le Centre démocrate est presque partie prenante vont buter sur plusieurs obstacles: d’abord l’extrême emiettement, la ‚balkanisation‘ du courant centriste dont les parties qui le composent sont tous issues de confusions (Centre démocrate), de scissions (Centre républicain, C.D.P., M.D.S.F.) ou de reliquat de scissions successives (radicaux) et se montrent de ce fait d’autant plus susceptibles sur le chapitre de leur autonomie et de leur particularisme; c’est ainsi que dès le 22 juin 1974, M. André FOSSET, nommé secrétaire général délégué déclare au conseil politique du C.D.: ‚Nous ne saurions accepter de nous fondre sous prétexte d’unité dans un vaste ensemble qui serait confusion.‘ “ (Centre démocrate, Bulletin Quotidien, 18. Mai 1976, S. 20). – In seiner Studie zur gaullistischen Parteiformation „U.N.R.“ erklärt Jean Charlot zu diesem Punkt: „Il existe en effet trois courants doctrinaux (in der U.N.R.) … celui qu’anime M. Michel Debré et dont le maître-mot est ‚l’Etat‘; la tradition apportée du M.R.P. par M. Louis Terrenoire et ses amis qu’on peut résumer dans l’idée du ‚bien commun‘; celle qu’empruntèrent enfin MM. Louis Vallon et René Capitant à la gauche et que l’on peut qualifier de ‚sociale‘ “ (J. Charlot, L’U.N.R. Etude du pouvoir au sein d’un parti politique, Paris 1967, S. 282 f.).

284

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

Diese parteiinternen Aufspaltungen in verschiedene courants geht in manchen Fällen so weit, daß sich einer oder sogar mehrere dieser courants innerhalb der Partei als quasiautonome Gruppen mit eigener Führung und organisatorischem Apparat etablieren. Eines der gegenwärtig interessantesten Beispiele dafür ist der schon erwähnte C.E.R.E.S., der seine Machtstellung innerhalb der Sozialistischen Partei seit seiner Gründung 1966 beträchtlich ausweiten konnte: 1969 übernahm er den Parteibezirk von Paris und im Laufe der Jahre bis heute zehn weitere Parteibezirke, beim Parteikongreß 1971 in Epinay kontrollierte er noch nicht mehr als 5 %, beim Parteikongreß 1977 in Nantes jedoch 25 % der Stimmen. Ein anderes Beispiel wäre die Gruppe, die unter der Führung von Jacques Duhamel zwischen 1966 und 1976 bei den Zentrumsdemokraten bestanden hat. An diesem Beispiel wird eine stets mögliche Folgeerscheinung dieser Aufspaltungen in eigenständige courants sehr gut deutlich. Duhamel führte nämlich seine Gruppe 1969 aus dem Centre Démocrate heraus und gründete eine eigene Partei, den Centre Démocratie et Progrès, der sich erst 1976, nach über zweijährigen Verhandlungen, wieder mit dem Centre Démocrate zum neuen Centre des Démocrates Sociaux vereinigte. Eine weitere mögliche Folgeerscheinung besteht natürlich darin, daß beispielsweise – hier darf ich wieder auf das Schaubild verweisen – von den drei Flügeln einer Partei P1 sich der Flügel F3 trennt und in eine Verbindung mit der ihm ideologisch nahestehenden Partei P2 eintritt. Jenseits dieser instabilen Verhältnisse innerhalb der Parteien und im Parteiengefüge gibt es jedoch stabilere, d. h. konstantere Gruppierungen: die politischen Familien. Der Begriff „famille“, wie er im französischen politischen Vokabular erscheint, bezeichnet dabei nicht eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder Klasse, sondern ist im jeweiligen Fall die metaphorische Bezeichnung für die unsichtbare Gruppe all derer, die sich einer bestimmten Art ideologischer Wertvorstellungen und politischer Einstellungen verbunden fühlen: sei es der Konservativismus, der Sozialismus, der Gaullismus, der Radikalismus oder der Kommunismus. Die Ansichten darüber, wie viele es von diesen politischen Familien gibt, variieren; im allgemeinen werden nicht weniger als vier und nicht mehr als sechs genannt7. Viel bedeutsamer als die Zahl dieser „Familien“ ist aber die Tatsache, daß eine solche „Familie“ die umfassende politische Einheit ist, auf die sich jeweils zwei, drei oder mehrere Parteien als das beziehen, was sie, ungeachtet ihrer speziellen Differenzen, im Grundsätzlichen eint und auf was sie in der Auseinandersetzung mit Parteien einer anderen politischen Familie rekurrieren. So traten beispielsweise zwischen 1959 und 1962 zwei gaullistische 7  Vgl.

dazu D. Pickles, The Government and Politics of France, S. 171 f.



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich285

Parteien als Teile der einen gaullistischen Bewegung auf. Oder vor ihrer teilweisen Einigung im Parti Socialiste 1971 setzte sich die sozialistische Familie aus mindestens fünf verschiedenen, sich doch alle als „sozialistisch“ verstehenden Organisationen zusammen. Und im Frühjahr 1978 gaben die wichtigsten Parteien der „liberalen Mitte“ – die Republikaner (PR), die Radikalen (Valoisiens) und die Zentristen (CDS) – ihrer „familiären“ Verbundenheit sogar eine institutionelle Form: Sie schlossen sich zu der Parteienkonföderation „Union pour la Démocratie Française“ zusammen8 und treten als solche gemeinsam gegenüber anderen Parteien (vor allem den Gaullisten) auf; dabei haben sie sich jedoch ihre Selbständigkeit als einzelne Parteien (zumindest bislang) bewahrt. Zuletzt lassen sich aber auch die vier oder sechs politischen Familien noch zurückführen auf die binare Struktur von „Links“ versus „Rechts“. Die Ausbildung dieser Struktur geht – so wird in der entsprechenden Literatur meistens erklärt – auf die Französische Revolution zurück, in der sich das französische Volk über der Wahl zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Lebenshaltungen zerspalten hat. Auf der einen Seite sind die, welche die jeweils bestehende Ordnung irgendwelchen politischen Experimenten vorziehen, auf der anderen Seite jene, die ihren reformerischen oder revolutionären Impulsen zur Errichtung einer besseren, vollkommeneren Ordnung folgen möchten9. 8  Die „UDF“ wurde am 1. Februar 1978 gegründet. Zunächst war sie nicht mehr als ein Wahlbündnis hinsichtlich der Wahlen zur Nationalversammlung am 12./ 19. März 1978. Der Sieg der „Mehrheitsparteien“ – wozu ja der P.R. die Radikalen und der C.D.S. gehören  – verstärkte jedoch die föderative Kohäsion der U.D.F.; so bilden die drei Parteien nunmehr auch in der Nationalversammlung eine Gruppe „U.D.F.“. Bemerkenswert ist noch, daß sie in ihrer Bezeichnung den Titel von Giscard d’Estaings programmatischer Schrift „Démocratie Française“ trägt. 9  Vgl. dazu z. B. F. Goguel/A. Grosser, Politik à la Française, Gütersloh 1966, S. 42 f.: „Dabei war aber die Instabilität der Gruppen und der Parteien nicht die einzige politische Wirklichkeit. Tatsächlich zeigten die den verschiedenen Parteirichtungen entsprechenden großen Tendenzen der öffentlichen Meinung ein großes Beharrungsvermögen; sie waren nach dem Ausdruck André Siegfrieds eine ‚solide Achse der politischen Entwicklung‘. Um diese zweifellos unorganischen, aber ständig hinter den verwirrenden Schwankungen der politischen Konjunktur gegenwärtigen Tendenzen zu bezeichnen, mußten sich die Beobachter anderer Begriffe bedienen als derer, welche die Parteien zu ihrer eigenen Kennzeichnung verwandten. So unterschied André Siegfried in seinem Tableau des partis en France, 1930, die Gruppen der Linken, der Mitte und der Rechten. Der Autor dieser Zeilen (François Goguel) hat in einem Buch La Politique des partis sous la IIIe République, 1946, die Ausdrücke ‚Partei der überlieferten Ordnung‘ und ‚Partei der Bewegung‘ gebraucht. Tatsächlich wäre keine langfristige Analyse wirklich möglich gewesen, hätte man sich des obskuren und wechselnden Vokabulars bedient, das die offiziellen Benennungen der Parteien kennzeichnet  …“  – H. Ehrmann, Politics in France, Boston 19712, S. 196: „Some of the most knowledgeable analytists of election data have been struck by a

286

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

Was die Konstanz dieser Struktur „Links“ versus „Rechts“ anbelangt, so hat François Goguel dazu für den Zeitraum von 1877 bis 1928 einen empirischen Beweis erbracht. Bei Untersuchungen der in diesem Zeitraum erfolgten Wahlen stellte er fest, daß die Stimmen der von ihm so genannten parti de mouvement und parti de l’ordre voneinander um nie mehr als 0,5 % abwichen10. Typen und intertypische Bewegungen Diese Einfachheit, in der sich die generative Tiefenstruktur der französischen Parteien schließlich zeigt, wird sehr schnell wieder von komplizierteren Verhältnissen verdeckt, wenn man zurückblendet zur Oberfläche mit ihren äußeren organisatorischen Formen und diese Formen nun in typologischer Hinsicht untersucht. Zwar stellt sich bei einer derartigen Untersuchung heraus, daß sich die häufigen Umformungen der französischen Parteien innerhalb einer immerhin beschränkten Zahl von Parteitypen vollziehen, aber dafür zeigt sich auch, daß diese ständigen Mutationsprozesse sich einer starren typologischen Festlegung entziehen. Dieser empirische Befund läßt sich auf allgemeine Weise in die folgenden drei Sätze fassen: 1. Die Parteien können an sehr verschiedenen „Orten“ innerhalb der Gesellschaft entstehen; Ursprungsort und Parteitypus hängen in gewisser Weise zusammen. 2. Die Parteien bleiben sich in ihrem Typus nicht immer gleich; vielmehr verändern sie sich häufig so, daß sie einem bestimmten Typus immer chronic and seemingly unalterable division of Frenchmen into two camps, two large political ’families’, each motivated by a different political mood or temperament. Whether one wishes to identify these camps with the ‚Right‘ and the ‚Left‘ or christen them the ‚party of order‘ and the ‚party of movement‘ is of less importance than the fact that if one views elections from this perspective, political alignments have remained surprisingly stable over long periods of history.“ – J. Meynaud, Nouvelles études sur les groupes de pression en France, Paris 1962, S. 172: „De surcroît, la France est aujourd’hui secouée par un âpre conflit entre les défenseurs des forces traditionelles et les partisans de transformations brutales centrées sur la notion d’efficacité.“ – A. Peyrefitte, Le Mal Français, Paris 1976, S. 14: „Les cauchemars se répètent impitoyablement. A qui n’est-il pas arrivé d’entendre deux groupes hostiles se jeter mutuellement la Marseillaise à la figure? Pour les uns, elle signifiait la douleur de toutes les révolutions manquées – qui s’étaient brisées contre le mur de l’argent, de la naissance ou de la nature des choses –, et l’espérance de la révolution en marche. Pour les autres, elle exprimait les heures de gloire, la patrie accablée d’épreuves mais puisant au fond du malheur la force de se redresser. Ennemis par leur credo, frères par leur passion.“ 10  F. Goguel, La Politique des partis sous la IIIe République, Paris 1946, Bd. I, S. 20.



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich287

weniger und einem anderen immer mehr gleichen, sie „bewegen“ sich gewissermaßen von Typus zu Typus. 3. Das Selbstverständnis und die Organisationsweisen bestimmter Parteien transzendieren eine Parteientypologie nach klassischem Muster, obwohl die betreffenden Parteien unter entsprechenden Umständen dem einen oder anderen allgemeinen Typus gleichen. Diese Sätze sollen anhand von Beispielen und des folgenden Schaubilds erläutert werden:

Typologisches Schema erstellt in Anlehnung an F. Borella, J. Charlot, M. Duverger, A. Kriegel.

Die Unabhängigen Republikaner sind beispielsweise aus einer Gruppe von Abgeordneten in der Assemblée Nationale hervorgegangen, die sich 1962 von dem nach rechts orientierten Centre National des Indépendants als deren „liberale Tendenz“ abgespalten hat. Ursprungsort der Unabhängigen Republikaner war also die Nationalversammlung und insoweit als ihre Gruppe sich bis 1966 nicht über die Assemblée Nationale hinausdehnte, stellten sie in dieser Zeit den Typus des parti parlementaire dar11. 1966 wurde der Centre Démocrate unter der Führung von Jean Lecanuet gegründet. Anlaß zu dieser Gründung war der relativ gute Wahlerfolg Lecanuets bei den Präsidentschaftswahlen 1965, bei denen er im ersten Wahlgang 15,8 % der Stimmen auf sich vereinigt hatte. Ursprungsort dieser Partei war die diffuse, aus der Wahlkampagne hervorgegangene Anhängerschaft Leca11  Vgl. J.-C. Colliard, Les Républicains Indépendants, Paris 1972, S. 43 ff., 116 ff., 224 ff.

288

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

nuets, die eine organisatorische Verankerung im Abgeordneten- und Notabelnzirkel um Lecanuet, dem früheren Vorsitzenden der im selben Jahr stillgelegten Partei der Volksrepublikaner, hatte. Als Partei stellte der Centre Démocrate den Typus des parti de notables oder parti de cadres dar12. Der Ursprungsort der ersten gaullistischen Partei in der V. Republik, der Union pour la Nouvelle République, war der enge Zirkel jener Vertrauten de Gaulles, die schon während der Londoner Jahre oder kurz nach der Befreiung aus den Kreisen der Resistance zu ihm gestoßen waren. Als Partei stellte die UNR zunächst einen klassischen parti de cadres dar13. Schließlich sei noch die neue Sozialistische Partei erwähnt, die 1971 aus der aktiven Mitgliederschaft anderer sozialistischer Parteiformationen heraus gegründet wurde und sich sogleich als ein parti de militants, eine Partei etablierte, die über einen größeren „Stamm“ stark motivierter und folglich sehr aktiver Mitglieder verfügte14. Alle diese Parteien haben sich bis heute fortlaufend bemüht, sich aus ihrem ursprünglichen Parteitypus in einen anderen zu entwickeln. Den Intentionen nach sollte die Entwicklung – verständlicherweise – von den kleinen Zirkeln eines parti parlementaire oder parti de cadres zum Massenanhang einer Wähler- bzw. Volkspartei, eines parti d’électeurs, führen. Von den erwähnten Parteien sind es jedoch allein die gaullistische und annäherungsweise auch die Sozialistische Partei, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt einem parti d’électeurs gleichen. Der Centre Démocrate, jetzt Centre des Démocra­ tes Sociaux genannt, ist immer noch ein parti de notables; in einem internen Rundschreiben dieser Partei vom Mai 1976 wird denn auch eingestanden, daß „…  der Zentrismus im wesentlichen eine parlamentarische Bewegung [ist], die sich sehr schlecht auf die Ebene von Organisationen für Anhänger (militants) und Wähler übertragen läßt“15. Die Unabhängigen Republikaner schließlich haben sich von einem parti parlementaire zu einem parti de notables entwickelt. Entscheidend dafür war ihre Neugründung im Jahre 1966 und der damit verbundene Aufbau eines eigenständigen Parteiapparats außerhalb der Nationalversammlung mit dem Fürsten Poniatowski, dem engen Vertrauten Giscard d’Estaings, als General12  Vgl. z. B. die parteiinterne Darstellung: Centre Démocrate, Bulletin Quotidien, 14. Mai 1976; B.Q., 17. Mai 1976; B.Q., 18. Mai 1976; sowie: R. E. M. Irving, Christian Democracy in France, London 1973, S. 251 ff. 13  Vgl. J. Charlot, L’U.N.R., S. 291 ff.; ders., Le phénomène gaulliste, Paris 1970, S.  92 f. 14  Zum P.S. vgl. C. Bunodière/L. Cohen-Solal, Les nouveaux socialistes, Paris 1977; C. Hurtig, De la S.F.I.O. au nouveau parti socialiste, Paris 1970; Th. Pfister, Les socialistes, Paris 1977. 15  Centre Démocrate, Bulletin Quotidien, 18. Mai 1976, S. 20.



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich289

sekretär an der Spitze. Poniatowski erreichte es, daß im Zeitraum zwischen Herbst 1967 und Sommer 1970 in fast allen französischen Departements Bezirksverbände der Unabhängigen Republikaner gegründet wurden. Dabei ging die Initiative fast ausschließlich von der Pariser Parteizentrale aus: Man entsandte besondere Beauftragte in die Provinz, die bei lokalen Honoratioren sondierten, ob sie bereit wären, sich für die Partei Giscard d’Estaings zu engagieren16. Im Unterschied zu den soeben angeführten Beispielen können Parteien aber auch eine Entwicklung in „umgekehrter“ Richtung nehmen, also beispielsweise vom Typus eines parti d’électeurs zum Typus eines parti de mi­ litants. Intertypische Bewegungen in dieser Richtung stellen für die betreffenden Parteien meistens eine „rückläufige“ Entwicklung dar, die gekennzeichnet ist von Wählerschwund und Machtverlust und entweder zur Auflösung, zur Neubegründung in anderer Form oder zu einem Zusammenschluß mit einer oder mehreren anderen Parteien führt. Die S.F.I.O. (Section Fran­ çaise de l’Internationale Ouvrière), die in dem neuen P.S. aufgegangen ist, der M.R.P. (Mouvement Républicain Populaire), der „stillgelegt“ bzw. abgelöst wurde vom Centre Démocrate, und der R.P.F. (Rassemblement du Peuple Français), der die erste der großen gaullistischen Sammlungsbewegungen war, sind dafür die herausragendsten Beispiele in der neueren französischen Parteiengeschichte17. Diesen Beispielen für die Dynamik der französischen Parteien hinsichtlich ihres Organisationsmodus könnten noch weitere hinzugefügt, es könnten auch bestimmte Schlußfolgerungen aus der Analyse dieser Dynamik gezogen werden. Wenigstens zwei dieser Schlußfolgerungen sollen erwähnt werden, weil sie für die methodisch angemessene Analyse der Konfiguration der Parteien sehr wesentlich sind. Zum einen sollten wohl immer die Ebenen unterschieden werden, auf denen die Analyse der Parteienkonfiguration jeweils angesetzt wird. Die Parteienkonfiguration auf der parlamentarischen Ebene ist nicht identisch mit jener auf der Ebene der Wählerschaft oder der Ebene der geographischen Ausdehnung und Verteilung. Zum zweiten kann eine Beschreibung der französischen Parteienkonfiguration – aufgrund der hohen Dynamik der Parteien – immer nur die Beschreibung ihres momentanen Zustands sein; allgemeine Aussagen können nur in struktureller, jedoch nicht in formal-deskriptiver Hinsicht gemacht werden. 16  Vgl.

J.-C. Colliard, Les Républicains Indépendants, S. 118 f., 302 ff. D. Ligou, Histoire du socialisme en France: 1871–1961, Paris 1962; H. G. Simmons, French Socialists in Search of a Role (1956–1967), Stanford 1971; M. An­ derson, Conservative Politics in France, London 1974; R. E. M. Irving, Christian Democracy in France; Ch. Purtschet, Le Rassemblement du Peuple Français (1947– 1953), Paris 1965. 17  Vgl.

290

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

Eine Parteientypologie nach klassischem Muster muß im Falle Frankreichs noch durch zwei Typen ergänzt werden, von denen der eine durch die gaullistische, der andere durch die kommunistische Partei repräsentiert wird. Obwohl die Gaullisten sich im politischen Prozeß mehr oder weniger wie alle anderen Parteien verhalten, verstehen sie sich nicht als eine „Partei“ – sie lehnen diesen Begriff für sich selber immer sehr energisch ab –, sie stellen sich vielmehr vor als ein „Rassemblement“, eine Sammlungsbewegung, die im Hinblick auf eine übergeordnete Sache, sei es die Rettung des Vaterlandes, die Treue zu de Gaulle oder der Kampf gegen den sozialistischen Kollektivismus, alle Parteilichkeit transzendiert18. „Les partis divisent, L’UNR rassemble – die Parteien zerteilen, die Union für die Neue Republik vereinigt“, so heißt eine Devise der Gaullisten. Denn der Gaullismus, so erklärte ihr Generalsekretär Robert Poujade 1969, sei eine „Mystik der nationalen Einheit“19. Die Kommunisten verhalten sich ebenfalls wie andere Parteien im politischen Prozeß, aber sie stellen mehr als eine „Partei“ dar. Sie sind, nach der Formel von Annie Kriegel, eine „parti-société“, eine „Partei als Gesellschaft“, die für ihre Mitglieder durch eine ganze Reihe von Supplementärorganisationen für fast alle Lebensbereiche schon jetzt jene kommunistische Gesellschaft in nuce geschaffen hat, die in der Zukunft einmal die Form aller menschlichen Gesellschaft überhaupt sein soll20. 18  Vgl. z. B. die großen öffentlichen Reden von Jacques Chirac, mit denen er zur „Sammlungsbewegung“ aufruft: „La vérité est que les clivages traditionnels que l’on se plaît à perpétuer, les étiquettes partisanes, ne correspondent plus à la réalité de notre société. Il y a dans toutes les familles politiques … des hommes de défiance et d’immobilisme  …  Il y a aussi, dans toutes les couches de la société, dans tous les groupes sociaux ou politiques des hommes de générosité  …  qui ont l’esprit de tolérance pour les préoccupations d’autrui qui, sentant la société perfectible, veulent, à leur place, grande ou petite, changer le cours des choses. C’est à ces hommes de progrès que je m’adresse, sans exclusivité ni distinction. Et je leur dis: rejoignez nous, travaillez avec nous, vivifiez-nous de votre exigence de vérité et de justice! Nos différences, loin de nous séparer, nous seront une richesse puisque nous sommes unis sur l’essentiel: la volonté d’une France forte, libre, généreuse et solidaire … dans tout le pays, je perçois l’éveil des consciences, la mobilisation des volontés. Des profondeurs de la nation, je sens monter une immense appel à l’unité, à la réconciliation, au rassemblement“ (Rassemblement actualité, Nr. 1, Dezember 1976, Discours de Jacques Chirac, Straßburg, 17. Dezember 1976, S. 6 f., 19). – „… je conduirai, s’ils y consentent, tous ceux, d’où qu’ils viennent et à quelque appartenance antérieure qu’ils se rattachent, tous ceux qui entendront s’opposer au risque de servitude communiste, tout en remaniant profondément notre dispositif économique et social pour répondre à des conditions elles-mêmes profondément nouvelles. Tel est bien, au delà des péripéties quotidiennes, ou des escarmouches de couloir, l’enjeu du Rassemblement“ (Rassemblement actualité, Nr. 4, Mai 1977, Discours de Jacques Chirac, Montbéliard, 6. Mai 1977, S. 15). 19  La Nation, 29. Januar 1969.



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich291

In einer Typologie der französischen Parteien sollten schließlich auch jene parteiähnlichen Gruppierungen berücksichtigt werden, die eine sehr spezifische Erscheinung im französischen politischen Leben sind: die „Politischen Klubs“. Ihre Prototypen sind die „Klubs“ aus der Zeit der Französischen Revolution: der „Club des Jacobins“, die „Girondins“, der „Club des Cordeliers“. Die beiden wesentlichsten Funktionen, welche die „Politischen Klubs“ im politischen Leben des Landes einnehmen, können wie folgt kurz beschrieben werden: a) Zum einen sind sie katalysatorische Institutionen in der Epoche eines umfassenden politischen Wandels. So fächerte sich die „Linke“ beispielsweise während des ersten Jahrzehnts der V. Republik in zahlreiche Klubs auf; angesichts der Probleme, die sich im Anpassungsprozeß an die neuen politischen Verhältnisse stellten – ideologische Grundsatzdiskussion, Ausarbeitung neuer politischer Programme, Erprobung zukünftiger Organisationsformen, Umstrukturierung der Führungsgruppen –, wurde die elastische Zusammenfügung der Klubs den alten und verkrusteten Parteiapparaten vorgezogen. b) Zum zweiten sind „Klubs“ gewissermaßen Unterstützungsorganisationen („Filialinstitutionen“) einzelner Parteien. Politische Klubs von dieser Art werden entweder von einer bestimmten Partei selber oder von einer Gruppe ihrer Mitglieder oder Anhänger gegründet, um für die betreffende Partei ein organisiertes Umfeld zu schaffen, das ihre Wirksamkeit (ihre „Sache“) in der Gesellschaft über die eigentliche Parteiorganisation hinaus verstärkt. Dabei sind die Teilnehmer an den Aktivitäten dieser Klubs zum großen Teil keine Mitglieder der betreffenden Partei, was den erwünschten Verstärkungseffekt erhöht21. 20  A. Kriegel, Les Communistes français. Essai d’ethnographie politique, Paris 1968, S. 95: „Le parti communiste n’est pas en effet ‚un parti comme les autrès‘ … il déborde, par nature, le domaine stricto sensu, du politique qui est celui des partis classiques … C’est en somme, à lui seul, un parti-société, c’est-à-dire un parti porteur d’un modèle social.“ – Eine Auflistung der Supplementärorganisationen des P.C. gibt G. Lefranc, Les Gauches en France, Paris 1973, S. 319 ff. Er zählt insgesamt 32 Organisationen auf und gibt zehn Presseorgane an, die dem P.C. verbunden sind. 21  Vgl. J. Mossuz, Les Clubs et la Politique en France, Paris 1970; J.-A. Faucher, Les Clubs en France, Paris 1965; D. Loschak, La Convention des Institutions Republicaines. F. Mitterrand et le socialisme, Paris 1971. – Zum Umfeld beispielsweise der Republikanischen Partei gehören folgende Klubs: „Club Sigma“, „Club Tiers Monde“, „Perspectives et Réalités“ (der wichtigste), „Génération Sociale et Libérale“, „Comité national de soutien au Président de la République“. – Zu den Gaullisten gehören: „Union des jeunes pour le progrès“, „Centre feminin d’études et d’information“, „Association pour la Ve République“, „Club Ve République: Nouvelle Frontière“, „Présence et Action du Gaullisme“, „Comités pour la Défense de la République“, „Association Nationale pour la fidélité au Géneral de Gaulle“, „Centre d’information civique“, „Service d’Action civique“, „Association pour le soutien du Général de Gaulle“. – Zum Centre Démocrate gehören: „Démocratie Nouvelle“, „Carrefours du temps présent“.

292

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

Elemente einer institutionellen Kohäsion Bei einer Rückschau auf die verschiedenen, hier ansatzweise aufgezeigten Strukturen, die den Erscheinungsformen französischer Parteien zugrunde liegen, könnte man über den gewonnenen Eindruck perplex sein; man begreift zwar, wie sich die fortwährenden Wandlungsprozesse der Parteien vollziehen, man verwundert sich aber darüber, wodurch sie in diesen Prozessen überhaupt ihren Bestand als – wenigstens für eine beschränkte Zeit dauerhafte – Institutionen erhalten konnten. Es müssen Grundzüge in ihrer Organisation vorhanden sein, die nicht dem Wandel unterliegen, die nicht veränderlich, vielmehr Elemente einer institutionellen Kohäsion und Dauerhaftigkeit sind. Bei einer Analyse der inneren Organisation der französischen Parteien können mindestens zwei solcher Grundzüge aufgedeckt werden: ein oligarchischer und ein zentralistischer. Oder, präziser formuliert: In der organisatorischen Ausformung der französischen Parteien wird das Prinzip des im Äußeren steten institutionellen Wandels durch das Prinzip der im Inneren oli­ garchisch-zentralistischen Führungsstruktur ausbalanciert22. Der Grundzug des Zentralismus läßt sich besonders gut anhand der innerparteilichen Bestimmungen zur Aufstellung von Kandidaten für die öffent­ lichen, besonders die nationalen Wahlen aufzeigen. Da es in Frankreich kein Parteiengesetz mit entsprechenden allgemeinen Regelungen für die Kandidatenaufstellung gibt, bestellen die einzelnen Parteien ihre Kandidaten je nach den Verfahrensweisen, wie sie in ihren Statuten vorgeschrieben sind. Demnach werden in allen im Augenblick relevanten Parteien – mit Ausnahme der Sozialistischen Partei – die Entscheidungen über die Kandidaturen für die Nationalversammlung und den Senat vom Vorstand der jeweiligen Partei in Paris getroffen. Bei einigen Parteien – wie den Radikalen, den Zentrums­ demokraten, den Linksradikalen und den Kommunisten – ist den unteren Parteiverbänden in den Departements bzw. bei den Kommunisten den Zellen ein Vorschlagsrecht eingeräumt, aber auch bei ihnen liegt die definitive Ent22  In seinem Buch „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens“, Leipzig 19252, formuliert R. Michels das „eherne Gesetz der Oligarchie“ (vgl. vor allem Teil VI, Kap. 2). Selbst wenn die Entdeckung der „oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens“ zutrifft, so sollte sie doch weniger „ehern“ formuliert werden. Auch der Begriff „Oligarchie“ ist natürlich kontrovers. Vgl. z. B. Hans Daalder: „Oligarchy consists not in the taking of many decisions by few men, but in the taking by few men of any decisions they care to take“ („Parties, Elites, and Political Developments in Western Europe“ in: J. La Palombara/M. Weiner (H.), Political Parties and Political Development, Princeton 1966, S. 70). Aber das, was der Begriff „Oligarchie“ ungefähr ausdrückt, wird durch Begriffe wie „Elite“, „Führungszirkel“, „Clique“, „Klientele“ auch nicht abgedeckt.



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich293

scheidung über die Kandidaturvorschläge beim comité central oder bureau national in Paris23. Allein bei der Sozialistischen Partei besitzen die lokalen Instanzen die größeren Befugnisse im Ausleseprozeß der Kandidaten. Nach Art. 49 ihrer Statuten werden die Kandidaten durch die Parteimitglieder im jeweiligen Wahlbezirk bestellt, allerdings müssen die Kandidaturen dann noch vom übergeordneten regionalen Parteibezirk und der Convention nationale, einer Delegiertenversammlung aller Parteibezirke auf nationaler Ebene, bestätigt werden24. Das oligarchische Führungsprinzip hat sich im inneren Aufbau der französischen Parteien auf vielfältige Weise durchgesetzt. So werden schon bei der Auswahl des Führungspersonals – vor allem auf nationaler Ebene – Kandidaten bevorzugt, die den Maßstäben einer zur Selbstrekrutierung neigenden Führungskaste entweder durch ihre Ausbildung an einer der Eliteschulen oder durch die Art ihrer Biographie oder beruflichen Laufbahn oder durch ihre persönliche Verbundenheit mit entsprechend bedeutenden politischen Persönlichkeiten – und am besten durch all dies zusammen – genügen. Dem23  Einige Beispiele: In den Statuten des R.P.R. heißt es beim Absatz „Comité central“ lapidar: „Il décide des investitures électorales.“ – Bei den Statuten des C.D.S. lautet Art. 13 Abs. 1: „Pour les élections aux Assemblées parlementaires, les investitures proposées par les Centres Départementaux sont accordés par le Comité Directeur National.“ – Ähnliche Regelungen sind beim P.C.F. (Art. 48) und bei den Radikalen (Art. 25) getroffen. – Beim M.R.G. (Linksradikale) erstreckt sich die zentralistische Regelung bis auf die regionalen Wahlen: „Pour les élections législatives ou sénatoriales seul le Bureau National peut accorder les investitures du Mouvement, soit sur proposition du comité de base, puis de la Fédération départementale, soit après avis de ceux-ci“ (Art. 21). – „Pour les élections régionales, seul le Bureau National peut accorder les investitures du Mouvement, soit sur proposition de la Fédération départementale, puis de la Fédération régionale, soit après avis de celles-ci“ (Art. 22). – Vgl. hierzu auch U. Kempf, Zur Kandidatenaufstellung in Frankreich am Beispiel der „Union pour la Nouvelle République“ und ihrer Koalitionspartner, Berlin 1973. 24  Art. 49 der Statuten des P.S.: „Les candidats aux élections politiques sont désignés par l’ensemble des adhérents de la circonscription électorale … Les candidatures proposées par les Sections ne sont définitives qu’après ratification par les Fédérations, puis, en dernier ressort, par la Convention nationale … Pour les élections cantonales, les candidatures ne sont définitives qu’après ratification par la Fédération …“ Im Unterschied zu diesem Artikel sind „zentralistische“, d. h. hinsichtlich der kollektiven Disziplin erlassene Regelungen in anderen Artikeln der Statuten des P.S. ent­ halten, wie z. B. in Art. 51: „Tout candidat du Parti prend par écrit l’engagement d’honneur de remettre sa démission au président de l’Assemblé, à laquelle il appartient si, aprés avoir été élu, il quitte le Parti pour une cause quelconque.“ Oder Art. 54: „Les membres du groupe socialiste au Parlement acceptent le règlement du Parti et se conforment à sa tactique. En toutes circonstances, ils doivent respecter la règle de l’unité de vote de leur groupe …“ (vgl. ferner Art. 72).

294

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

entsprechend werden auch neue Mitglieder der obersten Führungsschicht in den Parteien sehr häufig durch Kooptation oder durch „Wahlen“ bestimmt, bei denen der zu Wählende vom etablierten Führungszirkel schon designiert worden war. Das entscheidende Element in der oligarchischen Führungsstruktur der Parteien ist aber die Existenz dieser Führungszirkel. Denn wesentliche Entscheidungen, die eine bestimmte Partei betreffen, werden nicht selten von den Mitgliedern dieses Führungszirkels getroffen, obwohl er in der Regel nicht mit den offiziellen Spitzengremien der betreffenden Partei identisch ist. Und in manchen Fällen verhält es sich so, daß sich eine Partei in ihrer organisatorischen Form, ihrem Typus, in der Zusammensetzung ihrer Mitgliederschaft wiederholt grundlegend verändert haben kann, ohne daß in diesen ganzen Wandlungsprozessen der in ihr dominante Führungszirkel durch einen anderen ersetzt worden wäre. Nach der 1967 von Jean Charlot vorgelegten Studie zur gaullistischen Bewegung wurde diese über dreißig Jahre lang von einem Führungszirkel geleitet, dem ungefähr 35 Personen angehörten, von denen der größere Teil schon zur engen Vertrautengruppe um de Gaulle während des Krieges gehört hatte25. Zu einem parallelen Ergebnis ist Jean-Claude Colliard in seiner 1972 erschienenen Untersuchung über die Unabhängigen Republikaner gelangt. Auch in dieser Partei gehen die wesentlichen Entscheidungen von dem informellen Führungszirkel aus, den Giscard d’Estaing und dessen persönliche Freunde und Vertrauten bilden26. In der neuen Sozialistischen Partei unter Mitterrand spielt dessen Freundeskreis offenbar eine wichtige, in den Parteisatzungen nicht vorgesehene Rolle. Diesen Freundeskreis hat Mitterrand aus der von ihm vorher geleiteten und in die Parteigründung eingebrachten Convention des Institutions Répu­ blicaines gewissermaßen in die Sozialistische Partei transplantiert und dort zu seinem engsten Mitarbeiter- und Beraterkreis gemacht27.

Charlot, L’U.N.R., S.  207 ff., 242 ff., 296 ff. Colliard, Les Républicains Indépendants, S. 300 ff. 27  Zu Mitterrands Zirkel zählen Louis Mermaz, Claude Estier, André Rousselet, Georges Dayan, Charles Hernu (alle aus der früheren CIR-Garde), sowie Lionel Jospin, Pierre Joxe, Edith Cresson, Gérard Delfau. – Vgl. auch die folgende Äußerung des C.E.R.E.S.-Mitglieds Pierre Guidoni: „Il n’y a plus au parti socialiste la volonté de synthèse de Jaurès ni la volonté de dialogue de Blum. La réalité d’aujourd’hui, c’est la mise au pas … à chaque époque ses moeurs et ses lois. Nous avons cru participer pendant cinq ans à la construction d’un véritable parti socialiste. Mais force est de constater que le P.S., aujourd’hui, c’est un leader, ses amis et les collaborateurs de ses amis“ … (zit. in: Le Point, Nr. 237, 4. April 1977). 25  J.

26  J.-C.



Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich295

Verwirrende Phänomene: eine Erklärungsstruktur Zu Beginn wurde die Frage gestellt, ob es nicht hinter der Vielfalt der sehr veränderlichen Erscheinungsformen politischer Parteien in Frankreich konstante Grundzüge und Prozeßmuster gebe, durch deren Erhellung es möglich wäre, diese Erscheinungsformen einzuordnen in eine adäquate Erklärungsstruktur. Einige Elemente einer solchen Erklärungsstruktur konnten aufgedeckt werden. Ihre Zahl ist sicherlich nicht vollständig, es könnten wohl noch andere Elemente aufgewiesen werden. Jedoch dürften die wesentlichsten Ansätze zu einer Phänomenologie der französischen politischen Parteien herausgeschält worden sein. Ihre Identifikation ändert zwar nichts an dem Eindruck, daß die Erscheinungsformen französischer Parteien sehr verwirrend sind, aber sie führt zu der Einsicht, daß sie nicht Ausdruck eines regellosen Chaos, sondern äußeres Abbild hintergründiger Prozesse sind, die nach ganz bestimmten Mustern und innerhalb eines ganz bestimmten Beziehungsgeflechts verlaufen. Ein Analytiker der französischen Parteien und ihrer Konfigurationen wird demnach seinen Gegenstand dann auf adäquate Weise erklären können, wenn er die Vielfalt der einzelnen Erscheinungen methodisch eben nach der Struktur erfaßt, die diesen Erscheinungen selber unterliegt. Die Erklärungsstruktur, wie sie bei den vorangegangenen Überlegungen herausgestellt wurde, könnte daher für die Analyse der Erscheinungsformen französischer Parteien auf folgende Weise als Ordnungsschema eingesetzt werden: Jede Art von Par­ teiformation („Parti“, „Centre“, „Mouvement“, „Union“, „Rassemblement“, „Association“, „Club“, „Rencontre“) würde auf vier Merkmale hin untersucht: 1. ihre Mutationen (Häufigkeit, Veranlassungen) bzw. ihre eigene „Einordnung“ innerhalb einer bestimmten Abfolge von Mutationen, 2. ihre Identität a) hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu einer „Familie“, b) als autonome Tendenz innerhalb einer Partei oder als eine von einer Partei abgespaltene Tendenz und c) bezüglich ihrer Qualität als eigenständige „Partei“ oder als „Filialinstitution“ einer bestimmten Partei (z. B. als „Klub“), 3. ihren Typus als „Partei“ bzw. ihren intertypischen Bewegungszustand, 4. ihre Beziehungen zu gegenwärtigen bzw. früheren Parteiformationen durch personelle Querverbindungen. Nachdem auf diese Weise alle Parteien einer bestimmten Konfiguration – sei es das gegenwärtige oder ein historisches Parteiengefüge – untersucht worden sind, kann auch eine exakte „Karte“ der von ihnen gebildeten „Parteienlandschaft“ erstellt werden. Denn es wird möglich sein, a) die „Orte“

296

Phänomenologie der politischen Parteien in Frankreich

der einzelnen Parteien im Ausdehnungsbereich der politischen Ausrichtungen zu lokalisieren, b) die Beziehungen und Verbindungen zwischen den Parteien nachzuzeichnen, c) die Veränderungsprozesse im Typenprofil der Parteien zu entdecken und d) schließlich die verschiedenen Ebenen zu unterscheiden, die bei der Betrachtung dieser Parteien zu beachten sind. Gleichwohl wird man sich auch dann noch in der Landschaft französischer Parteien mitunter verirren.

Die stille Revolution Das politische Frankreich in einer radikalen Veränderung Man hatte sich schon daran gewöhnt: Wann immer es in der französischen Politik darum gegangen war, einen Zustand extremer Spannungen in der Gesellschaft zu beheben, hatte sich eine Verfassungsrevolution ereignet. Entscheidungen über Frankreich waren nicht nach der bestehenden Staatsverfassung, sondern an dieser vorbei auf das Ziel einer neuen Staatsform hin getroffen worden. Zwischen 1789 und 1958 (als de Gaulle die heutige V. Republik schuf) hatte das Land nicht weniger als 16 Verfassungen erhalten. Sie hatten aus Frankreich sehr verschiedene Dinge gemacht – Kaiserreich, konstitutionelle Monarchie, oligarchische Republik, cäsaristische Diktatur, parlamentarische Demokratie, faschistischer Staat, Parteienregime, republikanische Monarchie. Und jedes Mal hatte die neue Verfassung die Bürger Frankreichs nicht geeint, sondern erneut entzweit. Die einen, die über das Land die Oberhand gewonnen hatten, hatten versucht, ihren Sieg in der Verfassung zu fixieren – zur fortwährenden Entmachtung der anderen, die ihnen unterlegen waren und die nun ihrerseits nichts vergessen, nichts verziehen und solange keine Ruhe gegeben hatten, bis sie dem Land ihre Staatsform aufgepfropft hatten – wieder durch eine Verfassungsrevolution. Man hatte sich schon daran gewöhnt: an Frankreich, das Land revolutionärer Umbrüche, an die Gesellschaft politischer Bürger, unter denen es selten jemanden gab, der sich nicht beseelt zeigte von der Idee Frankreichs, und unter denen doch immer wieder größere Gruppen auftraten, die jede Umsetzung dieser Idee, das heißt, jede Verfassungsform, ablehnten, außer jener, die genau der Idee entsprach, die sie sich von Frankreich machten. Wer in Frankreich in Opposition zur Regierung stand, stand häufig in Opposition zum Regierungssystem überhaupt. Wem Gesetze mißfielen, dem mißfiel gleich die ganze Verfassung. Wer bestimmte politische Symbole nicht mochte, der mochte auch die Herrschaftsform nicht, die diese Symbole verwandte. Im Oktober 1873 war der Comte de Chambord, Abkömmling der Bourbonen und Thronprätendent, nahe daran, von seinen Anhängern in Paris zum König von Frankreich ausgerufen zu werden. Er hätte allerdings die Trikolore, die Fahne der französischen Revolution, als Staatsflagge anerkennen müssen.  Erstdruck in: Süddeutsche Zeitung (Feuilleton-Beilage), Nr. 257, 8./9. November 1986.

298

Die stille Revolution

Diesen Schritt der Einigung – die Versöhnung des republikanisch-revolutionären Frankreich mit dem royalistisch-legitmistischen Frankreich – war der Comte aber nicht willens zu tun. Niemals würde er, so ließ er aus seinem Exil verlauten, das weiße Banner mit dem königlichen Lilienwappen, „die Standarte Heinrichs IV., der Jeanne d’Arc, seinen Händen entreißen lassen“. Und so blieb es beim Exil. Der Comte wollte König Frankreichs sein – aber nur eines Frankreichs ohne Französische Revolution. So hatte man sich daran gewöhnt: an Frankreich, das in sich entzweit war und das bislang in keiner seiner Verfassungen dauerhaft verbindliche, aber auch wandlungsoffene, unverbrüchliche, aber auch elastische Formen seiner politischen Existenz gefunden hatte. Seit dem 16. März 1986 spätestens müssen wir jedoch anders über Frankreich denken. Das Schauspiel französischer Politik, das mit diesem Datum begann, ist schon neuartig genug: Zum erstenmal in der Geschichte der V. Republik entstammen die, die Frankreich regieren, nicht demselben politischen Lager; ein „linker“ Staatspräsident und ein „rechter“ Premierminister teilen sich die Macht. Ob dieses Experiment einer gemeinsamen Regierungsverantwortung über die tiefsten inneren Gegensätze Frankreichs hinweg – die sogenannte „Cohabitation“ – auch nur für kurze Zeit gelingen könnte, das hätten viele bezweifelt. Man hatte sich daran gewöhnt: an Frankreich, zerteilt in unversöhnliche Lager. Doch der Präsident, François Mitterrand, und der Premierminister, Jacques Chirac, sie zogen dem Konflikt die Kooperation vor. Warum? Zum einen wies ihnen die Verfassung der V. Republik den Weg zur Zusammenarbeit. Wahrscheinlich haben kurz vor und kurz nach dem 16. März viele französische Politiker den Text der Verfassung zum erstenmal so aufmerksam studiert, daß sie etwas entdeckten, was sie (wie auch zusehends die Öffentlichkeit) erstaunt haben mag: In der Verfassung der V. Republik ist nicht eine Regierungsform, sondern es sind in ihr mehrere Regierungsformen angelegt. Man kann durch sie ein Präsidialregime, eine republikanische Monarchie errichten – wenn man, wie de Gaulle, Pompidou und Mitterrand (von Mai 1981 bis März 1986) zusätzlich zur eigenen Mehrheit aus der Präsidentenwahl noch über eine Mehrheit von Parteifreunden im Parlament, der Nationalversammlung, verfügt. Oder es könnte sich aus ihr auch eine Parti­ tokratie, eine Herrschaft der politischen Parteien, herausbilden – wenn die Mehrheit des Premierministers in der Nationalversammlung (wie es bei Chirac ja der Fall war) abhinge von einer Koalition verschiedener Parteien und der Präsident, einem anderen politischen Lager zugehörig, sich zurückdrängen ließe oder sich selber zurückzöge auf die repräsentativen Gesten eines bloßen Staatsoberhaupts (was Mitterrand ganz offensichtlich nicht tat).



Die stille Revolution299

Oder die Verfassung der V. Republik wird zur Regierungsform der Cohabitation ausgelegt: Der Premierminister regiert, und der Staatspräsident ist Schiedsrichter des Regierens. Jetzt, da sich zeigt, daß diese Verfassung eine vielfältig auslegbare Verfassung ist, erinnern sich die Experten an ein früheres Wort de Gaulles, ihres Inspirators: „La Constitution doit être elastique“ – „Die Verfassung muß elastisch sein“. Zum zweiten erwuchs Frankreich in Francois Mitterrand ein schöpferischer Politiker. All seine Regierungspraxis zielt darauf ab, die Franzosen herauszulösen aus ihrer Lagermentalität, aus ihren ideologischen Erstarrungen, aus Traditionen des Regierens, die sie nur der Tradition wegen weiterführen, aus Institutionen des Staates, die sie nur des Staatsgedankens wegen aufrechterhalten. Man muß sich, so erzählt er jedem, der ihm zuhört, man muß sich in der Politik davor hüten, in Angewohnheiten zu verfallen. Die Franzosen nahmen den Etatismus, den Gedanken, daß der Staat alles sei und daher alles können müsse, schon bei der Geburt an. Dies sei die Wurzel der französischen Krankheit und dies müsse geändert werden – durch schöpferische, flexible, sich nirgendwann festhakende, immer offene, fließend-veränderliche Politik. Die Cohabitation ist ein virtuoses Machtspiel – also für Mitterrand ein exemplarisches Schaustück seiner Auffassung von Politik. Chirac schloß sich diesem Machtspiel an, auch er aus Überzeugung. Sein managementhaft-modernistisches Politikverständnis läuft dem lateinisch-mediterranen Politikverständnis Mitterrands parallel. Beide wollen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven und Mentalitäten, die alten, teilweise jahrhundertealten Verkrustungen der französischen Gesellschaft aufbrechen und Frankreich verwandeln in ein konstruktiv unruhiges, kreatives Land. Die „Coexistence“, wie Mitterrand die Cohabitation lieber nennt, ist beileibe kein Konstrukt links-rechter Kompromisse. Die rechte Mehrheit stellt die Regierung und der linke Staatspräsident bewahrt seine Distanz. Präsident Mitterrand ließ sich nicht im Gruppenbild mit der Regierung Chirac photographieren; dies ist nicht „seine“ Regierung. Den Mitarbeitern des Präsidialamtes wurde untersagt, an den Beratungen der neuen Regierung teilzunehmen. Chirac und Mitterrand empfangen, jeder für sich, ausländische Politiker und Staatsmänner. Und dennoch: Beide regieren, regieren zusammen, da keiner, nach der Verfassung, für sich allein regieren könnte; beide regieren, regieren gemeinsam, da jeder die flexible Verfassung dazu nimmt, die französische Gesellschaft neu, nämlich flexibler zu verfassen. Daß die Cohabitation überhaupt in Gang kam und schon so lange funktioniert, erklärt sich, über jedes Macht- oder Wahlkampfkalkül hinaus, aus diesem tieferen Grund: Frankreich verändert sich grundlegend, und beide, Chirac wie Mitterrand, wollen diese Veränderung fördern.

300

Die stille Revolution

Zum 1. Mai 1986 riefen die französischen Gewerkschaften, wie alljährlich, die Bevölkerung in Paris dazu auf, am traditionellen Demonstrationszug teilzunehmen. Der Aufruf der Gewerkschaften verhallte – die Bevölkerung erschien nicht. Bei FNAC, dem Warenhaus für Bücher in der Rue de Rennes, sind stapelweise Ratgeber ausgelegt, die einem sagen, was man zu tun habe, um Erfolg im Leben, vor allem wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Leitbild dieser Ratgeber ist der Einzelne als freier Unternehmer – und diese Ratgeber finden, gemessen an den Verkaufszahlen, massenhaft Anklang. Zwei Beobachtungen aus dem gleichen Land, doch Beobachtungen zu zwei ganz ungleichen Arten französischer Gesellschaft. Frankreich ist dabei, aus sich ein anderes Frankreich zu machen; wenige im Lande zweifeln noch daran. Doch was wären die Indizien einer Gewißheit? Daß mehr und mehr Leute in Frankreich, wie der eine Kommentator meint, ganz offen über ihr Geld, ihr Vermögen, ihren Reichtum, also über Themen sprächen, die man im traditionellen Frankreich mit Schweigen – als ob es sich um Unanständiges handle – überging? Daß die Franzosen, wie ein anderer Kommentator meint, der alten ideologischen Streitereien und gesellschaftlichen Konfrontationen, der alten Politik rebellischer Akte und revolutionärer Umbrüche überdrüssig geworden seien und sich ein normaleres, friedlicheres politisches Leben wünschten? Daß sie nicht mehr so sehr Hierarchien und viel eher den Wettbewerb liebten? Daß sie nicht mehr so sehr an Traditionen hingen und in ihrem Verhalten zusehends flexibler, mobiler seien? Daß bislang Umfrage für Umfrage den Wunsch der Franzosen reflektiere, Chirac und Mitterrand sollten zusammen und nicht gegeneinander regieren? Dies sind Indizien. Aber daneben gibt es noch Gewißheiten, zumindest zwei. Frankreich durchläuft in seinem politischen und gesellschaftlichen Leben zwei „stille Revolutionen“. An der Ausübung politischer Macht auf der obersten Ebene des Staates waren in Frankreich selten mehrere Institutionen beteiligt; die Gewalten waren selten wie Montesquieu es lehrte, wirklich in der Weise geteilt, daß sie sich gegenseitig in ihrer Machtausdehnung – der Versuchung jeder Macht – zurückhielten. Auch unter Verfassungen, die der Macht, Frankreich zu regieren, republikanische und demokratische Vorbedingungen stellten, war die Wirklichkeit der Machtausübung von der weitgehenden Macht einer einzigen Institution bestimmt. Sowohl in der III. Republik (1870–1940/45) als auch in der IV. Republik (1946–1958) trug das französische Parlament in sich alle politische Macht, von keinem anderen Verfassungsorgan wirksam kontrolliert, von niemandem auf die Gesetzes- und Verfassungsmäßigkeit seines Handelns hin überprüft. Die Verfassung der V. Republik entmachtete das Parlament und verlieh der Regierung, vorab dem Staatspräsidenten, die weitestgehenden Machtbefug-



Die stille Revolution301

nisse. Michel Debré, auf dessen Verfassungsdenken die V. Republik fußt, wollte statt der Allmacht des Parlaments eine republikanische Monarchie. Um es den Regierenden zu ermöglichen, das Parlament in Schach zu halten, schufen die Väter der V. Republik eine in der französischen Verfassungstradition neuartige Institution: den Verfassungsrat (Conseil constitutionnel). Die Gesetze des Parlaments sollten zukünftig auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfbar, und der Verfassungrat sollte die Institution dieser Kontrolle sein. Nach den ursprünglichen Verfassungsregelungen konnte der Verfassungsrat aber nur vom Staatspräsidenten, dem Premierminister oder einem der Präsidenten der beiden Parlamentskammern (Nationalversammlung und Senat) angerufen werden. Durch diese Regelungen schien sichergestellt zu sein, daß der Conseil Constitutionnel die Gesetze des Parlaments gewissermaßen nur im Auftrag, also nur im Sinne der Regierenden kontrollieren und folglich nichts anderes sein würde, wie böse Zungen formulierten, als der „Wachhund der Exekutive“. Bis ins Jahr 1971 hinein verhielt sich der Verfassungsrat – der sich aus neun Personen zusammensetzt – ganz nach den Erwartungen derer, die ihn eingesetzt hatten. Doch im selben Jahr setzte er auch zu einer Revolution in der französischen Regierungs- und Verfassungspraxis an. Bislang hatte es im Verfassungsleben Frankreichs keine Institution gegeben, welche die Verfassungsprinzipien und die Gesetze der Französischen Republik durch konti­ nuierliche, richterliche Urteilsfindungen verbindlich interpretiert, präzisiert, als wahrhaft Dritte Gewalt gegenüber den legislativen und exekutiven Gewalten in autoritativer Weise gehütet hätte – ähnlich dem Obersten Gericht (Supreme Court) in den Vereinigten Staaten oder dem Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepublik. Seit 1971 hat der Conseil Constitutionnel aus sich mehr und mehr eine solche wahrhaft Dritte Gewalt, ein Verfassungsgericht, gemacht, das in zunehmendem Maße über die Rechtmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit der Regierungspolitik in Frankreich entscheidet. Vom „Wachhund der Exekutive“ spricht nur noch, wer über die Vergangenheit des Verfassungsrats spricht. Die Akzente der Macht sind verschoben. Jetzt sind es Vertreter der Regierung, die davor warnen, daß die Macht des Verfassungsrats zur exzessiven Macht, zu einer „Regierung der Richter“ (gouvernement des juges) geraten könnte. Aufgrund dieser revolutionären Entwicklung im französischen Verfassungsleben wird – unter der bestehenden Verfassung – schwerlich noch einmal alle politische Macht in einer einzigen Regierungsinstitution konzentriert werden können. Mitterrand, so autokratisch er zwischen 1981 und 1986 auch regieren mochte, er mußte immer mit dem Conseil Constitutionnel rechnen – und sich dessen Entscheidungen beugen. Seit dem 29. Oktober 1974 können auch 60 Abgeordnete der Nationalversammlung oder 60 Mitglieder des Se-

302

Die stille Revolution

nats den Verfassungsrat anrufen. Dadurch wurde der Opposition im französischen Parlament die Möglichkeit gegeben, über den Verfassungsrat die Macht der Regierungsmehrheit in Schranken zu halten – eine Möglichkeit, die von den Parteien in der jeweiligen Minderheit immer häufiger wahrgenommen worden ist (und immer mehr zur Stärkung des Verfassungsrats beigetragen hat). Jetzt sind es Mitterrands Parteifreunde, die sozialistischen Parlamentarier in der Opposition, die den Verfassungsrat anrufen, um die Politik der Regierungsmehrheit Chiracs überprüfen und, gegebenenfalls, korrigieren oder für nichtig erklären zu lassen. Nichts ist typischer für die neueren Veränderungen in der französischen Politik als diese Ausweitung des Zugangs zum Conseil Constitutionnel. Denn sie wurde von Seiten der Regierung, vom damaligen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing aus betrieben. Macht verzichtete auf Macht, um eine Gegenmacht zu stärken – freiwillig, aus Überzeugung, eines großen Zieles wegen. Auf seinem politischen Weg sollte Frankreich nicht von einer einzigen Macht, sondern von mehreren, miteinander konkurrierenden Mächten geleitet werden. Frankreich sollte nicht von einer Macht, sondern von der Politik unter verschiedenen Mächten regiert werden. Der staatliche Zentralismus, der Frankreich jahrhundertelang beherrscht hat – er ist vorbei, Vergangenheit. Sein Ende wurde in wenigen Jahren vollzogen – durch einen revolutionsgleichen Machtverzicht seitens des Staates, der Regierung Frankreichs in Paris. Es begann (nach vielen früheren und in Ansätzen steckengebliebenen Versuchen) im Mai 1981 mit dem Regierungsantritt Mitterrands und dessen Innenministers Gaston Defferre. Durch ein immenses Gesetzeswerk, das mittlerweile 25 Gesetze und mehr als 150 Verordnungen der Regierung umfaßt (und noch nicht abgeschlossen ist), inszenierten Mitterrand und Defferre einen Gewaltstreich des Staates gegen sich selbst: Frankreich wurde dezentralisiert, und es wurde in einer Weise dezentralisiert, die seine Dezentralisierung unumkehrbar macht. Was war geschehen? Die 22 Regionen Frankreichs wurden zu eigenständigen Gebietskörperschaften erhoben, die seit dem 16. März 1986 von demokratisch gewählten Regionalräten regiert werden. Den Regionen und den anderen Gebietskörperschaften – Gemeinden und Departements – wurden verschiedentlich weitestgehende Befugnisse im Gesundheitswesen, im Schulwesen, in der Sozialfürsorge, in der Wirtschaftsförderung, und, vor allem, in der Stadtplanung und Stadtentwicklung übertragen. Die Aufsicht des Staates über alle Vorhaben lokaler Instanzen – die tutelle, durch die Paris praktisch bestimmt hatte, was in der Provinz geschah – wurde abgeschafft; die lokalen Gebietskörperschaften können nur noch nachträglich durch einen Rechnungshof kontrolliert werden.



Die stille Revolution303

Die gewählten Organe und die Verwaltungen von Gemeinden, Departements und Regionen wurden der zentralen Verwaltung des französischen Staates gleichgestellt; es gibt nicht mehr nur die eine Verwaltungslaufbahn beim französischen Staat (das heißt „Paris“), sondern davon unabhängig gleichrangige Verwaltungslaufbahnen in der Provinz. Die Regierung in Paris schuf verschiedene Mechanismen, durch die sie sich selbst verpflichtete, in jedem Budgetjahr einen regelmäßig zu erhöhenden Teil ihrer finanziellen Ressourcen an die lokalen Gebietskörperschaften weiterzugeben; im Jahre 1986 erhielten die französischen Gemeinden und Departements von Paris allein für ihre Betriebs- und Verwaltungskosten Zuschüsse in Höhe von 69 Milliarden Francs, genug, um ein Drittel dieser Kosten decken zu können. Das ist die eine, die gesetzliche Seite der Geschichte. Die andere, die politische Seite der Geschichte ist diese: In der französischen Politik hat es schon immer Provinzfürsten gegeben; aber die, die es heute sind, verdanken ihren politischen Einfluß nicht mehr allein ihrer Stellung in Paris, sondern zusehends auch der politischen Macht, die sie aus der Provinz gegenüber Paris geltend machen können. Unter den Hunderttausenden von lokalen Mandatsträgern, alle vom Volk gewählt, breitet sich eine politische Klasse aus, die nicht mehr die Pariser, sondern die lokalen Interessen verficht; mit ihr verbünden sich mehr und mehr die von Paris unabhängig gewordenen lokalen Verwaltungen. Die Politiker in der Provinz haben sich mittlerweile nicht nur an ihre neue, viel größere Regierungsverantwortung gewöhnt, sie fordern von Paris auch noch mehr politische Macht. Die Gleichung, die Mitterrand und Defferre vorschwebte, ist aufgegangen. Aus dem Machtverzicht der herrschenden Macht von Paris ist Regierungsmacht in der Provinz entstanden. Macht hat sich in Frankreich über eine weitaus größere Zahl von Machtträgern als früher verteilt. Obwohl die Dezentralisierung von ihr vollzogen wurde, hat die französische Linke bei den Regionalwahlen am 16. März nur in zwei der 22 Regionalräte eine Mehrheit für sich gewinnen können. Dafür hat die UDF, der kleinere Koalitionspartner in der Regierung Chirac, eine Mehrheit in 15 Regionalräten erhalten. Und Chiracs Partei, der auf nationaler Ebene durchaus machtvolle RPR, mußte sich mit einer Mehrheit in 5 Regionalräten zufriedengeben. Frankreich ist dabei, aus sich ein anderes Frankreich zu machen. Nicht mehr die Macht des Staates regiert dieses Land, sondern die Konkurrenz zwischen vielen regierenden Mächten. Frankreich verläßt die trügerische Sicherheit eines allumfassenden, für alles verantwortlichen Staates. Es tritt hinaus in das freie Spiel politischer Mächte, in das Wagnis der Politik.

Die Schneisen zur Freiheit Frankreich auf dem Weg in die Große Revolution von 1789 Versailles, 5. Mai 1789. Frankreich hat seit langem diesen Tag erwartet, mit wachsender Ungeduld. Im Land regiert die Ungerechtigkeit; alles ist so geordnet, daß das Leben süß sein kann, aber vornehmlich für den, der sich der einen Mühe unterzogen hat, als Adliger geboren zu werden. Der könig­ liche Staat, Schulden über Schulden häufend, kann sich kaum noch finanzieren. Die Bevölkerung revoltiert, sie lehnt sich wider eine Ausübung politischer Herrschaft auf, die sie zu bezahlen, bei der sie aber nichts zu bestimmen hat. Die Staatsmacht schlägt die Aufstände mit Waffengewalt nieder. In Frankreich zerreißen die Bande zwischen Herrschenden und Beherrschten. An den Institutionen des alten Königreichs zieht vorbei, was sich in ihnen ereignen müßte: der politische Prozeß der französischen Gesellschaft. Doch an diesem Tag in Versailles fängt sich das krisengeschüttelte Königreich in der einen Institution, die es noch aufbieten kann, um zu überleben wie bisher. Die Generalstände treten zusammen, das repräsentative Staatsorgan, über das sich der König, Ludwig XVI., mit seinem Lande verständigen will. Es repräsentiert alle Menschen in Frankreich, doch das Königreich ist gesellschaftlich in drei Stände aufgeteilt, und so kommen in den Generalständen getrennt gewählte Abgeordnete getrennt zusammen: die Vertreter jeweils des Adels, des Klerus und des „Dritten Standes“ (des „Volkes“). Nach den Vorstellungen Ludwigs XVI. und seiner Regierung wird sich an dieser Anordnung nichts ändern, auch nicht an den Verfahren, nach denen die Versammlung tagt. Die Netze dieser Institution dürfen nicht reißen. Die Generalstände waren seit 1614 nicht mehr einberufen worden. Frankreichs Könige hatten es seit dieser Zeit verstanden, allein zu regieren. An die ursprüngliche Einschränkung ihrer Herrschaft durch das Prinzip, sich von Zeit zu Zeit mit den Ständen des Reiches zu beraten, erinnerten sich zwar noch Rechtsgelehrte, die sich mit der Ordnung des Königsreichs beschäftigten, oder Aristokraten, die den Verlust ihrer Macht nicht verwinden konnten, oder Bürger, die im Bewußtsein ihrer wirtschaftlichen Leistung das Recht auf eine Mitsprache in den Staatsgeschäften vermißten. Aber ihre ErErstdruck

in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 99, 29./30. April, 1. Mai 1989.

306

Die Schneisen zur Freiheit

innerungen besaßen keine Macht, und die Macht bedurfte nicht ihrer Erinnerungen. Im Frühling 1789 in Versailles erscheinen jedoch die Dinge ganz anders. Die herrschende, aber verfallende Macht ruft die Macht der Erinnerungen an, damit diese auch ihr wieder die Macht, die Fähigkeit zum Regieren, verleiht. Der König hat die Vertreter der Stände an den Ort seiner Herrschaft einberufen, um von den Ständen die Unterstützung einzuholen, die er braucht, soll seine Herrschaft noch länger existieren. Seit 9 Uhr morgens ziehen die Abgeordneten in den Versammlungssaal ein, einer nach dem anderen, mit dem feierlichen Gehabe und in dem umständlichen Prunk, den das höfische Zeremoniell gebietet. Von Herolden werden sie einzeln zum Einzug gerufen, den schon Versammelten vorgestellt und dann ihren Plätzen zugewiesen, nach Ständen getrennt. Um 13 Uhr schließlich tritt der König ein und nimmt Platz auf seinem erhöhten Thron. Er beginnt seine Eröffnungsrede. Den Worten des Herrschers entnehmen die Abgeordneten, daß es der Versammlung vornehmlich aufgegeben sei, für das hochverschuldete Königreich neue Steuerquellen zu erschließen. In einigen Sätzen spricht der Monarch auch über die Freude, die er über diesen Tag empfinde; er habe ihn schon lange herbeigesehnt, nun sei er endlich gekommen (tatsächlich hat sich Ludwig XVI. lange Zeit gegen die bessere Einsicht gesträubt, die Generalstände müßten einberufen werden). Zu dem, was die Gedanken der meisten Abgeordneten bewegt, sagt der Herrscher nichts. Schon tags zuvor, am 4. Mai 1789, hat Ludwig XVI. die Abgeordneten verstört. Um 7 Uhr morgens sollten sich König und Generalstände vor der Kirche zu Unserer Lieben Frau versammeln, für eine Prozession durch die Straßen von Versailles zu der Kirche des St. Ludwig. Aber um 8 Uhr war der Monarch noch nicht erschienen, auch um 9 Uhr noch nicht, erst mit dreistündiger Verspätung stellten sich Seine Majestät und die königliche Familie ein. Der König verhielt sich ungebührlich, zumindest in den Augen des Abgeordneten, der den Vorgang so kommentierte: „Wirklich, ein einzelner läßt nicht eine Nation drei Stunden lang warten.“ Ludwig XVI. weiß von der gärenden Stimmung im Lande. Er kennt das Begehren, dessentwegen viele derer sich haben wählen lassen, die ihm jetzt bei seiner Eröffnungsrede zuhören. Aber er erwähnt das Begehren nicht; er ignoriert das im Lande vielerorts laut werdende Verlangen nach einer Verfassung für das Königreich. Dem König, der an seiner Alleinherrschaft festhalten will, kommt das Wort „Verfassung“ nicht über die Lippen. Schon in den Jahren zuvor hat sich der Adelsstand der weiteren Alleinherrschaft des Monarchen widersetzt. Von den Königen gekauft mit dem vergnügten Leben am Hofe in Versailles, waren die Adligen sehr lange fügsam gewesen. Die bestehende Gesellschaftsordnung ist, so scheint es ihnen, ganz



Die Schneisen zur Freiheit307

zu ihrem Vorteil eingerichtet. Die niederen Stände – Bürger und Bauern – arbeiten, und sie, die Adligen, leben von den Erträgen dieser Arbeit; die niederen Stände arbeiten nicht nur, sondern zahlen auch noch die meisten Steuern, und sie, nichtstuend, aber vermögend, sind weitgehend von Steuerzahlungen ausgenommen. Doch es gibt auch „arme“ Adlige, jene, die nur mühsam die Ausgaben bestreiten können, die ein adliges Leben notwendigerweise mit sich bringt. Für diesen Adelsplebs bedeuten die steuerlichen Vorrechte seines Standes alles; wer ihm davon etwas nimmt, nimmt ihm seine Existenz. Der Plan Ludwigs XVI. und seiner Minister, vom Adel einen Beitrag zur Verminderung der Staatsschulden zu verlangen, bringt den Hohen Stand gegen den König und dessen Alleinherrschaft auf. Sonst aller Gegenmacht beraubt, verfügt der Adel noch über ein Mittel, den Herrscher daran zu hindern, sich mit seinem Plan durchzusetzen. Er kann sich zum Widerstand der „Parlamente“ bedienen, jener Gerichtshöfe – es handelte sich also um juristische und nicht um politische Einrichtungen, wie der Name vermuten ließe –, denen es oblag, schon seit dem 14. Jahrhundert, die Verordnungen und Anweisungen, durch die der König regierte, in formeller Weise als gesetzlich zu erklären. In diesen Gerichtshöfen – im Parlament von Paris und in den Parlamenten einzelner Provinzstädte wie beispielsweise Grenoble, Rennes oder Bordeaux – formiert sich der Aufstand des Adels gegen die königliche Macht. Man lehnt es ab, die Reformvorhaben der königlichen Regierung zu „registrieren“, sie also formell Gesetz werden zu lassen. Die Monarchie versucht, den Widerstand des Adels mit Macht zu brechen: Unbotmäßige Parlamente werden in fremde Städte verbannt; besonders aufsässige Parlamentspräsidenten werden abgesetzt; Sitzungen, die anberaumt waren, werden gestrichen; Debatten über die königlichen Vorlagen werden untersagt; abweichend von alter Tradition sollen die Parlamentsmitglieder die Vorlagen ohne jede Erörterung, stumm und gehorsam, registrieren. Das Königtum scheitert an dieser letzten Demonstration seiner alleinigen Herrschaft. Die aufständische Adelsmacht in den Parlamenten widersteht nicht nur dem Gegendruck des Monarchen, sondern tritt ihrerseits auch immer selbstbewußter und offensiver auf. Von einem wachsenden Machtbewußtsein getragen, verweist sie die Monarchie in alte Schranken zurück. Am 3. Mai 1788 erinnert das Parlament von Paris, in der Form einer öffentlichen Bekanntmachung, an die „Grundgesetze des Königreichs“, an die rechtlichen Vorstellungen und Verfahrensweisen, an die von altersher in Frankreich jedermann gebunden sei, auch der König. Am 9. Mai 1788 erklärt das Parlament von Grenoble all jene Gesetzestexte von vornherein für null und nichtig, die „gegen die gewohnten Verfahrensweisen“ gültig werden sollen und daher nur mit Zwang durchgesetzt werden könnten.

308

Die Schneisen zur Freiheit

Die Situation ist klassisch. Der König – die Regierung – benötigt Geld. Aber der Adel – auf den der König in diesem Fall angewiesen ist – hilft ihm nicht, er denkt an seine Vorrechte. Die Macht im Königreich wird lahmgelegt Und es rührt sich die Gewalt. Am 7. Juni 1788 kämpft in Grenoble eine aufgebrachte Volksmenge gegen königliche Soldaten, um Parlamentsmit­ glieder zu schützen, denen königliche Verhaftungsbefehle drohen. Es wird geschossen, es gibt Tote und Verwundete. Frankreich, so sagen jetzt immer mehr, kann so wie bisher nicht mehr regiert werden. Es muß ein neuer Anfang gemacht werden. Es müssen die Generalstände einberufen werden. 1788 verschlingen die Zinsen an die Gläubiger des französischen Staates die Hälfte von dessen Jahresbudget Das Königreich nähert sich dem Bankrott, doch Frankreich, das Land, wird seit Jahrzehnten immer reicher. Man kann dies noch heute an den barocken Plätzen, Straßen und Bauten von Rennes, Marseille, Lyon, Nantes und Bordeaux erkennen, an jenen großzügig neuen Stadtensembles, in welche diese Städte damals ihren wachsenden Wohlstand fassten. Die unternehmerische Dynamik des städtischen Bürgertums zieht Menschen an, die durch sie besser bezahlte Arbeit oder überhaupt Arbeit finden. Die französischen Städte wachsen und in ihnen besonders die wirtschaftlich aktiven Bevölkerungsteile. In den Jahren vor der Revolution zählen beispielsweise Marseille und Bordeaux jeweils ungefähr 110.000, Lyon ungefähr 150.000 Einwohner, und Paris, gigantische Großstadt, wie es die Zeitgenossen selber sehen, ist angeschwollen auf 600.000 Einwohner. Die demographische Entwicklung Frankreichs im 18. Jahrhundert verläuft außerordentlich günstig. Das Land verjüngt sich, zwischen 1700 und 1790 steigt seine Bevölkerungszahl um fast ein Drittel, von 12 Millionen auf 18,5 Millionen an. Eine beträchtliche Steigerung seines Binnenhandels trägt des weiteren zu seinem Wohlstand bei. In Beaucaire, Frankreichs wichtigstem Messeplatz, werden im Jahre 1690 Waren im Werte von 6 Milliarden Pfund umgeschlagen; 1788 hat der Umsatz ein Volumen von 41 Milliarden erreicht. Wirtschaftliche Güter können immer besser, schneller und in größeren Mengen transportiert werden. Ludwig XVI. hat Flüsse für die Schiffahrt ausbauen und Kanäle errichten lassen; im Jahr der Revolution, 1789, durchzieht Frankreich ein Netz von 25.000 Kilometern gut ausgebauter Straßen. Entlang dieser Straßen sind 1.320 Poststellen errichtet; eine Postsendung, die in Paris aufgegeben wird, kommt in Lyon nach drei bis vier Tagen, in Bordeaux nach fünf und in Marseille nach sieben Tagen an. Die französische Gesellschaft schließt sich viel enger zusammen als zuvor; Neuigkeiten verbreiten sich jetzt sehr schnell, Nachrichten werden sehr rasch übermittelt Eine gleichzeitige Verständigung aller mit allen ist möglich geworden. Das revolutionäre Feuer wird sich leicht über das Land verbreiten. Warum aber geschieht eine Revolution in einem reichen Land, von dem



Die Schneisen zur Freiheit309

Aufbegehren einer Bevölkerung getragen, die im Umsturz aller Dinge erst einmal viel zu verlieren hat? Die Frage ist falsch gestellt, sie konstruiert einen Widerspruch, wo keiner ist. Im Gegenteil. Das, was scheinbar als Widerspruch wahrgenommen wird, liefert die Erklärung: Der wachsende Wohlstand hat in der französischen Gesellschaft das Begehren nach noch größerem Wohlstand geweckt, und dieses Begehren ist der Stoff für die revolutionäre Stimmung. Die alte Monarchie erwies Möglichkeiten eines besseren Lebens. Und jetzt erwartet die Gesellschaft von der alten Monarchie mehr – mehr als ihr diese je geben kann. Auch die Natur bringt Bedrängnis. Im Sommer 1788 regnet es kaum, die Felder vertrocknen, die Bauern ernten nicht viel. Und dann folgt ein Winter bitterer Kälte, monatelang liegt das Land wie erstarrt, es erlebt wieder – fast hätte man diese Erfahrung vergessen – weiträumige Not und Armut. Der Brotpreis steigt – klassischer Anlaß für das Volk, der Staatsmacht gegenüber ungeduldig zu werden. Schon früher hat es wegen teuren Brotes Unruhen gegeben. Und jetzt hat sich auch noch der Wahrnehmungshorizont der Menschen geändert. Was immer im Lande nicht stimmt, wird nicht mehr allein für sich gesehen (und erlitten), sondern im Zusammenhang einer allgemeinen Gesellschaftskritik begriffen. In Frankreich hat sich in den letzten Jahrzehnten, etwa von 1750 an, eine politisch bewußte Öffentlichkeit herausgebildet, die innerhalb der alten Monarchie deren Gegengesellschaft darstellt. Politisch gesehen ist Versailles 1789 ein Anachronismus. Es existiert schon ein anderes Frankreich. Das Frankreich freiheitlicher, demokratischer Gesinnung. Mirabeau, führende Gestalt der Revolution in ihren Anfängen, erklärte zu den Überlebenschancen der alten Herrschaftsordnung, die er in wuchtigen, wirksamen Reden attackierte: „Wir haben einen Vorsprung an Ideen“. Er hatte Grund, die Sache der Revolution so selbstsicher zu vertreten, gewiß, aber nicht bloß wegen der Ideen. Die Ideen allein hätten nur einen Intellektuellen selbstsicher gemacht Zusätzlich zu ihrem Vorsprung an Ideen stützten sich diejenigen, die gegen die alte Herrschaftsordnung angingen, noch auf etwas anderes. Sie bewegten sich in einer Öffentlichkeit, in der die Ideen, die sie vertraten, längst die regierenden Ideen waren. Der gesellschaftliche Verständigungsprozeß, aus dem sie hervortraten, hatte ganz Frankreich erfasst. Und in den Medien dieses Verständigungsprozesses hatte sich auch schon die andere Gesellschaft organisiert, für die Mirabeau und alle jene, die mit ihm waren, sprachen und handelten. Bevor die Revolution begann, hatte sie schon die politischen Formen produziert, in denen und mit denen sie sich durchsetzte. Während der Jahrzehnte vor dem Ausbruch der Revolution fand sich die oppositionelle Gesellschaft an den Orten sozialen Austausches zusammen, die es in Frankreich, einem geselligen Land, in großer Zahl gab: Cafés,

310

Die Schneisen zur Freiheit

­alons, Freimaurerlogen, öffentliche Lesehallen, literarische Diskussions­ S zirkel, gelehrte Akademien. Hier konnten freizügig die Mißstände im Lande kritisiert und intensiv die umstürzlerischen Vorstellungen debattiert werden, die zu einer Neuordnung Frankreichs im Umlauf waren. Stoff zur Diskussion war in reichlicher Fülle vorhanden. Die Zahl regelmäßig publizierter Druckschriften hatte sich von 200 am Ende des 17. Jahrhunderts auf 900 im späteren 18. Jahrhundert vermehrt, und vom Sommer 1788 an schnellte sie um weitere 250 Zeitschriften und Zeitungen bis zum Frühjahr 1789 hoch. Wer des Lesens unkundig war, brauchte auf den aufklärerischen Genuß nicht zu verzichten, den die meisten dieser Druckschriften sowie der 30.000 Bücher vermittelten, die zwischen 1723 und 1789 erschienen. In den Straßen, in den Cafés, auf den Marktplätzen wurde öffentlich aus den aufrührerischen Schriften vorgelesen, oder es erschienen wandernde Denkgesellen, die dem Volk das Gedankengut kolportierten, das sie in den Stammlokalen der Aufklärer – wie dem Café Procope in Paris – aufgeschnappt hatten. Durch einen Prozeß der Osmose hatte sich 1789 zu jedermann und nach überallhin das Urteil verbreitet, das zum Beispiel Chamfort, eingegangen in die Literatur durch den Schliff seiner Maximen, so ausgesprochen hatte: „Der Adel, sagen die Adligen, ist ein Mittler zwischen dem König und dem Volk. Ja, wie der Jagdhund der Mittler ist zwischen dem Jäger und dem Kaninchen.“ Am 8. August 1788 erklärt sich die königliche Regierung bereit, die Generalstände einzuberufen. Doch die rettende Idee wird von der Monarchie zu spät aufgegriffen. Die Krone hat das Land schon verloren. Es regieren andere, aber wer? Der Adel glaubt noch, er könne mit der Macht, mit der er dem König widerstand, auch allem anderen widerstehen. Doch auch er wird beiseite gedrängt, von der Regierung ironischerweise, die ihrerseits schon immer weniger aus eigenem Entschluß und immer mehr unter dem Druck öffentlicher Forderungen handelt. Am 27. Dezember 1788 fassen der König und seine Berater einen Beschluß, der die Machtverhältnisse in Frankreich unter den Generalständen revolutioniert, bevor diese überhaupt zusammengetreten sind. Nach der bisherigen Wahlordnung für die Generalstände konnten die drei Stände jeweils die gleiche Anzahl von Abgeordneten in diese entsenden, also jeder ein Drittel. Durch den Beschluß wird die Wahlordnung zugunsten des Dritten Standes geändert, die Zahl seiner Sitze wird verdoppelt. Der Dritte Stand wird also in die Generalstände, die im Jahr darauf zusammentreten werden, genauso viele Abgeordnete entsenden dürfen wie der Adel und der Klerus zusammengenommen. Zwischen dem „niederen“ Stand und den beiden „hohen“, eigentlich privilegierten Ständen wird eine zahlenmäßige Parität bestehen – und gegen diesen Machtzuwachs für den Dritten Stand hat sich der Adel vergebens mit all seiner Macht gewehrt. Er will nicht sehen, daß dem Dritten Stand mittlerweile 98 Prozent der französischen Bevölkerung angehören.



Die Schneisen zur Freiheit311

Wer regiert 1789 in Frankreich? Nicht mehr der König, und nicht mehr der Adel. Das Volk? Noch nicht. Wer also regiert? Nur eine Macht – die öffentliche Meinung. Und diese ist mitten in der Revolution. Am 5. Mai 1789 in Versailles. 578 Abgeordnete des Dritten Standes sitzen 576 Abgeordneten des Adels und des Klerus (285 für den ersteren und 291 für den letzteren) gegenüber. Die Eröffnungsrede des Königs ist vorüber, und die Abgeordneten werden aufgefordert, wieder auseinanderzugehen, um je nach Stand getrennt zu tagen. So will es die alte, feudale Ordnung, die aber nicht mehr bei allen verfängt: bei der einen Hälfte der Abgeordneten nicht, denen des Dritten Standes, und auch nicht bei einer Zahl von Abgeordneten des Adels und des Klerus. Sie haben in ihren Köpfen schon die Revolution vollzogen. Sie sind die Mehrheit. Diese Mehrheit, revolutionär orientiert, trifft sich mit der öffentlichen Meinung, der revolutionär gesinnten. Sie inszenieren die Revolution, handeln für Frankreich und fegen in wenigen Monaten die alte Ordnung hinweg. Am 17. Juni 1789 erklären sich die Abgeordneten des Dritten Standes zur Assem­ blée Nationale, der einzig repräsentativen Versammlung der französischen Nation; am 20. Juni schwört die Nationalversammlung, solange nicht auseinanderzugehen, wie sie für Frankreich nicht eine Verfassung verabschiedet hat; am 27. Juni beugt sich Ludwig  XVI. der Dynamik der Nationalversammlung (nach vergeblichen Versuchen, ihr zu widerstehen) und weist die Abgeordneten des Adels und des Klerus an, sich der Nationalversammlung anzuschließen; am 14. Juli besetzt eine Volksmenge, aufgebracht über die Entlassung des populären Ministers Necker, die Bastille, jenes Gefängnis, das nur wenige Insassen hatte, aber zum Symbol despotischer Herrschaft geworden war; am 26. August formuliert die Nationalversammlung jene Prinzipien, nach denen allein noch politische Herrschaft legitim sein soll, sie verabschiedet ihre Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte; am 6. Oktober holt sich das Volk von Paris den König aus Versailles in seine Stadt, die Revolution ist vollzogen: Das Volk regiert, wie es sich in seiner Mehrheit zeigt, auf den Straßen, in den Organen der öffentlichen Meinung, in der Nationalversammlung. An der Mehrheit ist die Französische Revolution zerbrochen. Denn die Mehrheit wurde nicht kontrolliert. Die Herrschenden in der Revolution verstanden sich nicht auf eine wirksame Gewaltenteilung (anders als die Gründer der amerikanischen Republik, die in ihrer Revolution ein ausgeklügeltes System der Machtzerteilung und damit der Machtkontrolle hervorbrachten). So erfuhr Frankreich in der Revolution denn beides: Mirabeau und Robespierre; die Freiheit und die Tyrannei; die Mehrheit, welche Minderheiten schützt, und die Minderheit, die im Namen der Mehrheit spricht und diese dann terrorisiert. Meistens wird die eine Geschichte berichtet: die Geschichte der wütenden Volksmassen, des Königsmords, des Terrors. Die andere Ge-

312

Die Schneisen zur Freiheit

schichte ist weniger bildsam, weniger dazu geeignet, Material herzugeben für das Szenario „Revolution“. Aber an ihren wichtigsten Daten läßt sich leicht erkennen, daß es diese Geschichte ist, die uns näher liegt. Wir setzen sie fort: Der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte geht die Abschaffung der Feudalrechte voraus, danach folgen die Bürgerrechte für die Protestanten (1789), die Bürgerrechte für die Juden (1790), die Verabschiedung einer demokratisch legitimierten Verfassung (1791), die ersten allgemeinen Wahlen (1792), die Einführung der allgemeinen, kostenlosen Schulpflicht (1793), die Abschaffung der Sklaverei (1794). 200 Jahre ist es her, daß in Frankreichs Revolution diese Schneisen der Freiheit geschlagen wurden. Es sind die Wege unserer Freiheit. Grund genug zum Feiern.

Frankreich und die baltischen Staaten in der Zeit der Präsidentschaft von François Mitterrand 1988–19951 I. Am 11. März 1990 erklärte Litauen, bislang ein Teil der Sowjetunion, seine Unabhängigkeit.2 Die Sowjetunion, unter der Führung von Michael Gorbatschow, reagierte auf diesen aus ihrer Sicht „illegalen Akt“ mit der Androhung wirtschaftlicher Sanktionen. Würde Litauen die Proklamation seiner Souveränität – also praktisch sein Ausscheren aus dem Herrschaftsverbund der Sowjetunion – zurücknehmen müssen, wie es Gorbatschow verlangte? Litauen brauchte Unterstützung. Seine Hoffnungen richteten sich auf den Westen, und dort insbesondere auf Frankreich. Wie reagierte dieses? Was war die außenpolitische Linie Frankreichs zur „baltischen Frage“,3 also zu dem Verlangen der baltischen Länder nach der Wiederherstellung ihrer Sou-

Erstdruck in: N. Götz/J. Hecker-Stampehl/St. M. Schröder (Hrsg.), Vom alten Norden zum neuen Europa: Politische Kultur im Ostseeraum. Festschrift für Bernd Henningsen, Berlin, Berliner Wissenschaftsverlag, 2010, S. 315–333. 1  Die Eingrenzung dieses Zeitraums erklärt sich wie folgt: Im Jahre 1988 begann sich für die französische Außenpolitik bezüglich der „baltischen Länder“ (= Republiken in der Sowjetunion) mit dem zu dieser Zeit dort virulent werdenden Verlangen nach Unabhängigkeit ein eigenes Problem zu entstehen: die „baltische Frage“. Deswegen setzt dieser Text mit jenem Jahr ein, und nicht etwa mit dem Jahr 1981, dem der Wahl Mitterrands zum Präsidenten Frankreichs. Und er schließt mit dem Jahr 1995, weil im Mai dieses Jahres die Präsidentschaft Mitterrands endete. – Die hier vorgelegte Darstellung geht von Quellen aus, zu denen der Verfasser im Archiv des französischen Präsidialamtes (Élysée) vor dem Ausscheiden Mitterrands aus dem Präsidentenamt Zugang hatte. Die Archivsammlung zur Präsidentschaft Mitterrands befindet sich jetzt im französischen Nationalarchiv, und ist dort nur ausnahmsweise und dann nur für vorselektierte Dokumente zugänglich (Für manche Dokumente wird hier die Signatur des Nationalarchivs angegeben). 2  Aus litauischer Sicht wurde diese Erklärung durch die ersten (seit 1940) freien Parlamentswahlen legitimiert, die am 24. Februar stattgefunden hatten. 3  Im Oktober 1988 bildeten sich in den baltischen Ländern Sammlungsbewegungen für eine Autonomie dieser Länder (noch innerhalb der Sowjetunion), die „Volksfronten“ genannt wurden. Am 2. Oktober 1990 erklärten diese Volksfronten in den drei Ländern, daß nach der erfolgten Lösung der „deutschen Frage“ eine andere ungelöste bleibe: die „baltische“, d. h. die Frage der Souveränität der baltischen Länder.

314

Frankreich und die baltischen Staaten

veränität, die sie 1940 bei der gewaltsamen Einverleibung in das Sowjetreich verloren hatten? François Mitterrand, der als Präsident Frankreichs dessen Außenpolitik bestimmte, antwortete dazu am 26. April 1990 bei einer Pressekonferenz. Er wurde nach Litauen gefragt, aber seine Erwiderung galt ebensogut den beiden anderen baltischen Ländern. Was sagen Sie denen, so wollte man von ihm wissen, die „fürchten, daß die augenblickliche Haltung des Westens gegenüber der Situation in Litauen einen neuen Geist von München befürchten läßt?“ Mitterrand erwiderte: „Wir haben von französischer Seite aus schon Demarchen unternommen,  … entlang von zwei Achsen. Die erste betrifft die litauische Souveränität. Frankreich ist eines der wenigen Länder, die niemals das Verschwinden der litauischen Unabhängigkeit 1939 anerkannt haben  …  . Die Intention [der französischen Außenpolitik] ist klar und einfach. Zweiter Punkt. Seit mehreren Jahrhunderten, zur Zeit des russischen Imperiums, wie der des sowjetischen, war Litauen seinem mächtigen Nachbarn einverleibt. Heute ist Herr Gorbatschow Erbe dieser zwei historischen Traditionen. Ihm stellt sich ein Problem, das nicht allein das von Litauen, sondern eher das der Art und Weise ist, wie das Problem der Nationalitäten zu lösen sei. … . Es geht um eine außerordentlich schwierige Anpassung der Sowjetunion an ihre neuen Umstände. Und niemand hat ein Interesse daran, und insbesondere die Litauer nicht, daß die sich abzeichnende Entwicklung abbricht und ein Klima der Spannung aufkommt, von dem niemand genau weiß, was es hervorbringt. Und deswegen ermutigen wir zum Dialog.“4

Die Außenpolitik Frankreichs in der baltischen Frage bewegte sich demnach zwischen zwei Prinzipien. (1) Frankreich hat zu keiner Zeit die „Annexion“ Estlands, Lettlands, Litauens durch die Sowjetunion anerkannt und wird dies auch weiterhin nicht tun. „Die juristische Person der betroffenen Staaten“, so heißt es in einer Vorlage an Präsident Mitterrand vom 23. März 1990, „hat die Annexion überdauert, auch wenn diese Staaten faktisch ihre Souveränität nicht ausüben können.“5 François Mitterrand hielt an dieser 4  Présidence de la République (im folgenden: PdR), Service de Presse, Conférence de Presse Conjointe de Monsieur François Mitterrand, Président de la République, et de Monsieur Helmut Kohl, Chancelier de la République Fédérale d’Allemagne, à l’issue des 55ème consultations franco-allemandes, Palais de l’Elysée, 26. April 1990, S.  11 f. 5  Caroline de Margerie, Note au Président de la République. La France et les Pays Baltes, 23. März 1990. Im Einzelnen hält diese Vorlage fest: „La France n’a jamais reconnu la validité de l’annexion des 3 Etats baltes, effectuée en Août 40 … Cette position a été réaffirmé par la France comme par les autres puissances occidentales, lors de la signature de l’Acte final de la CSCE à Helsinki, en août 1975. … En 1982, M. Cheysson, ministre des Relations extérieures, a précisé que la France n’avait „procédé, depuis 1940, à aucune reconnaissance ni expresse ni tacite“ et que le Gouvernement „n’entendait pas remettre en cause cette position“.



Frankreich und die baltischen Staaten315

Position wiederholt fest.6 (2) Frankreich ist sich aber gleichfalls der Realität bewußt, daß die baltischen Staaten zur Sowjetunion gehören. Über die gegensätzlichen Ansprüche – Anspruch Estlands, Lettlands, Litauens auf Souveränität beziehungsweise Anspruch der sowjetischen Führung auf Verbleib der baltischen Länder im Herrschaftsverband der Sowjetunion – kann nur auf dem Wege des Dialogs zwischen beiden Parteien entschieden werden.7 II. In der Sache ihrer Unabhängigkeit war denn Frankreich unter der Führung Mitterrands auf der Seite der baltischen Länder.8 Aber nicht unter allen Umständen, und nicht bedingungslos. Solange Estland, Lettland, Litauen noch Teil der Sowjetunion waren, konnten sie sich von dieser nur über Verhandlungen mit ihr lösen. Sie waren souverän in der Sphäre des Rechts, aber nicht – oder noch nicht – in der Realität. Und so, in der für ihn typischen zweifachen Haltung als rebellischer Geist einerseits und als mahnender Realist andererseits, sympathisierte Mitterrand mit den Balten und argumentierte doch zugleich, daß man Gorbatschows Schwierigkeiten, die Balten einfach loszulassen, verstehen und danach handeln müsse. Aus dieser für Mitterrand ganz logischen, aber von außen gesehen nicht einfach zu deutenden Haltung heraus – er nahm die gleiche auch und besonders in der Frage der deutschen Wiedervereinigung ein und löste damit einiges an Mißverständnis aus9 – be6  Vgl. z. B. PdR, Service de Presse, Interview accordée par Monsieur François Mitterrand, Président de la République, à Madame Anne Sinclair, dans le cadre de l’émission 7/7 sur TF 1, 25. März 1990, S. 36.f.: „La France a toujours refusé de reconnaître l’annexion [der drei baltischen Staaten]. … . Le droit de la Lituanie ne peut pas être contesté. Son droit est celui de la souverainité.“ – PdR, Service de Presse, Conférence de Presse Conjointe de Monsieur François Mitterrand, Président de la République, et de M. Vaclav Havel, Président de la République Tchecoslovaque, Palais de l’Élysée, 20. März 1990, S. 3: „La France n’a jamais reconnu l’annexion de la Lituanie par l’Union Soviétique. Et nous avons continué de considérer que ce pays était en situation de réclamer justement sa souverainité.“ – Aufzeichnung des Gesprächs Mitterrand – Hermansson (Premierminister Islands), 22. August 1990: „P.R. [Mitterrand]: „L’annexion des pays baltes ne repose sur aucune base juridique.“ 7  Vgl. Interview TF 1, 15. März 1990, S. 37: „Mais [les pays baltes] sont intégrés à l’Union Soviétique. … la seule voie permise est celle du dialogue.“ 8  Von der Sitzung des französischen Ministerrats am 4. September 1991 wurde im Protokoll die folgende Äußerung Präsident Mitterrands festgehalten: „Le Président a encouragé dès le début le président de Lituanie à avancer, mais, avec prudence, dans la voie de l’indépendance.“ (Aufzeichnung zur Sitzung des Ministerrats am 4. September 1991). 9  Vgl. Tilo Schabert, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die Deutsche Einheit, Stuttgart 2002, insbes. der Abschnitt „Das Lied des Rebellen, der Refrain des Mahners“, S. 321 ff., und die überarbeitete und erweiterte französische Fas-

316

Frankreich und die baltischen Staaten

stimmte Mitterrand das außenpolitische Handeln Frankreichs zur baltischen Frage. Sie sollte gelöst werden, gewiß, aber es sollte auch alles dazu getan werden, daß es nicht zu Gewaltanwendungen – Bürgerkrieg, militärische Be­ setzung – kam. „Diese Krisen dürfen sich nicht unter dem Zeichen der Gewalt abspielen.“10 III. Vielmehr sollten, wie es Mitterrand wollte, durch politische Mittel diese Ziele angestrebt werden: (1) Eine Stabilisierung der Region, also des östlichen Ostseeraums; (2) eine Lösung der Konflikte in der Region ohne Gewaltanwendung; (3) eine Unterstützung Gorbatschows bei dessen Bemühen, seine Politik der Perestroika fortzuführen und sich an der Spitze der Sowjet­ union zu halten; (4) ein Erfolg für die baltischen Länder bei ihrem Verlangen nach einer allgemein anerkannten Souveränität; (5) ein Heranführen der baltischen Staaten, nach Erlangen ihrer Souveränität, an Institutionen der europäischen und internationalen Politik (KSZE, UNO; EU). IV. Die Entwicklungen im baltischen Raum wurden für Frankreich von drei „Beobachtungsposten“ aus verfolgt. Das waren: die Französische Botschaft in Moskau, die Abteilung Europa/Unterabteilung UdSSR im französischen Außenministerium, und ein Stab von Beratern Mitterrands im Élysée.11 Erste Papiere zur Virulenz der baltischen Frage wurden im Außenministerium verfaßt, eines im November 1988 mit der Überschrift: „Protestwelle in den baltischen Ländern gegen des neue Projekt einer Reform der sowjetischen Verfassung“12 und ein weiteres, sechs Seiten langes, im September 1989 zu der „Situation in den baltischen Ländern“.13 Im ersten Papier wurde unter sung: Mitterrand et la réunification allemande. Une histoire secrète (1981–1995), Paris 2005. 10  So Mitterrands Aussage bei einer Pressekonferenz mit Vaclav Havel im März 1990. Vgl. PdR, Service de Presse, Conférence de Presse Conjointe de Monsieur François Mitterrand, Président de la République, et de M. Vaclav Havel, Président de la République Tchecoslovaque, Palais de l’Élysée, 20. März 1990, S. 3. 11  Mit der baltischen Frage befaßten sich unter den Beratern Mitterrands Loïc Hennekine, Pierre Morel, Jean Vidal, und Caroline de Margerie (für die außenpolitischen Aspekte), Anne Lauvergeon, Serge Lafont und Philippe Bastelica (für die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Aspekte). 12  Ministère des Affaires Etrangères, Vague de Protestation dans les pays baltes contre le nouveau projet de reforme de la constitution soviétique [November 1988]. 13  Ministère des Affaires Etrangères, Direction d’Europe, Le Sous Directeur URSS, Note. A/s: situation dans les Pays Baltes, 22. Sept. 1989.



Frankreich und die baltischen Staaten317

dem Punkt „Eine Herausforderung der zentralen sowjetischen Macht“ berichtet, daß das Präsidium des estnischen Obersten Sowjet am 4. November 1988 beschlossen habe, eine außerordentliche Sitzung des estnischen Parlaments einzuberufen. Die Esten seien „in Aufruhr“, so wird gesagt; denn entgegen der Beschlüsse, die beim Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Ende Juni 1988 gefaßt worden seien, werde in dem am 22. Oktober veröffentlichten Reformprojekt für die sowjetische Verfassung nicht mehr von einer größeren „Souveränität“ der Sowjetrepubliken gesprochen. Am 16. November, so wird weiter ausgeführt, habe sich das estnische Parlament ein Vetorecht über alle sowjetischen Gesetze zugesprochen und die Souveränität der estnischen Republik verkündet. Im zweiten, ein knappes Jahr später verfaßten Papier wurde dann festgestellt, daß sich die Lage in den drei baltischen Republiken rasant entwickelt habe. Es seien starke baltische nationalistische Bewegungen entstanden (mit vielfältigen Kontakten nach außen, zumal zu den skandinavischen Ländern), und diese hätten eine politisch-gesellschaftliche Dynamik ausgelöst, die jetzt nahe eines „Ausreißens“ der gerufenen Kräfte aus den gegebenen politischen Strukturen sei. „Die Forderung nach Autonomie verwandelt sich in eine Forderung nach Unabhängigkeit.“14 Und Moskau reagiere darauf mit Härte. V. Was machten Mitterrand und seine Regierung, um die Informationen, die ihnen über die Entwicklungen im baltischen Raum zugingen, in ein politisches Handlungswissen umzusetzen? Wie versuchten sie, die Ziele, die sie sich für ein politisches Meistern jener Entwicklungen gesteckt hatten, zu erreichen? Sie dachten zuallerst an die Personen, die die maßgeblichen Akteure im Zuge dieser Entwicklungen waren oder sein konnten. Was für sie im Verfolgen von Politik zuerst zählte, war das personale Element in der Politik.15 Und sie waren des weiteren in jenem rein personell konfigurierten Raum von Politik tätig, der von Akteuren in der internationalen Politik zur Information, zum Austausch und auf Entscheidungen hin gebildet wird, und den ich die „Werkstatt der Weltpolitik“ genannt habe.16 Aus dieser sei das erste Beispiel für die Konzentration auf das personale Element angeführt. „Wegen unserer engen Abstimmung in der litauischen Frage“ schrieb Bun14  Ebd.,

S. 3. Tilo Schabert, „Ein klassischer Fürst. François Mitterrand im Spiegel einer vergleichenden Regierungslehre“, hier im Band S. 345–378. 16  Vgl. Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die Deutsche Einheit, S.  63 ff. 15  Vgl.

318

Frankreich und die baltischen Staaten

deskanzler Kohl am 15. Mai 1990 einen Brief an Präsident Mitterrand, „um ihn über die Unterredung zu informieren, die ich am 11. Mai mit der litauischen Premierministerin, Frau Prunskiene, hatte.“17 Und in diesem Brief zog Helmut Kohl als erstes einen Vergleich zwischen der Person der Premierministerin und der des Parlamentspräsidenten Litauens, Vytautas Landsbergis: „Ich habe den Eindruck gehabt, daß die litauische Premierministerin eine politische Ausgewogenheit an den Tag legt, und daß Frau Prunskiene prinzipiell zum Dialog und zum Kompromiß hin offen ist, eine Haltung, die in gewisser Weise mit der des Parlamentspräsidenten, Herrn Landsbergis, kontrastiert. Deswegen habe ich ihr vorgeschlagen, daß sie die nächsten Verhandlungen mit Moskau selber führe.“18 Das zweite Beispiel zeigt noch mehr, wie sich Mitterrand mit anderen über Personen, um die es geht, Gedanken macht, fürsorgliche sogar (denn es gilt ja die anstehenden Entwicklungen zu meistern und nicht entgleisen zu lassen); es ist einer Unterredung Mitterrands mit dem rumänischen Ministerpräsidenten Petre Roman entnommen: „Das Problem ist, daß die Balten nicht weise sind. Wir anerkennen nicht die Annexion und wir haben das baltische Gold aufbewahrt.19 Jedes Mal, wenn ich dazu angehalten bin, Landsbergis, dem Letten, dem Esten zu schreiben, dann geht es darum, ihnen zu empfehlen, geduldig zu sein. Ansonsten werden die Sowjets über sie herfallen, des Exempels wegen.“20 Mitterrand und seine Regierung gingen denn, wie schon die beiden zitierten Beispiele zeigen, bezüglich der baltischen Frage nicht alleine vor. Alles andere als das. Sie verzahnten vielmehr ihre Politik dazu mit der Politik anderer Regierungen in der Sache, über die Unterredungen (mit Ideen- Informations-, Gedankenaustausch), die Abstimmungen, Initiativen, und Entscheidungsvorläufe, aus denen die Arbeit in der Werkstatt der Weltpolitik besteht. Ein Beispiel einer solchen Verzahnung, Helmut Kohls Brief vom 15. Mai 1990 an François Mitterrand, wurde schon angeführt. Ein weiteres sei hinzugefügt. Es zeigt Mitterrand, seinen amerikanischen Amtskollegen, Präsident George Bush, den französischen Außenminister, Roland Dumas, und dessen 17  Brief von Helmut Kohl an François Mitterrand vom 15. Mai 1990 (nach der französischen Übersetzung zitiert, die Mitterrand erhielt – AN –AG/5(4)/CDM/33). 18  Ebd. 19  1939 hatten die Zentralbanken der baltischen Staaten ihr Gold – 3.246 Kilogramm – treuhänderisch bei der Banque de France deponiert. Frankreich widerstand den späteren – und immer wieder erneuerten – Versuchen der Sowjetunion, ihr dieses „baltische Gold“ zu übergeben, im Unterschied zu Großbritannien, das das dort deponierte baltische Gold verkaufte, und zu Schweden, das es der Sowjetunion übergab. Litauen erhielt Ende August 1991 – bei der Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit – als erster baltischer Staat das von ihm in der Banque de France aufbewahrte Gold – 2.200 Kilogramm im damaligen Wert von 150 Millionen französische Francs – zurück. 20  Aufzeichnung des Gesprächs Mitterrand – Roman am 30. Januar 1991.



Frankreich und die baltischen Staaten319

Kollegen, den amerikanischen Außenminister Jim Baker, bei der Arbeit in der Werkstatt, in einem Moment, wo diese unter anderen Problemen der Weltpolitik besonders auch dem Problem „Litauen“ gilt. Der Ort der Arbeit war Key Largo. Die Zeit war der 19. April 1990. Bush und Mitterrand hatten sich am Vormittag dieses Tages schon miteinander unterredet, wie es Baker und Dumas getrennt von ihnen getan hatten. Für das Mittagessen kamen die vier zusammen, also nunmehr für ein gemeinsames Gespräch. Dumas eröffnete es, indem er sagte: „Wir haben von Litauen gesprochen“. „Auch wir haben von Litauen gesprochen“, berichtete Bush. Und er fügte hinzu: „Ich habe viel von François über die Geschichte [des baltischen Raums] gelernt.“21 (Mitterrand, so ist hier anzumerken, nahm in der Werkstatt dank seiner ausgezeichneten historischen Bildung des öfteren die Rolle eines Lehrers der Geschichte ein, und dies besonders gegenüber Präsident Bush.) Doch Litauen blieb nicht gleich das Thema des Gesprächs, erst später warf Mitterrand dieses wieder auf, doch dann wurde dazu Prinzipielles gesagt, vor allem von Mitterrand: „FM [Mitterrand]: Was Litauen angeht: Verlangen wir von Gorbatschow nicht, was wir nicht von dem Diktator verlangen, der ihm nachfolgen wird. Bush: Wir verlangen von Gorbatschow, daß er die moralischen Grundsätze nicht verrät. FM: Ich erinnere daran, daß Frankreich niemals die sowjetische Souveränität über Litauen anerkannt hat. Was sind die Sanktionen, die wir anwenden können? Baker: Die Litauer könnten akzeptieren, nach Moskau zu gehen, aber außerhalb des Sowjets der Nationalitäten. FM: Die Ereignisse sind für Gorbatschow zu schnell abgelaufen. In Kiew22 hatte ich es so verstanden, daß Gorbatschow im Begriff war, an ein föderatives System zu denken, selbst die Unabhängigkeit. Litauen hat vielleicht auf unpassende Weise gedrängt. Dumas: Sie haben keinen Spielraum mehr. FM: Wenn sie fanatisch sind, wird das im Blutbad enden. Und wir werden nicht unsere Armee losschicken.“23

21  Aufzeichnung des Gesprächs Mitterrand – Bush – Dumas – Baker am 19. April 1990. 22  Mitterrand bezieht sich hier auf seine Begegnung mit Gorbatschow am 6. Dezember 1989 in Kiew. Vgl. Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die Deutsche Einheit, S. 433–435. 23  Aufzeichnung des Gesprächs Mitterrand – Bush – Dumas – Baker am 19. April 1990.

320

Frankreich und die baltischen Staaten

VI. Frankreich setzte nach Litauens Unabhängigkeitserklärung als Erstes auf eine Mäßigung der Geister, in Vilnius wie in Moskau. „Wir möchten nichts unternehmen, das Öl ins Feuer schütten könnte“, so erklärte Bernard Kessedjian, der Kabinettschef von Außenminister Dumas, am 23. März 1990 dem sowjetischen Gesandten in Paris, Oleg Krivonogov.24 Diesen hatte er im Auftrag von Roland Dumas zu sich ins Außenministerium zu einer vertraulichen Unterrichtung gerufen und ihn gebeten, deren Inhalt an Dumas’ Kollegen in Moskau, den sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse, zu übermitteln. Frankreich, so wurde Krivonogov (und mit ihm die sowjetische Führung) informiert, sei über die entstandene Situation sehr betroffen. Er würde alle Anstrengungen begrüßen, die auf eine Lösung des „Problems“, also des Konflikts zwischen Vilnius und Moskau, durch Verhandeln hinausliefen. Diese Darstellung von Frankreichs Position (mit Hinweis auf das Gespräch Kessedjian-Krivonogov) wiederholte Jean-Louis Bianco, Generalsekretär des Élysée, in einer handgeschriebenen Vorlage, die er am 24. März zu dem Thema „Litauen“ an Präsident Mitterrand richtete,25 und in welcher er für den Präsidenten die Situation in Litauen mit diesen Stichworten charakterisierte: (a) eine Vervielfältigung der Gesten der Einschüchterung seitens Moskau, (b) eine ungeminderte Entschlossenheit in Vilnius, an der Unabhängigkeitspolitik festzuhalten, und (c) eine Weigerung Moskaus, mit Vilnius zu verhandeln. Sogleich nach dem 11. März waren im Pariser Außenministerium wie im Élysée Informationen zu der Lage in Litauen und deren möglichen Folgen, den politischen, wirtschaftlichen, militärischen, wie auch zum geschichtlichen Hintergrund zusammengetragen und in Vorlagen auf Entscheidungen hin analysiert und zusammengefaßt worden.26 Wie teilweise handschriftlich angebrachte Vermerke zeigen, wurden diese Vorlagen von Jean-Louis Bianco und dann von Präsident Mitterrand gelesen. Man war unterrichtet und man teilte sich die Rollen auf. Moskau wurde durch Außenminister Dumas ange24  Ministère des Affaires Étrangères, Le Directeur du Cabinet du Ministre d’État, Note pour le Ministre d’État seul, 24. März 1990, S. 1. 25  JLB [Jean-Louis Bianco], Objet: Lithuanie, handschriftliche Vorlage, mit Vermerk: „pour le Pt [Président]“, 24. März 1990. 26  Ministère des Affaires Étrangères, Direction d’Europe, Sous-Direction d’URSS, Rédacteur O. Adim, Note. A/S: Lithuanie, 14.  März 1990; Anne Lauvergeon, Note pour Monsieur le Président. Objet: Indépendance de la Lithuanie, 12.  März 1990; Anne Lauvergeon, Note pour Monsieur le Président, 15.  März 1990; Caroline de Margerie, Note pour le Président de la République, Objet: Histoire des pays baltes, 23.  März 1990; Caroline de Margerie, Les Pays Baltes, [23.3.1990]; Caroline de Margerie, La France et les Pays Baltes, [23.3.1990].



Frankreich und die baltischen Staaten321

sprochen, Mitterrand handelte am 20., 25. März, 26. April, 25. Mai über öffentliche Verlautbarungen27 – so erklärte er am 25. März bei einem Interview mit dem Fernsehsender TF1 seinerseits: „Unsere Rolle besteht darin, nicht Öl ins Feuer zu gießen“28 – und in direkter Kommunikation mit führenden Akteuren. Am 20. Februar 1990 hatten sich mit einem Brief zwei Vertreter Litauens an ihn gewandt: Juozas Urbsys, der als „ehemaliger Außenminister des unabhängigen Litauens“ unterzeichnete, und Vytautas Landsbergis, der als „Präsident der Parlamentarischen Versammlung der Bewegung für die Reformen Litauens (Sajudis)“ unterschrieb. In dem Brief erklärten sie, daß sie „die Unabhängigkeit des litauischen Staates wiederherzustellen wünschten“, und indem sie Mitterrand an die besonderen Beziehungen zwischen Frankreich und Litauen erinnerten, baten sie ihn um seine „moralische Unterstützung“ für die litauische Sache.29 Der Brief wurde dem Präsidenten allerdings erst am 16. März übergeben. Mitterrand beantwortete ihn am 19.  April; das „Recht Litauens auf seine Unabhängigkeit“, so sagte er, sei „unbestritten“, doch „fünfzig Jahre Geschichte“ hätten „komplexe Beziehungen zwischen Vilnius und Moskau gewoben“, und nur ein „Prozeß von Verhandlungen“ sei dazu geeignet, die „verschiedenen Probleme, die sich stellten, friedlich (pacifiquement)30 zu regeln.“ Diesen „Weg des Dialogs“ würden Frankreich und die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft empfehlen. Das sei die „Botschaft“, die der französische Außenminister in seinem Auftrag am 30. März an die sowjetische Führung übermittelt habe.31 Mitterrand bezog sich dabei auf den Beschluß, den die Außenminister der EG am 24. März 1990 in Lissabon getroffen hatten: „Die Zwölf haben mit Betroffenheit die Berichte von Litauen gehört. Sie rufen alle Seiten zu äußerster Zurückhaltung auf. Sie setzen ihre Hoffnung in einen von Achtung getragenen, offenen und fairen Dialog zwischen Moskau und Vilnius, durch den die Anwendung von Gewalt oder die Androhung des Gebrauchs von

27  Vgl. Conférence de Presse Conjointe Mitterrand – Havel, 20. März 1990; Interview „Sept sur Sept“ (TF1), 25.  März 1990; Conférence de Presse Conjointe Mitterrand – Kohl, 26.  April 1990; PdR, Service de Presse, Conférence de Presse Conjointe de M. François Mitterrand, Président de la République, et de M. Mikhail Gorbatchev, Président de l’Union des Républiques Socialistes Soviétiques, Moskau, 25. Mai 1990. 28  Interview, „Sept sur Sept“ (TF1), 25. März 1990, S. 37. 29  Brief der Lietuvos Persitvarkymo Sajudis, unterzeichnet durch Juozas Urbsys und Vytautas Landsbergis, an François Mitterrand, vom 20. Februar 1990. 30  Im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung forderte Mitterrand immer wieder gleichfalls, daß diese „pacifiquement“ – wie auch „démocratiquement“ – erfolgen müsse. Vgl. Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die Deutsche Einheit, S.  158 f., S.  377 f. 31  Brief von François Mitterrand an Vytautas Landsbergis vom 19. April 1990.

322

Frankreich und die baltischen Staaten

Gewalt auf der Grundlage der Prinzipien der Schlußakte von Helsinki vermieden wird.“32 Doch die Lage in Litauen spitzte sich zu. Zwei Tage bevor Mitterrand am 19. April mit Präsident Bush auf Key Largo zusammentraf, am 17. April, erhielt er von Premierministerin Margaret Thatcher einen vierseitigen Brief, mit dem sie für ihn den Inhalt ihrer eigenen Unterredung zusammenfaßte, die sie vor kurzem auf den Bermudas mit George Bush hatte. Die erste halbe Seite gleich zu Beginn des Briefes handelt von Litauen, denn das „stand natürlich im Zentrum unserer Sorge“, so sagte Thatcher, wegen der Drohung durch Gorbatschow, nun zu wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber dem Land überzugehen, vor allem im Bereich der Gaslieferungen an Litauen. Sie hoffe, schrieb Margaret Thatcher, „daß wir enge Konsultationen über das weitere Vorgehen haben werden“. George Bush und sie seien übereingekommen, daß die Fortschritte, die man in den Ost-West-Beziehungen in den letzten Jahren erreicht habe, nicht durch die litauische Krise gefährdet werden dürften, und daß „wir das maximal Mögliche tun müssen, um die zwei Seiten dazu zu ermutigen, eine Lösung durch den Dialog und die Diskussion zu finden.“33 VII. Damit war es am 18. April 1990 aber erst einmal vorbei. Die Sowjetunion unterbrach an diesem Tag drei der vier von ihr nach Litauen gehenden Gasleitungen. Das Land erhielt nur noch ein knappes Fünftel der bislang gelieferten Menge an Gas. „Moskau hat die harte Tour für eine Blockade ausgesucht“, schrieb Mitterrands Beraterin Anne Lauvergeon als ersten Satz ihrer Vorlage, mit der sie den Präsidenten am 20. April von Moskaus Vorgehen unterrichtete, und Möglichkeiten aufzeigte, Litauen in seiner Not praktisch zu helfen.34 Politisch handelte die französische Regierung am Morgen des 21. April, als der offizielle Repräsentant Litauens, Stasys Antanas Backis, wie gebeten, bei Außenminister Dumas erschien, um von diesem eine Botschaft an die litauische Führung zu empfangen. Damit wurde diese, und insbesondere Landsbergis, aufgefordert, ihre Entscheidungen, die aus der Unabhängigkeitserklärung gefolgt waren, „in Klammer zu setzen“, also vorläufig zu suspendieren. Diese „Geste“ werde von Moskau erwartet, bevor 32  Zitiert nach dem französischen diplomatischen Telegramm TA Coreu Dublin, 24. März 1990, 18 Uhr 59, Eingangsnummer 22819. 33  Brief (in offizieller französischer Übersetzung) von Margaret Thatcher an François Mitterrand vom 17. April 1990. 34  Anne Lauvergeon, Note pour Monsieur le Président. Objet: Blocus économique en Lituanie, [20. April 1990].



Frankreich und die baltischen Staaten323

Verhandlungen zwischen Vilnius und Moskau beginnen könnten. Dumas hatte seinen sowjetischen Kollegen Schewardnadse vorab über diese Demarche unterrichtet, die, wie es der amerikanische Außenminister Jim Baker wollte, auch im Namen der Vereinigten Staaten unternommen wurde.35 Noch am Nachmittag desselben Tages, um 15 Uhr, kam Stasys Backis ins französische Außenministerum zurück, um ihm Landsbergis’ Antwort zu übermitteln. Dieser, so schrieb Dumas sogleich an Mitterrand, sei „bereit, ein gänzliches Einfrieren all der Gesetze zu veranlassen, ohne Ausnahme, die seit dem 12. März erlassen wurden … Dazu erfolge eine öffentliche Erklärung … Diese Verlautbarung sei, was die Eröffnung von Verhandlungen anbelange, an keine Bedingung geknüpft.“36 Dumas fügte zu Mitterrands Kenntnis an, daß er Baker und Schewardnadse über dieses Ergebnis der französischen Demarche unterrichten werde. Eine weitere politische Initiative wurde gefaßt, dieses Mal eine deutschfranzösische. Bei einer Unterredung zwischen Mitterrand und Kohl am 25. April schlug der Bundeskanzler vor, an die litauische Führung einen gemeinsamen Brief zu richten; in Litauen, so sollte deutlich werden, dürfe nicht der gleiche Fehler gemacht werden wie beim Prager Frühling, „man ging dort zu schnell vor“.37 Schon am 26. April wurde von Mitterrand und Kohl folgendes Schreiben an Vytautas Landsbergis gesandt. Es formulierte Mitterrands Brief vom 19. April noch eindringlicher: „Sehr geehrter Herr Präsident, wir teilen eine gleiche Besorgnis angesichts der Entwicklung der Situation in Litauen. Wir möchten davon Kenntnis geben. Das Litauische Vollk hat klar seinen Willen gezeigt, sein Recht auf Souveränität auszuüben. Dafür kann man es nicht tadeln. Doch die Geschichte hat eine komplexe Situation erwirkt, die aus zahlreichen Elementen politischer, juristischer, wirtschaftlicher Natur besteht. Ihre Auflösung verlangt Zeit und Geduld und ein Einschlagen der klassischen Wege des Dialogs. So wünschen wir, daß auf das rascheste Gespräche zwischen der sowjetischen Führung und Ihnen aufgenommen werden, damit die aktuelle Krise in eine für alle Seiten akzeptable Lösung mündet. Es wäre zweifellos angemessen, um diese Unterredungen zu erleichtern, für eine Zeit die Folgen der Entscheidungen zu suspendieren, welche Ihr Parlament getroffen hat; sie werden nichts an ihrer Bedeutung verlieren, stützen sie sich doch auf ein universell anerkanntes Prinzip: das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker.“38

35  Ministère des Affaires Étrangères, Le Ministre d’État, Note pour Monsieur le Président de la République, 21. April 1990. 36  Ministère des Affaires Étrangères, Le Ministre d’État, Note pour Monsieur le Président de la République, 21. April 1990. 37  Aufzeichnung des Gesprächs Mitterrand – Kohl am 25. April 1990. 38  Brief von Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl vom 26. April 1990 an Präsident Landsbergis.

324

Frankreich und die baltischen Staaten

Eine Kopie des Briefes ging an die sowjetische Führung; sein Inhalt wurde in Paris und Bonn erst publik gemacht, nachdem Gorbatschow darüber informiert war.39 Am 30. April machte der Vize-Premierminister Litauens, Romualdas Ozalas, durch ein Interview mit der dänischen Zeitung Berlingske Tidende bekannt, daß Litauen (wie zuvor von Frankreich vorgeschlagen) seine Unabhängigkeitserklärung vom 11. März „vorläufig suspendieren werde“ und Moskau zu Verhandlungen auffordere.40 Die Umstände schienen günstig zu sein: Gorbatschow hatte am 28. April die von Mitterrand und Kohl lancierte Idee eines Moratoriums positiv aufgenommen. Berlingske Tidende meldete weiter, daß Landsbergis an ein Moratorium von zwei Jahren denke, bei einem Interview mit einem amerikanischen Fernsehsender am 29. April aber auch darauf hingewiesen habe, daß von einer Linderung der Wirtschaftsblockade durch die Sowjetunion noch nichts zu merken sei.41 Anfang Mai war die Situation indes weiter ungeklärt. Am 2. Mai richtete Präsident Landsbergis einen Brief an Präsident Mitterrand, mit dem er, unter Verweis auf den Brief von Mitterrand und Kohl, für Litauen die Absicht äußerte, mit Moskau über alles zu verhandeln, außer über die Unabhängigkeit des Landes. Und er bat Mitterrand und Kohl, die sowjetische Führung davon zu unterrichten, daß Litauen bereit sei, eine zeitweilige Aussetzung der fraglichen Beschlüsse des „souveränen“ Parlaments Litauens zu „erwägen“.42 Vilnius und Moskau sprachen also noch keineswegs miteinander. Wie auch aus einem Bericht vom 3. Mai von dem französischen Botschafter in Moskau, Jean-Marie Mérillon, über ein Gespräch mit dem dortigen Vertreter Litauens, Egidijus Bickauskas, hervorging. Das Problem für die Litauer seien die Kontakte mit Moskau. „Wir wollen verhandeln. Wir sagen es alle Tage. Moskau verweigert sich. … . Mir [Bickauskas] gelingt es nicht, auch nur irgendjemanden [im sowjetischen Regierungsapparat] zu erreichen.“43 Und auch die anderen Balten wollten von Moskau los. Am 7. Mai richteten Anatolijs Gorbunovs, Präsident des Obersten Sowjets von Lettland, und Imants Daudiss, Sekretär des Obersten Sowjets, einen Brief an Mitterrand – den dieser am 14. Mai erhielt – mit dem sie ihn davon unterrichteten, daß der Oberste Sowjet Lettlands am 4. Mai eine Deklaration zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands verabschiedet habe.44 Sie baten den französi39  Vgl. Loïc Hennekine, Note pour le Président de la République, Objet: Lithuanie, 26. April 1990. 40  Vgl. Meldung von Reuter aus Kopenhagen am 30. April 1990. 41  Ebd. 42  Brief von Vytautas Landsbergis an François Mitterrand vom 2. Mai 1990. 43  Diplomatisches Telegramm, TD Moscou 3522, 3. Mai 1990. 44  Anders als im Falle von Litauen wurde mit dieser Deklaration eine „Übergangsphase“ beschlossen, in der die Unabhängigkeit noch nicht voll gelten sollte.



Frankreich und die baltischen Staaten325

schen Präsidenten um seine Unterstützung für Lettlands Anstrengungen, seine volle Unabhängigkeit wiederzuerlangen. „Die baltische Frage“, so sagten sie, sei „eine internationale Frage“. Sie müsse „gelöst werden, wenn Europa geeint werden soll“.45 Mitterrand beantwortete den Brief am 23. Mai, die Erwiderung deckte sich im wesentlichen mit seinem – hier schon angeführten – Antwortschreiben an Vyautas Landsbergis vom 19. April. Mitterrand blieb maßgeblicher Akteur im Konflikt zwischen den baltischen Ländern – und insbesondere Litauen – und der sowjetischen Führung. Am 10. Mai empfing er die litauische Premierministerin Prunskiene im Élysée zu einem Gespräch. Am 25. Mai traf er Gorbatschow in Moskau. Noch immer waren keine Verhandlungen zwischen Vilnius und Moskau zustandegekommen. Sowohl von litauischer wie von sowjetischer Seite, so hielt es Mitterrands diplomatische Beraterin Caroline de Margerie in einer Vorlage an ihn vom 10. Mai fest, erkläre man sich „zum Dialog bereit“, doch indem man für seinen Beginn „antithetische Bedingungen“ stelle. Herr Landsbergis akzeptiere das Prinzip einer Suspendierung bestimmter Gesetzesakte, die nach der Erklärung der Unabhängigkeit vollzogen wurden, aber die Erklärung selbst wolle er nicht zurückziehen. Moskau hingegen stelle sich auf den Standpunkt, bereits die Tatsache, daß es mit Litauen überhaupt verhandele, gebe diesem einen besonderen Status. Alles verlaufe so, als ob der Endpunkt der Verhandlungen – die Unabhängigkeit – unausweichlich, ihr Anfangspunkt hingegen nicht gefunden sei.46 Bei seinem Gespräch mit Premierministerin Prunskiene betonte Mitterrand gleich, daß „Litauen viel für uns bedeutet“, und das Land klar das Recht auf seine Souveränität besitze. Aber – das „Aber“ von Mitterrand, dem Realisten und Mahner – die Realität sei die, daß Litauen in die UdSSR aufgegangen sei. Und diese verfüge, trotz ihrer sonstigen Schwierigkeiten, über eine mitlitärische Macht. Litauen jedoch habe eine solche nicht. Und er wolle keine Machtprobe, die dem litauischen Volk, dem schwächsten Teil, nur schade, ebenso wie dem Verhältnis zwischen der UdSSR und Europa. Doch Sie, so sagte er der litauischen Premierminsterin direkt ins Gesicht, „Sie haben den deutsch-französischen Brief schlecht aufgenommen.“ Er sehe keinen anderen Weg, so fuhr er fort, als den des Dialogs. „Gorbatschow wurde von Ihren populistischen Forderungen überrollt.“ Und er wolle kein Vermittler sein. „Ich bin von niemandem beauftragt, aber wenn ich helfen kann, werde ich es tun.“47 45  Brief von Anatolijs Gorbunovs und Imants Daudiss an François Mitterrand vom 7. Mai 1990. 46  Caroline de Margerie, Note pour le Président de la République, 10. Mai 1990. 47  Aufzeichnung des Gesprächs Mitterrand – Prunskiene, 10. Mai 1990 (AN – AG/5(4)/CD/68).

326

Frankreich und die baltischen Staaten

Das war seine Absicht. Am Ende seiner Unterredung mit Frau Prunskiene sagte er ihr: „Unsere deutsch-französische Demarche kann zweierlei Wirkung haben: den Dialog erleichtern oder die Sowjets irritieren, denn sie ist ein Akt, der die Existenz Litauens bekräftigt, richten sich doch ein Staatschef und ein Regierungschef an den Präsidenten von Litauen, das, nach strikter Rechtsauslegung, ein Stück der UdSSR ist. Hat dieser Brief Gorbatschow verärgert? Ich weiß es nicht. Die sowjetischen Gesprächspartner sind seitdem recht freundlich gewesen. Mein Besuch am 25. Mai [bei Gorbatschow] ist vorgesehen. Man kann denken, daß die Möglichkeit [zu Verhandlungen] da ist.“48

Mitterrand erreichte in der Sache in Moskau keinen Durchbruch. Indes konnte er Präsident Bush am 28. Mai brieflich mitteilen: „Gorbatschow ist für einen Dialog offen, ohne bereit zu sein, im Grundsätzlichen nachzugeben. Er schließt Verhandlungen nicht aus, so scheint es mir, aber erst nach einer bestimmten Zeit.“49 Diese „bestimmte Zeit“ dauerte einen Monat. Am 29. Juni beschloß der litauische Oberste Sowjet ein Moratorium von Litauens Unabhängigkeitserklärung vom 11. März. Und am 2. Juli hob die sowjetische Regierung die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Litauen auf. Bei einem Gespräch mit François Mitterrand am 11.  Oktober 1990 im Élysée sagte diesem Vytautas Landsbergis: „Wir sind seit April einen ganz wichtigen Schritt vorangekommen. Dank Ihrer Hilfe.“50 VIII. Doch in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1991 und in den folgenden Tagen sollte hinter den „Schritt“ zurückgegangen werden – mit Gewalt. In Vilnius, und über dieses auch in Riga und Talinn. Botschafter Mérillon beschrieb in einer Serie von Telegrammen aus Moskau detailliert, was sich abspielte, und die folgenden Auszüge geben davon eine Vorstellung: 12. Januar: „Vilnius hat am 12. Januar eine Nacht der Verwirrung und Aufregung erlebt … Von Verteidigern der Unabhängigkeit wurden Wachen um Regierungsgebäude, das Parlament, die Gebäude von Radio und Fernsehen, Telefonzentren aufgestellt.  … Die sowjetische Armee hat Gebäude der litauischen Polizeimiliz umstellt. … Moskautreue Kräfte in der kommunistischen Partei verlangten die Ausrufung eines Ausnahmezustandes ….“51 13. Januar: „Der Staatsstreich ist offensichtlich. Die sowjetische Armee ist dabei, die Regierung von Herrn Landsbergis abzusetzen, und Vilnius eine Macht aufzuzwingen – das ‚Komitee des nationalen Heils‘ – die der zentralen Regierung [in 48  Ebd.

49  Brief

von François Mitterrand an George Bush vom 28. Mai 1990. des Gesprächs Mitterrand – Landsbergis vom 11. Oktober 1990 (AN – AG/5(4)/CD/68). 51  TD Moscou 164, 12. Januar 1991. 50  Aufzeichnung



Frankreich und die baltischen Staaten327 Moskau] hörig ist.  …  . Es gibt eine Unbekannte: Gorbatschow. Der sowjetische Präsident ist trotz der dramatischen Natur all dieser Ereignisse seltsamerweise seit genau 24 Stunden schweigsam geblieben.“52 13. Januar: „Der erste stellvertretende Außenminister [der Regierung der SU] hat, außer mir, die Botschafter der Vereinigten Staaten, Deutschlands, Finnlands, Großbritanniens und Italiens zu sich gerufen. Er wollte uns eine ‚Botschaft‘ von Herrn Gorbatschow übermitteln … . Diese Botschaft ist: ‚Die Situation in Litauen erklärt sich wesentlich durch eine Unzufriedenheit der Massen … Präsident Gorbatschow will sich der Situation mit ausschließlich politischen Mitteln stellen.  … Doch die Ereignisse vor Ort entwickeln ihre eigene Dynamik … Ein Komitee des nationalen Heils hat sich konstituiert, mit dem die von Moskau gesandte Delegation Verbindung aufgenommen hat. Dieses Komitee hat die Ausgangssperre verhängt, nicht das [sowjetische] Militär.‘ “53 14. Januar: „Die Situation in Vilnius gleicht der eines unvollendeten Staatstreichs. Die sowjetische Armee hat in der Nacht von Freitag auf Samstag zur Gewalt gegriffen. Mit schwerer Bilanz (mindestens 10 Tote und 130 Verletzte). Sie hat eine Marionnettenregierung installiert, das Komitee des nationalen Heils  … Die legitimen Regierungsorgane, Präsident Landsbergis, die Regierung, der Oberste Sowjet tagen weiterhin im Parlament. … . Die Zeit scheint in die Hände von Herrn Landsbergis zu spielen. Er hat drei Tage des Sturms ausgestanden. In Vilnius glaubt man jetzt an den Sieg. Die Krise dehnt sich aus. … . Tallin und Riga ergreifen Maßnahmen zu ihrer Sicherheit. Schließlich und besonders: Herr Jelzin findet eine Gelegenheit, um sich in Szene zu setzen.“54 14. Januar: „Der Staatsstreich in Litauen scheint zu mißlingen.  … Nach 48 Stunden Abwesenheit ist der sowjetische Präsident [Gorbatschow] öffentlich wieder aufgetaucht.  … Sein Reflex ist gewesen, sich von jeder Verantwortung freizumachen  … und die militärisch Verantwortlichen vor Ort anzuklagen. Herr Jelzin hat die Ergebnisse seiner Reise nach Estland bekanntgegeben. Er hat die drei baltischen Präsidenten getroffen, mit denen er eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet hat, mit der die Gewaltakte verurteilt werden, und die ‚Souveränität‘ der vier unterzeichnenden Republiken [die drei baltischen und die russische] bekräftigt wird …“55 14. Januar: „Die Glaubwürdigkeit von Herrn Gorbatschow  … ist beeinträchtigt. Die Balten verzeihen ihm nicht. … Das litauische Drama beschleunigt die im Gange befindliche Bildung einer Front von Republiken, geeint um Herrn Jelzin, gegen die [Sowjet-]Union.“56

Nach der Wahrnehmung Jean-Marie Mérillons zeichnete sich demnach ab, daß aus dem „litauischen Drama“, was die Entwicklung der Sowjetunion anbelangte, ein Gewinner und ein Verlierer hervorgingen: als ersterer Boris Jelzin, bei seiner Positionierung seiner selbst und Rußlands gegen Gor52  TD

Moscou Moscou 54  TD Moscou 55  TD Moscou 56  TD Moscou 53  TD

177, 181, 183, 212, 213,

13. Januar 13. Januar 14. Janaur 14. Januar 14. Januar

1991. 1991. 1991. 1991. 1991.

328

Frankreich und die baltischen Staaten

batschow und die Sowjetunion, als letzterer Michael Gorbatschow, bei seinem Versuch, die Sowjetunion zusammenzuhalten. Wie Lesevermerke Mitterrands auf den Telegrammen Mérillons zeigen, verfolgte er – und nicht nur sein Stab – die Ereignisse in Vilnius am 12. und 13. Januar, und was sich daraus entwickelte, sehr genau, von Bericht zu Bericht, von Tag zu Tag. Der amerikanische Präsident hatte sogleich, am Nachmittag des 13. Januar, bei einer dazu abgehaltenen Pressekonferenz scharf reagiert.57 Wie auch die Außenminister Deutschlands und Frankreichs in einer gemeinsamen Erklärung vom gleichen Tag das Vorgehen der sowjetischen Armee in Litauen verurteilten und Gorbatschow aufforderten, entsprechend seiner eigenen gestrigen Erklärung die gewaltsame Aktion zu stoppen. Mitterrand griff zu dem Mittel eines Schreibens an Michael Gorbatschow, das er diesem am 17. Januar sandte. Wir glauben, so sagte er darin, daß Litauen, wie die beiden anderen baltischen Republiken, im Zuge der „Demokratisierung Ihres Landes und der neuen Organisation Europas“, seine Souveränität wiedererlangen wird. Aber wir denken gleichzeitig, daß diese Entwicklung nur über das Mittel des Dialogs erfolgen kann. Er kenne Gorbatschows Entschlossenheit, in seinem Land einen „Zustand demokratischen Rechts“ herzustellen, und so richte er an diesen den Appel dahingehend, „daß [in den baltischen Ländern] die normalen Bedingungen des demokratischen Lebens wiederhergestellt werden und mit den frei gewählten Vertretern der baltischen Völker ein konstruktiver Dialog wiederaufgenommen wird.“58 Ende Januar verlagerte sich die baltische Krise nach Riga. Am Abend des 21. Januar ereigneten sich Schießereien in der Stadt, bei der es 5 Tote und 10 Verletzte gab.59 Das französische Außenministerium reagierte sofort mit diesen Worten: „Frankreich verurteilt die Anwendung von Gewalt in den baltischen Republiken. Nach Litauen ist nun Lettland Schauplatz der Unterdrückung gegen eine wiederauflebende Demokratie. Frankreich bekräftigt 57  Wie vom französischen Botschafter in Washington am 13. Januar gemeldet (TD Washington 85). 58  Brief von François Mitterrand an Michael Gorbatschow vom 17. Januar 1991. – Gorbatschow antwortete Mitterrand mit einem Brief vom 5. Februar 1991. Auf fünf Seiten beklagte sich der sowjetische Präsident vor allem über die seiner Ansicht nach völlig verzehrte Wahrnehmung und mediale Wiedergabe seiner Haltung und Politik bezüglich der „Ereignisse im baltischen Raum“. „Gorbatschow sei kein Bewerber auf die Position eines Diktators“, der „Perestroika und Glasnost“ aufgeben wolle. Er kenne Mitterrands aufrichtiges Interesse für den Reformprozeß in der UdSSR, und er zähle auf dessen „Autorität und Einfluß“ in der internationalen Politik. Denn die „baltischen Ereignisse“ seien eine „harte Nuß zum Knacken.“ (Brief von Michael Gorbatschow an François Mitterrand vom 5.  Februar 1991; zitiert nach der inoffiziellen französischen Übersetzung). 59  So die Meldung nach Paris durch den französischen Botschafter in Moskau (TD Moscou 335, 22, Januar 1991).



Frankreich und die baltischen Staaten329

erneut, daß Polizei- und Militärgewalt keine Antwort auf das legitime Verlangen der baltischen Völker, ihre Souveränität wiederzuerlangen, sein kann, und es erneuert seine Aufrufe zum Dialog.“60 Die sowjetische Führung unter Gorbatschow mußte einen Ausweg suchen. Als Erstes berief Gorbatschow am 22. Januar eine Pressekonferenz ein, bei der er sich von jeder Schuld für die Ereignisse in Vilnius und Riga lossagen wollte. Diese seien, so erklärte er, „in keiner Weise Ausdruck der Politik der von ihm geführten Regierung“.61 Und als zweites wurde für jedes der baltischen Länder eine Volksabstimmung zur Frage der Unabhängigkeit anberaumt. Bei dem Referendum in Litauen am 9. Februar stimmten 90,47 % der Wahlberechtigten für die Unabhängigkeit, und bei den am 3. März in Lettland und Estland abgehaltenen Referenden votierten 73 % bzw. 78 % für die Unabhängigkeit.62 In den nächsten Monaten blieb Paris in der baltischen Frage weiterhin wachsam und engagiert, wie es die brieflichen und persönlichen Abstimmungen Mitterrands mit Margaret Thatcher und George Bush ebenso wie die Besuche, die der französische Präsident von den Präsidenten Lettlands und Litauens erhielt (am 16. Mai bzw. 20. Juni), und dessen briefliche Verbindungen mit führenden baltischen Politikern dokumentieren.63 Und man schaute auf Gorbatschow. „Wir behandeln Herrn Gorbatschow gut. Aber ich wünschte mir doch, daß er die baltischen Staaten freiläßt!“, so sagte Bush zu Mitterrand am 14. Juli.64 Doch die Anstöße zur weiteren Enwicklung kamen jetzt von anderen Akteuren. Am 29. Juli erkannte das von Gorbatschows Gegenspieler Boris Jelzin geführte Rußland die Unabhängigkeit Litauens an.65 Und am 19. August wurde in Moskau gegen Gorbatschow geputscht, erfolglos, wie sich am 21.  August herausstellte. Gorbatschows Stellung war jetzt noch mehr als zuvor geschwächt.66 Am 20. August erklärte Estland 60  Communiqué

du Ministère des Affaires Étrangères, 21. Januar 1991. Moscou 355, 23. Januar 1991. 62  TD Moscou 717, 14. Fabruar 1991; TD Moscou 1030, 5. März 1991. 63  Brief von Margaret Thatcher an François Mitterrand, undatiert [März 1991]; Brief von George Bush an François Mitterrand vom 3.  Mai 1991; Gespräch Mitterrand – Bush in Rambouillet am 14. Juli 1991; Brief von Arnold Rüütel, Präsident des Obersten Rats von Estland, und Lennart Meri, Außenminister Estlands, an François Mitterrand vom 3. Juni 1991; Brief von Meri an Mitterrand vom 12. Juli 1991; Brief von Gediminas Vagnorius, Premierminister Litauens, an Mitterrand vom 15. Juli 1991. 64  Aufzeichnung des Gesprächs Mitterrand – Bush am 14. Juli 1991. 65  Zu den Einzelheiten vgl. „La Russie reconnait l’indépendance de la Lituanie“, in: Le Monde, 31. Juli 1991. 66  Am 15. Juni 1993 sagte Mitterrand in einer Unterredung mit dem litauischen Präsidenten, Algirdas Brazauskas: „Gorbatchev n’aime pas beaucoup parler de l’af61  TD

330

Frankreich und die baltischen Staaten

seine Unabhängigkeit, und am Tag darauf folgte Lettland mit der Erklärung, daß seine schon früher proklamierte Unabhängigkeit nun voll gelte. Frankreichs Außenminister Dumas verlangte daraufhin eine außerordent­ liche Sitzung der Außenminister der zwölf EG-Staaten. Bei dieser solle seitens der EG eine offizielle Erklärung erfolgen, durch welche (a) die Wiederherstellung der Souveränität der baltischen Staaten anerkannt und (b) beschlossen werde, mit diesen wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen, und (c) schließlich der Wunsch der EG-Staaten ausgedrückt werde, daß die baltischen Staaten rasch der UNO beitreten könnten. Die zwölf Außenminister verabschiedeten diese Erklärung am 27. August und machten sie mit einem Communiqué bekannt: „Die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedsstaaten heißen wärmstens die Wiederherstellung der Souveränität und der Unabhängigkeit der baltischen Staaten, die sie 1940 verloren hatten, willkommen.  … Es ist jetzt an der Zeit, nach mehr als fünfzig Jahren, daß diese Staaten den ihnen gebührenden Platz inmitten der Gemeinschaft der europäischen Staaten wieder finden.“67 Präsident Mitterrand kommentierte das Ereignis im Ministerrat, in der Sitzung vom 28. August 1991, indem er an den Brief erinnerte, den er gemeinsam mit Kanzler Kohl am 26. April an Präsident Landsbergis gesandt hatte: „Die Idee dieses Briefes war: Das Recht zur Unabhängigkeit, ja, aber Aufruf zur Geduld, um zu vermeiden, daß ‚sie sich massakrieren lassen‘. Bis jetzt war es zu gefährlich, für die Balten selbst, den Schritt zu vollziehen. Nach dem Scheitern des Putsches existierte dieses Risiko nicht mehr.“68 IX. Während der folgenden drei Jahre, in denen François Mitterrand noch Präsident Frankreichs war, führten Frankreich und die baltischen Staaten ihre Beziehungen in normale zwischenstaatliche Bahnen. Mitterrand empfing in Paris die Präsidenten Litauens und Lettlands, die Premierminister Estlands und Litauens, und er selber machte vom 13.–15. Mai 1992 – als erstes westliches Staatoberhaupt – einen Staatsbesuch in jedes der drei Länder, bei dem er mit allen dortigen führenden Politikern zu Gesprächen zusammenkam. Mit Litauen wurde dabei ein Freundschaftsvertrag, mit Estland und Lettland wurden wirtschaftliche Vereinbarungen unterzeichnet. Kredite in der Höhe von 20 Millionen Francs beziehungsweise 10 Millionen Francs wurden an Estland beziehungsweise Litauen vergeben. Nach der Einschätzung, die Außenfaire balte, car c’est là qu’a commencé l’échec de son entreprise.“ (Aufzeichnung des Gesprächs Mitterrand – Brazauskas am 15.Juni 1993). 67  Für den vollen Text des Communiqué vgl. Le Monde, 29. August 1991. 68  Aufzeichnung zur Sitzung des Ministerrats am 28. August 1991.



Frankreich und die baltischen Staaten331

minister Dumas am 20. Mai 1992 im Ministerrat gab, war Mitterrands Rede vor dem litauischen Parlament der Höhepunkt der Reise. Was die Regierungen in allen drei Staaten vorrangig beherrsche, so berichtete Dumas jedoch auch, sei die Frage des vollständigen Abzugs der russischen Truppen, die auf jedem ihrer Territorien noch stationiert seien.69 Frankreich machte sich diese Frage in der Zeit der Präsidentschaft Mitterrands auch noch zu einem besonderen Anliegen seiner Außenpolitik bezüglich des baltischen Raums und Rußlands. Anläßlich seines Staatsbesuchs drückte der französische Präsident in Vilnius wie in Tallin und in Riga bei öffentlichen Auftritten klar die Einstellung Frankreichs aus: Die Anwesenheit der russischen Truppen auf den Teritorien der drei baltischen Staaten sei „anormal und schockierend“.70 Und er ging auch nicht auf den deal ein, für den ihn Rußlands Präsident Jelzin zu gewinnen suchte. Dieser schrieb ihm am 7. November 1992 einen dreiseitigen Brief zu der „Frage des Rückzugs der bewaffneten Kräfte der russischen Föderation vom Territorium von Lettland, Litauen und Estland“.71 Jelzin unterstrich, daß die russische Führung den „klaren und deutlichen Willen“ hätte, „die Truppen binnen der realistisch möglichen Kürze vom Territorium der baltischen Staaten abzuziehen“. Doch dann band er diesen Entschluß an zwei Vorbedingungen: an eine finanzielle und technische Hilfe bei der Unterbringung der aus den baltischen Staaten nach Rußland zurückgeführten Militärs, und an zu erbringende Garantien für die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in den baltischen Staaten. Was den ersten Punkt anbelangte, bat er den französischen Präsidenten ausdrücklich um einen Beitrag Frankreichs. Zum zweiten Punkt wünschte er sich die Unterstützung Frankreichs bei geplanten Demarchen Rußlands bei der KSZE und der UNO. Mitterrand beantwortete den Brief am 10. Dezember, mit der offensicht­ lichen Absicht, den russischen Präsidenten in Zugzwang zu bringen. Er freue sich, so schrieb er, daß Jelzin Rußlands Willen bestätigt habe, „diese Truppen binnen Kürze, in einer vollständigen und geordneten Weise zurückzuziehen“.72 Das sei im übrigen auch das Ziel, dem „wir alle“ bei der KSZE-Konferenz in Helsinki im Juli 1992 zugestimmt hätten. Folglich begrüße Frankreich die Vereinbarung, die Rußland mit Litauen am 8. September geschlossen habe, derzufolge die russischen Truppen bis zum 31. August 1993 abgezogen seien. Es hoffe, daß Rußland ohne Verzögerung gleiche Vereinbarungen mit Lettland und Estland abschließe. Was die Unterbringung der aus den baltischen Staaten nach Rußland zurückgeführten Militärs angehe, so würden Frank69  Aufzeichnung

zur Sitzung des Ministerrats am 20.Mai 1992. Meldung von Reuter (Marie-Bénédicte Allaire) aus Riga, 15. Mai 1992. 71  Brief von Boris Jelzin an François Mitterrand vom 7. November 1992. 72  Brief von François Mitterrand an Boris Jelzin vom 10. Dezember 1992. 70  Vgl.

332

Frankreich und die baltischen Staaten

reich und seine Partner in der Europäischen Gemeinschaft an einem Projekt arbeiten, 10.000 ehemalige Offiziere für eine Rückkehr ins zivile Leben vorzubereiten. An eine weitere Hilfe der Gemeinschaft könne nicht gedacht werden. Auf eine Unterstützung Frankreichs, wie von Jelzin gefordert, ging Mitterrand mit keinem Wort ein. Der vollständige Rückzug der russischen Truppen aus den baltischen Staaten verzögerte sich weit über das Ausscheiden Mitterrands aus dem Amt des französischen Präsidenten hinaus, bis in den Sommer 2004 hinein. Im Falle Litauens allerdings geschah er noch zu Mitterrands Amtszeit, Ende August 1993. Zu diesem Anlaß wechselten der Präsident Litauens und der Präsident Frankreichs Briefe. Algirdas Brazauskas schrieb am 3. September aus Vilnius: „Exzellenz, ich möchte mit Ihnen meine Freude und die Freude von ganz Litauen teilen: vor einigen Tagen haben die letzten Truppen der russischen Armee unser Land verlassen. Ich danke Ihnen bei dieser Gelegenheit aufrichtig für Ihre wirkungsvolle Unterstützung bei der Verwirklichung der legitimen Anliegen Litauens.“73 Und Mitterrand erwiderte am 29. September aus Paris: „Frankreich ist glücklich über diesen Rückzug, den es befürwortet hat und der nur zu einer Stärkung der Sicherheit und des Friedens in Europa beitragen kann.  … Frankreich hofft, daß sich der Rückzug der russischen Truppen auch in Lettland und Estland vollziehen wird, damit der baltische Raum eine Region der Stabilität und des Wohlstands werde. Zwei Jahre nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit, eröffnet sich jetzt für Litauen eine neue Zeit.“74

73  Brief 74  Brief

von Algirdas Brazauskas an François Mitterrand vom 3. September 1993. von François Mitterrand an Algirdas Brazauskas vom 29. September 1993.

Paris – Bonn. Wahrnehmungen aus Deutschland Die Lehre der Geschichte, oder: das nationale Interesse der Deutschen 21. Januar 1983, 14 Uhr 52. Im Salon Murat im Élysée-Palast hat Staatspräsident Franҫois Mitterrand gerade mit seiner Rede begonnen. Vor ihm liegt das Original des Élysée-Vertrags (des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags) von 1963. Anwesend sind Bundeskanzler Helmut Kohl und vierzehn weitere Repräsentanten Deutschlands, darunter Außenminister Hans-Dietrich Genscher, und der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß. Vor genau zwanzig Jahren haben hier Charles de Gaulle und Konrad Adenauer diesen Vertrag unterzeichnet, mit dem zwischen Deutschland und Frankreich eine neue Geschichte begann: die ihrer Freundschaft im Dienste Europas. Um die Erinnerung an dieses Ereignis zu begehen, haben die Organisatoren der jetzigen Zeremonie einen wahrhaft symbolischen Aufweis der Verbundenheit in Szene gesetzt. Der französische Präsident wird eine Rede zu Ehren Adenauers, der deutsche Bundeskanzler eine zu Ehren Charles de Gaulles halten. Präsident Mitterrand beginnt mit diesen Worten: „Als ich gestern das Adenauer-Museum besuchte, und anschließend das Wohnhaus, in dem er lebte, fielen mir zwei Erinnerungsstücke auf, die sich auf seinem Schreibtisch befunden hatten: der Brief einer jungen Französin aus dem Jahre 1950, mit dem sie ihm das Kriegskreuz ihres Vaters aus dem 1. Weltkrieg schenkte, und ein Nagel von der Kathedrale von Coventry. Man kann sich denken warum. Mit diesen beiden Erinnerungsstücken offenbart sich uns der Mensch, welcher Adenauer war, er, der für den Friedenswillen und die Versöhnung in Europa stand.“1 Adenauer und sein Partner De Gaulle hatten aus der neueren Geschichte Deutschlands diese Lehre gezogen: in der Mitte Europas gelegen, mit mehr Nachbarn als jede andere europäische Nation, ginge Deutschland in seiner Außenpolitik fehl, würde es diese im Alleingang betreiben, wie ein „cavalier Erstveröffentlichung in Le Point, Nr. 1184, 27. Mai 1995, S. 70–72. Die deutsche, teilweise neu geschriebene und mit Anmerkungen ergänzte Fassung hier wurde vom Autor besorgt. 1  Für den Text der Rede Mitterrands siehe: http://discours.vie-publique.fr/ notices/837024700.html (aufgerufen am 9. Juni 2019).

334

Paris – Bonn

seul“, nach dem dafür geläufigen französischen Ausdruck (der in der Epoche der deutschen Wiedervereinigung besonders hochkam). Deutschland tut dagegen gut daran, wenn es sich in einer Kongruenz mit den Staaten befindet, die es umgeben. Das Unheil für Deutschland und seine Nachbarn beginnt, wenn es sich aus dieser Kongruenz löst, sei es auf eigenes Betreiben oder einem Betreiben anderer. Dieser oberste Grundsatz entspricht dem nationalen Interesse Deutschlands. Und zeichnet die Einstellung anderer Nationen – und insbesondere Frankreichs – gegenüber Deutschland vor. Deutschlands sicherheitspolitische Situation und Mitterrands Einsatz Von was sprachen Franҫois Mitterrand, seit einigen Monaten französischer Präsident, und Helmut Schmidt, damaliger Bundeskanzler Deutschlands, als sie am 7. und 8. Oktober 1981 für längere Gespräche in Mitterrands Sommerhaus in Latche (in dem im Südwesten Frankreichs gelegenen Departement „Landes“)2 zusammenkamen? Bei ihrer ersten Unterredung am 7. Oktober ging es sogleich um die „Ost-West-Beziehungen“ und dabei dann ausführlich um die besondere Lage, in der sich die Bundesrepublik befand.3 Aufgrund des sogenannten NATO-Doppelbeschlusses sollten auf ihrem Territorium neue strategische Atomraketen aufgestellt werden.4 Deutschland dürfe durch die Sicherheitspolitik der NATO nicht „singularisiert“ werden, so betonte der Kanzler dann ausdrücklich im August 1982 in einem Brief an den Präsidenten, und dieses darin gleich zweimal.5 Es dürfe in Europa nicht 2  Zur Geschichte von Mitterrands Sommerhaus und den politischen Besuchern dort siehe: https://actualite.nouvelle-aquitaine.science/gilbert-mitterrand-commentfrancois-mitterrand-a-apprivoise-latche.html. Siehe unter dem folgenden link Mitterrand beim Urlaub in Latche: https://fresques.ina.fr/mitterrand/fiche-media/Mitter 00179/francois-mitterrand-a-latche.html. Und unter diesem link Mitterrand und Schmidt am 7. Okt. 1981 in Latche: https://www.youtube.com/watch?v=R3PKPxtiz9o (jeweils aufgerufen am 9. Juni 2019). 3  Siehe das französische Protokoll der Unterredung in den Archives Nationales, Paris (hier im Weiteren angeführt unter dem Sigel „AN“: Entretien entre le Président de la République et le Chancelier Helmut Schmidt, Latche, Mercredi 7 octobre 1981 (AN, AG/5(4)/CD/72/dossier 2). 4  Siehe zum NATO-Doppelbeschluss, seiner Vorgeschichte und den Auseinandersetzungen dazu: Gerhard Wettig, „Die Sowjetunion in der Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss 1979–1983“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 57 (2009), Heft 2, S. 217–259 (https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/ 2009_2_3_wettig.pdf. Vgl. ferner die Dokumentation unter: https://www.1000doku mente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0025_nat&object=context&l=de (aufgerufen jeweils am 11. Juni 2019). 5  Brief von Bundeskanzler Schmidt an Präsident Mitterrand, 15. August 1982, am 19. August in französischer Übersetzung von der deutschen Botschaft in Paris an den



Paris – Bonn335

das einzige Land sein, das die Pershing-Raketen aufnehme, welche gegenüber den sowjetischen SS 20-Raketen ein strategisches Gleichgewicht erbringen sollten. Der französische Präsident folgte ganz der Logik dieser Überlegungen, entsprach sie doch seinem eigenem nuklearstrategischen Denken. Dieses führte er bei seiner berühmt gewordenen Rede am 20. Januar 1983 im Deutschen Bundestag vor.6 Sie war entscheidend dafür, das Alleinsein, das der Bundesrepublik drohte, auszusetzen, seine Isolierung in der westlichen Nuklear­strategie einerseits, wie seine Selbstisolierung durch einen romantischen Pazifismus andererseits. Die wirtschaftlichen Probleme in den deutsch-französischen Beziehungen Nach ihrer Diskussion der Sicherheitspolitik vertieften sich Helmut Schmidt und Franҫois Mitterrand im Oktober 1981 in die wirtschaftlichen Probleme, die sich in den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich stellten. Sie waren neben der Sicherheitspolitik das zweite große Thema, das sie beschäftigte. Helmut Schmidt, der von sich das Bild eines hervorragenden Ökonomen hatte und sich gerne als Vorstandsvorsitzender Deutschlands präsentierte, fühlte sich auf dem Terrain wirtschaftlicher und finanzieller Fragen sehr sicher. Er verhielt sich entsprechend streng. Wie zum Beispiel bei seiner Unterredung mit dem französischen Premierminister Pierre Mauroy in Bonn am 29. Januar 1982. Mauroy unterrichtete ihn dabei unter anderem von der Absicht seiner Regierung, das Renteneintrittsalter auf 60 Jahre herabzusetzen. Worauf sich der folgende Dialog ergab. Schmidt, ganz der Chefökonom: „Und wer zahlt?“ Mauroy: „Der Staat.“ Das war eine ehrliche, aber für Schmidt ungenügende Antwort. Er bohrte weiter: „Woher werden Sie das Geld nehmen?“7

Élysée übermittelt. Die beiden Stellen zur „Singularisierung“ der Bundesrepublik finden sich in dieser Übersetzung auf den Seiten 3 und 4 (Quelle: Arch. Prés.). 6  So dieser Satz in der Rede: „Frankreich lässt sich von einer einfachen Idee leiten: Der Krieg muß unmöglich bleiben, und jeder, der sich mit kriegerischen Gedanken trüge, muß davon abgeschreckt werden.“ Quelle: Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 142. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 20. Januar 1983, S. 8987 (http:// dip21.bundestag.de/dip21/btp/09/09142.pdf, aufgerufen am 11. Juni 2019). 7  Zitiert nach dem französischen Protokoll des Gesprächs: TETE A TETE Helmut Schmidt.-Pierre Mauroy (Verbatim) Bonn 29 Janvier 1982. Das Protokoll wurde im Amt des französischen Premierministers (also im „Matignon“) angefertigt und am 12. Febr. 1982 Präsident Mitterrand über den Generalsekretär des Élysée, Pierre Bérégovoy, zugeleitet. (Arch. Prés.).

336

Paris – Bonn

Frankreich und Deutschland sind füreinander die wichtigsten wirtschaft­ lichen Partner geworden.8 Doch zu mehreren Malen fand sich Frankreich mit Schwierigkeiten konfrontiert, seine wirtschaftliche Position gegenüber Deutschland aufrechtzuerhalten. So war die französische Regierung 1982 von seinem „katastrophalen Defizit“ im Handel mit Deutschland alarmiert. Von Frankreich her gesehen war die deutsche Wirtschaftspolitik ein Problem der französischen Innenpolitik geworden. Die Regierung von Pierre Mauroy erwartete deswegen von der Bundesrepublik, dass sie sich an ihren Bemühungen beteilige, die Stellung Frankreichs im deutsch-französischen Handel zu verbessern. Die dramatischsten Vorfälle in der neueren Zeit brachen mit den wiederholten Schwächeanfällen der französischen Währung los. Mitterrand neigte manchmal dazu, den Überlegungen des ehemaligen Premierministers Raymond Barre zu folgen, wonach diese Währungskrisen von Attacken gegen dem Franc aus der anglo-amerikanischen Finanzwelt ausgelöst würden. Und er prangerte das an. Wie im September 1992 wieder ein heftiger Schwächeanfall des Franc ausbrach, verhalf diesem nur ein energisches Eingreifen der deutschen politischen Führung, zumal Bundeskanzler Kohls dazu, sich wieder etwas zu erholen. Diese politische Intervention geschah glatt an der Institution vorbei, deren Sache allein die deutsche Währungspolitik war: die vom Grundgesetz dafür vorgesehene Bundesbank. Es musste schnell gehandelt werden, und der vorauszusehende Widerstand der Bundesbank half da gewiss nicht. Denn in Paris erfuhr Helmut Kohl von Franҫois Mitterrand was dieser von einem Berater erfahren hatte: „Wir [Frankreich] haben nichts mehr in der Kasse!“ Nur frisches Geld aus Deutschland würde den Franc von einem völligen Absturz bewahren. Und es kam.9 Während mehr als einem Jahrzehnt zeichneten sich die deutsch-französischen Beziehungen durch eine außerordentliche politische Schöpferkraft aus. Diese Fähigkeit zur Innovation entstand aus der ebenfalls außerordentlichen Freundschaft zwischen Franҫois Mitterrand und Helmut Kohl, dem Kanzler 8  Vgl. dazu die Information durch die Deutsch-Französische Industrie-und Handelskammer: https://www.francoallemand.com/wirtschaftsbeziehungen/ (aufgerufen am 12. Juni 2019). 9  Ein Zusatz vom Juni 2019: All denen, die den Sinn der gemeinsamen euro­ päischen Währung anzweifeln, sei das Bedenken dieser Geschichte wärmstens anempfohlen. Die Spekulation gegen „schwächere“ europäische Währungen („schwächer“ als die D-Mark), wie der Franc oder die italienische Lira, wäre gnadenlos weitergegangen. Ihre Verteidigung durch eine Art „D-Mark-Zone“ war allenfalls eine Art Notbehelf. Politisch konnte es bei ihr auf keinen Fall bleiben. Was zu tun war, war klar: der Spekulation eine Währung entgegenzuhalten, die nicht mehr ihr Spielball sein würde. Mit der Einführung des Euro hat Europa für seine monetäre Souveränität gesorgt.



Paris – Bonn337

in Bonn seit dem 1. Oktober 1982. Hier waren zwei Meister der Regierungskunst, denen es gelang, das politische Handeln zwischen ihren beiden Ländern über die Ebene von Zuckerrüben und Katalysatoren hinauszuheben. Man hat sich oft gefragt, wie zwei Menschen von so verschiedenen Charakteren sich so gut verstehen konnten. Ich denke, es war die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, die sie zusammenbrachte. Der Bruder des einen, des Deutschen, war in Frankreich gefallen. Der andere, der Franzose, war Kriegsgefangener in einem deutschen Lager gewesen; ausgerechnet dort wurde ihm selber seine Begabung zum Führen von Menschen gewahr. Für beide ging es nun um die gleiche Konsequenz: Europa musste von seinen bösen Dämonen befreit werden. Durch eine gemeinsames Werk von Deutschen und Franzosen. Das war die historische Aufgabe der beiden Nationen. Mitterrand und Kohl hörten nicht auf, sich dies in Erinnerung zu rufen, in ihren Gesprächen und ihren Briefen aneinander. Alles was sie zu ihrer Zeit an der Macht taten, wurde von ihnen als Arbeit an ihrem historischen Projekt verstanden. So regierten der Präsident und der Kanzler, was Europa betraf, in gewisser Weise zusammen, auch wenn der Élysée beziehungsweise das Kanzleramt der jeweilige Ort ihres Regierens war. Indes geschah ihr gemeinsames Regieren auch oft am selben Ort, wenn sie sich dort trafen. In La Rochelle, beispielsweise, oder Beaune, in Bad Wiessee oder auf Borkum. Solche Treffen brachten gegenüber dem politischen Alltag in den Hauptstädten eine angenehme Abwechslung. Und sie hatten ihre symbolisch-politische Bedeutung. Handelte es sich nicht darum, bei dem europäischen Werk unserer beiden Regierungsfürsten, vor allem auch den Willen und die Wirksamkeit zur Überwindung der Widerstände gegen ihr Werk aufzubringen, in ihren beiden Ländern, wie auch seitens der amerikanischen Hegemonialmacht? Um die Zukunft eines unabhängigen Europas? Das seiner selbst gewiss war? Kohl und Mitterrand hätten in ihrem europäischen Handeln nicht ohne institutionelle Fortschritte in den Beziehungen zwischen ihren beiden Nationen vorankommen können. Seit 1982 haben sich Frankreich und Deutschland in regierungsförmliche Strukturen begeben, die es immer weniger als angemessen erscheinen lassen, das gegenseitige Verhältnis zwischen den beiden Nationen unter der Kategorie „Außenpolitik“ zu betrachten. Ein Perspektivenwechsel drängt sich auf: Paris und Bonn (bzw. Berlin) füllen zwischen den beiden Ländern mehr und mehr den Raum einer „deutsch-französischen Innenpolitik“ aus. Zahlreiche institutionell begründete Arbeitstreffen zeigen dies, ebenso wie regelmäßige und häufige Arbeitsgespräche zwischen Kanzleramt und Élysée. So haben sich auch personelle Tandems ausgebildet, wie das zwischen Horst Teltschik und Jacques Attali, Joachim Bitterlich und Hubert Védrine. Aber die entstandene deutsch-französische Innenpolitik manifestiert sich auch in einem Netz gemeinsamer Institutionen: Deutsch-Französischer Wirtschafts- und Finanzrat, Deutsch-französischer Verteidigungs-

338

Paris – Bonn

und Sicherheitsrat, Deutsch-französischer Rat für kulturelle Angelegenheiten, Deutsch-Französisches Jugendwerk, Deutsch-französische Brigade. Bei ihren halbjährlichen Konsultationen kommen die deutschen und französischen Minister in einer Form zusammen, die an eine wahre Regierung erinnert. Dazuhin bilden Berater im Élysée, im Matignon (dem Sitz des französische Premierministers), und im Kanzleramt eine ganze Reihe von Arbeitsgruppen und Kommissionen zu vielen verschiedenen politischen Fragen. Der Kanzler und der Präsident suchen beständig nach einer Übereinstimmung ihrer politischen Ansichten und Standpunkte, informieren sich gegenseitig und tauschen sich über die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa und der Welt aus. In diesem politischen Innenraum zwischen den beiden Nationen bleiben natürlich auch Differenzen bei den jeweiligen Interessen. Unter Mitterrand hält Frankreich beispielsweise die strategische Ungewissheit aufrecht, was den Einsatz seiner Atomwaffen, insbesondere auch auf deutschem Territorium, anbelangt. Das irritiert die Deutschen und brachte sie dazu – ganz vergeblich –, von Frankreich Zusicherungen zu verlangen, die sie nicht mehr so sehr wie bisher im Unklaren lassen. Umgekehrt gelingt es den Deutschen nicht so richtig, ihren französischen Partnern die von der Politik unabhängige Stellung der Bundesbank begreiflich zu machen. Durch ihre schwierigste Phase ging die europäisch gedachte politische Kongruenz der deutschen und französischen Politik in der Epoche der deutschen Wiedervereinigung. Als Bundeskanzler Kohl am 18. November 1989 im Bundestag seinen Zehn-Punkte-Plan verkündete, als Antwort auf die revolutionären Prozesse in der DDR und im (noch) sowjetisch dominierten Teil Europas, überraschte er Präsident Mitterrand und die französische Regierung. Diese, wie es Mitterrand danach mehrmals hervorhob, waren ahnungslos. Man kann, auf der einen Seite, Kohl verstehen. Er sah sich angehalten, rasch zu reagieren. Man begreift aber auch, auf der anderen Seite, Mitterrand. Frankreich war immerhin eine der vier Mächte, die über Deutschland als Ganzes die Verantwortung trugen. Indes hat sich Mitterand dem Begehren der Deutschen, sich zu vereinen, nicht entgegengestellt. Schon 1982 hatte er in einem Gespräch mit Helmut Kohl festgestellt, dass die deutsche Teilung etwas Unnatürliches sei, und deswegen auch eines Tages eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten geschehen werde. Seit dem 3. Oktober 1990, dem Tag des Vollzugs der deutschen Wiedervereinigung, hat es Frankreich mit einem anderen Deutschland zu tun. Die Partnerschaft zwischen den beiden Staaten wird sich deswegen auf eine neue Weise entwickeln müssen. Deren Natur wird sich aber nicht ändern. Wer könnte sich heutzutage einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland vorstellen? Wer sieht nicht, dass die Verbundenheit der beiden Nationen Frieden bedeutet? Wer begreift nicht, dass dies Europas Glück ist?

Von einer gewissen Leichtfertigkeit in den deutsch-französischen Beziehungen Die deutsch-französischen Beziehungen sollten aus der Routine der deutsch-französischen Beziehungen befreit werden. Der Mangel an maßgebenden Impulsen zeigte sich auf bedrückende Weise am 8. Juli diesen Jahres [2012]. Die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, und der französische Präsident, Franҫois Hollande, waren nach Reims gekommen, um die Erinnerung an die Zusammenkunft ihrer Vorgänger, Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, in dieser Stadt vor fünfzig Jahren, am 8. Juli 1962, feierlich zu begehen. Dank der eindrucksvollen Symbolik von deren Auftritt und Worten konnte in jener Zusammenkunft ein versöhnendes wie für die Zukunft Deutschlands, Frankreichs, und Europas schöpferisches Ereignis gesehen werden. Sich das Kleid einer derartigen, klassisch gewordenen politischen Symbolik anzutun, ist riskant; jede Absetzung davon mit eigenen symbolischen Signalen könnte fehlgehen, angesichts der eingeführten Symbolik wie ein faux pas in dem schwierigen Bereich symbolischen Handelns wirken. Man muss sich bei den Gesten und Worten, die Sinnbilder schaffen, auskennen. Hollande und Merkel taten was sie zu tun hatten als Routiniers. Ihr Auftreten entbehrte nur ganz dieser „sakralen Dimension“, in der, wie der Erz­ bischof von Reims bemerkte, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer ihre Zusammenkunft vollzogen.1 Wie soll man an eine inspirierende, ergreifende Form der deutsch-französischen Beziehungen glauben, wenn diese der Routine überlassen werden? Wenn ihnen nicht mehr zu herausragenden Momenten öffentlich durch entsprechende symbolische Handlungen und Worte ein Ausdruck gegeben wird, der aufmerken lässt? Und nichts mehr an darob entstandener Symbolik in die Vorstellungswelt und die Herzen der Bürger beider Länder eingeht? Erstdruck unter dem Titel „France-Allemagne, visions d’avenir. Le couple s’est inseré dans le cours de l’histoire“ als stark gekürzte französische Fassung des ursprünglichen Texts in: La Croix, 21. Sept. 2012, S. 13. Hier wird der ungekürzte Text abgedruckt, in einer vom Autor besorgten und teilweise neu verfassten Übersetzung. 1  Vgl. den Artikel „Die deutsch-französische Freundschaft feiert Hochzeit“ in: Der Tagesspiegel, 9. Juli 2012, https://www.tagesspiegel.de/politik/50-jahre-versoehnungist-das-nun-alles-fuer-die-jahrbuecher-der-diplomaten-geschehen/6853354-2.html (aufgerufen am 7. Juni 2019), und die vielsagende Aussage darin: „Anders als damals [1962] gibt es keinen Gottesdienst … .“. Es blieb nur noch die Hülle.

340

Leichtfertigkeit in den deutsch-französischen Beziehungen

Man müsste im Übrigen sowieso die Wahrnehmung der deutsch-französischen Beziehungen von falschen Wahrnehmungen derselben befreien, Wahrnehmungen von Deutschland in Frankreich, und von Frankreich in Deutschland. Das Problem der Inflation bietet dazu ein gutes Beispiel. Die Deutschen sind deswegen erstaunt und irritiert. Warum können die Franzosen nicht begreifen, dass sie bezüglich der Inflation hypersensibel sind? Und genau deswegen sind sie Opfer einer eigenen falschen Wahrnehmung, indem sie ihre Furcht vor der Inflation auf die Franzosen projizieren und dann denken, diese teilten sie. Dagegen müssten sie dazu gebracht werden, ihre falsche Wahrnehmung zu korrigieren, indem man ihnen erklärt, was die von Franzosen bevorzugte, eher inflationsimmune Geldanlage ist. Diese investieren ihr Vermögen großenteils in Immobilien, „en pierre“, wie man in Frankreich sagt, und sie fühlen sich dann bestens gegen die wertvernichtende Wirkung der Inflation geschützt. Ein anderes Beispiel ist das in Frankreich unabänderlich aufgebrachte Thema der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit Deutschlands. Die mit dem Thema verbundene Zielvorstellung ist klar: Frankreich muss mit Deutschland gleichziehen, wirtschaftlich ebenso stark sein wie dieses. In den französischen Medien liest man das fast jeden Tag. Doch das „Geheimnis“ der deutschen Wirtschaftskraft wird nicht erfasst. All dieser effektive Wettbewerb im Innern Deutschlands nämlich, ein staatlicher, politischer, kultureller und eben auch wirtschaftlicher Wettbewerb, den eine Vielzahl und Verschiedenartigkeit produktiver Zentren hervorbringen und antreiben. Indes: man sieht diesen Wettbewerb im Innern Deutschlands nicht, wenn man auf Deutschland, wie in Frankreich üblich, durch das Prisma des französischen Zentralismus schaut. Einige „pädagogische“ Anstrengungen wären vonnöten. Um in Frankreich den Sinn für Deutschland, wie es ist, zu fördern. Um in Deutschland den Sinn für Frankreich wie es ist, zu bessern. Aber wie? Das ist zuallerst eine Frage der öffentlichen Meinungsbildung. Und sie wiederum geht vornehmlich die Medien an. Ihre Rolle ist wesentlich und ihre Verantwortung schwerwiegend. Sie formen die Wahrnehmungen und Vorstellungen der Leute. Was die Leute in Frankreich von Deutschland halten, oder die Leute in Deutschland von Frankreich, das ist weitgehend durch das geformt, was sie Fernsehsendungen und/oder Zeitungsartikeln entnehmen. Was schlägt sich zum Beispiel im Kopf eines Lesers von jenem Artikel nieder, der in Le Monde nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu dem sogenannten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ veröffentlicht wurde?2 2  Siehe den Artikel „La très prudente europhilie des juges constitutionnels allemands“ von Frédéric Lemaître in „Le Monde“ vom 11. September 2012: https:// www.lemonde.fr/economie/article/2012/09/11/la-tres-prudente-europhilie-des-jugesconstitutionnels-allemands_1758491_3234.html. Das Urteil des Bundesverfassungs-



Leichtfertigkeit in den deutsch-französischen Beziehungen341

Wenn der journalistische Bericht rasch in eine Interpretation übergeht, der zufolge eine Situation entstanden sei, in der sich „die deutschen und lateinischen Geisteswelten, und unter diesen besonders die französische, zutiefst entgegenstehen“, und man sich nun auf ein „Diktat von Berlin“ vorzubereiten habe? Warum wird eine solche Sprache benützt? Sie erregt Aufsehen, aber sie erledigt auch jedes Verstehen. Und sie verstärkt dafür die vorhandenen Vorurteile und Ressentiments. Nicht weniger problematisch ist eine redaktionelle Maßnahme der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie gab vor kurzem den Posten eines Kulturkorrespondenten in der französischen Hauptstadt auf. Abgesehen von einigen Berichten ab und zu, zumeist kleineren, die dazuhin in Genf geschrieben werden, kommt das kulturelle Leben Frankreichs in den Nachrichten der FAZ nicht mehr vor. Natürlich legt die allgemeine wirtschaftliche Krise von Zeitungen und Zeitschriften auch der FAZ finanzielle Einschränkungen auf. Aber eine Abwesenheit Frankreichs – Frankreichs! – auf ihren kulturellen Seiten? Da begehrt man doch auf. Es herrscht in der deutsch-französischen Welt eine gewisse Leichtfertigkeit. Wer es wissen will, weiß es: Wenn sich Frankreich und Deutschland verstehen und zusammenarbeiten, geht es mit den politischen und ökonomischen Angelegenheiten Europas voran. Wenn sie indes nicht auf sich hören und aneinander vorbei handeln, leidet Europa, und es beginnt schnell jenes Spiel mit den Allianzen, das, niemals ein Wundermittel, Europa nur Unglück bringt. Die Welt der Politik ist eine Werkstatt, und die Kunst des Regierens besteht darin, in dieser Werkstatt gestaltend zu arbeiten. Geopolitisch gesehen ist Europa seine eigene Welt der Politik. Diese wird auf grundsätzliche Weise von „Deutschland-Frankreich“ strukturiert. Die hier zu leistende gestaltende Arbeit darf niemals allein die Angelegenheit einer gewohnheits­ mäßigen Praxis sein. Sie ist eine zivilisatorische Aufgabe. Sie verlangt alle schöpferische Sorgfalt, zu der Politik fähig ist. Täuschen wir uns nicht. Die ersten glückshaften Stunden der deutschfranzösischen Versöhnung sind vorbei. Ein Staatsbesuch hier oder dort genügt nicht, um die Wahrnehmung einer Wirklichkeit hervorzurufen, die wir uns für Deutschland und Frankreich wünschen. Wir sind erst noch dabei, sie wirklich werden zu lassen, zu erarbeiten: Deutschland und Frankreich zusammen. Zwei Länder, ein Akteur. Zwei Kulturen, eine Vision. Zwei geschichtliche Erfahrungen, ein geschichtlicher Vorsatz. Viel politische Schöpferkraft ist verlangt. Viel politische Phantasie. Mut und politischer Wille. Wahrlich: das ist Arbeit. Aber auch ein Schenken von Leben. Wer wollte nicht daran teilhaben? gerichts und dessen Begründung gibt wieder: BVerfGE 132, 195 Europäischer Stabilitätsmechanismus http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv132195.html (beide Quellen auf­ gerufen am 7. Juni 2019).

VI. François Mitterrand – Politik und Persönlichkeit

Ein klassischer Fürst. François Mitterrand im Spiegel einer vergleichenden Regierungslehre Politische Klassik Was führt mich dazu, François Mitterrand einen Fürsten zu nennen? Warum „Fürst“? Und warum das Epitheton „klassisch“? Mein Beruf sind die politischen Wissenschaften, und ich kam zu meiner Feststellung aufgrund dieser Tätigkeit. Am Anfang war Alltägliches, nämlich die Wahrnehmung von einem Politiker unter vielen, noch im Vorfeld der Wissenschaft, bei der Zeitungslektüre. Am Ende ist alles anders. Der ‚eine Politiker unter vielen‘ ist verschwunden. Doch erstand dafür in seiner Gestalt jene Figur, die man seit altersher mit dem Namen ‚Fürst‘ bezeichnet. Dies ist die Figur des Mächtigen, der über Menschen regiert. Sie ist gewiß eine klassische Figur; sie erscheint unter den Menschen immerwährend, und sie fehlt bei ihnen an keinem Ort. Die Menschen leben nicht ohne Principe, auch wenn dieser nur so ähnlich oder ganz anders heißt, und auch wenn dieser nicht allein, sondern mit anderen zusammen regiert, und auch wenn dieser lächerlich verzerrt ist zu seiner Karikatur oder böse entstellt ist zu seiner Antifigur. Was sodenn ist geschehen zwischen jener Wahrnehmung, für die François Mitterrand nicht mehr als ein Politiker unter vielen war, und der gewonnenen Einsicht, daß in François Mitterrand die Figur des Fürsten wieder einmal klassisch wurde, paradigmatisch real?1 Erstdruck in: B. Sauzay/R. von Thadden (Hrsg.), Mitterrand und die Deutschen, Göttingen, Wallstein, 1998 (= Genshagener Gespräche, Bd. II), S. 78–106. Hier erweitert und ergänzt. 1  Unter „Fürst“ wird hier, wie gesagt, „die Figur des Mächtigen“ verstanden, „der über Menschen regiert“. Dabei soll das Wortfeld zu dem Begriff, wie er hier verstanden wird, durchaus so weit gefaßt sein, daß „Fürstliches“ – eine politisch „fürstliche“ Stellung, eine architektonisch und gesellschaftlich „fürstliche“ Situation, eine „fürstliche“ Qualität des Erscheinens – zu dieser „Figur des Mächtigen“ vorgestellt wird. – Bei Mitterrand war zum Beispiel zu beobachten, daß er die Figur im Laufe seiner Präsidentschaft mit dem Äußeren seines Auftretens, wie Fotos vor allem aus den späteren Jahren der Präsidentschaft zeigen, mehr und mehr zu der öffentlichen Erscheinung einer Person machte, die den „Fürsten“ in sich trägt, ihn gewissermaßen

346

Ein klassischer Fürst

Es wurde ein Experiment politischer Wissenschaft ausgeführt, und zwar durchaus im Labor, das heißt: in verschiedenen Laboratorien und dadurch wiederum in einer zeitlich wie räumlich auseinanderliegenden Anordnung der einzelnen Testphasen des Experiments. Die Laboratorien gibt es, mit jenen Feldern menschlichen Handelns, die man ‚Regierungen‘ nennt. Auch die politischen Wissenschaften können objektiv, so ‚empirisch‘ und so ‚hart‘ wie die dafür immer so gerühmten Naturwissenschaften sein. Sie sind, streng genommen, sogar härter wie diese, denn die politische Welt ist ganz gewiß von den Menschen gemacht worden – frei nach den Worten Vicos formuliert – und darum können in dem Formenleben unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden.2 In Regierungen ist zu finden, was Regierungen sind; sie wurden von Menschen gemacht, und so können in den Weisen, nach denen Regierungen gemacht sind, die Weisen begriffen werden, in denen Menschen ihr Werk ‚Regierung‘ überhaupt machen. Die entsprechenden Erkenntnisse sind uneingeschränkt objektiv; eine von Menschen konstituierte Sache wird in den Formen – man könnte auch sagen: nach den Strukturen und Gesetzen – erfaßt, wie Menschen diese Sache konstituieren. Forschungen im Feld von Regierungen sind zuletzt Forschungen zum schöpferischen Menschen. Im ‚Labor‘ des Forschers erscheint jener bei seiner Tätigkeit; der Forscher kann ‚zusehen‘, wie regiert und so eine politische Welt geschaffen und erhalten wird. Die Frage klingt einfach: Was denn ‚Regierung‘ sei? Und dann heißt die mehr als komplexe und frappierende Antwort: Daß es der politisch schöpferische Mensch in seiner Tätigkeit sei, was wir ‚Regierung‘ nennen. Doch eine andere Antwort ist nicht möglich. Denn die gegebene bestätigte sich experimentell, auf eine gänzlich unbeabsichtigte Weise. François Mitterrand, der Präsident, war Zeuge. Das Experiment, von dem hier berichtet werden kann, begann in der amerikanischen Stadt Boston. Ich wollte wissen, wie diese Stadt regiert und was dabei in der Weise von ‚Regierung‘ geschaffen wird. Die Erkenntnisse, zu denen die entsprechenden Untersuchungen führten und welche dann auch in einem Buch festgehalten wurden,3 konzentrierten sich in der Einsicht, daß Regieren etwas umfassend und unaufhörlich Schöpferisches sei und auch selbstverständlich in einer Regierung erscheine, daß diese jedoch für jenes Schöpferische zwar eine Form, aber keineswegs mit ihm identisch sei. Das Schöpferische regiert, nicht die Regierung. Das Paradigma für Regieren, so zum Charakter hat. Siehe dazu auch den Abschnitt „Das Bezeugen des Präsidenten“, unten, S. 394–399. 2  Vgl. Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, I, 3. 3  Tilo Schabert, Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin/New York 1989.



Ein klassischer Fürst347

wurde gesehen, ist ein fließender Zustand zwischen ‚Chaos‘ und ‚Form‘. An jedem dieser beiden einander entgegengesetzten Enden wäre das Schöpfungswerk ‚Regieren‘, wenn allein logisch gedacht würde, vollkommen erfüllt; im ‚Chaos‘ bliebe schöpferisches Regieren ganz zu sich selber frei, in der ‚Form‘ würde es ganz wirklich. Die politische Welt organisiert sich aber anders; dort gehen Chaos und Form fließend ineinander über und bilden, was ich, ein Wort von James Joyce aufgreifend, Chaosmos nenne.4 Dies ergab sich in Boston. Die in sich abgeschlossene Studie zur Kreativität politischer Macht anhand einer Analyse des Regierungswesens und der Politik in dieser Stadt unter dem Bürgermeister Kevin H. White konnte aber nicht wirklich ein Ende, sondern nur ein Anfang sein. Dafür hatte sich die Innenwelt der Regierungswelt der theoretischen Neugier zu weit geöffnet; diese richtete sich, nun da sie wissender bezüglich dessen war, was sie suchte, noch viel ausholender und intensiver auf jene Welt zurück. Das Feld der Explorationen wurde denn ausgedehnt. Das ausgebildete Paradigma zur Politik des Regierens wurde getestet. In einem zusammenhängenden und mit der Boston-Studie noch unmittelbar verknüpften Untersuchungsgang wurde der Regierungsweise und der Regierungspraxis des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt nachgegangen, und das gleiche wurde für den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, sowie die Nachfolger Roosevelts im Amt des amerikanischen Präsidenten getan. Und es schloß sich ein immer größeres Interesse für François Mitterrand, den Präsidenten Frankreichs, an.5 Denn François Mitterrand wußte nichts von der Regierungsführung Roosevelts, doch war seine eigene jener überaus ähnlich. François Mitterrand wußte nichts vom Regierungsstil Adenauers, doch waren dieser und sein eigener in vielem gleich. Und vom Bostoner Bürgermeister Kevin White hatte Mitterrand noch nie gehört, doch hätten jener und er in ihrer Kunst des Regierens politische Zwillinge sein können.6 Adenauer wiederum kannte nicht Roosevelts Regierungsführung (zumindest weiß man bei aller Forschung über ihn nichts davon), und Kevin White nicht die von Mitterrand; der erstere war auch schon ein Meister schöpferischen Regierens gewesen, als der letztere erst begann, in ihm ein Meister zu werden. In das Netz der ÜbereinJoyce, Finnegans Wake (FW,118, 21). führte schließlich zu ausgedehnten Forschungen über Mitterrands Regieren in den Jahren 1992–1995, von denen Teile dieses Buches hier Ergebnisse sind. Siehe ferner: Tilo Schabert, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002, und davon die überarbeitete und erweiterte französische Fassung: Mitterrand et la réunification allemande. Une histoire secrète (1981–1995), Paris 2005. 6  Gespräch des Autors mit François Mitterrand im Élysée am 15. Juni 1993. Text des Gesprächs siehe unten, S. 403–408. 4  James 5  Es

348

Ein klassischer Fürst

stimmungen dieser ‚seltsamen‘ Art konnten ebenfalls amerikanische Präsidenten wie Truman, Eisenhower und Johnson eingewoben werden, denn sie waren einander sowie den eben genannten überaus ähnlich in ihrer Regierungsführung und hatten diese doch, wie jeder von den anderen für sich auch, als die ihre praktiziert. Was für eine seltsame Art von Übereinstimmungen war dies, in der Tat? Übereinstimmungen jenseits von Raum und Zeit? Zwischen Übereinstimmenden, die sich als Übereinstimmende nicht kannten? Mit Personen, denen ihr vitaler Instinkt und nicht etwa eine bloße Meinung sagte, daß die Art, in der sie die Dinge des Regierens angingen, durch und durch ihre eigene war? Was sollten Roosevelt und Mitterrand und White und Johnson und Eisen­ hower und Adenauer gemeinsam haben, da jeder von ihnen für sich einzeln nur Roosevelt, nur Mitterrand, nur White, nur Johnson, nur Eisenhower, nur Adenauer gewesen war? Vorgegebene morphogenetische Strukturen Sie hatten dies gemeinsam: Jeder regierte nach der Art des klassischen Fürsten und jeder war darin originell. Das ist kein Widerspruch. Mitterrand regierte nicht deshalb ähnlich wie Roosevelt, weil er diesen etwa nachahmte, sondern weil er in seiner Regierungsführung dieselbe Klassizität der Regierungskunst wie Roosevelt erreichte, zu welcher dieser wiederum bei seinem Regieren kam. Nichts verband Mitterrand mit Roosevelt – außer diese Klassizität. Und darin aber waren beide einander überaus ähnlich – im Regieren Mitterrands findet sich die Regierungskunst Roosevelts und im Regieren Roosevelts findet sich die Regierungskunst Mitterrands. Diese Feststellung barg eine strukturelle Entdeckung. Sie kann so formuliert werden: Im Regieren gibt es klassische Strukturen; sie werden von Regierenden aufgefunden und realisiert, ohne daß diese wissen, daß es sie gibt; die Strukturen gehen Regierenden insofern voraus, als diese bei ihrem Regieren in jene eintreten; Regierende vollziehen in ihrem Regieren Strukturen des Regierens, die ihnen vorgegeben sind; sie bilden in einem allgemeinen Formenspiel die Spielform ihrer eigenen Regierungsführung; diese ist auf eine morphogenetische Weise ‚klassisch‘ strukturiert. Für die wissenschaftliche Untersuchung der Tätigkeit ‚Regieren‘ gibt es demnach ein einheitliches Analysefeld, dieses wird von der Sache und nicht von der Wissenschaft her konstitutiert. Die sich zeigende Sache – ‚Ähnlichkeiten‘ zunächst einmal, wie hier dargelegt – weist den Wissenschaftler in sein Feld; sie macht das sinnfällige Paradigma dafür aus, über sehr Verschiedenes wie von Einem zu sprechen. Die lange, gegenwärtig aber abgebrochene Tradition der Fürstenspiegel erklärt sich durch ein solches Verständnis; im-



Ein klassischer Fürst349

mer wieder anders wurde derselbe Spiegel aufgestellt: Wie ist jemand ein guter Fürst?7 Auch die presidential studies in der neueren amerikanischen politischen Wissenschaft – mit keiner Entsprechung in einem europäischen Land8 – kreisen um eine konstant vorausgesetzte Sache, nämlich die Möglichkeiten und Fähigkeiten von amerikanischen Präsidenten zur leadership.9 Doch die ‚Entdeckung‘, von der gesprochen wurde, forderte zu mehr heraus. Sie stieß auf den schöpferischen Prozeß selbst, aus dem ‚Regieren‘ besteht. Und sie verwies auf das Feld, das mit diesem Prozeß für eine Analyse der Tätigkeit ‚Regieren‘ existiert. Im Feld der Paradigmen, in denen – und noch mehr: nach denen – sich Regieren als schöpferischer Prozeß vollzieht, findet eine Wissenschaft vom Regieren das Feld ihrer Untersuchungen. Regieren folgt schöpferischen Gesetzen. In der Analyse des Schöpferischen, das Regieren ist, findet eine Regierungslehre diese Gesetze. François Mitterrand schuf mit seiner Regierungsführung ein geradezu ideales Modell für das Erfassen des Schöpferischen im Prozeß des Regierens. Er wurde dazu nicht nur durch eine Weisheit geführt, auf deren Stimme er hörte: „Ich habe neulich ein Buch von Plutarch gefunden, dessen Titel, in der Sammlung Amyot, heißt – in der Art, wissen Sie, wie es die alten Griechen hielten: Ob der Mensch im Alter noch sich mit den öffentlichen Dingen be­ fassen und um sie kümmern soll. Das ist der Titel – Und er führt die Antwort an, er, Plutarch  … Er sagt: Ja. Und wissen Sie, auf welchen Grund er sich von Anfang an beruft? Er sagt: Weil man noch nie das Alter dabei gesehen hat, eine Biene in eine Hummel zu verwandeln“.10 Er bewegte sich darauf auch hin mit den Strategien seiner Machtausübung. Und er trat dabei, wie sich gleich zeigen wird, in eine in paradigmatischer 7  Vgl. Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Leipzig 1938; den Eintrag „Fürstenspiegel“ (geschrieben von Pierre Hadot) in: Reallexikon für Antike und Christentum, hg. Theodor Klauser, Bd. VIII, Stuttgart 1972, Sp. 555–632; Hans-Otto Mühleisen/Theo Stammen (Hg.), Politische Tugendlehre und Regierungskunst, Tübingen 1990. 8  Die einschlägigen Arbeiten von Wilhelm Hennis in Deutschland und die von Samy Cohen in Frankreich blieben bislang Einzelerscheinungen. 9  Vgl. z. B. die bibliographischen Angaben in: Stephen Skowronek, The Politics Presidents Make. Leadership from John Adams to George Bush, Cambridge, Mass. 1993. 10  Interview mit François Mitterrand im Fernsehen (TF1) am 17. September 1987, Zitat nach dem (teilweisen) Nachdruck des Interviews in: Le Monde, 19. Sept. 1987, S. 7. (J’ai trouvé l’autre jour un livre de Plutarque dont le titre, dans la collection d’Amyot dit – vous savez, c’est la façon qu’avaient les vieux Grecs: Si l’homme d’âge se doit encore entremettre et mêler des affaires publiques. C’est le titre … Et il apporte la réponse, lui, Plutarque… Il dit: oui. Vous savez quelle est la raison qu’il invoque dès le point de départ? Il dit: parce qu’on n’a jamais vu l’âge transformer une abeille en bourdon …).

350

Ein klassischer Fürst

Weise schon vorhandene Praxis der Machtausübung ein – ohne dies notwen­ digerweise zu wissen. Im Élysée behielt Mitterrand beispielsweise gegenüber jenen, die an seiner Herrschaft teilhatten, unter anderem dadurch das Primat der Macht, daß er sie im fließenden Zustand personeller Veränderungen hielt. Er handelte, wie wenn er sich immer wieder gesagt hätte: „Alle zwei bis drei Jahre sollen die Beamten und Lehensinhaber gewechselt werden, damit sie nicht festwurzeln, erstarken und zu Besorgnis Anlaß geben“. Das ist ein Rat, in dem man unschwerlich Mitterrand erkennt, doch findet sich dieser so formuliert nicht unter dessen Äußerungen, sondern in einem Buch der Staatskunst aus dem Persien des 11. Jahrhunderts.11 Mitterrand verstand es ferner – um einen weiteren Modus seines Regierens zu nennen – Menschen in seinem Machtbereich im Netz seines Mitwissens zu halten; auch in partiellen eigenen Machtprovinzen entglitten sie ihm nicht, blieb er ihnen aus der Distanz in seiner Herrschaft sehr nah. Sein entsprechender Ratschlag – hätte er ihn notiert – wäre in der Sprache verhaltener, in der Sache aber nicht anders ausgefallen als in diesem Fürstenspiegel eines Kanzlers des persischen Reiches: „Der Herrscher darf niemals die Verhältnisse seiner Sachwalter außer acht lassen. Er muß fortwährend über ihr Treiben und ihr Verhalten auf dem laufenden sein. Wem er ein wichtiges Geschäft anvertraut, den muß er insgeheim überwachen lassen, doch so, daß dieser nicht davon merke.“12 Und wenn aus der Feder jenes fernen Fürsten in einer lang vergangenen Zeit der Satz geflossen ist: „Nachlässigkeit entführt die Herrschaft“13, so hat sich Mitterrand im Élysée sehr gewissenhaft an diese Machtweisheit gehalten. Nur daß es seine eigene war, der er folgte, wenn er, alles andere als nachlässig seiend, seiner Herrschaft im Palast Tag für Tag die Fundamente seines Fleißes gab und sie dadurch wahrte.14 François Mitterrand schuf aus eigenem Vermögen ein ideales Modell für das Erfassen des Schöpferischen im Prozeß des Regierens. Er benötigte dazu kein Vorbild. Und doch ‚erfüllte‘ er dabei ‚Vorbilder‘. Ja, man könnte sogar sagen, daß er solchen ‚folgte‘. Aber ‚folgen‘ wäre dann nicht ein Wort, das einfach ‚nachahmen‘, ‚fortsetzen‘, ‚sich anschließen‘ bedeuten dürfte. Viel11  Nizamulmulk, Siyasatnama – Das Buch der Staatskunst, Aus dem Persischen übs. v. Karl Emil Schabinger, hg. v. Karl Friedrich Schabinger, Zürich 1987, S. 213. 12  Ebd., S.  196 f. 13  Ebd., S. 193. 14  Mitterrand las täglich bei seiner Arbeit in seinem Büro im Élysée 200–250 Seiten verschiedenster sogenannter notes, Arbeitspapiere seiner Mitarbeiter, die, dem Umfang der Regierungsgeschäfte gemäß, von allen möglichen Themen handelten. Gewöhnlich kamen diese notes – mit (oder ohne) seine Anmerkungen und Anweisungen innerhalb eines Tages an den jeweiligen Mitarbeiter zurück.



Ein klassischer Fürst351

mehr müßte es nach dem Gesetz einer strukturalen Gleichheit verstanden werden. Mitterrand folgte nicht ‚Vorbildern‘, aber er folgte für die schöpferische Form der eigenen Regierungsführung einem allgemeinen Paradigma schöpferischen Regierens, dem auch andere gefolgt waren und die so, auf der bloßen Oberfläche, wie seine ‚Vorbilder‘ erscheinen könnten. Die Gleichheit zwischen ihm und anderen ‚Fürsten‘ stellte sich zwar in einer ähnlichen Praxis des Regierens ein (und nur auf dieser Ebene des Anscheins könnten denn auch ‚Vorbilder‘ vermutet werden), doch sie bestand nur in der Einheit des Paradigmas: Jeder schuf in dieser Form seine Form des Regierens und wurde so in seiner Inszenierung des Paradigmas anderen gleich, die es ebenfalls inszenierten. Regierende gehen in die Figur des Fürsten ein – also des Regierenden, der in seinem Regieren schöpferisch ist –, indem sie schöpferisch nach den Formen schöpferischen Regierens sind. Sie sind daher schöpferisch und sie sind es daher auch nicht. Sie sind es nicht, insoweit sie Vorgegebenem folgen und in das Formenspiel eintreten, in dem sich schöpferisches Regieren vollzieht. Und sie sind es, und dann überaus, insoweit sie das Formenspiel selber spielen, durch ihre Regie führende Hand erst wirklich machen, was als Spiel erst im Spiel mit seinen Formen sich zeigt. Mitterrand kannte dieses schöpferische Gesetz für den schöpferisch tätigen Menschen. Und er sah, daß es für alles galt, worin Menschen schöpferisch sind. Er wußte, daß es ein Irrtum war, wie es Paul Valéry formulierte, „auf den Autor zurückzugehen, anstatt auf die Maschinerie zurückzugehen, welche die Sache selbst geschaffen hat.“15 Man komme zu seinem eigenen Werk, so sagte er, allein in einem Werk nach den gegebenen Regeln: „Ich denke; daß man die Ungezwungenheit des Stils, des Ausdrucks, des Schreibens, wie immer, nur finden kann, wenn man die Regeln der Sprache achtet. In der Politik ist das genauso.“16 Valéry sprach unzweideutig die wesentliche Einsicht aus. Am schöpferischen Prozeß zwischen Werk und Schöpfer nimmt etwas Drittes teil. Dies legt sich dem Autor mit seinem Werk auf: „Man kann nicht die Werke schaffen, die man schaffen wollte – man gehorcht etwas ganz Anderem wie sich selbst.“17 Wer oder was aber ist es, dem man gehorcht? Mitterrand antwortete für die Politik. Man gehorcht dem schöpferischen Gesetz. Jede Schöpfung hat eine Form. Und allein nach einer Form Valéry, Cahiers, Bd. I, Paris 19731, 1983, S. 253 (de remonter à l’auteur au lieu de remonter à la machine qui a fait la chose même). 16  Interview mit François Mitterrand, in: Le Point, Nr. 970, 22. April 1991, S. 49 (Je pense qu’on ne trouve l’aisance de style, de façon d’être, d’écriture quoi, que dans le respect des règles de la langue. En politique, c’est pareil.). 17  Paul Valéry, Cahiers, Bd. I, S. 249 (On ne fait pas les ouvrages que l’on voulait faire – on obéit à tout autre qu’à soi.). 15  Paul

352

Ein klassischer Fürst

kann sie geschaffen werden: „Es gibt keine Freiheit,“ so wußte Mitterrand, „ohne eine Organisation der Freiheit.“18 Die drei Paradoxa Dies klingt paradox, denn wird von der Freiheit, wenn man sie ‚organisiert‘ – das heißt bestimmt und also unterwirft – nicht alle ‚Freiheit‘ gelöscht? Und doch: Muß nicht auch die Freiheit in ihre Form kommen, damit es sie überhaupt gibt? Sind Bindungen der Freiheit und ihr Genuß in sich das eine, auch wenn sie zueinander widersprüchlich sind? Wollte Mitterrand solches sagen? Wie immer es sich damit verhält, er verwies jedenfalls auf die paradoxe Weise, mit der sich das schöpferische Gesetz in der Politik manifestiert. In dem Maße wie Politik Form annehmen will – und sie muß Formen annehmen, will sie überhaupt vollzogen werden – geht sie unvermeidlich in bestimmte Formen ein. Der homo politicus wird ‚regiert‘, da er sich an das Regieren macht. Was geschieht einem Fürsten, der regieren möchte, in dem Maße, wie er regieren möchte? Das Paradox der Macht Er wird auf ein erstes Paradox in der Natur politischen Regierens stoßen. Es ist das Paradox der Macht. Stellen wir uns dazu die Situation konkreter vor. Am Schreibtisch im Oval Office im Weißen Haus in Washington sitzt eine einzelne Person. Der amerikanische Präsident. Nehmen wir an, es sei sein erster Tag im Amt. Noch ist für ihn alles neu. In der Person am Schreibtisch stauen sich politische Energien und große gesellschaftliche Pläne. Dem Präsidenten gehört die Macht, welche die amerikanische Verfassung ihm gibt. Der Präsident führt die Regierungsgeschäfte der Vereinigten Staaten. Und nun will diese Person am Schreibtisch im Oval Office die Vereinigten Staaten regieren. Am 5. März 1933 beispielsweise bestand eine solche Situation. Franklin D. Roosevelt hatte am Tag zuvor den Amtseid als Präsident geleistet und war zu seinem ersten Arbeitstag ins Oval Office gegangen. Er hatte sich dort an den Schreibtisch des Präsidenten gesetzt, zum ersten Mal, und wollte nun mit seiner Regierungsarbeit als neuer Präsident beginnen. Er konnte es aber nicht. Sein Vorgänger, Herbert C. Hoover, hatte alles ausgeräumt, die Schubladen im Schreibtisch waren leer, es ließ sich kein Blatt Papier, kein einziger 18  Interview mit François Mitterrand, in: Libération, Nr. 923, 10. Mai 1984, S. 6 (Il n’y a pas de liberté sans une organisation de la liberté).



Ein klassischer Fürst353

Bleistift finden. Roosevelt, gehbehindert und allein im Raum, rief durch die offene Tür den Gang hinunter, jemand solle ihm Schreibzeug bringen. Es dauerte einige Zeit, bis ihn jemand hörte und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten – dieser so ‚mächtigen‘ Person in der menschlichen Welt – die ersten Instrumente des Regierens besorgte: Papier und etwas zum Schreiben.19 In den ersten Tagen nach dem 10. Mai 1981 befand sich Mitterrand in einer ähnlichen Situation. Er war der neue Präsident der Republik und er hatte ‚alle‘ entsprechende Macht von seinem Vorgänger übernommen. Doch welche Macht? Die Regierungsmöbel im Élysée waren leer und mit dem Vorgänger waren auch dessen Akten gegangen.20 Zum Anfang der Macht – dies ist das Paradox – gibt es keinesfalls die Macht. Die Umstände sind viel eher daraufhin angelegt, eine Entfaltung von Macht zu erschweren oder gar zu verhindern. Das gilt in ganz besonderer, ja fast extremer Weise für das Machtarrangement in modernen Verfassungsstaaten. Die konstitutionelle Herrschaft ist als Widersacherin der Macht errichtet; sie mißtraut der Macht allgemein und prinzipiell und leitet sich von diesem Mißtrauen her. Ihr Zweck ist die Freiheit und sie dient daher zuallererst dazu, eine Herrschaft der Freiheit aufzurichten und die Freiheit in dieser Herrschaft zu sichern. Deswegen wird durch die konstitutionelle Ordnung alle Macht zerlegt und in ein Machtspiel übergeführt, bei dem die eine Macht in ihrem natürlichen Trieb, sich auszudehnen, auf eine andere ebenfalls expansive Macht stößt und sich beide so – nicht anders könnend – kontinuierlich beschränken. Die Logik dieses Machtarrangements führt zu einer Machtparalyse – was aus der Perspektive der Freiheit genau das gewollte Ergebnis ist. Aber wozu ist dann noch die Freiheit mächtig, zu welcher Herrschaft, die die ihre ist? In einem Anflug konstitutionellen Denkens bei einem Neujahrsempfang reflektierte Mitterrand seine Machterfahrung der paradoxen Art. „Auf der einen Seite hat ein Präsident der französischen Republik“, so führte er aus, „selbst unter der V. Republik, immer viel weniger Macht, als man sich vorstellt; auf der anderen Seite hat er mehr als die meisten der demokratischen Staatschefs.“ Und er stellte die Frage: „Wie kann man diese Gegensätze zusammenbringen?“ Bei der Frage beließ er es aber nicht, vielmehr holte er zu einer Erwiderung aus. Der französische Staatspräsident habe „viel weniger Macht, als man glaubt, weil es, zuallererst, glücklicherweise Institutionen und Traditionen gibt; und ein Staatschef, dem es Spaß machte, sich nicht an 19  Vgl. Arthur M. Schlesinger, Jr., The Age of Roosevelt. The Coming of the New Deal, Boston 1958, S. 2 f. 20  Vgl. Jacques Attali, Verbatim I, Paris 1993, S. 21.

354

Ein klassischer Fürst

die Institutionen und die Traditionen zu halten, das ginge nicht sehr lange.“ Warum? Mitterrand gibt für den, der sich ob seiner Macht – in dem Amt also beispielsweise des französischen Staatspräsidenten – für mächtig hält, eine vernichtende Antwort: „Die Macht entwischt über alle Ränder, das ist wie bei einer zu vollen Kasserolle, da ist nichts wirklich möglich auf Dauer, das der Phantasie oder der Willkür entspringt.“ Das schwarze machtentziehende Loch vor den Augen des Mächtigen ist aber nicht alles. Auf der anderen Seite, so fährt Mitterrand fort, sollte sich dieser nicht „täuschen.“ Vor ihm liegt auch sein Werk. Dem Mächtigen bleibt noch immer die ‚wunderbare‘, weil schöpferische Kraft seiner Macht: „Was so wunderbar bei der Macht – nach meiner Definition immer begrenzt – ist, das ist dies: sie erlaubt es noch immer auf die Dinge und das Leben einzuwirken …“.21 Das Paradox des Schöpferischen Der Fürst ist gefesselt, und er ist zu seiner Machtentfaltung frei. Wie wird er es machen? Doch die Frage ist verfrüht, denn er wird sich, bevor er überhaupt viel macht, noch mit einem zweiten Paradox auseinandersetzen müssen. Dies ist das Paradox des Schöpferischen. Es ergibt sich wieder mit dem Problem des Regierens selbst. Denn die Menschen, die der Fürst regieren will, haben mit ihrem Leben nicht auf ihn gewartet. Sie vollziehen es schon längst. Und sie sind auf dessen Gestalt hin schöpferisch gewesen. Sie sind es immer noch, wie er ankommt. Der schöpferischen Intention des Fürsten findet sich keine Leere, kein Nichts gegenüber, in das hinein erst von ihr etwas bewirkt, errichtet, geschaffen würde. Die Lage ist genau umgekehrt. Es steht ihr eine Welt entgegen, die voll des Geschaffenen, vorhandener Gestalten ist. Der Platz für Schöpfungen ist schon besetzt. Was soll der, der regieren will, hier noch machen? 21  Présidence de la République, Service de Presse, Document à usage interne, Allocution prononcée par Monsieur François Mitterrand, Président de la République, lors de la présentation des voeux de la presse, 6. Jan. 1995, S. 2. (Die Hervorhebungen sind von mir, T. S.) – (D’une part, un Président de la République française, même sous la Vème République, a toujours beaucoup moins de pouvoir que vous ne l’imaginez; d’autre part, il en a plus que n’en ont la plupart des chefs d’Etats démocratiques.  – Comment allier ces contraires?  –  …beaucoup moins de pouvoir qu’on ne croit parce que d’abord il y a, heureusement des institutions et des traditions; et un chef de l’Etat qui s’amuserait à manquer aux institutions et aux traditions, cela ne durerait pas longtemps. – Le pouvoir échappe par tous les bords, c’est comme une casserole trop pleine, rien n’est vraiment possible durablement qui relèverait de la fantaisie ou de l’arbitraire. – Ce qui est merveilleux avec le pouvoir, limité à ma définition, c’est qu’il permet quand même d’agir sur les choses et sur les êtres.).



Ein klassischer Fürst355

In den ersten beiden Jahren nach ihrer Regierungsübernahme lieferten Mitterrand und seine Mannschaft hierfür ein politisches Lehrstück. Sie wollten die Wirtschaft Frankreichs in die Gestalt ihrer wirtschaftspolitischen Gedanken bringen. Doch der Platz für ökonomische Schöpfungen war schon besetzt. Die Wirtschaft Frankreichs folgte anderen als plansozialistischen Gesetzen und zeigte sich auch nicht bereit, sich auf diese hin umformen zu lassen. Das sozialistische Projekt stieß auf keine ‚leere‘ – denn unorganisierte – Wirklichkeit, sondern auf eine ausgefüllte – denn organisierte – Wirklichkeit, die sich überdies den ihr sich entgegenstellenden Absichten weitgehend entzog. Was an Schöpferischem war mit dem Projekt dann noch überhaupt zu bewerkstelligen? Aber entsprang dieses nicht einem Schöpfungswillen, für den es gute Gründe und – am Wählerwillen gemessen – auch einen Auftrag gab? Es bedurfte einer Zeit von fast drei Jahren, bis Mitterrand und seine Mannschaft aus dem Widerspruch heraus und den Weg zu einer Wirtschaftspolitik fanden, der im Paradox des Schöpferischen zu einer schöpferischen Lösung führte. Die Verwicklung in das sozialistische Projekt, und damit in das hier beschriebene Paradox, rührte auch von dem Anfang – dem ganz neuen Anfang – her, der mit Mitterrands Wahl beginnen sollte. Für die Menge, die seinen Sieg am Abend nach seiner Wahl auf der Place de la Bastille feierte, hob in der politischen Welt eine neue Schöpfung an. Wie anders auch soll man ihren Ruf verstehen – selbst wenn er als metaphorischer sogleich verschallte –, mit dem sie den neuen Herrn begrüßte: Mitterrand – Soleil! Dies kam nicht von ungefähr. Denn jeder, der regieren und dazu gewählt werden oder sonst eine Art der Zustimmung seitens der zu Regierenden erhalten will, wird eine ‚gute‘ Regierung und folglich Falsches versprechen. Eine Regierung von Menschen gemacht, die nicht nur gut, sondern auch schlecht sind, in einer Welt von Menschen gemacht, die nicht nur gut, sondern auch schlecht sind, kann allenfalls eine förderliche, aber keine ‚gute‘ Regierung sein. Die Vision des Guten ist nicht die Wirklichkeit, für die sie artikuliert wurde; diese hätte ihrer nicht bedurft, wenn die Welt der Menschen nicht in sich – allen gegenteiligen Bestrebungen zum Trotz – so recht keine ‚gute‘ wäre. Und doch richtet der, der regieren will, wenig aus, wenn er sich den zu Regierenden nicht zuvor mit seiner Vision empfiehlt – den berühmten Wahlkampfversprechen. Er wird Falsches sagen. Tut er es nicht, ist er kein wahrer Kandidat. Auch das ist, politisch ganz alltäglich, das Paradox des Schöpferischen.

356

Ein klassischer Fürst

Vor seiner Wahl im Mai 1981 versprach Mitterrand den sozialistischen Himmel.22 Und doch war er auch damals ein Meister seiner Kunst, der es wußte: „Die Macht ist nicht Herr der Ereignisse, die sich in der Welt einstellen und auf jedes der Länder rückwirken, aus denen die Welt besteht.“23 Das Paradox der Politik Man braucht nur an einem frühen Abend nach einem Arbeitstag im Élysée auf die Champs-Élysées hinauszutreten, um das elementarste der drei Paradoxa zu erkennen, das Paradox der Politik. Mit den wenigen Schritten, die dazu nötig sind, kann man die Erfahrung eines Übergangs machen, in dem eine Vorstellung von der Konstitution der menschlichen Welt abrupt einer ganz anderen weicht. Man ist bloß aus einem Zimmer im Palais hinüber zu der Avenue gelaufen und es ist, als hätte man einen Sturz in die Wirklichkeit erlebt. Wo noch vor wenigen Momenten alles in der Welt wie in Einem wahrgenommen wurde, zeigt sich jetzt eine Vielheit, die unübersehbar und zu tausend und abertausend Teilen zerrissen ist. Was man zuvor noch sehen zu können glaubte, wie der Blick hinausschweifte durch die Fenster des Élysée, zerstiebt nun wie ein Wahn. Die Menschen hier draußen werden von dort drinnen regiert? Wie konnte man? Wie konnte man das nur denken? Diese Frage kann sich ein Fürst nicht stellen. Sonst hätte das ganze Exerzitium von ‚Regieren‘ keinen Sinn. Man kann sich dem einen Bild der politischen Wirklichkeit allein nicht hingeben, und – um beim herangezogenen Beispiel zu bleiben – im Palais de l’Élysée nicht doch noch anderes schauen als das, was draußen auf den Champs-Élysées so offensichtlich ist: Die Wirklichkeit der Politik in den Menschen sind die Vielen, von denen jede und jeder einen eigenen Willen und eigene Absichten, eigene Wege und Zielpunkte, eigene Handlungspläne und Lebensvorstellungen, persönliche Bah22  Am 24. Januar 1981 wurde François Mitterrand auf einem außerordentlichen Kongreß der sozialistischen Partei Frankreichs in Créteil (Val-de-Marne) durch Akklamation zu deren Kandidat für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 16. April (1. Wahlgang) und am 10. Mai 1981 (2. Wahlgang: Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten, die am 16. April am besten abgeschnitten hatten) bestellt. Um 16 Uhr 30 ging der Kongreß zu Ende. Die „Krönung“, wie Le Monde später schrieb, war damit aber noch nicht abgeschlossen. Mitterrand begab sich vielmehr in die Halle des nahe gelegenen Ausstellungsgeländes, in welcher ihn eine Menge von mehr als 20.000 Personen erwartete. Vor ihr hielt der frisch gekürte Kandidat nun eine Rede, in der er versprach, das „Lager der Privilegien und des Kapitals“ zu schlagen. Mit dieser Rede, die nach „zehn Geboten“, wie er sie nannte, aufgebaut war, schlüpfte Mitterrand, so kommentierte Le Monde, in die Rolle eines „Propheten des verheißenen Landes“. (Le Monde, 28.–29. Jan. 2001, S. 14). 23  Ebd., S. 6. (Le pouvoir n’est pas maître des événements qui se produisent dans le monde et qui se répercutent dans chacun des pays qui composent le monde).



Ein klassischer Fürst357

nen und Stationen in der Welt, unzählige Möglichkeiten in einem unendlich freien Spiel von menschlichen Verknüpfungen, Einbindungen, Zusammenschlüssen, Zuwendungen, Auflösungen, Übereinkommen, Verfeindungen, Zu­ sammenstößen, Konflikten, Anfreundungen, Abwendungen, Trennungen hat. Wer vom Élysée her aus der Avenue de Marigny auf deren Kreuzung mit den Champs-Élysées heraustritt, erfaßt das Bild. Da ist das Chaos aus Menschenwirbeln, das sich unablässig zum Chaos konstitutiert. Eben dieses Bild muß der Fürst ständig sehen, sehr genau, wenn er wirklich Fürst sein, also regieren will. Und er muß an seiner Stelle ständig ein anderes Bild sehen, absichtlich und geflissentlich, wenn er nicht nur regieren, sondern wirklich regieren will. Er muß in seiner Figur zusammenhalten, was eigentlich auseinanderfällt: Das Eine und das Viele, die Menschen gemeinsam und getrennt, die Polis und das Chaos. Aus den Menschen heraus existiert eine ganz andere Welt als jene Welt, auf die hin eine Regierung existiert. Jene sieht geordnet aus und diese hier ist Konfusion. Jene wird als stabil gedacht und an dieser hier ist alles fließend. Jene ist zur Konstruktion von Einheitlichem bestimmt und von dieser hier gibt es nur die Teile. Der Fürst regiert auf eine Welt hin, die es so, wie er es für sein Regieren unterstellt, nicht gibt. Am Tag seiner Amtseinführung zeigt sich die Welt des Präsidenten Mitterrand ruhend im festen Gefüge des Zeremoniells der Republik. Frankreich lebt. Es inkarniert sich in einem neuen Präsidenten. Auf diesen hin wie auf einen Gipfel und um diesen herum wie um ein Zentrum ordnet sich der französische Staat, mit all seiner Macht nach innen und außen. Das Zeremoniell symbolisiert dies anschaulich. Wie der Wagen mit dem Staatspräsidenten über die via sacra französischer Staatszelebrationen fährt, erscheint dessen Insasse als das Sinnbild einer von ihm regierten Welt. Er ist der Mächtige, der „Mitterrand imperator“, wie es hyperbolisch in einer Darstellung seiner Amtseinführung heißt,24 und durch ihn ist Frankreich unter den Menschen mächtig. Frankreich lebt und es ist mächtig. Es lebt und es ist ein Spielball der Spekulation auf den internationalen Finanzmärkten. Im Innern der Staats­ limousine sitzt ein Präsident, dem gesagt worden ist, daß auf den Märkten eine Spekulation mit der französischen Währung im Gange sei und deren Außenwert, wenn nicht sehr schnell etwas geschehe, nicht mehr zu halten sein werde. Stützungskäufe zugunsten des Franc haben nichts genützt, hingegen werden die Mittel Frankreichs dazu in ein oder zwei Tagen erschöpft sein. Dann wird der Kurs des Franc von der Spekulation diktiert werden. Das änderte nicht nur die währungspolitische, sondern vor allem auch die außen24  Pierre

Favier, Dix jours en mai, Paris 2011, S. 224.

358

Ein klassischer Fürst

politische Situation Frankreichs. Oder anders ausgedrückt: Der Sieg der Spekulation wäre eine Niederlage Frankreichs als souveräner Staat. Es gibt für die französische Regierung noch ein paar Möglichkeiten, auf die Währungskrise – die in Wahrheit eine Machtkrise ist – zu reagieren. Seine Berater haben Präsident Mitterrand mit gegenteiligen, sich widersprechenden Ratschlägen versorgt. So setzt sich die Auseinandersetzung mit der Spekulation in einer Auseinandersetzung mit der eigenen Mannschaft fort. Und es bleibt keine Zeit. Draußen läuft alles ab, wie das Machtzeremoniell es will. Drinnen im Wagen sitzt Mitterrand und soll die entfliehende Souveränität Frankreichs mit einem Willensakt wieder einfangen. Draußen sieht die Welt des Präsidenten so stabil und geordnet aus, wie sie nur sein kann. Drinnen ist alles im Fluß und der Präsident muß dagegen den Damm seiner Entscheidung errichten. Er kann an ‚draußen‘ denken und für ‚drinnen‘ so tun, als ob er der Mäch­ tige und Frankreich selbstverständlich souverän sei. Dann wird er Macht in einer fließenden Realität festhalten und dadurch regieren wollen. Er kann sich an ‚drinnen‘ halten und ‚draußen‘ so tun, als ob er der Mächtige und ganz Frankreich seine Bühne sei. Dann wird er mit Macht einer flüchtigen Realität hinterhereilen und dadurch regieren wollen. Was wird er tun? Höchste Macht floß ihm heute zu. Die nötige Macht hatte er heute nicht. Und dies war nur der erste Tag.25 Die Logik des Schöpferischen in der Politik Die Charakterisierung stammt von einem Mitarbeiter Mitterrands im ­ lysée. Sie führt zu der gesuchten Erklärung: „Die Schwierigkeit, zu regieÉ ren ist dies: man muß einen hochempfindlichen Sinn für die Komplexität der Dinge haben und dennoch eine Entscheidung treffen können. Malraux erklärt das sehr gut in L’Espoir: da gibt es eine Figur, die sich Scali nennt und die sagt, daß man nicht ein Mensch der Aktion sein kann, wenn man ein Intellektueller ist, weil der Intellektuelle notgedrungen den Sinn hat für das Komplexe, weil ein Mensch der Aktion nicht anders kann als manichäisch zu sein, bei ihm muß man denken, daß der andere ganz unrecht und man selbst völlig recht hat. Deswegen sind Personen wie Mitterrand so interessant, denn 25  Vgl. Pierre Favier,/Michel Martin-Roland, La Décennie Mitterrand, Bd. 1. Les ruptures, Paris 1990, S. 57 und 60 f. – Schon die ganzen Tage über seit dem Tag seiner Wahl, dem 10. Mai 1981, war Mitterrand fortlaufend mit dem Problem der Attacken auf den französischen Franc konfrontiert worden, insbesondere auch deshalb, weil die noch amtierende Regierung des Präsidenten Giscard d’Estaing unter Premierminister Raymond Barre faktisch nichts dagegen unternahm. Siehe hierzu Pierre Favier, Dix jours en mai, S. 90, 92, 102, 105, 126 ff., 134, 222, 238.



Ein klassischer Fürst359

er ist ein Intellektueller, der einen hochempfindlichen Sinn für die Komplexität der Dinge und der Lebewesen hat und, gleichwohl, Entscheidungen trifft. Das heißt, man muß, zu einem bestimmten Augenblick, über die Komplexität der Dinge hinweggehen.“26 Mitterrand hielt sie aus: die Paradoxa. Er regierte in ihnen. Und er regierte so wirklich. Im Chaos und nicht gegen es. Und er regierte mit ihnen. So ­regierte er und wirkte – das Chaos aufnehmend und es selber schaffend. Mitterrand widerstand der Wirklichkeit, die ihn, wie Machiavellis fortuna, überwältigen und zum Spielball ihrer Launen machen wollte. Und er widerstand der Macht, die ihn, wie der eros in Platons Lehre von den Verfassungszyklen, dazu verführen wollte, an der Welt immer mehr die Möglichkeit zu lieben, auf diese einzuwirken. Er blieb in einer auf beide Seiten hin offenen Mitte, zwischen Wirklichkeit und Macht, zwischen Chaos und Form. Er gewann aus Fließendem Strukturen und zwang Strukturen in Fließendes zurück. Der angehende Präsident im Élysée, Mitterrand, offenbarte sich dort in einer bestimmten Figur: in der eines Fürsten des Chaosmos. Denn es gibt in der Morphogenese des Regierens zu den Paradoxa auch eine Logik, welcher jener, der regieren möchte, in dem Maße folgen kann – beziehungsweise wird – , wie er regieren möchte. Diese Logik beschreibt den Weg, den in der Politik das Schöpferische nimmt. Sie wird mit der Person dessen wirksam, der mit anderen Personen eine Regierung bildet, die schöpferisch und also in einem fließenden Zustand zwischen Chaos und Form existent sein soll. Wenn denn Schöpferisches in der Politik geschehen soll, wird nach dem Fürsten verlangt, der als Regierungswesen einen Chaosmos und mit diesem die Möglichkeit zu einem schöpferischen Regieren schafft. In Mitterrands Geist gab es dazu keine ausgefaltete Theorie. Entsprechende Fragen beantwortete er empirisch, mit Beobachtungen aus einem Leben in der Politik.27 Da er lebensweltlich und nicht wissenschaftlich dachte, konnte er dessen sicher sein, was er sah, und mußte seine Einsichten in die Wirk26  Maurice Benassayag, in: Caroline Lang (Hg.), Le Cercle des intimes. François Mitterrand par ses proches, Paris 1996, S. 91. (La difficulté de gouverner, c’est cela: avoir un sens aigu de la complexité des choses et savoir malgré tout prendre une décision. Malraux l’explique très bien dans L’Espoir: il y a un personnage qui s’appelle Scali qui dit que l’on ne peut pas être un homme d’action quand on est un intellectuel, parce que l’intellectuel a forcément le sens de la complexité; parce que pour être un homme d’action, il faut être manichéen, il faut penser que l’autre a tout à fait tort et qu’on a tout à fait raison. C’est pourquoi les personnages comme Mitterrand sont intéressants, parce que c’est un intellectuel qui a un sens aigu de la complexité des choses et des êtres et, malgré cela, il prend des décisions. C’est-à-dire qu’à un moment donné, il faut passer par-dessus la complexité des choses). 27  Gespräch des Autors mit François Mitterrand im Élysée am 15. Juni 1993. Text des Gesprächs, siehe unten S. 403–408.

360

Ein klassischer Fürst

lichkeit der Menschen und die daraus zu folgenden Vorgehensweisen für ein Regierungswerk nicht erst über die Instanzen getrennter Belege in den Status des ‚Objektiven‘ bringen. Er mußte nicht die Diskussion des Problems ‚Regieren‘ in der Tradition des amerikanischen politischen Denkens kennen und dort auf confrères im politischen Geiste gestoßen sein, die nicht anders als er – wie James Madison schon in den Federalist Papers – davon sprachen, für das Werk des Regierens eine Weise finden zu müssen, die Festgelegtes und Nicht-Festgelegtes, Widersätzliches also, nämlich „stability“ und „liberty“ ineinander vermengt.28 An der Literatur geschult, hielt sich Mitterrand vielmehr an Baudelaire und verwandelte sich eine Zeile aus den Blumen des Bösen an, um seine Art des Regierens zu beschreiben: „Ich hasse die Bewegung, die die Linien verschiebt“, so formulierte Baudelaire. Mitterrand übernahm davon nur ein Stück. Er ließ das Verbum fallen und drängte damit in das Substantiv eine ursächliche, intentionale, wahrlich ‚schöpferische‘ Macht. Und von dieser sprach er dann, sie führte er an, wenn er sein Verständnis von Regieren erklärte: ‚Die Bewegung, die die Linien verschiebt‘.29 Er faßte die Natur des Regierens auch in einfacheren Formulierungen und gab dann den Rat: „Man muß Gewohnheiten vermeiden.“30 Er verhielt sich überhaupt so, daß man von ihm etwas lernen konnte. Nicht nur den Ministerrat, auch eine Gruppe von Reisebegleitern oder einen Kreis von Freunden oder Mitarbeitern verwandelte er mitunter für Momente in die Akademie seiner Lehre. Dabei wird von ihm gewöhnlich gesagt, daß er, der sich so gerne vieldeutig ausdrückte, in seinem Denken nicht wirklich zu fassen sei. An dem Echo seines Denkens in den Äußerungen anderer gemessen, hat er jedoch sehr klar gewußt, was es war, das er dachte: „Ich sage nicht, daß es keine Gewandheit bei Mitterrand gibt – und manchmal eine Gewandtheit, die so berechnend ist, daß sie verletzen kann. Aber zugleich und in erster Linie drückt sich in ihr eine bestimmte Sicht von der Natur des Lebens aus: die Zweideutigkeit … Das macht es besonders interessant. … Diese Zweideutigkeit bringt ihn dazu, alles zu relativieren und in jeder Art von Beziehung, von Situation nur einen Abschnitt auf einem Weg zu sehen, weil nichts jemals endgültig ist. So habe ich von ihm gelernt, daß man das Leben am Ende beurteilen muß und daß sich etwas nur nach dem Ablauf des Ganzen deuten läßt. Es gibt kein Ende, der Weg ist das Ende.“31 28  The

Federalist, Nr. 63 (Madison). Baudelaire, Les fleurs du mal, XVII („La beauté“); Interview mit Mitterrand, in: Libération, Nr. 923, 10. Mai 1984. 30  „Les réflexions de M. Mitterrand entre deux poses“ in: Le Monde, 4. Febr. 1986 (Il faut éviter les habitudes). 31  Laurent Fabius, in: Caroline Lang (Hg.), S. 105 f. (Je ne dis pas qu’il n’y a pas d’habileté chez Mitterrand – et parfois une habileté tellement tactique que cela peut 29  Charles



Ein klassischer Fürst361

Das Primat von Personen Doch Mitterrand lehrte nicht nur die Logik des Schöpferischen in der Politik, er praktizierte sie vor allem. Er nahm sie gänzlich auf, von ihrem ersten Grundsatz an. Und dieser lautet: Wer schöpferisch regieren will, für den gilt in der Politik das Primat von Personen. Organisationen interessierten Mitterrand deshalb wenig. Was ihn interessierte, waren Menschen.32 Er entfaltete dabei einen Wirklichkeitssinn, der ihn im Alltag des politischen Lebens zu einer Erscheinung ‚besonderer‘ – und von daher auch mißverstandener und mißgedeuteter – Art machte. Dort wird den sprachlichen Artefakten der Politik wie beispielsweise dem ‚Staat‘ oder der ‚Regierung‘ eine ihnen eigene Wirklichkeit zugeschrieben, so als ob es tatsächlich den Staat oder die Regierung in der Weise von Realitäten sui generis gäbe. Von dem Realitätsschein gestützt und bestätigt, der politische Institutionen durchaus wirksam umgibt, ist diese vergegenständlichende Anschauung in der politischen Welt allgemein verbreitet. Von der Wirklichkeit der Menschen hebt man eine Welt der Institutionen ab – und läßt des weiteren außer acht, daß zum Beispiel noch nie jemand eine Institution namens ‚Regierung‘ gesehen hat, sondern alle, die hingeschaut haben, noch immer nur die Personen sahen, von denen es heißt, daß diese es sind, durch welche die betreffende Regierung ‚gebildet‘ werde.33 In eine Welt der Institutionen vergegenständlicht, wird die Wahrheit der menschlichen Welt nur noch halb wahrgenommen. Es wissen zwar alle, daß diese Welt aus Menschen besteht. Aber die wenigsten blicken dann noch weiter hin und folgen der Logik, die sich durch dieses empirische Wissen zieht. Die es tun und mit der politischen Wirklichkeit an deren Entfaltung als politischer Wirklichkeit haften bleiben, werden zu der Einsicht geführt, in der sich die Wahrheit der menschlichen Welt schöpferisch öffnet. Sie erfahren diese ganz und sehen dann die menschliche Welt nicht nur in der Art ihrer Beschaffenheit – sie besteht aus Menschen –, sondern vor allem auch in der Art ihrer Schöpfung – sie besteht aus Menschen, indem sie durch Menheurter. Mais en même temps, et d’abord, c’est une perception de la façon dont est la vie: l’ambivalence  … Cela le rend singulièrement intéressant.  … Cette ambivalence le conduit à tout relativiser et à considérer que chaque type de rapport, chaque situation n’est qu’une étape par rapport à un cheminement, parce que rien n’est jamais définitif. Une des leçons qu’il m’a transmises est qu’il faut juger la vie à la fin et qu’un fait ne se lit qu’à travers le parcours d’ensemble. Il n’y a pas de fin, c’est le chemin qui est la fin). 32  Vgl. Jean Védrine, in: Caroline Lang (Hg.), S. 21: „Les organisations, en réalité, ça l’intéresse peu. C’est les hommes.“ 33  Vgl. John von Heyking/Thomas Heilke (Hg.), The Primacy of Persons in Politics: Empiricism and Political Philosophy, Washington, D.C. 2013.

362

Ein klassischer Fürst

schen besteht. Diese sind darin das schöpferische, weltstiftend bindende Element. Oder politisch ausgedrückt: In einer Welt aus Menschen sind Menschen die Macht für die Schöpfung und Gestaltung dieser Welt. Eine Zusammenfügung von Menschen ist eine Zusammenfügung von Macht. Denn sie bildet in der menschlichen Welt eben das, durch was diese besteht: das sie bindende Element. Wenn sich Menschen auf ihre politische Welt hin zusammentun, sind sie so schöpferisch wie sie es nur sein können: Sie schaffen die Macht zum Schaffen ihrer Welt. Alles Regieren denn beginnt mit den Menschen, die man um sich zum Regieren versammelt. „To have friends, is Power“ – „Wer Freunde hat, der hat Macht“, so schrieb Thomas Hobbes im Leviathan. Eine einzelne Person könne über die „natürliche Macht“ von Individuen in der Weise vorzüglicher körperlicher oder geistiger Fähigkeiten verfügen, wie zum Beispiel über eine große physische Stärke, eine überwältigende Beredsamkeit oder eine außerordentliche Klugheit. Wenn ein Einzelner aber dazu noch Freunde habe, vergrößere sich seine eigene natürliche Macht durch die Macht seiner Freunde: „Sie haben ihre Stärken zu einer vereinigt.“34 Freundschaften waren in Mitterrands Leben das stärkste und konstanteste Element. Dieses liest sich wie ein Buch der Freundschaft, dem er von früher Jugend an Kapitel um Kapitel hinzufügte, einen Freundesring nach dem anderen, eine weitere Freundesschar und wieder eine in die vorhandenen noch hineinverwoben. Er war ein Meister in der Kultur der Freundschaft. Und er pflegte diese mit der größten Sorgfalt; auch über die vielen Jahre hin, in denen eine früh geschlossene Freundschaft älter wurde und er sie vornehmlich der Treue wegen aufrechterhielt; und ebenso unter ganz veränderten Umständen, wie denen seiner Präsidentschaft im Élysée, als er sich weitab von den bescheideneren Verhältnissen befand, in denen viele seiner Freunde ‚zurückgeblieben‘ waren. Er vergaß diese nicht – auch der Staatspräsident Frankreichs blieb der Freund seiner Freunde und schrieb zum Beispiel von diesem oder jenem Ort, wo er sich mit anderen Fürsten dieser Welt traf, Postkartengrüße an seine Freunde im Morvan, einfache Leute, aber eben Freunde aus jener gemeinsamen Zeit, als er unter ihnen ein Dorfbürgermeister war.35 Mitterrand schuf sich in seinem Leben – und das heißt hier: in seinem politischen Leben – mehr und mehr seine eigene ‚Partei‘ – die Partei seiner Freunde. Diese vereinigten ihre Stärken zu einer – nämlich der seinen, der politischen Macht von François Mitterrand. Mit den vielfältigen BeziehungsHobbes, Leviathan (I,10), Harmondsworth 1972, S. 150. vsd, numéro spécial, 11.–17. Jan. 1996, S. 68; die Erzählung von Camille Marchand, einem alten politischen Freund Mitterrands in der burgundischen Provinz, in: „Mitterrand du Morvan“, Le Journal du Dimanche, 5. Mai 1991; „Les vieux amis du Morvan“, in: Le Monde, 12.–13. Mai 1991, S. 6. 34  Thomas 35  Vgl.



Ein klassischer Fürst363

netzen, Unterstützungs- und Loyalitätskonfigurationen, die er über seine Freundschaften bildete, machte sich Mitterrand durch die Jahre hindurch für sein Ziel, regieren zu wollen, nach klassischem Muster mächtig. Er zeigte, wie wahr der zitierte Lehrsatz von Thomas Hobbes ist. Und er wurde anderen Fürsten in der Kunst des Regierens gleich, da er seine Macht zum Regieren aus der Macht mit ihm verbundener Personen bezog. Er fügte in einer schon langen Reihe ein neues Beispiel für den paradigmatischen Zusammenhang von Regierung und Freundesverbindungen an. Eine Lektüre des Buches Die Römische Revolution von Roland Syme erschließt die schöpferische Logik, der Mitterrand wie ein Augustus oder ein Cäsar folgte. „Die Herrschaft des Augustus war die Herrschaft einer Partei“, so lesen wir dort. (Und das Wort ‚Partei‘ bezeichnet hier keine Parteiorganisation im modernen Sinne, sondern eine Parteiung von Freunden.) Oder wir erfahren, daß Cäsar „Pläne und Entscheidungen in der Gesellschaft seiner intimen Freunde und Sekretäre“ faßte. „Ohne eine Partei ist ein Staatsmann machtlos“, so sagt Syme auch; und zum Ethos politischer Freundesverbindungen schreibt er: „Treue konnte nur wieder durch Treue gewonnen werden. Cäsar ließ nie einen Freund im Stich, was auch immer sein Charakter und seine Stellung waren.“36 Syme hätte in Mitterrand seinen Cäsar finden können, so nahtlos fast fügt sich die Freundespolitik des französischen in die des römischen Fürsten. Aber natürlich hatte Mitterrand nicht solches, sondern die ihm selber gewisse Machtstrategie im Sinn, wenn er Entscheidungen für Frankreich ‚in der Gesellschaft seiner intimen Freunde und Sekretäre‘ faßte oder bestimmte Freunde – zur Bestürzung oder Verwunderung anderer – nicht im Stich ließ, ‚was auch immer ihr Charakter und ihre Stellung waren‘. Denn er konnte von jener Bindung, die man ‚Freundschaft‘ nennt, nicht im Geringsten seinen Abstand nehmen, weil aus Bindungen eben dieser Art all seine Macht bestand: Freundschaft war das höchste Gut, Quelle und Modus schöpferischer Macht. In der Verbindung mit Personen – einzelnen konkreten Personen in dieser oder jener Konstellation – entstand die Macht, mächtig zu sein, die Macht zur Regierung. „personnel is policy“, so drückte es ein Amerikaner aus, mit einer jener unnachahmlich plastischen Formeln, die es nur in der politischen Sprache Amerikas gibt.37 In der neueren Geschichte der amerikanischen Präsidentschaft findet sich auch die Gegenfolie zu der Weisheit Mitterrands. Warum diese unbedingte 36  Ronald Syme, The Roman Revolution (1939), dt. Die Römische Revolution, München 1992, S. 13, 56, 60, 114. 37  Edwin J. Feulner Jr., zitiert in: Ronald Brownstein, „Jobs are the Currency of Politics, and the White House is on Spending Spree“, National Journal, Bd. 15, Nr. 50–51, 15. Dez. 1984, S. 2386.

364

Ein klassischer Fürst

Treue zum Primat von Personen? So mag man sich fragen. Bahnen Freundesverbindungen wirklich die Wege der Politik? Im Sommer 1979 veröffentlichte die New York Times eine Analyse zur Lage von Jimmy Carter im Weißen Haus. Dieser war nun schon im dritten Jahr Präsident der Vereinigten Staaten und trotzdem ziemlich erfolglos im Machtspiel der amerikanischen Politik. Er entpuppte sich darin als der schwächste Akteur und prallte mit seinen Plänen und Initiativen immer mehr an den von anderen Akteuren errichteten Machtwänden – zumal an der Gegenmacht des Kongresses – ab. Warum? Die Antwort, welche die New York Times fand, war einfach, bedeutsam, und lehrreich. Carter war zwar Präsident. Aber er war kein Fürst: „Das Ergebnis, ganz einfach, ist, daß er im Kongreß („on Capitol Hill“) keine Freunde hat. ‚Er hat schlicht nicht dieses Vertrauenskapital, auf das er zurückgreifen könnte,‘ sagte ein Senator aus den Südstaaten. ‚Wenn man in Schwierigkeiten geraten ist, dann braucht man seine Freunde zu seiner Verteidigung, und genau das fehlt ihm.‘ “38 Politische Macht: Probleme und Strategien der Machtschöpfung Wer schöpferisch regieren will, der erzeugt Schöpferisches – seine Macht – durch Personen. Diese sind die Elemente der Bewegung, in der sich ‚Macht‘ zusammenfügt und zu der Wirkung formt, die sie ist. Personen führen die Bewegungen aus, mit denen Macht – Schöpferisches – geschieht: jene Bewegung von Menschen unter Menschen für Menschen, die man ‚Regieren‘ nennt. Aber natürlich können diese Bewegungen nicht freie Bewegungen in einer schöpferischen Leere sein. Die politische Welt, in die ein Fürst hineinregiert, ist alles andere als ein aller Formen bloßes, auf die Schöpfung des Fürsten gewissermaßen harrendes ‚Nichts‘. Sie ist durch und durch gestaltet und also von Formen – präziser: Machtformen – erfüllt. Was hier an Macht gebildet wird, ist nur eine Machtbildung unter vielen, und dazuhin noch ungebührlich neu gegenüber allem, das als Machtgebilde in dieser Welt schon längst vorhanden, fest etabliert und jeder es berührenden Veränderung widerstehend ist. Nur Menschen machen Organisationen, Institutionen aus. Aber auf jeden, der von ‚außen‘ her einer Organisation oder Institution begegnet – sozusagen auf sie ‚stößt‘ –, wirkt dieselbe wie ein Block, der ein ihm eigenes Gewicht an Macht, eine Schwere hat, die weitaus stärker als das summarische oder gar individuelle Machtgewicht der Personen ist, aus denen die betreffende 38  Vgl. Steven V. Roberts, „Carter Accord with Congress: President is apparently seeking to ease strains“, in: New York Times, 5. Juni 1979.



Ein klassischer Fürst365

Organisation oder Institution besteht. Man steht vor einem Block an Macht und prallt von diesem ab, so man auf ihn einwirken will, oder erreicht nur, daß sich darin das verläuft, was man dort bewegen wollte. Regieren heißt Machtschöpfung. Durch Personen. Zum einen. Und dann zum anderen: durch eine Form der Machtbildung, die in der Machtbildung den von dieser hervorgerufenen institutionellen Widerstand schöpferisch durchbricht. Was nämlich eintreten kann, wenn nichts geschieht, lehrt wieder die Empirie. Harry S. Truman hatte die Erfahrung von acht Jahren im Amt des amerikanischen Präsidenten gesammelt, als er kurz vor seinem Abschied eine bestimmte Frage beantwortete. Sie betraf Dwight D. Eisenhower, seinen schon gewählten Nachfolger. Was dächte er, so wurde Truman gefragt, wie würde Eisenhower wohl seine neue Aufgabe bewältigen? „Da wird er sitzen“, antwortete dieser, indem er auf seinen Schreibtisch zeigte, „und er wird sagen: ‚Tut dies! Tut das!‘ Und nichts wird sich tun, gar nichts. Armer Ike – es wird hier kein bißchen so wie in der Armee sein. Er wird das alles sehr frustrierend finden.“39 Von Roosevelt gibt es ähnliche Sätze zum Problem der Machtfrustration.40 Auch Mitterrand entkam ihm natürlich nicht. Er führte zur Verdeutlichung seiner entsprechenden Erfahrungen gerne die Schwierigkeiten an, die er über Jahre mit der Verwirklichung der grands travaux – seiner architektonischen Projekte – hatte. Er schilderte beredt den institutionellen Widerstand, der sich gegen diese Projekte aufbaute.41 Doch er überwand diesen schöpferisch, indem er im und gegenüber dem Staatsapparat die für die Verwirklichung seiner Projekte notwendige Macht ausbildete, und indem er die Projekte selber mit politisch-gestalterischer Macht zu ihrer Vollendung trieb. „Wissen Sie,“ so erklärte er vor Journalisten, „ich mußte die grands travaux wie eine Katze und ein Hund verteidigen.“42 (Zu Mitterrand, der „Katze“, vgl. Abb. 1). Und er griff vor den Journalisten noch weiter aus, um die „Lektion der Macht zu veranschaulichen“, die sich in seinen Augen aus der von ihm hier gemachten Erfahrung ergab. „Die Macht des Präsidenten der Republik erlaubt diesem zu keinem Augenblick, zu entscheiden, daß beträchtliche Summen, beispielsweise mehr als 39  Vgl. Richard E. Neustadt, Presidential Power. The Politics of Leadership, New York 1961, S. 9. 40  Vgl. Fred I. Greenstein, Leadership in the Modern Presidency, Cambridge, Mass. – London 1988, S. 27 f. 41  In Gesprächen mit dem Autor am 15. Juni 1993 und am 17. März 1994, s. unten, S. 403–410. 42  Allocution prononcée par Monsieur François Mitterrand, 6. Jan. 1995 (s. Anm. 20), S. 7.

366

Ein klassischer Fürst

Abb. 1: André François, Mitterrand, die „Katze“.



Ein klassischer Fürst367

eine Milliarde Francs, zugewiesen werden, ohne daß dies mehrfach kontrolliert würde. … Selbst mit Ministern, die meine Wahl waren, im wesentlichen die Herren Delors und Bérégovoy, dann Herr Sapin, erlebte ich es alle drei oder vier Monate, glauben Sie es mir, daß man das Budget um einige Hundert Millionen kürzen wollte, weil man Einsparungen, zwischen verschiedenen Haushaltstiteln wählen mußte, und weil den Finanzleuten das auch alles nicht paßte und weil die Finanzverwaltung nichts von der Idee der grands travaux hielt  … Ich könnte Ihnen acht oder neun Ministerien anführen, die um ihre Pfennige betteln müssen und wenn sie sie gekriegt haben, dann nimmt man ihnen wieder die Hälfte oder zwei Drittel, weil zwischen der Bewillung der Mittel und deren tatsächlicher Ausgabe, sich eine Welt von Verwaltungsproblemen erstreckt, was oft dazu führt, daß man von einer Enttäuschung in die andere fällt.“43 Aber der Fürst bildet Macht und holt aus dieser Machtbildung für sich die Macht dazu, mächtiger als die anderen im Machtspiel zu sein: „Ich war da und das war die Macht. Das war, zuallerst, von Dauer und ich habe es auch noch ein wenig verlängert  … und ich hatte, dank dieser Tatsache Zeit. Die Verwaltung, die unbestreitbar ihre Qualitäten hat, wenn es um andere Dinge geht, sie ist fest und präsent die ganze Zeit. Hingegen wechseln die politisch Verantwortlichen andauernd. Ja, aber da fand sich ein Präsident der Republik, der für sieben Jahre gewählt worden war, wenn Sie das mit zwei multiplizieren, das gibt Ihnen ungefähr das, was Sie sich vorstellen! Ich also sagte, jedes Mal wenn Jacques Delors oder Pierre Beregovoy kamen und sagten: Man muß die Haushaltsbewilligungen reduzieren, wir kürzen sie um soundsoviel Prozent: … Da sagte ich also, Nein, diese hier nicht. Das ist fürstliche Macht, gewiß, ich gebe es zu! Und wenn? Es gäbe niemals eine Politik zur Architektur in Frankreich, wenn man den Haushalt von Jahr zu Jahr kalkulierte; das ist unmöglich, es fehlt immer die nötige Milliarde, weil man immer im Defizit ist. Also hielt ich stand.“44 43  Ebd., S. 7 f. (A aucun moment le pouvoir du Président de la République ne lui permet de décider que des sommes importantes, dépassant le milliard de francs par exemple, peuvent être attribués sans passer par toute une série de controles. … Même avec des ministres que j’avais choisis, essentiellement Messieurs Delors et Bérégovoy, puis Monsieur Sapin, je vous assure que tous les trois ou quatre mois, on voulait amputer le budget de quelques centaines de millions, parce qu’il fallait faire des économies, choisir entre les différents chapitres du budget, et puis parce que cela ne plaisait pas, et parce que l’administration des Finances ne supportait pas cette idée des grands travaux … Je pourrais vous citer huit ou neuf ministères qui sont obligés de mendier leurs sous et quand ils les ont obtenus, on leur en reprend la moitié ou les deux-tiers, parce qu’entre l’autorisation de dépenses et la dépense, il se passe un monde des problèmes administratifs qui fait que l’on va souvent de déception en déception). 44  Ebd., S. 8 (J’étais là et c’était cela le pouvoir. D’abord c’était durable et je l’ai un peu rallongé … et de ce fait, moi j’avais le temps. L’administration, qui a bien des

368

Ein klassischer Fürst

‚Ich hielt stand‘ – dies ist eine deutliche Aussage. Aber sie ist in ihrer zusammenfassenden Art auch wieder ganz unpräzise. Die Erklärung, die von der Macht erzählt, überzieht diese auch wie ein Schleier. Was die Politik als Transparenz vorgibt, ist für sie eine Maske.45 Wie denn hielt er stand, Mitterrand in der Machtauseinandersetzung um seine grands travaux? Das Bild von der Katze und dem Hund ist schon besser; er konnte also kratzen und beißen. Aber wie? Womit? Macht ist nicht metaphorisch, sie erkennt nur ­ihresgleichen. Für Mitterrand gab es nur einen Weg: Er mußte für die grands travaux – wie für alles andere, das er bewirkte – mächtig sein, und gegenüber dem französischen Staatswesen und in demselben eine ihm eigene Macht ausspielen können. Er verfügte über para-institutionelle Konfigurationen personaler Macht, die im französischen Regierungssystem – wie auch über dieses hinaus – seine zweite Regierung und so – auf der Ebene der Macht – seine wirkliche Regierung waren.46 Diese Lösung des Problems, Regierungsmacht in vorhandenen Regierungssystemen gegen diese – gewissermaßen zu deren ‚Unterwerfung‘ – bilden zu müssen, hat Mitterrand – selbstverständlich – nicht als erster gefunden. Sie war zum Beispiel auch in China vor 1.200 Jahren bekannt.47 Doch sie ist in diesem Jahrhundert besonders ‚entdeckt‘ und für die Schöpfung von Regierungsmacht regelrecht eingerichtet und in einer institutionalisierenden Bewegung auf ihr Zentrum hin unter Namen wie ‚Élysée‘, ‚Weißes Haus‘, ‚Bundeskanzleramt‘ amtlich regularisiert worden – zur offiziellen Machtagentur heutiger Fürsten. Den Anfang machte Roosevelt.48 Um den Widerstand zu überwinden, den der etablierte Regierungsapparat seinen politischen Vorhaben entgegensetzte, qualités au demeurant sur d’autres points, elle, est stable, elle est là tout le temps. Tandis que les responsables politiques changent tout le temps. Oui, mais il s’est trouvé un Président de la République, élu pour sept ans, si vous multipliez par deux, cela vous donne à peu près ce que vous imaginez! Moi, chaque fois que Jacques Delors ou Pierre Beregovoy venaient  … disant: ‚il faut réduire les crédits, on coupe les crédits de tant pour cent …‘ Moi je disais non, pas ceux-là. Alors c’est le fait du prince, je le reconnais! Mais? il n’y aura jamais de politique architecturale en France si on raisonne par budget annuel; c’est impossible, il manque toujours le milliard nécessaire, puisque l’on est toujours en déficit. Alors j’ai tenu bon). 45  Vgl. Boston Politics (Anm. 2), S. 171 ff. und S. 261 ff. und Tilo Schabert, „Wie werden Städte regiert?“, siehe oben, S. 163–189. 46  Zum Begriff zweite Regierung vgl. Boston Politics, S. 53 f. und Die Welt der Stadt, S.  178 ff. 47  Vgl. Tilo Schabert, Die Architektur der Welt. Eine kosmologische Lektüre architektonischer Formen, München 1997, S. 30 f. 48  Vgl. hierzu und zum folgenden: Frances Perkins, The Roosevelt I Knew, New York 1946; Raymond Moley, „The Issue is Administration“, in: Newsweek, Vol. 32, 30. Aug. 1948 und 6. Sept. 1948; Herbert A. Simon/Donald W. Smithburg/Victor



Ein klassischer Fürst369

schuf Roosevelt neue und immer wieder neue Regierungsgebilde, die nach seinen Plänen beschaffen und organisatorisch nach seinen Machtansprüchen ausgezirkelt waren. Er überzog das Regierungswesen der Vereinigten Staaten mehr und mehr mit personalen – auf ihn hin zentrierten – Konfigurationen exekutiver Macht. Und er dehnte um sich, den Präsidenten im Weißen Haus, ein wachsendes Zentrum dieser personalen Regierung aus. In der amerikanischen Verfassung wird nichts von einem „Weißen Haus“ oder gar von der gewaltigen Machtagentur gesagt, die heute unter diesem – eher unverfänglichen – Namen in Washington agiert. Wahrscheinlich wurde vom amerikanischen Präsidenten gedacht, daß er seine Arbeit mit einem oder zwei Sekretären verrichte. Und bis zu Franklin D. Roosevelt widerlegten die amerikanischen Präsidenten auch nicht dieses idyllische Bild ihres Amtes. Doch mit Roosevelt änderte sich das Amt; es wurde von ihm über eine zunehmende Zahl von Personen und in einer zusehends weitgespannten organisatorischen Ausfaltung zu einer Macht- und Schaltzentrale ausgebaut, die hervorbrachte, was er suchte: Herrschaft. Die Nachfolger Roosevelts im Amt des amerikanischen Präsidenten traten – wie selbstverständlich – in dieses Machterbe ein und die meisten – so Eisen­ hower, Kennedy, Johnson und Nixon – mehrten es noch beträchtlich. Zahlenmäßig muß man sich die präsidiale Machtagentur in Washington heute in einer Größenordnung von 5.000–6.000 Personen vorstellen, die in einer – eher unübersehbaren – Vielzahl von organisatorischen Einheiten und natürlich nicht nur im Weißen Haus, sondern darüberhinaus an weiteren Orten tätig sind. Auch im Grundgesetz Deutschlands kommt ein ‚Bundeskanzleramt‘ nicht vor, wie man ferner vergeblich einen Hinweis auf den ‚Élysée‘ in der Verfassung der V. Republik suchen würde. Und doch handelt es sich inzwischen beides Mal um zentrale Organe der politischen Macht – wenn nicht um deren Zentrum – im jeweiligen Land. Der Bundeskanzler ist ein Verfassungsorgan, aber nicht das Bundeskanzleramt; der französische Präsident ist ein Verfassungsorgan, aber nicht der Élysée – und doch genießen beide ‚Institutionen‘ mittlerweile einen parakonstitutionellen Status. Sie prägen maßgeblich die ‚Verfassung‘ mit, in der sich Deutschland beziehungsweise Frankreich befinden – sie sind die Machtagenturen der diese Länder regierenden Fürsten. Eine bessere Vorgabe hätte Mitterrand nicht vorfinden können. Es entsprach vollkommen der Natur seiner politischen Existenz, in ein Amt einzutreten, das für eine Mitte von personalen Konfigurationen exekutiver Macht schon vorkonstruiert war. Die Macht des Präsidenten im Élysée ausnützend – A. Thompson, Public Administration, New York 1950; Samuel I. Rosenman, Working With Roosevelt, New York 1952; Arthur M. Schlesinger, The Age of Roosevelt, Vol.  I, The Coming of the New Deal, Boston 1958; A. J. Wann, The President as Chief Administrator. A Study of Franklin D. Roosevelt, Washington, D. C. 1968.

370

Ein klassischer Fürst

nach der eingetretenen und nun akzeptierten Konvention – gesellte er beispielsweise ohne Zögern einem Minister, wenn es ihm ratsam schien, einen Staatssekretär zu, der nicht jenem, sondern ihm ergeben war. So würde er über den im Schein der Öffentlichkeit von ihm unabhängigen Minister herrschen können. Als Stratege einer Machtfülle, die seine formellen Befugnisse erst zur Wirkung brachte, und dazuhin überstieg, war Mitterrand stets wie in der beschriebenen und in einer Vielzahl von anderen Weisen mit dem Gewinn seiner Macht beschäftigt. Er verwandte ein beträchtliches Ausmaß an Zeit und Energie auf die Organisation seiner Macht, auf die Machtkonfigurationen, die sie stützten. Denn er strebte immerfort danach, möglichst viele jener Personen und Institutionen zu beherrschen, die verkürzt ‚Regierung‘ heißen, damit er daraus die personale Macht schöpfen konnte, die er brauchte, wollte er durch diese Regierung in der Tat regieren. Das war es, wovon er sprach, aber nichts sagte, als er sich mit der Katze und dem Hund verglich. Politische Macht: Wie ist der Mächtige mächtig? Die Logik des Schöpferischen in der Politik bringt Fürsten dazu, eine Partei von Freunden und die regierungsförmlichen Gebilde einer ‚zweiten‘ Regierung zu schaffen. Und sie veranlaßt diese noch zu einem Dritten. So viel ein Fürst auch an Macht in diesen Weisen geschöpft haben mag, so ist es damit noch immer nicht genug. Denn die Macht des Fürsten – alles an ihr sagt dies aus – ist nicht konstant. Sie ist etwas Unbestimmtes, Unbeständiges, Fließendes. Sie gibt es einmal mehr und einmal weniger – je nach der Intensität, mit der ein Fürst seine Macht als Fürst aktualisiert. Es ge­nügt nicht, daß er mächtig ist oder, präziser gesagt: durch seine Machtschöpfung, wie beschrieben, mächtig geworden ist. Er muß auch mächtig bleiben, die Macht, die er schuf, im Status der Macht halten. Die Frage ist: Wie bleibt der Fürst gegenüber seinen Machtschöpfungen mächtig? Und die Antwort heißt: Er bleibt es, indem er über die Menschen herrscht, mit denen er herrscht. Andere zu dem zu bewegen, das man selber will – dies ist die Herausforderung, die sich Fürsten mit dem Gewinn ihrer Macht und dann unaufhörlich stellt. Sie ist das Maß für die Macht eines Fürsten. An ihr zeigt sich seine ganze Kunst; sie zwingt ihn, sich im Machthandwerk zu offenbaren. Der Fürst ist das Subjekt – wie ein ‚Prüfling‘ gewissermaßen – seiner eigenen Macht. Sie unterzieht ihn einem so unerbittlichen wie fortlaufenden Test. Ob er noch so mächtig ist, in anderen der Mächtige zu sein? Und er hat keine Wahl. Denn wer regiert, kann nie ohne andere regieren. Er muß die Verant-



Ein klassischer Fürst371

wortung für die Regierungsgeschäfte verteilen. Aber will nicht er regieren? Also kann er die Kompetenzen nur auf solche Weisen verteilen, daß noch immer er in allem regiert, auch wenn für ihn viele andere im einzelnen ‚regieren‘. Wie nur ist das zu machen? Bundeskanzler Adenauer griff zu dem Verfahren beispielsweise, Informationen, die er erhielt, von allen Intentionen ihrer Überbringer dadurch abzutrennen, daß er diesen keine Gelegenheit bot, über den Eindruck, den das Mitgeteilte auf ihn machte, etwas Wesentliches zu erfahren. Er hörte seinen Besuchern aufmerksam zu, nahm alles auf, was man ihm sagte – und schwieg sich weitgehend darüber aus, was er von all diesem hielt. Seine Besucher verließen ihn, ohne zu wissen, ob und, wenn ja, mit welchem Ergebnis sie ihn ‚beeinflußt‘ hatten. Wie Mitterrand sich dem Machthandwerk widmete, übte er dieses nach demselben Verfahren aus. Es war eines von jenen Verfahren, mit denen er seinen Machterhalt betrieb. Er bestrickte, wen er konnte und band damit viele in ein Vertrauen, das sie festhielt, während er selber nur an Freiheit – umso mehr, je mehr es waren – gewann: „Er versteht sich darauf, mit Leuten zu sprechen. Er hat eine sehr anziehende Redeweise, das ist ein ganzes Verhalten, eine ganze Sprache. Er sagt: ‚Zwischen uns  … Lieber Freund  …‘ Und der Gesprächspartner hat immer das Gefühl, eine besondere Beziehung zu ihm zu haben, ins Vertrauen gezogen zu werden.“49 Im Élysée spann Mitterrand nach diesem Verfahren Fäden der Macht, über die er seine Mitarbeiter beim wechselnden Knüpfen seines Herrschaftsnetzes beweglich halten und dieses so, was zumindest den Élysée betraf, stets in die jeweils von ihm erstrebte Struktur bringen konnte. Er versetzte seine Mitarbeiter in die Dynamik einer intimen Distanz, in der sie ihm sowohl nah wie auch fern und auf jeden Fall immer ihres genauen Platzes im Kreis derer, denen er geneigt war, ungewiß waren. Präsident Roosevelt bezog sein Wissen – ein weiteres Verfahren im Machthandwerk – aus einer Vielzahl verschiedener Informationskreise. Und oft benutzte er mehrere für eine Sache zugleich. So konnte er dann zu einem Bericht, den er zu einer bestimmten Angelegenheit erhielt, aus einem weiteren oder gar mehreren anderen, aber komplementären Berichten noch weitere Informationen gewinnen und so den betreffenden Berichterstatter häufig einer unvollständigen oder fehlerhaften Arbeit überführen. Die Berichterstatter konnten oft nichts dafür, hatte Roosevelt doch alles von vornherein so arran-

49  Roland Dumas, in: Caroline Lang (Hg.), S. 53 (Il sait parler aux gens. Il a un discours très attachant; il y a tout un comportement, tout un langage. Il dit: ‚Entre nous … Cher ami  …’ Et l’interlocuteur a toujours le sentiment d’avoir une relation privilégiée avec lui, d’être mis dans la confidence).

372

Ein klassischer Fürst

giert, daß sie sich in dem Netz verheddern mußten, das er über sie mit seinen vielen, sich überschneidenden Informationskreisen gespannt hatte. Mitterrand organisierte das System der auf ihn gerichteten Zuarbeit konsequent nach diesem Verfahren50 und vermied mit ihm, was auch Roosevelt damit ausgeschlossen hatte: Er wurde nicht zum Gefangenen einer bestimmten, ihm zugetragenen Sicht. Natürlich konnte er zu all dem, was er wissen und erwägen mußte (oder wollte), sich nicht selbst alle nötigen oder nützlichen Daten, Analysen, Vorschläge und Unterlagen besorgen. Also brauchte er andere, die eben dies für ihn taten. Aber darin lag dann die Gefahr, von den anderen abhängig, beeinflußt, geführt zu werden. Er mußte ihr begegnen. Seine Macht gebot ihm, die von seinen Mitarbeitern ‚wohlmeinend‘ vorgezeichneten Linien seiner Denk- und Entscheidungsarbeit zu durchkreuzen und zu verwirren. So blieb er darin Herr sich selber und ihnen gegenüber, fähig, im einzelnen selbst zu bestimmen, was er wußte, dachte und entschied.51 Roosevelt zog um sich Kreise – ein drittes Verfahren (aber deren Liste ist noch keinesfalls erschöpft) –, also zahllose Kreise von Kompetenzen, die sich überschnitten und überlagerten; ein chaotisches Gewirr. Keiner, der ihm regieren half, entkam diesem Gewirr; jedem wurde ein Kompetenzbereich zugeteilt, den die Bereiche anderer durchdrangen, nur wußte dieser oft längere Zeit nicht, daß es sich so verhielt, und wenn er es erfuhr, war er sich meistens immer noch ungewiß, wie viele Kreise er störte und wessen Kreise es waren. Darüber hinaus drückte sich Roosevelt häufig sehr undeutlich aus, wenn er jemandem die Verantwortung in einer bestimmten Sache übertrug; um überhaupt handeln zu können, mußten seine Mitarbeiter den Umfang ihres Handelns selber abstecken; dabei stießen sie unweigerlich gegeneinander – und genau dies hatte Roosevelt bezweckt: Wer sich durchsetzte, gehörte zu den Fähigen, die er aufspüren und an sich ziehen wollte, und überdies

50  Entsprechende Beobachtungen als Beraterin Mitterrands hielt Laure Adler folgendermaßen fest: „Mitterrand est, dans sa démarche autant que dans sa méthode, un homme compliqué et qui aime compliquer. Tout le monde sait depuis belle lurette à l’Élysée qu’il met délibérément en concurrence des conseillers sur les mêmes sujets sans jamais les avertir qu’ils sont plusieurs à réfléchir. Ainsi sont-ils deux généraux à lui faire des notes simultanées sur les questions graves. Ainsi sont-elles trois archivistes à classer et à mettre en ordre la mémoire des deux septennats. Ainsi sont-ils deux médicins à s’occuper de sa santé.“ (L’année des adieux, Paris 1995, S. 170–171). 51  Vgl. Maurice Benassayag, in: Caroline Lang (Hg.), S. 91  f.: „Mitterrand ne confie pas une tâche jusqu’au bout à quelqu’un. Et il peut mettre deux ou trois personnes sur le même problème. S’ils le savent, ils sont ‚tricards‘ tous. Il n’est pas question que les gens s’entendent. C’est vrai qu’il peut dire des choses à l’un et pas à l’autre. Parfois, on est sur le même coup sans le savoir. Mais il n’accepte pas que les gens se le disent. C’est une méthode de gouvernement très classique.“



Ein klassischer Fürst373

verhalfen ihm die Konflikte unter seinen Mitarbeitern dazu, gegenüber allen der überlegene Vermittler und Schiedsrichter zu sein. Bei meinen Interviews mit Mitarbeitern Mitterrands im Élysée in den Jahren 1992–1995 verfolgte ich wieder mein Experiment. Auf doppelte Weise. Ich erzählte in einzelnen Punkten vom chaotischen Gewirr, mit dem Roosevelt regiert hatte. Und an jedem Punkt kamen in Erwiderung bestimmte Sätze, in einer Mischung aus Verwunderung und Korrektur, die keinesfalls das geschilderte Verfahrensparadigma betrafen, sehr wohl aber die Identität der geschilderten Person: ‚Aber das ist doch Mitterrand!‘ – ‚Die Methode des Präsidenten, vollkommen!‘ – ‚Er herrscht so über Menschen, schon immer, ich kenne niemanden, der dies so kann.‘ Und ich erzählte nicht von Roosevelt, sondern frug vielmehr die Interviewpartner, in der Weise dessen, der nichts weiß, nach Mitterrands Regierungsmethoden aus. Sie waren die Eingeweihten, ich der Gelehrige. Und wie ich zuhörte, Einzelheit für Einzelheit, zeichnete sich in meinem Kopf im Spiegel der mir gegebenen Erläuterungen zu Mitterrand das Bild von Roosevelt ab. Das war er, mit seinem Machtchaos im Weißen Haus. Nein, hier war es Mitterrand: Um sich Mitarbeiter scharend, die allein infolge der weiten – von ihm sorgsam gepflegten – Vielfalt ihrer Charaktere, Herkunft und beruflichen Erfahrungen nicht zueinander paßten und, zusammengewürfelt gewissermaßen wie sie waren, sich gegenseitig irritieren, anziehen und abstoßen, befremden, bezaubern, motivieren, abdrängen, durch sich selber also dieses Chaos organisieren mußten, das er sich wünschte: der ältere Berufsdiplomat im dezent blauen Anzug nach dem Stil seiner Kaste, stets pünktlich, exquisit höflich und korrekt, und die jugendliche Sozialaktivistin in verschrumpelten Jeans und verwaschenem Anorak, sehr lässig im Einhalten von Zeiten, Verabredungen und Abmachungen, ihre Akten in einem Rucksack auf dem Boden ihres Büros; der langweilige Kamerad aus der Sozialistischen Partei, in ein für ihn viel zu grosses Élysée-Büro exiliert, nicht wissend, was er dort nun eigentlich tun sollte; und die überaus kompetente und schöne Sachexpertin, mit den Waffen einer blendend analytischen Intelligenz, und ihren rundum störenden Ambitionen; der clowneske Vollblutpolitiker, seinem Herrn unterwürfig und sonst prall von Macht, alle Welt die Maske seiner Scherze entgegenbringend … In diese Schar (hier nur skizziert) die eine Person einbeziehend, die dank ihres besonderen Charakters ein geradezu exemplarisches Element der Unordnung sein würde (und war), sich in alles einmischend, sich aufspielend gegen jedermann, in glühender Eifersucht die Gunst des Herrn für sich beanspruchend, in unablässiger Rede dessen Macht besprechend, wenn nicht auf Einladung, dann ungefragt, und eitel sich in die Geschichte schreibend als selbst aufgestellter Spiegel seines Herrn – in der Figur dessen, der auch in früheren Zeiten schon an Höfen gehalten wurde als Fou du Roi en titre d’office …

374

Ein klassischer Fürst

Wartend auf die Selbstorganisation des Chaos – die Katze! –, eine neue Struktur (für eine Zeit), die seine Herrschaft voranbrachte, weil an ihr jetzt teilhatte, wer das Chaos ausgehalten und in ihm eine Figur gefunden hatte, die ihm standhielt. Eine Machtdemonstration im Entzug von Macht. Das gefiel dem Fürsten. Es entband die schöpferische Macht, die er suchte. Und Mitterrand akzeptierte die ihm so gebotenen Figuren seiner Macht. Bis zu dem unweigerlich herrannahenden Moment, da er wieder neue, andere, die vorhandenen in einer veränderten Konfiguration brauchte. Dann störte er das Chaos in seinem Gleichgewicht. Und wieder organisierte es ihm seine Herrschaft. Die Masken Mitterrands im Gespräch der Geschichte Man machte sich im Élysée schon früh Gedanken um das historische Überleben des Präsidenten Mitterrand. In einer Notiz, die der Conseiller Spécial von Mitterrand an diesen am 31. Januar 1983 richtete, wirft jener die Frage auf: „Was von Ihrem Septennat wird in der Geschichte Spuren hinterlassen?“52 Noch sind seitdem nicht so viele Jahre verstrichen, und doch haben diese schon zu einer historischen Perspektive geführt, aus der heraus die Antworten des Notizenschreibers überwiegend nichtssagend und fehlgerichtet erscheinen. Man wird sich Mitterrand nicht wegen seiner besonderen Taten auf dem Felde des Nord-Süd-Konflikts, der Menschenrechte, der Abrüstung, des Arbeiters am Fließband, des Erziehungssystems, einer Weltaussstellung oder eines ‚großen Planes des Weltaufschwungs‘ erinnern. Und es taucht unter diesen und den anderen aufgelisteten Stichworten zwar mit dem Begriff ‚politisches Europa‘ das einzige auf, das, mit dem Namen Mitterrand verknüpft, sich tatsächlich als ein ‚historisches‘ erwies, aber nichts in dieser Notiz deutet darauf hin. Auch an der Stelle, wo sie sich wirklich hätte beweisen können, versagt die implizit beanspruchte visionäre Kraft. In der Geschichtsvision des Conseiller Spécial verliert sich Europa in der bizarren Sammlung seiner Einfälle. Mitterrand ging anders vor und – man kann nicht umhin, es wieder zu sagen – weitaus geschickter. Zuallererst betätigte er sich hinsichtlich seiner präsidentiellen Taten und Erlebnisse selbst in historiographischer Eigenschaft. Was die Taten betraf, so reichte er seine Aufzeichnungen dafür, wenn er sie nicht mehr brauchte, an seine Archivarin im Élysée weiter, ebenso wie Unterlagen, die ihm seine Mitarbeiter dazu vorbereitet und zusammengestellt hatten, und die er auch großenteils durchgesehen und bearbeitet hatte. Was 52  Jacques Attali, Note pour Monsieur le Président, Objet: Au sujet des traces d’un septennat dans l’Histoire, Paris, 31. Jan. 1983 (Signatur in den Archives Nationales: AG/5(4)/JAT/25).



Ein klassischer Fürst375

Abb. 2: Un mot de Mme. Thatcher

376

Ein klassischer Fürst

die Erlebnisse betraf, so schrieb er zu ihnen handschriftlich einiges auf, und übergab dann seine jeweilige Notiz ebenfalls an die Archivarin, damit diese sie für die Geschichtsschreibung aufbewahre, für seine eigene, die er selber in Form von Erinnerungen vorhatte, wie natürlich für die der Historiker. Eine solche Notiz sei hier vorgestellt. Sie wurde durch eine Bemerkung veranlaßt, welche die britische Premierministerin Margaret Thatcher im Mai 1983 bei dem G-7 Gipfeltreffen in Williamsburg im amerikanischen Bundesstaat Virginia im Beisein von François Mitterrand gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan machte.53 Mitterrand hielt die Bemerkung offensichtlich für so interessant, und vielleicht auch, was das Selbstbild Margaret Thatchers anbelangte, für so amüsant, daß er sie auf einem Blatt Papier niederschrieb, und dieses Blatt (vgl. Abb. 2) nach seiner Rückkehr nach Paris Georgette Elgey, seiner Archivarin im Élysée, übergab. Die Bemerkung Thatchers bezieht sich auf die Schlacht von Yorktown, die vom 18. September bis 19. Oktober 1781 stattfand, und an jenem Oktobertag mit der Kapitulation der britischen Truppen in Yorktown gegenüber den angreifenden amerikanisch-französischen Truppen endete. Sie war die letzte große Schlacht im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg; mit ihrem Ausgang hatten die Amerikaner, nicht zuletzt auch dank der aktiven militärischen Unterstützung Frankreichs, ihre Unabhängigkeit gewonnen. Yorktown liegt 26 Kilometer von Williamsburg entfernt, in diesem hatten sich die amerikanischen und französischen Truppen für die Schlacht vereinigt. Möglicherweise hatte Mitterrand deshalb, wie es nach seiner Notiz erscheint, Williamsburg als Ort der Schlacht in Erinnerung. Die Äußerung Thatchers selbst – eine spitze Äußerung – gilt ihrem damaligen Vorgänger im Amt des Premierministers, Lord Frederick North, und dessen historischer Rolle. Mit Lord Norths Namen verknüpft sich die Rede von dem britischen Premierminister, der „Amerika verlor“.54 Sie dürfte im Kopf Margaret Thatchers gewesen sein, als sie zu Ronald Reagan sagte, mit ihr wären damals die Geschehnisse anders verlaufen. Und François Mitterrand hielt sie fest, diese virtuelle Korrektur der britischen und amerikanischen Geschichte durch Margaret Thatcher: Un mot de Mme Thatcher, lors du sommet de Williamsburg (1983) au Pt Reagan qui évoquait la bataille du même nom et donc 53  Die

genauen Daten des Gipfels waren: 18.–30. Mai 1983. Lord Frederick North war der erste britische Premierminister, der sein Amt aufgrund eines Misstrauensvotums des Parlaments verlor. 54  Und



Ein klassischer Fürst377 l’indépendance des USA „Nous avions alors un très mauvais Premier Ministre. Si j’avais été là les choses ne se seraient pas passées comme cela.“ Eine Bemerkung von Frau Thatcher, beim Gipfel von Williamsburg (1983) gegenüber Präsident Reagan, als dieser die gleichnamige Schlacht und also die Unabhängigkeit der USA ansprach „Wir hatten damals einen sehr schlechten Premierminister. Wenn ich da gewesen wäre, hätten sich die Dinge nicht auf die gleiche Weise ereignet.“

Auf die zukünftige Beschreibung und Analyse seiner res gestae hin führte Mitterrand des weiteren fort, was er bei diesen selbst praktizierte. Schon bevor sich das Feld derer zu konstituieren begann, die von ihm berichten, über ihn schreiben, sein Leben und Tun erforschen würden, bereitete er den Boden dafür vor – durch Geschehenlassen wie durch bewußt eingesetzte Mechanismen –, daß es ein Feld produktiver Unruhe sein würde, in dem verschiedene, aber sich überschneidende Interessen in der Wahrung seines politisch-geistigen Erbes, die Kräfte von Eitelkeit und Ruhmessucht, der Wetteifer um Zeugnis und angemessene Darstellung, die unterschiedlichen Methoden von Wissenschaft und Journalismus, der Durst der Medien (und Verlage) nach Sensation wie der Treuereflex der alten Weggenossen, die ­historiographischen und interpretativen Anstrengungen Einzelner und nicht zuletzt, von jenseits des Todes her, mit nachgelassenen Einwirkungen, auch noch er selbst, aus dem Bild von Mitterrand in der Geschichte mehr und mehr eine ganze Galerie von Bildern machten. Das ist eine so wunderbare wie einflußvolle Methode, im Gedächtnis der Menschen lebendig zu bleiben. Von Mitterrand wird es in den Sälen der Geschichte nicht ein Bild geben, sondern viele. Wenn wir hingehen, um sie uns anzuschauen, werden wir in sehr verschiedenen Stilen gehaltene, einander widersprechende, oft mit einem anderen Blickwinkel überraschende und noch immer neue Details bietende Darstellungen sehen. Jede wird wahr sein und keine davon. So wird man das ‚richtige‘ Bild suchen. Und von der Auseinandersetzung darüber wird es kein Ende geben. Er spielt mit uns, die wir sein Bild zeichnen wollen, und wird es immer tun. Unter den Menschen an der Macht entzog sich Mitterrand mit Macht allen Zugriffen auf seine Macht. Und er entzog sich für die ‚Geschichte‘ in das

378

Ein klassischer Fürst

Gespräch, in das er alle verwickelte, die zu ‚Mitterrand‘ etwas sagen wollen. Denn er selbst wird dort nie erscheinen, dafür aber jeweils die Maske, durch die er spricht, wenn ‚Mitterrand‘ nach den Worten dieses oder jenes auftritt. In der Geschichte wird es seine Masken geben, nicht sein Bild. Wer das Bild sucht, wird es im Spiel der Masken finden müssen. Dies war seine letzte – und nun unsterbliche – Inszenierung seiner Macht. Er inszenierte Geschichte als Gespräch. Das aber ist Geschichte. Ein klassischer Fürst, dem es gelingt, die Geschichte seiner Macht in die Erinnerung der Menschen zu verwandeln.

Ein Schwabe im Élysée. Vom Abenteuer des Forschens in der Innenwelt von Regierungen Was kann das Forschen eines Wissenschaftlers mit dessen Herkunft zu tun haben, wenn es sich dabei zum einen um Forschungen in der politischen Welt Frankreichs und zum anderen um eine Herkunft des Wissenschaftlers aus Deutschland und dort aus Schwaben handelt? Diese Frage mag zuerst verwundern. Denn: Man kann kein Schwabe sein, und sich bestens in den deutsch-französischen Beziehungen auskennen, so wie man von diesen nichts wissen kann, und dennoch Schwabe ist. Was also könnte die wissenschaft­ liche Sachkenntnis einer Person mit deren stammesspezifischer Identität verbinden, außer daß sie, wie vieles andere auch – Geschlecht, Geburtsjahr, Farbe der Augen, Familienstand –, zu deren äußerlichen Merkmalen gehören? Oder könnte es etwa zwischen ihnen noch einen anderen Zusammenhang geben? Der auf mehr zurückgeht als auf Existenz- und Lebensumstände, so klar und so unzutreffend wie sie eine Paßkontrolle mißt? Die Frage habe ich mir aufgrund des äußeren Anlasses eines Vortrags gestellt.1 Eine empirische Grundlage zum Versuch einer Antwort lag vor: die eigenen Erfahrungen von Forschungsexkursionen ins „Zwischenland“ der deutsch-französischen Beziehungen. Und wie ich diese überdachte, meinte ich, sehen zu können: Ja, da gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der Herkunft des Wissenschaftlers und dessen Forschungen als Wissenschaftler, seinen Arbeiten zur Praxis – also: den Strukturen und Abläufen – von Regieren im amerikanischen, deutschen, und insbesondere französischen und deutsch-französischen Kontext. Wie erklärt es sich – das bin ich in den ­vergangenen Jahren oft gefragt worden –, daß Sie, unter offener Bekundung Ihrer Entdeckungslust, in das Amt des französischen Präsidenten – den ­Élysée – aufgenommen und in dieses wie ein Praktikant gehobener Art eingegliedert worden sind, und dort dann von 1992 bis 1995, also über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg, frei forschen, nämlich mit jedem der Mitarbeiter des Präsidenten – François Mitterrand –, mit dem sie es wünschten, Erstdruck

in: französisch heute, 38 (2007), Heft 3, S. 275–283. beim Festakt am 30. April 2007 in Ravensburg zum 50-jährigen Jubiläum der Deutsch-Französischen Gesellschaft Ravensburg-Weingarten. Für die Veröffentlichung wurde der Text des Vortrags leicht überarbeitet. 1  Vortrag

380

Ein Schwabe im Elysée

sprechen, sowie die Unterlagen, für die Sie sich interessierten, durcharbeiten konnten? Wie hat man ein solches Forscherglück? Können Sie es uns sagen? Warum sich die Türen öffneten zu den Innenräumen der Macht, in eine Werkstatt von Regierenden hinein? Ich habe kein Geheinmis zu verraten, denn es gibt hier keines. Und ich kann auch kein Rezept angeben, dafür, wie man am besten in die Werkstätten derer, die uns regieren, kommt. Noch könnte ich von „Methoden“ sprechen, wie sie in Lehrbüchern zuhauf verzeichnet sind; diese sind für ein wissenschaftliches Entdecken der Innenwelt von Macht garantiert der falsche Weg. Sollte ich die Erfahrung von einem solchen Entdecken mit einem Wort beschreiben, wählte ich dieses: Abenteuer. Und weiter ausholend, fügte ich dem Wort ‚Abenteuer‘ hinzu: Unter Einsatz natürlich der eigenen Person. Denn ein Abenteuer war es, und wie alle Abenteuer war auch dieses eine Unternehmung im Ungewissen, die jederzeit hätte mißglücken könnnen, noch bei jedem Punkt, bis zu dem sie gediehen war. Feste Größe war dabei allein der eigene Einsatz. Ein Aufbieten seiner selbst. Doch was heißt das?, so möchte man sicherlich genauer wissen, zumal, wie zurecht zu vermuten ist, sich die Frage auch schon mit dem Titel für diese Ausführungen stellt, hört sich doch dieser wie eine erklärende Aussage an: „Ein Schwabe im Élysée“. Gewiß, das war die Absicht. Denn: Nicht ein Wissenschaftler einfach hatte großes Forscherglück in der politischen Werkstatt des französischen Präsidenten. Nein, ein Schwabe. In der Geschichte, von der hier berichtet wird, hat Schwäbisches entscheidend mitgespielt. Es fing so an: Ein Professor aus Deutschland klopft an das Portal des Élysée und sagt: Bitte sehr, ich möchte wissen, wie Ihr regiert. Laßt mich herein. Dabei hatte der noch immer im Ohr, was ihm Jahre zuvor ein ehemaliger, von ihm zu Rate gezogener Mitarbeiter des Bürgermeisters der amerikanischen Stadt Boston gesagt hatte, als er die Strukturen und den Prozeß des Regierens dort erforschen wollte und sich folglich um ein Entree in das Rathaus – die City Hall – von Boston bemühte: „Sie schaffen es nie“. Das spornte den Schwaben an, damals in Boston – wo er es schaffte2 –, und dann zu Anfang dieses neuen Abenteuers in Paris, wo es ihm zuallererst noch schlechter erging als in Boston. Ein ganzes Paket von Unterlagen – Lebenslauf, Schriftenverzeichnis, Belegexemplare der Veröffentlichungen – war verlangt und angenommen worden, und dann herrschte Schweigen, monatelang. Anrufe von Zeit zu Zeit beim Élysée-Palast prallten bei Sekretärinnen ab; sie wußten von nichts. Die Angelegenheit war für sie, wie sollte es auch anders sein, zu geringfügig. Natürlich. 2  Vgl. Tilo Schabert, Boston Politics. The Creativity of Power, Berlin/New York, De Gruyter, 1989.



Ein Schwabe im Elysée381

Und der Schwabe gab nicht auf. Natürlich. Denn er hatte sein deutschfranzösisches Selbstbewußtsein, das von prägenden Erfahrungen in der Jugend herkam. Da hatten sich die Türen zu La France – in welcher Weise von Präsenz sich dieses auch zeigte – noch stets geöffnet, ja wurden eigens aufgemacht. Sicher: Der Junge empfand die Aufteilung in der Straßenbahn, die er von Weingarten zum Besuch des Gymnasiums in Ravensburg nahm, als widersinnig: Ein Sonderabteil für französisches Militär mit zumeist vielen leeren Sitzen, und ein für deutsche Passagiere bestimmtes Abteil, in dem sich diese auf Sitzen und Gängen drängten. Mitunter, des Widersinns wegen und auch aus jugendlicher Lust zur Provokation, stürmten einige von uns Schülern in das Militärabteil und wir nahmen dort Platz, bei den französischen Soldaten. Und siehe da: keiner von ihnen tat uns was. La France zeigte sich dem Gymnasiasten, wie später dem Studenten, als ein entgegenkommendes, offenes, ihm freundschaftlich zugeneigtes Land. Es nahm ihn auf, wie die Offiziere der französische Garnison in Weingarten, die ihn dazu einluden, sich in ihrem Casino die neuesten französischen Filme anzusehen. La France nahm ihn auf, wie die Soldaten der Garnison, auf deren Übungsplatz im Wald auf den Höhen über Weingarten er ein deutschfranzösisches Pfadfindertreffen veranstalten konnte, das in einem gemeinsamen Lagerfest endete, bei dem der Koch des französischen Regiments für uns alle am offenen Feuer einen großen Hammel briet (und bei dem man Ausdrücke im Französischen erlernen konnte, die beim Französisch-Unterricht am Gymnasium nicht zu hören waren). La France nahm ihn auf, wie die Beamten vom Staatssekretariat für Jugend und Sport in Paris, die ihn, den Studenten aus Deutschland, vom gerade gegründeteten Deutsch-Französischen Jugendwerk zu ihnen gesandt, rasch und vorbehaltlos in ihre Equipe für Jugendarbeit integrierten, und ihn damit für einige Jahre, parallel zu seinem Studium, zu einem Mitarbeiter in ihrem Programm Connaissance de la France machten – einwöchige Seminare, stages genannt, für Jugendliche zum Kennenlernen Frankreichs, und dementsprechend überall im Lande abgehalten. Eine großartige interkulturelle Erfahrung tat sich dem Studenten auf; partnerschaftlich mit den anderen Mitgliedern der Equipe des Pariser Staatssekretariats – es erwuchsen Freundschaften, darunter eine, die nach 42 Jahren noch lebendig ist – konnte er daran mitwirken, daß fortan eine größere Zahl solcher stages in ein gemeinsames Werk junger Deutscher und Franzosen verwandelt wurden, von diesen zusammen geplant, organisiert und gestaltet, in deutsch-französischer Gemeinschaft. Zeitlich liegt diese Erfahrung weit zurück, so wie die anderen Erfahrungen mittlerweile eine Sache der Erinnerung sind, die ebenfalls das deutsch-französisches Selbstbewußtsein, von dem ich hier spreche, hervortrieben, erweiterten, schärften, die ich aber hier nicht alle anführen kann. Doch die Erinnerung an sie alle ist selbstverständlich wach; ich brauche unter den Pariser

382

Ein Schwabe im Elysée

Straßennamen nur auf die rue de Châteaudun zu stoßen, und ich weiß: Da saß ich, der Student aus Deutschland, schon einmal zur Arbeit, in einem Büro des Secrétariat d’État à la Jeunesse et aux Sports, im Sommer 1965, 22 Jahre alt. Davon wußten die Sekretärinnen im Élysée-Palast selbstverständlich nichts, wie von den anderen Erfahrungen, dem deutsch-französischen Selbstbewußtsein. Nur in meiner Wahrnehmung gab es den Kontrast zwischen jenem und dem Schweigen dieses Mal von La France, oder nicht? Ich hätte gerne daran gezweifelt. Und, tatsächlich, meine Wahrnehmung stimmte nicht ganz: Ein Kontrast fiel noch jemand anderem auf. Ausgelöst wurde diese Reaktion von etwas Schwäbischem. Wenn einem Schwaben, so würde ich sagen, etwas nicht zu gelingen scheint, ist er noch immer findig; mir fiel ein, daß der Élysée eine regierungsamtliche Institution wie jede andere ist, wo Regeln gelten, wie zum Beispiel die, daß ankommende Briefe einen Eingangsstempel erhalten, zum Registrieren ihrer Existenz und zum Nachvollzug ihres Verbleibs. Irgendwo im Élysée mußte mein Schreiben mit den beigefügten Unterlagen sein, irgendjemand mußte sich damit beschäftigt haben, und sei es, um schließlich nur den Bescheid zu geben: Non. Sonst funktionierte die Institution nicht wie sie es tun sollte. Ich wünschte, so meldete ich mich telefonisch beim Élysée, mit dem juristischen Dienst desselben verbunden zu werden. Und ich kam durch zu einer energisch klingenden Stimme – die, wie ich später erfuhr, Jean Kahn, einem der Rechtsberater Präsident Mitterrands gehörte. Ich hatte mir eine Klage in wohlgesetzten Worten zurechtgelegt, doch war sie noch nicht halb ausgesprochen, da schuf Jean Kahn mit einem entschiedenen Satz für alles weitere einen sicheren Grund: „Hier (das hieß: im Élysée) geht nichts verloren.“ Selbstbewußt für die Institution, der er diente, brachte der Berater des Präsidenten das Projekt des Wissenschaftlers aus Deutschland, mit dem es anfangs ganz schlecht bestellt zu sein schien, auf den denkbar besten Weg. Wenige Tage nach dem Gespräch mit ihm erhielt ich einen Anruf aus dem Sekretariat von François Mitterrand. Der Präsident lasse mir ausrichten, daß ich zu den von mir beabsichtigten Forschungen im Élysée willkommen sei. Von was jedoch rede ich, wenn ich von „Schwäbischem“ spreche, den Schwaben in dem Wissenschaftler herausstelle, von dessen Abenteuer ich hier berichte? Das ist eine heikle Frage, denn sie könnte den Eindruck erwecken, ich wollte nun auch noch zu dem schon vielfach musterhaft artikulierten Selbstverständnis der Schwaben etwas hinzufügen. In eine solche falsche Konkurrenz möchte ich nicht eintreten. Was ich indes wohl in ein paar Worte fassen sollte, ist jene Erfahrung von „Schwäbischem“, von dem ich bezüglich der Geschichte, über die ich hier berichte, denke: es hat in ihr durchgehend eine Rolle gespielt, und manchmal die ausschlaggebende. Ich möchte hier annehmen, daß sich dieses Erfahrene mit allgemeinen Vorstel-



Ein Schwabe im Elysée383

lungen deckt. Sollte dem aber nicht so sein, dann kann ich nur hoffen, daß auch noch im Irrtum eine interessante Variante dessen gesehen wird, was man unter „schwäbisch“ verstehen könnte: gefällig zu sein und höflich; weltoffen und zugleich kulturell selbstbewußt; wendig bei Widerstand und findig, wennʼs aussichtslos scheint; zäh unter Umständen und verbindlich, wenn angebracht; beredt und sprachgewandt; wißbegierig und des Wertes von Wissen und Kompetenz bewußt, diese achtend; gesellig, menschenfreundlich, aufs Leben in Zutrauen eingestellt. Eine gute Ausrüstung. Ich mag es mir nur einbilden, wie gesagt, wenn ich denke, daß einem Teil von ihr – das Ganze wohl eher sehr selten – durch Herkunft mitgegeben worden ist, und ein Zusammenhang dann zwischen diesem Rüstzeug und einem Abenteuer zu sehen ist, wie dem hier geschilderten. Und selbst wenn der gedachte Zusammenhang tatsächlich bloß Einbildung wäre, so ist damit noch keineswegs ausgemacht, daß es etwas ganz anderes als Schwäbisches war, an der Person des sich einsetzenden Wissenschaftlers, was den Verlauf seines Abenteuers mitbestimmte. Mir jedenfalls leuchtet es ein, in der Erklärung des Abenteuers meines Forschens in der Innenwelt von Regierungswelten an das schwäbische Element zu denken. Wie plausibel das ist, mag sich anhand des nun im weiteren noch ausgebreiteten empirischen Stoffs erweisen. Ich war wie paralysiert. Im Büro des Präsidenten. Auf Anraten der beigeordneten Generalsekretärin des Élysée, Anne Lauvergeon, hatte ich um ein Gespräch mit François Mitterrand nachgesucht; im Kreise seiner Mitarbeiter war ich schon wohlbekannt, ich hatte mich mit deren Arbeit vertraut gemacht; nun, so hatte Anne Lauvergeon zu mir gesagt, sei es an der Zeit, auch mit dem Präsidenten zu sprechen. Ich hatte einen Termin erhalten und mich zu diesem eingestellt. Um in den Arbeitssalon von Präsident Mitterrand zu gelangen, mußte man im allgemeinen Anne Lauvergeons Büro durchqueren, was diese, nebenbei bemerkt, in den Stand besonderer Kenntnisse versetzte. Lauvergeon nickte mir noch aufmunternd zu, als ich durch ihr Zimmer nach hinten zu der Türe ging, an der ich klopfen sollte. Dies tat ich, nach einigen Sekunden öffnete sich die Tür, und vor mir stand François Mitterrand. Er gab mir die Hand, aber sagte nichts. Mein „Bonjour, Monsieur le Président“ versank unerwidert in der Stille des Raumes. Mit einer leichten Handbewegung zeigte mir Mitterrand, daß ich in Richtung seines Schreibtischs gehen sollte. Während ich vor diesem stehen blieb, ging er um ihn herum und setzte sich. Noch immer hatte er kein Wort zu mir gesprochen, und damit für das vorgesehene Gespräch das Zeichen der Eröffnung gemacht. Seine vorige Handbewegung so interpretierend, daß dies auch mit ihr gemeint war, wagte ich, mich ebenfalls zu setzen, auf der anderen Seite des Schreibtischs, dem Präsidenten gegenüber. Er schaute mich an, ich schaute auf ihn. Schweigen. Wie geht das nur aus, dachte ich, da bist du ja schön blockiert. Endlich, ja, end-

384

Ein Schwabe im Elysée

lich, richtete François Mitterrand ein Wort an mich. Es war eine Frage: „Que désirez-vous?“ – „Was wünschen Sie?“ Etwas Verwirrenderes hätte nicht vorgehen können. Die Frage verstand ich natürlich, aber ich verstand sie nicht als Frage, sah nicht, warum sie der Präsident überhaupt stellte, in diesem Augenblick. Zu dem Gespräch, um das ich nachgesucht hatte, hatte er mich ja gerade empfangen. Dafür saß ich ihm jetzt gegenüber. Ich konnte im übrigen auf dem aufgeräumten Schreibtisch vor ihm liegend ein Blatt sehen, dessen Anlaß und Inhalt ich kannte. Es kam vom Generalsekretariat des ­Élysée, stellte mich und mein Forschungsanliegen vor, und wurde vor jedem Interview, das ich im Präsidialamt führte, der- oder demjenigen zugestellt, die beziehungsweise der mich empfangen würde. Mitterrand wußte Bescheid. Aber er fragte mich: „Was wünschen Sie?“ Und es waren mittlerweile fünf Minuten vergangen – ich konnte auf eine Uhr an der Wand hinter dem Sessel des Präsidenten sehen –, und das war unter den gegebenen Umständen schon viel von sehr wertvoller Zeit. Und soweit waren einzig diese Worte gewechselt worden: „Bonjour, Monsieur le Président“ – „Que désirez-vous?“ Was sollte ich antworten? Die Erwiderung, die mir – verwirrt wie ich war – einfiel, war sicherlich nicht die intelligenteste, aber sie stimmte: „Ich möchte ein Buch schreiben über Ihre Regierungsweise.“ François Mitterrand fuhr fort, mich zu mustern – und zuckte die Achseln. Kein Wort. Ich war wie paralysiert. Doch die Lähmung hielt nicht lange an. Die Person in dem Wissenschaftler half diesem, und setzte sich mit dem durch, was sie konnte: Einfach reden, in diffizilen Momenten, wenn alles angespannt ist, es scheinbar an Worten fehlt, Leute nichts sagen, wo ein Sprechen angesagt ist: Einfach reden. Solange bis andere sich warmgelaufen haben und ihrerseits zu reden beginnen. Ich kann es nicht besser ausdrücken als so: Dem in sein Schweigen eingehüllten Präsidenten gegenüber sprach ich drauflos, so als wollte ich der Beobachtung genügen: Der ist nicht auf’s Maul gfalle. Eine schwäbische Eigenschaft? Ich will es jetzt nicht behaupten. Doch sie half. Mitterrand erwärmte sich und es entwickelte sich ein weit besseres Gespräch, als ich je erwartet hätte. Ich solle ja wiederkommen, sagte mir an dessen Ende der Präsident. Was ich gerade beschrieb, erscheint mir heute noch mehr als damals wie ein Vexierspiel. Denn ich weiß jetzt, daß der Entscheidung, mich im Élysée über den Élysée – das Regieren dort – forschen zu lassen, auf Seiten Mitterrands und einiger seiner engeren Berater, insbesondere Hubert Védrines, eine ganz bestimmte Überlegung vorangegangen war. In ihren Augen hatte mein Projekt, abgesehen von ihm selbst, einen eigenen, für sie ganz besonderen Reiz: Ein Deutscher schlug es vor. Sie würden diesen, wenn sie ihn zu Forschungen über sich bei sich aufnähmen, zu einem Spiegel ihrer selbst ma-



Ein Schwabe im Elysée385

chen; ihr Regieren in Frankreich erschiene in dem Bild, das ein deutscher Wissenschaftler von ihm zeichnete; mit den Forschungen eines Deutschen würde ihr politisches Handeln erhellt. Ich war im Élysée Forscher – und ich war die Figur, welche die Personen dort in mir sahen. Sie begriffen mich als Deutschen – nach ihren Vorstellungen von „deutsch“ natürlich, die nicht unbedingt die unsrigen hier in Deutschland wären, aber das ist ein anderes Thema –, und es hätte sie erstaunt, hätte ich den reinen Wissenschaftler spielen wollen, der sich allein instrumental, gewissermaßen wie ein Geigerzähler, seiner Disziplin versteht. Abgesehen davon, daß es immer unklug und auch unangebracht ist, außerhalb seines Landes so zu tun, als sei man nicht von ihm ein Repräsentant, hätte ich einen schweren methodischen Fehler begangen. Denn ich hätte unter den Menschen, die ich verstehen wollte, ein Unverständnis mir gegenüber ausgelöst, das uns trennte, und mir dann weniger Zugang zu ihnen gab. Im Feld meiner Forschungen verdoppelte sich also meine Forscherexistenz. Ich lernte meine Gesprächspartner im Präsidialamt Frankreichs kennen, und ich lernte mich selber kennen, genauer: meine Figur in deren Wahrnehmung. Dabei begriff ich erst allmählich eine Funktion dieser Figur, die nicht einfach zu definieren ist, über die ich hier aber dennoch sprechen möchte. Denn in dem Maße wie ich ihrer bewußt wurde, sah ich, daß es von ihr abhing, das heißt von dem Geschick, der Sensibilität, und dem menschlichen Takt, mit der ich sie ausübte, wie weit ich überhaupt kommen würde bei meinem Erkennen der personalen Zusammensetzungen, Handlungsstrukturen und Arbeitsweisen in der politischen Werkstatt „Élysée“. Würde ich darangehen, die Funktion zu beschreiben, so würde ich zu Wörtern greifen, die man aus der hermeneutischen Anthropologie, der intra-personalen Psychologie, der phänomenologischen Soziologie, der Existenzphilosophie kennt: Einfühlungsvermögen, Verstehen von Anderen, Aufbau eines Felds zwischenmenschlicher Kommunikation, Offenheit zu den differenten Formen existentieller, emotionaler und psychischer Realität, diskrete Sympathie, ein Wissen von der verhandelten Sache, das Vertrauen schafft. Das klingt natürlich recht abstrakt. Ich beeile mich sodenn, von der allgemeinen Ausführung gleich wieder ins Anschauliche zu wechseln. Zu diesem Zweck möchte ich vorschlagen, sich die Forscherfigur, von der ich spreche, vorzustellen, wie es sie damals, in den Jahren von 1992 bis 1995, im Élysée gab. Dort führt diese Figur zahlreiche Gespräche, mit Mitarbeitern Mitterrands. Begleiten wir sie – und das ist auch nachträglich möglich auf Grund gewissenhaft gemachter Aufzeichnungen – zu ihren Gesprächen, und treffen einige derer, die sie traf. Was begegnet ihr, und wie wird sie durch das, was ihr begegnet, zu jener Figur, über die allein sich dem Forscher, der in ihr ist, jene menschliche Wirklichkeit erschließt, die er sucht?

386

Ein Schwabe im Elysée

Sie sitzt dem bouffon, dem Possenreißer unter den Beratern des Präsidenten gegenüber, mit dem ein informatives Gespräch nicht zu führen ist; die unterhaltsame Clownerie ist Abwehr und Zweck, sie soll einen schon einmal gar nicht auf den Gedanken bringen, Fragen zu stellen, und einen vielmehr zum Komplizen dafür machen – kommen Sie doch mit auf die Bühne, Monsieur le professeur –, die sinnigen Anekdoten und amüsanten Bosheiten, die man zu hören bekommt, unter die Leute zu bringen. Verschwendete Zeit, dieses Interview? Oh nein! Der clowneske Possenreißer gefällt sich, reagiert zuerst mit Verwunderung, dann aber voller Begeisterung auf die geäußerte Bitte, er möge einem doch – bildlich gesprochen – sein Ankleide- und Schminkzimmer zeigen. Wie kommt es, so fragt ihn die Figur, daß Sie so toller Laune sind? Eher verschreckt über das Interview, in das sie eingewilligt hat, scheint zu dessen Beginn die sozialistische Aktivistin zu sein, die für den Präsidenten auf alles horcht und lauscht, was sich in seiner Partei bewegt. Alles Wissenschaftliche liege ihr fern, sagt sie, und sie erklärt, so als hätte sie sich zu entschuldigen, daß sie das vereinbarte Gespräch gerne führen wolle, sich in ihm aber sicherlich nicht so ausdrücken könne, wie es ein Professor wohl erwarten würde. Da ist sie wieder, die Figur: im vorgestellten „Professor“, dieses Mal, auf den die Präsidentenberaterin nicht so recht zu reagieren weiß. Die Situation wird für ein Gespräch nur zuträglicher, wenn sich die Figur verwandelt, und eine Form annimmt, auf die sich die Sozialistin beziehen kann. Das geschieht, der Besucher knüpft an ihre Tätigkeit hier im Präsidialamt an und erwähnt, er kenne die Geschichte von Frankreichs sozialistischen Parteien, von früheren Forschungen zum französischen Parteienwesen her, im Zuge derselben er mehrmals zu Archivarbeiten und Interviews die Parteizentrale der Sozialisten in Paris in der Cité Malesherbes aufgesucht, und sich nicht zuletzt über die politschen Klubs und Vereinigungen informiert habe, mittels derer François Mitterrand seinen politischen Weg verfolgte, darunter insbesondere die von ihm gegründete Convention des Institutions Républi­ caines. „Was,“ ruft die Präsidentenberaterin aus, „Sie waren in der Cité ­Malesherbes, und Sie wissen was von der Convention des Institutions Répu­ blicaines!“ Jetzt erscheint ihr in der Figur kein Fremdling mehr, sondern jemand, mit dem sie über Dinge reden kann, von denen die meisten hier im Élysée sehr wenig wissen oder für die sie sich nicht oder nicht mehr interessieren. Und sie beginnt zu erzählen und denkt nicht mehr daran, daß sie vielleicht besser doch dieses oder jenes nicht erzählen sollte … . Getröstet werden will der junge Mann, der den Präsidenten zu lokal- und regionalpolitischen Fragen beraten soll. Er ist neu im Élysée und hat bislang im Süden Frankreichs in einer Präfektur gearbeitet. Dort hat er sich bestens gefühlt, bei den Leuten, den Empfängen der Jäger und der Feuerwehr, in seinem großräumigen Büro in dem herrlichen Präfektur-Gebäude, von wo



Ein Schwabe im Elysée387

aus er Wohltaten des Staates austeilen konnte. Hier, im Élysée hat man ihm ein winziges Zimmerchen zugewiesen, in das nur durch ein kleines Dachfenster etwas Licht fällt Und niemand hat ihm klar gesagt, was nun genau sein Verantwortungsbereich und seine Aufgaben seien. Da hilft für ein Vorankommen beim Forschen zuerst allein Zuhören, das Eingehen auf die Rolle einer Figur von außerhalb, bei der man seinen Frust abladen kann. Das Interview selbst verläuft, wissenschaftlich gesehen, ergebnislos. Dies ist hingegen nicht der Fall bezüglich der Figur – sie wird beim zweiten Anlauf zu einem Gespräch freudigst begrüßt. Und es beginnt eine Serie von Unterhaltungen über eine Frage, die interessanter nicht hätte sein können: Wie macht man sich, unter all den Beratern des Präsidenten, zu einem Ratgeber, auf den der Präsident hört? Arg in Verlegenheit wird die Figur durch die Expertin für Meinungsumfragen im Élysée gebracht. Sie möchte von dem Interview selber auch profitieren und präzise Erkundigungen zur Demoskopie in Deutschland und deren Rolle dort bei politischen Wahlkämpfen einziehen. Da sind weitergehende und exaktere Kenntnisse verlangt als jene, über welche die Figur verfügt. Die Expertin versteht das zuerst nicht, da hat sie, wie von einem glücklichen Zufall gesandt, einen Wissenschaftler aus Deutschland vor sich, kann ihn befragen, und warum zögert dieser jetzt, die Quelle von Auskünften zu sein, die er in ihren Augen, ist er doch ein Deutscher, unzweifelhaft ist? Wer andere erforscht, lernt dabei sich selber kennen. Oder anders gesagt: Will man wissen, wer man ist, so suche man sich im Verstehen anderer. Das ist die Lehre, die ich glaube, aus meinen deutsch-französischen Wanderungen ziehen zu können – für, in meinem Falle, den Wissenschaftler, den Schwaben, den Deutschen. Wenige Zeit nach Abschluß meiner Forschungen im Élysée – die ich ergänzte durch einige Forschungsreisen nach Bonn zum Bundeskanzleramt –, fasste ich im Mai 1995 in einem Zeitungsartikel zusammen, was diesen Forschungen zufolge der Stand der deutsch-französischen Beziehungen sei.3 Ich möchte zum Abschluß einige Zeilen aus jenem Artikel zitieren. Sie handeln, das ist offensichtlich, von einer nun schon historischen Zeit. Und sie sprechen von etwas, das dem Vergehen in der Zeit nicht untertan ist, vielmehr selber Kraft zum Gestalten von Geschichte ist: Von der Freundschaft in der Politik: „Seit mehr als zehn Jahren sind die deutsch-französischen Beziehungen durch die außerordentliche Kraft der in ihnen wirkenden schöpferischen Politik gekennzeichnet. Diese Fähigkeit zu Neuem entsprang der ebenfalls außerordentlichen Freundschaft zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl … zwei Meistern in der politischen 3  Tilo Schabert, „Paris-Bonn. Impressions d’Allemagne“, in: Le Point, Nr. 1184, 27. Mai 1995, S. 70–72 (Meine Übersetzung, T. S.). Siehe in diesem Band, S. 333– 338.

388

Ein Schwabe im Elysée

Kunst, denen es gelungen ist, die Regierungstätigkeit zwischen ihren beiden Ländern über das Niveau von Rüben und Katalysatoren hinwegzuheben. Oft hat man sich gefragt, wie es kam, daß diese beiden, vom jeweiligen Temperament her so verschiedenen Menschen sich so gut verstehen konnten. Ich würde sagen, daß es die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs war, die sie zusammengeführt hat. Der eine, der Deutsche, verlor seinen Bruder, als dieser als Soldat in Frankreich fiel; der andere, der Franzose, war Kriegsgefangener in einem deutschen Lager, und entdeckte dort alle Seiten der menschlichen Natur, wie seine eigene Fähigkeit, Menschen zu führen. Beide zogen aus ihrer Erfahrung dieselbe Schlußfolgerung: Nach der Apokalypse muß der alte Kontinent von seinen Dämonen befreit werden. Und diese schöpferische Neuerung würde die gemeinsame Aufgabe der Franzosen und der Deutschen sein. Doch die erstaunliche gemeinsame Tatkraft von Helmut Kohl und François Mitterrand wäre nicht möglich gewesen, ohne bestimmte Entwicklungen in der institutionellen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern. Von 1982 an haben sich Frankreich und Deutschland Strukturen des Regierens gegeben, die es immer unlogischer erscheinen lassen, auf die Beziehungen zwischen ihnen noch den Begriff „Außenpolitik“ anzuwenden. Ein Blickwechsel ist fällig: Was aus den beiden Hauptstädten pulsiert, das ist eine deutsch-französische Innenpolitik.“ Am 16. Mai zog Nicolas Sarkozy als neugewählter Präsident Frankreichs in den Élysée ein. Begleiten wir ihn mit unseren Zurufen bei der Arbeit in seiner Werkstatt. Möge er in dieser immer daran denken, daß er ebenfalls die Geschicke Deutschlands leitet, wie er die Geschicke Frankreichs führt, so wie es Deutschland nur darum gehen kann, denkt es an sein Wohl, ebenfalls an das Wohl Frankreichs zu denken.

In der Mitte der Macht herrscht Stille. Erinnerungen an François Mitterrand François Mitterrand gehörte zu jenen Menschen, von denen es stets nur wenige gibt. Je näher man seiner Person kam, desto einnehmender wurde sie. Je mehr man über sie erfuhr, desto mehr erregte sie Bewunderung. Je länger man Mitterrand kannte, desto bereichernder, ja beglückender, wurden Begegnungen mit ihm. Ein Gespräch mit ihm war zuallererst gekennzeichnet von jener selbstbewußten Zurückhaltung, mit der er einen empfing und einen von sich hielt, scheinbar. Dann folgten sogleich klar und bündig formulierte Fragen oder präzise Feststellungen, und dies blieb der Stil das ganze Gespräch hindurch. In die Verunsicherung hinein, die sein Gegenüber spüren mochte, kam unausgesprochen die beruhigende Botschaft: Ich höre zu, ich bin jetzt ganz aufmerksam, für Sie. Er selber erzählte, daß er früher, als junger Mensch, im Auftreten gegenüber anderen sehr schüchtern (timide) gewesen und es ihm nicht leichtgefallen sei, aus sich die öffentliche persona eines Politikers zu machen. Er machte es glänzend. Langjährige wie neuere Freunde (und er schloß noch in den letzten Lebensjahren herzliche Freundschaften) zeichneten im Spiegel ihrer Erinnerungen einen „geborenen Fürsten“, den von Paule Dayan so bezeichneten prince naturel.1 Sie hoben vor allem den ungewöhnlichen Mut, die Selbstbeherrschung, und die Kaltblütigkeit hervor, die ihn in ihren Augen auszeichneten. Irène Dayan, mit ihrem Mann, Georges Dayan, über Jahrzehnte hin mit Mitterrand befreundet, und mit diesem politisch wie berufllich eng verbunden, hat es bei einem Gespräch so ausgedrückt: „Von allen Politikern, die ich erlebt habe, ist jeder irgendwann einmal in einem Augenblick äußerster Anspannung, der scheinbar überwältigenden Krise, aus den Fugen geraten und zusammengebrochen (sie verwandte in diesem Zusammenhang das sehr lautmalerische Wort cra­ quer). Ich kenne nur einen, bei dem dies nie geschehen ist: François Mitterrand.“2 Erstdruck in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 7, 10. Januar 1996. Hier um Anmerkungen erweitert. 1  Vgl. unten S. 397–399, Anm. 13, und die Zeugnisse von Jean Munier, Jean Védrine, Louis Devaux, Georges Beauchamp, in: Caroline Lang (Hg.), Le Cercle des intimes. François Mitterrand par ses proches, Boulogne, La Sirène, 1996. 2  Gespräch des Autors mit Irène Dayan am 11. Febr. 1993 (Aufzeichnung des Gesprächs im Archiv des Autors).

390

In der Mitte der Macht herrscht Stille

Ich habe ihm bei einem Gespräch von dieser Beobachtung Irène Dayans berichtet und ihn dann gefragt, und beinahe nicht den Mut dazu aufgebracht: „Was ist es, das Sie vor dem Zusammenbruch schützt?“3 Und wieder folgten erst die sprachliche Scheu, die Sekunden schweigender Zurückhaltung, jene Gesprächsstille, in die nicht einzubrechen schwer auszuhalten und die doch das war, wodurch sich das Gespräch fortsetzte. Ein leises ironisches Lächeln umzuckte den Mund. Und schließlich die Antwort: „Ich halte Distanz.“ Das kann nicht alles sein, was er zu den Worten von Irène Dayan zu sagen hatte. So also stellte ich eine weitere Frage und es war klar, daß diese noch existentieller gemeint war: „Wo sind Sie, wenn Sie Distanz halten?“ Dieses Mal antwortete er sogleich und das Lächeln war verschwunden: „Ich denke nach, ich lese und ich gehe spazieren.“ „Ich denke nach“: Welche Wachheit der Vorstellungskraft und Behendigkeit der Gedanken im Geiste dieses Mannes. Mit Leichtigkeit konnte er bei einer Unterredung von einem Thema zu einem anderen wechseln, ohne daß die Qualität seiner Äußerungen und Stellungnahmen darunter litt, auch wenn es sich um politisch komplexe oder technisch vertrackte Dinge handelte. Niemand blieb unbeeindruckt von Mitterrands Kenntnissen und seiner Gedankenschärfe. Eine Rede, aus dem Stegreif formuliert, und er riß eine Versammlung von Staatsmännern und Diplomaten mit, wie zum Beispiel im September 1994 in Wien. Oder er entwand den gewieftesten Journalisten bei einem Fernsehinterview die Gesprächsführung (grandios noch einmal im Mai 1994) und brachte es fertig, daß dies selbst den Bildschirmprofis gefiel. „Ich lese“: Da war er bei sich, mit den Menschen auf seine Weise verbunden. Er kannte uns, weil er über die Menschen ständig nachlas, was diese von sich selber sagten und offenbarten: in diesem oder jenem Gedicht, in den großen Romanen (und durchaus nicht nur in den französischen), in der Geschichte Frankreichs, aber auch der Italiens, oder des antiken Roms, oder der von Preußen (ja: Preußen). Da konnte er auch mitunter grausam wie eine Katze sein, wenn er mit der literarischen oder historischen Unkenntnis anderer spielte und es sich nicht nehmen ließ, diese mit vernichtender Ironie abzufertigen. „Ich gehe spazieren“: Das war die sichtbarste Manifestation der Distanz. Er entfernte sich tatsächlich, ließ, was gerade war, ganz hinter sich. Oft nahm er andere zu seinen Spaziergängen, auch ausgedehnten Wanderungen, mit. Und zeigte dann, wie es unübertrefflicher nicht geht, die Souveränität des Fürsten. Dies ist die Disziplin, sich in der Machtausübung so beherrschen zu können, daß man darin auch einmal stillhalten und für ein paar Stunden einfach wandern kann. Dies war für seine Begleitung aber selten erträglich. Wo 3  Gespräch des Autors mit François Mitterrand am 15. Juni 1993 (Aufzeichnung des Gesprächs im Archiv des Autors, Abdruck hier S. 403–408).



In der Mitte der Macht herrscht Stille391

war die Macht, wenn er in einem Wald, abseits aller Kommunikationstechnik, spazierenging? François Mitterrand ist nie in der öffentlichen persona aufgegangen, in der politischen Rolle, die er jeweils einnahm. Er blieb „anwesend-abwesend“, selbst als Staatsmann im Élysée und auf den Bühnen der Weltpolitik. Im Präsidentenpalais umgab ihn eine besondere Stille, die jedesmal, wenn man das Palais betrat, überraschte. Es war eine symbolische Erfahrung, daß man auf dem Weg zum Präsidentenbüro, über den Hof durch die Eingangshalle die breite Treppe hinauf, niemandem begegnete. Der Weg zur Macht war ein Weg in die Stille. Der Herrschaftsapparat lief, aber dieser war ganz darauf abgestellt, den Präsidenten in seinem Büro allein zu lassen. Jeder wollte, daß ihm Zeit für die Zeit des Regierens gelassen würde. In der Figur des Präsidenten lebte bis zuletzt jener scheue, verletzliche Mensch, der es wagte, von jungen Jahren an, das zu tun, was von seiner Bestimmung her die Tätigkeit des Menschen ist: öffentlich zu handeln. Damit gefährdete er sich, bis in das Innerste seiner Person. Denn der Leviathan der Öffentlichkeit weiß schon immer, was er will. In Frankreich regiert er durch besonders verfestigte Strukturen und Gesetze der Politik. Man hat eine Wahl: „links“ oder „rechts“. Danach keine mehr. Keine Begründung oder Entschuldigung wird wirklich akzeptiert, aus dem gewählten Lager in der Zweiteilung der französischen Gesellschaft wieder auszubrechen. Zweckmäßigkeit mag unter Umständen noch entschuldigt werden, oder Zynismus – vielleicht. Aber Ernsthaftigkeit? Ernsthaft, authentisch den Weg zurücklegen vom Regierungsamt im faschistischen Vichy zum Sozialismus im Élysée? Von dem Orden der Vichy-Regierung unter Petain zu der Rose in der geballten Faust? Mit dieser Biographie lag Mitterrand völlig verquer zum Gefüge französischer Politik. Er setzte allein mit seiner Person die Glaubenssätze aus, in denen sich ganz Frankreich eingerichtet hatte. Er war schon sehr krank, als Frankreich dies im Herbst 1994 in voller Klarheit merkte.4 Das Kopfschütteln allenthalben schmerzte ihn. Er hatte nicht seinen Mantel nach 4  Durch das Buch von Pierre Péan, Une jeunesse française. François Mitterrand 1934–1947, Paris 1994. Vgl. auch „Face à Face avec François Mitterrand“, in: L’Expansion, Juillet/Août 1972, S. 117–123, hier: S. 119. Le Monde, 2.5.1996; „Mitterrand dans le piège de son passé“, in: Le Point, No. 1148, 17. Sept. 1994, S. 48–57. Es ging dabei vor allem um den Vichy-Orden ‚Francisque‘, den Mitterrand erhalten hatte. Nicht wenige sahen darin einen Beleg für die ‚petainistische‘ Gesinnung, die Mitterrand damals gehabt hätte. In ihrem Buch „L’année des adieux“ (a. a. O., S.  304) berichtet Laure Adler von einem Gespräch mit Mitterrand, bei dem dieser zu diesem Thema gesagt habe: „Alors vous voulez me reparler de cette francisque? Vous aussi, vous jugez? Vous non plus, vous ne comprenez pas? Il faut se replacer dans l’époque. Mais c’était commode, un truc comme ça. C’était un laissezpasser formidable. C’était une attribution collective, pas personelle. Aujourd’hui peutêtre, cela peut vous paraître bizarre.“

392

In der Mitte der Macht herrscht Stille

dem Wind gedreht, natürlich nicht. Vielmehr hatte er für sich alles gewagt – und gewonnen. Er war nicht stehengeblieben, „rechts“ oder „links“. Er hatte sich bewegt. Und zu unserer Erinnerung für immer vorgeführt, wie in der Bewegung das Leben ist, in der Ruhe aber der Tod.5

5  Zur Biographie Mitterrands vgl. Claude Manceron, „Chronologie commentée de François Mitterrand“, in: Le Matin de Paris, Avril–Mai 1981, S. 32–36; „François Mitterrand sous l’oeil du ‚Monde‘ “, Beilage, Le Monde, 12. Jan. 1996, 16 S.; Hubert Védrine, François Mitterrand. Un dessein, un destin, Paris 2005, Philip Short, Mitterrand. A Study in Ambiguity, London 2013.

Das Bezeugen des Präsidenten – die Meisterung seiner selbst Die Beobachtung Irène Dayans [siehe „Zwei Gespräche mit François Mitterrand“], François Mitterrand sei in Augenblicken äußerster Anspannung nie außer sich geraten, „zusammengebrochen“, wurde ebenfalls von anderen gemacht. Und die Selbstaussage: „Ich halte Distanz“, die Mitterrand auf die gestellte Frage: „Was ist es, das Sie vor dem Zusammenbruch schützt?“ in meinem Gespräch mit ihm am 15. Juni 1993 gab, als er auf Dayans Beobachtung hin angesprochen wurde, nahm er seinerseits als eine Weisheit her, die er auch anderen empfahl. Er bezeugte in Worten und insbesondere in seinem Verhalten öffentlich eine Meisterschaft, die unter allen erdenklich notwendigen Voraussetzungen für die gute Ausübung des Amtes eines regierenden Staatspräsidenten zweifellos die beste war: eine Meisterung seiner selbst. Der Besuch in Sarajewo Am 28. Juni 1992 reiste der französische Präsident während des Jugoslawien-Kriegs für einen Tag in die eingeschlossene und von den sie umgebenden Hügeln herab beschossene Stadt Sarajewo. Er wollte damit, wie er es selber formulierte, eine „symbolische Geste“ in dem kriegerischen Konflikt vollführen.1 Der Flughafen Sarajewos konnte für die Zeit seines Besuchs soweit offengehalten werden, dass durch französische Kräfte unter Leitung des französischen Ministers Bernard Kouchner2 Lebensmittel und Medikamente in die belagerte Stadt gebracht werden konnten. Von diesem SarajewoBesuch Mitterrands berichtete später in einem Informations-Gespräch ein Erstveröffentlichung

in diesem Band. Mitterrand in seinem Telefongespräch mit Helmut Kohl am 18. Juni 1992. Vgl. Compte-rendu [par B. Stoffaes] de l’entretien téléphonique entre le Président de la République F. Mitterrand et le Chancelier H. Kohl le dimanche 28 juin [1992] à 22.00 h. – Am 30. Juni 1992 sprachen Mitterrand und der amerikanische Präsident George Bush kurz miteinander am Telefon. Bush drückte dabei gegenüber Mitterrand seine große Bewunderung für dessen Sarajewo-Reise aus. (Siehe das franz. Protokoll dieses Gesprächs unter AN – AG/5(4)/CD/70). 2  Bernard Kouchner war zu der Zeit in der französischen Regierung Minister für Gesundheit und humanitäre Aktion. 1  So

394

Das Bezeugen des Präsidenten – die Meisterung seiner selbst

Mitarbeiter Kouchners, Jean-Maurice Ripert,3 der während der ganzen Reise in der kleinen Gruppe von Mitterrands Begleitern war. Sein Bericht enthält einen Satz, mit dem er die Haltung charakterisiert, die François Mitterrand bei dem Sarajewo-Besuch zeigte. Der Satz ist ein sprechender Beleg für das, was hier „Das Bezeugen des Präsidenten“ genannt wird. Ripert formulierte ihn im Stil eines Kommentars, und so muss von dessen Bericht hier so viel wiedergegeben werden, dass auch deutlich wird, wieso Ripert diesen Satz in seinen Bericht einflocht. Der Anflug Mitterrands und seiner Begleiter nach Sarajewo ging von Split aus, in zwei Hubschraubern, von denen der eine, in dem sich der Präsident befand, in etwas größerer Höhe als der zweite flog. Dies war eine List, es sollte so aussehen, als ob der höher fliegende den niedriger fliegenden Hubschrauber deckte. Und jenem galten tatsächlich die Schüsse, die von den letzten Hügeln vor der Stadt heraufkamen, und seinen Rotor beschädigten. Doch er konnte, wie der Hubschrauber mit dem Präsidenten, auf dem zu einem Ruinenfeld gewordenen Flugplatz Sarajewos landen. Die Anspannung, so erinnerte sich Ripert, sei enorm gewesen. In der Stadt hätte eine große Stille geherrscht, die „Stille des Krieges“. Am schlimmsten sei für Mitterrand und seine Begleiter der Augenblick gewesen, in dem sie mit ihren Fahrzeugen mitten in einer Kreuzung aufgehalten wurden und nicht weiter konnten; Kreuzungen zählten unter den damaligen Umständen in Sarajewo zu den gefährlichsten Orten. Mitterrands Begleiter seien ein wenig in Panik geraten, und hätten zu den Sicherheitsleuten geschrien: „Raus hier!“ Vor dem Abflug, gerade als der Präsident sich in einem Hangar verabschieden wollte, kamen plötzlich von irgendwo her Schüsse, serbische Panzer fuhren auf die Piste des Flughafens, durch Feuerstöße aus Maschinengewehren wurden zwei Personen verletzt. Wieder, so Ripert, sei die Anspannung sehr groß gewesen. Mitterrand indes konnte abfliegen, in dem unbeschädigten Helikopter (nach Riperts Bericht),4 nicht aber bevor dem Präsidenten zuvor eine kugelsichere Weste angelegt worden war.5

3  Jean-Maurice Ripert, Bericht zum Sarajewo-Besuch Mitterrands, 24. Sept. 1992 (Privatarchiv). – Jean-Maurice Ripert ist derzeit (Dezember 2019) französischer Botschafter in China. 4  Das sagte Ripert in seinem Bericht. Seiner eigenen Schilderung zufolge, die er Helmut Kohl gab, benützte Mitterrand indes die auf dem Flughafen von Sarajewo beschädigte Präsidenten-Maschine. Nach Ripert stiegen in diese hingegen Mitterrands Begleiter ein. 5  Nach dem Erinnerungsbericht des Augenzeugen Claude Azoulay, Fotograf in der Begleitung Mitterrands, in: „Mitterrand raconté par … .“, in: Le Nouvel Observateur, 5. Jan. 2006. Azoulay berichtet übrigens auch, dass Mitterrand im Helikopter abgeflogen sei, während seine Begleiter in die Präsidenten-Maschine eingestiegen seien.



Das Bezeugen des Präsidenten – die Meisterung seiner selbst395

Er hätte, während Jean-Maurice Ripert Zeuge seiner Haltung war, sich ängstlich oder aufgeregt zeigen, oder gar durchdrehen oder verlangen können, dass der Besuch ob der lebensgefährlichen Situation, in die er sich begeben hatte, abgebrochen werde. Wie normal. Doch nichts dergleichen teilte der französische Präsident seiner Umgebung mit. Vielmehr erkannte jene, nach den Worten Riperts, dies: „François Mitterrand nahm diese außerordentlich gefasste Haltung ein, die man von ihm kennt: das trug zu der Größe der Geste [seines Sarajewo-Besuchs] bei.“6 Einige Tage nach seinem Sarajewo-Besuch, am 28. Juni, telefonierte François Mitterrand spätabends mit Helmut Kohl und schilderte diesem im ersten Teil ihres Gesprächs detailliert seine Eindrücke von der Situation in Sarajewo und die nicht ungefährlichen Umstände der „humanitären Aktion“, zu der er sich aufgemacht hatte.7 Seine Schilderung fiel im kühlen Stil einer militärischen Lagebeschreibung aus, so als hätte Mitterrand sich nicht gerade selbst in der beschriebenen überaus gefahrvollen Situation befunden: „Die Hälfte der Bevölkerung ungefähr ist geflohen, diejenigen, die noch da sind, können nicht aus ihren Kellern und Häusern heraus. Die Stadt wird unablässig beschossen, sagen wir, es vergeht keine Viertelstunde, ohne daß nicht Granaten fallen.“8 Helmut Kohl, so als wäre er von Mitterrands Wagemut beeindruckt, wollte dann wissen, wie denn dieser nach Sarajewo gekommen sei. Und wieder äußerte sich der Präsident in einem durch ein distanziertes Wahrnehmen gekennzeichneten Sprachstil. Präzise – nach seiner Erinnerung, die allerdings von der anderer abwich (s. oben), – gab er die Geschichte des gefährlichen Anflugs wieder, wie das „Bizarre“, so sagte er, der Umstände, unter denen er wieder abgeflogen sei: in einem Flugzeug (einem der von ihm als Präsidenten benützten Flugzeuge), das von serbischen, wahrscheinlich „betrunkenen“ Milizen mit dem von ihnen gefahrenen Lastwagen an einer seiner Tragflächen beschädigt, und durch den Piloten mithilfe von Stücken eines Sitzpolsters und Klebeband – ähnlich dem, so Mitterrand, das man für Fahrräder benützt – geflickt worden war. Der Präsident schaute sich bei seinem Sarajewo-Besuch selber zu, in jener reflexiven und Abstand haltenden Gefassheit, von der er auch im abendlichen Gespräch mit Helmut Kohl nicht abließ, und die Erleben, sprach er mit anderen über dieses, zu einer Form von Analyse machte: „Das [mit der Situation in Sarajewo] ist weniger gefährlich als die Leute sagen, aber mehr als ich es dachte.“9 Ripert, Bericht zum Sarajewo-Besuch Mitterrands, 24. Sept. 1992. Compte-rendu [par B. Stoffaes] de l’entretien téléphonique entre le Président de la République F. Mitterrand et le Chancelier H. Kohl le dimanche 28 juin [1992] à 22.00 h. 8  Ebd. 9  Ebd. 6  Jean-Maurice 7  Vgl.

396

Das Bezeugen des Präsidenten – die Meisterung seiner selbst

Das Zeugnis von André Rousselet Sie kannten sich seit 1954, André Rousselet und François Mitterrand, und waren über Jahrzehnte politisch und persönlich miteinander verbunden, Mitterrand in der Eigenschaft eines politischen Anführers und Inhabers politischer Ämter, Rousselet in der eines politischen Weggefährten, Beraters und Helfers Mitterrands. Als dieser in den 50er Jahren in französischen Regierungen nacheinander das Amt das Innenministers und das des Justizministers innehatte, war Rousselet sein enger Mitarbeiter, zuerst, im Innenministerium, als stellvertretender Leiter und dann, im Justizministerium, als Leiter von Mitterrands Büro. Von 1965 an organisierte Rousselet die Finanzierung von Mitterrands Wahlkampagnen. Nach dessen Einzug in den Élysée im Mai 1981 als neugewählter Präsident Frankreichs nahm Rousselet dort für ein Jahr den Posten des Kabinettschef ein. Er war danach erfolgreich privatwirtschaftlich tätig, und blieb Mitterrands Freund. Dieser bestellte ihn zu seinem Testamentsvollstrecker. Wenige Zeit nach Mitterrands Tod holte Rousselet aus seinen Erinnerungen an seinen langjährigen Freund Stücke hervor, in denen er den einen und den anderen Eindruck eines Charakterzugs von Mitterrand sah. Er war sich nicht gewiss, ob er jeden richtig einschätzte. Bezüglich eines indes zeigte sich Rousselet sehr sicher. Das war der von Mitterrand, Meister seiner selbst: „Unter seinen beträchtlichen geistigen Eigenschaften ragt eine hervor, die er mehr als jeder andere besitzt: seine Selbstbeherrschung. Bei einer spontanen Reaktion, die ihn ankommen kann, zieht ihn niemals irgendeine emotionale Regung mit sich. Das will nicht heißen, daß er keine Gefühle hat, aber er ist überlegen, überlegen, überlegen. Ich habe mit ihm Zerreißproben erlebt; er blieb stets ungerührt. Ich habe ihn niemals gestikulieren gesehen, ich habe an ihm niemals eine Bewegung des Zurückzuckens vor einer Gefahr gesehen.“10 Der Rat des Präsidenten Am 3. Mai 1995 wurde im Élysée, nach der Wahl von Jacques Chirac zum neuen Staatspräsidenten Frankreichs, die letzte Ministerratssitzung abgehalten, der François Mitterrand als Staatspräsident vorstand. Es galt, sich gegenseitig zu verabschieden: die Regierung, die bald nicht mehr existieren wird, von dem Präsidenten; der Präsident von dem Premierminister und seinen Ministern. Edouard Balladur, der Premierminister, hatte zu diesem Anlass nach Erledigung der Tagesordnung gesetzte Worte formuliert. Ihm folgend sprach nun, die Sitzung und damit die gemeinsame Arbeit mit dieser Regie10  André Rousselet, in: Caroline Lang (Hg.), Le Cercle des intimes. Franҫois Mitterrand par ses proches, Boulogne: La Sirène, 1996, S. 49.



Das Bezeugen des Präsidenten – die Meisterung seiner selbst397

rung abschließend, Präsident Mitterrand. Er dankte dem Premierminister wie den Ministern, für ihre höfliche und wohlwollende Umgangsweise, was die tägliche Arbeit miteinander leichter gemacht habe, und holte dann zu einer kleinen Rede aus, in der er Rückblicke auf seine Teilhabe an französischen Regierungen – sie habe im August 1944 begonnen – warf, zusammen mit Erfahrungssätzen, angereichert durch historische Beispiele, zum politischen Leben allgemein, und mit Gedanken zu dem Abschied, den er erlebe, und bei dem er jedem hier nun alles Gute für seine Zukunft wünsche. Es war eine persönliche und offensichtlich spontan gehaltene Rede. Mitterrand sprach, als dächte er, dieser Augenblick des Abschieds sei einer Summe von Weisheiten gleich, und er sollte einige davon ausdrücken. Die Auswahl dessen, was er entsprechend äußerte, erscheint zufällig. Doch es wäre überraschend gewesen, hätte darunter dieser eine Rat gefehlt, den er, und dabei wie zur Bekräftigung auf sich selbst verweisend, den anwesenden Politikern gab: „Man muss eine Distanz zu allem halten. Ich selbst bemühe mich darum. Schauen Sie doch, wie schön es heute ist.“11 Der prince naturel Paule Dayan hat sich sicherlich viel mit ihren Eltern, Irène und Georges Dayan, über François Mitterrand, deren engen Freund, unterhalten. Die Familien Mitterrand und Dayan, so erzählte ihre Mutter bei einem Gespräch mit ihr in ihrer Wohnung in der Rue de Rivoli, hätten miteinander Urlaube verbracht; sie seien „füreinander wichtiger wie die jeweilige eigene Familie gewesen, weil sie nicht nur miteinander persönlich befreundet, sondern auch politisch und beruflich miteinander verbunden waren“; eine Zeitlang seien die Dayans Sonntag für Sonntag bei den Mitterrands in deren Wohnung in der Rue de Bièvre zum Abendessen gewesen.12 Paule Dayan selbst kannte Mitterrand, der bei ihren Eltern aus und ein ging, „seit sie ein Baby war“. Jetzt, im Februar 1993, da sie sich daran bei einem Gespräch in ihrem früheren Büro im Elysée erinnerte,13 war sie in ihren 40er Jahren, und hatte gerade 11  Aufzeichnung

zur Sitzung des Ministerrats vom 3. Mai 1995. mit Irène Dayan am 11. Februar 1993 (Aufzeichnung des Gesprächs im Archiv des Autors). – Mitterrand und Irène Dayan führten über Jahre hinweg, in der Zeit, als Mitterrand kein Regierungsamt innehatte, zusammen eine Anwaltskanzlei. Am Türschild vor der Wohnung von Irène Dayan stand auch: „Dayan, avocat“. Nach der Aussage von Paule Dayan, der Tochter Irène Dayans, habe ihre Mutter die Arbeit Mitterrands in der gemeinsamen Anwaltskanzlei gemacht. Jener habe an einer wirklichen Tätigkeit als Anwalt kein Interesse gehabt. (Gespräch mit Paule Dayan am 8. Februar 1993). 13  Gespräch mit Paule Dayan am 8. Februar 1993 (Aufzeichnung des Gesprächs im Archiv des Autors). 12  Gespräch

398

Das Bezeugen des Präsidenten – die Meisterung seiner selbst

einen hohen Posten in der französischen Justizverwaltung übernommen, nach einer Tätigkeit im Elysée, zu der sie Mitterrand dorthin 1981 geholt hatte, für die Stellung einer Beauftragten für juristische Fragen und die Beziehungen des Präsidialamtes zum Parlament. Ihre Erinnerungen betreffend Mitterrand, in Verbindung mit denen ihrer Eltern, reichten also weit zurück. Wenn sie nun ein Urteil zu der Person Mitterrands formulierte, gründete dieses auf Jahren der Beobachtung und Erfahrung. Und Mitterrand hatte sich den Dayans in seiner engen, in gewisser Weise familiären Beziehung zu ihnen unvermeidlich viel „gezeigt“. Denn wie immer er über dieses „Zeigen“ selber herrschte, Paule Dayan vermochte es natürlich mit der Zeit zu lesen, und sie verstand: hier, da, in diesem, jenem, das ist François Mitterrand. Auf die klassische, hier nun auch gestellte Frage: Wer war er?, wusste sie zu antworten. Aus langer, abgleichender, verschiedenster Erfahrung hatte sich ein menschlicher Charakter heraus­ geschält, der augenscheinlich ganz zu der Person „François Mitterrand“ gehörte. Zum ersten Mal wirklich bewusst, so erklärte Paule Dayan bei unserem Gespräch, nahm sie Mitterrand zur Zeit ihres Abiturs wahr. Begegnungen mit ihm waren häufig; zum einen bei den freundschaftlich-familiären Treffen, und zum anderen zu den Zeiten, als ihr Vater Mitterrand fast täglich sah, und sie bei diesen Besprechungen oft mit anwesend war. Als Mitterrand 1965 bei den Präsidentenwahlen gegen De Gaulle antrat, arbeitete sie bei dessen Wahlkampagne mit; sie tat dies wieder bei den Präsidentenwahlen von 1981. Wichtig im nach hinein erschien Paule Dayan ihre politisch-organisatorische Arbeit für Mitterrand in der Zeit, als dieser, weit entfernt von politischen Ämtern, sich mit einer eigenen politischen Gruppierung, der Convention des Institutions Républicaines, eine politische Zukunft sichern wollte (und dies auch tat). Auf eine einzigartige Weise interessant seien indes die elf Jahre ihrer Tätigkeit als Mitglied des Stabs Mitterrands im Élysée gewesen. Natürlich, sie erfuhr Mitterrand „an der Macht“. Sie sah ihm, dem Präsidenten, mit nur wenig anderen, im kleinen, doch intensiv politischen Kosmos des Élysée, beim „Regieren“ zu: wie er an dieses heranging, es schaffte, zu ihm fähig blieb, es in die nötige Form von Bewegung zu bringen verstand, durch die allein es wirklich geschieht. Die Aufgabe des Regierens ist nicht zuletzt eine Prüfung des Charakters dessen, der regiert. In den Augen Paule Dayans ragte Mitterrand unter anderen in der französischen Regierungswelt, mit denen er verglichen werden konnte, dank seines Charakters weit heraus. Nur ihm attestierte sie, aus ihrer dichten Beobachtung seiner Person heraus, eine Standfestigkeit durch und durch, frei jeder Anfälligkeit für Momente der Schwäche, der Niedergeschlagenheit, des unwilligen Zurückzuckens, wenn es galt, präsent zu sein, sich



Das Bezeugen des Präsidenten – die Meisterung seiner selbst399

einzusetzen. Er besaß einen außerodentlichen „physischen Mut“, hob Paule Dayan hervor, und führte an, was sie selbst beispielsweise gesehen hatte: wie sich Mitterrand im Wahlkampf 1965 bei Demonstrationen auf der Straße den Schlagtruppen der Rechtsextremen entgegengestellt hatte, ganz vorne, an der Spitze ihrer Gruppierung.14 Wer war er? Paule Dayan hatte eine eindeutige Antwort. François Mitterrand sei, so sagte sie, ein „geborener Fürst“ (prince naturel).15

14  Es handelte sich um die Präsidentschaftswahlen 1965, bei denen Mitterrand selber für das Amt des französischen Staatspräsidenten kandidierte. Kandidat auf rechtsextremer Seite war Jean-Louis Tixier-Vignancourt (1907–1989). 15  Gespräch mit Paule Dayan am 8. Februar 1993. – Paulette Decraene, eine der vier Sekretärinnen Mitterrands im Elysée, die auch vorher schon, seit 1954, für ihn gearbeitet hatte, schrieb in ihrem Erinnerungsbuch (Secrétariat Particulier, Paris 2008. S. 209) zu Mitterrand: Er hatte „einen monarchischen Zug, er trug einen Souverän in sich“.

Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens Zwei Gespräche mit François Mitterrand Das politische Denken und das Regieren François Mitterrands – dies zeigen die nachfolgenden Gesprächsaufzeichnungen – können nur mit einem weiten Verständnis von Politik erfasst werden. Seine politischen Entscheidungen und Handlungen vollzogen sich in einem geistigen Raum, der gleichsam architektonisch gegliedert war und durch Bewegungsrythmen strukturiert wurde. Die amorphe Aktualität gewann für ihn Konturen, indem er sie mit historischen Erfahrungen und likerarischen Sinnmustern abglich. Das waren indes keine starren Konturen, für sie kennzeichnend war vielmehr eine r­ uhige Dynamik, ein gelassen wiederholtes Austarieren von Widersprüchen, eine vorsichtige Interaktion mit dem Anderen – handelte es sich um den funktional gegebenen politischen Partner oder einen Gesprächspartner, auf den er sich dialogisch einließ. Zugleich wahrte er seine Distanz, in der sorgsam gepflegten Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers inmitten des politischen Alltagsgeschäfts im Élysée, und mit einer ironischen Grundhaltung gegenüber der Welt, die bis zu ihm vordrang. Die Entstehung und Art der Gespräche Im Oktober 1992 wurde ich im französischen Präsidialamt, dem Élysée, zu Forschungen zugelassen. Über die Motivation dazu im Élysée haben Hubert Védrine, der damalige Generalsekretär des Präsidialamtes, und Jean Musitelli, damals diplomatischer Berater und Pressesprecher Mitterrands, berichtet.1 Ich wollte herausfinden, wie im Zentrum des französischen Regierungswesens regiert wird, und zwar durch eine unmittelbare Einsichtnahme in die Regierungsweise und das Regierungshandeln von Präsident Mitterrand und dessen Regierung. Was ich in Boston verstanden zu haben glaubte, dem Erstveröffentlichung

in diesem Band. Hubert Védrine, „Un professeur allemand à l’Élysée“, in: Politikos – Vom Element des Persönlichen in der Politik. Festschrift für Tilo Schabert zum 65. Geburtstag, Berlin 2008, S. 15–16, und: Jean Musitelli, „Dans l’atelier de la politique mondiale“, in: ebd., S. 17–21. 1  Vgl.

402

Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens

wollte ich in Paris weiter nachgehen.2 Von Oktober 1992 bis April 1995 konnte ich zu dem gewünschten Zweck zahlreiche Forschungsgespräche mit Mitarbeitern Mitterrands im Präsidialamt führen, dabei mit einigen von ihnen häufig und kontinuierlich. Ab Frühjahr 1993 erlaubte man mir zudem, im Élysée in größerem Umfang archivalische Dokumente aus der ganzen Zeit der Präsidentschaft Mitterrands einzusehen und durchzuarbeiten. Zu den Personen im Élysée, die ich öfters sprechen konnte, zählte Anne Lauvergeon, die stellvertretende Generalsekretärin des Präsidialamts. Bei einem der Gespräche bot sie an, sich um einen Gesprächstermin für mich bei dem Präsidenten zu bemühen. So kam mein erstes Gespräch mit François Mitterrand zustande, zu dem mich dieser am 15. Juni 1993 empfing. Für weitere Gespräche mit ihm konnte ich mich danach direkt an sein Sekretariat wenden. Im folgenden werden zwei meiner Gespräche mit François Mitterrand ­dokumentiert, das erste vom 15. Juni 1993 und ein späteres vom 17. März 1994. Zum besseren Verständnis seien einige allgemeine Bemerkungen zu der Art meiner Forschungsgespräche im Élysée und meiner Vorgehensweise auf diese hin vorausgeschickt. Meine erste Aufmerksamkeit während der Feldforschung galt stets dem konkreten Szenario der Macht: ihrer räumlichen Inszenierung und dem damit verbundenen Initiationsritual für diejenigen, die sich ihr nähern. Im Élysée Mitterrands war dieses Ritual von distanzierter Freundlichkeit geprägt. In Bezug auf die Gesprächspartner legte ich mir natürlich jedes Mal im voraus Fragen zurecht und merkte Themen vor – doch nur in meinem Kopf. Denn das Gespräch sollte jeweils tatsächlich ein Gespräch sein, in dem mein Gegenüber ebenso Fäden der Unterredung spinnen konnte wie ich, und sich dabei öffnen konnte: ich wollte ja in die politische Welt im Kopf meines Gegenübers hineinkommen, und so viel wie möglich von dieser wahrnehmen. So blieb es allerdings nicht aus, dass ich oft bis zum Ende einer Unterredung nicht alle beabsichtigten Fragen und vorgemerkten Themen vorbringen konnte. Andererseits brachte es die dialogische Natur des Gesprächs mit sich, dass es unvorhergesehene Wendungen geben konnte. Die neuen Aspekte konnte ich dann sogleich aufgreifen und unter der idealen Bedingung der Präsenz und Gesprächsbereitschaft des Gegenübers weiter verfolgen. Fast jedes Gespräch blieb so auch auf die Zukunft weiterer Gespräche hin offen. Die Grundlage für die hier wiedergegebenen Gespräche mit Mitterrand sind jeweils die Gedächtnisprotokolle, die ich unmittelbar im Anschluss an sie anfertigte.3 Für den Zweck der Veröffentlichung wurden diese Texte hinsichtlich des sprachlichen Stils geglättet und gelegentlich verbessert. Inhaltlich 2  Vgl. 3  Die

den Text „Ein Schwabe im Élysée“ in diesem Buch; S. 379 ff. Protokolle befinden sich im Archiv des Autors.



Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens403

sind sie unverändert. An Stellen, wo es notwendig erschien, wurden – in ­eckigen Klammern – Erläuterungen hinzugefügt. Das Gespräch am 15. Juni 1993 Ich bin für 11 Uhr bestellt. Ich werde zum Vorraum [im 1. Stock des Hauptgebäudes des Palais de l’Élysée] geführt, der vor dem Zimmer von Anne Lauvergeon liegt. Ich setze mich auf einen Stuhl in der Sitzgruppe. Ein Amtsdiener [huissier], der sieht, daß ich nur in die Luft schaue, bietet mir die heutige Ausgabe des „Figaro“ zum Lesen an. Es kommt ein anderer Be­sucher (der später eine Unterredung mit Anne Lauvergeon haben wird). Er blättert in seinen Unterlagen. Der „Figaro“ enthält nicht viel, was mich interessiert. Ich schaue wieder in die Luft, beobachte das Kommen und Gehen der Sekretärinnen und Amtsdiener. Vor dem Zimmer des Präsidenten [links von dem von Anne Lauvergeon], findet eine Ablösung der Republikanischen Garde statt. In der neuen Gruppe ist der eine Gardist, mit dem ich im Februar, als ich auf Jean Musitelli [Pressesprecher von François Mitterrand], wartete, im Gang vor dessen Büro ein längeres Gespräch hatte. Er sieht mich, grüßt mich herzlich, indem er winkt. Später, als ich nach dem Gespräch mit Mitterrand wieder in den Vorraum komme, geben wir uns die Hand und tauschen ein paar Worte aus. Um 11 Uhr 16 werde ich von einem Amtsdiener in das Zimmer des Präsidenten gerufen. Um 11 Uhr  17 beginnt unser Gespräch. Hinter dem Schreibtischsessel von Mitterrand befindet sich ein Kamin, auf dessen Konsole eine Uhr steht. So kann ich die Zeit beachten [die übliche Regel gebietet, daß ich nach 15–20 Minuten meinen Abschied nehme]. Überraschend: ich werde in das Zimmer des Präsidenten durch das Zimmer von Anne Lauvergeon geführt [diese bekommt also fortlaufend mit, wen Mitterrand über diesen Weg – und es ist der normale – in seinem Büro empfängt]. Wie ich hereinkomme, steht Lauvergeon auf und begrüßt mich. Der Amtsdiener leitet mich zur Tür [links am anderen Ende von Lauvergeons Raum] zu Mitterrands Zimmer und weist mich hinein. Ich trete zum Schreibtisch vor, der auf der gegenüberliegenden Seite steht. Mitterrand erhebt sich und geht um den Tisch herum, bis an die vordere Kante, dann wartet er. Wir begrüßen uns, dann bittet er mich, Platz zu nehmen. Er hat nicht meinen Namen genannt und hat auch sonst nichts zur Sache der Unterredung gesagt. Vor dem Schreibtisch stehen zwei Stühle, ich warte, bis sich Mitterrand zuerst gesetzt hat, dann setze ich mich auch. Mitterrand schaut mich schweigend an, die wächserne Maske. Er sieht gut aus, nicht angestrengt, wach, konzentriert. Während der ersten Hälfte unseres Gesprächs bleibt Mitterrand sehr reserviert; er macht nach jeder Frage von

404

Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens

mir erst eine Pause, spricht nicht sofort, und gibt dann, in prägnanten Sätzen, eine kurze Antwort. Er schweift nicht ab, wiederholt sich nicht. Nach der ersten Hälfte des Gesprächs wird er lebhafter, sowohl im Gesichtsausdruck wie in der Sprache. Er redet länger, unterbricht mich auch schon einmal. Das Gespräch wird zum angeregten Dialog. Die Unterredung beginnt, indem mich Mitterrand kurz und abrupt fragt: „Was wünschen Sie (‚Que désirez-vous?‘)“. Eine sehr verwirrende Frage. Denn: Ist nicht klar, warum ich hier bin? [Auf dem Schreibtisch Mitterrands hatte ich beim Hinsetzen das Blatt gesehen, das er von seinem Sekretariat zur Vorstellung meiner Angelegenheit und meiner Person erhalten hatte.] Nach einigen Sekunden des Zögerns antworte ich: „Ich möchte ein Buch schreiben über Ihre Regierungsweise.“ Mitterrand sagt nichts, zuckt nur die Achseln. So kann das nicht weitergehen, denke ich. Ich rede und rede, um das Schweigen zu lösen, erläutere noch einmal mein Projekt. Mitterrand hört aufmerksam zu. Er wendet die ganze Zeit nicht den Blick ab, bleibt mir gegenüber aufmerksam. Seine Körpersprache ist die der Ruhe und Konzentration: aufrecht sitzend, die Hände auf dem Schreibtisch gefaltet, sonst nichts, außer einer seltenen, kleinen Anhebung einer Hand. Ich führe die Stelle aus seinem Interview mit „Libération“ an, wo er seine Politik, sein Politikverständnis mit der Formel von der „Bewegung, die die Linien verschiebt“ (‚le mouvement qui déplace les lignes‘) erklärt. Er stimmt sofort zu, ja, so sehe er die Politik. Aber dieser Satz sei nicht von ihm, vielmehr eine Modifikation eines Satzes von Baudelaire [in den „Fleurs du Mal“]. „Bewegung“ (‚mouvement‘), fügt er hinzu, sei ja schon alleine eine „biologische Tatsache“ (‚fait biologique‘). Organismen, das heiße Bewegung, zum Leben und zum Verfall. Man müsse für das Leben die Dinge immer in Bewegung, „ouvert“ (‚offen‘) halten. Sonst trete sehr schnell eine Sklerose ein. Das gelte vor allem für die Politik. Aber eben auch für alles Leben. Er selber setze sich hier im Élysée mindestens alle zwei Stunden in Bewegung, für einen Spaziergang, und sei er noch so kurz. In seinem Alter – er sei jetzt 76 – sei dies besonders notwendig. Er zeigt auf die Arbeitsmappen, die auf seinem Schreibtisch liegen. Diese habe er selbst aus dem Sekretariat nebenan geholt. Ich führe eine zweite Aussage von ihm an: „Es gibt keine Freiheit ohne eine Organisation dieser Freiheit“ (‚Il n’y a pas de liberté sans une organisation de cette liberté‘). Auch hier stimmt er sofort zu. Ja, das sei seine Auffassung. Und er führt näher aus: die Freiheit des Menschen sei nicht naturgegeben, sie müsse eingerichtet, durch Institutionen begründet und abgesichert werden. Das sei die Seite der „organisation“. Umgekehrt müsse der Mensch für das Aufrechterhalten seiner Freiheit gegenüber diesen Institutionen wieder geschützt werden. Das sei die andere Seite. So ergebe sich eine „dialektische Struktur der Freiheit“ (‚structure dialectique de la liberté‘).



Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens405

Ich sage ihm, wenn man nun die beiden Dinge – „Bewegung“ und „Freiheit/Struktur“ – zusammendenke, ergebe sich ein eigenartiges Prinzip des Regierens: das eines strukturierten Chaos. Er reagiert nicht gleich, und ich führe Näheres aus. Das sei so interessant, weil seine Auffassung von Regieren im Sinne dieses Prinzips ganz parallel zu der von Franklin D. Roosevelt sei. Ob er davon etwas wisse? Seine Antwort: „Das höre ich von Ihnen.“ Er hört mir weiter interessiert zu, wie ich sage, gleiche Parallelen fände man bei Konrad Adenauer und auch in der römischen Republik der Antike. Könne man denn sagen, frage ich nun explizit, ob der Begriff „strukturiertes“ bzw. „kreatives Chaos“ für seine Auffassung von Regieren stehen könne? Seine Antwort ist: „Ja“. Seine Vorstellung von Freiheit sei nicht ganz modern, meine ich, eher klassisch. Das könne schon sein, sagt er, aber er wisse nicht, wie anders man von der Freiheit sprechen könne, als dass sie ihre „Strukturen“ brauche. Ich sage, das sei ähnlich der Freiheitsauffassung von Platon. Da zuckt er etwas zusammen, und sagt: ja, ja, er wolle ja nicht behaupten, dass er hier einen originellen Gedanken habe. Ich sage: Moderne Freiheitsauffassung meine hingegen eine „liberté infinie“, eine „unbegrenzte Freiheit“. Ja, das wisse er, aber diese Idee von Marcuse – er erwähnt den Namen – sei natürlich falsch gewesen. Ich sage noch einmal, daß ich mich besonders für seine Regierungsmethode interessiere. Er weist den Begriff „Methode“ zurück. Eine solche habe er nicht. „Mouvement, oui. mais méthode, non“. Die Art und Weise, wie er die Regierungsgeschäfte erledige, habe er aus Erfahrung gelernt, nicht durch eines oder mehrere Beispiele, oder gar durch Lektüre. Am meisten habe ihm hierzu die „Erfahrung bei der Leitung der Sozialistischen Partei“ (‚l’expérience de diriger le parti socialiste‘) gebracht. Und im übrigen habe er viel auch aus seinen persönlichen Erfahrungen gelernt.4 In seiner Regierungspraxis gebe es „wenige Sitzungen“ (‚peu de réunions‘). Seine Mitarbeiter würden sich allerdings unter sich treffen. Andere Politiker würden mit „réunions“ arbeiten, er nicht. Was er im Verhältnis zu seinen Mitarbeitern, jeweils einzeln, suche – und er lächelt dabei – , sei im Ganzen ein „Filter“ (‚écran‘). Zu seiner Praxis des Regieruns gehöre, daß er viel arbeite, hier im Élysée, täglich bis zu zehn Stunden. Und er zeigt auf die drei grünen Mappen, die auf seinem Schreibtisch liegen. Er beschäftige sich mit „allem“ (‚tout‘), er lese „notes“ [schriftliche Vorlagen]. „Um zu kontrollieren“ (‚pour contrôler‘). Natürlich kümmere er sich nicht um „une procédure dans une petite commune quelque part“

4  Vgl. Mitterrands autobiographische Äußerungen in einem Gespräch mit Roger Priouret: „Face à Face avec François Mitterrand“, in: L’Expansion, Juillet/Août 1972, S. 117–123.

406

Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens

(‚einen Vorgang in einer kleinen Gemeinde irgendwo‘). „Je signe tout“ (‚Ich unterzeichne alles‘). Er habe keinen Unterschriftsstempel. Auf die Frage, wie ich vorgehen solle, um ihn und seine Regierungspraxis zu verstehen, lacht er, und sagt: „Suivez votre méthode“ (‚Folgen Sie Ihrer Methode‘). „Faites un travail scientifique“ (‚Machen Sie eine wissenschaft­ liche Arbeit‘). Mehr will er nicht sagen. Ich frage, was er von den Büchern denkt, die über ihn geschrieben worden sind. Sie seien samt und sonders, sagt er, „feindselig“ (‚hostile‘). Er lacht, wie ich sage, ich hätte wohl alles, was über ihn geschrieben worden sei, gelesen. Das ist ja auch Ihre „Arbeit“ (‚métier‘), sagt er, unbeeindruckt. Ich spreche ihn auf die Arbeiten von Samy Cohen an.5 Da sagt er ernst, lakonisch: in seinen Arbeiten über ihn habe Samy Cohen in Wirklichkeit über Samy Cohen geschrieben. Das sei alles in „Voreingenommenheit“ (‚parti pris‘) verfaßt. Die zwei Bände von Pierre Favier und Michel Martin-Roland [„La Décennie ­Mitterrand“, Bd. 1: „Les ruptures“, 1990, Bd. 2: „Les épreuves“, 1991] seien „eher historisch“ angelegt, und „keine Analyse“ (‚plutôt historique, pas une analyse‘). Sie enthielten auch „Fehler“ (‚erreurs‘). Beobachtung: Mitterrand macht jeden Wechsel des Themas sofort mit, mit gleicher Aufmerksamkeit und Konzentration geht er auf das weitere, neu angschnittene Thema ein. Ja, so beantwortet er meine entsprechende Frage, eine Kontrolle über den „Staatsapparat“ (‚appareil de l’État‘) erlange man am besten über Personen. Das erfordere eine „Politik durch Personen“ (‚politique des personnes‘). Aber, so fügt er sofort hinzu, lächelnd: „Leute sind schnell verbraucht“ (‚Les gens s’usent rapidement‘). Man brauche immer wieder neue Personen zu einer machtgemäßen Regierung, zur „Bewegung“. Ich möchte mehr von ihm zum Verhältnis von Architektur und Demokratie wissen. Er begreift sofort die Spannung, auf die ich anspiele, unterbricht mich und sagt, natürlich sei es das Problem der Demokratie, architektonisch gesprochen, daß in ihr immer – prinzipiell – eine „Vielzahl von Stilvorstellungen“ (‚pluralité des goûts‘) herrsche. Man könne nicht handeln wie Ludwig XIV und Gabriel [Jacques V. Gabriel, bedeutender französischer Architekt unter Ludwig XIV und Ludwig XV, seit 1735 Chefarchitekt des Königs]: „ein Land, ein Stil“ (‚un pays, un style‘). Dennoch sei eine gewisse „Einheit“ (‚unité‘) der Stile schon möglich, aber nur durch einen „Kampf“ (‚lutte‘). [Öffentliche] Architektur in der Demokratie durchzusetzen, das sei ein „Kampf“ (‚lutte‘). Vor allem haushaltsrechtlich, wegen dem immer einjähri5  Es handelt sich um folgende Arbeiten Samy Cohens: Les conseillers du Président, Paris 1980, und La monarchie nucléaire, Paris 1986.



Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens407

gen Budgetrythmus. Dann gebe es noch jedes Mal das Problem der Jury, vor allem wenn diese international besetzt sei. Aber das Wichtigste wäre immer, die nötigen Mittel zu finden, um die Finanzierung von Architekturprojekten zu sichern. Mitterrand zeigt auf das Modell der „Très Grande Bibliothèque“ links in der Ecke hinter mir [die„TGB“, ein neues Gebäude für die „Bibliothèque Nationale de France“, war eines der von Mitterrand in seiner Präsidentschaft persönlich betriebenen Architekturprojekte, sie wurde 1996 fertiggestellt und trägt heute den Namen „Bibliothèque François Mitterrand“] Ein für ihn wichtiges Detail hier sei, so erklärt Mitterrand, daß der Garten zwischen den vier Gebäudeteilen der neuen Bibliothek so groß wie der Innenhof vom ­Palais Royal sein werde. Er habe das Projekt der „Très Grande Bibliothèque“ so weit vorangetrieben, dass der neue Premierminister [Édouard Balladur, seit 29. März 1993 Chef einer dem sozialistischen Staatspräsidenten in Opposition gegenüberstehenden konservativen Regierung] daran nichts Grundsätzliches mehr ändern könne. Die Ästhetik von Architektur sei ihm ein großes Anliegen. Ich berichte ihm, dass mir Irène Dayan [die Witwe von Mitterrands langjährigem, 1979 verstorbenen Freundes und politischen Weggefährten Georges Dayan] gesagt hätte,6 er sei, im Unterschied zu allen anderen Politikern, die sie kenne und erlebt habe, nie in einer schweren Krise, in einem Augenblick äußerster Anspannung, der scheinbar überwältigenden Krise, aus den Fugen geraten und zusammengebrochen [sie verwandte in diesem Zusammenhang das sehr lautmalerische Wort craquer.] Sie kenne eben nur einen, bei dem dies nie geschehen sei: François Mitterrand. Er akzeptiert ohne weiteres die von mir anschließend gestellte, sehr persönliche Frage, zu der ich beinahe nicht den Mut aufbringe: „Was ist es, das Sie vor dem Zusammenbruch schützt?“ Zuerst wieder die sprachliche Scheu, die Sekunden schweigender Zurückhaltung, jene Gesprächsstille, in die nicht einzubrechen schwer auszuhalten und die doch das war, wodurch sich das Gespräch fortsetzte. Ein leises ironisches Lächeln umzuckt den Mund. Und schließlich die Antwort: „Ich halte Distanz.“ Nach ein paar weiteren Sekunden fügt er lakonisch hinzu: „Hier gibt es jeden Tag eine Krise“. Inzwischen sind 44 Minuten vergangen – nach 30 Minuten hatte ich schon gefragt, ob ich noch weiterfragen dürfte, ein bejahendes Nicken – und ich sage wieder: ich müsse jetzt wohl aufhören. Bislang gab es kein Zeichen von Ungeduld. Im Gegenteil. Das Gespräch wurde immer angeregter. Jetzt sagt 6  Gespräch mit Irène Dayan am 11. Febr. 1993 (Aufzeichnung des Gesprächs im Archiv des Autors).

408

Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens

Mitterrand: Noch zwei Minuten können wir miteinander reden, dann ruft mich das Protokoll. Es wirkt so, als ob er sich entschuldigen wolle … Da wage ich die letzte Frage: Wo sind Sie, wenn Sie Distanz halten, sozusagen „weg“ sind? Wieder akzeptiert Mitterrand auch diese Frage. Und dieses Mal lässt die Antwort nicht auf sich warten, und er lächelt auch nicht mehr. Er sagt: „Ich denke nach, ich lese, ich gehe spazieren.“ (‚Je réfléchis, je lis, je me promène‘).7 Im übrigen seien auch die „Beziehungen mit Freunden“ (‚les relations avec des amis‘) sehr wichtig. Und er schaut mir ernstamüsiert in die Augen. Ich erhebe mich, bedanke mich. Er kommt hinter dem Tisch hervor, gibt mir die Hand, und sagt: „Kommen Sie wieder“ (‚Revenez me voir‘). Dann begleitet er mich zur Tür, und sagt noch fürsorglich: „Ein Amtsdiener wird Sie nach draußen bringen“. Ich durchquere wieder das Zimmer von Anne Lauvergeon, sie und ihr anwesender Besucher erheben sich, ich grüße und gehe vorbei, zurück zur „loge“, dem Eingang zum Élysée in der Rue du Faubourg St. Honoré. Das Gespräch am 17. März 1994 Ich bin für 18 Uhr bestellt. Doch ich rufe am Tag vorher an und erfahre, daß das Gespräch auf 18 Uhr 30 verlegt sei. Ich erscheine pünktlich, durchlaufe das übliche Zeremoniell, werde zum Vorraum im 1. Stock geführt, es dauert aber bis 18 Uhr 45, bis ein großer, schlanker in einen grauen Anzug gekleideter Mann (der vorher schon mehrmals durch die Tür zu den Zimmern Lauvergeon-Mitterrand ein- und ausgegangen war) mich auffordert, einzutreten. Einmal kam, während ich wartete, ein livrierter Diener mit weißen Handschuhen, er trug ein Tablett mit einem Glas Orangensaft. Er geht zu Mitterrand hinein. Nach einiger Zeit holt er das nun leere Glas wieder heraus. Ansonsten ein lautloses Kommen und Gehen von einigen Personen. Im übrigen: Stille. Lauvergeon ist dieses Mal nicht in ihrem Raum. In der Tür zum Raum von Mitterrand bleibt der in Grau gekleidete Mann stehen und sagt: „Monsieur Tilo Schabert“. Mitterrand sitzt hinter seinem Schreibtisch, er erhebt sich, ich gehe zum Schreibtisch hin, er sagt: Setzen Sie sich doch. Und setzt sich selbst auch schon wieder. Ich setze mich meinerseits. Mitterrand fährt fort, Papiere zu beschreiben, viele solcher Papiere liegen ungeordnet auf dem Schreibtisch. 7  Zu Mitterrand, dem Leser von Literatur und Freund von Schriftstellern, siehe die Ausgabe (Nr. 14) zu diesem Thema von La Lettre de l’Institut François Mitterrand, Paris, Dezember 2005, 12 S.



Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens409

Ich bin davon überrascht, wie gealtert Mitterrand aussieht. Er lehnt sich während des Gesprächs in den Stuhlrücken, sodass Brust und Bauch herauskommen (bei offensichtlich frisch gebügeltem Hemd). Er hat Gedächtnisschwierigkeiten. Der Name des „Fort Vauban“ in Fouras, am Meeresufer südlich von La Rochelle, das er, sagt er, in seiner Jugend viel besucht habe, fällt ihm trotz eines einminütigen Nachdenkens nicht ein. Ich stelle ihm zuerst die Frage, die der Journalist Michel Schifres eines Tages Valéry Giscard d’Estaing, dem damals amtierenden französischen Präsidenten, stellte: Wie halten Sie Kontakt zur gesellschaftlichen Realität? Er nickt nur wieder, wie ich ihm von der Antwort Giscard d’Estaings erzähle („Nach ihren Einkaufsgängen – „courses“ – berichtet mir meine Frau immer wieder, was sie dabei gesehen hat. So bleibe ich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Kontakt.“) Und fährt fort, zu schreiben. Ja, es stimme, was die Leute mir von ihm gesagt hätten, so antwortet er schließlich auf das, was ich sage. Er treffe sich mit vielen Leuten, er gehe viel in der Stadt spazieren, aber das tue er auch der körperlichen Bewegung wegen, bei seinem Alter, und er lese doch auch viel. So habe er schon, und er lächelt ironisch-missfällig, seinen Kontakt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Er wisse schon, was da vor sich gehe. Ich frage ihn zu seinem Verhältnis zu Helmut Kohl. Das sei doch einzigartig, oder? Dazu sagt er weder Ja noch Nein. Er relativiert: Sicher, Kohl und er seien Freunde, aber in diesem Bereich [der Außenpolitik] habe er auch andere gleich gute Freunde, wie Felipe González oder Mário Soares. Den letzteren besuche er jedes Jahr in dessen Ferienwohnung. Ich zitiere die Aussage von Helmut Kohl, er sei der letzte Bundeskanzler Deutschlands, der ganz selbstverständlich pro-westlich eingestellt sei. Er erwidert: Die hat mir gegenüber schon Willy Brandt gemacht. Was die Frage des zukünftigen Sitzes der Europäischen Zentralbank anbelange, so sei er mit seiner Ansicht, das könne doch durchaus Frankfurt sein, innerhalb der französischen Regierung [der in Opposition zu ihm stehenden] „isoliert“ (‚isolé‘) gewesen. Diese sei davon nicht „begeistert“ (‚chaleureux‘) gewesen. Kohl habe ihm aber gesagt, dass für ihn wegen der öffentlichen Meinung in Deutschland nur Frankfurt in Frage komme. Das habe er akzeptiert. Dafür habe Kohl ihm bei Straßburg [Mitterrand spielt auf das Edinburgh-Abkommen vom Dezember 1992 an, durch das Straßburg als Sitz des Europa-Parlaments bestätigt wurde] geholfen. Mitterrand sagt, er habe dann bei den Diskussionen innerhalb der französischen Regierung so argumentiert: Wenn man Deutschland als das Land bestimme, in dem die Europäische Zentralbank ihren Sitz haben solle, dann müsse man den Deutschen auch die Wahl für den Ort dieses Sitzes überlassen.

410

Ein architektonisch gegliederter Raum des Denkens und Regierens

Auf die Frage, ob er „Befürchtungen“ bezüglich Deutschland habe, sagt er: Nein. Es ginge doch allein um „Kohl oder Scharping“ [im Oktober 1994 werden Wahlen zum Bundestag stattfinden, und daran denkt Mitterrand], und da sei nichts zu befürchten. Er habe auch schon Scharping empfangen. Deutschland, so fährt er fort, habe nach dem Krieg wirtschaftlich großen Erfolg gehabt, aber seine Diplomatie [„Diplomatie“ steht hier für „Außen­ politik“] habe danieder gelegen. Jetzt, nach seiner Wiedervereinigung, trete Deutschland wieder in die „Diplomatie“ als wirklicher Akteur zurück. Er versteht mich nicht recht, wie ich meine These erwähne, dass zwischen den immer enger verbundenen europäischen Staaten die „Außenpolitik“ eigentlich zu einer „Innenpolitik“ geworden sei. Er sagt: Ja, sicher, man arbeite sehr eng zusammen, aber dabei blieben die französischen Interessen die französischen, und die deutschen Interessen die deutschen. Er sagt das sehr ernst und bestimmt. Wir fangen an, über Architektur zu reden, und er will nicht mehr aufhören. Er zählt sämtliche großen öffentlichen Architekturprojekte – die „grands travaux“ – auf, die derzeit in Paris unternommen werden. Sie sind ihm ganz präsent. Er verweist auch auf seine [!] Projekte in der Provinz, in Toulouse, in Lyon, in Angoulême (dort ein „Musée pour les bandes déssinées“). Die würden in Paris zu sehr übersehen. Er habe keine „Leitidee“ (‚idée directrice‘) für seine Architekturprojekte, so etwas gebe es heute nicht. Was es gebe, sei ein „Epochenstil“ (‚style de l’époque‘), gewisse allgemeine Elemente von Architektur. Daran halte er sich. Es sei ein Glücksfall, dass er nun bald 14 Jahre im Amt des Staatspräsidenten sei. So konnte er seine Architekturprojekte über längere Zeit im beständigen Kampf um finanzielle Mittel vorantreiben. Versailles habe heute doch so viele Besucher. Ludwig XIV. habe man damals, als er seine Bauten schaffen ließ, Verschwendung vorgeworfen. Dabei habe sich die Investition längst gelohnt. Ich möchte wissen, was er zu der Lehre sagt, wonach diejenigen gut regieren würden, die man dazu gewissermaßen zwingen müsste, und nicht jene, die sich danach drängten. Das sei sehr idealistisch, erwidert er. Wir schneiden das Thema „Wahlkämpfe“ an. Für einen Wahlkampf in Frankreich, sagt er, müsse man sich in die Berichte der Provinzpresse vertiefen. Die Pariser Journalisten würden das nicht tun, und entsprechend nichts wissen. Bei einem Wahlkampf handele es sich um eine Art von „Alchemie“. Ja, so sei es, wie ich zurückfrage. Es handele sich um Alchemie. Er zeigt deutlich mit einem Seufzer das Ende des Gesprächs an. Es ist 19 Uhr 20. Er erhebt sich und begleitet mich zur Tür. Er verabschiedet sich mit einem „Bis später“ (‚À plus tard‘). Ich gehe den üblichen Weg hinaus: durch das Zimmer von Anne Lauvergeon. Diese sitzt im Licht einer kleine Lampe an ihrem Schreibtisch. Sie erhebt sich und gibt mir die Hand.

VII. Begegnungen und Bilder

Auf dem Athos strahlt eure Zivilisation! Im Untergrund lebendige Geschichte – ein Gespräch in Thessaloniki über Byzanz und Maastrichts bürokratische Kreuzfahrer Das Byzantinische Reich lebt. Wir sitzen in einem volkstümlichen Restaurant, bei einem griechischen „Abendessen“ kurz vor Mitternacht, Griechen und Deutsche, nach einem Vortragsabend, den das Goethe-Institut in Thessaloniki veranstaltet hat. Einer der Griechen, klug, gebildet, ein makelloses Deutsch sprechend, hat das Wort ergriffen. Er gibt unserem Gespräch eine aufregende Wendung. Es war zuvor schon spannend genug, waren wir doch dabei, über Griechenlands Verhältnis zur Türkei und also über die Gestalt von Europa in der Welt des östlichen Mittelmeers zu sprechen. Und nun das elektrisierende Wort: „Die Byzantinische Partei.“ Was heißt das? Eine byzantinische Partei im heutigen Griechenland? Unter Griechen weiß es jeder, und im westlichen Europa der lateinischen Christenheit hat man es auch nicht ganz vergessen: Das Byzantinische Reich ist vor fünfeinhalb Jahrhunderten, am 29. Mai 1453, untergegangen, nachdem die Hauptstadt Byzanz (das oströmische Konstantinopel und heutige Istanbul) unter dem Ansturm der Osmanen gefallen war. Was für eine seltsame Vorstellung! Eine Renaissance des Byzantinischen? Soll sich etwa von Griechenland aus zum Bosporus hin, über die Ägäis hinweg, in den Süden des Balkans hinein eine Zivilisation ausbreiten, die wieder unter dem Zeichen des doppelköpfigen byzantinischen Reichsadlers steht? Am Nachmittag, bei einem Besuch byzantinischer Kirchen in Thessaloniki, war es mir allerdings auch aufgefallen. Nicht nur, daß vor jeder die Nationalflagge Griechenlands und die Flagge mit dem byzantinischen Reichsadler wehte; an den Mauern waren auch Plakate angeschlagen, Proklamationen, aus denen ein zivilisatorisches Bewußtsein sprach, das niemand sonst zwischen südlichem Balkan und Zypern, Korfu und Kleinasien so haben kann: Das Erbe Ostroms macht stolz. Noch war ich mehr erstaunt als überzeugt. Aber der griechische Freund bekräftigte, was er sagte, indem er über die Verbreitung der „Byzantinischen Partei“ in der griechischen Gesellschaft sprach. Sie ginge quer durch alle sozialen Schichten, die Berufe und die Generationen, die politischen ParErstdruck

in: Süddeutsche Zeitung (Feuilleton-Beilage), Nr. 89, 18./19. April 1998.

414

Auf dem Athos strahlt eure Zivilisation!

teien. Auf diese Weise hätte sie etwas Unsichtbares an sich. Aber Zeichen ihrer Existenz gebe es andererseits genug: die Bücher und die Zeitungsartikel, die dem Ideengut der Partei Gestalt verliehen, die Menschen, die man kenne und die jenem Ideengut anhingen, die Wissenschaftler und Intellek­ tuellen, die sich in ihrem Denken und ihren Schriften aufgemacht hätten zur Rückkehr nach Byzanz. Ja, er schien mir keineswegs zu phantasieren, der Sprecher am Tisch, wenn ich zurückdachte an einen bestimmten Eindruck gestern im Byzantinischen Museum der Stadt. Dort war die Ausstellung über die Kunstschätze vom Berg Athos zu sehen. Über sie ist auch in Deutschland ausführlich berichtet worden. Aber es war im Byzantinischen Museum noch anderes wahrzunehmen. Eine kulturelle Identifikation mit der griechisch-byzantinischen Zivilisation, die in den Klöstern des Berges Athos – 40 zur klassischen Zeit und heute noch 22 – auch nach dem Niedergang des Byzantinischen Reichs in all den Jahrhunderten des Exils der Griechen im eigenen Land, unter der Fremdherrschaft der Osmanen, weiterlebte. Anders konnten die Erläuterungen auf den Tafeln neben den Exponaten nicht verstanden werden, sie drückten das Bewußtsein einer zivilisatorischen Sendung aus. Und die sieben-, achtjährigen Kinder, die en masse durch die Ausstellung geschleust wurden, hörten von ihren Lehrerinnen eben dies: Auf dem Athos strahlt eure Zivilisation! Die Regie des Goethe-Instituts hatte es so eingerichtet, daß zu den Gesprächen in diesen Tagen auch einer der führenden Köpfe der „Byzantinischen Partei“ stieß. Er ist Professor der Philosophie in Athen. Vielsprachig, der Inbegriff des europäischen Gelehrten, der in mehreren Kulturen zu Hause ist. Er lebt in den Geistestraditionen Europas, vor allem auch denen der lateinisch-europäischen Welt. Dort hat er akademische Grade erworben, in Deutschland, in Frankreich. Doch er ist nicht Europäer. Er ist Byzantiner. Wir sprechen miteinander über religiöse Dimensionen der Politik. Er weist mich sogleich auf etwas hin: Am Anfang der griechischen Verfassung werde für die Gestalt menschlicher Gesellschaft auf ein ganz bestimmtes Modell Bezug genommen. Das sei die Gemeinschaft von Gott Vater, Gott Sohn und Heiligem Geist in der Dreifaltigkeit. Ob die uns regierenden Fürsten des Maastrichter Vertrags davon etwas wissen? Von dem spirituellen Hunger Europas? Von den geistig-politischen Kräften, die Ausdruck in anderen Räumen suchen als denen der Europäischen Union? Ob es die Fürsten der Europäischen Union interessiert: Daß sich nach der Auflösung des Sowjetischen Imperiums wieder die Räume des Byzantinischen Reichs geöffnet haben, weit in den Balkan hinein? Daß zwischen der „europäischen Partei“ in der Türkei und der „byzantinischen“ in Griechenland eine eigenartige Gemeinsamkeit der Interessen denkbar ist: Drängen wir gemeinsam die osmanischen Fundamentalisten bis nach Ankara



Auf dem Athos strahlt eure Zivilisation!415

und die bürokratischen Kreuzfahrer aus Brüssel zur Adria zurück, und wir bestimmen selbst über unsere Region? Weiß man es: Daß das Europa von Maastricht keineswegs ohne Konkurrenz ist? Daß neben ihm andere Visionen von Zivilisationen in den Räumen des europäischen Kontinents wirksam sind, die nur scheinbar historisch vergangen, vielmehr immer noch oder wieder geschichtsmächtig sind: der skandinavische Norden, der Raum um die Ostsee, die Welt der Slawen (der Orthodoxie), die Romania, die Räume eines ausstrahlenden Deutschlands, Byzanz und, natürlich, Britannien? Man muß nur zuhören, wie hier bei diesem mitternächtlichen Mahl in Thessaloniki – und man lernt nicht aus. Ein anderer Tischnachbar erzählt, was mit dem Archiv des Ökumenischen Patriarchen in Istanbul, der Repräsentationsfigur aller orthodoxen Christen, geschieht. Es wird nicht in der türkischen Stadt am Bosporus aufbewahrt. Oh, nein. Es gibt einen weit passenderen Ort. Nämlich die Theologische Fakultät der Universität von Thessaloniki. Das Byzantinische Reich lebt. Byzanz ist vor langem gefallen, aber es hat sein zeitgenössisches Hinterland. Eine moderne Großstadt. Hier, so mag man denken, nimmt das Patriarchen-Archiv eine ganz andere Bedeutung an als im muslimischen Istanbul. Dort wäre es wahrhaft bloßes Gedächtnis. Doch hier ist es dies und weitaus mehr – das Gedächtnis für eine byzantinische Zukunft.

Eine späte und nun lange Freundschaft Ich glaube, er hätte nichts dagegen gehabt, daß ich es mir jetzt erlaube, dazu überzugehen, ihn als einen Freund zu bezeichnen. Ich habe Wolfgang Bauer als einen Partner im Gespräch erlebt, der mich allein schon durch seine Redeweise fesselte. Ich kannte – und kenne – sie nur durch ihn, diese Mischung von Scheu und von Geradheit im Gespräch, von Umwegen durch Bildersprache, Geschichten und Anspielungen und von gezielten, der Klarheit nicht mangelnden Aussagen. Dazu die Ironie, die befreiende, für ihn und für andere; das Lachen, das herzhafte; die Augen, die vor Vergnügen auffunkelten, wenn in der Unterredung souveräne Geistigkeit und scharfe Intellektualität sich miteinander paarten. Dieses besondere Auftreten von Wolfgang Bauer im Gespräch fesselte mich und nahm mich für ihn ein, gleich bei unserer ersten Begegnung. Als so besonders fiel es mir auch danach vielleicht deshalb auf, weil zwischen unseren Unterredungen zum einen meistens lange Pausen lagen (und ich dann immer wieder neu davon fasziniert sein konnte), und diese Unterredungen zum anderen, wenn sie stattfanden, sich unter Umständen ereigneten, die in gewisser Weise glückliche waren. Diese Empfindung, daß uns glückliche Umstände einander näher gebracht hatten, sprach er selber aus, bei unserem letzten und langen Gespräch, das wir am 23. November 1996 miteinander am Telefon führten. Es galt dem Abschied, das war klar Wolfgang Bauers Wunsch, doch in diesem Gespräch begann auch etwas, das wir in unseren Worten über das Telefon feierten: Eine späte und nun lange Freundschaft. In seiner besonderen Art, mit der er mir in feinfühlig gesetzten Sätzen deutlich sagte, was er mir in dem Übergang, den wir vollzogen, sagen wollte, übergab mir Wolfgang Bauer die Erinnerung, in der wir uns finden und miteinander verbunden bleiben würden. Das war seine Erinnerung an die beiden Eranos-Tagungen, an denen er teilgenommen hatte, die von 1992 zum Thema Wanderungen und die von 1995 zum Thema Die Wahrheit der Träume. Diese Tagungen, so sagte er mir, seien für ihn außerordentlich wichtig, ja Höhepunkte in seinem wissenschaftlichen Leben gewesen. Er habe bei Eranos plötzlich gemerkt, daß er nicht allein auf weiter Flur stünde und daß es einen Ort der Orientierung gebe. Er hätte sich inmitten der Eranos-Gemeinschaft rundum wohl gefühlt. Denn das sei doch eine einzigartige Sache, als Redner die Zeit eines ganzen Tages für  Erstdruck in: Li-yun Bauer-Hsieh (Hrsg.), Facies·Facetten. In memoriam Wolfgang Bauer, Taipei 2000, S. 84–86.

418

Eine späte und nun lange Freundschaft

seinen Vortrag und die sich anschließenden Gespräche und dazuhin alle Freiheiten für die Ausfaltung seines Themas zu haben. Wie habe er sich darüber gefreut, bei seinen Eranos-Vorträgen nach Herzenslust ausholen zu können … Eranos begeisterte ihn. Und er leitete daraus auch für sich selber die Aufgabe ab, für die weitere Existenz von Eranos mit Sorge zu tragen. Wie er mir dies sagte, bei der Tagung im August 1995, spann er ein Band, das Menschen wie kein anderes zusammenbringt. Es ist das Band der gemeinsamen schöpferischen Anstrengung. Wissenschaftler haben keine natürliche Neigung dazu, dieses Band  zu knüpfen; sie sind dafür gewöhnlich zu sehr auf das Hervorbringen und das Durchsetzen ihres Werkes konzentriert, für dieses gewissermaßen ‚egoistisch‘. Und müssen es wohl so sein. Es bedarf denn einer zusätzlichen persönlichen Qualität (manche würden sagen: Statur), über die Selbstbezogenheit des Wissenschaftlers hinaus ein Engagement einzugehen, das schöpferisch-wissenschaftlich ist und sich auf andere richtet: Auf ein Denken in Gemeinsamkeit, auf ein Denken als Fest. Mich begeisterte, daß Wolfgang Bauer nun auch so begeistert von der Eranos-Idee war. Im Februar 1996 trafen wir uns in München-Schwabing in einem von ihm ausgewählten chinesischen Restaurant, zu einem guten Abendessen und einer langen Unterredung. Wir faßten Pläne. Er wußte zu dieser Zeit schon von seiner Krankheit, sagte es mir aber nicht. Er hätte damals noch gehofft, so erklärte er mir dann im November, daß jene sich bezähmen ließe. Seine Begeisterung für Eranos hielt dennoch an, als seinen letzten Text arbeitete er seinen Eranos-Vortrag 1995 zum Thema der Träume aus, der unter dem Titel „Dunkler Raum unter den Dächern. Dimensionen einer gegenwartsfernen Welt im Reich der Mitte“ im Frühjahr 1997 im Eranos-Band Die Wahrheit der Träume erschien. Wir hatten zum Thema der Träume schon vor der Tagung 1995 zweimal miteinander ausführlich geredet, und taten dies dann noch einmal, als Wolfgang Bauer, nun mit der kräfteverzehrenden Krankheit ringend, an der Ausarbeitung seines Vortrags saß. Er wollte mit mir durchsprechen, wie man ‚Träume‘ in der chinesischen Kultur thematisch fassen könnte. Denn ich wollte ein Thema, in dem natürlich Träume vorkamen, und er wiederum erklärte mir, daß das für den chinesischen Fall keineswegs so einfach sei. In Europa, zum Beispiel, verwiese man die Träume bekanntlich in die Tiefe, in China hingegen plaziere man sie ‚unter das Dach‘. Wir vergnügten uns geistig, bei diesen Unterredungen, in denen Wolfgang Bauer mir die Rolle einer Art von heuristischem Ignoramus zuwies, durch den er zu seiner Rolle eines Interpreten von ‚Träumen‘ in China fand. Wir sprachen nicht von gegenseitigem Vertrauen, es stellte sich zwischen uns von selber ein. Und es faltete sich eine Freiheit in der gegenseitigen Unterredung aus, die zuletzt, vor der Pforte des Todes, das ganz Unverfälschte ermöglichte. Wolf-



Eine späte und nun lange Freundschaft419

gang Bauer sagte mir noch zwei Dinge. Uns ginge es ja beiden um das philosophische Leben. Dann stimmten wir auch darin überein, daß er das, was sich für ihn abzeichne, philosophisch zu nehmen habe. Er sei neugierig darauf, was da nun für ihn komme. So gab er mir ein Wort des Abschieds, das ein Wort der bleibenden Verständigung war. In dem Wundern, dem philosophischen, das, weil es ein Fragen ins Unendliche ist, alle Grenzen übersteigt. Und dann, so sagte Wolfgang Bauer ferner, müsse es mit Eranos weitergehen. Mit dieser besonderen Art von Wissenschaft. Das sei auch für Europa wichtig. Ich mochte nicht widersprechen, er hätte es auch nicht zugelassen, bei diesen Sätzen, die er aussprach wie ein Vermächtnis, und denen er selber noch anfügte: ‚Sie dürfen daran nicht zweifeln.‘ In dem Gebäude auf dem Monte Verità in Ascona, in dem die Eranos-­ Tagungen stattfinden, ist einer der größeren Räume als Sala Eranos bestimmt. Darin sind an den Wänden Porträts einzelner Eranos-Rednerinnen und -Redner angebracht. Eines davon zeigt Wolfgang Bauer, am Rednerpult, bei seinem Vortrag 1992. Am Beginn einer späten, aber nun langen Freundschaft.

Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte Zu den Erinnerungen von Helmut Kohl Macht unterwirft Mächtige ihrer Prüfung Was geschieht mit Menschen, die Macht an sich ziehen und sie für eine Zeit bei sich haben? Sie werden einer Prüfung unterworfen, die der Natur ihres Charakters gilt. Die Prüfende ist die Macht, die bei ihnen ist, und sie ist dies in einer zweifachen Weise. Sie ist zwar ihre Wirkmacht auf andere hin, aber auch eine Wirkmacht auf sie selber. Was macht ihre Macht mit ihnen? Wer zeigt sich unter deren Wirkung? Jemand, der sich gleich bleibt? Der zusehends anders wird? Und wenn, wie anders dann? Ein Charakter, der nun erst zum Vorschein kommt? Oder unter der Wirkung der Macht sich so oder so formt? Der prüfenden Wirkung von Macht kann niemand entweichen. Menschen mit Macht sind nie mit sich selbst allein, auch wenn kein Mensch bei ihnen ist. Mit ihnen ist stets ihre Macht, wie eine Andere ihrer selbst, ihre zweite Person. Diese, eine außerordentliche Person, will sie gänzlich beanspruchen, von ihnen außer ihr nichts anderes lassen. Sie hat dazu auch die Kraft ihrer gewaltigen Anziehung. Denn sie ist eine immer verführerische, indem sie verheißt, daß die Möglichkeiten, sie zu genießen, unerschöpflich sind; eine nicht loslassend lockende, indem sie gänzlich unberechenbar darin ist, wie und wann sie ihre Gunst erteilt; eine eifersüchtig gebietende, indem sie sich umgehend entfernt, wird ihr nicht ständig alle Aufmerksamkeit geschenkt; eine anhaltend aufstachelnde, indem sie nie wirklich etwas dazu sagt, wozu nur von ihr etwas zu erfahren wäre: Ist sie mir eigen? Was noch muß ich für sie tun, damit sie mir weiter bleibt? Ist sie auch dafür entsprechend beschaffen, daß sie, diese außerordentliche Person, es sein wird, an die man sich erinnert, wenn man meiner in der Zukunft gedenkt? Die Macht, mit der sich Menschen an der Macht sehen, entfaltet auf diese die Wirkung einer Blendung. Sie, ihre zweite Person, kann sie so für sich einnehmen, daß es schließlich für sie keinen Unterschied mehr gibt zwischen der Macht, die bei ihnen ist, und ihnen selbst. Sie halten sich dann selbst für  Erstdruck unter dem Titel „Prüfung der Macht. Zu den ‚Erinnerungen‘ von Helmut Kohl“, in: Merkur 60 (2006), Heft 3, S. 265–270. Hier ungekürzt.

422

Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte

die Macht-Person, in der sie sich schauen, sind von „sich“ ganz und gar eingenommen, so als wäre das Gesicht, das ihnen die Macht, die sich ihnen zugesellte, zu tragen gab, das ihre. Zu früheren Zeiten sorgten kluge Herrscher dahingehend vor, daß bei all der Anziehung der Macht, die mit ihnen war, noch immer eine Differenz bleibe zwischen ihnen selbst und der Person, die sie in der Weise ihrer Macht waren. Sie machten Vergegenwärtigungen dieser Differenz zu einem Teil ihrer Regierungspraxis, indem sie nach dem Gesicht ihrer Macht in der Wahrnehmung anderer suchten: Wenn ich mich verkleidet unter das Volk mische und mich unter ihm umhöre, was sagt es zu mir als Person dessen, der an der Macht ist? Wenn ich mich in einen der Fürstenspiegel vertiefe, aus denen mir ein exemplarisch gezeichneter Fürst entgegenschaut, wie sehe ich mich dabei im Vergleich? Wenn der Narr, den ich zu mir lud, seiner Aufgabe als Fou du Roi en titre d’office gerecht wird und in so weisen wie schalkhaften Sprüchen die von mir ausgeübte Macht kommentiert, was höre ich dann von ihm? Wer ist er? Helmut Kohl als dem Autor seiner Erinnerungen 1982–19901 kann man zumindest diese hommage entrichten: Er veranlaßt einen in geradezu zwingender Weise zu Überlegungen wie den soeben angestellten. Was geschah ihm in einem Leben mit der Macht? Wer ist er, der am Abend dieses Lebens sich in einer Macht-Person zeigt, die zurück auf unsere neuere Geschichte schaut und dann sagt: Das war Ich!? Kohl, der Schicksalsherr, der, wenn er auftrat, Hinderliches in der historischen Lage in die Hand seiner Macht zwang, diese Hand ausstreckte wie zum Zauberakt, und es öffnete sich ein „Durchbruch“, wie er es nennt, für die Geschichte zu ihrem guten Gang, und das nicht einmal, nein, mehrere Male? Der Meister der Zeit, der Daten geschichtlicher Abläufe umreihen und sie in eine Para-Chronologie bringen kann, nach der Geschichte durch seine Person glänzt? Der Memorialist, der, bewegt vom Motiv seiner einmaligen historiographischen Verantwortung, gegen „Legenden“ antritt, die sich zu „verfestigen drohen“2, und dann, wenn es um die Anteile anderer am gemeinsamen geschichtsmächtigen Handeln geht, zur Behauptung der eigenen Ansprüche selbst zum Legendenerzähler wird? Der Menschenrichter, dessen Urteile nach allen Seiten fallen wie die Hiebe eines Beils, und an Dahingestreckten nur jene wenigen hinterlassen, die seine Gnade fanden? Der Champion-Broker an den Börsen politischer Macht, der die Sprache des Handelns, Taktierens, des Kalküls für die einzige Kohl, Erinnerungen 1982–1990, München 2005. S. 14.

1  Helmut 2  Ebd.,



Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte423

in der politischen Welt gesprochene hält, und dann offenbar nicht begreift, was es bedeutet, wenn ein Weggefährte in dieser Welt (wie François Mitterrand) ihm gegenüber in die Sprache brüderlicher Freundschaft fällt, sondern vielmehr denkt, daß auch in dieser Sprache der andere bloß als der auf seinen Vorteil und seine Interessen bedachte Händler steckt? Der Historiokrator Memorialisten legen sich gewöhnlich das Kleid des Zeitzeugen an. Das verleiht ihnen, so beanspruchen sie es und so glauben es von ihrem Publikum viele, eine Autorität, die unanfechtbar ist: Ich war anwesend, wer will mir widersprechen? Auch der sich erinnernde Helmut Kohl reklamiert diese Autorität. Sehr deutlich. Denn anstelle des gewöhnlichen Zeitzeugen-Kleids hat er sich gleich eine historiokratische Rüstung umgelegt und klirrt mit ihr gewaltig. Wir sollen aufmerken. Gewiß. Lassen wir uns ein auf die Geschichtskunst des Historiokrators. Was erkennen wir? Oder besser: Was erkennen wir nicht? Dies: Eine Wahrhaftigkeit bezüglich der beigezogenen Quellen. Wer sich nicht auskennt, wird Kohls häufigen Verweisen auf ihm vorliegende Quellen und seinen Zitaten daraus vertrauen, „nachdem“, wie er sagt, „die Archive geöffnet worden sind“.3 An der Menge der von ihm vorgeführten Dokumentenkenntnis gemessen, muß man tatsächlich annehmen, daß er viele Stunden des Forschens in Archiven zugebracht hat. Nur in welchen? Er sagt es nicht. Doch können wir ja noch raten. Ein Altbundeskanzler, der uns berichten will, wie es gewesen ist, ist ehrlich mit uns. Er war also, so müssen wir vermuten, in den Nationalarchiven der USA, Frankreichs, Englands, in den Archiven, in denen die Bestände der alten Sowjetunion aufbewahrt sind. Wie hätte er sonst an viele seiner Zitate (direkten oder indirekten) kommen können? Doch die Akten zu der Zeit, über die Helmut Kohl schreibt, sind in diesen Archiven noch meistenteils unter Verschluß (oder sind es, wie im Falle der sowjetischen, wieder). Nur Teile wurden veröffentlicht (und dann nicht unbedingt in verläßlicher Weise), und wird Forschern ein Zugang zu den noch verschlossenen Beständen gewährt, dann nur zu einigen davon und gewiß nicht zu allen. Archive, die „geöffnet worden sind“? Welche Archive? Welche Quellen genau sah sich Kohl an? Wir erkennen des weiteren nicht, daß sich Helmut Kohl um die Ergebnisse der historischen Forschung kümmerte. Unter der Voraussetzung, daß er Erin­ nerungen niederschrieb, mußte er das auch nicht. Ein Memorialist erzählt seine Geschichte, nicht die Geschichte. Nur, genau auf die letztere hat es Kohl abgesehen. Und also räumt der Historiokrator auf, bereinigt die Ge3  Ebd.

S. 317; vgl. des weiteren S. 651, 957, 960.

424

Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte

schichte. Und damit sich darüber niemand täuscht, erklärt Kohl gleich zu Beginn seines Werks, „dass hier Fakten sprechen“.4 Wahrscheinlich ging es ihm denn wie den Akademiemitgliedern in Swifts Gulliver’s Travels; er hatte viel zu schleppen mit all den Fakten, die er bündelweise heranträgt, um sie, unter Ersparnis sie vermittelnder Worte, einfach gleich vorzuzeigen.5 Da wird man verstehen müssen, daß er nicht auch noch nach den Fakten sah, welche von der historischen Forschung präsentiert werden. Allerdings hätten es ihm diese, hätte er sie wahrgenommen, nicht mehr möglich gemacht, seine Geschichte als die Geschichte auszugeben. Außer Kohl haben noch andere ihre Werke der Erinnerung über die Zeit verfaßt, die er behandelt. Auch das erkennen wir nicht an seinem Band. Dieser ist aufgestellt wie ein Solitär, so als wäre die von ihm gebotene Form eines Erinnerungswerks die einzig dafür mögliche. Dem ist nicht so, und das zeigen gerade Werke, deren Autoren sich, als sie sich an die Arbeit machten, von ihrem historischen Stoff wie ihrem Wirkungsfeld her in einer Ausgangsposition fanden, die der von Helmut Kohl sehr ähnlich war. Was machten sie? HansDietrich Genscher, zum Beispiel, übernahm für seine Erinnerungen6 die sprachliche Form politisch-administrativer Memoranden und ging damit als ihr Verfasser auf Distanz zu sich selbst; er natürlich ist der Autor des erstellten Berichts, dieser aber wird bestimmt von der zu berichtenden Sache. Douglas Hurd, britischer Politiker und Außenminister in der Regierung Margaret Thatchers zur Zeit von Deutschlands Wiedervereinigung, relativierte in einer noch intensiveren Weise seine eigene Person in der Rolle des Verfassers seiner Memoiren.7 Er benützte seine Erinnerungen dazu, das Verhalten und die Handlungen anderer, über die er schrieb, dadurch zu verstehen, daß er sich in sie hineindachte, sie also gewissermaßen von ihnen her auslegte. Das ist für ein Erinnern der Geschichte alles andere als unwichtig, ersteht doch beispielsweise von Margaret Thatcher und ihrem Verhalten bezüglich der Vereinigung Deutschlands in den Memoiren Hurds dank deren hermeneutischer Anlage ein helleres Bild als das bisher gezeichnete. Und eine augenfälligere Form als die, für die sie sich entschieden, hätten George Bush Sr. und sein Sicherheitsbera-

4  Ebd., S. 14. – Am 15. März 2006 schrieb mir Richard von Weizsäcker einen Brief, in dem er feststellte: „Den Schlüssel zur Bewertung der Erinnerungen von Kohl liefern Sie nach meiner Überzeugung mit dem schönen Begriff des Historiokrator.“ (Brief im Archiv des Autors). 5  Vgl. Jonathan Swift, Gulliver’s Travels, London 1960, S. 222: „An expedient was therefore offered that, since words are only names for things, it would be more convenient for all men to carry about them such things as were necessary to express the particular business they are to discourse on.“ 6  Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995. 7  Douglas Hurd, Memoirs, London 2003.



Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte425

ter Brent Scowcroft für ihre gemeinsame Erinnerungsschrift8 nicht wählen können. Sie verfaßten sie als ein dialogisch aufeinander eingestelltes Paar, indem jeder fortlaufend parallel zum anderen zum jeweils gleichen Ereignis oder Thema ein Stück Text schrieb, die Erzählung des anderen ergänzend, fortführend, oder auch korrigierend. Sie unterlegten ihrer Erinnerungsschrift offensichtlich diese Einsicht: Jedes Erinnern ist in der Person dessen, der sich erinnert, verortet, und somit unvermeidlich perspektivisch. Daraus folgt aber nicht, daß alles Erinnern notwendigerweise ganz den Perspektiven verhaftet bleiben muß, in denen es jeweils entstand. Mit der Form ihres Erinnerungswerks dokumentierte das Autoren-Paar auch die weitere Einsicht: Perspektivische Ansichten sind zwar partiell, sie verweisen aber gerade dadurch wieder auf die Möglichkeit noch weiterer Ansichten. Also eröffneten George Bush Sr. und Brent Scowcroft zum Erinnern ein Gespräch untereinander, und luden eben mit dieser Form auch andere zur Teilnahme ein. François Mitterrand in Helmut Kohls Karikatur Hätte sich Kohl doch an Bush und Scowcroft ein Beispiel genommen, und die Geschichte, in der er Akteur war, erst einmal wissen wollen! Und sich nicht zu dem gemacht, der schon alles, nein: alles besser als jeder andere weiß! So kommen wir nicht auf die Geschichte von den Ereignissen, die uns alle interessiert. Wir kommen nur auf Helmut Kohl, auf den Akt seiner Erin­ nerungen, und die Frage, was dieser bedeutet. Eigene Studien historischer Quellen9 machen es möglich, diesen Akt, was das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland anbelangt, hier zu beschreiben: Er zeichnet auf das Gesicht Frankreichs ein böses Mal. Schauen wir es an, und wir werden sehen: Es darf nicht bleiben. Der Vorwurf, den Helmut Kohl an Frankreich richtet, ist gewaltig: Dieses war nicht Deutschlands Freund, als es um dessen Einheit ging. Im Gegenteil. Und nach Kohl gab es einen, der, außer der „politischen Klasse in Paris“ allgemein10, insbesondere für diese Treulosigkeit verantwortlich war, gewissermaßen als Hauptschuldiger: Frankreichs Präsident, François Mitterrand. Gegen diesen erhebt Helmut Kohl eine Fülle von Anklagen:

Bush/Brent Scowcroft, A World Transformed, New York 1998. Verf., Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002; die erw. und umgearb. französische Fassung: Mitterrand et la réunification allemande. Une histoire secrète (1981–1995), Paris 2005. 10  Vgl. Kohl, Erinnerungen, S. 985. Vgl. auch S. 1014: „Das Pariser Außenministerium und die politische Klasse in Paris hielten die deutsche Einheit nicht für wünschenswert.“ 8  George 9  Vgl.

426

Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte

„Mitterrand wollte keinerlei Bewegung in der deutschen Frage sehen.“11 „Mitterrand hatte zunächst keine klare Strategie, sondern stand vor allem unter dem Einfluß seines Außenministers Roland Dumas.“12 „Manche seiner Äußerungen oder Reaktionen waren für mich befremdlich und nicht akzeptabel.“13 „Dass Mitterrand den Status Deutschlands nicht verändert wissen wollte, bevor nicht die Einheit Europas sehr viel weiter fortgeschritten sei, sagte er mir nie gerade­heraus ins Gesicht.“14 „Die Rolle von François Mitterrand war zumindest undurchsichtig.“15 „Selbst auf meinen Freund François Mitterrand schien kein Verlass zu sein.“16 „Mitterrand spielte im Lauf der folgenden Wochen eine Art Doppelspiel.“17

Ähnliche Ansichten wurden, obwohl nicht zu solchen Anklagen gesteigert, in deutschen und französischen Zeitungen schon gleich im Herbst 1989 und im Winter 1989/90 geäußert, wie auch in der Zeit danach. Bei der Sitzung des französischen Ministerrats am 19. August 1992 reagierte Mitterrand darauf. Die Haltung Frankreichs bei der Wiedervereinigung Deutschlands, so beklagte er, werde in der Weise einer „Karikatur“ dargestellt.18 Helmut Kohl hat ihm nun, 23 Jahre später, das Kompliment gemacht, für seine Aussage den exemplarischen Fall zu liefern. Alles ist für die Karikatur bereit mit der Behauptung Kohls, daß „für den französischen Staatspräsidenten das Thema Wiedervereinigung eine unwesentliche Rolle spielte“.19 Falscheres hätte er nicht sagen können. Denn die dokumentarische Evidenz (Äußerungen Mitterrands im Ministerrat, bei Gesprächen mit anderen Staats- und Regierungschefs, mit Beratern und Besuchern, bei Pressekonferenzen) zeigt, daß ganz das Gegenteil wahr ist. Unter all den Themen der europäischen und internationalen Politik, die Mitterrand im Élysée beschäftigten, gab es zwei, denen gleich von Beginn seiner Präsidentschaft an und dann immer und immer wieder ganz besonders seine Aufmerksamkeit und sein politisch-strategisches Denken galt: die Frage des nuklearen Kriegs und die „deutsche Frage“ (bzw. die einer Wiedervereinigung Deutschlands). 11  Ebd.,

12  Ebd.,

S. 581. S. 1014.

14  Kohl,

Erinnerungen, S. 1033.

13  Ebd. 15  Ebd.

Erinnerungen, S. 988. S. 956. 18  Mitschrift zur Sitzung des Ministerrats am 19. August 1992. 19  Kohl, Erinnerungen, S. 581. 16  Kohl, 17  Ebd.,



Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte427

Schauen wir uns die Evidenz an ein paar Beispielen an. Im Oktober 1981, wenige Monate nach Mitterrands Wahl, führten dieser und der damalige deutsche Bundeskanzler, Helmut Schmidt, miteinander längere Gespräche in Mitterrands Ferienhaus in Südwestfrankreich. Als sie das Thema von Deutschlands Wiedervereinigung anschnitten, erklärte Helmut Schmidt, er denke nicht, daß diese sich „bis zu seinem Tode“ ereignen werde. Und was sagte dazu Mitterrand? Er widersprach: „Sie werden Zeit brauchen, um die Wiedervereinigung zu erreichen. Sie ist in die Geschichte eingeschrieben. Sie entspricht objektiven und subjektiven Realitäten, eine Generation wird nötig sein, damit sie geschieht. Es wird nötig sein, daß das sowjetische Imperium geschwächt sei, was in 15 Jahren kommen wird.“20

Die hoffnungsvollen Worte des französischen Präsidenten steckten den deutschen Bundeskanzler indes nicht an. Das, so antwortete dieser, würde „viel länger“ dauern. Mitterrand beließ es dabei, bei dieser Unterredung. Doch er hörte nicht auf, von der deutschen Frage, der Wiedervereinigung Deutschlands zu sprechen. Denn „im Zentrum“ der europäischen Politik wie der Ost-West-Beziehungen lag für ihn, wie er es Michael Gorbatschow am 2. Oktober 1985 auseinandersetzte, „das deutsche Problem“.21 Also wies er weiter auf dessen Aktualität hin, wie am 22. September 1988, als er dem Emir von Kuweit, Scheich Jaber al-Ahmed al-Sabah, sagte: „Deutschland kann sich schon als oberstes Ziel setzen, die Mauer zu beseitigen, sich zu vereinigen, doch es wird dem sowjetischen Willen unterworfen sein. Deutschland kann seinen Weg inmitten der [europäischen] Gemeinschaft fortsetzen, indem es durchaus seinen Druck daraufhin ausübt, daß die Mauer verschwinde. Das ist nicht widersprüchlich. Europa, Frankreich können ihm helfen.“22

Oder er stellte dazu eine präzise Frage, auf die er eine Antwort erhielt oder auch nicht, selber aber die seine gab, wie am 21. Mai 1989 (!), im Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush. „Und Sie“, so fragte er Bush, „sind Sie für [die Wiedervereinigung Deutschlands]?“ Von Amerikas Präsident kam keine Antwort. Der französische indes sagte: „Ich, ich bin nicht dagegen angesichts der Veränderungen im Osten Europas.“23 Drei Beispiele aus einer überwältigenden dokumentarischen Evidenz. Noch zwei weitere sollen angefügt werden, aus zwei Gründen. Erstens er20  Mitschrift des Gesprächs Mitterrand – Schmidt in Latche am 7. Oktober 1981 (AN – AG/5(4)/CD/72, dossier 2). 21  Mitschrift des Gesprächs Mitterrand – Gorbatschow in Paris am 2. Oktober 1985 (AN – AG/5(4)/CD/76, dossier 3). 22  Mitschrift des Gesprächs Mitterrand – Scheich Jaber al-Ahmed al-Sabah am 22. September 1988 (Präsidialarchiv, Élysée). 23  Mitschrift des Gesprächs Mitterrand – Bush in Kennebunkport (Maine) am 21. Mai 1989 (AN – AG/5(4)/CD/74).

428

Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte

scheint Kohl selber dabei in Unterredungen mit Mitterrand, bei denen es unter anderem wieder (von dem letzteren her gesehen) um die deutsche ­Wiedervereinigung ging, und der deutsche Bundeskanzler eindringlich vom französischen Präsidenten dazu ermahnt wurde, doch an die Möglichkeit derselben zu denken. Und zweitens erfahren wir davon aus den Erinnerun­ gen Kohls nichts. Kein Wort über den deutschen Patriotismus geradezu, mit dem François Mitterrand einen Helmut Kohl konfrontierte, dessen Vorstellungskraft zu seinem Land eine offensichtlich viel schwächere war. Am 21. Oktober 1982 entspann sich bei einem Gespräch in Bonn zwischen dem Kanzler und dem Präsidenten folgender Dialog: [HK]: „Wir wissen, daß wir lange mit dieser Trennung [zwischen Ost- und Westdeutschland] leben müssen. Es ist nicht mehr möglich, an einen Nationalstaat à la Bismark [sic] zu denken. Generationen werden nötig sein, bevor sich diese Situa­ tion ändern kann.“ [FM]: „Es ist normal, daß sich jeder Deutsche mit diesem Problem [dem deutschen] beschäftigt. Man kann dessen fundamentale historische Wirklichkeit nicht leugnen, eine Wirklichkeit indes, die derzeit nicht gegeben ist. Aber welche Mittel haben wir? Das ist so kompliziert wie wenn man sich der Konsequenzen von Jalta entledigen wollte. Das wird sachte geschehen, vielleicht sogar vor dem Ende des Jahrhunderts. Dazu braucht es nicht [die Zeit ] von Generationen.“ [HK]: „Sie haben recht.“ [FM]: „Das sowjetische Imperium wird von innen anfällig werden. Dann werden die beherrschten Völker die Freiheit wiederfinden und die Deutschen, heute magnetisiert durch das andere Deutschland, erlangen alle ihre Chancen. Das ist die Angelegenheit von ungefähr zwanzig Jahren, ein Problem der Geduld.“24

Und am 30. Oktober 1984 sprach François Mitterrand auf Helmut Kohl folgendermaßen ein: „Ein Abkommen [zur nuklearen Abrüstung] zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR ist notwendig, aber ein zu großes Abkommen schließt den Deckel, und Ihr Handeln bezüglich Deutschland und seiner Wiedervereinigung wird blockiert sein. Meine Zielvorstellung ist einfach, es geht darum, mit Ihnen einen Satelliten zu bauen. … Eine andere Antwort gibt es nicht dafür, die Zukunft vorzubereiten. Sonst werden die Vereinigten Staaten und die UdSSR über das Los der französichen Nuklearstreitmacht entscheiden und es wird vor tausend Jahren nicht eine deutsche Wiedervereinigung geben.“25

24  Mitschrift des Gesprächs Mitterrand – Kohl in Bonn am 21. Oktober 1982 (AN – AG/5(4)/CD/72). 25  Mitschrift des Gesprächs Mitterrand – Kohl in Bad Kreuznach am 30. Oktober 1984 (AN – AG/5(4)/CD/72).



Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte429

Das falsche Instrument Wer malen will, sollte sich, je nachdem was an Gemaltem hervorgebracht werden soll, die richtigen Gerätschaften dafür besorgen. Helmut Kohl wollte Mitterrand in dessen Haltung zur deutschen Wiedervereinigung zeichnen, und das beabsichtigte Bild sollte selbstverständlich überzeugen. Also schaute Helmut Kohl nach einem Instrument, das ihm half, sein Bild zu verfertigen, idealiter in der Weise eines Zugangs zu Äußerungen Mitterrands über die deutsche Wiedervereinigung in der Zeit, als sich diese anzeigte und dann geschah. Dies mußte allerdings zu der von Kohl suggestiv auf der Seite seiner Leser ausgelösten Annahme passen, daß er seine Erinnerungen durchgehend entlang ihm vorliegender archivalischer Quellen schrieb. Wie es nun den Anschein hatte, lag für das Zeichnen des Mitterrand-Bildes ein Mal­ instrument vor, das nützlicher nicht hätte sein können: Jacques Attalis unter dem Titel Verbatim veröffentlichte vier Bände, in denen jener zuhauf Mitterrand zugeschriebene Äußerungen im Ministerrat, gegenüber Mitarbeitern, bei Gesprächen mit anderen Großen der Welt präsentiert. Eine „Quelle“ also so gut wie ein Archiv. Auf sie gestoßen, suchte Helmut Kohl nicht weiter. Es ist aus ihr, und nicht aus von ihm konsultierten Dokumenten (die „geöffneten Archive“ …), daß er Mitterrand zitiert. Nur: Es war das falsche Instrument. Denn die auserlesene „Quelle“ ist mehr als umstritten. Ihr gelten Urteile wie das von Pierre Joxe, Mitterrands ehemaligem Verteidigungsminister: „Wer immer die Werke von Attali als wissenschaftliche Quelle benützt, setzt sich schwersten Fehlern aus. Diese Werke sind zu gewissen Dingen vollgestopft mit Fehlern und mit Lügen zu anderen.“26 Oder jenes, das Pierre Favier und Michel Martin-Roland in ihrem Standardwerk zur Präsidentschaft Mitterrands, La Décennie Mitterrand, abgaben: „imposture“, was auf Deutsch heißt: Betrug, Hochstapelei.27 „Ich kannte die Haltung des französischen Präsidenten, der im Ministerrat gesagt hatte …“, so beginnt Helmut Kohl, sein Bild von Mitterrand und dessen Haltung in der Zeit der Wiedervereinigung zu zeichnen. Und er läßt Mitterrand durch dieses Zitat sprechen: „Man kann ja nicht gut Krieg gegen Deutschland führen, um die Wiedervereinigung zu verhindern […]. Das einzige, was Frankreich machen kann, ist, darauf zu drängen, dass gewisse Prinzipien dabei eingehalten werden […]. Wir können auch

26  Pierre Joxe in: Samy Cohen (Hrsg.), Mitterrand et la sortie de la guerre froide, Paris 1998, S. 426. 27  Pierre Favier/Michel Martin-Roland, La Décennie Mitterrand, 4 Bde., Paris 1990–1999. Zitat aus Bd. 3, Les défis, Paris 1996, S. 38.

430

Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte

die EG so attraktiv machen, dass ein eventuell vereinigtes Deutschland die Gemeinschaft einer Balance zwischen Ost und West vorzieht.“28

Dabei erfährt man als Leser nicht, um welche Sitzung des französischen Ministerrats es sich handelt, noch woraus Helmut Kohl die Worte Mitterrands zitiert. Man könnte meinen, er hätte das offizielle Protokoll von der betreffenden Sitzung eingesehen, nämlich der des Ministerrats am 18. Oktober 1989, und das schon am andern Tag. Kohls Quelle indes ist Band 3 von Verbatim, erst Jahre nach der Wiedervereinigung, nämlich 1995, publiziert.29 Zu dem Eintrag darin zum 18. Oktober 1989 ist nun einiges zu sagen: (1) Er gibt die zitierten Worte Mitterrands nicht nach dem offiziellen Protokoll der französischen Regierung wieder. Nach diesem hat sich jener so geäußert: „Die Wiedervereinigung Deutschlands ist möglich, wenn die betreffenden Bevölkerungen sie verlangen. Es wäre sinnlos, daran zu denken, Frankreich könnte sich dem entgegenstellen. … Angesichts dieser möglichen Entwicklung kann man hoffen, daß die Europäische Gemeinschaft attraktiv genug ist, um Zentraleuropa in sein Lager zu bringen.“

(2) Man sieht sofort: Der entscheidende Satz im offiziellen Protokoll: „Die Wiedervereinigung Deutschlands ist möglich …“, kommt in Verbatim und folglich auch bei Kohl nicht vor. (3) In Verbatim hingegen (jedoch nicht im offiziellen Protokoll) steht der Satz: „Man kann ja nicht gut Krieg gegen Deutschland führen, um die Wiedervereinigung zu verhindern.“ Und mit diesem Satz führte Kohl den ersten Strich seines Bildes von Mitterrand in der Zeit der Wiedervereinigung. Das wird nicht zufällig geschehen sein, der Satz kam zur Zeichnung seines Bildes (Mitterrands „Karikatur“) vollendet zupaß. Mit der protokollierten Aussage Mitterrands indes, „Die Wiedervereinigung ist möglich …“ (die als Zitat in der Forschungsliteratur durchaus zu finden gewesen wäre), hätte sich Kohl um ein anderes Bild bemühen müssen. (4) Nach fast jeder Sitzung des Ministerrats, einige Stunden, aber auch manchmal Tage später, hat der Generalsekretär des Élysée, Jean-Louis Bianco, von François Mitterrand dazu aufgefordert, der Historikerin Georgette Elgey zur Niederschrift die Äußerungen des Präsidenten im Ministerrat diktiert, wie er sie behalten hatte. Eine solche Niederschrift existiert auch zu der Sitzung des Ministerrats am 18. Oktober 1989. Das macht die Sachlage komplizierter, aber auch spannender. Denn der Eintrag zu dem Tag in Verba­ tim ist fast wörtlich identisch mit der Niederschrift, die Elgey von Mitterrands Äußerungen im Ministerrat aufgrund von Biancos Diktat angefertigt 28  Kohl, 29  Vgl.

Erinnerungen, S. 954. Jacques Attali, Verbatim III, 1988–1991, Paris 1995, S. 322.



Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte431

hat. Und von den Äußerungen Mitterrands, wie sie im offiziellen Protokoll der französischen Regierung festgehalten worden sind, unterscheidet er sich so beträchtlich und in der gleichen Weise wie Elgeys Aufzeichnung. Über diesen unter quellenkritischen Gesichtspunkten gewiß alles andere als unerheblichen Sachverhalt hätten sich Kohl, oder einer seiner Mitarbeiter, leicht informieren können. Eine Konsultation von Faviers und Martin-Rolands Standardwerk hätte genügt.30 Aber Helmut Kohl hätte dann François Mitterrand so, wie er es getan hat, ob dessen Verhalten bei der Wiedervereinigung Deutschlands nicht anklagen können. Und dazu trieb ihn offenbar etwas, was stärker als alle Sorgfalt im Umgang mit anderen in der Erinnerung an sie war. Aber was? Macht anthropophag, oder Macht in ihren Paradigmen Eine Möglichkeit, sich der Ursprünge des Bildes anzunähern, das Kohl von Mitterrand in seinen Erinnerungen gezeichnet hat, zeigt in diesen der folgende Satz: „Als ich in der Nacht [vom 15. auf den 16. Februar 1990, nach einem Gespräch Kohls mit Mitterrand in Paris] nach Bonn zurückflog, wusste ich, dass Mitterrands Einwilligung zur Wiedervereinigung nur über den Weg einer weiteren engen Zusammenarbeit und Stärkung der EG zu bekommen war.“31 Was sonst?, ist das erste, was man sich da fragen mag. Kohl selbst hat mehr als genug den Satz Thomas Manns angeführt, daß ein europäisches Deutschland und nicht ein deutsches Europa anzustreben sei. Doch an Kohls Satz ist etwas ganz Wesentliches auffällig: Die Sprache des deals. So als habe ihm Mitterrand den Handel angeboten: ‚Wenn Sie beim Weiterbau Europas dabei sind, bin ich bei Deutschlands Wiedervereinigung dabei.‘ Welches Mißverständnis! François Mitterrand fürchtete, daß sich die Deutschen, ohne Einvernehmen mit den anderen Europäern, allein zu ihrer Vereinigung aufmachen könnten. Er kannte sehr gut Deutschlands Versuchungen zum „Sonderweg“. So gut, daß er diesen auch nicht und gerade nicht den Deutschen wünschte. Wie jemand, der hermeneutisch geschult ist, hatte er sich in die geographisch-historische Lage der Deutschen und in die Natur der Beziehungen unter den europäischen Staaten hineingedacht. Der Begriff „Gleichgewicht“ war das Schlüsselwort. Mit ihm erfaßte Mitterrand Strukturen der Macht in der europäischen Welt, die für ihn objektiv galten: Jeder Vernünftige würde sie respektieren und auf sie hin handeln. Jeder Vernünftige also würde für Deutschland wie für Europa wünschen, daß die Verschiebungen von Macht, die sich mit der Einheit Deutschlands ereigneten, 30  s. Anm. 29. Vgl. zu dem Sachverhalt ferner: Françoise Carle, Les Archives du Président, Monaco 1998, S. 111 f., 308 ff. 31  Kohl, Erinnerungen, S. 1077.

432

Über die Macht, die sich eines Kanzlers bemächtigte

in Strukturen geschahen, die jene Verschiebungen zu einer Hoffnung, und nicht zu einem „Unfall“ (so Mitterrands Wort) machten für die europäische Welt. Helmut Kohl scheint diese politisch-hermeneutische Kunst Mitterrands nie verstanden zu haben, in allgemeinen Paradigmen politischer Macht zu denken, die den, der sich in ihnen geistig bewegt, nicht zuletzt dazu befähigen, sein Gegenüber, den Anderen, so gut – oder gar besser – zu verstehen als dieser sich selbst. Der Mitterrand, der Kohl dringend, manchmal geradezu händeringend ersuchte, den Rhythmus der deutschen Einigung im Gleichklang mit dem der europäischen zu halten, dachte in solchen Momenten an alles andere als an einen deal. Helmut Kohl indes, so zeigt er sich jedenfalls in seinen ganzen Erinnerungen, dachte nur immer in den Weisen des Kalküls, von Zug und Gegenzug. Dann aber versteht man den Anderen nicht, der in Strukturen denkt. Man meint vielmehr, der Andere sei besonders hartnäckig, unzugänglich, verweigere unbegreiflicherweise den Gang des Geschäfts. Die Sprache der Strukturen wird mißverstanden als eine Camouflage, und je mehr und je länger sie der Andere spricht (und er wird es tun, denn er merkt, er wird nicht begriffen), umso persönlicher nimmt dies der, der sie nicht versteht. Er selber sieht nicht, daß die Macht in ihren Paradigmen mit Machthändeln nicht zu erschließen ist. Er nimmt nur eine Aufzehrung des Anderen in dem Bilde wahr, das er von diesem hat. Wer sich nicht durch ihre Strukturen vor ihr schützt, für den ist Macht anthropophag. Das ist die Lehre, die uns Helmut Kohl mit seinen Erinnerungen gibt.

Roben für Robespierre Roberto Racinaros Haftgeschichte entlarvt den Tugendterror italienischer Richter Nicht alle Revolutionen sind blutig. Ja, es geschehen welche, und sie werden nicht wirklich wahrgenommen. Das Leben der Menschen sieht so aus wie zuvor, und doch ist es nicht mehr dasselbe. Es gehorcht anderen Gesetzen. Und es ist dazu kein neuer Gesetzgeber aufgetreten. Eine Revolution fand statt ohne Revolutionäre. So geschah es in Italien in den Jahren seit 1992. Überall in Italien ‚schmutzige Hände‘. Und immer wieder der Erfolg von Untersuchungsrichtern, die im Gefüge der italienischen Republik ein System der Korruption aufdecken. Was ist daran neu? Nicht wenig, nämlich die Folge der Geschichte. Eine Herrschaft der Tugend. Oder genauer: Italien in der Gewalt einer ‚tugendhaften‘ Justiz. So jedenfalls sieht es aus, wenn wir den Faden der Geschichte mit dem Bericht eines Betroffenen aufnehmen. Am 2. Juni 1995, um fünf Uhr morgens, wird Roberto Racinaro von Carabinieri aus dem Schlaf geholt. Sie haben einen Haftbefehl. Und sie halten – warum wohl? – diskrete Umstände ein: die noch nächtliche Stunde, ihr Erscheinen in Zivil, der Alfa Romeo mit neutralem Kennzeichen. Der Wachtmeister, der Racinaro im Gefängnis in Empfang nimmt, fragt ihn: ‚Woher kommen Sie? Aus einem anderen Gefängnis?‘ – ‚Nein, aus der Freiheit.‘ Dies ist die Antwort eines Philosophen; und kaum ist er in seine Zelle eingewiesen, fängt Racinaro an, über die Allmacht jener Richter, die ihn hierher führte, nachzudenken und seine Einsichten in die ‚italienische Anomalie‘, wie er sie nennt, aufzuzeichnen. Er hat sie zu einem Buch zusammengefaßt und dieses vor kurzem veröffentlicht: La giustizia virtuosa. Ma­ nualetto del detenuto dilettante – Die tugendhafte Justiz. Handbüchlein des unfachmännischen Häftlings (Macerata, Liberilibri 1996). Was ist geschehen? Racinaro, Professor für Philosophiegeschichte an der Universität Salerno und zur Zeit seiner Verhaftung der weitbekannte Rektor dieser Universität, wurde in ‚Vorbeugehaft‘ (custodia cautelare) genommen – die jeder italienische Untersuchungsrichter gegen jeden Menschen anordnen kann, den er eines strafbaren Vergehens verdächtigt. Racinaro weiß Erstdruck

in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 285, 10. Dezember 1996.

434

Roben für Robespierre

nicht, was er begangen haben soll. Es wird ihm auch nicht gesagt, als ihm – schon im Gefängnis – der richterliche Haftbefehl vorgelegt wird. Der Freiheit beraubt Nur ein Verdacht wird formuliert: ‚Amtsmißbrauch‘. Worin dieser genau bestehen könnte, das muß erst die richterlich angeführte Untersuchung herausfinden. Racinaro, der die ihm vorgelesene Juristenprosa kaum versteht, fühlt sich an Kafka erinnert. Wie ‚K‘ im Prozeß wird er Vergehen bezichtigt, die er nicht kennt. Schuldig ist er auf jeden Fall; man wird das, dessen er schuldig ist, noch finden. Dazu dient die Vorbeugehaft. Der Verdächtige wird gewissermaßen neutralisiert – Racinaro sagt: seiner Freiheit beraubt –, und nun kann die Untersuchung voranschreiten. Bei den Anschaffungen fürs Studentenwerk der Universität Salerno, insbesondere für die Mensa, sind Vorkommnisse der ‚Bereicherung‘ aufgetaucht; es wurde offenbar in die eigene Tasche gewirtschaftet. Racinaro wußte, daß seit Monaten an seiner Universität auf richterliche Anordnung hin Untersuchungen liefen. Akten wurden beschlagnahmt, sein Telephon wurde abgehört. Racinaro blieb ruhig, ihm war nichts vorzuwerfen. Doch als Rektor saß er auch dem Verwaltungsrat des Studentenwerks vor, für das er formal verantwortlich war. Muß er deshalb für jede Verfehlung haften? Auch die Richter wissen es nicht. Aber Racinaro ist nun einmal im Gefängnis, und da erlebt er seine Verwandlung. Der freie Bürger wird – allein auf einen Verdacht hin – zum bloßen Körper eines Häftlings reduziert. Bis auf seine Kleidung nimmt man ihm alles ab: seinen Füllfederhalter, seinen Geldbeutel, die beiden Bücher, die er mitbrachte, selbst seine Uhr. Und es wird Isolierhaft für ihn angeordnet (damit er mit eventuellen ‚Mittätern‘ keinen Kontakt aufnehmen kann). Außer dem Gefängnispersonal und dem Richter und dessen Mitarbeitern darf niemand ihn besuchen oder sprechen. Ohne Uhr verliert er das Zeitgefühl. Nur die Sonne zeigt ihm, daß wieder Tag ist. Mit einer Gabel ritzt er in die Zellenwald Striche ein, um die Tage zu zählen. Er kommt sich vor wie in einem schlechten Krimi. Nach einer Woche wird er in den normalen Gefängnistrakt zu den anderen Häftlingen verlegt; er erhält seinen Füllfederhalter und seine beiden Bücher zurück, weitere Bücher bestellt er in der Gefängnisbibliothek. Seine Frau, seine Kinder und sein Anwalt dürfen ihn besuchen. Nach dem Haftbefehl müßte er bald entlassen werden – die Verdachtsmomente reichen nicht aus, ihn weiter in Haft zu halten. Da wird ihm ein neuer Haftbefehl mit neuen Verdachtserhebungen gebracht, die Richter verlängern seine Haft. Und ein Gefängnisbeamter warnt ihn. In der Zelle nebenan sitzt ein collaborante, ein angeheuerter Zuträger. Sie warten darauf, daß er etwas sagt, was sie gegen ihn verwenden können.



Roben für Robespierre435

Racinaro ist Fachmann für politische Philosophie und Rechtsphilosophie. Er hat Werke der Staatsrechtler Carl Schmitt und Hans Kelsen ins Italienische übersetzt, er kennt die Schriften von Hegel und Kant fast auswendig. Er hat seine Studenten gelehrt, was ein Rechtsstaat ist, ein Stato di Diritto: Daß die Freiheit praktisch wird durch die Bürgerrechte und eine verfassungsmäßige Einschränkung aller Macht – auch die der Richter. Daß alles, der Freiheit wegen, seine Grenzen hat – auch und gerade die Tugend. Daß in der Politik die Reinheit tötet. Und jetzt erfährt er etwas ganz anderes: Anschuldigungen ohne Vergehen; ein gestörtes Verhältnis zwischen dem für alle staatlichen Gewalten geltenden Recht und dem absolutistisch gewordenen Machtwillen einer Gewalt; eine Niederlage der Bürgerrechte gegenüber dem Untersuchungsterror von Richtern; eine ‚Vernichtungswut‘ (nach dem Begriff Hegels für den Tugendterror in der Französischen Revolution), die eine alte Ordnung niederreißt und nicht von einer neuen weiß; die Entartung der Justiz in ein Spektakel: Wie zu alten Zeiten liefern Italiens Richter dem Medienzirkus panem et cir­ cences. Racinaro, weiter inhaftiert, flüchtet in Gedanken nach Deutschland: zu den Lehrern, denen er seine Wissenschaft widmete, Kelsen und Scheler, Max Weber und Hannah Arendt, Kant, Fichte und Hegel, Carl Schmitt. Und er spinnt Dialoge mit Norberto Bobbio, dem Doyen der Demokratiekultur in Italien. In diesen imaginären Dialogen, die er in seiner Zelle aufzeichnet, sucht er, der Wahrheit Italiens näher zu kommen. Der Verfassungsstaat mit seinen Rechtsgarantien, seinem System der Gewaltenkontrolle ist in Italien eingestürzt. Die einzige noch mächtige Gewalt bilden die Richter. Und diese sind einer Gesinnungspolitik verfallen, Ausfluß einer Jakobinerethik: Sie wissen nichts – oder nichts mehr – von der kritischen Formel Kants für diese Art von Ethik, die Racinaro gleich mehrmals zitiert: ‚Es sei Gerechtigkeit, auch wenn die Welt dabei untergeht.‘ Max Webers Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik ist das Licht, durch das er Italiens Lage sieht und erkennt. Er ist in die Hände von Gesinnungsethikern gefallen, jener, die nicht mehr aus Verantwortung für das Ganze handeln wollen, sondern dem Ganzen ihre Gesinnung aufzuzwingen gedenken. Das ist der Terror der Tugend. Denn an der inneren ‚reinen‘ Gesinnung gemessen, ist jeder ‚verdächtig‘, der diese nicht in gleicher Reinheit teilt. Wer kann einem anderen ‚beweisen‘, daß er eine reine Seele hat? Die Geschichte wiederholt sich, und die Menschen könnten aus ihr lernen. Die Herrschaft der Tugend wurde schon einmal durchgespielt: in der Zeit der Französischen Revolution, unter Robespierre. Jetzt wiederholt sie sich, in Italien, als giustizia virtuosa. Nur handelt es sich dieses Mal nicht um Revolutionäre, sondern um Richter. Und das Land sieht so aus wie zuvor und ist doch nicht mehr dasselbe.

436

Roben für Robespierre

Am 26. Juni 1995 wird Roberto Racinaro aus der Haft entlassen. Alle ­ egen ihn erhobenen Verdächtigungen, bis auf einige wenige, sind von der g Justiz fallengelassen worden. Aber sie hält ihn immer noch mit der Drohung gefangen, gegen ihn Anklage zu erheben.

Namensverzeichnis Abbé de Saint-Pierre  101, 130 Abbé Mably  240 Abbé Raynal  240 Abd al-Rahman (al-Ghafiqi)  233 Adams, John  240 Adams, Samuel  240 Adenauer, Konrad  264–266, 333, 338 f., 347 f., 371, 405 Adler, Laure  372, 391 Adorno, Theodor W.  146 Alfarabi, s. Fārābī Aristoteles  23–25, 107, 118, 187 Artaud, Antonin  149–151 Attali, Jacques  32, 268, 337, 353, 374, 429 f. Augustinus  85, 88, 90, 94, 150, 205 Augustus, Gaius Octavius, röm. Kaiser  363 Averroes (Ibn Ruschd)  115 Avicenna (Ibn Sīnā)  66 Backis, Stasys  322 f. Bacon, Roger  115 Baker III, James A.  319, 323 Balladur, Édouard  396, 407 Banfield, Edward C.  7, 162 Barre, Raymond  336, 358 Bastelica, Philippe  316 Baudelaire, Charles  360, 404 Bauer, Wolfgang  417–419 Beauchamp, Georges  267 Beaumont, Christophe de  128 Beck, Julian  149–151 Benassayag, Maurice  359, 372 Bérégovoy, Pierre  335, 367 f. Bianco, Jean-Louis  268, 320, 430

Bickauskas, Egidijus  324 Bitterlich, Joachim  337 Bluntschli, Johann Kaspar  273 Bobbio, Norberto  435 Bodin, Jean  17–19 Boethius  134 Böhme, Jakob  83, 110, 115, 133–135 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de  18 Boorstin, Daniel  239 Borella, Franҫois  281, 287 Brandt, Willy  409 Braudel, Fernand  100 Brazauskas, Algirdas  332 Broch, Hermann  226 Bruno, Giordano  114 f., Buber, Martin  149, 152 Buffon, Georges-Louis Leclerc de  240 f. Burdeau, Georges  16 Bush, George  318 f., 322, 326, 329, 393, 424 f., 427 Byrne, Jane  254 Carter, Jimmy  249 f., 266, 364 Cäsar, Gaius Julius  94, 363 Cato  233 Cervantes, Miguel de  226 Chaban-Delmas, Jacques  170 Chambord, Comte de  97 f. Charasse, Michel  268 Charlot, Jean  283, 287, 294 Chateaubriand, René  18 Chirac, Jacques  171, 290, 298 f., 300, 302 f., 396 Church, Benjamin  240 Cicero, Marcus Tullius  24–26, 35, 134

438 Namensverzeichnis Cohen, Samy  349, 406 Colliard, Jean-Claude  268, 294 Comte, Auguste  221 Conrad-Martius, Hedwig  84 Constant, Benjamin  18 Cooley, Charles  23 Cooper, Barry  224 Cresson, Edith  294 D’Alembert, Jean B. le Rond  127,146, 240 f. Daley, Richard  173, 187 Dante Alighieri  123 f. Daudiss, Imants  324 Dayan, Georges  294, 389, 397, 407 Dayan, Irène  268, 389 f., 393, 397, 407 Dayan, Paule  389, 397–399 Debré, Michel  45–59, 283, 301 Defferre, Gaston  171, 174, 282, 302 f. Delors, Jacques  367 f. D’Holbach, Paul-Henri Thierry  127 Dickens, Charles  195 Diderot, Denis  127–129, 240 f. Diogenes Laertius  134 Dionysius Areopagita  201 Doderer, Heimito von  226 Donne, John  226 Drayton, Michael  238 Duhamel, Jacques  284 Dumas, Roland  268, 318–320, 322 f., 330 f., 371, 426 Duverger, Maurice  274, 287 Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart) 134 Einstein, Albert  211 Eisenhower, Dwight D.  266, 348, 365, 369 Elgey, Georgette  376, 430 f. Ellegood, Donald R.  220 Elliott, William Y.  212 Engels, Friedrich  141 Epikur  145

Erasmus  85 f., 88, 90 f., 93–95 Erhard, Ludwig  264 Faizant, Jacques  274 Fārābī, Abū Nasr Muhammad al(Alfarabi)  65–66, 78 Favier, Pierre  406, 429, 431 Fichte, Johann Gottlieb  108, 112, 114, 116, 119, 123, 435 Ficino, Marsilio  115 Flavius Josephus  85–87, 92, 95 Franҫois, André  366 Frank, Barney  251, 253 Franklin, Benjamin  241 f., 246 Frantz, Constantin  18 f. Freud, Sigmund  119 Friedrich III., Kaiser  98 Frisch, Max  226 Fröbel, Julius  100 Gabriel, Jacques V.  406 Gagnebin, Bernard  125 Gandhi, Mohandas (Mahatma)  150 Gaulle, Charles de  36, 45–47, 264, 268, 288, 290 f., 294, 297–299, 333, 339, 398 Gautama, Siddharta (Buddha)  150 Genscher, Hans-Dietrich  31, 333, 424 Gentz, Friedrich  19 Gibbon, Edward  101 Giscard d’Estaing, Valéry  32, 170 f., 277, 283, 285, 288 f., 294, 302, 358, 409 Glavany, Jean  268 Goguel, François  47, 285 f. Gómara, Lopez de  235 González, Felipe  409 Gorbatschow, Michail S.  313–316, 319, 322, 324–329, 427 Gorbunous, Anatolijs  324 Grossouvre, Franҫois de  267 Guaino, Henri  36 Guimard, Paul  267 Guizot, François  18

Namensverzeichnis439 Habermas, Jürgen  125 Hamilton, Alexander  247 Hancock, John  240 Hanin, Roger  268 Hart, Gary  250 Hauriou, Maurice  16 Heckler, Margaret M.  251 Hederich, Benjamin  97 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  85 f., 89–92, 94–95, 115, 119, 141 f., 202, 221, 435 Heilman, Robert  200 Heinrich IV., König von Frankreich  298 Helvétius, Claude-Adrien  127, 241 Hennekine, Loïc  316 Hennessey, Peter  35 Henningsen, Manfred  199 Hennis, Wilhelm  350 Heraklit  200 f., 219 Hernu, Charles  268, 294 Herodot  85–87, 91 f., 94, 232 Hesiod  81–84 Hess, Stephen  35 Hitler, Adolf  226–228, 260 Hobbes, Thomas  186, 362 f. Hollande, Franҫois  339 Hoover, Herbert C.  263, 352 Hugo, Victor  101 Hume, David  240 Hurd, Douglas  424 Ibn Khaldun, Wali al-Din  11 Isidor Pacensis  233 Ivánka, Endre von  134 Jackson, Andrew  35 Jackson, Jesse  173, 250 Jacobs, Jane  161 Jacquier-Bruère (Pseud., M. Debré)  48 Jay, John  242, 247 Jeanneney, Jean-Noël  268 Jefferson, Thomas  240–242, 246

Jelzin, Boris  327, 329, 331 f. Johnson, Lyndon B.  348, 369 Jospin, Lionel  294 Joxe, Pierre  429 Joyce, James  347 Jung, Carl Gustav  212 Kafka, Franz  434 Kahn, Jean  382 Kant, Immanuel  85–90, 92–95, 209, 435 Karl der Große, Kaiser  98 Karl Martell  233 Katharina II, Zarin von Russland  128, 240 Kavanagh, Dennis  35 Kelsen, Hans  435 Kennedy, John F.  173, 258, 369 Kerényi, Karl  214 Kessedjian, Bernard  320 Koch, Edward  173, 254 Koenig, Louis W.  35 Kohl, Helmut  29–33, 205, 234, 314, 318, 321, 323 f., 330, 333, 336–338, 387 f., 393–395, 409 f., 421–426, 428–432 Kolumbus, Christoph  235 König, Marie E. P.  203 Kouchner, Bernard  393 f. Koyré, Alexandre  115 Kraus, Karl  225, 227 Kriegel, Annie  287, 290 Krigonogov, Oleg  320 Lafont, Serge  316 Laing, Ronald David  113, 149, 152, 154 Landsbergis, Kytautas  318, 321–327, 330 Lang, Jack  267 f. Lauvergeon, Anne  316, 322, 383, 402 f., 408, 410 Lecanuet, Jean  287 f. Legatte, Paul  267

440 Namensverzeichnis Leuchtenberg, William  32 Lincoln, Abraham  35, 250 Ludwig XIV., König von Frankreich  406, 410 Ludwig XV., König von Frankreich  406 Ludwig XVI., König von Frankreich  305–308, 311 Lukian  82 Lykurg  45 Mably, Jean Bonnot de  135 Machiavelli, Niccolò  11, 27, 359 Machuca, Bernardo de Vargas  237 Madison, James  124, 247, 254 f., 360 Maistre, Joseph de  18 Malesherbes, Chrétien-Guillaume de  128–130, 132 f., 137 Malina, Judith  149, 151 f. Malraux, André  358 f. Mann, Thomas  226, 431 Marcuse, Herbert  118 f., 405 Margerie, Caroline de  314, 316, 325 Martin-Roland, Michel  405 Martire d’Anghiera, Pietro  238 Marx, Karl  141–142 Mauroy, Pierre  335 Médecin, Jacques  171, 188 Mendelssohn, Moses  146 Merillon, Jean-Marie  324, 326–328 Merkel, Angela  35, 339 Metzenbaum, Howard  251 Michelangelo Buonarroti  150 Milton, John  83 Mirabeau, Comte de  309, 311 Mitterrand, François  29, 32, 34, 267 f., 281 f., 291, 294, 298–303, 313–326, 328–338, 343, 345–363, 365 f., 368–374, 376–379, 382–384, 386–399, 401–404, 406–410, 423, 425–432 Mitterrand, Jean-Christophe  267 Molina, Luis de  17 Mondale, Walter F.  249 f., 253

Monick, Emmanuel  46, 48 Morel, Pierre  316 Moses  45, 65 Moses Maimonides  66 Münster, Sebastian  100, 236 Muralt, Alexander von  212 Musil, Robert  226 Musitelli, Jean  401, 403 Napoleon I. Bonaparte  18, 97, 241 Napoleon, Louis  18 Necker, Jacques  31 Nicolay, Pierre  267 Nikolaus von Kues  83 Nixon, Richard  369 North, Frederick (Lord)  376 Novalis (Georg von Hardenberg)  115–117, 125, 134, 139 Obama, Barack  34 Oliva, Hernān Pérez de  236 Origenes  82, 134 Otis, James  240 Ovid  82 Ozalas, Romualdas  324 Parmenides  111, 217 f. Pascal, Blaise  14 f., 127 Paulus  16, 65 Pelat, Patrice  267 Penne, Guy  267 Petain, Philippe  391 Peyrefitte, Alain  36, 286 Piccolomini, Enea Silvio de (Papst Pius II) 98 Pico della Mirandola, Gianfrancesco  118 Plato  23–26, 63–70, 73, 76–80, 106, 111 f., 115, 118, 133 f., 178, 209 f., 212, 216–220, 359, 405 Plotin  115, 201 Plutarch  82, 134, 349 Pompidou, Georges  298 Poniatowski, Michel  288 f.

Namensverzeichnis441 Poujade, Robert  290 Price, Richard  242 Prigogine, Ilya  84 Prunskienė, Kazimi(e)ra Danutė  318, 325 f. Rabelais, François  226 Racinaro, Roberto  434 Rausch, Jean-Marie  188 Ravitch, Diane  258 Reagan, Ronald  32, 249 f., 254, 376 f. Renan, Ernest  101 Revere, Paul  240 Riboud, Jean  268 Ripert, Jean-Maurice  394 f. Robespierre, Maximilien de  311, 435 Roman, Petre  318 Roosevelt, Franklin D.  32, 35, 263–266, 347 f., 352 f., 365, 368 f., 371–373, 405 Roosevelt, Theodore  35 Rousseau, Jean-Jacques  101, 115, 122, 124–149, 151, 240 Rousselet, André  267, 294, 396 Royer, Jean  171 Royer-Collard, Pierre-Paul  18 Salzmann, Charles  267 Sapin, Michel  367 Sarkozy, Nicolas  35 f., 388 Sartre, Jean-Paul  108, 123 Scève, Maurice  83 Scheler, Max  435 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  84, 115, 212 Schewardnadse, Eduard  320, 323 Schlesinger, Arthur M. Jr.  32, 353, 369 Schmidt, Helmut  32, 334 f., 427 Schmitt, Carl  435 Schütz, Alfred  209–214 Scipio Africanus, Publius Cornelius  25 f. Scowcroft, Brent  425 Sebba, Gregor  199

Seldon, Anthony  35 Shakespeare, William  226 Shelley, Mary  150 Siegfried, André  274, 285 Soares, Mário  409 Sokrates  80, 227 Solon  45 Spenser, Edmund  83 Staël, Germaine de  18 Stalin, Josef Wissarionowitsch  260 Strauß, Franz Josef  333 Suárez, Francisco  17 Swedenborg, Emanuel  115 Swift, Jonathan  424 Syme, Roland  363 Teltschik, Horst  32, 337 Thatcher, Margaret  322, 329, 375–377, 424 Thomas von Aquin  16, 83 Thukydides  85, 88, 95 f. Tocqueville, Alexis de  11, 18–20, 261 f. Truman, Harry S.  32, 264, 348, 365 Turgot, Anne Robert Jacques  241 Urbys, Juozas  321 Valéry, Paul  100, 351 Vauzelle, Michel  268 Védrine, Hubert  337, 384, 401 Vega, Garcilaso de la  236 Vergil  82, 85, 87, 91 f., 94 f. Vespucci, Amerigo  235 Vico, Giambattista  212 Vidal, Jean  316 Villepin, Dominique de  359 Voegelin, Eric  6, 11, 191, 193–205, 209–228 Voegelin, Lissy  196–199, 202 Voltaire (François-Marie Arouet)  87, 127 f., 221, 240 f. Warren, Joseph  240 Washington, George  35, 246

442 Namensverzeichnis Weber, Max  435 Weizsäcker, Richard von  424

White, Kevin H.   33, 38, 174, 187, 347 f. Wilson, Woodrow  34 f., 37

Sachverzeichnis Achsen politischen Handelns  188 f. Alphabet, Magie  156 Amerika  231–243, 245f, 249 f., 254, 257 f., 261 Anthropogonie  105 f. Architektur  410 –– und Demokratie  406 Aristokratie  23, 25 f. Ascona  67, 419 Assemblée Nationale, s. National­ versammlung Athos, Berg  413 f. Atomwaffen  338 Aufklärung (Epoche)  240–242 –– europäisch-amerikanische  242 Baltische Frage  313 f., 316, 318, 325, 329 Baltisches Gold  318 Baton Rouge (Louisiana)  196, 201 Beginning and the Beyond, The (Voegelin)  204, 211, 222–224 Beginning of the Beginning, The (Voegelin)  211, 222–224 Besonnenheit  68, 80, 95 Bewusstsein(s)  200, 210–212, 214– 218, 220–224 –– Analyse des  201 –– europäisches  233, 238 –– Exegese des  201 –– menschliches  210 –– noetisches  222 –– Philosophie des  200 –– revolutionäres  11 –– Struktur des  201 –– Theorie des  211

Böse (das)  109, 126, 130, 132, 135, 137, 154 –– Ursprung  127 Boston  33, 38, 73, 159, 162 f., 174, 187, 239 f., 249, 346 f., 368, 380, 401 Buchstaben  156 Bundesbank  336, 338 Bundeskanzler(in), Deutschland  29, 32, 35, 173, 263 f., 268–270, 369 Bundeskanzleramt, Deutschland  37, 263, 268 f., 368 f., 387 Bundesregierung, Deutschland  30 f. Bundesrepublik Deutschland  21, 30 f., 173, 176, 187, 249 f., 270, 334–336 Byzantinische Partei  413 f. Byzanz, Byzantinisches Reich  413–415 Chaos  81–84, 347, 357, 359, 374 –– kreatives  405 –– Selbstorganisation des  374 Chaosmos  347, 359 Chicago  34, 172 f., 187, 257 Christentum  209, 127 f., 243 Cluny  268 Conseil constitutionnel s. Verfassungsrat Das Andere  110 f., 115 Das Eine  69, 110–112, 114, 116, 357 Das Viele  69, 110 f., 114, 116, 146, 185, 357 Demokratie  19, 28, 36, 39–42, 44 f., 52 f., 56, 102, 157, 170, 255, 260 f., 264, 292, 297, 328, 406, 435 –– amerikanische  255 –– Entartung der  261 Despotismus  141 f., 171, 232, 241, 261

444 Sachverzeichnis Deutschland  30, 98, 226, 261, 333, 336 f., 339–341, 388, 410, 415 Dezentralisierung (Frankreich)  172, 302 f. Egophanie  204 Élysée-Palast  263 f., 267–269, 356, 368 f., 371–388 Élysée-Vertrag  333 Entscheidung  66, 74–77, 100, 294, 297, 318, 358 f., 363, 372 Episteme politike  73 Eranos-Gemeinschaft, Tagungen  67, 214, 217, 417–419 Erfahrung  6 f., 40, 69, 113, 210, 213, 215, 217, 219, 398, 405 –– der Teilhabe (participation)  216 f., 219 –– ekstatische  145 –– europäische  236 –– göttlicher Wirklichkeit  222 f. –– menschliche  210, 215, 218, 222, 224 –– praktische  25 –– symbolische  391 –– von Philosophie  217  –– weltenrevolutionäre  117 Erinnern  424 f. Erlösung  93, 128, 130, 144, 147–151, 155, 157 Eros des Philosophen  218 Estland  314 f., 327, 329–332, 335, 409, 413 Euro  336 Europa  97–103, 231–243, 414 Europäische Union  101 f., 414 Federalist Papers  124, 247, 360 Feldforschung  11, 402 Felsenbilder  203 Figur des Fürsten  345, 351 Fou du Roi en titre d’office  373, 422 Franc, französischer  336, 357 f. Frankreich  18, 34, 36, 45–48, 51–53, 56, 58 f., 144, 170, 188 f., 202, 259 f.,

267, 273–277, 280, 290, 292f,, 295, 297–303, 305, 307–321, 324,328, 330–341, 347, 349, 356–358, 362 f., 367, 369, 376, 379, 381, 385 f., 388, 391, 396, 410, 414, 425–427, 429 f. Freiheit  5, 7, 20, 28 f., 35, 37, 39, 42 f., 51, 54, 92, 101, 109, 113, 139, 141, 160, 162, 202, 239–243, 245–247, 249, 255, 257, 259–262, 305, 311 f., 352 f., 371, 404 f., 418, 428, 433–435 –– demokratische  261 –– der Republik  260 –– dialektische Struktur der  404 –– Erfahrung der  243 –– Herrschaft der  353 –– Kultur der  241 –– Macht der  242 –– naturhafte  41 f. –– Paradox der  42 –– regierende  43 –– starke  44 –– unbegrenzte  405 Freundschaft  68 f., 93, 95, 130, 186 f., 209, 253, 363, 389, 417, 419, 423 –– Kultur der  362 –– Kunst der  268 Freundschaften –– politische  30, 34, 174, 186 f., 333, 336, 339, 363, 381, 387 Freundschaftsverbände –– politische  187 Fürst  93–95, 98, 171, 345, 348–352, 354, 356 f., 363 f., 367, 370 –– des Chaosmos  359 –– guter  93 Fürstenspiegel  348–350, 422 G-7 Gipfeltreffen  376 Gemeinderat  3, 4, 260 Gemeinschaft (politische, soziale)  7, 16, 63, 68 f., 93, 123, 136, 147 f. –– der Herzen  124, 126, 132, 140 Generalstände (Frankreich)  305 f., 308, 310

Sachverzeichnis445 Gens Mitterrandia  267 f. Gerechtigkeit  12, 14 f., 17, 68, 102, 435 Geschehnis der Welt  94–96 Geschichte (history)  85–97, 99–101, 103, 120, 128, 140, 212 f., 220, 377 f. Geschichte (story)  70–74, 107, 111 211, 223 f. Geschichte der Geschichte  92 Gesellschaft  6–7, 16, 20 f., 26 f., 52–54, 67, 107 f., 120 f., 125 f., 130–133, 135–137, 140–142, 144 f., 157, 159, 161 f. 167 f., 172 f., 189, 212, 228, 239 f., 246, 255, 257–260, 263, 286, 290 f., 297, 299 f., 305, 308 f., 363, 391, 414 –– amerikanische  255, 258 –– französische  299, 308 –– paradiesische  145 Gesellschaftsordnung  8, 306 Gott  16 f., 64–67, 71 f., 75, 77 f., 82 f., 90, 94, 108, 111 f., 114, 117, 126, 128, 134–136, 139, 144, 146, 152, 156, 171, 204, 223 f., 226, 228, 235, 242, 414 –– der Sorge  69, 72 –– politischer  95 Griechisch-byzantinische Zivilisation  414 Grundgesetz  21, 30, 336, 369 Heilsgeschichte  128, 140 –– moderne  140 Herrschaft –– der Freiheit  37, 353 –– konstitutionelle  353 –– personale  170, 174 –– politische  13, 16–19, 49, 51, 58, 160, 305 Historiokrator  423 f. Höhlengleichnis (Platons)  209, 216 Homo politicus  352 Hypertrophie –– institutionelle  177 f.

Inkantation der Körper  153 Italien  98, 188, 327, 433, 435 Jugoslawien-Krieg  98, 393 Koalitionsausschuss  29–31 Kommunistische Partei –– Frankreich  281, 290 –– Sowjetunion  317 Königtum –– allgemein  17 f., 25 f. –– Frankreich  307 Konstitutionalismus  31, 58 f. Körper  36, 40–42, 67 f., 71, 97, 102 f., 105–110, 112, 115–117, 122–126, 146, 148–159, 262 –– Paradies der  52, 157 f. Körperereignisse  106 Körperfest  153 Körpertheater  148 f., 151 Kosmogonie  94, 106, 157 –– paradiesische  118 Kosmos  66, 68, 81 f., 113, 134 Kreativität  8–10, 27, 347 –– regierende  7 Krieg  42, 87 f., 90–93, 95 f., 98 f., 101, 335 Kronos –– Herrschaft des  64, 67, 70–72, 74, 94 Legitimation  13, 19, 21, 56 Legitimität  13–21, 55 f. –– synkretistische  19 Leidenschaft –– europäische  99, 101 Lettland  314 f., 324 f., 328–332 Litauen  313–315, 318–323 Living Theatre  148 f., 151–158 Logos  219 Macht  10, 12, 28 f., 30 f., 35, 353–374, 421 f., 432 –– Amtsmacht  37, 264 f. –– autokratische  170

446 Sachverzeichnis –– Bewegung von  33 –– exekutive  268–270, 369 –– formelle  264 f. –– Innenwelt von   380 –– Konfigurationen der  268–270, 369 –– magische  150 –– Paradox der  9, 34, 36, 42 f., 263, 270, 352 –– personale  30 f., 37, 264 f., 270, 368, 370 –– politische  13 f., 16, 18–21, 27, 30, 32 f., 37 f., 43 f., 47–49, 54, 58, 78, 95, 186 f., 240, 242, 245, 270, 300 f., 303, 364, 369 f., 432 –– Primat der  350 –– schöpferische  360, 374 –– Szenario der  402 –– zur Regierung  363 Machtchaos  373 Machtfigurationen  42 f. Machthandwerk  370 f. Machtkarenz  47 Machtkonzentration  37, 266 Machtparalyse  353 Machtschöpfung, Strategie der  265 f., 364 f., 370 Machtzentren  43 Machtweisheit  350 Masken  113, 124, 126, 142, 166 f., 374, 378 Maximum, monokratisches  34, 36 f. Mensch, natürlicher  137, 139–141, 154 Menschenbuchstaben  156 Menschheitskultur –– paläolithische  203 Mitterrand, –– Bild in der Geschichte  377 f. –– politisch-hermeneutische Kunst  432 Moderne  11, 14, 17, 28, 187, 237 Monarchie  18, 23, 56, 58 f., 297 f., 301, 306 f., 309 f. Monte Verità  67, 419 München  160 f.

Nation  51–53, 56, 98, 101, 273, 290, 306, 311, 333 Nationalsozialismus  226 f. Nationalversammlung  49, 189, 276, 285, 287 f., 292, 298, 301, 311 NATO  334 NATO-Doppelbeschluss  334 Natur  17, 90, 92–95, 100, 112, 115, 129, 137–142 Natur des Menschen  91 Naturrecht  15, 17 Neuplatonismus –– bei Rousseau  133 Oligarchie  23, 292–294 Ordnung –– politische  13, 15 f., 20, 23, 26, 67–69, 72, 97 Palo Alto  195 f., 202 Paradies –– irdisches  131 –– politisches  126 Paradox des Schöpferischen  354 f. Paralyse von Regierungsmacht  36 Parlamentarismus –– französischer  52, 58 Partei –– persönliche  33 Partei von Freunden  33 f., 363, 370 Parteien  50 f., 55 f. 169, 175, 186–188, 249 f., 252–254, 273–298, 302, 315, 386 Parteienlandschaft Frankreichs  275, 295 Parteiung  8, 33 f., 186–189, 363 Patriotismus, europäischer  100 f., 103 Periagogē  209, 217 Perichorese  112, 144, 151 Philadelphia  240, 245–247 Philosophie, noetische  224 Polis  7 f., 12, 107, 210, 217 f., 357 –– Wirklichkeit der  8

Sachverzeichnis447 Politik  4, 6, 7–12, 19, 23, 28–30, 36–39, 46, 53, 55 f., 63, 66 f., 95, 97 f., 105–107, 109, 111, 114, 117–119, 121–125, 137,143 f., 148, 158 f., 161, 163–168, 170–174, 178, 186–189, 209, 234, 241, 252–255, 258 f., 265, 274, 276, 285, 297–300, 302 f., 316 f., 328 f., 338, 341, 343, 347, 351 f., 356, 359, 361, 364, 367 f., 370, 387, 391, 401, 404, 414, 426 f., 435 –– Abwesenheit von  72 –– des Regierens  168, 347 –– durch Personen  406 –– kreative Kraft der  12 –– Kunst der  268 –– Liebe zur  37 –– Paradox der  356 –– personale Elemente in der  317 –– schöpferische  10, 173, 189, 358 –– schöpferische Formen der  189 –– sprachliche Artefakte der  361 –– städtische  164 –– Theorie der  211 –– Welt der  341, 346 –– Wirklichkeit der  11 f., [Wirkl. von] 23,356 Politikberater  253 Politische Theorie  5, 11, 23, 58, 67, 70, 121 Präfiguration der Regierung  33 Präsident  32, 36, 266 –– amerikanischer  32, 34 f., 56, 174, 246, 250, 263 f., 268–270, 369 –– französischer  21, 49 f., 56 f., 263 f., 268, 270, 276, 299–301, 353 f., 365, 367, 370, 393 Primat von Personen (in der Politik)  28 f., 361, 364 Prophet(en)  63–67, 73–80, 116, 356 –– politische  67 –– wahre  65, 79 Prophetie  63–66, 77–79 Prozess der Wirklichkeit  84, 219, 222 Psyche  68 f., 118, 200 f., 213, 218

Realität  10, 23, 28 f., 84, 119, 185, 204, 210 Regieren (s)  7 f., 24–29, 31–33, 36, 39, 43, 73 f., 94, 124, 185 f., 263, 266, 269, 341, 348–350, 352, 356, 360, 362, 364 f. –– demokratisches  42 –– freiheitliches  247 –– Kunst des  189, 341, 347, 363 –– monokratisches  42 –– Morphogenese des  359 –– Paradigma für  346 –– Praxis des  351 –– Problem des  354 –– schöpferisches  175, 178 185, 347, 351 –– schöpferisches, Paradigma  351 –– Schöpfungswerk  347 –– städtisches  188 –– Strukturen des  348, 388 –– Wirklichkeit allen  269 –– Wissenschaft vom  349 Regierung  13 f., 20, 24, 27–31, 33 f., 36 f., 46 f., 49 f., 54–57, 67, 80, 99, 124, 165, 171 f., 174 f., 177, 185 f., 188 f., 242, 247, 252, 260, 264 f., 268–270, 297, 299–303, 305, 307, 310, 338, 346, 355, 357–359, 361, 363, 368–370, 401, 406 f. –– institutionelle  270 –– kleine  174, 189 –– zweite  172, 268, 270, 368 Regierungsführung  347–349, 351 Regierungskunst  142, 264, 337, 348 f. –– Klassizität der  348 Regierungslehre  25, 32, 34, 124, 345, 349 –– vergleichende  345 Regierungsmacht  29, 33, 36–38, 58, 265, 270, 303, 368 Regierungspraxis  51, 169, 263, 268, 299, 347, 405 f., 422 Regierungstheorie  24

448 Sachverzeichnis Regierungsweise  29, 36, 347, 384, 401, 404 Regierungswelt, städtische, Innenwelt der  169, 172, 347, 383 Regierungswerk  360 Regierungswesen  8, 10, 25 f., 34, 43, 165, 169, 177 f., 261, 263, 269, 347, 359, 369, 401 –– hypertrophes  159, 177 f. Regierungszentralen  37 Regime –– konstitutionelles  12, 28–32, 35–38, 58 f., 102, 174, 189, 270 –– monokratisches  36, 38 –– parlamentarisches  48, 50, 56 Reims  339 Repräsentation  3, 5, 16, 54, 213, 261, 281, 421 Republik  5, 21, 24, 30, 35 f., 49 f., 54–56, 131, 162, 173, 239, 241, 243, 254, 259 f., 264, 270, 276, 290, 297, 311, 317, 353, 365, 367, 405, 433 –– amerikanische  21, 162, 239, 241, 243, 254, 312 –– französische  45 f., 301, 353, 357 –– Freiheit der  260 –– Republik, III. (Frankreich)  47–52, 59, 300 –– Republik, IV.  45–52, 59, 275, 300 –– Republik, V.  45, 47, 55, 275 f., 288, 291, 297–301, 353, 369 –– Verfassung  47, 275 Republikanischer Monarch  56 Revolution –– amerikanische  19, 242 f. –– französische  18 f., 21, 241, 277, 285, 291, 297 f., 311, 435 –– universale  144 Richtlinienkompetenz  31 Rom  87, 97 f., 101, 188, 232 f. Rue de Bièvre (Paris)  268, 397 Salerno –– Universität  434

San Francisco  162, 170, 172, 202 Sarajewo  393–395 Satelliten  176, 189 Schöpferisches  100, 185, 346, 359 364 Schöpfung –– andere  108 f., 113, 117, 126, 133, 157 f. –– Diptychon der  111, 114–118, 133, 150, 158 –– Ereignis der  111, 116 –– Gelächter der  113, 150 –– Leere der  89 –– Leiden der  109 f., 118, 149, 158 –– politische  105 f. –– Revolution der  148 –– Wirklichkeit der  109 –– zerfallende  111 scintilla animae-Doktrin  134 Seele  68 f., 88, 91, 115 f., 134, 200, 218 f. Selbstentfremdung  141 f. Selbstverwaltung –– kommunale  168, 171 Sorge –– des Menschen  121 f., 125, 127 f. –– politische  121 –– religiöse  121 Souveränität –– monetäre  336 Sowjetisches Imperium  427 Sowjetunion  313–318, 322–324, 327 f., 334, 423 Sozialistische Partei (Frankreich)  281 f., 284, 288, 292–294, 356, 373, 386, 405 Sprache  194, 211, 213, 215–224, 227, 231 –– der Bewegung  215 –– Theorie der  211 Sprachsymbole  134, 201, 224 Staat  48, 52 f., 95, 107, 131, 146, 245, 259, 299, 361 Staatspräsident (s. Präsident, ­französischer)

Sachverzeichnis449 Staatsstreich in Litauen  327 Stadt  159–167, 169–173, 175–181, 185–189, 346 f. –– Kunstwerk  159, 162 –– Zivilisationsform  160 Stadtforschung, sozialwissenschaftliche  167 Stadtplanung  159, 302 Stanford  194–198, 202 Streit  87, 89, 93–96, 98 Symbolordnung –– menschheitliche  203, 222 Theater –– magisches  156 Theopolitik  67, 77 f. Thessaloniki  413, 415 Theurgie des Menschen  147 Torheit  76, 78, 88 Tugendterror  435 Unbewusstes –– kollektives  213 f. Verbatim  32, 335, 353, 429 f. Vereinigte Staaten von Amerika  23, 32, 170, 187, 189, 234, 237–240, 245–247, 249–251, 253, 255, 263, 270, 301, 323, 327, 352, 369, 428 Verfassung der Vereinigten Staaten  23, 246 Verfassungen –– politische  23 f., 26 f., 178 Verfassungsform(en)  23–27, 31, 297 Verfassungsrat  267, 301 f. Verfassungstheorie  45–48, 53, 55, 58 Versailles  305 f., 309, 311, 410 Verwandlung Europas  100, 103 Vielheit  68, 107, 117, 243, 356 Vilnius  320 f., 323–329, 331 f. Wahlkampf  249–255, 387, 410 Wahrheit  13–21, 24, 27, 39 f., 51, 72 f., 76, 79, 83, 86, 92, 101, 105 f., 113 f.,

117, 122, 125 f., 129, 134 f., 142, 145, 154 f., 222–224, 243, 358, 361, 417 f., 435 –– der menschlichen Welt  361 –– des Menschseins  11 f. Währungskrise  336, 358 Weisheit  12, 76 f., 79, 82, 107, 119, 124, 133, 135, 227, 349, 397 –– göttliche  82 Weißes Haus  38, 249, 253, 263, 368 f., 373 Welt  69–72, 83 f., 92–96, 108, 110, 112, 115–119, 137, 139, 156–158, 231–239, 241–243, 356–359, 361 f. –– der Körper  108 –– ideale  130, 133, 137 –– menschliche  99, 106, 361 Werkstatt –– der Weltpolitik  317–319, 341 –– Eric Voegelins  193–204 –– von Regierenden  380 Werkstattkonstitution  200 Wiedervereinigung, deutsche  30, 280, 315, 321, 334, 338, 410, 424, 426–431 Williamsburg  376 f. Wirklichkeit  68, 81, 84, 119, 135, 164, 167, 210–224, 243, 356, 359, 409 –– Anruf der  218 –– Bewegung der  219 –– Bewußtsein von  218 –– gesellschaftliche  409  –– göttliche  220, 222 f. –– menschliche (des Menschen)  142, 145, 169, 222, 385 –– Natur der  215 –– Offenbarung von  217, 223 –– politische  46, 169 f., 178, 185, 285, 356, 361 –– städtischer Politik  164 f. –– Struktur (in) der  222 –– Teilhabe an der  222 –– Wahrheit der  224 –– Wunder der  222

450 Sachverzeichnis Wirtschaft Frankreichs  355 Wissen  216–218, 220, 223 –– politisches  265 –– prophetisches  73 Wissenschaft(en)  6–8, 10, 76, 84, 99, 116, 121, 129, 142, 163–167, 170 f., 209, 257, 273, 276, 348, 377, 419, 435, –– politische (n)  6, 8–11, 24 f., 42, 63, 69, 73, 106, 119, 124, 189, 194, 224, 226 f., 345 f., 349

–– Experiment der  346 –– Praxis der  9–11 Wissenschaft vom Regieren  349 Yorktown, Schlacht von  376 Zentralbank –– Europäische  409 Zivilisation –– menschliche  232 –– westliche  235 f.