Zur Präzisierung und Kontrolle von Opportunitätseinstellungen [1 ed.] 9783428508877, 9783428108879

Einstellungen von Strafverfahren nach dem Opportunitätsprinzip bestimmen dieser Tage in weiten Bereichen das Bild staatl

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Zur Präzisierung und Kontrolle von Opportunitätseinstellungen [1 ed.]
 9783428508877, 9783428108879

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MARKUS HORSTMANN

Zur Präzisierung und Kontrolle von Opportunitätseinstellungen

Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Herausgegeben von Klaus Bernsmann, Hans Joachim Hirsch Günter Kohlmann, Michael Walter Thomas Weigend Professoren an der Universität zu Köln

Band 40

Zur Präzisierung und Kontrolle von Opportunitätseinstellungen

Von Markus Horstmann

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

Die Juristische Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahre 200112002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrutbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0936-2711 ISBN 3-428-10887-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Mißtraut Euch, edler Lord, daß nicht der Nutzen des Staats Euch als Gerechtigkeit erscheine. Schiller, Maria Stuart, Erster Aufzug, Siebenter Auftritt.

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 200112002 von der Juristischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis Oktober 2001 berücksichtigt werden. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Hirsch, der mir das Thema dieser Arbeit zur Verfügung gestellt und die Bearbeitung mit fachlicher Hilfe, kritischen Anregungen und gutem Rat begleitet, unterstiitzt und gefördert hat. Dem Korreferenten, Herrn Professor Dr. Jürgen Seier, danke ich für die zeitnahe Erstellung des Zweitgutachtens. Den Herausgebern der "Kölner Kriminalwissenschaftlichen Schriften" danke ich für die Aufnahme dieser Arbeit in ihre Schriftenreihe. Darüber hinaus gilt mein herzlicher Dank meinem Studienkollegen und Freund, Herrn Thorsten Reichow, der mir während der gesamten Zeit der Manuskripterstellung mit seinem fachlichen und freundschaftlichen Rat stets geduldig als Gesprächspartner zur Verfügung gestanden hat. Dank schulde ich des weiteren all denen, die das umfangreiche Manuskript nach seinem Abschluß mit nahezu unermüdlicher Ausdauer Korrektur gelesen und damit einen wertvollen Beitrag zum Gelingen dieser Arbeit geleistet haben. Ganz besonders danke ich meinen Eltern, Inge und Manfred Horstmann, die mich sowohl bei meiner beruflichen als auch außerberuflichen Lebensplanung bis zum heutigen Tage immerzu ermutigt und uneingeschränkt unterstiitzt haben. Ohne sie wäre vieles nicht möglich gewesen. Sie haben auch maßgeblichen Anteil daran, daß dieses Werk entstehen konnte. Nur schwer in Worte zu fassen ist schließlich auch der Dank, den es von mir an dieser Stelle an meine Lebensgefährtin Simone Pengel zu richten gilt. Auch nach den langen Jahren des Studierens, in denen sich unsere Freundschaft immer auch als ein äußerst wohltuendes "Rückzugsgebiet" von der Juristerei bewährt hatte, war sie niemals müde, mir bei all den Schwierigkeiten und Mühen, die mit der Erstellung dieses Werkes verbunden waren, den so notwendigen moralischen Rückhalt zu geben. Euch ist diese Arbeit gewidmet. Düsseldorf, im März 2002

Markus Horstmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Erster Teil

Legalität und Opportunität als unterschiedliche Kategorien der Rechtsanwendung A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 26

I. Begriff und Inhalt des strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzips

26

II. Herkunft und geschichtliche Entwicklung des Legalitätsprinzips .............

28

1. Das staatstheoretische und verfassungsrechtliche Fundament strafverfahrensrechtlicher Legalität - Das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip als konkretisierte Prozeßmaxime des aus dem Rechtsstaatsprinzip hervorgehenden staatsrechtlichen Legalitätsprinzips .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

a) Das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 III GG als elementares Prinzip des Grundgesetzes und als Organisationsprinzip des Strafverfahrens ......

29

aa) Anerkannte Wesenselemente des Rechtsstaatsprinzips ...........

30

bb) Legalität und Rechtsstaatsprinzip - Das Legalitätsprinzip in seiner Beziehung zu rechtsstaatlicher Verfahrensweise .............

32

(1) Legalität aufgrund formaler Aspekte des Rechtsstaatsprinzips ........................................................

32

(a) Das Gesetzlichkeitsprinzip in Art. 20 III GG: Die Selbstbindung der beteiligten Staatsorgane an Recht und Gesetz .............................................

32

(b) Der Bestimmtheitsgrundsatz in Art. 20 III, 103 II GG Rechtssicherheit durch Voraussehbarkeit staatlicher Eingriffe ...............................................

33

(2) Legalität aufgrund materialer Aspekte des Rechtsstaatsprinzips sowie weiterer verfassungsrechtlicher Begründungszusammenhänge ..............................................

34

(a) ,,Justizgewährungspflicht"- Legalität aufgrund einer vom Rechtsstaatsprinzip geforderten Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege ..................

35

Inhaltsverzeichnis

10

(b) Legalität in ihrer rechtsfriedenssichernden Funktion ....

36

(c) Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz - Legalität als staatliches Instrument zur (strafprozessualen) Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots, zur Durchsetzung des Willkürverbots sowie zur Wahrung und Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit ..............

37

b) Ergebnis

38

2. Das straf- und strafverfahrensrechtliche Fundament des Legalitätsprinzips

39

3. Das straftheoretische Fundament der Legalität ............................

42

4. Die wechselvolle Geschichte des Legalitätsprinzips im deutschen Strafverfahren .................................................................

45

III. Ergebnis.....................................................................

50

B. Der Einbruch des Opportunitätsgedankens in das klassisch-liberale rechtsstaatliche Strafrecht - Opportunität als rechts theoretischer Gegensatz zur Legalität. . . . . . . . . . . .

51

I. Begriff und Inhalt der Opportunität und ihre Abgrenzung zur Legalität .......

51

II. Gesetzliche Verankerung des Opportunitätsprinzips ..........................

53

III. Träger der Nichtverfolgungsermächtigung ...................................

54

C. Die Bestimmung des Verhältnisses von Legalität und Opportunität vor dem Hintergrund ihrer Begründungszusammenhänge ..........................................

55

I. Legalität in der Legitimationskrise - Die Frage nach der Rechtfertigung der Theorie von der Unverzichtbarkeit der staatlichen Verfolgungspflicht ........

55

1. Läßt sich die Theorie von der Unverzichtbarkeit der Legalität auf ihr straftheoretisches Fundament gründen? .......................................

56

a) Die absoluten Straftheorien als geistesgeschichtliche Grundlage des überkommenen Legalitätsprinzips ....................................

56

b) Wandel der Zielsetzung staatlicher Strafrechtspflege - Die zunehmende Eingrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht als prozessuale Entsprechung der Überwindung des reinen Verge1tungsstrafrechts ....

57

c) Ergebnis.............................................................

59

2. Läßt sich die Theorie von der Unabdingbarkeit der Legalität auf ihr staatstheoretisches und verfassungsrechtliches Fundament gründen? ...........

59

3. Ergebnis .................................................................

62

Inhaltsverzeichnis

11

11. Ist eine vollständige und lückenlose Strafverfolgung aufgrund eines idealen Legalitätsprinzips tatsächlich möglich, verfassungsrechtlich zulässig und / oder wünschenswert? ........................................................

62

1. Tatsächliche Realisierbarkeit idealer Strafverfolgung in der Rechtspraxis .

63

2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer uneingeschränkten Verfolgungspflicht ....................................................................

63

a) Verstoß gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Art. 1 I GG ..

64

b) Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ....................

65

aa) Legitime Ziele staatlicher Strafverfolgung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

bb) Die Verhältnismäßigkeit strenger Legalität als Mittel zur Zielerreichung ........................................................

67

cc) Ergebnis ........................................................

69

c) Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz aus Art. 6 I S. I EMRK

69

d) Verstoß gegen den Grundsatz der ,,funktionstüchtigen Rechtspflege" Selektive Strafverfolgung als eine Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Systems der Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . .

70

e) Verstoß gegen die horizontale Gewaltenteilung aus Art. 46 GG .......

72

f) Ergebnis .............................................................

72

3. Ist darüber hinaus eine uneingeschränkte Verfolgungspflicht als Ausfluß eines ideal verstandenen Legalitätsprinzips überhaupt ein (kriminalpolitisch) wünschenswerter Rechtszustand? ..................................

72

a) Strenge Verfolgungspflicht zur bestmöglichen Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 I GG .......................

73

b) Strenge Legalität als Mittel zur Erreichung eines höchstmöglichen Grades an Bestimmtheit und damit Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

c) Uneingeschränkte Verfolgungspflicht zur bestmöglichen Verwirklichung des Demokratiegrundsatzes aus Art. 20 I GG ..................

75

d) Strenge Legalität zur Vermeidung und Eindämmung politischer Beeinflußbarkeit staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen .. . . . . . . . . . . . . .

76

e) Andererseits: Effizienz und Folgenorientiertheit der Strafrechtspflege - Opportunität als Instrument einer "modemen" Kriminalpolitik . . . . . .

77

f) Die Zurückdrängung des Legalitätsprinzips als Mittel zur Erreichung einer im Hinblick auf ihre generalpräventive Wirkung "optimalen Sanktionierungsrate" .................................................

78

g) Ergebnis

80

D. Ergebnis ,,Erster Teil" ..............................................................

81

12

Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil

Legalität und Opportunität in der Konzeption des geltenden Rechts

84

A. Das Legalitätsprinzip in der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland ...

84

I. Die gegenwärtige gesetzliche Ausfonnung des Legalitätsprinzips im Überblick.........................................................................

84

1. Legalitätsprinzip und staatsanwaltschaftlicher Verfolgungszwang .........

85

a) Persönlicher Anwendungsbereich ....................................

85

b) Zeitlicher Anwendungsbereich .......................................

86

c) Sachlicher Anwendungsbereich ......................................

87

aa) Vorab: Anwendbarkeit des § 15211 StPO im Jugendstrafrecht ...

87

bb) "Straftaten" .....................................................

88

cc) Verfolgbarkeit...................................................

88

dd) ,,zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

(1) Verdachtsintensität und Dunkelfeldforschung ...............

92

(2) Kenntnis (nur) infolge eines Verstoßes gegen ein Beweisverbot .........................................................

93

(3) Außerdienstliche Kenntniserlangung .......................

94

(4) Ergebnis ...................................................

95

ee) Bindung der Staatsanwaltschaft an eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung ...........................................

95

(1) Überblick über den Streitstand .............................

96

(2) Ergebnis ................................................... 100 ff) Bindung des sachbearbeitenden Staatsanwalts an dienstrechtliche

Weisungen...................................................... 100

gg) "soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist" ............... 10 1 d) Die Rechtsfolge des § 152 11 StPO - Gegenstand der Handlungspflicht und Adressaten des Verfolgungszwangs .............................. 101 2. Polizei und Legalität ..................................................... 102 3. Gerichtliche Verfolgungspflicht .......................................... 104 11. Ergebnis..................................................................... 105

Inhaltsverzeichnis

13

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug - Die gegenwärtig weite Verbreitung des Opportunitätsgedankens in Form gesetzlicher und faktischer Einschränkungen der rechtsstaatlichen Verfolgungspflicht ................................................ 105 I. Gesetzlich normierte Einschränkungen der Legalität......................... 105 1. Das Ordnungswidrigkeitenrecht als ein Beispiel uneingeschränkter Opportunität .................................................................... 106 2. Kronzeugenregelungen als Opportunitätsentscheidung ,,reinsten Wassers"

106

3. Der Opportunitätsgedanke im JGG und BtMG ..... . . . .................... 107 4. Opportunität im Strafverfahren - Ein Überblick über die opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschriften der StPO ................................ 108 a) Zu den Einstellungsermächtigungen der §§ 153 ff. StPO im einzelnen

109

b) §§ 374 ff. StPO....................................................... 114 c) Das Sicherungsverfahren (§§ 413 ff.) und das objektive Verfahren (§ 440) ............................................................... 114 5. Der Notstandsgedanke aus §§ 228, 904 BGB, § 34 StGB als allgemeiner Rechtsgrundsatz zur Legitimierung von Opportunitätsentscheidungen .... 114 11. Faktische Einschränkungen der Legalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Einbußen an Legalität durch praktische Schwerpunktbildung bei der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Verfolgungstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Einbruch in das Legalitätsprinzip durch die zunehmende Praxis der strafrechtlichen Prozeßabsprachen ............................................ 119 3. Weitere Einschränkung der Legalität durch die Sanktionierung strafbaren Verhaltens durch außerstaatliche Instanzen ............................... 120 a) Betriebsjustiz bei Verfehlungen von Arbeitnehmern im Rahmen ihrer Betriebszugehörigkeit ................................................ 121 b) Interne Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit bei Sportverbänden..... 121 c) Sanktionierungssysteme innerhalb von Schulen, der Bundeswehr und der Polizei ........................................................... 122 d) Warenhausjustiz bei leichteren Ladendiebstählen ..................... 122 4. Durchbrechung des Legalitätsprinzips durch informelle Verfahrenserledigungen im Wege der Diversion ........................................... 123 C. Ergebnis ,.zweiter Teil" ............................................................ 123

14

Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil Staatsanwaltschaftliche und gerichtliche OpportunitätseinsteUungen und ihre Vereinbarkeit mit der verfassungsmäßigen Ordnung

125

A. Überblick über mögliche verfassungsrechtliche Konfliktfelder im Zusammenhang mit opportunitätsgeprägten Einstellungsbestimmungen ............................. 125 I. Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 126

11. Gleichheitsgrundsatz

128

III. Unschuldsvermutung

128

IV. Gewaltenteilungsprinzip ..................................................... 129 V. Rechtsschutzgarantie .......................... . ............................. 130 B. Die Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen - Zunächst: Die sanktionslose Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO ............................................................................... 131 I. Anwendungsvoraussetzungen ................................................ 131

11. Entstehungsgeschichtliches und kriminalpolitischer Hintergrund ............. 135 III. Ungleichheit der Rechtsanwendung bei § 153 StPO infolge weitgehend unbestimmter Anwendungsvoraussetzungen ...................................... 136 1. "Geringe Schuld" ........................................................ 137

a) Der Schuldbegriffin § 153 StPO ..................................... 137 aa) Einzeltatschuld ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137 bb) Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Die Bestimmung des Geringfügigkeitsbereichs im Rahmen von § 153 StPO ................................................................. 141 aa) Vergleichsmaßstab zur Bestimmung des Schuldgrades ........... 141 (1) Deliktsspezifischer Strafrahmen als Bezugspunkt........... 142 (2) Die potentielle Strafe und die verursachte Schadenshöhe als generelle Maßprinzipien zur Abgrenzung der Geringfügigkeit ........................................................ 143 bb) Graduelle Bestimmung des Geringfügigkeitsbereichs ............ 144 c) Ergebnis ............................................................. 145 2. "Öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung........................... 145

Inhaltsverzeichnis

15

3. "Geringe Folgen" der Tat................................................. 150 4. Ergebnis ................................................................. 151 IV. Verstoß gegen die Unschuldsvennutung ...................................... 152 V. Gewaltenteilungsprinzip und Rechtsschutzgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 153 VI. Ergebnis............... . ..................................................... 154 C. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung - Die Einstellung des Verfahrens bei gleichzeitiger Verhängung von Auflagen und Weisungen gemäß § 153 a StPO ...... 155 I. Anwendungsvoraussetzungen ................................................ 155 11. Zur Vorgeschichte des § 153 a StPO ......................................... 157 III. Kriminalpolitische Zielsetzung des Gesetzgebers der Jahre 1974 und 1993 ... 160 1. Entkriminalisierung durch Verfahren - § 153 a StPO als prozeßrechtliches Korrektiv für die materiellrechtliche Höherstufung früherer Übertretungstatbestände zu Vergehen und dem Wegfall von Privilegierungstatbeständen im Bereich der Vennögensdelikte (1974) ............................. 161 2. Entlastung der Justiz - § 153 a StPO als Radikalmittel zur Bewältigung der "Massen-Bagatellkriminalität" und damit als Instrument zur Auflösung organisationspragmatischer Schwierigkeiten (1974 und 1993) ....... 163 3. Der Diversionsgedanke - § 153 a StPO als Teil eines Gesarntkonzepts infonneller Erledigungsstrategien .......................................... 164 D. Ist § 153 a StPO als Einschränkung des Legalitätsprinzips dogmatisch verfehlt, kriminalpolitisch mißglückt und arn Ende sogar verfassungswidrig? - Die Verfahrenseinstellung gegen Erteilung von Auflagen und Weisungen im Spiegel der Kritik .... 166

I. Ungleichheit der Rechtsanwendung bei § 153 a StPO infolge weitgehend unbestimmter Anwendungsvoraussetzungen (Art. 10311,20 III GG) ............ 167 1. Geltung des speziellen Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 11 GG auch im Verfahrensrecht ....................................................... 168 2. Verfassungsrechtliche Bestimmtheitsanforderungen an die Anwendungsvoraussetzungen des § 153 a StPO ........................................ 169 a) Die Schuldklausei des § 153 a StPO .................................. 170 aa) Die "geringe Schuld" in § 153 a StPO a.F. ....................... 170 bb) Eine neue Qualität an Unbestimmtheit durch die Erweiterung der Schuldklausei im Wege des Rechtspflegeentlastungsgesetzes vom 11. 1. 1993 - Zugleich: Legalisierung einer bislang illegalen Praxis? .......................................................... 171

16

Inhaltsverzeichnis (1) Überdehnte Anwendung der Einstellungsermächtigung bereits in § 153 a StPO a.F. ................................... 171 (2) Die offizielle Freigabe des Bereichs der "mittleren Kriminalität" durch den gesetzgeberischen Verzicht auf das vormals beschränkende Erfordernis der "geringen Schuld" im Jahre 1993 ....................................................... 173 (a) Schuldbegriff und Berechnungsmaßstab für die "Schwere der Schuld" ......................................... 174 (b) Anwendungsfenster "mitte1schwere Kriminalität" ...... 175 b) Das "öffentliche Interesse" an der Strafverfolgung in § 153 a StPO ... 178 c) Das umstrittene Verhältnis des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses zur Schuldschwere im Rahmen von § 153 a StPO ..................... 180 3. Anwendbarkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes in Art. 103 H GG auch auf die Deliktsfolgenanordnung? Geringere Anforderungen an die Bestimmtheit angesichts des begünstigenden Charakters der Rechtsfolgen nach § 153 a StPO? ............................................................ 181 4. Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz infolge einer weitgehend unbestimmten Anwendungspraxis - Bestimmtheitsanforderungen auch an das Verfahren, in dem § 153 a StPO konkretisiert wird? ..................................................................... 183 5. Ergebnis ................................................................. 184 H. Ungleichheit der Rechtsanwendung durch regionale Unterschiede bei der Handhabung der Verfahrenseinstellung gegen Auflagen nach § 153 a StPO . .. 186 III. Ungleichheit der Rechtsanwendung infolge der Beeinflußbarkeit staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Verfahrenseinstellungsentscheidungen Unbestimmte Rechtsbegriffe in § 153 a StPO als Einfallstor für unsachliche und außerrechtliche Entscheidungsmotive des Rechtsanwenders ............. 188 1. Verfahrensökonomie als Beurteilungskomponente - Beeinflussung der Einstellungspraxis in Fällen erheblicher Straftaten mit komplexer Verfahrenslage .................................................................. 189 2. Die Einstellung nach § 153 a StPO als ,,Notbremse" bei zweifelhafter Beweislage, drohender Verjährung, überlanger Verfahrensdauer etc. - mithin als Strategie zur Vermeidung eines Freispruchs ........................... 192 3. Beeinflussung der Einstellungspraxis durch aktive Verfahrensgestaltung seitens des Beschuldigten oder seines Verteidigers ........................ 194 4. Ungleichbehandlung durch eine Besserstellung des finanziell kompetenten Beschuldigten bei der Erfüllung von Geldauflagen als Gegenleistung für die Verfahrenseinstellung im ,,Freikaufverfahren" ........................ 195

Inhaltsverzeichnis

17

5. Die Wegbereitung zu einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO durch "freiwillige" Vorleistungen Dritter . . .. . . .. .. .. .. . . .. .. .. . . . . .. . . .. . .. .. ... 203 6. Die Beeinflussung staatsanwaltlicher Einstellungsentscheidungen durch Behörden oder die Politik aus kriminalpolitischem Kalkül oder aus außerrechtlichen Gründen ...................................................... 204 7. Die Verfahrenseinstellung gegen einzelne Beschuldigte nach § 153 a StPO als probates Mittel der Staatsanwaltschaft zur ,.zeugenbeschaffung" ...... 207 8. Ergebnis ........................................... . ..................... 207 IV. Vereinbarkeit der in § 153 alStPO getroffenen Regelung mit dem verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungsprinzip, insbesondere der Monopolisierung der rechtsprechenden Gewalt bei den Gerichten (Art. 92, 20 11 S. 2 GG) ...... 208 1. Die Ausübung "quasi-richterlicher" Befugnisse durch die Staatsanwaltschaft bei der Verfahrenseinstellung unter gleichzeitiger Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 alStPO ............................ 209 a) Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers über Inhalt und Umfang der Rechtsprechungstätigkeit - Der formelle Rechtsprechungsbegriff . . . .. 210 b) Der materielle Inhalt des Rechtsprechungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 211 aa) Konkretisierung der Strafrechtsnormen .......................... 213 bb) Verhängung von Kriminalstrafen ................................ 214 (I) Rechtscharakter der Auflagen und Weisungen in § 153 a I StPO ....................................................... 215 (2) Ergebnis ................................................... 220 cc) Mögliche Verfassungskonformität der Ausübung rechtsprechender Gewalt durch die Staatsanwaltschaft......................... 221 (1) Die organisatorisch-systematische Einordnung der Institution Staatsanwaltschaft ..................................... 221 (2) Das Zustimmungserfordernis des Gerichts. . . . . . . . . . . . . . . . .. 224 c) Ergebnis ............................................................. 226 2. Gewaltenteilung als Gebot funktionsgerechter Organstruktur ............. 227 3. "Quasi-legislatorische" Befugnisse der Staatsanwaltschaft durch die richtliniengesteuerte Festlegung der Einstellungsgrenzen ...................... 229 4. ,,Justizinterne Gewaltenteilung" - Die problematische Vereinigung von Initiativrecht und Sanktionskompetenz in der Hand der Staatsanwaltschaft 231 5. Ergebnis ................................................................. 232 2 Horstmann

18

Inhaltsverzeichnis V. Die fehlende Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 IV GG gegenüber staatsanwaltschaftlichen Verfahrenshandlungen im Rahmen von § 153 a StPO ....................................................... 234 VI. Die Sanktionskompetenz nach § 153 a StPO im Spannungsfeld zwischen dem in Art. 20 III GG verankerten Schuldprinzip und der Garantie der Unschuldsvermutung aus Art. 6 11 MRK ................................................ 242 VII. Der faktische Unterwerfungszwang bei der Zustimmungsentscheidung des Beschuldigten im Rahmen von § 153 a StPO als Verstoß gegen die Verfassungsgebote ausformulierende Vorschrift des § 136 a StPO ................... 245 VIII. Verlust an Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit durch die Einstellung nach § 153 a StPO als Abschluß eines "Tuschelverfahrens" .......... 248 IX. Einbußen an General- und Spezialprävention durch eine zunehmend "inflationäre" Anwendung der §§ 153 ff. StPO ....................................... 250 X. Präventionsverlust aufgrund einer nicht stattfindenden überregionalen Taterregistrierung für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO ..... 252 XI. Vernachlässigung des Resozialisierungsanspruchs des Taters sowie legitimer Opferbelange angesichts der Dominanz der "Denkzettelsanktion Geldauflage" in der Binnenstruktur der Einstellungspraxis nach § 153 a StPO ........ 253 XII. Das gesetzgeberische Motiv der Justizentlastung bei § 153 a StPO: Ausdruck einer mangelnden ,juristischen Dignität" und/ oder schlichter Trugschluß? .. 255

XIII. ,,Minima non curat praetor" - § 153 a StPO als Instrument zur prozessualen Korrektur materiellrechtlicher Überreichweiten des Strafrechts ............... 259 XIV. Ergebnis ........... . ..................... . ................................... 263

E. Das weitreichende Opportunitätsdenken in den Verfahrenseinstellungen gemäß der §§ 153 b ff. StPO ................................................................... 265

F. Absehen von der Strafverfolgung nach § 31 a BtMG ................................ 269

G. "Kronzeugen"-Regelungen als gravierendste Durchbrechung der Legalität im Zeichen opportunistischer Strafrechtspflege ............................................ 274

H. Ergebnis "Dritter Teil" ............................................................. 281

Inhaltsverzeichnis

19

Vierter Teil

Recbtsvergleichung - Legalität und Opportunität in anderen (Recbts-)Staaten

282

A. Staaten mit überwiegend legalitätsgeprägten Strafrechtsordnungen ................. 283 B. Staaten mit überwiegend opportunitätsgeprägten Strafrechtsordnungen ............. 285

c.

Ergebnis "Vierter Teil" ............................................................. 292 Fünfter Teil

Reformvorscbläge de lege ferenda

294

A. Aufgabenstellung und Ausblick auf den Lösungsverlauf ............................ 294 B. Bagate1lkriminalität ................................................................ 296 I. Begriff und spezifische Probleme der Bagatellkriminalität ................... 296 H. Überarbeitung des gegenwärtigen verfahrensrechtlichen Lösungskonzepts durch Präzisierung der opportunitätsgeprägten Einstellungsnormen sowie durch Schaffung verbesserter Kontrollmöglichkeiten für die Einstellungspraxis ........................................................................... 298 1. Präzisierung des Anwendungsbereichs der §§ 153, 153 a StPO durch die Fixierung einheitlicher Entscheidungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 299 a) Inhalte möglicher Entscheidungskriterien ............................. 300 aa) ,,Einstellungsfreundliche Umstände" ............................ 301 bb) "Anklagefreundliche Umstände" ................................ 303 b) Rechtliche Formen einer Konzeption von Entscheidungskriterien ..... 304 aa) Gesetzliche Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 304 bb) Leitlinien der lustizverwaltung .................................. 305 2. Reformüberlegungen zur Kontrolle der Einstellungspraxis im Strafverfahren ....................................................................... 305 a) Vorab: Die Etablierung einer obligatorischen Begründungspflicht der einstellenden lustizbehörde als Minimalforderung .................... 306 b) Reformvorschläge zur Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Einstellungspraxis im Opportunitätsbereich de lege ferenda ................. 306 2*

20

Inhaltsverzeichnis aa) Etablierung eines obligatorischen gerichtlichen Zustimmungserfordernisses bei staatsanwaltlichen Einstellungen aus Opportunitätsgründen ..................................................... 307 bb) Etablierung einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit staatsanwaltschaftlicher Opportunitätseinstellungen ................... 307 (1) Überprüfungsmöglichkeit für den Beschuldigten ........... 308 (2) Überprüfungsmöglichkeit für den Verletzten. . . . . . . . . . . . . . .. 308 (a) Einführung einer subsidiären Privatklage............... 309 (b) Erweiterung des Klageerzwingungsverfahrens . . . . . . . . .. 310 cc) Möglichkeit eines vom Gericht ausgesprochenen Verfolgungsverzichts bei gleichzeitiger Eröffnung eines Rechtsmittels für den Staatsanwalt................................................ 312 c) Reformvorschläge zur Kontrolle der richterlichen Einstellungspraxis de legeferenda ....................................................... 313 3. Weitere Reformvorschläge zur systemimmanenten Fortentwicklung der gegenwärtigen prozessualen Lösung...................................... 313 4. Stellungnahme ........................................................... 315 III. Rein materiellrechtliche Lösungsansätze ..................................... 317 1. Ausformung einzelner Bagatelltatbestände und restriktive Tatbestandsauslegung der Strafvorschriften .............................................. 318 2. Ausformung eines allgemeinen materiellrechtlichen Geringfügigkeitsprinzips nach dem Vorbild des § 42 öStGB ................................... 319 3. Entkriminalisierung im Bagatellbereich durch Überführung materiellen Strafrechts in das Ordnungswidrigkeitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 322 4. Ausbau des Rechtsinstituts der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) 324 5. Sektorale Lösungsansätze zur Bewältigung von Bagate1lkriminalität ...... 325 a) AE-Ladendiebstah1 aus dem Jahre 1974 .............................. 326 b) AE-Betriebsjustiz aus dem Jahre 1975 ................................ 328 6. Präzisierung und Übernahme der §§ 153, 153 a StPO in das materielle Recht .................................................................... 330 7. Stellungnahme ........................................................... 332 IV. Materie1lrechtlich-verfahrensrechtlicher Lösungsansatz ...................... 333 1. Wiedereinführung einer dritten Deliktskategorie der Straftaten als materiellrechtlicher Anknüpfungspunkt einer Gesamtlösung ................... 333

Inhaltsverzeichnis 2. Prozessuales Element eines ganzheitlichen Regelungsmodells

21 338

a) Einsatz eines refonnierten Privatklageverfahrens ..................... 339 b) Alternativ-Entwurf einer Novelle zur StPO aus dem Jahre 1980 ...... 339 c) Ausgestaltung eines vereinfachten gerichtlichen Verfahrens anband der Vorschläge des Diskussionsentwurfs für ein Rechtsmittelgesetz aus dem Jahre 1975 .................................................. 343 3. Verankerung einer besonderen Bagatellgerichtsbarkeit im GVG .......... 348 V. Ergebnis..................................................................... 349

C. Die künftige Behandlung leichter bis mittlerer Kriminalität ......................... 350 D. Geringfügigkeitseinstellungen nach § 31 a BtMG ................................... 355 E. Kronzeugenregelungen ............................................................. 359 Gesamtergebnis ...................................................................... 361 Literaturverzeichnis ............................................................... '" 364 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 382

Abkürzungsverzeichnis a.A.

a.a.O. Abs. AB AB-BJG AB-GLD a.F. AnwB!. Art.

AT BayVerfGHE BerlVerfGH BGB!. BGHSt. BGHZ BR BRAK BRAO BT BtMG BVerfGE BVerwGE bzg!. BZRG bzw. DAR DAV d.h. DJT DJZ

DÖV DRiB DRiZ Drs.

DVB!. EGGVG

anderer Auffassung am angegebenen Ort Absatz Alternativentwurf Alternativentwurf Betriebsjustizgesetz Alternativentwurf Ladendiebstahlsgesetz alte Fassung Anwaltsblatt Artikel Allgemeiner Teil Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Berliner Verfassungsgerichtshof Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundesrat Bundesrechtsanwaltskammer Bundesrechtsanwaltsordnung Besonderer Teil, Bundestag Betäubungsrninelgesetz Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich Bundeszentralregistergesetz beziehungsweise Deutsches Autorecht Deutscher Anwaltverein das heißt Deutscher Juristentag Deutsche Juristen-Zeitung Die Öffentliche Verwaltung Deutscher Richterbund Deutsche Richterzeitung Drucksache Deutsches Verwaltungsblatt Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz

Abkürzungsverzeichnis EGStGB

23

Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch

EMRK

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

etc. f.; ff.

et cetera

FG

Festgabe

Fn. FS

Fußnote Festschrift

folgende Seite, folgende Seiten

GA

Goltdamrner's Archiv für Strafrecht

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GS GVG

Gedächtnisschrift

h.M.

Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Meinung

Hrsg.

Herausgeber

LE.

im Ergebnis

JA

Juristische Arbeitsblätter für Ausbildung und Examen

JGG

Jugendgerichtsgesetz

JR

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Jura

Juristische Ausbildung

JuS

Juristische Schulung Juristenzeitung Kriminologisches Journal

JZ

KrimJoum.

LG

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Landgericht

LR MDR

Löwe-Rosenberg Monatsschrift für deutsches Recht

MschrKrim m.w.N.

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform mit weiterer Nennung, mit weiteren Nennungen

n.F.

neue Fassung

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NStZ o.ä. OLG OWiG RegE

Neue Zeitschrift für Strafrecht oder ähnliche( s)

RGBI.

Reichsgesetzblatt

KritV

Oberlandesgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Regierungsentwurf

RistBV

Richtlinien fUr das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren

RistV

Richtlinien fUr das Strafverfahren

Rn. Rspr.

Randnummer Rechtsprechung Recht und Politik

RuP S.

Satz, Seite

24 SA sog. StA StGB StPO StrRG StV StVÄG StVG StVRG TOA

u. a. UN UNAllgErklMR usw.

v. vgl. VO wistra z.B. Ziff. ZRP ZStW

Abkürzungsverzeichnis Sonderausschuß sogenannt Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Gesetz zur Reform des Strafrechts Strafverteidiger Strafverfahrensänderungsgesetz Straßenverkehrsgesetz Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts Täter-Opfer-Ausgleich unter anderem United Nations Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und so weiter von, vom vergleiche Verordnung Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht zum Beispiel Ziffer Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung Opportunitätseinstellungen bestimmen dieser Tage in weiten Bereichen das Bild staatlicher Strafverfolgungstätigkeit. Als äußerst praxisrelevantes Verfahrensmittel stehen sie dennoch häufig und nachdrücklich im Blickpunkt wissenschaftlicher Kritik. Um einige der wesentlichen Vorwürfe auf ihre Berechtigung hin untersuchen und gegebenenfalls im Anschluß Wege zur Abhilfe aufzeigen zu können, sollen in einem "Ersten Teil" dieser Bearbeitung Legalität und Opportunität als unterschiedliche Strukturprinzipien deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts vorgestellt und dabei insbesondere ihr Verhältnis zueinander erhellt werden. Nachdem in einem "Zweiten Teil" ein Überblick über die Verteilung von Legalität und Opportunität in der Konzeption des geltenden Rechts zu geben sein wird, werden in einem "Dritten Teil" dieser Bearbeitung einzelne Ausprägungen des Opportunitätsgedankens am Maßstab der verfassungsmäßigen Ordnung überprüft. Das hierbei gefundene Ergebnis wird daraufhin in einem anschließenden " Vierten Teil" mit der Erkenntnis in Einklang zu bringen sein, daß andere, durchaus rechtsstaatlichen Werten verpflichtete Staaten ihre Rechtsordnungen dem Grunde nach am Opportunitätsgedanken ausgerichtet haben. Abschließend sollen in einem "Fünften Teil" einige mögliche Konsequenzen aus der vorgetragenen Kritik am derzeitigen Erscheinungsbild von Opportunitätseinstellungen aufgezeigt werden.

Erster Teil

Legalität und Opportunität als unterschiedliche Kategorien der Rechtsanwendung Legalität und Opportunität prägen als unterschiedliche Kategorien der Rechtsanwendung das Bild deutschen Strafverfahrensrechts. Allgemein wird dabei Legalität als der Regelfall oder das Ausgangsprinzip, Opportunität hingegen als Ausnahme vom Regelfall oder als Beschränkung des Ausgangsprinzips verstanden. Bevor die Berechtigung opportuner Einbriiche in den "Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption'" zu bewerten ist und gegebenenfalls Alternativvorschläge zu unterbreiten sind, ist zunächst auf den Inhalt, die Bedeutung sowie die Begriindungszusamrnenhänge der Ausgangsmaxime ,,Legalität" einzugehen.

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption Um sich der Problematik opportunitätsbedingter Einschränkungen der Legalität anzunähern, ist in einem ersten Schritt das Legalitätsprinzip als Rege1fall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption vorzustellen. Erst der Einblick in Inhalt und Bedeutung eines der "tragenden Prinzipien deutschen Strafverfahrensrechts,,2 ermöglicht in der Folge eine angemessene Bewertung der Einschränkung bzw. Außerkraftsetzung dieses Grundprinzips.

I. Begriff und Inhalt des strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzips Legislatorischer Anknüpfungspunkt einer jeden Darstellung des Legalitätsprinzips ist § 152 11 der Strafprozeßordnung. Hiernach ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, von Amts wegen "wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen". Aus dieser Einschreitenspflicht lassen sich im wesentlichen zwei Hauptpflichten für die Staatsanwaltschaft herleiten: die Ermittlungspflicht - d. h. die Strafverfolgungspflicht im engeren Sinne - sowie die Pflicht, eine Abschlußentscheidung zu treffen 3 • 1 2

3

Erb, Legalität und Opportunität, S. 68. Müller/Wache, FS Rebmann, S. 321. Pott, S. 4.

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

27

Die durch § 152 11 StPO zunächst allgemein begründete Verfolgungspflicht wird weiterhin von § 160 I StPO konkretisiert, der bestimmt, daß "sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, ... sie zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen" hat. § 160 I StPO präzisiert dadurch zum einen die staatsanwaltschaftliche Verpflichtung zum "Einschreiten" durch eine ,,Erforschungspflicht", wird aber zum anderen seinerseits durch die in § 15211 StPO geregelte Verdachtsschwelle für die Auslösu)lg dieser Erforschungspflicht präzisiert 4. Mit der Einschreitenspflicht im Falle des Vorliegens zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte setzt das Legalitätsprinzip für die Staatsanwaltschaft "eine Pflicht, in bestimmter Weise mit Faktischem umzugehen"s. Die Einschreitenspflicht ist mithin Erkenntnispflicht und zu deren Zweck Gewinnungspflicht von Erkenntnismitteln. Während die Normierung einer "Einschreitenspflicht" in § 15211 StPO noch einhellige Meinung ist6 , existieren in der Literatur unterschiedliche Ansichten darüber, ob für den Fall, daß die nachfolgenden Ermittlungen genügend Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage bieten, die staatsanwaltschaftliche Anklageverpflichtung ebenfalls von § 15211 StPO mitumfaßt ist - demzufolge § 15211 StPO durch § 170 I StPO lediglich spezifiziert würde7 -, oder ob sich eine Anklagepflicht vielmehr selbständig aus § 170 I StPO ableiten läßt und somit beide Vorschriften ohne Überschneidung nebeneinander stehen8 . Der Streit ist indes ohne erkennbare praktische Auswirkungen, betrifft er letzten Endes lediglich die dogmatisch interessante Frage, ob § 152 11 StPO als zentrale, umfassende Vorschrift des Legalitätsprinzips gelten kann9 . Unabhängig von der Verankerung in einer bestimmten Norm enthält jedenfalls die Legalität als solche - d. h. als "Gestaltungsprinzip des positiven Rechts,,10 eine doppelte Handlungsanweisung an den Staatsanwalt II und kann insoweit mit der Inhaltsumschreibung "Ermittlungs- und Anklagepflicht" belegt werden 12. ,,Le4 LR-Rieß, § 152 Rn. 3; zu den einzelnen Voraussetzungen des § 15211 StPO vgl. unten "Teil2.A.I.". 5 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 124. 6 Vgl. statt vieler: LR-Rieß, § 152 Rn. 8. 7 Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 131. 8 Vgl. die Nachweise bei Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 86 Fn. 405. 9 Diese Auffassung entspricht derweil der Konzeption des Gesetzes. Aus der systematischen Stellung von § 15211 StPO im Abschnitt über die "öffentliche Klage" und im Anschluß an § 152 I StPO wird man gerade die Pflicht zur Anklage als primär geregelt betrachten müssen; vgl. LR-Rieß, § 152 Rn. 3; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 86 Fn. 405 m.w.N. 10 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 86. 11 Eine aus dem Legalitätsprinzip hervorgehende Einschreitenspflicht ergibt sich zudem für die Polizeibehörden nach § 163 StPO (dazu im einzelnen unten "Teil 2.A.I.2.") und die Finanzämter nach § 386 AO, vgl. Creifelds, S. 814 f.

28

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

galität" beinhaltet einen umfassenden Befehl an die staatlichen Strafverfolgungsorgane zur lückenlosen Erledigung der Kriminalität. In Ansehung des Legalitätsprinzips wird der Staat verpflichtet, durch die zuständigen Behörden und Gerichte Straftäter zu verfolgen und gegebenenfalls zu bestrafen 13 • Ohne den Dingen vorgreifen zu wollen 14, kann bereits an dieser Stelle angemerkt werden, daß die Legalität "unsere Strafrechtspflege geprägt (hat), wie kaum ein anderes Prinzip,,15. Betraut mit dem Auftrag zu einer effektiven Durchsetzung des materiellen Strafrechts und auf den Weg gebracht unter der hehren Zielsetzung einer gerechten, ohne Ansehen der Person durchzuführenden Strafverfolgung 16 , erweist sich das Legalitätsprinzip im Verlauf seiner Geschichte als ein "Grundpfeiler des rechtsstaatlichen Strafrechts,,17. Neben dem Anklagemonopol in § 152 I StPO gehört es mit zu den die Struktur des deutschen Strafverfahrens konstituierenden grundlegenden Maximen der StP0 18 .

11. Herkunft und geschichtliche Entwicklung des Legalitätsprinzips

Erst die Reflexion der überragenden Bedeutung des Legalitätsprinzips für ein rechtsstaatliches Strafverfahren schafft die Grundlage für eine anschließende sachgerechte Bewertung einzelner opportunitätsgeprägter Einbrüche in die Grundsatzregelung. Zu diesem Zwecke sollen nachfolgend die unterschiedlichen staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Fundamente staatsrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Legalität nachgezeichnet sowie ein Blick auf die rechtshistorische Entwicklung der staatlichen Verfolgungsmaxime geworfen werden.

12 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 17; vgl. auch Müller/Wache, FS Rebmann, S. 321; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 86. 13 Schultz/Leppin, Jura 1981, S. 524. Zur zeitlichen Geltung des Legalitätsprinzips über den Zeitpunkt der Anklage hinaus vgl. im einzelnen unten "Teil2.A.I.1.b)". Zur Bindung der Gerichte an das Legalitätsprinzip vgl. zudem "Teil 2.A.1.3.". Zur materie1lrechtlichen Absicherung des Legalitätsprinzips durch § 258a StGB vgl. Pott, S. 118 ff. sowie unten "Teil 3.D.Y.". 14 Zur überragenden Bedeutung des Legalitätsprinzips vgl. im einzelnen unten "Teil 1.A.ll." sowie "Teil1.D.". 15 Waller, DRiZ 1986, S. 50. 16 Vgl. Weigend, ZStW 109 (1997), S. 103 f. Dazu auch unten "Teil 1.A.II.1.a)bb)(2)(c)". 17 Hassemer, FS Coing, S. 524. 18 LR-Rieß, § 152 Rn. 1.

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

29

1. Das staatstheoretische und verfassungsrechtliche Fundament strafverfahrensrechtlicher Legalität - Das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip als konkretisierte Prozeßmaxime des aus dem Rechtsstaatsprinzip hervorgehenden staatsrechtlichen Legalitätsprinzips

"Wenn gesagt wird, Verwaltungsrecht sei ,konkretisiertes Verfassungsrecht', so gilt das gleiche mit einigen Einschränkungen auch für das Strafprozeßrecht,,19. Dies bewahrheitet sich derweil nicht nur angesichts der unmittelbaren Relevanz von Verfassungsbestimmungen wie Art. 92, 97, 101, 103 und 104 GG für das Strafverfahren, sondern auch und vor allem durch die weitreichenden Schlüsse, die man aus dem in Art. 20, 28 GG verfassungsrechtlich abgesicherten Rechtsstaatsprinzip für die Ausgestaltung des Strafverfahrens gezogen hat2o . Es stellt sich daher die Frage, ob das verfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip in seinen vielfältigen Ausformungen als Teilaspekt auch die Verpflichtung des Staates und seiner Organe zu legalitätsbestimmtem Strafverfolgungshandeln beinhaltet. Denn für den Fall, daß mit einem staatsrechtlichen Legalitätsprinzip ein verfassungsrechtliches Leitprinzip aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden kann, wird man auch ein strafverfahrensrechtliches Legalitätsprinzip als unmittelbar staatstheoretisch fundiert ansehen müssen. Dies wiederum hätte zur Folge, daß sämtliche Einschränkungen eines derart verfassungsrechtlich fundierten Verfahrensprinzips auch an der Verfassung selbst zu messen wären. Opportunität, sofern sie ihrerseits auf einen verfassungsrechtlichen Begriindungszusammenhang zurückgreifen könnte, müßte in Abwägung zu einem allgemeinen staatsrechtlichen Legalitätsprinzip gebracht werden, welches sich für die Strafverfolgungsbehörden durch eine Reihe von Vorschriften zu einem strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzip konkretisiert. Entscheidend ist demzufolge, ob es eine Verankerung des Legalitätsprinzips in der Verfassung gibt, auf die am Ende auch ein strafverfahrensrechtliches Legalitätsprinzip als Ausformung staatsrechtlicher Legalität zurückgeführt werden kann.

a) Das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 III GG als elementares Prinzip des Grundgesetzes und als Organisationsprinzip des Strafverfahrens Möglicherweise kann das staatsrechtliche und - daran anschließend - auch das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip aus dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 III GG abgeleitet werden. Das Rechtsstaatsprinzip ist ein fundamentales, materiales Ordnungsprinzip21, auf dem das Grundgesetz basiert 22 , weshalb es in der Ver19 Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 70 mit Verweis auf Werner, DVBI. 1959, S.527. 20 Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 70. 21 Stern, Staatsrecht I, S. 774. 22 BVerfGE 20, 323 (331); 45,187 (246).

30

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

fassung auch gar nicht gesondert beschrieben ist23 . Benannt werden in diesem Zusammenhang stets die Art. 20 III, 28 I GG, in denen das Rechtsstaatsprinzip wenngleich nur ansatzweise erwähnt - im Verfassungstext aufleuchtet. Art. 20 III GG bindet alle staatliche Gewalt, mithin auch die strafverfolgende Gewalt, an Gesetz und Gerechtigkeit. Und in Art. 28 I GG ist niedergelegt, daß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern "den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen" muß 24 . Das Rechtsstaatsprinzip gehört derweil zu den "Leitideen", zu den "elementaren Prinzipien" des Grundgesetzes 25 ; die Rechtsstaatlichkeit stellt eine "verfassungsgestaltende Grundentscheidung" dar 6 , deren vornehmer Zweck es ist, die Individualsphäre der Menschen vor Eingriffen staatlicher Macht zu schützen 27 . Eine geschlossene Definition des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit staatlichen Handeins ist jedoch kaum möglich und letztendlich auch nicht gefordert. Beschreibend läßt sich sagen, "daß in einem Rechtsstaate das Recht einzig zulässiges Ordnungsmittel ist und inhaltlich auf die Verwirklichung der Gerechtigkeitsidee ausgerichtet sein muß,,28. Ist demnach das Rechtsstaatsprinzip zwar alles andere als eindeutig definiert, so sind doch gewisse Grundelemente und Wesenszüge allgemein anerkannt, aus denen sich wiederum eine verfassungsrechtliche Verankerung des Legalitätsprinzips ergeben könnte.

aa) Anerkannte Wesenselemente des Rechtsstaatsprinzips Innerhalb der unterschiedlichen anerkannten Wesenselemente des Rechtsstaatsprinzips kann man zunächstjonnale von materialen unterscheiden. Zunächst einmal bedeutet Rechtsstaat im jonnalen Sinne "Begrenzung staatlicher Macht,,29 durch das Gewaltenteilungsprinzip3o, den VerhäItnismäßigkeitsgrundsatz 31, ferner durch den "Primat des Rechts· m , also insbesondere die Selbstbindung des Staates an die Rechtsordnung33 , womit Vorhersehbarkeit und Meßbarkeit staatlichen Handeins wie dessen Kontrolle durch unabhängige Gerichte 34 und 23 24

25 26 27 28 29 30

31 32 33

BVerfGE 2,380 (403); vgl. auch Stern, Staatsrecht I, S. 778. Vgl. hierzu auch Gössel, FS Dünnebier, S. 122 m. w. N.

Leibholz/ Rinck/ Hesselberger. GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 627. Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 132. Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 87. Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 132. Hesse, S. 86. Hesse, S. 86; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 92 f. BVerfGE 35, 382 (400); Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 98. Hesse, S. 87. Hesse, S. 87.

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

31

damit auch Rechtssicherheit vorausgesetzt werden 35 . Ein rein formelles Verständnis vom Rechtsstaat kennzeichnet die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in der die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Gewaltenteilung sowie die Unabhängigkeit der Gerichte besonders betont wurde36 • Zwischen 1933 und 1945 kommt es in Deutschland zu einer Pervertierung des Begriffs "Rechtsstaat", der durch die Nationalsozialisten im Sinne eines reinen Gesetzesstaates mißbraucht wird: alles, was auf Gesetzen beruhte, galt als rechtmäßig 37 • Vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen mit dem Dritten Reich, in dessen Jahren die Staatsmacht mit Hilfe nationalsozialistischer Gesetzgebung - die über weite Strecken an geradezu menschenverachtender Ungerechtigkeit litt, die aber regelmäßigjonnal einwandfrei zustandegekommen und somit "legal" war38 weit in die Privatsphäre des einzelnen eingedrungen war, entwickelte sich nach 1945 zu der formellen Ausgestaltung des Rechtsstaatsdenkens auch eine materielle: Der Rechtsstaat sollte nicht mehr nur Gesetzesstaat, sondern auch Gerechtigkeitsstaat sein39 . Zu den fundamentalen Elementen dieses materiellen Rechtsstaatsbegriffs zählen neben der Rechtssicherheit weiterhin die Verhältnismäßigkeit, die Bindung an die Grundrechte und die in ihnen getroffenen Wertentscheidungen40 sowie ganz allgemein die Pflicht zur Erhaltung und Verwirklichung der Gerechtigkeit.

34 Eine weitere Einzelausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist insoweit die Verbürgung unbedingten Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt; vgl. Hesse, S. 89; SchmidtJortzig, NJW 1989, S. 133. 35 Gössel, DIT-Gutachten, C 22; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 97. 36 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 210. 37 Stern, Staatsrecht I, S. 773. 38 Vgl. Gössel, DIT-Gutachten, C 23. 39 Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 87; Stern, Staatsrecht, S. 774. Die Anerkennung der materiellen Gerechtigkeit als eines Maßstabs für die Gesetzgebung - wie für jedes staatliche Handeln - verkennt derweil nicht, daß gleichsam umgekehrt die "Gefahr einer Aushöhlung der Gesetze und damit der gesetzlichen Selbstbindung durch ein beliebiges Verständnis von ,materieller Gerechtigkeit', etwa im Sinne einer bestimmten politischen Überzeugung, etwa des ,gesunden Volksempfindens' oder der ,sozialistischen Gesetzlichkeit'" (Gössel, DIT-Gutachten, C 23), besteht. Gleichwohl scheint diese Gefahr im Rechtsstaat der Gegenwart insofern gebannt, als daß zum einen der Maßstab der materiellen Gerechtigkeit den Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu entnehmen und insoweit verobjektiviert ist (Gössel a. a. 0.); zum anderen darf wegen der grundsätzlichen Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze (Maunz/Dürig-Herzog, GG, Art. 20 Rn. 63 m. w. N.) kein Gesetz ohne weiteres als "material ungerecht" nicht vollzogen werden. So sind zur ,,Entscheidung über einen etwaigen Widerstreit zwischen formellem Gesetz und materieller Gerechtigkeit ... allein die Verfassungs gerichte, vornehmlich also das Bundesverfassungsgericht, berufen, die bei ihren Entscheidungen neuen Gerechtigkeitsvorstellungen im Lichte auch gewandelten Verfassungsverständnisses Raum geben und so die materielle Gerechtigkeit innerhalb des Systems der formellen Gesetze weiterentwickeln können" (Gössel a. a. 0.). 40 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 212; Hesse, S. 89 f.; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 94.

32

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

Im Ergebnis kann daher festgehalten werden, daß es sowohl formale als auch materiale Elemente und Wesenszüge sind, aus denen sich das Rechtsstaatsprinzip konstituiert und die ihm sein Gepräge als Grundlage aller staatlicher Ordnung geben.

bb) Legalität und Rechtsstaatsprinzip Das Legalitätsprinzip in seiner Beziehung zu rechtsstaatlicher Verfahrensweise Zu untersuchen ist weiter, ob das Legalitätsprinzip als verfassungsrechtliches Leitprinzip auf die zuvor benannten Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips zurückgeführt und Legalität insoweit zu einem rechtsstaatlichen Prinzip erhoben werden kann41 . Für den Fall eines solchen staatstheoretischen Begründungszusammenhangs wäre auch die strafprozessuale Legalität rechtsstaatlich fundiert, da sich das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip unmittelbar auf das staatsrechtliche Legalitätsprinzip begründet. ( 1) Legalität aufgrund formaler Aspekte des Rechtsstaatsprinzips Vor den materialen gilt es zunächst die formalen Aspekte des Rechtsstaatsprinzips auf ihre Tauglichkeit als Begründungszusammenhang für eine Legalitätsverpflichtung der Staatsorgane hin zu überprüfen. (a) Das Gesetzlichkeitsprinzip in Art. 20 III GG: Die Selbstbindung der beteiligten Staatsorgane an Recht und Gesetz Bedenkt man den formalen Aspekt des Rechtsstaatsgedankens, so führt das in Art. 20 III GG niedergelegte Gesetzlichkeitsprinzip, d. h. die Begrenzung staatlicher Macht durch Bindung der Staatsorgane an Recht und Gesetz42, in der Konsequenz zum "Grundsatz der ausnahmslosen Anwendung der Rechtssätze"43: "Die Selbstbindung des Staates an die Rechtsordnung erlaubt es nicht, die Anwendung der Gesetze in das Belieben der je betroffenen staatlichen Organe zu stellen,,44. Es 41 Bei der Frage, ob und in welchem Umfang rechtsstaatliche Erfordemisse die Bindung der Strafverfolgung an das Legalitätsprinzip gebieten, ist zu berücksichtigen, daß im Jahre 1877, als § 15211 StPO in Kraft trat, von einem reinjormellen Rechtsstaatsbegriff ausgegangen wurde. Heute hingegen müssen auch materielle Gesichtspunkte bei der Frage des BegfÜndungszusammenhangs zwischen Rechtsstaats- und Legalitätsprinzip berücksichtigt werden; vgl. hierzu Döhring, S. 21. 42 Für den von anderen Institutionen unabhängigen Richter ergibt sich eine Bindung an das Gesetz nicht nur aus Art. 20 III GG, sondern explizit auch aus Art. 97 GG und § 25 DRiG. Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht ist derweil eine "Kernforderung des rechtsstaatlichen Strafrechts" (Hassemer, Grundlagen, S. 274). 43 Heyden, Begriff, Grundlagen und Verwirklichung des Legalitätsprinzips und des Opportunitätsprinzips, 1961; zitiert nach Gössel, FS Dünnebier, S. 125.

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

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läßt sich mithin die rechtsstaatliche Forderung erheben, daß (auch) im Strafrecht Gesetze herrschen, und nicht Personen45 . Allein mit der Erkenntnis, daß Art. 20 III GG als Grundlage staatlichen Handelns stets Gesetz und Gesetzlichkeit voraussetzt, ist jedoch für die Ausgangsfrage, inwieweit Rechtsstaatlichkeit zwingend die Forderung nach legalitätsgeleitetem Staatshandeln nach sich zieht, nicht allzuviel gewonnen; es erscheint vielmehr so, als drehe man sich im Kreis. So ist "Legalität" zunächst einmal kein Begriff des Rechts, sondern dieses selbst46 . Insoweit ist auch jegliches Staatshandeln, das aufgrund eines Gesetzes erfolgt, rechtstechnisch "legal". Versteht man mithin "Legalität" als bloße Gesetzmäßigkeit, d. h. als Übereinstimmung einer bestimmten Handlung oder Maßnahme mit dem geltenden Recht47 , dann steht diesem Verständnis schlechterdings auch nicht entgegen, solche Rechtssätze zu erlassen und zu befolgen, welche die Pflicht zur Anwendung der materiellen Strafrechtssätze gleichsam entgegengesetzt bis hin zur Aufhebung beschränken: "Der Grundsatz der gesetzlichen Bindung und die daraus folgende Verpflichtung aller staatlichen Stellen zur ausnahmslosen Anwendung der Rechtssätze zwingt nur zur Beachtung des Legalitätsprinzips insoweit, als es gesetzlich aus geformt ist und ebenso zur Beachtung aller gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen. Ein Gesetz, das die Strafverfolgung in das - rechtsstaatlich gebundene - Ermessen der Strafverfolgungsbehörden stellen würde, wäre demgemäß mit der Verpflichtung zum ausnahmslos gesetzmäßigen Handeln ebenso vereinbar, wie eine dem Legalitätsprinzip entsprechende Strafverfolgungspflicht,,48. Der rein formale Aspekt der Verpflichtung allen staatlichen HandeIns auf Gesetz und Gerechtigkeit ist demzufolge allein nicht in der Lage, die Rechtsstaatlichkeit staatlichen HandeIns zu sichern. Dieser Bestandteil des Rechtsstaatsgedankens verlangt lediglich die Anwendung und Durchführung der jeweiligen Rechtssätze ohne Rücksicht auf deren konkreten Inhalt. Diese rein formale Betrachtungsweise genügt wiederum, um zunächst den Grundsatz der staatsrechtlichen Legalität als in Art. 20 III GG verfassungsrechtlich verankertes "Gesetzlichkeitsprinzip" anzuerkennen 49 . (b) Der Bestimmtheitsgrundsatz in Art. 20 III, 103 11 GG Rechtssicherheit durch Voraussehbarkeit staatlicher Eingriffe Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt weiterhin die Forderung nach Rechtssicherheit, die besagt, daß in einem Rechtsstaat für den einzelnen Bürger aufgrund der geltenden Gesetze vorhersehbar sein muß, unter welchen Bedingungen und in wel44 45

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Gössel, FS Dünnebier, S. 125. Naucke, Modemes Strafrecht 1990, S. 149. Vgl. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 80. Creijelds, S. 814. Gössel, FS Dünnebier, S. 126 m. w. N. Falter, FG Maunz, S. 86; Pott, S. 3.

3 Horstmann

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

chem Umfang er hoheitlichen Eingriffen ausgesetzt ist5o . Indem das Rechtsstaatsprinzip das Staatshandeln auf eine verläßliche Dispositionsgrundlage stellt, wird staatliche Macht beschränkt und der einzelne vor der Willkür staatlicher Behörden geschützt. Unterprinzipien der Rechtssicherheit sind: Klarheit51 , Meßbarkeit52 , Voraussehbarkeit53 . Sie folgen allesamt aus dem Postulat der Bestimmtheit staatlichen Handeins. So kann ein Zustand von Rechtssicherheit im Sinne von Verhaltenssicherheit nur durch Bindung der Staatsorgane an ein inhaltlich präzises Gesetz erreicht werden 54 . Dabei hat für den Bereich des Strafrechts der Verfassungsgeber die Bedeutung des Bestimmtheitsgebots als so erheblich angesehen, daß er ihm neben der allgemeinen Verankerung im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG eine zusätzliche, ausdrückliche Festlegung in Art. 103 11 GG hat zuteil werden lassen. Das rechtsstaatliche Verlangen nach Bestimmtheit des Staatshandeins, auch als "Verläßlichkeit" zu bezeichnen55 , wird derweil auf sämtliche Normarten erstreckt56 • Es ist von dieser Warte aus zu fordern, daß eine eindeutige Auslegung die Norm in ihrem Gehalt erkennen läßt; das unbestimmte Weite muß wenigstens bestimmbar sein5? Unverläßlichkeit dagegen macht den Bürger zum Objekt staatlicher Willkür: "Daß das Recht sicher sei, daß es nicht heute und hier so, morgen und dort anders ausgelegt und angewandt werde, ist zugleich eine Forderung der Gerechtigkeit,,58. An dieser Stelle schließt sich dann auch der Kreis zum Vorgenannten: Daß die Legalität alle staatliche Gewalt an das Recht bindet, ist nicht zuletzt eine Forderung der Voraussehbarkeit staatlicher Eingriffe. Der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz ist insoweit eine der wichtigsten Einzelausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips59. (2) Legalität au/grund materialer Aspekte des Rechtsstaatsprinzips sowie weiterer verfassungsrechtlicher Begründungszusammenhänge Wenngleich die formalen Aspekte des Rechtsstaatsprinzips zumindest eine gewisse Tendenz zu legalitätsorientiertem Staatshandeln aufgezeigt haben, liegen die eigentlichen Wurzeln des staats- und somit auch des strafverfahrensrechtlichen Le-

so BVerfGE 8, 71 (76); vgl. auch Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 71 m. w. N. BVerwGE 56, 31 (43). BVerwGE 38, 139 (145). S3 BVerfGE 17,67 (82); BVerwGE 22, 299 (311). S4 Naucke, Strafrecht. Eine Einführung, § 2 Rn. 42; zitiert nach Pott, S. 11. 55 BVerfGE 24, 75 (98). S6 BVerfGE 59, 104 (114). 57 BVerfGE 17,67 (82); 21, 245 (261); 37, 132 (142); 45, 400 (420); BVerwGE 32, 129 (133). 58 Radbruch, SJZ 1946, 107; zitiert nach Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 226. 59 Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, GG, Art. 10311, Rn. 163 ff. SI

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A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

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galitätsprinzips in den materiellen Elementen der Rechtsstaatlichkeit. Welche das im einzelnen sind, wird nunmehr zu untersuchen sein. (a) ,,Justizgewährungspflicht"- Legalität aufgrund einer vom Rechtsstaatsprinzip geforderten Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege Eine weitere wichtige Einzelausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist die Verbürgung unbedingten Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt durch die Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG. Durch die sog. Justizgewährungspflicht wird der Staat einerseits dazu angehalten, die zur Rechtsschutzgewährung erforderlichen Institutionen bereitzustellen und eine Verfahrensordnung zu schaffen, welche die Justizfönnigkeit des Verfahrens regelt und dabei insbesondere die Beachtung der rechtsstaatlichen Garantien sicherstellt. Andererseits wird von ihm auch "die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege" verlangt, "ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann,,60. Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips hat das Bundesverfassungsgericht - soweit ersichtlich - erstmals mit seinem Beschluß vom 15. 12. 1965 ausdriicklich anerkannt, in dem es die Wahrung des Rechts des einzelnen auf persönliche Freiheit und die Bedürfnisse "einer wirksamen Strafverfolgung" als zwei für den Rechtsstaat gleich wichtige Prinzipien bezeichnete 61 . Diese in der Folgezeit zur "ständigen" verfestigte Rechtsprechung 62 hat das Bundesverfassungsgericht später zur rechtsstaatlieh geforderten Anerkennung einer funktionstüchtigen Rechtspflege weiter präzisiert63 . Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen (Straf-)Rechtspflege kann demzufolge auch zur rechts staatlichen Untermauerung und Absicherung des Legalitätsprinzips herangezogen werden 64 : "Wenn man nämlich als wehrfähiges ,Recht' im Sinn der Vorschrift die gesamte Rechtssphäre des Bürgers auffaßt, ist die Nichtverfolgung von Straftaten gegenüber dem durch die Tat Verletzten eine Versagung der Justizgewährung und damit ein Verfassungsverstoß,,65. Der Grundsatz der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege verpflichtet im Bereich der Strafrechtspflege alle staatliche Gewalt insoweit auf das Legalitätsprinzip, als zur Aufrechterhaltung des VertrauBVerfGE 33, 367 (383). BVerfGE 19,342 (347). 62 Vgl. beispielsweise BVerfGE 20,45 (49); 20, 144 (147); 34, 238 (239). 63 BVerfGE 33, 367 (383). Auch diese Auffassung kann mittlerweile als ständige Rechtsprechung bezeichnet werden; vgl. z. B. BVerfGE 34, 238 (249); 38, 105 (118); 39, 156 (163); 41, 246 (250). 64 Döhring, S. 36 ff.; Faller, FG Maunz, S. 71; Jans, Klageerzwingungsverfahren, S. 7; LR-Rieß. § 152, Rn. 12; Schmidt, Strafprozeßordnung I, S. 165. 65 Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 133 mit Verweis auf Wagner, FS für den 45.DJT, S. 173. 60 61

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

ens der Bürger in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Organe der staatliche Strafanspruch grundsätzlich durchzusetzen ist66 • Da der Staatsanwaltschaft und den Gerichten auf dem Gebiet des Strafrechts die Justizgewährung gemeinsam obliegt, haben beide Institutionen mit der gleichen Objektivität die Wahrheit festzustellen und Gerechtigkeit zu verwirklichen 67 . Eine Wurzel des staats- und somit letztendlich auch des strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzips kann demzufolge in der Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Rechtspflege - der ,,Justizgewährungspflicht" - gesehen werden. (b) Legalität in ihrer rechtsfriedenssichernden Funktion In einem anderen Zusammenhang verknüpft das Bundesverfassungsgericht die rechtsstaatliche Notwendigkeit einer effektiven Strafrechtspflege mit dem Charakter des Staates als "Friedens- und Ordnungsmacht", der die Institution Staat rechtfertige 68 • Dazu heißt es bei Rieß 69 : "Der materielle Sinn des Legalitätsprinzips ist nach dieser Auffassung seine rechtsfriedenssichemde Funktion. Es stabilisiert das Vertrauen der Bürger in die Fähigkeit der Staatsorgane, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten und den inneren Frieden zu sichern. Allein diese Fähigkeit wiederum gewährleistet die Anerkennung des Gewaltrnonopols des Staates. Nur soweit die Rechtsgemeinschaft sich in ihrem Vertrauen nicht enttäuscht sieht, daß der Staat die von ihm gesetzte Ordnung auch durchzusetzen vermag, kann von ihr erwartet werden, daß ihre Mitglieder auf eigene Gewaltanwendung zum Schutz ihrer rechtlich anerkannten Interessen verzichten." Indem das Legalitätsprinzip eine gleichmäßige und umfassende Strafverfolgung wahren und damit das Vertrauen der Bürger in eine unparteiliche und sachliche Strafrechtspflege sichern hilft, macht es eine Lösung des durch die Straftat ausgelösten sozialen Konflikts im Wege der Selbstjustiz überflüssig. Durch den staatlichen Verfolgungszwang wird die Wiederherstellung des Rechtsfriedens unter staatlicher Regie in Aussicht gestellt. Damit liegt eine (weitere) Wurzel des Legalitätsprinzips in der rechtsfriedenssichernden Aufgabe des Strafprozesses in Verbindung mit der auf Rechtsgüterschutz angelegten Funktion des materiellen Strafrechts7o .

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Vgl. dazu auch Rieß. PS Dünnebier. S. 157. Ulrich. ZRP 1982, S. 169. BVerfGE 49, 24 (56 f.). Rieß. PS Dünnebier, S. 158. LR-Rieß. § 152 Rn. 12.

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

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(c) Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz - Legalität als staatliches Instrument zur (strafprozessualen) Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots, zur Durchsetzung des Willkürverbots sowie zur Wahrung und Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit Neben dem Rechtsstaatsprinzip in seinen unterschiedlichen Ausformungen kommen weitere verfassungsrechtliche Begriindungszusammenhänge in Betracht, die eine Basis für das Legalitätsprinzip darstellen könnten und die insoweit die Bedeutung von Legalität im Hinblick auf eine mögliche spätere Abwägung mit gegenläufigen Prinzipien unterstreichen. Als Legitimationsgrundlage aus dieser Richtung bietet sich vor allem die staatliche Pflicht zur Gewährleistung der Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person und damit zur Willkürfreiheit an, die ihren Ursprung im allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG nimmt71. Der Gleichbehandlungsanspruch aus Art. 3 I GG ist ein subjektives Recht des Bürgers gegen den Staat72• Da Gerechtigkeit ohne Gleichbehandlung im Grunde nicht denkbar ist, rechtfertigt letztlich nur das Vorliegen sachlicher Griinde eine Ungleichbehandlung und verhindert dabei gleichsam den Vorwurf staatlicher Willkür. In diesem Kontext gewährt Art. 3 I GG dem Bürger gegen den Staat ein Grundrecht: Der Staat muß seine Gesetze gleichheitswahrend halten, d. h. Gesetzesverletzer gleich behandeln. Inhaltlich weist Art. 3 GG demzufolge zwei Bestandteile auf: die Gleichbehandlungspflicht und das Willkürverbot73 . Legalität im Strafverfahren soll nun die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz sichern helfen: "Vom Rechtsstaatsprinzip ist der argumentative Schritt zum allgemeinen, objektiven Gleichheitssatz nicht weit. Denn unabhängig vom Individualschutz stellt das Gebot der Gleichheit aller vor dem Gesetz eine elementare Forderung des Rechtsgefühls dar, ist deshalb eine überpositive Norm des Verfassungsrechts und bestimmt die generelle Staatsordnung mit. Das Gleichmaß der Hoheitsgewalt ist ihrerseits ein Stück Rechtsstaatlichkeit,,74. Damit erhält der Rechtsstaat über seine Funktion als bloßes Formprinzip hinaus einen zusätzlichen materialen Gehalt, der darin liegt, durch Gleichheit Gerechtigkeit zu verbürgen. Da der Gleichheitssatz allein aus sich heraus kaum geeignet ist, die Grundsätze der Gleichheit und der Gerechtigkeit zu verwirklichen, muß zu diesem Zweck ein anderes verfassungsrechtliches Leitprinzip gefunden werden, das sowohl für den Gesetzgeber als auch für den Rechtsanwender unmittelbar verbindlich ist: "Ein solches Leitprinzip ist das aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Le71 BVerfGE 20, 162 (222); BVerfGE (Vorprüfungsausschuß), Beschluß vom 23. 7. 1982, NStZ 1982, S. 430; vgl. dazu auch Eckl, ZRP 1973, S. 139; Hassemer; FS StA SchleswigHolstein, S. 530; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 7, 32; Krey, S. 67; Kühne, S. 130; LR-Rieß, § 152 Rn. 12; Willms, JZ 1957, S. 465; Zipf, FS Peters, S. 488. 72 Vgl. BVerfGE 27, 297 (305 f.); BVerwGE 19, 149 (152). 73 BVerfGE 4, 144 (155). 74 Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 133 mit Verweis auf BVerfGE 6,84 (91); 23, 353 (373); 34, 139 (146); 35, 263 (271 f.), 38, 225 (228); 41, 1, (13).

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

galitätsprinzip. Erst dieses Prinzip setzt den Gleichbehandlungsgrundsatz in optimaler Weise in die strafprozessuale Praxis um und garantiert ihn durch eine gleichmäßige, von der Person des Verdächtigen unabhängige Strafverfolgung,,75. Durch die Verpflichtung der Strafverfolgungsorgane zur gleichmäßigen Anwendung der Strafrechtsnormen setzt das Legalitätsprinzip die Forderung der Gerechtigkeit in der Strafrechtspflege - und damit einen "materiellen Baustein des Rechtsstaats,,76 - in das Strafverfahrensrecht um. So hat auch das Bundesverfassungsgericht das Legalitätsprinzip als Ausdruck des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz bezeichnet und es damit dem Schutzbereich des Art. 3 GG zugeordnet77 . Das Legalitätsprinzip verbürge die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung und sei dadurch Ausdruck der Gleichheit aller vor dem Gesetz im Sinne des Art. 3 I GG78 . Gilt demnach als vorrangige Legitimationsgrundlage des Legalitätsprinzips die Gewährleistung einer gleichmäßigen Strafverfolgung, ist die jeweilige Strafverfolgungsbehörde gehalten, ihrer Verfolgungspflicht ohne Ansehen der Person und frei von jedweder Willkür nachzukommen79. Das Legalitätsprinzip stellt insoweit auch eine Aktualisierung des Willkürverbots als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Grundgesetzes dar8o . Insgesamt besehen ist das Legalitätsprinzip ein Produkt der Entwicklung zum sozialen Rechtsstaat8!. Mit der Entwicklung des bürgerlichen zum sozialen Rechtsstaat haben sich auch die Legitimationsgrundlagen des Staates verschoben. Der Staat sichert fortan nicht nur Freiheit und Eigentum, sondern er schafft zwischen Freiheit und Gleichheit einen Ausgleich82 . Gleichheit wiederum sucht zunächst einmal - wie gesehen - die Nähe der Legalität.

b) Ergebnis Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß es sich bei dem Grundsatz der Legalität um ein allgemeines rechtsstaatliches Prinzip handelt, das zum einen - bei Pott, S. 14 m. w. N. Pott, S. 15. 77 BVerfGE 20, 162 (222); 33, 367 (383); 38, 105 (115); 46, 214 (223); 49, 24 (57); 51, 324 (343). 78 BVerfGE 20, 162 (222). 79 Vgl. BVerfGE 20,162 (222), BVerfG (Vorpriifungsausschuß), Beschluß vom 23.7. 1982, NStZ 1982,430; Eckl, ZRP 1973, S. 140; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 227; LR-Rieß, § 152 Rn. 12; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 89. Willkür liegt vor, wenn "sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt" (BVerfGE I, 14 (52); BVerwGE 2, 151 (153». 80 Vgl. BVerfG (Vorpriifungsausschuß), Beschluß vom 23.7.1982, NStZ 1982, S. 430. 81 Eckl, ZRP 1973, S. 139; Heinitz. FS Rittler, S. 329 f.; vgl. auch Wagner, FS für den 45.DIT, S. 149 ff. 82 Vgl. BVerfGE 5, 85 (198). 75

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A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

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einer mehr formalen Betrachtungsweise - eine Anbindung im Gesetzlichkeitsprinzip aufweist und zudem Ausfluß der verfassungsrechtlich begründeten Forderung nach Bestimmtheit (Art. 20 III, 10311 GG) und damit Vorhersehbarkeit allen staatlichen Handeins ist. Zum anderen hat eine Überpriifung anhand materialer Elemente des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 III, 28 I GG diesen staatsrechtlichen Begriindungszusammenhang weiter bestätigt. So hat sich als materielle Grundlage des Legalitätsprinzips die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht des Staates zur Bewahrung des Sicherheitsgefühls, insbesondere durch die Etablierung und Aufrechterhaltung einer effektiven Strafrechtspflege, erwiesen. Daneben konnte der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz in Art. 3 I GG als weiteres materiales Fundament der Leglität ausgemacht werden. Das Legalitätsprinzip wird hiernach "zu einem Grundpfeiler der Strafrechtspflege erhob(en), der ,Gerechtigkeit und Gleichheit sichert,,·83. Seine "verfassungsrechtliche Weihe,,84 empfängt das Legalitätsprinzip demzufolge einerseits vom Rechtsstaatsgebot, andererseits vom allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. Dieses staatstheoretisch und verfassungsrechtlich begriindete staatsrechtliche Legalitätsprinzip konkretisiert sich in der Folge in mehreren Normen des Strafprozeßrechts zu einem strafveifahrensrechtlichen Legalitätsprinzip, mithin zu einer Prozeßmaxime des Strafverfahrens, die nunmehr ihrerseits verfassungsrechtlich fundiert ist85 . Das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip wird insoweit als Konsequenz des staatsrechtlichen Legalitätsprinzips angesehen86 . Das Rechtsstaatsprinzip stellt damit im Ergebnis einen (und wohl den maßgeblichen) der verfassungsrechtlichen Geltungsgriinde des strafprozessualen Legalitätsprinzips dar87 . Das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip als eine Prozeßmaxime des deutschen Strafverfahrens ist demzufolge eine in mehreren Vorschriften der Strafprozeßordnung zum Ausdruck kommende Konkretisierung des staatsrechtlichen Legalitätsprinzips, das wiederum seinerseits als verfassungsrechtliches Leitprinzip unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG hervorgeht und insoweit eine Grundmaxime des modernen Rechtsstaats darstellt.

2. Das straf- und strafverfahrensrechtliche Fundament des Legalitätsprinzips

Neben den staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Begründungszusammenhängen werden zur Fundamentierung des Legalitätsprinzips auch straf- und strafverfahrensrechtliche Ziele benannt. Legalität wird in diesem Zusammenhang

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Zipf, FS Peters, S. 487. Hoyer, JZ 1994, S. 235. Pott, Vom unmöglichen Zustand, S. 83. LR-Rieß, § 152 Rn. 12. Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 132 m. w. N.

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

als Erfordernis zur Venvirklichung des materiellen Rechts bzw. des staatlichen Stra!anspruchi 8 angesehen, der wiederum, so jedenfalls die früheren Vertreter des klassischen Vergeltungsrechts, durch jeden Verstoß gegen ein Strafgesetz begründet wird. Jeder Normkonflikt steht hiernach für einen Angriff auf die Rechtsordnung als solche und läßt einen staatlichen Strafanspruch entstehen, den es um der Geltung des Rechts und der Wiederherstellung von Gerechtigkeit willen in jedem einzelnen Fall durchzusetzen gilt89 . So ist nach der sog. Strafpflicht-Theorie die Durchsetzung des Strafanspruchs nicht in das Belieben des "Anspruchsberechtigten" gestellt, sondern im Hinblick auf das zu befriedigende öffentliche Interesse verbindlich 90. Des weiteren dient das Legalitätsprinzip nach weit verbreiteter Auffassung der Verwirklichung materiellen Rechts, indem es als systematische Kehrseite des Grundsatzes nulla poena sine lege ein Unterschreitungs- bzw. Untermaßverbot aufstellt91 . Legalität ist angelegt auf eine strenge Bindung des Strafverfahrens und seines Ergebnisses an das materielle Strafrecht, das wiederum die Grenzen der Strafbarkeit festlegt. Verhindert der Grundsatz nulla poena sine lege ein Überschreiten dieser Grenzen, verhindert das Legalitätsprinzip ihre Unterschreitung 92 . Eng verwandt mit der voranstehenden Begründung des Legalitätsprinzips ist ein Argument, das man aus der Lehre vom staatlichen Rechtsgüterschutzauftral 3 gewinnt. Sieht man heutzutage die Aufgabe des Strafrechts vornehmlich im Schutz von Rechtsgütern, so ist es naheliegend, den Staat auch auf diesen Schutzauftrag - insbesondere auch mit den Mitteln des Strafrechts - zu verpflichten 94 • Legalität sichert die Durchsetzung materiellen Rechts und dient auf diese Weise dem Rechtsgüterschutz, der seinerseits funktionell im materiellen Strafrecht als einem Wertebekenntnis des Gesetzgebers angelegt ist. Unter Präventionsgesichtspunkten ist es nahezu unumgänglich, bekanntgewordene Straftaten auch zu verfolgen, da jede Re1ativierung einer Strafnorm durch Verfolgungsverzicht die Norm auf ihren symbolischen Charakter zu reduzieren droht, mit der Folge, daß die (bloß) geschriebene Mißbilligung über kurz oder lang nicht mehr ernst genommen wird. Der Rechtsgüterschutzauftrag verlangt daher zumindest im Falle der Verletzung höchster Pott, S. 16 m. w. N. Vgl. beispielhaft Birkmeyer, DJZ 1909, S. 1049 ff. 90 Vgl. Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 65 mit Verweis auf Birkmeyer, DJZ 1909, S. 1049. 91 Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 529; Hoyer, JZ 1994, S. 235; Schroeder, FS Peters, S. 422. 92 Kühne, S. 131; Schroeder, FS Peters, S. 422. Dazu Staechelin, Vom unmöglichen Zustand, S. 267: "Es gilt als das Gegenstück zum hergebrachten Übennaßverbot und stellt die untere Grenze der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers dar." 93 Vgl. LR-Rieß, § 152 Rn. 44. 94 Pott, S. 17. 88

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Rechtsgüter unüberschreitbare Grenzen, um selbst nicht gefährdet zu werden. Aus der Lehre vom staatlichen Rechtsgüterschutzauftrag kann folglich - jedenfalls in diesem engen Bereich höchster Güter - ein zusätzlicher Aspekt für die Begründung des Legalitätsprinzips gewonnen werden 95 . Ein weiteres Fundament für das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip wird darin für begründet gesehen, daß der Staat mit der Säkularisierung des Strafrechts das Recht der Strafverfolgung weitgehend in seine Hand genommen hat und ihn infolgedessen fortan auch die Pflicht trifft, Strafverfolgung zu betreiben96• Das Legalitätsprinzip ist demnach notwendige Folge des im Strafverfahren geltenden Offizialprinzips und damit unabdingbares Korrelat zum staatlichen Anklagemonopol in § 152 I StP097. Mit der Etablierung des Offizialprinzips haben die Bürger auf eigene Gewaltanwendung zu ihrem Schutze als Reaktion auf Straftaten dritter Personen verzichtet und das Gewaltmonopol des Staates anerkannt98 . Die Strafverfolgung erfolgt seither unter staatlicher Regie, und zwar - mit nur wenigen Einschränkungen bzw. Ausnahmen 99 - von Amts wegen: ex officio. Dieses delegierte Gewaltrnonopol wird nun - so der hier zugrundeliegende Gedanke - abgesichert durch einen korrelierenden Verfolgungs- und Anklagezwang: Wenn grundsätzlich nur der Staat Straftaten verfolgen und anklagen kann, dann muß er dies beim Vorliegen der Voraussetzungen auch notwendig tun. Der Staat besitzt eben nicht nur den materiellen Strafanspruch, sondern auch das Monopol zur Geltendmachung desselben. Als Monopolist wird er verpflichtet, das monopolisierte Recht auszuüben; dem staatlichen Verfolgungs- und Anklagemonopol entspricht die prinzipielle Verfolgungs- und Anklagepflicht 1oo. Indem der Grundsatz der Legalität ein entsprechendes Gegengewicht zum Anklagemonopol des Staates bildet, ist er zugleich eine wirksame Garantie für das Vertrauen des Volkes in eine gerechte Justiz lO1 •

95 Vgl. dazu ausführlich Pott, S. 21 f. Zu den Problemkreisen im Zusammenhang mit bloß symbolischem Strafrecht vgl. unten "Teil3.0.xIII." sowie "TeiI3.F.". 96 Pott, S. 15. 97 BGHSt. 15, 155 (159). Vgl. auch Creifelds, S. 815; Eckl, ZRP 1973, S. 139; Geppert, Jura 1982, S. 140; Heidelberger K.-Krehl, § 152 Rn. 4; Jans, KlageerzwingungsverfalIren, S. 6; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 77; Krey, S. 67; LR-Rieß, § 152 Rn. 12 m. w. N.; Roxin, StrafverfalIrensrecht, S. 86; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 131; a.A. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 93 f. 98 Ambs, GS Meyer, S. 8; Rieß, FS Oünnebier, S. 158. 99 Eine Einschränkung erfährt die Legalität bei Antrags- und Ermächtigungsdelikten, eine Ourchbrechung bei Privatklagedelikten, §§ 374 ff. StPO. 100 Geppert, Jura 1982, S. 140. 101 Eckl, ZRP 1973, S. 139 m. w. N.

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung 3. Das straftheoretische Fundament der Legalität

Ein weiterer Begründungszusammenhang für das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip könnte sich aus den verschiedentlichen Straftheorien ergeben, die allesamt auf der Erkenntnis gründen, daß Strafe als Reaktion auf abweichendes Verhalten niemals als bloßer Selbstzweck erfolgt. Eine erste Unterteilung kann diesbezüglich zwischen präventiven und absoluten Straftheorien einerseits, sowie den Vereinigungstheorien andererseits vorgenommen werden. Unter die präventiven Straftheorien fallen alle spezial- und generalpräventiven Straftheorien, einschließlich der u. a. auf Franz von Liszt zurückgehenden sog. soziologischen Schule. Ihnen ist gemein, daß die Bestimmung und Ausrichtung der Strafe nach ihrer Wirkung für die Zukunft erfolgt. Nützlichkeitserwägungen werden zum dominierenden Motivationsgrund für die Frage nach der Bestrafung des Täters. Die Vertreter der soziologischen Schule weisen der Strafe eine soziale Funktion zu, indem sie als "wirksames Mittel des Rechtsgüterschutzes erkannt und eingesetzt werden SOIl,,102. Dem Staat soll es gestattet sein, die persönliche Freiheit und die sittliche Selbstbestimmung des im Strafverfahren überführten Verbrechers restlos in Anspruch zu nehmen, soweit es für die Erreichung präventiver Ziele notwendig ist. Die staatliche Reaktion bemißt sich allein danach, "wie zukünftige Kriminalität am besten verhindert, der Gesellschafts- und Rechtsgüterschutz am besten erreicht werden kann"I03. Im Ergebnis führt der bei von Liszt durchgängig aufrechterhaltene "Primat der Kriminalpolitik"l04 zu einer Preisgabe des Legalitätsprinzips zugunsten der Nützlichkeit. Zur Begründung eines strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzips kann dieses Konzept deshalb nicht beitragen. Den gleichen Bedenken sehen sich die unterschiedlichen Facetten spezialpräventiver Straftheorien gegenüber, die ihr Augenmerk auf den Straftäter selbst richten und von der Strafe eine resozialisierende Wirkung erwarten. Allgemein kann gesagt werden, daß die Straftheorie der Spezialprävention die Legitimation der Strafe darin begründet sieht, daß der Täter durch eine entsprechende ,,Behandlung" davon abgehalten werden soll, in der Zukunft erneut straffällig zu werden. Insofern ist die Strafe zukunftsorientiert und nützlich für Staat und Gesellschaft. Diese betont zweckgerichtete Legitimation staatlichen Strafens ist dann aber gleichzeitig der Hinderungsgrund für die in Frage stehende Herleitung eines Erfordernisses legalitätsorientierten Strafverfolgungshandelns aus der Straftheorie der Spezialprävention. Dazu schreibt Pott 105 : "Eine Bindung des Strafrichters an festgelegte Rechtsfolgen, an festgelegte Strafrahmen, muß für die Zwecke der spezialpräventiven Theorie ,dysfunktional' sein. Ein spezialpräventiv ausgerichtetes Strafrecht 102

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104 105

Pott, Pott, Pott, Pott,

S. S. S. S.

23. 24. 25. 26.

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muß sich seine Flexibilität erhalten, weil es sich an seiner Zweckmäßigkeit zu orientieren hat." Zur Begründung eines strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzips kann die spezialpräventive Theorie deshalb ebenfalls nicht beitragen. Genera/prävention erklärt neben dem Täter die Allgemeinheit zum Adressaten ihres Appells. Grob vereinfacht lassen sich dabei zwei Ausrichtungen einer generalpräventiven Straftheorie unterscheiden: die positive und die negative. Bei der auf Feuerbach 106 zurückgehenden sog. negativen Genera/prävention sollen Strafandrohung und Strafvollstreckung potentielle Täter abschrecken und davon abhalten, selbst straffällig zu werden. Der Anreiz zur Begehung einer Straftat soll psychologisch geradezu unmöglich gemacht werden. Diese Abschreckungswirkung kann ganz offensichtlich jedoch nur dann erzielt werden, wenn auch jede bekanntgewordene Straftat am Ende bestraft wird. Legalität in Form eines strikten Verfolgungszwangs schafft zu diesem Zwecke die sichere Aussicht, daß jede entdeckte Straftat auch Folgen nach sich ziehen wird. Hoffnung auf ein Ausbleiben strafrechtlicher Konsequenzen gibt es für den potentiellen Täter nicht, weil es sie nach dieser Theorie nicht geben darf. Denn: Mit jeder Einstellung des Verfahrens muß die abschreckende Kraft der Strafandrohung sinken. Insoweit kann in der negativen Generalprävention ein Fundament für die Forderung nach strafverfahrensrechtlicher Legalität erblickt werden.

Nach der neueren positiv-genera/präventiven Straftheorie dient die Bestrafung des Normbrechers in erster Linie der Stabilisierung des Rechtsbewußtseins des rechtstreuen Teiles einer Bevölkerung 107 • Dabei wird sich die Verdeutlichung einer Norm im Rechtsbewußtsein der rechtstreuen Allgemeinheit am ehesten dann einstellen, wenn der staatliche Strafanspruch möglichst lückenlos auf verfahrensrechtlicher Ebene durchgesetzt wird: "Ist es der Theorie der positiven Generalprävention mit der Stärkung der Rechtstreue ernst, so muß sie Zweckmäßigkeitserwägungen in der Strafverfolgung zurückweisen, weil jede Verfahrenseinstellung aus Gründen der Opportunität das Rechtsbewußtsein irritiert und die Erwartungssicherheit zerstört" lOS. Da demzufolge nur von einer gleichmäßigen und willkürfreien Strafrechtspflege generalpräventive Wirkungen erwartet werden können, tragen die generalpräventiven Strafzwecklehren zur Begründung eines strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzips bei 109. Strafrechtstheoretisch entspricht das Legalitätsprinzip weiterhin der absoluten Straftheorie, wonach im Interesse absoluter Gerechtigkeit ausnahmslos jede Übertretung von Strafgesetzen vom Staat geahndet werden muß\1o. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das vielzitierte Postulat von Kant l \1: "Selbst wenn sich 106

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Vgl. dazu die Nachweise bei Pott, S. 26. BGHSt. 24, 40 ff.; Pott, S. 28 m. w. N. Pott, S. 29. Vgl. LR-Rieß, § 152 Rn. 11 m. w. N.; Pott, S. 29 m. w. N. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 2; LR-Rieß, § 152 Rn. 12; Pott, S. 32. Kant, Metaphysik der Sitten; zitiert nach Geppert, Jura 1982, S. 151 Fn. 90.

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

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die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöse, müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind." Insbesondere im älteren Schrifttum wurde daher das Legalitätsprinzip als notwendige Folge aus der staatlichen Strafandrohung abgeleitet 112. Die Verwirklichung der Gerechtigkeit durch Ausgleich des Übels und ihr nachfolgend die Wiederherstellung des durch die Straftat gestörten Rechtsfriedens kann nach Ansicht dieser Theorie nur dann erreicht werden, wenn die Negation ihrerseits negiert wird, d. h. wenn durch die verhängte und auch vollstreckte Strafe der Normbruch aufgehoben wird und er infolgedessen keine Geltungskraft erlangen kann ll3 . Die Bestrafung des Taters ist aus dieser Sicht eine Forderung der abstrakten Gerechtigkeit nach Ausgleich jeden Verbrechens, nach Wiederherstellung der durch die Straftat gestörten Ordnung. Unterläßt der Staat die Bestrafung, so verletzt er nicht nur sein Strafamt, sondern vor allem die Gerechtigkeit. Aus der absoluten Straftheorie folgt demnach zwingend das Gebot, daß im Strafverfahren ein (strenges) Legalitätsprinzip zu gelten hat. Als ein Kompromiß aus dem Schulenstreit zwischen ,,klassischer" und "moderner" Schule gingen die sog. Vereinigungstheorien hervor ll \ die sowohl Elemente der absoluten als auch der relativen Strafzwecktheorien zum Inhalt haben und sie unterschiedlich gewichten. Der Gesetzgeber indes hat sich nicht klar für die eine oder gegen die andere Straftheorie entschieden, und auch das Bundesverfassungsgericht hat eine Gleichschaltung der Straftheorien als verfassungsrechtlich legitimiert anerkannt ll5 . Hinsichtlich der Frage nach einem straftheoretischen Begründungszusammenhang der Legalität liefern die Vereinigungstheorien aufgrund ihrer vereinigenden Struktur keine neuen Erörterungsansätze; insoweit kann mithin auf die Ausführungen zu den absoluten und relativen Strafzwecktheorien verwiesen werden. Daraus folgt wiederum, daß eine Vereinigungstheorie, soweit sie die Strafe als eine der Gerechtigkeit verpflichtete Vergeltung auffaßt und ihr eine negative bzw. positive generalpräventive Wirkung zuschreibt, dem Legalitätsprinzip verpflichtet sein muß. Soweit sie jedoch spezialpräventive Erwägungen zuläßt, hat sie sich (auch) der Zweckmäßigkeit verschrieben und kann bzw. muß sich von den strikten Bindungen der Legalität im Einzelfall lösen. Rekapitulierend bleibt festzuhalten, daß sich das Prinzip der staatlichen Strafverfolgungs- und Anklagepflicht auch auf straftheoretische Erwägungen zur Legitimation von Strafe stützen läßt. Ob dieses straftheoretische Fundament darüber hinaus zu einer Unverzichtbarkeitsforderung bzw. zu einem weitestgehend uneingeschränkten Geltungsanspruch der Legalität führen kann, soll Gegenstand der

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Nachweise bei LR-Rieß, § 152 Rn. 12. Vgl. dazu Pott, S. 30. Vgl. dazu die Nachweise bei Pott, S. 32. BVerfGE 32, 40 (48).

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

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sich zu einem späteren Zeitpunkt anschließenden Betrachtung des konkreten Verhältnisses zwischen Legalität und Opportunität sein l16 • Zuvor soll jedoch ein kurzer Überblick über die Geschichte des Legalitätsprinzips Aufschluß darüber geben, welche Bedeutung ihm - gerade vor dem Hintergrund seiner soeben aufgezeigten staatstheoretischen, verfassungsrechtlichen sowie straf- und strafverfahrensrechtlichen Wurzeln - seitens der Legislative in den einzelnen Epochen deutscher Strafgesetzgebung beigemessen worden ist. Später wird dann ausführlich der Frage nachzugehen sein, inwieweit opportunitätsgeprägte Einbriiche in dieses Elementarprinzip eines klassisch-liberalen Strafrechtskonzepts zum einen ganz generell l17 , zum anderen in ihrer konkreten Ausgestaltung 118 mit den insoweit beachtlichen Begriindungszusammenhängen der Legalität zu vereinbaren sind.

4. Die wechselvoUe Geschichte des Legalitätsprinzips im deutschen Strafverfahren

In den Jahren vor der Etablierung eines einheitlichen Strafverfahrensrechts für ganz Deutschland vermittelte sich dem Betrachter der einzelnen landesrechtlichen Strafprozeßordnungen ein durchaus unscharfes Bild ob der Verteilung von Legalität und Opportunität. Während die bis etwa 1848 entstandenen Strafprozeßordnungen 119 allgemein das Opportunitätsprinzip bevorzugten, führten die späteren Gesetze 12D das Legalitätsprinzip als Leitlinie für das Handeln des Staatsanwalts ein. Aus einer mehr geographischen Sicht heraus läßt sich sagen, daß Opportunität uneingeschränkt in den linksrheinischen Teilen des Deutschen Reichs auf Grund des dort noch fortgeltenden französischen Rechts herrschte 121 . Als es dann daran ging, ein einheitliches Strafverfahrensrecht für ganz Deutschland zu konzipieren, votierten die Teilnehmer des 2. Deutschen Juristentages im Jahre 1861 - wohl nicht zuletzt aufgrund der positiven Erfahrungen einiger Länder mit einem gezügelten Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft - eindeutig für das Legalitätsprinzip, für das sich schließlich auch die Kommission, die den Entwurf einer Strafprozeßordnung erarbeitete, mit klarer Mehrheit aussprach. Nachdem in den ersten beiden Entwürfen zur Reichsstrafprozeßordnung im Jahre 1873 noch von der Geltung des Opportunitätsprinzips ausgegangen worden war, wurde 1874 Dazu im einzelnen unten "Teil1.C.". Dazu im einzelnen unten "Teil1.C.". 118 Dazu im einzelnen unten "Teil 3.". 119 Baden (1845), Bayern (1848), Preußen (1849); vgl. dazu Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 28. 120 Hannover (1850), Baden (1864), Sachsen (1868); vgl. dazu Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 28. 121 Wagner, FS für den 45. DJT, S. 157. Für die Zeit vor 1873 vgl. auch bei Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 3 ff.; ebenso Wagner a. a. 0., S. 152 ff. 116 117

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

mit dem dritten Entwurf der spätere § 15211 geschaffen und damit das Legalitätsprinzip ausdrücklich anerkannt 122 • Als die am 1. 2. 1877 ausgefertigte Reichsstrafprozeßordnung am 1. 10. 1879 in Kraft trat, ging das Legalitätsprinzip als klarer Sieger aus dem Verfahren hervor, hatte doch der Gesetzgeber von 1877 in ihr das Legalitätsprinzip weitestgehend strikt verwirklicht. Abgesehen von einigen Vorschriften des sachlichen Strafrechts 123 wurde die Handlungsmaxime der strengen Legalität seinerzeit nur gemildert durch den damaligen § 414 RStPO, der für Beleidigungen und Körperverletzungen im Grundsatz die Privatklage einführte l24 . Zugleich war damit aber der Höhepunkt seiner Anerkennung erreicht. Durch die radikale, von Ausnahmen geradezu freigehaltene (Rein-)Form der Umsetzung traten Mängel und Nachteile in der Praxis ziemlich rasch zutage. Das Legalitätsprinzip erwies sich im Strafverfolgungsalltag schon bald als zu starr. Die Folgezeit wird damit zur Geschichte seiner allmählichen Verdrängung. Mit erstaunlich gleichbleibender Tendenz ist Legalität in ihren Auswirkungen mehr und mehr abgeschwächt worden. Der in § 152 11 von Anfang an bestehende Vorbehalt, "soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist,,125, ist im Laufe der Entwicklung der letzten gut hundert Jahre durch an Zahl zunehmende Einzelvorschriften ausgefüllt worden. Erste deutliche Kritik an der gesetzlichen Regelung der weitestgehend strikten Verfolgungspflicht wurde bereits um die Jahrhundertwende geübt, nachdem im Jahre 1895 ein Gesetzentwurfl26 , der eine Erweiterung der Privatklagedelikte und damit eine Eindämmung der Legalität zum Inhalt hatte, noch gescheitert war. Nunmehr wandte man sich gegen die gesteigerte Anklagefreudigkeit und die Strafwut der Staatsanwälte, da man den Verlust des Unterscheidungsvermögens zwischen wesentlichen und unwesentlichen Dingen fürchtete 127. Rufe nach der Abschaffung des Legalitätsprinzips respektive einer Mehrung seiner Ausnahmen wurden laut 128• Auch der 29. Deutsche Juristentag von 1908 beschäftigte sich in seiner Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 7; Wagner, FS für den 45.DIT, S. 28 f. Vgl. die §§ 4 (Auslandsdelikte), 37 (Nachtragsverfahren zur Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte), 42 (Selbständige Einziehung) RStGB damaliger Fassung; vgl. Faller, FG Maunz, S. 69 Fn. 1. Weitere Vorschriften fanden sich im Militärstrafgesetzbuch, in einern Gesetz betreffend die Schonzeit von Robben, im Sprengstoff-, Spionage- und Sklavenraubgesetz usw., vgl. Bohnert. Abschlußentscheidung, S. 68 Fn. 29. 124 Hier sollte gemäß § 416 RStPO die Staatsanwaltschaft nur im Falle eines öffentlichen Interesses Klage erheben; vgl. Faller, FG Maunz, S. 69. Zu den wenigen Ausnahmen von der Verfolgungspflicht vgl. auch Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 8 f.; Naucke, Modernes Strafrecht, S. 149 f.; Pott, S. 7. 125 § 152 RStPO lautete: ,,zur Erhebung der öffentlichen Klage ist die Staatsanwaltschaft berufen. Dieselbe ist, soweit nicht gesetzlich ein Anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen." 126 RT-Drs. 1895/96, Nr. 294, S. 76 ff. 127 Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 10 m. w. N. 128 Vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 10 m. w. N. 122 123

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

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3. Abteilung mit der Legalität und stellte die Frage: "Inwiefern bedarf das Legalitätsprinzip im Strafverfahren einer Einschränkung?" Dabei zeigten die Teilnehmer zwar einerseits Verständnis für die Forderung nach einer Beschränkung des Legalitätsprinzips - man blieb jedoch schlußendlich der Linie früherer Juristentage treu. Es setzt sich abermals eine Meinung durch, die für die Geltung des Legalitätsprinzips ohne wesentliche Durchbrechungen eintrat l29 . Mit geringfügigen Ausnahmen hielt der Rechtszustand das Legalitätsprinzip vierzig Jahre lang aufrecht. Mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Umwälzungen verfiel auch der Legalitätsgrundsatz als Relikt einer beständigen Epoche der Gesetzesgeltung. Die Kriegszeit selbst brachte indes noch keine beständigen Änderungen, obgleich aus personellem Mangel und wegen der wirtschaftlichen Not zwischenzeitliche Einschränkungen an der Legalität vorgenommen wurden 130. Der Reformdruck wuchs jedoch wesentlich im Gefolge des Ersten Weltkrieges, der drastische Einsparungen und Vereinfachungsmaßnahmen auch im Justizbereich unumgänglich gemacht hatte. Nach jahrzehntelangen vergeblichen Reformversuchen erweiterte das Gesetz zur Entlastung der Gerichte vom 11. 3. 1921 I3I zunächst den Kreis der Privatklagedelikte. Des weiteren modifizierte das Jugendgerichtsgesetz vom 16. 2. 1923 132 das Legalitätsprinzip auf dem Gebiet des Jugendrechts, indem es die Einstellung des Verfahrens auf Zweckmäßigkeitserwägungen des Staatsanwalts und auf die Zustimmung des Jugendrichters stiitzte. Zum entscheidenden Durchbruch im Bereich der Kleinkriminalität verhalf dem Opportunitätsprinzip schließlich im Jahre 1924 die nach dem damaligen Reichsjustizminister Emminger benannte Notverordnung 133, die sich auf ein Ermächtigungsgesetz nach Art. 48 n der Weimarer Reichsverfassung (WRV) stützte und die für das Strafverfahren u. a. diverse Durchbrechungen des Verfolgungszwangs vorsah. Die §§ 23, 24 dieser Verordnung wurden im selben Jahr als §§ 153, 154 in den Text der Strafprozeßordnung eingearbeitet und gaben Staatsanwaltschaft und Gericht fortan eine weitreichende Verfügungsgewalt über die Strafverfolgung. Nach § 23 I der Verordnung galt ein Verfolgungsverbot für Übertretungen, sofern die Schuld des Täters gering und die Folgen der Tat unbedeutend waren und des weiteren kein öffentliches Interesse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung bestand. Nach § 23 11 konnte die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Amtsrichters unter ähnlichen Umständen bei einem Vergehen von der Klageerhe-

Vgl. dazu die Nachweise bei Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 15. Vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 16. Zu den einzelnen Änderungen in dieser Zeit vgl. Bohnen, Abschlußentscheidung, S. 70 ff.; ebenso Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 30 f. 131 RGBI. 1921 I, S. 229. 132 RGBI. 1923 I, S. 135. 133 RGBI. 1924 I, S. 15. 129

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

bung absehen. Der neue § 154 StPO brachte das Opportunitätsprinzip bei unwesentlichen Nebendelikten 134. Nachdem der Bann einmal gebrochen war und der Opportunitätsgedanke in den Strafprozeß Eingang gefunden hatte, war die Tür weit offen für eine stetig zunehmende Lockerung der Anklagepflicht und einer damit einhergehenden fortschreitenden Zurückdrängung des Legalitätsprinzips. In der Folgezeit wurden immer wieder Erweiterungen staatsanwaltschaftlicher Einstellungskompetenzen durch die Aufnahme neuer Vorschriften in den Katalog der §§ 153, 154 StPO vorgeschlagen und auch normativ umgesetzt 135 • Einige wenige Stationen dieser Entwicklung sollen nachfolgend im Überblick nachgezeichnet werden. Mit dem "Deutschen Auslieferungsgesetz" vom 23. 12. 1929 136 wurde der heutige § 154 b in die StPO aufgenommen. Im selben Jahr sah ein amtlicher Entwurf eines Einführungsgesetzes zum StGB diverse Vorschläge zur Erweiterung staatsanwaltschaft1ichen Ermessens vor, die in Teilen durch die spätere Notverordnung vom 6.10.1931 137 Gesetz wurden 138 . § 154 c wurde mit dem "Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes" vom 28. 6. 1935 eingeführt; mit der "Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts" vom 2. 4. 1940 gelangte § 153 c in die StP0 139 • Die Gesetzgebung des Dritten Reichs bringt weitere Einbrüche ins Legalitätsprinzip hervor. So fiel beispielsweise der 2. Vereinfachungsverordnung vom 13. 8. 1942 140 die Zustimmungspflicht des Richters zur Einstellung nach § 153 zum Opfer; sie beseitigte darüber hinaus durch Art. 9 § 2 das Legalitätsprinzip für alle Antragsdelikte l41 • Schließlich kommt es gegen Ende des Krieges zur völligen Freistellung der Staatsanwaltschaft von der Anklagepflicht durch Art. 2 § 8 der 4. Vereinfachungsverordnung vom 13. 12. 1944 142 , die trotz ihrer Kriegsbedingtheit den logischen Schlußpunkt im stetigen Niedergang des Legalitätsprinzips während des Dritten Reichs darstellte l43 • Vgl. Baumann, FS Peters, S. 5. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 21 ff.; vgl. auch Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 32 f. 136 RGBI. 1929 I, S. 239, 243. 137 RGBI. 1931 I, S. 537. 138 Beispielsweise wurde durch Teil VI Kapitel I § 2 der genannten Notverordnung die Verfolgung der Übertretungen an das öffentliche Interesse gebunden; Nachweis bei Faller, FG Maunz, S. 74. Vgl. auch Wagner, FS für den 45.DJT, S. 168. 139 Dazu und zu weiteren Nachweisen für den zunehmenden Einbruch opportunitätsgeprägter Vorschriften in die StPO vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 22 ff. 140 RGBI. 1942 I, S. 508 (510). 141 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 34. 142 RGBI. 1944 I, S. 339, 341. Nach Art. 2 § 8 der Verordnung konnte der Staatsanwaltselbst bei der Verfolgung von Verbrechen - von der Anklageerhebung absehen, "wenn die Verfolgung im Kriege zum Schutze des Volkes nicht erforderlich" war; zitiert nach Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 100. 134 135

A. Legalität als Regelfall strafrechtlicher Gesetzeskonzeption

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Nach Zusammenbruch des NS-Regimes verzichtete der Gesetzgeber auf eine völlige Neuordnung der staatsanwaltlichen Befugnisse und griff in Form des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12. 9. 1950 144 den Gesetzesstand von vor dem 30. 1. 1933 in weiten Teilen auf, beließ es jedoch - beispielhaft seien hier die §§ 153, 153 c, 154 c StPO genannt - bei einigen Neuerungen aus der jüngsten Vergangenheit, die sich aus seiner Sicht der Dinge bewährt hatten. Zusätzlich wurde § 154 d StPO Gesetz. Bereits 1951 schuf das 1. Strafrechtsänderungsgesetz 145 mit § 153 b StPO einen weiteren opportunitätsgeprägten Einstellungstatbestand l46 . Im Jahre 1957 büßte das Legalitätsprinzip weiteren Herrschaftsraum durch das auf den Weg gebrachte 4. Strafrechtsänderungsgesetz 147 ein, das - in Form des heutigen 153 e StPO - die Strafverfolgung in bestimmten Fallkonstellationen in das Ermessen des Generalbundesanwalts stellte. Im Zuge derselben Reform wurde das Opportunitätsprinzip für Staatsschutzdelikte eingeführt l48 . Das "Gesetz zur Änderung der StPO und des GVG" vom 19. 12. 1964 149 vergrößerte durch die Einführung des § 154 a den Anwendungsbereich des bereits bestehenden § 154 StPO und trug auf diese Weise ebenso zur fortschreitenden Ausweitung der Opportunität bei, wie weiterhin das 8. Strafrechtsänderungsgesetz vom 25.6. 1968 15 durch das u. a. § 153 d StPO ins Gesetz gelangte. Infolge der Neufassung von § 153 StPO und der Etablierung der §§ 153 a, 154 e StPO durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. 3. 1974 151 sowie aufgrund der Erweiterung von §§ 154, 154 a StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz (StVÄG) vom 5. 10. 1978 152 wurde das Legalitätsprinzip weiter einge-

°,

143 Materiell war das Legalitätsprinzip aber wesentlich früher aufgegeben und durch die Opportunität als das beherrschende Prinzip der Strafverfolgung ersetzt worden: Zum einen durch den Reichstagsbeschluß vorn 26. 4. 1942 (RGBL 1942 I, S. 341), durch den das Rechtsstaatsprinzip aufgegeben und Hitler aus der Bindung an bestehende Rechtsvorschriften entlassen worden war, zum anderen mittels einer insoweit bemerkenswerten Interpretation der in § 152 StPO enthaltenen Formulierung "soweit gesetzlich nicht ein anderes bestimmt ist", bei deren Auslegung man auf den Gedanken gekommen war, die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft gemäß § 146 GVG als eine solche gesetzliche Bestimmung heranzuziehen, um in der Folge hierarchisch angewiesene Strafverfolgungs- und Anklageverbote an die Staatsanwälte (scheinbar) zu legitimieren - ,,Einerlei, aus welchem Grund das Verbot ergangen ist" (Oetker, Legalität, Opportunität, Klageerzwingung in: GS 105 (1935), S. 373; zitiert nach Pott, Vorn unmöglichen Zustand, S. 87). 144 RGBL 1950 I, S. 455. 145 BGBL 1951 I, S. 739. 146 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 34. 147 BGBL 1957 I, S. 597. 148 Vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 22; ebenso Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 34 f. 149 BGBL 1964 I, S. 1067. 150 BGBL 1968 I, S. 741. Vgl. dazu auch Falter, FG Maunz, S. 74; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 23; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 532 f. 151 BGBL 1974 I, S. 469. 152 BGBL 1978 I, S. 1645.

4 Horstmann

I. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

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schränkt l53 . Insbesondere der im lahre 1974 neu geschaffene § 153 a StPO erweiterte die opportunen Einstellungsmöglichkeiten im Bereich kleinerer Kriminalität erheblich und stellte seinerzeit den wohl vorläufig größten Einschnitt in das Legalitätsprinzip seit der Emminger'schen lustizreform dar 154 . Schließlich brachte das Strafrechtsänderungsgesetz vom 9.6. 1989 155 in seinem Art. 4 eine (Kronzeugen)Regelung ein, die in Verfahren gegen kooperationswillige Täter auch bei schweren Delikten eine Einstellung aus Opportunitätsgründen ermöglicht und insoweit eine vollständige Zurückdrängung des Legalitätsprinzips bewirkt l56 . Einen weiteren Höhepunkt innerhalb dieser Entwicklung setzte zuletzt die erhebliche Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 153 a StPO durch das "Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege" vom 11. 1. 1993 157 , wodurch das Legalitätsprinzip in weiten Teilen der Vergehensdelinquenz zugunsten eines größeren Handlungsspielraums für die Staatsanwaltschaft aus dem Strafverfahren verdrängt worden ist. Auf die hierdurch entstandenen Problemfelder wird zu einem späteren Zeitpunkt ausführlich einzugehen sein l58 .

III. Ergebnis Legalität, verstanden als eine Pflicht des Staates, bei Vorliegen der vom Gesetz bestimmten Verdachtsschwelle ermittelnd einzuschreiten und, wenn die Ermittlungen hierzu genügend Anlaß bieten, ohne Rücksicht auf Zweckmäßigkeitserwägungen die öffentliche Klage zu erheben, um den Täter im Anschluß einem gerechten Urteil zuzuführen, bildet die Grundlage eines klassisch-liberalen Strafrechtskonzepts. Tragende Fundamente dieser rechtsstaatlichen Handlungsmaxime liegen aus staatstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht im Gesetzlichkeitsprinzip, im Bestimmtheitsgrundsatz, im Gleichbehandlungsgebot sowie in der lustizgewährungspflicht. Ein straf- und strafverfahrensrechtlicher Begründungszusammenhang besteht ferner in der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs sowie im Rechtsgüterschutz als der wesentlichen Aufgabe staatlichen Strafens. Daneben finden sich in den unterschiedlichen Straftheorien weitere Begründungsansätze für die Legalität als dem grundlegenden Strukturprinzip des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts. 153 Heinz, ZStW 94 (1982), S. 632; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 23 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 533; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 35 f. 154 Terbach. Einstellungserzwingungsverfahren. S. 1Ot. Vg!. zu dieser Vorschrift ausführlich unten "TeiI3.C." sowie "Teil3.D.". 155 BGB!. 1989 I. S. 1059. 156 Roxin. Strafverfahrensrecht, S. 537. Vg!. zu dieser sog. Kronzeugenregelung im einzelnen unten "TeiI3.G.". 157 BGB!. 1993 I, S. 50.

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Dazu im einzelnen unten "Teil3.D.".

B. Opportunität als rechtstheoretischer Gegensatz zur Legalität

51

Der kursorische rechtshistorische Rückblick hat derweil gezeigt, daß die Geschichte dieses Prinzips gekennzeichnet ist durch seine stetige Zuriickdrängung zugunsten zweckmäßigkeitsmotivierter Einbriiche, die allesamt unter der Bezeichnung "Opportunität" firmieren. Das einst als bedeutsame Errungenschaft gefeierte Legalitätsprinzip sah sich bereits kurz nach seiner Etablierung in der Rechtsordnung des 19. Jahrhunderts legislatorischen Angriffen in Form opportunitätsgeleiteter Novellierungen ausgesetzt und wurde hierdurch in seiner Wirkung abgeschwächt und als dominierende Prozeßmaxime zunehmend in Frage gestellt.

B. Der Einbruch des Opportunitätsgedankens in das klassisch-liberale rechtsstaatliche Strafrecht Opportunität als rechtstheoretischer Gegensatz zur Legalität Sämtliche Zuriickdrängung, Einschränkung und Begrenzung des Legalitätsprinzips trägt ein und denselben Namen: Opportunität. Um das Verhältnis von Legalität und Opportunität zu erhellen, und um anschließend - sofern man Opportunität als Kategorie der Rechtsanwendung neben der Legalität im Grunde zulassen will einzelne Ausprägungen der Opportunität auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung und anderen ,,Leitsternen" straf- und strafverfahrensrechtlicher Gesetzgebung hin untersuchen zu können, muß vorab das "Bündel" Opportunität aufgeschnürt und in seinem Inhalt, seinen Erscheinungsformen und seinen Adressaten vorgestellt werden.

I. Begriff und Inhalt der Opportunität und ihre Abgrenzung zur Legalität Die Einschreitenspflicht des Legalitätsprinzips ist nach § 15211 StPO nur angeordnet, "soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist". Die damit ermöglichten Ausnahmen erfahren ihre (strafprozeß-)gesetzliche Ausgestaltung in den §§ 153 bis 154 e, 376 StP0 159. Traditionell wird in diesen Fällen von Ausprägungen eines "Opportunitätsprinzips" gesprochen, das im rechtstheoretischen Gegensatz zum Legalitätsprinzip stehen SOlll60. Nach dieser Auffassung steht der Ermittlungs- und Anklagepflicht im Falle der Legalität auf seiten der Opportunität eine (relative) Entscheidungsfreiheit dariiber gegenüber, ob eine Strafverfolgung (weiter) betrieben werden soll oder nicht l61 . 159 Dazu im einzelnen "Teil 2.B.!.". Dort werden zudem weitere Ausprägungen des Opportunitätsgedankens außerhalb der StPO vorgestellt. 160 Vgl. statt vieler: Beulke, S. 10; Geppert, Jura 1986, S. 310; Heidelberger K.-Krehl,

§ 154 Rn. 4. 161 Vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 87.

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

Obgleich der Begriff der "Opportunität" - von Glaser im Jahre 1860 in die Strafprozeßrechtswissenschaft eingeführt 162 - im Gesetz nicht vorkommt, hat die historische und bis heute tradierte Verwendung längst "Opportunität" als Gegenbegriff zu "Legalität" festgesetzt. Die Opportunität entstammt als Rechtsbegriff dem Verwaltungsrecht und bedeutet dort die "Rechtsmacht von Verwaltungsbehörden, eigenständig über das Angebrachtsein (die Zweckmäßigkeit) einer hoheitlichen Maßnahme im einzelnen Falle zu entscheiden,,163. Das Opportunitätsprinzip steht daher im Verwaltungsrecht dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gegenüber und gilt heute dort, wo das Gesetz für ein Gebiet eine gesetzliche Regelung nicht bereithält oder das Handeln der Behörde ihrem Ermessen überläßt l64 • Das lateinische Wort opportunum selbst wird derweil übersetzt mit: bequem, (zeitlich und räumlich) günstig gelegen, passend, brauchbar, vorteilhaft geschickt, aber auch: feindlichen Angriffen ausgesetzt, bloßgestellt 165 . Nach Bohnert 166 bezeichnen die deutschen Äquivalente "zwar überwiegend Freundlich-Zukömmliches, reden von Freistellung, von Befreiung, Entfesselung, von bequemer, vorteilhaft-passender Losbindung. Aber mit schlechter Beitönung. Der Opportunität hängt der Ruf des Beliebigen, Regellosen, Launenhaften, Unabsehbaren an". Dabei wurde bei der Begriffswahl offensichtlich nicht hinreichend beachtet, daß auch das Opportunitätsprinzip nicht etwa "illegal" ist, sondern seinerseits auf einer gesetzlichen Anordnung (lex) beruht 167 . Auch die §§ 153 ff., 376 StPO sind Gesetz und dabei keine "armen Verwandten in der Normhierarchie,,168. Angesichts ihrer "Legalität" steht "Opportunität" wohl vielmehr für eine besondere kriminal politische Zweckmäßigkeit, nicht aber als Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit 169. So kann strenggenommen umgekehrt in eben gleicher Weise die Wahrung des Verfolgungszwangs (Legalitätsprinzip) dem Wortsinne nach als "opportun" bezeichnet werden, wenn sie nur - was regelmäßig der Fall sein dürfte - dem Gemeinwohl dient 17o• "Opportunität" bedeutet nach alledem nicht mehr und nicht weniger als die "Freigabe der Entscheidung umwillen der Passendheit im Einzelfall,,171. Mit Bohnert l72 : "Positiv bedeutet Opportunität Umschau, Freiheit, wohl auch: Selbstentfal162 Glaser; Allgemeine österreichische Gerichtszeitung 1860, Nr. 87 ff. (vgl. hierzu den Nachweis bei Schroeder; FS Peters, S. 412). 163 Weides, Staatslexikon IV, 1988, S. 167; zitiert nach Bohnert, Abschlußentscheidung, S.134. 164 Creifelds, S. 943. 165 Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Worterbuch, Zweiter Band, 11. Aufl., Hannover 1962, S. 1370. 166 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 135 m. w. N. 167 Vgl. Schroeder; S. 39. 168 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 192. 169 Geppert, Jura 1986, S. 312. Vgl. auch Kühne, S. 132; Schlüchter; S. 158. 170 So Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 30. 171 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 136. 172 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 136.

B. Opportunität als rechtstheoretischer Gegensatz zur Legalität

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tung, nämlich das tun zu können, was man will, negativ Bindungslosigkeit, Haltlosigkeit. Die Bindung ist die des materiellen Strafrechts an Tatbestand und Rechtsfolge. Wer kraft Opportunität entscheidet, löst sich vom Fall." Mit "Opportunität" wird demnach zunächst die Peripherie, d. h. der "Bezugsrahmen eines Normbestands ... gekennzeichnet, welcher über die gesetzestechnische Ausgestaltung als Ausnahme zur strikten Verfolgungspflicht des ,Legalitätsprinzips • maßgeblich seine inhaltliche Prägung erflihrt" 173. Mehr inhaltlich meint Opportunität dann "die Zulassung von nichtstrafrechtlichen Zweckerwägungen bei der Strafverfolgung des Staates, also sowohl von politischen wie fiskalischen wie von sonstiger Rücksichtnahme auf öffentliche Interessen"174.

11. Gesetzliche Verankerung des Opportunitätsprinzips Geht man der Frage einer gesetzlichen Positivierung von Opportunität im deutschen Strafverfahrensrecht nach, so gewinnt man leicht den Eindruck, als könnten alle in § 15211 StPO zugelassenen Ausnahmen vom Legalitätsprinzip zu einem in sich geschlossenen Opportunitätsprinzip zusammengefaßt werden. Dagegen läßt sich jedoch mit Rieß 175 einwenden, daß einer Verfahrensordnung nicht gleichzeitig beide Kategorien von Legalität und Opportunität als Strukturprinzip zugrundeliegen können, so daß im Falle der Konzeption eines sog. negativen Opportunitätsmodells hinsichtlich der Ausnahmen vom Grundsatz der Legalität allenfalls von der Niederlegung eines Opportunitätsgedankens gesprochen werden kann. Als Bestandteile eines als Einheit zu verstehenden kriminalpolitischen Reaktionssystems verkörpern die gesetzlichen Nichtverfolgungsermächtigungen neben dem Grundsatz der Legalität mithin kein "Prinzip" im eigentlichen Sinne 176 . Obwohl demzufolge ein Opportunitätsgrundsatz im deutschen Strafverfahrensrecht eigentlich nicht existent ist l77 , werden die verschiedenen Ausnahmen vom Verfolgungszwang in Wissenschaft und Literatur nahezu unisono als Opportunitätsprinzip geführt. Die nachfolgenden Ausführungen werden sich dem weitreichenden Konsens in dieser terminologischen Frage anschließen, um eine einheitliche Verwendung der Begrifflichkeiten zu gewährleisten. Dabei wird nicht verkannt, daß durchaus auch ein anderes Opportunitätsmodell denkbar ist, welches die Opportunität tatsächlich zum "Prinzip" hat: Wird vorliegend Nichtverfolgung als opportunitätsbedingte Ausnahme von einer allgemeinen Verfolgungspflicht verstanden, so kann ohne weiteres auch der umgekehrte Weg beschritten werden und eine positive Interpretation der Opportunität dahingehend erfolgen, daß eine StrafTerbach, Einstellungserzwingungsverfalrren, S. 86. Mittemulier in: Aschrott, Refonn des Strafprozesses, S. 149; zitiert nach Güde, MDR 1958, S. 286. 173

174 175

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LR-Rieß, § 152 Rn. 39. So auch SK-Weßlau, § 152 Rn. 29. LR-Rieß, § 152 Rn. 39. Vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 2.

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

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verfolgung ausschließlich dann gerechtfertigt ist, wenn sie nicht nur formell auf das Gesetz gestützt werden kann, sondern daneben auch im allgemeinen Interesse erforderlich ist 178 . Die vorliegende Bearbeitung erblickt derweil den Opportunitätsgedanken sowohl in den strafprozessualen Vorschriften der §§ 153 ff., 374 ff., 413 ff., 440 StPO l79 als auch in materiellrechtlicher Hinsicht in den §§ 45, 47 JGG, § 31 a BtMG 18o, schließlich in § 47 OWiG für den Bereich der Ordnungswidrigkeiten l81 sowie in sämtlichen Kronzeugenrege1ungen I82 . Darüber hinaus wird auf die faktischen Einschränkungen der Legalität aufgrund opportunitätsgeprägten Strafverfolgungsdenkens einzugehen sein l83 .

IH. Träger der Nichtverfolgungsermächtigung

Als Adressat der opportunen Nichtverfolgungsermächtigungen ist zuvorderst die Staatsanwaltschaft zu benennen, der der Verfolgungsverzicht als eine kriminalpolitische Wertentscheidung in zahlreichen gesetzlichen Ermächtigungen zugeschrieben ist. Der Kompetenzkatalog der Polizei hingegen sieht opportunes Handeln im Bereich der Strafverfolgung schon mit Blick auf den Wortlaut der einschlägigen Vorschriften nicht vor. Die Verpflichtung der Polizei auf das Legalitätsprinzip wird derweil Gegenstand einer späteren Erörterung sein l84 , so daß sie an dieser Stelle lediglich - das Ergebnis insofern vorwegnehmend - als möglicher Träger der Nichtverfolgungsermächtigung auszuschließen ist. Inwieweit sich die Polizei jedoch in rechtstatsächlicher Hinsicht an diese Vorgabe des Gesetzgebers hält, wird ebenfalls zu einem späteren Zeitpunkt noch zu hinterfragen sein l85 • Hingegen ist der ältere Gedanke, daß Opportunitätserwägungen niemals Sache des Richters sein könnten l86 , seit langer Zeit verschwunden; er wurde nach 1877 kaum mehr erwogen. So wurden bereits die ersten Einbrüche ins Legalitätsprinzip dem Richter anvertraut, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft entschied. Anschließend wechselte die Einstellungsbefugnis in Teilen auf die Staatsanwaltschaft über, wobei zunächst noch eine Mitwirkung des Gerichts in Form einer Zustimmungsentscheidung vorgesehen war. Erst als letzter Entwicklungsschritt wurde die staats178 179

ISO 181 182 183

184 185 186

Vgl. Tak, ZStW 84 (1972), S. 220 f., 225 ff. Dazu unten "Teil2.B.I.4.". Dazu unten "Teil 2.B.I.3.". Dazu unten "TeiI2.B.I.1.". Dazu unten "Teil2.B.I.2.". Dazu unten "Teil2.B.II.". Dazu unten "Teil2.A.I.2.". Dazu unten "Teil2.B.II.1.". Dazu Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 77 m. w. N.

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

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anwaltschaftliche Befugnis etabliert, ohne richterliche Mitwirkung einstellen zu können. In vielen strafprozessualen Einstellungsnonnen ist diese selbständige Kompetenz inzwischen positiviertl 87 .

c. Die Bestimmung des Verhältnisses von Legalität und Opportunität vor dem Hintergrund ihrer Begrundungszusammenhänge

Die "Lobeshymnen", die zunächst vereinzelt auf den Opportunitätsgedanken angestimmt worden sind und die inzwischen - wenn man die lex lata als Stimmungsbarometer heranzieht - zu einem stattlichen "Chorgesang" angeschwollen sind, werfen die Frage auf, warum einer solch modemen, flexiblen, vornehmlich an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierten Verfahrensweise nicht noch viel weitreichender - wenn nicht sogar vollständig - das Feld überlassen werden sollte, welches zwar anfänglich relativ unnachgiebig vom Legalitätsprinzip besetzt war, jedoch durch zahlreiche "Rodungen" mit den Jahren licht geworden ist und demnach ohnehin erheblich an Durchschlagskraft eingebüßt hat. Man könnte so weit gehen zu fragen, ob nicht künftig sogar in Gänze auf dieses "Relikt" vergangener Tage verzichtet werden kann, um die Strafrechtspflege vollständig auf die Linie der Opportunität einzuschwören, deren Werbebotschaft doch so verlockend klingt. Die Frage nach der Verzichtbarkeit des Legalitätsprinzips steht daher am Anfang einer Untersuchung, die anband der Begriindungszusammenhänge von Legalität und Opportunität das Verhältnis beider Kategorien zueinander zu erhellen sucht.

I. Legalität in der Legitimationskrise Die Frage nach der Rechtfertigung der Theorie von der Unverzichtbarkeit der staatlichen Verfolgungspflicht Ein Blick auf die Wurzeln des staats- und strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzips könnte zu der Erkenntnis führen, daß Legalität bereits deshalb verzichtbar ist, weil es keinen Begriindungszusammenhang gibt, der eine staatliche Interventionspflicht, wie "Legalität" sie meint, zwingend vorschreibt. Für den Fall jedoch, daß sich aus den Fundamenten der Legalität ihre Unverzichtbarkeit ergeben sollte, wird man weiter der Frage nachgehen müssen, ob damit gleichzeitig eine ideale Fonn staatlicher Strafverfolgungspflicht determiniert ist l88 .

187 Vgl. §§ 153 I S. 2, 153 aIS. 7, 153 c, 153 d, 154, 154 a, 154 b, 154 c StPO. Zu weiteren Ausführungen bzgl. der gerichtlichen Verfolgungspflicht vgl. unten "TeiI2.A.1.3.". 188 Dazu unten "Teill.C.ll.".

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I. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

1. Läßt sich die Theorie von der Unverzichtbarkeit der Legalität auf ihr strajtheoretisches Fundament gründen?

Der straftheoretische Begriindungszusammenhang des Legalitätsprinzips war Gegenstand einer vorangegangenen Erörterung l89 . Insoweit konnte ein tragendes Fundament strafverfahrensrechtlicher Legalität sowohl in den absoluten als auch in den generalpräventiven Straftheorien nachgewiesen werden. Fraglich ist indes, ob sich aus diesen Wurzeln des Legalitätsprinzips auch zwingend dessen Unverzichtbarkeit ergibt.

a) Die absoluten Straftheorien als geistesgeschichtliche Grundlage des überkommenen Legalitätsprinzips

Eine der wichtigsten geistesgeschichtlichen Grundlagen des überkommenen Legalitätsprinzips bildet die absolute Straftheorie und das tatbezogene Vergeltungsstrafrecht Kant-Hegel'scher Prägung l90 . Die Vertreter der ,,klassischen Schule" gehen von der ausschließlichen Geltung der absoluten Straftheorie im Kant'schen Sinne aus, nach der die Strafe niemals opportunistischen Zweckerwägungen dienen darf, sondern allein und zwingend die Gebote abstrakter Gerechtigkeit im Wege einer "Negation der Negation,,191 zu verwirklichen hat. Um der Gerechtigkeit willen muß der Tater bestraft, das durch ihn verursachte Übel ausgeglichen werden, damit schließlich die durch die Straftat gestörte Ordnung wiederhergestellt wird. Der Staat hat zu diesem Zwecke sein Strafamt auszuüben, er hat dabei jede veriibte Straftat zu verfolgen und abzuurteilen: punitur quia peccatum est l92 . Von irgendwe1chen Zweckmäßigkeitserwägungen seiner Organe hingegen darf der Staat die Strafverfolgung nach diesem Verständnis nicht abhängig machen. Dieser Vorgabe, der nach der seinerzeit vorherrschenden hegelianischen Auffassung von der Absolutheit des Staates auch der Reichsgesetzgeber im Jahre 1877 zugetan war 193 , scheint derweil das Legalitätsprinzip mit einem vollständigen und lückenlosen Verfolgungszwang am besten zu entsprechen. Da nach den absoluten Theorien das Wesen und der Grund der Strafe allein in der Verwirklichung der abstrakten Gerechtigkeit liegt, sind Zweckmäßigkeitsüberlegungen hinsichtlich der Frage des "ob" der Bestrafung dieser Theorie schon von ihrer Konzeption her fremd: Der Gerechtigkeit kann nur dann zum Durchbruch verholfen werden, wenn jede Tat vergolten wird. Demzufolge muß im Sinne einer absoluten Straftheorie, die abgelöst von allen Zweckmäßigkeitserwägungen unnachgiebig auf den Dienst Dazu oben "Teill.A.II.3.". Vgl. "Teil l.A.1I.3.". 191 Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse.Theorie Werksausgabe, Band 7 § 97 (Zusatz); zitiert nach Pott. S. 30. 192 Vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 3l. 193 Ambs, GS Meyer, S. 8; Gössel. FS Dünnebier, S. 126. 189

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C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

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an der Gerechtigkeit hin ausgerichtet ist, auch das Legalitätsprinzip streng auf die Verfolgung einer jeden begangenen Straftat gerichtet sein l94. Wenn nun aber bereits durch die absoluten Straftheorien ein Absolutheitsanspruch im Hinblick auf den Intensitätsgrad der Verfolgung erhoben wird, so stellt sich die Frage nach der Verzichtbarkeit aus dieser Blickrichtung erst gar nicht: Legalität ist vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund per se unverzichtbar. Dennoch darf allein aufgrund dieses überkommenen straftheoretischen Begründungszusammenhangs nicht vorschnell auf eine Unabdingbarkeit des staatlichen Verfolgungszwangs für die heutige Zeit geschlossen werden. Legitimation und konkrete Ausgestaltung des Legalitätsprinzips hängen immer auch mit zeitgeschichtlichen Gestaltungsfragen der staatlichen Strafrechtspflege zusammen. Legalität läßt sich nicht isoliert begreifen und muß zum besseren Verständnis stets in den Gesamtkomplex der staatlichen Strafrechtspflege eingeordnet werden l95 . Die Aufgabe des Staates innerhalb der Strafrechtspflege kann dabei einem Wandel unterliegen, der auch tradierte Bilder von Strafzwecken erfassen und einer Veränderung unterwerfen kann.

b) Wandel der Zielsetzung staatlicher Strafrechtspflege Die zunehmende Eingrenzung der staatlichen Veifolgungspflicht als prozessuale Entsprechung der Überwindung des reinen Vergeltungsstrafrechts

Mit der Überwindung des Vergeltungsstrafrechts durch ein primär präventives Strafrecht 196 hat der Absolutheitsanspruch des Legalitätsprinzips seinen Bezugspunkt und mithin seine urspriingliche theoretische Basis und Berechtigung (teilweise) verloren 197. Teile der theoretischen und rechtspolitischen Wurzeln des überkommenen Legalitätsprinzips liegen heute in überwundenen Vorstellungen. General- und spezialpräventive Strafzielerwägungen dieser Tage richten sich an der Person des zu bestrafenden Täters aus und knüpfen die Bestrafung an ihre gesellschaftliche Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit l98 . Diese Entwicklung, weg von den auf Vergeltung aufbauenden "absoluten" hin zu den an Präventionszielen ausgerichteten ,,relativen" Straftheorien, reibt sich insofern mit dem (strengen) Legalitätsprinzip, als dieses eine Strafverfolgung in allen und damit auch in jenen Zipf, FS Peters, S. 495. Zipf, FS Peters, S. 495. 196 Dazu bereits oben "Teill.A.II.3.". 197 Geppert, Jura 1982, S. 151; Rieß, NStZ 1981, S. 4; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 85. 198 Eine wesentliche Ursache für diesen Wandel straftheoretischer Überlegungen war die Betonung verfassungsrechtlicher und menschenrechtlicher Grenzen des Strafrechts - wie z. B. die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Humanität, der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, der Freiheit, der Gleichheit, der Sozialstaatlichkeit und des rechtsstaatlichen Verfahrens -, die insgesamt zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat geführt haben; vgl. Heinz, ZStW III (1999), S. 461. 194 195

I. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

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Fällen fordert, in denen eine Strafe weder zur Einwirkung auf den jeweiligen Täter (Spezialprävention) noch zur Abschreckung anderer potentieller Täter (Generalprävention) notwendig und geboten erscheint 199 . Wer beispielsweise die staatliche Aufgabe darauf beschränkt sieht, die Ordnungsfunktion zu erfüllen, braucht im Rahmen der Strafverfolgung auch nur insoweit einzuschreiten, als es zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung geboten ist. Gleiches gilt für die Rechtsbewährungsfunktion der Strafe2OO • Wer sich des weiteren den Leitspruch "nicht die Tat, sondern der Täter ist zu strafen" auf die Fahne schreibt, sieht in der Strafe nicht einen Ausgleich für begangenes Unrecht, sondern ein Mittel zur Verhinderung weiterer Straftaten in der Zukunft durch zwangsweise Anpassung des Täters an gesellschaftliche Erwartungen. Für diese folgenorientierte Sichtweise benötigt man derweil Freiräume, und zwar nicht nur hinsichtlich des "wie", sondern auch hinsichtlich des "ob" der Strafe. Spezialpräventive Strafzwecke erfordern eine am Zweckmäßigkeitsgedanken orientierte Flexibilität der Reaktionsmöglichkeiten auf Normverletzungen, um die jeweilige Täterpersönlichkeit individuell adäquat ansprechen zu können. Daneben bringt auch die soziologische Schule Auflockerungen des Legalitätsprinzips mit ihren theoretischen Grundanschauungen in Einklang und verschließt sich Nützlichkeitserwägungen aus kriminalpolitischen Gründen grundsätzlich nicht201 • Die zunehmende Eingrenzung der Verfolgungspflicht in der Entwicklung der StPO kann daher auch als prozessuale Entsprechung der Überwindung des reinen Vergeltungs strafrechts angesehen werden. Das Absehen von der Strafverfolgung in bestimmten Fällen entspricht der Abkehr der Kriminalpolitik von den absoluten Straftheorien und der Hinwendung zu den relativen202 . Indem staatliche (Straf)Gewalt auf das zum Schutze der Gesellschaft notwendige Minimum reduziert wird, entfällt die straftheoretische Basis für eine uneingeschränkte Strafverfolgungspflicht. Mit der Überwindung des Vergeltungsstrafrechts und seiner Ersetzung durch ein präventives Strafrecht sind general- und spezialpräventive Auffassungen in das materielle Strafrecht eingezogen, die es auf prozessualer Ebene gestatten, Abweichungen vom Grundsatz der Legalität zuzulassen. Wenn demnach im Einzelfall präventive Gründe die Verhängung von Strafe nicht erfordern, dann kann oder muß in vielen Fällen schon nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Strafverfolgung unterbleiben 203 . Nach alledem erscheint von dieser Warte aus Legalität nicht per se unverziehtbar.

199

200 201 202 203

Geppert, Jura 1986, S. 310; vgl. auch Zipf, FS Peters, S. 496. Zipf, FS Peters, S. 496. Vgl. Pott, S. 23 ff. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 77. Dazu im einzelnen unten "Teil1.C.II.2.b)"; vgl. auch Rieß, NStZ 1981, S. 5 f.

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

59

c) Ergebnis

Eine Reflexion straftheoretischer Begründungszusammenhänge des Legalitätsprinzips hat ergeben, daß sich eine Unverzichtbarkeit der Legalität - jedenfalls aus heutiger Sicht - nicht auf ein derartiges Fundament stützen läßt. Zwar existiert mit den absoluten Straftheorien eine geistesgeschichtliche Grundlage (sogar) absoluter Legalität, jedoch kann die Frage nach ihrem derzeitigen Status nicht isoliert, sondern stets nur im Rahmen der jeweiligen zeitgeschichtlichen Zielsetzung staatlicher Strafrechtspflege beantwortet werden. Das Legalitätsprinzip führt innerhalb des Gesamtkomplexes der staatlichen Strafrechtspflege kein Eigenleben 204 • Demzufolge ist vor dem Hintergrund heute vorherrschender spezial- und generalpräventiver Strafzwecktheorien ein Verzicht auf das Legalitätsprinzip im Einzelfall nicht ausgeschlossen, unter Umständen sogar geboten.

2. Läßt sich die Theorie von der Unabdingbarkeit der Legalität auf ihr staatstheoretisches und verfassungsrechtliches Fundament griinden?

Möglicherweise erweist sich Legalität im Hinblick auf ihr staatstheoretisches und verfassungsrechtliches Fundament205 als unabdingbar, so daß Opportunität allenfalls am Rande, nicht jedoch als ein die Legalität vollständig verdrängendes Verfahrensprinzip zulässig wäre. Ob in diesem Zusammenhang beispielsweise die Justizgewährungspjlichf06 des Staates die Beibehaltung des Legalitätsprinzips erfordert, hängt wohl maßgeblich davon ab, inwieweit sich aus dieser allgemeinen Pflicht Schlüsse für die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens ziehen lassen207 . Dazu schreibt Weigend 208 : "Die Iustizgewährungspflicht wäre ... nur dann tangiert, wenn jede andere Maxime als gerade das Legalitätsprinzip einer Rechtsschutzverweigerung gleichkäme ... Davon kann jedoch keine Rede sein: das Gebot, Rechtsschutz zu gewähren, wird nicht verletzt, wenn die Eröffnung eines gerichtlichen Verfahrens von der Ermessensentscheidung einer Iustizbehörde abhängig gemacht wird, zumal wenn das Ermessen an rechtliche Maßstäbe gebunden und gar gerichtlich überprütbar ist. In welcher Weise ein Ausgleich zwischen dem Wunsch des Geschädigten nach Genugtuung durch ein Strafverfahren und dem Interesse der Allgemeinheit am sparsamen und effizienten Einsatz öffentlicher Mittel hergestellt wird, muß der Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleiben. Er hat dafür im geltenden Recht ein kompliziertes Rege1ungsgebäude auf der Grundlage des Legalitätsprinzips, jedoch mit zahlreichen Elementen des Ermessens und auch der Privatklage bereitgestellt; ebenso könnte er jedoch die Gewichte umver204

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Zipf, FS Peters, S. 495. Dazu oben "Teill.A.ll.l.". Dazu oben "TeiI1.A.II.l.a)bb)(2)(a)". Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 67. Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 67 m. w. N.

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

teilen und ein eingeschränktes Opportunitätsprinzip einführen, ohne rechtsstaatliche Grundpflichten zu verletzen." Weigend gelangt daher zu dem Schluß, daß sich aus der allgemeinen Justizgewährungspflicht des Staates eine Unverzichtbarkeit des Legalitätsprinzips jedenfalls nicht ableiten läßt209 . Und auch aus der rechtsfriedenssichernden Funktion des Legalitätsprinzips210 wird man eine grundsätzliche Unverzichtbarkeit eines vollständigen und lückenlosen Verfolgungszwangs nur schwerlich ableiten können, zumal auch eine schrankenlose Wahrheitssuche durchaus geeignet ist, den Rechtsfrieden zu gefährden. So hat auch der Bundesgerichtshof ll einen strafprozessualen Grundsatz, wonach "die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte", ausdrücklich abgelehnt. Im Gegenteil: "Auch eine lückenhaft-unvollständige Durchsetzung des materiellen Strafanspruchs kann durchaus in der Lage sein, den Rechtsfrieden zu gewährleisten!"212 Uneingeschränkte Legalität hingegen kann dazu führen, daß dieses Ziel gerade nicht erreicht wird. So kann nach Peters 213 der Strafprozeß seine rechtssichernde und rechtsbefriedende Funktion nur erfüllen, wenn der "Umfang des Strafrechts begrenzt ist, kriminalistisch unerhebliche Vorgänge ausgeschieden, die Möglichkeiten außerstrafrechtlicher Lösungen berücksichtigt und kriminalpolitisch entbehrliche Lösungen vermieden werden". Jedenfalls im Einzelfall muß demzufolge auch im Hinblick auf diesen staats theoretischen Begründungszusarnmenhang auf (strenge) Legalität verzichtet werden können. Eine umfassende Unverzichtbarkeitsforderung läßt sich aus der rechtsfriedenssichernden Funktion des Legalitätsprinzips daher nicht ableiten. Tritt man des weiteren für eine Unabkömrnlichkeit des Legalitätsprinzips im Hinblick auf den in ihm niedergelegten Gerechtigkeitsgedanken 214 ein, darf gleichsam nicht verkannt werden, daß auch ein Verfolgungsverzicht im Einzelfall der Gerechtigkeit verpflichtet sein kann. Nur wer den Satz nullum crimen sine poena als einzige Garantie für eine gerechte Strafrechtspflege ansieht, muß es als Pflicht des Staates erachten, dafür Sorge zu tragen, daß der staatliche Strafanspruch in ausnahmslos allen Fällen verwirklicht wird215 . Andernfalls scheint die Verwirklichung materialer Gerechtigkeit nicht allein durch das Vorhandensein eines uneingeschränkten Legalitätsprinzips bedingt zu werden, wenngleich im Grundsatz nicht zu bestreiten sein dürfte, daß ein größtmögliches Maß an Gleichmäßigkeit und damit (materialer) Gerechtigkeit in der Rechtsanwendung am ehesten durch eine möglichst weitreichende Verfolgungspflicht gewährleistet ist.

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Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 68. Dazu oben "Teil 1.A.II.1.a)bb)(2)(b )". BGHSt. 14,358 (365). Geppert, Jura 1982, S. 139.

Peters, StrafprozeB, S. 11. Dazu bereits oben "Teil 1.A.II.1.a)bb)(2)(c)". Vgl. Falter, FG Maunz, S. 71.

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

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Eine hierzu parallele Argumentation wird man für den in Art. 3 GG normierten allgemeinen Gleichheitssatz bemühen können, der ebenfalls als ein tragendes verfassungsrechtliches Fundament des strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzips ausgemacht worden ist216 und der ein wesentliches Element der materiellen Gerechtigkeit darstellt. In diesem Zusammenhang ist nunmehr bedeutsam, daß Art. 3 GG nur für den Fall verletzt ist, daß sich bei einer Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem ein "vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung ... nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß,,217. Mithin verlangt die vom Rechtsstaatsprinzip geforderte Wahrung und Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit in ihrer Einschränkung auf die Wahrung des Gleichheitssatzes nicht etwa die ausnahmslose und umfassende Verfolgung aller Straftaten, sondern verbietet vielmehr nur, die Entscheidung über die Verfolgung von Straftaten willkürlich zu treffen218 . Der Staat wird demnach durch seine Verpflichtung auf materielle Gerechtigkeit und Gleichheit keinesfalls dazu gezwungen, bei der Strafverfolgung das Legalitätsprinzip zugrundezulegen. Vielmehr steht es dem Gesetzgeber frei, die strafverfolgende Tatigkeit in differenzierender Weise zu regeln, soweit nur die gewählte Differenzierung an sachgerechten Gesichtspunkten orientiert ist und das Willkürverbot hinreichend beachtet219. Gleichwohl sich demzufolge die Forderung des Art. 3 GG in der Bereitstellung sachlich plausibler Unterscheidungskriterien zu erschöpfen scheint220 und der Opportunität in geeigneten Fällen sogar gleichheitsstiftende Wirkung zugesprochen wird221 , kann aus der soeben gewonnenen Erkenntnis, daß der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz für die Forderung nach einem uneingeschränkt gültigen Legalitätsprinzip keinen zwingenden Anlaß bietet, dennoch nicht geschlossen werden, daß damit zugleich das Urteil über eine vollständige AbkömmIichkeit der Legalität gesprochen wäre. Zu Recht wird in einer Vielzahl von Fällen die Nähe zwischen Art. 3 GG und dem Legalitätsprinzip hervorgehoben 222 . Der Weg einer vollständigen Verdrängung des Legalitätsprinzips scheint von Verfassung wegen nicht gangbar. Legalität steht unter dem Schutz des Art. 3 I GG und ist daher zumindest in ihrem Kerngehalt jeder Disposition des einfachen Gesetzgebers entzogen. Verfassungsgemäß sind daher allenfalls Korrekturen im Randbereich 223 . Der allgemeine Dazu oben "TeilI.A.II.l.a)bb)(2)(c)". BVerfGE I, 14 (52); vgl. auch BVerfGE 18, 121 (124); 22, 154 (263). 218 Gössel, FS Dünnebier, S. 127; Willms, JZ 1957, S. 157. 219 Gössel, FS Dünnebier, S. 127 f.; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 76; Zipf, FS Peters, S. 498; vgl. auch Rieß, FS Schäfer, S. 198 ffi. w. N. 220 Vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 76 ffi. w. N. 221 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 254 ffi. w. N. 222 BVerfGE 33, 367 (383); 38, 105 (1l5); 46, 214 (222); 51, 324 (343); Ambs, GS Meyer, S. 8; Arzt, JuS 1974, S. 694; Kerl, ZRP 1986, S. 315; Paschmanns, S. 105; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 68; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 133; Schultz/Leppin, Jura 1981, S. 525; Ulrich, ZRP 1982, S. 169; Willms, JZ 1957, S. 465; Zipf, FS Peters, S. 498. 216 217

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

62

Gleichheitssatz verbürgt als überpositive Norm des Verfassungsrechts das Gleichmaß der Hoheitsgewalt und ist damit für ein Stück Rechtsstaatlichkeit mitverantwortlich. Die Bindung der Strafverfolgungsorgane an diesen Gleichheitssatz gerät damit zur wohl wichtigsten Funktion des Legalitätsprinzips 224. Vor diesem Hintergrund erscheint Legalität dann auch - obwohl Ausnahmen zugänglich - als jedenfalls im Grundsatz unverzichtbar.

3. Ergebnis

Eine vollständige Verdrängung des Legalitätsprinzips ist von Verfassungs wegen untersagt. Der allgemeine Gleichheitssatz in Art. 3 GG als verfassungsrechtliches Fundament strafverfahrensrechtlicher Legalität verlangt die Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Strafverfolgungspflicht des Staates im Sinne eines allgemeinen Willkürverbots. Insoweit straftheoretische Begründungszusammenhänge ebenfalls zur Gleichmäßigkeit der Strafverfolgung auffordern, stützen sie diese These. Mit der Feststellung der grundsätzlichen Unverzichtbarkeit von Legalität ist jedoch noch keine Aussage darüber getroffen, ob und inwieweit der staatliche Strafverfolgungsanspruch unter Umständen zugunsten kollidierender verfassungsrechtlicher Drittaspekte eingeschränkt werden kann und gegebenenfalls sogar muß. Nur ein Erfordernis strenger, idealer Legalität würde die Zulässigkeit jeglicher Opportunität im Strafverfahren per se ausschließen. In gleicher Weise würde dann auch nur die grundsätzliche Anerkennung des Opportunitätsgedankens im Strafverfahren dazu führen, daß in einem zweiten Schritt noch über die Zulässigkeit konkreter opportunitätsgeprägter Einbrüche in das Grundprinzip ,,Legalität" entschieden werden müßte.

11. Ist eine vollständige und lückenlose Strafverfolgung aufgrund eines idealen Legalitätsprinzips tatsächlich möglich, verfassungsrechtlich zulässig und! oder wünschenswert? Mit der Anerkennung des Rechtsstaatsprinzips als den wohl maßgeblichen verfassungsrechtlichen Geltungsgrund des strafprozessualen Legalitätsprinzips ist nicht automatisch einem strikten, uneingeschränkten Legalitätsprinzip das Wort geredet. So ist bereits fraglich, ob ein ideal verstandenes Legalitätsprinzip - sozusagen Legalität "in Reinform" - in tatsächlicher Hinsicht überhaupt umsetzbar wäre, und, wenn dies der Fall sein sollte, ob ein strenger Verfolgungs- und Anklagezwang nicht unausweichlich an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen würde. Schließlich ist auch noch die Frage nach der generellen Wünschbarkeit eines solchen uneingeschränkten, idealen Strafverfolgungsprinzips zu stellen. 223 224

Paschrrwnns, S. 105. Wagner, FS 45.DJT, S. 174; vgl. auch Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 133.

C. Begrundungszusarnmenhänge von Legalität und Opportunität

63

1. Tatsächliche Realisierbarkeit idealer Strafverfolgung in der Rechtspraxis

Eine eher pragmatische Sicht der Dinge lehnt das Erfordernis einer lückenlosen Durchführung des Legalitätsgrundsatzes bereits aufgrund ihrer faktischen Unmöglichkeit ab 225 . Es wird vorgebracht, daß das Legalitätsprinzip bisweilen auf "anspruchsvollen Vorstellungen von der Wirklichkeit,,226 beruhe und selbst bei strengem Verständnis keine gleichmäßige oder gar vollständige Anwendung des Strafrechts garantieren könne, da sich das materielle Strafrecht nicht so schlicht in die Wirklichkeit umsetzen lasse, wie die Anhänger des Legalitätsprinzips sich das regelmäßig erhofften. Die gegenteilige Ansicht sei nicht nur idealistisch, sondern geradezu falsch 227 . Die Realitäten des Strafverfahrens, die deliktstypischen Dunkelfelder, die jeweiligen Ressourcen der Strafverfolger, die soziale Positionierung der Verdächtigen, das jeweils eingebrachte Vorverständnis des den Inhalt der Norm mitkonstituierenden Rechtsanwenders seien nur einige der Faktoren, die dazu beitragen würden, daß das "Ethos des Legalitätsprinzips" eher auf dem Papier stünde228 . So sehr also eine Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung nach dem Legalitätsprinzip verlangen mag, kann es in rechtstatsächlicher Hinsicht eine lückenlose Durchführung der Maxime nicht geben. Verschiedentliche faktische Begrenzungen der Legalität229 spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle wie die Selektivität des Strafverfolgungsprozesses insgesamt23o. Indem eine Vielzahl von Entscheidungen auf diesem Wege der gleichzeitigen Forderung gleichmäßiger wie selektiver Strafverfolgung ausgesetzt sind, kann lückenlose Strafverfolgung und damit vollkommene Rechtsanwendungsgleichheit bereits aus diesem Grunde nicht stattfinden231 . Ein ideal verstandenes Legalitätsprinzip würde demzufolge bereits an den Realitäten der Rechtswirklichkeit scheitern und wäre somit - im wahrsten Sinne des Wortes - eine unrealistische Forderung.

2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer uneingeschränkten Verfolgungspflicht

Überdies scheint fraglich, ob eine uneingeschränkte Verfolgungspflicht überhaupt mit der verfassungsmäßigen Ordnung in Einklang stünde, oder ob sich nicht vielmehr ein strikt verstandenens Legalitätsprinzip in Widerspruch mit anderen 225 Aulinger, S. 67; Faller, FG Maunz, S. 72; Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 532 ff. Vgl. dazu auch SK-Weßlau. § 152 Rn. 36. 226 Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 532. 227 Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 532 f. 228 Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 532 f. 229 Dazu im einzelnen unten "Teil 2.B.II .... 230 Vgl.Aulinger, S. 67. 231 Aulinger, S. 67. Gössel (in: DJT-Gutachten, C 30 m. w. N.) gibt zudem zu bedenken, "daß in der sozialen Realität jede Ausformung einer idealen Maxime ihre Begrenzung durch die Ausformung einer gegensätzlichen idealen Maxime erfährt, wie z. B. das Legalitätsprinzip durch das Opportunitätsprinzip" .

64

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

Verfassungsgütern setzen würde. Kollisionsgüter von Verfassungsrang könnten zu Abstrichen auf seiten des Legalitätsprinzips führen, ein strenger, uneingeschränkter Verfolgungszwang demzufolge an einem gebotenen Ausgleich zwischen ihm und einer verfassungsrechtlich ebenbürtigen Gegengröße scheitern. Solche Kollisionsgüter von Verfassungsrang sollen im Anschluß benannt und auf ihre Vereinbarkeit mit einer uneingeschränkten Verfolgungspflicht hin untersucht werden.

a) Verstoß gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Art. 1 I GG Am Anfang des Grundrechtskataloges der Verfassung deklariert Art. I GG: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Entsprechend dieser exponierten Stellung und der insgesamt überragenden Bedeutung (Art. 79 III GG) gilt der Schutz der Menschenwürde als "oberster Wert in der freiheitlichen Demokratie,.232. Art. I GG gehört zu den "tragenden Konstitutionsprinzipien" des Grundgesetzes 233 . Es ist nach Art 1 I GG die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Wenngleich eine positive Definition der "Menschenwürde" kaum möglich ist, da insbesondere die Anforderungen an den Begriff in besonderem Maße zeit- und situationsabhängig sind, so daß auch nur im konkreten Einzelfall bestimmt werden kann, wann Art. 1 I GG verletzt ist234, orientiert sich das Bundesveifassungsgericht seit langem an der sog. Objektformel, wonach die Menschenwürde jedenfalls dann tangiert ist, wenn der Mensch zum bloßen Objekt staatlichen HandeIns degradiert wird235 . Es muß daher in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden, ob eine uneingeschränkte Strafverfolgungspflicht aufgrund eines ideal verstandenen Legalitätsprinzips den Adressaten dieser staatlichen Maßnahme im Einzelfall in seinem Grundrecht auf Achtung und Schutz seiner Würde als Mensch zu verletzen geeignet ist. Die Menschenwürdegarantie in Art. 1 GG begrenzt - in einer nach historischer Erfahrung konkretisierten Fallgruppe236 - die staatliche Gewaltanwendung bei freiheitsentziehenden Sanktionen: Unter Zugrundelegung der Objektformel hat das Bundesveifassungsgericht entschieden, daß es zwar mit der Menschenwürde vereinbar sei, eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen, daß aber "ein menschenwürdiger Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe nur dann sichergestellt ist, wenn der Verurteilte eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance hat, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedergewinnen zu können; denn der Kern der Menschenwürde wird getroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwick-

232 233 234 235

236

BVerfGE 5,85 (204); 6, 32 (41); 12,45 (51 ff.); 21, 362 (372); 52, 223 (247). BVerfGE 6, 32 (36). BVerfGE 30, 1 (25). BVerfGE 9,89 (95); 45, 187 (228); 72, 105 (116). Pierothl Schlink, Staatsrecht 11, Rn. 392.

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

65

lung seiner Person jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muß,,237. Die Menschenwürde ist in diesem Zusammenhang auch die gedankliche Wurzel rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien 238 : Der Beschuldigte wird ebenfalls zum bloßen Objekt staatlichen HandeIns, wenn er nicht die Möglichkeit erhält, sich im Verfahren ausreichend zu verteidigen. Kann er weder die ihn betreffenden wichtigen Entscheidungen selber treffen, und ist es ihm zudem verwehrt, seine Rechte mit fremder Hilfe wahrzunehmen, so verstößt die Durchführung des Verfahrens gegen Art. 1 I GG 239 . Der Berliner Verj'assungsgerichtsho!40 hat darüber hinaus entschieden, daß die Durchführung eines Strafverfahrens gegen die Menschenwürde verstößt, wenn der Beschuldigte das Ende des Verfahrens aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr erleben wird. Zweck des Verfahrens sei es schließlich, "den legitimen Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der dem Beschwerdeführer in der Anklage zur Last gelegten Taten und gegebenenfalls auf Verurteilung und Bestrafung zu erfüllen". Dieser Zweck könne jedoch dann nicht erfüllt werden, wenn abzusehen sei, daß der Angeklagte während des Verfahrens einer schweren Krankheit erliegen werde. In diesem Fall degeneriere der Betroffene zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen. Wie bereits die Darstellung dieser wenigen Einzelfälle verdeutlicht, ist eine Pflicht zur Verfolgung "um jeden Preis" mit dem staatlichen Auftrag, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, nicht zu vereinbaren. Eine strikte, uneingeschränkte Verfolgungspflicht sieht sich unter Umständen dem Vorwurf eines Verstoßes gegen die Menschenwürde aus Art. 1 I GG ausgesetzt. Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers ist demzufolge durch Art. 1 I GG insoweit eingeschränkt, als daß jedenfalls die Etablierung einer ausnahmslosen Verfolgungspflicht verfassungsrechtlich unzulässig ist.

b) Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Häufig wird darüber hinaus der rechtsstaatlich begründete Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als LegitimationsgrundjUr eine Begrenzung der Strafverfolgung und damit als Argument gegen ein striktes Legalitätsprinzip herangezogen 241 . Das war BVerfGE 45, 187 (245); 72, 105 (113, 115 ff.); BVerfG, NJW 1995, S. 3244 ff. Pierothl Sehlinie, Staatsrecht 11, Rn. 393. 239 Vgl. BVerfG, NJW 1995, S. 1951; Döhring, S. 62; LR-Rieß, § 205 Rn. 12. 240 BerlVerfGH, NJW 1993, S. 515 (517). 241 BVerfGE 16, 286 (294); 35, 382 (400); Ambs, GS Meyer, S. 8; Aulinger, S. 69; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 105; Geppen, Jura 1982, S. 149; Hassemer, FS StA Schleswig-Hoistein, S. 534 f.; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 116, 144; KellerlSehmid, wistra 1984, S. 203; Lorenzen, FS StA Schieswig-Hoistein, S. 542; Pott, S. 53; Ranft, S. 275; 237 238

5 Horstmann

66

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

nicht immer so. Anfänglich bedurfte es der Rechtsprechung - insbesondere der des Bundesveifassungsgerichts -, um diesem im Polizei- und Verwaltungszwangsverfahrensrecht seit langem anerkannten Grundsatz auch im Strafrecht Geltung zu verschaffen 242 . So hat das Gericht mehrfach hervorgehoben, daß ein gegen das verfassungsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßendes Strafgesetz nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung sein kann 243 ; und auch für den Bereich des Strafprozeßrechts liegen in puncto Verhältnismäßigkeit zahlreiche Entscheidungen vor44 . Allgemein gewendet läßt sich danach inhaltlich folgendes festhalten: Der rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt, daß das mit staatlichem Handeln angestrebte Ziel und die Auswirkungen dieses Handeins in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen: die konkrete staatliche Maßnahme muß zur Erreichung eines legitimen staatlichen Ziels objektiv geeignet, erforderlich und angemessen - d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne - sein 245 . Obwohl an den rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausnahmslos alle drei Staatsgewalten gebunden sind246, steht dem Gesetzgeber diesbezüglich eine gewisse Einschätzungsprärogative ZU 247 . Dies geht bereits daraus hervor, daß der Gesetzgeber eine sog. Zielvorgabenkompetenz innehat, während die Verwaltung die Ziele ihres Handeins seitens der Legislative vorgegeben bekommt248 . Dieser Spielraum des Gesetzgebers verengt sich jedoch umso mehr, je stärker das Gesetz den "personalen Kernbereich" von Grundrechten berührt249 . Es stellt sich demzufolge an dieser Stelle die Frage, ob einem per Gesetzgeber kodifizierten uneingeschränkten Verfolgungszwang im Bereich des Strafrechts im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitserfordernis von Verfassungs wegen eine Absage zu erteilen ist.

aa) Legitime Ziele staatlicher Strafverfolgung Aufgabe und legitimes Ziel des gesamten Strafrechts ist es, die "Lebensbedingungen in der Rechtsgemeinschaft,,25o zu sichern, indem der durch eine Straftat Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 85; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 134; Schroeder, FS Peters, S. 415; SK-Weßlau, § 152 Rn. 25; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 72; derselbe ZStW 109 (1997), S. 105. 242 Vgl. Schultz/Leppin, Jura 1981, S. 529 ffi. w. N. 243 BVerfGE 6,389 (439). 244 BVerfGE 19, 342 (351); 20, 45 (49 f.); 20, 144 (148); 32, 87 (94); 35, 79 (152 ff.); 36, 264 (270); 53, 152 (158 f., 161). 245 BVerfGE 81, 156 (192f.). 246 Vgl. BVerfGE 35, 382 (400 f.); 61, 126 (134). 247 BVerfGE 45, 187 (253); vgl. auch Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 328. 248 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 327, 329. 249 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 328. 250 BVerfGE 45, 187 (253).

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

67

gestörte Rechtsfrieden wiederhergestellt wird251 • Zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens bedarf es der Durchsetzung des materiellen Rechts durch das Prozeßrecht, wobei die dem materiellen Recht eigenen Strafzwecke im Einzelfall verwirklicht werden müssen. Die Strafverfolgung trägt mithin als Ziel notwendigerweise die Verwirklichung der Strafzwecke in sich, welche sich heute namentlich aus den Bereichen Schuldausgleich und Prävention rekrutieren 252 . Neben die Vergeltung, die nach heutigem Staatsverständnis nicht der einzige Strafzweck sein darf, treten spezial- und generalpräventive Aspekte, so daß über den eigentlichen Schuldausgleich hinaus die Strafe dem gesellschaftlichen Zusammenleben in der Zukunft dienen muß. Mit der Strafverfolgung wird demzufolge dieser Tage ein komplexer Zweck verfolgt: Die Herstellung des Rechtsfriedens durch das Finden und das Durchsetzen eines auf Prävention und Repression gerichteten Rechts.

bb) Die Verhältnismäßigkeit strenger Legalität als Mittel zur Zielerreichung Nachdem nun die legitimen Ziele staatlicher Strafverfolgung definiert sind, ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten weiter zu fragen, ob eine uneingeschränkte Verfolgungspflicht im Sinne strenger Legalität objektiv überhaupt geeignet ist, diesen Zielen nachzukommen. Zur Zie1erreichung gänzlich ungeeignet scheint eine uneingeschränkte Verfolgungspflicht jedenfalls dann zu sein, wenn der Rechtsfrieden durch eine Straftat erst gar nicht beeinträchtigt ist, weil etwa die Straftat von der Gesellschaft nicht als störend wahrgenommen wurde. Zu denken ist hier - neben unentdeckt gebliebenen Straftaten - insbesondere auch an solche, an deren Verfolgung in Ansehung ihres absoluten Bagatellcharakters kein öffentliches Interesse besteht253 . Weiterhin kann (auch) eine unbeschränkte Strafverfolgung einen Schuldausgleich dann nicht herbeiführen, wenn beispielsweise die Tat schuldlos begangen wurde. Strafe kann insofern nur verfassungsmäßig sein, wenn sie eine Reaktion auf schuldhaft begangenes Unrecht darstellt. Des weiteren können präventive Strafzwecke leeriaufen, wenn zwischen Tatbegehung und Verfolgung ein großer Zeitraum liegt; hier bleibt allenfalls der Sühnegedanke als noch durchsetzbarer Strafzweck übrig254 • In all diesen Fällen wäre eine strenge Verfolgungspflicht den Zwecken staatlicher Strafverfolgung bereits aufgrund der Ungeeignetheit des Mittels nicht dienlich und demzufolge unverhältnismäßig. Überdies sind auch solche Fallkonstellationen denkbar, in denen eine uneingeschränkte Strafverfolgung zum Erreichen der ausgegebenen Ziele nicht erforderlich ist, weil es in Gestalt opportunitätsgeleiteter Maßnahmen ein gleich geeigne251 252 253 254

5*

Döhring, S. 53 m. w. N. Dazu bereits oben "Teil1.A.II.3."; vgl. auch Döhring, S. 54 f. Döhring, S. 55 m. w. N. Vgl. Döhring, S. 56 f.

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

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tes, dabei aber für den Adressaten der Verfolgung milderes Mittel gibt. Dazu schreibt Rieß 255 : "Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet den Verzicht auf die Sanktion oder die Wahl des milderen Mittels, wenn dadurch der Rechtsfrieden, der angestrebte Rechtsgüterschutz erreicht werden kann." Des weiteren liegt es nach dem zuvor Gesagten auf der Hand, daß die Forderung nach strenger Legalität zumindest im Anschluß an eine umfassende Güterabwägung mit einem verfassungsrechtlich ebenso bedeutsamen Kollisionsgut an der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne scheitern kann. Somit steht fest, daß die im Grundsatz anzuerkennende Verfolgungspflicht im Einzelfall aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausgeschlossen sein muß. Die starke Einzelfallbezogenheit macht es derweil unmöglich, abschließend aufzuzählen, in welchen Fällen eine uneingeschränkte Verfolgungspflicht unverhältnismäßig wäre. Es kann daher nur festgestellt werden, daß es Fälle wie die oben beispielhaft aufgeführten gibt, für die ein uneingeschränktes staatliches Vorgehen bei der Strafverfolgung im konkreten Einzelfall einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begründet. Im Hinblick auf das (auch) im Strafprozeß geltende rechtsstaatliche Übermaßverbot muß daher nicht nur jede einzelne Strafverfolgungsmaßnahme in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat stehen 256 : Auch bei der Prüfung der Frage, ob überhaupt eine Strafverfolgung einzuleiten ist, muß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz berücksichtigt werden. Ein Zustand strikter Legalität steht diesem Anliegen ganz offensichtlich im Wege. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in einer Reihe von Vorschriften der Strafprozeßordnung enthalten 257 . Ob er darüber hinaus als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz von Verfassungsrang geeignet ist, eine Beschränkung des Legalitätsprinzips zu legitimieren 258 , ist umstritten, aber mit guten Argumenten zu verneinen 259 . Die Gegner dieser Ansicht weisen zu Recht auf die Gefahr hin, daß bei einer Verwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zur Rechtfertigung von Strafverfolgungsverzicht außerhalb der gesetzlichen Ermächtigungen "ein bewährtes, im Kern konturenscharfes Fundamentalprinzip einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege, nämlich das Legalitätsprinzip, unter dem Deckmantel eines allgemeineren Verfassungsgrundsatzes letztlich politisch untergraben,,260 zu werden droht. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip verliert ,jede feste Kontur, wenn man es ohne hinreichend deutliche Bezugspunkte mit einer allgemeinen Interessenabwägung,,261 gleichsetzt. Demzufolge ist außerhalb der gesetzlichen Ermächtigungen der VerRieß. NStZ 1981, S. 5. BVerfGE 16, 194 (202). 257 Neben § 153 (dazu im einzelnen unten "Teil 3.B.") ist hier beispielsweise auch § 112 I S. 2 StPO zu nennen. 258 So wohl Ulrich. ZRP 1982, S. 170. 259 KreylPföhler; NStZ 1985, S. 150; Rieß. FS Dünnebier, S. 156. 260 KreylPföhler; NStZ 1985, S. 150. 261 Rieß. FS Dünnebier, S. 156. 255

256

c. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

69

hältnismäßigkeitsgrundsatz als ein allgemeines Begrenzungsprinzip von Legalität nicht anzuerkennen.

cc) Ergebnis Verfolgungspflicht und Verfolgungsintensität - und nicht zuletzt auch der Anklagezwang - werden begrenzt durch das in zahlreichen Vorschriften der Strafprozeßordnung enthaltene, verfassungsrechtlich fundierte Übermaßverbot. Die Integration der Verhältnismäßigkeit kann und muß unter Umständen sogar zu einer ,,rechtsstaatlich unbedenklichen Dosierung des Legalitätsgrundsatzes führen,,262. Das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG erweist sich demzufolge insoweit als ambivalent, als daß in ihm - neben dem Grundsatz der Legalität - auch der Grundsatz des Übermaßverbotes niedergelegt ist: "Der Staat soll und kann nicht schematisch auf jede Normverletzung reagieren, sondern muß die Mittel im rechten Verhältnis zum angestrebten Zweck einsetzen ... Das Übermaßverbot verlangt eine Abwägung und steht damit dem wertneutralen Aktionismus einer strikten Verfolgungspflicht entgegen,,263.

c) Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz aus Art. 61 S. 1 EMRK Die Verpflichtung staatlicher Organe zur Befolgung strenger Legalität könnte des weiteren in Konflikt mit dem in Art. 6 I S. 1 EMRK niedergelegten Beschleunigungsgrundsatz geraten, der jedermann einen Anspruch darauf gibt, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird264. Eine uneingeschränkte Verfolgungspflicht, nach der jeder begangenen und bekanntgewordenen Straftat in gleicher Weise nachgegangen werden müßte, liefe Gefahr, die staatlichen Strafverfolgungsorgane dermaßen mit Arbeit zu belegen, daß eine Entscheidung in angemessener Zeit bei der derzeitigen Ausstattung von Staatsanwaltschaften, Polizei und Gerichten mit Personal- und Sachmitteln kaum zu gewährleisten wäre. Obwohl Art. 6 I S. 1 EMRK nur den Rang eines einfachen Gesetzes hat265 , beeinflußt die Norm die Auslegung des Verfassungsrechts. Da sich die Staaten durch diese Vereinbarung auf einen gewissen Mindeststandard an Rechten geeinigt haben, würde es der ratio dieser Abmachung zuwiderlaufen, wenn der GrundrechtsKeller/Schmid, wistra 1984, S. 206; vgl. auch Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 105. Kapahnke, Legalität und Opportunität, S. 72. 264 Die deutsche Übersetzung des englischen und französischen Originaltextes findet sich bei Döhring, S. 32. 265 BVerfGE 74, 358 (370). 262 263

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

schutz hinter dem Standard der Konvention zurückbleiben würde 266 . Der Beschleunigungsgrundsatz ist dabei letztendlich Ausfluß des rechts staatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 267 und gilt überdies nach ganz herrschender Auffassung bereits im Ermittlungsverfahren 268 . Wenngleich sich der Beschleunigungsgrundsatz hiernach in erster Linie an die Strafverfolgungsbehörden richtet, verpflichtet er im Vorfeld bereits die Legislative "Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Verfolgungsbehörden überhaupt zügig zu einer Entscheidung gelangen können,,269. Demnach folgt aus dem Beschleunigungsgebot des Art. 6 I S. 1 EMRK nicht zuletzt der Aufruf an den Gesetzgeber, in seinem legislatorischen Schaffen eine effektive Einschränkung der Strafverfolgungspflicht vorzusehen. Strenge Legalität hingegen würde dem Beschleunigungsgrundsatz zuwiderlaufen.

d) Verstoß gegen den Grundsatz der "funktionstüchtigen Rechtspflege" Selektive Strafveifolgung als eine Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Systems der Strafrechtspflege Aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols und des damit korrelierenden Verbots zur Selbsthilfe steht jedem Bürger von Verfassungs wegen ein Anspruch auf Rechtsschutzgewährung durch den Staat zu. Dieser Justizgewährungsanspruch27o , der konstitutionell in Art. 19 IV GG speziell ausgestaltet ist, beinhaltet neben dem Recht auf freien Zugang zu den Gerichten 271 und der Verbürgung eines allgemeinen Rechtsschutzstandards 272 auch einen Anspruch auf Effektivität des gewährten Rechtsschutzes 273 . Zu fordern ist in diesem Kontext zunächst einmal eine tatsächliche und umfassende Überprüfung des jeweiligen Streitgegenstands sowie eine verbindliche Klärung der Sache durch den Richter274, wobei der Staat seiner Pflicht zur Justizgewährung nur dann auch in hinreichendem Maße nachkommt, wenn er eine lückenlose Rechtsfindung ermöglicht275 . Diese Pflicht, lückenlosen Rechtsschutz zu gewähren, scheint daher zunächst einmal für eine Berechtigung der Forderung nach einem strengen Legalitätsprinzip und weniger für eine Verfassungswidrigkeit derselben zu sprechen. So hat es zumindest vordergründig den An-

Vgl. Döhring, S. 32 m. w. N. Döhring, S. 56 m. w. N. 268 BGH NStZ 82, S. 291; weitere Nachweise bei Döhring, S. 33 Fn. 69. 269 Döhring, S. 33 m. w. N. 270 Dazu im einzelnen unten "Teil 3.D.V.". Vgl. dazu auch bereits oben "Teil 1.A.II.1.a) bb)(2)(a)". 271 BVerfGE 88, 118 (123); 85, 337 (345). 272 Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 18. 273 BVerfGE 88, 118 (123); Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 100. 274 Vgl. BVerfGE 85, 337 (345). 275 BVerfGE 15,275 (282); 84, 34 (49). 266

267

c. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

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schein, als könne der Staat nur durch einen uneingeschränkten Verfolgungszwang dieser Verpflichtung wirksam nachkommen. Diese Sicht der Dinge läßt jedoch außer acht, daß ein Anspruch auf lückenlosen Rechtsschutz schnell an faktische Grenzen stoßen wird, wenn die dem Staat zur Verfügung stehenden personalen und sachlichen Mittel nicht ausreichen, um diesen weit gesteckten Aufgabenrahmen auszufüllen. Daher spricht das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Forderung nach einer lückenlosen Rechtsfindung auch von der Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Rechtspflege zur Verfügung zu stellen und zu erhalten 276 . Die Wirksamkeit der Strafrechtspflege und Verbrechensbekämpfung wird damit selbst zu einer Komponente grundgesetzlicher Rechtsstaatlichkeit 277 . Die Pflicht des Staates, lückenlosen Rechtsschutz zu gewährleisten, wird begrenzt durch den Grundsatz der Schaffung und Erhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege. Für das Verständnis von Legalität bedeutet dies, "daß eine Pflicht zur uneingeschränkten Verfolgung von Verfassungs wegen nicht zulässig ist, wenn dem Staat hierzu die nötigen Mittel fehlen, wenn also die Justiz an ihren Aufgaben ,ersticken' würde,.278. Einer unterschiedslosen Verfolgung aller begangenen Straftaten ist aufgrund beschränkter und nicht beliebig vermehrbarer Kapazitäten die Gefahr eines "Stillstand(s) der Justiz,,279 inhärent. Strenger Legalität droht aufgrund der immerzu knappen personellen und sächlichen Ressourcen am Ende der "Kollaps,,28o. Die begrenzte Leistungsfähigkeit der Justiz zwingt daher zu einer Selektion, d. h. zu einer "wohldosierte(n) Verfolgung der Normbrüche", da andernfalls die Funktionsfähigkeit des Verfolgungsapparates lahmgelegt würde 281 . Nach Weigend282 ist "ein funktionierendes System der Strafrechtspflege, wie es in einem Rechtsstaat existieren muß, ... heute nur um den Preis selektiver Strafverfolgung zu haben". Aus der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit zur Unterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege folgt angesichts der allerorts knappen Justizressourcen mithin notwendigerweise eine Abkehr von der Forderung nach einem uneingeschränkten, idealen Legalitätsprinzip. 276 BVerfGE 19,324 (347); 20,45 (49); 20, 144 (147); 29, 183 (194); 32, 373 (381 f.); 33, 367 (383); 34, 238 (249); 38,105 (118); 38, 312 (321); 39,156 (163); 46, 214 (222); 53,152 (158 ff.); 74, 257 (262); 77, 65 (76). 277 Vgl. BVerfGE 33, 367 (383); 38, 105 (115 f.); 38, 312 (321); 39, 156 (163); 41, 246 (250); 44, 353 (374); 46, 214 (222); 51, 324 (343). 278 Döhring, S. 38; vgl. auch Weigend, ZStW 109 (1997), S. 105 f.; Zipf, FS Peters, S. 498. 279 Peters, FS Welzel, S. 425; zitiert nach Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 45. 280 Vgl. Hassemer, FS StA Schieswig-Hoistein, S. 534. 281 Zipf, FS Peters, S. 498, 500. Nach Faller, FG Maunz, S. 72 beeinträchtige die lückenlose Durchführung des Legalitätsgrundsatzes vor allem die Effektivität der Strafrechtspflege auf dem Gebiet der schweren Kriminalität, da die Strafverfolgungsbehörden durch die Aufklärung von Bagatellfällen überlastet würden. Zur Notwendigkeit einer Selektion im Verfahren vgl. auch Ranft, S. 275; Rüping, S. 115. 282 Weigend, ZStW 109 (1997), S. 105 m. w. N.

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

e) Verstoß gegen die horizontale Gewaltenteilung aus Art. 46 GG Art. 46 GG enthält besondere Statusrechte von Bundestagsabgeordneten: zum einen die Indemnität in Absatz I, welche die politischen Stellungnahmen des Abgeordneten im Bundestag und seinen Ausschüssen erfaßt, und zum anderen die Immunität in den Absätzen 2 und 4, die ihn vor Verhaftung und strafrechtlicher Verfolgung schützt 283 . In beiden Fällen ist die Verfolgungspflicht wegen einer strafrechtlich relevanten Handlung ausgeschlossen. Der Verfassungsgeber hat durch Art. 46 GG zu erkennen gegeben, daß er die Funktionstüchtigkeit des Parlaments bzw. die Möglichkeit des Abgeordneten, seine Meinung frei äußern zu können, höher einstuft, als die unbedingte Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Art. 46 GG steht insoweit einer uneingeschränkten Verfolgungspflicht entgegen 284.

fl Ergebnis Die vorangegangene Untersuchung hat gezeigt, daß die staatliche Strafverfolgungspflicht verschiedenen verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegt, die im Einzelfall ein Abrücken vom Grundfall erfordern. Ein Anspruch auf absolute Geltung kommt dem Legalitätsprinzip nicht zu und ist - wie § 15211 StPO erkennen läßtauch nie geltendes Recht gewesen. Die staatliche Verfolgungspflicht im Grundsatz ist Ausnahmen zugänglich. Ein ideales Legalitätsprinzip, das VOn vornherein auf jede Abweichung von einem strikten, uneingeschränkten Verfolgungszwang verzichtet, ist mit der verfassungsrechtlichen Ordnung dieser Tage nicht in Einklang zu bringen ist.

3. Ist darüber hinaus eine uneingeschränkte Verfolgungspflicht als Ausfluß eines ideal verstandenen Legalitätsprinzips überhaupt ein (kriminalpolitisch) wünschenswerter Rechtszustand?

Weiterhin könnte man fragen, ob ein ideal verstandenes Legalitätsprinzip überhaupt ein (kriminalpolitisch) wünschenswerter Rechtszustand wäre, oder ob nicht vielmehr die Opportunität dasjenige Strukturprinzip darstellt, dem es so weit als möglich nachzueifern gilt. Auch vor dem Hintergrund der zuvor nachgezeichneten Verfassungswidrigkeit einer solchen uneingeschränkten Verfolgungspflicht ist diese Fragestellung nicht per se sinnentkleidet, da sie nach vorhandenen Vorzügen strenger Legalität fragt und somit letztlich auch Aufschluß dariiber erteilen kann, in welchem Umfang man zu einem späteren Zeitpunkt gebotene opportunitätsge283 Die Immunität, nicht aber die Indemnität, gilt über den Verweis in Art. 60 GG auf Art. 46 lI-IV GG auch für den Bundespräsidenten. 284 Vgl. Döhring, S. 46 f.

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

73

prägte Einbrüche in diese Grundmaxime deutschen Strafverfahrensrechts zuzulassen bereit sein wird. Demzufolge dient die nachfolgende Untersuchung nicht zuletzt dem Ziel, einen Eckpfeiler zu markieren, an dem Opportunität in Umfang und konkreter Ausgestaltung auszurichten sein wird. a) Strenge Veifolgungspflicht zur bestmöglichen Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 I GG Von vielen Autoren wird der Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 3 I GG als Hauptargument oder zumindest als wesentlicher Grund für eine streng verstandene Verfolgungspflicht angeführt285 • Obwohl Art. 3 I GG nur von einer Gleichbehandlung "vor dem Gesetz" spricht, ist im Hinblick auf Art. I III GG, der für alle drei Gewalten eine Bindung an die nachfolgenden Grundrechte vorschreibt, allgemein anerkannt, daß auch die Entscheidungen des Gesetzgebers an Art. 3 GG zu messen sind286 • Demzufolge unterliegt im Hinblick auf eine anzustrebende Gleichmäßigkeit der Rechtspflege sowohl der im Vorfeld tätige Gesetzgeber als auch der spätere Rechtsanwender dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 I GG. Der Gesetzgeber ist demnach bei der Schaffung opportunitätsgeprägter Vorschriften und der damit einhergehenden Relativierung der Grundmaxime Legalität ebenso gehalten sein, Vorhaben am verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz zu messen, wie der jeweilige Rechtsanwender durch Art. 3 I GG auf eine gleichmäßige Anwendung dieser Vorschriften verpflichtet wird. Aus dieser Forderung nach einer Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung wurde in früherer Zeit die Konsequenz gezogen, daß der Staat um der Geltung des Rechts und der Herstellung von Gerechtigkeit willen verpflichtet sei, die Strafandrohung des Gesetzes in jedem einzelnen Fall zu verwirklichen, d. h. den entstandenen Strafanspruch durchzusetzen 287 • Nunmehr wird das Gerechtigkeitsargument auch von den Befürwortern der Opportunität in Anspruch genommen: Die Konzentration der Ermittlungs- und Hauptverfahren auf die gravierenden Rechtsverstöße durch Einstellungen in den weniger gravierenden Fällen sei gleichsam eine Forderung der Gerechtigkeit 288 • Die Bedeutung des Gerechtigkeitsbegriffs in diesem Zusammenhang ist indes eine andere. Unter "Gerechtigkeit" wird hiernach eine Entscheidung verstanden, die der "Billigkeit", also der Einzelfallgerechtigkeit als einer in erster Linie materiellen Gerechtigkeit, entspricht289 • Zwar hat dies mit der Rechtsidee einer formalen oder abstrakten Gerechtigkeit nichts mehr gemein 29o , 285 Eckl, ZRP 1973, S. 139; Ulrich, ZRP 1982, S. 169; weitere Nachweise bei Döhring, S. 65 Fn. 243. Vgl. dazu bereits oben "Tei11.A.II.1.a)bb)(2)(c)" sowie "Tei11.C.I.2.". 286 Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 215. 287 Dazu oben "Teil1.A.II.1.a)bb)(2)(c)". 288 Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 144. 289 Vgl. Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 536. 290 Vgl. Pott, S. 54.

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I. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

gleichwohl gilt es bei der Forderung nach uneingeschränkter Legalität stets zu bedenken, daß es "mit der Anwendung der Opportunitätsvorschriften vor allem auch um eine Individualisierung der Rechtsfindung und Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit geht,,291. Insofern kann das Opportunitätsprinzip seinerseits, soweit es die gerechte Entscheidung des Einzelfalls hervorbringt, "gerade im Sinne des Gleichheitssatzes wirksam werden,,292. Die eher "unreflektierte Gleichsetzung von Legalität und Egalität (ist dagegen) nicht mehr aufrecht zu erhalten,,293. Was jedoch das Verhältnis von Legalität und Opportunität darüber hinaus anbelangt, kann freilich nur ein ganz bestimmtes Vorhaben des Gesetzgebers, ein Ergebnis seiner Schaffenskraft oder aber der rechtstatsächliche Umgang mit der betreffenden Vorschrift am Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG gemessen werden 294 .

b) Strenge Legalität als Mittel zur Erreichung eines höchstmöglichen Grades an Bestimmtheit und damit Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handeins Ein strenges Legalitätserfordernis könnte wünschenswert im Hinblick auf den im Rechtsstaatsprinzip verankerten Bestimmtheitsgrundsatz sein 295 . So steht zu vermuten, daß sich Opportunität die mit Blick auf ihre Funktionsweise notwendige Flexibilität und Unberechenbarkeit regelmäßig auf Kosten der Bestimmtheit zu bewahren suchen wird. Damit ist ihr ein gewisses Maß an Unbestimmtheit quasi prinzipimmanent. Den Bestimmtheitsforderungen der Art. 20 III, 103 11 GG ist dies jedoch so lange nicht abträglich, wie die Einschränkungen der Verfolgungspflicht ihrerseits ausreichend bestimmt bzw. bestimmbar sind. Wenngleich nun präzise umschriebene Voraussetzungen eine opportune Einschränkung der staatlichen Verfolgungspflicht im Hinblick auf das verfassungs291 292

Aulinger, S. 70. Faller, FG Maunz, S. 81; vgl. auch Aulinger, S. 70. Nach Weigend (in: ZStW 109

(1997), S. 104 Fn. 5 m. w. N.) wird man Opportunität auch im Hinblick auf die Existenz von Dunkelfeldem (zur Dunkelfeldproblematik vgl. auch unten "Teil l.C.II.3.f)" sowie "Teil 2.A.I.l.c)dd)(I)") als gleichheitswahrend ansehen müssen: die Gleichbehandlungswirkung des Legalitätsprinzips funktioniere allenfalls dann, wenn kein großes Dunkelfe1d existiere. Wenn jedoch von 100 Verstößen nur überhaupt einer entdeckt werde, dann könne nur mit Hilfe des Opportunitätsprinzips Rechtsanwendungsgleichheit geschaffen werden. 293 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 76; vgl. auch Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 88, der auf eine mögliche Konsequenz einer solchen Gleichsetzung hinweist: "Soll - die Grundrechte als einklagbare Rechtspositionen verstanden - etwa dem Opfer ein Anspruch darauf gewährt werden, daß gerade ,sein' Täter gesucht und gefunden wird oder gar der gefaßte Delinquent verlangen können, freigesprochen zu werden, solange nicht alle anderen Täter verurteilt werden?" 294 Für § 153 StPO vgl. im einzelnen unten "Teil 3.B.III."; für § 153a StPO unten "Teil 3.D.I.", "Teil 3.D.II." und "Teil3.D.III."; für § 31a BtMG unten "TeiI3.F.". 295 Dazu bereits oben "Teill.A.II.l.a)bb)(l)(b)".

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

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rechtliche Bestimmtheitsgebot nicht hindern würden 296 , kann dennoch nicht bestritten werden, daß der höchstmögliche Grad an Bestimmtheit immer noch durch eine uneingeschränkte Verfolgungspflicht erreicht werden würde. Strikt legalitätsorientiertes Staatshandeln wäre absolut vorhersehbar und würde beim Normadressaten größtmögliche Rechtssicherheit erzeugen 297 .

c) Uneingeschränkte Verfolgungspflicht zur bestmöglichen Verwirklichung des Demokratiegrundsatzes aus Art. 20 I GG

Möglicherweise ist uneingeschränkte Legalität angesichts des in Art. 20 I GG niedergelegten und durch den Grundsatz der Volkssouveränität in Art. 20 11 S. I GG bekräftigten Demokratieprinzips angezeigt. "Volkssouveränität" verlangt die Ausübung der Staatsgewalt im Namen des Volkes und die Wahl der wichtigsten Träger der Staatsgewalt durch das Volk. Staatliches Handeln muß hiernach auf einer ununterbrochenen Legitimationskette beruhen, bei der das Parlament letztendlich die Verantwortung für jede staatliche Entscheidung trägt298 . Die Ausübung der Staatsgewalt muß mithin auf den Willen des Volkes unmittelbar oder zumindest mittelbar zuriickzuführen sein 299 • So beruht auch die demokratische Legitimation für das Tatigwerden der Strafverfolgungsorgane letztendlich darauf, daß ihr Handeln in Gesetzen bestimmt ist, die von einem unmittelbar durch das Volk gewählten Parlament erlassen worden sind. Man könnte daher auf den Gedanken kommen, daß ein Gesetz, welches dem Rechtsanwender seitens des demokratisch legitimierten Gesetzgebers die Handlung zwingend vorschreibt, dem Willen des Gesetzgebers und damit auch dem Willen des Wählers am ehesten entspricht und demzufolge "unmittelbarer" demokratisch legitimiert ist als ein solches, das der rechtsanwendenden Stelle im Staat Raum für eigene Entscheidungen beläßeoo . Wäre dies zutreffend, würde der Demokratiegrundsatz ein Argumentfor einen (möglichst) streng verstandenen Legalitätsgrundsatz und damit gegen ein weitgehend opportunes Normenprograrnm abgeben. Diese Sichtweise läßt jedoch außer acht, daß auch solche Vorschriften, die den Strafverfolgungsbehörden einen Handlungsspielraum einräumen, demokratisch legitimiert sind, und zwar genauso mittelbar oder unmittelbar, wie es bei den eine Tatigkeitspflicht präzise festsetzenden Vorschriften der Fall ist. Eine Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, dem jeweiligen Rechtsanwender die Letztentscheidung zu delegieren, verwässert das Demokratieprinzip nicht. So ist es 296 297 298 299 300

Döhring, S. 25. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 72. BVerwGE 46, 55 (57). BVerfGE 52,95 (130); 77, 1 (40); 83,60 (72 f.) 93, 37 (66 f.). Vgl. Döhring, S. 58 f.

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1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

dem Gesetzgeber dann auch unbenommen, auf dem Gebiet des Prozeßrechts eine von dem im materiellen Recht geäußerten Willen unabhängige Entscheidung treffen, die dann darin bestehen kann, daß er die Strafverfolgung in das Ermessen des Rechtsanwenders stellt301 . Dem Demokratieprinzip nimmt das nichts.

d) Strenge Legalität zur Vermeidung und Eindämmung politischer Beeinflußbarkeit staatsanwaltschajtlicher Entscheidungen

Ein häufiger Einwand gegen das Opportunitätsprinzip bezieht sich auf die Manipulierbarkeit weitgehend ungebundener Entscheidungen des Rechtsanwenders zu politischen Zwecken. Schnell erschallt der Vorwurf der "Klassenjustiz,,302, wenn im Zusammenhang mit staatsanwaltschaftlichen Opportunitätsentscheidungen ministerielle Stellungnahmen bekannt werden und dabei in Teilen der Bevölkerung der Eindruck entsteht, die Anklagebehörde lasse sich durch politisch motivierte Interventionen beeinflussen303 . Genährt wird diese Befürchtung nicht zuletzt durch die hierarchische Struktur der Anklagebehörde, die mit ihren internen und externen dienstrechtlichen Weisungsmöglichkeiten eine politische Beeinflußbarkeit der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung nicht nur nicht ausschließen kann, sondern vielmehr nahelegt, daß die Möglichkeiten der politischen Steuerbarkeit der Strafrechtspflege geradezu zum Programm modernen Strafrechts gehören304 . Strenge Legalität - so der Gedanke - könnte nunmehr ihren Teil dazu beitragen, dieses Einfallstor zu schließen und eine politische Beeinflußbarkeit staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen wenn nicht vollständig zu unterbinden, so doch wenigstens so weit als möglich zu erschweren. Zwar wird es realistischerweise in keinem Staatswesen möglich sein, jegliche politische Einflußnahme auf staatsanwaltschaftliehe Entscheidungen von vornherein auszuschließen 305 , doch sollte diese Erkenntnis schlechterdings nicht davon abhalten, die potentielle Angriffsfläche für Einflußnahmen - beispielsweise im Wege der Verkürzung staatsanwaltschaftlicher Handlungsspielräume - so gering wie irgend möglich zu halten. Nicht zuletzt eine Rückschau auf rechtsgeschichtliche Entwicklungen dient ein derartiges Reaktionsmuster an: Oft war es das Mißtrauen gegenüber der eher politiknahen Institution Staatsanwaltschaft und die Sorge angesichts ihrer politischen Beeinflußbarkeit durch die Exekutive, was mitbegründend war für die Forderung nach der Geltung des Legalitätsprinzips in der Strafverfolgung306. So kam es beispielsweise auch 301

Döhring, S. 59.

Drucker; JW 1924, S. 244; zitiert nach Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 64. Vgl. demgegenüber Krey, S. 77, der darauf hinweist, daß sich der Vorwurf der "Klassenjustiz" als voreilig erwiesen habe. 303 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 64 m. w. N. 304 Dazu im einzelnen unten "Teil 3.D.III.6. "; vgl. auch Pott, S. 113. 305 Vgl. Pott, S. 114 m. w. N. 302

306

Vgl. Pott, S. 109.

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

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nicht von ungefähr, daß eine neuerliche lebhafte Bewegung zugunsten des Legalitätsprinzips gerade dann einsetzte, als die preußische Regierung die Staatsanwaltschaft zu politischen Zwecken zu benutzen suchte307 . Gleichwohl staatsrechtliche Erwägungen den Schluß nahelegen, die Strafverfolgung von politischer Einflußnahme weitgehend freizuhalten, kann man Zweifel hegen, ob die Anbindung der Staatsanwaltschaft an ein striktes Legalitätsprinzip diese Option erfolgreich unterbinden würde. Nach Weigend 308 ist "die Annahme ... allzu idealistisch, durch die bloße gesetzliche Festschreibung des Legalitätsprinzips würde ein Staatsanwalt daran gehindert, etwaigen unsachlichen Motiven und Einflüssen nachzugeben; eine formell strenge Fassung der Anklagepflicht würde vielmehr das Ausweichen auf das Ventil des fehlenden Tatverdachts geradezu anbieten." Dennoch: Alle an dieser Stelle zweifellos mit Berechtigung vorgetragene Skepsis muß am Ende nicht dazu führen, vor der Macht des Faktischen zu kapitulieren. So wird niemand ernstlich bestreiten wollen, daß die neuerliche Stärkung des Legalitätsprinzips zumindest die Gelegenheiten zu politischer Einflußnahme auf staatsanwaltschaftliche Entscheidungen in rechtsstaatlichkeitsfördernder Weise verringern würde.

e) Andererseits: Effizienz und Folgenorientiertheit der Strafrechtspflege Opportunität als Instrument einer" modemen" Kriminalpolitik

Griinde gegen ein striktes Legalitätsprinzip und für ein Mehr an Opportunität residieren im Bereich der Effektivität der Strafrechtspflege 309 • Eine Aufgabe "modemen" Strafrechts ist es, mit Hilfe eines folgenorientierten Strafverfolgungskonzepts gesellschaftliche Abläufe zu steuern und dabei flexible Antworten auf schnell wachsende, sich ständig verändernde Konfliktlagen zu finden, wobei gleichzeitig die Kosten ins Kalkül zu ziehen sind. Um dieser Aufgabe möglichst effektiv nachkommen zu können, bedarf es notwendig einer gewissen Elastizität im Sinne kriminalpolitischer Flexibilität in den gesetzgeberischen Handlungsvorgaben. Ein starres Konzept hingegen, insbesondere die Bürde eines uneingeschränkten Verfolgungszwangs, entbehrt der Beweglichkeit, die erforderlich ist, um neu hinzukommende kriminalpolitische Erkenntnisse - beispielsweise über die Wirkungsweise von Strafe - zeitnah in die Rechtswirklichkeit zu transferieren 31O • Materiellrechtlich dient diesem Zwecke neben der Unbestimmtheit von Straftatbeständen weiterhin die Vielspurigkeit der Rechtsfolgenausspriiche. Aus verfahrensrechtlicher Sicht bedient man sich des Instituts der Opportunität, um den jeweils nicht opportunen Teil des Strafrechts wieder auszuscheiden 311. 307 308 309

310

Heinitz. FS Ritder, S. 329 m. w. N. Weigend. Anklagepflicht und Ermessen, S. 64. Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 532. Vgl. Pott, S. 157 rn. w. N.

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I. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

Der Erfolg von Opportunität hat viele Vater: Opportunitätsvorschriften ennöglichen eine unberechenbare, unvorhersehbare und flexible Selektion kriminalpolitisch relevanter Sachverhalte. Die Ennächtigung zu opportunem Handeln schafft die Voraussetzungen für ein solches Maß an Effektivität, das der Legalitätsgrundsatz als gleichmäßiges und daher der fonnalen Gerechtigkeit verpflichtetes Prinzip schlechterdings nicht aufzubieten vennag. Opportunität gibt Raum für Zweckmäßigkeitserwägungen, den strenge Legalität dem Rechtsanwender verwehrt. Im Gefolge von Opportunität können Kosten-Nutzen-Rechnungen aufgemacht werden, die am Ende zu einer Reduzierung von Verfolgungslast und Verfahrensaufwand führen können. Wenn ein strenger, uneingeschränkter Verfolgungszwang den Anforderungen der Praxis und den Bedürfnissen der Kriminalpolitik nicht mehr gerecht zu werden droht, erweist sich das Opportunitätsprinzip als ein "modernes" Instrument, um effektiv und folgenorientiert Strafrechtspflege betreiben zu können312 .

f) Die Zurückdrängung des Legalitätsprinzips als Mittel zur Erreichung einer im Hinblick auf ihre generalpräventive Wirkung "optimalen Sanktionierungsrate"

Der Nutzen uneingeschränkter Legalität wird zudem von einigen Autoren mit Blick auf generalpräventive Anliegen in Zweifel gezogen, wobei im Rahmen dieser Argumentation insbesondere die Dunkelfeldproblematik eine maßgebliche Rolle spielt313 • Es wird bezweifelt, daß angesichts erheblicher Differenzen zwischen tatsächlicher und registrierter Kriminalität die Aufklärung und Ahndung sämtlicher Straftaten "sozialhygienisch wünschenswert" wäre314 . Unter Berufung auf die Ansichten des Soziologen Popitz bewertet man eine ausnahmslose Sanktionierung aller Nonnbriiche unter dem Aspekt der sog. Präventivwirkung des Nichtwissens. Dazu heißt es bei Popitz315 : "Die Strafe kann ihre soziale Wirksamkeit nur bewahren, solange die Mehrheit nicht ,bekommt, was sie verdient'. Auch die Präventivwirkung der Strafe bleibt nur bestehen, solange die Generalprävention der Dunkelziffer erhalten bleibt. Glanz und Elend der Strafe beruhen auf ,der wundervollen, Vgl. Pott, S. ISS. Zur Kritik an der Möglichkeit, daß durch weitreichende Opportunitätsbefugnisse Kriminalpolitik durch einzelne Staatsanwaltschaften betrieben werden kann, vgl. unten "Teil3.D.IV.3.". 313 Geppen, Jura 1982, S. 151 m. w. N.; derselbe, Jura 1986, S. 310; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 78; Pott, S. 55 f. m. w. N.; Zipf, FS Peters, S. 496 f. Kritisch hingegen Bohnen, Abschlußentscheidung, S. 109 f. Dem Dunkelfeld sind derweil all diejenigen Delikte zugehörig, die nicht zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen, aber erst zusammen mit den bekanntgewordenen und in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) registrierten Delikten den Gesamtkomplex der begangenen Kriminalität ausmachen. 314 Rieß, NStZ 1981, S. 4. 315 Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, S. 20. 3\1

312

C. Begründungszusammenhänge von Legalität und Opportunität

79

der schönen Fürsorge der Natur', der wir es verdanken, ,daß sie nicht Bescheid wissen' - oder doch sehr wenig." Eine unnachgiebige Aufdeckung selbst kleinster Vergehen ginge daher ebenso zu Lasten des Präventionsgedankens, wie eine "unterschiedslose Vielstraferei" ein "Volk der Vorbestraften" produzieren würde, in dem der einzelne die Strafe eher als unabwendbaren Schicksalsschlag denn als Folge eigenen vermeidbaren Fehlverhaltens aufzufassen hätte 316 . Im Falle des Bekanntwerdens aller tatsächlich begangenen Normbriiche käme es - so jedenfalls die These - zu einem unerwünschten Abnutzungseffekt: die verletzte Norm verlöre ihre soziale Wirkung, wie gleichzeitig der Normbruch gesellschaftliche Akzeptanz erführe. Mit dem Verlust der sozialethischen Mißbilligung des inkriminierten Verhaltens würden Präventionseinbußen einhergehen, durch die die Geltung der Norm selbst angegriffen werde 317 . Der Gesellschaft vermittle sich ein ungutes Bild von der Geltungsstruktur sozialer Normen, sofern offenbar würde, daß der Normverstoß - und im Anschluß: Strafe - kein "Minderheitsphänomen" darstelle l8 . In der Konsequenz führen diese Überlegungen zu der Schlußfolgerung, daß die Bevölkerung über das wahre Ausmaß von tatsächlich stattfindender Kriminalität im Unklaren gelassen werden kann und sogar muß, damit das Bild vom Ausnahmecharakter des Strafrechts und der Strafe aufrechterhalten bleibt. Nur die mangelhafte, fragmentarische Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs garantiert hiernach die Sanktionsgeltung der Strafnormen. Die Kriminalpolitik muß sich um die "optimale Sanktionierungsrate" bemühen, welche "sowohl der Norm ihre Geltungskraft wie auch der Sanktion ihre Stigmatisierungswirkung beläßt,,319. Selektive Strafverfolgung dient nach dieser Ansicht dem generalpräventiven Zweck, die Bevölkerung leichter im Glauben an die umfassende Geltung des Rechts zu halten. Eine andere Bewertung ergibt sich derweil dann, wenn man den sachlichen Anwendungsbereich des Legalitätsprinzips genauer betrachtet und insoweit eine aus dem Grundsatz der Legalität resultierende pflicht zur Dunkelfeldforschung verneint32o . Setzt nämlich die staatliche Verfolgungspflicht erst im Zeitpunkt des Bekanntwerdens einer Straftat ein, weil erst zu diesem Zeitpunkt "tatsächliche" Anhaltspunkte im Sinne von § 15211 StPO vorliegen 321 , so wird das Dunkelfeld vom Legalitätsprinzip nicht erfaßt, bleibt mithin erhalten und kann auf diese Weise die erwünschte generalpräventive Wirkung zur Geltungserhaltung der Strafnormen auch ohne eine Einschränkung oder Abschaffung des strafrechtlichen Verfolgungszwangs beisteuern. Der Normbruch bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung ein Minderheitsphänomen, "die Präventivfunktion des Nichtwissens (kann) vollständig durch das unabhängig von Ermittlungs- und Anklagepflicht fortbestehende Dun-

316 317

318 319 320 321

Vgl. Geppert, Jura 1986, S. 310. Zipf, FS Peters, S. 497. Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, S. 19. Zipf, FS Peters, S. 498. Dazu im einzelnen unten "Teil 2.A.I.l.c)dd)(1)". Dazu im einzelnen unten "Teil 2.A.l.l.c)dd)(l)".

1. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

80

keifeid geleistet werden,.322. Dieser Ansicht zufolge würde vielmehr eine weitgehende Aufhellung der Dunkelfelder der Normstabilisierung abträglich sein. Das Legalitätsprinzip und die Frage nach seinem Umfang ist dagegen nicht betroffen. Und dennoch läßt sich mit Rieß 323 aus dem Wissen um die Existenz umfangreicher Dunkelfelder ein Argument gegen ein ideal verstandenes Legalitätsprinzip gewinnen: "Wer ... davon ausgeht, daß nur ein Bruchteil der tatsächlichen Kriminalität zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangt, muß besonders begründen, warum dieser Bruchteil möglichst ohne weitere Verlustquoten sanktioniert werden muß." Und auch die Gefahr für Prävention und Rechtssicherheit scheint einzig mit dem Hinweis auf den sachlichen Umfang von Legalität längst nicht gebannt: Auch eine auf das Hellfeld beschränkte Pflicht zur "totalen" Strafverfolgung, der in Ermangelung verfügbarer Justizressourcen nicht hinreichend nachgekommen werden kann, zieht das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionstiichtigkeit der Justiz und damit auch in die Geltungskraft der Normen erheblich in Mitleidenschaft324 . Bei einer im Falle der Überbelastung regelmäßig zu erwartenden überlangen Verfahrensdauer kann zudem von einem Zustand der Rechtssicherheit nicht mehr die Rede sein325 . Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Gründe der Generalprävention sowohl als Argumentfor als auch gegen die Forderung nach einer uneingeschränkten Verfolgungspflicht ins Feld geführt werden können. So war mit dem Strafzweck der Generalprävention ein straftheoretischer Begründungszusammenhang für die Geltung eines (möglichst idealen) Legalitätsprinzips benannt worden 326 . Nach dem Vorgenannten sprechen generalpräventive Gründe aber auch für den rechtstheoretischen Gegensatz zur Legalität - die Opportunität. Die stärkere Betonung kriminalpolitischer Tagesbedürfnisse, ein weitreichendes Effizienzdenken (schon) im Bereich der Gesetzgebung sowie die Folgenorientiertheit eines "modernen" Strafrechts im allgemeinen lösen das Legalitätsprinzip fortschreitend von der eigenen rechtstheoretischen Basis und provozieren ein regelrechtes "Präventionsdilemma,,327.

g) Ergebnis

Die vorangegangene Untersuchung hat ein eher uneinheitliches Bild von der Wünschbarkeit eines strikten, idealen Legalitätsprinzips ergeben. So konnten auf der einen Seite mit dem Bestimmtheitsgebot und der Möglichkeit zur Eindämmung 322 323

324 325 326 327

Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 48. Rieß, NStZ 1981, S. 4; demgegenüber kritisch Baumann, ZRP 1987, S. 176. Pott, S. 39 m. w. N. Vgl. Pott, S. 39 m. w. N. Dazu oben "Teill.A.II.3.". Pott, S. 157 ff.

D. Ergebnis

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politischer Einflußnahme auf staatsanwaltschaftliche Entscheidungen gewichtige Gründe dafür angeführt werden, der staatlichen Verfolgungspflicht uneingeschränkte Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite konnte auch die Opportunität als gleichheitswahrend und dem Demokratiegebot verpflichtet ausgemacht werden. Daneben ergaben sich mit der Option auf Effizienz und Folgenorientiertheit weitere gute Gründe für eine Präsenz opportunitätsgeprägter Handlungsmöglichkeiten im staatlichen Strafverfolgungsprogramm. Vor diesem Hintergrund erscheint nunmehr aber ein uneingeschränkter Verfolgungszwang als ein kriminalpolitisch kaum wünschenswerter Rechtszustand. Strenge Legalität in Form eines uneingeschränkten staatlichen Verfolgungszwangs hat sich damit im Ergebnis weder als ein tatsächlich möglicher noch als ein verfassungsrechtlich zulässiger, noch als ein kriminalpolitisch wünschenswerter Rechtszustand erwiesen. Im Verhältnis von Legalität und Opportunität wird der Blick daher weniger auf die Herstellung "absoluter" Gerechtigkeit als vielmehr auf die Gewährleistung von Gleichbehandlung und materialer Gerechtigkeit im Einzelfall zu richten sein. Der Opportunitätsgedanke ist demach zunächt einmal ein zulässiger.

D. Ergebnis "Erster Teil" Legalität, verstanden als staatliche Einschreitenspflicht für den Fall des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen, hat sich als die prägende Grundmaxime des deutschen Strafverfahrensrechts erwiesen, deren tragende Fundamente im Rechtsstaatsprinzip und im verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot begründet sind. Trotz ihrer bedeutungsvollen Wurzeln ist die Geschichte der Legalität ausgesprochen wechselhaft. Statuierte die Reichsstrafprozeßordnung ein fast ungetrübtes Legalitätsprinzip, so gilt seither - unterbrochen von wenigen kurzen Episoden seiner erneuten Stärkung - die einheitliche Entwicklungsrichtung einer stetigen Zunahme der Einstellungsgründe kraft Opportunität. Der Opportunitätsgedanke wurde insoweit als rechtstheoretischer Gegensatz zur Legalität ausgemacht, der - angeleitet von Zweckmäßigkeitserwägungen - im Einzelfall zu Ausnahmen oder Einschränkungen der Legalität führt. Vor dem Hintergrund des Verhältnisses beider Rechtsanwendungskategorien, wonach Legalität zwar einerseits von Verfassungs wegen unverzichtbar, eine strikte Umsetzung der staatlichen Verfolgungspflicht jedoch weder tatsächlich möglich noch verfassungsrechtlich zulässig, noch kriminalpolitisch wünschenswert erscheint, artikulieren sich Zweifel, ob Legalität als Verfahrensmaxime noch zeitgemäß ist oder ob nicht vielmehr der Opportunität als dem "moderneren" Prinzip das Feld überlassen werden sollte328 . 328 Vgl. Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 40 ff. Serwe (in: Kriminalistik 1970, S. 377 ff.) bezeichnet den Glauben an das Legalitätsprinzip als einer modemen Garantie gerechter Strafverfolgung ohne Ansehen von Person und Stand des Taters als einen "der vielen

6 Horstmann

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I. Teil: Legalität und Opportunität bei der Rechtsanwendung

Dabei gilt es jedoch zu bedenken, daß etwaige Unzulänglichkeiten der Rechtswirklichkeit und die insoweit berechtigte Kritik nicht zwingend auf die zugrundeliegende Verfahrensmaxime durchschlagen müssen. Vor einer übereilten Absage an die Verfolgungspflicht gilt es vielmehr ein Umfeld zu schaffen, in dem der Grundsatz der Legalität sinnvollerweise wirken und dabei seine fundamentalen Inhalte entfalten kann. Das Legalitätsprinzip selbst ist daher "noch keineswegs reif zur Kapitulation,,329. Seine Bedeutung als einer der wichtigsten, das Wesen des Rechtsstaates nachhaltig ausprägenden Grundsätze unseres Strafprozesses oder mit mehr Pathos - als "einer der Marksteine, welche die Grenzlinie zwischen einer freiheitlichen Ordnung und einer totalitären Willkürherrschaft bezeichnen,,33o, scheint zu groß, um es vorschnell in der "Mottenkiste" der Rechtshistorie abzulegen. Das Legalitätsprinzip gehört nach alledem "nicht auf den Scheiterhaufen, sondern bedarf lediglich sinnvoller Begrenzung,,33!. Eine solche verfassungsgemäße Korrektur erfährt das Legalitätsprinzip vor allem durch andere, mit ihm im rechtsstaatlichen Gefüge konkurrierende Grundsätze wie beispielsweise die Verhältnismäßigkeit. Mithin kann das Verhältnis zwischen Legalität und Opportunität im Ergebnis auch als "Ergänzungsverhältnis,,332 bezeichnet werden. Rieß 333 betont in diesem Zusammenhang, daß die "mit dem Legalitätsprinzip verbundene Verfolgungspflicht und die gesetzlichen Nichtverfolgungsermächtigungen als Teile eines als Einheit zu verstehenden kriminalpolitischen Reaktionssystems aufzufassen sind, die sich nicht grundsätzlich, sondern nur graduell unterscheiden". Löst man sich von der ,,klirrende(n) Antithetik,,334 der Begrifflichkeiten, die auf ihrer Verabsolutierung begründet ist, kann im Rahmen eines einheitlichen, rechtspolitischen Reaktionssystems "Opportunität" als ein Einzelfallgerechtigkeit schaffendes Korrektiv zu dem die Gesamtgerechtigkeit (einseitig) in den Blick nehmenden Legalitätsprinzip aufgefaßt werden 335 .

Irrwege des vergangenen Jahrhunderts." Angesichts politischer Utilität rühre niemand einen Finger für den Verfolgungszwang; bei der Verbrechensbekämpfung sei er eher hinderlich. Der Verfolgungszwang als "papiemer Schematismus" sei aber sinnlos. Das Legalitätsprinzip scheitere mithin an der Rechtswirklichkeit; der Grundsatz der Legalität werde zu Unrecht als "Säule der Rechtsstaatlichkeit" gefeiert. 329 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 14. 330 Willms, JZ 1957, S. 465. 33! Geppert, Jura 1986, S. 310. Dazu Müller/Wache (in: FS Rebmann, S. 322 m. w. N.): ,,Der mit Pathos geführte Kampf um die absolute Geltung des Legalitätsprinzips, ,das die unverbrüchliche Grundlage unseres Systems und unserer Organisation der Strafverfolgung bildet', gehört der Vergangenheit an. Die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen, die eine Strafverfolgung unter festumrissenen Voraussetzungen in das Ermessen der Staatsanwaltschaft stellen, ist inzwischen allgemein anerkannt, nur ihr Ausmaß ist umstritten." 332 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 91. 333 LR-Rieß, § 152 Rn. 39. 334 Güde, MDR 1958, S. 285. 335 Vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 108.

D. Ergebnis

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Das im Rahmen dieses Systems gegenwärtig anzutreffende Mischungsverhältnis ist in der Folge auf seine verfassungsrechtliche Zulässigkeit hin zu untersuchen. An dem Primat der Legalität ändert sich dabei nichts. Nach wie vor bildet die Verfolgungspflicht die Grundlage, an der jede gesetzlich vorgesehene Ausnahme auf ihre Geeignetheit, Erforderlichkeit und Proportionalität hin zu überprüfen sein wird336 . Entscheidend wird sein, ob und inwieweit eine konkrete Einschränkung der staatlichen Verfolgungspflicht durch eine opportunitätsgeprägte Vorschrift im Hinblick auf die verfassungsmäßige Ordnung zulässig ist.

336 ,,Es gilt, einen vernünftigen Mittelweg zu finden zwischen dem Gerechtigkeitsprinzip und dem Prinzip prozessualer Vernunft" (Geppert, Jura 1982, S. 151). Vgl. auch Müller/ Wache, FS Rebmann, S. 322; ebenso Schmidt-lortzig, NJW 1989, S. 138.

6*

Zweiter Teil

Legalität und Opportunität in der Konzeption des geltenden Rechts A. Das Legalitätsprinzip in der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland Bevor es daran geht, in einem weiteren Schritt einzelne opportunitätsgeprägte Ausformungen des derzeitigen deutschen Strafverfahrensrechts auf ihre Konformität mit der Verfassung hin zu untersuchen, soll in einem ,,zweiten Teil" ein Überblick über die Verteilung von Legalität und Opportunität in der Konzeption des geltenden Rechts vorangestellt werden. Dabei wird zunächst auf die konkrete gesetzliche Ausformung des Legalitätsprinzips in seinen Voraussetzungen, Rechtsfolgen und Adressaten einzugehen sein. Im Anschluß soll ein Überblick über gesetzliche und faktische Einschränkungen der staatlichen Verfolgungspflicht gegeben werden.

I. Die gegenwärtige gesetzliche Ausformung des Legalitätsprinzips im Überblick In der Bundesrepublik Deutschland ist das Legalitätsprinzip überwiegend verfahrensrechtlich ausgestaltet, es folgt jedoch bereits aus der Formulierung der materiellrechtlichen Straftatbestände. So besteht schon qua Definition ("wird ... bestraft") kein Ermessensspielraum der in der Strafrechtspflege Tätigen bei der Erfüllung ihres Auftrags, es sei denn, eine gesetzliche Regelung räumt ihnen ausdrücklich diese Befugnis ein 1. Die Geltung des Legalitätsprinzips wird in strafprozessualer Hinsicht allgemein an § 15211 StPO festgemacht, wobei sich diese Vorschrift ausschließlich an die Beamten der Staatsanwaltschaft (Staats- und Amtsanwälte) wendet, so daß es für eine Legalitätsverpflichtung der zur Erforschung von Straftaten berufenen Behörden und Beamten des Polizeidienstes einer Ergänzung 1 Vgl. Hobe, FS Leferenz, S. 631. Zur Legalität im materiellen Recht vgl. Naucke, Modernes Strafrecht, S. 150: "Keine gesellschaftliche Abweichung, die mit einer staatlichen strafenden Sanktion verbunden wird, entgeht der Vergesetzlichung im Hauptstrafrecht ... Ein nach Opportunität handelndes, gerichtlich nicht überprütbares Strafrecht kann es im StGB nicht geben."

A. Das Legalitätsprinzip in der Rechtswirklichkeit der BRD

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durch § 163 I StPO bedarf. Eine gerichtliche Verfolgungspflicht wird schließlich in § 155 11 StPO normiert2 .

1. Legalitätsprinzip und staatsanwaltschaftlicher Verfolgungszwang

Für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft ist die grundsätzliche Verpflichtung zu legalitätsgeleitetem Handeln vornehmlich in § 152 11 StPO und in § 170 I StPO niedergelegt. Der generellen Ermittlungspflicht in § 160 I StPO, die zudem durch spezielle Ermächtigungen zur Vornahme bestimmter Ermittlungshandlungen - z. B. in § 100 StPO - flankiert wird, kommt insoweit eine Konkretisierungsfunktion zu 3 . Die gegenwärtige Fassung des § 152 StPO entspricht dabei weitgehend der ursprünglichen; lediglich die Formulierung "aller verfolg baren Straftaten" wurde erst durch Art. 21 Nr. 43 EGStGB Gesetz und trat an die Stelle der früheren Fassung "aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen,,4.

a) Persönlicher Anwendungsbereich Zum Adressatenkreis des Legalitätsprinzips zählen zunächst einmal nach § 15211 StPO in Verbindung mit § 142 GVG neben den Staatsanwälten an den Oberlandesund Landgerichten die Staats- und Amtsanwälte an den Amtsgerichten sowie weiterhin die Bundesanwälte und der Generalbundesanwalt am Bundesgerichtshof. Ob daneben auch die lustizminister bzw. Justizsenatoren, denen ein sog. externes Weisungsrecht gegenüber der Staatsanwaltschaft zusteht, dem Legalitätsprinzip unterworfen sind, ist umstritten 5 , mit der vorzugswürdigen herrschenden Ansicht jedoch zu bejahen. Denn ganz unabhängig davon, ob der Begriff "Staatsanwaltschaft" in § 152 StPO die extern Weisungsberechtigten nun erfaßt oder nicht, stehen sie allein im Hinblick auf Art. 20 III GG in der Legalitätspflicht6 . In Steuerstrafsachen gilt die in § 152 11 StPO normierte Pflicht auch für die mit der Verfolgung befaßte Finanzbehörde, die nach § 399 I AO die Rechte und Pflichten der Staatsanwaltschaft wahrnimmt1 .

Heidelberger K.-Krehl, § 152 Rn. 13. Dazu bereits oben "Teil 1.A.I."; vgl. Gössel, FS Dünnebier, S. 131. 4 LR-Rieß, § 152. Vgl. auch bereits oben "Teil1.A.II.4 .... 5 Die herrschende Meinung spricht sich für eine Geltung des Legalitätsprinzips auch für die außerhalb der Staatsanwaltschaft stehenden Dienstvorgesetzten aus; vgl. LR-Rieß, § 152 Rn. 14 rn. w. N. Ebenso Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 317; Geppert, Jura 1982, S. 140; Willms, JZ 1957, S. 465. Die Gegenansicht vertritt u. a. Döhring, S. 78 f. Weitere Nachweise für diese Auffassung bei Bohnert a. a. 0., S. 317 Fn. 140. 6 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 317. 7 LR-Rieß, § 152 Rn. 13 rn. w. N. 2

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

b) Zeitlicher Anwendungsbereich Die Pflicht zum ersten Tätigwerden knüpft die Strafprozeßordnung an "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" für das Vorliegen einer Straftat (§ 15211 StPO) bzw. an die "Kenntnis einer Straftat" (§ 160 I StPO). Das Gesetz benennt hiermit nicht nur eine sachliche, sondern auch eine zeitliche Komponente für ein Auslösen der Ermittlungspflicht8 . Mit dem Vorliegen zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte wird ein bestimmter prozessualer Verdachtsgrad, der sog. Anfangsverdacht beschrieben. Er liegt vor, wenn eine gewisse, wenn auch noch geringe Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat besteht9 . Dieser Anfangsverdacht ist einerseits ausreichend, im Hinblick auf eine etwaige Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zur Aufhellung von Dunkelfeldern aber auch erforderlich. Der Gegenansicht, die mit Hinweis auf Art. 3 GG im Legalitätsprinzip auch den Auftrag an die Strafverfolgungsorgane verankert sehen will, ihre Aufklärungstätigkeit auf alle begangenen und nicht nur auf die bekanntgewordenen Straftaten zu erstrecken 10, kann derweil nicht gefolgt werden. Eine Verpflichtung zur Dunkelfeldforschung ist aus dem beschränkten Mandat des § 160 StPO nicht herzuleiten, ein allgemeiner Auftrag zum umfassenden Aufspüren von Straftaten existiert nicht ll . Ein Blick auf die gesetzgeberische Intention bei der Etablierung des Legalitätsprinzips als Korrektiv zum Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft 12 legt nahe, den Imperativ der Legalität erst dort einsetzen zu lassen, "wo sonst die Gefahr bestiinde, daß die Strafverfolgungsbehörden ein mit den üblichen und zumutbaren Mitteln aufklärbares Verbrechen im Dunkeln ließen oder gar sehenden Auges eine anklagefähige Tat nicht zur Aburteilung brächten,,13. Der zeitliche Anwendungsbereich des Legalitätsprinzips beginnt demzufolge frühestens mit der Erlangung eines einfachen Anfangsverdachts. Das bloße Wissen um die Existenz eines Dunkelfeldes hingegen ist nicht geeignet, die Ermittlungspflicht auszulösen. Im weiteren Verfahrensverlauf konkretisiert sich die staatsanwaltschaftliche Einschreitenspflicht zum einen in eine Pflicht zur Sachverhaltserforschung (§ 160 I StPO), zum anderen in eine Pflicht zur Ausübung ihres Initiativrechts bei der Auslösung der gerichtlichen Strafverfolgung (§ 170 I StPO)14. 8 Zu den sachlichen Voraussetzungen des § 152 11 StPO vgl. im einzelnen unten "Teil 2.I.1.c)". 9 Heidelberger K.-Krehl, § 152 Rn. 7. 10 Zipf, FS Peters, S. 489. 1I Döhring, S. 80; Gössel, FS Dünnebier, S. 131; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 34; LR-Rieß, § 152 Rn. 22; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 60. 12 Dazu bereits oben "Teil1.A.II.2.". 13 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 61. 14 Gössel, FS Dünnebier, S. 131; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 17; vgl. dazu bereits "Teil1.A.I.".

A. Das Legalitätsprinzip in der Rechtswirklichkeit der BRD

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Besteht insoweit Einigkeit, so ist andererseits heillos umstritten, ob ab dem Zeitpunkt, in dem durch die Anklageerhebung die Verfahrensherrschaft auf das Gericht übergeht, die Pflicht zu legalitätsgeleitetem Handeln für die Staatsanwaltschaft endet oder ob sie auch in den nachfolgenden Verfahrensabschnitten fortbesteht. Eine Ansicht bejaht im Grundsatz die Fortdauer der Legalitätspflicht für die Staatsanwaltschaft, und zwar sowohl für die Dauer des gerichtlichen Verfahrens als auch für die sich anschließenden Entscheidungen über die Einlegung von Rechtsmitteln sowie für Fragen im Zusammenhang mit der Vollstreckung und einer etwaigen Wiederaufnahme des Verfahrens 15. Demgegenüber wird von anderen Autoren die Geltung des Legalitätsprinzips für Verfahrenshandlungen nach dem Dritten Buch der StPO ganz generell abgelehnt l6 . Die Legalitätsbindung der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde im Sinne von § 451 StPO wird wiederum überwiegend bejaht 17 , wohingegen man bzgl. der Antragstellung zur Wiederaufnahme des Verfahrens erneut geteilter Meinung ist l8 . Wenngleich die Auffassungen über das Ende der staatsanwaltschaftlichen Verpflichtung auf das Legalitätsprinzip teilweise erheblich auseinandergehen, kann man - ohne den Anspruch auf eine erschöpfende Klärung der einzelnen Fragen erheben zu wollen - in summa sagen, daß auch noch nach Erhebung der öffentlichen Klage die materielle Aufklärungspflicht der Staatsanwaltschaft prinzipiell fortbesteht. c) Sachlicher Anwendungsbereich

Im Folgenden soll § 152 11 StPO als Ausdruck strafprozessualer Legalität auf seinen sachlichen Anwendungsbereich hin untersucht werden. Neben einer Erörterung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen wird auf Fragen des dienstrechtlichen Weisungsrechts und einer möglichen Bindung der Staatsanwaltschaft an eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung einzugehen sein.

aa) Vorab: Anwendbarkeit des § 15211 StPO im Jugendstrafrecht Einer Anwendbarkeit des § 15211 StPO im Jugendstrafrecht könnte die Subsidiaritätsanordnung des § 2 JGG entgegenstehen, wonach die allgemeinen Vorschriften (auch) der StPO im persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Jugendgerichtsgesetzes nur dann Anwendung finden, sofern nicht im JGG selbst etwas anderes bestimmt ist. Eine solche - das allgemeine Recht verdrängende Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 90; Gössel, PS Dünnebier, S. 131 ID. w. N. Döhring, S. 92; LR-Rieß, § 152 Rn. 17. 17 Döhring, S. 92 ID. w. N. 18 Bejahend beispielsweise Gössel, FS Dünnebier, S. 131; ablehnend hingegen Döhring, S. 94 f. ID. w. N. 15

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

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jugendrechtliche Sondervorschrift könnte mit § 45 JGG vorliegen. Dazu müßte es sich bei § 45 JGG jedoch um eine Sonder- und nicht etwa um eine Ausnahmevorschrift handeln. Im Gegensatz zu einer Sondervorschrift, die den gesamten Bereich einer Norm speziell regelt, ersetzt eine Ausnahmevorschrift lediglich einen Teilbereich 19 • Insoweit § 45 JGG die Frage einer Ermittlungspjlicht der Strafverfolgungsbehörden ungeklärt beläßt und damit ausschließlich einen Teilbereich regelt, ist er Ausnahmevorschrift und tritt neben § 15211 StPO als den Regelfall. Mit der ganz herrschenden Meinunio im Schrifttum ist daher davon auszugehen, daß § 152 11 StPO auch im Jugendstrafrecht gilt. § 152 11 StPO normiert eine staatsanwaltschaftliche Einschreitpflicht, sofern "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" für das Vorliegen einer "verfolgbaren Straftat" bestehen und "nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist".

bb) "Straftaten" Dem Straftatbegriff in § 152 11 StPO kann eine eher formelle oder aber eine mehr materielle Beschreibung zugrundegelegt werden 21 . Informeller Hinsicht genügt einer Straftat, wenn ein tatbestandsmäßiges Verhalten vorliegt, das strafbewehrt ist, und in materieller, wenn die inkriminierte Handlung auch ethisch vorwerfbar ist. Nach heutigem Verständnis ist unter "Straftat" - insofern nach einer eher quantitativen Sicht - eine erhebliche Rechtsguts- und Pflichtverletzung zu verstehen 22 ; nicht erfaßt werden hingegen Ordnungswidrigkeiten und Disziplinarsachen23 . Unter Einbeziehung einer materiellen Komponente beschreibt "Straftat" aus heutiger Sicht ein Verhalten, das den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht und dazu noch rechtswidrig und schuldhaft ist24 • Ist ein derartiges Verhalten Gegenstand des Anfangsverdachts, wird, sofern diese Tat auch verfolgbar ist, eine Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft nach §§ 15211, 160 StPO ausgelöst.

cc) Verfolgbarkeit Die Einschreitpflicht des § 152 11 StPO bezieht sich nur auf verj'olgbare Straftaten. Verfolgbar ist eine Straftat, wenn keine persönlichen Strafausschließungsgründe und keine Verfahrenshindernisse vorliegen 25 • Allgemein gewendet ist eine Tat da19

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Vgl. Döhring, S. 98 m. w. N. Vgl. die Nachweise bei Döhring, S. 97 Fn. 329. V gl. Döhring, S. 99 f. Zum Straftatbegriff vgl. auch Kargt, GA 1998, S. 53 ff. Döhring, S. 99 m. w. N. BVerfGE 27, 18 (33); LR-Rieß, § 152 Rn. 29. LR-Rieß, § 152 Rn. 29 m. w. N.

A. Das Legalitätsprinzip in der Rechtswirklichkeit der BRD

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her nur verfolgbar, wenn keine Umstände vorliegen, "die nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes für das Strafverfahren so schwer wiegen, daß von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im Ganzen abhängig gemacht werden muß,,26. Verfahrenshindernisse schließen eine Tätigkeit der Staatsanwaltschaft aus, sobald sie nach ihrer Überzeugung feststehen, nicht mehr behebbar sind bzw. nicht zu erwarten ist, daß sie behoben werden können27 . Sind behebbare Verfahrenshindernisse gegeben, so gehört es zur Aufklärungspflicht der Strafverfolgungsbehörden, die Möglichkeit ihrer Beseitigung zu prüfen28 . Mögliche Verfahrenshindernisse, die eine Verfolgbarkeit und mithin eine Verfolgungspflicht ausschließen, sollen nachfolgend kursorisch aufgezeigt werden. Ein die Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft ausschließendes Verfahrenshindernis kann sich aus der Unzuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit - §§ 3 bis 7 StGB - ergeben 29. Weitere Voraussetzung für ein Einschreiten nach § 15211 StPO ist die Unberührtheit der Sache. So wird ein Verfahrenshindernis für den Fall angenommen, daß die Sache anderweitig rechtshängig ist (§ 12 StPO) oder aber bereits eine rechtskräftige Entscheidung wegen derselben Tat ergangen ist3o. Die "Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen" ist weiterhin nach § 78 StGB ausgeschlossen, wenn Verjährung eingetreten ist. Umstritten ist dabei, ob die Verjährung bereits ein Verfolgungshindernis darstellt3l oder aber nur rein materiellrechtliche Wirkung dahingehend entfaltet, daß sie einen materiellen Strafaufhebungsgrund begründet. Die im Hinblick auf die prozessuale Funktion der Verjährung vorzugswürdige Auffassung geht derweil von einem Verfahrens- und 25 LR-Rieß, § 152 Rn. 30 m. w. N.; SK-Weßlau, § 152 Rn. 20. Dazu Döhring, S. 108: ,,Auch wenn die Lehre von den Prozeßvoraussetzungen erst nach Aufnahme des § 152 in die RStPO entwickelt wurde, so ist doch davon auszugehen, daß die Verfolgbarkeit gleichbedeutend ist mit dem Fehlen von Prozeßhindernissen bzw. anders formuliert mit dem Vorliegen aller Prozeßvoraussetzungen." 26 BGHSt. 15,287 (290); 26, 84 (89). 27 Döhring, S. 108. Zur Frage, wer das letztendlich zu beurteilen hat bzw. inwieweit eine solche Entscheidung Bindungen unterliegt, vgl. im einzelnen unten "Teil 2.A.I.l.c)ee)" bzw. "Teil 2.A.I.l.c )ff)". 28 LR-Rieß, § 152 Rn. 30 m. w. N. 29 §§ 18 bis 20 GVG sehen dabei für sog. Extenitoriale eine Ausnahme vor. Zu sämtlichen hier angesprochenen Verfahrenshindernissen vgl. ausführlich Döhring, S. 109-125. 30 Zwar wird die Rechtskraft in der StPO nicht ausdrücklich als Verfahrenshindernis benannt, gleichwohl wird ein solcher Rückschluß anerkanntermaßen aus dem Grundsatz ne bis in idem gezogen. Im Falle einer rechtskräftigen Entscheidung in ein und derselben Sache fehlt es mithin an einer Verfahrensvoraussetzung und demzufolge an der Verfolgbarkeit im Sinne von § 152 11 StPO. Formelle Rechtskraft tritt derweil ein, wenn die Rechtsmittelfristen der § § 314, 319 bzw. der § § 341, 349 StPO abgelaufen sind, das Revisionsgericht entschieden hat (§ 354 I StPO) oder aber auf die Einlegung eines Rechtsmittels nach § 302 StPO verzichtet wurde. Materiellrechtlich hat die Rechtskraft die Bedeutung, daß die Sache nicht erneut zum Gegenstand eines Verfahrens gemacht werden darf. 31 So die rein prozessuale und die gemischt materiell-prozessuale Theorie.

2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

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demzufolge Verfolgungshindernis aus 32 • Ein Verfolgungshindernis kann sich zudem aus dem Fehlen eines mancherorts erforderlichen Strafantrags bzw. aufgrund eines fehlenden öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ergeben. Neben den absoluten Antragsdelikten, die nur auf entsprechenden Antrag des Verletzten verfolgbar sind 33 , gibt es eine weitere Deliktsgruppe, bei der zur Auslösung der Verfolgungspflicht alternativ das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft bejaht werden muß 34 . Schließlich gibt es sog. relative Antragsdelikte, bei denen das Antragserfordernis nur dann gilt, wenn ein ganz bestimmter Personenkreis durch die Tat verletzt worden ist; andernfalls ist die Tat ohne weiteres verfolgbar35 . Ein absolutes Verfahrenshindernis besteht wiederum in Fällen von Immunität und Indemnität gemäß Art. 46 GG. Überdies schließt die Strafunmündigkeit im Sinne von § 19 StGB nicht nur materiellrechtlich gesehen die Schuld aus, sondern hat auch als Verfahrenshindernis eine prozessuale Bedeutung36 • Inwieweit der in Kürze bevorstehende Tod des Beschuldigten aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Verfahrenshindernis darzustellen vermag, ist umstritten 37 . Einigkeit herrscht hingegen darüber, daß die Verhandlungsunfähigkeit des Beschuldigten als Verfahrenshindernis zu qualifizieren ist38 • Weniger eindeutig ist das Meinungsbild wiederum bei der Frage, ob die vom Beschuldigten nicht zu verantwortende Überlänge des Verfahrens ein Verfahrenshindernis begründet und somit die weitere Verfolgbarkeit der Tat ausschließt39 . Nachweise bei Döhring, S. 111 Fn. 430. Vgl. § 77 StGB. Erst mit AntragsteIlung entsteht die Einschreitpflicht der Strafverfolgungsbehörden. Unterbleibt eine AntragsteIlung innerhalb der Dreimonatsfrist des § 77b StGB, ist die Tat endgültig nicht verfolgbar. Gleiches gilt, wenn innerhalb der Frist auf die Stellung des Antrags wirksam verzichtet wurde. 34 Bsp. §§ 303c, 230 StGB. Ein Verfahrenshindernis entsteht in diesen Fällen dann, wenn die Dreimonatsfrist abläuft, ohne daß ein Antrag gestellt wurde bzw. der Berechtigte bereits vor Ablauf der Frist auf eine AntragsteIlung wirksam verzichtet hat und außerdem das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu verneinen ist. In all diesen Fällen entfällt die Verfolgbarkeit im Sinne von § 15211 StPO. Ein Verfahrenshindernis kann sich überdies im Rahmen der Verfolgungsvoraussetzungen von Privatklagedelikten ergeben. Für den Fall, daß in einer Tat ausschließlich Privatklagedelikte begangen wurden, stellt das Gesetz in § 376 StPO mit dem Erfordernis des öffentlichen Interesses an der öffentlichen Klage eine zusätzliche Prozeßvoraussetzung auf. Wird ein solches öffentliches Interesse verneint, ist die Tat nicht verfolgbar im Sinne von § 152 11 StPO. 35 Bsp. § 247 StGB. 36 Nachweise bei Döhring, S. 115 Fn. 450. 37 Vgl. zum Streitstand Döhring, S. 62 f. Eher dogmatischer Natur ist derweil die Debatte, ob der Tod des Beschuldigten ein Verfahrenshindernis darstellt oder aber das Verfahren in diesem Falle automatisch endet (Nachweise bei Döhring, S. 115 Fn. 451). Jedenfalls endet mit dem Tod des Beschuldigten für die Strafverfolgungsbehörden die Verfolgungspflicht. 38 Verhandlungsunfähig ist, wer aufgrund seiner physischen oder psychischen Verfassung - in der Regel nur infolge schwerer körperlicher Mängel oder Krankheiten - nicht in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen, die Bedeutung des Verfahrens sowie einzelner Verfahrensakte zu erkennen und sich sachgemäß zu verteidigen (Ausn. § 231a StPO); vgl. BGHSt. 41,16 (17 ff.) m. w. N. 32

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Und auch beim staatlich veranlaßten Einsatz von Lockspitzeln besteht - ganz im Gegensatz zu den Voraussetzungen der Amnestie, bei deren Vorliegen die Straffreiheitsgesetze unproblematisch ein Verfolgungshindernis begründen40 - in dieser Frage wenig Klarheit. Die frühere Rechtsprechung nahm beim staatlich veranlaßten Einsatz von Lockspitzeln im Umfeld des Beschuldigten ein Verfolgungshindernis an, wobei sie sich argumentativ darauf stützte, daß der Staat im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip arglistig und widerspriichlich handle, wenn er den Täter zunächst zur Begehung von Straftaten auffordere, um ihn dann anschließend bestrafen zu können41 • Demgegenüber wurde die staatliche Tatprovokation als potentielles Verfahrenshindemis insbesondere deswegen abgelehnt, weil sie zum einen aufgrund mitunter schwieriger Kausalitätsfragen zu diesem Zwecke schlichtweg für ungeeignet gehalten wurde, oder aber weil zum anderen die Tatsache befremdete, daß bei dieser Vorgehensweise der Lockspitzel durch sein Verhalten in die Lage versetzt wäre, den staatlichen Strafanspruch auszuschließen. Denn habe sich der Gesetzgeber einmal dafür entschieden, ein bestimmtes Verhalten unter Strafe zu stellen, dann dürfe es den Verfolgungsorganen nicht möglich sein, durch den Einsatz eines agent provocateur ein Verfahrenshindernis zu begriinden42 • In diesem Sinne geht dann auch die heutige Rechtsprechung43 davon aus, daß eine Tat, die durch einen staatlichen Lockspitzel provoziert wurde, verfolgbar und demzufolge bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 152 11 StPO auch verfolgungspflichtig ist.

39 Gegen eine solche Annahme könnte vorgebracht werden, daß von seiten des Gesetzgebers mit den Verjährungsvorschriften der §§ 78 ff. StGB fUr die Zeitproblematik einer Straftat und deren Verfolgung eine abschließende Regelung getroffen worden ist. Gleichwohl wird man im Hinblick auf Art. 1 GG nicht umhin können, im Wege einer verfassungskonformen Auslegung die vom Beschuldigten unverschuldete Überlänge des Verfahrens als Verfahrenshindernis anzuerkennen. So gibt es mit der - ohne weiteres - vertretbaren (Gegen-)Auffassung, daß es sich bei den Verjährungsvorschriften des StGB um keine abschließende Regelung handelt, eine mit dem hinreichend konkretisierten Wortlaut der Normen zu vereinbarende zweite Lesart bzw. Auslegung, die nicht gegen die Verfassung verstößt. Nach den Grundsätzen der verfassungskonformen Auslegung ist deshalb von der Entscheidungsalternative auszugehen, die für die Überlänge des Verfahrens als Verfahrenshindernis neben den Verjährungsvorschriften noch Raum läßt. Die Überlänge des Verfahrens kann demzufolge die (weitere) Verfolgbarkeit der Straftat ausschließen. 40 Döhring, S. 121 m. w. N.; Pott, S. 97. 41 BGH, NJW 1981, S. 1626 f.; BGH, NStZ 1982, S. 156; OLG Düsseldorf, StV 1985, S. 276; LG Verden, StV 1982, S. 364 f. 42 Vgl. hierzu die Nachweise bei Döhring. S. 122 Fn. 488 ff. 43 Seit BGHSt. 32, 345 (350 ff.); BGH, StV 1985, S. 309 ff. unter ausdriicklicher Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des 2. Senats; BGH, StV 1989. S. 518.

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

dd) "Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" Eine Verfolgungspflicht wird nach § 152 11 StPO nur ausgelöst, wenn den Strafverfolgungsbehörden "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" für eine verfolgbare Straftat vorliegen. (1) Verdachtsintensität und Dunkelfeldforschung

Die staatsanwaltschaftliehe Pflicht zum Einschreiten nach § 152 11 StPO setzt notwendig den Verdacht einer verfolgbaren Straftat voraus. Diesem Erfordernis genügt ein einfacher, sog. Anfangsverdacht, der jedoch durch "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" konkret belegt sein muß44 • Zureichende Anhaltspunkte sind solche, "die es rechtfertigen, die Mittel der Strafverfolgungsbehörden einzusetzen und, wenn auch in geringem Maße, in die Rechtssphäre des Bürgers einzugreifen, um festzustellen, ob eine verfolgbare Straftat vorliegt und wer sie begangen hat,,45. Es müssen konkrete Tatsachen bekannt sein, die einen begründeten Anhalt für eine Straftat liefern46 , wobei in diesem Zusammenhang eine gewisse, wenn auch noch geringe Wahrscheinlichkeit genügt. Zweifel an der Richtigkeit des Verdachts dürfen hier noch überwiegen47 . Auch muß sich der Verdacht nicht von Anfang an gegen eine bestimmte Person richten. Das Legalitätsprinzip kann die Strafverfolgungsbehörden durchaus auch zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens "gegen Unbekannt" zwingen48 . Keine Verfolgungspflicht wird indessen ausgelöst, wenn als Ermittlungsgrundlage ausschließlich bloße Vermutungen oder völlig haltlose Verdächtigungen, die nicht durch konkrete Indiztatsachen belegt sind, dienen würden49. Die zureichenden Anhaltspunkte müssen auf einer tatsächlichen Grundlage basieren, die darauf hindeutet, daß "über die bloße allgemeine Möglichkeit der Begehung von Straftaten gerade der zu untersuchende Lebenssachverhalt eine Straftat 44 Geppert, Jura 1982, S. 142; zum Anfangsverdacht vgl. auch LR-Rieß, § 152 Rn. 21 m.w.N. 45 LR-Rieß, § 152 Rn. 23. 46 Heidelberger K.-Krehl, § 152 Rn. 8 m. w. N.; Pfeiffer, § 152 Rn. la; SK-Weßlau, § 152 Rn. 15. 47 Geppert, Jura 1982, S. 142 m. w. N.; LR-Rieß, § 152 Rn. 23 m. w. N. Der die Ermittlungspflicht auslösende einfache Anfangsverdacht muß mithin nicht den relativ hohen Grad von Wahrscheinlichkeit aufweisen, wie ihn der ,,hinreichende Verdacht" des § 203 StPO zur Eröffnung des Hauptverfahrens fordert, denn schließlich ist es gerade die Aufgabe des anstehenden Ermittlungsverfahrens, den zur Klageerhebung erforderlichen ,,hinreichenden" Tatverdacht aufzuhellen; vgl. Geppert a. a. 0., S. 142. Erst recht bedarf es nicht der Intensität eines "dringenden Verdachts", wie er gemäß § 112 I S. 1 StPO Voraussetzung für einen Haftbefehl ist. 48 Geppert, Jura 1982, S. 142; LR-Rieß, § 152 Rn. 23 m. w. N.; SK-Weßlau, § 152 Rn. 16. 49 Döhring, S. 125 m. w. N.; vgl. auch Geppert, Jura 1982, S. 142; LR-Rieß, § 152 Rn. 24; Pfeiffer, § 152 Rn. la.

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enthält,,5o. Eine allgemein verstandene Verpflichtung zur Erhellung eines etwaigen Dunkelfeldes besteht demnach nicht. Das Erfordernis der "zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte" in § 15211 StPO schränkt die Verfolgungspflicht der Strafverfolgungbehörden demzufolge nicht nur in zeitlicher, sondern auch in sachlicher Hinsicht ein: Für Straftaten, die sich nicht im Hellfeld, d. h. im konkreten Kenntnisbereich der Strafverfolgungsbehörden befinden, wird eine Verfolgungspflicht in Ennangelung zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte nicht ausgelöst. Dazu heißt es bei Rieß51 : "Es wird durch die Strafprozeßordnung nicht gedeckt und ist auch nicht Teil eines gesetzmäßigen strafprozessualen Ermittlungsverfahrens, wenn aufgrund bloßer, nicht durch tatsächliche Hinweise gestützter Möglichkeiten und rein kriminalistischer Hypothesen ganze Felder des sozialen Lebens durchleuchtet werden, nur weil die Möglichkeit besteht, daß dabei Straftaten ans Licht gefördert werden. Aus dem strafprozessualen Legalitätsprinzip im Sinne der §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 läßt sich weder eine Ennächtigung noch gar eine Verpflichtung ableiten, ohne konkrete tatsächliche Hinweise nach unbekannten Straftaten zu forschen." Das bloße Wissen um die Existenz eines allgemeinen Dunkelfeldes ist demzufolge kein zureichender tatsächlicher Anhaltspunkt im Sinne des § 152 11 StPO. (2) Kenntnis (nur) infolge eines Verstoßes gegen ein Beweisverbot

Fraglich ist, ob ein Anfangsverdacht im Sinne von § 15211 StPO auf Kenntnisse gegründet werden darf, die (nur) unter Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot erlangt worden sind52 . Hier ist vieles zweifelhaft und umstritten. Ohne vertiefend in die weitreichende Problematik der Beweisverbote, etwa den Fragen nach Fernund Fortwirkung, einsteigen zu wollen, soll an dieser Stelle nur thesenartig festgehalten werden, daß es vertretbar erscheint, ein Beweisverwertungsverbot - wenn es sich denn ergibt - im Hinblick auf § 152 11 StPO bereits als "Ermittlungsverbot,,53 in Anschlag zu bringen, so daß am Ende ein in unzulässiger Weise erlangter Anfangsverdacht keine taugliche Grundlage für eine Ermittlungspflicht darzustellen vennag. Nicht unterschlagen werden soll in diesem Zusammenhang jedoch die Auffassung des Bundesgerichtshofs54 zur Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus einer Telefonüberwachung nach § 100 aStPO, die das Vorliegen einer Nicht-Katalogtat betreffen. Wenn hiernach derartige Hinweise zwar nicht zu Beweiszwecken 50 LR-Rieß, § 152 Rn. 25. Als Anknüpfungspunkt für den Anfangsverdacht kommen alle denkbaren Erkenntnismittel in Betracht: förmliche Strafanzeigen, schriftliche Mitteilungen an die Staatsanwaltschaft etc. Welches Erkenntnismittel im einzelnen von besonderer Bedeutung ist, hängt eng mit der soziologischen Struktur der einzelnen Delikte zusammen; vgl. Willms, JZ 1957, S. 466 mit zahlreichen Beispielen. 51 LR-Rieß, § 152 Rn. 21. Vgl. dazu auch SK-Weßlau, § 152 Rn. 21 m. w. N. 52 Dazu ausführlich Döhring, S. 126 ff.; vgl. auch LR-Rieß, § 152 Rn. 26, 27; SK-Weßlau, § 152 Rn. 18. 53 Döhring, S. 126. 54 BGHSt. 27, 355; 29, 248; 31, 304.

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

verwandt, wohl aber zur Grundlage von Ermittlungen gemacht werden dürfen, läßt dies freilich den Schluß zu, daß sie auch einen Anfangsverdacht im Sinne von § 15211 StPO begründen können 55 . Es spricht am Ende einiges dafür, die vorliegende Frage - wie im übrigen auch im Hinblick auf den Gesamtkomplex der Beweisverbotsproblematik - nicht generell zu bejahen oder zu verneinen, sondern im Rahmen einer Gesamtbetrachtung "auf die Intensität des das Beweisverbot auslösenden Rechtsverstoßes einerseits und die Schwere der aufzuklärenden Tat andererseits abzustellen,,56. Im Einzelfall kann es demzufolge im Anschluß an eine unzulässige Beweisgewinnung zu einem Ausschluß der Ermittlungspflicht nach § 15211 StPO kommen. (3) Außerdienstliche Kenntniserlangung

Weiterhin ist zu fragen, ob auch eine außerdienstliche Kenntniserlangung von einer Straftat durch die zur Strafverfolgung berufenen Personen zum Vorliegen "zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte" im Sinne von § 152 11 StPO führen und damit zur Aufnahme der notwendigen Ermittlungen verpflichten kann. Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage wird sein, ob man die Bezeichnung "Staatsanwaltschaft" im Sinne des § 152 StPO rein statusrechtlich an den Beruf oder aber an die in den Gesetzen näher umschriebene staatsanwaltschaftliche Tatigkeit knüpfen will57 . Eine frühere Ansicht, nach der ein Staatsanwalt in seiner Funktion als Statusträger auch durch außerhalb der Dienstzeit erlangte Kenntnisse zum Einschreiten verpflichtet werden kann58 , wird heute - soweit ersichtlich nicht mehr vertreten. Ein sich "immer im Dienst" befindender Staatsanwalt führt ein erheblich beeinträchtigtes Privatleben. Es erscheint unzumutbar, den Angehörigen dieser Berufsgruppe allein aufgrund ihrer beruflichen Stellung auch in der Freizeit die Verpflichtung anzutragen, jedes ihnen zugetragene und anvertraute Verhalten strafrechtlich zu bewerten und gegebenenfalls zu verfolgen; und das nicht zuletzt, um sich nicht selbst einer Strafvereitelung im Amt nach § 258 a StGB schuldig zu machen. Eine hierzu konträre Auffassung will daher jegliche privat erlangte Kenntnis von der potentiellen Möglichkeit, eine Ermittlungspflicht nach § 15211 StPO auszulösen, ausnehmen 59 . Dies wiederum erscheint - zumindest im Hinblick auf schwerwiegende Straftaten - ebenfalls nicht sachgerecht. Vorzugswürdig ist daher einmal mehr eine vermittelnde Auffassung, die im Einzelfall LR-Rieß. § 152 Rn. 26 m. w. N. LR-Rieß. § 152 Rn. 27. 57 Döhring. S. 132 m. w. N. 58 Nachweis für diese frühere Ansicht bei Döhring. S. 132 Fn. 554. Vgl. dazu bereits die Entscheidung des Reichsgerichts RGSt. 70, 251 ff. ("Kuppelei-Urteil"), in der das Gericht eine Einschreitenspflicht der Strafverfolgungsorgane Kraft einer allgemeinen Dienstpflicht angenommen hat. 59 Nachweise bei Döhring. S. 133 Fn. 556. 55

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über eine Einschreitpflicht entscheidet und sich bei der zu treffenden Abwägung zwischen den (privaten) Interessen des betroffenen Staatsanwalts und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates vornehmlich an der Deliktsschwere orientiert60 . Einen möglichen Anhaltspunkt bieten dabei die Tatkataloge der §§ 110 aStPO, 138 StGB, die, sofern eine von ihnen geführte Straftat zu vermuten steht, den Staatsanwalt aufgrund einer "allgemeinen beamtenrechtlichen Dienst- und Treuepflicht,,61 auch außerdienstlich zum Einschreiten verpflichten sollen62 . (4) Ergebnis

,,zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" im Sinne des § 15211 StPO liegen regelmäßig vor, wenn die Staatsanwaltschaft dienstlich - oder im Einzelfall auch privat - und ohne Verstoß gegen ein Beweisverbot von Tatsachen Kenntnis erlangt hat, die es als wahrscheinlich erscheinen lassen, daß eine Straftat begangen worden ist.

ee) Bindung der Staatsanwaltschaft an eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung Es schließt sich die Frage an, wer über das Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen und damit über das Bestehen einer Verfolgungspflicht zu befinden hat. § 15211 StPO trifft insoweit lediglich eine Aussage darüber, daß sie vorliegen müssen. Nun sind aber Situationen denkbar, in denen nach eigener Ansicht des sachbearbeitenden Staatsanwalts ein Anfangsverdacht hinsichtlich einer Straftat im Sinne von § 15211 StPO nicht gegeben ist, bei Zugrundelegung der bestehenden (höchstrichterlichen) Judikatur jedoch ein gegenteiliges Ergebnis gefunden werden müßte. Während aus Sicht des sachbearbeitenden Staatsanwalts in einem solchen Fall das Verfahren gar nicht erst aufzunehmen wäre, könnte sich im Hinblick auf die höchstrichterliche Judikatur - ihr sei als Ergebnis die Annahme einer Ermittlungspflicht unterstellt - etwas anderes ergeben: Der Staatsanwalt könnte ungeachtet der eigenen gegenteiligen Auffassung zur Aufnahme der Ermittlungen gezwungen sein. Die Frage nach einer Bindung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen an eine bestehende höchstrichterliche Rechtsprechung stellt sich demnach nicht erst im BGHSt. 12,277 (281). Fezer, Strafprozeßrecht, S. 22. 62 Döhring, S. 134 m. w. N. Vgl. auch Krey, S. 71 f., der insoweit zwischen Vergehen (§ 12 II StGB) und Verbrechen (§ 12 I StGB) differenzieren will. Nach Schmidt, Strafprozeßrecht I, S. 174 soll auch bei außerdienstlicher Kenntniserlangung die Pflicht zum Eingreifen den Rege1fall darstellen. Ein Ausschluß müsse sich auf die leichteren Fälle beschränken, für deren Abgrenzung wiederum § 153 StPO als Richtlinie dienen könne. Vgl. zum gesamten Streitstand auch Geppert, Jura 1982, S. 147 f. 60

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

Zeitpunkt des Abschlusses des Ermittlungsverfahrens, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob der für die Anklage erforderliche hinreichende Tatverdacht im Sinne von § 170 StPO vorliegt, sondern bereits in einem frühen Stadium des Verfahrens, wenn es gemäß § 152 11 StPO zu beurteilen gilt, ob ausreichende Verdachtsmomente hinsichtlich einer verfolgbaren Straftat zur Aufnahme staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen verpflichten. Um die Frage der Bindung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen an eine höchstrichterliche Rechtsprechung rankt sich ein alter Streit, der durch das viel zitierte obiter dictum des Bundesgerichtshofs63 neu entfacht wurde, und der - ohne daß bislang eine Einigung in Sicht wäre - noch heute Schrifttum und Wissenschaft beschäftigt. Der Bundesgerichtshof bejahte seinerzeit "in einer aufsehenerregenden Entscheidung,,64 eine Anklagepflicht der Staatsanwaltschaft jedenfalls dann, wenn sich eine "feste,,65 Rechtsprechung herausgebildet habe. Das Schrifttum reagierte auf diese Entscheidung überwiegend ablehnend, wobei sich seither ein insgesamt breites Meinungsspektrum herausgebildet hat66 , über das nachfolgend ein kurzer Überblick gegeben werden soll. ( 1) Überblick über den Streitstand

Die Anhänger der Bindungsthese argumentieren, daß eine selbständige Gesetzesauslegung durch die Staatsanwaltschaft die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und damit die Rechtssicherheit und die Gleichbehandlung gefährden würde67 . Dabei wird insbesondere auf das Vorlagesystem der §§ 120 m, 121 11 und 136 GVG verwiesen: Die Vereinheitlichung der Rechtsprechung - der diese BGHSt. 15, 155 ff. Roxin, Strafverfahrensrecht, 16. Aufl., 1980, § 10 A III; zitiert nach Bottke, GA 1980, S. 298 f. 65 BGHSt. 15, 155 (158). 66 Nachweise u. a. bei Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 300 Fn. 55; Bottke, GA 1980, S. 299 Fn. 5; Döhring, S. 101 Fn. 349; Geppert, Jura 1982, S. 149 Fn. 80; LR-Rieß, § 170 Rn. 22. Unbestritten ist dagegen, daß die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage auch dann erheben kann, wenn die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung einer späteren Verurteilung entgegensteht, vgl. Geppert, Jura 1982, S. 149 m. w. N.; Schirrmacher, S. 39 Fn. 27 m.w.N. 67 BGHSt. 15, 155 (158); Aulinger, S. 76 f. m. w. N.; weitere Nachweise bei Döhring, S. 105 Fn. 395; vgl. auch Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 110 Fn. 498. Der Bindungsthese des BGH stimmen auch Krey/Pjöhler (in: NStZ 1985, S. 150 f. m. w. N.) mit folgender Maßgabe zu: ,,Eine ,feste höchstrichterliche Rechtsprechung' vermag zwar die StA nicht mit strafbegTÜndender Wirkung (§ 258a StGB) zur Strafverfolgung entgegen der eigenen Rechtsüberzeugung zu zwingen. Es besteht aber für den Staatsanwalt die -nicht strafbewehrteDienstpflicht, im Geltungsbereich des Legalitätsprinzips einer solchen Rechtsprechung grundsätzlich zu folgen." Vgl. auch Ranft, S. 54 f., der eine Bindung der Staatsanwaltschaft an die Rechtsprechung des BGH im Grundsatz damit begründet, daß andernfalls die staatsanwaltschaftliche Entscheidung über Verfahrenseinstellung oder Erhebung der öffentlichen Klage zum ,,Einfallstor gesellschaftlicher Gruppenwertungen" werden könne. 63

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Vorschriften dienen sollen - wäre nicht möglich, wenn die Sache erst gar nicht vor Gericht kärne68 . Eine der Gleichheit zuträgliche einheitliche Rechtsanwendung im Bundesgebiet könne letztendlich nur dann gewährleistet werden, wenn Gerichte, Staatsanwaltschaft und Polizei zur Befolgung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verpflichtet wären69 . Dem wird entgegengehalten, daß die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung kein beherrschendes oder jedenfalls kein unverrückbares und absolutes Prinzip des deutschen Strafverfahrensrechts sei7o . Das gesetzliche Vorlagesystem der §§ 121 11 und 136 GVG binde bekanntlich nur die Obergerichte, mache es aber beispielsweise einem Richter der unteren Instanzen keineswegs unmöglich, gegen eine "höchstrichterliche Rechtsprechung" zu entscheiden71. Diese Aufgabe der Wahrung der Rechtseinheit komme im gerichtlichen Verfahren auf die Gerichte erst im Rechtsmittelzug der Revision zu 72. Wer zur Herstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung eine pauschale Mitwirkungspflicht der Staatsanwaltschaft postuliere, übersehe zudem die besondere Verfahrensrolle des Staatsanwalts im Ermittlungsverfahren, die von der "Realisierung der Einzelfallgerechtigkeit" geprägt sei73 • Dazu schreibt Fezer74 : "Er soll einen Beschuldigten verfolgen und anklagen, weil er ihn wegen einer konkreten Tat für schuldig hält, nicht weil bisher und anderenorts in gleich gelagerten Fällen Verurteilungen erfolgt sind." Der Staatsanwalt, der einen Beschuldigten, den er für straflos halte, nur deswegen anklage, damit keine Ungleichheit in der Rechtsanwendung entstehe, handle nicht im Einklang mit seiner prozessualen Aufgabe, die er im Ermittlungsverfahren, das nicht der Wahrung der Rechtseinheit diene, wahrzunehmen habe 75 . Der Ansicht des Bundesgerichtshofs sei insoweit zwar zugegeben, daß Einheit und Gleichheit zweifelsohne helfen würden, sachfremden Einflüssen und Überlegungen im Einzelfall zu widerstehen 76. Doch habe der Gesetzgeber diese Einheit der Sache institutionell ausdrücklich aufgeteilt und dabei die gegenseitige Selbständigkeit der Staatsorgane in §§ 150, 151 GVG hervorgehoben. Demnach gebe es "Rechtseinheit, aber keine prinzipielle Pflicht zur Rechtsauslegungseinheit,m.

BGHSt. 15, 155 (160). Vgl. auch Schroeder, S. 38 f. Vgl. Fezer, Strafprozeßrecht, S. 22. 70 Geppert, Jura 1982, S. 149. 71 Fezer, Strafprozeßrecht, S. 22; Geppert, Jura 1982, S. 149; vgl. auch Döhring, S. 104 Fn.390. 72 Fezer, Strafprozeßrecht, S. 22. 73 Fezer, Strafprozeßrecht, S. 22. 74 Fezer, Strafprozeßrecht, S. 22. 75 Vgl. dazu Fezer, Strafprozeßrecht, S. 22. 76 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 302. 77 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 302 ID. w. N. 68 69

7 Horstmann

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

§ 150 GVG spreche zudem als Ausdruck der Abkehr vom Inquisitionsprozeß gegen eine Bindung der Staatsanwaltschaft an eine höchstrichterliche Judikatur78 • Die Staatsanwaltschaft sei nach § 150 GVG - ebenso wie das Gericht - ein selbständiges Organ der Strafrechtspflege und müsse als Ermittlungs- und Anklagebehörde nicht nur Tat-, sondern auch Rechtsfragen selbständig beantworten können 79 • Im Falle einer Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Auffassung der Gerichte werde die Einleitung des Verfahrens - wie schon zu Zeiten des Inquisitionsprozesses - indirekt doch wieder von den Gerichten bestimmtSO. Ein selbständiges Organ der Strafrechtspflege hingegen könne nicht verpflichtet werden, jemanden zu verfolgen und den Belastungen des Strafverfahrens auszusetzen, den es selbst für unschuldig haltesI.

Für eine Bindung der Staatsanwaltschaft an eine höchstrichterliche Rechtsprechung wird teilweise auf § 172 StPO verwiesen, wonach die Norm nur den allgemeinen Gedanken ausdrücklich festlege, daß es dem Gericht vorbehalten sein müsse zu entscheiden, ob ein Verhalten strafbar sei oder nicht. Andernfalls hinge die Strafverfolgung nicht vom Gesetz, sondern von der Rechtsansicht der jeweilig handelnden Behörde ab. Dieser Rechtsprechungsvorrang der Gerichte, verfassungsrechtlich verankert in Art. 92 GG, komme nicht zuletzt auch im Klageerzwingungsverfahren zum Ausdruck und müsse zum Schutze des Verletzten verallgemeinert werden 82 • Mit § 172 StPO argumentiert derweil auch die Gegenauffassung, die im engen Anwendungsbereich der Vorschrift den gesetzgeberischen Willen zum Ausdruck gebracht sieht, daß keine weit(er)reichende Bindung der Staatsanwaltschaft an die Gerichte bestehen soll. Der Gedanke des Klageerzwingungsverfahrens ließe sich gerade nicht verallgemeinern s3 . Man gibt in diesem Zusammenhang weiterhin zu bedenken, daß bei einer Bindung der Staatsanwaltschaft an eine höchstrichterliche Judikatur der Rechtsprechung im Ergebnis die Wirkung eines Gesetzes zukommen würde. Dazu schreibt GeppertS4 : "Das Legalitätsprinzip verpflichtet nur zur Verfolgung gesetzlich (!) strafbarer Handlungen, sagt aber 78 BOffke, GA 1980, S. 307 f.; Geppert, Jura 1982, S. 149; LR-Rieß, § 170 Rn. 23 m. w. N.; Sarstedt, NJW 1964, S. 1756; vgl. auch Döhring, S. 102 m. w. N. 79 Fezer, Strafprozeßrecht, S. 21; Döhring, S. 102. 80 Nachweise bei Döhring, S. 102. 81 Geppert, Jura 1982, S. 149. Weiterhin wird zur Ablehnung der Bindungsthese vorgebracht, daß die Behörde mit ihrer Abschlußverfügung (§ 169 a StPO) eine eigene Entscheidung treffe, für die sie die Verantwortung trage. Es könne aber jemand durch das Gesetz nur dann für seine Entscheidung verantwortlich gemacht werden, wenn er die Möglichkeit habe, auch aus eigener Überzeugung zu handeln; vgl. Döhring, S. 105 Fn. 393. 82 BGHSt. 15, 155 (160); vgl. auch die Nachweise bei Döhring, S. 103 Fn. 379, 380; ebenso bei Koller; Die Staatsanwaltschaft, S. 110 Fn. 497. A.A. SK-Weßlau, § 152 Rn. 22. 83 Bottke, GA 1980, S. 309; Sarstedt, NJW 1964, S. 1756 f.; vgl. auch Döhring, S. 103 Fn. 381. Zudem sei für den Fall eines Klageerzwingungsverfahrens das dann zur Entscheidung berufene OLG ebenfalls nicht an eine feste oder ständige höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden, vgl. Sarstedt, NJW 1964, S. 1756 f. Ebenso LR-Rieß, § 170 Rn. 23. 84 Geppert, Jura 1982, S. 149.

A. Das Legalitätsprinzip in der Rechtswirklichkeit der BRD

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nicht, daß für die Beurteilung der Stratbarkeitsvoraussetzungen ausschließlich die Rechtsansicht der Gerichte maßgebend ist. ,Gefestigte Rechtsprechung' ist nicht notwendig (schon) Richterrecht. " Aus einer mehr praktischen Sicht müsse man sich zudem die Frage stellen: "was ist überhaupt eine ,feste' oder ,ständige' Rechtsprechung, und wer ist berufen, diese Frage zu beantworten? ... Muß jeder Widerspruch verstummen, sobald ein Senat einmal seine eigene Rechtsprechung ,fest' oder ,ständig' genannt hat? ... kann die StA sagen, eine durch Jahrzehnte in Hunderten von Fällen fortgesetzte Rechtsprechung sei ihr noch nicht ,fest' oder ,ständig' genug, als daß sie deswegen ihre eigene, wohlbegründete Meinung aufgebe? ... Sodann: Genügt die StA ihrer angeblichen Pflicht schon mit der Anklage, oder muß sie auch Verurteilung gemäß der Rechtsprechung beantragen und gegen Freisprüche Rechtsmittel einlegen?,,85 Und es sind nicht zuletzt Gesichtspunkte des Beschuldigtenschutzes, die gegen eine Bindung der Staatsanwaltschaft an eine anklagefreundliche - höchstrichterliche Rechtsprechung ins Feld geführt werden. So solle sich der Verdächtige nur dann in einer öffentlichen Hauptverhandlung verantworten müssen, wenn unabhängig voneinander bei vorläufiger Tatbewertung die Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde und das eröffnende Gericht die Strafbarkeit bejahten 86 . Der vorangegangene Überblick über den Streitstand bei der Frage nach einer staatsanwaltschaftlichen Bindung an eine höchstrichterliche Rechtsprechung hat ein insoweit breites Meinungsspektrum aufgezeigt. Insbesondere die verfassungsrechtlichen Argumente sprechen jedoch eher dafür, der Staatsanwaltschaft eine von der Rechtsprechung unabhängige Entscheidungsgewalt zukommen zu lassen. Zwingend scheint dabei das Argument aus Art. 20 III GG zu sein, wonach die Staatsanwaltschaft - auf einer Stufe mit der Rechtsprechung stehend - allein dem Gesetz unterworfen wird. Daraus folgt, daß sich die Rechtsprechung gerade nicht zwischen Verwaltung und Gesetz stellen darf, es sei denn, das Gesetz sieht eine derartige Bindung ausnahmsweise einmal vor. Solange aber beispielsweise eine ständige Rechtsprechung nicht auch zum Gewohnheitsrecht erstarkt ist, läuft die Bindungsthese im Ergebnis "auf einen ,Interpretationsvorrang' der Rechtsprechung bei der Rechtsanwendung hinaus, den weder Art. 92 GG noch das Gewaltenteilungsprinzip rechtfertigt,,87. Die wohl besseren Gründe sprechen daher gegen eine Bindung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen an eine feste höchstrichterliehe Judikatur. Demzufolge liegt auch die Entscheidung darüber, ob im Zusammenhang mit der Frage nach der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens der Verdacht einer "Straftat" im Sinne von § 152 11 StPO zu bejahen ist, allein bei der zuständigen Staatsanwaltschaft. Ob die ihr bekannten Tatsachen "zureichende Anhaltspunkte" für die Begehung einer verfolgbaren Tat darstellen, ist in gleicher Weise allein ihrer Beurteilung überlassen 88 . 85 86 87

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Sarstedt, NJW 1964, S. 1757. Bottke, GA 1980, S. 209; LR-Rieß, § 170 Rn. 23. LR-Rieß, § 170 Rn. 23.

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(2) Ergebnis Die Staatsanwaltschaft ist nach der hier vertretenen Ansicht weder bei der Beurteilung der Frage, ob ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat vorliegen und damit eine Ermittlungspflicht begründet ist, noch bei der Frage, ob das gefundene Ermittlungsergebnis die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts zuläßt und mithin eine Anklagepflicht besteht, an eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden.

ff) Bindung des sachbearbeitenden Staatsanwalts

an dienstrechtliche Weisungen Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen sachbearbeitenden Staatsanwalts wird jedoch unter Umständen eingeschränkt durch dienstrechtliche Weisungen seines Dienstvorgesetzen. Innerhalb der hierarchisch-monokratisch aufgebauten Behörde "Staatsanwaltschaft" kommt dem einzelnen Staatsanwalt das richterliche Privileg persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit (Art. 97 I GG) nicht zu, er unterliegt nach §§ 146, 147 GVG den Weisungen seines Vorgesetzten. Jeder einzelne Staatsanwalt einer Staatsanwaltschaft handelt als Vertreter des leitenden Beamten dieser Staatsanwaltschaft89 • Und so obliegt dann auch die Beurteilung, ob ein hinreichender Tatverdacht besteht, dem vorgesetzten Staatsanwalt selbst. Zieht er aus dem Ermittlungsergebnis in tatsächlicher Hinsicht andere Schlüsse als der sachbearbeitende Staatsanwalt, oder vertritt er in einer Rechtsfrage eine andere Auffassung, steht ihm ein Weisungsrecht zur Seite, welches den sachbearbeitenden Staatsanwalt zwingt, seine eigene Überzeugung aufzugeben, soweit sich die Beurteilung des Vorgesetzten jedenfalls in den Grenzen der Vertretbarkeit hält90 • Im Hinblick auf die dienstrechtliche Weisungs verpflichtung kann demzufolge der sachbearbeitende Staatsanwalt auch angewiesen werden, entgegen seiner eigenen rechtlichen respektive tatsächlichen Überzeugung einen Anfangsverdacht im Sinne von § 152 11 StPO zu bejahen. Die Weisungsverpflichtetheit zwingt ihn in einem solchen Falle zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.

88 BVerfG (VorpTÜfungsausschuß), NJW 1984, S. 1452; BGH, NStZ 1988, S. 510; Heidelberger K.-Krehl, § 152 Rn. 10. Entsprechendes gilt für die Anklagepflicht nach § 170 StPO. 89 Geppert, Jura 1982, S. 146. Zum Weisungsrecht vgl. im einzelnen unten "Teil 3.D.m.6.". 90 Fezer; Strafprozeßrecht, S. 20; Sarstedt, NJW 1964, S. 1753; vgl. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 307 f.

A. Das Legalitätsprinzip in der Rechtswirklichkeit der BRD

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gg) "soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist" Die staatsanwaltschaftliche Verpflichtung zum Einschreiten steht gemäß § 15211 StPO unter dem Vorbehalt, daß "nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist". Diese Öffnungsklausel ist Einfallstor für einfachgesetzlich kodifizierte Ausnahmen vom Grundsatz der Legalität. Bevor ein Überblick über gesetzliche und faktische Einschränkungen des Legalitätsprinzips gegeben werden soll, ist zunächst der Adressatenkreis derjenigen zu komplettieren, die auf das Legalitätsprinzip verpflichtet sind, da die im Anschluß zur Vorstellung gebrachten Beschränkungen und Ausnahmen vom Grundsatz der Legalität - wie das Prinzip selbst - nicht allein die Staatsanwaltschaft betreffen. Dem wiederum voranzustellen ist eine kurze Betrachtung der Rechtsfolgen staatsanwaltschaftlicher Legalitätsverpflichtung.

d) Die Rechts/olge des § 152 Il StPO Gegenstand der Handlungspjlicht und Adressaten des Verj"olgungszwangs

Mit der Normierung der Voraussetzungen für eine Einschreitenspflicht gibt die Strafprozeßordnung zwar einen Tätigkeitsanstoß für die Strafverfolgungsbehörden, läßt aber zugleich, von minimalen Ausnahmen abgesehen, das Vorverfahren intern ungeregelt91 . Dazu heißt es bei Bohnert92 : "Die Reihenfolge der Beweisermittlung, deren Form und aktenmäßige Fixierung, die Tiefe der Ermittlungen sowie vor allem der eigentliche Erkenntnisgewinnungsverlauf auf Grund der beschafften Erkenntnismittel sind, obschon sie das Legalitätsprinzip ausfüttern, unterhalb der Generalklausei zum Tätigwerden ungeregelt und offen geblieben." Die Legalitätsbindung schreibe zwar vor, "daß und was festgestellt werden muß: die sämtlichen Bedingungen der Strafbarkeit'.93. Über das "wie" indes, die Auswahl der Ermittlungsmaßnahmen, deren Reihenfolge und Intensität innerhalb der Untersuchung, schweige sie sich aus. Insoweit eröffne das Gesetz "lediglich die Möglichkeiten und deren Grenzen, legt aber keinen Algorithmus fest, weil es ihn nicht geben kann,,94.

Bezweifelt wird bereits, ob die staatsanwaltschaftliche Verpflichtung, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 15211 StPO "einzuschreiten", auch unmittelbar zur Einleitung eines formellen Ermittlungsverfahrens verpflichtet, oder ob nicht vielmehr ,,Einschreiten" auch als bloße Sachverhaltserforschung im Vorfeld eines formellen Ermittlungsverfahrens verstanden werden kann95 . So könnten der unmittel91

92 93 94

Bohnert, Bohnert, Bohnert, Bohnert,

Abschlußentscheidung, Abschlußentscheidung, Abschlußentscheidung, Abschlußentscheidung,

S. 86 f. ffi. w. N. S. 87. S. 114. S. 114 f. ffi. w. N.

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

baren Einleitung eines formellen Ermittlungsverfahrens im Einzelfall Gründe der Verfahrens- und Kriminaltaktik entgegenstehen, die jedoch gleichsam dann zu vernachlässigen wären, wenn für den Fall des Unterlassens unverzüglicher Ermittlungsmaßnahmen die Gefahr eines Beweisverlustes bestünde (§ 16011 StPO)96. Uneinigkeit herrscht auch darüber, ob das Legalitätsprinzip automatisch zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen jedermann verpflichtet, bei dem dieselbe Verdachtslage besteht97 . Nach Auffassung des Bundesverjassungsgerichts98 ist die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf das Legalitätsprinzip gehalten, das Ermittlungsverfahren ohne Verzug auf alle im Sinne des § 152 11 StPO gleichermaßen Verdächtige zu erstrecken. Gleichwohl kann nach Ansicht des Gerichts der Verfolgte weder aus dem Gleichheitssatz noch aus Art. 2 GG verlangen, daß die Staatsanwaltschaft auch gegen andere vorgeht bzw. Ermittlungen gegen die eigene Person unterläßt, solange nicht alle gleichermaßen Verdächtige mit Ermittlungen überzogen werden. Die Gegenansicht führt demgegenüber an, daß bereits ein allgemeiner Rechtssatz, wonach ein gesondertes staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren unverzüglich gegen alle gleichermaßen Verdächtige einzuleiten sei, der Strafprozeßordnung nicht entnommen werden könne99 . Vielmehr müsse auch bei dieser Fragestellung allein maßgebend sein, ob der Beweissicherungspflicht im Sinne von § 160 StPO durch das bisherige Strafverfolgungshandeln genügt wurde 1OO • 2. Polizei und Legalität

Neben der Staatsanwaltschaft gibt es - wie eingangs angedeutet - weitere Adressaten der staatlichen Verfolgungsmaxime. Die Bindung der strafverfolgenden Polizei an das Legalitätsprinzip folgt dabei aus § 163 I StPO, wonach "die Behörden und Beamten des Polizeidienstes ... Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen haben, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten"IOI. Teilweise wird daneben § 161 StPO als strafprozessuale Verankerung polizeilicher Legalitätsverpflichtung mitgenannt 102 . 95 Kuhlmann, NStZ 1983, S. 131, wonach eine derartige Verpflichtung jedenfalls nicht aus der § 15211 StPO insoweit konkretisierenden Vorschrift des § 160 StPO hergeleitet werden könne. 96 Kuhlmann, NStZ 1983, S. 131. Der Einleitung eines gesonderten Ermittlungsverfahrens bedürfe es derweil nicht, wenn dieselben Beweise in einem anderen Verfahren, welches denselben geschichtlichen Vorgang zum Gegenstand habe, gesichert werden könnten. 97 So das Bundesverfassungsgericht (VorpTÜfungsausschuß), Beschluß v. 23. 7. 1982, NStZ 1982, S. 430. A.A. Kuhlmann, NStZ 1983, S. 130 f. 98 BVerfG (VorpTÜfungsausschuß), NStZ 1982, S. 430. 99 Kuhlmann, NStZ 1983, S. 130. 100 Kuhlmann, NStZ 1983, S. 131. 101 Döhring, S. 181 m. w. N.; Geppert, Jura 1982, S. 140 f. m. w. N.; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 131. Dabei gilt § 163 StPO nur, sofern die Polizei als Funktionsträger repres-

A. Das Legalitätsprinzip in der Rechtswirklichkeit der BRD

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Daran, daß auch für die Polizei keine Verpflichtung zur Dunkelfeldforschung besteht, ändert auch der insoweit mißverständliche Wortlaut von § 163 I StPO mit seiner uneingeschränkten Aufforderung "Straftaten zu erforschen" nichts lO3 • Zwar läßt - im Gegensatz zu § 15211 StPO, der den Beginn der Verfolgungspflicht auf den Zeitpunkt des Vorliegens "zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte" festlegt - die Auslegung des § 163 I StPO zunächst zu, die Ennittlungspflicht der Polizei bereits vor Kenntnisnahme vom Verdacht einer Straftat entstehen zu lassen. Allerdings fungieren die Behörden und Beamten des Polizeidienstes im Rahmen des Ermittlungsverfahrens lediglich als "verlängerter Ann der Staatsanwaltschaft" 104. Die Einräumung solch weitreichender Befugnisse hätte demzufolge beim Leitungsorgan anzusetzen lO5 • Um eine polizeiliche Ennittlungspflicht auszulösen, bedarf es daher mindestens eines geringen Anlasses, durch den der Verdacht vom Vorliegen einer Straftat begründet wird. Ist man sich noch weitestgehend lO6 darüber einig, daß die Polizei - ebenso wie die Staatsanwaltschaft - keine Verpflichtung zur Dunkelfeldforschung trifft, gehen die AuffassTätigkeitspflicht aus § 163 StPO ein weiteres Mal auseinander 107. Die vorhandenen Differenzen rühren wohl nicht zuletzt daher, daß das Gesetz Verhältnis und Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gerichten nur unzureichend geregelt hat. Wo Regelungen bestehen, kommt es teilweise zu Überschneidungen der Kompetenzen. Ist die Zuständigkeit der Polizei beim sog. "ersten Zugriff' noch unbestritten, ergeben sich die ersten Unklarheiten im Zusammenhang mit § 16311 S. 1 StPO, wonach die Polizei die Ergebnisse ihrer Ennittlungen unverzüglich an die Staatsanwaltschaft zu übersenden hat. Erblickt man in diesem Akt zutreffenderweise das Ende der polizeilichen Legalitätspflicht, schließt sich zwangsläufig die Frage an, wann genau ein Ende des polizeilichen Ennittlungsrechts zur Aktenüberlassung an die Staatsanwaltschaft verpflichtet. Des weiteren ist fraglich, ob die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 161 StPO übernehmen darf, bevor die Polizei ihre Verhandlungen nach § 163 11 S. 1 StPO weiterleiten mußte. Dies hätte schließlich zur Folge, daß bereits in diesem frühen Stadium des Verfahrens sowohl das eigene Ennittlungsrecht als auch die Legalitätsverpflichtung der Polizei entfallen würde lO8 • siver Strafverfolgung und nicht zwecks präventiver Gefahrenabwehr tätig wird. Im Bereich ausschließlich präventiver polizeilicher Gefahrenabwehr gilt Polizeirecht, nicht aber das Normengefüge der StPO; vgl. Geppert, Jura 1982, S. 140. 102 Geppert, Jura 1982, S. 140. 103 Döhring, S. 185 f. m. w. N.; SK-Weßlau, § 152 Rn. 21; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 88; Weigend, ZStW 109 (1997), S. 103 Fn. 1 m. w. N. 104 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 88 m. w. N. 105 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 88. Zur fehlenden Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, etwaige Dunkelfelder aufzuhellen, vgl. bereits oben "Teil 2.A.l.l.b)" bzw. "Teil 2.A.I.l.c)dd)(1)". 106 A.A. ist beispielsweise Zipfin FS Peters, S. 489. 107 Vgl. dazu ausführlich Döhring, S. 187 ff.

104

2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs polizeilicher Legalitätsbindung muß an dieser Stelle eine eingehendere Erörterung unterbleiben, da die vorliegende Bearbeitung in erster Linie mit der opportunitätsgeleiteten Verfahrensbeendigung im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft bzw. im Hauptverfahren durch das Gericht befaßt sein wird. Nur soviel: Die Polizei ist in weit größerem Maße der Verfolgungspflicht unterworfen als der Staatsanwalt. Ihre legalitätsbedingte Ermittlungspflicht gilt nahezu absolut 109 . Die Polizei ist über § 152 GVG strikt an das Legalitätsprinzip gebunden; eine Kompetenz zu opportunitätsgeleitetem Handeln ist für sie nicht vorgesehen. Der in § 163 StPO niedergelegte Ermittlungsauftrag ist unbedingt, so daß die Polizei insbesondere nicht unter den Gesichtspunkten der opportunen §§ 376, 153 ff. StPO von der Ermittlung strafbarer Handlungen absehen kann Jlo .

3. Gerichtliche Verfolgungspfficht

Ob das Legalitätsprinzip auch für die Gerichte gelte, sei - so Rieß IIl - im wesentlichen eine terminologische Frage. Wenngleich die Norm des § 15211 StPOmit Ausnahme der Fälle des § 165 StPO ll2 - auf die richterliche Tätigkeit nicht unmittelbar angewendet werden könne, lasse sich doch zumindest die der Vorschrift zugrundeliegende rechtspolitische Entscheidung, namentlich, daß der Verdacht einer Straftat aufzuklären und im Falle des Nachweises eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen sei, auch auf die gerichtliche Entscheidungspflicht übertragen. Diese eng mit der Amtsaufklärungspflicht des § 244 11 StPO zusammenhängende Verpflichtung könne daher auch als "Legalitätsprinzip im weiteren Sinne,,1l3 bezeichnet werden. Daneben wird insbesondere auch § 155 11 StPO als Ausdruck einer strafprozessualen Verpflichtung der Gerichte zu legalitätsgeleitetem Handeln verstanden: "Was die §§ 15211, 160, 161 und 163 für StA und Polizei sind, ist § 155 11 für den Richter,,1l4. § 155 11 StPO verpflichte das Gericht zur Fortführung eines Verfahrens, das ein anderer "Rollenträger" staatlicher Strafverfolgung in Gang gebracht habe l15 . In diesem Zusammenhang wird insbesondere mit einem argumentum e contrario aus der Anwesenheit von Ausnahmevorschriften auf die Geltung des Grundsatzes riickgeschlossen: Sehe das Gesetz für einen staatlichen Funktionsträger diverse, die Legalität einschränkende NichtverfolZu alledem ausführlich Döhring, S. 188 f. Fezer; Strafprozeßrecht, S. 23 f. m. w. N.; Gössel, FS Dünnebier, S. 133; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 17,41 ff. 1 \0 V gl. Gössel, FS Dünnebier, S. 133; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 17 f. 111 LR-Rieß, § 152 Rn. 16. 112 Geppert, Jura 1982, S. 141; LR-Rieß, § 152 Rn. 16. lI3 LR-Rieß, § 152 Rn. 16 m. w. N.; vgl. auch Gössel, FS Dünnebier, S. 133. 114 Geppert, Jura 1982, S. 141; Gössel, FS Dünnebier, S. 133. 115 Geppert, Jura 1982, S. 141. \08

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B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

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gungsennächtigungen vor, müsse der Inhaber dieser Kompetenzen im Grundsatz einem entsprechenden Handlungszwang unterliegen 116. Durch die verschiedenen gerichtlichen Opportunitätsennächtigungen - insbesondere die der §§ 153, 153 c, 154, 154 a StPO, wonach ausdriicklich eine Einstellung in ,jeder Lage des Verfahrens" vorgesehen sei - werde daher nicht nur der zeitliche Geltungsbereich von Legalität abgesteckt, sondern auch die grundsätzliche richterliche Legalitätsbindung untennauert 117.

11. Ergebnis Die vorangegangene Untersuchung hat eine grundsätzliche Legalitätsverpflichtung der Staatsanwaltschaft aus § 15211 StPO und der Gerichte aus § 15511 StPO bzw. § 244 11 StPO ergeben. Für die Polizei konnte im Hinblick auf die §§ 163 I, 161 StPO eine strenge Bindung an das Legalitätsprinzip festgestellt werden.

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug Die gegenwärtig weite Verbreitung des Opportunitätsgedankens in Form gesetzlicher und faktischer Einschränkungen der rechtsstaatlichen Verfolgungspflicht Als der Gesetzgeber des Jahres 1877 in der damaligen Reichsstrafprozeßordnung das strafverfahrensrechtliche Legalitätsprinzip festschrieb, schuf er zugleich in § 152 11 eine Einbruchstelle für Ausnahmen von der staatlichen Verfolgungspflicht. Die alle Funktionsträger erfassende Pflicht zum Einschreiten besteht demnach nur, "soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist". Mit großem Eifer machte man sich in der Folgezeit daran, aufgrund eines im Vordringen befindlichen Opportunitätsdenkens die mit besten Absichten etablierte Grundmaxime der Legalität durch immer neue Einschränkungen und Ausnahmen mehr und mehr aus ihrer anfangs nahezu unangefochtenen Stellung zu verdrängen l18 . Im nachfolgenden Abschnitt soll zunächst ein Überblick über gesetzlich normierte Einschränkungen der Legalität gegeben werden, woran sich eine Übersicht über weitere, faktische Beschränkungen des Legalitätsprinzips anschließt.

I. Gesetzlich normierte Einschränkungen der Legalität Zunächst einmal wird das Legalitätsprinzip durch Legalverhalten anderer Art limitiert. Der Gesetzgeber hat die Öffnungsklausel in § 152 11 StPO dazu benutzt, 116 117

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Döhring, S. 197. Döhring, S. 197 f. Dazu bereits oben "Teill.A.I1.4.".

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

im Laufe der Zeit zahlreiche Ausnahmen und Beschränkungen der Legalität zu nonnieren. Damit sind die verschiedenen opportunitätsgeprägten Einschränkungen des Legalitätsgrundsatzes angesprochen, die sich de lege lata vornehmlich in den §§ 153 bis 154 e StPO, den §§ 374 ff. StPO sowie in den §§ 45, 47 JGG und §§ 31 a, 37 BtMG finden. Ganz im Zeichen des Opportunitätsgedankens stehen des weiteren sämtliche Kronzeugenregelungen sowie ferner das gesamte Ordnungswidrigkeitenrecht. Weiterhin wird zu untersuchen sein, inwieweit der in den §§ 228, 904 BGB, § 34 StGB enthaltene Notstandsgedanke als allgemeiner Rechtsgrundsatz geeignet ist, Legalität zu beschränken.

1. Das Ordnungswidrigkeitenrecht als ein Beispiel

uneingeschränkter Opportunität

Im Ordungswidrigkeitenrecht liegt die Verfolgung nach § 47 I OWiG grundsätzlich im "pflichtgemäßen Ermessen" der Verfolgungs behörde. Die Verfolgungsbehörde kann das Verfahren, solange es bei ihr anhängig ist, jederzeit einstellen (§ 47 I S. 2 OWiG). Da die Einstellung des Verfahrens nicht an die Erfüllung bestimmter Merkmale, sondern allein an das pflichtgemäße Ermessen der einstellenden Behörde gebunden ist, wird der Entscheidungsspielraum des Rechtsanwenders im Rahmen von § 47 OWiG oft auch als "Opportunitätsprinzip im weiteren Sinne,,1l9 bezeichnet. Das Ordnungswidrigkeitenrecht hat den Opportunitätsgedanken völlig in den Vordergrund gestellt und die Legalitätsbindung prinzipiell verdrängt. Das Opportunitätsprinzip bestimmt das "ob" einer Verfolgung ebenso wie die Frage des "in welchem Umfang" und "mit welchen Mitteln" bzw. "mit welchem Aufklärungsaufwand" I 20. Dieses Prinzip gilt für die Verwaltungsbehörde nach § 47 I OWiG und für das Gericht gemäß § 47 TI OWiG.

2. Kronzeugenregelungen als Opportunitätsentscheidung "reinsten Wassers,,121

Das Kronzeugengesetz aus dem Jahre 1989 legalisiert in seiner zentralen Vorschrift des Art. 4 eine sog. Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten 122. 119 Eckl, ZRP 1973, S. 140; vgl. auch Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 25; LRRieß, § 152 Rn. 47; Pott, S. 34. Zwar habe - so Rieß a. a. O. - das Opportunitätsprinzip in § 47 OWiG heute dogmatisch und systematisch mit dem Legalitätsprinzip im Strafverfahren und seinen Begrenzungen nichts mehr zu tun, dennoch gehöre es entwicklungsgeschichtlich in diesen Zusammenhang. Zu der hier angesprochenen Verbindung zahlreicher Ordnungswidrigkeiten der lex lata mit früheren Übertretungstatbeständen vgl. unten "Teil 3.c.m.1. ... 120 Geppert, Jura 1986, S. 312; vgl. auch Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 134 m. w. N. 121 Hassemer; FS StA Schleswig-Holstein, S. 537. 122 Dazu im einzelnen unten "Teil3.G....

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

107

Hiernach konnte auch im Falle der Begehung schwerster Straftaten aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen, namentlich zur Aufklärung von begangenen und zur Verhinderung von weiteren Straftaten, Strafe gemildert bzw. ganz von Strafe abgesehen werden. Wie bei sämtlichen Kronzeugenregelungen wurde auch in diesem Fall die Verwirklichung materiellen Strafrechts zugunsten opportuner kriminalistischer Interessen gehemmt. Eine weitere, ,,kleine" Kronzeugenregelung findet sich gegenwärtig in § 31 BtMG 123 . "Klein" deswegen, weil das in dieser Vorschrift nonnierte Institut des "Aufklärungsgehilfen" zunächst nicht dem Bild eines "klassischen" Kronzeugen, wie er aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis bekannt ist, entspricht 124 • Dennoch wird - insoweit charakteristisch für eine Kronzeugenregelung - auch in dieser Vorschrift formell die Gewährung von Strafmilderung oder Strafverzicht gezielt mit der Hilfe bei der Überführung von Mittätern verknüpft 125 . Dieser Zweckmäßigkeitsgedanke qualifiziert § 31 BtMG dann auch als eine kodifizierte Beschränkung der Legalität zugunsten von Opportunität.

3. Der Opportunitätsgedanke im JGG und BtMG

Eine verhältnismäßig weitgespannte Nichtverfolgungsermächtigung enthält für Jugendliche und Heranwachsende - soweit auf letztere Jugendstrafrecht anzuwenden ist 126 - die Vorschrift des § 45 JGG, die mancher Autor als ein "Bekenntnis zum Opportunitätsprinzip" ansieht 127 , wohingegen andere der Aussage: "im Jugendstrafrecht gilt das Opportunitätsprinzip" jedenfalls die uneingeschränkte Zustimmung verweigern 128 • Über die staatsanwaltschaftliche Ermächtigung in § 45 JGG hinaus kann das Verfahren auch nach Erhebung der öffentlichen Klage durch das Gericht nach § 47 JGG eingestellt werden, sofern im Erwachsenenstrafrecht eine Einstellung nach § 153 StPO erfolgen könnte oder ein Urteil aus anderen, im einzelnen in § 47 JGG aufgeführten Gründen entbehrlich erscheint. Der das materielle Jugendstrafrecht beherrschende Subsidiaritätsgedanke 129 führt hier - gleiches gilt für § 45 JGG - in seiner prozessualen Entsprechung zu einer MögDazu im einzelnen unten "TeiI3.G." sowie "TeiI5.E.". Weigend, FS Jescheck 11, S. 1335. Für den ,,klassischen" Kronzeugen sei vielmehr charakteristisch, daß er als Zeuge der Anklage öffentlich vor Gericht gegen seine Komplizen aussage. 125 Weigend, FS Jescheck 11, S. 1335. 126 Vgl. § 105 JGG. 127 Geppert, Jura 1982, S. 145. 128 LR-Rieß, § 152 Rn. 47 mit Nachweis für die Gegenansicht in Fn. 116. Differenzierend insoweit Kapahnke (in: Opportunität und Legalität, S. 25), der von einer Geltung des Opportunitätsprinzips in § 45 11 JGG sowie (lediglich) von einer Abschwächung des Legalitätsprinzips durch § 45 I JGG ausgeht. 129 Vgl. §§ 5 11, 13 I, 17 11 JGG. 123

124

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

lichkeitfür den Rechtsanwender, ein Verfahren aus Opportunitätsgründen einzustellen 130. Ebenfalls in der Tradition opportuner Entscheidungsmöglichkeiten steht § 31 a BtMG, wonach die Staatsanwaltschaft bei Verstößen gegen § 29 I, 11 und IV BtMG von der Verfolgung absehen kann, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und die Betäubungsmittel nur zum Eigenverbrauch bestimmt sind. Die Gesetzesmaterialien weisen § 31 a BtMG als Spezialvorschrift zu § 153 StPO aus, der die Anwendbarkeit der §§ 153 ff. StPO im übrigen aber nicht berührt 131 • Eine in der Struktur dem § 153 a StPO verwandte Einstellungsmöglichkeit für betäubungsmittelabhängige Täter enthält § 37 BtMG, der im Gegensatz zu § 31 a BtMG nicht nur für Verstöße gegen das Betäubungsmittelrecht eine (vorläufige) Einstellungsmöglichkeit vorsieht, sondern in seiner Reichweite potentiell alle Taten erfaßt, die im Zusammenhang mit der Betäubungsmittelabhängigkeit des Täters stehen und maximal einer Straferwartung von zwei Jahren Freiheitsstrafe unterliegen 132.

4. Opportunität im Strafverfahren Ein Überblick über die opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschriften der StPO

Schauplatz des Konflikts zwischen Legalität und Opportunität ist in aller Regel weniger das materielle Recht selbst, als vielmehr seine "Verlängerung ... in die Wirklichkeit" 133: das Strafverfahren. Hier stoßen die fonnellen Programme des materiellen Strafrechts bei ihrer Verwirklichung auf infonnelle Programme der Strafprozeßordnung und treten zueinander in Konkurrenz 134 • Dabei hat das Strafverfahrensrecht den Opportunitätsgedanken weitgehend verinnerlicht, um im dynamischen Prozeß des Verfahrens flexibel agieren zu können. Ein fonnelles Programm, wie es das materielle Strafrecht vorsieht, erscheint dagegen weitaus weniger geeignet, den konkreten Handlungsbedingungen im Verfahren in ausreichendem Maße gerecht zu werden 135 • Im Strafverfahrensrecht spielt der Opportunitätsgedanke insbesondere bei den Privatklagedelikten der §§ 374, 376 StPO sowie den Einstellungsvorschriften der §§ 153 ff. StPO eine Rolle. Zudem finden sich Ausnahmen von der VerfolgungsGeppert, Jura 1986, S. 312. BT-Drs. 104/91, S. 7 f. Dazu im einzelnen unten "Teil 3.F.". Auch die §§ 154 ff. StPO werden vom Anwendungsbereich des § 31a BtMG nicht berührt; vgl. Aulinger, S. 58 m.w.N. 132 Vgl. Döhring, S. 154 ff.; LR-Rieß, § 152 Rn. 47. 133 Hassemer, FS StA Schieswig-Hoistein, S. 533. 134 Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 533. 135 Hassemer, FS StA Schieswig-Hoistein, S. 533. 130

131

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

109

pflicht im Sicherungsverfahren nach den §§ 413 ff. und im objektiven Verfahren nach § 440 StPO.

a) Zu den Einstellungsermächtigungen der §§ 153 ff. StPO im einzelnen Die §§ 153, 153 a StPO beinhalten als Ausprägung des Opportunitätsgedankens eine Begrenzung des Legalitätsprinzips136 und stellen dogmatisch eine Ausnahme zum staatlichen Strafverfolgungszwang im Sinne von § 152 11 StPO dar l37 • Die Besonderheit des § 153 a StPO besteht darin, daß er - in Abgrenzung zu § 153 StPO - auch solche Taten erfaßt, an deren Verfolgung durchaus ein öffentliches Interesse besteht, bei denen jedoch die weitere Strafverfolgung inklusive einer etwaigen Bestrafung verzichtbar erscheint, solange nur gewisse Auflagen und Weisungen erfüllt werden und das durch die Tat entstandene Strafverfolgungsinteresse auf diese Weise kompensiert wird. Einen besonderen Stellenwert erhalten beide Vorschriften bei der Zuriickweisung des Legalitätsprinzips, da sie in ihrem Anwendungsbereich nicht auf spezifische Konstellationen beschränkt, sondern .vielmehr so allgemein gehalten sind, daß die Verfolgung von Vergehen dem Legalitätsprinzip in weitem Umfange entzogen wird. §§ 153, 153 a geben einen Großteil des Vergehensbereichs für Opportunitätsentscheidungen frei. Nach § 153 b StPO kann die Staatsanwaltschaft von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen, wenn die Voraussetzungen vorliegen, unter denen das Gericht von Strafe absehen könnte, und das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht seine Zustimmung erteilt. Dabei setzt § 153 b StPO die Vornahme einer materiellrechtlichen Wertung voraus, wobei wesentliche Entscheidungsgrundlage das Nachtatverhalten des Beschuldigten ist, dem im günstigen Fall eine "goldene Briicke" gebaut werden SOll138. Die opportune Einstellungsmöglichkeit des § 153 b StPO verzichtet im Gegensatz zum ähnlichen Institut des Absehens von Strafe in § 60 StGB auf einen förmlichen Schuldspruch und ist im Ermittlungsverfahren gemäß Absatz 1 in das Ermessen der Staatsanwaltschaft, danach gemäß Absatz 2 in das des Gerichts gestellt. § 153 b StPO ist bei alledem eine weitere opportunitätsgeprägte Ausnahme vom Grundsatz der Legalität 139.

c

§ 153 StPO, eingefügt durch Art. 11 Abs. 2 der Verordnung über den Ge1tungsbereich des Strafrechts vom 6.5. 1940 140, enthält eine Reihe von EinstellungsmögHeidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 1. Waller, DRiZ 1986, S. 49. Da die §§ 153, 153a StPO innerhalb dieser Bearbeitung noch eine zentrale Rolle spielen werden (dazu unten "Teil 3.B.", "Teil 3.C.", "Teil 3.D." sowie "Teil 5.B.", "Teil 5.C."), soll an dieser Stelle eine dezidierte Auseinandersetzung mit diesem Normenpaar noch unterbleiben. 138 Müller/Wache, FS Rebmann, S. 333 f. 139 Zur praktischen Verdrängung der Rechtsfigur des Absehens von Strafe (§ 60 StGB) durch § 153b StPO vgl. unten "Teil3.E.". 140 RGBl. 1940 I, S. 755. 136 137

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

lichkeiten unterschiedlichster Art, denen lediglich gemeinsam ist, daß die von ihnen erfaßten Fälle in irgendeiner Weise Auslandsberührung aufweisen und daß damit die Souveränität fremder Staaten bei der Strafverfolgung mitzuberücksichtigen ist l41 . § 153 c I Zijf. 1 StPO trägt dabei dem Umstand Rechnung, "daß sich durch die Unterschiedlichkeit der tangierten Rechtsordnungen unter Umständen Konfliktsituationen ergeben können, wobei dem im Ausland handelnden Täter die Einhaltung unserer Rechtsordnung, die ihm andererseits keinen Schutz bieten kann, nicht mit derselben Strenge abverlangt werden kann wie den Personen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten,,142. § 153 c I Zijf. 2 StPO liegt wiederum die Überlegung zugrunde, daß ein Schiff (bzw. Luftfahrzeug) mit Besatzung und Reisenden eine eigene Einheit bildet, die unter der Verantwortung des jeweiligen Flaggenstaates steht, so daß zur Verfolgung einer an Bord begangenen Straftat auch primär der Flaggenstaat berufen ist l43 . § 153 c I Zijf. 3 StPO hingegen betrifft das Problem des ne bis in idem: Da ausländische Urteile im allgemeinen keinen Strafklageverbrauch bewirken, wäre ohne die staatsanwaltschaftliche Ermächtigung zur Nichtverfolgung in § 153 c I Ziff. 3 StPO grundsätzlich eine erneute Strafverfolgung im Geltungsbereich der deutschen Strafprozeßordnung möglich. § 153 c 11 StPO beinhaltet schließlich die Regelung einer Kollision mehrerer staatlicher Einzelinteressen durch sog. ,,Distanztaten", bei denen der Täter im Geltungsbereich einer anderen Rechtsordnung gehandelt hat, der Erfolg aber in der Bundesrepublik Deutschland eingetreten ist. Es handelt sich dabei um eine überstrafrechtliche Interessenabwägung, die gewissen Belangen der staatlichen Ordnung den Vorrang vor kriminalpolitischen Zielsetzungen einräumt l44 . Im Rahmen des § 153 c III StPO fällt auf, daß die Einstellungsbefugnis der Staatsanwaltschaft in Durchbrechung des Immutabilitätsgrundsatzes (§ 156 StPO) auch nach Klageerhebung fortbesteht. Ihre Erklärung findet die ungewöhnliche Verantwortungsverteilung nach Bloy145 in dem "politischen Charakter der Einstellungsentscheidung". Nicht der Dritten Gewalt, sondern der Exekutive komme es zu, politische Opportunitätserwägungen anzustellen. § 153 d StPO erweitert den Anwendungsbereich der Verfahrenseinstellung aus politischen Gründen über die in § 153 c StPO getroffenen Regelungen hinaus. Der Unterschied zwischen beiden Vorschriften besteht lediglich darin, daß es sich im Rahmen von § 153 d StPO auch um im Inland begangene Straftaten handeln kann l46. Wie bereits zuvor in § 153 c 11 StPO erkennt die Rechtsordnung auch in dieser Vorschrift die Möglichkeit an, daß die Belange "hochgradige(r) Gemeinschaftswerte" einer Verfolgungspflicht im Einzelfall entgegenstehen können: Bei141 142 143 144

145

146

Bloy, Bloy, Bloy, Bloy, Bloy, Bloy,

GA GA GA GA GA GA

1980, S. 1980, S. 1980, S. 1980, S. 1980, S. 1980, S.

177. 177 m. w. N. 177 m. w. N. 178. 179; vgl. dazu auch Faller. FG Maunz, S. 85. 179; Müller/Wache, FS Rebmann, S. 339.

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

111

de Vorschriften sind insoweit Ausprägungen des Interessenabwägungsprinzips l47. In diesem Zusammenhang wird die herausgehobene Bedeutung von Opportunitätserwägungen in Verfahren wegen Straftaten gegen die äußere Sicherheit vor allem auf eine Besonderheit des Staats schutz-Strafrechts zurückgeführt, die darin bestehe, daß dessen zentrale Norm - der Spionagetatbestand des § 99 StGB - derart weit gefaßt sei, daß seine prozessuale Begrenzung praktisch zur Notwendigkeit gerate l48 • Eine weitreichende Strafverfolgung auch jeder noch so geringfügigen geheimdienstlichen Agententätigkeit behindere das Ziel effektiven Staatsschutzes 149. Ein gewisser Handlungsspielraum eröffne dagegen den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit, zum einen wichtige Erkenntnisse durch Überläufer fremder Nachrichtendienste zu erlangen, zum anderen Mitarbeiter fremder Dienste, derer man im eigenen Land habhaft geworden sei, gegen im Ausland inhaftierte eigene Agenten auszutauschen 150. Zudem müsse es zum Zwecke der Abwendung außenpolitischen Schadens möglich sein, hochgestellten Repräsentanten fremder Staaten, die nicht bereits nach § 20 GVG von der deutschen Gerichtsbarkeit freigestellt seien, die Verfolgung durch deutsche Strafverfolgungsbehörden zu ersparen 151. § 153 e StPO steht am Ende der Einstellungsnormen, die speziell Staatschutzdelikte betreffen. Im Unterschied zu den §§ 153 c 11, III, 153 d StPO betrifft die Normintention des § 153 e StPO nicht die Kollision mehrerer staatlicher Einzelinteressen, sondern die Figur der "tätigen Reue", die bereits das Strafbedürfnis zum Erlöschen bringt l52 • § 154 StPO wurde im Jahre 1924 im Zuge der sog. Emminger-Reform l53 in die Strafprozeßordnung eingefügt und hat seine Grundkonzeption seither beibehalten. Die heutige Fassung erhielt § 154 I StPO durch Art. 1 Nr. 11 des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1979 (StVÄG) vom 5. 10. 1978 154 • Ratio legis bei § 154 StPO ist die Verfahrensbeschleunigung zum Zwecke einer ,,Entlastung der Justiz,,155, die mittels einer "Konzentration des Verfahrensstoffes" 156, genauer: im Wege eines teilweisen Verzichts auf Strafverfolgung bei mehreren Taten, zu erreichen gesucht wird l57 •

Rieß, FS Dünnebier, S. 152, 156. Müller/Wache, FS Rebmann, S. 322 f. 149 Müller/Wache, FS Rebmann, S. 323. 150 Müller/Wache, FS Rebmann, S. 324. 151 Müller/Wache, FS Rebmann, S. 324. 152 Bloy, GA 1980, S. 179. 153 § 24 der VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege v. 4. 1. 1924, RGB11924 I, S. 18 f., 338. Vgl. dazu bereits oben "Teil1.A.II.4." sowie unten "Tei13.B.II.". 154 BGBl. 1978 I, S. 1645. 155 LR-Rieß, § 154 Rn. 1. 156 LR-Rieß. § 154 Rn. 1. 147

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Dauster; NStZ 1986, S. 147 m. w. N.; Pott. S. 49 f.

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

Damit die Prozeßrationalisierung mit Hilfe des § 154 StPO jedoch nicht unbeschränkt stattfinden kann, und dem weiten Raum für Zweckmäßigkeitserwägungen insoweit ein Korrektiv gegenübergestellt ist, zielt die Konzentrationswirkung zum einen in § 154 I Nr. 2 StPO auf die Verwirklichung der dem materiellen Strafrecht zugrundeliegenden Strafzwecke der Spezial- und Generalprävention l58 , zum anderen trägt der Rechtsfolgenvergleich in Nr. 1 dem Umstand Rechnung, daß die prozeßökonomischen Erwägungen dem Unrechtsgehalt der einzelnen Taten hinreichend gerecht werden müssen. So muß bei aller gebotenen Beschränkung des Prozeßstoffes zum Zwecke der Verfahrens beschleunigung die verhängte oder zu erwartende Sanktion ausreichend sein, um erstens auf den Tater einzuwirken und zweitens die Rechtsordnung zu verteidigen 159. Die Beurteilung der Einstellungsfähigkeit einer Straftat nach § 154 I Nr. 1 StPO erfolgt dabei in zwei Schritten I 60: Zunächst wird die "Beträchtlichkeit" nach einem quantitativen Maßstab beurteilt, wobei Art und Höhe der Rechtsfolgen zu vergleichen sind l61 . In einem zweiten Schritt erfolgt die Beurteilung der Einstellungsfähigkeit nach einem qualitativen Maßstab, wobei dann in dem durch die Staatsanwaltschaft vorzunehmenden Abwägungsvorgang - in gleicher Weise wie bei § 154 I Nr. 2 StPO - sowohl die besonderen als auch die allgemeinen Strafzwecke einzustellen sind l62 . Führt der Rechtsfolgenvergleich nach § 154 I Nr. 1 StPO nicht zu einem Ausschluß der Beträchtlichkeit, so kommt unter Umständen eine Einstellung gemäß § 154 I Nr. 2 StPO in Betracht, vorausgesetzt, daß hinsichtlich der einzustellenden Tat ein Urteil in angemessener Zeit nicht zu erwarten ist und daß auch die Bezugsrechtsfolge zur Einwirkung auf den Tater und zur Verteidigung der Rechtsordnung als ausreichend erscheint l63 • § 154 a StPO wurde durch Art. 6 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung der StPO und des GVG (StPÄG) vom 19. 12. 1964 164 in die Strafprozeßordnung eingefügt. Seine heutige Fassung erhielt Absatz 1 durch Art. 1 Nr. 12 des StVÄG 1979. Auch diesem Ergebnis gesetzgeberischer Schaffenskraft werden in erster Linie prozeßökonomische Motive nachgesagt. Daneben sollte über Einstellungen nach §§ 154, 154 a StPO entsprechend dem Grundsatz minima non curat praetor die Ausscheidung unwesentlicher Nebendelikte ermöglicht werden l65 . Keller/Schmid, wistra 1984, S. 203; vgl. auch Dauster; NStZ 1986, S. 147. Keller/Schmid, wistra 1984, S. 203. 160 Vgl. Pott, S. 59. 161 Die Beträchtlichkeit stellt dabei nach überwiegender Auffassung einen unbestimmten Rechtsbegriff dar. Unabhängig davon, ob es sich bei der Beurteilung der Beträchtlichkeit nicht doch vielmehr um Ermessensausübung handelt, hat die Staatsanwaltschaft bei der vorliegenden Entscheidung zumindest einen beträchtlichen Beurteilungsspielraum; vgl. Pott, S. 59 m. w. N. Zur Unterscheidung zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen vgl. im einzelnen unten "Teil 3.B.I. ". 162 Pott, S. 59 m. w. N. 163 Pott, S. 80. 158

159

164

BGBl. 1964 I, S. 1067.

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

113

Der heutige § 154 b StPO wurde als § 154 a StPO durch das Deutsche Auslieferungsgesetz vom 23. 12. 1929 166 eingefügt und bietet der Staatsanwaltschaft eine weitere Möglichkeit, von der Verfolgung einer Straftat mit Auslandsbezug abzusehen l67 • So kann die Staatsanwaltschaft nach § 154 b I StPO von einer Anklage Abstand nehmen, wenn der Beschuldigte wegen der Tat einer ausländischen Regierung ausgeliefert bzw. abgeschoben wird (Abs. 3). Darüber hinaus kann nach § 154 b 11 StPO auch dann von der Erhebung der öffentlichen Klage abgesehen werden, wenn der Beschuldigte wegen einer anderen Tat einer ausländischen Regierung ausgeliefert wird und die Rechtsfolge, zu der die inländische Verfolgung führen kann, neben der, die im Ausland gegen ihn rechtskräftig verhängt worden ist - oder die er zu erwarten hat -, nicht ins Gewicht fallt. Gänzlich andere Erwägungen liegen derweil der Regelung des § 154 c StPO zugrunde. Um die Chancen zu erhöhen, Straftaten wie Nötigung bzw. Erpressung aufzudecken, unterstellt § 154 c StPO die Verfolgung der Tat, die als Nötigungsbzw. Erpressungsmittel dient, dem Opportunitätsprinzip l68. Die Überlegung ist folgende: Indem man dem Nötigungs- oder Erpressungsopfer einen Verfolgungsverzicht bezüglich der eigenen Straftat in Aussicht stellt, erhöht man die Bereitschaft zur Mitwirkung an der Entlarvung des Erpressungs- bzw. Nötigungstäters, der sich die Zwangslage des künftigen "Denunzianten" zunutze gemacht hat. Diesem Anliegen ist insoweit zuzustimmen, als daß in aller Regel nur deIjenige überhaupt zur Anzeige zu motivieren sein wird, dem - zumindest von staatlicher Seite - im Falle der Offenbarung von Wissen keine weiteren Repressalien drohen. Indem jedoch kriminalpolitischer Grundgedanke und Legitimation für den Verfolgungsverzicht nicht etwa die Kompensationswirkung der möglicherweise durch die Nötigung bzw. Erpressung erlittenen großen seelischen oder materiellen Belastung des Opfers, sondern vielmehr die erwünschte Motivierung des Nötigungs- bzw. Erpressungsopfers zur Mitarbeit ist, droht die Toleranzgrenze zulässiger Zweckmäßigkeitserwägungen im vorliegenden Fall überschritten zu werden l69 • 165 Pott, S. 52 f. m. w. N. Zur prozessualen Korrektur materiellen Strafrechts durch den Grundsatz minima non cu rat praetor vgl. im einzelnen unten "Teil 3.D.xm.". Unabhängig davon gilt es jedoch - wie später für § 153a StPO (vgl. dazu unten "Teil 3.D.I.2.a)bb)(1)")auch an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß dieses ursprüngliche gesetzgeberische Ziel spätestens seit der Novellierung der §§ 154, 154a StPO durch das StVÄG 1979 an Bedeutung verloren haben dürfte. Dabei hat auch im Falle der §§ 154, 154a StPO die Novellierung letztendlich nur eine längst gängige Einstellungspraxis legalisiert. So war der Anwendungsbereich der Vorschriften zu diesem Zeitpunkt bereits von der Praxis auf gleichgewichtige Taten und auch Schwerstkrirninalität ausgedehnt worden; vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 116 m. w. N.; ebenso Pott, S. 53. 166 RGBI. 1929 I, S. 239. 167 Vgl. zu § 154b StPO Bloy, GA 1980, S. 181; Dauster; NStZ 1986, S. 146; Pott, S. 148 f. 168 Bloy, GA 1980, S. 181 f. 169 Dazu Bloy, GA 1980, S. 181 f.: "Die Vorstellung, daß die Folgen einer Tat in gewissen Fällen das staatliche Strafen überflüssig machen, hat in unserer Rechtsordnung nur in §§ 60, 199,233 StGB Anerkennung gefunden."

8 Horstmann

114

2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

Die anschließende Vorschrift des § 154 d StPO intendiert einerseits ein Mißbrauchsverbot und trägt sich andererseits mit einem Vereinheitlichungsgedanken. So kann die Staatsanwaltschaft für den Fall, daß ihre Entscheidung über die Erhebung der öffentlichen Klage von der Beurteilung einer nichtstrafrechtlichen Frage abhängt, nach erfolgloser Fristsetzung zur Einleitung eines diese Frage klärenden Gerichtsverfahrens, das Strafverfahren - sofern es ein Vergehen zum Gegenstand hat - einstellen. Auf diese Weise soll zum einen einem Mißbrauch des Strafverfahrens zur (kostenlosen) Klärung außerstrafrechtlicher Fragen vorgebaut und zum anderen der Gefahr einander widersprechender Auffassungen verschiedener Gerichtszweige begegnet werden J7o. Der Vermeidung divergierender Gerichtsentscheidungen dient derweil auch § 154 e StPO, der den Katalog opportunitätsgeprägter Einstellungsermächtigungen für das Strafverfahren abschließtl?l.

b) §§ 374 ff StPO

Gemäß der §§ 376, 377 StPO gilt auch im Rahmen der Privatklage das Opportunitätsprinzip, und zwar in der Weise, daß es in das pflichtgemäße Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt ist, ob sie die strafrechtliche Verfolgung der im Katalog des § 374 StPO aufgeführten Delikte selbst betreibt (§ 376 StPO) oder ob sie das vom Verletzten im Wege der Privatklage eingeleitete Verfahren übernimmt (§ 377 StPO)I72. Des weiteren kann in Fällen der Privatklage nach § 383 11 StPO das Gericht bei nur geringer Schuld des Taters das Verfahren einstellen.

c) Das Sicherungsverfahren (§§ 413 ff) und das objektive Verfahren (§ 440)

Aus Vollständigkeitsgriinden ist darauf hinzuweisen, daß weitere Ausnahmen von der staatlichen Strafverfolgungspflicht im Sicherungsverfahren der §§ 413 ff. StPO sowie im objektiven Verfahren nach § 440 StPO begriindet sind 173 •

5. Der Notstandsgedanke aus §§ 228, 904 BGB, § 34 StGB als allgemeiner Rechtsgrundsatz zur Legitimierung von Opportunitätsentscheidungen

Ob im Grunde gebotene Strafverfolgungsmaßnahmen im Einzelfall auch außerhalb der speziell gesetzlich geregelten Fälle aus Opportunitätserwägungen unterbleiben dürfen, wird insbesondere unter dem Aspekt der Geltung eines allgemeiBloy, GA 1980, S. 182 m. w. N. Bloy, GA 1980, S. 182 m. w. N. 172 Geppert, Jura 1986, S. 313; vgl. auch Gössel, FS Dünnebier, S. 132; ebenso Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 24; LR-Rieß, § 152 Rn. 46; Pott. S. 38. 170 171

173

LR-Rieß. § 152 Rn. 46.

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

115

nen Notstandsgedankens im Hinblick auf die §§ 228, 904 BGB, § 34 StGB diskutiert 174. Um der generellen Verpflichtung des Staates zur Durchsetzung des Sanktionsanspruchs der Rechtsgemeinschaft eine weitere Reduktionsmöglichkeit an die Seite zu stellen, wird als Rechtsgrundlage der allgemeine Notstandsgedanke angedient, "der in der Form eines Interessenabwägungsprinzips als allgemeiner Rechtsgrundsatz unserer Rechtsordnung zugrundeliegt und als rechtfertigender Notstand in den §§ 228, 904 BGB, 34 StGB eine partielle gesetzliche Anerkennung gefunden hat,,175. Als allgemeines Konfliktlösungsschema gelte dieser Rechtsgrundsatz auch außerhalb der speziellen Regelungen 176• Im Rückgriff auf dieses (allgemeine) Interessenabwägungsprinzip könne nun, so die Argumentation, in eng begrenzten Ausnahmefällen eine ansonsten gebotene Strafverfolgungsmaßnahme unterbleiben, wenn zum einen die Ausgangssituation der in § 34 StGB vorausgesetzten Konfliktlage vergleichbar sei, und wenn zum anderen eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter - genannt werden u. a. die Gefahrenabwehr im Gemeinwohlinteresse sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege und der Rechtsfrieden allgemein - es als notwendig ausweise, die Strafverfolgung (zumindest vorübergehend) zurückzustellen 177 • Legalität verlange an den Stellen nach Ausnahmen, "wo die gegen einen bestimmten Täter / eine bestimmte Tätergruppe gerichtete Strafverfolgung zugleich auch Drittinteressen - Bedürfnisse der Allgemeinheit oder schutzwürdige Interessen einzelner Privatpersonen - tangiert und eine Güterabwägung nach dem strengen Maßstab des § 34 StGB ergibt, daß der zu befürchtende Drittschaden eindeutig (!) größer ist als der Vorteil, der für die Allgemeinheit in der Verwirklichung des materiellen Strafanspruches gegen einen einzelnen Täter liegt,,178. Gebotene Strafverfolgungsmaßnahmen haben danach ,jedenfalls soweit und solange zu unterbleiben, wie anders das Leben unbeteiligter Dritter nicht geschützt werden kann,,179. Gleichzeitig wird jedoch vor einer Überstrapazierung eines so verstandenen allgemeinen Notstandsgedankens zur Rechtfertigung von Durchbrechungen des 174 Geppert, Jura 1982, S. 150; LR-Rieß, § 152 Rn. 20; derselbe, FS Dünnebier, S. 155 f.; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 134 m. w. N.; SchultzlLeppin, Jura 1981, S. 532; Ulrich, ZRP 1982, S. 170. 175 Rieß, FS Dünnebier, S. 155. 176 Rieß, FS Dünnebier, S. 155. 177 SchultzlLeppin, Jura 1981, S. 532; vgl. auch Geppert, Jura 1982, S. 150; LR-Rieß, § 152 Rn. 20; derselbe, FS Dünnebier, S. 155 f.; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 134; Ulrich, ZRP 1982, S. 170. 178 Geppert, Jura 1982, S. 150. Ein allgemeiner Notstandsgedanke wird beispielsweise im Rahmen von Einsätzen sog. Verdeckter Ermittier diskutiert. Der Verdeckte Ermittier gehört nach § 110a 11 S. 1 StPO zum Polizeidienst und ist demzufolge im Hinblick auf § 163 StPO dem Legalitätsprinzip verpflichtet (dazu oben "Teil 2.A.I.2."). Fraglich ist dabei, ob und inwieweit er aus Griinden der Verhältnismäßigkeit oder unter Notstandsgesichtspunkten von bestimmten Verfolgungsmaßnahmen absehen darf; vgl. dazu Döhring, S. 184. 179 Rieß, FS Dünnebier, S. 155.

8'

116

2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

Legalitätsprinzips gewarnt l80 . Zu beachten sei insbesondere, "daß das Vertrauen der Bevölkerung, im Schutze der Rechtsordnung als einer Friedensordnung zu leben, nicht erschüttert und ihre Rechtstreue nicht gefährdet (werde),,181. In mehr spezialpräventiver Hinsicht könne zudem eine längere Verzögerung der Strafverfolgung vom jeweiligen Delinquenten als ein "Tolerieren des rechtswidrigen Zustandes" empfunden werden und auf diese Weise zur (weiteren) Verkümmerung seines Unrechtsbewußtseins einen unerwünschten Beitrag leisten 182. Ungleich prekärer gestaltet sich die Situation derweil bei der Frage nach einem strafverfolgungsbezogenen Totalverzicht zugunsten kollidierender Verfassungsgüter. Ein gänzlicher Verfolgungsverzicht außerhalb der vom Gesetz ausdrücklich gestatteten Fallkonstellationen scheint an einer Abwägung mit diversen verfassungsrechtlich bedeutsamen Gütern, wie etwa dem Rechtssicherheitsgefühl der Allgemeinheit sowie deren Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung, zu scheitern 183. So hat auch das Bundesve1j"assungsgericht l84 einem vollständigen Verzicht auf die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle - und außerhalb von Begnadigungen - die Zulässigkeit abgesprochen. Die Anwendung eines allgemeinen Prinzips der Interessenabwägung, dem auch der Notstandsgedanke entspringt, ist demzufolge nur in einem sehr schmalen Bereich möglich, "in dem ein Verzicht auf strafverfolgende Tätigkeit ohne strafprozessuale Ermächtigung mit dem Interesse an der Aufrechterhaltung des inneren Friedens gerechtfertigt werden kann" 185 .

180 Dazu Geppert (Jura 1982, S. 150): "Einen Einbruch in das Legalitätsprinzip halte ich unter den strengen Anforderungen des § 34 StGB nur dort für statthaft, wo bei einer konsequenten Einhaltung des Legalitätsprinzips letztlich bürgerkriegsähnliche Zustände zu befürchten wären." Insoweit kritisch auch Schmidt-Jortzig (NJW 1989, S. 134), der eine Heranziehung des § 34 StGB bereits aufgrund der individuellen Wirkung der Norm ablehnt. § 34 StGB stelle lediglich für die handelnde Person selber einen Schutz dar, und das auch nur gegenüber dem Vorwurf, sich strafbar verhalten zu haben. Vgl. dazu auch LR-Rieß, § 152 Rn. 20; ebenso Schultz/Leppin, Jura 1981, S. 532. Zur Gefahr einer extensiven Auslegung des § 34 StGB vgl. auch LK-Hirsch, § 34 Rn. 4, der in diesem Zusammenhang eine Anwendbarkeit des § 34 StGB auf hoheitliche Eingriffe in Individualrechtsgüter - entgegen der h.M. - ablehnt (LK-Hirsch, § 34 Rn. 6). Die Vorschrift sei auf hoheitliches Handeln allenfalls dort anwendbar, wo nicht in die Rechts- oder Freiheitssphäre der Bürger, sondern ausschließlich in staatliche Rechtsgüter oder solche der Allgemeinheit eingegriffen werde (LK-Hirsch, § 34 Rn. 20). 181 Schultz/Leppin, Jura 1981, S. 532. 182 Schultz/Leppin, Jura 1981, S. 532. 183 Vgl. Rieß, FS Dünnebier, S. 158, 161, 163. 184 BVerfGE 46,214 (223). Vgl. dazu auch bereits oben "Teil I.C.II.2.b)bb)". 185 Rieß, FS Dünnebier, S. 163. Dabei bezieht sich Rieß primär auf die Möglichkeit einer Einschränkung der Verfolgungsintensität. Einen gänzlichen Verzicht, den er allerdings theoretisch weiter für möglich hält, verbannt er im Hinblick auf die engen Voraussetzungen "gegenwärtig in den Bereich der Spekulation".

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

117

11. Faktische Einschränkungen der Legalität In der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland hat sich das Legalitätsprinzip in bestimmten Teilbereichen der Strafverfolgung auch ohne die explizite Kodifizierung neuer Ausnahmetatbestände weitgehend und in zunehmendem Maße verabschiedet. Nachfolgend sollen einige der Griinde für die Zuriickdrängung der Legalität und den Vormarsch von Opportunitätserwägungen bei der Reaktion auf tatbestandsmäßiges Verhalten aufgezeigt werden. Allen gemein ist als Ergebnis die faktische Einschränkung des Legalitätsprinzips zugunsten von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten. Dazu heißt es bei Bohnert l86 : "Der Staat in seinen Grenzen stößt auf die inneren Grenzen seines Willens im Widerstand der Faktizität. "

1. Einbußen an Legalität durch praktische Schwerpunktbildung bei der polizeilichen und staatsanwaItschaftlichen Verfolgungstätigkeit

Faktische Einschränkungen erfährt das Legalitätsprinzip in erheblichem Umfang durch die tägliche polizeiliche Strafverfolgungstätigkeit. Die Polizei ist zwar von Gesetzes wegen verpflichtet, wegen jeder ihr bekanntgewordenen Straftat ein Ermittlungsverfahren einzuleiten l87 , dennoch kommt sie in der Praxis diesem Gesetzesbefehl nicht immer nach, sondern nimmt in verschiedener Hinsicht und aus verschiedenen Griinden Auslesefunktionen wahr 188. Auf diese Weise gerät das Legalitätsprinzip im Strafverfolgungsalltag außer Kraft, ohne daß Opportunitätsregeln angewendet würden bzw. - wie im Falle der Polizei - überhaupt anwendbar wären 189. Dabei zwingt die Polizeidienststellen in erster Linie das "ökonomische Regulativ"l90 zu einer "praktische(n) Schwerpunktbildung,,191 innerhalb ihrer Strafverfolgungstätigkeit. Die Begrenztheit der personalen und sachlichen Mittel macht bereits bei der Aufnahme von Anzeigen durch Private ein selektives Vorgehen nahezu unumgänglich 192. Doch damit nicht genug. Die "Haushaltsplanung" Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 96. Dazu oben ..Teil2.A.I.2.". 188 Ambs, GS Meyer, S. 9 ff.; Aulinger, S. 68; Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 494; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 97 f.; Bottke, JuS 1990, S. 82 ff.; Geppert, Jura 1982, S. 151; Gössel, FS Dünnebier, S. 133; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 465 ff.; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 42 ff.; Krey, S. 85; Kühne, S. 132; LR-Rieß, § 152 Rn. 40; derselbe, NStZ 1981, S. 4; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 134; Zipf, FS Peters, S. 492 f. 189 Kerl, ZRP 1986, S. 313. 190 Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 494. Vgl. auch Kühne, S. 132; SK-Weßlau, § 152 Rn. 47. 191 Zipf, FS Peters, S. 492. Vgl. zur Schwerpunktsetzung bei der polizeilichen Ennittlungstätigkeit auch Dölling, Aufklärungswahrscheinlichkeit, S. 113 ff., der eine solche angesichts der Fülle der zu bearbeitenden Straftaten und der unzureichenden Kapazitäten für unumgänglich hält. 186

187

118

2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

bestimmt auch maßgeblich über das weitere Vorgehen: ,,Die Ausrüstung beeinflußt die Pflichterfüllung. Begrenzter Einsatz der staatlichen Mittel führt zur faktischen Dezimierung des Gesetzesauftrages, und umgekehrt vermehren die vermehrten Mittel bisweilen den Erfolg ... Der jeweilige Polizeichef und der jeweilige Erste Beamte der Staatsanwaltschaft verwalten den geplanten Mangel ... Die Gewichtung der Kapazitäten findet unterhalb des Legalitätsprinzips statt ... Statt Strafgesetzwille gilt Haushaltsgesetzgebungswille, dann Kriminalkommissarswille, Generalstaatsanwaltswille,,193. Zeit, Personal und Sachmittel werden demnach ökonomisch dosiert für eine schwerpunktorientierte Verfolgungstätigkeit verwandt, wobei als Einfallstor für Abweichungen vom Normbefehl des § 163 StPO insbesondere das die gesamte polizeiliche Ermittlungstätigkeit durchziehende Tatbestandsermessen dienen dürfte, das gerade auch dem Streifenpolizisten einen beachtlichen Entscheidungsspielraum verschafft 194. Im Rahmen dieser Selektionstätigkeit lassen sich einzelne Variablen ausmachen, von denen die jeweilige Intensität der Strafverfolgung - sowie zuvor bereits die Entscheidung über Einleitung oder Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens abzuhängen scheint. Neben der eigenen Einschätzung bezüglich der Sozialschädlichkeit bestimmter Delikte 195 und ihres "Emotionswert(s)" für die Öffentlichkeit 196 hängt die Frage nach dem "ob" und dem "wie" polizeilicher Verfolgungsaktivität wohl nicht zuletzt von dem zu erwartenden Arbeitsaufwand 197 im Vergleich zum geschützten Rechtsgut 198 und den Erfolgschancen einer Aufklärung ab 199. Es hat den Anschein, als bestünde eine starke Beziehung zwischen den zur 192 Bottke, JuS 1990, S. 82; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 465; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 43. 193 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 98. Zum weiteren polizeilichen Vorgehen nach Anzeige eines Delikts vgl. auch Bottke, JuS 1990, S. 82. 194 Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 43 m. w. N.; Zipf, FS Peters, S. 492. Zu bedenken zu geben ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Entscheidungen des einzelnen Streifenpolizisten oftmals wenig transparent sind und ihm dadurch die Nichtverfolgung strafbaren Handelns im Einzelfall nur schwer nachzuweisen sein wird, vgl. Kapahnke a. a. 0., S.43. 195 Zipf, FS Peters, S. 492, der als Grundlage dieser Einschätzung die "öffentliche Meinung" sowie die eigene "Polizeimoral" benennt; vgl. auch Aulinger, S. 68; ebenso Geppert, Jura 1982, S. 151; ebenso Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 44; ebenso Rieß, NStZ 1981, S. 4. 196 Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 44 m. w. N. Vgl. Dölling, Aufklärungswahrscheinlichkeit, S. 114 f. 197 LR-Rieß, § 152, Rn. 40, der zudem darauf hinweist, daß eine Dosierung des Ermittlungsaufwands auch von der Staatsanwaltschaft deliktsspezifisch und nach antizipierten Aufklärungswahrscheinlichkeiten vorgenommen werde. Vgl. auch SK-Weßlau, § 152 Rn. 47; Zipf, FS Peters, S. 492. 198 Vgl. Ambs, GS Meyer, S. 11; ebenso Aulinger, S. 68; Dölling, Aufklärungswahrscheinlichkeit, S. 117. 199 Aulinger, S. 68; Dölling, Aufklärungswahrscheinlichkeit, S. 117; LR-Rieß, § 152 Rn. 40; SK-Weßlau, § 152 Rn. 47; Zipf, FS Peters, S. 492.

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

119

Verfügung stehenden Infonnationen des ersten Ennittlungsabschnitts - etwa der Fall- und Beweisstruktur, die von der Polizei vorgefunden wird - und dem weiteren Verfahrensverlauf2OO . Zudem verlagert sich in letzter Zeit die "Schwerpunktbildung" zunehmend auf publikumswirksame Fälle - insbesondere solche mit politischem Hintergrund -, bei denen von Anfang an rechtliche Zweifel bestehen, ob sie überhaupt Deliktsmerkmale erfüllen201 . Zusammenfassend läßt sich sagen, daß im Rahmen der täglichen polizeilichrepressiven Strafverfolgungshandlungen von einer strikten Einhaltung der per Gesetz angeordneten Legalitätsverpflichtung nicht gesprochen werden kann. Das Legalitätsprinzip erfährt durch den "pragmatischen Ennittlungsablauf, den Polizei wie Staatsanwaltschaft arrangieren,,202, eine faktische Grenze. "Hier werden aus kriminaltaktischen Erwägungen oder Erfolgserfahrung, aus arbeitsmäßigen Notwendigkeiten oder Routine Kräfte gebündelt, gedrosselt oder gezielt eingesetzt, Prioritäten bestimmt und atmosphärische Rahmenbedingungen erzeugt,,203.

2. Einbruch in das LegaIitätsprinzip durch die zunehmende Praxis der strafrechtlichen Prozeßabsprachen

Eine weitere Schwächung erfährt das Legalitätsprinzip durch die in zunehmendem Maße praktizierten und mittlerweile auch von der Rechtsprechuni04 im Grundsatz "abgesegneten" Absprachen zwischen den Verfahrens beteiligten und dem Gericht im Strafprozeß205 . Der Wunsch nach prozeßökonomischer Erledigung gerade auch solcher Verfahren, für die innerhalb der Strafprozeßordnung keine vereinfachte Erledigungsfonn vorgesehen ist, hat im Laufe der Zeit dazu geführt, daß sich neben den ausdrücklich nonnierten Möglichkeiten zur vereinfachten, infonnellen Verfahrensabwicklung ein System entwickelt hat, das als eine Art strafprozessualer Vergleich dem amerikanischen plea bargaining nahekommt206 . Angestrebt wird dabei von den Vgl. dazu die Untersuchung bei Dölling. Aufklärungswahrscheinlichkeit, S. 116 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise das im Frühjahr 2001 abgeschlossene Ennittlungsverfahren gegen Altbundeskanzler Dr. H. Kohl wegen des Verdachts der Untreue (dazu unten "Teil 3.D.III.4."). 202 Schmidt-Jortzig. NJW 1989, S. 134. 203 Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 134 m. w. N. 204 Kammerbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 27. 1. 1987 in: NStZ 1987, S. 419; BGHSt. 43, 195; BGH NStZ 1999, S. 92. Vgl. auch BVerfG StV 2000, S. 3. 205 Zu den "Chancen und Risiken" von Absprachen im Strafprozeß vgl. Dahs, NStZ 1988, S. 153 ff.; zum "Handel um die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" vgl. NestlerTremel, DRiZ 1988, S. 288 ff.; zu den Gefahren eines solchen entformalisierten Verfahrens vgl. Hassemer, KritV 1990, S. 260 ff. (276); zur Rechtsprechung hinsichtlich der Prozeßabsprachen vgl. Weigend. NStZ 1999, S. 57 ff. 206 Deal (Pseudonym), StV 1982, S. 545. Zum sog. plea bargaining vgl. auch unten "Teil 3.D.VII.... 200

201

120

2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

Protagonisten eine allseits einvernehmliche Beendigung des Verfahrens, bei der auf seiten des Angeklagten eine mildere Bestrafung dafür zu Buche schlagen soll, daß er als "Gegenleistung" durch ein Geständnis oder aber den Verzicht auf die Wahrnehmung (weiterer) prozessualer Rechte der Justiz eine weniger arbeitsaufwendige Erledigung des Strafverfahrens ermöglicht207 . Eine derartige Kooperation zwischen den Beteiligten dient demnach in erster Linie der Prozeßökonomie und ermöglicht ein ressourcensparendes Vorgehen bei der Bewältigung des gerichtlichen Arbeitsanfalls. Wenngleich eine prozessuale Vorgehensweise, die eine Abkürzung der Verfahrensdauer zur Folge hat, grundsätzlich aller - auch rechtsstaatlicher - Ehren wert ist, darf der Preis für den Zugewinn an Ökonomie und Effizienz jedoch nicht verschwiegen werden: So gilt es - neben der Entstehung einer unerfreulichen Drucksituation für den Angeklagten sowie dem Verlust rechtsstaatlicher Garantien, den ein derartiger "Handel um die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege,,208 ebenfalls mit sich bringt - nicht zuletzt auch eine weitere Verkürzung des staatlichen Strafanspruchs und demzufolge auch eine weitere (faktische) Beschneidung des Legalitätsgrundsatzes zu registrieren. 3. Weitere Einschränkung der Legalität durch die Sanktionierung strafbaren Verhaltens durch außerstaatliche Instanzen

Des weiteren kann es auf einer der gesetzlichen Reglementierung vorgelagerten Ebene de facta zu informellen Erledigungen strafbaren Verhaltens und damit am Ende auch zu einer Beschränkung von Legalität kommen. Angesprochen ist dabei der Bereich der sog. Selbst- oder auch Privatjustiz, dem neben der Betriebsjustiz auch die interne Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit sowie diverse Sanktionierungssysteme innerhalb verschiedener Institutionen angehören 209, denen wiederum allesamt gemein ist, daß "intern" auf strafbares Verhalten von Angehörigen dieser Institutionen sanktionierend reagiert wird. Bei aller Unterschiedlichkeit in Form und Ausmaß entbehren sie dabei ausnahmslos einer gesetzlichen Grundlage 21O. 207 Deal (Pseudonym), StV 1982, S. 545; vgl. auch Kuckein/ Pfister, BGH-FS, S. 643, die als eine mögliche Ursache für die zunehmende Verbreitung von Absprachen im Prozeß die durch eine qualitative Änderung des Strafverfahrens gewachsene Belastung der Justiz benennen. So sei heutzutage insbesondere bei den Wirtschafts- und Umweltdelikten der Schuldspruch vielfach von der Beantwortung außerstrafrechtlicher Vorfragen abhängig. Des weiteren habe im Bereich der Kriminalität mit größeren Tätergruppen der aufzuklärende Tatsachenstoff an Umfang zugenommen; und auch die Strafverteidigung sei weithin engagierter geworden. 208 Nestler-Tremel, DRiZ 1988, S. 288. Vgl. dazu insbesondere auch unten "Teil 3.D.VII.". 209 Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 494; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 457; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 35 ff.; Kramer, ZRP 1974, S. 65. 210 An diesem Kritikpunkt setzt dann auch der Reformvorschlag "AE-BJG" aus dem Jahre 1975 an; vgl. dazu im einzelnen unten "TeiI5.B.I1I.5.b)".

B. Das Legalitätsprinzip auf dem Rückzug

121

Darüber hinaus sehen die Betroffenen oft für eine weitergehende, staatliche Strafverfolgung im Anschluß an die interne Konfliktbewältigung keinen Anlaß mehr, so daß eine Strafanzeige in aller Regel unterbleibt 211 •

a) Betriebsjustiz bei Veifehlungen von Arbeitnehmern im Rahmen ihrer Betriebszugehörigkeit

Eine weit verbreitete Form privater Strafverfolgung findet im Zusammenhang mit Verfehlungen von Arbeitnehmern im Rahmen ihrer Betriebszugehörigkeit statt. Straftaten, die der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz begeht, werden oft im Wege der sog. Betriebsjustiz ohne Einschaltung staatlicher Instanzen erledigt 212 . Anstelle einer Anzeige wird etwa mittels einer Verwarnung, einem Ausschluß von betrieblichen Sozialleistungen, der Einbehaltung von Lohn oder gar Kündigung auf das Fehlverhalten des Arbeitnehmers reagiert 213 • Im Rahmen dieser teils strafrechtlichen, teils arbeitsrechtlichen Regelungsmechanismen wird in aller Regel die jeweilige Geschäftsleitung des Unternehmens tätig 214 ; die Strafverfolgungsorgane des Staates hingegen erhalten von diesen Vorgängen in den seltensten Fällen Kenntnis.

b) Interne Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit bei Sportverbänden

Eine private Ahndung von Straftaten findet ferner im Bereich der internen Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit statt - erinnert sei an dieser Stelle nur an die Verbandsgerichtsbarkeit des Deutschen Fußballbundes (DFB) -, wodurch größere Bereiche des Soziallebens der staatlichen Strafrechtskontrolle de facta weitgehend entzogen sind215 . Auch an dieser Stelle büßt das Legalitätsprinzip zugunsten der Privatjustiz einen Teil seiner Geltungskraft ein.

Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 35 f. Zipf, FS Peters, S. 493. 213 Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 494. 214 Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 494. Zu den Bedenken gegenüber dieser Erscheinungsform privater Strafverfolgung vgl. auch Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 37 ff.; ebenso KrameT, ZRP 1974, S. 65. Zum Entwurf eines Betriebsjustizgesetzes und der gleichzeitigen Kritik an einer Verlagerung strafrechtlicher Konfliktlösung ins Privatrecht vgl. unten "Teil5.B.III.5.b)". 215 Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 36, 40; KrameT, ZRP 1974, S. 65; Zipf, FS Peters, S. 494. 211

212

122

2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

c) Sanktionierungssysteme innerhalb von Schulen,

der Bundeswehr und der Polizei

Der Legalität abträglich sind weiterhin eine Vielzahl unterschiedlich ausgestalteter Sanktionierungssysteme, die beispielsweise an Schulen oder anderen Einrichtungen bestehen, und die - so sinnvoll sie im einzelnen auch sein mögen - zunächst einmal zu dem Zwecke installiert worden sind, Straftaten aus dem staatlichen Strafverfolgungsbereich herauszuhalten, um sie "intern" zu sanktionieren216 . d) Warenhausjustiz bei leichteren Ladendiebstählen

"Warenhausjustiz" meint Maßnahmen, "welche man in der Wirtschaft entwikkelt hat, um bei ertappten Ladendieben einen präventiven Effekt zu erzielen,,217. Die Prozedur verläuft dabei meist wie folgt: Für den Fall des Bekanntwerdens eines leichteren Ladendiebstahls wird der betroffene Täter vom Inhaber des bestohlenen Geschäftes unmittelbar mit einer Verwarnung, einem Hausverbot oder sogar einer hausinternen Registrierung belegt. Daneben wird regelmäßig Schadensersatz vom Täter verlangt, wobei sich der Bestohlene nicht selten neben dem Kaufpreis des Diebesguts auch Bearbeitungsgebühren sowie entstandene Überwachungskosten und gegebenenfalls ausgelobte "Fangprämien" vom delinquenten Kunden ersetzen läßt218 . Wenn dann im Anschluß der Ladendieb nicht noch zusätzlich den Strafverfolgungsbehörden ausgeliefert wird, wurde mittels dieses Maßnahmenkatalogs einmal mehr die Sanktionierung strafbaren Verhaltens von der staatlichen Strafrechtspflege auf außerstaatliche Instanzen wegverlagert 219 . Im Gegensatz zur Dunkelfeldproblematik, die vom Verfolgungsappell der Legalität gar nicht erst erreicht wird22o, ist im Bereich der Selbstjustiz das Legalitätsprinzip jedenfalls dann betroffen, wenn die eigentlich zuständige staatliche Strafverfolgungsbehörde bewußt "weg schaut", d. h. die private Sanktionierung "sehenden Auges" duldet, und aus diesem Grunde schließlich die Grenze des "genügenden Anlasses" für die Aufnahme von Ermittlungen als überschritten angesehen werden muß221 . Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 457. Geerds, FS Dreher, S. 545. 218 Geerds, FS Dreher, S. 545. 219 Zipf, FS Peters, S. 494; vgl. zur "Warenhausjustiz" auch Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 457; ebenso Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 36 f. Zu einem entsprechenden Gesetzentwurf (AE-GLD) vgl. im einzelnen unten "Teil5.B.m.5.a)". 220 Dazu bereits oben "Teil2.A.I.1.b)" bzw. "Teil2.A.I.l.c)dd)(1)". 221 Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 39 f. mit Beispielen aus dem Bereich der Vereins- und Verbandsjustiz. Dabei weist Kapahnke zugleich darauf hin, daß es im Bereich der "Selbstjustiz" weniger um die Frage der Verfolgungspflicht als vielmehr um die Notwendigkeit einer Regelung dieser "Grauzone" durch den Gesetzgeber gehen müsse. Dennoch sieht auch er das Legalitätsprinzip im Falle des "Wegschauens" betroffen. 216

217

C. Ergebnis

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4. Durchbrechung des Legalitätsprinzips durch informelle Verfahrenserledigungen im Wege der Diversion

Diversion meint dem Wortsinn nach "Ablenkung, Umleitung oder Wegführung" und dient als "Sammelbezeichnung für eine Anzahl neuerer, zum Teil unterschiedlicher kriminalpolitischer Strategien und Tendenzen,,222. Überwiegend zielt Diversion dabei auf das Absehen von weiterer Strafverfolgung, nachdem eine strafrechtliche Normverletzung amtlich festgestellt worden ist223 . Obwohl es in Deutschland gegenwärtig an einem umfassenden Diversionsprogramm fehlt, gibt es eine ganze Reihe von Verfahren, denen der Diversionsgedanke zugrundeliegen dürfte224 . Indem diese Verfahrensarten verschiedentliehe Alternativprogramme an die Stelle förmlicher Verfahren und traditioneller Sanktionsformen setzen, ermöglichen sie mitunter eine insgesamt sachgerechtere Konfliktlösung. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, daß zumindest durch eine flächendeckend praktizierte Diversion immer auch das Legalitätsprinzip nachhaltig durchbrochen wird225 .

C. Ergebnis "Zweiter Teil" Das in den §§ 152 11, 163 I, 161, 155 11, 244 11 StPO strafprozessual niedergelegte Legalitätsprinzip hat sich im Hinblick auf die zahlreichen opportunitätsgeprägten gesetzlichen Einschränkungen einerseits und der darüber hinaus bestehenden vielfältigen faktischen Einschränkungen in der Rechtspraxis andererseits als ein gegenwärtig äußerst löchriges Prinzip erwiesen. Die zunehmende Bedeutung des Zweckmäßigkeitsgedankens in der Strafverfolgung hat zu einer fortschreitenden Aushöhlung eines einstmals verbindlichen Prinzips der Legalität geführt. Dieser Tage ist es - seine Urfassung, die seinerzeit bereits unter dem Vorbehalt gesetzlicher Ausnahmen stand, hat dies ermöglicht - nicht zuletzt durch die dreizehn vielgestaltigen Vorschriften der §§ 152 abis 154 e StPO, die inklusive ihrer Unterbestimmungen "offen und selbstbewußt auf das Opportunitätsprinzip gegründet sind,,226, von Ausnahmen förmlich "umzingelt,,227 und in der faktischen Konsequenz bei Vergehen schon selbst zur Ausnahme degeneriert228 . Aber nicht nur das KKW-Kaiser, S. 88. KKW-Kaiser, S. 88. 224 Vgl. Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 465 f. Zu diesen Verfahren, die den Diversionsgedanken in sich tragen, wird man insbesondere auch die nach den §§ 153 ff. StPO, 45, 47 JGG zählen können (vgl. dazu für § 153a StPO unten "Teil 3.C.III.3."), so daß es sich bei der Diversion teilweise eher um eine geschriebene und weniger um eine faktische Einschränkung des LegaIitätsprinzips handeln dürfte. 225 Ambs, GS Meyer, S. 15. 226 Naucke, Modernes Strafrecht, S. 153. 227 Naucke, Modernes Strafrecht, S. 153. 228 Eser, Recht und Verfahren 1993, S. 29 m. w. N.; Hoyer, JZ 1994, S. 235 m. w. N.; Naucke, Modernes Strafrecht, S. 155; derselbe, KritV 1993, S. 150 f. 222 223

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2. Teil: Legalität und Opportunität im geltenden Recht

heute geltende Strafverfahrensrecht hat sich durch die Regelungen in den §§ 153 ff. StPO weit von den Bindungen der Legalität gelöst und damit einen erheblichen Teil des Strafrechts dem Einfluß der Opportunität ausgesetzt: Auch außerhalb der Strafprozeßordnung greift der Opportunitätsgedanke in zahlreichen anderen Gesetzen Platz und beschränkt das vormals weitreichende Regime der Legalität. Dort schließlich, wo Opportunitätsvorschriften nicht eingreifen, wird der Grundsatz der Verfolgungspflicht in Gestalt faktischer Einschränkungen weiter relativiert. Insgesamt besehen kann demzufolge Legalität am Ende nur noch als ein Prinzip "mittlerer Verbindlichkeit,,229 bezeichnet werden, das seinen Schwerpunkt bei der Kategorie der Verbrechen hat. Ungeachtet der grundsätzlichen Notwendigkeit, Legalität im Einzelfall aus Opportunitätsgründen beschränken zu können, dürften die derzeit im deutschen Strafverfahrensrecht vorhandenen Möglichkeiten zu opportunitätsgeleiteten Verfahrenseinstellungen den gerade noch verträglichen Grenzbereich mittlerweile erreicht, wenn nicht sogar überschritten, haben23o . Dazu schreibt Schöch231 : "Die Aushöhlung des Legalitätsprinzips durch Überfrachtung des Opportunitätsprinzips mit Problemen der Entkriminalisierung, der Justizentlastung und der Absprachen hat bereits besorgniserregende Ausmaße angenommen." Theoretisch werde das Legalitätsprinzip zwar weiterhin in Ehren gehalten, praktisch sei seine Geschichte jedoch seit der Stunde seiner Einführung von Rückzugsgefechten geprägt232 . Die zahlreichen geschriebenen und ungeschriebenen Einschränkungen der Legalität stützen diese These. Riesige Flächen des materiellen (Straf-)Rechts sind bereits auf diese Weise vom Opportunitätsgedanken besetzt. Der Prozeß scheint jedoch keineswegs abgeschlossen: "Die aktuelle Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß das Legalitätsprinzip weicht und das Opportunitätsprinzip kaum zähmbar vordringt,,233.

229 LR-Rieß, § 152 Rn. 11; vgl. auch Lorenzen, FS StA Schleswig-Holstein, S. 542. Zur Häufigkeit der Anwendung opportunitätsgeprägter Vorschriften, vgl. unten "TeiI3.D.IX.". 230 Vgl. Gössel, DJT-Gutachten, C 31 m. w. N. 231 Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 256. 232 Hoyer, JZ 1994, S. 235 m. w. N. 233 Naucke, KritV 1993, S. 150.

Dritter Teil

Staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Opportunitätseinstellungen und ihre Vereinbarkeit mit der verfassungsmäßigen Ordnung Die Untersuchung im "Ersten Teil" dieser Abhandlung hat ergeben, daß Legalität als Ordnungsprinzip des Strafverfahrens zwar einerseits aus verfassungsrechtlicher Sicht unverzichtbar ist, andererseits eine ausnahmslose Verfolgungspflicht einem überholten Legalitätsdenken entspricht. Opportunität hat sich in Strafverfahrensangelegenheiten nicht nur als ein kriminalpolitisch erwünschtes, sondern auch als ein im Hinblick auf die Verfassung unabkömmliches Strukturprinzip innerhalb eines einheitlichen staatlichen Reaktionssystems erwiesen. Ausnahmen vom Legalitätsprinzip sind demzufolge im Grundsatz zuzulassen. Eine kritische Bewertung der Opportunität kann indes das Ergebnis einer konkreten Einzelfallbetrachtung opportunitätsgeprägter Einbrüche in die Grundmaxime staatlicher Strafverfolgung sein. Dem in einem ,,zweiten Teil" dieser Abhandlung vorangestellten Überblick über die gegenwärtige Verteilung von Legalität und Opportunität im geltenden Recht schließt sich aus diesem Grunde in einem "Dritten Teil" eine Auseinandersetzung mit verschiedenen einfachgesetzlichen Einzelausprägungen des Opportunitätsgedankens an. Bevor jedoch mit den §§ 153 ff. StPO sowie den §§ 31, 31 a BtMG einige bedeutsame Ausprägungen opportunitätsbestimmter Einstellungsermächtigungen einer Einzelkritik unterzogen werden, soll zunächst im Überblick auf potentielle Problemfelder opportunen Staatshandelns hingewiesen werden.

A. Überblick über mögliche verfassungsrechtliche Konfliktfelder im Zusammenhang mit opportunitätsgeprägten Einstellungsbestimmungen Bevor sich der jeweilige Rechtsanwender bei seiner täglichen Arbeit mit einer opportunitätsgeprägten Norm dem Vorwurf nicht verfassungskonformen Verhaltens aussetzen kann, stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz bereits im Rahmen der Beurteilung legislatorischer Schaffenskraft. Da für den Gesetzgeber mit Blick auf Art. 20 III GG - anders als beim übrigen Staatshandeln - zwar nicht jedes geschriebene und ungeschriebene Recht Bindungs wirkung entfaltet, er aber dennoch an die verfassungsmäßige Ordnung ge-

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

bunden ist, kann bereits die Etablierung einer opportunitätsgeprägten Norm verfassungsrechtliche Relevanz haben. Im Zusammenhang mit Opportunitätseinstellungsermächtigungen stehen dabei u. a. mehrere Teilaspekte des Rechtsstaatsgrundsatzes aus Art. 20 III GG in Rede. Im einzelnen:

I. Bestimmtheitsgebot Verfassungsrechtliche Bedenken gegen Opportunität bei der staatlichen Strafverfolgung können zunächst auf das allgemeine rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot 1 als dem wichtigsten Einzelprinzip des Gesetzlichkeitsgrundsatzes in Art. 20 III GG bzw. seine spezielle Ausprägung in Art. 103 11 GG2 gegründet werden. Das Gebot, nur hinreichend bestimmte Gesetze zu erlassen und auch nur solche anzuwenden, ist nicht nur mehrfach und an exponierter Stelle normativ gesichert 3 : es genießt auch Grundrechtsrang4 und ist gemäß Art. 79 III GG in seinem Kernbereich unantastbar. Gegen seine Verletzung ist gemäß Art. 93 I Nr. 4 a GG die Verfassungsbeschwerde statthaft. Das Bestimmtheitsgebot richtet sich an den Gesetzgeber sowie die Strafjustiz5 . In diesem Zusammenhang erteilt Art. 20 III GG der Legislative die Weisung, Gesetze zu schaffen, welche die Ausführungsentscheidung des Rechtsanwenders insgesamt lenken 6 . Nicht nur die Tatbestandserfassung, sondern die gesamte "strafrechtliche Konfliktverarbeitung" untersteht dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot7 • Grundrechtseinschränkende Gesetze müssen Mindestanforderungen nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß genügen 8 . Es gilt umso größere Anforderungen an die Bestimmtheit einer Norm und damit an die "Verläßlichkeit,,9 staatlichen HandeIns zu stellen, je stärker sie in die Rechte des Betroffenen eingreift lO • So dient das verfassungsrechtliche Bestimmtheitserfordernis nicht nur dem VertrauI Dazu bereits oben "Teil1.A.II.1.a)bb)(I)(b)". Zur Kritik an den weitgehend unbestimmten Anwendungsvoraussetzungen des § 153 StPO vgl. im einzelnen unten "Teil 3.B.III.", zu denen des § 153a StPO "Teil 3.0.1.". Zu weiteren Konflikten opportunitätsgeprägter Einstellungsvorschriften mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen vgl. unten "TeiI3.E." sowie "Teil 3.F.". 2 Zur Anwendbarkeit des Art. 103 11 GG auf prozessuale Vorschriften vgl. im einzelnen unten "Teil 3.0.1.1.". 3 Art. 103 GG, § 1 StGB sowie Art. 7 MRK. 4 BayVerfGHE 4, 201. 5 Süß. Vom unmöglichen Zustand, S. 209. 6 BVerfGE 3, 225 (243). 7 Vgl. Pott. S. 147; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 73. 8 BVerfGE 17, 306 (313). 9 BVerfGE 24, 75 (98). 10 BVerfGE 48, 210 (222); 56, 1 (13); 86, 288 (311).

A. Überblick über mögliche verfassungsrechtliche Konfliktfelder

127

ensschutz der Bürger, indem es Rechtssicherheit durch Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Strafens gewährleistet, sondern es zielt zusätzlich auf einen Schutz vor willkürlichen Entscheidungen des Staates sowie auf eine objektive Begrenzung des strafrechtlichen Zugriffs auf den Bürger ll . Allzu vorschnell wäre freilich der Schluß, Opportunität - deren wichtige Prämisse gerade die Freistellung von fixen gesetzlichen Bindungen zu sein scheint könne mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsvorgaben per se nicht in Einklang gebracht werden 12• Zugegeben: Ein flexibles, zweckorientiertes Denken und Handeln setzt notwendigerweise verstärkt auf den Faktor "Unvorhersehbarkeit" und macht eine weitgehende Abwesenheit von bindenden Vorgaben regelmäßig zum Programm. Kriminalpolitische Flexibilität ist bis zu einem gewissen Grad auf Unberechenbarkeit - und damit auf ein vielseitig verwendbares Handwerkszeugangewiesen und vernachlässigt insoweit die Bestimmtheit quasi "von Hause aus". Opportunitätsgeprägte Einstellungsvorschriften bedienen sich häufig einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, wodurch Konflikte mit dem Bestimmtheitsgrundsatz - dies verrät bereits ein Blick auf die Namenswahl "unbestimmter Rechtsbegriff' - gleichsam programmiert sind. Nicht zuletzt die praxisrelevanten Einstellungsermächtigungen in den §§ 153 ff. StPO erhalten sich ihre kriminalpolitisch erwünschte "Geschmeidigkeit" dadurch, daß infolge der großzügigen Placierung unbestimmter Rechtsbegriffe im Normtext die Kriterien, die der jeweilige Rechtsanwender am Ende seiner Entscheidung zugrundezulegen hat, weitgehend offen und damit seiner eigenen Beurteilung überlassen bleiben. Auf der anderen Seite ist jedoch zu bedenken, daß von Verfassungs wegen - beispielsweise im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - ebensowenig verlangt werden kann, streng schematische Entscheidungsalgorithmen in den Gesetzen zu installieren, die sicherstellen würden, daß der Staat stets in der gleichen und damit vorhersehbaren Weise auf eine Normverletzung reagiert!3. Eine absolute Genauigkeit kann im Grunde nicht verlangt werden. Vielmehr muß dem jeweiligen Rechtsanwender ein gewisser Handlungsspielraum zugestanden werden, in dem er der Atypik mancher Fälle ausreichend Rechnung tragen kann l4 . Im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz wird es daher genügen, wenn aus der Gesetzesformulierung das potentielle staatliche Eingriffshande1n für den Bürger bestimmbar ist l5 . Ist eine Entscheidungsvoraussetzung jedoch nicht einmal hinreichend bestimmbar, d. h. kann sie nicht einmal im Wege der Auslegung ermittelt werden l6 , so ermöglicht die Regelung keine gerechte und gleichmäßige Rechtsanwendung und genügt

11 12 13

14 15 16

Pott. S. 147; weitere Nachweise bei Kausch. S. 156. Vgl. Weigend. Anklagepflicht und Ermessen. S. 71. Vgl. Weigend. Anklagepflicht und Ermessen, S. 72. Weigend. Anklagepflicht und Ermessen. S. 72 f. Süß. Vom unmöglichen Zustand, S. 209; vgl. auch Döhring. S. 23. Vgl. Degenhart. Staatsrecht I, Rn. 302.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

daher nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen hinsichtlich der Bestimmtheit eines Gesetzes.

11. Gleichheitsgrundsatz

Opportunität kann des weiteren dem Bemühen um eine weitgehende Rechtsanwendungsgleichheit im Wege stehen. Eine "Verbindungslinie von Art. 3 GG zum Legalitätsprinzip,,17 ist schnell gezogen, wenn es um die Forderung nach Gleichbehandlung der Bürger durch die Staatsgewalt geht. Die Zulässigkeit von Zweckmäßigkeitserwägungen im Einzelfall könnte einer gleichmäßigen, ohne Ansehen der Person vorgenommenen Strafverfolgung abträglich sein und sich in Widerspruch zum verfassungsrechtlichen G1eichheitsgrundsatz in Art. 3 GG setzen. Bevor jedoch der Konflikt beschworen wird, gilt es ebenfalls zu berücksichtigen, "daß der Grundsatz der Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte die komplementäre Forderung nach differenzierender Behandlung wesentlich ungleicher Tatbestände impliziert,,18. Opportunität kann demnach ihrerseits einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Gleichheitssatz zu verwirklichen und im Einzelfall zu einer gerechten Lösung zu gelangen 19. Und dennoch: Mag auch die Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse eine Verwirklichung der Gleichheit im Einzelfall nur aufgrund eines opportunen Handlungsspielraums des Rechtsanwenders ermöglichen, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß durch Opportunität in der Rechtsanwendung die Türe für gleichheitsgefährdende Einflüsse ganz weit offen ist. Wo Raum ist für Zweckmäßigkeitserwägungen, da werden zumindest die Gelegenheiten vermehrt, unsachgemäße Motive in die Entscheidung einfließen zu lassen. Dazu heißt es bei Hasseme?o: "Das Opportunitätsprinzip kann ... nicht sicher ausschließen, daß soziale (politische, finanzielle, personale) Macht die Anwendung der Strafrechtsnormen beeinflußt und damit das Gebot der Gleichbehandlung verletzt."

111. Unschuldsvermutung

Die in Art. 611 EMRK und in verschiedenen Länderverfassungen 21 positivrechtlich normierte Unschuldsvermutung ist durch das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 III 17 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 75 m. w. N.; vgl. dazu auch bereits oben "Teil1.A.II.1.a)bb)(2)(c)". 18 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 76 mit Verweis auf BVerfGE 4, 31 (42); 16, 6 (24 f.); 25,198 (205). Vgl. dazu auch bereits oben "Teil 1. A.II.1.a)bb)(2)(c)". 19 Faller; FG Maunz, S. 81. Vgl. dazu bereits oben "Teil1.C.I.2." sowie "Teil1.C.II.3.a)". 20 Hassemer; FS StA Schleswig-Holstein, S. 530. Dazu im einzelnen unten "Teil3.D.III.". 21 Berlin Art. 6 11; Bremen Art. 3; Hessen Art. 20 II S. 1; Rheinland-Pfalz Art. 6 III S. 2; Saarland Art. 1411; vgl. Kunz, Bagatellprinzip, S. 71 Fn. 84e.

A. Überblick über mögliche verfassungsrechtliche Konfliktfelder

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GG konstitutionell garantiert: das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet ein faires Verfahren, in dem niemand als schuldig behandelt werden darf, bevor der Nachweis seiner Schuld durch ein rechtskräftiges Urteil eines ordentlichen Gerichts erbracht ist22 . Die Garantie, als Unschuldiger nicht verfolgt zu werden, gilt zudem als "Ausfluß" von Art. I I GG23 ; und "sogar Art. 25 GG wurde herbeibemüht, um der Unschuldsvermutung die letzte Würde einer allgemeinen Regel des Völkerrechts zu verleihen,,24. Insbesondere für den Fall, daß eine opportune Einstellungsentscheidung der Strafverfolgungsbehörden die Verfahrensbeendigung mit einer Belastung für den Beschuldigten - etwa in Form der Auferlegung einer Auflage oder Weisung nach § 153 al StPO - verknüpft, könnte das Fehlen eines vorangegangenen richterlichen Schuldspruchs im Hinblick auf diesen Grundsatz bedenklich sein. Sieht man dagegen in Ermangelung eines formalen ethischen Unwerturteils die Unschuldsvermutung des Art. 611 EMRK gewahrt, schließt sich für den Einstellungsfall unter Verhängung von Auflagen und Weisungen zwangsläufig die Frage nach einer Verletzung des Schuldprinzips nulla poena sine culpa an 25 .

IV. Gewaltenteilungsprinzip Tragendes Organisationsprinzip des Rechtsstaates ist das Gewaltenteilungsprinzip in Art. 2011 S. 2 GG26 , wonach die Staatsfunktionen der Gesetzgebung, der Regierung und Verwaltung sowie der Rechtsprechung von unterschiedlichen Organen wahrgenommen werden. Zur Überwindung des ,Jeder Gewaltanwendung immanenten Strebens nach unbeschränkter, lediglich an Zweckmäßigkeitserwägungen gebundener Machtausübung,,27 führte das Gewaltenteilungsprinzip zur Aufspaltung der einheitlichen Staatsgewalt in einander kontrollierende Teilgewalten der Legislative, Exekutive und Judikative. Im Strafverfahren hat die Abspaltung der Errnittlungstätigkeit von der aburteilenden Tatigkeit der Richter zur Beendigung des Inquisitionsprozesses und damit zu einer formellen Absicherung der rechtsstaatlichen Funktionentrennung geführt28 . Aufgrund dieser ,Justizinternen Gewaltenteilung" steht das Strafverfahren nunmehr unter der Herrschaft zweier verschiedener und auch voneinander unabhängiger Organe. Im Kontext dieser Funktionen22 BVerfGE 19, 342 (347); 22, 254 (265); 25, 327 (331); 34, 384 (397); 35, 311 (320); 74, 358 (369 f.). 23 Vgl. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 242 Fn. 316 m. w. N. 24 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 242 mit Verweis auf Frister; Jura 1988, S. 357. 25 Dazu im einzelnen unten "Teil 3.B.lV." sowie "Teil 3.D.VI.". Das Schuldprinzip ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein verfassungsrechtlich durch das Rechtsstaatsprinzip garantiertes Prinzip, vgl. BVerfGE 50, 125 (133); 50, 205 (214). 26 BVerfGE 2, 1 (13); 34, 52 (59). 27 Gössel, FS Dünnebier, S. 123; vgl. dazu auch Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 231: "Staatseinheit wird dreifach ausgefaltet und in der einen Dreifaltigkeit wieder hergestellt umwillen Machtverteilung, Machthemmung und Machtkontrolle. " 28 Gössel, FS Dünnebier, S. 123. Vgl. dazu unten "TeiI3.D.lV.4.".

9 Horstmann

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

trennung besagt Art. 92 GG, daß die rechtsprechende Gewalt allein den Richtern anvertraut ist. Versteht man unter "Rechtsprechung" die Entscheidung über die Strafbarkeit eines festgestellten Verhaltens, könnte der Grundsatz der Gewaltenteilung für den Fall gefährdet sein, daß Ermittlungsbehörden - wie im Falle opportunitätsgeleiteter Einstellungsentscheidungen - selbständig über die Nichtverfolgung von Straftaten entscheiden können29 . Des weiteren könnte man die Befürchtung äußern, daß der Staatsanwalt im Rahmen seiner Einstellungstätigkeit aus Opportunitätsgründen unter gleichzeitiger Verhängung von Auflagen und Weisungen (§ 153 a StPO) in einem Bereich tätig wird, der von Verfassungs wegen allein den Richtern vorbehalten ist3o .

V. Rechtsschutzgarantie Ein weiteres Problemfeld im Zusammenhang mit Opportunität im Strafverfahren könnte sich mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie in Art. 19 IV GG ergeben. Opportunitätsgeprägte Einstellungsvorschriften verfügen mitunter nicht über die verfassungsrechtlich gebotene Absicherung und gefährden damit nachhaltig die Verfahrensgerechtigkeit. Die Abwesenheit institutionalisierter Kontrollmechanismen erzeugt bei Opportunitätseinstellungen ein regelrechtes "Rechtsschutzvakuum,,3l. So hat der Gesetzgeber den gesamten Bereich der opportunitätsgeprägten Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO durch § 172 11 S. 3 StPO ausdrücklich von der Möglichkeit der Durchführung eines Klageerzwingungsverfahrens im Sinne der §§ 172 ff. StPO ausgeschlossen und auf diesem Wege sämtliche "gängigen" Verfahrenseinstellungen der Kontrolle durch den Verletzten entzogen 32 . Ob dem Verletzten in diesen Fällen der Rechtsweg nach §§ 23 EGGVG offensteht, ist jedenfalls zweifelhaft. Des weiteren ist auch die NichteinsteIlung eines Verfahrens trotz Vorliegens der Einstellungsvoraussetzungen offensichtlich einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen und demzufolge im Hinblick auf Art. 19 IV GG allemal einer genaueren Betrachtung wert33 . Weder dem Beschuldigten noch dem Verletzten scheint demnach im Rahmen opportunitätsgeleiteter Verfahrenseinstellungen ein durchsetzbares Recht auf eine Überprüfung der Opportunitätsentscheidung zuzustehen. Dieser Aspekt zurückgedrängter Rechtsstaatlichkeit scheint indes mit dem Rechtsschutzgebot in Art. 19 IV GG kaum vereinbar. 29 Dazu Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 531: "Nicht die weisungsabhängige Staatsanwaltschaft, sondern der unabhängige und nur dem Gesetz unterworfene Richter ist diejenige Instanz, welche Verdächtige oder Straftäter freistellen darf." 30 Dazu im einzelnen unten "Teil 3.D.lY.", wo auch die gleichsam problematische (abstrakt-generelle) Festlegung von Strafbarkeitsgrenzen durch exekutivische Richtlinien thematisiert werden wird. 31 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 36. 32 Vgl. dazu im einzelnen unten "TeiI3.D.V.". 33 Zu diesen Problemkreisen im einzelnen unten "TeiI3.D.V."; ferner zuvor "Teil3.B.V.".

B. Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen

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B. Die Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen Zunächst: Die sanktionslose Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO Nachdem die Schauplätze möglicher Konflikte im Zusammenhang mit einer opportunitätsgeleiteten Verfahrens gestaltung benannt sind, soll nunmehr im Anschluß - beginnend mit der Ermächtigung zum Absehen von der Strafverfolgung im (absoluten) Geringfügigkeitsfall nach § 153 StPO - eine konkrete Auseinandersetzung mit einigen zentralen opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschriften erfolgen.

J. Anwendungsvoraussetzungen Nach § 153 I StPO kann die Staatsanwaltschaft, nicht hingegen die Polizei, "von der Verfolgung" der Tat absehen, wenn - das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand hat, - die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, - kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht, und wenn entweder - die Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts vorliegt (S. 1) oder - es um ein Vergehen geht, das nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind (S.2)34.

Die konjunktivische Fassung der Schuldklausei in § 153 I StPO läßt eine auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen gestützte Feststellung genügen, daß eine Schuld, sofern sie besteht, nach der derzeitigen Verfahrenslage nicht erheblich ist. Erforderlich ist demnach eine bloß hypothetische Schuldbeurteilung35 , die regelmäßig 34 Durch die Neufassung des § 153 I S. 2 StPO im Jahre 1993 (dazu im einzelnen unten "Teil 3.B.II.") ist das Erfordernis gerichtlicher Zustimmung bei allen Vergehen entfallen, die nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht sind, vorausgesetzt, die durch die Tat verursachten Folgen sind gering. Bis zur Novellierung im Jahre 1993 war die zustimmungsfreie Einstellungsermächtigung auf solche Vergehen beschränkt, die gegen fremdes Vermögen gerichtet waren. Die Folge: Ein erheblicher Teil der Vergehenskriminalität kann damit, falls die Staatsanwaltschaft die Voraussetzungen des § 153 I S. 1 StPO bejaht und von geringen Tatfolgen ausgeht, zustimmungsfrei eingestellt werden. Durch den Verweis in § 153a I S. 7 StPO auf § 153 I S. 2 StPO erweitert sich zugleich der Bereich der von gerichtlicher Zustimmung freigestellten Anwendung des § 153a I StPO; vgl. Böttcher/Mayer, NStZ 1993, S.154. 35 BVerfGE 82, 106 (116); vgl. auch Beulke, S. 161; eramer; wistra 1999, S. 291 m. w. N.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

eine vollständige Sachaufklärung, d. h. eine "Durchennittlung", entbehrlich mache 6 . Mit den Merkmalen "geringe Schuld" und "öffentliches Interesse", die kumulativ vorliegen müssen, knüpft die Vorschrift die Verfahrenseinstellung an zwei unbestimmte Rechtsbegriffe 37 , deren inhaltliche Konkretisierung dem jeweiligen Rechtsanwender überlassen bleibt. Ob und gegebenenfalls inwieweit ihm jedoch bei Bejahung der "Opportunitätsvoraussetzungen,,38 ein (weiterer) Entscheidungsfreiraum bzgl. der Einstellungsfrage verbleibt, hängt entscheidend davon ab, ob man dem Rechtsanwender im Rahmen von § 153 StPO ein (zusätzliches) Ermessen eingeräumt sehen will oder niche 9 . Die Unterscheidung zwischen Ermessen auf der einen und sog. unbestimmten Rechtsbegriffen auf der anderen Seite entstammt originär dem Verwaltungsrecht und läßt sich auf das Strafprozeßrecht übertragen 4o . Nach dieser Unterteilung gehört der unbestimmte Rechtsbegriff zum gesetzlichen Tatbestand einer Norm und wird auf dem Subsumtionswege zur rechtlichen Bewertung eines Sachverhalts herangezogen, wohingegen das Ermessen dem Bereich der Rechtsfolgen zugeschrieben wird41 • Im Zusammenhang mit § 153 StPO verführt nun der Wortlaut der Norm ("kann") zu der Annahme, daß auch bei Vorliegen der in § 153 I StPO genannten Voraussetzungen die Staatsanwaltschaft in ihrer Entscheidung darüber, das Verfahren einzustellen oder aber die Ennittlungen voranzutreiben, eine Ermessensentscheidung zu treffen ermächtigt ist. Nun scheint es aber so, als würden bei 36 Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 7; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153 Rn. 3; LR-Rieß, § 153 Rn. 33. 37 So beispielsweise Beulke, S. 161; Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 12; Husmann, MDR 1988, S. 729; Kröpil, DRiZ 1986, S. 19; LR-Rieß, § 153 Rn. 2; Schlüchter, S. 17; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 20. Der Bundesgerichtshof (BGHSt. 16, 225 (231» hingegen geht im Falle des "öffentlichen Interesses" von einem Ermessensbegriff aus. 38 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 20. 39 Neben einer (reinen) Ermessensentscheidung könnte es sich bei § 153 StPO auch um eine sog. Koppelungsvorschrift handeln, bei der auf der Tatbestandsseite mittels unbestimmter Rechtsbegriffe zunächst über die Anwendbarkeit der Norm entschieden wird, und für die anschließend - im Falle eines positiven Befunds - auf der Rechtsfolgenseite zusätzlicher Raum für ermessensgeleitete Erwägungen eröffnet ist; vgl. Döhring, S. 137. Zur vergleichbaren Frage, ob es sich bei der Entscheidung über das Vorliegen eines "besonderen öffentlichen Interesses" im Rahmen von § 230 StGB um eine Ermessensentscheidung handelt, vgl. LKHirsch, § 230 Rn. 16, der dies - entgegen der insoweit h.M. - für die Entscheidung über das "ob" eines besonderen öffentlichen Interesses verneint. Im Ermessen der Staatsanwaltschaft stehe nur die Entscheidung, ob aufgrund des vorliegenden öffentlichen Interesses eingeschritten werden solle. Die Voraussetzung dieser Entscheidung, d. h. das Bestehen des besonderen öffentlichen Interesses, sei dagegen der Ausübung eines Ermessens nicht zugänglich. 40 Vgl. hierzu insbesondere Bachof, JZ 1955, S. 97 ff.; vgl. auch Erb, Legalität und Opportunität, S. 42 Fn. 50; Husmann, MDR 1988, S. 729 m. w. N.; Kröpil, DRiZ 1986, S. 19 m.w.N. 41 Husmann, MDR 1988, S. 729 m. w. N.; Kröpil, DRiZ 1986, S. 19 m. w. N.; derselbe, NJW 1992, S. 655 m. w. N.

B. Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen

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der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe, namentlich bei der Entscheidung über das Vorliegen einer "geringen Schuld" sowie eines öffentlichen Strafverfolgungsinteresses, alle denkbaren Argumente für bzw. gegen eine Verfahrenseinstellung bereits von der Tatbestandsebene aufgenommen42 . Indem der Rechtsanwender über die vorgenannten Merkmale entscheidet, ergänzt er die Auslegung regelmäßig um ermessenslenkende Umstände. Auf diese Weise verlagert er praktisch die Ermessensausübung in den Tatbestand hinein und faßt das Konkretisierungsergebnis der unbestimmten Rechtsbegriffe mit potentiellen Ermessensgesichtspunkten zu einer einheitlichen Entscheidung zusammen43 . Insgesamt erscheint es daher auch sachgerechter, im Rahmen von § 153 StPO von einem Beurteilungsspielraum zu sprechen, der bereits auf der Tatbestandsseite Strukturen vorgibt, die wiederum die gesamte Einstellungsentscheidung zur Rechtsanwendung werden lassen44 . Denn: fließen bei der Prüfung der unbestimmten Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite bereits alle entscheidungserheblichen Kriterien ein, die auch im Rahmen des (pflichtgemäßen) Ermessens eine Rolle spielen würden, legt sich die rechtsanwendende Behörde mit Bejahung der Anwendungsvoraussetzungen fest. In diesem Fall gibt es hinsichtlich der Rechtsfolgenseite nur eine pflichtgemäße Handlungsalternative: das "kann" wird zum "muß,,45. Im Grunde ist der Streit, ob es sich im Rahmen von § 153 StPO um eine Ermessensentscheidung oder die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe unter Zubilligung eines Beurteilungsspielraums handelt, jedoch "weitgehend akademischer Natur,,46. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Unterschiede zwischen beiden Kategorien bei weitem nicht so groß sind, wie manches Mal behauptet wird. So ist beispielsweise auch die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe schlußendlich keine reine Rechtsanwendung, sondern von Wertungen durchzogen, die einer Ermessensausübung oft sehr nahekommen47 . Der mitunter weite Beurteilungsspielraum, der unbestimmten Rechtsbegriffen anhaftet, läßt in vielen Fällen gleichsam mehr als nur eine richtige Entscheidung ZU48 . Unbestimmte Rechtsbegriffe - augenscheinKeller, GA 1983, S. 517 m. w. N. Vgl. Erb, Legalität und Opportunität, S. 44 m. w. N.; Keller, GA 1983, S. 517. 44 Heinrich, NStZ 1996, S. 113 m. w. N.; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 78; Keller, GA 1983, S. 517 m. w. N.; KreylPföhler, NStZ 1985, S. 149 m. w. N.; LR-Rieß, § 152 Rn. 50; derselbe, § 153 Rn. 35; Naucke, FS Maurach, S. 205 Fn. 25 m. w. N.; Ranft, S. 272; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 132; Schröder, FS Peters, S. 418; Terbach, NStZ 1998, S. 175. 45 Beulke, S. 161; Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 12; Döhring, S. 137 m. w. N.; Erb, Legalität und Opportunität, S. 46 m. w. N.; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 78; Keller, GA 1983, S. 517, der darauf hinweist, daß in den Worten ,,kann" o.ä. sachlich kein Spielraum mehr stecke. Vgl. weiterhin Kräpil, DRiZ 1986, S. 19; ebenso Warda, Dogmatische Grundlagen, S. 96. Nach Terbach, NStZ 1998, S. 175 erweist sich die Formulierung "kann" in den Vorschriften der §§ 153, 153a StPO als "pleonastisch"; eine eigenständige Bedeutung komme ihr nicht zu. Vgl. dazu auch Hobe, FS Leferenz, S. 646. 46 Heghmanns, NStZ 1991, S. 114. Vgl. auch SK-Weßlau, § 152 Rn. 32. 47 Warda, Dogmatische Grundlagen, S. 23 m. w. N. 42

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

lieh ohnehin ein Neologismus der Jurisprudenz - unterscheiden sich daher eigentlich auch nur quantitativ, d. h. im Grad ihrer Unbestimmtheit, von bestimmten Gesetzesbegriffen49 • Bei diesem Verständnis ist es gleichsam naheliegend, am Ende auch die Ermessensausübung lediglich als einen "Unterfall der Rechtsanwendung" anzusehen, und zwar als einen solchen, bei dem die Wertungsspielräume eben besonders groß sind5o • Bei der Suche nach Gemeinsamkeiten beider Kategorien ist weiterhin darauf hinzuweisen, daß auch im Falle von Ermessen dem Rechtsanwender keineswegs ein rechtsfreier Entscheidungsspielraum zugestanden wird: Jede rechts staatliche Ermessensausübung unterliegt anerkanntermaßen rechtlichen Bindungen51 . Um zu verhindern, daß ein eingeräumter Handlungsspielraum der Beliebigkeit - und damit der Willkür - anheimfällt, wird die ermessensgeleitete Rechtsentscheidung im modemen Rechtsstaat durch Verbote der Ermessensüberschreitung, des Ermessensrnißbrauchs und des Ermessensfehlgebrauchs eingeschränkt52 . Eine merkliche Unterscheidung zwischen Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen gibt es derweil bei der Frage nach dem Umfang einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit der entsprechenden Entscheidungen53 • Während die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs als eine Rechtsfrage - bis auf nur wenige Ausnahmen54 - einer vollen richterlichen Kontrolle unterliegt55 , sind die eigenverantwortlichen Entscheidungskompetenzen des Rechtsanwenders bei der Ermessensausübung insoweit weiter gesteckt, als daß die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Ermessen weit mehr Beschränkungen unterliegt56 . Obwohl sich auch diese Erkenntnisse aus dem Verwaltungsrecht auf das Strafprozeßrecht übertragen lassen, sind 48 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 199; Warda, Dogmatische Grundlagen, S. 25; vgl. auch Heghmanns, NStZ 1991, S. 114. Wegen der Weite der unbestimmten Rechtsbegriffe laufe die Handhabung der Einstellungsvorschriften regelmäßig auf eine "ermessensähnliche Entscheidung (im untechnischen Sinne) hinaus"; vgl. Aulinger, S. 26 mit Verweis auf LRRieß, § 153 Rn. 36. 49 Da schließlich die gesamte Sprache unbestimmt ist (ansonsten würde sie - was den Transport von Sinngehalten anbelangt - gar nicht funktionieren), entscheidet letztlich nur der Grad der Unschärfe über die Klassifizierung eines Begriffs als "unbestimmt"; vgl. Erb, Legalitätchen Opportunität, S. 44 ff.; Husmann, MDR 1988, S. 729 f.; KTÖpil, DRiZ 1986, S. 20 m. w. N.; Warda, Dogmatische Grundlagen, S. 25 m. w. N. 50 Erb, Legalität und Opportunität, S. 51 m. w. N. 51 Bachof, JZ 1955, S. 98; Erb, Legalität und Opportunität, S. 47 m. w. N.; Warda, Dogmatische Grundlagen, S. 111; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 22 m. w. N. 52 Vgl. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 201. 53 Bachof, JZ 1955, S. 98; Frisch, NJW 1973, S. 1345; Kröpil, NJW 1992, S. 655. 54 Einer eingeschränkten Nachprütbarkeit unterliegen beispielsweise beamtenrechtliche Beurteilungen (vgl. BVerwGE 21, 127 ff.; 60, 245; 61, 176) sowie Prüfungs- und prüfungsähnliche Entscheidungen (vgl. BVerwGE 8, 272; 12, 359; 38, 105). Die Beschränkung zollt dabei der Erkenntnis Tribut, daß die Verwaltung in den angesprochenen Situationen "näher dran" ist und aufgrunddessen über einen Erkenntnisvorsprung verfügt. 55 Bachof, JZ 1955, S. 98 f.; Husmann, MDR 1988, S. 729; KTÖpil, DRiZ 1986, S. 20. 56 Frisch, NJW 1973, S. 1348 m. w. N.

B. Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen

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sie im vorliegenden Fall weitestgehend ohne Belang. So stellt sich im Rahmen des § 153 StPO die Kompetenzfrage bereits deshalb nicht, weil- wie zu einem späteren Zeitpunkt zu zeigen sein wird - bei den Opportunitätseinstellungen regelmäßig "weder eine Kontrolle, noch ein Kontrollorgan vorgesehen" ist57 . Es bleibt demnach festzuhalten, daß dem Rechtsanwender im Rahmen des § 153 StPO ein weitläufiger (nichtkontrollierter) Entscheidungsspielraum eröffnet ist, bei dem die Rechtsfolgenentscheidung durch eine umfassende Beurteilung des Sachverhalts im Tatbestand bereits determiniert ist. Gemäß § 15311 StPO geht nach Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 IStPO) die Zuständigkeit zur Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit auf das Gericht über. Zur gerichtlichen Verfahrenseinstellung ist die Zustimmung der Staatsanwaltschaft und - mit der Ausnahme in § 15311 S. 2 StPO - grundsätzlich auch des Angeschuldigten erforderlich. Diese Einstellungsentscheidung ergeht nach § 15311 S. 3 StPO durch Beschluß und ist unanfechtbar (§ 15311 S. 4 StPO).

11. Entstehungsgeschichtliches und kriminalpolitischer Hintergrund

Die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit ist durch § 23 der Verordnung der Reichsregierung vom 4. 1. 192458, die nach dem damaligen Reichsjustizminister Emrninger benannt wurde, ermöglicht worden. Im Zuge der Neufassung der Strafprozeßordnung am 22.3. 192459 wurde die Vorschrift schließlich als § 153 eingeordnet. Gesetzgeberisches Motiv für eine Regelung, wie § 153 StPO sie vorsieht, ist zur damaligen Zeit - gerade auch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der zu Ende gegangenen Inflation - der Wunsch nach Einsparungen auf dem Gebiet der Strafrechtspflege gewesen, wobei die Reform - und insoweit unabhängig vom ökonomischen Aspekt - auch von einer "lebhafte(n) Grundsatzdiskussion um die Fragen des Legalitäts- und Opportunitätsprinzips" begleitet war60 . Die Vorschrift des § 153 StPO ist in der Folgezeit, auch nachdem sie nach Kriegsende durch Art. 3 Nr. 62 des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12.9. 195061 ihre ursprüngliche Fassung aus dem Jahre 1924 zunächst zurückerhalten hatte, 57 NelleslVelten, NStZ 1994, S. 368: "Die Einordnung einer Norm als ,Ermessensermächtigung' (auf der Rechtsfolgenseite) oder als (gerichtsfreier) Beurteilungsspielraum (auf Tatbestandsseite ) soll die Frage beantworten, ob die Rechtsordnung in bestimmten Fällen die subjektive Entscheidung bzw. das subjektive Erkenntnisbemühen der Verwaltungsbehörde zur Gesetzesvollziehung für ausreichend ansieht und ihr insoweit einen Spielraum eigenverantwortlicher, richterlicher Kontrolle nicht unterworfenen Handelns einräumt." Zur gegenwärtigen Rechtsschutzsituation bei §§ 153, 153a StPO vgl. im einzelnen unten "Teil 3.B.V." bzw. "Teil3.D.V.". 58 RGBl. 1924 I, S. 15. Vgl. dazu bereits oben "Teill.A.II.4.". 59 RGBl. 1924 I, S. 299. 60 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 204 m. w. N. 61 RGBl. 1950 I, S. 455. Vgl. dazu bereits oben "Teill.A.II.4.".

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

mehrfach geändert worden 62 . Zuletzt erweiterte das "Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege" vom 11. 1. 1993 63 den Anwendungsbereich des § 153 I S. 2 StPO, indem es die vormals bestehende Voraussetzung, daß es sich bei der einstellungsfähigen Tat um ein Vermögensvergehen handeln müsse, gestrichen hat. Ziel der Neuregelung war es, "die in der Praxis auftauchenden Unsicherheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten zu beseitigen, die dadurch entstehen können, daß der durch den Beschuldigten möglicherweise verwirklichte Straftatbestand zwar auch fremdes Vermögen, daneben aber auch andere Rechtsgüter schützen soll,,64. Nun soll § 153 StPO auch außerhalb von Vermögensstraftaten dafür Sorge tragen, daß "die schnelle und effektive Verfolgung schwerer Straftaten nicht unter der Belastung der Strafjustiz mit geringfügigen Verfehlungen leidet,,65. Über seine justizentlastende Funktion hinaus ist § 153 StPO auch mit Entkriminalisierungsaufgaben betraut. Die Vorschrift dient auf prozessualem Wege der Beschränkung materiellen Strafrechts, indem sie nicht sanktionswürdige Verhaltensweisen aus dem Bereich des Kriminalstrafrechts aussondert und folgenlos stellt66 .

III. Ungleichheit der Rechtsanwendung bei § 153 StPO infolge weitgehend unbestimmter Anwendungsvoraussetzungen Bei den sachlichen Anwendungsvoraussetzungen des § 153 StPO bedient sich der Gesetzgeber mehrerer Rechtsbegriffe, die an Unbestimmtheit schlechterdings keine Wünsche offen lassen. "Geringe Schuld" und "öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung sind weitestgehend konturenlose Umschreibungen, die im Gesetz selbst keine Konkretisierung erhalten haben. Gleichwohl macht der Gesetzgeber von ihnen - insbesondere im Fall des "öffentlichen Interesses" - regen Gebrauch und überläßt es dem jeweiligen Rechtsanwender, diese Eckpfeiler für eine Geringfügigkeitsbeurteilung im Einzelfall mit Leben zu füllen. Was einerseits eine flexible Handhabe ermöglicht, zieht andererseits Bedenken hinsichtlich des Gleichheitsgebots nach sich. Eine gleichmäßige Rechtsanwendung scheint gefabrdet, sofern die Entscheidungsfindung nicht an klare und absolute Rechtsbegriffe angebunden ist67 . Dabei hat die Novelle im Jahre 1993 die Situation nicht etwa entspannt, sondern weiter verschärft. Mit den "geringen Folgen" der Tat löste ein Merkmal das vormalige Geringfügigkeitserfordernis des "geringen Schadens" ab, das dem Rechtsanwender neuerdings einen noch größeren Spielraum bei der Konkretisierung des Begriffsinhaltes liefert und auf diese Weise weitere UngleichheiVgl. dazu Krümpelmann. Die Bagatelldelikte, S. 204 f. BGBl. 1993 I, S. 50. 64 SiegismundlWickem. wistra 1993, S. 83 mit Verweis auf den Gesetzentwurf des Bun. desrates, BT-Drs. 12/1217, S. 34. 65 Heidelberger K.-Krehl. § 153 Rn. 1. 66 Vgl. dazu für den Fall des § 153a StPO unten "TeiI3.C.III.I." sowie "TeiI3.D.xIII.". 67 Vgl. dazu Wagner, FS für den 45.DJT, S. 171. 62 63

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ten in der Anwendung heraufbeschwört. Die Gesetzesentwurfsbegründung enthält insoweit keine Definition des verwandten Begriffes, für den es auch im StGB und in der StPO kein Vorbild gibt68 • Nachfolgend sollen die einzelnen Merkmale des § 153 StPO einer genaueren Betrachtung unterzogen und auf eine etwaige Konkretisierung durch Wissenschaft und Literatur hin untersucht werden.

1. "Geringe Schuld"

Läßt sich das Vorliegen eines "Vergehens" als Anwendungsvoraussetzung des § 153 StPO nach Maßgabe des § 1211 StGB noch ohne weiteres feststellen, so bereitet die "geringe Schuld" deutlich mehr Schwierigkeiten bei ihrer Bestimmung. Nur eines ist sicher: Ein rein intuitives Vorgehen - insoweit mag man vielleicht ahnen, was mit "geringer Schuld" in etwa gemeint ist - hilft bei der konkreten Festlegung eines Verschuldensgrades regelmäßig nicht weiter69 . Bei der Ermittlung der Bagatellqualität einer Tat ist sowohl der qualitative Teil "Schuld" als auch die quantitative Grenzziehung "gering" einer "unzweideutigen Inhaltsbestimmung nur schwer zugänglich,,7o. ,,schuld" ist insoweit als Einzeltatschuld oder als Strafzumessungsschuld deutbar. Ob des weiteren eine Schuld im Einzelfall als "gering" anzusehen ist, klärt nur eine Komparation mit anderen Verschuldensfällen, wobei im Hinblick auf den Berechnungs- und Vergleichsmaßstab erneut keine Einigkeit besteht. Doch der Reihe nach:

a) Der Schuldbegriffin § 153 StPO Zur Interpretation des Schuldbegriffs in § 153 StPO haben sich zwei Lehrmeinungen herausgebildet. Die eine begreift die Schuld in einem engeren Sinne als Einzeltatschuld, die andere, wohl überwiegend vertretene Auffassung, versteht die Schuld hingegen in einem weiteren Sinne als Strafzumessungsschuld, die an § 46 11 StGB orientiert ist.

aa) Einzeltatschuld Eine in der Minderzahl befindliche Ansicht71 lehnt eine Qualifizierung der "Schuld" in § 153 StPO als Strafzumessungsschuld ab und beruft sich dabei in erster Linie auf den Funktionszusarnmenhang, in dem § 153 StPO vom Gesetzgeber Vgl. Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 83. Paschmanns, S. 87. 70 Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 21. 71 Bloy, GA 1980, S. 172 f.; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 212 ff.; Paschmanns, S. 132 ff. 68

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eingestellt worden sei. Der Begrenzungsfunktion der Vorschrift, die als Ergebnis einer kriminalpolitischen Entscheidung zugunsten der intensiveren Bekämpfung schwererer Kriminalität solches Verhalten ausfiltern soll, das nicht sanktionsbedürftig erscheint, werde nur das Bestimmungskriterium der Einzeltatschuld, nicht hingegen das der Strafzumessungsschuld gerecht72 . Der Schuldklausei in § 153 StPO komme die Aufgabe zu, "im Interesse einer sinnvollen Prioritätensetzung,,73 Strafverfolgung zu begrenzen, nicht jedoch, eine individuelle Betrachtung des Falles zu ermöglichen74 . Die Bewertung einer Tat als Bagatelldelikt, die im Ergebnis die kriminalpolitisch gewünschte Reaktion der Verfahrenseinstellung auslösen soll, könne nach dieser Auffassung "nicht davon abhängig sein, ob der Täter jung oder alt ist oder ob er eine gehobene soziale Stellung innehat oder nicht ... Ebensowenig können generalpräventive Gründe Einfluß auf die Geringfügigkeitsfeststellung haben. Die Tatsache, daß die Kriminalitätsquote eines bestimmten Bagatelldelikts auffällig ansteigt, kann dieses zu einem kriminalpolitisch oder kriminologisch bedeutsamen Delikt machen. Die einzelne Tat hingegen bleibt eine Bagatelltat,,75. Hiernach hängt die Entscheidung über die Bagatellqualität einer Tat allein vom Grad des tatbestandsmäßigen Unrechts ab76 . Losgelöst von weiteren verfahrensrechtlichen Überlegungen erfolgt zunächst eine verobjektivierte Bewertung der einzelnen Straftat, wobei als Bestimmungskriterium für die ,,schuld" im Sinne des § 153 StPO die Einzeltatschuld dient.

bb) Strafzumessungsschuld Überwiegend wird der Schuldbegriff in § 153 StPO im Sinne einer Strafzumessungsschuld interpretiert und für die Beurteilung der Geringfügigkeit auf § 46 11 StGB hingewiesen, der die wichtigsten der dafür maßgeblichen Kriterien zusammenfasse 77 • So wird nach dieser Ansicht in einer Parallele zur Strafzumessung das Bloy, GA 1980, s. 172; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 214; Paschmanns, s. 132. Bloy, GA 1980, S. 172. 74 Krümpelmann, S. 214. 75 Paschmanns, S. 134 f. 76 Meyer, GA 1997, S. 405. 77 Beulke, S. 161; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 160; Boxdorfer, NJW 1976, S. 318; eramer, wistra 1999, S. 291; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 28; Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 8 m. w. N.; Hobe, FS Leferenz, S. 629 ff.; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 919; Keller/ Schmid, wistra 1984, S. 205; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153 Rn. 4 m. w. N.; Krey, S.74; Kühne, S. 243; LR-Rieß, § 153 Rn. 21; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 32; Meyer, GA 1997, S. 405 f. m. w. N.; Müller/Wache, FS Rebmann, S. 329; Ranft, S. 275; Rieß, NStZ 1981, S. 8; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 71; Walter, ZStW 95 (1983), S. 63; weitere Nachweise bei Bloy, GA 1980, S. 172 Fn. 54. Die Strafzumessungsschuld grenze sich derweil von der Strajbegründungsschuld dadurch ab, daß letztere die "Funktion persönlicher Zurechenbarkeit tatbestandlichen, rechtswidrigen Unrechts" habe und in ihrer quasi ,,haftungsbegriindenden Funktion" - ohne weitere Abstufungsmöglichkeit - darüber entscheide, ob dem Täter die Tat überhaupt vorgeworfen werden kann, während die Strafzumessung in 72

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für die Beurteilung der Geringfügigkeit benötigte Schuldrnaß unter Zugrundelegung der tat- und täterspezifischen Strafzumessungsgesichtspunkte in § 46 11 StGB ermittelt78 • Neben der Art der Tatausführung79 , den vom Täter verschuldeten Auswirkungen der Tat, dem Maß an Pflichtwidrigkeit80 und den Beweggründen zur Tat81 sei dabei weiterhin von Bedeutung, ob sich der Täter beispielsweise in einem vermeidbaren Verbotsirrtum befunden oder nachvollziehbar in einer besonderen Ausnahmesituation gehandelt habe82 • Berücksichtigt werden müsse zudem, wenn durch das Tätigwerden des Beschuldigten ein Schaden nicht - oder jedenfalls nicht in nennenswertem Umfange - eingetreten sei 83 . Weiterhin könne sich ein hohes Maß an Mitverschulden des Opfers 84 auf die Schuldgradbestimmung ebenso auswirken, wie ein möglicherweise vorhandenes (einschlägig) deliktisches Vorleben des Täters85 . Einfluß auf das Schuldrnaß und damit auf die Einstellungsfähigkeit der Tat wegen Geringfügigkeit schreibt man des weiteren solchen Umständen zu, die in zeitlicher Hinsicht der Tat nachfolgen. In gleicher Weise wie bei der Strafzumessung nach § 46 11 StGB, die das Nachtatverhalten als Zumessungsgesichtspunkt ausdrücklich benennt, müßten auch bei einer Einstellungsentscheidung nach § 153 StPO absehbare künftige Entwicklungen in die Geringfügigkeitsbeurteilung mit einbezogen werden 86 • Neben einer sofortigen oder jedenfalls sicher in Aussicht stehenden Schadenswiedergutrnachung 87, dem bedauernden Einräumen eines Fehlverhaltens sowie freiwilligen Zahlungen (beispielsweise an Bedürftige) durch den Täter könne auch ein ungewöhnlich langwieriges Ermittlungsverfahren bzw. eine überlange Hauptverhandlung ein in die Gesamtwürdigung einzustellender Aspekt sein und im Einzelfall die Schuldfrage (mit-)beeinflussen 88 . der Lage sei, das "Ausmaß individueller Schuld nach Schweregesichtspunkten" (Kunz, Bagatellprinzip, S. 195) zu quantifizieren; vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 71 m.w.N. 78 Die bei der Strafzumessung im Sinne von § 46 11 StGB vorzunehmende Bewertung der Schuld ist gekennzeichnet durch eine Gesamtbetrachtung von Tatgeschehen und Taterpersönlichkeit; vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 71 m. w. N. 79 Habe, FS Leferenz, S. 634; Ranft, S. 275. 80 Heidelberger K.-Krehl, § 152 Rn. 8 m. w. N.; Habe, FS Leferenz, S. 634; KleinknechtMeyer-Goßner, § 153 Rn. 4; Ranft, S. 275; vgl. auch Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 43. 81 Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 8 m. w. N.; Ranft, S. 275; vgl. auch Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 42. 82 Müller/Wache, FS Rebmann, S. 329 f.; Pfeiffer, § 153 Rn. 2. 83 Müller/Wache, FS Rebmann, S. 329, 331. 84 Vgl. Albrecht, ZStW 89 (1977), S. 1097. 85 Ranft, S. 275. Vgl. zudem die Nachweise bei Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 209 Fn. 37. Ebenso Habe, FS Leferenz, S. 634. 86 Cramer, wistra 1999, S. 291; vgl. auch Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 45. 87 Vgl. Nachweise bei Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 209 Fn. 37. 88 LG Aachen, JZ 1971, S. 519 f. Im sog. Contergan-Beschluß vom 18. 12. 1970 (in: JZ 1971, S. 507 ff.) hat das LG Aachen ausführlich zu Fragen der Schuldbemessung im Zusammenhang mit einer Einstellung nach § 153 StPO Stellung genommen und dabei darauf ver-

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Die Gegenansicht, die täterspezifischen Kriterien bei der Frage nach der "geringen Schuld" im Sinne von § 153 StPO kategorisch eine Absage erteile, verkenne, daß das Gewicht einer Tat und die durch sie bewirkte Rechtsverletzung "nur ein wesentliches Kriterium der Bemessung von Strafe" sei, und daß zur Bewertung der Tat - als "ein Stück ... menschlicher Aktivität,,89 - die Persönlichkeit des Taters "nicht ohne Aufmerksamkeit bleiben (könne),,9o. Auch verfange das häufig vorgetragene Argument nicht, ein Rückgriff auf die Strafzumessungsschuld gehe an der Individualisierungsfunktion des § 153 StPO vorbei. Im Gegenteil: Individualisierung schließe eine Begrenzung der Strafverfolgung nicht aus, sondern ein91 . Dazu heißt es bei Meyer92 : "Der Mangel der konkreten Strafwürdigkeit hängt nicht nur vom Grad des tatbestandlichen Unrechts ab, sondern überdies von dem der Schuld. Und ob auch die Schuld gering ist, das ergibt sich nicht allein aus einer am Ausmaß des Unrechts abgeleiteten Schuldbewertung. Vielmehr läßt sich die Frage, ob die konkrete Strafwürdigkeit zu verneinen ist, erst beantworten, wenn auch die speziell für die Strafzumessung maßgeblichen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind." Die Meinungsvielfalt (bereits) in der Frage der inhaltlichen Ausgestaltung des Schuldbegriffs in § 153 StPO läßt erahnen, daß ein Anwendungsmerkmal, das aus wiesen, daß bei der Frage nach der geringen Schuld die "besonderen Umstände des Geschehens ... und die persönliche Situation der Angeklagten ... zu berücksichtigen (seien)" (a. a. 0., S. 518). Bedeutung für die Geringfügigkeitsbeurteilung maß es sowohl dem "Verhalten Außenstehender" - durch dessen Widersprüchlichkeit es für die Angeklagten schwierig gewesen sei, "das tatsächlich Gebotene zu erkennen" (a. a. 0., S. 519) - als auch dem "Interessenkonflikt zwischen den Geboten wissenschaftlicher Gründlichkeit und ärztlicher Verantwortung einerseits sowie einem an sich durchaus legitimen und sogar wirtschaftlich notwendigen Gewinnstreben andererseits" bei. Des weiteren hielt das LG den Angeklagten ihre "enge Bindung" an die Firma und die damit verbundene wirtschaftliche Abhängigkeit (a. a. 0., S. 519) zugute und stellte diesen Aspekt in seine Gesamtwürdigung ebenso ein, wie die "erhebliche Belastung" (aa 0, S. 519) der bis dato nicht vorbestraften Angeklagten, die nach einem sechseinhalb Jahre andauernden Ermittlungsverfahren weitere zweieinhalb Jahre im Rahmen der Hauptverhandlung - in einem "Zustand dauernder physischer und psychischer Belastung" - im "Blickpunkt der Öffentlichkeit" gestanden hätten (a. a. 0., S. 520). 89 Schönke-Schröder-Stree, § 46 Rn. 4; zitiert nach Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 72. 90 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 72. Schirrmacher; S. 41 f. weist zudem zutreffend darauf hin, daß bei der Bewertung des ersten Ansatzpunktes auch nicht außer acht bleiben darf, daß sich die Strafzumessungsdogmatik in den letzten Jahren (Krümpelmanns Monographie datiert aus dem Jahre 1966!) erheblich weiterentwickelt hat. War es Krümpelmann seinerzeit ein - berechtigtes - Anliegen, jegliche moralische Wertung aus der Thematik der Strafzumessungsschuld herauszuhalten, so ist diese Gefahr heute im Hinblick darauf, daß moralische Wertungen bei der Bestimmung der Strafzumessungsschuld keine Rolle mehr spielen, gegenstandslos geworden: "die Lebensführungsschuld als Grundlage der Strafzumessung ist auch bei Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit inakzeptabel"; vgl. Schirrmacher; S.42m.w.N. 91 Meyer; GA 1997, S. 406; ebenso Habe, FS Leferenz, S. 635; ebenso Schirrmacher; S.43. 92 Meyer, GA 1997, S. 406.

B. Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen

141

sich selbst heraus nicht verständlich ist und zu einem solch breiten Meinungsspektrum innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion führt, auch in der Rechtspraxis nur schwer einheitlich handhabbar sein wird. Vagheiten und unpräzise Vorgaben seitens des Gesetzgebers tragen zu einer Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung nichts bei, sie verhindern sie vielmehr. Wenngleich bezüglich des qualitativen Verständnisses von "Schuld" im Sinne von § 153 StPO noch weitgehend Einigkeit herrscht, d. h. sich in Abwesenheit einer richtungsweisenden Judikatur in dieser Frage dennoch eine einigermaßen klare herrschende Meinung herausgebildet zu haben scheint, so wird der Nebel ungleich dichter, wenn es um die quantitative Abgrenzung des Geringfügigkeitsbereichs geht. b) Die Bestimmung des Geringfügigkeitsbereichs im Rahmen von § 153 StPO

Die Bestimmung der "geringen Schuld" in § 153 StPO hat mit der weiteren Schwierigkeit zu kämpfen, daß es der Vorschrift an einer entsprechenden Skala fehlt, anband derer der jeweilige Anwender abzulesen imstande wäre, wann denn genau eine "Schuld" als "gering" anzusehen wäre und demnach eine Einstellung des Verfahrens in Betracht zu ziehen ist, und wann hingegen die Prognose "nichtgeringer Schuld" eine Fortsetzung der Ermittlungen verlangt. Dazu heißt es bei Paschmanns93 : "Das Merkmal ,gering' stellt keine absolute Maßangabe dar. Vielmehr ist es ein Vergleichsergebnis. Eine Sache ist nicht aus sich heraus gering; sie ist es vielmehr erst im Vergleich zu anderen. Zur Durchführung des Vergleichs bedarf es eines Vergleichsmaßstabs. In Beziehung zu etwas ist eine Sache im Vergleich zu einer anderen gering."

aa) Vergleichsmaßstab zur Bestimmung des Schuldgrades Bei der quantitativen Bestimmung der "geringen Schuld" kommt es demnach zunächst einmal darauf an, einen tauglichen Maßstab zu finden, anband dessen man ein deliktisches Verhalten im Einzelfall unter (Strafzumessungs-)Schuldgesichtspunkten mit dem Prädikat "weniger beachtlich" ausstatten und dabei gleichzeitig einem Vergleichsdelikt diese Einstufung versagen kann. Als Vergleichsmaßstab kommt neben einer Orientierung am deliktsspezifischen Strafrahmen ein Rückgriff auf die potentielle Strafe allgemein sowie eine Komparation im Hinblick auf die Schadenshöhe in Betracht. Sollte am Ende ein geeigneter Vergleichsmaßstab gefunden worden sein, gilt es im Anschluß den Bereich festzulegen, der unter kriminologischen und kriminalpolitischen Gesichtspunkten solche Verhaltensweisen umfaßt, die zwar tatbestandlich relevant sind, aufgrund ihrer absoluten Geringfügigkeit jedoch vollständig sanktionslos bleiben können. 93

Paschmanns, S. 137.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

( 1) Deliktsspezijischer Strafrahmen als Bezugspunkt Nach einer im Schrifttum häufig anzutreffenden Auffassung ist die Schuld gering, "wenn sie im Vergleich mit Vergehen gleicher Art deutlich unter dem Mittelmaß des deliktstypischen Schuldgehalts liegt,,94. Legt man dieser vergleichenden Betrachtung weiterhin den jeweils deliktsspezijischen Strafrahmen als Bezugsgröße zugrunde, so kann von einer "geringen Schuld" regelmäßig dann gesprochen werden, "wenn die Strafzumessungsgründe des § 46 11 StGB überwiegend zu Gunsten des Täters sprechen mit der Folge, daß Schuldgesichtspunkte eine Strafe im untersten Bereich des für das jeweilige Delikt geltenden Strafrahmens rechtfertigen würden,,95. Diese deliktsspezifische Komparation ist dann auch die in der Literatur überwiegende Sichtweise bei der Frage nach der Bemessung des quantitativen Teils der SchuldklauseI in § 153 StP096. Das angesprochene Relationskriterium ist jedoch in seiner praktischen Anwendung keineswegs frei von Unsicherheiten. So ist beispielsweise im Hinblick auf den stets unterschiedlichen Erfahrungshorizont, den der jeweilige Rechtsanwender bei der anstehenden Vergleichsüberlegung einbringen wird, eine Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung nahezu unweigerlich vorprogrammiert. Der "Vergleich mit Vergehen gleicher Art" setzt eine annähernd repräsentative Kenntnis ähnlichbzw. gleichgelagerter Fälle voraus. Der im Vergleichswege heranzuziehende Fundus an "Vergehen gleicher Art" dürfte aber beispielsweise bei einem Berufseinsteiger weniger stattlich bestückt sein als bei seinem altgedienten Kollegen97 . Mit der Begriffsumschreibung "wenn sie bei Vergleich mit Vergehen gleicher Art nicht unerheblich unter dem Durchschnitt liegt" ist der täglichen Praxis mithin nicht viel geholfen98 . Gegen die delikts spezifische Vorgehensweise wird weiter eingewandt, Heide1berger K.-Krehl, § 153 Rn. 8 m. w. N. Keller/Schmid, wistra 1984, S. 205. 96 AK-Schöch, § 153 Rn. 15; Eckl, IR 1975, S. 100 m. w. N.; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 28; Hanack, FS Gallas, S. 350; Heinitz, FS Rittler, S. 332; Hobe, FS Leferenz, S. 633 f.; KK-Schoreit, § 153 Rn. 15; Koch, DAR 1961, S. 8; LR-Rieß, § 153 Rn. 21 m. w. N.; Meyer, GA 1997, S. 405 f. m. w. N.; Müller/Wache, FS Rebmann, S. 329; Paschmanns, S. 171; Rieß, NStZ 1981, S. 8 m. w. N.; Rönnau, S. 123; vgl. auch Kausch, S. 105 m. w. N. 97 Dazu Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 149: "Das Geringe an einer Schuld bemißt sich an der Einschätzung des Falles auf Grund institutioneller Erfahrung. Das könnte zum Anschein fUhren, maßgeblich für die Bagatellisierungsentscheidung sei nicht, ob die Schuld geringfUgig ist, sondern ob sie als solche etikettiert werde. Solcher Anschein ist bei einer Komparation völlig zutreffend." 98 Vgl. zu diesem Ergebnis auch Boxdorfer, NJW 1976, S. 318. Eine treffliche Offenlegung der Problematik findet sich auch bei Bohnert (Abschlußentscheidung, S. 148): "Schuld, so ist zu lesen, sei gering, wenn sie ,bei Vergleich mit Vergehen gleicher Art nicht unerheblich unter dem Durchschnitt liegt'. Oder in schöner Kürze: ,Liegt die Schuld unter dem Durchschnitt, so ist sie gering'. Was sich die Kommentatoren unter dem selbstgesetzten Zwang, Definitionen liefern zu wollen, abringen mußten, erhellt wenig. Man vergleiche mit Vergleichbarem um herauszufinden, ob das Vergleichbare gleich ist. Gewiß doch! Der Begriff ,gering' ist ein komparativer, kein feststehender: geringer als. Als was? Als der Durchschnitt. Von vergleichbarer Schuld." 94

95

B. Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen

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daß sie zu Widersprüchen bei der Bestimmung des Geringfügigkeitscharakters einer Straftat führe. So liege die Geringfügigkeitsgrenze bei tatbestandlieh schwereren Delikten "von Hause aus" höher als bei leichteren Vergehen 99 . Und auch diese Kritik scheint berechtigt. Im Rahmen eines Vergehenstatbestands, der bereits von Gesetzes wegen über einen vergleichsweise weiten Strafrahmen verfügt, werden auch Verhaltensweisen mit einem größeren Beachtlichkeitsgrad noch die Adelung mit dem Geringfügigkeitsprädikat erfahren, während einem vergleichbaren Verhalten bei einem Vergehen mit geringerer Strafandrohung die Geringfügigkeitsbescheinigung unter Umständen aus Relationsgründen verweigert wird. Die Heranziehung dieses konkreten Relationskriteriums verzichtet auf eine (womöglich gebotene) Einordnung des zu beurteilenden Verhaltens in einer von der jeweiligen Deliktsart losgelösten Beachtlichkeitsskala. Zu einer allgemeingültigen Festlegung der Geringfügigkeitsgrenze scheint derweil ein generelles Maßprinzip vonnöten. (2) Die potentielle Strafe und die verursachte Schadenshöhe als generelle Maßprinzipien zur Abgrenzung der Geringfügigkeit

Einige Autoren 1OO ziehen bei der Geringfügigkeitsbeurteilung die bei weiterer Durchführung des Verfahrens konkret zu erwartende Strafe heran und verwenden sie als ein von der jeweiligen Deliktsart losgelöstes Maßprinzip. Diese "Umrechnung" auf ein und denselben Maßstab ermöglicht eine einheitliche Behandlung aller Vergehensdelikte. Die gewünschte Vergleichbarkeit wird dadurch hergestellt, daß man sich bei Verwendung eines generellen Maßprinzips unabhängig von den unterschiedlich weit gefaßten Strafrahmen macht lOl • Neben der hypothetischen Strafmaßermittlung wird weiter die konkrete Schadenshöhe als ein außenstehendes Maßprinzip für die Geringfügigkeitsbeurteilung vorgeschlagen lO2 • Nach diesem Ansatz wird die Einstellungsfähigkeit der Tat (allein) an eine gewisse Schadensobergrenze geknüpft, nach deren Überschreitung eine Schuld nicht mehr als gering anzusehen wäre. Bereits die Tatsache, daß nach dieser letztgenannten Ansicht konsequenterweise sämtliche Gefährdungsdelikte in Ermangelung eines Schadens ausnahmslos einzustellen wären, läßt die Ungeeignetheit dieses Ansatzes zur Bestimmung von Geringfügigkeit vermuten 103. Gleiches gilt im übrigen für den Versuch. Darüber hinaus ist der jeweilige Schuldgrad nie allein von der durch die Tat verursachten Schadenshöhe abhängig, sondern setzt sich - wie gesehen 104 - stets aus mehreren Komponenten zusammen. AK-Schöch, § 153 Rn. 18. So beispielsweise AK-Schöch, § 153 Rn. 17; Boxdorfer, NJW 1976, S. 319; Schirrmacher, S. 79; Wolter, Strafprozeßreform, S. 61; derselbe, GA 1985, S. 73; vgl. auch Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 920. 101 Schirrmacher, S. 79. 102 Schünemann, Protokoll der 38.Sitzung des Rechtsausschusses des BT vom 29. 4. 1992, S. 202, 207. 103 Schirrmacher, S. 76. 99

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

bb) Graduelle Bestimmung des Geringfügigkeitsbereichs Für den Fall, daß eines der vorgenannten Maßprinzipien für grundsätzlich geeignet befunden wurde, schließt sich als Folgeproblem die konkrete Umgrenzung des sanktionslos zu belassenden Geringfügigkeitsbereichs an. An dieser Stelle gehen die Auffassungen innerhalb der Wissenschaft ein weiteres Mal weit auseinander. Nach Meinberg 105 ist die Schuld "gering", "wenn sie unter Berücksichtigung empirischer Erfahrungen und normativer Wertungen quantitativ so weit unter dem Regelfall absoluter Strafwürdigkeit vergleichbarer Fälle liegt, daß sich daraus qualitativ eine andere als bestrafende Reaktion rechtfertigt". Hobe 106 wiederum weist zur Bestimmung des unteren Bereichs auf die jeweilige Tatbestandskonstruktion selbst hin, aus der sich zu diesem Zwecke "einige Anhaltspunkte" ergeben würden: "Wenn bei einem Vergehen unbenannte mildernde Strafanderungen (,in minder schweren Fällen') möglich sind, kann geringe Schuld nur gegeben sein, wenn ein solcher Fall vorliegt." Zugleich relativiert Hobe die gerade erst entstandene Hoffnung auf tiefere Erkenntnis: "Benannte Strafmilderungsgründe bestimmen dagegen nicht vollständig den unteren Unrechtsbereich des betreffenden Vergehens, sodaß eine Tat auch ohne ihr Vorliegen in diesen Bereich gehören kann"I07. Soviel zur Bestimmtheit. Aber auch die Vertreter der vermeintlich Klarheit schaffenden Lösung einer Orientierung an einer festen Schuldmaß- bzw. Schadensobergrenze verspielen den gerade erst gewonnenen Kredit, wenn es darum geht, sich auf eine einheitliche Grenzziehung zu verständigen. Die Toleranz für eine Geringfügigkeitsbeurteilung reicht von 0 - 20 Tagessätzen Geldstrafe bei Boxdorfer 108, über eine Geldstrafengrenze von 90 Tageseinheiten oder Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten bei Wolter 109, bis hin zu einer Grenzziehung bei 180 Tagessätzen llo • Und bei der Festlegung einer Schadensobergrenze schwanken die Vorstellungen - um nur einige zu nennen - zwischen einem Schadensbetrag von 500 DM bei Hertwig lll und ca. 70 DM bei Meyer-Goldau ll2 . Daß die Schadenshöhe darüber hinaus nicht das allein maßgebliche Kriterium zur Festlegung der Geringfügigkeitsschwelle sein kann, wurde bereits erwähnt.

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HO Hl

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Dazu oben "Teil3.B.IIL1.a)bb)"; vgl. auch Schirrmacher; S. 76 m. w. N. Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 60. Habe, FS Leferenz, S. 635. Habe, FS Leferenz, S. 635. Boxdorfer; NJW 1976, S. 319. Wolter; GA 1985, S. 73. Vgl. Horn, NJW 1980, S. 107. Hertwig, Geringfügigkeit, S. 173. Meyer-Goldau, S. 101.

B. Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen

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c) Ergebnis

Nach dem Vorherigen kann die eingangs geäußerte Vermutung nunmehr als bestätigt gelten: Das Merkmal der "geringen Schuld" in § 153 StPO ist weitestgehend unbestimmt und auch aus sich selbst heraus nicht konkretisierbar. Seine Auslegung liegt - nicht zuletzt in Ermangelung einer höchstrichterlichen Judikatur - uneingeschränkt in der Hand des jeweiligen Rechtsanwenders, wobei die angedeutete Meinungsvielfalt innerhalb der Wissenschaft in nahezu allen Fragen der Merkmalsauslegung Ungutes im Hinblick auf eine Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung erahnen läßt. Eine unsichere quantitative Grenzziehung sowie eine Vieldeutigkeit des qualitativen Inhalts der "geringen Schuld" in § 153 StPO lassen die Äußerung Eckls - ,,Man darf darauf vertrauen, daß der mit zahllosen Fällen befaßte Praktiker diesen Begriff richtig handhaben wird"J13 - eher als einen frommen Wunsch denn als berechtigte Erwartung erscheinen. Die Praxis, und darauf wird noch zu sprechen zu kommen sein 114, lehrt uns zudem ein anderes.

2. "Öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung

Die Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO setzt weiter das Fehlen eines "öffentlichen Interesses" an der Strafverfolgung voraus. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen scheint sich die Situation ähnlich darzustellen wie bei dem Merkmal der "geringen Schuld". Mit dem "öffentlichen Interesse" gebraucht der Gesetzgeber einen Ausdruck, der sich zwar an zahlreichen Stellen im Gesetz wiederfindet 115 , ohne jedoch an irgendeiner dieser Stellen näher umschrieben worden zu sein. Mithin steht zu befürchten, daß mit dem Merkmal des "öffentlichen Interesses" in § 153 StPO letztlich nichts anderes als eine weitere "Leerformel"116 - und damit leider auch kein wirksames Korrektiv zur unbestimmten Weite der "geringen Schuld" - aufgestellt worden ist. Bohnert ll7 stellt insoweit die einzige Limitierung voran: "Öffentliches Interesse ist nicht privates Interesse". Fortan werden die Dinge nicht klarer. Einzig über die Anerkennung spezial- und generalpräventiver Strafzwecke sowie aller in § 46 StGB befindlichen Strafzielerwägungen herrscht bei der inhaltlichen Ausgestaltung des "öffentlichen Interesses" im Schrifttum ein weitreichender Konsens 118. Eckl, JR 1975, S. 100. Dazu unten im Rahmen von § 153a StPO "Teil3.D.lI.". 115 Vgl. dazu Paschmanns, S. 90 f. 116 Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 89. 117 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 150. 118 Beulke, S. 161; Bloy, GA 1980, S. 174; Boxdorfer, NJW 1976, S. 319; Eckl, JR 1975, S. 100; Hanack, FS Gallas, S. 347; Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 9 m. w. N.; Hobe, FS Leferenz, S. 640; KK-Schoreit, § 153 Rn. 22; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153 Rn. 7; LRRieß, § 153 Rn. 19; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 50; Müller/Wache, FS Rebmann, 113

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Aus spezialpräventiver Sicht - so wird vorgetragen - könne ein "öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung begründet sein, wenn ohne nachfolgende Sanktionierung eine weitere Straffalligkeit des Betroffenen befürchtet werden müsse" 9 . Als mögliche Indikatoren kämen dabei insbesondere in Betracht: einschlägige Vorstrafen des Taters 120, eine in der Tat zum Ausdruck kommende gesellschaftsfeindliche Gesinnung 121 oder eine bewußte Mißachtung staatlicher Autorität l22 • Die Stellung des Betroffenen im öffentlichen Leben dürfe dagegen bei der Frage nach einem "öffentlichen Interesse" keine Rolle spielen 123. Für den Fall jedoch, daß der Beschuldigte selbst Opfer seiner eigenen Tat geworden sei, könne unter Umständen aus spezialpräventiven Aspekten auf eine Fortsetzung des Verfahrens verzichtet werden l24 • Unter Berufung auf ein genera/präventiv motiviertes "öffentliches Interesse" wird neben der materiellrechtlichen Verteidigung der Rechtsordnung 125 , der Bedeutsamkeit des angegriffenen Rechtsgutes l26 , dem Bestreben, zukünftigen Gewalttätigkeiten vorzubeugen und der Stärkung des Rechtssicherheitsgefühls der S. 323; Naucke, DlT-Gutachten, D 120; Rieß, NStZ 1981, S. 8; Paschmanns, S. 178; Pfeiffer, § 153 Rn. 3; SchirnTUlcher; S. 56 m. w. N. Zum "besonderen öffentlichen Interesse" im Sinne des § 230 StGB vgl. die zahlreichen Beispiele bei LK-Hirsch, § 230 Rn. 8; Schönkel Schröder-Stree, § 230 Rn. 5. Hiernach sind als Anhaltspunkte für ein "besonderes öffentliches Interesse" im Sinne des § 230 StGB zu nennen: erhebliche Folgen der Tat, besondere Leichtfertigkeit, Roheit, die Verletzung einer besonderen Berufspflicht, eine einschlägige Vorstrafe. Des weiteren wird ein "besonderes öffentliches Interesse" für den Fall angenommen, daß ein Belastungszeuge (oder Angehöriger) zum Zwecke der Einschüchterung oder aus Rache mißhandelt wurde (vgl. Schönkel Schröder-Stree, § 230 Rn. 5). Es wird weiterhin zu bejahen sein, wenn der Täter sich grob verkehrswidrig verhalten hat (z. B. bei Taten im angetrunkenen Zustand). Ist hingegen der Verletzte ein Angehöriger des Täters oder ist der Täter durch die eigene Tat selbst schwer verletzt worden, so wird regelmäßig kein "besonderes öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung bestehen. Gleiches gilt für das bloße Interesse einer Verwaltungsbehörde an der Klärung des Vorgangs (str., vgl. dazu LK-Hirsch, § 230 Rn. 8). Der Begriff des "öffentlichen Interesses" in § 376 StPO stimmt derweil mit dem in § 153 StPO inhaltlich überein; vgl. insoweit Kleinknecht-Meyer-Goßner; § 376 Rn. 1; LR-Wendisch, § 376 Rn. I. 119 Boxdoifer, NJW 1976, S. 319; LR-Rieß, § 153 Rn. 25. Nach SchirnTUlcher; S. 67 dient die Einwirkung auf den Täter durch Fortsetzung des Verfahrens zum einen der Verwirklichung seines Resozialisierungsanspruchs, zum anderen dem Interesse der Öffentlichkeit, der an einer angemessenen staatlichen Reaktion auf das Verhalten des Beschuldigten gelegen sein müsse. 120 Eckl, IR 1975, S. 100; SchirnTUlcher, S. 67. Vgl. auch Paschmanns, S. 180, der (allgemein) darauf hinweist, daß spezialpräventive Gründe im Einzelfall zurücktreten müssen, wenn der mit ihnen verbundene Resozialisierungseffekt entfällt. 121 LR-Rieß, § 153 Rn. 28 m. w. N. 122 Hobe, FS Leferenz, S. 639. 123 Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 9; LR-Rieß, § 153 Rn. 30. A.A. Kleinknecht-MeyerGoßner; § 153 Rn. 7. 124 SchirnTUlcher; S. 67 m. w. N. 125 Keller/Schmid, wistra 1984, S. 205 m. w. N. 126 SchirnTUlcher; S. 62 f. m. w. N.

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Bevölkerung 127 auch die andernfalls allzu starke Vernachlässigung der Verletzteninteressen 128 als möglicher Grund gegen eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO vorgetragen. Auf generalpräventive Überlegungen lasse sich das "öffentliche Strafverfolgungsinteresse" weiterhin auch dann stützen, wenn das reaktionslose Hinnehmen der Tat die Rechtstreue der Allgemeinheit beeinträchtigen würde l29 : etwa bei außergewöhnlichen - wenngleich dem Täter nicht zurechenbaren - Tatfolgen 130, wegen der Häufigkeit gleichartiger Delikte l3l oder um zu verhindern, daß sich Ungesetzlichkeiten im Sozialleben einbürgerten 132 . Und auch ein berechtigtes Interesse der Allgemeinheit an der konkreten Straftat selbst, wie es sich beispielsweise im Zusammenhang mit der Aufklärung ihres kriminogenen Hintergrundes ergeben könne l33 , rechtfertige im Einzelfall die Annahme eines "öffentlichen Interesses" und damit eine Fortsetzung der Strafverfolgung. Nicht ausreichen dürfe dagegen der Umstand, daß eine Tat ein besonders starkes Interesse in der Öffentlichkeit und in den Medien gefunden habe 134 • Gleiches gelte für das (öffentliche) Interesse an der Klärung einer bestimmten Rechtsfrage - wie etwa der Gültigkeit einer Vorschrift 135 - oder das Bedürfnis nach einer Eintragung der Verurteilung in das Bundeszentralregister zum leichteren Aufspüren von Serientätern 136. Dieser kursorische Überblick über die Literatur zur Auslegung des "öffentlichen Interesses" in § 153 StPO verbirgt kaum die Unsicherheit beim Umgang mit diesem Anwendungsmerkmal. Ebenso wie zuvor die "geringe Schuld" ist auch das "öffentliche Interesse" nicht aus sich selbst heraus verständlich, sondern bedarf der inhaltlichen Ausfüllung. Die dazu angeführten Fallbeispiele sind indes zahlreich und vielschichtig. Bei aller Unterschiedlichkeit eint sie übergeordnet ihre Ausrich127 Rieß, FS Diinnebier, S. 164. Ein weiteres Kriterium gegen eine Einstellung nach § 153 StPO kann demnach auch die Gefährlichkeit des Taters und die Größe der Rückfallgefahr sein; vgl. LR-Rieß, § 153 Rn. 28. 128 Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 9. Ein "öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung zur Verhinderung weiteren Schadens für den Verletzten bejahend: Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153 Rn. 7. Vgl. zur etwaigen Anerkennung eines Genugtuungsinteresses des Verletzten als Einstellungshindernis Schirrmacher, S. 64. 129 LR-Rieß, § 153 Rn. 28; Pfeiffer, § 153 Rn. 3. 130 AK-Schöch, § 153 Rn. 21; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153 Rn. 7 mit Verweis auf BGHSt. 10,259; LR-Rieß, § 153 Rn. 28; PJeiffer, § 153 Rn. 3; Rüping, S. 110. I3I Heidelberger K.-Krehl, § 153 Rn. 9; LR-Rieß, § 153 Rn. 28. 132 AK-Schöch, § 153 Rn. 21; Boxdorfer, NJW 1976, S. 319; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153 Rn. 8; Pasch"umns, S. 182; Pfeiffer, § 153 Rn. 3. 133 Boxdorfer, NJW 1976, S. 320; KK-Schoreit, § 153 Rn. 25; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153 Rn. 7. AA Hobe, FS Leferenz, S. 646; Paschmanns, S. 183. 134 KK-Schoreit, § 153 Rn. 26. 135 LG Aachen, JZ 1971, S. 520; Hobe, FS Leferenz, S. 646; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153 Rn. 8; LR-Rieß, § 153 Rn. 30; Paschmanns, S. 183. 136 Hobe, FS Leferenz, S. 646; LR-Rieß, § 153 Rn. 30; Paschmanns, S. 183; a.A BoxdorJer, NJW 1976, S. 320.

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tung an spezial- und generalpräventivem Gedankengut. So rekrutieren sich zunächst einmal sämtliche Erwägungen, die über das Vorhandensein eines öffentlichen Strafverfolgungsinteresses entscheiden, aus den anerkannten staatlichen Strafzielen. Mit dieser Feststellung ist jedoch - und zwar unabhängig davon, daß mit der inhaltlichen Ausfüllung des Merkmals des "öffentlichen Interesses" der Staatsanwaltschaft eine rechtspolitische Bewertung überantwortet wird, von der man sich wünscht, daß sie vom Gesetzgeber getroffen worden wäre l3 ? - die nächste Ungereimtheit im Rahmen der Anwendungsvoraussetzungen des § 153 StPO angesprochen: Indem das Merkmal des "öffentlichen Interesses" nach heute herrschendem Verständnis alle Strafzielerwägungen des § 46 11 StGB in sich aufgenommen hat, wird es zum einen in die weitestgehend ungeklärten Fragen der Strafzumessungslehre eingebunden, zum anderen scheint durch diese Parallelität in der inhaltlichen Ausgestaltung jede Möglichkeit einer Abgrenzung zum Merkmal der "geringen Schuld" aufgegeben worden zu sein l38 . Das Merkmal des "öffentlichen Interesses" droht neben dem weiteren Erfordernis der "geringen Schuld" sachlich leerzulaufen l39 . Wurde eine "geringe Schuld" mit Blick auf die in § 46 11 StGB enthaltenen Strafzielerwägungen bereits verneint, scheint für die Bejahung des "öffentlichen Interesses" nur dann überhaupt ein Ansatz gegeben, wenn über die angeführten Kriterien der Spezial- und Generalprävention hinaus weitere, zusätzliche Aspekte gefunden werden könnten, die in die Entscheidung über Einstellung oder Fortführung des Verfahrens einzustellen wären. Inwieweit sich jedoch aus anderen als strafzweckbezogenen Umständen ein öffentliches Strafverfolgungsinteresse begründen läßt, ist zweifelhaft und umstritten l40 • Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, daß staatliche Strafverfolgung stets und alleinig die Durchsetzung von Strafzwecken mit dem Ziel des Rechtsgüterschutzes zur Aufgabe haben muß 141 • Diese Zwecke sind es dann auch, die im Grundsatz die Verfolgungspflicht auslösen und im Einzelfall den Verfolgungsverzicht begründen l42 . Und dennoch gibt es in Literatur und Wissenschaft vereinzelte 137 Dazu im einzelnen unten "Teil 3.D.lV.3.". Vgl. auch Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 78. 138 Paschmanns, S. 93. 139 In diesem Sinne Meyer, GA 1997, S. 417; zustimmend Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 87 Fn. 1; vgl. auch Paschmanns, S. 93. Nicht zuletzt deshalb wollen die Vertreter der Auffassung, die "Schuld" in § 153 StPO als "Einzeltatschuld" verstehen (s. oben "Teil 3.B.III.l.a)aa)"), die inhaltliche Bestimmung der "geringen Schuld" von jeden Strafzielerwägungen freihalten; vgl. Paschmanns, S. 135. Durch die Befreiung der "geringen Schuld" von Präventionsgesichtspunkten erhält man sich die Möglichkeit ihrer späteren Verwendung im Rahmen des Merkmals "öffentliches Interesse" (vgl. dazu Meyer, GA 1997, S. 413 mit Verweis auf Rieß, NStZ 1981, S. 8 Fn. 86). Daß demgegenüber der Begriff der "geringen Schuld" im Sinne der Strafzumessungsschuld nicht länger ohne seine Beziehung zu den Strafzwecken auskommt, wurde unter "Teil 3.B.III.l.a)bb)" nachgewiesen. 140 Rieß, FG Koch, S. 219 Fn. 27. 141 Vgl. dazu bereits oben "Teill.A.lI.2.".

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Rechtfertigungsversuche, die außerhalb strafzweckgebundener Aspekte liegen. So wird vorgebracht, daß neben den allgemeinen Prinzipien jeden staatlichen Eingriffhandeins, namentlich den Grundsätzen von Gleichheit und Verhältnismäßigkeit!43, vor allem die Auswirkungen der Strafverfolgung auf sonstige Bereiche öffentlicher Fürsorgepflicht einen Verfolgungsverzicht nahelegen könnten!44. Des weiteren wird auf die verfahrensrechtliche Funktion des § 153 StPO verwiesen, die es rechtfertige, im Einzelfall auch bei gegenläufigem Präventionsinteresse von der Verfolgung abzusehen 145. Schließlich werde das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung regelmäßig durch erheblichen Zeitablauf und eine sachlich nicht gerechtfertigte überlange Belastung des Beschuldigten mit dem schwebenden Verfahren abgeschwächt l46. Und auch eine staatlich veranlaßte oder geduldete Tatprovokation l47 sowie eine in derselben Sache bereits erfolgte disziplinarrechtliche Ahndung!48 könnten mit verringernder Wirkung auf das öffentliche Strafverfolgungsinteresse einwirken. Auf der anderen Seite soll es anerkennenswerte Gründe geben, ein Verfahren trotz des Vorliegens "geringer Schuld" fortzuführen. Neben der bundeszentralregisterlichen Erfassung, die durch ein mögliches Strafurteil in Aussicht gestellt wird l49 , ist es insbesondere auch der Wunsch nach einer passablen Grundlage für anschließende verwaltungsrechtliche Maßnahmen 150, der in diesem Zusammenhang zu Legitimationszwecken herangezogen wird. Einem "öffentlichen Interesse" an der Strafverfolgung außerhalb der zulässigen Strafzielerwägungen muß jedoch die Anerkennung versagt bleiben i51 . Die angeführten Gesichtspunkte dafür, trotz geringer Schuld ein Strafverfahren mit dem Ziel der Bestrafung durchzuführen, sind nur schwer nachvollziehbar und erwecken Schirrmacher, S. 56. So hat auch das LG Aachen (in: JZ 1971, S. 507 ff.) im sog. "Contergan-Besch1uß" darauf erkannt, daß die Dauer des Ermittlungsverfahrens und der Hauptverhandlung im Verhältnis zur Bedeutung des staatlichen Strafanspruchs und der wahrscheinlichen Schuld des Angeklagten sowie Art und Höhe zu erwartender Strafen zu würdigen sei. Hieraus könne sich unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ein Argument gegen weitere Strafverfolgung ergeben; vgl. LG Aachen a. a. 0., S. 519 f. Dabei ließ das Gericht im Rahmen der Prüfung des "öffentlichen Interesses" bei § 153 StPO auch die Interessen des Verletzten nicht außer acht. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebiete jedoch den weiteren Verfolgungsverzicht, wenn dem Verletzten durch das bisherige Strafverfahren - sofern überhaupt möglich - Genüge getan sei; vgl. LG Aachen a. a. 0., S. 521. 144 Meinberg. Wirtschaftsstrafsachen, S. 47. 145 Rieß, NStZ 1981, S. 8. 146 BVerjG. Beschluß v. 24. 11. 1983, wistra 1984, S. 60; BGHSt. 24, 239 (242); 27, 274 (275). Vgl. auch eramer, wistra 1999, S. 291 mit Verweis auf BGH. NJW 1995, S. 737 ff. In diesem Sinne auch bereits das LG Aachen. JZ 1971, S. 519 f. 147 BGHSt. 32, 245 (355); LR-Rieß. § 153 Rn. 31. 148 Vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 79 Fn. 349. 149 Boxdorfer, NJW 1976, S. 320. 150 Vgl. Kausch. S. llO Fn. 28. 151 Vgl. Rieß. FS Dünnebier, S. 151. 142

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

einmal mehr den Anschein von Beliebigkeit l52 . Es ist kaum ersichtlich, wie eine Strafverfolgung, deren Notwendigkeit sich nicht aus einem anerkannten Strafzweck ergibt, durch derartige Gesichtspunkte legitimiert werden könnte 153. Demzufolge dürfte im Rahmen von § 153 StPO auszuschließen sein, bei "geringer Schuld" ein "öffentliches Interesse an der Strafverfolgung" begründen zu können. Insgesamt hat sich auch das Merkmal des "öffentlichen Interesses" in § 153 StPO - wie zuvor die "geringe Schuld" - als "weder abstrakt qualifizierbar noch in irgendeiner Weise quantifizierbar" erwiesen I54 . Es stellt sich dar als die "Summe widerstreitender Interessen,,155 und Rechtsgüter, durch deren Abwägung der Formalbegriff des "öffentlichen Interesses" im Einzelfall zu konkretisieren ist l56 . Diese weitreichende Verlagerung der Entscheidungsfindung auf den Rechtsanwender bereitet auch hier Unbehagen. So ist dem "öffentlichen Interesse" in § 153 StPO "von Hause aus" eine große Portion an Unbestimmtheit mitgegeben, die verfassungsrechtlichen Anliegen nach hinreichender Bestimmtheit, Rechtsanwendungsgleichheit und Gerechtigkeit zuwiderläuft. Wie bereits die "geringe Schuld" zeichnet auch dieses Anwendungsmerkmal des § 153 StPO durch Vagheit aus und entbehrt einer konkreten Anleitung des jeweiligen Rechtsanwenders. Ungleichmäßigkeiten in der Rechtsanwendung werden auf solche Weise erneut bereits von seiten des Gesetzgebers programmiert.

3. "Geringe Folgen" der Tat

Nach Wegfall der Beschränkung auf Vennögensstraftaten durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege im Jahre 1993 157 ist gemäß § 153 I S. 2 StPO eine zustimmungsfreie Einstellung durch die Staatsanwaltschaft bei fehlendem öffentlichen Interesse und geringem Verschulden bereits dann möglich, wenn bei einem nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedrohten Vergehen "die durch die Tat verursachten Folgen gering sind". Wie bereits eingangs erwähnt, enthält die Entwurfsbegründung der Novelle keine Definition des neuerlichen unbestimmten Rechtsbegriffs der "geringen Folgen,,158, der zudem keine Entsprechung an anderer Stelle im Gesetz findet. Eine Parallele bei der inhaltlichen Bestimmung wird derweil zu dem bei der StrafzuSo auch Meyer, GA 1997, S. 416. Kausch, S. 110; ebenso Meyer, GA 1997, S. 417; vgl. auch Roxin. Strafverfahrensrecht, S. 87 Fn. 1. 154 Paschmanns, S. 93; vgl. auch Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 50. 155 Paschmanns. S. 93. 156 Meinberg. Wrrtschaftsstrafsachen, S. 50; Rieß. FS Diinnebier, S. 152; Terbach. Einste1lungserzwingungsverfahren, S. 79 m. w. N. 157 Dazu bereits oben "Tei13.B.II.". 158 Vgl. Gesetzentwurf des Bundesrates. BT-Drs. 12/1217, S. 34. 152

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B. Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen

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messung nach § 46 11 StGB zu berücksichtigenden Gesichtspunkt der "verschuldeten Auswirkungen der Tat" gezogen, der in gleicher Weise auf den Umfang der Rechtsverletzung abstellt l59 . Das hat zur Folge, daß neben den bislang allein relevanten Vennögensschäden nunmehr alle Arten von Schäden - auch körperliche und unter Umständen sogar ideelle l60 - eine "geringe Folge" der Tat im Rahmen von § 153 I S. 2 StPO darstellen und bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen zu einer zustimmungsfreien Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft führen können. Mit welcher (kriminalpolitischen) Haltung auch immer man dieser Erweiterung der staatsanwaltschaftlichen Kompetenzen im Rahmen der Geringfügigkeitseinstellungen gegenüberstehen mag 161: es erscheint jedenfalls zweifelhaft, ob die Einführung des Begriffs der "geringen Folgen" geeignet ist, die mit der Vorschrift bislang verbundenen Unsicherheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten 162 zu beseitigen. Dazu schreiben Siegismund/Wickern I63 : "Wahrend für die Frage des geringen Schadens die für die Geringfügigkeit im Rahmen des § 248a StGB entwickelten Maßstäbe herangezogen werden konnten und künftig auch weiterhin herangezogen werden können, läßt der unbestimmte Rechtsbegriff der geringen Folgen der Staatsanwaltschaft einen wesentlich größeren Spielraum für die Konkretisierung des Begriffsinhalts. Die zu erwartenden Unterschiede in der Anwendungshäufigkeit erscheinen im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz nicht unbedenklich. " 4. Ergebnis

Die vorangegangene Untersuchung hat die weitgehende Unbestimmtheit der Anwendungsvoraussetzungen in § 153 StPO nachgewiesen. Durch die inhaltliche Vagheit, insbesondere der Merkmale "geringe Schuld", "öffentliches Strafverfolgungsinteresse" und "geringe Folgen der Tat", wird eine gleichmäßige Rechtsanwendung nicht nur erheblich erschwert, sondern unmöglich gemacht. Dies ist wiederum vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebots als ausgesprochen problematisch anzusehen. Von der fehlenden Konturierung der Vorschrift hat sich die Justizpraxis jedoch bislang offensichtlich nicht beeindrucken lassen l64 • Dies verwundert wiederum insoweit nicht, weil eine gesetzgeberische Präzisierung der Vorschrift im Lager der Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 83 f. m. w. N. Vgl. Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 84. 161 So wird die Reichweite der (Neu-)Regelung letztlich immer davon abhängen, wie die Staatsanwaltschaften das Merkmal der geringen Tatfolgen auslegen; vgl. Böttcher/Mayer; NStZ 1993, S. 154. 162 Vgl. Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 12/1217, S. 34. 163 Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 84. 164 Zur Anwendungsfreudigkeit seitens der Praxis vgl. im einzelnen unten "TeiI3.D.IX.". 159

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Praktiker eher mit Sorge betrachtet werden müßte. So würde schließlich jede positive Inhaltsbestimmung, beispielsweise des öffentlichen Interesses, "die Reichweite der Handhabbarkeit verengen,,165 und dem Bestreben nach einem flexiblen, unvorhersehbaren Handeln Fesseln anlegen. Was von opportuner Warte aus "lästig" erscheinen mag, würde jedoch andererseits dem verfassungsrechtlichen Anliegen nach einer bestimmten, vorhersehbaren, gleichmäßigen und damit am Ende auch gerechten Rechtsanwendungspraxis zugute kommen. IV. Verstoß gegen die Unschuldsvermutung Die in Art. 6 11 EMRK verankerte Unschuldsvermutung l66 ist ein in allen Rechtsstaaten anerkanntes PrinzipI6? In der Bundesrepublik Deutschland genießt sie zudem Verfassungsrang l68 . Ihr Anwendungsbereich reicht vom Ermittlungsverfahren über die Hauptverhandlung bis zum abschließenden Urtei1 169. Sie soll verhindern, "daß jemandem eine Handlung als Wertverletzung durch das in der Bestrafung zum Ausdruck kommende sozialethische Unwerturteil vorgeworfen wird, bevor seine Schuld gesetzlich nachgewiesen ist" 170. Angesichts der Sanktionslosigkeit einer Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO ist man derweil schnell versucht, einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung erst gar nicht in Erwägung zu ziehen. Unterstützt wird man dabei von der Auffassung derer, die sich auf den konjunktivischen Wortlaut der Norm - "wenn die Schuld des Taters als gering anzusehen wäre" - berufen und mit dem (formalen) Verzicht auf eine Entscheidung über Schuld und Unschuld die Vereinbarkeit der Regelung des § 153 StPO mit der Unschuldsvermutung begründen wollenl?l. Da durch die Einstellung nach § 153 StPO keine definitive Schuldfeststellung getroffen, sondern lediglich konstatiert werde, daß nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für ein Verschulden sprechen würde, bleibe die Unschuldsvermutung uneingeschränkt gewahrt l72 . Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 170 f. Die Unschuldsvermutung hat über Art. 11 UNAllgErklMR von 1948 und Art. 13 11 S. 1 UN-Entwurf 1949 Eingang in die EMRK gefunden. 167 Froweinl Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 156 m. w. N. 168 Obwohl sie nicht explizit im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgeführt ist, ist ihre Geltung als selbstverständliche Folge eines nach Inhalt und Grenzen durch das Gebot der Achtung der Menschenwürde bestimmten Strafrechts unzweifelhaft. Sie ist im Rechtsstaatsprinzip begründet (BVerfGE 22, 254 (265» und gehört damit zum Verfassungsrecht; vgl. Int.Komm.EMRK-Vogler, Art. 6 Rn. 380 ff. Vgl. zur Herleitung und Einordnung der verfassungsrechtlichen Unschuldsvermutung die ausführliche Darstellung bei Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 48 ff. Vgl. auch bereits oben "Teil 3.A.I1I."; vgl. weiterhin für § 153a StPO unten "Teil3.D.VI.". 169 Froweinl Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 162; Vogler, ZStW 89 (1977), S. 784. 170 Int.Komm.EMRK- Vogler, Art. 6 Rn. 383. 171 Kühl, Unschuldsvermutung, S. 91; LR-Rieß, § 153 Rn. 32; Ranft, S. 275. Vgl. auch Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 119 m. w. N. 165

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B. Verfassungsmäßigkeit der Opportunitätseinstellungen im einzelnen

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Es muß die Frage gestellt werden, ob die Konformität einer Verfahrensbeendigung nach § 153 StPO mit der Unschuldsvermutung allein an der Abwesenheit eines Schuldspruches festgemacht werden kann oder ob nicht vielmehr diese recht formale Sichtweise zu kurz greift und dabei die Bedeutung der Unschuldsvermutung unzulässig verkürzt. So scheint bei der vorgenannten Argumentation ein Aspekt vollständig ausgeblendet zu werden: Aus der Unschuldsvermutung folgt für den Betroffenen ein Anspruch, von jeglichem Verdacht freigesprochen zu werden, wenn es nicht zu einer Verurteilung kommt 173. Da die Schuldfrage vorliegend ungeklärt bleibt, kann eine Einstellung nach § 153 StPO demzufolge erst dann in Betracht kommen, wenn eine günstigere Erledigungsart, beispielsweise nach § 17011 StPO, ausscheidet. Dazu heißt es bei Vogler l74 : "Die gegenteilige Ansicht, die eine Beschwer verneint, weil der Angeschuldigte mangels einer Sachentscheidung als unschuldig gelte, verkennt die Tragweite der Unschuldsvermutung, die sich nicht darin erschöpft, nicht verurteilt zu werden, wenn der Nachweis der Schuld nicht gelingt, sondern einen Anspruch verleiht, den einmal erhobenen Verdacht in der günstigsten Art der Erledigung zu beseitigen." So stellt eine Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO den Betroffenen nicht "makelfrei", sondern beläßt es bei der Etikettierung mit einem "Schlüssigkeitsverdacht"175. Spricht man dem Beschuldigten jedoch ein Recht zu, "unbemakelt aus dem Ermittlungsverfahren hervorzugehen (Art. 2 I GG),,176, so haftet ihm bei einer Verfahrensbeendigung nach § 153 StPO weiterhin eine gewisse Verdächtigkeit an, die jedenfalls dann nicht unproblematisch wäre, wenn ihm auf diese Weise ein Freispruch nach § 170 11 StPO vorenthalten würde 177 •

V. Gewaltenteilungsprinzip und Rechtsschutzgarantie Um Wiederholungen zu vermeiden, sollen die in § 153 StPO teilweise ähnlich gelagerten Problemkreise der Vereinbarkeit staatsanwaltschaftlicher Verfahrensein172 173

Kunz, Bagatellprinzip, S. 71 m. w. N. Vogler, ZStW 89 (1977), S. 784. Vgl. dazu auch Stuckenberg, Unschuldsvermutung,

S. 565. Die Gegenansicht führt an, daß die Unschuldsvermutung keinen Anspruch auf eine Bestätigung der Unschuld - mithin auf einen unbedingten Freispruch - gewähre, da in der Einstellung des Verfahrens keine strafgleiche Belastung liege. Zudem beinhalte die Forderung nach ausdrücklicher Unschuldserklärung eine Diskriminierung deIjenigen Freigesprochenen, die diese Unschuldserklärung aus tatsächlichen Gründen mangels Erweis ihrer Unschuld nicht erhalten könnten; vgl. zu alledem Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 118 m.w.N. 174 Vogler, ZStW 89 (1977), S. 785. 175 Bruns, FS Kaufmann, S. 871. 176 Vgl. Kühl, S. 106 Fn. 68 m. w. N. 177 Anders Kühl (S. 94): "Aber auch wenn man ... die Unschuldsvermutung als Verbot diskriminierender Verdachtsklauseln und Schuldfeststellungen auffaßt, verstößt die Verfahrenseinstellung als Prozeßentscheidung nicht gegen die Unschuldsvermutung."

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

stellungen mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewaltenteilung sowie mögliche Kollisionen opportunitätsgeprägter Verfahrensbeendigungen mit der Rechtsschutzgarantie in Art. 19 IV GG zusammenhängend bei § 153 a StPO erörtert werden, und es wird dort gegebenenfalls auf § 153 StPO zurückzuverweisen sein 178 • Deshalb soll an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, daß die Vorschrift des § 153 I StPO dem Staatsanwalt Kompetenzen zuzuweisen scheint, die denen in § 153 a I StPO - auf deren Vereinbarkeit mit der Verfassung noch ausführlich einzugehen sein wird l79 - zumindest in Teilen ähnlich sind. Auch im Rahmen der Verfahrensbeendigungen nach § 153 I StPO nimmt die Staatsanwaltschaft erheblichen Einfluß auf die inhaltliche Konkretisierung der Vergehens tatbestände, indem sie mit Hilfe exekutivischer Richtlinien in abstrakt-genereller Weise Geringfügigkeitskriterien vorgibt. Des weiteren ist das umfängliche Fehlen von Rechtsschutzmöglichkeiten, und zwar sowohl gegen verweigerte Verfahrenseinstellungen zu Händen des Beschuldigten als auch gegen erfolgte Einstellungen zugunsten des durch die Straftat Verletzten, mehr als augenfällig und im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie in Art. 19 IV GG einer genauen Überprüfung wert l80 .

VI. Ergebnis Die Vorschrift des § 153 StPO wirft aus verfassungsrechtlicher Sicht einige Probleme auf, die ihr zwar nicht unmittelbar den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit einbringen dürften, die jedoch aus rechtsstaatlicher Sicht zumindest einen negativen Eindruck hinterlassen. Die weitgehende Unbestimmtheit der Vorschrift eröffnet ihren Anwendern einen erheblichen Beurteilungsspielraum und vermindert dabei zugleich die Chance auf ein Gleichmaß der Ergebnisse. An die Stelle voraussehbarer Verfahrensentscheidungen setzt "Opportunität" das Nichterwartbare, dem die Rechtspraxis aus verständlichen Gründen äußerst zugetan ist. Die zum Großteil unter staatsanwaltschaftlicher Federführung stehenden Einstellungsentscheidungen entbehren darüber hinaus - insoweit sei ein Vorgriff gestattet - weitgehend einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit und damit einer auf solche Weise eröffneten Möglichkeit der einheitlichen Anwendung. Intention und Regelungsrahmen des heutigen § 153 StPO könnten daher gleichsam im Zuge einer Überarbeitung und weitgehenden Neuregelung der Geringfügigkeitsproblematik in eine neue, sachgerechte Gesamtregelung mit einfließen 181 . Um im Anschluß ein Gesamtkonzept entwickeln zu können, ist jedoch

Dazu unten "Teil3.D.IY." sowie "TeiI3.D.V.". Dazu unten "Teil3.D.IV.". 180 Auch dieser Problemkreis soll ausführlich im Zusammenhang mit § 153a StPO erörtert werden; vgl. dazu unten "Teil3.D.V.... 178 179

C. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung

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zunächst die opportunitätsgeprägte Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.

c. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung Die Einstellung des Verfahrens bei gleichzeitiger Verhängung von Auflagen und Weisungen gemäß § 153 a StPO Im Zentrum der Kritik opportunitätsgeprägter Einstellungsermächtigungen steht die Vorschrift des § 153 a StPO, die es dem Rechtsanwender ermöglicht, die opportune Beendigung des Verfahrens an die Erfüllung von Auflagen und Weisungen zu knüpfen.

I. Anwendungsvoraussetzungen Nach § 153 a I StPO kann die Staatsanwaltschaft vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen, wenn - das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand hat, - die Schwere der Schuld nicht entgegensteht, - das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zwar besteht, aber durch die Auferlegung von Weisungen und Auflagen beseitigt werden kann, - der Beschuldigte zustimmt, und wenn entweder - die Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts vorliegt (Abs. 1 S. 1) oder - es um ein Vergehen geht, das nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind (Abs. 1 S. 7 i.Y.m. § 153 I S. 2). Nach § 153 a 11 StPO kann auch das Gericht nach Anklageerhebung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten von Absatz 1 Gebrauch machen. Die sachlichen Voraussetzungen der gerichtlichen Einstellung sind die gleichen wie in Absatz 1. § 153 a StPO setzt die Tradition der opportunen Verfahrenseinstellungsermächtigungen fort und schafft dabei in einer Erweiterung zu § 153 StPO die Möglichkeit, die Verfolgung von (geringfügigen) Vergehen auch dann einzustellen, wenn zwar zunächst ein öffentliches Strafverfolgungsinteresse besteht, dieses aber dadurch 181 Dazu unten "TeilS.B." und - für den abzuspaltenden Bereich mittelschwerer Kriminalität - "TeiIS.C.".

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsffiäßige Ordnung

beseitigt werden kann, daß der Beschuldigte Auflagen und Weisungen erfüllt, die er staatlicherseits auferlegt bekommen hat. Im Gegensatz zu § 153 StPO genügt im Rahmen des § 153 a StPO eine bloß hypothetische Beurteilung der Schuldschwere nicht; § 153 a StPO verlangt insoweit eine abschließende Beurteilung l82 . Zwar setzt in Anbetracht des frühen Verfahrensstands auch die Einstellung der weiteren Verfolgung nach § 153 a StPO nicht die volle Überzeugung von der Schuld des Beschuldigten voraus, jedoch bedarf es an dieser Stelle zumindest eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne von § 203 StP0 183 . Anders als zuvor bei § 153 StPO erlaubt die Vorschrift des § 153 a StPO daher allenfalls ein Absehen von der Anklage nach Abschluß der Ermittlungen, nicht jedoch eine dem Ermittlungsabschluß vorausgehende Verfahrensbeendigung l84 . Angesichts dieser "Durchermittlungspflicht" enthält § 153 a StPO nur eine Durchbrechung des Anklagezwangs, nicht hingegen des Ermittlungszwangs l85 . Bereits im Rahmen von § 153 StPO war darauf hingewiesen worden, daß in dem Wort "kann" kein sachlicher Spielraum für den Rechtsanwender mehr steckt, wenn die Anwendungsvoraussetzungen der opportunitätsgeprägten Einstellungsnorm erst einmal bejaht worden sind l86 . Da sich insoweit für § 153 a StPO keine Abweichung gegenüber § 153 StPO ergibt, handelt es sich auch bei § 153 a StPO um eine jener Vorschriften, bei denen "die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs und die Ermessensausübung zu einer einheitlichen Entscheidung zusarnmengefaßt werden" 187, das Ermessen also "in die Auslegung des Tatbestandsmerkmals hineinverlagert wird,,188. Wie zuvor in § 153 StPO müssen auch bei einer Einstellungsentscheidung nach § 153 a StPO bereits im Tatbestand die gleichen, umfassenden Erwägungen vorgenommen werden, wie es eine sich auf der Rechtsfolgenseite anschließende Ermessensprüfung vom Rechtsanwender verlangen würde. Auf diese Weise wird bei Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen die Entscheidung vorzeitig festgelegt. Die uneingeschränkte Anwendbarkeit des § 153 a StPO im lugendstrafveifahren ist nur für den Fall unumstritten, daß nach § 105 JGG bei Heranwachsenden allgemeines Strafrecht zur Anwendung gelangt l89 . Gilt hingegen allgemein das Jugend182 Ganz h.M.; vgl. nur Döhring, S. 138 ffi. w. N.; Eekl, IR 1975, S. 101; Fezer; ZStW 106 (1994), S. 23; Kleinknecht-Meyer-Goßner; § 153a Rn. 7; LR-Rieß, § 153a Rn. 31; Schirrmaeher; S. 36 ffi. w. N. 183 Heidelberger K.-Krehl, § 153a Rn. 9 ffi. w. N.; Ranft, S. 279; Sehirrmaeher; S. 37 ffi. w. N.; vgl. dazu auch Pfeiffer; § 153a Rn. 2. A.A. Eckl, IR 1975, S. 101; Hanack, FS Gallas, S. 349. 184 Vgl. dazu auch unten "Teil3.D.xII.". 185 Döhring, S. 138; Lampe, Wiedervereinigung I, S. 72. 186 Dazu oben "Teil3.B.I."; vgl. auch Ahrens, Hauptverhandlung, S. 37 ffi. w. N. 187 Keller; GA 1983, S. 517; vgl. auch Aulinger; S. 26. 188 Aulinger, S. 26.

C. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung

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strafrecht, reicht das Meinungsspektrum von einer uneingeschränkten Anwendbarkeit l90, über eine subsidiäre l9l , bis hin zu einem völligen Ausschluß 192 des § 153 a StPO neben den §§ 45, 47 JGG. Mit Blick auf die subsidiäre Geltung des Strafprozeßrechts erscheint es zutreffend, die teilweise günstigeren Vorschriften des allgemeinen Strafprozeßrechts auch im Jugendstrafrecht anzuwenden. Für eine abschließende Regelung im Jugendgerichtsgesetz sprechen weder die Gesetzessystematik noch überzeugende erzieherische Gründe l93 .

11. Zur Vorgeschichte des § 153 a StPO Um den Hintergrund der Vorschrift zu erhellen, ist zu Anfang ein rückwärtig gerichteter Blick auf die Entwicklung der hier beschriebenen Praxis - Strafverfahren unter Verknüpfung mit einer Gegenleistung des Beschuldigten einzustellen - zu werfen, um zu sehen, daß der im Jahre 1974 in § 153 a StPO legalisierte Gedanke so neu nicht war. Der durch Art. 21 Nr. 44 des EGStGB vom 2. 3. 1974 194 eingeführte und am 1. 1. 1975 in Kraft getretene § 153 a StPO legalisierte ein seit langem durch die Praxis geübtes "paralegales,,195 Verfahren. So setzte die Verknüpfung der Verfahrenseinstellung mit Leistungen des Beschuldigten schon bald nach der Einführung des § 153 StPO im Jahre 1924 ein l96, und es mehrten sich in der Folgezeit Verfahrenssituationen, in denen die Hauptverhandlung zunächst vertagt und dabei eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO für den Fall in Aussicht gestellt wurde, daß der Angeklagte binnen einer bestimmten Frist den Schaden wiedergutgemacht, "freiwillig" eine Geldbuße oder Spende an eine gemeinnützige Institution erbracht und die Gerichtskosten beglichen haben würde l97 . Legalisiert wurde diese Rechtspraxis erstmals in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Staatsanwaltschaft wurde durch die 4. Verordnung zur Vereinfachung der 189 AK-Schöch. § 153a Rn. 8; Heidelberger K.-Krehl. § 153a Rn. 3; Kleinknecht-MeyerGoßner; § 153a Rn. 5; LR-Rieß. § 153a Rn. 19. 190 Vgl. die Nachweise bei LR-Rieß. § 153a Rn. 19 Fn. 56. 191 AK-Schöch. § 153a Rn. 8; Heidelberger K.-Krehl. § 153a Rn. 3; Kleinknecht-MeyerGoßner; § 153a Rn. 4 m. w. N. 192 KK-Schoreit. § 153a Rn. 8; weitere Nachweise bei LR-Rieß. § 153a Rn. 19 Fn. 57. 193 AK-Schöch. § 153a Rn. 8 m. w. N. Zur Anwendbarkeit des § 152 11 stPO im Jugendstrafrecht vgl. bereits oben "Teil 2.A.I.l.c )aa)". 194 BGBL 1974 I. S. 469. 195 Dahs. NJW 1996. S. 1192; vgl. dazu auch Krümpelmann. Die Bagatellde1ikte, S. 226 m.w.N. 196 Zur Einführung des § 153 StPO durch die Emminger-Verordnung vom 4. 1. 1924 vgl. oben "Teil3.B.II." sowie zuvor bereits "Teill.A.II.4.". 197 Vgl. Dahs. NJW 1996, S. 1192; ebenso Kausch. S. 32 m. w. N.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Strafrechtspflege vom 13. 12. 1944 198 ermächtigt, Einstellungen von Strafverfahren bei Vergehen mit der Auferlegung eines Bußgeldes zu verbinden. Obwohl diese Verordnung durch Art. 8 11 Nr. 40 des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12.9. 1950 199 aufgehoben und auch das Zustimmungserfordernis des Richters wieder eingeführt wurde, setzte sich diese Praxis auch ohne gesetzliche Grundlage weiter fort, und so bedurfte es im Jahre 1953 einer entsprechenden KlarsteIlung in Nr. 74 IV der seinerzeit neuen, bundeseinheitlich erlassenen "Richtlinien für das Strafverfahren" (RiStV)200: "Die Einstellung darf nicht davon abhängig gemacht werden, daß der Beschuldigte die der Staatskasse erwachsenen Auslagen des Verfahrens übernimmt oder sich verpflichtet, eine Geldbuße an die Staatskasse zu zahlen." Bei Mißachtung der Vorschrift drohte dem zuständigen Staatsanwalt ein Verfahren wegen Erpressung. Nicht unterbunden, sondern durch einige Stellen in der RiStV geradezu angeregt, wurde jedoch eine durchaus ähnliche Verfahrens weise: Hiernach wurde dem Beschuldigten informell seitens der Justiz eine Einstellung des Verfahrens für den Fall in Aussicht gestellt, daß er sich denn möglicherweise in naher Zukunft finanziell erkenntlich gezeigt, d. h. den entstandenen Schaden beglichen oder die Staatskasse in bußfertiger Manier aufgefüllt haben werde. War der Justiz hinsichtlich dieser Praxis an einer breiteren Öffentlichkeit - verständlicherweise - nicht gelegen, geriet die Existenz dieser Verfahrensweise erst wieder im Jahre 1972 ins allgemeine Bewußtsein der Bevölkerung, als die sog. "Hamburger Bußgeldaffare" Schlagzeilen machte 201 . Durch Angehörige der Hamburger Justiz war es mehrfach zu Verfahrenseinstellungen gegen Bußgeldzahlungen gekommen, bei denen angesichts der Schwere der Verfehlungen, insbesondere der Höhe des angerichteten Schadens, eine "geringe Schuld" (nach § 153 a StPO a.F.) ausgeschlossen erscheinen mußte 202 . Unabhängig davon, daß ein Großteil der Empörung auf die eigennützige und ungleichmäßige Verteilung der verhängten Bußgelder zurückging 203 , erschien in den betroffenen Fällen die Grenze der Ge-

198 RGBl. 1944 I, S. 339. Art. 2 § 8 III dieser VO lautete: "Das Absehen von der Klage und die Einstellung des Verfahrens können von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängig gemacht werden." 199 RGBl. 1950 I, S. 455. 200 Nachweis bei Kausch. S. 32 f., der jedoch auch darauf verweist, daß diese eindeutige Haltung schon in Art. 75 III RiStBV wieder aufgegeben wurde, wo es heißt: ,,Ein Verhalten des Beschuldigten nach der Tat, daß sie (sc. die Schuld) nachträglich als geringfügig erscheinen läßt, z. B. die Wiedergutmachung des Schadens, darf beriicksichtigt werden. Auf diese Einstellungsmöglichkeit darf hingewiesen werden, wenn Mißdeutungen ausgeschlossen sind und auch der Anschein eines unzulässigen Drucks auf den Beschuldigten vermieden wird". 201 Vgl. Kausch. S. 33, der vereinzelte Nachweise für eine Existenz einer derartigen Verfahrensweise ,,hinter verschlossenen Türen" für den angesprochenen Zeitraum erbringt. 202 Untersuchungsausschuß, Bericht, S. 19; Nachweis bei Kausch, S. 34. 203 Teilweise wurden die Bußgeldzahlungen durch beteiligte Richter und Staatsanwälte an Vereine und Organisationen gelenkt, bei denen sie selbst auf der Mitgliederliste standen. Die

C. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung

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ringfügigkeit der eingestellten Vergehen überschritten worden zu sein. Die Kritik an dieser Vorgehensweise der Justiz war demzufolge groß; übereinstimmend hielt man diese Form der Verfahrensbeendigung für unzulässig204 . Der Gesetzgeber hingegen hatte in dieser Zeit bereits Pläne für eine Legalisierung der umstrittenen Rechtspraxis in der Schublade: § 153 a StPO findet sich erstmalig in dem am 1. 12. 1971 vom Bundeskabinett beschlossenen Entwurf eines EGStGB 205 , der am 31. 12. 1971 dem Bundesrat zugeleitet und im Unterausschuß seines Rechtsausschusses vom 11. bis zum 13. 1. 1972 beraten wurde. Auf Vorschlag des Bundesrates vom 9. 12. 1972206 wurde der ursprünglich vorgesehene Wortlaut der Vorschrift abgeändert. Der in der 7. Wahlperiode am 9. 3. 1973 neu eingebrachte Entwurf der Bundesregierung207 enthielt dann bereits diese vom Bundesrat formulierte - von der juristischen Öffentlichkeit zuvor nie diskutierte - Fassung des § 153 aStPO. Gemäß dieses Vorschlags beschloß der Bundesrat dann im ersten und ebenso im zweiten Durchgang 208 • Mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 9. 12. 1974209 , dem Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 20. 12. 1974210 sowie dem Einführungsgesetz zum StGB vom 2. 3. 197421I, die allesamt am 1. Januar 1975 in Kraft traten, war das erste Kapitel der großen Strafrechtsprozeßreform abgeschlossen, deren Leitstern insgesamt die Beschleunigung, die Straffung und die effizientere Gestaltung des Strafverfahrens war 12• Am 3. 2. 1984 beschloß der Bundesrat eine Priifungsempfehlung an den Bundestag, worin eine Erweiterung des Merkmals "bei geringer Schuld" in "wenn die Schuld des Täters nicht entgegensteht" vorgeschlagen wurde213 • Die Vertreter des Bundesministeriums der Justiz und die StPO-Referenten der Landesjustizverwaltungen erörterten die Priifungsempfehlung in einer Sitzung am 8./9. 10. 1984 und kamen darin überein, eine Erweiterung des § 153 a StPO in der Schuldkomponente zu suchen, wobei sich die Diskussion auf die beiden Alternativen "wenn die Unterstellung eines - zumindest - mittelbaren Eigenvorteils als Motiv ihres Handeins erscheint daher nicht lebensfremd; vgl. Kausch, S. 34. 204 Vgl. Kausch, S. 34 ff., 39, der zudem darauf hinweist, daß in Anbetracht dieser Kritik und insbesondere mit Blick auf das Warnzeichen, das die "Hamburger Bußgeldaffare" gesetzt hatte, der Weg, den der Gesetzgeber im Jahre 1974 in der Schaffung des § 153a StPO und damit in der Legalisierung dieser Praxis einschlug, nur als ,,Flucht nach vorn" bezeichnet werden könne. 205 BR-Drs. 1172. 206 BR-Drs. 1/72, Beschluß. 207 BT-Drs. 7/550, BR-Drs. 111173. 208 BR-Drs. 111173; 51174. 209 BGBI. 1974 I, S. 3393. 210 BGBI. 1974 I, S. 3686. 211 BGBI. 1974 I, S. 469. 212 Vgl. Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 903 f. 213 Nr. 5 der Stellungnahme zum RegE des StVÄG 1984, BT-Drs. 10/1313, S. 49 (59).

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Schuld des Taters nicht entgegensteht" und "wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht" konzentrierte 214 • Der letztgenannten Formulierung wurde schließlich der Vorzug gegeben. Durch Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. 1. 1993 215 wurde die Schuldklausei entsprechend abgeändert, nachdem man die Reformpläne auf einer Zusammenkunft der Justizminister und -senatoren zum Ende des Jahres 1984 zunächst verworfen und sich auf die Fortsetzung der Suche nach einer anderweitigen Erweiterungsmöglichkeit des § 153 a StPO verständigt hatte 216 • Zuletzt wurde durch das Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Tater-Opfer-Ausgleichs und zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen vom 20. 12. 1999217 der sog. Tater-Opfer-Ausgleich (TOA) als Auflagenform in § 153 a StPO eingefügt.

III. Kriminalpolitische Zielsetzung des Gesetzgebers der Jahre 1974 und 1993

Sowohl die gesetzgeberischen Motive bei der Schaffung der Vorschrift im Jahre 1974 als auch bei der Änderung ihrer Schuldklausei im Jahre 1993, wodurch der Anwendungsbereich der Norm erheblich ausgeweitet wurde, könnten Aufschluß darüber geben, wie es um die Reformbereitschaft des Gesetzgebers dieser Tage bestellt ist. So kann eines als gesichert gelten: Liegt die im Blickpunkt des Interesses stehende Norm weitgehend "auf Kurs" mit der gesetzgeberischen Intention, d. h. erfüllt sie - zumindest zu einem Großteil - die in sie gesetzten Erwartungen, schwindet der Reformdruck und wächst gleichzeitig die Bereitschaft, etwaige "Nebengeräusche" zu überhören. Nach der amtlichen Begründung verfolgten die Anfang des Jahres 1975 in Kraft getretenen Regelungen des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege hauptsächlich zwei Ziele: Durch einen Verzicht auf Hauptverhandlung und Schuldspruch sollte zum einen eine "Straffung und Beschleunigung des Verfahrens" erreicht und damit zu einer Entlastung der Strafverfolgungsorgane beigetragen werden 218 • Daneben sollte die Vorschrift für die Fälle einen Ausgleich schaffen, die durch den Wegfall der Übertretungen als Deliktskategorie eine Aufwertung zum Vergehen erfahren hatten 219 •

Vgl. die Nachweise bei Waller, DRiZ 1986, S. 47. BGBI. 1993 I, S. 51. 216 Vgl. Waller, DRiZ 1986, S. 47. 217 BGBI. 1999 I, S. 2491. 218 Entwurf EGStGB BT-Drs. VI/3250, S. 283; 7/550, S. 287 f.; Entwurf l.StVRG BTDrs. VI/3478, S. 43, 73; BT-Drs. 7/551, S. 44, 69. 219 BT-Drs. V1/3250, S. 236; 7/550, S. 189,247; 7/551, S. 189 f., 247. 214 215

C. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung

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1. Entkriminalisierung durch Verfahren - § 153 a StPO als prozeßrechtliches Korrektiv für die materiellrechtliche Höherstufung früherer Übertretungstatbestände zu Vergehen und dem Wegfall von Privilegierungstatbeständen im Bereich der Vermögensdelikte (1974)

Das Zweite Gesetz zur Refonn des Strafrechts vom 4. 7. 1969220 brachte mit Wirkung vom 1. 10. 1973 den Wegfall sämtlicher Übertretungstatbestände, die vormals neben Verbrechen und Vergehen die dritte Deliktskategorie im StGB stellten. Eine Reihe von Tatbeständen ehemaliger "Übertretungen" wurde im Zuge der Refonn ersatzlos gestrichen 221 , andere durch Überführung in das Ordnungswidrigkeitenrecht aus dem Kriminalstrafrecht ausgeschieden 222 oder in anderen landesrechtlichen Vorschriften aufgenommen. Der Wegfall der Übertretungen und weiterer Vergehensprivilegierungen führt aber namentlich in den Fällen des Mundraubs, der Notentwendung und des Notbetrugs sowie des Feld- und Forstdiebstahls, der qua Landesrecht als Übertretung galt 223 , auch dazu, daß diese vonnaligen Bagatelltatbestände nunmehr den Vergehen des Diebstahls, der Unterschlagung und des Betruges unterworfen werden 224 . Insbesondere die Fälle des § 370 I Nr. 5 StGB a.F. ("Mundraub") bewertet der Gesetzgeber weiterhin als "kriminelles Unrecht,,225 und wertet sie in Ennangelung einer geeigneten gesetzlichen Abstufungsmöglichkeit zu Vergehen auf 26. BGBl. 1969 I, S. 717. Dazu gehören insbesondere Landstreicherei, Bettelei, Verwahrlosung, Arbeitsverweigerung und Obdachlosigkeit; vgl. Lüderssen, Polizei und Strafprozeß, S. 211. 222 Beispielsweise sind jetzt die Fälle des § 306 I Nr. 11 StGB a.F. ("grober Unfug") in §§ 117 ("unzulässiger Lärm"), 118 OWiG ("Belästigung der Allgemeinheit") geregelt. Weitere Ausformungen der Umwandlung von Übertretungen in Ordnungswidrigkeiten sind: §§ 119 ("grob anstößige und belästigende Handlungen"), 111 ("falsche Namensangabe"), 114 ("Betreten militärischer Anlagen"), 124 ("unbefugtes Benutzen von Wappen und Dienstflaggen") und schließlich die §§ 127, 128 OWiG, die das Herstellen oder Verwenden von Sachen, die zur Geld- oder Urkundenfälschung benutzt werden können, sowie weiterhin das Herstellen und Verbreiten von papiergeldähnlichen Drucksachen oder Abbildungen als Ordnungswidrigkeit ausweisen; vgl. dazu Lüderssen, Polizei und Strafprozeß, S. 211 f.; vgl. ferner Ahrens, Hauptverhandlung, S. 15. 223 Kunz, Bagatellprinzip, S. 50. 224 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 15; Kausch, S. 16; Lüderssen, Polizei und Strafprozeß, S. 212. Lüderssen benennt darüber hinaus weitere Beispiele für solche Verhaltensweisen, die durch den Wegfall der dritten Deliktskategorie der Übertretungen zu Vergehen heraufgestuft worden sind. 225 Vgl. BT-Drs. V /4095, S. 3. 226 Hirsch, FS Engisch, S. 319 Fn. 55 hatte bereits im Jahre 1969 auf die (drohende) Konsequenz hingewiesen, "daß bisherige Übertretungstatbestände bei der de lege ferenda vorgesehenen Zweiteilung der Straftaten mangels anderweitiger Einordnungsmöglichkeit zu Vergehen aufgewertet werden". Ebenfalls kritisch gegenüber einer weitgehenden Aufwertung von Übertretungen zu Vergehen und einer damit einhergehenden Verschärfung des Strafrechts Kern, Der deutsche Rechtspfleger 1960, S. 266 ff. Und Kunz, Bagatellprinzip, S. 50: "Mit dieser uneingeschränkten und pauschalen Eingliederung in den Kernbereich strafrechtlichen 220 221

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Diese Aufwertung von Verhaltensweisen, die zuvor als Bagatellen qualifiziert worden waren, bedeutet jedoch nicht, daß der Gesetzgeber die Strafwürdigkeit der vorgenannten Verhaltensweisen neuerdings höher einschätzen würde als einst bei ihrer Einordnung als "Übertretung"227. Dennoch scheint sich das Entkriminalisierungsanliegen des Gesetzgebers bei der "Ausdünnung" des Kriminalstrafrechts in sein Gegenteil zu verkehren. Dazu schreibt Kunz228 : "Der unter dem Stichwort Konzentration des Strafrechts auf schwerwiegende Rechtsbrüche betriebene Fortfall genereller gesetzlicher Milderungen führt zu der paradoxen Konsequenz, daß bagatellarische Strafrechtsverstöße materiellrechtlich als schwerwiegend eingestuft und behandelt werden müssen. Die Rettungsleine, die einen Fluchtweg aus dem überquellenden Straftatenarsenal eröffnen sollte, ist unversehens zur Schlinge geworden, in der sich die Entkriminalisierungspolitik verfängt." Als "geeignetes Mittel, die entgegengesetzte materielle Entscheidung zu überspielen und zu kompensieren,,229, schuf der Gesetzgeber mit § 153 a StPO auf prozessualer Ebene ein Korrektiv: Die im materiellen Strafrecht unterbliebene Entkriminalisierung findet nunmehr im Prozeßrecht statt. Dem gemilderten Unrecht bagatellarischen, aber dennoch strafrechtlich relevanten Verhaltens wird fortan durch § 153 a StPO Rechnung getragen, der infolgedessen auch zu Recht als eine Folgerung aus dem Wegfall der untersten Deliktskategorie der Übertretungen bezeichnet wird23o. So galt es nach Abschaffung der "Übertretungen" insbesondere die kriminalpolitisch fragwürdige Konsequenz zu vermeiden, die Verfolgung bagatellarischen Verhaltens entweder nach § 153 StPO vollkommen sanktionslos zu stellen oder aber mit der vollen Härte des Kriminalstrafrechts zu reagieren. Es wurde im staatlichen Reaktionsarsenal eine Alternative notwendig, welche eine Verfahrenseinstellung gestattete, ohne dabei ganz auf eine Sanktion zu verzichten 231 . Konzipiert werden sollte eine Vorschrift für all die Fälle, bei denen "eine Einstellung nach § 153 nur deshalb nicht in Betracht kommt, weil es nicht verantwortet werden kann, den Täter ohne jede Sanktion von einer Bestrafung freizustellen,,232.

Unrechts ist der Unterschied zwischen leichten und normal schweren Eigentums- und Vermögensdelikten vollends eingeebnet und der Restbestand einer quantitativ abgestuften Bewertung der Bagatelldelikte im materiellen Recht beseitigt." 227 Vgl. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 15 mit Hinweis auf BT-Drs. 7/550, S. 247; 7/ 1261, S. 2,17; BR-Drs. 111/73, S. 201,247. Vgl. ebenso bei Kausch, S. 16; des weiteren Kunz, Bagatellprinzip, S. 51. 228 Kunz, Bagatellprinzip, S. 51. 229 Kunz, Bagatellprinzip, S. 51. 230 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 15; Dencker, JZ 1973, S. 144; Dölling, FS Geerds, S. 239; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 24; Hanack, FS Gallas, S. 352; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 222; derselbe, GS H.Kaufmann, S. 140; Kausch, S. 16; Kunz, Bagatellprinzip, S. 51; Lange, FS Jahrreiß, S. 132; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, Vorwort, -V-; Waller, DRiZ 1986, S. 46 Fn. 13. 231 Fezer, ZStW 106 (1994), S. 24. 232 BT-Drs. 7/550, S. 298.

C. Opportunitätsprinzip und Sanktionsverhängung

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Nachdem sich der Gesetzgeber des Jahres 1974 insoweit erfolgreich den Schwierigkeiten einer materiellrechtlichen Abgrenzung bagatellarischen Verhaltens durch den Rückgriff auf prozessuale Lösungen entzogen hatte, entdeckte man seitens der Justizpraxis schnell die Vorzüge dieses opportunen Prozeßmodells und baute es "zum allgemeinen Konzept für die Erfassung der Bagatellkriminalität" aus233 . Die Regelung des § 153 a StPO stellt dabei ein prozessuales Mittel zur Entkriminalisierung dar, das einerseits - so jedenfalls die Vorstellung des Gesetzgebers im Jahre 1974234 - in Grenzbereichen der Sanktionsbedürftigkeit den Makel eines formellen Schuldspruchs und die Verhängung einer Kriminalstrafe vermeidet, andererseits aber nicht sanktionslos, sondern vielmehr mit der Möglichkeit zur Verhängung von Auflagen und Weisungen auf das deliktische Verhalten des Täters reagiert235 .

2. Entlastung der Justiz - § 153 a StPO als Radikalmittel zur Bewältigung der ,,Massen-BagateUkriminalität" und damit als Instrument zur Auflösung organisationspragmatischer Schwierigkeiten (1974 und 1993)

Neben dem Bestreben, ein prozessuales Instrumentarium zur Korrektur materiellrechtlicher Überreichweiten des Strafrechts zu schaffen, haben den Gesetzgeber bei der Einführung der Norm im Jahre 1974 auch justizökonomische Erwägungen geleitet 236 . Die Höherstufung von häufig auftretenden bagatellarischen Verhaltensweisen, die vormals als "Übertretungen" verfolgbar waren, zu Vergehen, ließ einen Anstieg der Arbeitsbelastung innerhalb der strafverfolgenden Justiz erwarten, bei dem auch ein entsprechendes Antragserfordernis im Rahmen der betroffenen Tatbestände nicht die entscheidende Entlastungswirkung versprach 237 . Zur raschen und zweckmäßigen Bewältigung dieser Neukriminalisierungen sollte daher auch der gleichzeitig eingeführte § 153 a StPO dienen, durch den sich der Gesetzgeber eine Straffung und Beschleunigung des Verfahrens und mithin einen Entlastungseffekt für die Justiz erhoffte. Durch die Freistellung bislang gebundener Ressourcen sollte es Staatsanwaltschaften und Gerichten ermöglicht werden, sich intensiver mit der mittleren und schweren Kriminalität zu befassen 238 . Hirsch, GS H.Kaufmann, S. 141. Zur Freigabe des Bereichs "mittelschwerer Kriminalität" durch die Änderung der Schuldklausei im Jahre 1993 vgl. unten "Teil3.D.I.2.a)bb)(2)". 235 Heide1berger K.-Krehl, § 153a Rn. 1; Müller/Wache, FS Rebmann, S. 328. 236 Vgl. BT-Drs. VII 3250, S. 283 f.; VII3478, S. 47; 7/550, S. 189 f., 227 f.; 7/551, S. 44, 69; 7/1261, S. 26 ff.; vgl. auch Dencker, JZ 1973, S. 144 (zum damaligen Entwurf des EGStGB). Des weiteren zun den Motiven des Gesetzgebers: Ahrens, Hauptverhandlung, S. 13 f.; Bloy, GA 1980, S. 172; Eckl, JR 1975, S. 99; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 24 f.; Heidelberger K.-Krehl, § 153a Rn. 1 m. w. N.; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 17; Kausch, S. 16 f.; Kerl, ZRP 1986, S. 315; Rieß, ZRP 1983, S. 95; Waller, DRiZ 1986, S. 48. 237 So reagierten Handel und Gewerbe beispielsweise im Falle des ehemaligen ,,Mundraubs" mit massenhafter Vordruck-Antragstellung; vgl. Kerl, ZRP 1986, S. 315. 233

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Allein justizökonomische Entlastungs- und nicht mehr kriminalpolitische Entkriminalisierungsanliegen waren es dann, die den Gesetzgeber des Jahres 1993 zur Änderung der Schuldklausei und damit zur erheblichen Erweiterung des Anwendungsbereichs der Vorschrift bewogen haben239 . Diese Ausdehnung der Einstellungsmöglichkeit nach § 153 a StPO erfolgte unter rein "betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten", sozusagen zur "Optimierung von Aufwand und Ertrag,,240. Der Aspekt der Entkriminalisierung wird durch die gesetzgeberische Zielvorgabe der Verfahrensvereinfachung und der Entlastung der Strafjustiz vollständig verdrängt und findet in den Gesetzesmaterialien der Novelle nicht mehr statt241 . Das Gesetzgebungsvorhaben im Jahre 1993 steht - wenn auch nur vordergründig - ganz im Zeichen der Deutschen Wiedervereinigung und der damit verbundenen Notwendigkeit, in den "neuen Ländern" eine rechts staatliche Justiz zu installieren 242 . Infolge chronischer Personalknappheit konnte dieser "Beitrag zur Vollendung der Wiedervereinigung auf dem Gebiet der Justiz" nur durch eine breit angelegte Entlastung der Rechtspflegeorgane geleistet werden 243 . Der Gesetzgeber befand, "die Gelegenheit beim Schopf zu packen,,244 und die historische Aufgabe mit dem immerzu Nützlichen zu verbinden und trug insoweit dem zu allen Zeiten aktuellen Anliegen Rechnung, durch Straffung und Beschleunigung der Verfahrensabläufe justizökonomisches Handeln zu begünstigen 245 .

3. Der Diversionsgedanke - § 153 a StPO als Teil eines Gesamtkonzepts informeller Erledigungsstrategien

Ohne daß dies ausdrücklich in den Gesetzesmaterialien erwähnt wäre, stellt die Verfahrenseinstellung gemäß § 153 a StPO nach Auffassung vieler Autoren eine 238 BT-Drs. 7/1261, S. 26 f.; vgl. auch Bloy, GA 1980, S. 172; Eckl, JR 1975, S. 99. Zur Entlastung der Justiz im Bagatellbereich zwecks Kapazitätenfreistellung für die "Bewältigung größerer und gewichtigerer Verfahren" vgl. auch Waller, DRiZ 1986, S. 48. 239 Fezer, ZStW 106 (1994), S. 31; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 538. Zur Änderung der Schuldklausei des § 153a StPO durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (1993) vgl. auch unten "Teil 3.D.I.2.a)bb)(2)". 240 Rieß, Vereinfachte Verfahrensarten, S. 114. 241 Vgl. BT-Drs. 12/1217, S. 19,34,67. 242 Vgl. Schoreit, DRiZ 1991, S. 404. 243 BöttcherlMayer, NStZ 1993, S. 153; vgl. auch Schoreit, DRiZ 1991, S. 404; ebenso Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 102. 244 So der SPD-Abgeordnete Pick in der 2. Lesung, Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, 125. Sitzung am 27.11. 1992, S. 10782; zitiert nach BöttcherlMayer, NStZ 1993, S. 153 Fn.6. 245 Des weiteren kam der Gesetzgeber durch die Abänderung der Schuldklausei in § 153a StPO dem Rechtsanwender noch auf eine ganz andere Weise zu Hilfe: Das Problem, daß sich "geringe Schuld" in der Praxis oft nur schwer feststellen ließ, war nunmehr ebenfalls hinflillig geworden; vgl. BöttcherlMayer, NStZ 1993, S. 154.

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"systemspezifisch deutsche Variante der Diversion" da?46. Indem die Vorschrift den Weg zu opportunem Handeln im Strafverfahren im Sinne einer verfahrensrechtlichen "Entkriminalisierung durch Entformalisierung,,247 eröffne, beweise sie eine "Affinität zu der international verbreiteten und im Prinzip begrüßenswerten Idee der Diversion,,248.

Diversion bezeichnet derweil einen Pool kriminalpolitischer Strategien, die allesamt eines gemeinsam haben: sie zielen ab auf "eine ,Ablenkung', ,Umleitung' oder ,Wegführung' des Straftäters vom System formeller Sozialkontrolle und auf eine Erledigung im Wege der informellen Sozialkontrolle,,249. Dieser Grundströmung entspricht nun - gleiches gilt im übrigen für § 153 StP0250 - auch die Einstellungsermächtigung nach § 153 aStPO, indem sie eine "formelle, stigmatisierende Sanktion durch informell sanktionierende Verfahrensabschlüsse zu ersetzen trachtet,,251. Die Aussonderung des Beschuldigten aus dem normalen Gang des Verfahrens mittels einer Einstellung nach den §§ 153, 153 a StPO ist demzufolge eine Ausprägung des Diversionsgedankens252 .

246 LR-Rieß, § 153a Rn. 15; vgl. auch Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 490; Heinz, ZStW 111 (1999), S. 478; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 23 Fn. 84 m. w. N.; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 456 f.; Kerl, ZRP 1986, S. 315; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 10; Wolter, GA 1985, S. 49. Vgl. dazu auch bereits oben "Teil2.B.II.4.". 247 Schöch, FS Schü1er-Springorum, S. 249; vgl. Heinz, FS Kaiser, S. 111; derselbe, ZStW 1ll (1999), S. 462 Fn. 4. 248 Weigend, KrimJourn 1984, S. 10. 249 Heinz, ZStW 111 (1999), S. 462 Fn. 4. Vgl. dazu auch bereits oben "Teil2.B.II.4.". 250 Vgl. dazu beispielsweise Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 457; Rieß, ZRP 1983, S. 98 Fn.56. 251 Rieß, ZRP 1983, S. 98 f.; vgl. auch Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 84. 252 Walter (ZStW 95 (1983), S. 55 ff.) zufo1ge fehle es dem Verfahren nach § 153a StPO dagegen an dem - neben dem "Ab1enkungsmoment" - ebenfalls erforderlichen "Umleitungsmoment". Die Diversionsidee werde verfehlt, da der Beschuldigte durch die Auflagenerfüllung keine Konflikterledigung im Sinne der Erzielung eines ,,Minimalkonsens(es)" zwischen ihm und der Justiz über "das eigentliche Problem" - namentlich den materiellen Konflikt der Straftat (vgl. Weigend, KrimJourn. 1984, S. 19 Fn. 4) -, anzustreben gezwungen sei, sondern bei seinem Ziel, eine Verfahrenseinstellung zu erreichen, ausschließlich an der Bereinigung des "Justizkonflikt(es)" orientiert sein dürfe; vgl. Walter a. a. 0., S. 57. Unverträglich mit dem Umlenkungserfordernis und demzufolge mit dem gesamten Diversionsgedanken sei, daß der Beschuldigte seine Position, unschuldig zu sein, bei einer Verfahrensbeendigung nach § 153 a StPO weiterhin aufrechterhalten könne und somit eigentlich auch kein Anlaß für eine alternative Erledigung bestehen würde; vgl. Walter a. a. 0., S. 57. Dagegen Weigend, a. a. 0., S. 10 Fn. 4: "Dieser Einwand ist zwar berechtigt, doch übersieht Walter, daß die Beseitigung des öffentlichen Interesses an der weiteren Verfolgung der Straftat qua Gesetz postuliert wird. Der straftatauslösende soziale oder interpersonale Konflikt mag zwar faktisch weiterschwelen (wie dies übrigens auch bei anderen Formen der Diversion vorkommen kann); für alle Rechtsanwender gilt er aber durch die Leistung des Beschuldigten als erledigt."

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

D. Ist § 153 a StPO als Einschränkung des Legalitätsprinzips dogmatisch verfehlt, kriminalpolitisch mißglückt und am Ende sogar verfassungswidrig? Die Verfahrenseinstellung gegen Erteilung von Auflagen und Weisungen im Spiegel der Kritik Das prozessuale Entkriminalisierungskonzept des Gesetzgebers aus dem Jahre 1974 ist in Wissenschaft und Literatur nur vereinzelt auf uneingeschränkte Zustimmung gestoßen253 . Es wurde weiterhin kritisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend aufgenommen 254, und es hat zum wohl größten Teil neben erheblicher Skepsis auch völlige Ablehnung erfahren 255 . Wenn § 153 a StPO überwiegend als eine unzulässige Ausprägung des Opportunitätsgedankens angesehen wird, ist die dabei vorgebrachte Kritik kriminalpolitischer, verfassungsrechtlicher und dogmatischer Art und richtet sich vor allem auch - wie bereits im Zusammenhang mit § 153 StPO - auf die mangelnde Bestimmtheit der einzelnen Anwendungsvoraussetzungen, durch die einer Ungleichmäßigkeit in der Rechtsanwendung Tür und Tor geöffnet wird. Darüber hinaus wird im Rahmen von § 153 a StPO verstärkt auf die problematische Rollenverteilung von Richter und Staatsanwalt im Verfahren, insbesondere im Zusammenhang mit der staatsanwaltschaftlichen Sanktionskompetenz bei der Ermächtigung zur Erteilung von Auflagen und Weisungen, hingewiesen. Daneben beklagen die Gegner des § 153 a StPO ganz allgemein eine erhebliche Verschlechterung der Stellung des Beschuldigten (und auch des Verletzten), die sich nicht zuletzt im Wegfall verschiedentlicher Verfahrens garantien bei einer Sanktionsverhängung durch den Staatsanwalt ausdrücke. Infolge eines weitgehend pragmatischen Umgangs mit der Einstellungsermächtigung, deren Ausübung regelmäßig einer Wahrnehmung und Kontrolle durch die Öffentlichkeit entzogen ist, wird zudem ein Glaubwürdigkeitsverlust der Strafrechtspflege angemahnt. Die zahlreichen Argumente, mit denen ,,rechtliche Richtigkeit und praktische Tauglichkeit,,256 der Vorschrift seit langer Zeit - und insbesondere nach der Erweiterung ihres Anwendungsbereichs im Jahre 1993 - mit Nachdruck bestritten werden, sollen nachfolgend einer eingehenden Erörterung unterzogen werden. Nachweise bei Ahrens, Hauptverhandlung, S. 19 Fn. 1. So beispielsweise Dreher, FS Welzel, S. 933; Eckl, JR 1975, S. 99 ff.; Geerds, FS Dreher, S. 550 ff.; Naucke, DlT-Gutachten, D 77. 255 Vgl. Ant, JuS 1974, S. 694 ff.; derselbe, JZ 1976, S. 55; Baumann, ZRP 1972, S. 273 ff.; derselbe, FS Peters, S. 3 ff.; Berckhauer, DRiZ 1976, S. 236; Dencker, JZ 1973, S. 144 ff.; Hanack, FS Gallas, S. 339 ff.; Hirsch, FS Lange, S. 823 ff.; derselbe, GS H.Kaufmann, S. 140 ff.; Kohlhaas, DAR 1975, S. 14; Kramer, ZRP 1974, S. 66; Lange, FS Jahrreiß, S. 132 f.; Müller, ZRP 1975, S. 55; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 215 ff.; Rudolphi, ZRP 1976, S. 168; Schmidhäuser, JZ 1973, S. 529 ff.; Schmitt, ZStW 89 (1977), S. 640 ff.; weitere Nachweise bei Ahrens, Hauptverhandlung, S. 20 Fn. 1; ebenso bei Kausch, S. 39 Fn. 96. 256 Naucke, Dff-Gutachten, D 77. 253

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D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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I. Ungleichheit der Rechtsanwendung bei § 153 a StPO infolge weitgehend unbestimmter Anwendungsvoraussetzungen (Art. 103 11, 20 111 GG)

Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten muß verlangt werden, daß opportunitätsgeprägte Ausnahmen vom Grundsatz der Legalität hinreichend klar und bestimmt die Voraussetzungen für die Einstellungsentscheidung der Strafverfolgungsbehörde festlegen 257. Es stellt sich daher die Frage, ob - und gegebenenfalls inwieweit - die gesetzgeberische Ausgestaltung des § 153 a StPO eine gleichmäßige Anwendung des Rechts durch den jeweiligen Rechtsanwender möglich macht, oder ob nicht vielmehr durch das Bestreben der Legislative, der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse mit flüssigen, weitgehend unbestimmten Gesetzesbegriffen gerecht zu werden, der Gleichheitsgrundsatz infolge mangelnder Bestimmtheit der Norm auf der Strecke geblieben ist. Die Auswirkungen von Ungleichbehandlungen auf das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Justiz sind kaum absehbar. Bereits der bloße Verdacht unsachlicher Entscheidungsmotive 258 auf seiten der Staatsanwaltschaft und der Gerichte kann unter Umständen verheerende Folgen haben. Das Vertrauen der Bevölkerung, daß die Justiz "ohne Ansehen der Person" entscheidet, ist rasch verspielt259 . Eine spezielle Ausprägung des Bestimmtheitsgrundsatzes enthält Art. 103 11 GG, der neben dem Verbot einer Rückwirkung von Strafgesetzen ausdrücklich bestimmt, daß sich aus dem Gesetz klar und eindeutig ergeben muß, welches Verhalten strafbar ist260 . Hiernach kann aus verfassungsrechtlicher Sicht nur eine klare Formulierung des Normappells, die den Bürger über den Willen des Gesetzgebers nicht im Unklaren beläßt, eine spätere staatliche Sanktionierung abweichenden Verhaltens legitimieren. Bevor zu untersuchen sein wird, inwieweit Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit im Normprograrnm des § 153 a StPO angelegt sind, oder ob nicht vielmehr die Vorschrift gegen das verfassungsrechtlich verankerte Bestimmtheitsgebot verstößt, soll vorab die grundsätzliche Anwendbarkeit des speziellen Bestimmtheitssatzes für das Strafverfahren geklärt werden. So wendet sich Art. 103 11 GG dem

Dazu bereits oben ..Teil l.A.II.l.a)bb)(1)(b)" sowie ..Teil 3.A.I.". Dazu im einzelnen unten ..Tei13.D.IlI.". 259 Vgl. Waller, DRiZ 1986, S. 53, der eine zunehmende Tendenz zur Selbstjustiz als mögliche Folge eines leichtfertigen Umgangs mit dem Vertrauensvorschuß der Bevölkerung benennt. 260 Dazu bereits oben ..Teil l.A.II.l.a)bb)(1)(b)"; vgl. auch oben ..Teil 3.A.I.". Dazu, daß Art. 103 Il GG neben dem Verbot, Strafgesetze rückwirkend anzuwenden, des weiteren die Bestimmtheit von Strafgesetzen vorschreibt, vgl. BVerfGE 25, 269 (285). Jedermann soll voraussehen können, welches Verhalten verboten und strafbewehrt ist; BVerfGE 45, 346 (351). Vgl. auch Paschmanns, S. 114 m. w. N. 257 258

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Wortlaut nach ("Strafbarkeit") zunächst einmal nicht an die prozessualen Vorschriften der §§ 153 ff. StPO, sondern vielmehr an das materielle Strafrecht.

1. Geltung des speziellen Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 10311 GG auch im Verfahrensrecht

Die Geltung des allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 20 III GG ist auch für das Prozeßrecht allgemein anerkannt261 . Strafverfahrensrecht als "angewandtes Verfassungsrecht,,262 muß nach Ansicht des Bundesveifassungsgerichts im Einklang mit der Verfassung stehen, seine Auslegung muß mit dem Grundgesetz vereinbar sein 263 . Die Gründe sind offensichtlich: Das Strafverfahren mit seinen weitreichenden Eingriffsbefugnissen zur Durchsetzung des Rechtsgüterschutzes ist ein "scharfes Schwert" in der Hand des Staats und trifft den Bürger mitunter "in zentralen Bereichen des menschlichen Miteinander,,264. Voraussehbarkeit und Kalkulierbarkeit der staatlichen Reaktion sind für die Ausrichtung des eigenen Verhaltens unverzichtbar. Dies umso mehr in Fällen, in denen das Entscheidungsprogramm des strafverfolgenden Organs einen gewissen Beurteilungsspielraum zuläßt. Zutreffend hat Hassemer 65 festgestellt, daß die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrensrechts, soweit es Fälle opportuner Verfahrenserledigungen zuläßt, davon abhängt, "ob diese Fälle ganz präzise bestimmt sind. Vage formulierte Opportunitätsregeln zerstören das Legalitätsprinzip vollständig". Da jede Vagheit immer zu einem Verlust an Kontrolle und Begrenzung führe, sei "das Bestimmtheitsgebot in einem opportunistisch konstruierten Strafverfahrensrecht nicht weniger wichtig als im materiellen Strafrecht,,266. An dieser Stelle der Argumentation wird dann aber auch der Einfluß des speziellen Bestimmtheitsgebots aus Art. 103 11 GO auf das Prozeßrecht deutlich, seine Anwendung auch außerhalb des materiellen Strafrechts gut begründbar267 . ZentraDazu bereits oben "TeiI3.A.I.". BGHSt. 19,325 (330). 263 BVerfGE 32, 373 (383); vgl. auch BVerfGE 12, 113 (124 f.). 264 Hassemer, KritV 1990, S. 262. 265 Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 539. 266 Hassemer; FS StA Schleswig-Holstein, S. 539. 267 Nachweise für die Gegenansicht, die entweder generell eine Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes im Strafverfahren ablehnt oder aber jedenfalls eine Ausdehnung des Bestimmtheitsgebotes aus Art. 103 11 GG auf das Verfahren u. a. mit dem Argument ablehnt, Art. 103 11 GG schütze den Bürger in erster Linie vor Unbestimmtheiten im Zeitpunkt der Anspruchsentstehung, nicht jedoch bei der späteren Durchsetzung des einmal entstandenen Strafanspruchs, finden sich bei Schirrmacher, S. 144 Fn. 89. Gegen eine Erstreckung des Art. 103 11 GG auf das Prozeßrecht und damit auf den Gesarntvorgang der Strafverfolgung spricht sich z. B. Döhring, S. 45 f. aus; vgl. auch Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 73 f. 261

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D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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ler Gesichtspunkt des Übergriffs auf die strafprozessualen Vorschriften der §§ 153 ff. StPO ist dabei ihr Regelungsgehalt, der sich eben nicht auf verfahrenstechnische Prozeduren beschränkt, sondern vielmehr sowohl Aussagen über die Unrechtsfolgen als auch über die Strafbarkeitsvoraussetzungen trifft. Angesichts dieser materiellrechtlichen Funktionen kann sich der Gesetzgeber durch die Einordnung dieser Normen in das Verfahrensrecht den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots - auch des speziellen in Art. 103 11 GG - nicht entziehen. Verfolg barkeit und tatsächliche Verfolgung müssen für den Betroffenen in gleicher Weise voraussehbar sein wie die generelle Strafbewehrtheit seines Verhaltens 268 . Die Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes als einer echten Freiheitsgarantie müssen so zutreffend Pott269 - jedenfalls an diejenigen Vorschriften des Verfahrensrechts gerichtet werden, die nicht zu den sog. prozeßleitenden Vorschriften gehören, sondern eine unmittelbare materielle Wirkung entfalten, indem sie den staatlichen Strafanspruch "inhaltlich konkretisieren oder neu definieren,mo. Die zunächt systemfremd anmutende Erstreckung des Anwendungsbereichs des Art. 103 11 GG auf prozessuale Normen - hier: des § 153 a StPO - ist mithin nur "eine Konsequenz der systemwidrigen Einordnung materiell bedeutsamer Vorschriften in das Strafprozeßrecht,,271. Ihr materiellrechtlicher Regelungsgehalt272 unterstellt die (formal) verfahrensrechtliche Vorschrift des § 153 a StPO den Anforderungen des speziellen Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 11 GG.

2. Verfassungsrechtliche Bestimmtheitsanforderungen an die Anwendungsvoraussetzungen des § 153 a StPO

Nach der Benennung der verfassungsrechtlichen Vorgaben sind nunmehr die einzelnen Einstellungsvoraussetzungen des § 153 a StPO auf ihre Vereinbarkeit mit dem konstitutionellen Bestimmtheitsgebot zu überpriifen. Dabei gilt es das Folgende zu beachten: Ein Konflikt mit den Art. 20 III, 103 11 GG entsteht nicht bereits bei jeglicher Form von Unbestimmtheit, sondern vielmehr erst dann, wenn 268 So i.E. auch Paschmanns, S. 114. Pott, S. 146. Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 00), S. 68. Zustimmend Süß, Vom unmöglichen Zustand, S. 209. 271 Pott, S. 146. Vgl. auch Kunz, Bagatellprinzip, S. 90 f., der auf die Oesetzgebungsgeschichte der Vorschrift verweist, aus der hervorgehe, daß der Gesetzgeber die Etablierung der Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153, 153a StPO als prozessuale Surrogate für eine materiellrechtliche Sonderbehandlung der Bagatelldelikte verstanden habe. Da über die im Prozeßrecht angesiedelten Einstellungsvorschriften eine Aussonderung materiell-tatbestandliehen, nicht strafwürdigen Unrechts erfolge, müsse das Bestimmtheitsgebot auch für diese strafprozessualen Normen gelten. Vgl. hierzu auch Schirrmacher; S. 144. 272 Vgl. Naucke, DJT-Gutachten, D 115. Zum materiellrechtlichen Charakter der §§ 153, 153a StPO und der daraus resultierenden Forderung nach einer systemgerechten Verortung im StOB vgl. im einzelnen unten "TeiI5.B.III." sowie "TeiI5.B.lY.". 269 270

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

eine Begrifflichkeit innerhalb der Entscheidungsvoraussetzungen über den unbestimmten Wortlaut hinaus nicht auslegungsflihig ist, d. h. eine gerechte und gleichmäßige Anwendung der Vorschrift sowie eine Voraussehbarkeit staatlichen Handelns letztlich aufgrund fehlender Bestimmbarkeit nicht möglich ist273 . Des weiteren ist bereits an dieser Stelle zu konstatieren, "daß eine exakte Grenzziehung zwischen zulässiger und nicht mehr zulässiger Unbestimmtheit oftmals kaum zu leisten ist,,274. Eine unbestimmte Regelung wird jedoch jedenfalls dann verfassungsrechtlich in Frage gestellt werden müssen, "wenn es eine Regelungsaltemative gibt, die nicht oder weniger unbestimmt ist und die gleiche Funktion gewährleistet,,275.

a) Die Schuldklausel des § 153 a StPO Die vormals "geringe Schuld" in § 153 a StPO ist durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. 1. 1993 dahingehend geändert worden, daß seitdem eine Einstellung des Verfahrens u. a. dann in Betracht kommt, "wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht".

aa) Die "geringe Schuld" in § 153 a StPO a.F. Die Vorschrift des § 153 a StPO ist im Jahre 1974 als Fortsetzung und Erweiterung des seit längerem vorhandenen § 153 StPO konzipiert worden und knüpfte bei der Wortwahl unmittelbar an die in jener Vorschrift genannten Voraussetzungen an276 . Über eine mögliche inhaltliche Übereinstimmung der Begrifflichkeiten wurde seinerzeit jedoch gestritten 277 . Wahrend es in der Schuldklausei des § 153 a StPO - wie auch bei § 153 StPOaus qualitativer Sicht nach wie vor um die Strafzumessungsschuld geht, die sich primär am schuldumfaßten Unrechtsgehalt der Tat orientiert, daneben aber durch die in § 46 11 StGB genannten Strafzumessungsgesichtspunkte modifiziert werden kann 278, ist der Streit um die quantitative Entsprechung der SchuldklauseIn mit der Vgl. Pott, S. 147. Kausch, S. 157. 275 Kausch, S. 157. 276 Rieß, FG Koch, S. 218. 277 Nach der h.M. waren die Begriffe in § 153 und § 153a StPO deckungsgleich, vgl. etwa Eckl, JR 1975, S. 100; Kunz, Bagatellprinzip, S. 53; LR-Meyer-Goßner, 23. Auflage, § 153a Rn. 17; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 40; weitere Nachweise bei LR-Rieß, § 153a Fn. 67; mit Einschränkungen dann LR-Rieß, 24. Auflage, § 153a Rn. 25, wonach die Schuld in § 153a StPO bereits im Rahmen der Altfassung ein etwas höheres Quantum aufweisen konnte. Vgl. in diesem Sinne auch AK-Schöch, § 153a Rn. 13; Hobe, FS Leferenz, S. 537; Kleinknecht-Meyer, 37. Auflage, § 153a Rn. 6. 273

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D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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Novellierung im Jahre 1993 hinfällig geworden. Das vormalige Erfordernis einer geringen Schuld wurde vom Gesetzgeber aufgegeben.

bb) Eine neue Qualität an Unbestimmtheit durch die Erweiterung der Schuldklausei im Wege des Rechtspflegeentlastungsgesetzes vom 11. 1. 1993Zugleich: Legalisierung einer bislang illegalen Praxis? Im Jahre 1993 folgt der Gesetzgeber einer Empfehlung des Bundesrats, der bereits im Jahre 1984 vorgeschlagen hatte, "die Schuldkomponente etwas elastischer zu fassen und die Vorschrift damit aus dem Verbund mit der auf die Kleinstkriminalität zugeschnittenen Bestimmung des § 153 StPO etwas zu lösen,,279. Von diesem Zeitpunkt an hat die Schuldbewertung nur noch begrenzende Funktion. Die nunmehr negative Fassung der Schuldklausei in § 153 a StPO bricht die Begrenzung der opportunen Einstellungsermächtigung auf den bisherigen Regelungsgegenstand der geringfügigen, bagatellarischen Deliktsbegehungen auf und erschließt dem Rechtsanwender neue Betätigungsfelder für opportunes Einstellungshandeln unter Verhängung von Auflagen und Weisungen. Dabei soll die vielfach in Wissenschaft und Literatur geäußerte Vermutung nicht verschwiegen werden, daß bereits vor der Neufassung des § 153 a StPO im Jahre 1993 die Rechtspraxis einen überaus großzügigen Umgang mit der Auslegung des Merkmals der "geringen Schuld" pflegte und die Einstellungvorschrift auch in solchen Fällen zum Einsatz kam, in denen die Bejahung einer Geringfügigkeit problematisch war. (1) Überdehnte Anwendung der Einstellungsermächtigung bereits in § 153 a StPO a.F.

Rechtstatsächliche Untersuchungen 280 aus der Zeit vor der Neufassung des § 153 a StPO im Jahre 1993 zeigen, daß bereits in der Altfassung der Anwendungsbereich der Vorschrift in bestimmten Deliktsfeldern durch die Praxis über den eigent278 Dazu im einzelnen oben "Teil 3.B.III.l.a.". Für die Neufassung des § 153a StPO wird zudem auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 86, 288 ff.) verwiesen, in der das Gericht von einer Entsprechung der Begrifflichkeiten "Schwere der Schuld" und Strafzumessungsschuld ausgeht; vgl. Schirrmacher; S. 45. Dem Gesetzgeber des Jahres 1993 sei dann aber zu unterstellen, daß er bei der Änderung der Schuldldausel des § 153 a StPO in Kenntnis dieses Urteils genau dieses Verständnis vom Schuldbegriff zugrundegelegt habe. Schirrmacher weist in diesem Zusammenhang des weiteren auf die Gesetzesbegründung der Novelle (BT-Drs. 12/ 1217, S. 34) hin, wonach bei der "potentiellen Schuld", von der dort die Rede sei, nur die Strafzumessungsschuld gemeint sein könne. 279 Bundesratsempfehlung aus dem Jahre 1984, BT-Drs. 10/1313, S. 49. 280 Hinweise auf eine höchst extensive Auslegung der Vorschrift liefern beispielsweise die Untersuchungsergebnisse einer Befragung durch Hassemer/Hippler; StV 1986, S. 360 ff. Vgl. auch die Untersuchung von Meinberg. Wirtschaftsstrafsachen. S. 194.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

lichen Regelungsinhalt und damit über die Vorstellung des Gesetzgebers von 1974 hinaus ausgedehnt worden ist281 . In teilweise schweren Wirtschafts J82 und Steuerstrafsachen283 , bei Straftaten gegen die Umwelt284, zum Teil aber auch im Bereich der Betäubungsmittel- und Verkehrskriminalität gelangte § 153a StPO nicht selten auch bei großer Schadenshöhe und nicht unbedeutender krimineller Intensität - also ersichtlich oberhalb des Bereichs der "geringen Schuld" - zur Anwendung. Dabei dürften nicht zuletzt verfahrensökonomische Anliegen dafür gesorgt haben, daß der vom Gesetzgeber intendierte Bereich der "geringen Schuld" bereits vor der Änderung der Schuldklausei im Jahre 1993 in zahlreichen Fällen verlassen wurde 285 . Insbesondere die Gerichtspraxis schien hier "ihre eigenen Wege reiner Zweckmäßigkeit (zu gehen), sie hat den Rahmen des § 153 a StPO längst ins Unermeßliche gesprengt, bei ... schwersten Straftaten werden Geldauflagen in unbeschränkter Höhe angeordnet, um schwierige und lange Prozesse zu vermeiden,,286. Begünstigt wurde diese ausufernde Rechtspraxis nicht zuletzt durch fehlende Kontrollmöglichkeiten gegen die fragwürdigen Einstellungsbeschlüsse287 . Angesichts der immer großzügigeren Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 153 a StPO bis weit hinein in den Bereich der mittelschweren Kriminalität288 befürchtet Rieß im Jahre 1985 gar, ein Erweiterungsvorschlag, wie er vom Bundesrat ein Jahr zuvor unterbreitet worden war, könne der Praxis hinterherlaufen und "zu Irritationen führen,,289. Dennoch entschloß sich der Gesetzgeber - wenn auch einige Zeit später - zum Tatigwerden: Im Jahre 1993 schließt er sich der bisherigen extensiven Auslegung der Vorschrift durch die Rechtspraxis an und ändert die Schuldklausei in § 153 aStPO. Durch den gesetzgeberischen Verzicht auf das Begrenzungsmerkmal der "geringen Schuld" wurde faktisch eine bis dahin illegale Rechtspraxis für die Zukunft legalisiert.

281 AK-Schöch, § 153a Rn. 14; Böttcher/Mayer; NStZ 1993, S. 154; Bruns, GS Kaufmann, S. 871 f.; Hanack, FS Gallas, S. 350; Heine/Meinberg, DIT-Gutachten, D 93; Hirsch, GS H.Kaufmann, S. 160; Kleinknecht-Meyer-Goßner; § 153a Rn. 1; LR-Rieß, § 153a Rn. 23; Rieß, ZRP 1985, S. 216; Rönnau, S. 123 m. w. N.; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 182 Fn. 211; Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 85. 282 Heine/Meinberg, DlT-Gutachten, D 93; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 119 ff. 283 Rönnau, S. 123; Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 85. 284 Heine/Meinberg, DIT-Gutachten, D 93. 285 AK-Schöch, § 153a Rn. 14. 286 Bruns, GS Kaufmann, S. 871 f. Zur Verfahrensökonomie als Beurteilungskomponente einer Einstellungsentscheidung vgl. im einzelnen unten "Teil 3.D.Iß.1." sowie "TeiI3.D.Iß.2.". 287 Zum fehlenden Rechtsschutz bei opportunitäts geprägten Einstellungsentscheidungen vgl. im einzelnen unten "Teil 3.D.V.". 288 Kleinknecht-Meyer-Goßner; § 153a Rn. 1; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 180. 289 Rieß, ZRP 1985, S. 216 Fn. 33.

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(2) Die offizielle Freigabe des Bereichs der "mittleren Kriminalität" durch den gesetzgeberischen Verzicht auf das vormals beschränkende Erfordernis der "geringen Schuld" im Jahre 1993 Das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege, das am 11. 1. 1993 verkündet290 und am 1. 3. 1993 in Kraft getreten ist, geht zurück auf eine Initiative der Justizminister und -senatoren der Länder vom April 1991, auf deren Antrag hin ein entsprechender Gesetzentwurf am 5. 7. 1991 vom Bundesrat beschlossen und am 27.9.1991 beim Deutschen Bundestag eingebracht worden war 91 . Die meisten in diesem Entwurf enthaltenen Reformvorschläge sind von seiten der Richter- und Anwaltschaft und ihren Organisationen sowie seitens der Rechtswissenschaft einhellig abgelehnt worden 292 . Und auch die erste Lesung des Gesetzes im Bundestag in seiner 57. Sitzung vom 14. 11. 1991 ließ die Skepsis der Parlamentarier deutlich erkennen. Nach Überweisung der Vorlage an den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages293 und einer öffentlichen Anhörung in der 38. Sitzung am 29. 4. 1992 wurde es zunächst still um den Entwurf. Um so überraschender kam seine spätere, zügige Verabschiedung: So beschloß der Deutsche Bundestag am 27.11. 1992 eine inzwischen erheblich veränderte Gesetzesfassung 294, der am 18. 12. 1992 der Bundesrat gemäß Art. 77 11 GG zustimmte 295 . Wenngleich nun die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Vorschrift offensichtlich ist, hat die Neufassung an dem seit Einführung der Vorschrift bestehenden grundsätzlichen Streit, wie der Begriff der "Schuld" in § 153 a StPO aufzufassen ist296, augenscheinlich nichts verändert. Die Anwendungsvoraussetzungen des § 153 a StPO sind durch die Änderung der SchuldklauseI vielmehr "noch konturenloser geworden,,297. War der Begriff der "geringen Schuld" - trotz mancher Streitfragen - "wenigstens in seinem Kernbereich einigermaßen bestimmt, der Begriff der ,Schwere der Schuld' ist es nicht mehr,,298. Im Gegensatz zum Bereich BGBL 1993 I, S. 50. Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 12/1217, Stellungnahme der Bundesregierung, S. 63 ff.; Beschluß des Bundesrates, 633. Sitzung vom 5. 7. 1991, Plenarprotokoll, S. 302 ff. 292 Nachweise bei Hansens, AnwBl. 1993, S. 197 Fn. 2; vgl. auch Rieß, AnwBI. 1993, S.51. 293 Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages hat den Gesetzentwurf in mehreren Sitzungen nach Anhörung u. a. der BRAK, des DAV, des DRiB und mehrerer Einzelpersonen beraten und in seiner Beschlußempfehlung vom 25. 11. 1992 die Annahme des Gesetzentwurfs mit erheblichen Änderungen empfohlen; vgl. Hansens, AnwBl. 1993, S. 197 m. w. N.; zur Gesetzgebungsgeschichte des Rechtspflegeentlastungsgesetzes vgl. auch Meyer-Goßner, NJW 1993, S. 498 ff.; Rieß, AnwBI. 1993, S. 51 ff.; Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 81 ff. 294 Vgl. BR-Drs. 837/92, S. 1. 295 Plenarprotokoll des Bundesrates Nr. 650, S. 681 C. 296 Dazu oben "Teil3.B.III.1.". 297 Fezer, ZStW 106 (1994), S. 32. 290

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der Bagatell- und Schwerstkriminalität läßt die als Betätigungsfeld der novellierten Norm intendierte "mittlere Kriminalität" scharfe Konturen weitestgehend verrnissen 299 • Dazu heißt es bei Terbach 3OO : "Die negative Fassung der Schuldklausei vermeidet jede positive Festlegung des für die Schuldschwere Erforderlichen. Sie trägt somit ihren Teil zur Unberechenbarkeit der Vorschrift bei." Um das Anwendungsfenster des § 153 a StPO n.F. zu markieren, ist zunächst der Blick auf die Altfassung zu richten, um zu überprüfen, inwieweit die dort entwickelten Maßstäbe auch für die Auslegung der Neufassung fruchtbar gemacht werden können. (a) Schuldbegriff und Berechnungsmaßstab für die "Schwere der Schuld" Die innerhalb der Schuldklausei des § 153a StPO maßgeblichen Kriterien sind zunächst einmal dieselben geblieben und decken sich insoweit mit den Umständen, die es de lege lata bei der "geringen Schuld" im Rahmen des § 153 StPO zu berücksichtigen gileo l . Maßgebend für die Schuldbewertung sind demzufolge zunächst einmal alle schuldbezogenen Umstände, die auch für die Strafzumessung im Sinne von § 46 11 StGB relevant sind. Im Anschluß daran wurde in der alten Fassung des § 153 a StPO nach überwiegender Ansicht in Wissenschaft und Literatur die Schuld des Beschuldigten dann als "gering" angesehen, wenn sie bei einem Vergleich mit Vergehen gleicher Art erheblich unter dem Durchschnitt lag 302 • Zur Orientierung diente dabei der konkrete Strafrahmen des jeweiligen Delikts303 . Im Rahmen der Neufassung des § 153 a StPO müßte nun, überträgt man diese Erkenntnisse, statt auf den unteren, auf den mittleren Bereich des Strafrahmens des jeweiligen Delikts als Vergleichsgrenze abgestellt und auf diese Weise komparativ der Bereich "mittelschwerer Schuld" festgelegt werden 304. Gegen diese delikts spezifische Vorgehensweise war bereits zu Zeiten der Altfassung eingewandt worden, daß sie unstimmige Ergebnisse hervorzubringen vermöge, namentlich dann, wenn die bei den einzelnen Deliktsgruppen unterschiedlich weiten Strafrahmen letztlich auch zu unterschiedlichen Grenzziehungen bei der Festlegung des Bagatellbereichs führten 305 • Und erst recht im Rahmen der NeufasFezer, ZStW 106 (1994), S. 32. Schirrmacher, S. 74 m. w. N.; ebenso Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 85; Waller, DRiZ 1986, S. 52. 300 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 75; vgl. auch Böttcher/Meyer, NStZ 1993, S. 154; KK-Schoreit, § 153a Rn. 11. 301 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 75. Zum Schuldbegriff und Berechnungsmaßstab vgl. oben "Tei13.B.III.1.a)" bzw. "Teil3.B.llI.1.b)aa)". 302 Habe, FS Leferenz, S. 633 f.; Kleinknecht-Meyer, 40. Auflage, § 153a Rn. 6; LR-Rieß, § 153a Rn. 25; vgl. zum insoweit identischen Meinungsbild für die Schuldklausei des § 153 StPO die Nachweise oben in "Tei13.B.III.1.b)aa)(I)". 303 Vgl. dazu oben "Teil 3.B.III.1.b)aa)(1)". 304 Schirrmacher, S. 75. 305 Dazu oben "Teil 3.B.III.1.b)aa)(I)". 298

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sung scheinen sich mit dieser Methode "kaum erträgliche Ungereimtheiten,,306 ergeben zu können: Während beispielsweise bei Vergehen, die im Höchstmaß mit zehn Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, vielleicht eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt und daher eine Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB ohne weiteres nicht mehr möglich ist, kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren dennoch nach § 153 a StPO einstellen, denn deliktsspezifisch liegt man schließlich (sogar) im unteren Bereich des (deliktsspezifischen) Strafrahmens 307 . Um diese unerwünschten Konsequenzen zu vermeiden, wurde bereits in der Altfassung stattdessen die bei Durchführung des Verfahrens potentiell zu erwartende Strafe als außenstehendes, generelles Maßprinzip vorgeschlagen 308 . Für die Neufassung des § 153 a StPO müßte hiernach eine der vormaligen Bagatellgrenze entsprechende Obergrenze des zulässigen Strafmaßes für die "leichte bis mittlere Kriminalität" festgelegt werden, bei deren Unterschreitung eine Einstellung des Verfahrens in Betracht zu ziehen wäre 309 . Ein weiteres außenstehendes Maßprinzip zur Ausfüllung der Leerformel "wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht" könnte der durch die Tat entstandene Schaden sein. Es wäre demnach anzudenken, einer Einstellung des Verfahrens nach § 153 a StPO von vornherein die Zulässigkeit zu versagen, wenn die Überschreitung einer zuvor festgelegten Schadensobergrenze intendiert, daß die Schwere der Schuld einer Einstellung entgegensteht310 . Hat man sich auch im Rahmen der Neufassung des § 153 a StPO erst einmal auf die Heranziehung eines generellen Maßprinzips - vorzugswürdig erscheint hierbei die potentielle Straferwartung - verständigt, bleibt weiterhin offen, bei welcher (potentiellen) Straf- bzw. Schadens grenze der Anwendungsbereich der Vorschrift enden soll. Es stellt sich die Frage, wo die "mittlere Kriminalität" loziert werden kann. (b) Anwendungsfenster "mittelschwere Kriminalität" Man könnte erwägen, zur Bestimmung des Bereichs "mittelschwerer Kriminalität" die Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung zur Untersuchung der Waller, DRiZ 1986, S. 51. Waller, DRiZ 1986, S. 51. Auf diese Konsequenzen weisen auch Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 85 hin. 308 Dazu oben "Tei13.B.ßI.1.b)aa)(2)". 309 Für die potentielle Straferwartung als genereller Maßstab zur konkreten Begrenzung des Anwendungsbereichs vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), S. 44. Dazu bereits oben "Teil 3.B.ßI.l.b)aa)(2)". 310 Auch dazu bereits oben "Teil 3.B.ßI.1.b)aa)(2)", wo zugleich auf die Ungeeignetheit dieses Maßprinzips hingewiesen wurde. Mit der Festlegung einer fixen Obergrenze für gerade noch kornpensierbare Rechtsgutsverletzungen könnte jedoch - unabhängig von der grundsätzlichen Geeignetheit des Ansatzes - einer mißbräuchlichen Anwendung des § 153a StPO entgegengewirkt werden; vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), S. 45 rn. w. N. 306

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Schwereeinschätzung von Delikten durch die Bevölkeruni ll heranzuziehen. Problematisch erscheint dabei jedoch, daß die Ergebnisse dieser Untersuchungen kaum zu verallgemeinern sein dürften. Zu unterschiedlich sind die befragten Personengruppen, die vorgegebenen Sachverhalte oder Delikte sowie die Bewertungsund Messungsmethoden. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß diese Untersuchungsergebnisse im einzelnen kaum erhellen, was "mittlere Kriminalität" ist. Auch der Ansatz von Montenbruck 312 , der durch Gegenüberstellung von Tatausmaß und Sanktionsfolge die "Existenzbedrohung" - einmal eben die des Opfers durch die Tat, und zum anderen die des Titers durch die zu erwartetende Strafe als Kriterium zur Entwicklung einer abgestuften Kategorienordnung von Kriminalität ausgewiesen hat, kann allenfalls einen ersten Anhaltspunkt dafür liefern, was mit "mittelschwerer Kriminalität" gemeint sein könnte. Indem Montenbruck die Existenzbedrohung durch die Tat in Beziehung zur Existenzbedrohung durch die Strafe setzt, entwickelt er insgesamt sechs Kategorien von Kriminalität, die bei Bagatellen beginnen und bei der Schwerstkriminalität enden. Der Bereich der "mittelschweren Kriminalität" umfaßt nach dieser Einteilung Straftaten, die für das Opfer eine mittelbare, reale Existenzvernichtung bedeuten und ein Strafmaß von über zwei Jahren Freiheitsstrafe verlangen 313 . Es drängt sich derweil der Verdacht auf, daß in einer Parallelität der Ereignisse auch die neuerliche Schuldklausei des § 153 a StPO eine konkrete, zweifelsfreie Bestimmung des legislativ intendierten Anwendungsbereichs nur schwer möglich macht und daß der Gesetzgeber insoweit - unabhängig von einer grundsätzlichen Bewertung dieser Erweiterung, welche die gesetzgeberische Zielsetzung per se in Frage stellen dürfte 314 - durch die Neufassung der Vorschrift mehr Unsicherheiten als Aufklärung geschaffen hat. Stimmt man Waller315 zu, so "lassen sich kaum griffige, allgemeingültige Maßstäbe dafür aufstellen, wann die (Schwere der) Schuld der Einstellung entgegensteht und wann nicht". Allein deutlich wird, daß es grundsätzlich keine Vergehen mehr gibt, die nicht nach § 153 a StPO eingestellt werden könnten. Als gesichert gelten dürfte weiterhin, daß der Anwendungsbereich des neuen § 153 a StPO über den der Altfassung hinausgehen muß. Wie weit, verrät der Gesetzgeber allerdings nicht. Vielmehr versäumt er durch die gewählte "unklare Diktion ... anzugeben, was hinsichtlich des Schuldnachweises positiv erforderlich sein SOll,,316. In Wissenschaft und Literatur besteht ein weitgehender Konsens lediglich darin, daß jedenfalls Fälle "schwerer Schuld" aus dem Regelungsbereich des § 153 a StPO auszuklammern sind317 . Unterhalb der "schweren 311 Eine kurze Darstellung der Untersuchungen von Villow und Westennann/ Hager findet sich bei Schirnnacher, S. 81 f. 312 Montenbruck, Abwägung und Umwertung, S. 76 ff. 313 Montenbruck, Abwägung und Umwertung, S. 89. 314 Vgl. dazu beispielsweise Fezer, ZStW 106 (1994), S. 32; Waller, DRiZ 1986, S. 51 ff. 315 Waller, DRiZ 1986, S. 52. 316 KK-Schoreit, § 153a Rn. 11.

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Schuld" und oberhalb der "geringen Schuld" ist dagegen alles offen. Vorsichtig formuliert "erscheint es nicht zweifelsfrei", ob infolge der bewußten Aufgabe der normativen Verbindung zu § 153 StPO durch den Gesetzgeber "der neue Begriff der ,Schwere der Schuld' geeignet ist, den Strafverfolgungsbehörden eine gleichmäßige Reaktion zu ermöglichen,,318. Allen Unkenrufen zum Trotz scheint der rechtsanwendenden Praxis - zumindest aus ihrer Sicht - durch die Erweiterung des Schuldmerkmals in § 153 a StPO jedoch zunächst geholfen: Indem nur noch Fälle ersichtlich schwerer Schuld aus dem Einstellungsprogramm von vornherein auszuscheiden sind, wird eine exakte Bestimmung der Schuldschwere quasi entbehrlich und etwaige Unsicherheiten diesbezüglich beseitigt. Bei einer derart isolierten Betrachtung wäre demnach durch die Änderung der Schuldklausei am Ende sogar dem verfassungsrechtlichen Ziel größtmöglicher Rechtsanwendungsgleichheit gedient worden. Eine Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO knüpft jedoch mit dem weiteren Merkmal des "öffentlichen Interesses" an der Strafverfolgung - anders als noch im Bereich der absoluten Geringfügigkeiten im Rahmen von § 153 StPO, wo eine eigenständige Bedeutung des "öffentlichen Interesses" im Falle des Vorliegens "geringer Schuld" zumindest bezweifelt werden konnte 319 - in relevanter Weise an einen Rechtsbegriff an, der dem der "Schwere der Schuld" an Unbestimmtheit in nichts nachsteht. Durch die Vereinfachung der Schuldkomponente verlagert sich daher die Frage der Einstellungsfähigkeit der Tat lediglich auf das zweite weitestgehend konturenlose Anwendungsmerkmal der Norm: die Kompensierbarkeit des "öffentlichen Interesses" durch die Erfüllung von Auflagen und Weisungen. So hindert die "Schwere der Schuld" eine Einstellung nach § 153 a StPO vor allem dann, wenn ein "öffentliches Interesse" an der Durchführung eines förmlichen Strafverfahrens besteht und nicht durch Auflagen und Weisungen beseitigt werden kann 320 . Aufgrund dieser besonderen Bedeutung des zweiten Anwendungsmerkmals soll nachfolgend eine speziell auf die Fälle des § 153 a StPO ausgerichtete Erörterung des "öffentlichen Interesses" an der Strafverfolgung anschließen, die - soweit das möglich ist - auf die Erkenntnisse aus der vorangegangenen Untersuchung im Rahmen von § 153 StP0321 zurückgreifen wird. 317 318

Fezer; ZStW 106 (1994), S. 31; Waller; DRiZ 1986, S. 51. Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 85.

Dazu oben "Teil 3.B.III.2.". Heidelberger K.-Krehl, § 153a Rn. 9. Hingegen sind Fälle, in denen durch Auferlegung von Auflagen und Weisungen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigt werden kann und gleichwohl die "Schwere der Schuld" ein förmliches StrafverfalIren erfordern soll, kaum vorstellbar. Ob der "Schwere der Schuld" überhaupt noch eine Begrenzungsfunktion bei der Anwendung des § 153a StPO zukommen kann, dürfte deshalb zweifelhaft sein; vgl. Heidelberger K.-Krehl a. a. 0 .. Zur Bedeutungssteigerung des Merkmals des "öffentlichen Interesses" nach Beseitigung der Notwendigkeit "geringer Schuld" vgl. auch KK-Schoreit, § 153a Rn. 11, 12. 321 Dazu oben "TeiI3.B.III.2.". 319 320

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Horstmann

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

b) Das "öffentliche Interesse" an der Strafverfolgung in § 153 a StPO Hinsichtlich der Entscheidungskriterien, die innerhalb des "öffentlichen Interesses" bedeutsam werden können, ergeben sich für § 153 a StPO keine Abweichungen von § 153 StP0322 : Ob ein "öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung vorliegt oder nicht, richtet sich auch hier nach den anerkannten Sanktionszwecken der Spezial- und Generalprävention 323 . Es ist zu fragen, ob zur Einwirkung auf den Täter oder aber zur Wahrung generalpräventiver Belange eine Fortsetzung des Verfahrens notwendig erscheint324 . Im Unterschied zu § 153 StPO, bei dem für eine sanktionslose Einstellung des Verfahrens ein "öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung erst gar nicht bestehen darf, ist ein solches im Rahmen von § 153 a StPO zunächst vorhanden und wird in der Folge unter Umständen durch die Erfüllung von Auflagen und Weisungen durch den Beschuldigten kompensiert 325 . Durch die Entsprechung der Begrifflichkeiten zeichnet sich im Rahmen von § 153 a StPO das gleiche Dilemma ab wie zuvor bei § 153 StPO: "Der Begriff ,öffentliches Interesse' ist flüssig,,326; weder findet sich eine allgemeingültige Definition im Gesetz noch wäre eine solche bislang ersichtlich von der Wissenschaft oder der Judikatur entwickelt worden. Über einige, die allgemeine Unsicherheit flankierende Erkenntnisse hinaus - beispielsweise dergestalt, daß das öffentliches Strafverfolgungsinteresse "grundsätzlich schon rechts staatliche Gültigkeitsvoraussetzung der materiellen Strafnonn,,327 sei und deshalb nur aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls verneint werden könne - verlieren sich Definitionsversuche in aller Regel in mehr oder weniger vage Umschreibungen dessen, was ein "öffentliches Interesse" möglicherweise begriinden kann. Nur ein Beispiel aus dieser Tradition sei aufgeführt: Nach Ulsenheimer328 ist ein "öffentliches Interesse" zu bejahen, "wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist". Es sind mithin erneut - und nur soweit besteht Konsens - die Strafzie1erwägungen, die zur Ausftillung des Merkmals "öffentliches Interesse" und damit zur Bestimmung des Anwendungsbereichs des § 153 a StPO herangezogen werden sollen.

322 AK-Schöch, § 153a Rn. 15; Boxdorfer, NJW 1976, S. 319; Eckl, JR 1975, S. 100; KMR-Plöd, § 153a Rn. 9; LR-Rieß, § 153a Rn. 26 m. w. N.; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 81 f. 323 Dazu bereits oben "Tei13.B.III.2.". 324 Fezer, ZStW 106 (1994), S. 29. 325 AK-Schöch, § 153a Rn. 15; Heide1berger K.-Krehl, § 153a Rn. 10; KK-Schoreit, § 153a Rn. 12; LR-Rieß, § 153aRn. 27. 326 Faller, FG Maunz, S. 83. 327 Faller, FG Maunz, S. 83. 328 Ulsenheimer, Arztstrafrecht, S. 350, der bei dieser Definition des "öffentlichen Interesses" auf Nr. 86 Abs. 2 der RiStBV verweist.

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Ein staatlicher Strafzweck, der in diesem Zusammenhang Bedeutung erlangen kann, ist die Generalprävention, die in ihrer negativen Variante auf eine Abschrekkung potentieller Tater zielt und in ihrem positiven Verständnis eine "Verstärkung der inneren Bindungen der sozialen Normen durch eine Förderung von Norminternalisierung und Normakzeptanz" anstrebe 29. Der zweite anerkannte Strafzweck, der die Merkmalsausfüllung anleiten kann, ist - wie bereits im Zusammenhang mit § 153 StPO erörtert - die auf v. Liszt zurückgehende Spezialprävention, die neben der Besserung der Besserungsfähigen und Besserungsbedürftigen eine Abschrekkung der nicht Besserungsbedürftigen sowie eine Unschädlichmachung der nicht Besserungsfähigen zum Ziele hae 3o . Obschon die Reinform dieses v. Liszt'schen "Marburger-Programms,,331 heute als überwunden gelten dürfte, und wenngleich dem Staat nicht die Aufgabe zukommt, "seine Bürger zu ,bessern,,,332, so steht andererseits jedermann aufgrund des Sozialstaatsprinzips in Art. 20 I, 28 I S. 1 GG ein grundrechtlich verbürgter Anspruch auf ein staatliches Resozialisierungsangebot zu. Nicht zuletzt deshalb darf auch bei der Definition der Strafzwecke die spezialpräventive Komponente nicht vollständig ausgeblendet werden 333 . Das "öffentliche Interesse" ist - wie sich einmal mehr gezeigt hat - nicht meßbar und keinesfalls auf eine allgemeingültige Formel festlegbar. Vielmehr stellt dieses Anwendungsmerkmal "eine Summe sehr widerstrebender Interessenrichtungen dar,,334. Aus diesem Grund sind dann auch weitere, dem Gleichmaß der Rechtsanwendung abträgliche Unsicherheiten programmiert, wenn die vorgenannten Strafkonzepte in einen Zielkonflikt zueinander geraten. Dazu heißt es bei Schirrmacher335 : "Wie auch im Rahmen der Strafzumessung kann ebenso die Bestimmung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung - je nach Betonung general- oder spezialpräventiver Strafzwecke - zu widersprüchlichen Ergebnissen führen." Doch damit nicht genug. Zusätzlich zum weitgehenden "Stochern im Nebel" angesichts der inhaltlich wenig klaren Einzelkriterien des § 153 a StPO droht im Hinblick auf Bestimmtheit und Gleichheit auch von anderer Stelle Ungemach:

329 Schirrmacher; S. 58 m. w. N. Dort findet sich (S. 57 ff.) darüber hinaus eine eingehende Auseinandersetzung mit den staatlichen Strafzielbestirnrnungen. Vgl. zu Spezial- und Generalprävention auch bereits oben "Teil 3.B.III.2.". 330 v.Liszt, ZStW 3 (1883), S. 36; vgl. auch Schirrmacher; S. 64 ff. 331 v.Liszt, ZStW 3 (1883), S. 1 ff. 332 BVerfGE 22, 180 (219). 333 Vgl. BVerfGE 35, 202 (235 f.). Auf die unbilligen Konsequenzen einer ,,reinen" spezialpräventiven Strafzweckbegriindung weist Schirrmacher; S. 64 f. m. w. N. hin. 334 KK-Schoreit, § 153a Rn. 12. 335 Schirrmacher; S. 68, die angesichts einer solchen ,,Antinomie der Strafzwecke" der Spezialprävention im Hinblick auf den verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruch auf Resozialisierung den Vorrang jedenfalls so lange einräumen will, wie nicht generalpräventive Mindestanforderungen unterschritten werden.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

c) Das umstrittene Verhältnis des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses zur Schuldschwere im Rahmen von § 153 a StPO

Neben der Vagheit dieser zentralen Begrifflichkeiten ist das opportune Einstellungsverfahren nach § 153 a StPO mit der weiteren Ungewißheit belastet, wie sich im einzelnen das Zusammenspiel beider Hauptanwendungskomponenten gestaltet. So könnte man zum einen den Anwendungsbereich der Norm zunächst nach dem Ausmaß des "öffentlichen Interesses" bestimmen und die "Schuld" im Anschluß als Korrektiv heranziehen 336 . Zum anderen kann jedoch auch der genau entgegengesetzte Weg beschritten werden: Die Strafzumessungsschuld als quantifizierbare Größe bestimmt in einem ersten Schritt den Anwendungsbereich des § 153 aStPO, und dem Begriff des "öffentlichen Interesses" kommt dann in einem zweiten Schritt eine diesen Anwendungsbereich begrenzende Funktion ZU337 . Beide Vorgehensweisen tragen sich mit der bereits bekannten Schwierigkeit, daß Schuldbewertung einerseits und Einordnung des Bestrafungsbedürfnisses andererseits nur schwerlich vollständig voneinander zu trennen sind338 . Eines dürfte jedoch - so Böttcher / Mayer339 - in diesem Zusammenhang feststehen: "Mit dem Schuldquantum steigt und fällt das verbündete öffentliche Interesse. Es tritt in gleicher Bewegungsrichtung auf: Ist die Schuld gering, ist es auch das öffentliche Interesse. Ist die Schuld groß, will das öffentliche Interesse die Weiterverfolgung. " Als gesichert gelten dürfte auch, daß proportional zum Anstieg des "öffentlichen Interesses" an der Strafverfolgung auch die zur Kompensation dieses Interesses ausersehenen Auflagen und Weisungen an Gewicht zunehmen müssen340 • Über eine mögliche Obergrenze der Kompensierbarkeit lassen sich wiederum keine genauen Aussagen treffen 341 . Da mit zunehmender Erheblichkeit der insoweit unbegrenzt quantifizierbaren Auflagen und Weisungen im Rahmen von § 153 a StPO nahezu jedes öffentliche Verfolgungsinteresse kompensierbar erscheint, werden letztendlich auch solche Fälle einstellungstauglich, bei denen eine informelle Erledigung des Verfahrens mit Blick auf das verwirkte Schuldquantum allein unter spezial- oder generalpräventiven Erwägungen erhebliche Bedenken wachruft. Nachdem jedoch das Schuldkriterium in § 153 a StPO im Jahre 1993 vom Gesetzgeber "auf das Maß Werle, JZ 1991, S. 795. Böttcher/Mayer, NStZ 1993, S. 154. 338 Dazu oben "Tei13.B.III.2.". In diesem Sinne auch Fezer (in: ZStW 106 (1994), S. 29 f.): "Bei der Bewertung des öffentlichen Interesses müssen wesentliche Faktoren für die Bemessung der Strafzumessungsschuld wieder berücksichtigt werden. Wenn als Beispiele für fehlendes Interesse an der Strafverfolgung genannt werden: verständliche Motivationslage des (potentiellen) Täters, seine fehlende kriminelle Vorbelastung, seine Bemühungen um Schadensausgleich, Verursachung nur geringer Tatfolgen etc., so sind das alles Faktoren, die nach § 46 Abs. 2 StGB für die Schuldbewertung relevant sind." 339 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 159. 340 So auch Paschmanns, S. 185. 341 Vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 82; ebenso Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 51. 336 337

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eines marginalen Grenzwertes reduziert,,342 worden ist, steht dieser Weg de lege lata offensichtlich offen. Das "öffentliche Interesse" an der Strafverfolgung scheint seitdem, so Weigend 343 , "das einzige inhaltliche Kriterium für die Einstellung zu sein. Die Schuldbewertung hat nur noch begrenzende Funktion: Nur in Fällen schwerer Schuld verbietet sich die Einstellung". Im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot ist dies wiederum insoweit von Bedeutung, als die Frage einer Anwendbarkeit der opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschrift nunmehr in zentraler Weise von einem Merkmal abhängt, das zwar einerseits an kriminalpolitischer Flexibilität, andererseits aber auch an inhaltlicher Konturenlosigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. So ist jede Entscheidung Einzelfallentscheidung und nicht vorhersehbar344 . War der Begriff des "öffentlichen Interesses" in § 153 StPO noch einigermaßen handhabbar, da darüber, was aufgrund bagatellarischen Charakters im Grunde nicht bestraft werden soll, sich insgesamt eher Einigkeit erzielen läßt als über den Umfang dessen, was noch mit Sanktionen im Sinne von § 153 a StPO abgegolten werden kann, so bleibt sein Regelungsinhalt bei der Einstellung unter Auflagen und Weisungen weitestgehend im Verborgenen 345 .

3. Anwendbarkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes in Art. 103 11 GG auch auf die Deliktsfolgenanordnung? Geringere Anforderungen an die Bestimmtheit angesichts des begünstigenden Charakters der Rechtsfolgen nach § 153 aStPO?

Im Gegensatz zu § 153 StPO, bei dem die Rechtsfolge mit der sanktionslosen Einstellung des Strafverfahrens von vornherein in concreto feststeht und demzufolge absolut bestimmt ist, präsentiert sich das Rechtsfolgenrepertoire bei § 153 a StPO recht vielseitig und bildet gewissermaßen einen "Strafrahmen,,346, der insgesamt besehen außerordentlich weit gesteckt ist. Dabei sind die Auflagen und Weisungen zwar ihrer Art, nicht jedoch ihrem Umfange nach bestimmt347 . Insbesondere bei der Geldzahlungsverpflichtung nach § 153 aIS. 1 Nr. 2 StPO - der in praxi wichtigsten Auflage 348 - ist der zu zahlende Betrag dem Gesetz nach weder an irgendein Staffelungssystem angebunden noch von einer Obergrenze beschränkt, sondern entspringt weitestgehend der Vorstellung des jeweiligen Rechtsanwenders. Mag es ihm auch unbenommen sein, sich beispielsweise an den Kriterien für die Weigend, ZStW 109 (1997), S. 107 Fn. 17. Fezer, ZStW 106 (1994), S. 31; vgl. auch Böttcher/Mayer; NStZ 1993, S. 154; Pott, Vom unmöglichen Zustand, S. 89 f.; Rieß, AnwBl. 1993, S. 55. 344 Pott, Vom unmöglichen Zustand, S. 89 f. 345 Vgl. Kausch, S. 111. 346 Kausch, S. 111. 347 Hobe, FS Leferenz, S. 634; Paschmanns, S. 165. 348 Dazu im einzelnen unten "Teil3.D.xI.". 342 343

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Verhängung von Geldstrafen zu orientieren 349 - er muß es nicht. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Zumutbarkeitserfordemis sind am Ende die einzigen nominellen Begrenzungen bei der Bemessung der Geldauflagenhöhe35o . Fraglich ist jedoch, ob und inwieweit die Sanktionsbemessung im Rahmen von § 153 a StPO überhaupt dem Bestimmtheitsgebot des Art. 10311 GG unterfällt. So ist bereits zu attestieren, daß die Anforderungen, die gemeinhin an die Bestimmtheit von Deliktsfolgen gestellt werden, nach überwiegender Meinung ohnehin geringeren Maßstäben unterliegen als die Tatbestandsbestimmtheit351 . Art. 103 11 GG werde überstrapaziert, wollte man "den Schutz vor der unvermuteten Anwendung vager Strafnormen auf neutrales Verhalten" auch auf die "Voraussehbarkeit strafrechtlicher Entscheidungen insbesondere auf dem Gebiet der Sanktionsbemessung" ausdehnen 352 . Die Gegenansicht 353 beruft sich derweil auf ein "Wechselverhältnis zwischen Strafbarkeitsvoraussetzungen und Deliktsfolgen,,354, aufgrund dessen sich eine in den Bestimmtheitsanforderungen zwischen Deliktsvoraussetzungen und Deliktsfolgen differenzierende Betrachtungsweise verbiete. So heißt es bei Kausch355 : "Es geht nicht an, daß sich der Gesetzgeber den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes an die Tatbestandsfassungen dadurch entziehen kann, daß er mittels weiter Strafrahmen, unbenannter Strafanderungsgründe und schließlich auch ,prozessualer Lösungen' auf der Rechtsfolgenseite ausweicht." Angesichts dieser Verzahnung von Tatbestands- und Rechtsfolgenseite erfasse das Bestimmtheitsgebot des Art. 10311 GG auch die Deliktsfolgenanordnung in § 153 aStPO. Es bleibt zu fragen, ob für den Fall, daß sich Tatbestands- und Rechtsfolgenbestimmtheit tatsächlich derart bedingen, wie behauptet wird, die Anforderungen des Art. 103 11 GG für den Sanktionskatalog des § 153 alStPO in gleicher Intensität aufrechtzuerhalten sind wie im Zusammenhang mit einer "normalen" materiellrechtlichen Strafbemessung. Etwas anderes könnte sich dann ergeben, wenn man den Auflagen und Weisungen in § 153 a I StPO mit Blick auf die sonstigen Vergehenssanktionen einen vergleichsweise begünstigenden Charakter bescheinigen wollte. Dazu heißt es bei Schröder356 : ,,Die Anwendung einer vorteilhaften Regelung bleibt frei auszugestalten". Demgegenüber wird jedoch zutreffend eingewandt, daß über die Klassifizierung einer Maßnahme als "Begünstigung" stets der 349 Diesen Vorschlag macht beispielsweise Fünfsinn, NStZ 1987, S. 97 ff.; ebenso AKSehöeh. § 153a Rn. 30; vgl. dazu auch KMR-Plöd. § 153a Rn. 19. Zur Orientierung bei der Festlegung der Geldauflagenhöhe an der Schadenshöhe vgl. Meinberg. Wirtschaftsstrafsachen, S. 125 f. 350 AK-Sehöeh. § 153a Rn. 30; Fünfsinn. NStZ 1987, S. 97; Hobe. FS Leferenz, S. 634; KK-Sehoreit. § 153a Rn. 17; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153a Rn. 19; Paschmanns. S. 165. 351 Kunz. Bagatellprinzip, S. 97 m. w. N. 352 Weigend. KrimJoum. 1984, S. 14; vgl. auch Kunz. Bagatellprinzip, S. 97. 353 Kauseh. S. 160 ff. 354 Kauseh. S. 161. 355 Kauseh, S. 161. 356 Sehröder, FS Mezger, S. 417; zitiert nach Kauseh. S. 162.

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jeweilige Betrachtungsstandpunkt entscheidee 57 . Mag die Einstellung des Verfahrens nach § 153 a StPO den betroffenen Beschuldigten begünstigen, so belastet sie freilich zugleich den anderen Beschuldigten, dem nicht der "Vorzug" einer entsprechenden Einstellungsentscheidung zuteil geworden ist. Überdies scheint fraglich, inwieweit eine Regelung wie § 153 a StPO überhaupt als "Begünstigung" angesehen werden kann 358 . Entgegen der überwiegend vertretenen Auffassung sind demnach auch bzgl. der Deliktsfolgen jedenfalls keine größeren Abstriche bei den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 11 GG vorzunehmen. In Ermangelung gesetzlicher Vorgaben entbehrt insbesondere die Höhe der auferlegbaren Geldzahlungsauflage nach § 153 aIS. I Nr. 2 StPO jeglicher Konturen. Auch aus diesem Grund ist der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz durch die opportunitätsgeprägte Einstellungsermächtigung des § 153 a StPO betroffen.

4. Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Besfunmtheitsgrundsatz infolge einer weitgehend unbestimmten Anwendungspraxis Besfunmtheitsanforderungen auch an das Verfahren, in dem § 153 a StPO konkretisiert wird?

Eine Einbeziehung des Verfahrens selbst in den Wirkungskreis des Bestimmtheitsgebots könnte aus der Überlegung hervorgehen, daß "die genaueste Gesetzesfassung ... nur soviel wert (ist), wie es verfahrensmäßige Vorkehrungen zur Gewährleistung und Überprüfung einer gesetzestreuen Rechtsanwendung gibt,,359. Ein weiterer Strich unter dem Vorwurf fehlender Bestimmtheit im Zusammenhang mit einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a I StPO könnte demzufolge aus der Verlagerung der Entscheidungsbefugnis vom Richter auf den Staatsanwalt resultieren, sofern aus Art. 103 11 GG Anforderungen an das mit der Konkretisierung der (unbestimmten) Norm beauftragte Organ abzuleiten wären360. Es scheint, als gewähre hinsichtlich der Konkretisierung unbestimmter Rechtsvorschriften ein gerichtliches Verfahren gegenüber einem staatsanwaltschaftlichen ein "Vielfaches an Sicherungen,,361. So fehlt es staatsanwaltschaftlichem OpportuKausch. S. 163 m. w. N. Kausch. S. 163 f., der - insoweit einen begünstigenden Charakter verneinend - insbesondere auf die Unsicherheit abstellt, ob im Einzelfall die Regelung überhaupt zur Anwendung gelangt. Vgl. darüber hinaus zum Sanktionscharakter der Auflagen und Weisungen in § 153a StPO unten "Teil3.D.lV.1.b)bb)". Auch aus dieser Sicht erscheint ein begünstigender Charakter der Regelung eher fraglich. Zugestanden sei dabei die für den Beschuldigten zweifellos günstigere Regelung der unterbleibenden Registereintragung im Falle der Verfalirensbeendigung nach § 153a StPO; vgl. dazu im einzelnen unten "TeiI3.D.x.". 359 Kausch. S. 165. 360 Vgl. Kausch, S. 166. Zur Problematik der staatsanwaltschaftlichen Sanktionskompetenz sowie zur insgesamt problematischen Rollenverteilung innerhalb des Verfalirens nach § 153a I StPO vgl. unten "Teil3.D.lV.". 357

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nitätshandeln im Ennittlungsverfahren insbesondere an der für einen Konkretisierungserfolg so notwendigen Transparenz der Entscheidungsfindung362 . Eine Entscheidung nach § 153 aI StPO wird nie in der Weise durch die Öffentlichkeit überprüft und diskutiert (und damit konkretisiert), wie es bei einem Durchlaufen des Instanzenzuges der Fall sein würde 363 . Wenngleich die Konkretisierung einer Vorschrift durch den Richter kein Ersatz für eine vom Gesetzgeber bestimmt gefaßte Norm sein kann, so führt die Auseinandersetzung mit der (unbestimmten) Vorschrift auf gerichtlicher Ebene zweifellos eher zur Herausbildung einer gewissen Normklarheit und damit am Ende auch zu einer größeren Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung, als dies aufgrund staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen möglich ist364 . Mithin ist auch die in § 153 a I StPO angelegte Verfahrensstruktur selbst dem Bestimmtheitsanliegen der Art. 103 11, 20 III GG nicht zuträglich.

5. Ergebnis

Die opportunitätsgeprägte Einstellungsvorschrift des § 153 a StPO ist sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite weitestgehend unbestimmt. Dabei gehört es zur "Gesetzmäßigkeit des modemen Strafprozesses ... , daß seine Voraussetzungen möglichst bestimmt und seine Folgen möglichst voraussehbar nonniert sind,,365. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen erhöhen sich, je stärker eine Norm in die Rechtsstellung des Betroffenen eingreift366. Angesichts der einschneidenden Sanktionierungsmöglichkeiten in § 153 a I StPO erscheint somit die fehlende Prognostizierbarkeit der Einstellungsentscheidung für den Betroffenen geradezu unerträglich. Die einzelnen Anwendungsmerkmale des § 153 a StPO sind derweil nicht einmal annähernd konkretisierbar, die Norm ist vielmehr "bis hin zur Unklarheit formuliert,,367. Die bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe stets zu berücksichtigenden Strafzwecke enthalten keine festen Anhaltspunkte, an denen sich orientieren ließe. Fokussiert sich angesichts der weiten Schuldklausei in der Neufassung des § 153 a StPO alle Aufmerksamkeit auf das öffentliche Strafverfolgungsinteresse, d. h. ist am Ende weitestgehend die Zweckmäßigkeit weiterer Strafverfolgung das ausschlaggebende Kriterium bei der Entscheidung über Anwendung oder Nichtanwendung der Norm, bleibt vom BeKausch, S. 168. Vgl. Kausch, S. 172 f. 363 Kausch, S. 170 f. 364 Vgl. Kausch, S. 170 f., der in diesem Zusammenhang auch auf die der Veröffentlichung einer gerichtlichen Entscheidung regelmäßig nachfolgende Diskussion in der juristischen Fachöffentlichkeit hinweist. Diese Diskussionsebene entfällt bei einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft nach § 153a I StPO ebenfalls. 365 Lampe, Wiedervereinigung I, S. 114. 366 BVerfGE 48,210 (222); 56, I (13); 86, 288 (311). 367 Gössel, DJT-Gutachten, C 31. 361

362

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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stimmtheitsgebot nicht viel übrig. Das Merkmal "öffentliches Interesse" ist ambivalent und damit nach mehreren Seiten hin offen. Ist zum einen ein "öffentliches Interesse" in der materiellrechtlichen Strafnorm selbst und damit auch in der grundsätzlichen Verfolgung ihrer Übertretung festgeschrieben, beinhaltet zum anderen das "öffentliche Interesse" als Ausdruck des allgemeinen Willens im Opportunitätsfall unter Umständen das genaue Gegenteil - namentlich den Verfolgungsverzicht368 . Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts369 zur erforderlichen Deutlichkeit im Staatshandeln ist dagegen um so klarer: "Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Strafe zugeführt werden." Von dem Verfassungsauftrag, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten und die Strafverfolgungsorgane zur Durchführung der Strafverfolgung anzuhalten, sei nur "eine Reihe fest umgrenzter Ausnahmen" zugelassen37o• Von einer "fest umgrenzten Ausnahme" kann bei § 153 a StPO freilich nicht die Rede sein. Hinzu kommt, daß die vielfältigen Unbestimmtheiten im Normtext im prozessualen Wirkungskreis der Vorschrift voll zum Tragen kommen. Würde eine Konkretisierung der Vorschrift im gerichtlichen Verfahren einiges vom gesetzgeberischen Versäumnis einer klaren Normausgestaltung abfedern, das staatsanwaltschaftliche Verfahren nach § 153 alStPO vermag dies nicht. Dazu schreibt Kausch 371 : "Läßt der Gesetzgeber aber bei der Schaffung unbestimmter Normen auch noch die Garantien des Rechtsprechungsverfahrens, die Ersatzfunktionen für Bestimmtheit übernehmen können, entfallen, dann ist in jedem Falle die Grenze des Zulässigen überschritten und ein Verstoß gegen Art. 103 11 GG gegeben." Unbestimmte Anwendungsvoraussetzungen, unbestimmte Deliktsfolgenanordnungen und ein die Unbestimmtheit nicht ansatzweise kompensierendes Konkretisierungsverfahren lancieren am Ende das Votum: § 153 a StPO verstößt in seiner gegenwärtigen Form gegen das Bestimmtheitsgebot in Art. 10311 GG372 .

368 Vgl. dazu Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 155: "Erstens ist das Gesetz Ausdruck des öffentlichen Interesses. Der zuerst freie, unbestimmte, souveräne Staat will; er hat den Willen zu seinem unbestimmten Zweck, setzt seinen Willen, bestimmt freiwillig seinen Willen zum unbestimmten Willen, macht ihn bekannt und äußert ihn: Das Gesetz ist die bestimmt-bestimmende Äußerung des öffentlichen Interesses ... Zweitens ist das Gesetz nicht Ausdruck des öffentlichen Interesses. Denn das Gesetz bindet, der Staatsanwalt kann sich von der Bindung lösen, die Freistellung liegt im öffentlichen Interesse ... Der Widerspruch ist geltendes Recht." Vgl. dazu auch Pott, S. 154. 369 BVerfGE 46,214 (222 f.). 370 BVerfGE 46,214 (223). 371 Kausch, S. 189. 372 So auch Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 89.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

11. Ungleichheit der Rechtsanwendung durch regionale Unterschiede bei der Handhabung der Verfahrenseinstellung gegen Auflagen nach § 153 a StPO

Die weitgehende Unbestimmtheit des § 153 a StPO führt zu einer Ungleichmäßigkeit in der Rechtsanwendungspraxis. Die Abwesenheit zureichender Entscheidungsvorgaben muß nahezu zwangsläufig eine unterschiedliche Handhabung der Norm im Justizalltag zur Folge haben. Tatsächtlich finden sich in der Literatur entsprechende Hinweise auf eine sowohl überregional zwischen den einzelnen Bundesländern als auch innerhalb der verschiedenen Gerichtsbezirke eines Bundeslandes und bisweilen sogar behördenintern, d. h. innerhalb ein und derselben Staatsanwaltschaft, stark variierende Einstellungspraxis 373 • Neben unterschiedlichen Anwendungshäufigkeiten bei bestimmten Erledigungsarten sind auch voneinander abweichende "Sanktionsquoten" feststellbar 374 . Konnten frühe Aussagen über das differierende Einstellungsverhalten der beteiligten Strafverfolgungsorgane zunächst nur aufgrund inoffizieller empirischer Untersuchungen getroffen werden 375 , so bilden in neuerer Zeit diverse amtliche Rechtspflegestatistiken eine zusätzliche Grundlage für eine Analyse staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Einstellungspraxis. Zu nennen ist vor allem die Staatsanwaltschajtsstatistik, in der die Geschäftserledigung der Staats- und Amtsanwaltschaften beim Landgericht und Oberlandesgericht gegen bekannte Tater nachgewiesen wird, sowie des weiteren die Justizgeschäjtsstatistik der Strafgerichte, die den Geschäftsanfall und die Erledigung von Strafsachen bei den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten sowie dem Bundesgerichtshof ausweist. Zu beachten ist allerdings, daß das vorhandene Datenmaterial aufgrund unterschiedlicher Erhebungseinheiten und Zählweisen376 sowie aufgrund zeitlicher und inhaltlicher Begrenzungen allenfalls ein grob umrissenes Bild von den tatsächlich vorhandenen strafrechtlichen Erledigungsstrukturen ergibt. Einige wenige Überlegungen verdeutlichen dies. So sind Rechtspflegestatistiken beispielsweise kein "Kind der ersten Stunde": Die Staatsanwaltschaftsstatistik wird erst seit 1976 in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und im Saarland, seit 1977 in Bremen und Hamburg, seit 1979 in Baden-Württemberg, seit 1980 in Niedersachsen, seit 1985 in Berlin-West, seit 1988 in Hessen, seit 1989 in Schleswig-Holstein, seit 373 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 67 ff.; AK-Schöch, § 153a Rn. 73 m. w. N.; Eisenberg, Kriminologie, S. 292 ff. m. w. N.; Feites, KrimJoum. 1984, S. 54 ff.; Heinz, ZStW 94 (1982), S. 649; derselbe, FS Kaiser, S. 85 ff.; derselbe, ZStW 111 (1999), S. 461 ff.; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 50 f.; Kerl, ZRP 1986, S. 315; Rieß, ZRP 1985, S. 215 f.; Rüping, S. 111; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 181. 374 Feltes, KrimJoum. 1984, S. 54 ff. 375 Instruktiv sind diesbezüglich insbesondere die Untersuchungen von Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung (1978); Hertwig, Die Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit (1982); Meinberg, Geringfiigigkeitseinstellungen von Wirtschaftsstrafsachen (1985). 376 Vgl. dazu Heinz, ZStW 111 (1999), S. 466 f.

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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1993 in Ost-Berlin und erst seit 1995 einschließlich sämtlicher neuer Bundesländer geführt. Und auch die Justizgeschäftsstatistik wird mit ihrem derzeitigen Inhalt erst seit 1970 bzw. - nach inhaltlicher Erweiterung - seit 1989 für die alten Bundesländer, seit 1990 einschließlich Ost-Berlin und seit 1995 einschließlich der neuen Bundesländer veröffentlicht 377 • Neben dieser zeitlichen Begrenzung wirken sich weiterhin auch inhaltliche Beschränkungen der vorgenannten Statistiken auf ihre Aussagekraft aus. Wird in der Staatsanwaltschaftsstatistik zwar einerseits neben der Art der Erledigung, der Zahl der Beschuldigten und der Dauer des Verfahrens auch die Art der verfahrenseinleitenden Behörde ausgewiesen, fehlt es andererseits an Angaben zum Delikt sowie zur Person des Beschuldigten378 • Dieses Transparenzdefizit führt nun dazu, daß eine Überprüfung der in die Entscheidung eingeflossenen Motive nur sehr eingeschränkt möglich ist379 • Infolgedessen kann im Bereich dieses "statistischen Dunkelfeldes..38o auch keine abschließende Aussage darüber getroffen werden, ob nicht mitunter eine unterschiedliche Rechtsanwendung in Anerkennung der zugrundegelegten Entscheidungs- und Unterscheidungskriterien im Einzelfall sogar gerechtfertigt war. Doch selbst dann, wenn man den begrenzten Aussagewert von Strafrechtspflegestatistiken bei einer Analyse der Einstellungsstrukturen berücksichtigt, dürften die am bekannten Datenmaterial ablesbaren Unterschiede 381 nicht - jedenfalls nicht in diesem Ausmaß - mit unbekannten Größen wie etwa Tat- oder Tätennerkmalen begründbar sein382 • Dafür sind die Unterschiede schlichtweg zu frappant. So wurden etwa im Jahre 1997 in Schleswig-Holstein 58,5% aller anklagefähigen Ennittlungsverfahren aus Opportunitätsgründen eingestellt, in Bayern dagegen lediglich 40,9%383. Dabei erfolgte in Bayern mit einem Anteil von 24,8% nur bei jedem vierten Verfahren eine Einstellung ohne Auflagen, wohingegen zur gleichen Zeit in Hamburg mit 50,1 % jedes zweite anklagefähige Verfahren folgenlos eingestellt wurde384• Heinz, ZStW 111 (1999), S. 465 Fn. 13, 14. Eine Ausnahme bilden "Straftaten im Straßenverkehr" und "besondere Wirtschaftsstrafsachen"; vgl. Heinz, ZStW 111 (1999), S. 465 Fn. 13. Wie die Staatsanwaltschaftsstatistik, so ist auch die Justizgeschäftsstatistik nicht nach Delikten gegliedert; vgl. Heinz, ZStW 111 (1999), S. 465 Fn. 14. Und auch die Nachweise in der sog. StP/Owi-Statistik sind hinsichtlich der Verfahrenserledigung durch Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO nicht differenzierter als in der Staatsanwaltschaftsstatistik; vgl. Heinz, FS Schneider, S. 801. 379 Dazu im einzelnen unten "Teil3.D.III.". 380 Heinz, FS Schneider, S. 794. 381 Vgl. dazu die Angaben des Statistischen Bundesamtes für die einzelnen Berichtsjahre (ab 1981). Für die Jahre 1977 - 1981 findet sich eine vergleichende Gegenüberstellung der Einstellungshäufigkeiten nach § 153a StPO für die Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen bei Rieß, ZRP 1983, S. 93 ff. (vgl. zudem die Fortschreibung bis ins Jahr 1983 bei Rieß, ZRP 1985, S. 212 ff.). Darstellungen zu den Rechtspflegestatistiken finden sich zudem bei Heinz, FS Kaiser, S. 85 ff.; derselbe, FS Schneider, S. 779 ff.; derselbe, ZStW 111 (1999), S. 461 ff. 382 Heinz, ZStW 111 (1999), S. 470. 383 Vgl. Heinz, ZStW 111 (1999), S. 470. 377

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Unzulänglichkeiten der Datenlage können mithin keinesfalls über offensichtlich vorhandene Ungleichmäßigkeiten bei der Handhabung der Opportunitätseinstellungsnormen - und zwar sowohl hinsichtlich des "Ob" als auch des "Wie" - hinwegtäuschen. Die Ursachen für diesen Mangel wiederum liegen auf der Hand. Angesichts weiter Beurteilungsspielräume, die dem Rechtsanwender durch die vage, unbestimmte Ausgestaltung der opportunitätsgeprägten Vorschriften allgemein und insbesondere bei § 153 a StPO eingeräumt worden sind, verwundert ein unterschiedliches Anwendungsverhalten der Praxis in keiner Weise. Mangels einer klaren gesetzgeberischen Vorgabe für den Entscheidungsprozeß wäre eine rechtstatsächliche Gleichmäßigkeit bei der Anwendung fast Glückssache. Weitgehend konturenlose Anwendungsvoraussetzungen verhindern dagegen eine "im wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis,,385 und schaffen dariiber hinaus Raum für unsachliche und außerrechtliche Entscheidungsmotive auf seiten des Rechtsanwenders.

III. Ungleichheit der Rechtsanwendung infolge der Beeinflußbarkeit staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Verfahrenseinstellungsentscheidungen Unbestimmte RechtsbegrifTe in § 153 a StPO als Einfallstor für unsachliche und außerrechtliche Entscheidungsmotive des Rechtsanwenders Die generalklauselartige Weite des Tatbestands einer Norm schafft Raum für unterschiedliche Interpretationen unterschiedlicher Rechtsanwender. Je weiter der Handlungsspielraum im einzelnen gesteckt ist, desto größer ist die Gefahr, daß auch unsachgemäße und außerrechtliche Erwägungen in die Entscheidung Eingang finden. Die hierbei vorstellbare Motivpalette ist einigermaßen breit. Neben einer Ausrichtung des Entscheidungsvorgangs an aktuellen kriminalpolitischen Bedürfnissen können eine Vielzahl weiterer Zweckmäßigkeitserwägungen (rnit-)ausschlaggebend für ein Ausnutzen des eröffneten Beurteilungsspielraums sein386 . Nachfolgend soll auf einige mögliche Beurteilungskomponenten hingewiesen werden, die, wenngleich nur selten nachweisbar387 , bei realistischer, lebensnaher Heinz, ZStW 111 (1999), S. 470. BVerfGE90, 145 (190). 386 Vgl. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 44; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 163; Pott, S. 153. Die Frage nach unsachgemäßen und außerrechtlichen Erwägungen im Rahmen der Ausftillung des Beurteilungsspielraums in §§ 153, 153a StPO entspricht derweil inhaltlich den Grenzen zulässiger Ermessensausübung für den Fall, daß man vorliegend Opportunität mit Ermessen gleichsetzen wollte. Hier geht jedoch der Verfasser von der Prämisse aus, daß sämtliche Erwägungen, die ansonsten innerhalb einer Ermessensausübung zu treffen wären, bereits in die Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite eingeflossen sind. Mithin stellt sich die - im übrigen identische - Frage nach der Zulässigkeit von etwaigen Entscheidungsmotiven bereits auf der Tatbestandsseite und nicht erst im Rahmen einer Überpriifung der Grenzen zulässigen Rechtsfolgenermessens; vgl. dazu bereits oben "Teil 3.B.I." sowie "Teil3.C.I.". 384

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D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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Betrachtung im einzelnen ausschlaggebend für oder gegen eine opportune Verfahrensbeendigung sein können.

1. VerfahreDSÖkonomie als Beurteilungskomponente Beeinflussung der EinsteUungspraxis in Fällen erheblicher Straftaten mit komplexer Verfahrenslage

"Sie sind auf Seite 100, Herr Staatsanwalt, bis Sie u.U. die Schuld meines Mandanten festgestellt haben, sind Sie auf Seite 4000,,388. Dieser Hinweis eines Verteidigers, wie er der Praxis - so oder ähnlich - nicht unbekannt sein dürfte, trifft ins Schwarze. Die Aussicht, durch Aufgreifen einer entsprechenden Einstellungsanregung der Verteidigung eine ansonsten unter Umständen drohende langwierige und aufwendige Ermittlungsarbeit einzusparen und dabei nach Möglichkeit durch die Auferlegung einer Geldbuße nach § 153 aI Nr. 2 StPO das gleiche, wenn nicht gar ein besseres Ergebnis für die Staatskasse erzielen zu können, wie es sich bei einer in weiter Feme liegenden - womöglich sogar unsicheren - Verurteilung zu einer Geldstrafe einstellen würde, erscheint aus Sicht des betroffenen Staatsanwalts nur allzu verlockend. Wenn zudem der bevorstehende Ermittlungsaufwand mit Blick auf das geschützte Rechtsgut als eher unverhältnismäßig anmutet, gewinnen fiskalische Erwägungen in Anbetracht zunehmender Arbeitsbelastung und chronisch knapper Justizressourcen weiter an Gewicht und beeinflussen - dies kann freilich unterstellt werden - das Einstellungsverhalten der Staatsanwaltschafe 89 . Eine komplexe Verfahrenslage dürfte sich daher allgemein stets günstig auf die Einstellungsbereitschaft der mit Aufklärungsarbeit betrauten Organe auswirken. Als Einzelvariablen, die Einfluß auf die Verfahrenskomplexität nehmen und damit die Einstellungsbereitschaft fördern können, werden in der Literatur benannt: die aufgrund langer, schwieriger und umfangreicher Ermittlungen zu erwartende Verfahrensdauer39o, der damit korrelierende Aktenumfang 391 (aufgebaut durch die Anzahl der Anzeigen, die Zahl der Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen, die schriftlichen Einlassungen des Beschuldigten, Geschädigtenvernehmungen, Sachverständigengutachten etc.), die Zahl der Beschuldigten 392 sowie eine mögliche 387 Entsprechende Hinweise finden sich teilweise als handschriftliche Vermerke in den Handakten der Staatsanwaltschaft, teilweise werden sie auch offen angesprochen, vgl. dazu unten die Fallbeispiele in "Teil3.D.ill.4.". 388 Hammerstein im Rahmen eines Kolloquiums arn 12. 2. 1977 in Freiburg; zitiert nach Albrecht, ZStW 89 (1977), S. 1096. 389 Kausch, S. 126; Keller; GA 1983, S. 519 m. w. N. 390 Fezer; ZStW 106 (1994), S. 27 m. w. N.; KelierlSchmid, wistra 1984, S. 201; Meinberg, Wirtschafts strafsachen, S. 195; Rönnau, S. 124 m. w. N.; Schlothauer; StV 1982, S. 451; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 84. 391 Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 195. 392 Berckhauer; ZStW 89 (1977), S. 1032; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 195.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Verteidigerbeteiligung 393 . Nach alledem kann der jeweilige Verfahrensgegenstand als wesentlicher Faktor für die Förderung von Einstellungstendenzen ausgemacht werden, denn Art und Umfang des Deliktsgegenstands bestimmen maßgeblich über die vorgenannten Komplexitätsmerkmale 394 . So ruft es dann auch keine allzu große Verwunderung hervor, daß sich Verfahrenseinstellungen insbesondere bei komplexen Wirtschafts- und Umweltstrafverfahren mittlerweile zur "Standarderledigung,,395 entwickelt haben. Wirtschaftsstrafverfahren erfordern zumeist langwierige Ermittlungen. Nicht nur in den aufwendigen Großverfahren, sondern auch in "kleineren" Fällen der leichten bis mittelschweren Kriminalität ist die Dauer staatsanwaltschaftlicher Ermittlungstätigkeit in diesem Bereich oft erheblich: So sind beispielsweise bei Untreuehandlungen hintereinandergeschaltete Geldbewegungen nachzuvollziehen, bei Konkursdelikten regelmäßig umfangreiche Buchhaltungsunterlagen auszuwerten, bei Betrugshandlungen Serien von Zeugen zu vernehmen und im Rahmen von Steuerstraftaten häufig Auslandsbeziehungen aufzuklären, die wiederum langwierige Rechtshilfeersuchen erforderlich machen 396. Die "Verquickung des Tatgeschehens mit komplizierten ökonomischen Gesamtzusarnmenhängen und die daraus sich ergebende Stoffülle"397, teilweise schwer durchschaubare Verpflechtungen aufgrund beteiligter komplexer Rechtsformen 398 sowie "besondere ermittlungspragmatische Probleme", und zwar sowohl im objektiven Bereich als auch auf der subjektiven Tatseite399, führen dazu, daß im Sonderbereich der Wirtschaftskriminalität die verfahrensökonomische Frage besonders häufig gestellt wird. Angesichts des "quantitativ wie qualitativ nicht selten unüberschaubaren Materials..4OO werden seitens der beteiligten Strafverfolgungsorgane nur allzu gerne bereits zu einem friihen Zeitpunkt des Ermittlungsverfahrens "die Waffen gestreckt" und Signale für eine Verhandlungsbereitschaft ausgesandt.

393 Meinberg, Wmschaftsstrafsachen, S. 195 mit weiteren Variablen. Zur Auswirkung einer Verteidigerbeteiligung im Sinne einer Verkomplizierung und ,,künstlichen Autblähung" des Verfahrensstoffs vgl. im einzelnen unten ..Teil3.D.III.3 .... 394 Vgl. Berckhauer; ZStW 89 (1977), S. 1031 f. 395 So Heine / Meinberg, DIT-Gutachten, D 96, wonach sich Verfahrenseinstellungen als Regel-Erledigungsform für UmweItstrafsachen erwiesen hätten. 396 Keller/Schmid, wistra 1984, S. 201. 397 Rieß, FS Schäfer, S. 185. 398 Beispielsweise wird auf das verringerte strafrechtliche Risiko für den Betreiber einer komplex strukturierten Rechtsform wie etwa der GmbH & Co KG hingewiesen; vgl. Berckhauer; ZStW 89 (1977), S. 1032; ebenso Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 145. 399 Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 14. 400 Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 15, der darauf hinweist, daß oftmals erst nach ..detaillierter Kenntnis der Hintergründe und häufig erst in der Gesamtschau eines sich über Jahre erstreckenden Geschäftsverkehrs ... dessen strafrechtliche Qualität beurteilt werden" kann. Zu den sich in diesem Zusammenhang ebenfalls einstellungsfördernd auswirkenden Beweisschwierigkeiten vgl. unten ..Teil 3.D.III.2 ....

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Ähnlich liegen die Dinge im Bereich des Umweltstrafrechts, das durch das 18. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. 3. 1980401 Eingang in den Besonderen Teil des Strafgesetzbuches gefunden hat und das in den §§ 324 ff. StGB überwiegend sog. verwaltungsakzessorische Straftatbestände beherbergt402 • Deren Besonderheit liegt nun darin begründet, daß die zur Ausfüllung der Straftatbestände erforderlichen Merkmale erst seitens der Verwaltung gesetzt sein müssen, bevor eine Handlung, die sich gegen diese behördlichen Maßnahmen richtet, als kriminell umweltschädigend qualifiziert werden kann403 • Neben einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe in den Vorschriften der §§ 324 ff. StGB ist es die angesprochene Verzahnung des (Umwelt-)Strafrechts mit dem Umweltverwaltungsrecht, die eine strafrechtliche Würdigung umweltschädlichen Verhaltens erschwert. Darüber hinaus trägt die häufig vielschichtige Beweislage zur einstellungsfördernden Komplexität im Bereich des Umweltstrafrechts bei404 . Stützen läßt sich diese Vermutung durch den Befund, der durch die einschlägigen Rechtspflegestatistiken ausgewiesen wird. Hiernach steht einem in den Jahren 1975 bis 1990 um nicht weniger als 521 % gestiegenen "Input" polizeilicher Registrierungen von umweltstrafrechtlich relevanten Vorgängen ein nicht annähernd korrelierender Wert auf der "Output"Ebene gegenüber405 . Sind auf der einen Seite die Zahlen polizeilich registrierter Umweltkriminalität in den letzten 30 Jahren - wohl nicht zuletzt aufgrund eines allgemein wachsenden ökologischen Bewußtseins, das sich schließlich auch im Anzeigeverhalten widerspiegelt406 - drastisch angestiegen, ist eine entsprechende Entwicklung bei der "Aburteilungsquote" ausgeblieben. Die naheliegenden Ursachen für diese insgesamt bedauerliche Entwickung407 sind benannt: Komplizierte Strukturvorgaben und komplexe Tathintergrunde stellen die Strafverfolgungsbehörden vor fachliche und personelle Schwierigkeiten, derer sie sich in verstärktem Maße durch Verfahrenseinstellungen entziehen. 401 BGBl. 1980 I, S. 373. Die Neuregelung vereinigte Tatbestände aus verschiedenen Umweltverwaltungsgesetzen wie dem Wasserhaushaltsgesetz, dem Bundesimmissionsschutzgesetz sowie dem Abfallbeseitigungsgesetz zu einem einheitlichen Regelungswerk im StGB; vgl. Miller, Kriminalistik 1988, S. 189. Rege1ungsziel war dabei die Anerkennung der Gleichrangigkeit des Schutzes der Umwelt mit dem anderer, klassischer Rechtsgüter; vgl. BT-Drs. 8/2382. 402 Miller, Kriminalistik 1988, S. 190. 403 Miller, Kriminalistik 1988, S. 190. 404 Schirrmacher, S. 128; vgl. auch Heine/Meinberg, DIT-Gutachten, D 86. 405 Müller-Tuckfeld, Vom unmöglichen Zustand, S. 568 f.; vgl. auch Heine/Meinberg, DIT-Gutachten, D 73 ff. mit einer entsprechenden Berechnung für den Zeitraum 1973 - 1986. 406 Vgl. Heine/Meinberg, DIT-Gutachten, D 81 m. w. N. 407 Dazu, daß das gutgemeinte Regelungswerk der §§ 324 ff. StGB durch die verstärkte Anwendung der §§ 153, l53a StPO in der Praxis weitestgehend leerläuft, vgl. unten "Teil 3.D.xm.". Dabei war mit teilweise "lyrischen Hymnen" (Müller-Tuckfeld, Vom unmöglichen Zustand, S. 462) auf das neue Umweltstrafrecht nicht gespart worden: "Angesichts dieser Fehlentwicklung fühlt der Mensch - endlich - Verantwortung für die Welt, in der er lebt". Oder, mit religiösem Pathos: "Der Mensch fühlt Verantwortung für die ihm vom Schöpfer anvertraute Umwelt" (Nachweise bei Müller-Tuckfeld a. a. 0.).

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung 2. Die Einstellung nach § 153 a StPO als "Notbremse" bei zweifelhafter Beweislage, drohender Verjährung, überlanger Verfahrensdauer etc. mithin als Strategie zur Vermeidung eines Freispruchs

Auch die in der Folge vorzustellende Beurteilungskomponente tritt häufig im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Umweltdelikten auf0 8 , ist aber, wie auch zuvor die Verfahrenskomplexität, selbstverständlich nicht auf diese Kriminalitätsformen beschränkt. Die Rede ist von Verfahrenseinstellungen unter Auflagenerteilung, die bei schwieriger Beweislage, drohender VeIjährung und ähnlichem Platz greifen, und das nur, um am Ende einen der Empfindung nach ungerechten - weil sanktionslosen - Prozeßausgang zu vermeiden. Entscheidungen über die Einstellung eines Strafverfahrens scheinen sich in beweisschwierigen Fällen insbesondere am Grad der Aufklärbarkeit des Tatvorwurfs und, insoweit spezifisch für § 153 a 11 StPO, seines Nachweises im Rahmen einer Hauptverhandlung zu orientieren409 . So kann im Stadium der Hauptverhandlung, wenn die Beweisaufnahme zuvor kein eindeutiges Bild im Hinblick auf Verurteilung oder Freispruch ergeben hat, den Verfahrens beteiligten daran gelegen sein, "das Schiff in sichere Fahrwasser" zu bringen und durch eine Verfahrenseinstellung den Risiken und Unwägbarkeiten eines Urteilsspruchs auszuweichen. Solche können zum einen aus Sicht der Verteidigung darin begriindet sein, daß trotz an sich zweifelhafter Beweislage eine Verurteilung nicht gänzlich ausgeschlossen erscheint; zum anderen wird in solchen Situationen nicht selten seitens der Anklagevertretung durch eine opportunitätsgeprägte Verfahrenseinstellung die ,,Notbremse" gezogen, um den sonst möglicherweise ins Haus stehenden - ungewollten - Freispruch zu vermeiden. Dariiber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Griinde, die eine Verfahrenseinstellung unter Verhängung von Auflagen und Weisungen im Zeitpunkt der Hauptverhandlung für die Justiz attraktiv machen und die insoweit ihr Entscheidungsverhalten beeinflussen können. Neben einer drohenden Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten41O , der sich abzeichnenden Notwendigkeit umfangreicher SachverKunz, Bagatellprinzip, S. 68; Wolter, Strafprozeßreforrn, S. 57. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 227; AK-Schöch, § 153a Rn. 74; Dahs, NJW 1996, S. 1192; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 26 Fn. 106; Freund, GA 1995, S. 17; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 255; Hirsch, GS H.Kaufmann, S. 141; Kerl, ZRP 1986, S. 313; Kühne, S. 243; Kunz, Bagatellprinzip, S. 69; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 15, 127; Schlothauer, StV 1982, S. 451 f.; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 181; Sessar, ZStW 87 (1975), S. 1062; Waller, DRiZ 1986, S. 49; Weigend, KrirnJoum. 1984, S. 11 f. m. w. N.; Wolter, Strafprozeßreforrn, S. 57. Heine/Meinberg, DIT-Gutachten, D 88 weisen in diesem Zusammenhang auf spezifisch umweltstrafrechtliche Beweisführungsschwierigkeiten hin: Funktionelle Ermittlungsprobleme könnten sich insbesondere hinsichtlich der technischen Beweisführung ergeben. So komme es in Umweltstrafsachen oftmals entscheidend auf die Qualität der Schadensdokumentation und Beweissicherung im Zeitpunkt des ersten Zugriffs an. Ermittlungsdefizite, die später (rnit-)ursächlich für eine Verfahrenseinstellung sein könnten, seien nicht selten auf diesen frühen Zeitpunkt zurückzuführen. 408

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ständigengutachten411 , dem Vorliegen schwieriger prozessualer Probleme (z. B. Verwertungsverbote)412 sowie dem Bevorstehen absoluter VeIjährung413 ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch der bereits absehbare Eintritt einer überlangen Verfahrensdauer zu nennen, der wiederum nach einer urteilsfreien Erledigung der Sache verlangen würde414 .

Im Gegensatz zu den eher eindimensionalen Beweggriinden der Verteidigung, der allein daran gelegen sein muß, das bestmögliche Ergebnis für den Mandanten zu erzielen, sind die Motive, § 153 a StPO als "Rettungsanker" in einem Strafverfahren einzusetzen, auf seiten der Anklagebehörde bzw. des Gerichts im Grunde vielfältiger. Droht der Prozeß aus einem der vorgenannten Griinde zu "platzen", bietet die Anregung zu einer Einstellung - oder auch nur die Zustimmung dazu der Anklagebehörde noch hinreichend Gelegenheit, "ohne Gesichtsverlust eine ,großzügige Behandlung der Sache' zu demonstrieren,,415. Geschickt inszenierter Großmut zum richtigen Zeitpunkt verhindert - jedenfalls bei einem insoweit unwissenden Angeklagten, der nicht mit einem für ihn günstigeren Ausgang des Verfahrens rechnet -, daß die Staatsanwaltschaft am Ende als "Verlierer" dasteht. Eine Einstellung nach § 153 a StPO kann des weiteren von einem Disziplinierungsanliegen der handelnden Organe getragen sein. Durch die sanktionsbehaftete Einstellung des Verfahrens soll dem Angeklagten mitunter ein "Denkzettel" verpaßt und auf diese Weise vermieden werden, in ihm das mit einem Freispruch möglicherweise verbundene Gefühl eines "Freibriefs" zu wecken, das im ungünstigen Fall nur zu neuen Straftaten ermutigen würde416. Die oft wohl entscheidende Motivation, die man hinter einer solchen Praxis zu vermuten hat, ist indes die Abwendung der Kostenlast, die im Falle eines Freispruchs gemäß § 467 I StPO auf die Staatskasse zukäme. Bei einer Einstellung nach § 153 a 11 StPO muß der Angeklagte im Regelfall seine Kosten selber tragen, und es besteht dariiber hinaus die Möglichkeit, ihn mittels einer Geldauflage nach § 153 aI Nr. 2 StPO zugunsten der Staatskasse auch die übrigen Kosten des Verfahrens ausgleichen zu lassen417 . Insgesamt besehen scheint es eine breite Motivpalette dafür zu geben, einen im weiteren Verfahrensverlauf "drohenden" Freispruch durch eine vorzeitige Einstellung des Verfahrens nach § 153 a StPO "elegant" abzuwenden. Die weitgehende

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Waller, DRiZ 1986, S. 49. Dahs, NJW 1996, S. 1192; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 157. Dahs, NJW 1996, S. 1192. Dahs, NJW 1996, S. 1192; Waller, DRiZ 1986, S. 49. Vgl. Dahs, NJW 1996, S. 1192. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 133; Schmidhäuser, JZ 1973, S. 531. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 132 f.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 63. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 133 f.; vgl. auch AK-Schöch, § 153a Rn. 12.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Unbestimmtheit der Vorschrift macht die Tür für einen Einfall derartiger Überlegungen weit auf. 3. Beeinflussung der Einstellungspraxis durch aktive Verfahrensgestaltung seitens des Beschuldigten oder seines Verteidigers

Eine aktive Verfahrensgestaltung, und zwar sowohl durch einen eingeschalteten Anwalt als auch durch den Beschuldigten selbst, kann Einfluß auf die Einstellungsbereitschaft der Justiz haben. Zunächst einmal ist festzustellen, daß die Zugangschancen zu einer Verfahrenseinstellung eines nicht anwaltlich vertretenen Beschuldigten bereits deswegen verringert sein dürften, weil er als Rechtsunkundiger häufig keine Kenntnis von dieser sich ihm unter Umständen bietenden verfahrensrechtlichen Möglichkeit besitzt418 . Dariiber hinaus dürfte die geplante Einschaltung eines Rechtsbeistands bereits im Vorfeld die Einstellungsbereitschaft der Staatsanwaltschaft erhöhen, wenn sie von der juristischen Vertretung des Beschuldigten eine Verfahrensverkomplizierung in Form einer "störenden" Verteidigungstaktik befürchtet419 . Im weiteren Verlauf des Verfahrens steigern nach empirischer Untersuchung die künstliche Aufblähung des schriftlichen Aktenstoffes sowie nichtgeständiges Einlassungsverhalten die Bereitschaft der Staatsanwaltschaft zu einem Verzicht auf förmliche Bestrafung42o . Ganz generell wird sich eine aktive Verfahrensgestaltung in einer Vielzahl von Fällen arn Ende einstellungsförderlich auswirken. So kann beispielsweise die künstliche Aufblähung des Prozeßstoffs - etwa durch das Inaussichtstellen einer Vielzahl begriindeter Beweisanträge421 - eine offene Verfahrens situation schaffen, in der sich aussichtsreich über eine Verfahrenseinstellung verhandeln läßt. Des weiteren kann der Beschuldigte durch Art, Umfang und Ergebnis seiner Einlassungen maßgeblich das Klima mitbestimmen, in dem es dann zu informellen Gesprächen mit der staatlichen Gegenseite kommen kann422 . Nicht selten wird dabei eine "verfahrensverzögerliche Hinhaltetaktik,,423 mit einer Verfahrenseinstellung belohnt. Der Rat etwa, ein Geständnis zu verweigern, wird wiederum regelmäßig aus dem Munde der Verteidigung kommen, so daß die Mitwirkung eines Verteidigers auch auf diese Weise Einfluß auf die Einstellungsquote nimmt424 . Hertwig, Geringfügigkeit, S. 227; Weigend, KrimJoum. 1984, S. 24. Hanack, StV 1987, S. 501; Kaiser/Meinberg, NStZ 1984, S. 349; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 182; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 34. 420 Hertwig, Geringfügigkeit, S. 157, 198, 232; vgl. auch Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 172. 421 Müller/Wache, FS Rebmann, S. 333; Schlothauer, StV 1982, S. 451. Vgl. auch das Beispiel bei Albrecht, ZStW 89 (1977), S. 1100, wonach seitens der Verteidigung - in formell nicht zu beanstandender Weise - eine Vernehmung von 2600 Opfern in der Hauptverhandlung in Aussicht gestellt wurde. 422 Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 195. 423 Weigend, KrimJourn. 1984, S. 12 rn. w. N. 418

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Damit rückt jedoch ein weiterer Aspekt ins Blickfeld der Betrachtung, der die opportunitätsgeprägte Einstellungsnorm des § 153 a StPO zusätzlich in einem schlechten Licht erscheinen läßt. Korreliert nämlich der erleichterte Zugang zu einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO - wie es bislang den Anschein hateinerseits mit der sozialen und andererseits mit der finanziellen Kompetenz des Beschuldigten425 , so stehen in der Konsequenz nur allzu schnell Gleichheitsgrundsatz und Sozialstaatsprinzip in der Diskussion. Das finanzielle Leistungsvermögen erleichtert nämlich nicht nur den Zugang zu rechtskundiger Unterstützung im Verfahren, sondern entscheidet auch wesentlich über die grundsätzliche Kompromißgeeignetheit des Beschuldigten im Hinblick auf die Erfüllung von Geldauflagen nach § 153 aI Nr. 2 StPO. 4. Ungleichbehandlung durch eine BessersteUung des finanzieU kompetenten Beschuldigten bei der Erfüllung von Geldauflagen als Gegenleistung für die Verfahrenseinstellung im "Freikaufverfahren"

Die finanzielle Dimension einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO läßt eine Privilegierung des wirtschaftlich kompetenten Täters befürchten, durch die sowohl der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz als auch das Sozialstaatsprinzip verletzt sein könnte. Es steht zu vermuten, daß der finanziell bessergestellte Angeschuldigte eher in der Lage sein wird, sich durch entsprechende Honorarvereinbarungen qualifizierter anwaltlicher Hilfe zu bedienen, sich mithin einen "guten Verteidiger" als Verhandlungsführer leisten zu können426 , als dies sein mittelloses Pendant zu tun vermag. Wirtschaftlich potenteren Tätern wird es des weiteren leichter möglich sein, die Auflagen im Rahmen von § 153 a StPO zu erfüllen427 • Diese Tätergruppe muß schon im Vorfeld der Verfahrenseinstellung nicht mit dem Angebot finanzieller Leistungen sparen, um die Einstellungsbereitschaft der staatlichen "Gegenseite" zu testen428 . Dabei dürfte die sichere Aussicht auf einen erklecklichen Geldbetrag, die ein solventer Schuldner zu vermitteln imstande ist, in aller Regel eher geeignet sein, Einstellungsgespräche mit Gericht und Staatsanwaltschaft in Gang zu bringen, als eine Verfahrenssituation, in der offensichtlich ist, daß vom Beschuldigten nicht viel "zu holen" sein wird429 . Zudem dürfte es dem finanziell kompetenten Schirrmacher; S. 128; Waller; DRiZ 1986, S. 49. Vgl. Hertwig, Geringfügigkeit, S. 232 f. 426 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 27; Eisenberg, Kriminologie, S. 377; Hanack, FS Gallas, S. 358; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 25; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 51; Malms, wistra 1994, S. 338; Rössner; Bagatelldiebstahl, S. 219; Schirrmacher; S. 128; Weigend, KrimJoum. 1984, S. 12. 427 Kausch, S. 38,40 m. w. N.; vgl. auch Albrecht, ZStW 89 (1977), S. 1099. 428 Hanack, FS Gallas, S. 351; Rössner; Bagatelldiebstahl, S. 219. 429 Der mögliche Einwand, die Gefahr einer Privilegierung sei bereits deshalb nicht existent, weil dem weniger Begüterten gemäß § 153a I Nr. 3 StPO die Möglichkeit verbleibe, 424 425

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Täter leichter fallen, im Vorfeld der Einstellungsgespräche Schadenswiedergutmachung zu betreiben, was sich wiederum positiv auf die Bewertung des Nachtatverhaltens und damit auf das Schuldrnaß und die Frage nach einem "öffentlichen Interesse" an weiterer Strafverfolgung auswirken kann43o . Die Befürchtung, die Vorschrift des § 153 a StPO werde es gerade dem begüterten Täter ermöglichen, eine Anklageerhebung zu vermeiden, war bereits Gegenstand der Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf des EGStGB vom 9. 12. 1972431 . Eine Reihe empirischer Untersuchungen erbrachte in der Folgezeit die entsprechende Bestätigung432 . Und auch verschiedentliche Presseveröffentlichungen aus der jüngeren Vergangenheit verfestigen den unguten Eindruck einer fortschreitenden "Kommerzia1isierung der Strafrechtspflege,,433, die insbesondere finanziell Bessergestellten zugute kommt: Ende März 1997 stellte die Staatsanwaltschaft Mannheim das Ermittlungsverfahren gegen die ehemalige Weltklasse-Tennisspielerin Stefanie Graf wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung gemäß § 153 aI StPO ein. Ihr wurden Zahlungen zugunsten der Staatskasse und gemeinnütziger Einrichtungen auferlegt. Über die Höhe dieser Zahlungen machte die Behörde keine Angaben, teilte aber mit, die Auflagen seien geeignet, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen434 . Das Hamburger Nachrichtenmagazin "Spiegel" benennt in diesem Zusammenhang eine Summe von 1,3 Mio. DM435 . Ein Jahr zuvor stellte das Landgericht Frankfurt a.M. im sog. HolzschutzmittelProzeß das Verfahren ebenfalls nach § 153 a StPO ein. Die beiden Angeklagten hatten als "Gegenleistung" für die endgültige Einstellung des Verfahrens je 100.000 DM an die Staatskasse zu zahlen. Außerdem wurden die Firmen, deren sich durch gemeinnützige Leistungen seine Verfahrenseinstellung zu "verdienen" (so beispielsweise Eckl, JR 1975, S. 100; ebenso Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 922), erscheint angesichts der Verfahrens wirklichkeit wenig stichhaltig. Im Hinblick auf die Binnenstruktur der Auflagen in § 153a StPO besteht in der Praxis eine absolute Dominanz der Geldauflage nach § 153a I Nr. 2 (dazu im einzelnen unten "Teil 3.D.xI."), so daß durchaus - wenn auch nicht normimmanent, so doch faktisch - von einer Bevorzugung des finanziell bessergestellten raters gesprochen werden kann. Der angesichts rechtstatsächlicher Realitäten zu vernachlässigenden Auflage nach § 153a I Nr. 3 StPO mißt Ahrens (in: Hauptverhandlung, S. 228) zutreffend eine "Iegislatorische Feigenblattfunktion auf dem Papier zu". 430 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 45; BlankenburglSessarlSteffen, KrimJoum. 1975, S. 43; vgl. dazu auch oben "Teil 3.B.m.1.a)bb)" sowie "Teil 3.B.m.2." sowie "Teil 3.D.I.2.b)". 431 BR-Drs. 1/72 (Beschluß); vgl. dazu bereits oben "Teil3.C.II.". 432 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 192; Blankenburg I Sessari Steffen, KrimJoum. 1975, S. 36 ff.; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 209 ff.; vgl. dazu auch die Einleitung zu Mayerhoferl Rzpeka, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1993, S. 115 von Görlitz, ZRP 1993, S. 446 f. sowie den Nachweis bei HeinelMeinberg, DlT-Gutachten, D 94 Fn. 109. 433 Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 88. 434 Vgl. Kargl/Sinner. Jura 1998, S. 231. 435 Nachrichtenmagazin "Spiegel", Ausgabe 15/1997, S. 17.

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Geschäftsführer die Angeklagten waren, zur Zahlung von 4.000.000 DM zur Einrichtung einer Stiftungsprofessur für Toxikologie mit dem Schwerpunkt "Wohnrauminnenluft" an der Universität Gießen verpflichtet. In beiden Fällen wurde die Vorschrift des § 153 a StPO "als ein probates Mittel benutzt, um ein schwieriges, langandauerndes und wohl auch für die Angeklagte(n) belastendes Strafverfahren ,konsensual' zu einem schnellen Ende zu bringen,,436. Im März 1998 stellte die Staatsanwaltschaft Aachen das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Frau Dr. med. Aikaterini Pappa-Gahl gegen Zahlung von je 5.000 DM zu Gunsten der Staatskasse sowie zu Gunsten der Deutschen ArthroseHilfe e.Y. gemäß § 153 a StPO ein437 . Die aachener Staatsanwaltschaft ermittelte gegen die Medizinerin seit Juli 1995 wegen des Verdachts der unterlassenen Hilfeleistung in mehreren Fällen. Es bestand der Verdacht, daß die Ärztin während ihres Notdienstes hilfesuchenden Patienten die ärztliche Hilfe verweigert habe. So soll sie sich beispielsweise im Januar 1995 im Rahmen ihres Bereitschaftsdienstes geweigert haben, einen Patienten aufzusuchen, der über starke Schmerzen in der Brust klagte und dem später vom Notarzt ein sog. Reinfarkt diagnostiziert wurde. In einem anderen Fall soll die Ärztin der dringenden Bitte eines Patienten um sofortiges Erscheinen, das sich auf einen starken Blutverlust dieses Patienten gründete, nicht nachgekommen sein und auch keine anderen Hilfsmaßnahmen eingeleitet haben. Bei diesem Patienten wurde nach anschließender notärztlicher Einweisung in ein Krankenhaus eine akute Unterleibserkrankung diagnostiziert. Im Juli desselben Jahres beendete die Staatsanwaltschaft Aachen das im Juni 1996 eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen Herrn Dr. med. Lorenz Wüst wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung durch Einstellung nach § 153 a StPO. Dem Beschuldigten war seitens der Strafverfolgungsbehörden ein grober ärztlicher Behandlungsfehler zur Last gelegt worden, der ursächlich für den Tod einer seiner Patientinnen gewesen sein soll. So war es im Rahmen einer pelviskopischen Operation zum Zwecke der Entfernung eines Tumors zu einer akuten Gasembolie gekommen. Dem Arzt wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, durch die unsachgemäße Einführung einer Nadel in den Bauchraum der Patientin eine Gefaßwandverletzung verursacht zu haben, wodurch später zugeführtes C02-Gas in den Blutkreislauf gelangen konnte, was letztlich zum Tode der Patientin geführt haben soll. Dem Mediziner wurde bei der Verfahrenseinstellung zur Auflage gemacht, 10.000 DM an den minderjährigen Sohn der Verstorbenen sowie 5.000 DM an die Staatskasse zu zahlen. Am 24. Juli 1998 wurde das Strafverfahren gegen Jose Ignacio Lopez und drei weitere frühere Mitarbeiter des Unternehmens "General Motors" von der 13. Strafkammer des Landgerichts Darmstadt gemäß § 153 a StPO vorläufig eingestellt438 . Kargl/Sinner; Jura 1998, S. 231. Für die hilfreiche Unterstützung bei der Ermittlung dieses sowie des nachfolgenden Fallbeispiels bedankt sich der Verfasser bei Herrn aStA a.D. Dr. GÜnter. 436 437

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Staatsanwaltschaft und Verteidigung hatten dem zugestimmt. Lopez verpflichtete sich zur Zahlung von 400.000 DM an eine heilpädagogische Einrichtung, Gutierrez zahlte 100.000 DM an eine medizinische Einrichtung, Alvarez 50.000 DM und Piazza 40.000 DM an einen Tierschutzverein. Die Staatsanwälte vertraten in der Anklageschrift die Auffassung, daß sich die angeklagten Personen als Mittäter einer Unterschlagung von diversen Geschäftsunterlagen des Unternehmens "General Motors" nach § 126 StGB und des Geheimnisverrats nach § 17 UWG zugunsten ihres neuen Arbeitgebers "Volkswagen" schuldig gemacht haben. Die Beweggründe, die Staatsanwaltschaft und Gericht zur vorzeitigen Beendigung des Verfahrens veranlaßt haben dürften, liegen auf der Hand, wenn man bedenkt, daß die Ausdrucke aus den sichergestellten Disketten und Computern einen Umfang von 2,3 Mio. DIN-A4-Seiten hatten, die Akten der Staatsanwaltschaft 23.000 Blatt umfaßten und bereits in der Anklageschrift 70 Zeugen als Beweismittel benannt waren. Daß sich "Volkswagen" andererseits zur Zahlung von 100 Mio. Dollar an "General Motors" sowie zur Abnahme von Fahrzeugteilen von "General Motors" im Wert von einer Milliarde Dollar innerhalb von sieben Jahren verpflichtet hat, läßt Rückschlüsse auf den enormen wirtschaftlichen Schaden zu, den die Angeklagten durch ihren Geheimnisverrat dem US-Autokonzern zugefügt haben müssen. Im August 1998 stellte die Staatsanwaltschaft Köln das steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die Ex-Fernsehmoderatorin Margarethe Schreinemakers und ihren Ehemann Werner Klumpe gemäß § 153 a StPO ein, nachdem sich die Beschuldigten zur Zahlung eines "namhaften Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung" bereit erklärt hatten. Gegenstand der bereits seit 1996 laufenden Ermittlungen war der Verdacht der Staatsanwaltschaft, Schreinemakers habe über ihre in den Niederlanden ansässige Produktionsfirma ,,Living Kamera" mehrere Millionen am deutschen Fiskus vorbeigeschleust. Im September 1998 stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. das Ermittlungsverfahren wegen des anfänglichen Verdachts verbotenen Insiderhandels gegen ein Vorstandsmitglied sowie einen amtierenden und einen ehemaligen Geschäftsführer des Softwarekonzerns "SAP AG" nach § 153 a StPO ein. Das Vorstandsmitglied mußte dabei 120.000 DM als Auflage bezahlen, die Mitglieder der erweiterten Geschäftsführung 50.000 bzw. 70.000 DM. Der Vorwurf: Am 23. Oktober 1996 war der Kurs der SAP-Aktie nach der Bekanntgabe der neuesten Geschäftszahlen um 23% eingebrochen. Die Manager hatten bereits Monate vor dem Kurssturz der SAP-Aktie den Auftrag erteilt, Wandelanleihen, die sie als Teil ihrer Vergütung aus einem Mitarbeiter-Beteiligungsprogramm erhielten, in Aktien umzutauschen und diese Aktien anschließend zu verkaufen. Vorgeworfen wurde den Mitarbeitern, daß sie den gesamten Auftrag - zumindest aber den Verkauf der Ak438 Für die nachfolgenden Fallbeispiele, die in den vergangenen Jahren allesamt "durch die Medien gegangen" und dadurch ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit gelangt sind, bedankt sich der Verfasser bei Herrn Dr. Carsten Wegner für die Überlassung von Unterlagen, durch die diese Darstellung erst möglich wurde.

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tien - nicht stornierten, nachdem ihnen der Geschäftsverlauf des dritten Quartals bekannt war. Aus dem Unternehmen verlautete derweil, daß man keine Notwendigkeit für arbeitsrechtliche Maßnahmen sehe, da die Manager, die nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft über Insiderwissen verfügten, glaubhaft versichert hätten, sich nicht schuldhaft verhalten zu haben. Die drei Führungskräfte hätten der Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung der Geldbuße nur aus "Gründen der Räson" zugestimmt. Im Oktober 1998 stellte das Landgericht Frankfurt a.M. das Ermittlungsverfahren gegen den früheren Bauunternehmer und Immobilienspekulanten Dr. Jürgen Schneider wegen des Vorwurfs des Bankrotts (§ 283 StGB) ein. Zur Begründung hieß es, eine weitere Verhandlung gegen Schneider sei von dem beträchtlichen Aufwand her im Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe und der Verurteilung aus dem Jahre 1997 nicht zu rechtfertigen. Auch das Verfahren gegen Claudia Schneider-Granzow wegen Beihilfe zum Bankrott, das vorläufig eingestellt worden war, wurde schließlich endgültig eingestellt, nachdem Frau Schneider-Granzow die ihr erteilte Arbeitsauflage, 500 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten, vollständig erbracht hatte. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. hat im Dezember 1998 das Ermittlungsverfahren gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden und früheren Vorstandsvorsitzenden der Commerzbank AG Walter Seipp sowie die früheren leitenden Bankrnitarbeiter Heinz Borchert und Maximilian Kerchnawe wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) gemäß § 153 a StPO eingestellt. Zuvor verpflichteten sich die Beschuldigten zur Zahlung von insgesamt 1,2 Mio. DM an 40 gemeinnützige Einrichtungen. Ein Commerzbank-Sprecher betonte, die Zahlung der Bußgelder sei kein Schuldeingeständnis, sondern geschehe allein aus "verfahrensökonomischen Griinden". Das Landgericht Berlin hat das gerichtliche Zwischenverfahren gegen elf Manager der ehemaligen Thyssen AG kurz vor Weihnachten 1998 mit einer Einstellung nach § 153 a StPO abgeschlossen. Die wegen des Verdachts der Untreue (§ 266 StGB) im Dezember 1997 angeklagten Angeschuldigten mußten 8 Mio. DM an die Staatskasse und 2 Mio. DM an mehrere gemeinnützige Organisationen zahlen. Nach dem seinerzeit aktuellen Stand der Ermittlungen hätte eine Hauptverhandlung gegen den damaligen Vorstandsvorsitzenden Dieter Vogel u. a. mit hoher Wahrscheinlichkeit nur ein geringes Verschulden der elf Führungskräfte ergeben. Angesichts komplizierter Zusammenhänge hätte dieses Verfahren jedoch voraussichtlich mehr als zwei Jahre gedauert und eine hohe Bindung von Ressourcen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts bedeutet. Das Amtsgericht Düsseldorf hat im April 1999 im Steuerstrafverfahren gegen die noch amtierenden Vorstandsmitglieder der Dresdner Bank AG Hans-Jörg Platzek und Gerhard Eberstadt sowie die ehemaligen Vorstandsmitglieder Wolfgang Röller und Hans Adenauer das Verfahren gegen Geldauflagen von je 500.000 DM gemäß § 153 a StPO eingestellt. Nach Ansicht des Gerichts waren Mitglieder des

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Vorstands der Dresdner Bank AG entscheidend dafür verantwortlich, daß Kunden der Bank mit Hilfe von Mitarbeitern des Instituts über Jahre Geld anonym ins Auslang transferiert und Zinseinkünfte später nicht gegenüber den Finanzbehörden deklariert haben. Nach Schätzungen der Steuerfahndung wurden auf diese Weise im Zeitraum von 1992 bis 1996 Zinseinkünfte auf 5,1 Mrd. DM angelegtes Vermögen nicht der Besteuerung zugeführt. Es wird diesbezüglich mit einem Steuerausfall bei der Einkommensteuer von mehreren hundert Millionen Mark gerechnet. Die Neunte Große Strafkammer des Landgerichts Bielefeld hat am 23. Juni 1999 die Strafverfahren gegen zwei Manager des friiheren Sportboden-Herstellers Balsam AG, Dieter Ortlieb und Horst Bert Schultes, gemäß § 153 a StPO eingestellt. Den Angeklagten wurden Auflagen von jeweils 100.000 DM auferlegt. Der Hintergrund: Seit April 1996 mußten sich die Angeklagten wegen des Vorwurfs verantworten, mit Finanzmanipulationen und Betrügereien insgesamt 45 Banken um mindestens 1,3 Mrd. DM geschädigt zu haben. Der Angeklagte Schulte bezeichnete seine Zustimmung zur Einstellung des Strafverfahrens als "eine der schwersten Entscheidungen in meinem Leben; ... Ich habe kein Vertrauen mehr in den Rechtsstaat". Man habe keine Chance erhalten, sein Recht zu bekommen und stimme der Einstellung nur zu, um seiner Farnilie weiteres Leid zu ersparen. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. hat im Juni 1999 das Ermittlungsverfahren gegen sechs ehemalige Geschäftsführer von "Merrill Lynch" wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung (§§ 370 AO, 27 StGB) gemäß § 153 a StPO eingestellt. Die Beschuldigten mußten jeweils 450.000 DM zahlen, die in Teilbeträgen zu je 50.000 DM mehreren gemeinnützigen Einrichtungen zugute kommen sollten. Die Staatsanwaltschaft begriindete die Einstellung des Verfahrens "trotz des bestehenden generellen Beihilfeverdachts" mit der seinerzeit nicht vorhandenen Möglichkeit, den Mitarbeitern von "Merrill Lynch" konkrete Tatbeiträge mit hinreichender Sicherheit auch individuell zuzuordnen. Die Staatsanwaltschaft Mannheim hat das steuerrechtliche Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung (§§ 370 AO, 27 StGB) gegen Jose Carreras gemäß § 153 a StPO eingestellt. Carreras ist einer der "Drei Tenöre" und gelangte 1998 ins Visier der Ermittier. Die Konzerte der Tenöre und der Sopranistin Montserrat Caballe wurden von dem friiheren Konzertmanager Matthias Hoffmann organisiert, der am 22. Dezember 1998 vom Landgericht Mannheim wegen Steuerhinterziehung (§ 370 AO) und Betrugs (§ 263 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt worden war439 • Das Amtsgericht Mainz stellte am 16. Januar 2001 das Strafverfahren gegen den Börsenjournalisten Egbert Prior wegen des Verdachts des Kursbetruges (§ 88 BörsG) nach § 153 a StPO vorläufig ein und erteilte Prior die Auflage, 9.000 DM an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen. Prior war zur Last gelegt worden, 439 Der Bundesgerichtshojhat dieses Urteil jedoch am 5. April 2000 in Teilen wieder aufgehoben.

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während eines Fernsehauftritts am 24. Juli 1998 falsche Angaben zu aktuellen Entwicklungen des Medienunternehmens EM.TV & Merchandising AG gemacht zu haben, die geeignet waren, den Kurswert der Aktie zu beeinflussen. Am 2. März 2001 stimmte die 7. Große Strafkammer des Landgerichts Bonn dem Antrag der Bonner Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl wegen des Verdachts der Untreue gegen Zahlung einer Geldbuße von 300.000 DM zu. Innerhalb der aufwendigen Begründung dieser Entscheidung wurde von seiten des Gerichts insbesondere auf die Unverhältnismäßigkeit weiteren Ermittlungsaufwandes im Hinblick auf den Tatvorwurf abgestellt. Überdies stelle sich die Frage des "öffentlichen Interesses", da (selbst) die CDU offenbar kein Interesse mehr an einer Strafverfolgung habe und der materielle Schaden inzwischen wiedergutgemacht sei 44o • Es steht auch zu vermuten, daß nicht zuletzt die Tatsache, daß hinsichtlich des Vorwurfs der Untreue die Unmittelbarkeit des Schadens rechtlich fraglich und der Schädigungsvorsatz nur schwerlich anzunehmen war, die Einstellungsentscheidung begünstigt hat. Im Juli 2001 stehen nach Auskunft des Leitenden Oberstaatsanwalts Henke in Düsseldorf die steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gegen mehrere Vorstandsmitglieder und Direktoren der WestLB kurz vor dem Abschluß. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelt in diesem Fall seit 1996 wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung (§ 370 AO, § 27 StGB). Dabei sollen Mitarbeiter des Unternehmens vor Einführung der Quellensteuer im Jahre 1994 "an einer systematischen anonymisierten Vermögensverschiebung" von Kundengeldern des Instituts in einer Größenordnung von 1,2 Mrd. DM auf Konten in Luxemburg und in der Schweiz beteiligt gewesen sein, wodurch ein Steuerausfall von ca. 100 Mio. DM verursacht worden sein soll. Neben drei Strafbefehlen sowie einer Geldbuße, die gegen die Bank selbst verhängt werden soll, beabsichtigt die Staatsanwaltschaft, das Verfahren gegen den scheidenden Bankchef Friedel Neuber gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 300.000 DM, gegen vier weitere Vorstände gegen Zahlung einer Geldauflage von jeweils 150.000 DM an gemeinnützige Einrichtungen nach § 153 a StPO einzustellen. Das Amtsgericht Düsseldorf muß der Verfahrenseinstellung noch zustimmen. Im August 2001 stimmte die Staatsanwaltschaft München I einer Einstellung des Strafverfahrens gegen den 33-jährigen Fußball-Profi und dreifachen Familienvater Stefan Effenberg unter Erteilung von Auflagen nach § 153 a StPO ZU44I . Effenberg, dem zur Last gelegt wurde, daß er im Oktober des vergangenen Jahres in einer Münchener Nobel-Diskothek einer jungen Frau aus London im Rahmen einer Auseinandersetzung ins Gesicht geschlagen haben soll, entging auf diese Weise einer öffentlichen Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht München. Nachdem er wenige Wochen zuvor gegen einen Strafbefehl in derselben Sache in Höhe von 440 441

Frankfurter Allgemeine Zeitung vorn 3. 3. 200 1. Deutsche Presse-Agentur (dpa)-Meldung vorn 16. 08. 2001.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

400.000 DM Einspruch eingelegt hatte, muß der derzeitige Kapitän des Fe Bayern München nunmehr 125.000 DM an soziale Einrichtungen sowie 22.000 DM Schmerzensgeld an die junge Frau zahlen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft München I habe die betroffene Frau mehrfach deutlich ihr Interesse geäußert, "nicht in einer öffentlichen Hauptverhandlung auftreten zu müssen". Im August 2001 sind darüber hinaus nach fast dreijähriger Ermittlungsdauer die Strafverfahren gegen den ehemaligen Vorstandschef der Bayerischen Hypothekenund Wechselbank Eberhard Martini und andere Vorstände wegen des Verdachts der Untreue und der unrichtigen Bilanzdarstellung gegen Zahlung von insgesamt 3,1 Mio. DM eingestellt worden442 . Nach der Fusion mit der Bayerischen Vereinsbank im Jahre 1998 war entdeckt worden, daß die Risikovorsorge der Hypobank im Immobiliengeschäft um 3,7 Milliarden DM zu niedrig war. Die Staatsanwaltschaft München I teilte in diesem Zusammenhang mit, daß sich im Laufe der Ermittlungen bestätigt habe, daß die Angeschuldigten in den Jahresabschlüssen 1994 bis 1997 die Ertragslage der Bank zu günstig dargestellt, bilanzpolitische Sondermaßnahmen nicht offengelegt und darüber hinaus pflichtwidrige Immobilienkredite vergeben hätten, "für die von Anfang an nur unzureichende Sicherheiten vorlagen". Man habe allerdings nicht nachweisen können, daß die Vorstände den aus schlechten Immobiliengeschäften resultierenden erhöhten Wertberichtigungsbedarf "als zwingend erforderlich" erkannt hätten. Deswegen habe sich der Vorwurf der unrichtigen Darstellung "deutlich relativiert". Die Führungskräfte hätten zudem Kredite nur pflichtwidrig vergeben, weil sie besonders große Gewinne für das Unternehmen erwarteten und von 1992 an durch Stundungen und Aufstockungen Totalverluste vermeiden wollten. Den Vorwurf der Untreue habe man wegen der fehlenden Eigennützigkeit des Handeins der Angeschuldigten nicht länger aufrechterhalten können. Wenngleich das an dieser Stelle vermittelte Bild von der Rechtswirklichkeit allenfalls bruchstückhafter Natur sein kann, genügt es, um die Einwände gegen einen derartigen Umgang mit § 153 a StPO zu formulieren. Indem es aufgrund von Normstruktur und Anwendungsverhalten vorzugsweise einer sozial bessergestellten Tätergruppe ermöglicht wird, sich von Strafe regelrecht "freizukaufen,,443, steht neben dem Vorwurf einer der Gerechtigkeit abträglichen Ungleichbehandlung444 sowie einer Verletzung des Sozialstaatsprinzips445 - wonach ein Bedürfnis 442 Associated Press (AP)-MeIdung vom 27.8.2001; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 8. 2001; Reuters-Meldung vom 27. 8. 2001. 443 Vgl. zum ,,Freikaufverfahren" Schmidhäuser, JZ 1973, S. 529 ff.; ebenso Boxdorfer, NJW 1976, S. 318; Bruns, GS Kaufmann, S. 871; Dreher, FS Welzel, S. 939; Eisenberg, Kriminologie, S. 282; Hirsch, FS Lange, S. 823; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 181. 444 Hanack, FS Gallas, S. 358; Hirsch, FS Lange, S. 823; derselbe, ZStW 92 (1980), S. 229; derselbe, GS H.Kaufmann, S. 141; Kargl/Sinner, Jura 1998, S. 236; Kausch, S. 38 m. w. N.; Lange, FS Jahrreiß, S. 132; vgl. Müller, ZRP 1975, S. 55, der bei § 153a StPO von einem "Millionärsschutzparagraphen" spricht; Schirrmacher, S. 128; Schmidhäuser, JZ 1973, S. 535; Waller, DRiZ 1986, S. 49. Vgl. Krümpelmann (in: Die Bagatelldelikte, S. 226 ff.), der

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für "kompensatorischen Ausgleich von real unterschiedlicher Handlungsrnacht bei formaler Rechtsgleichheit,,446 besteht - des weiteren ein schwerwiegender Ansehensverlust der Strafrechtspflege447 und nicht zuletzt auch ein Verlust an Prävention bei der privilegierten Tätergruppe448 selbst zu befürchten. Ein "Freikauf von Strafe,,449, der zudem bevorzugt einem finanziell bessergestellten Täterkreis in Aussicht gestellt zu sein scheint450, vermittelt in der Öffentlichkeit das Bild eines ungerechten, "unwürdigen Feilschens um die Straffreiheit,,451 und beschädigt auf diese Weise Ansehen und Glaubwürdigkeit der Strafjustiz.

5. Die Wegbereitung zu einer VerfahrenseinsteUung nach § 153 a StPO durch "freiwillige" Vorleistungen Dritter

Eine Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO kann des weiteren dadurch begünstigt werden, daß zunächst nicht vom Beschuldigten, sondern von dritter Seite (Vor-)Leistungen erbracht werden452. Als Beispiele für "freiwillige" Drittleistunim Jahre 1966 in der sich seinerzeit eingebürgerten Praxis, die Einstellung des Verfahrens von einer Geldzahlung abhängig zu machen (dazu bereits oben "Teil 3.C.II."), einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz begründet sah. A.A. Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 499, die im Zusammenhang mit § 153a StPO angesichts der an den finanziellen Verhältnissen des Beschuldigten staffelbaren Zahlungsauflagen nicht von einem "Reichenprivileg" sprechen möchten; ebenso Meyer (Nachweis bei Weigend, ZStW 93 (1981), S. 1280). 445 Hanacle, FS Gallas, S. 349 f.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 67 f.; Schmidhäuser; JZ 1973, S. 536; vgl. auch Rieß, FS Schäfer, S. 183. 446 Rieß, FS Schäfer, S. 183. Zu den unterschiedlichen Ausprägungen des Sozialstaatsprinzips im Strafverfahren vgl. auch Engels/Frister; ZRP 1981, S. 116. Danach komme dem Sozialstaatsprinzip - neben der staatlichen Verpflichtung zu Vor- und Fürsorge für besonders hilfsbedürftige Gruppen der Gesellschaft - die weitere Bedeutung eines Gebots zu, ,,neben der rechtlichen auch die faktische Chancengleichheit zu verwirklichen". 447 Vgl. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 227; Arzt, JZ 1976, S. 55; Dencker; JZ 1973, S. 147; Hanack, FS Gallas, S. 358; Hirsch, FS Lange, S. 824; Kausch, S. 38 m. w. N.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 62; Meinberg, Kriminalistik 1989, S. 18; Schmidhäuser; JZ 1973, S. 534, 536. Zur teilweise harten Kritik am Einstellungsbeschluß im sog. Contergan- Veifahren (LG Aachen, JZ 1971, S. 507 ff.; dazu bereits oben "Teil 3.B.III.1.a)bb)"), wo in den Pressestimmen von einem ,,Fiasko der Justiz", einer "Parodie auf den Rechtsstaat", einem ,,kläglichen Finale" u.ä. die Rede war, und dabei insbesondere auch die Möglichkeit angeprangert wurde, "Schuld durch Geld aufzuheben", vgl. Bruns, FS Maurach, S. 469 f. Zuvor hatte bereits im Jahre 1962 das LG Köln (NJW 1962, S. 1024 f.) die zur damaligen Zeit gängige Praxis, die Einstellung des Verfahrens von der Kostenübernahme oder einer Geldbußenzahlung durch den Angeklagten abhängig zu machen, mit Blick auf den dadurch entstehenden negativen Eindruck, der Staat lasse sich seinen Strafanspruch nur um den Preis der Kostenerstattung oder anderer fiskalischer Vorteile "abkaufen", gerügt. 448 Hanacle, FS Gallas, S. 358; Lange, FS Jahrreiß, S. 132; Waller; DRiZ 1986, S. 49, 53. 449 Kausch, S. 38. 450 Zum Vorwurf der "Klassenjustiz" vgl. Hirsch, FS Lange, S. 823 f. m. w. N.; Lange, FS Jahrreiß, S. 132; Meinberg, Kriminalistik 1989, S. 18. 451 Kunz, Bagatellprinzip, S. 62.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

gen, die den Weg zu einer Verfahrenseinstellung ebnen sollen, benennt Dahs453 "eine im Hinblick auf den Umweltschutz erwünschte Sanierung (ohne daß der kritische Zustand strafrechtlich faßbar wäre), Versetzung eines leitenden Mitarbeiters oder gar sein Ausscheiden aus dem Betrieb, Änderungen in strukturellen oder organisatorischen Abläufen, sogar die Zurücknahme von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln in verwaltungsrechtlichen Verfahren, Korrektur rechtsbedenklicher oder notleidend gewordener Vertragsverhältnisse u.ä.". Durch Vorleistungen dieser Art werde das öffentliche Interesse an der Fortführung des Strafverfahrens mitunter so weit reduziert, daß im Anschluß § 153 a StPO mit seinem Individualbezug auf den Beschuldigten oder Angeklagten zur Anwendung kommen könne454 . 6. Die Beeinflussung staatsanwaltlicher Einstellungsentscheidungen durch Behörden oder die Politik aus kriminalpolitischem Kalkül oder aus außerrechtlichen Gründen

Staatsanwaltschaftliche Einstellungsentscheidungen im Opportunitätsbereich können zudem im Einzelfall durch politisch geleitete Zweckmäßigkeitsüberlegungen beeinflußt sein455 , wenn es beispielsweise darum geht, auf der Ebene der Strafverfolgung aktive Kriminalpolitik zu betreiben 456 oder aber politisch unpopuläre Bloßstellungen von Personen des öffentlichen Lebens, wie sie infolge ihrer "Vorführung" im Rahmen einer Hauptverhandlung zu befürchten wären, durch eine frühzeitige Beendigung des Verfahrens zu verhindem 457 . Zu befürchten steht daher zum einen, daß opportunitätsgeprägte Einstellungsvorschriften wie die §§ 153 ff. StPO - sozusagen als "scheinbar rechtsstaatliche Hülle,,458 - zielorientiert instrumentalisiert werden, um "wechselnde kriminalpolitische und materiell-rechtliche Wertentscheidungen in das Prozeßrecht zu transformieren,,459. Unabhängig von materieller Gesetzgebung kann auf diese Weise allein Dahs, NJW 1996, S. 1192. Dahs, NJW 1996, S. 1192. 454 Dahs, NJW 1996, S. 1192. 455 Hirsch, GS H.Kaufmann, S. 161 Fn. 85; Schultz/Leppin, Jura 1981, S. 534. Zur Kritik des Deutschen Richterbundes im Vorfeld des Rechtspflegeentlastungsgesetzes an der dort 452 453

geplanten Ausweitung der zustimmungsfreien Einstellungskompetenz der Staatsanwaltschaft - insbesondere im Hinblick auf die dadurch erweiterten Möglichkeiten politischer Einflußnahme - vgl. DRiZ 1991, S. 296. Zu politisch motivierten Zweckmäßigkeitserwägungen als "Quelle für größte Unzuträglichkeiten" vgl. bereits Schmidt, Strafprozeßrecht I, S. 166. 456 Backes, KritV 1986, S. 341 m. w. N.; Ellscheid, Strafrechtsentwicklung, S. 79 ff.; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 229; Naucke, Modemes Strafrecht, S. 152 f.; Pott, S. 103 ff.; vgl. auch Heinitz, FS Rittler, S. 331 Fn. 33. 457 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 323; Dahs, NJW 1996, S. 1192; Waller, DRiZ 1986, S. 52. Zum Vorwurf, die Staatsanwaltschaft folge blind den politischen Intentionen ihrer Regierung, vgl. bereits Wagner, FS für den 45.DJT, S. 158 f. 458 Backes, KritV 1986, S. 341. 459 Rieß, NStZ 1981, S. 7 Fn. 76.

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durch das opportunistisch-selektive Vorgehen im Verfahren eine gegenwärtige innenpolitische Strömung bedient und das Fähnlein der Entscheidung am Wind zeitaktueller Bedürfnisse ausgerichtet werden. Eine weitere Mißbrauchsmöglichkeit im Zusammenhang mit opportunem Strafverfolgungshandeln ist zudem im Hinblick darauf eröffnet, daß sowohl von behördlicher- als auch von politischer Seite Versuche unternommen werden können, Amts- und Mandatsträgern den eigentlich gebotenen Auftritt in der Öffentlichkeit einer strafrechtlichen Hauptverhandlung zu ersparen460 oder aber, im umgekehrten Fall, die Sache trotz Vorliegens der Einstellungsvoraussetzungen zur Hauptverhandlung zu bringen, um mißliebige Personen des Zeitgeschehens öffentlich zu diskreditieren46l . Neben der Weite des Beurteilungsspielraums ist bei opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschriften insbesondere das ministerielle Weisungsrecht ein Einfallstor für eine administrativ-politisch motivierte Beeinflussung der Justiz462 . Erscheint es aus kriminalpolitischem Kalkül opportun, können die politisch jeweils Herrschenden durch entsprechenden Weisungserlaß ohne die Zwänge formeller Gesetzgebungsabläufe auf die Exekutivspitze und damit auch auf die gesamte Rechtsanwendungsebene durchgreifen. Dabei kommt ihnen die monokratisch-hierarchische Struktur der Staatsanwaltschaft im allgemeinen und das externe Weisungsrecht der Justizminister und der Justizverwaltungen nach § 147 GVG im besonderen zugute. So handelt der einzelne Staatsanwalt stets als Vertreter seines Vorgesetzten (§ 144 GVG), der ihm gegenüber weisungsbefugt ist (§ 146 GVG) und der des weiteren ein Devolutions- und Substitutionsrecht (§ 145 I GVG) innehat, kraft dessen er die Bearbeitung eines Falls dem sachbearbeitenden Staatsanwalt entziehen und die weitere Bearbeitung selbst übernehmen oder an einen anderen Staatsanwalt delegieren kann. Gemäß § 147 Nr. 3 GVG ist der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht unmittelbarer Vorgesetzter der Leitenden Oberstaatsanwälte bei den Landgerichten und hat darüber hinaus das Weisungs-, Devolutions- und Substitutionsrecht gegenüber allen Staatsanwälten des gesamten Oberlandesgerichtsbezirks inne (§ 145 I GVG). Dem Generalstaatsanwalt übergeordnet ist gemäß § 147 Nr. 2 GVG die jeweilige Landesjustizverwaltung, mit der Folge, daß der Justizminister oder der Justizsenator eines Landes weisungsbefugt gegenüber dem Generalstaatsanwalt ist und zudem über die Person des Generalstaatsanwalts einzelne Staatsanwälte des Landes anweisen oder das Substitutionsrecht an sich ziehen kann463 . Dahs, NJW 1996, S. 1192; Waller, DRiZ 1986, S. 52. Waller, DRiZ 1986, S. 52. 462 Vgl. dazu Ellscheid, Strafrechtsentwicklung, S. 83; Geisler, ZStW 93 (1981), S. 1145; Krey/Pjöhler, NStZ 1985, S. 150; Neumann, Vom unmöglichen Zustand, S. 197; Pott, S. 103 f. 463 Ein eigenes Substitutionsrecht des Iustizministers ist mit Blick auf den Wortlaut des § 145 GVG, der insoweit nur von den "ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten" spricht, umstritten, vgl. Ellscheid, Strafrechtsentwicklung, S. 84 m. w. N. Ein Devolutionsrecht steht dem Iustizminister dagegen in keinem Fall zu; vgl. hierzu Fezer, Strafprozeßrecht, S. 18. Zu beachten ist weiterhin, daß auf Bundesebene der Bundesjustizminister Vorgesetzter des Generalbundesanwalts sowie aller Bundes460

461

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Durch die externe Weisungs- und Substitutionsbefugnis des lustizministers wird nunmehr "die in der Hand des Generalstaatsanwalts gebündelte Steuerungsmacht im Vorverfahren auf die Regierungsebene gehoben,,464 und in die Hand eines Funktionsträgers gelegt, der "naturgemäß stärker auch politischen Einflüssen ausgesetzt (ist): Man denke nur an politische Abhängigkeiten vom Regierungschef bzw. vom Kabinett, von Regierungsfraktionen, von der eigenen Partei, vom Koalitionspartner, von Parteien, die eine Minderheitsregierung ,dulden', von Interessenverbänden u.ä. ,,465. Bereits diese institutionelle Möglichkeit, in politisch bedeutsamen Verdachtsfällen auf die staatsanwaltschaftliche Strafverfolgung stätigkeit Einfluß nehmen zu können, gebietet es aus rechtsstaatlicher Sicht, die normativen Einfallstore so weit wie möglich verschlossen zu halten. Die Weisungsfähigkeit der Merkmalsausfüllung in den §§ 153 ff. StPO, die nicht bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil es sich etwa um Ermessensvorschriften handeln würde466 , verlangt nach einer Verengung des Beurteilungsspielraums und einer legislatorischen Anleitung des Rechtsanwenders. Die de lege lata vorhandene inhaltliche Weite der Opportunitätsvoraussetzungen lädt dagegen zu Weisungen ein. Für diesen Fall aber besteht die zuvor skizzierte Gefahr einer Instrumentalisierung des Strafverfahrensrechts zugunsten politischer Entscheidungen. Letztere müssen im Rechtsstaat jedoch grundsätzlich auf der Gesetzgebungsebene fallen und nicht auf der - insoweit Neutralität gebietenden - Gesetzesanwendungsebene. Dazu heißt es bei Ellscheid467 : "Die Durchsetzung der Strafrechtsordnung hat grundsätzlich mit politischer Gestaltung nichts zu tun ... Eine zweite Ebene der Kriminalpolitik unterhalb der Ebene des Gesetzes darf es ... grundsätzlich nicht geben." Die gegenwärtig weiten Handlungsspielanwälte ist (vgl. § 147 Nr. 1 GVG), wobei im Zuständigkeitsbereich des Generalbundesanwalts der § 153a StPO praktisch keine größere Rolle spielt. 464 Ellscheid, Strafrechtsentwicklung, S. 83. 465 Krey/ Pföhler, NStZ 1985, S. 147. Des weiteren trägt die Figur des politischen Beamten - wenn man denn von ihr beim Amt des Generalstaatsanwalts oder des Generalbundesanwalts Gebrauch macht - zur Bindung der Staatsanwaltschaft an die Regierungsgewalt bei. Dazu schreibt Ellscheid (in: Strafrechtsentwicklung, S. 83): "Indem man den Generalbundesanwalt oder den Generalstaatsanwalt zum politischen Beamten macht, erhält man die Möglichkeit, die monokratische Spitze der StA jederzeit durch Versetzung des etwa unliebsamen leitenden Beamten in den einstweiligen Ruhestand auszuwechseln. Diese Technik, die StA an die Regierungsgewalt zu binden, ist verräterisch, weil politischer Beamter nach dem Beamtenrechtsrahmengesetz (§ 31 I) nur sein soll, wer bei seiner Amtsausführung in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen muß. Schon beamtenrechtlich betrachtet ist der politische Beamte eine Anomalie, weil er eine Ausnahme vom Verfassungsprinzip der Politikunabhängigkeit des Beamten ist." Vgl. dazu auch Krey/ Pföhler, NStZ 1985, S. 147. 466 So könnte eine Weisungsgebundenheit im Rahmen des Opportunitätsprinzips per se ausgeschlossen sein, wenn man in den §§ 153 ff. StPO Ermessensvorschriften erblicken wollte, vgl. Fezer, Strafprozeßrecht, S. 20. Dazu, daß dem Rechtsanwender in den §§ 153 ff. StPO kein Ermessen eingeräumt ist, vgl. bereits oben "Teil3.B.I." sowie "TeiI3.C.I.". 467 Ellscheid, Strafrechtsentwicklung, S. 82.

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räume der Staatsanwaltschaft sind jedoch nicht dazu angetan, politischen Einfluß von opportunitätsgeprägten Exekutiventscheidungen ferzuhalten.

7. Die VerfahrenseinsteUung gegen einzelne Beschuldigte nach § 153 a StPO als probates Mittel der Staatsanwaltschaft zur "ZeugenbeschatTung"

Ein weiteres Einsatzgebiet des "Allheilmittel(s),,468 § 153 aStPO, das von Dahs469 aufgezeigt wird, erinnert aufgrund seiner Funktionsweise an eine "verkappte Kronzeugenreglung,,47o. Der Vorwurf lautet in etwa folgendermaßen: In Strafverfahren gegen mehrere Beschuldigte ließen sich mitunter im Wege vereinzelter Verfahrenseinstellungen nach § 153 a StPO wertvolle Zeugen gewinnen, die dann infolge des Verlustes ihres Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO für Aussagen gegen die übrigen Betroffenen zur Verfügung stehen würden. Angesichts der Verkehrung des Gesetzeszwecks erscheint eine solche ,,zeugenbeschaffungsmaßnahme" der Staatsanwaltschaft jedoch als ein Vorgehen contra legern.

8. Ergebnis

Der weite Entscheidungsspielraum, der dem jeweiligen Rechtsanwender bei der Ausfüllung der Anwendungsmerkmale des § 153 a StPO eröffnet ist, gefahrdet den Gleichbehandlungsgrundsatz und das Rechtssicherheitsgebot. Einer willkürlichen oder gar mißbräuchlichen Handhabung der Vorschrift im Anschluß an die Verwendung objektiv sachwidriger Entscheidungskriterien ist durch den weiten Tatbestand der Norm Tür und Tor geöffnet. Man bedient sich der opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschrift des § 153 a StPO als ein "Allheilmittel" der Strafrechtspflege, dessen konturenloses Anwendungsprofil eine Projektionsfläche für verschiedene Zweckmäßigkeitserwägungen bietet. Ein Großteil der vorgenannten Kriterien, die im einzelnen eine Einstellungsentscheidung beeinflussen können, überzeugt dabei aus rechtsstaatlicher Sicht wenig. Hier schließt sich der Kreis im Hinblick auf Art. 3 I GG: Unsachliche und außerrechtliche Entscheidungsmotive führen in der Konsequenz zu einer Gesetzesanwendung, die im Lichte des Verfassungspostulats der Gleichheit vor dem Gesetz über weite Strecken als fragwürdig angesehen werden muß.

Dahs, NJW 1996, S. 1192. Dahs, NJW 1996, S. 1192. 470 Dahs, NJW 1996, S. 1192. Vgl. zum ähnlich gelagerten Fall des § 154 StPO unten "Teil3.G.". 468 469

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

IV. Vereinbarkeit der in § 153 a I StPO getroffenen Regelung mit dem verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungsprinzip, insbesondere der Monopolisierung der rechtsprechenden Gewalt bei den Gerichten (Art. 92,2011 S. 2 GG) Die in § 153 a I StPO zugunsten der Staatsanwaltschaft getroffene Regelung der (autonomen) Verfahrensbeendigung unter Verknüpfung der Einstellungsentscheidung mit der Erfüllung von Auflagen und Weisungen könnte des weiteren problematisch im Hinblick auf die von Verfassungs wegen vorgesehene Teilung der Staatsrnacht in drei Teilgewalten sein. Nachdem bereits Art. I III GG von der Ausübung der Staatsgewalt durch drei Teilgewalten ausgeht, legt Art. 20 11 S. 2 GG deren Aufteilung auf die Funktionsträger fest: "Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt." Durch Art. 79 III GG mit absoluter Bestandsgarantie ausgestattet, gilt der Gewaltenteilungsgrundsatz als eine der "großen Konstanten in den freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnungen der Neuzeit,,471 und wird weiterhin anerkennend als das ,,hervorstechendste Kennzeichen des modernen Verfassungsstaates"472, als "überzeitliches Phänomen,,473, als "Kernstück der rechtsstaatlichen Verfassung"474, als "tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes,,475 und schließlich als "die höchste Norm des deutschen organisatorischen Staatsrechts"476 bezeichnet. Als "eine der zentralsten Entscheidungen über den Aufbau der Staatsorganisation und zugleich über die innerstaatliche Zuständigkeitsordnung,,477 soll das verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsprinzip einen Mißbrauch staatlicher Macht mit den Mitteln gegenseitiger Hemmung und Kontrolle abwehren und so zur Freiheitssicherung der Bürger beitragen478 . Indem jeder Teilgewalt nur ein begrenzter Ausschnitt der gesamten staatlichen Machtbefugnisse zugewiesen und diese Sektion des weiteren der Kontrolle und Korrektur durch eine andere Staatsgewalt unterworfen wird, entsteht ein System von "checks and balances,,479, das den Mißbrauch staatlicher Macht verhindern soll. Bei Konflikten mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz stehen zumeist Kompetenzen der verschiedenen Staatsorgane miteinander im Streit. So liegt ein Verstoß gegen Art. 20 11 S. 2 GG nach herkömmlicher Ansicht dann vor, wenn eine der Teilgewalten eine Aufgabe wahr471

472

473 474 475 476 477 478

479

Nachweis bei Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 144 Fn. 7. Nachweis bei Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 144 Fn. 8. Nachweis bei Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 144 Fn. 9. Nachweis bei Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 144 Fn. 10. BVerfGE 3, 225 (247); 34, 52 (59). Nachweis bei Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 144 Fn. 11. Maunz/Dürig-Herzog, GG, Art. 20 Rn. 1. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 146 ff. m. w. N. Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 147 Fn. 34.

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nimmt, die aufgrund der Trennung staatlicher Machtbefugnisse in den alleinigen Kompetenzbereich einer anderen Gewalt fällt. Möglicherweise nimmt nun die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Verfahrenseinstellungen nach § 153 a I StPO Kompetenzen wahr, die ihr nach diesem Verständnis von Gewaltenteilung nicht zustehen.

1. Die Ausübung "quasi-richterlicher" Befugnisse durch die Staatsanwaltschaft bei der Verfahrenseinstellung unter gleichzeitiger Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 a I StPO

Verfahrenseinstellungen nach § 153 a I StPO durch die Staatsanwaltschaft könnten gegen das Rechtsprechungsmonopol der Richter in Art. 92 GG verstoßen, das als Konkretisierung des Gewaltenteilungsgrundsatzes in Art. 2011 S. 2 GG480 ein Verbot für nichtrichterliche Organe normiert, Rechtsprechungsgewalt auszuüben. Mit den staatsanwaltschaftlichen Einstellungsbefugnissen nach § 153 alStPO könnte der einfache Gesetzgeber eine Kompetenz auf die Staatsanwaltschaft übertragen haben, die ihrem Wesen nach Rechtsprechung und somit durch Art. 92 GG ausschließlich den Richtern als den Organen, die verfassungsunmittelbar mit der Wahrnehmung der Rechtsprechungsaufgaben betraut sind, zugewiesen ist. Neben der Möglichkeit zur teilweise autonomen Verfahrensbeendigung ist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die staatsanwaltschaftliche Ermächtigung hinzuweisen, die Einstellung des Verfahrens mit der Verhängung von Auflagen und Weisungen zu verknüpfen481 • Zur Überprüfung des Gehalts der Vorwürfe ist zunächst der Umfang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsprechungsmonopols zu bestimmen. Dabei erschwert, daß Art. 92 GG selbst keine Definition der rechtsprechenden Gewalt gibt und auch sonst die Verfassung zu Inhalt und Umfang des Rechtsprechungsbegriffs schweigt. Die Abgrenzungskriterien sind demzufolge erwartungsgemäß strittig482 • Die erste grundlegende Weichenstellung dürfte bei der Frage nach einem formellen oder einem materiellen Rechtsprechungsbegriff erfolgen. Dreier-Schulze-Fielitz. GG, Art. 92, Rn. 16; v.Münch-Meyer, GG, Art. 92 Rn. 3. In diesem Zusammenhang wirft Kausch (S. 58 ff.) die Frage auf, ob nicht bereits aus der Tatsache, daß die Norm des § 153a StPO Ausfluß des Opportunitätsgedankens sei, folgen müsse, daß eine Verfahrenseinstellung unter Auflagen und Weisungen per se als unzulässig zu erachten sei. So könne die Ausnahme von einer Rechtspflicht (hier: Legalitätsprinzip) nur dazu berechtigen, die Handlungen, die den Inhalt dieser Pflicht ausmachen, zu unterlassen, nicht jedoch zu weitergehenden Handlungen ermächtigen. Das Opportunitätsprinzip enthalte demzufolge als Ausnahme von einer strikten Verfolgungs- und Anklagepflicht ausschließlich die Kompetenz zur folgenlosen Verfahrensbeendigung. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis nimmt Kausch (S. 62) eine neue Einordnung der Vorschrift vor: Es handle sich bei § 153a StPO nicht um eine Erweiterung der Opportunität, sondern vielmehr um einen neuen, eigenständigen Verfahrenstypus. Vgl. dazu auch Kunz, Bagatellprinzip, S. 59, der Kausch insoweit zustimmt und § 153a StPO als ein "Ahndungsverfahren qualitativ eigener Art" bezeichnet. 482 Schmidt-BleibtreuIKlein, GG, Art. 92 Rn. 2 m. w. N. 480

481

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a) Dispositionsbejugnis des Gesetzgebers über Inhalt und Umfang der Rechtsprechungstätigkeit - Der formelle Rechtsprechungsbegrijf Möglicherweise ist die der Staatsanwaltschaft in § 153 a I StPO vom Gesetzgeber zugewiesene Tatigkeit der Verfahrenseinstellung unter Verhängung von Auflagen und Weisungen bereits deshalb keine "Rechtsprechung" im verfassungsrechtlichen Sinne, weil am Ende nur das als "Rechtsprechung" anzusehen ist, was den Richtern formell durch Gesetz an Aufgaben zugewiesen wird483 . Zur Begründung dieser schlicht formellen Betrachtungsweise wird bisweilen ein historisches Argument bemüht: Sowohl die Paulskirchenverfassung von 1848, die Reichsverfassung von 1871 als auch die Weimarer Verfassung interpretierten den Begriff "rechtsprechende Gewalt" als die Summe der den Spruchgerichten zugewiesenen Funktionen484 . Dieser Annahme zufolge ist die in § 153 aI StPO vorgenommene Kompetenzzuweisung im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechtsprechungsmonopols der Gerichte unbedenklich; sie werden erst gar nicht tangiert. Einem Rechtsprechungsbegriff, der sich auf die Aufzählung der Gesamtheit aller den Richtern einfach-gesetzlich zugewiesenen Aufgaben beschränkt, wird heute jedoch mit beachtlichen Argumenten entgegengetreten. Ein rein formelles Verständnis vom Rechtsprechungsbegriff degradiere Art. 92 GG zu einer bloßen Organisationsnorm mit tautologischem Inhalt485 : "Alle Aufgaben, die den Richtern durch Gesetz zugewiesen werden, sind den Richtern anvertraut,,486. Der insoweit inhaltsleere Rechtsprechungsbegriff stünde unter einem Gesetzesvorbehalt, dessen Ausfüllung - allenfalls noch durch sonstige Verfassungsnormen begrenzt - weitgehend in das Belieben des einfachen Gesetzgebers gestellt wäre487 . Tritt nun aber die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung mit dem Vorhaben gegenseitiger Machthemmung und -kontrolle an, so erscheint eine Auslegung des Rechtsprechungsbegriffs in Art. 92 GG, die sich in einer überflüssigen Deklaration von etwas Selbstverständlichem erschöpft und zudem mit der Legislative einer weiteren Teilgewalt ein hohes Maß an Definitionsmacht einräumt, zum Zwecke wirksamer Freiheitssicherung definitiv als zu dürftig488 . Schlimmer noch: "Die Kontrolle wäre weitgehend ihrer Wirksamkeit beraubt, wenn eine der kontrollierten Staatsgewalten den Bereich des zu Kontrollierenden festlegen dürfte,,489. Die zur Kontrolle 483 Nachweise für diese Ansicht finden sich bei Kausch, S. 71 Fn. 2; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 165 Fn. 162; Kunz, Bagatellprinzip, S. 85 Fn. 142. 484 Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 92 Rn. 2. 485 Kausch, S. 74 m. w. N.; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 166 m. w. N.; Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 92 Rn. 2. 486 Ule, JZ 1958, S. 628 f.; zitiert nach Achterberg, Funktionenlehre, S. 99. 487 Dreier-Schulze-Fielitz, GG, Art. 92 Rn. 24 m. w. N.; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 166; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 92 Rn. 2. 488 V gl. Kausch, S. 71 ff. 489 Kausch, S. 73.

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von Legislative und Exekutive berufene Rechtsprechung könnte ihre Aufgabe im Rahmen der Gewaltenteilung nicht effektiv ausüben, wenn die Legislative über den Aufgabenbereich der Dritten Gewalt zu befinden hätte. Eine rein formelle Begriffsbestimmung der rechtsprechenden Gewalt würde die verfassungsrechtlich intendierte Kontrolle weitestgehend sinnentleeren.

b) Der materielle Inhalt des Rechtsprechungsbegrijfs Angesichts dieser Unzulänglichkeiten ist daher nach heutiger h.M. "Rechtsprechung" nicht bloß organisatorisch-formell, sondern vielmehr inhaltlich-materiell zu bestimmen490 • Hiernach garantiert Art. 92 GG einen eigenständigen, originärverfassungsrechtlichen Sachgehalt, der nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht. Unabhängig von einer gesetzgeberischen Zuweisung gibt es nach diesem Verständnis von "Rechtsprechung" einen aus positiven und überpositiven Verfassungsprinzipien herzuleitenden Grundbestand richterlicher Kompetenzzuweisung491 • Versuche seitens der Wissenschaft und der Literatur, diesen Bereich alleiniger Kompetenz der Dritten Gewalt zu umschreiben, sind reich an Zahl und arm an zufriedenstellenden Ergebnissen. Oft scheitern sie bereits daran, daß sie allein auf die vorhandene verfassungspositivistische Aufgabenbeschreibung abstellen492 und dabei übersehen, daß von Verfassungs wegen zugewiesene richterliche Aufgaben noch nicht zwingend auch rechtsprechende Aufgaben sein müssen493 . Weder Art. 92 GG noch Art. 20 11 S. 2 GG verbieten es, die Richterschaft mit Aufgaben zu betrauen, die außerhalb ihrer rechtsprechenden Tätigkeit liegen. Dies jedenfalls so lange nicht, wie diese Kompetenzzuweisung nicht ihrerseits in den alleinigen Zuständigkeitsbereich einer anderen Teilgewalt eingreift494 • Umgekehrt erscheint es beinahe selbstverständlich, die tradierten Kernbereiche der Rechtsprechung, namentlich bürgerliche Rechtspflege und Strafgerichtsbarkeit, als vom Rechtsprechungsbegriff umfaßt anzusehen, obgleich das Grundgesetz hierzu wiederum schweigt495 • Benannt werden derweil zahlreiche materielle Kriterien, bei deren 490 BVerfGE 22, 49 (73 ff.); 22, 125 (131 ff.); 22, 311 (317); Kausch, S. 74 f. m. w. N.; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 166 m. w. N.; v.Münch-Meyer, GG, Art. 92 Rn. 6, 7; Schmidt-BleibtreuIKlein. GG, Art. 92 Rn. 4 m. w. N.; weitere Nachweise bei Kunz. Bagatellprinzip, S. 85 Fn. 143. 491 Kunz. Bagatellprinzip, S. 85. 492 Kausch. S. 81 ff.; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 175. 493 Dreier-Schulze-Fielitz. GG, Art. 92 Rn. 25; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 174. 494 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 174 f. 495 Vgl. hierzu Cordier, NJW 1967, S. 2141, der darauf abstellt, daß die Verfasser des Grundgesetzes seinerzeit eine besondere Definition der "traditionellen Kembereiche der Rechtsprechung" als Verkörperung rechtsprechender Gewalt aufgrund der Selbstverständlichkeit dieser Inhaltsbeschreibung für überflüssig erachtet hätten.

14*

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Vorliegen eine den Gerichten zugewiesene Tatigkeit ihrem Wesen nach als Rechtsprechung zu qualifizieren sei496 • So wird des öfteren auf das Kriterium der Rechtskraftfähigkeit einer Entscheidung als rechtsprechungswesentlich und damit allein den Richtern anvertraut abgehoben497 . Bereits die Tatsache, daß auch Verwaltungsakte der Exekutive in Bestandskraft erwachsen und demzufolge in ähnlicher Weise Letztverbindlichkeit erlangen können wie rechtskräftige Gerichtsentscheidungen, offenbart die Schwäche dieses Abgrenzungskriteriums498 . Im übrigen stünde auch hier erneut der Umfang rechtsprechender Gewalt zur Disposition des einfachen Gesetzgebers, der es in der Hand hätte, den Bereich der Rechtskraftwirkung zu definieren499 . Auch das äußere Erscheinungsbild einer Entscheidung im gerichtlichen Veifahren 500 dürfte als alleiniges Wesensmerkmal rechtsprechender Tatigkeit aus den gleichen Griinden unhaltbar sein. Ware das richtig, würde es auch hier der Legislative zukommen, eine Staatstätigkeit durch Vorgabe eines typisch richterlichen Verfahrensrahmens als eine solche der Dritten Gewalt zu qualifizieren 50I • Bei aller Schwierigkeit, eine taugliche Definition von "Rechtsprechung" zu finden, hält Kausch502 es dennoch nicht für ausgeschlossen, für einen konkreten Aufgabenbereich mit himeichender Sicherheit zu klären, ob er zur Rechtsprechung im Sinne von Art. 92 GG zählt oder nicht. Zu diesem Zweck schlägt er einen Rückgriff auf die Griinde vor, die zur Etablierung der Rechtsprechung als einer eigenständigen Gewalt mit einem autonomen Aufgabenbereich geführt haben, und fragt, wann es Machthemmung und Freiheitssicherung erfordern, daß staatliche Machtausübung nur aufgrund richterlicher Entscheidungen erfolgen darf503 . Unter einer ähnlichen Prämisse hat das Bundesveifassungsgerich,s04 jedenfalls den Kembereich der Strafgerichtsbarkeit zum verfassungsrechtlich-originären und somit für den Gesetzgeber unverfügbaren Bereich rechtsprechender Gewalt im Sinne von Art. 92 GG erklärt. Es schließt sich demzufolge die Frage an, was nun im einzel496 Vgl. beispielsweise Dreier-Schulze-Fielitz. GG, Art. 92 Rn. 25; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 169 ff. 497 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 171 Fn. 206; ebenso Dreier-Schulze-Fielitz. GG, Art. 92 Rn. 25. 498 Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 172; a.A. insoweit Dreier-Schulze-Fielitz. GG, Art. 92 Rn. 26 m. w. N. 499 Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 172 m. w. N. 500 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 172 Fn. 212; ebenso Dreier-Schulze-Fielitz. GG, Art. 92 Rn. 25. 501 Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 172 f. Weitere allgemeine Kriterien für die Qualifizierung einer Staatstätigkeit als "Rechtsprechung" im Sinne von Art. 92 GG finden sich bei Koller a. a. 0., S. 166 ff. Ein Überblick über die kaum noch überschaubare Flut von Definitionsversuchen findet sich zudem bei Kausch. S. 76 Fn. 17. 502 Kausch. S. 83. 503 Vgl. Kausch. S. 83. 504 BVerfGE 22, 49 (73 ff.); 27, 18 (28). Ebenso BGHZ 82, 34 (40); vgl. des weiteren Dreier-Schulze-Fielitz. GG, Art. 92 Rn. 31 m. w. N.

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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nen zum "Kernbereich" strafrechtlicher Rechtsprechungstätigkeit zu zählen ist, und ob die in § 153 aI StPO an die Staatsanwaltschaft delegierten Kompetenzen dazu gehören.

aa) Konkretisierung der Strafrechtsnormen Zum nicht entziehbaren Kernbereich strafrechtlicher Rechtsprechungstätigkeit könnte zunächst ganz allgemein die Anwendung solcher Strafrechtsnormen gehören, bei deren konkretisierender Auslegung Strafzumessungserwägungen eine Rolle spielen und zu deren gleichmäßiger Anwendung die Erarbeitung einheitlicher Maßstäbe erforderlich ist505 . Sieht man unter Gleichmäßigkeitsgesichtspunkten in Art. 92 GG eine Verantwortlichkeit der Richter für die Auslegung der Strafrechtsnormen im Ganzen begründet506, könnte dadurch, daß die Staatsanwaltschaft über § 153 a I StPO einen Großteil von Vergehenstatbeständen bereits in einem frühen Verfahrensstadium ausfiltern, d. h. einer präventiven richterlichen Behandlung entziehen und damit endgültig aus dem Diskussionszusammenhang herausnehmen kann, die Konsistenz der Strafrechtsordnung insgesamt in Frage gestellt sein 507 • Wird das potentielle Spektrum richterlicher Kontrolle durch die im Auslegungswege vorgenommene Negativabgrenzung der Staatsanwaltschaft derart verengt, d. h. werden dem Richter im Vergehensbereich nur noch Entscheidungen von einem gewissen Schweregrad anvertraut, entsteht für ihn unweigerlich ein verzerrtes Bild von der Rechtswirklichkeit und die Wahrung von Rechtseinheit und Einzelfallgerechtigkeit scheint gefährdet. Man könnte demzufolge in Art. 92 GG eine Alleinverantwortlichkeit des Richters für die Konkretisierung der Strafrechtsnormen insgesamt hineinlesen und damit der staatsanwaltschaftlichen Einstellungstätigkeit nach § 153 alStPO bereits aus diesem Grunde eine verfassungsrechtlich fundierte Absage erteilen. So heißt es bei Kausch 508 : "Daraus, daß Einzelfallgerechtigkeit ohne Wahrung von Rechtseinheit nicht möglich ist, ergibt sich also, daß Art. 92 GG im Strafrecht der Rechtsprechung nicht nur Entscheidungen von einem gewissen Schweregrad anvertraut, sondern auch die Wahrung der Rechtseinheit. Daraus folgt, daß es ein Verstoß gegen Art. 92 GG ist, wenn die von der Staatsanwaltschaft nach § 153a behandelten Fälle der Beurteilung der Rechtsprechung entzogen werden." Demgegenüber weist Weigend509 darauf hin, daß bei konsequenter Weiterverfolgung dieser These ,jede Entscheidung über die Anwendung oder Nichtanwendung einer Strafnorm, also auch die übrigen in der StPO vorgesehenen Formen der Verfahrenseinstellung, insbesondere diejenige nach § 170 Abs. 2 StPO, den

505 506

507 508 509

Kausch, S. 133 ff. Vgl. Kausch, S. 141 ff. Kausch, S. 218. Kausch, S. 218. Vgl. auch Kunz, Bagatellprinzip, S. 103 ff. Weigend, KrimJourn. 1984, S. 14.

214

3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Gerichten vorbehalten bleiben müßte, da auch sie eine Interpretation der (nicht) angewandten Strafnorm implizieren".

bb) Verhängung von Kriminalstrafen Über die letztverbindliche Entscheidung bei einer Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 11 S. 2 GG hinaus hat das Bundesveifassungsgericht das richterliche Monopol ganz allgemein auf die Verhängung von Kriminalstrafen - einschließlich der Geldstrafen - ausgedehnt und zum Kernbereich der Strafgerichtsbarkeit erklärt5\O. Es hat dies damit begründet, daß solche Strafen besonders nachhaltig in die Rechtsstellung des Bürgers eingreifen würden und mit einem schwerwiegenden ethischen Schuldvorwurf verbunden seien511 . Die Kriminalstrafe beinhalte ein "ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil", durch das dem Täter die "Auflehnung gegen die staatliche Rechtsordnung in einem grundsätzlichen mit fehlerhafter Persönlichkeitshaltung zusammenhängenden Sinne zur Last gelegt (werde),,5J2. Maßnahmen aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht hingegen solle ,,Ernst" und "Makel,,513 der staatlichen Strafe fehlen, so daß die staatliche Reaktion auf ordnungswidriges Verhalten nicht dem Richter vorbehalten bleiben müsse. Anders verhalte es sich jedoch nach Ansicht des Bundesveifassungsgerichts bei Strafrechtssanktionen aufgrund von "bedeutsamen Unrechtstatbeständen,,514: deren Verhängung gehöre dem "Kernbereich" strafrechtlicher Rechtsprechungstätigkeit an und dürfe mit Blick auf Art. 92, 20 11 S. 2 GG den Richtern nicht entzogen werden. Entscheidend für die Frage, ob die in § 153 alStPO gewählte Form der staatlichen Reaktion auf deliktisches Verhalten in den Kernbereich des Rechtsprechungsmonopols des Art. 92 GG einzuordnen ist und demzufolge aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht dem Kompetenzbereich der Staatsanwaltschaft zufallen darf, ist nach alledem die Bestimmung des Rechtscharakters der Auflagen und Weisungen in § 153 aI StPO.

510

BVerfGE 22, 49 (80); zuvor bereits BVerfGE 8, 197 (207); vgl. auch Dreier-Schulze-

Fielitz, GG, Art. 92 Rn. 32 m. w. N.; v.Münch-Meyer. GG, Art. 92 Rn. 14.

511 BVerfGE 8, 197 (207); 22, 49 (79 f.); 27, 18 (28 f.); 27, 36 (40); 45, 272 (288 f.). m BVerfGE 9, 167 (171); 22, 49 (80); 27, 19 (33). 513 BVerfGE 8,197 (207); 9,167 (171); 22, 49 (79). Gleiches gilt im Grundsatz für gebührenpflichtige Verwarnungen (BVerfGE 22, 125 (131)), Disziplinarstrafen (BVerfGE 22,311 (317)) und ganz allgemein für sonstige Vorwürfe eines schuldhaft pflichtwidrigen Verhaltens (BVerfGE 12,264 (274)). Die vonnals bei Ordnungswidrigkeiten zur Rechtfertigung verwaltungsrechtlicher Sanktionierungskompetenzen herangezogene Begründung eines qualitativen Unterschieds zum Unrecht der eigentlichen Krirninaldelikte (vgl. BVerfGE 9, 167 (171)) dürfte derweil nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Die aufweisbare Differenz ist allein quantitativer Natur (vgl. dazu auch unten "TeilS.B.rn.3."). 514 BVerfGE 22, 49 (81); 22, 125 (132 f.); 23, 113 (126); 27, 18 (28); 64, 261 (294).

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

215

(1) Rechtscharakter der Auflagen und Weisungen in § 153 a 1 StPO

Zunächst einmal ist festzustellen, daß zumindest der Sanktionscharakter der Auflagen und Weisungen in § 153 a I StPO der mittlerweile ganz herrschenden Meinung in Wissenschaft und Literatur entsprechen dürfte 515 . Gestützt wird diese Auffassung nicht zuletzt durch die amtliche Begründung des Gesetzentwurfs 516 sowie durch einen systematischen Vergleich der in § 153 a I StPO niedergelegten Auflagen mit den Bewährungsauflagen im Sinne von § 56 b StGB, deren Sanktionscharakter wiederum nicht ernsthaft bestritten werden kann517 • Uneinigkeit herrscht jedoch bei der Frage, ob es sich bei den Auflagen und Weisungen in § 153 alStPO darüber hinaus um (echte) Kriminalstrafen handelt. Der Gesetzgeber bietet dabei eine Definition von "Strafe" nicht an. Die Zahl derer, die Auflagen und Weisungen nach § 153 alStPO als Sanktionen besonderer, nicht strafrechtlicher Art ansehen, ist groß, ihre Argumente sind vielfaltig 518 . So wird bei der Verneinung des Strafcharakters u. a. darauf abgestellt, daß die besagten Sanktionen zuständigkeitsgemäß nicht vom Richter verhängt 515 Bandemer, NStZ 1988, S. 298 ff.; Dencker, JZ 1973, S. 149; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 22; Geppert, Jura 1986, S. 315; Gössel, FS Diinnebier, S. 138; Hanack, FS Gallas, S. 350; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 224; derselbe, GS H.Kaufmann, S. 142; Kargl/Sinner, Jura 1998, S. 235; Kausch, S. 56 m. w. N.; Kerl, ZRP 1986, S. 315; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153a Rn. 12; Kühne, S. 242; Kunz, Bagatellprinzip, S. 59; LR-Rieß, § 153a Rn. 8; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 9 m. w. N.; Paschmanns, S. 166; Pott, S. 90 Fn. 461; Rieß, FG Koch, S. 218 Fn. 21 m. w. N.; Rieß, FS Schäfer, S. 194; Rudolphi, ZRP 1976, S. 168; Schirrmacher, S. 138; Schmidhäuser, JZ 1973, S. 534; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 78; Wolter, GA 1985, S. 65; derselbe, Strafprozeßreform, S. 61. A.A. Dreher, FS Welzel, S. 939; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 920. 516 BT-Drs. 7/550, S. 298; vgl. dazu Dencker, JZ 1973, S. 149; ebenso Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 224. Daß der Gesetzgeber mit § 153a StPO eine Sanktionierungsmöglichkeit schaffen wollte, verrät auch eine Formulierung aus den Protokollen des Sonderausschusses, wo eine Auflage in § 153a StPO als "eine Sanktion ohne strafrechtliche Verurteilung" bezeichnet wird (SA Strafrecht, 7.Wahlp., Prot., S. 281; Nachweis bei Kausch, S. 55 Fn. 47). 517 Kausch, S. 52 ff.; Schirrmacher, S. 131 ff. Der Sanktionscharakter der Bewährungsauflagen nach § 56b StGB ergibt sich aus ihrer Substitutionsfunktion für die repressive Kriminalstrafe (vgl. Schirrmacher, S. 131 m. w. N.; ebenso Kausch, S. 53 f.). Mit ihnen werden Strafzwecke verfolgt; sie dienen, so ausdriicklich Abs. 1 S. 1, "der Genugtuung für das begangene Unrecht". Neben der Sühnefunktion soll durch die Verknüpfung der Strafaussetzung zur Bewährung mit einer Auflage sowohl beim Täter (spezialpräventiv) als auch in der Öffentlichkeit (generalpräventiv) der Eindruck vermieden werden, "Strafaussetzung zur Bewährung bedeute praktisch Straffreiheit und sei gegenüber einer Geldstrafe die mildere Sanktion"; Kausch, S. 54 m. w. N. Die Vergleichbarkeit mit dem Verfahren nach § 153a StPO ergebe sich nun daraus, daß auch mit den Auflagen und Weisungen nach § 153a I StPO Strafzwecke verfolgt würden: Denn schließlich müßten diese Maßnahmen geeignet sein, das "öffentliche Interesse" - insoweit Sammelbegriff aller Strafzwecke - zu beseitigen; vgl. Kausch, S. 54 f. 518 Vgl. neben den im Anschluß genannten Autoren auch AK-Schöch, § 153a Rn. 1; Krey, S. 78 m. w. N.; Rieß, FS Schäfer, S. 199; Fischer, StGB, Vor § 38 Rn. 3; Wolter, Strafprozeßreform, S. 61.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

würden 519, daß zudem am Ende kein Schuldspruch erfolge520 und daß deswegen auch kein für den Beschuldigten mit diskriminierender Wirkung behaftetes autoritatives, ethisches Unwerturteil über die Tat gefällt werden würde521 . Des weiteren verbleibe dem Betroffenen bei Auflagen und Weisungen nach § 153 aI StPO bis zuletzt die Möglichkeit der Nichterfüllung, so daß es an der für Kriminalstrafen charakteristischen zwangsweisen Durchsetzbarkeit der verhängten Sanktionen fehle 522 . Vielmehr garantiere die anfängliche Zustimmungspflicht seitens des Beschuldigten die Freiwilligkeit seiner (Gegen-)Leistungserbringung523 , zumal für den Fall der Nichterfüllung eine spätere Umwandlung der verhängten Auflagen und Weisungen in eine zwangsweise durchsetzbare Freiheitsstrafe nicht möglich sei524 . Der fehlende Strafcharakter einer Sanktion nach § 153 a I StPO ergebe sich zudem daraus, daß der mit Auflagen und Weisungen Belegte im Hinblick auf die fehlende Bundeszentralregistereintragung weiterhin als "nicht vorbestraft" ge1te 525 . Und schließlich habe man § 153 a StPO mit seinem besonderen Sanktionsarsenal nicht zuletzt deshalb etabliert, um "Strafe" im Einzelfall durch eine andersartige, eben nichtstrafrechtliche Sanktion zu ersetzen526 • Der Chor derer, die eine kritische Auseinandersetzung mit den vorgenannten Kriterien, die allesamt zur Ablehnung eines strafrechtlichen Charakters der Sanktionen in § 153 aI StPO herangezogen werden, pflegen, ist nicht minder vielstimmig. Zutreffend wird dabei die oft rein formalistische Ausrichtung der Argumentation bemängelt. So steht insbesondere die Tatsache, daß die Auflagen und Weisungen bei einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a I StPO nicht vom Richter aufgrund eines formalen Schuldspruchs, sondern vielmehr informell durch den Staatsanwalt verhängt werden, einer rechtlichen Qualifizierung dieser Sanktionen als (Kriminal-)Strafen - oder zumindest als strafähnliche Maßnahmen - nicht entPott, S. 90 Fn. 461; vgl. auch Schirrmacher, S. 130. BGHSt. 28, 174 (176); LR-Rieß, § 153a Rn. 9; Teske, wistra 1989, S. 132; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 80; derselbe, KrirnJoum. 1984, S. 16. 521 BVerfGE 22, 49 (80); Keller/Schmid, wistra 1984, S. 204; LR-Rieß, § 153a Rn. 9; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 80; derselbe, KrirnJoum. 1984, S. 16. 522 Dreher, FS Welzel, S. 938 f.; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 33; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 472; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153a Rn. 12 m. w. N.; LR-Rieß, § 153a Rn. 9; Paschmanns, S. 167; vgl. auch Schirrmacher, S. 130 Fn. 6. 523 BGHSt. 28, 174 (176); Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 499; Dreher, FS Welzel, S. 939; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 33; Gössel, FS Dünnebier, S. 138; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 920; Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153a Rn. 12; LR-Rieß, § 153a Rn. 9; Ulsenheimer, Arztstrafrecht, S. 348. Zur Freiwilligkeit der Sanktionserbringung vgl. auch SA Strafrecht, l.Bericht, BT-Drs. 7/1261, S. 28. 524 Teske, wistra 1989, S. 132. 525 Geppert, Jura 1986, S. 315; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 472; Kausch, S. 101; Paschmanns, S. 167; Teske, wistra 1989, S. 132. Vgl. dazu auch unten "TeiI3.DX.". 526 Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 472. Hierbei gilt es zu beachten, daß die in Nr. 1 und Nr. 4 normierten Auflagen als zivilrechtliche Rechtsfolgen wohl unproblematisch sind. Diese Auflagenformen spielen jedoch in der Praxis eine bloß untergeordnete Rolle (vgl. dazu unten "Teil3.DXI."). 519

520

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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gegen. Vielmehr ergibt sich aus dieser einfach-gesetzlichen Zuständigkeitsregelung unter Umständen am Ende eine Kritk an der lex lata, die eine solche Praxis vorsieht. Richtig ist daher der umgekehrte Weg: gerade weil es sich bei den Auflagen und Weisungen in § 153 aI StPO (möglicherweise) um Strafen oder strafähnliche Sanktionen handelt, müßte ihrer Verhängung ein richterlicher Schuldspruch vorausgehen. Wer dagegen den Strafcharakter der Weisungen und Auflagen allein deshalb verneint, "weil eine Strafe ausschließlich von dem dafür zuständigen Gericht nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Verfahrens ausgesprochen werden darf,527, verwechselt Ursache und Wirkung. Demzufolge muß bei der Bestimmung des Rechtscharakters der Auflagen und Weisungen in § 153 a StPO zunächst materiell bestimmt werden, ob die zu qualifizierende Sanktion Strafcharakter aufweist, und erst im Anschluß daran ist zu fragen, ob dem nach der gegenwärtigen Gesetzeslage zur Sanktionierung vorgesehenen Organ eine entsprechende Kompetenz auch aus verfassungsrechtlicher Sicht zukommt. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert: Das Bundesveifassungsgericht hatte als Merkmale kriminalstrafrechtlicher Sanktionierung die "Schwere des Eingriffs,,528 und das in der Kriminalstrafe enthaltene "ehrenrührige, autoritative Unwerturteil"529 benannt. Bevor man jetzt aber daran geht, im Zusammenhang mit einer Sanktionierung nach § 153 aI StPO vorschnell die Abwesenheit eines solchen diskriminierenden Unwerturteils zu betonen, sollte man zuvor bedenken, daß aus der subjektiven Sicht des Betroffenen die Belastung, die beispielsweise mit einer repressiv wirkenden Geldauflage nach § 153 a I Nr. 2 StPO einhergeht, regelmäßig als ein gegenüber einer entsprechenden richterlich verhängten Geldstrafe nicht minder diskriminierendes Übel empfunden werden wird53o. Zur insoweit vergleichbaren sozialen Mißbilligung konstatiert Herrmann531 : "Jede Art von Aussonderung und Sonderbehandlung, die aufgrund von negativen Auslesekriterien erfolgt, mindert das gesellschaftliche Ansehen des Betroffenen. An einen Rechtsverstoß anknüpfende repressive Maßnahmen, die von der Gesellschaft nicht negativ bewertet werden, dürfte es kaum geben". So könne nicht übersehen werden, "daß es für den Betroffenen häufig kaum von Bedeutung sein mag, ob die ihm aufer527 So Pott, S. 90 Fn. 461. Ein vergleichbarer Zirkelschluß droht zudem, wenn man einen Strafcharakter der Sanktionen in § 153a StPO mit dem Argument verneint, eine "Strafe" komme schon deshalb nicht in Betracht, weil ansonsten die Unschulds vermutung verletzt sei. Auch hier kann es nur heißen: wenn es sich bei den Auflagen und Weisungen inhaltlich um Strafen oder strafähnliche Maßnahmen handeln sollte und diese - was unstreitig der Fall ist ohne vorausgegangenen richterlichen Schuldspruch verhängt werden, dann ist die Unschuldsvermutung verletzt; vgl. dazu im einzelnen unten "Teil3.D.VI.". 528 BVerfGE 22, 49 (77). 529 BVerfGE 22, 49 (80); 27, 19 (33). 530 Vgl. dazu Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 490; Deutscher Richterbund, DRiZ 1996, S. 155; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 463; Lampe, Wiedervereinigung I, S. 80; Paschmanns, S. 168; Rieß, FG Koch, S. 218; Schirrmacher; S. 140 Fn. 60; Walter; ZStW 95 (1983), S. 56. 531 Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 462.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

legte Geldleistung als Geldbuße oder als Geldstrafe qualifiziert ist"S32. Die für die Verhängung einer Kriminalstrafe charakteristische Diskriminierungswirkung kann für den nach § 153 a I StPO infonnell Sanktionierten des weiteren darin begriindet sein, daß ihm durch diese Art der Verfahrenserledigung unzulässigerweise die Möglichkeit eines Freispruchs oder zumindest aber ein justiziabler, richterlicher Schuldspruch vorenthalten wird s33 . Bei der Bestimmung des Strafcharakters einer staatlichen Sanktionierungsmaßnahme scheint es demnach mit einer bloßen "Umetikettierung", wie sie zur argumentativen Begriindung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit vorgenommen wird, nicht getan zu sein. Einzig der Inhalt und die materielle Wirkung, nicht jedoch die bloße Bezeichnung, bestimmen über die pönale Rechtsnatur einer staatlichen SanktionS34 . Das Jonglieren mit bloßen Begrifflichkeiten ist indes nicht mehr als "Augenwischerei"s3s. Wäre "Strafe" am Ende nur das, was "Strafe" genannt wird, stünde die Festlegung von "Strafe" - mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen - erneut zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Des weiteren verfangt auch das häufig vorgetragene Argument der "Freiwilligkeit" nicht. Der Umstand, daß Staatsanwaltschaft und Gericht den Beschuldigten weder zur Annahme noch zur Erfüllung der Auflagen und Weisungen zwingen können, ändert nichts daran, daß es sich hier um einen "tatbezogenen Ausgleich mit strafrechtlichem Ahndungsgehalt handelt"S36. Insbesondere läßt sich aus dem Zustimmungserfordernis des Beschuldigten, gerade auch im Hinblick auf das sonst drohende Strafverfahren mit seinem ungewissen Ausgang und seinen nur schwer kalkulierbaren Risiken und Nachteilen, keine "Freiwilligkeit" herleiten s37 . Vielmehr verbannt ein Blick auf diese Alternative zur "freiwilligen" Zustimmung und einer späteren "freiwilligen" Auflagenerfüllung den Glauben an die "Freiwilligkeit" der Beschuldigtenhandlungen im Rahmen von § 153 a StPO in das Reich der Fiktion. Versteht man unter ,,Freiwilligkeit" eine ethisch motivierte, autonome Ent532 Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 463. Zur vermutlich identischen Wahrnehmung von "Geldstrafe" und "Geldauflage" seitens der Bevölkerung vgl. auch Kerl, ZRP 1986, S. 315: "Viel wahrscheinlicher ist, daß lediglich der (Straf-)Jurist seine in die Wolle gefärbte Sensibilität für den dogmatischen Unterschied zwischen Geldstrafe und -auflage auf den Nichtjuristen projiziert." Vgl. dazu auch Cordier; NJW 1967, S. 2143. 533 Zur Frage eines effektiven Rechtsschutzes bei Verfahrenseinstellungen nach § 153a StPO vgl. im einzelnen unten "Teil 3.D.V.". 534 Hirsch, FS Engisch, S. 304 ff.; derselbe, FS Lange, S. 824 Fn. 29; vgl. ferner Cordier; NJW 1967, S. 2143; Dencker; JZ 1973, S. 150; ebenso Kunz, Bagatellprinzip, S. 87; Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 567. 535 Lampe, Wiedervereinigung I, S. 80. 536 Kunz, Bagatellprinzip, S. 60. Zur vergleichbaren Drucksituation bei der Erfüllung der Bewährungsauflagen angesichts der Widerrufsmöglichkeit nach 56 f. StGB vgl. Schirrmaeher; S. 133 f. 531 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 224; Freund, GA 1995, S. 16; Kausch, S. 56; Paschmanns, S. 168 f.; Walter; ZStW 95 (1983), S. 58 Fn. 89; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 26; vgl. auch Schlothauer; StV 1982, S. 452.

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scheidung des Einzelnen538 , wird man bei der "Wahl zwischen zwei ihn treffenden Übeln,,539 - namentlich der Übernahme einer Leistungsverpflichtung auf der einen, und der Erduldung eines Strafprozesses mit ungewissem Ausgang auf der anderen Seite - nur schwerlich von einer solchen sprechen können. Nur so läßt sich am Ende auch die - insoweit folgerichtige, aber - unbillige Konsequenz vermeiden, im Rahmen einer Erpressung nach § 253 StGB hinsichtlich der abgenötigten Handlung eine Freiwilligkeit des Erpressungsopfers anzunehmen. Und auch der Hinweis auf die Intention des Gesetzgebers, dergestalt, daß mit den Sanktionen in § 153 alStPO gerade Alternativen zur Kriminalstrafe geschaffen werden sollen, vermag den nichtstrafrechtlichen Charakter der Auflagen und Weisungen nicht überzeugend zu begriinden. Die gewünschte Andersartigkeit einer Sanktion ergibt sich zum einen nicht bereits aus der gesetzgeberischen Motivation in Verbindung mit der anschließenden Etikettierung, sondern allein durch ihre tatsächliche Wirkung für den Betroffenen540 . Zum anderen kann dieses urspriingliche Motiv des Gesetzgebers, in § 153 a StPO eine adäquat abgestufte staatliche Reaktion auf bedingt bagatellarische Verhaltensweisen zu etablieren 541 , mit Blick auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs inf01ge der Änderung der Schuldklausei im Jahre 1993 mittlerweile getrost als hinfallig bezeichnet werden. Für einen Strafcharakter der Auflagen und Weisungen in § 153 aI StPO und damitfür eine alleinige Verhängungskompetenz zugunsten der rechtsprechenden Gewalt spricht hingegen, daß die besagten Sanktionen an echte (Kriminal-)Straftaten anknüpfen, die eben nicht - wie aber beispielsweise die Ordnungswidrigkeiten - in 538 Vgl. Schirrmacher, S. 134. Die Gegenauffassung läßt derweil eine sog. "eingriffsmildernde Einwilligung" genügen, um weiterhin von einer freiwilligen Handlung des Betroffenen sprechen zu können. Der Einwilligende entscheide sich hiernach aus freien Stücken für die Preisgabe eines Rechtsguts, um vor dem legitimen staatlichen Zwang ein anderes zu retten, das ihm I?ersönlich wertvoller als das aufgeopferte erscheine. Könne er auf diese Weise ein größeres Ubel verhindern, werde der Freiwilligkeit der Entscheidung nichts genommen; vgl. dazu die Nachweise bei Schirrmacher, S. 135; ebenso Weigend, KrimJourn. 1984, S. 27 m.w.N. 539 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 224, der zudem auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 22, 49 (72» zum früheren steuerrechtlichen Unterwerfungsverfahren hinweist, bei der das Gericht betont habe, "daß die Zustimmung des Betroffenen in solchen Fällen nichts anderes bedeutet als die Hinnahme einer als unvermeidlich erkannten Sanktion, nämlich einer zwangsweise verhängten Rechtsfolge" (Hirsch a. a. 0., S. 224). Zustimmung und Auflagenerfüllung werden schließlich auch dadurch nicht "freiwilliger", daß man unterstellt, der wahrhaft Unschuldige brauche sich ja schließlich nicht auf eine solche Vereinbarung mit der Justiz einzulassen, da er den Ausgang des Verfahrens nicht zu fürchten habe. Diese Ansicht läßt außer acht, daß ein Strafverfahren - ganz gleich, welches Ende es nimmt - stets eine psychische und finanzielle Belastung für den Beschuldigten darstellt, so daß ihm auch im Falle tatsächlicher Unschuld in aller Regel an der frühstrnöglichen Beendigung des Verfahrens gelegen sein dürfte. Zur ,,Freiwilligkeit" aus dieser Sicht vgl. im einzelnen "Teil 3.D.VII.". 540 Walter, ZStW 95 (1983), S. 56; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 17 Fn. 17. 541 Dazu oben "Teil3.C.III.1.".

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Ansehung eines quantitativ geringeren Beachtlichkeitsgrades aus dem Kriminalstrafrecht ausgegliedert worden sind542 . Insofern verfängt auch die Argumentation nicht, die zur verfassungsrechtlichen Legitimation der staatsanwaltschaftlichen Sanktionskompetenz in § 153 a I StPO eine Parallele zur nichtrichterlichen Bußgeldverhängungskompetenz auf ordnungswidrigkeitsrechtlicher Ebene ziehen will. Indem die Auflagen und Weisungen in § 153 a I StPO das "öffentliche Interesse" an einer weiteren StrajVerfolgung beseitigen sollen, verfolgen sie - wie bereits gesehen543 - Straftwecke. Neben Aspekten der Spezial- und Generalprävention ist es die unrechtsausgleichende Wirkung der Auflagen und Weisungen 544 , die den durch die Straftat entstandenen Straftmspruch des Staates kompensieren soll. Dazu Kargl / Sinner545 : "Die Sanktionen des § 153 a StPO nehmen ... den relativen, ausgleichenden und gewaltbegrenzenden Zug der Strafe im engeren Sinne ein." Dienen die Auflagen und Weisungen demzufolge objektiv als Ersatz für den staatlichen Strafanspruch546, d. h. übernehmen sie ,,reibungslos die Funktion von Kriminalstrafen,,547, dann scheint es naheliegend, ihnen zumindest einen strafähnlichen Charakter zuzuschreiben548 . (2) Ergebnis

Auflagen und Weisungen in § 153 a I StPO dienen der Ahndung von - vermuteten - Kriminalstraftaten und sind jedenfalls strafähnlich, sie kommen materiell der Kriminalstrafe sehr nahe. Die Sanktionierung des Beschuldigten mit den in § 153 a I StPO vorgesehenen Maßnahmen gehört aus diesem Grund zum Kernbereich strafrechtlicher Rechtsprechungstätigkeit und fällt somit von Verfassungs wegen in den alleinigen Kompetenzbereich der Dritten Gewalt. Die Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 a I StPO ist materiell "Rechtsprechung" und demzufolge nach Art. 2011 S. 2, 92 GG ausschließlich den Richtern anvertraut549 . 542 Kausch, S. 102; vgl. auch Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 231. Zu beachten ist an dieser Stelle erneut, daß es im Rahmen von § 153a StPO längst nicht mehr nur um bedingt bagatellarische Verhaltensweisen geht, so daß die vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Sanktionsgewalt der Verwaltung im Bereich der Ordnungswidrigkeiten (BVerfGE 8, 197 (207 f.); 22,49 (81); 27, 18 (30); 45, 272 (288 f.» hier heute in keinster Weise als taugliches Argument zur Legitimation einer Verlagerung richterlicher Befugnisse auf die Verwaltung herangezogen werden kann. Darüber hinaus kann auch eine nichtrichterliche Sanktionskompetenz im Bereich der Ordnungswidrigkeiten Bedenken im Hinblick auf Art. 92 GG hervorrufen; vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 177. 543 Dazu oben "Tei13.D.I.2.b)". Vgl. auch Kausch, S. 54 f. 544 Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153a Rn. 12 m. w. N.; Kühne, S. 244. 545 Kargl/Sinner, Jura 1998, S. 235. 546 Deutscher Richterbund, DRiZ 1996, S. 155. 547 Kausch, S. 57. Vgl. auch Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 567. 548 Bandemer, NStZ 1988, S. 298; Kausch, S. 57; vgl. auch Paschmanns, S. 169. 549 Dieses Ergebnis wird weiterhin dadurch bestätigt, daß in vergleichbaren Fällen - auch einfachgesetzlich - stets eine Alleinzuständigkeit des Richters begründet ist: Dies gilt für die

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cc) Mögliche Verfassungskonfonnität der Ausübung rechtsprechender Gewaltdurch die Staatsanwaltschaft Wenn nun nach dem oben gefundenen Ergebnis die Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 alStPO alleinige Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt ist, ließe sich das drohende Urteil einer Verfassungswidrigkeit der lex lata nur dann abwenden, wenn man entweder die Institution Staatsanwaltschaft organisatorisch-systematisch in die Dritte Gewalt eingliedern könnte, so daß "Rechtsprechung" schon keine für sie wesensfremde Tätigkeit mehr darstellen würde, oder aber, und das wäre der zweite hier angedachte Weg, wenn das zumindest partiell in § 153 aI StPO vorgesehene Zustimmungserfordernis der Gerichte als insoweit ausreichende Beteiligung der Judikative anzusehen wäre. (1) Die organisatorisch-systematische Einordnung der Institution Staatsanwaltschaft

Wenngleich eine direkte Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Judikative heute kaum noch vertreten wird55o, betonen andererseits zahlreiche Autoren mit recht unterschiedlichen Argumenten deren enge Verklammerung mit der Dritten Gewalt, um durch diese "Liaison" die ansonsten verfassungsrechtlich problematische Rechtsprechungstätigkeit der Staatsanwaltschaft im Rahmen von § 153 a I StPO zu legitimieren. So wird zu diesem Zwecke beispielsweise die historische Verbundenheit der Anklagebehörde mit der rechtsprechenden Gewalt hervorgehoben551 . Andere stellen wiederum auf einen institutionell verstandenen Richterbegriff in Art. 92 GG ab, wonach der Verfassungsgeber seinerzeit den Staatsanwalt in Art. 92 GG "mitgemeint" und ihn nur nicht explizit erwähnt habe552 • Des weiteren wird auf Parallelen im Bildungsniveau von Richter und Staatsanwalt553 , im zugewiesenen Aufgabenfeld 554, in der Zielrichtung ihrer Tätigkeit555 sowie innerhalb ihrer verfassungsrechtlichen Bindungen hingewiesen, durch die sich die Nähe beider Organe dokumentiere 556 • Auch die Arbeit des zur Mitwirkung an der RechtAuflagen nach § 56b 11 Nr. 1- 3 StGB (vergleichbar mit § 153a I Nr. 1- 3 StPO) sowie die Weisung nach § 56c 11 Nr. 5 StGB (vergleichbar mit § 153a I Nr. 4 StPO) ebenso, wie für die Auflagenverhängung nach § 59a StGB, die nach §§ 23, 15 JGG und schließlich die Möglichkeit, Weisungen nach § 10 JGG zu erteilen. In all den genannten Fällen ist allein der Richter zuständig. Warum das bei § 153 alStPO plötzlich anders sein sollte, ist unklar. 550 Vgl. die Nachweise bei Bottke, GA 1980, S. 301 Fn. 20; ebenso bei Döhring, S. 45 FO.139. 551 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 70 Fo. 227, 228, 229. 552 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 35 m. w. N. 553 Nachweis bei Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 38 Fo. 19. 554 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 43 für die Tätigkeit des Ermittiuogsrichters. 555 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 37 f. ID. W. N. 556 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 38 ID. w. N.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

sprechung berufenen Staatsanwalts sei "vom richterlichen Geist" getragen. Seine Tätigkeit habe das gleiche Ziel wie die des Richters: die Ermittlung der objektiven Wahrheit bei gleichzeitiger Wahrung von Gesetz und Recht557 . Alles in allem handle es sich bei der Institution Staatsanwaltschaft um eine der Rechtsprechung zugeordnete, wenngleich von ihr unabhängige Justizbehörde 558 oder, mit anderen Worten: um ein den Gerichten gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege 559 • Gerade bei den zuletzt genannten Klassifizierungsversuchen ist die Vagheit der verwandten Begriffe in besonderem Maße auffällig. So wird in diesem Zusammenhang stets vermieden, von "Einordnung" der Staatsanwaltschaft in die Dritte Gewalt zu sprechen. Viel lieber greift man auf insoweit weichere Umschreibungen wie funktioneller und organisatorischer ,,zuordnung" oder "Gleichordnung" zurück und vermeidet so eine ungewollte Festlegung auf ein wohl nicht haltbares Ergebnis: die Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Dritte Gewalt560 . Indem man weiterhin die Institution Staatsanwaltschaft zur (Straf-)"Rechtspflege" zählt, bedient man sich eines Oberbegriffs, der für die verfassungsrechtliche Problematik zwar unschädlich aber zugleich wenig nützlich ist. Die Gleichsetzung von "Rechtspflege" und "Rechtsprechung" funktioniert nämlich nicht: So ist auch der Rechtsanwalt, der in keiner Weise staatliche Gewalt ausübt, nach § 1 BRAO ein "Organ der Rechtspflege". Zur "Rechtspflege" gehören des weiteren Notare, Rechtspfleger, Urkundsbeamte u. a., ohne daß sie jedoch Angehörige der Dritten Gewalt wären. "Rechtspflege" ist kein Begriff der Gewaltenteilung, sondern umfaßt in einem übergeordneten Rahmen alle Tätigkeiten, die mit der Durchsetzung und Verwirklichung des Rechts im Sinne einer "Rechtsforsorge" befaßt sind561 . Ein Organ der "Rechtspflege", wie es die Staatsanwaltschaft durchaus sein mag, kann dann auch ohne weiteres der Exekutive angehören. 557 Verweis auf Deutscher Richterbund, DRiZ 1954, S. 150 sowie 1955, S. 255 f. bei Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 37 Fn. 18 bzw. S. 38 Fn. 22. 558 Rieß, FS-Schäfer, S. 196. 559 Bottke, GA 1980, S. 311; Geppert, Jura 1982, S. 146; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 96; KreylPföhler, NStZ 1985, S. 146; LR-Rieß, § 152 Rn. 4; Sarstedt, NJW 1964, S. 1753. 560 Vgl. dazu Sarstedt, NJW 1964, S. 1753 f., der in einem anschaulichen Vergleich auf die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ,,zugehörigkeit" hinweist: "Der Staatsanwalt ,gehört' zur Rechtsprechung, wie der Mann zu seiner Frau ,gehört' ... er hat vieles mit ihr gemeinsam, beide ergänzen einander, keiner ist mehr als der andere, sie bilden zusammen einen Begriff (,Ehepaar' - ,Justiz') ... aber er ist kein Teil von ihr. Er gehört nicht zu ihr, wie der Mann zur Familie ,gehört' ... Wenn mit dem ,Dazugehören' ausgedrückt werden soll, daß der Staatsanwalt eine Art von Richter sei, ,auch' ein Richter, ,wie' ein Richter - dann wird es falsch." 561 Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 60 f. m. w. N. Aus diesem Grunde ist auch nicht jede richterliche Tätigkeit notwendigerweise eine ,,rechtsprechende", so daß aus der Ähnlichkeit gewisser richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Tätigkeiten (als Beispiel diene die Tätigkeit des Ermittlungsrichters) nicht geschlossen werden kann, daß wiederum alles, was der Staatsanwalt an mit richterlichen Aufgaben Vergleichbarem wahrnimmt, rechtsprechender Natur ist und er demzufolge auch der Dritten Gewalt angehört. Vielfach nehmen Richter eben auch solche Aufgaben wahr, die für die rechtsprechende Gewalt eher untypisch sind; vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 43 f.

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Einer Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Exekutive steht ebenfalls nicht entgegen, daß Staatsanwalt und Richter "für die gleiche Sache" eintreten und ihre Tätigkeiten dabei oftmals eng miteinander verklammert sind562 . Denn: warum sollte nicht ein Organ der Judikative neben einem der Exekutive zur gemeinsamen Ermittlung der objektiven Wahrheit berufen sein? Dagegen trifft es zu - und insoweit steht auch hier ein historisches Argument zur Verfügung -, daß mit der Schaffung der Institution Staatsanwaltschaft zur Überwindung des Inquisitionsprozesses ein Organ etabliert werden sollte, das den Richter von nichtrichterlichen Aufgaben entband. Warum die Wahrnehmung dieser abgespaltenen nichtrichterlichen Aufgaben in der Hand der Staatsanwaltschaft plötzlich "Rechtsprechung" sein soll, vermag nicht einzuleuchten 563 . Ebenso versäumt es die Gegenansicht zu erklären, warum dem Staatsanwalt eine auf Wahrheit und Objektivität ausgerichtete Tätigkeit nicht auch innerhalb der Exekutive möglich sein sollte564 . Entscheidend ist, daß der Staatsanwalt seiner Funktion nach kein Richter ist und ihn die Art. 92 ff. bereits aus diesem Grunde ausgrenzen. Dabei verfängt auch der Hinweis auf das gleiche Bildungsniveau von Richtern und Staatsanwälten insoweit nicht, als eine Einordnung in die Exekutive keine "Degradierung" der Staatsanwaltschaft beinhalten würde, denn schließlich übt die Anklagebehörde, auch wenn man ihre Tätigkeit nicht als ,,rechtsprechende" qualifiziert, "ein ebenso vornehmes Stück der Staatsgewalt aus,,565. Ihre Aufgabe ist lediglich aus Griinden der Freiheitssicherung anders gelagert als die der Rechtsprechung. Darüber hinaus kann die verfassungsrechtliche Stellung der Staatsanwaltschaft auch nicht anband einfach-gesetzlicher Aufgabenzuweisungen bestimmt werden. Eine solche Vorgehensweise mißachtet den sich aus der Rangfolge der Rechtsquellen ergebenden Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz566. Ließe man diesen Zirkelschluß zu, dann stünde die verfassungsrechtliche Positionsbestimmung der einzelnen Teilgewalten zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Die Einordnung der Staatsorgane in die Gewaltentrias muß jedoch vielmehr originär aus der Verfassung selbst erfolgen. Dabei hat sich folgendes Bild ergeben: Das Gros der Argumente, die für eine Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur Dritten Gewalt vorgetragen werden, spricht jedenfalls Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 40; Kunz, Bagatellprinzip, S. 80 f. m. w. N. Vgl. Sarstedt, NJW 1964, S. 1753; ebenso Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 101. Des weiteren wird man dem Parlamentarischen Rat nicht unterstellen können, daß er bei der Schaffung des Grundgesetzes die Staatsanwälte in Art. 92 GG "einfach übersehen" hat. Wahrscheinlicher ist, daß er - angesichts der Erfahrungen aus der NS-Zeit aus gutem Grund - keinen Anlaß gesehen hat, ihnen eine richterähnliche Stellung einzuräumen; vgl. Sarstedt, NJW 1964, S. 1755; ebenso Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 35 m. w. N. 564 Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 39; vgl. auch Döhring, S. 45 m. w. N.; KreylPföhler, NStZ 1985, S. 146. 565 Sarstedt, NJW 1964, S. 1753; vgl. auch Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 85. 566 Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 49 m. w. N.; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 55. Zudem existieren auch einfach-gesetzliche Vorschriften, die einer Einordnung der Anklagebehörde in die Judikative eher entgegenstehen (Bsp. §§ 150, 151 GVG) und es gibt darüber hinaus solche, die eine Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Exekutive nahelegen (Bsp. §§ 144, 146, 147 GVG). 562

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

nicht gegen eine verfassungsrechtliche Einordnung der Anklagebehörde in die Exekutive. Mehr noch: Der Wortlaut des Art. 92 GG567 , die Organisationsstruktur der Behörde - insbesondere die Weisungsgebundenheit _568 sowie ihre Initiativpflicht569 machen es unumgänglich, die Institution Staatsanwaltschaft in die Teilgewalt der Exekutive einzuordnen57o und ihr dort, angesichts ihrer organisatorischen Verwaltungsnähe einerseits und ihrer inhaltlichen Beteiligung an der Durchsetzung des materiellen Strafanspruchs andererseits, eine Sonderstellung einzuräumen. Nach ihrer AufgabensteIlung ist die Staatsanwaltschaft "ein den Gerichten gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege,,571; ein Organ, das mit der Aufgabe errichtet ist, sich an gerichtlichen Verfahren zu beteiligen und diese zu fördem 572. Organisatorisch ist die Staatsanwaltschaft monokratisch-hierarchisch strukturiert573 ; die Stellung des Staatsanwalts ist nicht zuletzt angesichts seiner Weisungsabhängigkeit mit der eines Verwaltungsbeamten vergleichbar574 . Aufgrund dieses Mischcharakters wird die Staatsanwaltschaft auch als "Organ der Rechtspflege eigener Art (,sui generis')" bezeichnet575 . Jedenfalls aber ist die Institution Staatsanwaltschaft organisatorisch-systematisch nicht in die Dritte Gewalt einzuordnen. Rechtsprechende Tätigkeiten sind ihr somit wesensfremd und dürfen ihr vom einfachen Gesetzgeber nicht zugewiesen werden. (2) Das Zustimmungserfordemis des Gerichts Möglicherweise ist den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Art. 20 11 S. 2, 92 GG jedoch dadurch in ausreichender Weise Genüge getan, daß aufgrund des in § 153 alStPO regelmäßig vorgesehenen richterlichen Zustimmungserfordernisses zumindest eine gewisse Beteiligung der Gerichte bei der Verfahrenseinstellung unter Auflagenverhängung durch die Staatsanwaltschaft sichergestellt 567 Döhring, S. 45; KreylPföhler, NStZ 1985, S. 146; vgl. auch Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 86 Fn. 340. 568 Döhring, S. 45 m. w. N.; Fezer, Strafprozeßrecht, S. 19; Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 86; KreylPföhler, NStZ 1985, S. 146. 569 Dazu Sarstedt, NJW 1964, S. 1754: "Was der StA gerade bei der Exekutive den einzig richtigen Platz gibt, ist ihre Pflicht zur Initiative, zum selbständigen Zugriff aus eigenem Entschluß, zum ,Einschreiten' wie § 152 Abs. 2 StPO es ausdriickt. Gerade diese Pflicht ist, im Gegensatz zu der dem Gericht gebührenden abwartenden Haltung, das kennzeichnende Unterscheidungsmerkmal der Exekutive." 570 Aulinger, S. 84; Blomeyer, GA 1970, S. 161 ff.; Döhring, S. 45; KreylPföhler, NStZ 1985, S. 146 m. w. N.; Paschmanns, S. 49; Sarstedt, NJW 1964, S. 1754; weitere Nachweise für diese wohl herrschende Meinung bei Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 85 Fn. 336 f. 571 BGHSt.24, 170 (171). 572 Vgl. BVerwG, NJW 1961, S. 1496 (1497). 573 Dazu oben "Teil 3.0.111.6.". 574 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 86,95 m. w. N.; ebenso KreylPföhler, NStZ 1985, S. 146. 575 Vgl. Fezer, Strafprozeßrecht, S. 19.

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ist576 . So kann das Gericht einerseits durch Verweigerung der Zustimmung das staatsanwaltschaftliche Einstellungsvorhaben verhindern, und andererseits ist es in der Lage, im ÜbereinstimmungsfaU den in der Entscheidung niedergelegten Willen der Staatsanwaltschaft zu seinem eigenen zu machen. Die in einer Zustimmung manifestierte Übernahme des staatsanwaltschaftlichen Willens durch das Gericht könnte nun dazu führen, daß die gesamte Entscheidung in eine richterliche transformiert wird577 , mit der Konsequenz, daß der verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsgrundsatz unverletzt bliebe. Demgegenüber gilt es zu bedenken, daß der Richter bei dieser Art der Mitwirkung stets gezwungen sein wird, auf die ihm seitens der Staatsanwaltschaft vorgelegten Sachverhaltsfeststellungen zuriickzugreifen, da an dieser Stelle des Verfahrens eine eigene Sachverhaltsfeststellung durch das Gericht - anders als beim Strafbefehlsverfahren, bei dem der Richter gegebenenfalls nach § 202 StPO analog ergänzend ermitteln oder aber nach § 408 III S. 2 StPO Hauptverhandlung anberaumen kann - nicht vorgesehen ist. Es ist somit fraglich, inwieweit ein solch bloß formell-richterlicher Entscheidungsakt wie die Zustimmung in § 153 aI StPO, die in der Praxis zudem in aller Regel ,,routinemäßig" erteilt wird578 , die verfassungsrechtlichen Vorgaben von "Rechtsprechung" erfüllen kann. So konstatiert Kausch579 : "Mit dem Erfordernis einer richterlichen Zustimmung ist es ... im Anwendungsbereich des Art. 92 GG nicht getan. Die Vorschrift verlangt vielmehr, daß eine ,rechtsprechende ' Entscheidung allein und in allen Punkten vom Richter getroffen wird." Ein Entscheidungsprozeß, bei dem der Richter nicht an der primären Entscheidungsfindung beteiligt ist, sondern lediglich zu deren Ergebnis durch Zustimmung oder Ablehnung Stellung nehmen kann, erfüllt demnach nicht die Anforderungen des Art. 92 GG. So hat das Bundesveifassungsgericht für den Fall des Art. 104 11 S. I GG entschieden, daß dem Erfordernis einer richterlichen "Entscheidung" bei Freiheitsentziehungen nur Genüge getan ist, wenn "der Richter in 576 So etwa Geerds, FS Dreher, S. 551, der durch das Zustimmungserfordernis eine ausreichende Kontrolle durch die Gerichte gewährleistet sieht. 577 Vgl. Kausch, S. 66 f. 578 Fezer, ZStW 106 (1994), S. 26, 34 m. w. N.; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 472; Werner, NStZ 1984, S. 401 m. w. N.; Wolter, Strafprozeßreform, S. 57; vgl. zur in praxi ähnlich geringen Bedeutung des Zustimmungserfordernisses im Rahmen von § 153 StPO bereits Heinitz, FS Rittler, S. 331. Des weiteren gilt es zu beachten, daß sich ein Gericht förmlich nicht dagegen wehren kann, wenn die Staatsanwaltschaft ein Verfahren nach § 153a I StPO auch ohne die gesetzlich vorgesehene Zustimmung einstellt; vgl. dazu im einzelnen unten "Teil 3.D.V."; ebenso Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 362. Insgesamt besehen erscheint die Rechtsschutzlage im Zusammenhang mit Opportunitätseinstellungen äußerst defizitär (dazu im einzelnen unten "Teil 3.D.V."), so daß man gleichsam nicht auf die Idee kommen könnte, den Anforderungen des Art. 92 GG sei bereits deshalb ausreichend Genüge getan, weil etwa der dort nonnierte Richtervorbehalt so lange keine Erstentscheidung des Gerichts erfordere, wie im Hinblick auf die Garantie des Art. 19 IV GG zumindest nachrangiger Rechtsschutz durch ein unabhängiges Gericht gewährleistet sei. Diesen nachrangigen Rechtsschutz gibt es - so wird noch zu zeigen sein - aber allenfalls in sehr spärlicher Ausprägung. 579 Kausch, S. 67.

15 Horstmann

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vollem Umfang die Verantwortung für die Maßnahme übernimmt"S8o. Für die Sanktionsverhängung nach § 153 aI StPO kann das wiederum nur bedeuten: Ist der Richter lediglich mit einer Art "Vetorecht" ausgestattet, erfüllt diese verfahrensrechtliche Komparsenrolle nicht die Vorgaben des Art. 92 GG. Die rein formale Mitwirkung des Richters trägt nicht zur Qualifizierung der Gesamtentscheidung als ein Akt der "Rechtsprechung" bei. So ist insbesondere nicht ersichtlich, warum das, was für die Freiheitsentziehung nach Art. 104 11 S. I GG Gültigkeit beansprucht, nicht auch für jeden anderen Akt einer staatlich veranlaßten Übelszufügung in Form einer sachlich punitiven Reaktion auf Kriminalstraftaten gelten soll. Das in § 153 aI StPO teilweise vorgesehene Zustimmungserfordernis der Gerichte ändert demzufolge auch für den davon erfaßten Fallbereich nichts an der Tatsache einer unzulässigen Ausübung rechtsprechender Gewalt durch die exekutivische Institution Staatsanwaltschaft bei der Verhängung von Auflagen und Weisungen im Rahmen der Anwendung dieser opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschrift. Der Vorwurf der verfassungsrechtlichen Kompetenzüberschreitung wird derweil auch nicht durch das Zustimmungserfordernis des Beschuldigten aufgehoben. Dazu heißt es bei Rudolphi s81 : "Daß sich dies nicht durch die in ihrer Freiwilligkeit höchst fragwürdigen Zustimmung des Beschuldigten rechtfertigen läßt, sollte eigentlich außer Zweifel sein, zumal wir ja auch sonst mit gutem Grund darauf beharren, daß ein Beschuldigter auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Garantien gerade nicht verzichten kann."

c) Ergebnis

Die Verknüpfung einer Verfahrenseinstellung mit Auflagen und Weisungen nach § 153 aI StPO ist materiell eine rechtsprechende Tätigkeit und steht nach Art. 20 11 S. 2, 92 GG ausschließlich der Dritten Gewalt zu. Der verfassungsrechtliche Widerspruch, der darin besteht, daß der Staatsanwaltschaft diese Sanktionierungskompetenz in § 153 aI StPO vom Gesetzgeber zugewiesen wird, läßt sich weder durch eine organisatorisch-systematische Einordnung der Institution Staatsanwaltschaft in die Dritte Gewalt noch über das in § 153 alStPO teilweise vorgeschriebene Zustimmungserfordernis der Gerichte auflösen. Mit der Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 alStPO nimmt die Staatsanwaltschaft demzufolge in verfassungswidriger Weise eine alleinige Kompetenz der rechtsprechenden Gewalt wahr. Die opportunitätsgeprägte Einstellungsvorschrift des § 153 aI StPO verstößt aus diesem Grunde gegen Art. 2011 S. 2, 92 GG.

580 581

BVerfGE 10,302 (310); 22, 311 (318). Rudolphi. ZRP 1976, S. 168.

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2. Gewaltenteilung als Gebot funktionsgerechter Organstruktur

Der Konflikt des § 153 alStPO mit Art. 2011 S. 2 GG könnte möglicherweise auch mit Hilfe einer veränderten Interpretationsweise dieser Verfassungsnorm begründet werden. So beinhaltet Gewaltenteilung nach einem moderneren Verständnis nicht mehr nur die Mäßigung der Staatsgewalt zum Zwecke der Freiheitssicherung, sondern umfaßt auch die Frage nach einer sachgerechten Zuordnung der einzelnen Staatsfunktionen582 • Diesem Ansatz liegt die Auffassung zugrunde, daß nur im Anschluß an eine funktions gerechte Konstituierung der staatlichen Teilgewalten eine sachgerechte Wahrnehmung der unterschiedlichen Staatsfunktionen und damit letztlich auch eine möglichst hohe sachliche Kompetenz bei den einzelnen Entscheidungen zu gewährleisten ist583 . Diese neuere Interpretation des Gewaltenteilungsgrundsatzes beschränkt sich daher nicht auf den Negativaspekt einer staatlichen Machtbegrenzung, sondern sie erfragt positiv, ob das betreffende Organ aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Struktur zur Wahrnehmung der ihm zugedachten Kompetenzen überhaupt in der Lage ist. Hiernach ergibt sich aus Art. 2011 S. 2 GG das Verbot, einem Staatsorgan solche Funktionen zuzuweisen, die es seiner Struktur nach nicht angemessen wahrnehmen kann584 • Entscheidend ist von dieser Warte aus nicht so sehr, ob die zur Diskussion stehende Befugnis unter einen bestimmten materiellen Begriff von gesetzgebender, vollziehender oder rechtsprechender Gewalt zu subsumieren ist; entscheidend ist vielmehr, ob das betreffende Organ, dem diese Funktion einfach-gesetzlich zugewiesen ist, aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Strukur zur sachgerechten Wahrnehmung dieser Kompetenz überhaupt in der Lage ist585 • Im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des § 153 a I StPO ist demnach zu fragen, welche strukturellen Voraussetzungen ein Staatsorgan im einzelnen mitbringen muß, um die in § 153 al StPO niedergelegte Sanktionskompetenz sachgerecht wahrnehmen zu können. Nach Weigend586 kann Sanktionsfestsetzung dann optimal gelingen, wenn sie (1) von einem unparteiischen, allein der Gerechtigkeit verpflichteten Organ vorgenommen wird, (2) eine umfassende Tatsachenermittlung die Entscheidungsgrundlage bildet und wenn (3) durch eine geeignete Kontrolle eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung nach Möglichkeit ausgeschlossen ist. Ob mit Blick auf diese Vorgaben - neben den Strafgerichten, an deren struktureller Geeignetheit in dieser Frage ernsthaft keine Zweifel bestehen dürften - auch die Staatsanwaltschaft zur sachgerechten Wahrnehmung der Sanktionsfestsetzung in der Lage ist, erscheint zweifelhaft. Wenngleich sie 582

S.18.

Hesse, S. 207 ff.; vgl. auch Kausch, S. 181 m.w.N; ebenso Weigend, KrimJourn. 1984,

583 Hesse, S. 207 ff.; Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 218; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 93; vgl. auch Kausch, S. 181. 584 Hesse, S. 211 f.; vgl. auch Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 214 m. w. N. 585 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 383 m. w. N. 586 Weigend, KrimJourn. 1984, S. 18 f.

15'

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

wie auch der Richter - von Gesetzes wegen zur Objektivität verpflichtet ist (§ 16011 StPO), dürfte es ihr angesichts ihrer Struktur als inquirierende und anklagende Behörde nur allzu leicht an der richtergleichen Distanz zum Verfahrens gegenstand fehlen 587 . Der "Rollenwechsel vom Organ der Straf-Verfolgung zum objektiven Urteiler,,588 erscheint als Überforderung, die Verpflichtung zur Objektivität bei der Sanktionsfestsetzung vor dem Hintergrund der eigenen Ermittlungstätigkeit als eine "psychologische Zumutung"589. Daher trifft es zu, wenn Rieß590 formuliert: "Die Staatsanwaltschaft als ,objektivste Behörde der Welt' ist ein normatives Postulat, nicht notwendig Realität." In diesem Kontext weiterhin problematisch ist die auf den strukturellen Behördenaufbau der Staatsanwaltschaft zurückzuführende Weisungsgebundenheit der einzelnen Staatsanwälte. Dadurch entbehren Staatsanwälte der den Richtern nach Art. 97 GG eigenen sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit591 . Auch hinsichtlich der zweiten eingangs formulierten Eignungsanforderung scheint die Staatsanwaltschaft zur Sanktionsfestsetzung weit weniger prädestiniert zu sein, als es die Strafgerichte sind, denn: Der sachbearbeitende Staatsanwalt verfügt bei seiner Einstellungsentscheidung im Vergleich zum Richter nur über eine minder gut abgesicherte Tatsachengrundlage592 . So findet ressourcenbedingt in der Rieß, FS Schäfer, S. 195; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 19. Weigend, KrimJourn. 1984, S. 19. 589 Rieß, FS Schäfer, S. 195. 590 Rieß, FS Schäfer, S. 195. 591 Zur (politischen) BeeinfluBbarkeit staatsanwaItschaftlicher Entscheidungen im Opportunitätsbereich vgl. bereits oben "Teil 3.D.III.6.". Man mag zu der teilweise lautstark erhobenen Forderung, Richter und Staatsanwälte einer gleichartigen institutionellen Regelung zu unterwerfen, d. h. auch für den bislang weisungsgebundenen Staatsanwalt eine richtergleiche Unabhängigkeit vorzusehen, stehen, wie man will (vgl. dazu die Diskussionen bei Blomeyer; GA 1970, S. 161 ff.; Bohnert, AbschluBentscheidung, S. 316 ff.; KreylPföhler; NStZ 1985, S. 151; Neumann, Vom unmöglichen Zustand, S. 197 ff.; Sarstedt, NJW 1964, S. 1752 ff.). Sicher ist: Die Weisungsabhängigkeit der Staatsanwälte ist im Hinblick auf § 145, 146 GVG geltendes Recht, und auch der Beweis, daß es sich hierbei um eine verfassungswidrige "Anomalie" handeln könnte, ist bislang nicht erbracht; vgl. Koller; Die Staatsanwaltschaft m. w. N. Im Gegenteil: Das Weisungsrecht des 1ustizministers ermöglicht ihm die Übernahme parlamentarischer Verantwortung für die Entscheidungen der Staatsanwälte; vgl. Koller a. a. 0., S. 75 ff. So setzt der demokratische Rechtsstaat eine parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung als oberstem Organ der vollziehenden Gewalt voraus (vgl. BVerfGE 9, 269 (281 f.». Diese wiederum kann nur wahrgenommen werden, wenn das nachgeordnete Exekutivorgan grundsätzlich weisungsgebunden ist (vgl. BVerwGE 46, 57). Daß einzig mit diesem Argument die Diskussion nicht erschöpfend geführt ist, ist zugestanden, aber wiederum auch nicht erforderlich. So ist die Fragestellung vorliegend eine andere: Es geht nicht darum, ob die Aufgaben der Staatsanwaltschaft eine unabhängige weisungsfreie Stellung erfordern, sondern es geht vielmehr darum, ob die zugewiesenen Aufgaben von einem weisungsgebundenen Organ wie der Staatsanwaltschaft funktionsgerecht wahrgenommen werden können. Letzteres erscheint indes nicht gewährleistet. 592 Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 468; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 232; Weigend, Krim10urn. 1984, S. 20. 587 588

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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Mehrzahl der weniger schweren Fälle eine eigene Ennittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft nicht statt. Vielmehr überläßt sie die eigentliche Ennittlungsarbeit der Polizei - der damit über weite Strecken eigentlichen "Herrin des Ennittlungsverfahrens,,593 - und macht sich am Ende deren Ergebnisse zu eigen594. Damit liegt jedoch die grundlagenschaffende Tatigkeit im Vorfeld der Sanktionsfestsetzung in der Hand einer Behörde, "die ihrerseits traditionell den für die Sanktionsfestsetzung relevanten psycho-sozialen Gegebenheiten beim Beschuldigten geringeres Augenmerk schenkt,,595. Die Polizei als Ennittlungsorgan ist mit der umfassenden Erforschung der Taterpersönlichkeit schlichtweg überfordert und trägt demzufolge mit ihrem Aktenbeitrag nur wenig zu einer solchen Entscheidungsgrundlage bei, die später im Rahmen staatsanwaltschaftlicher Einstellungstätigkeit für eine sachgemäße quasi-strafzumessungsrechtliche Sanktionsfestsetzung die notwendigen Informationen liefern könnte. In diesem organisatorischen Zusammenspiel liegt ein wesentlicher Grund dafür, daß die Sanktionsfestsetzung durch die Staatsanwaltschaft funktionell mit der des Richters, dem im Verfahren bei der persönlichen Konfrontation mit dem Angeklagten die Möglichkeit zu individualisierenden Feststellungen verbleibt, nicht vergleichbar ist596. Was die an dritter Stelle benannte Voraussetzung für eine sachgerechte Sanktionsfestsetzung anbelangt, wird auf die Defizite bei der Kontrolle staatsanwaltschaftlichen Wirkens im Opportunitätsbereich zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlich einzugehen sein597 . Es hat sich gezeigt, daß die Staatsanwaltschaft mit der Zuweisung der Sanktionierungsbefugnis in § 153 aI StPO eine Kompetenz erhalten hat, die sie aufgrund ihrer Organstruktur nicht sachgerecht wahrnehmen kann. Die Zuordnung dieser Staatsfunktion verstößt nach neuerern Verständnis von Gewaltenteilung auch deshalb gegen Art. 2011 S. 2 GG.

3. "Quasi-legislatorische" Befugnisse der Staatsanwaltschaft durch die richtliniengesteuerte Festlegung der EinsteUungsgrenzen

Über den Akt der Strafzumessung hinaus definiert die Staatsanwaltschaft bei ihrer Einstellungstätigkeit nach § 153 a I StPO eine Grenze, die den Gesamtbereich Heinz, FS Kaiser, S. 86. Backes, KritV 1986, S. 318 m. w. N.; Feites, KrimJoum. 1984, S. 57; Geisler, ZStW 93 (1981), S. 1114; Heine/Meinberg, mT-Gutachten, D 87; Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 468; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 48 m. w. N.; Mayerhojer/Rzpeka, Zeitschrift für Rechtssoziologie, Bd. 1, 1993, S. 115 (Nachweis bei Görlitz, ZRP 1993, S. 447 f.); Sessar, ZStW 87 (1975), S. 1062; Weigend, KrimJoum. 1984, S. 20; Wolter, Strafprozeßreform, S. 54 m.w.N. 595 Weigend, KrimJoum. 1984, S. 20; vgl. auch Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 468 f. 596 Backes, KritV 1986, S. 319. 591 Dazu im einzelnen unten "TeiI3.D.V.". 593

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

der Vergehenskriminalität zum einen in solche Delikte unterteilt, die von ihr in "Eigenregie" abgearbeitet werden, und wiederum solche, die einer Bearbeitung durch die Gerichte vorbehalten bleiben sollen598 . Urspriinglich wurden auf diese Weise die Bagatellgrenzen im Vergehensbereich gezogen. Die Staatsanwaltschaft holte auf prozessualem Wege nach, was der Gesetzgeber materiellrechtlich versäumt hatte: eine adäquate Abstufung bei der staatlichen Reaktion auf deliktische Verhaltensweisen, die trotz ihrer unterschiedlichen Beachtlichkeit allesamt unter ein und denselben Vergehenstatbestand subsumierbar waren. Da Bagatellkriminalität materiellrechtlich nicht aus dem Kriminalstrafrecht ausgegrenzt worden war, reichte man diese ureigene Aufgabe der Legislative an die Staatsanwaltschaft weiter, der es mit Hilfe des neu geschaffenen § 153 a StPO ermöglicht wurde, bedingtbagatellarisches Unrecht - in rechtsschöpferischer Manier - durch eine gesonderte verfahrensrechtliche Behandlung aus dem Kriminalstrafrecht herauszulösen. Prinzipiell hat sich an dieser "de-facto-Gesetzgebung,,599 durch die Staatsanwaltschaft seit der Änderung der Schuldklausei des § 153 a StPO im Jahre 1993 nichts geändert. Zwar geht es angesichts der erheblichen Erweiterung des Anwendungsbereichs längst nicht mehr (nur) um die Festlegung von Bagatellgrenzen. Doch nach wie vor bestimmt der Staatsanwalt durch seinen Bewertungsakt im Rahmen von § 153 a StPO dariiber, was regelungstechnisch in seinem Kompetenzbereich verbleiben und was wiederum den Gerichten zur Entscheidung und Kontrolle überlassen werden sol1 600 • Auf diese Weise werden faktisch Normsetzungsbefugnisse delegiert601 : Umfang und Grenzen der Ausnahmen zu § 152 11 StPO, deren Festlegung eigentlich einer Legislativentscheidung vorbehalten sein sollte602 , werden für einen großen Bereich durch die normkonkretisierende Tätigkeit des Exekutivorgans "Staatsanwalt" bestimmt. Man könnte freilich einwenden, daß bloße Gesetzesanwendung nicht automatisch in die Nähe von "Rechtssetzung" zu bringen ist. So ist schließlich die Normkonkretisierung durch Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe "tägliches Geschäft" der Rechtsanwendung und tangiert dabei keinesfalls den alleinigen Kompetenzbereich der Legislative603 • Dem kann jedoch nur insoweit zugestimmt werden, als die Ausfiillung unbestimmter Rechtsbegriffe im Rahmen einer Einzelentscheidung ganz unstreitig zum unverzichtbaren Handwerkszeug der täglichen Rechtsanwendung gehören muß. So ist auch weniger Vgl. Kausch, S. 140. Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 51. Für die ähnlich gelagerte Problematik bei den §§ 154, 154a StPO vgl. Pott, S. 154. Auch in diesen Fällen sind weder die Einstellungsvoraussetzungen klar, noch existieren feste Maßstäbe für die Beurteilung der einzelnen Merkmale. Da die Staatsanwaltschaft ihrer Entscheidung keine gesetzgeberischen Vorgaben zugrunde1egen kann, muß sie ,,rechtsschöpferisch" tätig werden. Vgl. zu §§ 154, 154a StPO auch unten "Teil3.E.". 600 Vgl. Schirrmacher, S. 141; ebenso Kausch, S. 140 ff. 601 Kausch, S. 142. 602 LR-Rieß, § 152 Rn. 10; vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 85. 603 Vgl. Koller, Die Staatsanwaltschaft, S. 129 f. 598

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die exekutivische Beurteilung innerhalb einer Einzelentscheidung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten problematisch als vielmehr die Tatsache, daß die Ausfüllung der generalklauselartigen Weiten der Merkmale in § 153 a StPO bereits im Vorfeld konkreter Einzelfallentscheidungen durch die richtliniengesteuerte Vorgabe abstrakt-genereller Kriterien für ganze "Typen von Einzelfällen,,604 vorgenommen wird. Indem vorab in großem Stil generalisierte Anwendungsmaßstäbe aufgestellt werden, "inthronisiert,,605 sich die Staatsanwaltschaft selbst als Gesetzgeber und schreibt sich ihre ordnungs- und kriminalpolitischen Vorstellungen in ein abstraktes Regelwerk, das sie anschließend zum Maßstab ihrer Einzelentscheidungen macht606 . Der Gesetzgeber wird dabei immer mehr zuriickgedrängt und aus seiner Verantwortung entlassen. Zu dem Schlagwort des Staatsanwalts als "Richter vor dem Richter,,607 gesellt sich als weitere von Verfassungs wegen besorgniserregende Zustands beschreibung die vom "Gesetzgeber vor dem Gesetzgeber,,608.

4. ,,Justizinterne Gewaltenteilung"Die problematische Vereinigung von Initiativrecht und Sanktionskompetenz in der Hand der Staatsanwaltschaft

Die dem Staatsanwalt durch § 153 aI StPO verliehenen Sanktionsbefugnisse erscheinen auch im Hinblick auf seine verfahrens strukturell wohl wichtigste Kompetenz, namentlich sein Initiativrecht, verfassungsrechtlich bedenklich. So stellen das staatsanwaltschaftliche Initiativrecht ohne Sanktionskompetenz auf der einen und die richterliche Passivität mit Sanktionskompetenz auf der anderen Seite eine Art ,justizinterne Gewaltenteilung" dar609 . Diese Abspaltung der Ermittlungs- von der Urteilsfunktion war aus rechtsstaatlicher Sicht eine der wesentlichen Errungenschaften des reformierten Strafprozesses6IO• Nachdem sich die Vereinigung beider Tätigkeiten in der Hand ein und derBohnert, Abschlußentscheidung, S. 234. Backes, KritV 1986, S. 340. 606 Backes, KritV 1986, S. 320; Kausch, S. 140 f.; vgl. auch Herrmann, ZStW 96 (1984), S. 468. Auf die Möglichkeit, durch ein Zusammenspiel von generalklauselartiger Tatbestandsweite einerseits und allgemeiner Weisungsfähigkeit der Entscheidungen im Opportunitätsbereich andererseits das Strafrecht flexibel an unterschiedliche kriminalpolitische Zielsetzungen und Programme anzupassen, ohne dabei die öffentliche und parlamentarische Debatte führen zu müssen, war bereits oben unter "Teil 3.0.111.6." hingewiesen worden. 607 Titel bei Kausch. 608 Backes, KritV 1986, S. 320; vgl. auch Aulinger, S. 80. Zu beachten ist ferner, daß die Staatsanwaltschaften durch ihr Einstellungsverhalten im Zusammenhang mit § 153 StPO in ebenso quasi-legislatorischer Weise den unteren Geringfügigkeitsbereich im Rahmen der Vergehenstatbestände festlegen; vgl. Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 26 Fn. 40. 609 Kausch, S. 225 ff., 234; Schirrmacher, S. 140. 610 Vgl. Kausch, S. 225 m. w. N. 604

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

selben Person als "psychologische Überforderung,,611 herausgestellt hatte, plante man für die Zukunft durch die Aufteilung der Kompetenzen "den Betroffenen vor der Opression durch einen übermächtigen, unkontrolliert agierenden InquirentenUrteiler zu schützen"612, der bei seiner Sanktionsfestsetzung nicht immer die notwendige Distanz zu dem von ihm selbst zusammengetragenen Verdachtsmaterial nachgewiesen hatte. Die (erneute) Vereinigung von Ermittlungstätigkeit und Sanktionskompetenz in den Händen eines einzigen staatlichen Funktionsträgers erinnert daher unerfreulich an ein längst überwunden geglaubtes Prozeßmodell vergangener Tage: die gemeinrechtliche Inquisition613 . Lagen inquirierende und urteilende Tätigkeit seinerzeit in den Händen des omnipotenten Inquisitionsrichters, vereinen sich beide Aufgabenfelder dieser Tage durch den Zusammenfall von Ermittlungsrecht und Sanktionskompetenz in der Person des Staatsanwalts und verhelfen auf diesem Wege einer Struktur zu neuen Ehren, die einstmals, da sie als unerträgliche Konzentration staatlicher Macht empfunden worden war, zur Etablierung der Institution Staatsanwaltschaft geführt hatte 614 . Durch die erneute Rollenvereinigung diesmal in der Person des Staatsanwalts - wird diese ,justizinterne Gewaltenteilung" aufgehoben 615 . Die rechtsstaatlichen Errungenschaften des modernen Anklageprozesses laufen in der rechtspraktischen Bewährung angesichts dieser höchst unglücklichen Renaissance einer Personalunion von Initiativrecht und Sanktionsbefugnis für einen großen Regelungsbereich leer. Indem § 153 a I StPO die alte Machtkonzentration des Inquisitionsprozesses in weiten Teilen wiederherstellt616 , erweist sich die Vorschrift als geradezu "entwicklungskonträr,,617. Sie ist jedenfalls unvereinbar mit der Grundstruktur des überkommenen und vom Grundgesetz rezipierten Anklageprozesses 618 und verstößt demnach auch aus diesem Grunde gegen das Verfassungsgebot des Art. 2011 S. 2, 92 GG.

5. Ergebnis

Die Staatsanwaltschaft nimmt bei der Verhängung von Sanktionen nach § 153 a I StPO Aufgaben wahr, die von Verfassungs wegen in den alleinigen Kompetenzbereich der rechtsprechenden Gewalt gehören. Des weiteren wird sie durch die richtliniengesteuerte, abstrakt-generelle Festlegung der AnwendungsvoraussetzunKausch, S. 227; vgl. auch Kunz, Bagatellprinzip. S. 81. Weigend, KrimJoum. 1984, S. 17; vgl. auch Rieß, FS Schäfer, S. 193. 613 Dazu Blomeyer; GA 1970, S. 161; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 230; Kausch, S. 235 ff.; Rudolphi, ZRP 1976, S. 168; Schmitt, ZStW 89 (1977), S. 641; vgl. auch Schirrmacher; S. 140 m. w. N.; ebenso Weigend, KrimJoum. 1984, S. 13. 614 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 230. 615 Kausch, S. 236; Koller; Die Staatsanwaltschaft, S. 135. 616 Hirsch, ZStW 92 (1980). S. 230; Kausch, S. 236; Rudolphi, ZRP 1976, S. 168. 617 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 234. 618 Kausch, S. 236. 611

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gen der Norm in einem Bereich tätig, der dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten sein muß. Schließlich führt die Vereinigung von Initiativrecht und Sanktionskompetenz in der Hand eines einzigen staatlichen Funktionsträgers zu einem Konflikt mit der justizintemen Gewaltenteilung. Diese für sich genommen schon hochbrisante staatsanwaltschaftliche Machtfülle wurde durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz 1993 noch erheblich ausgeweitet619 . So wurde der Staatsanwaltschaft durch die Änderung der Schuldklausei in § 153 a I StPO zunächst einmal ein insgesamt größerer Anwendungsbereich für opportunes Strafverfolgungshandeln eingeräumt, mit der Konsequenz, daß sie nahezu im gesamten Durchschnittsbereich der Vergehenskriminalität zu der zentralen Sanktions- und Selektionsinstanz aufgestiegen ist. Die Erweiterung staatsanwaltschaftlicher Machtfülle bemißt sich dabei jedoch nicht allein anband der gestiegenen Fallzahlen. Angesichts des in der Neufassung bedeutend angehobenen einstellungsfahigen Schuldrahmens wird die Behörde dariiber hinaus neuerlich in Bereichen tätig, in denen bei der Kompensierung des öffentlichen Verfolgungsinteresses - z. B. in Form einer Zahlungsauflage nach § 153 aI Nr. 2 StPO - jeglicher Unterschied zu einer entsprechenden Geldstrafe verwischt zu sein scheint. Des weiteren hat sich durch die Änderung des § 153 I S. 2 StPO - auf den wiederum § 153 aI S. 7 StPO verweist - der Bereich gerichtlich zustimmungsfreier Anwendungsfälle erweitert. Insgesamt haben die Regelungen des Rechtspflegeentlastungsgesetzes aus dem Jahre 1993 die staatsanwaltschaftliche Machtkonzentration weiter verstärkt und tragen am Ende dazu bei, das zuvor gefundene Ergebnis noch einmal zu unterstreichen: Die opportunitätsgeprägte Einstellungsvorschrift des § 153 a I StPO verstößt angesichts verfassungsrechtlich unzulässiger Kompetenzzuweisungen gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz in Art. 2011 S. 2, 92 GG.

619 Terbach, NStZ 1998, S. 172. Die verfassungsrechtlichen Bedenken schlagen derweil auch auf die Tatigkeit der Finanz- und Zollbehörden durch, denen die §§ 386, 399 AO staatsanwaltschaftliche Befugnisse einräumen. So kann beispielsweise die Finanzbehörde im Steuerstrafverfahren nach herrschender Meinung (vgl. KK-Schoreit, § 153a Rn. 9 m. w. N.; LR-Rieß, § 153a Rn. 72; Pfeiffer, § 153a Rn. 1) über § 399 AO nach § 153a StPO verfahren. Der Vorwurf einer verfassungsrechtlich unzulässigen Kompetenzzuweisung verfängt dabei insofern, als die Finanzbehörden dem Grunde nach Teil der Verwaltung sind und demzufolge ebensowenig rechtsprechende Gewalt ausüben dürfen wie die Staatsanwaltschaft. Des weiteren hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 22, 49) das frühere steuerrrechtliche Unterwerfungsverfahren, wonach der steuerunehrliche Steuerpflichtige sich im Falle der aufgedeckten Zuwiderhandlung einer neben der Steuerschuld zu zahlenden Geldstrafe "freiwillig" unterwerfen konnte, für verfassungswidrig erklärt. Durch die Erweiterung der staatsanwaltschaftlichen Befugnisse - zumal ohne entsprechende Einschränkung in der Abgabenordnung - besteht die Gefahr, daß das Unterwerfungsverfahren in leicht geänderter Form seine Wiederauferstehung feiert; vgl. Malms, wistra 1994, S. 337 f.

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V. Die fehlende Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 IV GG gegenüber staatsanwaltschaftlichen Verfahrenshandlungen im Rahmen von § 153 a StPO Im Zusammenhang mit § 153 a StPO könnten sich mögliche Rechtsschutzziele mit Blick auf die in Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift enthaltene autonome staatsanwa1tschaftliche Einstellungsermächtigung sowie auf die in Absatz 2 Satz 1 vorgesehenen staatsanwaltschaftlichen Mitwirkungsakte bei Verfahrenseinstellungen durch die Gerichte ergeben. Als Rechtsschutzinteressenten kämen dabei grundsätzlich sowohl der sich gegen eine verweigerte Verfahrenseinstellung - oder eine verweigerte Zustimmung zu einer solchen Einstellung - wendende Beschuldigte als auch der sich gegen eine positive Einstellungsentscheidung wendende Verletzte in Betracht. In beiden Fällen gilt es zu beachten, daß für die Zeit vor Abschluß der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen der Grundsatz der Rechtsmittelfreiheit des Ermittlungsverfahrens gilt62o . Hierdurch soll eine zeitliche Verzögerung nach Möglichkeit vermieden und potentiellem Mißbrauch vorgebeugt werden621 • Rechtzeitiger Rechtsschutz kann demzufolge auch auf die Zeit nach Anklageerhebung verlegt werden622 • So läßt sich beispielsweise eine Einstellungsverweigerung der Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Kompetenzen nach § 153 aIS. 1 StPO als lediglich vorläufige Entscheidung im späteren Verfahren durch das Gericht kontrollieren. Etwas anderes muß freilich dann gelten, wenn eine Maßnahme abschließende Wirkung hat623 • So könnte aus der Sicht des Beschuldigten in der endgültigen Zustimmungsverweigerung der Staatsanwaltschaft zu einer Verfahrenseinstellung durch das Gericht nach § 153 allS. 1 StPO, die zudem weder vom Gericht substituiert noch erzwungen werden kann624, ein Anlaß für eine Rechtsverletzung nach Art. 19 IV GG begründet liegen. Dazu müßte jedoch dem Beschuldigten ein subjektiv-öffentliches Recht zur Seite stehen, das durch die staatsanwaltschaftliche Verweigerungshaltung verletzt worden sein könnte. Da Art. 19 IV GG kein selbständiges Recht begründet, sondern das zu schützende Recht als bestehend voraussetzt625 , ist zu fragen, inwieweit ein subjektives Recht des Beschuldigten auf Einstellung des Verfahrens aus § 153 a StPO selbst hergeleitet werden kann. Einer Auffassung zufolge handelt es sich bei § 153 a StPO um keine Schutznorm zugunsten des Beschuldigten; die Vorschrift diene nicht zuletzt angesichts ihrer juTerbach. Einstellungserzwingungsverfahren, S. 53. Terbach. Einstellungserzwingungsverfahren. S. 53. 622 BVerjG (Vorpriifungsausschuß), Beschluß vom 19. 12. 1983, NStZ 1984, S. 228 f.; Terbach. Einstellungserzwingungsverfahren, S. 54; derselbe. NStZ 1998, S. 173. 623 BVerjG. Beschluß vom 18. 7. 1997-2 BvR 483/95 und 2990/95 (Nachweis bei Terbach. NStZ 1998, S. 173). 624 Terbach. Einstellungserzwingungsverfahren, S. 55. 625 BVerfGE 15,275 (281); 61, 82 (llO); vgl. auch Paschmanns. S. 53 m. w. N.; Terbach. Einstellungserzwingungsverfahren, S. 193. 620 621

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stizökonomischen Funktion ausschließlich den Interessen der Allgemeinheit626 . So habe der Beschuldigte "mit der schuldhaften Verwirklichung des Tatbestandes ... den Strafanspruch des Staates gegen sich begründet,,627. Die Einzelfallentscheidung über die tatsächliche Durchsetzung dieses Anspruchs tangiere staatliche und damit öffentliche Interessen, nicht hingegen den Schutz des Beschuldigten628 . Die Gegenansicht sieht vom "öffentlichen Interesse" gerade auch die individuellen Belange des Beschuldigten miturnfaßt und zieht infolgedessen den Strafverfolgten ebenso in den Schutzkreis der von § 153 a StPO Begünstigten wie den übrigen Teil der Rechtsgemeinschaft629 . Dieser Schutz müsse ihm insbesondere deshalb zuteil werden, weil durch § 153 a StPO die endgültige Entscheidung über eine Einlösung des staatlichen Strafanspruchs im Einzelfall nicht ausschließlich beim Gesetzgeber verblieben, sondern mit der Staatsanwaltschaft auf ein Exekutivorgan übertragen worden sei, dessen Entscheidungen bei rechtsmißbräuchlichem Verhalten einer gerichtlichen Korrektur zugänglich sein müßten630 . Überdies könne der Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren schlechterdings nicht von der Existenz eines staatlichen Strafanspruchs abhängen 631 . Der Schutz des Beschuldigten sei im Falle des § 153 a StPO vom Gesetzgeber zumindest mitgewollt und nicht bloßer Reflex der im übrigen mit dieser Vorschrift intendierten Justizentlastung632 . Gesetzt, man wollte § 153 a StPO als taugliche Schutznorm zugunsten des Beschuldigten anerkennen, so ist weiter zu fragen, ob nicht bereits über das Anfechtungsrecht nach §§ 23 ff. EGGVG effektiver Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 IV GG gegen die staatsanwaltschaftliche Zustimmungsverweigerung zur gerichtlichen Verfahrenseinstellung nach § 153 allS. 1 StPO erlangt werden kann. Der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG ist eröffnet, wenn es sich bei der Zustimmungsverweigerung durch die Staatsanwaltschaft um einen Justizverwaltungsakt einer Justizbehörde handelt und der Antrag nicht bereits aus Gründen der Subsidiarität unzulässig ist. Da die Staatsanwaltschaft zweifellos eine Justizbehörde ist, die hinsichtlich der verweigerten Zustimmung auf dem Gebiet der Strafrechtspflege tätig wird, und da überdies anderweitiger gerichtlicher Rechtsschutz gegen die vorbezeichnete Maßnahme ersichtlich nicht gewährt wird, steht vorliegend für die Frage der Anfechtbarkeit nach §§ 23 ff. EGGVG allein das Merkmal des ,,Justizverwaltungsaktes,,633 im Streit. 626 KMR-Plöd, § 153a Rn. 26; Paschrrumns, S. 50 f.; weitere Nachweise bei Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 68 Fn. 278; derselbe, NStZ 1998, S. 172 Fn. 12. 627 BGHSt. 16,225 (228 f.). 628 BGHSt. 16,225 (228). 629 Heinrich, NStZ 1996, S. 112; Keller, GA 1993, S. 514; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 68, 193 f. 630 Heinrich, NStZ 1996, S. 112; Keller, GA 1983, S. 514. 631 Heinrich, NStZ 1996, S. 112. 632 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 104. 633 Der Begriff ,)ustizverwaltungsakt" erscheint bei § 23 EGGVG nur in der nicht-amtlichen Überschrift, nicht hingegen im Normtext selbst. Dennoch hat sich der Terminus als

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Rechtsprechunl34 und herrschende Lehre635 klassifizieren staatsanwaltschaftliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einleitung, Durchführung und Gestaltung des Strafverfahrens als sog. "Prozeßhandlungen", die sich von ,,Justizverwaltungsakten" im Sinne des § 23 I EGGVG darin unterscheiden sollen, daß sie als Bestandteile des Strafverfahrens keine "spezifisch justizmäßigen Verwaltungsakte der Justizverwaltung,,636 seien. Eine Anfechtbarkeit der staatsanwaltschaftlichen Zustimmungsverweigerung zur gerichtlichen Verfahrenseinstellung via §§ 23 ff. EGGVG scheitere deshalb bereits in Ermangelung eines "Justizverwaltungsaktes,,637. Darüber hinaus zeige § 172 11 S. 3 StPO ganz allgemein, daß nach dem Willen des Gesetzgebers staatsanwaltschaftliche Entschließungen über die weitere Strafverfolgung im Opportunitätsbereich einer gerichtlichen Überpriifung grundsätzlich nicht zugänglich sein sollen638 . Die spärlich gesäten Ausnahmen bestünden zudem allesamt zugunsten des Verletzten. Ließe man nunmehr eine Anfechtbarkeit der staatsanwaltschaftlichen Zustimmungverweigerung über §§ 23 ff. EGGVG zu, liefe das - insoweit unverträglich mit § 23 III EGGVG - auf eine Art uneingeschränktes Klageerzwingungsverfahren für den Beschuldigten, mit anderen Worten: auf eine Art "Einstellungserzwingungsverfahren" hinaus639 . Die Gegenansicht qualifiziert den zur Ablehnung einer Anfechtbarkeit nach §§ 23 ff. EGGVG herangezogenen Begriff der "Prozeßhandlung" als eine späte Erfindung der Wissenschaft, die "eingeführt (wurde), um die Besonderheiten des Prozeßrechts gegenüber dem materiellen Recht zu verstehen, nicht um den Prozeß als Innenraum zu bestimmen, in welchem sich subjektive Rechte wie in einem besonOberbegriff für die in § 23 I EGGVG bezeichneten Anordnungen, Verfügungen und sonstigen Maßnahmen mittlerweile etabliert; vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 153 Fn.876. 634 BGHSt. 16, 225 (227 ff.); vgl. auch BVerfGE 51, 176 (184 f.); BVerfG (Vorpriifungsausschuß), NJW 1984, S. 1451; OLG Hamm, NStZ 1985, S. 472; OLG Karlsruhe, NStZ 1982, S. 434. . 635 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Heinrich, NStZ 1996, S. 114 Fn. 43; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 46 Fn. 117; derselbe, NStZ 1998, S. 172 Fn. 10. Vgl. des weiteren KMR-Plöd, § 153a Rn. 26; Rüping, S. 114. 636 BT-Drs. 3/55, S. 61. Als spezifisch justizmäßige Verwaltungsakte der Justizverwaltung gelten beispielsweise die Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Vollstreckungsverfahren. 637 Vgl. für die Einstellung nach § 153 StPO auch Wagner, FS für den 45.DIT, S. 174. 638 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 155 m. w. N.; derselbe, NStZ 1998, S.I72. 639 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 369 f. m. w. N.; Terbach, NStZ 1998, S. 172 m. w. N. Vgl. dazu auch Rieß, FS Roxin, S. 1319 ff., der für den Fall, daß es bei einem entscheidungsreifen Ermittlungsverfahren zu einer Verzögerung der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung kommt, de lege lata ein Rechtsschutzdefizit feststellt und diesem Zustand aus rechtsdogmatischen, verfassungsrechtlichen, rechtspolitischen und auch praktischen Griinden durch die Schaffung einer speziellen, innerprozessualen Regelung - Rieß schlägt insoweit ein gerichtliches Einstellungserzwingungsverfahren auf Antrag des Beschuldigten vor einem OLG vor - abhelfen will.

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deren Gewaltverhältnis auflösen,,640. Der im Hinblick auf Art. 19 IV GG verfassungsrechtlich gebotene Rechtsschutz könne dem Beschuldigten nicht dadurch verweigert werden, daß man praeter legern eine der Strafprozeßordnung unbekannte Rechtsfigur erschaffe, der im Anschluß einzelne Maßnahmen aus der Kategorie der Justizverwaltungsakte zugeordnet würden, um sie fortan von einer gerichtlichen Kontrolle freizustellen 641 . Da die Verfassung keine per se gerichtsfreien Hoheitsakte kenne, könne jedenfalls nicht allein eine abweichende nominelle Klassifizierung zum Ausschluß einer gerichtlichen Überpriifung der streitbefangenen Exekutivhandlungen führen 642 . Des weiteren überzeuge der Hinweis auf die beschränkte Anfechtungsmöglichkeit des Verletzten im Klageerzwingungsverfahren nach § 172 11 S. 3 StPO nicht, weil dieser Zustand unter Umständen in gleicher Weise verfassungsrechtlich untragbar sei 643 . Wenn hiernach nun die staatsanwaltschaftliehe Zustimmungsverweigerung zur gerichtlichen Verfahrenseinstellung nach § 153 allS. 1 StPO einen tauglichen Überpriifungsgegenstand im Sinne von § 23 I EGGVG abzugeben vermag, schließt sich die weitere Frage an, ob dem Beschuldigten durch den Zugang zur Anfechtungsmöglichkeit nach den §§ 23 ff. EGGVG im Hinblick auf das Verfassungsgebot des Art. 19 IV GG eine "tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle,,644 gewährt wird. So beinhaltet der Justizgewährungsanspruch in Art. 19 IV GG neben dem Recht auf freien Zugang zu den Gerichten auch einen Anspruch auf Effektivität des gewährten Rechtsschutzes 645 . Ob für den vorliegenden Fall mittels der §§ 23 ff. EGGVG effektiver Rechtsschutz erreicht werden kann, wird mit guten Griinden bezweifelt. Da eine endgültige Zustimmungs verweigerung der Staatsanwaltschaft in zeitlicher Hinsicht dem Urteil des Gerichts regelmäßig unmittelbar vorausgehen dürfte, wird eine Antragsbescheidung durch das zuständige Oberlandesgericht über die Rechtmäßigkeit der Zustimmungsversagung nämlich für den Betroffenen regelmäßig zu spät kommen und das Urteil des Instanzgerichts nicht mehr verhindern können646 . Einstweiliger Rechtsschutz kann über die §§ 23 ff. EGGVG zudem nicht erlangt werden. Wie auch immer man es wenden mag: entweder fehlt es hinsichtlich der Anfechtungsmöglichkeit nach §§ 23 ff. EGGVG bereits am Zugang, oder aber es verbleiKeller, GA 1983, S. 501. Vgl. Keller, GA 1983, S. 501; ebenso Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 154; derselbe, NStZ 1998, S. 172 m. w. N. 642 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 154. Um eine Überprüfungsmöglichkeit nach den §§ 23 ff. EGGVG zu erhalten, ordnet daher ein Teil der Gegenansicht die in Streit stehenden staatsanwaltschaftlichen Maßnahmen den Justizverwaltungsakten zu; vgl. die Nachweise bei Heinrich, NStZ 1996, S. ll4 Fn. 42; ebenso Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 156. 643 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 156. 644 BVerfGE 35, 263 (274); 35, 382 (401); 61, 82 (llO f.). 645 Dazu bereits oben "Teill.C.II.2.d)". 646 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 157 f.; 164 f. 640 641

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

ben erhebliche Zweifel an der Effektivität des VOn dieser Stelle gewährten Rechtsschutzes. Weitere denkbare (fonnlose) Rechtsbehelfe, etwa die Gegenvorstellung oder die Dienstaufsichtsbeschwerde, gewähren - unabhängig VOn der Effektivitätsfrage 647 - nicht den VOn Art. 19 IV GG garantierten "Weg zum Richter,,648. Indem nun aber § 153 a StPO (auch) dem Beschuldigten ein subjektiv-öffentliches Recht verleiht, ihm zur Durchsetzung dieses Rechts jedoch kein den Anforderungen des Art. 19 IV GG genügendes Mittel gewährt wird, verstößt § 153 a StPO bereits aus diesem Grunde gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG649 . In gleicher Weise wie sich für den Beschuldigten die de lege lata bestehende Rechtsschutzsituation gegenüber einer staatsanwaltschaftlichen Zustimmungsverweigerung zur gerichtlichen Verfahrenseinstellung nach § 153 allS. 1 StPO als mit der Garantie des Art. 19 IV GG unvereinbar erwiesen hat, könnte sich für den durch die Straftat Verletzten eine vergleichbare Problematik im Hinblick auf die Kompetenz der Staatsanwaltschaft zur Verfahrensbeendigung nach § 153 aIS. 1 StPO ergeben. Insbesondere der Zugang zum Klageerzwingungsverfahren der §§ 172 ff. StPO scheint dem Verletzten mit Blick auf den insoweit eindeutigen Wortlaut des § 172 11 S. 3 StP0650 verwehrt zu sein651 . Die gesetzgeberische Herausnahme der Opportunitätseinstellungen aus dem gerichtlichen Kontrollbereich erscheint dabei insoweit konsequent, als mit der Einführung des Klageerzwingungsverfahrens die prozessuale Absicherung des Legalitätsprinzips intendiert war652 . Die Gegenansicht, die im Wege einer verfassungskonfonnen Auslegung

647 Die Dienstaufsichtsbeschwerde ist als formloser Rechtsbehelf eine bloße Anregung zu innerdienstlicher Überprüfung und in ihrer Durchsetzbarkeit oft schwach. Da sie im Petitionsrecht nach Art. 17 GG gründet, ist bereits ihr Recht auf Bescheidung fraglich; vgl. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 289. Die Sachaufsichtsbeschwerde (als Unterfall der Dienstaufsichtsbeschwerde) beanstandet eine Sachhandlung des sachbearbeitenden Staatsanwalts und hat in der Praxis gleichsam wenig Aussicht auf Erfolg; vgl. Wemer, Der Einfluß des Verletzten, S. 86 ff., 185 ff. Die ebenso formlose - wie fristlose - Gegenvorstellung beschränkt sich meist auf ein Gespräch des Betroffenen mit dem zuständigen Staatsanwalt und verändert die Sachlage in aller Regel nicht; vgl. dazu Wemer a. a. 0., S. 94. 648 Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 173; vgl. auch Wagner, FS für den 45.DIT, S. 174. Sowohl die Dienstaufsichts- als auch die Sachaufsichtsbeschwerde wenden sich an den dienstaufsichtsführenden Vorgesetzten des sachbearbeitenden Staatsanwalts. Gegen die Beschwerdebescheidung - in der Regel des dienstaufsichtsführenden Generalstaatsanwalts - kann wiederum Aufsichtsbeschwerde beim Iustizminister eingelegt werden (§ 147 Nr. 1 GVG); vgl. Geppert, Iura 1982, S. 146 m. w. N. Der Weg zu den Gerichten jedoch bleibt dem Betroffenen in beiden Fällen verschlossen; vgl. Heinrich, NStZ 1996, S. 115 m. w. N. 649 So im Ergebnis auch Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 166. 650 Eingeführt durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. 8. 1953 (BGBl. I, S. 735 ff.). 651 Diese Auffassung entspricht der herrschenden Meinung; vgl. etwa Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 333, 345; Heinrich, NStZ 1996, S. 111; Pott, S. 107; Rieß, DIT-Gutachten, C 26; Schlüchter, S. 166; Schroeder, FS Peters, S. 421. 652 Jans, Klageerzwingungsverfahren, S. 213 m. w. N.; Pott, S. 117 m. w. N. Infolgedessen wird auch jede Ausdehnung der Einstellungsbefugnisse aus Opportunitätsgründen als weitere

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des § 172 11 S. 3 StPO eine Klageerzwingung in den Fällen der §§ 153 ff. StPO bereits de lege lata anerkennen will 653 oder einschränkend geltend macht, das Verfahren sei zumindest "mit der Behauptung zulässig, daß die allgemeinen gesetzlichen Grenzen der jeweiligen Vorschrift nicht eingehalten worden seien,,654, überzeugt indes nicht. Zum einen endet jeder Versuch einer verfassungskonformen Auslegung am hinreichend konkretisierten Wortlaut der auszulegenden Norm: Eine (zweite) Lesart des § 172 11 S. 3 StPO, die eine Klageerzwingung im Falle einer Einstellung nach § 153 aIS. 1 StPO zulassen würde und die mit dem expliziten Ausschluß der §§ 153 ff. StPO vom Einzugsbereich des Klageerzwingungsverfahrens noch vereinbar wäre, ist beim besten Willen nicht ersichtlich. Zum anderen erhellen die darüber hinaus vorgenommenen Differenzierungen bei der Auswahl ihrer Unterscheidungskriterien nur wenig und sind folgerichtig auch im einzelnen umstritten655 . Dabei muß insbesondere - so heißt es bei Bohnert656 zutreffend "der Unterscheidung zwischen allgemeinen und nichtaligemeinen Merkmalen (die) Gefolgschaft verweigert werden". Eine umfassende richterliche Kontrolle, wie sie Art. 19 IV GG verlangt, wird darüber hinaus auch nicht durch das vereinzelt normativ vorgesehene Zustimmungserfordernis des Gerichts gewährleistet657 . Als gleichrangige Eigenentscheidung stellt die Zustimmung aus rechtlicher Sicht kein Überprüfungsverfahren dar65s • Der Wirksamkeit einer solchen Kontrolle stünVergrößerung des "Rechtsschutzvakuums" angesehen; vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 36. 653 Paschmanns, S. 66 f., 71, der darauf abstellt, daß es bei der Frage des Vorliegens oder Nichtvorliegens der Voraussetzungen einer opportunen Ausnahme vom Grundsatz der Legalität in erster Linie um den Anwendungsbereich des Legalitätsprinzips selbst gehe. Diese Fragestellung sei mithin unzweifelhaft von den §§ 172 ff. StPO urnfaßt. 654 LR-Rieß, § 172 Rn. 26. Diese Ansicht differenziert zwischen der Überpriifbarkeit der "allgemeinen gesetzlichen Grenzen" und der "besonderen Anwendungsvoraussetzungen der Vorschrift". Hiernach kann im Ergebnis ein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung dann gestellt werden, wenn der Antragsteller behauptet, es liege ein Verbrechen und kein Vergehen vor. Unzulässig wäre hingegen ein Antrag, der die nicht entgegenstehende Schuldschwere bzw. die Kompensationsfähigkeit des bestehenden öffentlichen Strafverfolgungsinteresses in Frage stellt; vgl. Heinrich, NStZ 1996, S. 111 m. w. N.; Jans, Klageerzwingungsverfahren, S. 221 Fn. 47; Ranft, S. 302; Schroeder; NStZ 1996, S. 319; weitere Nachweise bei Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 347 Fn. 81. Dariiber hinaus wird mitunter zwischen der voriibergehenden und der endgültigen Einstellungsentscheidung differenziert und nur die letztgenannte für gerichtlich überpriifbar angesehen; vgl. Jans, Klageerzwingungsverfahren, S. 220 Fn. 45. Des weiteren wird vereinzelt ein Klageerzwingungsantrag für zulässig erachtet, in dem der Verletzte geltend macht, daß der Beschuldigte Auflagen und Weisungen nicht erfüllt habe; vgl. dazu Heinrich, NStZ 1996, S. 111 m. w. N. 655 Vgl. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 347 Fn. 82. Eine Differenzierung ablehnend LR-Rieß, § 153a Rn. 88, § 172 Rn. 67; vgl. auch Wemer; Der Einfluß des Verletzten, S. 52 ff. 656 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 348. 657 Vgl. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 355 m. w. N.; Paschmanns, S. 47 f.; Pott, S. 107; Wemer; NStZ 1984, S. 401 m. w. N.; dieselbe, Der Einfluß des Verletzten, S. 328. A.A. wohl Schroeder; NStZ 1996, S. 319. 658 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 355; LR-Rieß, § 153 Rn. 39; Pott, S. 107 m. w. N.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

de zudem die regelmäßig rein formalistische Erteilung der Zustimmung, die weitgehende Ungewißheit über den gerichtlichen Prüfungsumfang sowie das Fehlen einer Begründungspflicht entgegen 659 . Und am Ende kann sich die Staatsanwaltschaft sogar nahezu folgenlos über ein völliges Fehlen der gerichtlichen Zustimmung hinwegsetzen und das Verfahren trotzdem einstellen66o • Dem Verletzten verbleiben als Rechtsschutzmöglichkeit gegen diese staatsanwaltschaftliche Opportunitätsentscheidung allein Gegenvorstellung und Aufsichtsbeschwerde661 , auf deren Unzulänglichkeiten angesichts der Anforderungen des Art. 19 IV GG bereits hingewiesen wurde. In gleicher Weise ineffektiv dürfte die materiellrechtliche Absicherung von Amtshandlungen durch § 258 a StGB dastehen, zumal die Vorschrift ohnehin nur bei vorsätzlicher Verfolgungsvereitelung eingreift, wobei diesbezügliche Verdachtsmomente ausgerechnet von Angehörigen der Personengruppe zu ermitteln wären, deren mögliches Fehlverhalten Gegenstand der Diskussion ist662 . Demzufolge stellt sich die Rechtsschutzlage für den Verletzten bei der Abwendung einer Verfahrenseinstellung nach § 153 aI StPO ähnlich defizitär dar wie zuvor für den eine Einstellung anstrebenden Beschuldigten. Die Abwesenheit effektiven Rechtsschutzes gegen staatsanwaltschaftliche VerfahrenseinsteIlungen nach § 153 aIS. I StPO wäre indes aus verfassungsrechtlicher Sicht unproblematisch, wenn es dem Verletzten insoweit an einem zu schützenden subjektiv-öffentlichen Recht fehlen würde. So steht dann auch nach wohl herrschender Auffassung die Strafverfolgung allein im öffentlichen Interesse: der durch die Straftat Verletzte hingegen habe keinerlei Anspruch darauf, daß der Gesetzgeber die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs von ihm abhängig mache 663 • Es existiere kein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf Strafverfolgung eines anderen durch den Staat664 ; ein subjektives "Recht auf Rache" könne innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung nicht anerkannt werden665 • Eine den Verletzten in dieser Richtung im Einzelfall begünstigende Strafvorschrift müsse als bloßer Rechtsreflex der generellen staatlichen Strafverfolgungspflicht gelten und lasse nicht den Schluß zu, daß die lex lata ein generelles Bedürfnis einer auf die Initiative des Verletzten zurückgehenden Strafverfolgung bejahe666 •

Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 355 m. w. N.; Pott, S. 107. Vgl. Pott, S. 107. Dem insoweit übergangenen Gericht verbleiben die formlosen Rechtsbehelfe der Gegenvorstellung und der Dienstaufsichtsbeschwerde; vgl. auch Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 362; Schroeder; NStZ 1996, S. 319. 661 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 298; Werner; Der Einfluß des Verletzten, S. 327. 662 Zum systematischen Zusammenspiel von § 258a StGB und den §§ 153 ff. StPO vgl. Pott, S. 118 ff. 663 BGHSt. 16, 225 (229); vgl. auch BVerfGE 21, 245 (261); ebenso Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 333 f.; Heinrich, NStZ 1996, S. 112; Pott, S. 108 m. w. N. 659

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BVerfGE 51,176 (187). Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 155. Vgl. Paschmanns, S. 74 m. w. N.

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Die Gegenansicht sieht demgegenüber durch die staatsanwaltschaftliehe Verfahrenseinstellung einen mit der rechtsstaatlichen Justizgewährungspflicht korrespondierenden, umfassenden Justizgewährungsanspruch des Verletzten betroffen, der wiederum als subjektiv-öffentliches Recht dem Schutzbereich des Art. 19 IV GG unterfalle 667 • So sei es wenig zufriedenstellend, das berechtigte Genugtuungsinteresse des Verletzten zwar einerseits als Instrument zur Kontrolle des Legalitätsprinzips zu nutzen 668 , es dann aber außerhalb der staatseigenen Interessen vollständig auszublenden 669 • Wenn dem Verletzten schon kein Recht eingeräumt werde, selbst Strafverfolgung zu betreiben, müsse er gerade in den mißbrauchsanfälligen Fällen opportuner Verfahrenseinstellungen zumindest vor etwaiger Willkür der handelnden Behörden geschützt werden 67o • Neben einer insoweit beklagenswerten zusätzlichen Schwächung der - im Unterschied zu den Staaten, in denen eine action civile möglich ist671 - ohnehin im deutschen Strafverfahrensrecht schwachen Verletztenstellung672 wird als weiterer Nachteil einer unterbleibenden gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit ganz allgemein die vertane Konkretisierungschance im Hinblick auf die weitgehende Unbestimmtheit opportuner Einstellungsnormen ins Feld geführt673 • Wie immer man sich entscheiden mag: zur Begeisterung gibt keines der grundsätzlich denkbaren Ergebnisse Anlaß. Bejaht man - mit guten Gründen - ein subjektiv-öffentliches Recht des Verletzten auf umfassende Justizgewährung auch außerhalb des Legalitätsprinzips, dann fehlt es de lege lata an einer diesen Anspruch zufriedenstellend absichernden Rechtsschutzmöglichkeit, so daß die gerichtlich nicht kontrollierbare staatsanwaltschaftliehe Verfahrenseinstellungsermächtigung nach § 153 aIS. 1 StPO mit Blick auf Art. 19 IV GG verfassungswidrig wäre. Will man einen derartigen subjektiven Anspruch des Verletzten hingegen nicht anerkennen, dann erscheint die gegenwärtige Rechtsschutzlage zumindest kriminalpolitisch äußerst unglücklich, da sie den Bedürfnissen des Opfers zu wenig Rechnung trägt674 •

Paschmanns, S. 77. Dazu Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 334: "Der Verletzte, um dessen Rechtsstellung so viel Aufhebens gemacht wird, ist im Klageerzwingungsverfalrren das Vehikel des öffentlichen Interesses, von echter Subjektivität keine Spur ... Klageerzwingung ist limitierte Popularklage. Das Limitationskriterium ist prozessual zufallig und gründet ausschließlich auf Erwägungen der Zweckmäßigkeit." Vgl. auch Rieß, DJT-Gutachten, C 25 f. m. w. N. 669 Rieß, FS Schäfer, S. 204; derselbe, DIT-Gutachten, C 8, C 26; vgl. auch Paschmanns, S. 76 f.; ebenso Schöch, ZStW 92 (1980), S. 180. Aus viktimologischer Sicht sei der Verletzte "irgendwie mitberechtigt arn rechtlichen Strafanspruch" (Mayer, JZ 1955, S. 604; zitiert nach Paschmanns, S. 76 f.). 670 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 345 m. w. N.; Heinrich, NStZ 1996, S. 112; Wemer, NStZ 1984, S. 403 m. w. N.; vgl. auch Schroeder, NStZ 1996, S. 319. 671 Vgl. dazu unten "Tei14.B.". 672 Vgl. dazu Hirsch, ZStW 102 (1990), S. 535, 560. 673 Terbach, EinsteUungserzwingungsverfalrren, S. 38. 667

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In einer Gesamtschau mit dem eingangs zur endgültigen staatsanwaltschaftlichen Zustimmungsverweigerung zu einer gerichtlichen Verfahrenseinstellung nach § 153 allS. 1 StPO gefundenen Ergebnis, sind die in § 153 a StPO getroffenen Regelungen kaum mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG in Einklang zu bringen. Insbesondere die umfangreichen staatsanwaltschaftlichen Entscheidungskompetenzen, die nach der lex lata weitestgehend von einer gerichtlichen Überprüfung freigestellt sind, laufen dem verfassungsrechtlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes gegenüber Eingriffen der Staatsgewalt zuwider.

VI. Die Sanktionskompetenz nach § 153 a StPO im Spannungsfeld zwischen dem in Art. 20 111 GG verankerten Schuldprinzip und der Garantie der Unschuldsvermutung aus Art. 6 11 MRK Verfassungsrechtliche Konflikte könnten sich des weiteren im Hinblick auf die Vereinbarkeit der in § 153 a StPO niedergelegten Sanktionierungsmöglichkeit ohne vorangegangenen richterlichen Schuldspruch mit den Verfassungsprinzipien der Unschuldsvermutung und des Schuldprinzips ergeben. Die in Art. 6 11 MRK verankerte und den gesamten Strafprozeß überdauernde Unschuldsvermutung ist ein in allen Rechtsstaaten anerkanntes Prinzip und wird im deutschen Grundgesetz durch Art. 20 III GG verfassungsrechtlich garantiert675 . Der Grundsatz der Unschuldsvermutung besagt, daß niemand als schuldig behandelt werden darf, bevor nicht ein Nachweis über seine Schuld durch ein rechtskräftiges Urteil eines ordentlichen Gerichts erbracht ist676 . Nachteile - jedenfalls wenn sie die Dimension einer Strafe oder einer strafabnlichen Maßnahme erreichen -, die ihren Grund in der vermeintlichen Täterschaft des Beschuldigten haben, dürfen mit dem Ziel "einer Kanalisierung staatlicher Machtausübung durch Erzwingung des Verfahrens,,677 erst dann zum Tragen kommen, wenn die Schuld des Sanktionierten prozeßordnungsgemäß nachgewiesen wurde678 . Dazu heißt es bei 674 Zum Gesamtbild einer defizitären Rechtsschutzlage trägt darüber hinaus bei, daß die gerichtliche Einstellung nach § 153a 11 S. 4 grundsätzlich unanfechtbar ist. Sie kann, ebenso wie die Zustimmung des Gerichts zur staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellung nach § 153a I StPO, allenfalls mit der Beschwerde nach § 304 I StPO angegriffen werden; vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 1987, S. 42. Gleiches gilt für die Überpriifung der gerichtlichen Zustimmungsverweigerung zur staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellung. Vgl. aber auch Bohnert (in: Abschlußentscheidung, S. 357 m. w. N.), der auf die herrschende Meinung verweist, wonach jegliche Anfechtbarkeit der gerichtlichen Zustimmung oder ihrer Versagung abzulehnen sei. Die gesamte unter "Teil 3.D.lV." erörterte Rechtsschutzproblematik gilt derweil entsprechend für die staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Verfahrenseinstellungen wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO. 675 Froweinl Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 156. Dazu auch bereits oben "Teil3.A.lII.". 676 BVerfGE 22, 254 (265). 677 Haberstroh, NStZ 1984, S. 292.

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Küh1 679 : "Geht zumindest eine strafähnliche Wirkung von Sanktionen oder Maßnahmen aus, die nicht ausdrücklich Strafen sind, so sollen diese Sanktionen bzw. Maßnahmen nicht ohne den gesetzlichen Nachweis der Schuld verhängt werden." Mit diesem Grundsatz schlichtweg unvereinbar erscheint derweil die staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Kompetenz zur Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 aStPO, durch die der Sanktionierte ohne einen entsprechenden Schuldnachweis zumindest wie ein "Schuldiger" behandelt wird. Der an dieser Stelle häufig vorgebrachte Einwand, die Unschuldsvermutung sei bereits deshalb nicht verletzt, weil aufgrund der fehlenden Schuldfeststellung der Beschuldigte seinen Status als "Unschuldiger" erst gar nicht verliere und er sich auch noch nach Auflagenerfüllung als "unschuldig" bezeichnen könne68o, verfangt angesichts der materiellen Wirkung der Auflagen und Weisungen nicht. Die Sanktionen, die § 153 a StPO aufzuerlegen ermächtigt, gehen in materieller Hinsicht über das, was einem Unschuldigen - etwa als "Sonderopfer" - noch zugemutet werden könnte, weit hinaus 681 . Klammerte man sich dennoch an die vorgenannte - rein formalistische - Betrachtungsweise und würde man mithin zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung behaupten wollen, der Betroffene werde in Abwesenheit eines formellen Schuldspruchs auch weiterhin als "Unschuldiger" behandelt, mündet dieses Ausweichmanöver unweigerlich in neuerlichen Untiefen. Da nach dem gleichsam verfassungsrechtlich fundierten Schuldprinzip - nulla poena sine culpa - "Strafe Schuld voraussetzt,,682, läßt sich nur schwer erklären, warum ein Unschuldiger mit Sanktionen belegt werden können soll, die zumindest strafähnliehen Charakter aufweisen683 . Wenn, was zweifellos zutrifft, im Rahmen von § 153 a StPO keine Schuldfeststellung erfolgt684, dann ist die anschließende Sanktions678 Kühl, Unschuldsvermutung, S. 12 m. w. N.; Pott, S. 143 m. w. N.; Weigend, KrirnJourn. 1984, S. 27. 679 Kühl, Unschuldsvermutung, S. 12 f. 680 BVerfG, MDR 1991, S. 891 f.; OLG Frankfurt a.M., NJW 1996, S. 3354; Dreher; FS Welze!, S. 938; Fezer; ZStW 106 (1994), S. 33; Kühl, Unschuldsvermutung, S. 111; LR-Rieß, § 153a Rn. 9, 14; Wolter; Strafprozeßreform, S. 60. Vgl. dazu auch bereits oben "Teil 3.B.IV.". 681 Vgl. Rieß, FS Schäfer, S. 194. Dazu Haberstroh, NStZ 1984, S. 290: "Der Grundsatz der Unschuldsvermutung ... steht [Ur das Ziel, der Beschuldigte müsse, falls sich seine Schuld nicht erweise, als im Kern seiner Freiheitsansprüche Unbeschädigter aus dem Verfahren hervorgehen, als einer, dem nicht mehr genommen worden ist, als das, ,was jedem passierenkann'." 682 BGHSt. 2, 194 (200); vgl. auch BVerfGE 9, 167 (169); 20, 323 (331). 683 Dazu oben "Teil 3.D.IV.l.b)bb)". Das verfassungsrechtlich verankerte Schuldprinzip verlangt derweil, daß nicht nur jeder strafrechtlichen, sondern auch jeder strafrechtsähnlichen Sanktion eine Feststellung der Schuld vorausgeht; vgl. BVerfGE 20, 323 (331). 684 Vgl. BT-Drs. 7/550, S. 298; 7/1261, S. 28 für die Alt- und BT-Drs. 12/1217, S. 34 für die Neufassung. Dazu, daß die Schuldfrage bei § 153a StPO offen bleibt, vgl. auch BGHSt. 28,174 (176); vgl. ebenso Fezer; ZStW 106 (1994), S. 33; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 233; Kleinknecht-Meyer-Goßner; § 153a Rn. 2 m. w. N.; Müller/Wache, FS Rebmann,

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verhängung auf der Grundlage eines bloßen Tatverdachts vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips schlichtweg unerträglich685 . Da die Schuldfrage offen bleibt, handelt es sich bei den Auflagen und Weisungen nach § 153 a I StPO um eine unzulässige "Verdachtsstrafe,,686. Diese trifft in Ermangelung einer vorausgegangenen richterlichen Schuldfeststellung einen (formell) Unschuldigen, was wiederum unvereinbar mit der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung ist. Versuche, ein solches Verfahren mit Hinweisen auf die "Freiwilligkeit" der Beschuldigtenhandlungen in § 153 a StPO verfassungsrechtlich zu legitimieren 687 , etwa dergestalt, daß der Betroffene durch die Zustimmung auf seine in der Unschuldsvermutung gründenden Rechte wirksam verzichte, überzeugen nicht. Zum einen kann aufgrund der Zustimmung des Beschuldigten zwar möglicherweise auf förmliche Verfahrensgarantien, nicht jedoch auf die materialen Anforderungen an seine Überführung verzichtet werden688 , und zum anderen ist auch hier erneut die tatsächliche "Freiwilligkeit" des Verzichts anzuzweifeln 689 . Im Ergebnis treffen die sozialethisch deklassierenden, strafähnlichen Wirkungen der Auflagen und Weisungen nach § 153 a I StPO einen Unschuldigen, der auf diese Weise unter Verstoß gegen die im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG verankerte Unschuldsvermutung des Art. 6 11 MRK von staatlicher Seite wie ein "Schuldiger" behandelt wird69o . Die strafahnliehe Sanktionierung des Beschuldigten ohne einen vorherigen rechtskräftigen, gerichtlichen Schuldnachweis ist des weiteren mit dem verfassungsrechtlich garantierten Schuldprinzip unvereinbar. S. 331; Rieß, FG Koch, S. 222. Dazu, daß obwohl die Schuldschwere als wesentliche Anwendungsvoraussetzung des § 153a StPO zu ermitteln ist, dieses Vorgehen schlechterdings nicht mit einer Schuldfeststellung im Ra1unen eines Urteils verglichen werden kann, vgl. Schirrmacher; S. 36 f. 685 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 232 f.; derselbe, FS Lange, S. 824; Kunz, Bagatellprinzip, S. 71; Kühl, Unschuldsvermutung, S. HO f.; Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 566; Vogler; ZStW 89 (1977), S. 786; derselbe, Int.Komm.-EMRK, Art. 6 Rn. 438. 686 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 228; Kühne, S. 244; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 12. A.A. etwa Kunz, Bagatellprinzip, S. 74. 687 Vgl. Fezer; ZStW 106 (1994), S. 33; Haberstroh, NStZ 1984, S. 294; Kunz, Bagatellprinzip, S. 75; LR-Rieß, § 153a Rn. 9, 14; Rieß, FG Koch, S. 222; Wolter; Strafprozeßreform, S.60. 688 Vgl. Freund, GA 1995, S. 17. Der Staat wird selbst dann nicht von seiner Pflicht zur vollständigen Durchführung eines ordnungsgemäßen Verfahrens entbunden werden können, wenn man - was allerdings nur schwer möglich erscheint (vgl. hierzu beispielsweise Dencker; JZ 1973, S. 150) - der Zustimmung des Beschuldigten die Qualität eines Geständnisses beimessen wollte; Haberstroh, NStZ 1984, S. 292; vgl. auch Kausch, S. 41; ebenso Pott, S. 143. 689 Int.Komm.EMRK-Vogler; Art. 6 Rn. 438. Zur "Freiwilligkeit" der Beschuldigtenerkiärungen im Ra1unen von § 153a StPO vgl. bereits oben "Teil 3.D.IV.1.b)bb)(I)" sowie im Anschluß "Teil 3.D.VII.". Speziell bzgl. der Unschuldsvermutung vgl. Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 565 ff.; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 26 ff. 690 Dencker; JZ 1973, S. 150; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 233; Int.Komm.EMRK-Vogler; Art. 6 Rn. 438; derselbe, ZStW 89 (1977), S. 786; vgl. auch Kargl/Sinner; Jura 1998, S. 232; Kühl, Unschuldsvermutung, S. 104, 119; Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 566; Weigend, KrimJoum. 1984, S. 29.

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VII. Der faktische Unterwerfungszwang bei der Zustimmungsentscheidung des Beschuldigten im Rahmen von § 153 a StPO als Verstoß gegen die Verfassungsgebote ausformulierende Vorschrift des § 136 a StPO Die im Zusammenhang mit der Zustimmung des Beschuldigten mancherorts unterstellte, in Wahrheit aber nur theoretische "Freiwilligkeit" kann im Verfahrensablauf nach § 153 a StPO auch noch in einem weiteren Kontext Bedeutung erlangen. Es hat den Anschein, als schaffe die Zustimmungsoption - als eine dem klassischen Strafverfahrensrecht an sich fremde Gestaltungsmöglichkeit - eine für den Beschuldigten nötigungsähnliche Drucksituation, die angesichts der im Verweigerungsfall drohenden Alternative einer Fortführung des laufenden Strafverfahrens in bedenklicher Weise an das Methodenverbot in § 136 a StPO erinnert691 . So sind mit § 136 a StPO "Grenzen angesprochen, die nicht nur Gericht und StA gesetzt sind, sondern auch dem Gesetzgeber. Zwar bestehen Differenzen darüber, ob sie aus Art. 1 oder Art. 2 GG herzuleiten sind. Einigkeit herrscht jedoch darüber, daß § 136 a StPO Verfassungsgebote ausformuliert; er enthalte eine ,gesetzgeberische Konkretisierung des Schutzes der Menschenwürde', sei ,eine Grundrechtsausführungsvorschrift', an die ,alle Staatsorgane gebunden sind,,,692. Der Entscheidungsvorgang beim Beschuldigten über die Erteilung oder Versagung seiner Zustimmung zur Verfahrenseinstellung, den der Gesetzgeber in § 153 a StPO notwendig vorgesehen hat und der durch eine entsprechende Anfrage seitens der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts ausgelöst wird693 , könnte nunmehr von einer nötigungsgleichen und erpresserischen Drucksituation überlagert sein, vor der § 136 a StPO - im übrigen in allen Phasen des Strafverfahrens 694 - schützen soll. 691 Arzt, JuS 1974, S. 695; Dahs, NStZ 1988, S. 158; Dencker; JZ 1973, S. 149; Fezer; ZStW 196 (1994), S. 26; Hirsch, FS Lange, S. 824; Kargl/Sinner; Jura 1998, S. 235; Kramer; ZRP 1974, S. 66; Krümpelmann, Die Bagatellde1ikte, S. 288; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 89; Schmidhäuser; JZ 1973, S. 534; vgl. auch Uisenheimer; Arztstrafrecht, S. 349; weitere Nachweise bei Kausch, S. 38 Fn. 89,90. A.A. Dreher; FS We1zel, S. 937 f.; LR-Rieß, § 153a Rn. 14; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 83 f. 692 Dencker; JZ 1973, S. 149 mit den entsprechenden Nachweisen. Da demzufolge die Verfassung als Maßstab einer Überprüfung dient, verfängt auch das von Dreher (in: FS Welzel, S. 937 f.) angeführte Argument nicht, ein Verstoß gegen § 136 a StPO könne bereits deshalb nicht vorliegen, weil dem Beschuldigten mit der in Aussicht gestellten Verfahrenseinstellung angesichts der Existenz der entsprechenden Ermächtigung in § 153a StPO kein "gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil" im Sinne von § 136a I S. 3 StPO versprochen werde. 693 Weiterer Druck entsteht für den Beschuldigten angesichts der Vorläufigkeit der Verfahrenseinstellung vor vollständiger Auflagenerfüllung. Zu der ehemals gängigen Praxis des Inaussichtstellens einer Verfahrenseinstellung für den Fall vorheriger Leistungserbringung durch den Beschuldigten im Rahmen von § 153 StPO (vgl. dazu bereits oben "Teil 3.C.II.") und der in diesen Fällen vergleichbaren (unzulässigen) Drucksituation vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 227; zuvor bereits Heinitz, FS Rittler, S. 334, der angesichts dieser Verknüpfung von einer ,,rechtswidrige(n) Drohung" spricht. 694 Der mögliche Einwand, ein an § 136a StPO angelehnter Verstoß gegen die Freiheit der Willensbetätigung komme bei § 153a StPO bereits deshalb nicht in Betracht, weil es bei der

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Der Beschuldigte hat stets zwei Optionen: er kann die vorgeschlagene Rechtsfolge akzeptieren oder aber den Fortgang des Strafverfahrens wählen. Die ,,Freiwilligkeit" seiner Zustimmung zur sanktionsbehafteten Verfahrensbeendigung könnte von daher nicht unerheblich durch die zahlreichen objektiven Unwägbarkeiten beeinträchtigt sein, die es im Zusammenhang mit dem Ausgang eines an Einstellungs Statt fortgeführten Verfahrens zu gewärtigen gilt695 . Neben den Risiken eines für ihn unter Umständen ungünstigeren Verfahrensausgangs - der insbesondere dann zu befürchten sein dürfte, wenn bereits informelle Gespräche über eine vorzeitige Verfahrensbeendigung geführt worden sind696 - wird der Beschuldigte stets auch die finanziellen und psychischen Belastungen sowie gegebenenfalls die politischen oder sonst beruflichen Folgen eines Verfahrensfortgangs in seine Abwägung einzustellen haben, so daß sich die ,,Freiwilligkeit" seiner Entscheidung immer stärker relativieren dürfte697 . Der Druck auf den Beschuldigten kann dabei auch verstärkt "aus den eigenen Reihen" kommen: Insoweit im Einklang mit den Interessen der anderen professionellen Verfahrensbeteiligten wird am Ende regelmäßig auch die Verteidigung die "autonome" Entscheidung ihres Mandanten dahingehend beeinflussen wollen, daß eine allseits arbeits- und zeitökonomisch verträgliche Lösung gefunden wird698 . Angesichts dieser verschiedenartigen Faktoren, die allesamt Einfluß auf die Entscheidung des Beschuldigten nehmen können, entsteht - nicht nur, aber insbesondere - beim juristisch nicht vorgebildeten Laien, der mit Beginn des Ermittlungsverfahrens regelmäßig in eine für ihn neue, bislang "unbekannte Welt,,699 eintritt, leicht eine Drucksituation, die ihn ungeachtet einer möglicherweise bestehenden Überzeugung von seiner eigenen Unschuld zu einer Zustimmungsentscheidung bewegt, die alles andere als "freiwillig" ist7OO . Der Druck Zustimmung in § 153a StPO nicht um Beweismittel gehe, greift daher nicht durch; vgl. Dencker; JZ 1973, S. 149. So aber Dreher; FS Welzel, S. 937. 695 Eisenberg, Kriminologie, S. 282; Fezer; ZStW 106 (1994), S. 34; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 195, 255; Kunz, Bagatellprinzip, S. 61; Roxin, FS Pallin, S. 345. Dazu Weigend, KrimJourn. 1984, S. 28: "Die Sicherheit über den Ausgang ist die Ware, mit der der Staatsanwalt handelt; und umgekehrt ist die Drohung mit der Ungewißheit des Prozeßergebnisses das sanfte Druckmittel, das der Staatsanwalt implizit oder ausdriicklich ... einsetzt, um die Zustimmung des Beschuldigten zu erlangen." 696 Vgl. Dahs, NStZ 1988, S. 156. 697 Demgegenüber heißt es zur Freiwilligkeit der Beschuldigtenhandlung bei Terbach (in: Einstellungserzwingungsverfahren, S. 84): ,,Es kann ... für die Frage der Freiwilligkeit nicht darauf ankommen, ob die Zustimmung auf verfahrenstaktischen Erwägungen, auf Unrechtseinsicht oder auf sonstigen Überlegungen beruht ... Da die Motivation, die sich im Einzelfall hinter der Zustimmung verbirgt, nur Gegenstand von Spekulationen sein kann, wird man letztlich auf formale Gesichtspunkte abstellen und die nach der gesetzlichen Konzeption freiwillige Zustimmung auch als solche ansehen müssen." 698 Kunz, Bagatellprinzip, S. 62; Schmidhäuser; JZ 1973, S. 533; vgl. auch Ahrens, Hauptverhandlung, S. 29 ff. Zu potentiellen Einstellungsmotiven von Staatsanwaltschaft und Gericht, die nicht zuletzt auch Anlaß [tir eine unzulässige Druckausübung auf den Beschuldigten sein können, vgl. oben "Teil 3.D.ill. ". 699 Weigend, KrimJourn. 1984, S. 28. 700 Kunz, Bagatellprinzip, S. 61; vgl. auch Weigend, KrimJourn. 1984, S. 28.

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dürfte dabei auch beim zu Unrecht Beschuldigten umso stärker sein, je mehr der Betroffene um seine öffentliche Reputation besorgt sein muß. Aufgrund der dieser Tage anzutreffenden Medienlandschaft, die gerade spektakuläre Fälle zur Steigerung von Auflage und Einschaltquote regelmäßig mit vorverurteilender Wirkung publizistisch "ausschlachtet", erscheint eine Scheu des Beschuldigten vor einer dem Ruf abträglichen oder gar geschäftsschädigenden weiteren Dauer des Ermittlungsverfahrens, einer Anklage und erst recht einer öffentlichen Hauptverhandlung sowie der gleichzeitige Wunsch nach einer eher "diskreten" Regelung der unerfreulichen Angelegenheit nur allzu verständlich. Auch findet selbst im Falle eines späteren Freispruchs häufig keine völlige Rehabilitation des Betroffenen in den Augen der Öffentlichkeit statt701. Unter diesen Umständen ähnelt die Zustimmung des Beschuldigten zur Verfahrensbeendigung nach § 153 a StPO der auf vergleichbare Weise abgenötigten Unterwerfung im früheren, mittlerweile jedoch vom Bundesverfassungsgericht für unzulässig erklärten702 steuerrechtlichen Unterwerfungsverfahren703. In manchem erinnert die Verfahrenssituation in § 153 a StPO an das amerikanische plea bargaining, bei dem "das sehr pragmatische Aushandeln der Sanktion,,704 zwischen den Verfahrens beteiligten, d. h. der Abtausch zwischen Schuldgeständnis und Strafnachlaß im Vordergrund der Konfliktbewältigung steht, und das selbst in den USA, wo diese Verfahrensweise aufgrund ihrer ökonomischen Vorzüge eine dominante Stellung im Justizalltag einnimmt, angesichts des in dieser Situation regelmäßig ausgeübten Drucks teilweise scharf kritisiert wird705 . Die gesamte Verfahrensstruktur des § 153 a StPO ist dazu angetan, für den Beschuldigten eine an § 136 a StPO heranreichende, unzulässige Drucksituation aufzubauen.

701 Vgl. Dahs, NStZ 1988, S. 158; Waller, DRiZ 1986, S. 49. Nach Ulsenheimer (in: Arztstrafrecht, S. 346) komme der Einstellung nach § 153a I StPO auf dem Anwendungsgebiet des Arztstrafrechts deswegen so außerordentlich große Bedeutung zu, weil bereits die förmliche Anklageerhebung die große Gefahr der Vorverurteilung in sich berge. Komme es dann sogar zu einer Hauptverhandlung, so könne schon die bloße Tatsache, daß diese stattgefunden habe, "zur moralischen Vernichtung" des Angeklagten "und oft auch seiner Angehörigen führen" (Nachweise bei Ulsenheimer a. a. 0.). Eine Hauptverhandlung "in breitester Öffentlichkeit, vor gefülltem Zuschauerraum, vor der Presse, die über das Ergebnis jeden unterrichtet" (Nachweise bei Ulsenheimer a. a. 0.), könne auch im Falle eines Freispruchs eine Gefährdung des Rufs und Ansehens des Betroffenen bedeuten und für viele Angeklagte wenn nicht existenzvernichtend, so doch zumindest existenzgefährdend sein. 702 BVerfGE 22, 49 (81 f.). Dazu bereits oben "Teil 3.D.IV.5.". 703 Arzt, JuS 1974, S. 695; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 224; derselbe. FS Lange, S. 824. 704 Weigend. Funktion und Tätigkeit, S. 651. 70S Vgl. Hanack. StV 1987, S. 500 f.; Massaro, StV 1989, S. 454 ff.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 218 f.; Weigend, Funktion und Tätigkeit, S. 649 ff.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

VIII. Verlust an Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit durch die Einstellung nach § 153 a StPO als Abschluß eines"Tuschelverfahrens" Wird das Strafverfahren nach § 153 aI StPO bereits im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren zur Einstellung gebracht, fällt diese endgültige Abschlußentscheidung vom Ablauf her in einen Verfahrensabschnitt, der von vornherein weniger rechtsstaatliche Garantien aufzuweisen hat, als dies grundsätzlich bei einer Erledigung im Zeitpunkt des gerichtlichen Hauptverfahrens der Fall sein würde. Neben der Verkürzung von Verteidigungsmöglichkeiten für den Beschuldigten gibt es im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren auch Einbußen an der Troika rechtsstaatlicher Verfahrens sicherungen, namentlich den Grundsätzen der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, zu beklagen. So trifft die Staatsanwaltschaft in dieser Phase des Strafverfahrens ihre Entscheidungen - aus guten Griinden 706 - ohne Beteiligung der Öffentlichkeit, zudem meist nach Aktenlage und ohne die gleichzeitige Anwesenheit aller Prozeßsubjekte. Was in Bezug auf die ermittelnde Tätigkeit zu großen Teilen unverzichtbar der Verfahrens sicherung bzw. dem legitimen Schutz des Beschuldigten dient, gefährdet, wenn der Öffentlichkeitsausschluß nach Abschluß der Ermittlungen auch das Verfahren des Sanktionierenden betrifft, Verfahrensprinzipien, die im Verbund zu den "grundlegenden Einrichtungen des Rechtsstaats,,707 zählen. Die Einschränkung der Öffentlichkeit im Verfahren des Sanktionierenden beschränkt sich jedoch nicht auf OpportunitätseinsteIlungen nach § 153 alStPO. Auch die sanktionierende Verfahrenseinstellung nach § 153 all StPO verzichtet weitgehend auf Transparenz und damit auf Kontrolle durch die Öffentlichkeit: "Im Cafe oder im Wirtshaus neben dem Landgericht, bestenfalls auf dem Flur desselben, wird das Opportunitätsgespräch gesucht. Übers öffentliche Interesse wird selten laut gesprochen, sogar die Hauptverhandlung vor Gericht wird zumeist förmlich unterbrochen, um über Einstellungsanlässe und Auflagen gleichsam ungestört, zumeist in den Umgangsformen von Geschäftsleuten, verhandeln zu können, wobei es nur eine Charakterfrage ist, ob der Verteidiger lieber die Rolle des distinguierten Bankiers spielt oder sich gleich wie ein levantinischer Händler zu Vorzugskonditionen an seine Opportunitätspartner heranmacht,,708. Die Verfahrensgrundsätze sind mithin unabhängig vom Zeitpunkt der opportunitätsgeleiteten Einstellung betroffen. Dies gilt wiederum weit mehr für die Öffentlichkeit denn für die Mündlichkeit des Verfahrens: Beschränkt sich der im Hinblick auf die fehlende (mündliche) kriminalpädagogische Einwirkungsmöglichkeit des Richters zu befürchtende Verlust spezialpräventiver Wirkung beim Tä706 Im Vordergrund stehen dabei Aspekte der Effizienz ermittelnder Tätigkeit, die bei frühzeitiger öffentlicher Bekanntgabe der Ergebnisse eingeschränkt oder gar vereitelt würde; vgl. Kargl/Sinner; Jura 1998, S. 232. Anzumerken ist außerdem, daß die Ausführungen an dieser Stelle auch auf die Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO zutreffen. 707 Vgl. BGHSt. 9, 280 (281); vgl. auch BGHSt. 2, 56 (57); 22, 297 (301). 708 Bohnert. Abschlußentscheidung, S. 175.

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ter noch auf die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung nach § 153 a I StP0709 , erstrecken sich die rechtsstaatlichen Defizite aufgrund einer weitgehenden Ausschaltung der Öffentlichkeit auch auf die Verfahrenseinstellungen nach § 153 all StPO. Die Einschränkungen berühren dabei jeweils Belange des Taters, des Opfers sowie der Allgemeinheit. So dient beispielsweise der Öffentlichkeitsgrundsatz im Bereich der Strafrechtspflege neben dem Schutz des Taters vor unkontrollierter obrigkeitlicher Willkür710 weiterhin der Konfliktvermittlung an die Allgemeinheit, die sich zum einen kollektiv mit dem Opfer solidarisieren und zum anderen überprüfen können soll, ob der Staat seine öffentliche Aufgabe der Strafverfolgung adäquat wahrnimmt und auf diese Weise der gesellschaftsrelevante Konflikt nach Ausgleichung des Unrechts zu einem Abschluß gebracht werden kann711 . Jede unsachgemäße Einschränkung der Öffentlichkeit des Verfahrens ist dagegen geeignet, Argwohn gegenüber der staatlichen Konfliktbewältigung zu wekken712 • Es nährt sich allzu leicht der Verdacht, daß derjenige, dessen Karten nicht offen auf dem Tisch liegen, etwas zu verbergen hat. Die strukturell bedingte Heimlichkeit der Prozedur wird sodann auch zum Anlaß genommen, um im Zusammenhang mit § 153 a StPO von einem "Tuschelverfahren,,713 oder gar von "Geheimjustiz,,714 zu sprechen. Entsteht erst einmal ein solches Mißtrauen innerhalb der Bevölkerung, nimmt das Ansehen der Strafrechtspflege unweigerlich Schaden, und dabei ist es von bloß untergeordneter Bedeutung, ob der trübe Verdacht einer Unredlichkeit objektiv haltbar ist oder nicht715 . Von großer Bedeutung sind dagegen die Folgen für den Rechtsstaat: Der kolportierte Verdacht staatlicher "Mauschelei" führt neben einem Ansehens- immer auch zu einem Glaubwürdigkeitsverlust. Geschmälerte Glaubwürdigkeit in den Augen der Bevölkerung wiederum führt auf lange Sicht immer auch zu Einbußen an Generalprävention.

709 Hanack, FS Gallas, S. 351; Rössner; Bagatelldiebstahl, S. 219. A.A. Heinz, ZStW 111 (1999), S. 479, der die persönliche Abschreckung des Täters bereits in den gegen ihn durchgeführten Ermittlungen sieht. 710 Kargl/Sinner; Jura 1998, S. 233. 7ll Kargl/Sinner; Jura 1998, S. 234, die auf eine ansonsten bestehende "Gefahr der Privatisierung des Konflikts" hinweisen. 712 Vgl. dazu bereits RGSt. 70, 112. Nach Kunz (in: Bagatellprinzip, S. 63) ist der Öffentlichkeitsgrundsatz "eine wesentliche Bedingung der Kontrolle von und des Vertrauens in strafrechtliche Entscheidungen". Zur Gefahr eines Vetrauensschwunds infolge fehlender Kontrollierbarkeit vgl. auch Kramer; ZRP 1974, S. 66. 713 Schmidhäuser; JZ 1973, S. 535. 714 Hohendorf, NJW 1987, S. 1179. 715 Vgl. Hassemer; KritV 1990, S. 278, der "das Bild der Strafrechtspflege in den Köpfen der Leute" als den "wichtigste(n) Faktor für das Entstehen und Überleben eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens" bezeichnet.

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IX. Einbußen an General- und Spezialprävention durch eine zunehmend "inflationäre" Anwendung der §§ 153 tT. StPO Einbußen an Spezial- und Generalprävention sind auch angesichts einer zunehmend "inflationären" Anwendung der Opportunitätseinstellungsvorschriften zu befürchten, wie sie aus den Rechtspflegestatistiken der letzten mehr als eineinhalb Jahrzehnte hervorgeht716 . Der zeitliche Längsschnitt für die Berichtsjahre 1981 bis 1997, der aufgrund des teilweise lückenhaften Datenmaterials auf die alten Bundesländer - und auch hier ohne die Länder Berlin, Hessen und Schleswig-Holstein - beschränkt bleiben muß, weist aus, daß die Staatsanwaltschaft auf den in diesem Zeitraum insgesamt angestiegenen Geschäftsanfa1l 717 vermehrt mit Opportunitätseinstellungen reagiert hat. Das zahlenmäßig höhere Aufkommen von Ermittlungsverfahren wurde nahezu vollständig - dabei zu 75% durch Einstellungen ohne Auflagen - auf prozessualem Wege durch die Staatsanwaltschaft abgefangen und nicht etwa in Form von Anklagen oder Strafbefehlsanträgen an die Gerichte weitergeleitet718 • Im Gegenteil: zu beobachten ist ein "als dramatisch zu bezeichnender Rückgang der Anklagerate von 43,2% (1981) auf 24,5% (1997), eine relative Konstante der Strafbefehlsrate und nahezu eine Verdoppelung der Opportunitätsrate,,719. In Anbetracht der dominierenden Erledigungsform hat sich die Staatsanwaltschaft unlängst zu einer "Einstellungsbehörde" entwickelt, wurden doch im Jahre 1996 nicht weniger als 61,3% aller Ermittlungsverfahren nach § 17011 StPO, weitere 14,3% aus Opportunitätsgründen eingestellt und - was faktisch einer Einstellung gleichkommt - weitere 2,0% durch Verweis auf den Privatklageweg erledigt72o. Besieht man dabei die Entwicklung der Opportunitätsrate, die im Jahre 1997 bereits 41,7% aller anklagefähigen Ermittlungsverfahren ausmachte 721, so scheint mittlerweile - was das Verhältnis von Legalität und Opportunität anbelangt - eine rechtstatsächliche Umkehrung vollzogen zu sein. Opportunität, einst als regelungstechnische Ausnahme zum Grundsatz der Legalität vorgesehen, hat in der Zwischenzeit - wenngleich sie 716 Zur begrenzten Aussagekraft der Staatsanwaltschafts- und der Justizgeschäftsstatistik vgl. oben "TeiI3.D.II.". 717 Die Anzahl der so einzugrenzenden Gruppe von Ermittlungsverfahren stieg in dieser Zeit von 1.739.920 auf 2.266.976 an; vgl. Nachweise bei Heinz. ZStW 111 (1999), S. 468. Für die Jahre 1975 bis 1981 vgl. die Darstellung bei Rieß. ZRP 1983. S. 93 ff. 718 Heinz. FS Kaiser, S. 95 ff.; derselbe. ZStW 111 (1999), S. 469. 719 Heinz. ZStW 111 (1999), S. 471. Die Opportunitätsrate stieg von 25,6% (1981) auf 47,1 % (1997); vgl. Nachweise bei Heinz a. a. 0., S. 473. Da der Anstieg des Geschäftsanfalls gleichsam nicht zu einem Anstieg der Einstellungen nach § 170 11 StPO geführt hat, drängt sich mit Blick auf den Anstieg der Opportunitätseinstellungen die Frage auf, "ob und inwieweit hier in funktionswidriger Weise ein Austausch stattgefunden hat"; vgl. Heinz a. a. 0., S. 470 m. w. N. 720 Heinz. FS Kaiser, S. 94. 721 Heinz. ZStW 111 (1999), S. 473.

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nicht selbst zur Regel geworden ist - ihren Ausnahmecharakter verloren 722. Dabei hat der Opportunitätsgedanke insbesondere in der staatsanwaltschaftlichen Erledigungspraxis einen quantitativen Umfang angenommen, der von einer "Degeneration des Legalitätsprinzips" sprechen läßt723 . Die Langzeitfolgen einer zunehmend "inflationären" Gebrauchmachung von opportunitätsgeprägten Einstellungsermächtigungen sind absehbar: Zum einen gewinnt bei quantitativer Steigerung der Anwendungsfallzahlen zwangsläufig die allgemein vorgebrachte normative Kritik weiter an Gewicht. Dariiber hinaus entstehen weitere, für eine hohe Opportunitätsrate spezifische Problemkreise, wie beispielsweise ein fortschreitender Präventionsverlust zum Nachteil des materiellen Strafrechts sowie ein entsprechender Glaubwürdigkeitsverlust zu Lasten staatlicher Strafverfolgungstätigkeit724 . Aus generalpräventiver Sicht läuft ein Strafrecht, das angesichts hoher Einstellungsquoten über weite Strecken primär symbolischen Wert besitzt, Gefahr, seine Abschreckungswirkung auf potentielle Straftäter zu verlieren725. Weiterhin können sich bei übermäßiger Auflagenverhängung spezialpräventive Einbußen aufgrund von ressourcenbedingten Überwachungsdefiziten bei der Erfüllung dieser Auflagen ergeben. Der infolge übermäßiger Einstellungsaktivitäten zu befürchtende Glaubwürdigkeitsverlust dürfte sich derweil nicht nur beim Bürger, sondern auch bei der häufig erstermittelnden Polizei bemerkbar machen: Angesichts der Tatsache, daß polizeiliche Ermittlungsarbeit vermehrt "für den Papierkorb,,726 stattfindet, ist absehbar, daß sich die hohe Quote obligatorischer staatsanwaltschaftlicher Verfahrenseinstellungen früher oder später negativ auf die Motivationslage der Polizei auswirken wird727 . Ist das Einstellungsschicksal einer polizeilich ausermittelten Akte in den Händen der Staatsanwaltschaft faktisch vorherbestimmt, wird unvermeidbar im Polizei alltag darauf reagiert werden. Die Polizei, so steht zu vermuten, wird sich 722 Dazu Naucke, Modernes Strafrecht, S. 157: ,,Die Regel-Ausnahme-Floskel ... ist statistisch falsch." 723 Naucke, Modernes Strafrecht, S. 155; vgl. auch Backes, KritV 1986, S. 316; Heinz, FS Kaiser, S. 95; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 261; Rieß, NStZ 1981, S. 3; Waller, DRiZ 1986, S. 49 f.; Zipf, FS Peters, S. 494. 724 Vgl. Naucke, DIT-Gutachten, D 81 m. w. N. 725 Zur Problematik des sog. "symbolischen Strafrechts" vgl. im einzelnen unten "TeiI3.D.xm.". Allgemein zum Präventionsverlust vgl. Waller, DRiZ 1986, S. 50. A.A. Kerl, ZRP 1986, S. 315, der mit Blick auf die Sanktionsverhängung in § 153a StPO keinen allgemeinen Verlust an Abschreckung befürchtet. Es sei zu bezweifeln, "daß der ertappte und schließlich nach strapaziösem Ermittlungsverfahren überführte Ersttäter, ein Normalbürger, wie auch sein bisher noch strafloser Mitbürger ein Minus an Abschreckung nur deshalb schon empfindet, weil ersterer statt eines Gerichtsdokumentes mit dem Titel ,Strafbefehl' über eine bestimmte Geld-,Strafe' vielmehr ein Staatsanwaltsdokument mit dem Titel ,Bescheid gemäß § 153a StPO' über eine gleichlautende Geld-,Auflage' erhält". 726 Kreuzer, NJW 1994, S. 2401. 727 Vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 45; ebenso Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 41.

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entweder selbst zunehmend von den strengen Bindungen der Legalität lösen oder aber für rechtsstaatlich unerwünschte "Ersatzreaktionen,,728 sorgen. Schon jetzt wird in Teilbereichen, z. B. bei einfachen und schweren Diebstählen, die Kriminalität von der Polizei nur noch "verwaltet". Ermittlungsinitiativen bilden in diesen Bereichen die Ausnahmen.

X. Präventionsverlust aufgrund einer nicht stattfindenden überregionalen Taterregistrierung für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO Einen Präventionsverlust verursacht des weiteren das Fehlen einer Erfassung der nach § 153 a StPO eingestellten Strafverfahren im Bundeszentralregister729 . Eine solche Registrierung war im Gesetzgebungsverfahren zu § 153 a StPO zwar zunächst vorgesehen, wurde aber bekanntlich dann doch nicht Gesetz 730. Neben dem grundsätzlichen Problem, daß das Fehlen einer Vergleichsgrundlage die Gleichbehandlung gleichgelagerter Fälle erheblich erschwert731, verursacht die bei einer Einstellung nach § 153 a StPO unterbleibende (überregionale) Registereintragung neben begrüßenswerten Effekten - wie etwa der Vermeidung einer Stigmatisierung des Betroffenen - auch einige negative Begleiterscheinungen, etwa spezial- und generalpräventiver Art. So kann ein anerkennenswertes Präventionsinteresse z. B. darin begründet sein, den abermals deliktisch in Erscheinung tretenden Tater zu erkennen, um ihn dann zum Zwecke der Vorbeugung strafrechtlich adäquat "ansprechen" zu können732 • Das Fehlen eines überregional verwandten Erfassungssystems erlaubt es dagegen überörtlich auftretenden Tatern, auch im Fall erneuter Straffalligkeit wiederholt in den Genuß einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO zu gelangen, ohne daß etwa bei der Prüfung einer (neuerlichen) Anwendbarkeit der Vorschrift gleichartig eingestellte Strafverfahren aus der Vergangenheit berücksichtigt werden könnten 733 • Die fehlende Registereintragung bei 728 Vg!. Kreuzer, NJW 1994, S. 2401 im Zusammenhang mit der Einstellungspraxis nach § 31a BtMG (dazu noch im einzelnen unten "Teil3.F."). 729 Kleinknecht-Meyer-Goßner, § 153a Rn. 60; LR-Rieß, § 153a Rn. 85. 730 Vg!. § 12a BZRG in der Fassung des Art. 7 Nr. 1 und Nr. 3 des 1. StVRG, BT-Drs. 7/ 551. Der Enwurf des EGStGB sah dann aber bei seiner wiederholten Einbringung die Eintragung der Verfahrenseinstellung in das Bundeszentralregister (BZRG) nicht mehr vor; vg!. BR-Drs. 208/72. Des weiteren ist die Eintragung einer Einstellung gemäß § 153a StPO im Verkehrszentralregister, die früher bei einern Zusammenhang der Tat mit der Teilnahme arn Straßenverkehr zulässig war, nach Streichung des § 28 Nr. 1 StVG durch Gesetz vorn 28. 12. 1982 (BGB!. I, S. 2090) entfallen; vg!. KK-Schoreit, § 153a Rn. 46. 731 Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 86. 732 Boxdorfer, NJW 1976, S. 320; ebenso Arzt, JuS 1974, S. 697; Waller, DRiZ 1986, S. 50; vg!. auch Naucke, DIT-Gutachten, D 81. 733 Eckl, JR 1975, S. 101; Kerl, ZRP 1986, S. 317. Nach Ahrens, Hauptverhandlung, S. 137 erweise sich die fehlende Erfassung einer Einstellung nach § 153a StPO gerade auch für den

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§ 153 a StPO steht zudem in einem ,,kaum erträglichen Wertungswiderspruch,,734 zu der registermäßigen Erfassung von Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr und den Einstellungsregistrierungen nach den §§ 45, 47 JGG.

XI. Vernachlässigung des Resozialisierungsanspruchs des Täters sowie legitimer Opferbelange angesichts der Dominanz der "Denkzettelsanktion Geldauflage" in der Binnenstruktur der Einstellungspraxis nach § 153 a StPO Spezialpräventive Zielsetzungen erscheinen ein weiteres Mal in Frage gestellt, wenn man einen Blick auf die Binnenstruktur der Auflagenverhängung nach § 153 aI StPO wirft. Seit längerer Zeit wird in verläßlicher Regelmäßigkeit in mehr als 96% der Anwendungsfalle des § 153 a StPO eine Geldzahlungsauflage nach § 153 a I Nr. 2 StPO verhängt735 . Die Ursachen für die Beliebtheit der Geldauflage in der Praxis liegen auf der Hand: neben einer verhältnismäßig einfachen Handhabung und leichten, zeitökonomischen Kontrollmöglichkeiten entspricht diese Sanktion in ihrer Anwendung der allseits "vertrauten" Geldstrafe 736. Der Rechtsanwender kann sich bei der Bemessung des Umfangs der Geldauflage leicht am Tagessatzsystem des § 40 StGB orientieren737 und hat darüber hinaus eine passable Möglichkeit, die aus der Straftat unredlich erzielten Vermögensvorteile beim Beschuldigten abzuschöpfen738 . Diesen Vorzügen stehen jedoch nicht nur die allgemeinen Bedenausländischen Straftäter insoweit als "attraktiv", als daß er hierdurch erst gar nicht in die Gefahr der Ausweisung durch die Ausländerbehörde gerate. 734 Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 250. 735 Vgl. dazu das Schaubild bei Schirrmacher, S. 155 für die Jahre 1977 bis 1996, wonach der Anteil der Geldauflagen im Rechtsfolgenrepertoire des § 153a I StPO seit 1977 nie unter 94%, in der Zeit von 1983 bis 1990 sogar stetig über 98% lag. Vgl. speziell für das Jahr 1996 auch Heinz, FS Kaiser, S. 108, sowie für das Jahr 1997 derselbe, ZStW 111 (1999), S. 483. Für die Jahre 1977 bis 1981 vgl. des weiteren die Darstellung bei Rieß, ZRP 1983, S. 93 ff. sowie für die Jahre 1982 und 1983 die Fortschreibung der Tabellen bei Rieß, ZRP 1985, S. 212 ff. Zur auffallenden Reduzierung des "an sich variantenreiche(n) ,Kompensationskatalog(s)' ... auf die klassische (Straf-)Sanktionsform der Geldleistung" durch die Praxis vgl. auch Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 81. 736 Schirrmacher, S. 156 m. w. N.; vgl. auch Waller, DRiZ 1986, S. 53. Und Schöch, NStZ 1984, S. 390 weist im Zusammenhang mit der Wiedergutmachungsauflage und den möglichen Ursachen für eine praktische Vernachlässigung dieser Sanktionsform auf die häufige Schwierigkeit hin, die Höhe des Schadens zu beziffern. 737 Zu dieser im Rahmen von § 153a I Nr. 2 StPO durchaus gängigen Vorgehensweise siehe auch bereits oben "TeiI3.D.1.3.". 738 Zu beachten ist, daß die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) in Nr. 93a zu diesem Zweck zuvorderst die Wiedergutmachungsauflage nach § 153a I Nr. 1 StPO benennen. Dies hindert die Praxis augenscheinlich jedoch nicht daran, die Gewinnabschöpfung primär über § 153a I Nr. 2 StPO vorzunehmen.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

ken im Zusammenhang mit einer immer weiter fortschreitenden "Kommerzialisierung des Strafverfahrens,,739 entgegen. Es scheint vielmehr so, als würde durch die eher schematische Verhängung der Geldauflage als einer Art "Denkzettelsanktion,,74o die gute Chance vertan, das gesamte Spektrum des Sanktionskataloges in § 153 aI StPO zu nutzen, um durch die alternative Wahl- z. B. - einer Wiedergutmachungsauflage zum einen resozialisierend auf den Täter einzuwirken741 und zum anderen den legitimen Belangen des Opfers insgesamt mehr Rechnung zu tragen. Die Wahl der Auflage kann für einen späteren Resozialisierungserfolg eine wichtige Weiche stellen: Gezielte spezialpräventive Einwirkungen auf den Täter, wie sie durch die Wiedergutmachungsauflage nach § 153 aI Nr. 1 StPO und durch den 1999 eingeführten Täter-Opfer-Ausgleich in § 153 a I Nr. 5 StPO potentiell möglich sind, können von einem bloßen Abstrafen des Täters in Gestalt einer Geldzahlungs auflage nach § 153 aI Nr. 2 StPO schlechterdings nicht erhofft werden. Häufig geraten in Anbetracht der eher marginalen praktischen Bedeutung der Wiedergutmachungsauflage auch legitime Bedürfnisse des Tatopfers ins Hintertreffen742 . Nicht nur, daß ihm ohnehin durch eine Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO die Option aus der Hand geschlagen wird, eine möglicherweise im Anschluß betriebene Geltendmachung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche gegen den Täter auf ein rechtskräftiges, strafrichterliches Urteil stützen zu können743 : Infolge der auffallenden Vernachlässigung des § 153 aI Nr. 1 StPO wird dem Opfer darüber hinaus eine unmittelbare Schadenswiedergutmachung verweigert. Es bleibt abzuwarten, ob sich die für Täter und Opfer in geeigneten Fällen kriminalpädagogisch sinnvolle Begegnung im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs nach § 153 aI Nr. 5 StPO in der Rechtspraxis besser gegenüber der Geldzahlungsauflage durchsetzen wird, als es die übrigen Auflagen bislang vermochten. Das bisherige Anwendungsverhalten der Praxis hinsichtlich der Geldzahlungsauflage nach § 153 aI Nr. 2 StPO stimmt indes pessimistisch.

AK-Schöch. § 153a Rn. 6. Rieß. ZRP 1983. S. 95; vgl. auch Heinz. FS Kaiser. S. 108; derselbe. ZStW 111 (1999), S. 483; Hertwig. Geringfügigkeit, S. 255; Hirsch. GS H.Kaufmann, S. 141. Hierdurch wird zudem ein weiteres Mal deutlich, daß es sich bei der GeldzalIiungsauflage nach § 153a I Nr. 2 StPO um eine punitive Sanktion handelt, die sich nicht durch eine Wiedergutmachung ersetzen läßt, zu der der Täter ohnehin zivilrechtlich verpflichtet ist; vgl. Hirsch. ZStW 102 (1990), S. 556. 741 Vgl. Hanack, FS Gallas, S. 357; Herrmann. ZStW 96 (1984), S. 469. 742 Rieß. ZRP 1985, S. 215; Schöch. NStZ 1984, S. 390; Waller, DRiZ 1986, S. 53. 743 Waller, DRiZ 1986, S. 53. 739

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D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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XII. Das gesetzgeberische Motiv der Justizentlastung bei § 153 aStPO: Ausdruck einer mangelnden ,Juristischen Dignität,,744 und! oder schlichter Trugschluß?

Der Gesetzgeber war sowohl bei der Schaffung des § 153 a StPO im Jahre 1974 als auch bei seiner späteren Erweiterung im Jahre 1993 mit dem Ziel angetreten, ein taugliches Instrumentarium zur Entlastung der Justiz zu etablieren bzw. durch die Novellierung noch effizienter auszugestalten 745 . Dabei ist die Rechtmäßigkeit solch justizökonomischer Beweggründe bei der opportunen Beschneidung des Legalitätsgrundsatzes durchaus umstritten. Zur Verteidigung justizökonomischer Zielsetzungen wird die vom Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle postulierte "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege,,746 ins Feld geführt, deren verfassungsrechtlich gebotener Erhalt eine Entlastung der chronisch knappen Justizressourcen dringlich - wenn nicht sogar unumgänglich - erscheinen lasse747 . Angesichts dieser Argumentation stellt sich freilich die Frage, ob aus einer insoweit zutreffenden Bestandsaufnahme für den vorliegenden Fall nicht die falschen Schlüsse gezogen werden. Denn obgleich derartige Entlastungsbestrebungen ernstzunehmen und im Grundsatz auch anzuerkennen sind748 , darf nicht darüber hinweggesehen werden, daß die Verfolgung ökonomischer Ziele nicht selten mit dem Abbau klassischer Abwehrrechte des Beschuldigten sowie einer zunehmenden Außerkraftsetzung von Grundprinzipien des Strafverfahrens einhergeht und damit die Rationalisierung nur allzu oft auf den schmalen Schultern des Beschuldigten ausgetragen wird749 . Die Vorgehensweise hierbei ist durchschaubar und verstimmend: So werden auf Kosten von Rechts- und Sozialstaatlichkeit dringliche Anliegen der Justizentlastung und Prozeßökonomie zu gewachsenen, hehren Strafverfahrensprinzipien hochstilisiert750, von denen die Justizentlastung auch gerne mal zu Legitimationszwecken "unter der Flagge der Verfahrensbeschleunigung mitsegelt,,751. Derart aufgewertet mischt sie sich im Kollisionsfall unter die abzuwägenden Prinzipien und kaschiert dabei ihre eigentliche Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 226. Vgl. dazu oben "Teil 3.C.III.2.", wobei im Jahre 1974 noch das spezifische Problem der Bagatellkriminalität, bei der Novellierung im Jahre 1993 hingegen eine allgemeine Entlastungswirkung im Vordergrund der gesetzgeberischen Bemühungen gestanden hat. 746 BVerfGE 33, 376 (383). Dazu bereits oben "Teil I.A.II.1.a)bb)(2)(a)" sowie "Teil 1. C.II.2.d)" . 747 Vgl. Nestler-Tremel, DRiZ 1988, S. 290 m. w. N. 748 Albrecht, StV 1994, S. 273; Paschmanns, S. 108. 749 Albrecht, StV 1994, S. 269, 273 m.w.N; Dencker, JZ 1973, S. 149. Vgl. dazu auch bereits oben "Teil3.D.V." sowie "Tei13.D.YIII.". 750 Pott, S. 138 m. w. N. 751 Rieß, NStZ 1994, S. 410. Zum Beschleunigungsgebot aus Art. 20 II GG in Verbindung mit Art. 6 I EMRK, das nicht zuletzt zugunsten des Beschuldigten besteht, vgl. Bemsmann, ZRP 1994, S. 330. Vgl. dazu auch bereits oben "Teil I.C.II.2.c)". 744 745

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Herkunft, die wiederum nichts zu einer freiheitsbegründenden Strafrechtskonzeption beizutragen hat752. Richtigerweise ist der Entlastung der Strafrechtspflege die Einstufung als eigenständiger Wert von Verfassungsrang zu versagen. Bei allem Verständnis für Ökonomieanliegen darf die Belastungssituation der Justizorgane niemals dominierendes oder gar alleiniges Motiv einer breit angelegten Entkriminalisierungsmaßnahme sein753. Dies käme im Ergebnis einer Kapitulation des Rechtsstaats vor der Macht des Faktischen gleich 754. Vielmehr muß dem erhöhten Bedarf an personellen und sächlichen Mitteln in erster Linie durch entsprechende Kapazitätserweiterungen oder Neustrukturierungen Rechnung getragen werden, und dies insbesondere dann, wenn andernfalls rechtsstaatliche Garantien auf der Strecke bleiben755. "Justizentlastung" als gesetzgeberisches Motiv ist demzufolge zwar nicht per se unzulässig, verliert jedoch an Berechtigung, je stärker "echte" Verfassungsprinzipien durch die Rationalisierung betroffen sind. Zumindest aber ist die Entlastung der Strafrechtspflege als vorherrschendes Motiv einer legislatorischen Maßnahme nicht mit der wünschbaren ,juristischen Dignität,,756 ausgestattet. Eines ist allerdings klar: Wer wie zuletzt argumentiert, bietet eine breite Angriffsfläche für Gegenargumente, die an der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ansetzen. Man mag es vorwurfsvoll als "Luxus" der Wissenschaft bezeichnen, auf rechts staatliche Mängel hinzuweisen, wohlwissend, daß Abhilfe nicht an der generellen Bereitschaft des Gesetzgebers, sondern - wie so oft - an den finanziellen Realitäten scheitert. Angesichts leerer Haushaltskassen stößt der Ruf nach Kapazitätserweiterung schnell auf den Vorwurf eines gewissen Realitätsverlustes oder, positiv ausgedrückt, eines zu hohen Maßes an Idealismus. Zugegeben: eine "würdigere" Lösung ist nicht immer die preiswertere. Andererseits ist ,,kostensparende Justiz ... nicht notwendig rechtlich gute Justiz,,757. Bevor man sich jedoch daran begibt, durch Abwägung der Argumente eine rechts staatlich verträgliche und auch praktikable Lösung auszutarieren, lohnt es, zunächst einmal der grundsätzlicheren Frage nachzugehen, ob und inwieweit das angestrebte gesetzgeberische Ziel einer Justizentlastung mittels § 153 a StPO überhaupt erreicht worden ist. So scheint neben der Angemessenheit der gesetzgeberischen Zielsetzung bereits die tatsächliche Entlastungswirkung der Vorschrift nicht unzweifelhaft 758 .

752 Vgl. S. Wemer, KritV 1992, S. 448; vgl. auch Pott, S. 138 f. m. w. N.; ebenso Rieß, NStZ 1994, S. 410. 753 Hauf, MschrKrim 1995, S. 369; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 919; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 49; vgl. auch AK-Schöch, § 153a Rn. 75 m. w. N.; vgl. ebenso Hirsch, FS Lange, S. 824 f. 754 Vgl. Hauf, MschrKrim 1995, S. 369. 755 Baumann, ZRP 1987, S. 176; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 49; Paschmanns, S.108. 756 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 226. 757 Naucke, DJT-Gutachten, D 80.

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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Eine Entlastungswirkung geht zunächst einmal auf staatsanwaltschaftlicher Ebene unbestreitbar davon aus, daß bei einer Einstellung nach § 153 a I StPO der Begründungsaufwand und die Rechtsmittelfähigkeit gegenüber einer ansonsten möglicherweise platzgreifenden Einstellung nach § 170 11 StPO entfallen759. Wie bei jeder Einstellung im Ermittlungsverfahren erübrigt sich des weiteren ganz selbstverständlich die Abfassung mitunter umfangreicher Anklageschriften sowie der anschließende Sitzungsdienst76o . Die Entlastungswirkung setzt sich bei der Arbeit der Gerichte fort. Im Gefolge staatsanwaltschaftlicher Verfahrenseinstellungen nach § 153 aI StPO entfallen auf der Gerichtsebene Zwischen- und Hauptverfahren inklusive der oft besonders zeitintensiven mündlichen Hauptverhandlung761 . Aber auch für den Fall, daß es zur Erhebung der öffentlichen Klage kommt, kann § 153 a StPO immer noch justizentlastend eingreifen. So entfällt oder verkürzt sich bei einer gerichtlichen Beendigung des Verfahrens nach § 153 all StPO die Hauptverhandlung, und es bleibt dem Richter darüber hinaus die Abfassung eines (freisprechenden) Urteils erspart762. Und dennoch scheint die tatsächliche Entlastungswirkung im staatsanwaltschaftlichen Strafverfolgungsalltag, in den der statistisch mit Abstand größte Anteil an Anwendungsfällen fällt, nicht so gravierend zu sein, wie zur Verteidigung des § 153 a StPO regelmäßig vorgetragen wird. Es scheint vielmehr so, als unterscheide sich der Arbeitsaufwand bei einer Einstellung des Verfahrens nach § 153 a I StPO insgesamt nicht allzu sehr von dem, was es bei einem Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls oder beim Absetzen einer Anklageschrift zu investieren gilt763 . Im Gegenteil: In mancherlei Hinsicht erscheinen die beiden letztgenannten Erledigungsformen sogar weit weniger aufwendig als das Verfahren nach § 153 a IStPO. 758 Vgl. neben den nachfolgenden Ausführungen die Nachweise bei Ahrens, Hauptverhandlung, S. 14 Fn. 3. Eine Entlastungswirkung durch § 153a StPO grundsätzlich bejahend: Dencker, JZ 1973, S. 149; Kunz, Bagatellprinzip, S. 54; Schöch, FS Schüler-Springorum, S.250. 759 Heinz, FS Kaiser, S. 99; vgl. auch Rieß, ZRP 1983, S. 95. Dazu, daß § 153a StPO insoweit funktionswidrig - verstärkt an die Stelle des § 170 11 StPO getreten ist, vgl. oben "TeiI3.D.IX.". A.A. Rieß, ZRP 1983, S. 99. 760 Hertwig, Geringfügigkeit, S. 156 f.; Waller, DRiZ 1986, S. 48. 761 Hertwig, Geringfügigkeit, S. 156 f. Selbstverständlich würde das in gleicher Weise für eine Verfahrenseinstellung nach § 170 11 StPO gelten, so daß sich die Entlastungswirkung des § 153a StPO an dieser Stelle bereits relativiert. 762 Hirsch, GS H.Kaufmann, S. 141. Zu weiteren denkbaren Entlastungsmomenten vgl. oben "TeiI3.D.III.1." sowie "TeiI3.D.III.2.". 763 Insbesondere nach der Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 153a StPO wird diese Form der Verfahrenserledigung im Bereich mittelschwerer Kriminalität häufig den Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls ersetzen; vgl. dazu für die Zeit vor der Novelle 1993 bereits Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 226. Zur vergleichbaren Arbeitsbelastung im Zusammenhang mit einer Einstellungsentscheidung, einem Strafbefehlsantrag bzw. einer Anklage vgl. auch Ahrens, Hauptverhandlung, S. 77 m. w. N.; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 919; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 45 f. Zur Einspruchsrate beim Strafbefehlsverfahren vgl. unten "TeiI5.C.".

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Im übrigen setzt nach zutreffender Auffassung auch eine Verfahrenseinstellung nach § 153 aI StPO den Abschluß der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gemäß § 169 a StPO voraus, da erst zu diesem Zeitpunkt ein Verfahrensstadium erreicht ist, in dem auf der Grundlage einer hinreichenden Entscheidungsbasis über die Erhebung der öffentlichen Klage oder aber, wie § 153 alStPO es vorsieht, über ein Absehen von der Anklage entschieden werden kann 764 . Nimmt man den Wortlaut des § 153 alStPO ernst, der im Gegensatz zu Vorschrift des § 153 StPO auf die konjunktivische Fassung "wäre" verzichtet, ist mit den Ermittlungen der regelmäßig aufwendigste Teil der Strafverfolgung im Einstellungszeitpunkt bereits abgeschlossen und kann insoweit nicht mehr justizentlastend "eingespart" werden. Wird die Beendigung des Verfahrens nach § 153 alStPO dennoch als erheblicher Beitrag zur Entlastung der Staatsanwaltschaft propagiert, läßt dies wiederum Rückschlüsse auf die praktische Handhabung der Vorschrift zu, bei der man es - so hat es den Anschein - mit dem gesetzlich geforderten "Durchermitteln" nicht immer so genau nimmt. Darüber hinaus lassen die unterschiedlichen Mehrbe1astungen, die es im Zusammenhang mit einer Verfahrenseinstellung nach § 153 alStPO zu verbuchen gilt, an der Stichhaltigkeit des Entlastungsarguments zweifeln. So ist es beispielsweise Aufgabe der Staatsanwaltschaft, nach vorläufiger Einstellung des Verfahrens die Erfüllung der verhängten Auflagen zu überwachen 765. Des weiteren droht bis zur vollständigen Erfüllung der Sanktionen und der sich daran anschließenden endgültigen Einstellung die Möglichkeit der Fortsetzung des Strafverfahrens mit den damit verbundenen arbeitstechnischen Belastungen766. Die rechtstatsächliche Beobachtung, daß von § 153 a StPO reger Gebrauch gemacht wird, hat ihren Grund offenbar hauptsächlich darin, daß die spürbare Entlastungswirkung in erster Linie durch eine am Wortlaut der Vorschrift vorbei erfolgende "pragmatische" Abkürzung des Ermittlungsverfahrens geschieht. Hält man sich dagegen an die Voraussetzungen, scheint die tatsächliche Entlastungswirkung eher gering zu sein, so daß die rechts- und sozialstaatlichen Bedenken gegenüber der Prozeßökonomie als dominierendem Motiv der Gesetzgebung voll durchschlagen767. Preis und Gewinn der Regelung stehen in einem deutlichen Mißverhältnis zueinander. 764 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 77; AK-Schöch, § 153a Rn. 11; Dencker; JZ 1973, S. 150; Döhring, S. 138; Eckl, IR 1975, S. 101; Fezer; ZStW 106 (1994), S. 23; Freund, GA 1995, S. 17; LR-Rieß, § 153a Rn. 31 m. w. N.; derselbe, FG Koch, S. 222 f. m. w. N.; Schirrmacher; S. 36 m. w. N. Zur "Durchermittlungspflicht" bei § 153a StPO vgl. auch bereits oben "Teil 3.C.I.". Vgl. dazu auch die Entwurfsbegründung zu § 153a StPO (BT-Drs. 7/550, S. 298), nach der ein ausermittelter Sachverhalt bereits im Hinblick auf den formellen Sanktionscharakter der Auflagen und Weisungen vonnöten sei. 765 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 77; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 18 Fn. 13 m. w. N.; Hünerjeld, ZStW 90 (1978), S. 919; Kausch, S. 127 f.; KK-Schoreit, § 153a Rn. 32; derselbe, DRiZ 1991, S. 404. 766 Eisenberg, Kriminologie, S. 282.

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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XIII. "Minima non curat praetor" § 153 a StPO als Instrument zur prozessualen Korrektur materieUrechtlicher Überreichweiten des Strafrechts

Man hat eine gewisse Berechtigung für die Existenz der opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschrift des § 153 a StPO daraus herzuleiten gesucht, daß sie eine Funktion in dem Aufgabenfeld wahrnimmt, das schlagwortartig mit minima non curat praetor umschrieben ist. Angesprochen ist die (prozessuale) Aussonderung von Verhaltensweisen, die angesichts einer allgemeinen "Hypertrophie" des Strafrechts zwar materiell vertatbestandlicht sind, die aber letztendlich nicht dem Richter zur Entscheidung zufallen sollen768. Eine solche Korrektur materiellrechtlicher Überreichweiten ist nicht zuletzt deshalb vonnöten, um durch die Ausfilterung bestimmter, insgesamt weniger beachtlicher Verhaltensweisen aus dem formal strafbewehrten Bereich, die Strafe als ein aussagekräftiges Reaktionsmittel für schwere Straftaten zu reservieren und auf diese Weise ihre ultima-ratio-Funktion zu wahren: Strafe als das "gewichtigste Mittel zur Disqualifikation von Verhaltensweisen,,769 darf nicht inflationär eingesetzt werden, sondern muß, damit sich ihre Präventionswirkung nicht unnötig abnutzt, gewichtigen Angriffen auf gewichtige Rechtsgüter vorbehalten bleiben. Des weiteren trägt die angesprochene Selektion ganz generell dazu bei, dem Strafprozeß seine Funktionsfahigkeit zu erhalten77o . Die Notwendigkeit zu einer prozessualen Korrektur ergibt sich aus einer Bestandsaufnahme des materiellen Strafrechts, in dem im Rahmen der Tatbestandsnormierung vielfach eine materiellrechtliche Fixierung des sanktionsbedürftigen Normgehalts nicht erfolgt ist, und wo nun die dadurch entstandenen Überreichweiten durch den Einsatz opportunitätsgeprägter Normen des Strafprozeßrechts ausgeglichen werden sollen77l . Eine weitere Notwendigkeit zur prozessualen Korrektur besteht dort, wo ein Verhalten zwar den Tatbestand eines Vergehens erfüllt, jedoch nicht als Vergehen sanktionsbedürftig erscheint. Die Gründe, durch die am Ende dieser Umweg über das Prozeßrecht angestoßen wird, sind vielfältiger Natur. Bei grober Vereinfachung lassen sich die legislatorischen Ungenauigkeiten in zwei größere Kategorien einteilen: Die exakte materiellrechtliche Fixierung des tatsächlichen Normgehalts einer Strafvorschrift ist - so hat es zumindest den Anschein Vgl. zu diesem Ergebnis Bemsmann, ZRP 1994, S. 329. Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 49 ff. 769 Frisch, FS Stree/Wessels, S. 86. Vgl. dazu auch Hund, ZRP 1994, S. 5; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 58; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 105 m.w.N. 770 Vgl. dazu Peters, Strafprozeß, S. 11. 771 Vgl. Hund, ZRP 1994, S. 7; Meinberg, Wirtschaftsstrafsachen, S. 237. Zu diesem Zusammenspiel von materiellem und prozessualem Recht vgl. Naucke, Modemes Strafrecht, S. 156: "Im legalen Strafrecht ist das Gesetz Grenzziehung: für den Tater, für das Opfer und für die gesamte Strafverfolgung. Im legal-opportunen Strafrecht zieht das Gesetz zwar auch Grenzen, löst sie zugleich aber wieder auf." 767

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

vom Gesetzgeber "manches Mal nicht gekonnt, manches Mal wiederum erst gar nicht gewollt". So wurde einerseits im Jahre 1974 mit Hilfe des § 153 a StPO - und damit, so Dencker772 , durch einen "prozessualen Trick" - eine dem Gesetzgeber selbst "unbehagliche (materiellrechtliche) Wertentscheidung"773 korrigiert, die daraus resultierte, daß nach Abschaffung der "Übertretungen" keine Deliktskategorie mehr zur Verfügung stand, in die Verhaltensweisen im Grenzbereich zwischen Bagatellen und "echtem" Kriminalunrecht adäquat hätten eingeordnet werden können774 . Die materiellrechtliche Höherstufung einiger bedingt bagatellarischer Verhaltensweisen zu Vergehen, denen man nach Wegfall der dritten Deliktskategorie auch seitens des Gesetzgebers keinen höheren Beachtlichkeitsgrad beimessen wollte, konnte auf diese Weise "durch die (prozessuale) Hintertür" wieder ausgeglichen werden. Auf der anderen Seite versetzen prozessuale Korrekturvorschriften den Gesetzgeber in die günstige Lage, an durchaus begrüßenswerten Wertentscheidungen des materiellen Rechts auch für die Zukunft (vordergründig) festhalten zu können, ohne jedoch den Normverstoß in ausnahmslos jedem Fall tatsächlich mit Strafe beantworten zu müssen. So kann dem Staat im Einzelfall daran gelegen sein, auf die Symbolwirkung aktueller Straftatbestände nicht zu verzichten, obwohl die inkriminierten Verhaltensweisen möglicherweise nicht mehr länger den rechtspolitischen Vorstellungen dessen entsprechen, was tatsächlich weiterhin strafbewehrt sein soll. Das Zusammenspiel mit opportunitätsgeprägten Vorschriften des Prozeßrechts ermöglicht das formale Festhalten an der "eigentlich obsolete(n) oder überflüssige(n) Norm"775, denn: was letztendlich Strafeinsatz erfordert, wird ja ohnehin erst im Prozeßrecht entschieden. So kann beispielsweise durch die Beibehaltung der grundsätzlichen Ahndungsmöglichkeit ein Wertebekenntnis weiter gepflegt776 oder aber die Abschreckungswirkung einer Norm weiterhin aufrechterhalten werDencker, JZ 1973, S. 146. Dencker, JZ 1973, S. 146. 774 Vgl. zu alledem im einzelnen oben "Teil3.C.III.1.". 775 Weigend, ZStW 109 (1997), S. 105 Fn. 6. 776 Eine prägnante Erscheinungsform symbolischer Gesetzgebung stellt das Abtreibungsrecht der §§ 218 ff. StGB dar (vgl. Hassemer, NStZ 1989, S. 554), worin sich der Gesetzgeber einerseits durch das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs zum ,,Leben" als höchstem Rechtsgut bekennt, andererseits aber den im Falle eines gewünschten Abbruchs bestehenden Konflikt mit dem Selbstbestimmungsrecht der abbruchswilligen Mutter dadurch zu lösen versucht, daß er den Schwangerschaftsabbruch beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen gleichzeitig (hier: materiellrechtlich) entkriminalisiert. Indem der Gesetzgeber in § 218a IV StGB praktisch ein Verbot normiert, ohne daß es vertatbestandlicht wird (vgl. Schuh, StV 1994, S. 45), ist er bemüht, die Schwangere in der Konfliktsituation als potentiellen Partner für den Lebensschutz zu erhalten, ohne dabei das "grundsätzliche" Verbot des Schwangerschaftsabbruchs - und damit das Wertebekenntnis - aufzulösen; vgl. zum sog. zweiten Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. 5. 1993 (in: NJW 1993, S. 1751 ff.) die Besprechung bei Schuh, StV 1994, S. 38 ff. 772

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D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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den 777 . Zudem läßt sich auf diese Weise eine unerwünschte Signalwirkung vermeiden, die unter Umständen von einer sichtbaren materiellrechtlichen Entkriminalisierung ausgehen würde. Bestes Beispiel ist dabei der Umgang mit Delikten aus dem Betäubungsmittelstrafrecht, die den Besitz und Erwerb geringer Mengen Betäubungsmittel für den Eigenverbrauch zum Gegenstand haben. Hier bleibt das Wertebekenntnis zu einer weitestgehend betäubungsmittelfreien Gesellschaft in Form der (symbolischen) Strafandrohung erhalten, obgleich einige der mit Hilfe des Strafrechts nach wie vor schutzummantelten Verhaltensweisen kaum strafwürdigen und strafbedürftigen Unrechts längst "außerhalb des Kernbereichs des klassisch für ein Gemeinwesen Unerträglichen,,778 stehen dürften, und die (insoweit papierne) Strafandrohung auf prozessualem Wege durch weitestgehende Nichtanwendung der Normen längst faktisch suspendiert ist779 . So wie gesellschaftliche Anschauungen stetigen Veränderungen unterliegen und geltendes Recht im Laufe der Zeit zu bloß noch symbolischem Recht degenerieren kann, so wird mit ähnlichem Ergebnis oft ganz gezielt und originär vom Gesetzgeber Strafrecht "auf Halde,,78o produziert, um beispielsweise - bevorzugt zu Wahlkampfzeiten - möglichst öffentlichkeitswirksam eine politisch preiswerte Lösung für ein dringliches gesellschaftliches Problem anzubieten. Auf einen realen Handlungsbedarf folgt - sofern es politisch opportun erscheint - nur allzu häufig ein rein symbolischer Gesetzgebungsakt: "Das Strafgesetz schafft die Illusion, es sei etwas zur Lösung des Problems getan worden,,781. Bestes Beispiel ist hier das 1980 neu gefaßte Umweltstrafrecht der §§ 324 ff. StGB, handelt es sich hierbei doch um einen politischen Kompromiß, der nicht zuletzt angesichts der "fatalen Erledigungsstrukturen" in der Rechtswirklichkeit im Nachhinein als "eine Art ,Feigenblatt' für unterbliebene, wesentlich dringlichere Umweltschutzaktivitäten" bezeichnet werden kann 782 . Alibihafte normative Fixierungen von Wertebekenntnissen basieren oft auf dem Wunsch der Politik, öffentliche Ängste und Empörung möglichst schnell zu beschwichtigen783, wobei die Vordergründigkeit des Legisla777 Kunz. Bagatellprinzip, S. 49. Zum Nebeneinander von Prävention und Nichtbestrafung vgl. auch Backes. KritV 1986, S. 321: ,,Dieser neue Typus gesetzlicher Ausgestaltung - nach außen ein Mehr an Regelungsgehalt zu plakatieren als intern für erforderlich gehalten wird demonstriert öffentlich die Unverbriichlichkeit der Strafnorrn, während die Anwendungspraxis sich schon eine eigene Tatbestandstypologie zurechtgelegt hat." 778 Hauf, MschrKrim 1995, S. 369. Vgl. dazu im einzelnen unten "TeiI5.D.". 779 Vgl. Hund. ZRP 1994, S. 6, wonach die gesetzgeberische Kriminalisierungsentscheidung im Bereich des Erwerbs und Besitzes geringer Mengen sog. "weicher" Drogen angesichts des breit angelegten prozessualen Entkriminalisierungsverhaltens der Strafverfolgungsbehörden offenbar nicht mehr den rechts politischen Vorstellungen entspreche. Vgl. auch Staechelin. JA 1994, S. 246. Dazu im einzelnen unten "Teil3.F.". 780 Lorenzen, FS StA Schleswig-Holstein, S. 548. 781 Hund. ZRP 1994, S. 6. Vgl. auch Hassemer, KritV 1990, S. 274. 782 Meinberg. Kriminalistik 1989, S. 18. Vgl. auch Hirsch, GS H.Kaufmann, S. 153. Zum faktischen Mißverhältnis zwischen "Input" und "Output" bei Umweltstrafsachen vgl. oben "Teil3.D.III.1.".

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

tivakts nicht selten die nachhaltige Lösung des Problems verhindert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung, daß regelmäßig größere materiellrechtliche (Mehr-)Kriminalisierungen von einer meist zeitgleichen Erweiterung des prozessualen Korrekturinstrumentariums begleitet und dadurch am Ende zu einem "heimlichen" Ausgleich gebracht werden 784. Wenn sich § 153 a StPO nunmehr ebenfalls in den Dienst der prozessualen Korrektur materiellrechtlicher Überreichweiten des Strafrechts stellt, unterstützt die Norm einen Mechanismus, der den Vergleich mit einer ehrlichen, materiellrechtlichen Entkriminalisierung scheuen muß. Ein Gesetzgeber, der einer genauen Fixierung des sanktionsbedürftigen Normgehalts auf der materiellrechtlichen Ebene ausweicht und das Feld strafrechtlicher Grenzziehung (systemwidrig) der Exekutive überläßt, stiehlt sich aus seiner Verantwortung 785. Dies gilt für die Forderung nach anfänglicher Normklarheit ebenso wie für ein nachträglich entstandenes Entkriminalisierungsanliegen, dem gleichsam nicht durch opportune Einstellungsmaßnahmen der Exekutive, sondern vielmehr im Wege einer legislatorischen Einengung oder Autbebung der betreffenden Strafvorschriften nachgekommen werden sollte786 . Die allein faktische Außerkraftsetzung einer Norm durch rechtspraktische Handhabung führt friiher oder später zu einem Glaubwürdigkeits- und damit auch zu einem Präventionsverlust787. Dazu heißt es bei Staechelin788: "Die Glaubwürdigkeit eines Kriminaljustizsystems, welches im Gesetzestext Flagge zeigt ... , ist minimal, wenn der Normadressat davon ausgehen kann, daß hier heiße Luft produziert wird." Wer sich dariiber hinaus in anfanglicher "Kriminalisierungseuphorie"789 - getreu dem Motto: ,,Man kann die Strafbarkeitserklärung ... ruhig formulieren. Wieweit sie praktiziert wird, entscheidet ohnehin die Opportunität im konkreten Verfahren,,790 - nicht hinreichend klar auf einen sanktionsbedürftigen Normgehalt festlegt, schafft in der Folge Raum für prozessuale Entkriminalisierungsmaßnahmen, die ihrerseits (auch) materiellrechtlich nicht mehr vertretbar sind. Legislatorische "Schnellschüsse" zur eiligen Beruhigung der Volksseele bedeuten zudem regelmäßig "politisch eine Tauschung der Öffentlichkeit,,791 und 783 Zur symbolischen Gesetzgebung in sog. "Alibi- und Krisengesetzen", der nicht zuletzt auch die KodifIkationen zur Bekämpfung des Terrorismus in den siebziger Jahren unterfallen, vgl. Hassemer; NStZ 1989, S. 554. 784 Baumann, FS Peters, S. 6, der in diesem Zusammenhang auf die Neuregelung der Staatsschutzdelikte verweist, die von einer Zunahme der Opportunitätsvorschriften begleitet wurde. 785 Baumann, ZRP 1972, S. 275; derselbe, FS Peters, S. 4; Hassemer; NStZ 1989, S. 558; Heine/Meinberg, DJT-Gutachten, D 97; Kohlhaas, DAR 1975, S. 14; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 51. 786 Vgl. Hassemer; FS StA Schleswig-Holstein, S. 538. 787 Baumann, FS Peters, S. 4 f.; Hund, ZRP 1994, S. 6 f. 788 Staechelin, JA 1994, S. 247. 789 Rogall, NStZ 1992, S. 567; zitiert nach Hund, ZRP 1994, S. 6. 790 Naucke, KritV 1993, S. 136. 791 Hassemer; FS StA Schleswig-Holstein, S. 538.

D. § 153 a StPO und Einschränkung des Legalitätsprinzips

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kaschieren dabei oft die wahren Ursachen eines gesellschaftlichen Problems, was wiederum seine nachhhaltige Bekämpfung gefährdet792 . Insgesamt besehen erscheint es somit angezeigt, Entkriminalisierung in erster Linie auf die materiellrechtliche Ebene zu verlagern793 und sie damit in der Hand der staatlichen Teilgewalt zu belassen, die konstitutionell zur Absteckung des strafwürdigen und strafbedürftigen Bereichs menschlichen Verhaltens vorgesehen ist - der Legislative. Wenn nun § 153 a StPO zur (systemwidrigen) prozessualen Korrektur materiellrechtlicher Überreichweiten des Strafrechts herangezogen wird, ist dies keine Funktionswahrnehmung, aus der die Vorschrift Argumente für ihre Legitimation herleiten könnte.

XIV. Ergebnis

Die vorangegangene Untersuchung der Opportunitätseinstellungsvorschrift des § 153 a StPO hat die eingangs dieses "Dritten Teils" im Zusammenhang mit dem Opportunitätsgedanken formulierten Befürchtungen vollauf bestätigt. Die unzureichende Vorgabe objektiver Entscheidungskriterien führt im Falle des § 153 a StPO zu einem Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz in Art. 103 11 GG. Eine nur spärliche Anleitung des Rechtsanwenders begünstigt den Einfluß objektiv unsachlicher oder gar außerrechtlicher Motive auf die Opportunitätsentscheidung und ist nicht zuletzt deshalb Ausgangspunkt einer im Hinblick auf Art. 3 I GG bedenklichen Ungleichheit der Rechtsanwendung. Eine Leerformel wie das "öffentliche Interesse" in § 153 a StPO bereitet den Boden für eine ungleichmäßige Handhabung der Vorschrift durch die Praxis und genügt daher nicht den verfassungsrechtlichen Postulaten von Gleichheit, Prognostizierbarkeit und Rechtssicherheit. Fehlende Konturen im gesamten Normprogramm sowie eine vollständige Überantwortung der inhaltlichen Konkretisierung sämtlicher Unbestimmtheiten an föderale Strukturen innerhalb der Strafrechtspflege schaffen am Ende regional unterschiedliche Orientierungsmaßstäbe, die als Ausdruck der jeweils vorherrschenden ordnungspolitischen Vorstellungen eine Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung nicht gewährleisten können. So verhindert die gesamte Struktur des Einstellungsverfahrens nach § 153 a StPO nicht zuletzt auch die Herausbildung einer richtungsweisenden Judikatur, die wenigstens ihrerseits zur Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe beitragen könnte. Die Ausschaltung des Richters wird primär an anderer Stelle in § 153 a StPO virulent: Der Abbau richterlicher Entscheidungskompetenzen findet seinen HöheVgl. Hund, ZRP 1994, S. 6. Baumann, ZRP 1972, S. 275; derselbe, FS Peters, S. 6 f.; Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 538; Weigend, ZStW 109 (1997), S. 106 m. w. N. Zu den verschiedenen Formen von Entkriminalisierung und den darauf aufbauenden Lösungsansätzen vgl. im einzelnen unten ..Teil5.B .... 792

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

punkt in der normativen Delegierung von Sanktionsbefugnissen an den Staatsanwalt. So nimmt die Anklagebehörde mit der Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 aI StPO Aufgaben wahr, die verfassungsrechtlich in den alleinigen Zuständigkeitsbereich der rechtsprechenden Gewalt fallen. Die in § 153 a I StPO vorgenommene Verlagerung richterlicher Entscheidungsmacht auf ein Exekutivorgan verstößt daher gegen das die Gewaltenteilung konkretisierende Rechtsprechungsmonopol der Gerichte in Art. 92, 20 11 S. 2 GG. Mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz unvereinbar erscheint auch die zur Ausfüllung der Weite des § 153 a StPO praktizierte abstrakt-generelle Festlegung von Strafbarkeitsgrenzen in Form von exekutivischen Richtlinien sowie der justizinterne Machtzuwachs auf seiten der Staatsanwaltschaft, der sich durch die Vereinigung von Ermittlungs-, Entscheidungs- und Sanktionskompetenz in ihrer Hand ergibt. Die staatsanwaltschaftlichen Rechtsfolgenentscheidungen, gegen die es - insoweit mit der Garantie des Art. 19 IV GG unvereinbar - de lege lata keinen effektiven Rechtsschutz gibt, knüpfen zudem an mindere Verdachtsgrade an, so daß die Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 a I StPO in Anbetracht ihres strafähnlichen Charakters und in Ermangelung eines gesetzlichen Schuldnachweises gegen die Garantie des Art. 6 11 MRK und das verfassungsrechtliche Schuldprinzip verstößt. Das gesamte Verfahren findet überdies fernab der rechtsstaatlichen Garantien einer gerichtlichen Hauptverhandlung statt, deren Durchführung wohl nicht zuletzt im Hinblick auf die Grundsätze von Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der Strafrechtspflege und damit auch der Prävention weitaus zuträglicher wäre, als die "Heimlichkeit" eines der rechtsstaatlichen Garantien weitgehend entkleideten, informellen Verfahrens nach § 153 a StPO. Hier wird der Beschuldigte nicht selten durch nötigungsähnliche Repressionen seitens der professionellen Verfahrensbeteiligten zur Unterwerfung unter eine ("Denkzettel"-)Sanktion gezwungen, die wiederum dem Verfahren insgesamt den Vorwurf der "Käuflichkeit" einbringt. Der sich angesichts dieser Praxis leicht vermittelnde Eindruck, der Staat lasse sich seinen Strafanspruch "abkaufen", schadet dem Ansehen der Strafrechtspflege. Ein "levantinisches Feilschen" um Straffreiheit beschädigt die Würde des Rechtsstaats. Die weit gediehene Kommerzialisierung der Strafrechtspflege hat dariiber hinaus eine mit Blick auf das Sozialstaatsprinzip problematische Privilegierung des sozial bessergestellten Straftäters sowie eine weitere Verschlechterung der Stellung des Verletzten zur Folge, dessen Belange bei der Binnenstruktur der Einstellungspraxis regelmäßig unberücksichtigt bleiben. Des weiteren trägt ein geradezu inflationärer Gebrauch von § 153 a StPO dazu bei, das gesetzlich vorgesehene Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Legalität und Opportunität rechtstatsächlich außer Kraft zu setzen. Die im Gegenzug zur Verteidigung der Norm häufig angeführte Entlastungswirkung dürfte jedenfalls dann äußerst begrenzt sein, wenn man von staatsanwaltschaftlicher Seite die einer Einstellung nach § 153 alStPO vorausgehende Durchermittlungspflicht ernstnimmt. Ganz unabhängig davon verbietet es sich bereits, prozeßökonomische Erwägungen auf eine Stufe mit den Verfassungspostulaten der Bestimmtheit,

E. Verfahrenseinstellungen gemäß §§ 153 b ff. StPO

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Gleichheit und Gewaltenteilung zu stellen. Opportunität als notwendiges Strukturprinzip eines einheitlichen Reaktionssystems wird durch § 153 a StPO in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise repräsentiert: Die opportunitätsgeprägte Einstellungsvorschrift des § 153 a StPO ist verfassungswidrig.

E. Das weitreichende Opportunitätsdenken in den Verfahrenseinstellungen gemäß der §§ 153 b ff. StPO Bei den Opportunitätseinstellungen nach § 153 b StPO steht erneut der justizökonomische Aspekt im Vordergrund der Regelung. Nach der Intention der Nonn soll eine kosten- und zeitaufwendige Hauptverhandlung vermieden und das Verfahren zu einem möglichst friihen Zeitpunkt eingestellt werden, wenn voraussehbar ist, daß am Ende ein "Absehen von Strafe" stehen wird794 . Die Freude über die zu erwartende Justizentlastung bleibt jedoch auch in diesem Fall opportunen Strafverfolgungshandelns nicht ungetriibt. So wurde durch die Einführung dieser informellen Erledigungsmöglichkeit insbesondere das allgemeine Rechtsinstitut "Absehen von Strafe" im Sinne von § 60 StGB faktisch beseitigt. Fälle, in denen zuvor nach richterlichem Schuldspruch auf ein "Absehen von Strafe" erkannt worden wäre, werden nunmehr regelmäßig bereits von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren erledigt. Hierdurch geht jedoch eine aus spezial- und generalpräventiver Sicht wichtige Abstufung innerhalb der staatlichen Reaktionsmöglichkeiten auf strafbares Verhalten verloren, die darin besteht, daß ein ,,Yor-dem-RichterStehen" in Verbindung mit einem Schuldspruch in vielen Fällen beim Beschuldigten einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen wird als eine regelmäßig "lautlose" staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung 795. Diese in geeigneten Fällen vielversprechende Abstufung im strafrechtlichen Reaktionsarsenal verkümmert derweil auch im Zusammenhang mit dem Strafbefehlsverfahren, für das § 407 11 Nr. 3 StPO inhaltlich die Festsetzung der Rechtsfolge des "Absehens von Strafe" nach richterlichem Schuldspruch ennöglicht, sofern sie materiellrechtlich besteht. Auch dieser Weg über das Strafbefehlsverfahren wird faktisch durch die Verfahrensbeendigung nach § 153 b StPO bedeutungslos gemacht796 • Die opportunitätsgeprägte Einstellungsnonn des § 153 c StPO, die Straftaten mit Auslandsberiihrung unter verschiedenen Umständen von einer Verfolgung freistellt, trifft in Absatz 3 eine fragwürdige Zuständigkeitsregelung797 . Die StaatsanDazu bereits oben "Teil 2.B.I.4.a)". Vgl. Bloy, GA 1980, S. 176. 796 Zur Frage der Verfahrensökonomie und der insoweit umstrittenen "Durcherrnittlungspflicht" bei § 153b StPO vgl. Döhring, S. 139 f. m. w. N. 797 Dazu bereits oben "Teil 2.B.1.4.a)". 794

795

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

waltschaft kann hiernach auch noch nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Anklage zurücknehmen und das Verfahren autonom und ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Nachprüfung dieser Entscheidung einstellen. Diese Durchbrechung des in § 156 StPO positivierten Immutabilitätsgrundsatzes wird bisweilen als Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip in Art. 20 11 S. 2 GG sowie ferner als mit der Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 101 I S. 2 GG nur schwer vereinbar angesehen798 . Ob diese Bedenken berechtigt sind, kann hier aber offenbleiben. Jedenfalls bewirkt die Vorschrift eine bemerkenswerte Akzentverschiebung im Verantwortungsbereich zugunsten der Exekutive für den Fall, daß im Rahmen der Strafverfolgung die Berücksichtigung politischer Erwägungen opportun erscheint. Politische Zweckmäßigkeitsüberlegungen sind es auch, die den Opportunitätseinstellungen nach § 153 d StPO ihre Legitimationsgrundlage geben und auf diese Weise sinnvolle Ausnahmen vom strikten Verfolgungszwang möglich machen 799 . Dazu heißt es bei Hassemer8OO : "In einem modemen, folgenorientierten Strafrechtssystem dürfte es nicht einleuchten, ein Strafverfahren auch dann durchführen zu müssen, wenn der politische Schaden größer ist als der Nutzen." Wenngleich die grundsätzliche Berechtigung derartiger Opportunitätserwägungen vernünftigerweise nicht in Zweifel zu ziehen sein dürfte, erscheint dennoch fraglich, ob die konkrete Ausgestaltung der gesetzlichen Grundlage im Hinblick auf das rechtsstaatliche Erfordernis der Bestimmtheit im Falle des § 153 d StPO gelungen ist. Mag die erste Anwendungsvoraussetzung in § 153 diStPO, namentlich "die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland", angesichts zahlreicher Parallelen im materiellen Recht 801 und der daraus resultierenden Judikatur noch einigermaßen bestimmbar sein, läßt wiederum die nachfolgende Variante, derzufolge "sonstige überwiegende öffentliche Interessen" eine Verfolgung hindern können, mit dem Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz doch Wünsche offen 802 . Die Opportunitätseinstellungsermächtigungen im speziellen Zusammenhang mit Staatsschutzdelikten werden schließlich durch § 153 e StPO ergänzt, der die materiellrechtliche Figur der "tätigen Reue" beinhaltet und dem angesichts seiner prozessualen Stellung eine gewisse Systemwidrigkeit vorgeworfen werden kann. So steht nach Bloy803 die mit der Einstellung des Verfahrens dokumentierte fehlende Strafbedürftigkeit der Tat schon materiellrechtlich einer Bestrafung entgegen. Es handle sich bei § 153 e StPO also um eine Norm, die sich in die Systematik der Einstellungsgründe nicht einordnen lasse.

798 799 800 801

802 803

Faller, FG Maunz, S. 85 f. Dazu bereits oben "TeiI2.B.1.4.a)". Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 536. Vgl. §§ 93 I, 94, 95, 97, 97a StGB. Faller, FG Maunz, S. 84 f. Bloy, GA 1980, S. 180. Vgl. dazu bereits oben "Teil2.B.I.4.a)".

E. Verfahrenseinstellungen gemäß §§ 153 b ff. StPO

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Die verfassungsrechtlichen Problemfelder bei den opportunitätsgeprägten Einstellungsnonnen der §§ 154, 154 a StPO ähneln denen der §§ 153, 153 aStPO, insbesondere was die Fragen einer Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot, dem Gleichbehandlungsgrundsatz, dem Willkürverbot, der Rechtsschutzgarantie und der Unschuldsvennutung anbelangt804 • Das Anwendungsmerkmal des "Beträchtlich-ins-Gewicht-Fallens" in § 154 I Nr. 1 StPO ist in seiner Funktion als Relationskriterium quasi "von Hause aus" unbestimmt und erschwert eine gleichmäßige Anwendungspraxis. Wann im einzelnen ein Vergleich der hypothetisch zu erwartenden Rechtsfolgen zwischen einzustellender Tat und Bezugstat eine qualitative "Beträchtlichkeit" ausweist und damit einstellungshindernd wirkt, ist weitestgehend unklar805 . Die bei der Auslegung des Merkmals zu beriicksichtigenden allgemeinen und besonderen Rechtsfolgenstrafzwecke806 tragen angesichts ihrer eigenen Vagheit nur wenig zur inhaltlichen Konkretisierung des Beträchtlichkeitsmerkmals bei und belassen dem Rechtsanwender einen großzügigen Beurteilungsspielraum 807 • Gleiches gilt für den Begriff der "Unangemessenheit" in § 154 I Nr. 2 StPO, wo im Rahmen der qualitativen Bestimmung erneut die besonderen Rechtsfolgenstrafzwecke zu beriicksichtigen sind808 . In Anbetracht der interpretatorischen Weite von "Beträchtlichkeit" und "Angemessenheit", scheint bei der Ausgestaltung des § 154 StPO die gewünschte Flexibilität ein weiteres Mal auf Kosten der Bestimmtheit mit all den daran anknüpfenden, aus rechtsstaatlicher Sicht unerfreulichen Begleiterscheinungen erkauft worden zu sein. Weitere weitgehend unbestimmte Wendungen, wie beispielsweise die "Verteidigung der Rechtsordnung" oder aber auch die "ausreichende Einwirkung auf den Täter" in § 154 I Nr. 2 StPO, ergänzen das ungute Bild von einer Vorschrift, die in erster Linie auf Flexibilitätsgewinn abzielt, indem sie sich mittels größtmöglicher Dehnbarkeit den jeweiligen Bedürfnissen des jeweiligen Rechtsanwenders anzupassen versteht809 • Der weite Beurteilungsspielraum bietet dabei eine EinbruchsteIle für unsachgemäße Motive, deren Beriicksichtigung im Rahmen der Einstellungsentscheidung wiederum unausweichlich zu ungerechtfer804 Vgl. zu den Anwendungsvoraussetzungen der §§ 154, 154a StPO bereits oben "Teil 2.B.I.4.a)". Die Diskussion ihrer verfassungsrechtlichen Dimension soll an dieser Stelle in keinster Weise an den diesbezüglichen Umfang bei §§ 153, 153a StPO heranreichen. Ausführliche Bearbeitungen zu den §§ 154, 154a StPO und den ihnen eigenen Problemfeldern finden sich beispielsweise bei Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 80 ff. sowie bei Pott, S. 45 ff. 805 Pott, S. 66 ff. 806 Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 117 m. w. N.; Pott, S. 69 f. m. w. N. 807 Pott, S. 148; vgl. auch Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 143. 808 Pott, S. 82. 809 Vgl. Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 106 f., der jedoch trotz erheblicher Bedenken schlußendlich ein verfassungsrechtlich ausreichendes Maß an Bestimmtheit gewährleistet sieht; vgl. Kapahnke a. a. 0., S. 107. Zu einern anderen Ergebnis gelangt indessen Pott, S. 148 ff., die angesichts der "gravierenden Unbestimmtheit ihres Anwendungsbereichs" die §§ 154, 154a StPO für verfassungswidrig ansieht; vgl. Pott, S. 151.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

tigten Ungleichbehandlungen führen muß. Neben den ungleich größeren Einstellungschancen für komplizierte und komplexe Straftaten, die sich bereits zwangsläufig aus der prozeßökonomischen Zielsetzung der Norm ergeben dürften, werden - wie auch zuvor bei § 153 a StPO - nicht zuletzt etwaig vorhandene Beweisschwierigkeiten oder auch der drohende Eintritt von verfahrensausschließenden oder -verzögernden Gründen die Bereitschaft der Justiz zu einer Verfolgungseinstellung nach den §§ 154, 154 a StPO - möglicherweise zu Lasten einer ebenfalls in Reichweite liegenden Verfahrensbeendigung nach § 170 11 StPO - regelmäßig erhöhen 81O • Des weiteren wird - auch insoweit besteht eine Parallele zu der Situation bei § 153 aI StPO - durch eine Verfahrenseinstellung nach § 154 I StPO die Position des durch die Straftat Verletzten über Gebühr vernachlässigt, indem ihm zur Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung erneut nur die formlose Dienstaufsichtsbeschwerde, nicht aber das Klageerzwingungsverfahren zur Verfügung gestellt wird81l . Den Verletzten auf diese Weise völlig aus dem Verfahren herauszudrängen, bedeutet auch hier, der staatlichen Fürsorgepflicht gegenüber dem Opfer einer Straftat nicht ausreichend nachzukommen, mit der Folge, daß über den Vertrauensverlust in eine gerechte Strafrechtspflege hinaus eine wichtige externe Kontrollinstanz über das Handeln der Staatsanwaltschaft verlorengeht812 . Im Gegensatz zu einer Einstellung des Verfahrens unter Verhängung von Auflagen und Weisungen nach § 153 aI StPO findet bei der folgenlosen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensbeendigung nach § 154 I StPO keine Sanktionierung eines Unschuldigen statt, so daß die Vorschrift zum einen im Hinblick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz in Art. 2011 S. 2 GG und insbesondere auch im Hinblick auf die Unschuldsvermutung nach Art. 6 11 MRK und das Schuldprinzip nicht annähernd den Vorwürfen ausgesetzt ist, derer sich zuvor § 153 a I StPO - insoweit ohne Erfolg 813 - erwehren mußte. Am Ende darf jedoch auch bei einer (Teil-)Einstellung des Strafverfahrens nach § 154 StPO die Wirkung der Maßnahme auf das Rechtsempfinden der Allgemeinheit nicht außer acht gelassen werden 814 : ein unerwünschter Glaubwürdigkeitsund Präventions verlust kann auch hier die Folge einer mehrheitlich nicht mehr nachvollziehbaren Gebrauchmachung von der opportunen Einstellungsermächtigung sein. Diese Befürchtung erscheint insbesondere deshalb nicht ganz grundlos, 8\0 Kapahnke. Opportunität und Legalität, S. 146, 160; vgl. auch Berckhauer, ZStW 89 (1977), S. 1040. Zu den angesprochenen Parallelen bei § 153a StPO vgl. oben "TeiI3.D.III.". 811 Der Wortlaut des § 172 II S. 3 StPO ist auch insoweit eindeutig; vgl. dazu Kapahnke. Opportunität und Legalität, S. 143, 151 ff. Zu den angesprochenen Parallelen bei § 153a StPO vgl. oben "Teil 3.D.V.". 812 Kapahnke. Opportunität und Legalität, S. 151 ff.; Weigend. Anklagepflicht und Ermessen, S. 84. 813 Dazu oben "TeiI3.D.IV." sowie "TeiI3.D.VI.". 814 Kapahnke. Opportunität und Legalität, S. 153 ff.

F. Absehen von der Strafverfolgung nach § 31 a BtMG

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weil es hier spätestens seit der Ausdehnung des Anwendungsbereichs der §§ 154, 154 a StPO durch das StVÄG im Jahre 1979 längst nicht mehr nur um das Ausscheiden von Nebensächlichkeiten gehtSl5 . Ingesamt besehen steht dem Anwender mit den §§ 153 ff. StPO eine breite Palette opportuner Einstellungsermächtigungen zur Verfügung, die zum einen den Herrschaftsbereich des Grundsatzes der Legalität ganz allgemein beschneiden und zum anderen in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht frei von verfassungsrechtlichen, rechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Vorhaltungen sind. Trotz alledem scheint für den Gesetzgeber das Thema "Opportunität" auch im Bereich der Strafprozeßordnung noch lange nicht ausgereizt zu sein, sehen doch entsprechende Reformvorschläge eine Vielzahl neuerlicher Ausweitungen der §§ 153 ff. StPO vorSl6 .

F. Absehen von der Strafverfolgung nach § 31 a BtMG Ein weiterer Bestandteil dieses vornehmlich an Kapazitätsproblemen und Flexibilitätswünschen ausgerichteten Gesamtkonzepts strafrechtlicher Konfliktbewältigung ist auch § 31 a BtMG, der seit dem 16. 9. 1992 als Spezialnorm zu § 153 StPO das opportune Absehen von der Strafverfolgung im Bereich konsumbedingter Betäubungsmittelkleinkriminalität ermöglichtSl7 . Die Einstellungsermächtigung soll in den Fallgestaltungen zur Anwendung kommen, bei denen Rechtsgüterschutz sowie geringe individuelle Schuld des Täters einer strafrechtlichen Ahndung der Tat nicht bedürfensis . Dabei verfolgt die Regelung im wesentlichen drei Anliegen: Zum einen soll durch die Freistellung von Ermittlungsressourcen im Bereich konsumbedingter Kleinkriminalität eine Verstärkung der Kräfte bei der Bekämpfung schwerer Betäubungsmittelkriminalität, insbesondere des professionellen Rauschgifthandels erreicht werden. Zum anderen soll durch die Möglichkeit eines Verfolgungsverzichts im (bagatellarischen) Einzelfall eine unerwünschte Solidarisierung von Kleinkonsumenten mit den weitestgehend kriminalisierten Aktivitäten der ,,richtigen" Drogenszene und damit ein "tieferes Abgleiten in den Drogenkonsum verhindert (werden)"SI9. Insoweit § 31 a BtMG des weiteren einer Vereinheitlichung der zum Zeitpunkt der Gesetzgebung stark divergierenden Ein815 Dazu bereits oben "Teil 2.B.I.4.a)". Vgl. auch Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 116. Vgl. ebenso Pott, S. 126, wonach den Einstellungsennächtigungen der §§ 154, 154a StPO - mittlerweile "legal" - selbst Kapitalverbrechen unterfallen. 816 Vgl. dazu Frister, StV 1997, S. 157; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 35 f. m. w. N. 817 Dazu bereits oben "TeiI2.B.I.3.". 818 Aulinger, S. 316.Vgl. auch bereits oben "Teil2.B.I.3.". 819 Aulinger, S. 316. Dieser Aspekt stehe ganz im Zeichen des drogenpolitischen Grundsatzes "Hilfe vor Strafe".

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

stellungs- und Sanktionspraxis der Länder im Bereich der kleineren Konsumentendelikte dienen sollte82o, drohen zumindest einmal diese Erwartungen des Gesetzgebers im Hinblick auf das gewählte Mittel enttäuscht zu werden. Insbesondere die weitgehende Unbestimmtheit der Tatbestandsmerkmale in § 31 a BtMG, namentlich der "geringen Menge", der Geringfügigkeit der Täterschuld und des fehlenden öffentlichen Verfolgungsinteresses, ist schlechterdings nicht dazu angetan, in dieser Richtung größeren Optimismus zu entwickeln. Da § 31 a BtMG nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers lex specialis zu § 153 StPO ist, kann für die Auslegung des Anwendungsmerkmals "geringe Schuld" in § 31 a BtMG zunächst einmal auf die zu § 153 StPO entwickelten Auslegungsgrundsätze verwiesen werden 821 , wobei die Übernahme der dort gewonnenen Erkenntnisse auch das abschließende Resümee einer weitgehenden Unbestimmtheit des Merkmals umfassen muß. Vorschläge zu einer konkreteren Fassung des Normtextes konnten sich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu § 31 a BtMG nicht durchsetzen 822 . Die bereichsspezifischen Konkretisierungsversuche seitens der Wissenschaft tragen kaum zur Ausbildung einer einheitlichen Auslegungslinie bei. Einigkeit besteht letztlich nur darin, "daß Tat und Täter einer Gesamtwürdigung zu unterziehen sind, in die eine Vielzahl von Einzelumständen einfließen muß,,823. Darüber hinaus ist die Reihe der genannten Faktoren, die für eine Schuldbeurteilung maßgeblich sein können, ausgesprochen bunt824 . Von noch weitreichender Konturenlosigkeit ist das bereits im Zusammenhang mit den Einstellungen nach §§ 153, 153 a StPO erörterte Merkmal des "öffentlichen Interesses" an einer Strafverfolgung825 . Besteht noch überwiegender Konsens Vgl. Aulinger, S. 316. Dazu oben "Teil 3.B.III.1.". Insbesondere steht außer Streit, daß aufgrund der konjunktivischen Fassung der Schuldklausei auch bei § 31a BtMG - wie zuvor bei § 153 StPO (dazu oben "Teil 3.B.!.) - eine lediglich hypothetische Schuldbeurteilung genügt; vgl. Aulinger, S.45. 822 So hatte beispielsweise ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion (vgl. BT-Drs. 12/2739 vom 3. 6. 1992, S. 2, 4) die Einfügung folgender Regelung in Absatz 1 des § 31a BtMG-E vorgesehen: "die Schuld des Täters ist als gering anzusehen, z. B.: 1. bei Beschaffungsdelikten mit geringem Schaden bzw. Kleindeals von Drogenabhängigen 2. in Fällen, in denen länger zurückliegende Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz eine angestrebte Therapie gefährden". 823 Aulinger, S. 47. 824 Als Beispiele benennt Aulinger, S. 47: ,,Art, Gefährlichkeit und Konzentration des BtM, die Motivation des Täters bei der Tatbegehung, sein Verhalten nach der Tat, die Einbindung des Täters im sozialen Umfeld, die Bereitschaft zur Durchführung von Drogenhilfemaßnahmen, die vom Verhalten des Täters ausgehende Gefährdung ... , entwicklungspsychologische, familiäre, berufliche Situation, Gebrauchsmuster und emotionale Funktion des Gebrauchs von illegalen Drogen (z. B. Akzeptanz durch eine Jugendclique, Neugierde), Involvierung in die Drogenszene, Ausmaß der drogenbezogenen Kriminalität (vor allem Involvierung in den Drogenhandel und in die Beschaffungskriminalität)." 820 821

F. Absehen von der Strafverfolgung nach § 31 a BtMG

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darin, daß bei der Auslegung des Merkmals alle spezial- und generalpräventiven Strafzwecke sowie alle in § 46 StGB enthaltenen Strafzielerwägungen zu berücksichtigen sind, so endet jeglicher Gleichklang bei den diversen Konkretisierungsversuchen, die den spezifischen Ausprägungen der Betäubungsmittelproblematik Rechnung tragen wollen. Es versteht sich, daß die Auswahl der staatlichen Reaktion an spezialpräventiven Erwägungen orientiert sein muß, deren Ausrichtung letztlich jedoch je nach Art des Täters - die Klientel reicht vom Probierer bis zum Drogenabhängigen - variieren kann 826 . So wird eine Bestrafung bei dem einen Täter eine durchaus heilsame Wirkung hinterlassen, während sie bei dem anderen geradezu kontraproduktiv sein kann. Aus generalpräventiver Sicht kann ein öffentliches Strafverfolgungsinteresse beispielsweise darauf basieren, einem für den Verzichtsfall befürchteten Vertrauensverlust der Bevölkerung in den Schutz durch die Rechtsordnung vorzubeugen; dies insbesondere dann, wenn die Straftat Belange des Jugendschutzes tangiert und die sanktionslose Hinnahme durch den Staat Verständnislosigkeit auf seiten der Öffentlichkeit hervorrufen würde 827 . Strafverfolgung kann des weiteren erforderlich sein, wenn es im Hinblick auf die staatliche Pflicht zur Gesundheitsvorsorge darum geht, "bestimmte Örtlichkeiten drogenfrei zu halten, in denen die Gefahr einer Verbreitung illegaler Drogen besonders groß ist,,828. Überdies kann ein öffentliches Interesse darauf gründen, daß durch den Umgang mit dem Betäubungsmittel im Einzelfall eine Gefahr für die Sicherheit des öffentlichen Verkehrs geschaffen wurde oder aber der Täter einer Personengruppe angehört, der von Berufs wegen das Wohl anderer Menschen anvertraut ist829 . Wie bereits im Zusammenhang mit den §§ 153, 153 a StPO bietet die Leerformel vom "öffentlichen Interesse" auch im Rahmen von § 31 a BtMG ein breites Spektrum inhaltlicher Ausfüllungsmöglichkeiten, was sich am Ende negativ auf die verfassungsrechtliche Zielvorgabe einer Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung auswirkt. Überdies hat der Gesetzgeber in § 31 a BtMG auf eine Anleitung des Rechtsanwenders bei der Ausfüllung des Merkmals der "geringen Menge" verzichtet und auf diese Weise für eine breit angelegte Grenzwertdiskussion innerhalb der Wissenschaft und zwischen den einzelnen Landesjustizverwaltungen gesorgt, aus der in der Folge zum Teil erheblich auseinandergehende Richtlinienvorgaben der Länder hervorgegangen sind83o.

Dazu oben "Teil3.B.III.2." sowie "TeiI3.D.I.2.b)". Vgl. Aulinger, S. 49 ff. 827 Aulinger, S. 53 f. m. w. N. 828 Aulinger, S. 54, die in diesem Zusammenhang "Schulen, Heime, Kasernen, Krankenhäuser und Justizvollzugsanstalten" nennt. 829 Aulinger, S. 56 m. w. N. 830 Vgl. zum Meinungsstand innerhalb der Wissenschaft und darüber hinaus zum Ländervergleich bei den Anwendungsrichtlinien Aulinger, S. 34 ff., 101 ff. 825

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Der beklagenswerte Zustand einer ungleichmäßigen Rechtsanwendung im kleinkriminelIen Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts war es dann auch, der das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 9. 3. 1994831 dazu veranlaßte, die Länder im Zusammenhang mit dem neu geschaffenen § 31a BtMG zur Aufstellung einheitlicher Anwendungsrichtlinien anzuhalten. Der Entscheidung zugrunde lag ein Bericht der Bundesregierung für die Jahre 1985 bis 1987832 , in dem die unterschiedliche Sanktions- und Einstellungspraxis der Länder bei Haschisch-Kleinfällen, insbesondere bei der Bestimmung der "geringen Menge" sowie der Behandlung von Wiederholungstätern, dokumentiert war. Einer derartigen, mit Blick auf Art. 3 I GG unerträglichen Ungleichbehandlung sollte nunmehr bei der Anwendung des neuen § 31 a BtMG durch die verfassungsgerichtliche Verpflichtung der Länder auf eine im wesentlichen vereinheitlichte Einstellungspraxis vorgebeugt werden 833 . Die anschließenden Bemühungen der Länder um eine Realisierung der angemahnten Vereinheitlichung scheiterten jedoch an unüberbrückbaren Differenzen bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift834 . Der "bunte Teppich" länderinterner Anwendungsrichtlinien weist insbesondere bei der Bestimmung der "geringen Menge" sowie bei der der Behandlung von Wiederholungstätern mannigfaltige U nterschiede au~35. Selbst bei der Festlegung der noch einstellungsfähigen Betäubungsmittelart ist man sich länderübergreifend keineswegs einig: während manche Bundesländer die Einstellung nach § 31 a BtMG auf Delikte im Umgang mit Cannabis beschränken, weist die Statistik anderer Länder die über weite Strekken großzügige Einstellung solcher Ermittlungsverfahren nach, bei denen der Umgang mit Heroin oder Kokain Gegenstand des Tatvorwurfs war836 . Das geringe Maß an Übereinstimmung in der Rechtsanwendungspraxis verlangt nach einer bundeseinheitlichen Konkretisierung der Norm, es sei denn, ein derartiges Einschreiten des Gesetzgebers würde bereits deshalb hinfällig, weil die Norm des § 31 a BtMG aus einem ganz anderen Grund ihres Regelungsgehalts zu entkleiden wäre. So dient die Vorschrift - wie zuvor die §§ 153, 153 a StPO - in erster Linie der prozessualen Korrektur materiellrechtlicher Überreichweiten des Strafrechts. Durch das Zusammenwirken von materiellem und prozessualem Recht kann - wie zuvor bei § 153 a StPO erörtert837 - zur gleichen Zeit "zwei Herren gedient werden": Während auf der einen Seite aus präventionstaktischen ErwägunBVerfGE 90, 145 ff. BT-Drs. 11/4329, S. 15, 21 f. 833 Vgl. BVerfGE 90, 145 (190). 834 Vgl.Aulinger, S. 98 f. 835 Vgl. dazu die Darstellungen bei Aulinger, S. 113 ff. Die Frage nach der Behandlung einer Wiederholungstäterschaft stellt sich dabei zumeist innerhalb der Schuldklausei des § 31aBtMG. 836 Vgl. Aulinger, S. 119 ff., 229. 837 Dazu oben "Teil 3.D.xIIl.". Vgl. auch Nelles/Velten, NStZ 1994, S. 370 m. w. N. 831

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F. Absehen von der Strafverfolgung nach § 31 a BtMG

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gen der in § 29 BtMG niedergelegte Nonnappell weiterhin aufrechterhalten werden kann, befähigt die prozessuale Korrektunnöglichkeit auf der anderen Seite dazu, eine unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten notwendige Begrenzung materiell zu weit geratenen Strafrechts vorzunehmen. Diese Funktionszuweisung hat sich schließlich auch das Bundesverfassungsgericht zunutze gemacht und im vorgenannten Beschluß die strafbewehrten Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes nicht zuletzt deshalb als mit dem verfassungsrechtlichen Übennaßverbot noch vereinbar angesehen, weil der Gesetzgeber es den Strafverfolgungsbehörden u. a. durch Schaffung des § 31 a BtMG ennöglicht habe, einem geringeren Unrechtsund Schuldgehalt der Tat hinreichend Rechnung zu tragen 838 . Zusätzlich zum weiten Strafrahmen des § 29 BtMG, der hinreichend Raum für gebotene Differenzierungen bietet839, läßt sich die lückenlose Strafandrohung des unerlaubten Umgangs mit Cannabisprodukten demnach nur in Anbetracht einer gesetzlichen Konzeption rechtfertigen, die mit Blick auf die Freiheitsrechte des Betroffenen im Einzelfall den materiellrechtlich umfassend konzipierten Strafrechtsschutz prozessual wieder suspendiert. Was jedoch von diesem Mechanismus zu halten ist, war bereits Gegenstand der Erörterungen im Zusammenhang mit § 153 aStPO, dem bisweilen eine vergleichbare Funktion angetragen wird 840• Ob und inwieweit nicht vielmehr einer materiellrechtlichen Entkriminalisierung zuzustimmen ist, die insoweit eine - ansonsten dringliche - systemimmanente Konkretisierung der prozessualen Korrekturvorschrift des § 31 a BtMG überflüssig machen würde, soll derweil einer Erörterung im "Fünften Teil" dieser Bearbeitung vorbehalten bleiben 841 •

Vgl. BVerfGE 90, 145 (146, 184 ff.). Vgl. BVerfGE 90, 145 (187). 840 Vgl. BVerfGE 90, 145 (146). Zur gesamten Problematik vgl. bereits oben "Teil 3.DXm.". Kritisch zur "prozessualen Lösung" des Gerichts - und zwar sowohl im Hinblick auf die Bestimmtheit als auch auf die Vorgehensweise einer prozessualen Korrektur materiellrechtlicher Überreichweiten - äußert sich zudem Sommer (in: BVerfGE 90, 145 (224 f.», der am Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9.3. 1994 als Richter mitgewirkt hat, aber eine in Teilen abweichende Meinung vertritt: "Wird den Strafverfolgungsbehörden ... eine Zurückhaltung angesonnen, die auf die Korrektur eines zu weit gefaßten Tatbestandes mit den Mitteln des Prozeßrechts hinausläuft, entscheiden sie nicht mehr nur über die Opportunität der Strafverfolgung im Einzelfall, sondern legen selbst fest, was als stratbar angesehen wird. Die Grenze, die Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Bedeutung als spezieller Ausdruck des Parlamentsvorbehalts einer solchen Handhabung gesetzlich festgelegter Strafdrohungen durch Einschränkung des strafprozessualen Legalitätsprinzips zieht, sehe ich damit überschritten. Wird stratbares Verhalten im Gesetz weiter gefaßt, als es verfolgt werden soll oder kann, könnte die Strafverfolgungspraxis überdies den Eindruck hervorrufen, daß es der Gesetzgeber mit seinem Verdikt nicht in vollem Umfang ernst meine. Wird Strafrecht in dieser Weise zu lediglich ,symbolischer' Problemlösung eingesetzt, besteht die Gefahr, daß seine Aussagekraft auch dort schwindet, wo es wirklich benötigt wird." Dem abweichenden Votum des Bundesrichters Sommer zustimmend Ambos, MschrKrim 1995, S. 49; Lüderssen, StV 1994, S. 509 Fn. 15; vgl. auch NelleslVelten, NStZ 1994, S. 368. 841 Dazu im einzelnen unten "Teil5.D.". 838 839

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

G. "Kronzeugen"-Regelungen als gravierendste Durchbrechung der Legalität im Zeichen opportunistischer Strafrechtspflege Der wohl nachhaltigste Einbruch in eine legalitätsgeleitete Strafverfolgung beruht auf einer (Rechts-)Figur, die wie keine zweite reinen Nützlichkeitserwägungen ihre Existenz verdankt: die des sog. "Kronzeugen". Nachdem bereits seit 1957 bei Landesverrat und Staatsgefährdung für Überläufer die Möglichkeit bestand, ihr Wissen in Verfolgungsverzicht umzumünzen 842, erlangte der "Kronzeuge" durch die Einführung des § 31 BtMG in das Betäubungsmittelstrafrecht im Jahre 1982843 und schließlich durch die Schaffung einer "echten" Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten im Jahre 1989844, die wiederum nur fünf Jahre später auf den Bereich sonstiger krimineller Vereinigungen der sog. organisierten Kriminalität ausgedehnt wurde 845 , weitere Bedeutung. Ferner wird die Beobachtung mitgeteilt, daß in der staatsanwaltschaftlichen Praxis die Vorschrift des § 154 StPO zur Gewinnung von "Kronzeugen praeter legem" verwandt und damit ihre eigentliche Intention mißachtet wird 846 . Hintergrund einer Kronzeugenregelung ist regelmäßig eine Art staatlicher "Errnittlungsnotstand,,847, der in erster Linie aus den spezifischen Besonderheiten 842 Vgl. § 153c I S. 2 StPO a.F., der § 153e I S. 2 StPO heutiger Fassung entspricht; vgl. Weigend, ZStW 109 (1997), S. III m. w. N. 843 Mit § 31 BtMG wollte der Gesetzgeber eine Norm etablieren, die dadurch, daß sie speziell auf Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz zugeschnitten und somit für den potentiellen Kronzeugen leichter zu verstehen ist als die abtrakte Formulierung des § 46 11 StGB, mehr Anwendungssicherheit im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität gewährleistet; vgl. Jaeger, Der Kronzeuge, S. 157. 844 Art. 4 des Gesetztes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten, BGBI. I, S. 1059. 845 Art. 5 KronzeugenG. Anzumerken ist, daß das Kronzeugengesetz zunächt auf eine Laufzeit von zwei Jahren befristet worden war und nachträglich bis zuletzt (31. 12. 1999) verlängert worden ist. Eine beantragte weitere Verlängerung bis zum 31. 12. 2002 ist vom Deutschen Bundestag abgelehnt worden. Dennoch bleibt die Thematik angesichts anderer, bestehender Kronzeugenregelungen (Bsp. § 31 BtMG) und nicht zuletzt auch im Hinblick auf neue Planungen im Zusammenhang mit der Änderung des Sanktionsrechts weiter aktuell und muß sich infolgedessen der Grundsatzdiskussion stellen. 846 Nach Volk, NJW 1996, S. 879 ff. werde bisweilen bei Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten erklärt, "daß die Staatsanwaltschaft für den Fall, daß er Straftaten benennt, die der Staatsanwaltschaft bis dahin noch nicht bekannt gewesen waren, mit einer Einstellung hinsichtlich dieser Tat und hinsichtlich seiner Person gern. § 154 StPO im Hinblick auf die bereits bekannten Taten rechnen kann". Dieselbe Vorgehensweise beschreibt auch Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 170 ff. Dazu, daß sich der Gesetzeszweck des § 154 StPO schlechterdings nicht auf die Ausforschung bislang unbekannt gebliebener Straftaten erstreckt sowie zu weiteren Bedenken gegenüber einer derartigen Verwendung der Vorschrift, vgl. auch Volk, NJW 1996, S. 881; ebenso Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 170 ff.

G. "Kronzeugen"-Regelungen

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einiger Kriminalitätsfonnen - beispielsweise denen des Terrorismus, der Korruption oder der Betäubungsmittelkriminalität - erwächst. Bei besonderer Gefährlichkeit verfügen diese Erscheinungsfonnen konspirativer und organisierter Kriminalität oft über Strukturen und Vorgehensweisen, denen herkömmliche Strafverfolgungsmethoden mit einer gewissen Hilflosigkeit gegenüberzustehen scheinen 848 . Um trotz der vennuteten Übennacht des Gegners die Funktionstüchtigkeit des "Gesamtsystems der Strafjustiz" zu wahren und im günstigen Fall auch künftige Straftaten in diesen Bereichen zu verhüten 849, beschreitet der Staat bei der Strafverfolgung "neue Wege" und versucht einen im Grunde strafwürdigen und strafbedürftigen Tatbeteiligten als potentiellen "Kronzeugen", d. h. als Hauptbelastungszeugen gegen seine Komplizen, dadurch zu gewinnen, daß er ihm als Gegenleistung für seine Aussagedienste einen Strafnachlaß oder sogar einen vollständigen Strafverzicht bezüglich seiner eigenen Tat in Aussicht stellt85o. Die rechts staatlichen und kriminalpolitischen Bedenken gegenüber einem solchen "staatlich induzierten Frontwechsel,,851 müssen sich einem in besonderer Weise dann aufdrängen, wenn sich - wie es bei § 31 BtMG der Fall zu sein scheint - der Umgang mit der Kronzeugenregelung zur obligatorischen Verfahrensweise im Justizalltag entwickelt und auf diese Weise die Gefahr besteht, daß zum einen "schwerwiegende strukturelle Errnittlungsschwächen,,852 verdeckt und zum anderen bedeutsame Verfahrensprinzipien, wie etwa der Amtserrnittlungsgrundsatz, erheblich vernachlässigt werden. So droht, daß bei bloß einseitigem Blick auf die bequeme Alternative der Kooperation mit aussagewilligen Infonnanten herkömmliche Errnittlungsmöglichkeiten zurückgestellt oder erst gar nicht erwogen werden 853 • Der gewohnheitsmäßige Rückgriff auf eine Regelung, die von ihrer Vgl. BT-Drs. 11 /4359, S. 15 f. Weigend, FS Jescheck H, S. 1333, der u. a. auf die interne Abschottung der betreffenden Tätergruppen hinweist, wodurch strafverfolgende Tatigkeit erheblich erschwert werden könne. 849 Weigend, ZStW 109 (1997), S. 110 f. m. w. N.; vgl. auch Hoyer; JZ 1994, S. 236. insbesondere im Bereich des Terrorismus besteht bei der Schaffung von Kronzeugenregelungen neben dem "Herausbrechen" von Angehörigen dieser hochdelinquenten Gruppierungen eine (weitere) gesetzgeberische Zielvorgabe darin, durch entsprechende Angebote der Strafverfolgungsbehörden eine destabilisierende Verunsicherung ihres jeweiligen sympathisierenden Umfeldes zu bewirken; vgl. Kunert/Bemsmann, NStZ 1989, S. 456. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Begründung des Regierungsentwurfs zu Art. 4 Kronzeugengesetz in BT-Drs. 11 /2834, S. 13. 850 Vgl. Jaeger; Der Kronzeuge, S. 159, der als Regelungszweck des § 31 BtMG die "Schaffung eines erhöhten Aussageanreizes für den Beschuldigten" angibt. 851 Weigend, FS Jescheck H, S. 1334. 852 Weigend, FS Jescheck H, S. 1335. 853 Denny, ZStW 103 (1991), S. 274 m. w. N.; Jaeger; Der Kronzeuge, S. 65 ff., 154. Dazu, daß der Kronzeuge überdies in manchen Fällen nur anband von Methoden gewonnen werde, die in der Nähe des § 136a StPO anzusiedeln seien, vgl. Denny, ZStW 103 (1991), S. 274; Jaeger; Der Kronzeuge, S. 153; Meyer; ZRP 1976, S. 26 f.; vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 90. 847

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IS*

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

Struktur her darauf angelegt ist, einen eng eingegrenzten Teiterkreis in wiederum eng umgrenzten Kriminalitätsfeldern zu privilegieren, tangiert zudem die Gleichmäßigkeit der staatlichen Strafverfolgung854 . Darüber hinaus werden die Privilegierungen der Kronzeugenregelungen in erster Linie solchen Teitern zuteil, die in der eigenen Person ein genügend hohes Maß an delinquenter Verstrickung aufweisen, welches sie befähigt, als interessanter Verhandlungspartner in den "deal" mit den Strafverfolgungsbehörden einzusteigen. Denn nur wer viel zu berichten weiß, weil er selbst über einen entsprechenden kriminellen Hintergrund verfügt, ist am Ende "im Geschäft,,855. Mit der grundsätzlichen Möglichkeit, eine kooperationsbereite Teitergruppe zu privilegieren, entsteht darüber hinaus die Gefahr einer "schleichenden Strafmaßerhöhung" nicht zuletzt für diejenigen der potentiell Privilegierten, die das Angebot zur Kooperation nicht annehmen können oder einen Beitrag zur Fahndung bewußt nicht leisten wollen 856 . Für diese Teitergruppe jedoch, die entweder nicht über die "Münze" verfügt, mit der sich die Verbesserung der eigenen Situation erkaufen ließe, oder die den "Verrat" am Komplizen schlichtweg ablehnt, die aber gleichwohl das verlockende Angebot der Strafverfolgungsbehörden nicht ungenutzt vorüberziehen lassen will, besteht mit Blick auf die Vergünstigungen einer Kronzeugenregelung ein latenter "Anreiz zur Lüge,,857. Indem nun aber ein insoweit verführter Kronzeuge eine Aussage leistet, die sich inhaltlich zwar möglicherweise an dem orientiert, was vermeintlich von ihm erwartet wird, die jedoch nicht der Wahrheit entspricht, verschafft er sich die Vorteile der Kronzeugenregelung regelmäßig auf Kosten Unschuldiger, die nun ungerechtfertigterweise einer Strafverfolgung ausgesetzt werden 858 . Der schwerpunktmäßige Einsatz von Kronzeugenregelungen im Ermittlungsverfahren führt überdies dazu, daß die Hauptverhandlung weiter entwertet wird und daß insbesondere durch den Öffentlichkeitsausschluß - wie zuvor bei § 153 a I StPO - in den Augen der Bevölkerung der fatale Eindruck eines heimlichen "Scha854 Hoyer, JZ 1994, S. 236; Kunen/Bemsmann, NStZ 1989, S. 458. Vgl. zur Vereinbarkeit von Kronzeugenregelungen mit dem Gleichheitsgrundsatz auch Hassemer, KritV 1990, S. 275; Neumann, StV 1994, S. 276; Volk, NJW 1996, S. 881; Weigend, ZStW 109 (1997),

S.114.

855 Vgl. Jaeger, Der Kronzeuge, S. 147 f.; Kunen/Bemsmann, NStZ 1989, S. 456. Dazu dieselben a. a. 0., S. 458: ,,Die Privilegierung ausgesuchter, dazu wahrscheinlich z.T. noch hochkarätiger Straftäter durchbricht in plakativer Weise das Postulat der allgemeinen Geltung von Strafgesetzen". 856 Weigend, FS Jescheck 11, S. 1335; ebenso Kunen/Bemsmann, NStZ 1989, S. 459 Fn. 80; vgl. auch Jaeger, Der Kronzeuge, S. 186, der § 31 BtMG insoweit als "Strafschärfungsvorschrift" bezeichnet. Zur Unvertretbarkeit, "einen Beschuldigten weiteren Strafverfolgungsmaßnahmen zu unterwerfen, der von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht, während sein Mitbeschuldigter durch belastende Angaben Strafverfolgungsfreiheit erlangen kann" vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 90. 857 Denny, ZStW 103 (1991), S. 305. 858 Denny, ZStW 103 (1991), S. 290 f.; Jaeger, Der Kronzeuge, S. 163 m. w. N.

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chems" um den staatlichen Strafanspruch zu entstehen droht859 . Kommt es dann im späteren Verlauf des Verfahrens zur Hauptverhandlung gegen den Denunzierten, wird die Verteidigung des Betroffenen nicht selten durch eine zu Schutzzwecken errichtete Legendierung des Kronzeugen erschwert, der dem Verfahren in diesen Fällen regelmäßig nur noch als "Phantom"-Zeuge zur Verfügung steht860 . Über dem Verfahren insgesamt lastet - wie auch bei § 153 a StPO - der Käuflichkeitsvorwurf, da es ungeachtet aller ,juristischen Abwägungsarithmetik ... dem schlichten Gerechtigkeitsgefühl,,861 einer großen Mehrheit in der Bevölkerung zuwiderlaufen dürfte, daß der Staat zur effektiveren Bekämpfung von Kriminalität mit (Schwer-)Kriminellen paktiert und sie für ihre Denunziantendienste am Ende mit Strafverschonung belohnt. Der "Handel mit Strafe,,862 schadet dem Ansehen der Strafrechtspflege und ihrer Glaubwürdigkeit. Mehr noch: Ein im (Rechts-)Bewußtsein der Bevölkerung entstandener Eindruck von Käuflichkeit führt letzten Endes zu Einbußen bei der Prävention. Die allgemeine Bereitschaft zur Normkonformität wird abgeschwächt, wenn die an anderer Stelle oft und gerne hochgehaltene "Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung,,863 dadurch dokumentiert wird, daß sich der Staat den Strafanspruch aus Gründen der Opportunität schlichtweg "abkaufen" läßt864 . Überdies verursachen Kronzeugenregelungen nicht zuletzt spezialpräventive Einbußen beim Kronzeugen selbst, dem bei der Anbahnung des "deals" mit den Strafverfolgungsbehörden die Ohnmacht der Gegenseite offen vorgeführt wird und der den Staat ganz allgemein in einer wenig würdigen Verhandlungssituation erlebt865 . Des weiteren liegt mit der schlichten Kooperationsbereitschaft des Kronzeugen der Ausgangspunkt und die Legitimation der Privilegierung außerhalb jedes anerkannten Strafzumessungsgrundes. Die rechtliche Privilegierung beruht in diesen Fällen allein auf dem Verrat und "hat nichts mit Reue oder Umkehr, sondern mit einem kriminalistischen Interesse zu tun,,866. Diese Abwägungsdogmatik, bei der 859 Vgl. Denny, ZStW 103 (1991), S. 274 f.; Hassemer, StV 1986, S. 552; Jaeger, Der Kronzeuge, S. 157; Kunert/Bemsmann, NStZ 1989, S. 458. Zum Öffentlichkeitsausschluß bei § 153a StPO vgl. "Teil3.D.VIII.". 860 Kunert/Bemsmann, NStZ 1989, S. 458. 861 Hoyer, JZ 1994, S. 239. 862 Denny, ZStW 103 (1991), S. 280. 863 Neumann, StV 1994, S. 276.

864 Denny, ZStW 103 (1991), S. 280 m. w. N.; Hassemer, StV 1986, S. 552; derselbe, KritV 1990, S. 275; Neumann, StV 1994, S. 276; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 90 m. w. N.; Volk, NJW 1996, S. 881 m. w. N.; vgl. für Art. 4 KronzeugenG auch Kunert/Bemsmann, NStZ 1989, S. 458. A.A. wohl Hoyer, JZ 1994, S. 240; vgl. auch Jaeger, Der Kronzeuge, S. 176, der für die Regelung des § 31 BtMG einen tieferen Einschnitt in das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung in Ermangelung "spektakuläre(r) Ergebnisse" ebenfalls verneint. Zugegeben werden lediglich vereinzelte "moralische Bedenken" gegenüber einer derartigen Regelung. 865 Vgl. Hoyer, JZ 1994, S. 236. 866 Hassemer, KritV 1990, S. 275. Vgl. auch Weigend, FS Jescheck H, S. 1348. Dazu derselbe, ZStW 109 (1997), S. 112 f.: "Der Strafnachlaß oder -verzicht ist mit der Nützlichkeit

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

ein ,,Ennittlungsnotstand" zu einer gravierenden Einschränkung von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit legitimieren soll, sieht sich erheblichen Bedenken ausgesetzt und ist im allgemeinen nur schwer vennittelbar867 . Es stellt sich die Frage, ob es nicht selbst in Zeiten höchster Ennittlungsnot im Rechtsstaat einen "Bereich des Unverfügbaren,,868 geben muß, den es zur Wahrung der Rechtskultur vor einem Einbruch reiner Nützlichkeitserwägungen zu schützen gilt. Die Figur des Kronzeugen ist demgegenüber ein "zentraler Angriff auf rechtsstaatliehe Prinzipien des Strafverfahrensrechts,,869 und greift in massiver Weise in das rechtsstaatlich fundierte Legalitätsprinzip ein 87o . Nachdem nunmehr die "Kosten" einer jeden Kronzeugenregelung offengelegt sind, verbleibt die "Kardinalfrage,,871 nach deren erwartbarem Nutzen. Denn obschon die Aussicht auf eine rechtstatsächlich effektive Regelung unter Umständen geeignet ist, verschiedentliehe Einbußen an dem ein oder anderen Verfahrensprinzip - jedenfalls bis zu einem gewissen Maße - zu kompensieren, ist eines gewiß: je geringer der Nutzen einer streitbefangenen Regelung im einzelnen ist, desto schwieriger gestaltet sich die Rechtfertigung gleichzeitiger Einbußen an Rechtsstaatlichkeit872. An der Effizienz von Kronzeugenregelungen bestehen erhebliche Zweifel. Solange ein Straftäter unentdeckt ist und er Hoffnungen hegt, daß sich daran in absehbarer Zeit auch nichts ändern wird, dürfte die Aussicht auf eine (bloße) Strafmaßverringerung kaum genügend Anreiz bieten, sich den Strafverfolgungsbehörden zu stellen873 . Ist man dagegen seiner habhaft geworden, lassen wiederum verschiedene Faktoren daran zweifeln, daß er den Weg einer Kooperation mit der staatlichen "Gegenseite" einzuschlagen bereit sein wird. Ist es um die Erfolgsaussichten bei einem primär ideologisch motivierten Tater, ihn zur Mitarbeit bei der Fahndung nach Gesinnungsgenossen zu gewinnen, schon allein angesichts des programmatischen Hintergrundes der Person regelmäßig schlecht bestellt874, sprechen des Kronzeugen, d. h. mit dem kriminalistischen Wert der von ihm gelieferten Information verknüpft, nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie mit dem Gewicht seiner eigenen Tat." 867 Dazu bereits oben "Teil 2.B.1.5 .... Vgl. auch Hassemer, StV 1986, S. 551. Umso fragwürdiger werden Legitimationsversuche für solche Fälle, bei denen die Anwendung einer Kronzeugenregelung ausschließlich von Vereinfachungsmotiven angeleitet zu sein scheint. 868 Hassemer, StV 1986, S. 551. 869 Hassemer, KritV 1990, S. 275. Vgl. auch Kunert/Bemsmann, NStZ 1989, S. 456. 870 Hassemer, StV 1986, S. 551 f.; Jaeger, Der Kronzeuge, S. 54 ff.; Kunert/Bemsmann, NStZ 1989, S. 458; Neumann, StV 1994, S. 276; vgl. auch Beulke, S. 166; Hoyer, JZ 1994, S. 233 Fn. 8. 871 JaegeT, Der Kronzeuge, S. 145. 872 HoyeT, JZ 1994, S. 236; vgl. auch Hassemer, StV 1986, S. 550. 873 Vgl. zur (ehemaligen) Kronzeugenregelung für Terroristen bei HoyeT, JZ 1994, S. 234. 874 In diesen Fällen ist durch das staatliche Angebot zum "Verrat" vielmehr eine kontraproduktive Wirkung in Form einer weiteren Konsolidierung der betreffenden Gruppierungen zu erwarten; vgl. Kunert/Bemsmann, NStZ 1989, S. 457. Vgl. auch Hassemer, StV 1986,

G. "Kronzeugen"-Regelungen

279

auch beim "normalen" Kriminellen gewichtige Gründe gegen zu hohe Erwartungen hinsichtlich einer anvisierten Zusammenarbeit auf Kronzeugenbasis. Zum einen sorgen vage Formulierungen der gesetzlichen Grundlagen sowie die Tatsache, daß es sich bei den Kronzeugenregelungen stets um "Kann"-Bestimmungen handelt, für Verunsicherung beim potentiellen Kronzeugen, der sich eben mitunter nicht hinreichend sicher sein wird, daß sein "Verrat" am Ende mit der versprochenen Gegenleistung "honoriert" wird875 • Zum anderen hindert nicht selten die Angst vor Racheakten der zu Denunzierenden die Bereitschaft des potentiellen Kronzeugen zur Aussage gegen seine Komplizen. ,,Ehrenkodex" und "Schweigepflicht" krimineller Vereinigungen steht auf staatlicher Seite lediglich ein selten effektives Zeugenschutzprogramm gegenüber876• Es verwundert daher nicht, daß potentielle Kandidaten für die Anwendung einer Kronzeugenregelung in sicherer Erwartung einer mitunter drakonischen Disziplinierung durch das eigene Lager "verstummen" und die Inanspruchnahme eines vielerorts bestehenden "soziale(n) Sicherungssystem(s)" zur Versorgung inhaftierter Organisationsmitglieder877 einem Leben in steter Sorge um das eigene Wohl und das ihrer Angehörigen vorziehen. Kommt es unter diesen Umständen dennoch zur Aussage, werden die Einlassungen oftmals vom Kronzeugen zu einem späteren Zeitpunkt widerrufen oder erheblich relativiert878 , und es wird entgegen anfänglicher Ankündigung im späteren Folgeprozeß S. 551, der die Befürchtung äußert, daß eine Kronzeugenregelung bei ideologisch motivierten Personengruppen "die Isolation des militanten Kerns von seinem ideologischen Umfeld tendenziell abbaut". Zur Wirkungslosigkeit von Kronzeugenregelungen bei Überzeugungstätern oder politischen Extremisten vgl. auch Denny, ZStW 103 (1991), S. 276. 875 Hassemer, StV 1986, S. 551; Jaeger, Der Kronzeuge, S. 167; Kunert/Bernsmann, NStZ 1989, S. 457 f.; Weigend, FS Jescheck H, S. 1335. Vgl. auch Jaeger a. a. 0., S. 150, der im Zusammenhang mit der Kronzeugenregelung des § 31 BtMG von einem "unka1kulierbaren Glücksspiel um Strafmilderung" für den Kronzeugen spricht. Fehlende Rechtssicherheit resultiere bei der Vorschrift des § 31 BtMG nicht zuletzt aus ihrer Ausgestaltung als ,,Erfolgstatbestand" (Weigend, FS Jescheck H, S. 1336): Ob sich die Einlassung des Kronzeugen im Nachhinein als "wesentlicher Beitrag" im Sinne des § 31 BtMG erweise, sei von "zahlreichen Unwägbarkeiten", wie etwa dem Vorwissen der Polizei, abhängig. Polizeiliche Erkenntnisse, die im Zeitpunkt der Aussage des Kronzeugen bereits vorhanden seien, würden verhindern, daß es trotz der möglicherweise "guten Absichten" (Körner, StV 1984, S. 219) des Kronzeugen noch zur Anwendung der ihn begünstigenden Regelung kommen könne; vgl. Weigend a. a. 0., S. 1336 m. w. N.; ebenso Körner, StV 1984, S. 218 f. m. w. N.: "Die Bestätigung kriminalpolizeilicher Erkenntnisse ist keine Tataufklärung." 876 Vgl. Jaeger, Der Kronzeuge, S. 168, 172 ff. Zur gleichsam kriminalpolitisch unglücklichen Situation eines mangelhaften Schutzes aussagebereiter Zeugen vor den Repressalien der "Verratenen" vgl. Denny, ZStW 103 (1991), S. 279 f.; Körner, StV 1984, S. 220; Weigend, FS Jescheck H, S. 1348. 877 Jaeger, Der Kronzeuge, S. 178. V gl. zur Lage in Nordirland und dem dortigen Umgang der Terrororganisation lRA mit ihren aussagewilligen Mitgliedern Denny, ZStW 103 (1991), S. 276 f. m. w. N.: "In Nordirland hat die lRA sehr schnell eine wirksame Methode gefunden, um ,konvertierte Terroristen' zurückzukonvertieren. Einerseits wurden alle zum Tode ,verurteilt', die sich entschlossen hatten, Kronzeuge zu werden; andererseits wurde eine ,Amnestie' erklärt und eingehalten für diejenigen, die bereit waren, ihre Aussage zu widerrufen". 878 Hoyer, JZ 1994, S. 236 m. w. N.

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3. Teil: Opportunitätseinstellungen und verfassungsmäßige Ordnung

vom Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO Gebrauch gemacht879 • Bleibt es bei der Aussage des Kronzeugen, muß ihr vor dem beschriebenen Hintergrund mit der gebotenen Skepsis begegnet werden, insbesondere dann, wenn ihr Wahrheitsgehalt allein deswegen anzuzweifeln ist, weil zuvor erheblicher psychologischer Druck auf den Betroffenen ausgeübt worden ist 880, oder weil unter Umständen sogar mehrere Beschuldigte um die Rolle des einen Kronzeugen konkurrieren 881 • Mit inhaltlich unwahren Aussagen lassen sich jedoch weder begangene Straftaten aufklären noch künftige verhindern. Am Ende bestätigt ein Rückblick auf die praktischen Erfahrungen mit Kronzeugenregelungen ihre vermutete Ineffizienz. Gerade im Bereich des Terrorismus beruhten spektakuläre Errnittlungserfolge der jüngeren Vergangenheit in keiner Weise auf den Aussagen etwaiger Kronzeugen, sondern darauf, daß mit dem Untergang der DDR-Diktatur und der Öffnung des Staatsgebiets auch ein bevorzugter Schlupfwinkel ehemaliger Terroristen entfallen war und fortan ein strafverfolgungsrechtlicher Zugriff auf alte Kader terroristischer Vereinigungen möglich wurde, der bis dahin im Anschluß an die Terrorismuszeiten der siebziger und beginnenden achziger Jahre trotz der 1989 eigens dafür geschaffenen Kronzeugenregelung nicht gelang882 . Und auch dem organisierten Rauschgifthandel scheint die Kronzeugenregelung des § 31 BtMG nicht nachhaltig geschadet zu haben, denn zumindest was die Aufklärung und Verhinderung erheblicher Delikte aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität anbelangt, dürfte die Norm von einem Beitrag, welcher die Drogenkartelle zu erschüttern geeignet wäre, weit entfernt sein. Erfolge lassen sich mit Hilfe des § 31 BtMG bestenfalls im kleinkriminelIen Bereich erzielen, da bereits durch die Struktur der bisweilen mafiaähnlich agierenden Organisationen das Wissen der "Straßendealer", die im Strafverfolgungsalltag von der Polizei allenfalls "abgefischt" werden, regelmäßig nicht ausreicht, um höheren Organisationsebenen, d. h. den wirklich "großen Fischen" des internationalen Rauschgifthandels, durch "Verrat" gefahrlich werden zu können 883 • Vgl. Denny, ZStW 103 (1991), S. 273. Vgl. Weigend, FS Jescheck 11, S. 1348. Ganz generell dürfte der Wahrheitsgehalt von Kronzeugenaussagen angesichts des latent vorhandenen Anreizes zur Lüge problematisch und damit letztendlich auch die Effizienz derartiger Regelungen fragwürdig sein; vgl. Denny, ZStW 103 (1991), S. 270; Hoyer; JZ 1994, S. 236 m. w. N.; Jaeger; Der Kronzeuge, S. 164 m. w. N.; Körner; StV 1984, S. 220; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 90; Weigend, FS Jescheck 11, S. 1348. 881 Denny, ZStW 103 (1991), S. 277 m. w. N. 882 Vgl. Hoyer; JZ 1994, S. 234 m. w. N., der darauf hinweist, daß auch nach der Ergreifung einiger Ex-Terroristen auf dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR Aussagen, soweit sie gemacht worden sind, von den Betroffenen nicht im Hinblick auf die möglichen Vergünstigungen einer Kronzeugenregelung getätigt wurden, "sondern lediglich deswegen, weil sie sich innerlich längst von ihren radikalen Mitteln gelöst und in bürgerliche Lebensformen zurückgefunden hatten". 879

880

H. Ergebnis

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Der eingangs aufgezeigte Verlust an Rechtsstaatlichkeit, der mit Kronzeugenregelungen jeglicher Ausformung einhergeht, wiegt angesichts der mangelnden Effizienz derartiger Strafverfolgungsstrategien um so schwerer. Das rechts staatliche Legalitätsprinzip wird demzufolge durch diese weitläufigste Ausprägung opportunistischer Strafrechtspflege in unzulässiger Weise eingeschränkt.

H. Ergebnis "Dritter Teil" Die vorangegangene Einzeluntersuchung einiger besonders praxisrelevanter Opportunitätseinstellungsermächtigungen hat ein insgesamt besorgniserregendes Bild vom Vordringen opportunistischer Handlungsmöglichkeiten in die Grundmaxime einer legalitätsgeleiteten Strafrechtspflege gezeichnet. Dabei haben sich die §§ 153, 153 a StPO als ein summa summarum verfassungsrechtlich problematisches Normenpaar erwiesen, wobei insbesondere die Regelung in § 153 alStPO als verfassungswidrig zu bezeichnen ist. Die nachfolgende, kurze Analyse des weitreichenden Opportunitätsdenkens in den Folgevorschriften der §§ 153 b ff. StPO hat darüber hinaus einige bemerkenswerte Facetten einer zunehmend zweckorientierten Strafrechtspflege zum Vorschein gebracht, die in erster Linie bei §§ 154, 154 a StPO Anlaß zur Kritik gaben. Die im Anschluß in Augenschein genommene und für verfassungsrechtlich bedenklich befundene Opportunitätsvorschrift des § 31 a BtMG verdankt ihre Existenz überdies einem Phänomen, das es - wie auch im Falle der §§ 153, 153 a StPO - auf materiellrechtlichem Wege anzugehen gilt884 . Schließlich müssen sämtliche Kronzeugenregelungen aufgrund zweifelhafter Effizienz bei gleichzeitig unzweifelhafter rechtsstaatlicher Bedenklichkeit rigoros abgelehnt werden. Bereits diese untersuchten Beispiele haben aufgezeigt, wie weit der Opportunitätsgedanke mittlerweile in den Herrschaftsbereich des Legalitätsprinzips vorgedrungen ist und dabei insbesondere der Staatsanwaltschaft zu einem Machtzuwachs verholfen hat, der ihr von Verfassungs wegen nicht zusteht. Demzufolge werden Änderungsvorschläge de lege ferenda u. a. genau an diesem Punkt anzusetzen haben: der Disziplinierung der Staatsanwaltschaft durch eine Begrenzung ihrer Kompetenzen 885.

883 Vgl. Boyer, JZ 1994, S. 236 m. w. N.; Jaeger, Der Kronzeuge, S. 190; Kunert/Bemsmann, NStZ 1989, S. 457; Weigend, FS Jescheck Il, S. 1337. 884 Dazu im einzelnen unten "TeiI5.D.". 885 Dazu unten "Teil 5.".

Vierter Teil

Rechtsvergleichung - Legalität und Opportunität in anderen (Rechts-)Staaten Die vorangegangene Untersuchung hat den innerhalb der deutschen Strafrechtspflege auch weiterhin im Vordringen befindlichen Opportunitätsgedanken als ein zwar teilweise notwendiges, im seinen gegenwärtigen deutschen qualitativen und quantitativen Erscheinungsformen jedoch nur schwer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zu vereinbarendes Strukturprinzip ausgewiesen. Der Gesetzgeber hat im Laufe der Jahre auf unterschiedliche Anforderungen der Praxis mit der Verabschiedung opportunistisch geprägter Regelungen reagiert und auf diese Weise Schritt für Schritt seinen Teil dazu beigetragen, daß Legalität, einst als rechtsstaatlich fundamentale Errungenschaft gefeiert, zunehmend einer flexiblen, zweckorientierten Rechtsanwendung zum Opfer gefallen ist. Opportunität erscheint inzwischen als das dominierende Strukturprinzip in der Gegenwart strafverfahrensrechtlicher Konfliktlösung. Nun mag man einwenden, daß Opportunität als Strukturprinzip des Strafverfahrens kein allein deutsches Phänomen darstellt und ein Blick über die Landesgrenzen verrät, daß sich andere Staaten das Opportunitätsprinzip nicht nur als Beschränkung der Legalität, sondern vielmehr als Grundmaxime strafverfahrensrechtlichen Handeins auf ihre Fahnen geschrieben haben. Jedes Opponieren gegen ein weitreichendes Opportunitätsdenken innerhalb der deutschen Strafrechtspflege müßte sich den "Vorwurf der Provinzialität" gefallen lassen, wenn verkannt würde, daß "andere Staaten, deren Rechtsordnungen dem Demokratie- und Rechtsstaatsgedanken, der Rechtsgleichheit und der Gerechtigkeit nicht weniger verpflichtet sind als die deutsche, auf der Grundlage dieses Prinzips zu sachgerechten Ergebnissen kommen"!. Die im Grundsatz gebotene "Öffnung des nationalen Visiers,,2 darf indes nicht dazu verleiten, vorschnell sämtliche Bedenken gegenüber strafverfahrensrechtlichen Opportunitätsregelungen über Bord zu werfen. Um inländische Vorhaltungen überhaupt rechtsvergleichend entkräften zu können, muß zum mindesten vorab die ausländische Regelungsalternative, die man zur Legitimation innerstaatlicher Re1 Hernnann, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, Humboldt-Tagung, Sektion 8; vgl. des weiteren Keller, GA 1983, S. 517. Einen ,,Blick über die Grenzen" regt auch Eser, Recht und Verfahren, S. 44 ff. an. 2 Eser, ZStW 108 (1996), S. 87; Weigend, FS Jescheck 11, S. 1333.

A. Staaten mit legalitätsgeprägten Strafrechtsordnungen

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fonnwünsche ins Auge gefaßt hat, in ihrem Gesamterscheinungsbild betrachtet und auf ihre Tauglichkeit als Argumentationshilfe hin untersucht werden. So ist jeder Fonn von Rechtsvergleichung die Gefahr inhärent, daß am Ende die rein punktuelle Übertragung von Einzelelementen der Vergleichsordnungen aufgrund der unterschiedlichen Kontexte ihrer Verwendung zu Verzerrungen der Realitäten und damit zu einer Schieflage der Argumentation führt. Oft sind es Spezifika des ausländischen Gesamtsystems, die ein Funktionieren des zur Übernahme auserkorenen Verfahrenselements überhaupt erst bedingen3 • Überdies dürfen bei den rechtsvergleichenden Legitimationsversuchen etwaig vorhandene kritische Stimmen, die sich gegen die ausländische Vorgehensweise aussprechen, ebensowenig verschwiegen werden wie etwaige Kompromisse, die eine zu Vergleichszwecken herangezogene Strafrechtsordnung bei der Verwirklichung der favorisierten Regelung aus rechtsstaatlicher Sicht eingehen mußte und schließlich auch eingegangen ist. Bevor im Anschluß anhand dieser Prämissen einige Staaten mit überwiegend opportunitätsgeleiteten Strafrechtsordnungen auf ihre Tauglichkeit als Legitimationshilfe für deutsche Opportunitätsforderungen hin überprüft werden sollen, ist vorab ein kurzer Überblick über einige der Staaten zu geben, die - dem deutschen Strafprozeßrecht insoweit vergleichbar - Opportunität lediglich als begrenzende Ausnahme vom Grundsatz der Legalität zulassen.

A. Staaten mit überwiegend legalitätsgeprägten Strafrechtsordnungen Österreich und auch die überwiegende Zahl der schweizerischen Kantone befürworten im Grundsatz das Legalitätsprinzip, tendieren jedoch in neuerer Zeit verstärkt in Richtung einer gemäßigten Opportunität4 • Während in der Schweiz auf kantonaler Ebene seit jeher ein durchaus gemischtes Bild einer Verteilung von Legalität und Opportunität existiert5 , hielt man in Österreich lange am weitgehenden Verfolgungszwang fest und etablierte im Jahre 1975 in Gestalt des § 42 öStGB (,,Mangelnde Strafwürdigkeit") ein "als Richterprivileg ausgestaltetes materiellrechtliches Gegenstück zum Opportunitätsprinzip,,6. Auch in Schweden fühlt man Eser, ZStW 108 (1996), S. 87. Vgl. bei Eser, ZStW 108 (1996), S. 90 für die seit 1987 in einigen Kantonen der Schweiz zu beobachtende Reformwelle sowie auf S. 121 m. w. N. für (geplante) Ausnahmen vom Grundsatz der Legalität in Österreich. Zur Geltung der Legalität in beiden Ländern vgl. ferner Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1019 ff. bzw. 1042 ff.; Sax, JZ 1964, S. 44; Wagner, FS für den 45.DIT, S. 161. 5 Vgl. Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1042 ff. 6 Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1019. Zur Regelung des § 42 öStGB vgl. im einzelnen unten "Teil 5.B.ill.2.". Zur Situation in Österreich vgl. auch Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 89 f. 3

4

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4. Teil: Legalität und Opportunität in anderen (Rechts-)Staaten

sich dem Legalitätsprinzip verpflichtet und gewährt eine Ausnahme von der staatsanwaltschaftlichen Anklagepflicht im Sinne der Kap. 20 § 6, Kap. 23 § 2 RB nur dann, wenn nach Kap. 20 §§ 7 -7b RB "dem Beschuldigten nur Geldstrafe drohen würde und keine wesentlichen Interessen der Allgemeinheit oder von Privatpersonen verletzt worden sind"? In Spanien hingegen fehlt es gänzlich an Alternativen zur Strafverfolgung, so daß die spanische Staatsanwaltschaft beim Vorliegen hinreichender Anzeichen zur Anklage von öffentlichen und Antragsdelikten verpflichtet ist 8 . Konstitutionelle Weihen hat das Legalitätsprinzip derweil in Italien erhalten, wo Art. 112 der italienischen Verfassung von 1947 der Staatsanwaltschaft die Plicht zur Erhebung der öffentlichen Klage auferlegt und Ausnahmen nur in wenigen Fällen zugelassen sind9 . In Griechenland ist der Staatsanwalt aufgrund eines strengen Legalitätsprinzips zur Einleitung der Strafverfolgung und zur Erhebung der öffentlichen Klage verpflichtet, wenn er aufgrund einer Strafanzeige, eines Strafantrags oder durch irgendeine amtliche Wahrnehmung von der Ausführung einer strafbaren Handlung Kenntnis erlangt lO • Von der Strafverfolgung kann nach griechischem Recht nur in wenigen Ausnahmefällen - etwa denen der Art. 30, 44 und 45 gr.StPO ll - abgesehen werden. In Kroatien hat man nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1991 zunächst das Legalitätsprinzip aus dem Strafverfahrensrecht des ehemaligen Jugoslawien übernommen und später im Jahre 1997 die grundsätzliche Strafverfolgungspflicht der kroatischen Staatsanwaltschaft durch die Schaffung neuer Ausnahmefälle, von denen manch einer an § 153 a der deutschen Strafprozeßordnung erinnert, in ihrem Umfang weiter eingeschränkt J2 • Die Türkei, die im Jahre 1929 die deutsche Strafprozeßordnung in ihrer Fassung von 1877 und damit auch das Legalitätsprinzip als Verfahrensmaxime übernommen hatte, behielt den Anklagezwang auch in den jüngsten Reformentwürfen zu einer türkischen StPO im Jahre 2000 bei. Der geltenden Fassung sind dabei die deutschen Vorschriften der §§ 153 ff. StPO fremd. Etabliert sind insgesamt nur vier Ausnahmen vom Grundsatz der Legalität: die Privatklage in Art. 344 türk.StPO, die Einlegung von Rechtsmitteln nach Art. 295, 296 türk.StPO, das Absehen von der Anklage bei unwesentlichen Nebenstraftaten gemäß Art. 149 türk.StPO und seit dem 19. 11. 1996 eine Art Kronzeugenregelung im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Ein Vorschlag, die §§ 153 ff. der deutschen StPO in den

7 Lundqvist, ZStW 112 (2000), S. 158. Vgl. zum grundsätzlichen Verfolgungszwang in Schweden ferner Sax, JZ 1964, S. 45 m. w. N.; Wagner, FS für den 45.DJT, S. 161 f. m. w. N. 8 Ein Absehen von der Anklage ist ausschließlich nach Art. 637 ff. span.StPO für den Fall möglich, daß eine endgültige Einstellung des Verfahrens offensichtlich ist; vgl. zu alledem Colomer, ZStW 112 (2000), S. 137. 9 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 89; vgl. zur Legalität in Italien ferner Sax, JZ 1964, S. 44; Wagner, FS für den 45.DJT, S. 162 m. w. N. 10 Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 108. 11 Vgl. dazu Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 108 Fn. 210. 12 Krapac, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, Humboldt-Tagung, Sektion 8. Vgl. dazu auch den Tagungsbericht von Hirsch in ZStW 113 (2001), S. 396.

B. Staaten mit opportunitätsgeprägten Strafrechtsordnungen

285

Reformentwurf des Jahres 2000 aufzunehmen, wurde vom türkischen Justizministerium abgelehnt 13 • Dem Strafprozeßrecht Polens liegt in Form des Art. 10 § I poln.StPO einerseits ebenfalls der Grundsatz der Legalität zugrunde. Andererseits verfügt aber auch das polnische Recht daneben - beispielsweise im polnJGG, im Übertretungsrecht und bei Kronzeugenregelungen - über eine Vielzahl opportunitätsgeprägter Bestimmungen, durch die das Legalitätsprinzip begrenzt wird. Mit Art. 11 § 1 poln.StPO gibt es zudem seit 1997 eine Vorschrift, die angesichts ihres Regelungsgehalts an § 154 d.StPO erinnert, und durch die die polnischen Strafverfolgungsbehörden zu weiteren Ausnahmen von ihrer grundsätzlichen Verfolgungspflicht ermächtigt werden l4 . Das Strafprozeßgesetz der Volksrepublik China in der Fassung vom 17. 3. 1996 sieht ebenfalls im Grundsatz eine Verfolgungspflicht der Ermittlungsorgane vor, von der allerdings drei Ausnahmen zugelassen werden: Neben den Fällen einer absoluten Nicht-Anklage nach §§ 142 I, 15 StPG I5 sowie denen einer relativen Nicht-Anklage, die wiederum bei minder schweren Umständen oder einer gesetzlichen Möglichkeit zum Absehen von Strafe vorgesehen ist, kann die chinesische Staatsanwaltschaft im dritten Ausnahmefall vom Legalitätsprinzip bei unzureichender Beweislage nach § 140 IV StPG von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen l6 . Das bis Ende 1996 gültige, sehr weitreichende Institut der Freistellung von der Anklageerhebung - mian yu qisu - wurde dagegen im Zuge der Reform abgeschafft 17 . Trotz manch opportuner Handlungsmöglichkeit im Ausnahmefall ist all den vorgenannten ausländischen Rechtsordnungen gemein, daß sie im Grundsatz die Legalität zur Maxime strafverfolgungsrechtlichen Handeins erhoben haben.

B. Staaten mit überwiegend opportunitätsgeprägten Strafrechtsordnungen Einen hiervon abweichenden Weg beschreiten beispielsweise England, Frankreich, die Niederlande, die Vereinigten Staaten von Amerika, Japan, Belgien lg , 13 Öztürk, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, Humboldt-Tagung, Sektion 8. Zur Legalität in der Türkei und den weiteren Parallelen zur deutschen Strafprozeßordnung vgl. ferner Sax, JZ 1964, S. 44. 14 Gostynski, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, Humboldt-Tagung, Sektion 8. 15 Der praktisch wichtigste Fall ist mit § 15 Nr. I StPG das Absehen von einer Anklage bei Taten, denen aufgrund der gesamten Umstände die "Gesellschaftsschädlichkeit" im Sinne von § 13 StrafG fehlt und die demzufolge nicht als Straftat eingestuft werden; vgl. Richter, MschrKrim 2000, S. 24. 16 Richter, MschrKrim 2000, S. 24 f. 17 Richter, MschrKrim 2000, S. 24 f. 18 In Belgien ist das Opportunitätsprinzip gesetzlich in Art. 28quater al.1 c.I.C. geregelt; vgl. Gross, ZStW 112 (2000), S. 238 m. w. N.; zuvor Eser; ZStW 108 (1996), S. 92 f.; vgl. ferner Sax, JZ 1964, S. 44 f.; Wagner; FS für den 45.DJT, S. 163.

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4. Teil: Legalität und Opportunität in anderen (Rechts-)Staaten

Dänemark und Norwegen 19 , deren Strafrechtsordnungen allesamt die Opportunität als Grundmaxime strafverfolgungsrechtlichen Staatshandelns ausgeben. Bezugnehmend auf den eingangs formulierten Untersuchungsansatz ist zu fragen, worin sich in einigen der vorgenannten Strafrechtsordnungen eine opportunistische Verfahrensweise im einzelnen ausdrückt, welche Einwände es möglicherweise auch gegenüber diesen Regelungen gibt und welche rechtlichen oder auch gesellschaftspolitischen Griinde im Einzelfall ein generelles Festhalten an der Opportunität als Ausgangsprinzip strafverfahrensrechtlichen Handeins erklärbar machen.

In England, wo erst seit dem Crown Prosecution Service Act von 1985 eine staatliche Anklagebehörde unter der Leitung des Director 0/ Public Prosecution besteht, gilt innerhalb der staatlichen Strafrechtspflege traditionell das Opportunitätsprinzip 2o. Dessen absolute Herrschaft ist nur verständlich, wenn man die rechtliche Landschaft ringsherum in die Betrachtung mit einbezieht: So erfährt die fehlende Strafverfolgungspflicht des Staates eine wichtige Absicherung durch das Rechtsinstitut der Privatklage, das im Grunde jeden Bürger Englands dazu berechtigt, in eigener Person die Rolle des Anklägers zu übernehmen 21 • Dariiber hinaus wird der Polizei, die in der Praxis das Hauptanklageorgan bildet, seitens der Bevölkerung traditionell ein hohes Maß an Vetrauen entgegengebracht22 . In Frankreich wird zur Begriindung der Geltung des Opportunitätsprinzips auf art. 40 al. 1 des Code de Procedure Penale (C.P.P.) verwiesen, wo es heißt: "Der Staatsanwalt nimmt Strafanzeigen entgegen und beurteilt, wie weiter zu verfahren ist,m. Nach Abschluß der Ermittlungen besteht für ihn die Möglichkeit, das Verfahren einzustellen oder aber, wenn der Verdacht eines Verbrechens besteht, die Sache an den Untersuchungsrichter abzugeben. Für den Fall, daß die polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen den Verdacht eines Vergehens oder einer Übertretung ergeben haben, steht es im Ermessen des Staatsanwalts, ob er die Akte dem Untersuchungsrichter zur weiteren Bearbeitung vorlegt oder ob er den Beschuldigten unmittelbar vor dem zuständigen Gericht im Wege der citation directe anklagt24 • Nachdem die Staatsanwaltschaft das Verfahren an den Untersu19 Vgl. hierzu Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 116 ff.; Sax, JZ 1964, S. 45 m. w. N.; Wagner, FS für den 45.DIT, S. 164 m. w. N.; vgl. für Dänemark auch Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 92 f. 20 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 543 m. w. N.; vgl. ferner Sax, JZ 1964, S. 45; Wagner, FS für den 45.DIT, S. 162. 21 Vgl. Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 90 f. Zum Popu1arklageprinzip in England vgl. auch Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 123 ff.; Sax, JZ 1964, S. 45 m. w. N.; Wagner, FS für den 45.DIT, S. 162. Zum englischen Strafprozeß vgl. auch Reynold, DRiZ 1962, S. 74 ff. 22 Eser, Recht und Verfahren, S. 45. 23 Gewaltig, action civile, S. 3; Naucke, DIT-Gutachten, D 43; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 546; Sax, JZ 1964, S. 45; Wagner, FS für den 45.DIT, S. 162 f.; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 90. 24 Des weiteren hat der französische Staatsanwalt bei Übertretungen die Möglichkeit, das vereinfachte Verfahren des Strafbefehls nach den art. 524 ff. C.P.P. anzuwenden. Zu dieser

B. Staaten mit opportunitätsgeprägten Strafrechtsordnungen

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chungsrichter bzw. das erkennende Gericht abgegeben hat und damit die öffentliche Klage, die sog. action publique, auf den Weg gebracht worden ist, wird die Opportunität von der Legalität abgelöst25 . Weder der angerufenen Kammer noch dem Untersuchungsrichter ist es in der Folgezeit gestattet, das Verfahren aus Ermessensgründen einzustellen. Solange aber die Verfahrensherrschaft allein in den Händen der Staatsanwaltschaft liegt, bewegt sie sich bei ihren Entscheidungen in einem weit gesteckten Opportunitätsrahmen. Zu beachten ist jedoch, daß diese Freiheiten bei der Ausübung staatlicher Anklagetätigkeit durch die gleichzeitige Möglichkeit des Opfers, die action publique auch ohne die entsprechende staatsanwaltschaftliche Mitwirkung auszulösen, normativ abgesichert werden. So kann der durch die Straftat Verletzte mit Hilfe des Instituts der action civile nicht nur aktiv am Verfahren mitwirken und etwaige zivilrechtliche Schadensersatzansprüche bereits im Rahmen des Strafverfahrens geltend machen, sondern er kann weiterhin auch gegen den Willen der Staatsanwaltschaft die Einleitung bzw. Wiederaufnahme des Verfahrens verlangen 26 . Indem der Verletzte mit der action civile den Untersuchungsrichter oder das erkennende Gericht unmittelbar anrufen und sie mittels einer plainte27 zur Einleitung eines Untersuchungsverfahrens bzw. im Wege der citation directe zur Eröffnung der Hauptverhandlung verpflichten kann, werden ihm Befugnisse verliehen, die sonst nur der Staatsanwaltschaft zustehen. Nicht zuletzt aufgrund ihres "Klageerzwingungscharakter(s),,28 stellt die action civile im französischen Strafprozeß ein "notwendiges Gegengewicht zum staatsanwaltschaftlichen Opportunitätsprinzip,,29 dar und hilft, (zu) weite Handlungsspielräume der staatlichen Strafverfolgungsorgane zu korrigieren. Auch in der geltenden, am I. 1. 1926 in Kraft getretenen Strafprozeßordnung der Niederlande gilt das Opportunitätsprinzip mittlerweile als Grundmaxime staatsanwaltschaftlicher Verfolgungsentsche.idungen. Anfangs wurde Opportunität - in Parallelität zur deutschen Regelung - noch als Ausnahme vom Grundsatz der Legalität angesehen, bis es gegen Ende der sechziger Jahre durch etliche Neukriminalisierungen und den sich daraus ergebenden Kapazitätsproblemen innerhalb der Justiz zu einer Neuinterpretation des Prinzips und damit zu einer Umkehrung

und allen anderen Handlungsvarianten des französischen Staatsanwalts nach Ermittlungsabschluß vgl. Gewaltig, action civile, S. 3 f. 25 Gewaltig, action civile, S. 5. 26 Gewaltig, action civile, S. 6. Zur französischen action civile und ihrem doppelten Ziel - Wiedergutmachung des erlittenen Schadens sowie Bestrafung des Täters - vgl. auch Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 99 ff. 27 Vgl. Gewaltig, action civile, S. 123. 28 Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 546. 29 Gewaltig, action civile, S. 124 m. w. N.; vgl. auch Eser, Recht und Verfahren, S. 45; Naucke, DIT-Gutachten, D 44; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 546; Wagner, FS für den 45.DIT, S. 162 f.; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 90 m. w. N.

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4. Teil: Legalität und Opportunität in anderen (Rechts-)Staaten

des Verhältnisses von Legalität und Opportunität kam 3o. Seither gilt es, bei der Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen neben der üblichen Feststellung von Verdachtsmomenten auch die Gründe für das Gebotensein einer strafrechtlichen Reaktion des Staates im konkreten Einzelfall positiv zu bestimmen 3!. Die niederländische Staatsanwaltschaft hat mithin zwar ein Anklagemonopol, aber keine damit korrespondierende Pflicht zur Erhebung der öffentlichen Klage nach Art. 258 nl.StP032 . Sie kann vielmehr nach Abschluß der Ermittlungen - nachdem sie beispielsweise zur weiteren Aufklärung der Verdachtsmomente die Mithilfe einer gerichtlichen Voruntersuchung in Anspruch genommen hat - eine "technische Einstellung,,33 des Verfahrens vornehmen oder aber dem Beschuldigten eine sog. "Transaktion" nach den Art. 74 ff. nl.StGB anbieten. Hiernach kann der Beschuldigte - insoweit mit der deutschen Regelung des § 153 a StPO vergleichbar - mit Bedingungen konfrontiert werden, deren Erfüllung die Fortsetzung des Strafverfahrens abzuwenden geeignet ist. Die rechtsstaatlichen Bedenken gegenüber einer solchen Regelung sind im Zusammenhang mit § 153 a d.StPO hinreichend benannt, wenngleich der niederländischen Variante einer mit Auflagen verknüpften Verfahrensbeendigung zugute gehalten werden muß, daß sie insgesamt die Interessen des Verletzten besser zu berücksichtigen scheint, als dies bei § 153 a der deutschen StPO der Fall ist 34 . Insgesamt besehen verbleibt der niederländischen Staatsanwaltschaft ein großer Handlungsspielraum, der sich nahtlos in die strafprozeßrechtliche Gesamtlinie eines weiten Entscheidungsermessens niederländischer Amtsträger einfügt und der die Anklagebehörde weitgehend von gesetzlichen Beschränkungen freistellt 35 . Andererseits gilt es auch hier wieder zu beachten, daß die vordergründig so großzügig gewährte Opportunität letzten Endes nicht ohne gleichzeitige Anleitung und Absicherung auszukommen scheint. Neben ermessenslenkenden Richtlinien und Indikationslisten für einzelne Tatbestände, die dem sachbearbeitenden Staatsanwalt Verfolgungs- und Transaktionskriterien vorgeben 36, gewährt das niederlän30 Tak, ZStW 112 (2000), S. 175. Zur Geltung des Opportunitätsprinzips in den Niederlanden vgl. auch Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 118. 3! Tak, ZStW 112 (2000), S. 175 m. w. N. 32 Corstens, FS Stree/Wessels, S. 646. 33 Hierbei handelt es sich um Fälle, bei denen dem Beschuldigten die Tat oder die Schuld nicht nachgewiesen werden kann bzw. bei denen Strafausschließungsgründe oder Verfolgungshindernisse vorliegen; vgl. Tak, ZStW 112 (2000), S. 175. 34 Die "Transaktion" ist beispielsweise nur dann zulässig, wenn dem Opfer der Tat sein Schaden ersetzt oder eine entsprechende Regelung zwischen Tater und Opfer getroffen worden ist; vgl. dazu Eser; ZStW 108 (1996), S. 121, der jedoch mit "der Willkür und einer weiteren Entfernung vom gesetzlichen Richter" zugleich einige der Gefahren einer derartigen Regelung benennt. Vgl. dazu auch Sagel-Grande, MschrKrim 1985, S. 220 ff. 35 Corstens, FS Stree/Wessels, S. 646, der davon spricht, daß die niederländische Strafprozeßordnung von dem Begriff des "freien Ermessens" geprägt sei. Vgl. zur staatsanwaltschaftlichen Machtfülle in den Niederlanden auch Sagel-Grande, MschrKrim 1985, S. 228; Tak, ZStW 84 (1972), S. 220.

B. Staaten mit opportunitätsgeprägten Strafrechtsordnungen

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dische Recht dem Verletzten eine Klagemöglichkeit gegen den staatsanwaltschaftlichen Einstellungsbeschluß und unterwirft das Opportunitätsprinzip auf diese Weise nachträglich einer richterlichen Kontrolle 3? Dabei spielen insbesondere allgemeine Rechtsprinzipien eine Rolle, deren Geltung der Hohe Rat der Niederlande trotz fehlender Kodifizierung ausdrücklich anerkannt hat und an denen eine streitbefangene Opportunitätsentscheidung der Staatsanwaltschaft zu messen ises . So hat staatsanwaltschaftliche Opportunität neben dem Vertrauensprinzip stets die Grundsätze der Rechtsgleichheit sowie einer sachgerechten Interessenabwägung zu wahren, und es darf überdies nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung widersprechenden Weise von der Ermessensfreiheit Gebrauch gemacht worden sein39 • Nicht zuletzt durch die Anerkennung dieser allgemeinen Rechtsprinzipien sind in den Niederlanden "Instrumente entstanden ... , die eine gewisse Kontrolle über die große Handlungsfreiheit der Staatsanwaltschaft ... ermöglichen,,40. Mithin zeigt sich auch am Beispiel der Niederlande, daß es im Rahmen einer Rechtsvergleichung nur wenig aussagekräftig ist, einen Einzelaspekt aus einem ausländischen Verfahrensmodell zu Argumentationszwecken zu isolieren. Vielmehr muß jeder insoweit herangezogene Hinweis auf eine im Ausland praktizierte Form opportunistischer Strafrechtspflege sämtliche Umstände mit aufführen, von denen die argumentativ ins Feld geführten Entscheidungsfreiheiten der ausländischen Strafverfolgungsorgane begleitet werden. Nur so kann die Funktionsfähigkeit der konzeptionellen Gegenposition - wenn es sie denn gibt - erhellt und gegebenenfalls als tragfähiger Unterbau für die inländische Reformarbeit verpflichtet werden. Auch im Falle der Vereinigten Staaten von Amerika, wo der Staatsanwalt trotz beachtlicher Kritik41 über eine weitreichende, auf Opportunität begründete Ermessensbefugnis verfügt42, muß die favorisierte strukturelle Konzeption, sofern man sich ihrer argumentativ bedienen will, zunächst in den Kontext der örtlichen Gegebenheiten eingestellt und nach rechtlichen und gesellschaftspolitischen Ersatz36 Corstens, FS Stree I Wesseis, S. 646. Vgl. auch Saget-Grande, MschrKrim 1985, S. 219 f., die in diesem Zusammenhang auf die Gefahr einer Beeinträchtigung von Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit infolge weitgehend unterschiedlicher Anwendungsmaßstäbe bei der Auslegung des Merkmals "allgemeines Wohl" in den Vorschriften der §§ 167 II, 242 nl.StPO hinweist. Die vorgenannten exekutivischen Maßnahmen scheinen diesbezüglich jedoch nicht wesentlich für Abhilfe gesorgt zu haben; vgl. Saget-Grande, MschrKrim 1985, S. 219. Zur grundsätzlichen Notwendigkeit derartiger Richtlinien innerhalb großer Ermessensfreiräume vgl. ferner de long, RuP 1976, S. 172. 37 Tak, ZStW 84 (1972), S. 245 f.; derselbe, ZStW 112 (2000), S. 198; Wagner, FS für den 45.DJT, S. 164. 38 HR 12. 12. 1978, NI 1979, S. 142; HR 22. 12. 1981, NJ 1982, S. 233; Nachweise bei Corstens, FS Stree I Wesse1s, S. 647 Fn. 6 f. 39 Corstens, FS Stree/Wessels, S. 647 ff.; vgl. auch Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 40 f. 40 Corstens, FS Stree I Wesseis, S. 651. 41 Vgl. Weigend, Funktion und Tätigkeit, S. 637 m. w. N. 42 Berrmann, ZStW 96 (1984), S. 459. 19 Horstmann

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4. Teil: Legalität und Opportunität in anderen (Rechts-)Staaten

mechanismen Ausschau gehalten werden, die das Rege1ungskonzept unter Umständen in einem anderen Licht erscheinen lassen. So rechtfertigt sich die freie Stellung des amerikanischen prosecutors zum einen aufgrund struktureller Notwendigkeiten, die nicht zuletzt daraus resultieren, daß er in einer Art Filterfunktion den ausgesprochen großen input an Straftaten zu bewältigen hat, der durch die "oft recht ungehemmte Kriminalisierungsbereitschaft des Strafgesetzgebers und durch das undifferenzierte, häufig nicht an der Verurteilungswahrscheinlichkeit orientierte Verfolgungsstreben der Polizei,,43 entsteht. Zum anderen, und hier liegt wohl die eigentliche Ursache für den ihm gewährten "Vertrauensvorschuß", wird der prosecutor in fast allen Bundesstaaten vom Volk gewählt. Daß er mithin seine Entscheidungen gegenüber dem Wähler vertreten muß, verschafft ihm eine besondere Legitimation für seine weitere Amtstätigkeit44 , die zur Erklärung des Verzichts auf "die Fesseln ermessenseinengender Reglementierung durch Gesetze und Verordnungen,,45 zumindest ein gut Teil beitragen kann. Überdies ist man auch in den USA bemüht, der angesichts weiter Handlungsspielräume drohenden Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung durch die Schaffung fester Orientierungshilfen in Form von Ermessensrichtlinien vorzubeugen 46 . Grundsätzliche Geltung beansprucht das Opportunitätsprinzip auch in Japan, wo dem insgesamt mit einer erheblichen Machtfülle ausgestatteten Staatsanwalt nach § 248 jap.StPO die Ermächtigung zukommt, die Anklage zu unterlassen, wenn er sie infolge "des Charakters, des Alters und der Verhältnisse des Taters, der Schwere und der Umstände der Straftat und der Verhältnisse nach der Straftat" nicht für notwendig erachtet47 . Diese opportunistische Handlungsmöglichkeit steht ihm zunächst einmal bei ausnahmslos allen Delikten zur Verfügung, mithin selbst bei schwerwiegenden Taten wie beispielsweise einer vorsätzlichen Tötung48 . Beachtlich ist ferner, daß die Tatschwere allein für den japanischen Staatsanwalt niemals Ausschlußgrund für eine Verfahrenseinstellung sein wird49 . Das Absehen von einer Verfolgung nach § 248 jap.StPO kann der Staatsanwalt mit Rehabilitationsmaßnahmen verbinden, deren Spektrum von einfachen Meldepflichten bis zur halbjährigen Unterbringung des Beschuldigten in einem Resozialisierungsheim oder einer Heilanstalt reicht, ohne daß ein Gericht an der Entscheidung beteiligt sein müßte50. Diese staatsanwaltschaftliche Machtfülle, die sich des weiteren dadurch ausdrückt, daß es dem japanischen Staatsanwalt nach § 257 jap.StPO jederWeigend, Funktion und Tätigkeit, S. 611. Vgl. Eser, Recht und Verfahren, S. 45; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 101; derselbe, Funktion und Tätigkeit, S. 592; derselbe, ZStW 109 (1997), S. 119. 45 Weigend, Funktion und Tätigkeit, S. 592. 46 Weigend, Funktion und Tätigkeit, S. 638 ffi. w. N. 47 Nalromura, Die japanische Strafprozeßordnung, S. 63. Vgl. auch Kausch, S. 237; ebenso Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1086 f.; Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 126 f. 48 Kausch, S. 237; Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1087. 49 Kausch, S. 237 ffi. w. N.; Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1087. 50 Kausch, S. 237 f.; Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1090 f. 43

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B. Staaten mit opportunitätsgeprägten Strafrechtsordnungen

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zeit möglich ist, eine bereits erhobene Anklage zurückzunehmen51 , findet auch in Japan selbst ihre Kritiker. Die dabei verwandten Schlagworte sind mit der Gefährdung der Gleichheit infolge ungleichmäßiger Rechtsanwendung, der Verletzung der Gewaltenteilung durch weitreichende staatsanwaltschaftliche Befugnisse, der Vorenthaltung von Beschuldigtenrechten durch Vermeidung einer gerichtlichen Hauptverhandlung, der Ausübung eines unzulässigen Drucks auf den Beschuldigten im Zusarnrnenhang mit seiner Zustimmung zu staatsanwaltschaftlichen Sanktionierungsmaßnahmen sowie der latenten Mißbrauchs gefahr angesichts behördeninterner Abhängigkeiten durchaus vergleichbar mit dem, was zuvor der Machtfülle deutscher Staatsanwälte - insbesondere im Zusarnrnenhang mit § 153 a StPO - an (berechtigter) Kritik entgegengebracht worden ist52 • Es stellt sich daher einerseits die Frage, warum angesichts derart gewichtiger Gegenargumente die Opportunität als Grundmaxime japanischer Strafverfolgungstätigkeit vor Ort auch weiterhin aufrechterhalten wird, und ob nicht andererseits diese Beobachtung wiederum mit ein Grund dafür sein muß, dem fortschreitenden Opportunitätsdenken im deutschen Strafprozeß mit größerer Akzeptanz und weniger Skepsis zu begegnen. Doch auch im Falle eines deutsch-japanischen Vergleichs verhindern divergierende rechtliche und gesellschaftspolitische Ausgangsbedingungen beider Staaten eine uneingeschränkte Übertragbarkeit sämtlicher Erkenntnisse im Zusarnrnenhang mit dem jeweils zugrundeliegenden Verfahrensmodell. So sieht beispielsweise das japanische Strafprozeßrecht in den §§ 262 ff. jap.StPO eine dem deutschen Klageerzwingungsverfahren nachempfundene Möglichkeit VO~3, Opportunität zu begrenzen und zu kontrollieren. Staatsanwaltschaftliche Entscheidungen nach § 248 jap.StPO können auf diese Weise gerichtlich überprüft und gegebenenfalls durch abweichenden Richterspruch substituiert werden. Des weiteren wird die staatsanwaltschaftliche Strafverfolgungstätigkeit in Japan durch speziell zu diesem Zwekke eingerichtete Untersuchungsausschüsse überwacht, deren von den Wahlberechtigten eines jeden Distriktgerichtsbezirks gewählten Mitgliedern die Aufgabe zukommt, Entscheidungen des Staatsanwalts betreffend der Nichtverfolgung von Straftätern und Straftaten zu überprüfen 54• Neben diesen rechtlichen Ersatzmechanismen sind es jedoch insbesondere die Besonderheiten der japanischen Gesellschaftsstruktur, die zum besseren Verständnis der Weite des Opportunitätsprinzips 51 Nakamura, Die japanische Strafprozeßordnung, S. 65. Vgl. auch Kausch, S. 237; ebenso Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1086. 52 Vgl. Kausch, S. 238 f.; Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1096 ff. Zu den teilweise parallel gelagerten Problemfeldem im Zusantmenhang mit § 153a d.StPO vgl. oben "TeiI3.D.". 53 Nakamura, Die japanische Strafprozeßordnung, S. 66 ff. Vgl. hierzu auch Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 126. 54 Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1092, der zugleich auf die fehlende Effizienz dieses Kontrollorgans hinweist. Dabei macht Kühne (a. a. 0., S. 1093) neben der mangelnden Erzwingbarkeit einer Durchführung der Beschlußfassungen des weiteren die nur kurze Amtszeit der Ausschußmitglieder für diesen Zustand verantwortlich. Zur Funktion dieser japanischen Untersuchungsausschüsse als (zweites) Korrektiv gegen einen Mißbrauch des ermittlungsbehördlichen Anklagemonopols vgl. auch Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 127.

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4. Teil: Legalität und Opportunität in anderen (Rechts-)Staaten

in diesem Land beitragen. Die große Angst vor sozialer Diskreditierung55 und die grundsätzliche "Abneigung vor Einmischung Fremder,,56 in interne Konflikte der Gruppe sind äußerst bedeutsame Faktoren, die den Weg zur Akzeptanz einer weitreichenden Herrschaft der Opportunität bei der Strafverfolgung ebnen. Angesichts des überaus hohen Stellenwerts, den der familiäre Achtungsanspruch innerhalb der japanischen Gesellschaft genießt, ist die Furcht vor einem sozialen Stigma infolge einer in der Öffentlichkeit stattfindenden strafrechtlichen Verfolgung regelmäßig beträchtlich und die Bereitschaft, den Konflikt durch außergerichtliche Maßnahmen vergleichsweise "diskret" zu bereinigen, entsprechend groß. Dabei werden jedoch bisweilen Kompromisse eingegangen, die unweigerlich zu Kollisionen mit rechtsstaatlichen Vorstellungen führen müssen und die infolgedessen am Ende auch keinen tauglichen Argumentationsansatz für eine Verteidigung fortschreitender Opportunität innerhalb der deutschen Strafrechtspflege bieten können.

c. Ergebnis"Vierter Teil" Der kurze rechtsvergleichende Überblick hat die im "Dritten Teil" dieser Abhandlung Qerausgearbeiteten Bedenken im Zusammenhang mit opportunitätsgeprägtem Strafverfolgungshandeln in keiner Weise zu entkräften vermocht. Der insoweit mögliche Einwand, weitreichende Opportunität als Grundmaxime strafrechtlicher Verfolgungstätigkeit in anderen Staaten relativiere oder beseitige gar die hierzulande vorgebrachten Bedenken gegenüber einer zunehmend opportunistisch geprägten Strafrechtspflege und setze auf diese Weise die Kritiker des Opportunitätsprinzips dem Vorwurf der "Provinzialität" aus, verfängt bereits angesichts der aufgezeigten Andersartigkeit rechtlicher und gesellschaftspolitischer Rahrnenbedingungen nicht. So wird zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in einer Vielzahl der zu Vergleichs zwecken herangezogenen Prozeßsysteme durch diverse, die Opportunität flankierende Maßnahmen "nachgeholfen" und die aus rechtsstaatlicher Sicht gebotene Objektivität und Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung durch unterschiedliche Ersatzmechanismen zu erreichen gesucht. Auch opportunitätsgeleitete Verfahrensordnungen sind demnach stets bemüht, Opportunität durch eine Fülle von Kontrolleinrichtungen, Sicherheitsvorkehrungen, Begrenzungen und Korrektiven zu "bändigen,,57. Des weiteren bedingen oft erst bestimmte geseIlschaftspolitische Strukturen Akzeptanz und Funktionstüchtigkeit einer weitgehend opportunitätsgeleiteten Strafrechtspflege. Demzufolge kann allein aus der

55 Vgl. Kausch, S. 238; Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1091. Vgl. zur japanischen Kultur und Mentalität auch Eser, Recht und Verfahren, S. 45 f. 56 Kühne, ZStW 85 (1973), S. 1110. 57 Wagner, FS für den 45.DJT, S. 164. Vgl. auch Eser, Recht und Verfahren, S. 45 f.; Waller, DRiZ 1986, S. 50 m. w. N.; Weigend, ZStW 109 (1997), S. 119; Wemer, Der Einfluß des Verletzten, S. 327 f.

C. Ergebnis

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Tatsache, daß in anderen Staaten, denen die Rechtsstaatlichkeit nicht abgesprochen werden kann, Opportunität zur Grundmaxime staatlicher Strafrechtspflege erklärt worden ist, nichts an Argumentationshilfe zur Bekräftigung hiesiger Opportunitätsforderungen gewonnen werden.

Fünfter Teil

Reformvorschläge de lege jerenda Nachdem in einem "Ersten Teil" Legalität und Opportunität als Strukturprinzipien des Strafverfahrens benannt und in Verhältnis zueinander gesetzt worden sind, in einem ,,zweiten Teil" die gegenwärtige Verteilung beider Prinzipien innerhalb der Strafrechtsordnung vorgestellt worden ist, ein "Dritter Teil" die wesentlichen Problemkreise opportunen Strafverfolgungshandelns aufgezeigt und ein "Vierter Teil" die Opportunitätsprägung ausländischer Rechtsordnungen auf ihre Tauglichkeit als Argumentationshilfe für deutsche Opportunitätsforderungen hin untersucht hat, sind nunmehr in einem ,,Fünften Teil" Reformvorschläge zur Verbesserung gegenwärtiger Opportunitätseinstellungen zu unterbreiten.

A. AufgabensteIlung und Ausblick auf den Lösungsverlauf Vornehmste Aufgabe einer Neuregelung des de lege lata von den §§ 153, 153 a StPO umfaßten Regelungsbereichs wird die inhaltliche Abgrenzung der Bagatellkriminalität von der leichten bis mittelschweren Kriminalität und die jeweilige normative Neuordnung dieser Bereiche sein. Da deliktische Verhaltensweisen von unterschiedlicher Beachtlichkeit auch unterschiedlichen staatlichen Reaktionen ausgesetzt sein müssen, scheint insbesondere die mittlerweile zu konstatierende Ausdehnung informeller Erledigungsmöglichkeiten bis weit hinein in den Bereich mittelschwerer Kriminalität ein aus rechtsstaatlicher Sicht kaum tragbarer Zustand zu sein. Die Beschränkung informeller Verfahrenserledigungen auf bagatellarische Verhaltensweisen war der Entwicklung der Praxis folgend durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz von 1993 auch seitens des Gesetzgebers aufgegeben worden. Eine bloße Reaktivierung der seinerzeit verdrängten SchuldklauseI in § 153 a StPO - Verfahrenseinstellung "bei geringer Schuld" - wäre jedoch keine zufriedenstelIende Lösung des Problems: Bereits die im Zeitraum vor der Neuregelung geäußerte Kritik an dem Normenpaar der §§ 153, 153 a StPO zeigt, daß eine bloße Wiederherstellung des Gesetzeszustands vor Inkrafttreten des Rechtspflegeentlastungsgesetzes zu kurz gesprungen wäre - weitere, umfassendere Korrekturen erscheinen notwendig. Im Vordergrund erweiterten reformatorischen Bemühens steht daher nicht minder dringlich die Präzisierung der weitgehend unbestimmten Anwendungsvoraussetzungen opportuner Handlungsermächtigungen sowie die Ausbildung einer wirksamen Kontrolle opportunitätsgeleiteter Rechtsanwendung. Es wird

A. AufgabensteIlung und Ausblick auf den Lösungsverlauf

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in diesem Zusammenhang zunächst der Versuch unternommen werden müssen, die breit angelegte Kritik am Normenprogramm der §§ 153, 153 a StPO systemimmanent - d. h. unter grundsätzlicher Beibehaltung der rein prozessualen Konzeption der lex lata - durch partielle Modifikationen zu entschärfen. Für den Fall, daß systemimmanente Korrekturen an den benannten Problemfeldern nicht geeignet sein werden, zumindest den Großteil der gewichtigen Vorwütfe zu beseitigen, wird über eine vollständige Neuordnung der Bagatellproblematik im Rahmen materiellrechtlicher sowie materiell-verfahrensrechtlicher Lösungsansätze nachzudenken sein, die den dogmatischen, verfassungsrechtlichen und kriminalpolitischen Anforderungen möglicherweise eher entsprechen. Ausgangspunkt einer jeden Reform, ganz gleich, ob sie systemimmanent-prozessual erfolgt oder aber an eine materiellrechtliche Grundlage anknüpft, ist die Erkenntnis, daß unterschiedlich beachtliche Verhaltensweisen im grundsätzlich de1iktischen Milieu immer auch unterschiedliche staatliche Reaktionsprogramme erfordern, die in Rechtsfolge und Verfahren am divergierenden Beachtlichkeitsgrad des Verhaltens auszurichten sind. Ausgehend von den gegenwärtig über §§ 153, 153 a StPO erfaßten Verhaltensweisen wird festzustellen sein, daß es innerhalb dieses breiten Spektrums zum einen solche gibt, die aufgrund materiellrechtlicher Vertatbestandlichung strafbewehrt sind, obwohl für sie eine staatliche Reaktion in jeglicher Hinsicht entbehrlich erscheint. Neben diesen absoluten Geringfügigkeiten, die derzeit über § 153 StPO faktisch sanktionslos gestellt werden, gibt es weiterhin bedingt bagatellarische Verhaltensweisen, die im Ausgang ebenfalls dem Bereich inkriminierten Verhaltens zufallen, dabei jedoch einen gegenüber dem Kriminalunrecht geringeren Grad an Sanktionsbedürftigkeit und Sanktionswürdigkeit aufweisen. Diese bedingten Bagatellen werden de lege lata in gleicher Weise über § 153 a StPO prozessual entkriminalisiert wie auch solche Verhaltensweisen, die bereits dem Bereich leichter bis mittel schwerer Kriminalität angehören und für die deshalb auch eine gesonderte strafrechtliche Behandlung, wie sie den bedingten Bagatellen zuteil werden könnte, schlechterdings nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Es gilt nun, de lege ferenda diese verschiedenen Verhaltensabstufungen in einem ersten Schritt durch möglichst präzise Regelungen zu erfassen, um sie im Anschluß einem jeweils adäquaten - dabei dogmatischen, verfassungsrechtlichen und kriminalpolitischen Anforderungen genügenden - staatlichen Reaktionsprogramm zuzuführen. Durch die Abgrenzung der bedingten Bagatellen wird schließlich auch der de lege lata von § 153 a StPO mitumfaßte Bereich leichter bis mittelschwerer Kriminalität aus dem Anwendungsfeld der besonderen Reaktionsformen auf bedingt beachtliche Vergehenskriminalität ausgeschieden. Für diesen in der Beachtlichkeitsskala oberhalb der bedingten Bagatellen liegenden Bereich ist dann in einem weiteren Schritt zu überlegen, wie seine verfahrensrechtliche Behandlung auszugestalten ist, damit der Rechtsstaatlichkeit einerseits und den Bedütfnissen der Justiz nach Entlastung andererseits ausreichend Rechnung getragen werden kann. Hinsichtlich des § 31 aBtMG, der de lege lata als prozessuales Korrekturinstrument zur Aussonderung geringfügiger Delikte aus dem Bereich der Betäubungs-

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

mittelkriminalität dient, wird zu fragen sein, ob hier bei systemimrnanenter Vorgehensweise eine Präzisierung des Anwendungsbereichs und ein Ausbau der Kontrollmöglichkeiten zu einer Verbesserung der lex lata führen soll oder ob nicht in Gänze auf diese Form einer prozessualen Korrektur materiellrechtlicher Überreichweiten verzichtet werden kann, indem gebotene EntkriminalisierungsmaBnahmen vollständig in den materiellrechtlichen Bereich verlegt werden. Zuletzt wird auf die Rechtsfigur des Kronzeugen einzugehen und nach den notwendigen Konsequenzen aus der nachhaltigen Kritik an dieser Ausprägung opportunen Strafverfolgungshandelns zu fragen sein.

B. Bagatellkriminalität In einem ersten Schritt der Überlegungen zur Präzisierung und Kontrolle von Opportunitätseinstellungen sollen Lösungsansätze für eine zukünftige Behandlung der sog. Bagatellkriminalität auf ihre Tauglichkeit als Ersatz für die zu Recht kritisierte Regelung der lex lata hin untersucht werden. I. Begriff und spezifische Probleme der Bagatellkriminalität

Der Begriff des "Bagatelldelikts" ist weder ein solcher des positiven Rechts, noch ist es der Strafrechts wissenschaft bislang gelungen, eine konsensfähige, allgemeingültige Definition dessen zu präsentieren, was als "Bagatelle" einer gesonderten strafrechtlichen Behandlung zugänglich gemacht werden soll!: "Der Begriff des Bagatelldelikts ist sowohl dogmatisch, empirisch als auch rechtspolitisch unklar und vage,,2. Beschrieben ist, so viel läßt sich sagen, "ein Bereich von Strafgesetzen erfaBter Verhaltensweisen, bei dem wegen des geringen deliktischen Gehalts entweder gar keine strafrechtliche Sanktion erforderlich erscheint oder doch wenigstens die gewöhnlichen strafrechtlichen Sanktionen und das zu ihnen führende Verfahren als staatliche Überreaktion empfunden werden,,3. Dabei lassen sich weiterhin sog. "unbedingte Bagatellen,,4, bei denen Handlungs- und Erfolgsunrecht sowie die dem Unrecht regelmäßig korrespondierende Schuld von absoluter Geringfügigkeit sind und die von daher überhaupt keiner strafrechtlichen Reaktion bedürfen, von sog. "bedingten Bagatellen" unterscheiden, bei denen aufgrund eiI Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1020; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 218 Fn. 1; Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 881; Kausch, S. 18 m. w. N.; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 13; Naucke, DJT-Gutachten, D 12; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 12; derselbe, Präventive Kriminalpolitik, S. 53; Zipf, Kriminalpolitik, S. 71. 2 Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 899. 3 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 218. Vgl. auch Dreher, FS Welzel, S. 917; Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 899; Kausch, S. 18. 4 Diese Terminologie verwendet Naucke in DJT-Gutachten, D 26.

B. Bagatellkriminalität

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nes leicht gesteigerten Beachtlichkeitsgrades ein völliger Sanktionsverzicht zwar nicht in Betracht kommt, zugleich aber ein Reaktionsverhalten "in abgeschwächter Intensität und vereinfachter Form"s als ausreichend erscheint, da es sich auch bei ihnen insoweit nicht um "vollwertige" Vergehen handelt. Die Notwendigkeit zur Entwicklung von Sonderstrategien bei der rechtlichen Behandlung von Bagatellkriminalität ergibt sich nicht zuletzt aufgrund von drei in diesem Zusammenhang gleichzeitig erhobenen Zielvorgaben, die gleich einem "magischen Dreieck,,6 zueinander stehen und in deren Spannungsfeld es die Lösung zur Bekämpfung bagatellarischer Delinquenz auszubalancieren gilt7 • So muß bei der Konzeption einer rechtlichen Lösung einerseits das nahezu klassische Anliegen einer bestmöglichen Entlastung der Justiz beachtet werden, dem angesichts der Massenhaftigkeit von Bagatelldelinquenz besondere Bedeutung zukommt8 • Bei allen Zugeständnissen an justizökonomische Bedürfnisse darf dann jedoch keinesfalls die zu erwartende Präventionswirkung des favorisierten Verfahrensmodells vernachlässigt werden 9 , die ihrerseits berechtigte Forderungen an die rechtliche Konzeption stellt: Aus spezial präventiver Sicht kann sowohl eine übermäßige Sanktionierung bagatellarischen Verhaltens als auch ein obligatorischer Verzicht die falsche Signalwirkung für den Täter zur Folge haben und das Ziel, ihn von künftigen Straftaten abzuhalten, gründlich verfehlen 10. Darüber hinaus kann eine zum Normalfall verkommene, lückenlose Sanktionierung bagatellarischen Verhaltens mit der ganzen Härte des Kriminalstrafrechts zu einer aus Gründen der Generalprävention unerwünschten Solidarisierung bislang Unbescholtener mit dem Täter führen. So wird eine Strafandrohung zunehmend dann an Abschreckungswirkung verlieren, wenn Bestrafung auch in der Anschauung sonst strafrechtlich unbelasteter Bürger an "Normalität" gewinntlI. Auf der anderen Seite kann ein weitreichender Verfolgungsverzicht in einem weitläufigen Sektor inkriminierten Verhaltens langfristig auch zu einem negativen Gefühl der "Rechts- und SchutzKaiser; ZStW 90 (1978), S. 899. Weigend. KrimJoum. 1984, S. 10. 7 Hünerfeld. ZStW 90 (1978), S. 907. Zu einigen Entkriminalisierungsanlässen, die insoweit mit den bagatellkriminalitätsspezifischen Problemen korrespondieren, vgl. Kunz. Bagatellprinzip, S. 321; Lüderssen. Polizei und Strafprozeß, S. 216 f.; Schöch. FS Schüler-Springorum, S. 246. 8 Hünerfeld. ZStW 90 (1978), S. 907; Kausch. S. 20 m. w. N., der darauf hinweist, daß das Strafverfahren der StPO "von vornherein nicht für die Bewältigung von massenhaft auftretenden Delikten konzipiert" ist. Zum möglichen Zielkonflikt bei der strafrechtlichen Bewältigung von (Massen-)Bagatellkriminalität vgl. auch Kaiser; GS Schröder, S. 498; Kunz, Bagatellprinzip, S. 321. Allgemein zur lustizökonomie als Gesetzgebungsmotiv vgl. bereits oben "Teil3.D.xII.". 9 Kausch, S. 21 f. m. w. N.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 321. 10 Vgl. Hünerfeld. ZStW 90 (1978), S. 908. 11 Zur Gefahr einer Entwertung des Strafrechts bei lückenloser Sanktionierung bagatellarischer Verhaltensweisen vgl. Kausch. S. 21 m. w. N. Zur ultima-ratio-Funktion der Strafe vgl. bereits oben "TeiI3.D.xIII.". 5

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

losigkeit,,12 bei großen Teilen der Bevölkerung führen und Tendenzen zur Selbstjustiz fördern 13 • Abschließend gebietet es als drittes Spezifikum des Umgangs mit bagatellarischer Kriminalität der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß eine aus Gründen des Rechtsgüterschutzes unnötige Stigmatisierung des Bagatelltäters durch strafrechtliche Verfolgung nach Möglichkeit unterbleibt 14. Sämtlichen Reformvorschlägen im Zusammenhang mit einer besseren Bewältigung von Bagatellkriminalität ist ihr Entkriminalisierungsanliegen gemein: "Der Umfang des Strafrechts wird eingeschränkt, abgebaut, zurückgenommen" 15. Die zu diesem Zwecke beschrittenen Wege sind unterschiedlich. Während materiellrechtliche Lösungsansätze ihr Entkriminalisierungsbestreben durch Einschränkungen bei der Strafbarkeit umzusetzen suchen, verlegen sich die im Anschluß als erstes zu untersuchenden prozessualen Reformvorschläge auf ("scheinbare"16) Entkriminalisierung durch Begrenzung des Verfolgungszwangs 17 . 11. Überarbeitung des gegenwärtigen verfahrensrechtlichen Lösungskonzepts durch Präzisierung der opportunitätsgeprägten Einstellungsnormen sowie durch Schaffung verbesserter Kontrollmöglichkeiten für die Einstellungspraxis Ungeachtet der beträchtlichen Vorhaltungen, derer sich die gegenwärtige prozessuale Lösung der Bagatellkriminalitätsproblematik erwehren muß, sprechen sich dennoch zahlreiche Autoren für den grundsätzlichen Erhalt der lex lata aus und berufen sich dabei insbesondere im Hinblick auf den in vorderster Linie kritisierten § 153 a StPO auf die rechtspraktische Bewährung dieser weitestgehend zweckmäßigkeitsorientierten Einstellungsnorm 18 . Gelobt wird in diesem Zusammenhang Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 908; vgl. auch Hauf, MschrKrim 1995, S. 366. Kausch, S. 22 m. w. N.; Lampe, Wiedervereinigung I, S. 55, 87 m. w. N.; Zipf, Kriminalpolitik, S. 74. Zur Verlagerung strafrechtlicher Sanktionierung auf Private vgl. auch unten "TeiI5.B.III.5.". 14 Kausch, S. 21 m. w. N.; vgl. auch Kaiser, GS Schröder, S. 498. Zur verhältnismäßigkeitswahrenden (prozessualen) Korrektur lückenloser (materiellrechtlicher) Strafandrohungen vgl. auch oben "Teil 3.F.". 15 Naucke, GA 1984, S. 199. Zur Entkriminalisierung vgl. auch Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 204 ff.; Kausch, S. 23 ff.; Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 245 ff. 16 Diesen Terminus verwendet Naucke in GA 1984, S. 199 ff., der die ,,reine Fonn der Entkriminalisierung", bei der "Verbrechen und Strafe" ersatzlos wegfallen, von der "scheinbaren Entkriminalisierung" unterscheidet. bei der es "bei der Einstufung des entkriminalisierten Verhaltens als unerwünscht, abweichend, sanktionswürdig oder bekämpfenswürdig" bleibe und lediglich ein anderes Sanktionensystem die klassische Sanktion "Strafe" ersetze. 17 Vgl. Heinz. ZStW III (1999) S. 461 Fn. 3; Kausch. S. 23 ff. m. w. N. 18 So AE-EV, S. 76; Dreher, FS Welzel, S. 933; Geerds. FS Dreher, S. 550; Geppert. Jura 1986, S. 315; Gössel, DlT-Gutachten, C 42; Jescheck, DRiZ 1983, S. 389; Kaiser, GS Schröder, S. 498; Keller/Schmid, wistra 1984, S. 205; Naucke, DlT-Gutachten, D 120 f.; Rieß. Vereinfachte Verfahrensarten, S. 133; derselbe, FS Schäfer, S. 200; derselbe. FG Koch, 12

13

B. Bagatellkriminalität

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neben den justizökonomischen Vorzügen 19 vor allem die Verhältnismäßigkeit der Regelung, die - zusätzlich zu ihrem Entlastungsbeitrag - eine dem Anlaß unangemessene Diskriminierung des Bagatelltäters zu vermeiden wisse2o. Gleichzeitig wird jedoch auch aus den Reihen der Befürworter aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit eine Nachbesserung des gegenwärtigen Regelungskonzepts angemahnt21 . Zum einen müsse die ,,im Grundsatz legitime strafrechtliche und strafprozessuale Alternative zum traditionellen, auf vollständige Aufklärung und strafrechtliche Sanktionierung gerichteten Verfahren,,22 in Anbetracht der weitgehenden Konturlosigkeit ihrer Anwendungsvoraussetzungen dringlich konkretisiert werden 23 . Des weiteren sei ein Ausbau der de lege lata defizitären Kontrollmöglichkeiten opportunistischen Strafverfolgungshandelns unumgänglich 24 .

1. Präzisierung des Anwendungsbereichs der §§ 153, 153 a StPO durch die Fixierung einheitlicher Entscheidungskriterien

Aus den verfassungsrechtlichen Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit und Gleichbehandlung ergibt sich für die systemimmanenten Lösungsmodelle die Notwendigkeit einer Präzisierung des de lege lata weitestgehend unbestimmten Anwendungsbereichs der §§ 153, 153 aStPO, die sie wiederum regelmäßig über die Konzeption von einheitlichen Einstellungskriterien zu erreichen suchen 25 . Durch die Vorgabe von konturierenden und möglichst weit verbreiteten Vergleichsmaßstäben soll staatliches Handeln künftig insgesamt prognostizierbarer26 und einer ungleichmäßigen oder gar willkürlichen Rechtsanwendung so gut wie möglich vorgebeugt werden27 . Eine gesetzliche Anleitung im Opportunitätsbereich soll zur S. 217; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 104; Weigend, KrimJoum. 1984, S. 9; Wolter, Strafprozeßreform, S. 59 f. Zu beachten ist dabei jedoch, daß die Mehrzahl der hier genannten Positivstimmen aus der Zeit vor der Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 153a StPO im Jahre 1993 stammt, so daß nicht auszuschließen ist, daß der ein oder andere frühere Befürworter der Norm seine Ansicht mittlerweile revidiert hat. 19 Vgl. AE-EV, S. 78; ebenso leseheck, DRiZ 1983, S. 389; Keller/Schmid, wistra 1984, S. 205; Naucke, DIT-Gutachten, D 121; Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 104; vgl. auch Baumann, ZRP 1987, S. 176. 20 Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 320 m. w. N.; Wolter, Strafprozeßreform, S.60. 21 Dreher, FS Welzel, S. 934; Gössel, DIT-Gutachten, C 42, 43. 22 Rieß, FG Koch, S. 217. 23 Dazu im einzelnen nachfolgend unter "TeiI5.B.II.1.". 24 Dazu im einzelnen unten "TeiI5.B.II.2.". 25 Blau/Franke. ZStW 96 (1984), S. 500; Kerl. ZRP 1986, S. 315; Kunz. Bagatellprinzip, S. 321; Rieß. FS Schäfer, S. 199 Fn. 150; Siegismund/Wickem. wistra 1993, S. 84 m. w. N.; Weigend. Anklagepflicht und Ermessen, S. 167 ff.; derselbe, KrimJoum. 1984, S. 23; Wolter, GA 1985, S. 75; derselbe. Strafprozeßreform, S. 61 f. 26 Vgl. Kapahnke. Opportunität und Legalität m. w. N. 27 V gl. Kunz. Bagatellprinzip, S. 322.

300

5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

Einschränkung der de lege lata umfangreichen Definitionsmacht der Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer opportunen Entscheidungstätigkeit führen 28 . Reformziel ist ein klar strukturiertes (und extern kontrolliertes) Modell, das den Rechtsanwender durch die Benennung objektiver Kriterien künftig nicht im Unklaren darüber beläßt, wann genau das Vorliegen einer "geringen Schuld" und das Fehlen eines öffentlichen Strafverfolgungsinteresses die Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO gebietet oder aber wann ein öffentliches Strafverfolgungsinteresse, wie es § 153 a StPO meint, (noch) durch Auflagen und Weisungen kompensierbar ist29 . Durch die Vorgabe von präzisen, inhaltlich bestimmten Indikatoren, die - als Regelbeispiele ausgeformt30 - "keinen determinierenden, sondern lediglich indiziellen Charakter haben,,31, erhofft man sich die gewünschte Anleitung des Rechtsanwenders bei gleichzeitiger Wahrung einer gewissen Restflexibilität, welche zum einen der Atypik mancher Fallkonstellationen gerecht zu werden imstande ist und die darüber hinaus Präventionswünsche erfüllt32 .

a) Inhalte möglicher Entscheidungskriterien Die gegenwärtig für den Bagatellbereich maßgeblichen Vorschriften der §§ 153, 153 a StPO operieren im Rahmen ihrer Anwendungsvoraussetzungen mit den Begriffen ,,(geringe) Schuld" und "öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung. Der Schuldbegriff orientiert sich dabei an der Strafzumessungsschuld im Sinne des § 46 11 StGB und an den sonstigen Strafzielerwägungen33 . Da zudem das "öffentliche Interesse" Aspekte der Spezial- und der Generalprävention beinhaltet34 , kann auch im Rahmen einer Konzeption von Einstellungskriterien die Beantwortung der - insoweit identischen - Frage, wie staatlicherseits auf eine Normverletzung reagiert werden soll, letztlich nur von solchen Kriterien abhängig zu machen sein, die genau diese Überlegungen in sich tragen 35 . In diesem Zusammenhang benennt 28 Blau/Franke, ZStW 96 (1984), S. 500. Zur Reduzierung der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsspielräume wird weiterhin vorgeschlagen, den Wortlaut der §§ 153, 153a StPO de lege ferenda dahin gehend abzuändern, daß künftig beim Vorliegen aller Einstellungsvoraussetzungen in Bezug auf das "Ob" der Verfahrenseinstellung keinerlei Ennessensspielraum zugunsten der Staatsanwaltschaft mehr besteht (vgl. AE-EV, S. 43, 82). 29 Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 172. Pessimistisch hingegen Kunz (in: Bagatellprinzip, S. 94): "eine allgemeingültige sprachliche Fixierung der Bagatellisierungsvoraussetzungen, die zugleich eine verläßliche, für jedennann einsichtige Prognose für Einzelfallentscheidungen liefert, ist nicht zu leisten". 30 Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 173; derselbe, KrimJourn. 1984, S. 23. 31 Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 175. 32 Vgl. Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 174 ff. 33 Dazu im einzelnen oben "Teil 3.B.III.l.a." sowie "Teil 3.D.I.2.a)". 34 Dazu im einzelnen oben "Teil3.B.III.2." sowie "TeiI3.D.I.2.b)". 35 Dieser Erkenntnis trägt derweil auch ein (systemimmanenter) Gesetzesvorschlag Rechnung, wonach die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absieht, "wenn Unrecht und Schuld

B. Bagatellkriminalität

301

Weigend 36 eine Vielzahl sog. "einstellungsfreundlicher" und "anklagefreundlicher" Umstände, die sich in der Tradition anerkannter Strafzwecke sowohl auf Tat und Täter als auch auf das Opfer sowie auf Belange der Allgemeinheit und der Rechtspflege beziehen.

aa) ,,Einstellungsfreundliche Umstände" Einen ersten Ansatzpunkt zur Beantwortung der Frage, ob ein Strafverfahren trotz bestehenden Tatverdachts einzustellen ist, bietet nach diesem Lösungsvorschlag die Art und Weise der Tatbegehung. Als einstellungsfreundliches Merkmal der Tat komme dabei insbesondere die atypische Geringfügigkeit der durch die Tat verursachten Rechtsgutsverletzung in Betrache 7 • Des weiteren erscheint ein öffentliches Strafverfolgungsinteresse regelmäßig dann kompensierbar, wenn die Tat dem Katalog der Privatklagedelikte in § 374 StPO angehört38 . Als einstellungsfreundliche Merkmale des Täters werden in der Literatur benannt: die Ersttäterschaft39, eine nur sehr untergeordnete Beteiligung an der Tat40 sowie eine mögliche Verführung zur selben41 , ein die Grenze zur Vorbereitungshandlung nur wenig überschreitender Versuchstatbestand42 , der subjektiv nachvollziehbare, wenngleich vermeidbare Verbotsirrtum43 , eine zwar letztendlich nicht gegebene, aber dennoch anfänglich für erwägenswert erachtete Notwehr- bzw. Notstandslage für den Täter - wie beispielsweise das Bestehen einer einfühlbaren Konfliktsituation, die in der Nähe des § 35 StGB anzusiedeln ist44 -, eine Provokation oder ein sonstiges erhebliches Mitverschulden des Opfers45 , ein insgesamt geals gering anzusehen wären und die weitere Verfolgung weder zur Einwirkung auf den Beschuldigten noch zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens noch zur Erhaltung der Rechtstreue der Allgemeinheit erforderlich ist" (AE-EV, S. 7). 36 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 178 ff. Diese "Positiv"- und "Negativkataloge" lassen sich - wie im Anschluß zu zeigen sein wird - um weitere Merkmale ergänzen. 37 LR-Rieß, § 153 Rn. 24 m. w. N.; derselbe, § 153a Rn. 30; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 89; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 180; Wolter, GA 1985, S. 75. Zu einstellungsfreundlichen Merkmalen im Zusanunenhang mit ärztlichen Behandlungsfehlern vgl. Ulsenheimer, Arztstrafrecht, S. 350. 38 Wolter, GA 1985, S. 75. 39 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 171; LR-Rieß, § 153 Rn. 24; derselbe, § 153a Rn. 30; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 89; Ulsenheimer, Arztstrafrecht, S. 350; Wolter, GA 1985, S. 75. Ahrens a. a. 0., S. 153 benennt zudem das Fehlen idealkonkurrierender Delikte als einstellungsfördernden Umstand. 40 LR-Rieß, § 153 Rn. 23. 41 LR-Rieß, § 153 Rn. 24 m. w. N. 42 LR-Rieß, § 153 Rn. 24. 43 LR-Rieß, § 153 Rn. 23; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 180. 44 LR-Rieß, § 153 Rn. 23 m. w. N.; derselbe, § 153a Rn. 30; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 180 f.; Zipf, FS Peters, S. 501 Fn. 44.

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

ringerer Handlungsunwert46 , der Eintritt schwerer Folgen durch die Tat für den Tater selbst47 , die gesamte soziale Situation des Taters48 , sein etwaiges Bemühen um eine Schadenswiedergutmachung49 sowie die finanziellen, psychischen und physischen Belastungen des Taters durch das Ermittlungsverfahren5o • In Fällen ärztlicher Behandlungsfehler wird als spezielles, einstellungsfreundliches Merkmal des Taters die besondere Risikoaffinität ärztlichen Handeins und das extreme Haftungsrisiko dieser Berufsgruppe angeführt51 . Auch hier könne die Erstmaligkeit des Versagens bei einem sonst hohen Pflichtbewußtsein sowie persönlicher Zuverlässigkeit und Integrität eine Verfahrenseinstellung begünstigen52 • Mit Blick auf die Interessen des durch die Straftat Geschädigten wiederum dürfte beispielsweise ein im Einstellungszeitpunkt fehlendes Genugtuungsbedürfnis, das möglicherweise auf eine bereits erfolgte (außerstrafrechtliche ) Schadensregulierung 53 oder aber auf die Existenz einer besonderen, persönlichen Beziehung zwischen Tater und Opfer54 zurückzuführen ist, einen einstellungsfreundlichen Indikator abgeben 55. Darüber hinaus sind es in erster Linie überwiegende Belange des Tatopfers - wie etwa die Verhinderung eines zusätzlichen Schadens -, die nach Auffassung einiger Autoren einer weiteren Strafverfolgung des Taters im Einzelfall entgegenstehen können56 . Aus der Sicht des Staates schließlich könne sich im Geringfügigkeitsbereich ein fehlendes Verfolgungsinteresse daraus ergeben, daß aufgrund des Bagatellcharakters der Tat die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht oder allenfalls gering tangiert worden sei57 . Ahrens, Hauptverhandlung, S. 214; Henwig, Geringfügigkeit, S. 244 ff. Wolter, GA 1985, S. 75. Vgl. auch Zipf, FS Peters, S. 501 Fn. 44, der die ..geringe antisoziale Einstellung" des Taters als einstellungsfördernden Umstand benennt. 47 Henwig, Geringfügigkeit, S. 117; Zipf, FS Peters, S. 501 Fn. 44. Ebenso Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 181, der darüber hinaus die möglicherweise schwerwiegenden Auswirkungen einer Bestrafung auf die Angehörigen des Taters nicht als Einstellungsindikator gelten lassen will (derselbe a. a. 0., S. 181 f.). Gleichsam abgelehnt wird vom Autor (a. a. 0., S. 182) der begünstigende Einfluß eines umfassenden Geständnisses. 48 Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 89. 49 Henwig, Geringfügigkeit, S. 248; LR-Rieß, § 153 Rn. 24 m. w. N.; derselbe, § 153a Rn. 30. 50 Ulsenheimer, Arztstrafrecht, S. 350. 51 Uisenheimer, Arztstrafrecht, S. 350. 52 Ulsenheimer, Arztstrafrecht, S. 350. 53 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 175 ff.; Henwig, Geringfügigkeit, S. 248; Ulsenheimer, Arztstrafrecht, S. 350. 54 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 211 ff. 55 Zipf, FS Peters, S. 501 Fn. 44. 56 Schroeder, FS Peters, S. 417 ffi. w. N.; Zipf, FS Peters, S. 501 Fn. 44. Dagegen insgesamt eher kritisch gegenüber einem Einfluß des Geschädigten auf die Entschließung der Staatsanwaltschaft Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 185 f. 57 Zipf, FS Peters, S. 501 Fn. 44. 45

46

B. Bagate1lkriminalität

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bb) "Anklagefreundliche Umstände" Als "notwendiges Gegengewicht" zu den vorgenannten täterbegünstigenden Einstellungsindikatoren benennt Weigend 58 im Anschluß erneut tat-, täter- und opferbezogene Umstände sowie allgemeinheitsbezogene Interessen, deren Vorliegen nunmehr im umgekehrten Fall die Staatsanwaltschaft regelmäßig zur Erhebung der öffentlichen Klage veranlassen soll. Im Zusammenhang mit der Tatausführung sollen danach insbesondere vom Täter verwirklichte Qualifikationstatbestände, die Überschreitung einer noch festzulegenden Schadenshöhe sowie die Verursachung unnötiger, d. h. über das eigentliche kriminelle Ziel hinausgehender Schäden einer Verfahrenseinstellung im Regelfall entgegenstehen59 . Als anklagefreundliche Indikatoren, die in der Person des Täters begründet sein können, werden von Weigend60 die einschlägige kriminelle Vorbelastung, eine in der Tatbegehung nachgewiesene, besonders rechtsfeindliche oder rücksichtslose Gesinnung des Täters, die Gewerbsmäßigkeit seiner Tatbegehung, seine mögliche Bandenmitgliedschaft sowie die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung benannt. In wenigen Ausnahmefällen könne des weiteren auch ein berechtigtes Interesse des Geschädigten einer Verfahrenseinstellung entgegenstehen. So, wenn "das Opfer durch die Straftat besonders hart getroffen wurde" oder wenn es sich "um eine besonders schutzbedürftige Person handelt,,61. Auch die wissentliche Vernichtung einer wirtschaftlichen Existenz bei Eigentums- oder Vermögensdelikten könne sich mitunter anklagefreundlich auswirken62 . Inwieweit schließlich Interessen der Allgemeinheit einer Verfahrenseinstellung entgegenstehen können, ist fraglich und wird nur in wenigen Ausnahmefällen, wie beispielsweise zum Zwecke der frühzeitigen Unterbindung eines sich abzeichnenden "Modedelikts", anzuerkennen sein63 . So besteht in diesen Fällen doch stets die latente Gefahr, daß der Vorwand generalpräventiver Gründe lediglich dazu benutzt wird, um ein Exempel zu statuieren.

Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 188 ff. Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 188 f. 60 Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 189 f. 61 Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 190 f., der in diesem Zusammenhang auf Straftaten verweist, die sich "gegen Kinder, Kranke, hilflose oder sehr alte Menschen rich58

59

ten".

Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. 191. Weigend, Anklagepflicht und Ennessen, S. "TeiI3.B.III.2.". 62 63

191 f. Vgl. dazu bereits oben

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5. Teil: Reformvorschläge de lege ferenda

b) Rechtliche Formen einer Konzeption von Entscheidungskriterien Neben den inhaltlichen Schwierigkeiten ihrer Ausgestaltung stellt sich im Zusammenhang mit der Fixierung einheitlicher Einstellungskriterien stets die weitere Frage nach der zu bevorzugenden Art der Umsetzung. Denkbare rechtliche Formen einer Aufstellung anwendungsleitender Orientierungshilfen sind einmal gesetzliche Regelungen als Produkt formeller Gesetzgebungsakte oder des exekutivischen Verordnungserlasses oder aber, auf niedrigerer Ebene, die unterschiedlichen Erscheinungsformen verwaltungsrechtlicher Leitlinien.

aa) Gesetzliche Bestimmungen Die legislatorische Schaffung unmittelbarer Zusätze zu den §§ 153, 153 aStPO, die fortan möglichst detailliert die Einstellungsgründe beschreiben, hätte zwei Vorzüge aufzuweisen: zum einen würde mit dem Gesetzgeber die aus verfassungsrechtlicher Sicht zur Festlegung der Strafbarkeitsgrenzen allein zuständige Staatsgewalt tätig werden 64, zum anderen wäre bei einer Verortung der Regelung in der StPO eine gegenüber Verordnungen oder Verwaltungsrichtlinien systemgerechtere Lösung der Bagatellproblematik getroffen, die darüber hinaus für die Gerichte Verbindlichkeit entfalten würde65 . Die Aufnahme der Entscheidungskriterien in das formelle Recht und der damit verbundene Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit haben jedoch ihren Preis: Neben Flexibilitätseinbußen, die mit Blick auf das im Änderungsfall notwendig werdende, oft schwerfällige Gesetzgebungsverfahren nicht von der Hand zu weisen sein dürften66 , wäre ein solches Vorhaben angesichts der zu erwartenden detaillierten Kataloge an Einstellungskriterien zusätzlich mit dem gesetzesästhetischen Problem einer drohenden Überfrachtung der Strafprozeßordnung belastet67 . Flexibilitätsanliegen und die Sorge vor einer endlosen Kasuistik im formellen Recht bringen nunmehr verstärkt die Regelungsform der Rechtsverordnung ins Gespräch, die wiederum auf der Grundlage einer neu zu schaffenden Ermächtigung innerhalb der StPO zu erlassen wäre68 . Ihr vergleichsweise unkompliziertes Änderungsverfahren und der Entlastungseffekt für die StPO rechtfertigen jedoch nicht die erhebliche Machtverschiebung zugunsten der Exekutive, die mit der Überantwortung der Kriterienfestlegung an den Verordnungs geber einhergehen würde69•

64

65 66 67

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69

Vgl. Kausch, S. 211; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 34 Fn. 22. Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 171 f. A.A. insoweit Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 172. Vgl. Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 172. V gl. Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 171 f. Dazu bereits oben "Teil 3.D.IY.3.".

B. B agatellkriminalität

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bb) Leitlinien der Justizverwaltung Den gleichen Bedenken sehen sich auch Vorschläge gegenüber, die eine Fixierung der Entscheidungskriterien durch Leitlinien der Justizverwaltung zum Gegenstand haben7o . Solches gilt sowohl für etwaige ministerielle Erlasse und Rundverfügungen der Generalstaatsanwälte, denen überdies der gleichmäßigkeitshindernde Nachteil der Regionalität anhaften würde 7!, als auch für insoweit übereinstimmende Regelungen der Justizministerkonferenz der Ländern oder aber den immer wieder angedachten Ausbau der bundeseinheitlichen Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV)73. Die anerkennenswerten Vorteile einer solch flexiblen, anpassungsfähigen Regelung würden aber überlagert durch den hohen Preis einer weitreichenden Ausschaltung der Legislative74 . Zudem bezahlen Bagatellisierungsrichtlinien ihre Anpassungsfähigkeit mit der vergleichsweise schwachen Stellung einer unverbindlichen und extern nicht durchsetzbaren Regelung 75 . Am schwersten wiegt jedoch der Vorwurf, daß die aus exekutivischem Richtlinienerlaß hervorgehende generell-abstrakte Festlegung der Strafbarkeitsgrenzen "dem Geist des Grundgesetzes widersprechen,,76 dürfte. Um zu verhindern, daß im Bagatellbereich in weitem Umfange die kriminalpolitischen Vorstellungen der Exekutive an die Stelle von solchen der Legislative treten und die Justizverwaltungen mit der Entscheidung über Kriminalisierung und Entkriminalisierung in großem Ausmaße Bereiche regeln, die dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben sollten77, verbleibt an dieser Stelle allein der Weg über eine formell-gesetzliche Fixierung von Entscheidungskriterien.

2. Refonnüberlegungen zur Kontrolle der Einstellungspraxis im Strafverfahren

Maßnahmen zur Konkretisierung und Beschränkung opportunen Strafverfolgungshandelns sind am Ende nur insoweit vielversprechend, als sie anschließend Vgl. statt vieler Ahrens. Hauptverhandlung, S. 225. Kunz. Bagatellprinzip, S. 327. Dazu, daß selbst die Einführung von regional begrenzten Richtlinien immer noch eine Verbesserung des status quo bedeuten würde, vgl. Kausch. S.203. 72 Vgl. Kreuzer, NJW 1994, S. 2400. 73 Erb, Legalität und Opportunität, S. 215, 218; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 272 ffi. w. N.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 327; Schroeder, FS Peters, S. 418. 74 Vgl. Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 171; derselbe. KrimJourn. 1984, S. 34 Fn.22. 75 NelleslVelten, NStZ 1994, S. 368; Schirrmacher, S. 89 f.; Weigend. Anklagepflicht und Ermessen, S. 171; derselbe, ZStW 109 (1997), S. 109 Fn. 20. Zu weiteren Bedenken gegenüber einer Verortung von Bagatellisierungskriterien in den RiStBV vgl. auch Backes. KritV 1986, S. 323 Fn. 22. 76 Waller, DRiZ 1986, S. 50. 77 Vgl. Kausch, S. 211. 70 7!

20 Horstmann

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

einer wirksamen Kontrolle unterliegen, durch die eine Beachtung der Vorgaben überpriift und notfalls erzwungen werden kann. Die Möglichkeit, Einstellungsentscheidungen im Wege der Anfechtung durch eine höhere Instanz nachpriifen zu lassen, trägt darüber hinaus zur weiteren Konkretisierung der Einstellungsermächtigungen bei. Da die Bestandsaufnahme bei §§ 153, 153 a StPO die defizitäre Rechtsschutzlage in diesem Bereich offengelegt hat78, ist nunmehr innerhalb eines systemimrnanenten Lösungsansatzes zu fragen, wie diesem Mißstand abgeholfen werden kann.

a) Vorab: Die Etablierung einer obligatorischen Begründungspjlicht der einstellenden lustizbehörde als Minimalforderung

Vor der weitergehenden Erörterung eines Ausbaus des Rechtsschutzes im Opportunitätsbereich ist zunächst über die Schaffung einer obligatorischen Begriindungspflicht der einstellenden lustizbehörde nachzudenken. Eine solche ist bislang nur qua Nr. 89 III RiStBV im Rahmen der Bescheidung des Anzeigeerstatters bei einer Einstellung nach § 153 aI StPO vorgesehen79 • Die gesetzliche Verpflichtung zur obligatorischen Begriindung opportunitätsgeleiteten Strafverfolgungshandelns könnte nunmehr einerseits zur Steigerung der "Legitimität und Akzeptabilität von Bagatellisierungsentscheidungen"SO nach außen hin beitragen und andererseits intern - in einer Art Aufruf zur Selbstdisziplinierung - den jeweiligen Rechtsanwender zwingen, "sich selbst Rechenschaft über die Gebotenheit der Bagatellisierung abzulegen"sl. Insgesamt besehen erscheint jedoch die Verpflichtung zur Begriindung der Einstellungsentscheidung allein, d. h. ohne weitergehende Überpriifungsoptionen durch eine höhere Instanz, eher als ein "stumpfes Schwert" im Kampf um adäquaten Rechtsschutz gegenüber opportunem Strafverfolgungshandeln. Daher wird im Anschluß an diese Minimalforderung ein Ausbau der Kontrollmöglichkeiten staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Opportunitätseinstellungen de lege ferenda zu erörtern sein.

b) Reformvorschläge zur Kontrolle der staatsanwaltschaJtlichen Einstellungspraxis im Opportunitätsbereich de lege ferenda

Es stellt sich die Frage, ob es zur Herstellung einer gleichmäßigen und berechenbaren Einstellungspraxis sowie zur Befriedigung verfassungsrechtlicher AnfordeDazu im einzelnen oben "Tei13.D.Y.". Eine Begründungspflicht ergibt sich derweil auch nicht aus § 34 StPO, da die entsprechenden Einstellungsentscheidungen - wie oben in "Teil 3.D.Y." gesehen - unanfechtbar sind. Vgl. dazu auch Kühl. Unschuldsvennutung, S. 105 m. w. N. 80 Kunz. Bagatellprinzip, S. 323. 81 Kunz. Bagatellprinzip. S. 323. 78 79

B. Bagatellkriminalität

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rungen an einen effektiven Rechtsschutz einer Erweiterung der gegenwärtigen gerichtlichen Kompetenzen im Opportunitätsbereich bedatf. Als mögliche Anknüpfungspunkte einer Reform sind sowohl die im Vorfeld einer Einstellung stattfindenden gerichtlichen Zustimmungserfordernisse als auch die nachträglichen Überprüfungsmöglichkeiten staatsanwaltschaftlicher Opportunitätsentscheidungen in Betracht zu ziehen. Ferner wird die erneute Schaffung einer autonomen gerichtlichen Einstellungskompetenz im Zeitpunkt des Hauptverfahrens zu diskutieren sein.

aa) Etablierung eines obligatorischen gerichtlichen Zustimmungserfordernisses bei staatsanwaltlichen Einstellungen aus Opportunitätsgründen Zur Befriedigung rechtsstaatlicher Anliegen könnte man zunächst einmal erwägen, die staatsanwaltschaftliche Opportunitätsentscheidung obligatorisch von der vorherigen Zustimmung eines Gerichts - beispielsweise eines OLG-Senats - abhängig zu machen. Vor dem Hintergrund der zurückliegenden Untersuchung zu den §§ 153, 153 a StPO wird jedoch schnell deutlich, daß eine Ausweitung der etwa bei §§ 153 I S. 1, 153 aIS. 1 StPO - de lege lata vereinzelt vorgesehenen richterlichen Zustimmungserfordernisse bei staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellungen im Opportunitätsbereich den eingangs errichteten Ziel vorgaben kaum genügen wird. So hatte die Untersuchung ergeben, daß dem Gericht bei der Wahrnehmung seiner Zustimmungsrechte eher eine Art verfahrensrechtliche Komparsenrolle zuteil wird, da in der Folge der Ausübung weder die Gesamtentscheidung als ein Akt rechtsprechender Gewalt qualifiziert werden kann noch die insoweit gleichrangige Eigenentscheidung des Gerichts annähernd den Anforderungen an ein rechtliches Überprüfungsverfahren gerecht wird82 • Es hilft daher wenig, den Ausbau einer Konstruktion voranzutreiben, die sich zuvor bereits als in jeglicher Hinsicht unzureichend erwiesen hat. Unabhängig davon dürfte die Bereitschaft des Gesetzgebers, der erst jüngst durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz von 1993 die richterlichen Zustimmungserfordernisse im Rahmen der §§ 153, 153 a StPO erheblich beschnitten hat83 , diese in erweiterter Form wiederaufleben zu lassen, als nicht eben groß einzustufen sein.

bb) Etablierung einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit staatsanwaltschaftlicher Opportunitätseinstellungen Die Herausnahme bestimmter opportunitätsgeleiteter Einstellungsformen aus dem gerichtlichen Kontrollbereich durch die lex lata war bereits Gegenstand vor-

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20'

Dazu im einzelnen oben "Teil3.D.IV.l.b)cc)(2)" bzw. "Teil3.D.Y.". Dazu bereits oben "Teil3.B.I.".

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

angegangener Erörterungen 84 • Zum Zwecke einer Vereinheitlichung der Einstellungspraxis im Opportunitätsbereich sowie im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Forderung nach der Gewähr effektiven Rechtsschutzes scheint es im Rahmen einer systemimmanenten Weiterentwicklung der prozessualen Lösung geboten, gerichtliche Kontrollbefugnisse de lege ferenda über den gegenwärtig erfaßten Bereich hinaus auszudehnen und künftig ausnahmslos alle staatsanwaltschaftlichen Opportunitätsentscheidungen einer richterlichen Nachprütbarkeit zu unterstellen. Die Initiative hierzu könnte zum einen vom Beschuldigten ausgehen, der sich gegen eine endgültig verweigerte Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu einer beabsichtigten Verfahrenseinstellung durch das Gericht zur Wehr setzen möchte, oder aber vom Verletzten, dem als Opfer an der Fortsetzung des Verfahrens gelegen sein kann. ( 1) Überprüjungsmöglichkeit für den Beschuldigten

Der Beschuldigte hat de lege lata keinerlei rechtliche Handhabe, um staatsanwaltschaftliche Entscheidungen im Opportunitäts bereich einer effektiven Rechtskontrolle zu unterziehen 85 . Um die endgültige Weigerung der Staatsanwaltschaft zur Zustimmungserteilung im Rahmen einer vom Gericht beabsichtigten Verfahrenseinstellung nach den §§ 153 11, 153 allStPO effektiv überprüfen lassen zu können, wäre daher - bei systemimmanenter Vorgehensweise - künftig auf Antrag des Beschuldigten (oder seines Verteidigers) eine förmliche Bescheidung dieses Einstellungsbegehrens durch die Staatsanwaltschaft vorzusehen, woran im Falle der Ablehnung der einfache Beschwerdeweg zu einer anderen Kammer des mit der Sache befaßten Gerichts anschließen könnte 86 • (2) Überprüjungsmöglichkeitfürden Verletzten Ähnlich defizitär gestaltet sich im Falle staatsanwaltschaftlicher Opportunitätsentscheidungen auch die Rechtsschutzsituation für den durch die Straftat Verletzten, zumal ihm de lege lata durch § 173 11 S. 3 StPO das Mittel der Klageerzwingung aus der Hand geschlagen wird87 . Die Zuweisung einer allzu starken Randposition im Strafverfahren an den Verletzten gefährdet das strafverfahrensrechtliche Ziel einer Wiederherstellung des Rechtsfriedens 88 • Vieles spricht dafür, die Einwirkungsmöglichkeiten des Opfers einer Straftat insgesamt zu verbessern und ihm in Dazu im einzelnen oben "Teil 3.D.V.". Dazu im einzelnen oben "Teil3.D.V.". 86 Vgl. Gössel, FS Dünnebier, S. 148. Zur Rechtsschutzlage des Beschuldigten in der besagten Verfahrenssituation insgesamt vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 189 f. 87 Dazu im einzelnen oben "Teil3.D.V.". 88 Rieß, FS Schäfer, S. 204 m. w. N. 84 85

B. Bagatellkriminalität

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der vorliegenden Konstellation die Möglichkeit einzuräumen, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen 89. Hierzu bieten sich theoretisch zwei Wege an: Einmal kann dem Verletzten die Gelegenheit zur (subsidiären) Privatklage an die Hand gegeben werden, oder aber man votiert für eine Einbeziehung opportuner Einstellungsentscheidungen in das gegenwärtige Klageerzwingungsverfahren. (a) Einführung einer subsidiären Privatklage Die subsidiäre Privatklage, die dem Verletzten die Möglichkeit gibt, anstelle der Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage zu betreiben, wird als Absicherungsinstrument bei Verfahrenseinstellungen nach Opportunitätsgesichtspunkten innerhalb der Wissenschaft diskutiert, angesichts erheblicher Bedenken jedoch überwiegend abgelehnt9o. Es wird in diesem Zusammenhang "vor einer Überflutung der Gerichte mit kleinlichen Privatklagen sowie der Häufung von schikanösen Prozessen,,91 gewarnt: Man begebe sich auf diese Weise nicht zuletzt des ökonomischen Vorteils, der zuvor durch die Ausweitung der Opportunität angestrebt und auch erreicht worden sei. Überdies erscheine die im Privatklagefall entstehende Kostentragungspflicht leicht als unzulässige Verkürzung des strafrechtlichen Schutzes (insbesondere) für sozial Schwache92 . Und schließlich müsse man auch an der Durchschlagskraft einer solchen Verfahrensoption zweifeln, da doch der Privatkläger stets mit der Bürde eines bereits von der Staatsanwaltschaft für nicht verfolgungswürdig befundenen Anliegens vor den Richter trete93 . Insgesamt besehen scheidet daher die Einführung einer subsidiären Privatklagemöglichkeit als ein die Opportunität verfahrensrechtlich absicherndes Instrumentarium in der Hand des Verletzten aus 94 .

Vgl. Rieß, DlT-Gutachten, C 80 m. w. N. Ausführungen zu diesem Regelungsmodell finden sich beispielsweise bei Gössel, FS Dünnebier, S. 144 ff.; Jans, Klageerzwingungsverfahren, S. 244 ffi. w. N.; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 68; Rieß, DlT-Gutachten, C 80,81; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 85 ff.; Wemer, Der Einfluß des Verletzten, S. 324; vgl. auch Wagner, FS für den 45.DIT, S. 159 f. 91 Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 87 m. w. N.; ebenso Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 68. 92 Baumann, FS Peters, S. 13; Hirsch, FS Lange, S. 818; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 68; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 87 m. w. N. 93 Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 68; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 87 f.; vgl. auch Hirsch, FS Lange, S. 817. 94 Auch die Einführung einer Zivilklage - etwa nach dem Vorbild der französischen action civile (vgl. dazu bereits oben "Teil4.B.") - würde dem Verletzten bei seinem Bestreben, eine Opportunitätsentscheidung der Staatsanwaltschaft gerichtlich überprüfen zu lassen, nicht nachhaltig helfen. So verfolgt die action civile in erster Linie - entgegen der deutschen Privatklage - die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Darüber hinaus erfüllt sie die Aufgaben der Privatklage des deutschen Rechts. Die öffentliche Klage im Rahmen der action civile trägt sich insbesondere mit dem Nachteil, daß sie - anders als im deutschen 89

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5. Teil: Reformvorschläge de legeferenda

(b) Erweiterung des Klageerzwingungsverfahrens Gerichtlichen Rechtsschutz gegen opportunitätsgeprägte Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft nach den §§ 153 ff. StPO könnte der Verletzte weiterhin erlangen, wenn de lege ferenda das Klageerzwingungsverjahren auf sämtliche Opportunitätseinstellungen erstreckt würde95 . Für diesen Fall könnte das vom Verletzten angerufene Oberlandesgericht innerhalb einer Rechtmäßigkeitskontrolle prüfen, ob die zur Verfahrenseinstellung erforderlichen Tatbestandsvoraussetzungen vorgelegen haben, ob der Opportunitätsentscheidung die richtigen Tatsachen zugrundegelegt worden sind, ob sachwidrige Motive Eingang in die Entscheidung gefunden haben und ob der sachbearbeitende Staatsanwalt bei seiner Einstellungsentscheidung von allgemeingültigen Beurteilungsmaßstäben ausgegangen ist96 . Dem Klageerzwingungsantrag des Verletzten wäre stattzugeben, wenn die Einstellungsvoraussetzungen nicht vorlagen oder wenn bei einer "angemessenen Berücksichtigung der Interessen des Verletzten" die Weiterführung des Verfahrens geboten wäre97 . Die Zahl der Befürworter einer derartigen Ausweitung des gegenwärtigen Klageerzwingungsverfahrens ist groß, ihre Argumente lassen sich hören: Eine im Ausbau der Klageerzwingung liegende Stärkung der Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren sei dringend erforderlich, trage sie doch letztlich zur "Steigerung der Akzeptanz staatlicher Strafverfolgung,,98 bei und bediene sie darüber hinaus das berechtigte Genugtuungsinteresse des Opfers, welches nicht allein deswegen geringer geachtet werden dürfe, weil für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit einer opportunen Verfahrensbeendigung anstelle der Legalität Platz greife 99 . Des weiteren verfange auch das häufig zur Verteidigung der lex lata ins Feld Recht - nicht direkt erhoben werden kann; sie ist vielmehr mittelbare Folge der Erhebung der Schadensersatzklage (vgl. zu alledem Patsourakou, Stellung des Verletzten, S. 105 f.). 95 AE-EV, S. 24, 138 f.; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 45 m. w. N.; Hassemer; FS StA Schleswig-Holstein, S. 540; Kunz, Bagatellprinzip, S. 327; Rieß, FS Schäfer, S. 204; derselbe, DIT-Gutachten, C 81 ff.; Schöch, NStZ 1984, S. 389; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 85; derselbe, ZStW 109 (1997), S. 109 Fn. 21; Wemer, NStZ 1984, S. 403; dieselbe, Der Einfluß des Verletzten, S. 324; vgl. auch Hirsch, ZStW 102 (1990), S. 560; fans, Klageerzwingungsverfahren, S. 245 m. w. N. Zum Ausschluß der Opportunitätseinstellungen vom Klageerzwingungsverfahren durch die lex lata vgl. oben "Teil3.D.V.". 96 Wemer, NStZ 1984, S. 403, die in diesem Zusammenhang - neben der Streichung des § 172 11 S. 3 StPO - einen Einschub in § 174 I StPO vorschlägt, der die Beschränkung der gerichtlichen Prüfungskompetenz auf die Fragen der Rechtmäßigkeit zum Ausdruck bringen soll. 97 Vgl. dazu AE-EV, S. 39 sowie den entsprechenden Gesetzesvorschlag der Entwurfsverfasser (§ 174a AE-EV, S. 24 f.). 98 Kirstgen, Das Klageerzwingungsverfahren, S. 84 (zitiert nach fans, Klageerzwingungsverfahren, S. 215). 99 Rieß, Off-Gutachten, C 81; vgl. auch Hirsch, GS A.Kaufmann, S. 704; fans, Klageerzwingungsverfahren, S. 245. Zur Stärkung der Rechtsstellung des Verletzten im Verfahren wird weiterhin vorgeschlagen, einen neuen § 153 f. StPO einzufügen, der es dem Verletzten

B. Bagatellkriminalität

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geführte rechtshistorische Argument nicht, der Gesetzgeber von 1877 habe die Klageerzwingung ausschließlich zur Absicherung des Legalitätsprinzips erdacht 1oo: Zum einen sei eine derartige Zweckbestimmung zu keiner Zeit mit einer irgendwie gearteten ,,Ewigkeitsgarantie" versehen worden 101 , und zum anderen habe der urspriinglich intendierte Regelungszweck, namentlich der Schutz staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen vor politisch motiviertem Mißbrauch, heute insoweit eine Akzentverschiebung erfahren, als sich die Gefahr einer politisch motivierten Beeinflussung staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen in der heutigen Rechtswirklichkeit auf die Ebene der weiten Beurteilungsspielräume innerhalb von Opportunitätsentscheidungen verlagert habe. Mithin könne diese gesetzgeberische Intention auch zur argumentativen Abstützung einer nunmehr vorzunehmenden Ausweitung der Kontrollmechanismen herangezogen werden lO2 • Überdies erhofft man sich von der Erstreckung des gegenwärtigen Klageerzwingungsverfahrens auf sämtliche Fälle opportunen Strafverfolgungshandelns eine zunehmende Präzisierung der weitestgehend unbestimmten Anwendungsvoraussetzungen der einschlägigen Vorschriften und damit auch einen Zugewinn an Transparenz, Rechtssicherheit und Gleichmäßigkeit innerhalb der Strafrechtspflege 103. Obwohl die Griinde für eine Ausdehnung der Klageerzwingung gewichtig und die im Gegenzug vorgebrachten Bedenken nicht durchschlagend erscheinen, ist vor der allzu schnellen Schaffung einer solchen Regelung zu warnen, die zwar einerseits unbestreitbar eine sofortige, erhebliche Verbesserung der gegenwärtigen Situation im Opportunitätsbereich bedeuten würde, die aber andererseits die Gefahr birgt, daß auf eine eher ,,kosmetische" Weise ein sehr grundsätzliches Problem zugedeckt wird. Eine entsprechende Erweiterung der §§ 172 ff. StPO steht im Verdacht, als eine Art "Beruhigungspille" für weitere Ausdehnungen der Opportunität mißbraucht werden zu können. Würde man de lege ferenda dem Verletzten die Option einer gerichtlichen Nachpriifung für sämtliche Einstellungsfälle einräumen, ,,könnte der Hinweis auf diese ... Kontrollmöglichkeit als Argument für eine weitere Zuriickdrängung des Legalitätsprinzips dienen,.J04. Mag daher die Erweiteennöglicht, auf die Einstellung eines für ihn übennäßig belastenden Strafverfahrens hinzuwirken, sofern die Durchführung des Verfahrens nicht wegen der Schwere der Tat oder aus Gründen der Spezial- oder Generalprävention erforderlich ist (vgl. AE-EV, S. 10, 39, 88 f.). Die Erweiterung der infonnellen Erledigungsarten um eine Verfahrenseinstellung im Interesse des Verletzten trage der Tatsache Rechnung, daß es über den Bereich der Antragsdelikte hinaus Fälle geben könne, in denen ein Strafverfahren für den Verletzten eine unzumutbare Belastung darstelle (vgl. AE-EV, S. 89). 100 Dazu bereits oben "TeiI3.D.V.". 101 Vgl. dazu Rieß, DIT-Gutachten, C 81: "Historisch gesehen trifft es zwar zu, daß das Klageerzwingungsverfahren lediglich der Sicherung des Legalitätsprinzips dient und deshalb nicht für Ennessenseinstellungen paßt. Jedoch muß das de lege ferenda nicht so bleiben." 102 Wemer, Der Einfluß des Verletzten, S. 330; dieselbe, NStZ 1984, S. 403 m. w. N.; vgl. auch Jans, Klageerzwingungsverfahren, S. 265. 103 Rieß, DIT-Gutachten, C 83; Wemer, Der Einfluß des Verletzten, S. 324, 330 f.; dieselbe, NStZ 1984, S. 403 m. w. N.

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

rung des gegenwärtigen Klageerzwingungsverfahrens im Rahmen eines systemimman enten Lösungsansatzes auch eine konsequente Forderung zur Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten opportunistischen Strafverfolgungshandelns sein, wird gleichzeitig aber immer die Frage gestellt werden müssen, ob nicht vielmehr die Einschränkung von Opportunität zugunsten der Legalität der richtige Weg ist, um die im Zusammenhang mit einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege formulierten Ziele zu erreichen 105 . Eine Zurückdrängung der Opportunität würde dann letztlich auch ermöglichen, das Klageerzwingungsverfahren in dem Bereich zu belassen, der ihm mit der Absicherung der Legalität vom historischen Gesetzgeber zugedacht worden ist lO6 • Darüber hinaus erheben sich auch Zweifel an der tatsächlichen Effizienz einer gerichtlichen Kontrollmöglichkeit, wenn man die praktische Bedeutungslosigkeit von § 383 11 S. 3 StPO bei der Beschwerde gegen den Einstellungsbeschluß im Privatklageverfahren betrachtet.

cc) Möglichkeit eines vom Gericht ausgesprochenen Verfolgungsverzichts bei gleichzeitiger Eröffnung eines Rechtsmittels für den Staatsanwalt Innerhalb einer Weiterentwicklung der gegenwärtigen prozessualen Lösung könnte eine zusätzliche Ausweitung richterlicher Kompetenzen dadurch erreicht werden, daß man die Einstellungskompetenzen der §§ 153 11, 153 a 11 StPO von der staatsanwaltschaftlichen Zustimmungspflicht befreit und dem Gericht eine Möglichkeit zur autonomen Verfahrensbeendigung für die Fälle zubilligt, die es im Gegensatz zur Anklagebehörde für "einstellungswürdig" erachtet 107. Das Recht zur eigenständigen, nicht an die Zustimmung des Staatsanwalts gebundenen Einstellung des Strafverfahrens durch das Gericht im Zeitpunkt der Hauptverhandlung macht dann die gleichzeitige Einräumung eines Rechtsmittels für die Staatsanwaltschaft erforderlich, wobei an eine sofortige Beschwerde mit einer - in Abänderung des § 73 I GVG - unmittelbar begründeten Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts zu denken wäre 108 .

Jans, Klageerzwingungsverfahren, S. 266. Dazu unten "Teil5.B.III." und "TeiI5.B.IY.". 106 Für eine Beschränkung der §§ 172 ff. StPO auf den Anwendungsbereich des Legalitätsprinzips spricht sich am Ende auch Jans (in: Klageerzwingungsverfahren, S. 267) aus. 107 Cramer, FS Maurach, S. 498. Dazu, daß dem Gericht de lege lata keine Möglichkeit verbleibt, die staatsanwaltschaftliche Zustimmung zu einer Verfahrenseinstellung in der Hauptverhandlung zu erzwingen, vgl. Schroeder, NStZ 1996, S. 319. 108 Vgl. Cramer, FS Maurach, S. 499. 104 105

B. Bagatellkriminalität

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c) Reformvorschläge zur Kontrolle der richterlichen Einstellungspraxis de lege ferenda

Im Zuge von Reformüberlegungen zur besseren Kontrolle der opportunen Einstellungspraxis im Strafverfahren könnte des weiteren über eine de lege ferenda zu etablierende Anfechtbarkeit der gerichtlichen Einstellungsbeschlüsse nachgedacht werden, was dem Rechtsschutzinteressenten de lege lata durch die §§ 153 11 S. 4, 153 allS. 4 StPO ausdrücklich verwehrt ist. So kann beispielsweise gegenwärtig die Situation entstehen, daß ein im Klageerzwingungsverfahren obsiegendes Opfer einer Straftat seine gerade geschöpfte Hoffnung auf eine Verfahrensfortsetzung nur allzu schnell wieder "begraben" kann, wenn es nach erfolgreich erzwungener Klageerhebung die möglicherweise unmittelbar nachfolgende Einstellung des Verfahrens durch das Gericht hinnehmen muß, und das obwohl ihm diese unter Umständen grob fehlerhaft erscheint lO9 . Ob dem Verletzten deshalb jedoch die Möglichkeit an die Hand gegeben werden sollte, etwa mittels der sofortigen Beschwerde nach § 311 StPO gerichtliche Einstellungsbeschlüsse im Opportunitätsbereich einer weiteren (richterlichen) Nachprüfung unterziehen zu lassen, erscheint indes nicht nur unter verfahrensökonomischen Aspekten fraglich. Es hat vielmehr den Anschein, als sei ein Anfechtungsrecht in diesen Fällen bereits angesichts der gesetzlich vorgesehenen Doppelkontrolle durch Gericht und Staatsanwaltschaft, die den Sanktionsverzicht im Rahmen einer Einstellung nach §§ 153 11, 153 allStPO übereinstimmend befürworten müssen, entbehrlich 110.

3. Weitere Refonnvorschläge zur systemimmanenten Fortentwicklung der gegenwärtigen prozessualen Lösung

Systemimmanente Reformansätze zur Verbesserung gegenwärtiger Opportunitätseinstellungen sehen weitere, partielle Korrekturen vor, die insbesondere an den Stellen der zu reformierenden Regelungen ansetzen, die de lege lata in besonderem Maße Anlaß zur Kritik geben. Um beispielsweise dem Vorwurf zu begegnen, der Beschuldigte unterliege in einem Verfahren nach § 153 a StPO einem an § 136 a StPO heranreichenden DruckllI , wird vorgeschlagen, ihm entweder im Anschluß an eine zunächst nur vorläufige Annahme der staatsanwaltschaftlicherseits angetragenen Auflagenverhängung die Beantragung einer gerichtlichen Überprüfung dieser Maßnahme zu gewähren 1l2 ; oder es soll die Drucksituation für den Beschuldigten dadurch entschärft werden, daß ihm für den Fall der Ablehnung des staatsVgl. Werner, Der Einfluß des Verletzten, S. 323 f. Vgl. Werner, Der Einfluß des Verletzten, S. 323. III Dazu im einzelnen oben "TeiI3.D.VII.". 112 Der Annahme des staatsanwaltschaftlichen Angebots "unter Vorbehalt" könnte ein Verfalrren nachfolgen, das konzeptionell an dem Einspruchsverfalrren der §§ 67 ff. OWiG zu orientieren wäre. 109 110

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5. Teil: Refonnvorschläge de legeferenda

anwaltschaftlichen Angebots zur sanktionsbehafteten Verfahrenseinstellung ein grundsätzliches Verschlechterungsverbot für eine spätere Hauptverhandlung zugesichert wird 113. Hinsichtlich der in § 153 alStPO normierten Sanktionskompetenz der Staatsanwaltschaft und dem damit verbundenen Vorwurf einer Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips wird aus systemimmanenter Sicht vorgeschlagen, de lege ferenda die Verhängung von Auflagen und Weisungen in einer Art Vorschaltverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft dem Gericht zu übertragen 1l4 , oder aber - im Wege einer mehr binnenstrukturellen Refonn - mit der Einrichtung sogenannter ,,sanktionierungsdezernate" bei den Staatsanwaltschaften selbst eine Arbeitsweise zu ermöglichen, bei der ermittelnde und sanktionierende Tatigkeit nicht länger in einer Hand verbleiben 115. Des weiteren soll, so sehen es entsprechende Anregungen vor, künftig dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör besser entsprochen werden, indem sowohl dem Beschuldigten als auch dem Verletzten vor einer beabsichtigten Verfahrenseinstellung außerhalb einer mündlichen Hauptverhandlung die Gelegenheit gegeben wird, im Rahmen einer mündlichen Anhörung zu der bevorstehenden Maßnahme Stellung zu nehmen und diese unter Umständen mittels neu vorgetragener Aspekte noch zu eigenen Gunsten zu beeinflussen 1l6 • Weiterhin wird im Zuge eines systemimmanenten Ausbaus der gegenwärtigen prozessualen Lösung eine aus Präventionsgesichtspunkten für sinnvoll befundene überregionale Registrierung aller nach § 153 a StPO infonnell Sanktionierten gefordert II 7.

113 Weigend. KrimJoum. 1984, S. 29 f. Die grundsätzliche Bindungswirkung solle derweil nur in wenigen Ausnahmeflillen - wie beispielsweise aufgrund der Gewinnung neuer Erkenntnisse von bedeutendem Gewicht durch die spätere Hauptverhandlung - entfallen. Darüber hinaus stelle - so Weigend. a. a. 0., S. 35 Fn. 32 - der nach wie vor vorhandene Anreiz, durch die Zustimmung zur Verfahrenseinstellung die drohende Kostentragungspflicht zu venneiden, ,,keine unfaire Beeinträchtigung der Wahlfreiheit des Beschuldigten dar: Das Kostenrisiko des Strafverfahrens entsteht ja für alle Beschuldigten gleichennaßen schon aufgrund des Verdachts, der Anlaß zur Prozeßeinleitung gibt". 114 LR-Meyer-Goßner, 23. Auflage, § 153a Rn. 114 ff. 115 Weigend. KrimJoum. 1984, S. 20. Einige der Bedenken gegenüber einer solchen Regelung benennt der Autor selbst: "erhöhter Zeitaufwand durch doppelte Aktenbearbeitung; starke Verengung des staatsanwaltschaftlichen Tätigkeitsfeldes beim ,Sanktionierungsdezementen'; Problem der Gewährleistung gleichmäßiger Vorauswahl der ,§ I 53a-verdächtigen' Fälle". 116 Rieß. DJT-Gutachten, C 125; Rössner, Kleinkriminalität, S. 68; Wemer, Der Einfluß des Verletzten, S. 324. Zu den entsprechenden Defiziten der lex lata vgl. oben "Teil3.D.Vill.". 117 Rössner, Kleinkriminalität, S. 68. Zur Problematik einer gegenwärtig nicht vorgesehenen Registrierung dieser Tätergruppe vgl. oben "Teil 3.D.X.".

B. Bagatellkriminalität

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4. Stellungnahme

Trotz solcher - dem Grunde nach begrüßenswerten - Nachbesserungen am gegenwärtigen Regelungsmodell verbleiben bei einer rein systemimmanenten Refonn zwangsläufig gewichtige Fragen ungelöst, was wiederum mit dem gesetzgeberischen Grundsatzentscheid für eine prozessuale Lösung zusammenhängt. Vermag der vorgenannte Weg einer inhaltlichen Präzisierung der §§ 153, 153 a StPO zwar einerseits die weitgehende Unbestimmtheit der Vorschriften zu verringern und damit auch Teile der daran anschließenden Folgeprobleme zu lindern l18 , und kann überdies die Kontrolle opportunen Strafverfolgungshandelns durch die Etablierung und Erweiterung gewisser Kontrollmechanismen ersichtlich verbessert werden, so ändern andererseits sämtliche systemimmanenten Korrekturbemühungen nichts an der bedenklichen Tatsache, daß der Staatsanwaltschaft mit der Möglichkeit zur faktischen Festlegung von Strafbarkeitsgrenzen und der Ennächtigung zur Sanktionsverhängung auch weiterhin Kompetenzen einfachgesetzlich zugeschrieben sind, die ihr von Verfassungs wegen nicht zustehen. Die kriminalpolitische Wertentscheidung über die Strafbarkeit eines Verhaltens obliegt bei einer Beibehaltung der prozessualen Vorgehensweise nach wie vor in großem Stil dem Exekutivorgan "Staatsanwaltschaft" und befindet sich nicht, wie es aus Sicht der Gewaltenteilung zu wünschen wäre, im alleinigen Verantwortungsbereich des Gesetzgebers. Nicht nur, daß sämtliche Konkretisierungsbemühungen auf der nonnativen Ebene in ihrer Wirkung erheblich relativiert werden, wenn es auch de lege ferenda bei einer nur schwer zu berechnenden, weil unverändert beeinflußbaren und in weiten Teilen dem behördlichen Pragmatismus ausgelieferten prozessualen Entkriminalisierungsentscheidung verbleibt J19 : Die faktische Festlegung von Strafbarkeitsgrenzen auf der Bühne des Prozeßrechts ist "von Hause aus" eine Systemwidrigkeit, bei der im Einstellungsfall von seiten der Staatsanwaltschaft mit dem staatlichen Strafanspruch auf etwas verzichtet wird, was eigentlich (materiellrechtlieh) nie bestanden hat 120• Neben der offensichtlich unvenneidbaren Konsequenz einer systemwidrigen Überantwortung einer ihrem Inhalte nach materiellrechtlichen Sachentscheidung an das Prozeßrecht kranken systemimmanente Lösungsansätze weiterhin an der mangelnden Auflösung der im Hinblick auf § 153 alStPO virulenten staatsanwaltschaftlichen Sanktionskompetenzproblematik. Die in diesem Zusammenhang 118 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die unter "TeiI5.B.II.1.a)" aufgeführten Einstellungskriterien im Falle ihrer Verwendung einer weiteren Differenzierung danach bedürften, wann einerseits beim Vorliegen "einstellungsfreundlicher Umstände" eine Einstellung sank:tionslos bzw. sanktionsbehaftet zu erfolgen hätte, und wann andererseits das Vorliegen "anklagefreundlicher Umstände" zu einer Erhebung der öffentlichen Klage bzw. (bloß) zu einer sanktionsbehafteten Verfahrenseinstellung führen soll; vgl. dazu Kausch. S. 212 ff.; ihm zustimmend Weigend. KrimJoum. 1984, S. 34 Fn. 21. 119 Vgl. Kunz. Bagatellprinzip, S. 91. 120 Vgl. Lampe. Wiedervereinigung I, S. 72 f.

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

vorgeschlagene formell-richterliche "Absegnung" staatsanwaltschaftlicherseits angetragener Sanktionierungsabsichten teilt in der rechtlichen Einschätzung Bedeutung und Bedenken im Kontext mit richterlichen Zustimmungsakten bei staatsanwaltschaftlichen Opportunitätseinstellungen und stellt damit im Ergebnis auch keine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Rückübertragung rechtsprechender Gewalt auf die Gerichte dar. Und die ebenfalls zu Abhilfezwecken erwogene Einrichtung von besonderen staatsanwaltschaftlichen "Sanktionierungsdezernaten" verfehlt ökonomische Zielsetzungen und verfremdet das Berufsbild des Staatsanwalts. So verbleibt es bei einer Fortschreibung des prozessualen Lösungsmodells dann auch unausweichlich bei einem Verstoß gegen das Schuldprinzip, da die Staatsanwaltschaft als sanktionierendes Organ zu einer - insoweit aber unverzichtbaren - förmlichen Schuldfeststellung nicht befugt ist. Die von ihr verhängten Sanktionen tragen auch weiterhin den Makel einer bloßen Verdachtsstrafe, dem sich der Beschuldigte regelmäßig in allenfalls fiktiver Freiwilligkeit unterwerfen wird, um eine als größeres Übel empfundene Verfahrensfortsetzung zu vermeiden. Die zur Entschärfung der erheblichen Drucksituation beim Beschuldigten vorgeschlagenen Maßnahmen sind teilweise nicht konsequent genug; andere wiederum scheinen das Verfahren über Gebühr aufzublähen. Strukturell bedingt verbleibt es am Ende im Rahmen von § 153 aI StPO bei einer unerfreulichen Sanktionierung des Beschuldigten nach Aktenlage, für die es trotz manch möglicher und begrüßenswerter Randkorrektur auch weiterhin einen erheblichen Verlust an verfahrensrechtlichen Werten wie Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zu beklagen gilt. Durch die systemimmanente Weiterentwicklung der prozessualen Lösung in Form von Präzisierung und Kontrolle der OpportunitätseinsteIlungen werden die für verfassungsrechtlich bedenklich befundenen Kompetenzen der Staatsanwaltschaft zwar in Teilen begrenzt, jedoch letztlich nicht aufgehoben 121. Dies war auch nicht zu erwarten, da die vorgenannten Kernpunkte der Kritik im Rahmen einer prozessualen Lösung praktisch gesetzessystematisch angelegt sind 122 • Infolgedessen werden nunmehr solche Lösungsmodelle einer Erörterung zu unterziehen sein, die ihrem Reformprograrnm zur künftigen Behandlung der Bagatellkriminalität ausschließlich - oder in erster Linie - eine materiellrechtliche Grundlage geben. Als "materiellrechtlich" gelten dabei zunächst einmal alle Ansätze, die das Bagatellunrecht durch Ausformung spezieller Einzeltatbestände zu erfassen suchen und diese entweder im StGB oder aber in einem gesonderten Rechtsbereich - wie beispielsweise dem Ordnungswidrigkeitenrecht - ansiedeln wollen. Dabei soll dem geringeren Beachtlichkeitsgrad des bagatellarischen Verhaltens auf der Sanktionsseite mittels speziell abgestimmter Reaktionsarsenale Rechnung getragen werden. Eine Ausgrenzung von Bagatellkriminalität mit anschließender Sonderbe121 So im Ergebnis auch Kunz. Bagatellprinzip, S. 328. Vor dem Hintergrund der verbleibenden starken Machtposition der Staatsanwaltschaft bescheinigen auch Anhänger einer systernirnrnanenten Refonn derselben "nur eine eingeschränkte Zielsetzung" (AE-EV. S. 78). 122 Vgl. Kunz. Bagatellprinzip. S. 328 f.

B. Bagatellkriminalität

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handlung könnte ferner durch eine Übernahme der §§ 153, 153 a StPO in das materielle Recht oder aber durch die Etablierung eines allgemeinen, materiellrechtlichen Geringfügigkeitsprinzips erfolgen, das etwa nach dem Vorbild eines § 42 des österreichischen StGB zu konzipieren wäre. Einen primär materiellrechtlichen Charakter haben auch einige der sog. sektoralen Lösungsmodelle, die bei der von ihnen praktizierten Privatisierung der Strafverfolgung ihren Ausgang im materiellen Strafrecht nehmen. Schließlich werden sog. ganzheitliche Lösungsansätze zur Diskussion zu stellen sein, die zusätzlich zu ihrer materiellrechtlichen Komponente auch begleitende verfahrensrechtliche Reformen vorsehen.

111. Rein materiellrechtliche Lösungsansätze Materiellrechtliche Lösungsansätze zur künftigen Behandlung von Bagatellkriminalität tragen sich gegenüber den prozessualen bereits mit dem Vorzug ihrer systematisch korrekten Verortung. Denn schließlich sollte die Reform an der Stelle ansetzen, wo ihr Bedarf entsteht: im materiellen Recht 123 . Darüber hinaus sichert eine materiellrechtliche Lösung in Anbetracht der Chance, eine entsprechende obergerichtliche Judikatur auszubilden und damit zur weiteren Konkretisierung der Grenzen von Bagatellkriminalität beizutragen 124 , ein gewisses Gleichmaß der Rechtsanwendung 125 und damit auch einen wesentlich besseren Schutz vor Ungleichbehandlung und Willkür, als dies ein von Transparenz und rechtsstaatlichen Garantien weitgehend entkleidetes staatsanwaltschaftliches Einstellungsverfahren zu gewährleisten vermag 126. Verbesserte Kontrollmöglichkeiten 127 und die von Verfassungs wegen gebotene Rückübertragung judikativer Entscheidungskompetenzen von der Staatsanwaltschaft auf das Gericht 128 sind neben dem Zugewinn an Präventionskraft 129 nur einige wesentliche Aspekte, die im 123 Für eine materiellrechtliche Lösung der Bagatellkrirninalitätsproblematik etwa Albrecht, StV 1994, S. 273; Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 15 f.; Arzt, JuS 1974, S. 695; Baumann, ZRP 1972, S. 273; derselbe, ZRP 1987, S. 176; Frisch, FS Stree/Wessels, S. 101; Hassemer, FS StA Schleswig-Holstein, S. 538; Hirsch, FS Lange, S. 826 m. w. N.; derselbe. GS H.Kaufmann, S. 142; Kapahnke. Opportunität und Legalität, S. 66; Kausch. S. 189 ff.; Krümpelmann. Die Bagatelldelikte, S. 240; Kühne. S. 245; Kunz. Bagatellprinzip, S. 337; Lange. FS Jahrreiß. S. 133; Lorenzen. FS StA Schleswig-Holstein, S. 548 f.; Naucke. DIT-Gutachten, D 115; Rieß. FG Koch, S. 224; Roxin. FS Pallin, S. 346; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 214; Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 255; Weigend. ZStW 109 (1997), S. 106 m. w. N.; Zipf, Kriminalpolitik, S. 73 f.; vgl. auch Wagner, FS für den 45.DIT, S. 175. 124 Albrecht u. a .• Strafrecht-ultima ratio, S. 16; Kausch. S. 191; Krümpelmann. Die Bagatelldelikte, S. 234. 125 Weigend. ZStW 109 (1997), S. 107. 126 Ahrens. Hauptverhandlung, S. 247; Kausch. S. 189. 127 Albrecht u. a .• Strafrecht-ultima ratio, S. 16; Frisch. FS Stree/Wessels, S. 105. 128 Albrecht u. a .• Strafrecht-ultima ratio, S. 16. 129 Ahrens. Hauptverhandlung. S. 247.

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5. Teil: Reformvorschläge de lege ferenda

vorliegenden Fall zugunsten einer materiellrechtlichen Lösung ins Feld zu führen sind. Die bei der Ausgestaltung des Ansatzes beschrittenen Wege sind indes von unterschiedlicher Art.

1. Ausformung einzelner Bagatelltatbestände und restriktive Tatbestandsauslegung der Strafvorschriften

Vorgeschlagen wird beispielsweise, geeignete Strafvorschriften des Besonderen Teils um einen Bagatelltatbestand zu erweitern, durch den - unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Delikts - geringfügige Begehungsweisen aus dem konventionellen Regelungsrahmen der Norm herausgelöst werden könnten. Auf diese Weise ließen sich Vertatbestandlichungen im Randbereich strafrechtlicher Verhaltensweisen vermeiden, die den Einsatz von Strafe kriminalpolitisch nicht erfordern 130. Dem Reformvorschlag einer Anfügung von materiellrechtlichen Bagatellzusätzen ist zuzugeben, daß hierdurch zum einen die Entkriminalisierung in systemkonformer Weise von der Ebene des Prozeßrechts wegverlagert werden würde und daß zum anderen dem Rechtsanwender durch die geplante deliktsspezifische Ausgrenzung von Geringfügigkeiten ein am Ende wesentlich differenzierteres Rechtsfolgenangebot unterbreitet werden könnte, als dies beispielsweise im Rahmen einer allgemeinen Geringfügigkeitsklausel der Fall sein würde \31. Dennoch vermag der Vorschlag nicht vollends zu überzeugen, handelt es sich bei der Ausformung einzelner Bagatelltatbestände doch immer um ,,kasuistisches Stückwerk,,132, bei dem überdies eine exakte sprachliche Grenzziehung kaum möglich und im Hinblick auf die gewünschte Anpassungsfähigkeit der Normen an künftige gesellschaftliche Entwicklungen auch nicht in letzter Konsequenz erstrebenswert sein dürfte 133 • Des weiteren verbliebe es bei einem rein materiellrechtlichen Lösungsansatz wie diesem bei der Anwendbarkeit des Kriminalstrafverfahrens, dessen Durchführung jedoch angesichts des bagatellarischen Anlasses als eher unverhältnismäßig erscheint 134. Für den Bereich der absoluten Bagatellen wird darüber hinaus vorgeschlagen, die Problematik der Überreichweiten des Strafrechts im Wege einer restriktiven Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale zu entschärfen und dabei entweder das 130 Frisch, FS Stree/Wessels, S. 106; Geppert, Jura 1986, S. 311; Kausch, S. 246; Naucke, DIT-Gutachten, D 115 ff.; vgl. auch Baumann, FS Peters, S. 11. l3I Vgl. Frisch, FS Stree I Wesseis, S. 106. 132 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 236; ebenso Geerds, FS Dreher, S. 549. 133 Vgl. ganz allgemein zum Problem einer exakten Fassung von Tatbeständen Zipf, Kriminalpolitik, S. 72. 134 Vgl. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 236.

B. Bagatellkrirninalität

319

Institut der Sozialadäquanz als Regulativ zur Ausfilterung geringfügiger Rechtsgutsbeeinträchtigungen aus dem Anwendungsbereich des Kriminalstrafrechts einzusetzen 135 oder aber die "Geringfügigkeit" in der Manier einer allgemeinen teleologischen Auslegungsregel zur Korrektur in den Randbereichen strafrechtlicher Verhaltensweisen zu verwenden 136 • Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß mit einer Überantwortung der Geringfügigkeitsbeurteilung an den mit der Auslegung betrauten Rechtsanwender, wie sie hier vorgesehen ist, erneut eine Zuständigkeitsverschiebung eintreten würde, die noch im Rahmen der §§ 153,153 a StPO einen Schwerpunkt innerhalb der (verfassungsrechtlichen) Kritik dargestellt hat I37 • Wird die Strafwürdigkeit eines Verhaltens unverändert nicht allein durch die Rechtspolitik des Gesetzgebers, sondern in Randbereichen auch oder ausschließlich durch den jeweiligen Rechtsanwender festgelegt, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht viel gewonnen: Es verbleibt beim Vorwurf einer ausgeprägten Rechtsunsicherheit, einer Ungleichmäßigkeit der Strafrechtspflege sowie einer problematischen Kompetenzverlagerung zugunsten der Exekutive. Darüber hinaus bietet eine restriktive Auslegung von einzelnen Tatbestandsmerkmalen auch keine umfassende Lösung zur Ausfilterung von (absolutem) Bagatellunrecht, da nicht sämtliche Delikte im Vergehensbereich eine derartige Aussonderung durch Restriktion zulassen 138 • Ein bloß sektoral einsetzbares tatbestandsimmanentes Erheblichkeitskriterium provoziert jedoch zwangsläufig Ungleichbehandlungen gegenüber jenen Delikten, deren Tatbestandsmerkmale nicht oder nur kaum restriktivauslegbar sind 139 . Um diesen ungewollten Kriminalisierungsreflex zu verhindern, verlegen sich andere Lösungsansätze zum Zwecke der Abgrenzung von Bagatellkriminalität auf die Etablierung einer allgemeinen materiellrechtlichen Geringfügigkeitsvorschrift.

2. Ausformung eines allgemeinen materiellrechtlichen Geringfügigkeitsprinzips nach dem Vorbild des § 42 öStGB

In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, im Allgemeinen Teil des StGB ein allgemeines materiellrechtliches Geringfügigkeitsprinzip einzuführen, das inhaltlich an § 42 des österreichischen StGB zu orientieren wäre l40 . Nach § 42 öStGB 135 Geppert, Jura 1986, S. 311; Kaiser; ZStW 90 (1978), S. 895; Zipf, Kriminalpolitik, S. 71 f.; vgl. auch Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 254 m. w. N. 136 OLG Hamm, NJW 1980, S. 2537; Ostendorf, GA 1982, S. 333 ff. Vgl. auch Ranft, S.273. 137 Dazu im einzelnen oben "TeiI3.D.IV.3."; vgl. dazu auch Ostendorf, GA 1982, S. 334. 138 Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1035, 1037; Zipf, Kriminalpolitik, S. 71. 139 Vgl. Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1041. 140 Auch das polnische Strafgesetzbuch enthält in Art. 1 § 2 eine materiellrechtliche Geringfügigkeitsregelung. So heißt es dort: "Keine Straftat ist eine verbotene Tat, deren Sozialschädlichkeit geringfügig ist" (nach der Übersetzung von E. Weigend, Das polnische Strafge-

320

5. Teil: Reformvorschläge de lege ferenda

ist bei Offizialdelikten, die mit nicht mehr als 3 Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht sind, die Tat nicht strafbar, wenn (kumulativ) - die Schuld des Täters gering ist, die Tat keine oder nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat oder, sofern sich der Täter zumindest ernstlich darum bemüht hat, die Folgen der Tat im wesentlichen beseitigt, gutgemacht oder sonst ausgeglichen worden sind und eine Bestrafung nicht geboten ist, um den Täter von strafbaren Handlungen abzuhalten und der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken. Eine Transformation dieser österreichischen Norm in das deutsche StGB trüge sich mit dem Vorzug einer weitgehend prägnanten Umsetzung des derzeitigen § 153 StPO in das materielle Recht, in dessen Rahmen nunmehr - insoweit systemgerecht - über die Fragen geringer Schuld oder geringer Folgen der Tat entschieden würde l41 . Infolge der direkten Befassung der Regelung mit dem Geltungsanspruch der Strafnorm würde eine Einschränkung des Legalitätsprinzips von vornherein vermieden 142. Die unmittelbare Beschneidung strafrechtlicher Überreichweiten durch den Gesetzgeber ließe ein sich sonst anschließendes Korrekturbedürfnis durch die "prozessuale Hintertür" entfallen 143 und würde somit zur gebotenen Verkürzung rechtsanwendungsbezogener Beurteilungsspielräume beitragen l44 • Die zusätzlich zum Zwecke der Aussiebung potentiell anwendungsgeeigneter Delikte verankerte Strafobergrenze könnte zudem die Ausuferung der Entkriminalisierung in solche Bereiche verhindern, die angesichts ihres Beachtlichkeitsgrades nur noch schwerlich der Bagatelldelinquenz zuzuschlagen sind l45 • Den Vorzügen einer inhaltlich an § 42 öStGB orientierten, materiellrechtlichen Geringfügigkeitsregelung stehen jedoch Bedenken gegenüber, die sich auch bei stärkerer Systematisierung und weiterer Verfeinerung der Entkriminalisierungskriterien nicht ausräumen lassen dürften. So läßt die Vorschrift insbesondere eine klare, widerspruchsfreie dogmatische Konzeption vermissen, die etwa erhellen könnte, warsetzbuch. Kodeks karny vom 6. Juni 1997 in Kraft getreten am l. September 1998, Freiburg im Breisgau 1998, S. 37). 141 Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1036 m. w. N.; lescheck, FS Gallas, S. 46; Moos, ZStW 95 (1983), S. 156 m. w. N. 142 Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1080; Naucke, DlT-Gutachten, D 39 f. Gleiches gilt für andere allgemeine Geringfügigkeitsprinzipien: Zum Entkriminalisierungskriterium der "GeseIlschaftsschädlichkeit" in der Volksrepublik China vgl. Richter, MschrKrim 2000, S. 27; zu dem der "Sozialschädlichkeit" des 1997 in Polen neu eingeführten Art. 1 § 2 poln.StGB vgl. Gostynski, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, Humboldt-Tagung, Sektion 8. Zum Entkriminalisierungskriterium der ,,Belanglosigkeit" in Art. 28 des kroatischen Strafgesetzes von 1997 vgl. Krapac, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, Humboldt-Tagung, Sektion 8. 143 Zu diesem Mechanismus vgl. bereits oben "Teil 3.D.xIII.". Vgl. auch Weigend, ZStW 109 (1997), S. 107. 144 Vgl. Roxin, FS Pallin, S. 345. 145 lescheck, FS Gallas, S. 46; vgl. auch Weigend, ZStW 109 (1997), S. 107.

B. BagatelJkriminalität

321

um innerhalb einer materiellrechtlichen Norm das jeweilige konkrete Strafbedürfnis zu einem Kriterium für die Strafbarkeitsbeurteilung werden kann l46 . Eine die Verworrenheit des Gesamtmeinungsbildes widerspiegelnde Darstellung der unterschiedlichen Deutungen zur dogmatischen Einordnung des § 42 öStGB findet sich bei Lampe147: "Für die einen beinhaltet § 42 öStGB einen Tatbestandsausschluß; für die anderen ist er ein Rechtfertigungsgrund; die dritten wollen ihn als Entschuldigungsgrund deklarieren; nicht einmal das ist er, sagen die vierten, sondern ein sachlicher bzw. persönlicher Strafausschließungs- bzw. -aufhebungsgrund; und die fünften sind der Ansicht, man könne ihn rechtsdogmatisch überhaupt nicht einordnen, er sei eine ,Rechtsfigur sui generis'." Unabhängig von diesen dogmatischen Ungereimtheiten, die nicht zuletzt dadurch entstehen, daß mit der Berücksichtigung von Zweckmäßigkeitsüberlegungen eine in erster Linie verfahrensrechtliche Frage ins materielle Recht verlagert 148 und damit nicht zuletzt auch der Unbestimmtheit einer materiellrechtlichen Strafvorschrift Vortrieb geleistet wird l49 , scheint die Norm des § 42 öStGB rein konzeptionell nicht auf das deutsche Strafrecht übertragbar zu sein. Denn abweichend von der österreichischen "Vorerhebung", in deren Rahmen der Untersuchungsrichter über die Verfahrenseinstellung nach § 42 öStGB zu befinden hat, wäre es im Falle der Transformation innerhalb des deutschen Strafverfahrens erneut an der Exekutivinstitution Staatsanwaltschaft - nunmehr infolge einer materiellrechtlichen Bagatellisierungsvorschrift und damit dann nach § 170 11 StPO - das Verfahren einzustellen und auf diese Weise neuerlich die Grenzen der Strafbarkeit im Geringfügigkeitsbereich zu bestimmen l50 . Des weiteren bliebe ungelöst, wie für die im Zwischenbereich liegenden Fälle der bedingten Bagatellen zu verfahren wäre, für die zwar einerseits eine Behandlung im "Normalverfahren" als überzogene staatliche Reaktion erscheint, die aber andererseits in Ansehung ihres gegenüber unbedingten Bagatellen erhöhten Beachtlichkeitsgrades keinen allgemeinen Sanktionsverzicht rechtfertigen 151. Insgesamt besehen stellt eine Übernahme der österreichischen Lösung keine tragfähige Alter146 Zu dogmatischen Einordnungsversuchen bei § 42 öStGB vgl. Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1051 m. w. N.; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 909 f.; Jescheck, FS GalJas, S. 46; Lampe, Wiedervereinigung I, S. 70; Moos, ZStW 95 (1983), S. 164 ff.; Roxin, FS Pallin, S. 345 ff.; Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 255. 147 Lampe, Wiedervereinigung I, S. 69. 148 Vgl. Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. lIO. 149 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 238; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 909 f. 150 Hertwig, Geringfügigkeit, S. 262; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 237. "Der wesentliche Vorteil dieser Lösung ... , daß das Vorliegen der Voraussetzungen einer solchen Strafvorschrift durch den Richter festgestelJt werden müßte" (so Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 896), mag daher für das österreichische Recht zutreffend begründet sein. Im deutschen Strafverfahren würde jedoch (systemkonform) die Staatsanwaltschaft als "Herrin des Vorverfahrens" über die Geringfügigkeit befinden müssen und dadurch die inzwischen hinlänglich benannten Vorwürfe einer verfassungsrechtlichen Unzuständigkeit weiter nähren; vgl. dazu auch Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 237. 151 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 238.

21 Horslmann

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

native zur gegenwärtigen deutschen Regelung der §§ 153, 153 a StPO dar. Dieser Reformvorschlag unterlag mithin zu Recht in deutlicher Form bei einer Abstimmung auf dem 51. Deutschen Juristentag l52 .

3. Entkriminalisierung im Bagatellbereich durch Überführung materiellen Strafrechts in das Ordnungswidrigkeitenrecht

Ein anderer Lösungsansatz sieht vor, im Wege der Weiterführung einer populären Entwicklung materiellrechtlicher Entkriminalisierung 153 das Ordnungswidrigkeitenrecht als einheitliche Kategorie für die Bagatelldelinquenz zu bestimmen, indem de lege ferenda Geringfügigkeiten insgesamt aus dem Kriminalstrafrecht herausgelöst und in das OWiG überführt werden sollen I54 . Auf diese Weise könnte - so argumentieren die Befürworter dieses Regelungsmodells - eine einheitliche Bewältigungsstrategie bei Bagatellen konzipiert werden 155 , die neben einer justizentlastenden Verfahrensvereinfachung und der aus Präventionsgesichtspunkten begriißenswerten Erfassung von Wiederholungstätern 156 den weiteren Vorzug aufzuweisen hätte, daß durch die Auflösung der Beziehung zum Kriminalstrafrecht der Weg für eine Sanktionierung der Täter durch nichtrichterliche Organe eröffnet wäre l57 . Demgegenüber wird vorgebracht, daß der Einordnung einer Tat als (insoweit wertneutrale) Ordnungswidrigkeit "von Natur aus Grenzen gesetzt,,158 seien; genuine Unterschiede in der Qualität des Unrechtgehalts verhinderten, daß "sozialethisches Unrecht zu ethisch farblosem bloßen Ordnungsrecht"159 herabgestuft Vgl. Die Beschlüsse des 51. Deutschen Juristentages in Stuttgart, NJW 1976, S. 2009. Nach seinem Inkrafttreten im Jahre 1952 entwickelte sich das Ordnungswidrigkeitenrecht zum bevorzugten Mittel materiellrechtlicher Entkriminalisierung. Nachdem bereits im Jahre 1968 sämtliche Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt worden waren (Art. 3 EGOWiG; vgl. Kausch, S. 91), überführte nur kurze Zeit später das 2.StrRG anläßlich der Abschaffung der "Übertretungen" als dritter Deliktskategorie einige der verbliebenen Übertretungstatbestände in das OWiG; vgl. dazu bereits oben "Teil 3.C.I11.1. ". 154 Zur sog. Ordnungswidrigkeitenlösung vgl. Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung, S. 238 ff.; Arzt, JuS 1974, S. 695; Baumann, ZRP 1972, S. 273; derselbe, FS Peters, S. 10; Dreher, FS Welzel, S. 926 ff.; Eckl, ZRP 1973, S. 140 f.; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 259 ff.; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 910 ff.; Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 893 ff.; Kramer, ZRP 1974, S. 66; Naucke, DlT-Gutachten, D 85 ff.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 222; Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 253 ff.; vgl. auch Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 240 f. 155 Vgl. Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 893. 156 Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 256. 157 Vgl. dazu bereits oben "Teil3.D.IV.1.b)bb)"; vgl. auch Kausch, S. 102. 158 Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 47. 159 Dreher, FS Welzel, S. 929; vgl. auch Heinitz, FS Rittler, S. 334. Für eine gemischt qualitativ-quantitative Betrachtungsweise vgl. Gössel, DJT-Gutachten, D 41 m. w. N. 152

153

B. Bagate1lkriminalität

323

werden könne. Dazu heißt es bei Eser l60: "Nach dem traditionellen Verständnis der Ordnungswidrigkeiten als sozialethisch neutrale Mißachtung mehr ordnungstechnischer Interessen (können) schwerlich solche Delikte ,entkriminalisiert' werden, die durch die ganz handfeste Verletzung allgemein sozialnormativ anerkannter Rechtsgüter gekennzeichnet sind." Ob diese rein qualitative Betrachtungsweise, die auf der Vorstellung gründet, daß ein gewisser Kernbereich der Kriminalität einer entkriminalisierenden Umwertung schlichtweg entzogen sein muß, bei der Unterscheidung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten heute noch aufrechtzuerhalten ist, erscheint indes fraglich 161. Als vorrangiges Differenzierungskriterium bietet sich vielmehr das jeweilige Ausmaß der Rechtsgutsbeeinträchtigung - mithin ein quantitatives Moment - an 162, welches jedoch seinerseits im Einzelfall nicht frei von beachtlichen Abgrenzungsschwierigkeiten ist l63 . Überdies trägt sich die sog. Ordnungswidrigkeitenlösung mit einer Fülle weiterer Unzulänglichkeiten, die allesamt an der eingangs propagierten Attraktivität dieses Regelungsmodells zweifeln lassen. So dürfte etwa die im Falle der Umsetzung unvermeidbare Überfrachtung des Ordnungswidrigkeitenkataloges mit neuen Tatbeständen nicht nur zu Schwierigkeiten bei der rechtspraktischen Handhabung 164, sondern in der Folge auch zu einem weiteren Anstieg der gegenwärtig bereits stattfindenden "Vielbußerei" führen, die seinerzeit an die Stelle einer "Vielstraferei" getreten war und insoweit die einst im Zusammenhang mit dieser Entkriminalisierungsmethode gehegten Hoffnungen auf einen Rückgang der Geschäftsbelastung weitestgehend zunichte gemacht hatte l65 . Angesichts der kaum zu erwartenden Entlastungswirkung wiegen die demgegenüber sicher feststehenden Einbußen an verfahrensrechtlichen Garantien, die mit der Ablösung des Strafverfahrens durch das Ordnungswidrigkeitenverfahren einhergehen, umso schwerer. Nicht nur, daß die Verfahrensherrschaft fortan regelmäßig in der Hand einer Verwaltungsbehörde liegen würde, für die im rechtlichen Rahmen des OWiG durchgängig das Prinzip der Opportunität als Handlungsmaxime gilt l66 - wodurch wiederum dem Einfluß unsachlicher Motive Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 48. Vgl. Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 894; Naucke, DIT-Gutachten, D 88. Vgl. zur Annahme eines materiellen, qualitativen Unterschieds aber etwa Schmidt, Strafprozeßordnung 11, S.413. 162 Hirsch, FS Engisch, S. 319; derselbe, ZStW 92 (1980), S. 242 m. w. N.; Kausch, S. 95 m. w. N.; Krümpelmann, Die Bagatellde1ikte, S. 177; Lüderssen, Polizei und Strafprozeß, S. 221; Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 253 m. w. N.; vgl. auch LK-Tröndle, Vor § 38 Rn. 64; Schönke / Schröder-Stree, Vor 38 Rn. 35. 163 Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 894; LK-Tröndle, Vor § 38 Rn. 64; Schönke-SchröderStree, Vor § 38 Rn. 35. 164 Lampe, Wiedervereinigung I, S. 58 f., der im Zusammenhang mit einer zu befürchtenden Unübersichtlichkeit des Rege1ungskatalogs auch auf den damit einhergehenden Präventionsverlust hinweist. 165 Rieß, NStZ 1981, S. 2; vgl. auch Baumann, ZRP 1987, S. 175; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 243. 166 Dazu bereits oben "Tei12.B.I.1.". 160 161

21*

324

5. Teil: Reformvorschläge de legeferenda

die Tür weit aufgestoßen ist l67 - : Vielfach unzulängliche Ermittlungen seitens der Behörde l68 und die Tatsache, daß bereits der objektive Verstoß in aller Regel als Grund für eine Buße ausreicht, stellen den Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenrecht insgesamt verfahrensmäßig schlechter l69 . Darüber hinaus spricht sowohl aus spezial- als auch aus generalpräventiver Sicht die weitverbreitete Einschätzung der Bevölkerung von der Ordnungswidrigkeit als einem "Kavaliersdelikt,,170 gegen eine weitreichende Verlagerung des Rechtsgüterschutzes in dieses nicht sonderlich beachtete Rechtsgebiet. So birgt vor diesem Hintergrund die "Umetikettierung" von Bagatelldelikten zu Ordnungswidrigkeiten die Gefahr einer in jeglicher Hinsicht unerwünschten Herabsetzung von Hemmschwellen bei potentiellen (Wiederholungs-)Tatern sowie einer Überschreitung der "vom gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden gesetzen Toleranzgrenzen,,171. In Anbetracht seiner zahlreichen Unzulänglichkeiten war dieser Lösungsvorschlag daher auch zu Recht bei einer Abstimmung auf dem 51. Deutschen Juristentag deutlich unterlegen 172.

4. Ausbau des Rechtsinstituts der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ S9 StGB)

Das materiellrechtliche Institut der Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB spielt in der Rechtswirklichkeit der Gegenwart nicht die Rolle, die man sich von ihm erhoffen würde. Das mag zum einen am Ausnahmecharakter der Regelung liegen, den der Gesetzgeber durch die Schaffung der den Anwendungsbereich der Norm über Gebühr verengenden sog. Würdigkeitsklausel in § 59 I S. 1 Nr. 2 StGB herbeigeführt hat, zum anderen dürfte die Ausweitung prozessualer Einstellungsermächtigungen, durch die es zu zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen mit dem materiellrechtlichen Institut gekommen ist, wesentlich zum Bedeutungsverlust der Verwarnung mit Strafvorbehalt beigetragen haben l73 . Insbesondere wurde mit § 153 a StPO eine Regelung installiert, die nach nur kurzer Anlaufzeit zu der von seiten der Praxis bevorzugten Bewältigungsstrategie bei Bagatellkriminalität avanciert ist und die damit das Rechtsinstitut des § 59 StGB in diesem Bereich nachhaltig verdrängt hat l74. Dies ist nicht zuletzt angesichts der zahlreichen Eckl, ZRP 1973, S. 140. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 243. 169 Vgl. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 243 m. w. N.; Henwig, Geringfügigkeit, S. 261; Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 894; Naucke, DlT-Gutachten, D 92 ff. 170 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 244 m. w. N. 171 Kunz, Bagatellprinzip, S. 185; vgl. derselbe a. a. 0., S. 171 m. w. N.; ebenso Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 912; Lampe, Wiedervereinigung I, S. 61 f. 172 Vgl. Die Beschlüsse des 51. Deutschen Juristentages in Stuttgart, NJW 1976, S. 2009. 173 Hirsch, GS H.Kaufmann, S. 137 f. Zum damaligen Gesetzgebungsverfahren vgl. Baumann, IZ 1980, S. 465. 174 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 232 m. w. N.; Hanack, FS Ga11as, S. 360; Hirsch, GS H.Kaufmann, S. 138; Horn, NJW 1980, S. 106; Naucke, DlT-Gutachten, D 80; Rieß, ZRP 1983, S. 93 m. w. N.; Schöch, IR 1978, S. 74. 167 168

B. Bagatellkriminalität

325

Vorzüge bedauerlich, die das Institut der Verwarnung mit Strafvorbehalt aufzuweisen hat: So erbringt im Falle des § 59 StGB ein den Grundsätzen von Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit verpflichtetes, mit sämtlichen prozessualen Garantien ausgestattetes gerichtliches Verfahren zum einen den gewünschten Verwarnungseffekt und vermeidet dennoch gemäß § 32 11 Nr. 1 BZRG den sozialen Makel eines Vorbestraftseins. Weiterhin stellt der das Verfahren abschließende richterliche Schuldspruch ein rechtsstaatlich tragfähiges Fundament für eine mögliche Auflagenverhängung nach § 59 a StGB dar. Darüber hinaus runden eine unter Präventionsgesichtspunkten begrüßenswerte registermäßige Erfassung nach § 5 I Nr. 7 BZRG, die ökonomische Erledigungsform im Stratbefehlsverfahren nach § 407 11 Nr. 1 StPO sowie die bei § 59 StGB insgesamt geringere Gefahr einer Privilegierung wirtschaftlich und sozial kompetenter Taterkreise den insgesamt guten Eindruck ab, den dieses materiellrechtliche Rechtsinstitut zu vermitteln weiß!75. Angesichts dieser ausgewiesenen Referenzen wird vorgeschlagen, die Verwarnung mit Strafvorbehalt de legeferenda weiter auszubauen!76, um ihr im Anschluß durch Streichung der gegenwärtigen prozessualen Lösung die Fälle bagatellarischer Kriminalität zur Behandlung zuzuführen, die de lege lata von den §§ 153 ff. StPO abgeschöpft werden. Das insoweit gestärkte Rechtsinstitut des § 59 StGB soll dann künftig insbesondere den derzeitigen Platz des § 153 a StPO besetzen!77.

5. SektoraIe Lösungsansätze zur Bewältigung von Bagatellkriminalität

Eine weitere Variante einer materiellrechtlichen Entkriminalisierung von Bagatelldelinquenz wird in der Ausgliederung bestimmter Kriminalitätssektoren aus dem materiellen Strafrecht bei gleichzeitiger Überantwortung dieser Bereiche an den Zivilrechtsweg gesehen. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Rege1ungsmodelle entwickelt, die - bei unterschiedlich starker Akzentuierung ihrer materiellrechtlichen Grundausrichtung - allesamt die Herausnahme einzelner Deliktsbereiche aus dem Strafrecht zum Ziele haben. Mit dem "AlternativentwurfLadendiebstahl" und dem "Alternativentwurf-Betriebsjustiz" stehen nachfolgend zwei dieser Modelle zur Erörterung.

m Zu alledem vgl. Schöch, JR 1978, S. 74; vgl. auch Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 22 ff.; Baumann, JZ 1980, S. 469. 176 Konkrete Änderungsvorschläge finden sich u. a. bei Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 22 ff.; Baumann, JZ 1980, S. 464 ff.; vgl. auch Engels/Frister, ZRP 1981, S. 114; Kühl, Unschuldsvermutung, S. 118. 177 Baumann, JZ 1980, S. 464 ff.; derselbe, ZRP 1987, S. 176.

326

5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

a) AE-Ladendiebstahl aus dem Jahre 1974 Der AE-Ladendiebstahl aus dem Jahre 1974 178 sieht die privatrechtliche Sanktionierung von Ladendiebstählen und solcher Tatbestände vor, die im engen Zusammenhang mit der widerrechtlichen Entfernung einer Sache aus einem Warenhaus stehen und bei denen der durch die Tat verursachte Schaden eine Obergrenze von 500 DM nicht übersteigt l79 . Zusätzlich zur Herausgabeverpflichtung soll dem Täter eine Zahlungsverpflichtung in Höhe des doppelten Ladenpreises der Ware, mindestens aber in Höhe eines pauschalierten Betrages von 50 DM auferlegt werden, die er zu pönalen Zwecken und zur Abdeckung von etwaig entstandenen Verfolgungskosten an den bestohlenen Ladeninhaber zu entrichten hat l80 . Dem Opfer der Bagatelltat ist weiterhin die Möglichkeit eröffnet, die amtliche Registrierung des Ladendiebes in einem zentralen Sanktionsregister zu veranlassen, das nach Vorstellung des Alternativentwurfs künftig zur besseren Verfolgung von Wiederholungstätern und zum Zwecke der Präventionssteigerung geführt werden SOll181. Wird der Betroffene innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren zum dritten Mal auffällig, sieht der Entwurf eine Überstellung des riickfälligen Täters an die staatliche Strafverfolgung vor l82 . Die Zielsetzung des Alternativentwurfs ist ambivalent: Der geordnete "Rückzug des Strafrechts,,183 im Sektor ,,Ladendiebstahl" zielt einerseits formal auf eine Entkriminalisierung, andererseits aber materiell auf eine Steigerung der Abschrekkungswirkung l84 , welche die Entwurfsverfasser offensichtlich der staatlichen Strafrechtspflege in diesem speziellen Bereich nicht länger zutrauen 185. Indem (staatlicher) Rechtsgüterschutz fortan durch zivilrechtliche Sanktionen betrieben werden soll, zielt man insbesondere auch auf einen verbesserten Schutz des Opfers, dem durch die Alternativlösung ein klares Regelungskonzept zur Wahrung seiner finanziellen Interessen an die Hand gegeben wird l86 .

178

1974.

Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl, Recht und Staat, Heft 439,

179 Zum AE-Ladendiebstahl (auch: AE-GLD) vgl. u. a. die Darstellungen bei Ahrens, Hauptverhandlung, S. 231 ff.; Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 31 f.; Arzt, JuS 1974, S. 696 ff.; derselbe, JZ 1976, S. 54 ff.; Berckhauer, DRiZ 1976, S. 235 ff.; Geerds, FS Dreher, S. 547 f.; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 257 ff.; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 239 f.; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 912 ff.; Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 891; Kunz, Bagatellprinzip, S. 174 ff.; Naucke, DIT-Gutachten, D 94 ff.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 222 ff. 180 Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 31; Arzt, JuS 1974, S. 696; derselbe, JZ 1976, S.54. 181 Arzt, JuS 1974, S. 697; derselbe, JZ 1976, S. 54. 182 Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 32; Arzt, JuS 1974, S. 696. 183 Arzt, JZ 1976, S. 54. 184 Kunz, Bagatellprinzip, S. 178. 185 Naucke, DJT-Gutachten, D 98 f. m. w. N. 186 Arzt, JZ 1976, S. 58.

B. Bagatellkriminalität

327

Gegen einen solchen Weg der materiellrechtlichen Entkriminalisierung von Bagatellen lassen sich aber eine Reihe gewichtiger Argumente anführen, die der Qualifizierung des Entwurfs als ein taugliches Alternativkonzept zur gegenwärtigen prozessualen Regelung am Ende entgegenstehen: Wenngleich schon die Festlegung einer fixen Schadensobergrenze willkürlich und zudem "kriminalpolitisch absurd,,187 erscheint, da in ihr eine Art "Risikoprämie,,188 für Serientäter gesehen werden kann, liegt jedenfalls der - damals im Jahre 1974 - vorgesehene Anwendungsbereich mit 500 DM weit über dem, was vernünftigerweise noch als Bagatelle zu klassifizieren ist l89 . Schwer wiegt zudem der Vorwurf, daß durch diese Form einer staatlichen Anerkennung der Sozialkontrolle durch Private im Bereich des Strafrechts l90 längst überwundenen Ansätzen von Gesellschaftsjustiz und Privatstrafe zu neuen Ehren verholfen würde l91 . Indem Verfahrensgestaltung und Sanktionshöhe weitestgehend in das Belieben des Opfers gestellt werden, wird der Täter der Bagatelltat nahezu schutzlos einer Sanktionsinstanz ausliefert, der es bereits konstellationsbedingt an der aus rechtsstaatlicher Sicht so notwendigen Distanz zum Sanktionierten fehlt l92 . Angesichts der Formlosigkeit des Verfahrens sowie der bedenklichen Personalunion von ermittelndem und sanktionierendem Funktionsträger entsteht neuerlich Raum für willkürliche Entscheidungen und damit insgesamt ein bunter Strauß an Kritikpunkten, wie er zuvor bereits sowohl der gegenwärtigen prozessualen Lösung als auch Teilen des Ordnungswidrigkeitenmodells entgegenzuhalten war 193 . Eine weitere Parallele zum letztgenannten Lösungsansatz stellt zudem die hier gleichsam akute praktische Verobjektivierung des Tatvorwurfs dar, die etwa vorhandene Unterschiede in den Tatmodalitäten sowie täterspezifische Gesichtspunkte der modemen Kriminalpolitik weitestgehend unberücksichtigt läßt und insbesondere auf Sonderregelungen zugunsten Jugendlicher und in der Schuldfähigkeit Beschränkter verzichtet l94 . Unzulässigerweise privilegiert wird hingegen erneut der wirtschaftlich und sozial kompetente Täter, der

187 Geerds, FS Dreher, S. 548. Vgl. auch Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 240; Lange, JR 1976, S. 178. 188 Geerds, FS Dreher, S. 548; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 913. 189 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 236 m. w. N.; Berckhauer; DRiZ 1976, S. 235; Geerds, FS Dreher, S. 548; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 240; Kunz, Bagatellprinzip, S. 178; Lange, JR 1976, S. 179; Rössner; Bagatelldiebstahl, S. 223. 190 Berckhauer; DRiZ 1976, S. 235. 191 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 240; Kunz, Bagatellprinzip, S. 175; vgl. auch Henwig, Geringfügigkeit, S. 259; Kramer; ZRP 1974, S. 65. 192 Kunz, Bagatellprinzip, S. 175; vgl. auch Henwig, Geringfügigkeit, S. 258. 193 Vgl. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 240; ebenso Kaiser; ZStW 90 (1978), S. 891; Kunz, Bagatellprinzip, S. 175; Naucke, DlT-Gutachten, D 102. 194 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 236 m. w. N.; Berckhauer; DRiZ 1976, S. 235; Geerds, FS Dreher, S. 548; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 240; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 913; Kaiser; ZStW 90 (1978), S. 891; Kunz, Bagatellprinzip, S. 178 f.; Naucke, DlT-Gutachten, D 102.

328

5. Teil: Reformvorschläge de legeferenda

sich der "unerfreulichen Angelegenheit" leichter durch Zahlung der veranschlagten Summe entziehen kann als ein finanziell weniger gut gestellter Tater l95 . Eine weitere offensichtlich ungerechtfertigte Privilegierung zeichnet sich zudem gegenüber anderen - aufgrund ihres Deliktsgehalts durchaus vergleichbaren - Bagatelldiebstählen ab, die außerhalb des sektoralen Regelungsbereichs des Entwurfs liegend von dieser Entkriminalisierungsmaßnahme ausgenommen sind l96 . Dem "Feuerlösch-Denken,,197 einer derart sektoral begrenzten Lösung ist des weiteren stets die Gefahr inhärent, den "Leidensdruck", der sich im Zusammenhang mit einer unbefriedigenden Rechtssituation einstellen mag, zwar "ambulant" zu entschärfen, durch die Vordergründigkeit der Maßnahme letztlich aber auch die Dringlichkeit der Entwicklung eines Gesamtmodells zu kaschieren l98 . Auch dieser Regelungsvorschlag unterlag mithin zu Recht einer Abstimmung auf dem 51. Deutschen Juristentag 199.

b) AE-Betriebsjustiz aus dem Jahre 1975 Einen mehr vom Verfahrensrecht ausgehenden (sektoralen) Ansatz zur künftigen Behandlung bagatellarischer Delinquenz stellt der im Jahre 1975 vorgelegte Entwurf eines Betriebsjustizgesetzes dar2OO . Hiernach soll bei kleineren Vermögensdelikten im innerbetrieblichen Bereich eine neu einzurichtende Schiedsstelle auf Antrag der Geschäftsleitung, des Betriebsrats oder des Verletzten in einem besonderen, betriebsinternen Verfahren an die Stelle staatlicher Strafverfolgung treten und ausgestattet mit einem Sanktionsarsenal, das von einer bloßen Verwarnung über eine Geldbuße bis hin zur Kündigung reicht, außergerichtlich über die bagatellarische Verfehlung des Betriebsangehörigen befinden. Indem das Regelungsmodell vorsieht, die Konfliktbewältigung innerhalb der betroffenen sozialen Gruppe zu belassen, soll zum einen die dem Bagatelltäter im Falle öffentlicher Bestrafung drohende Stigmatisierung vermieden und ihm stattdessen durch die "besondere soziale Befriedungschance,,201, die in der konstellations bedingten Nähe des Verfahrensträgers zu Tat und Tater begründet ist, ein attraktives internes Resozialisierungsangebot unterbreitet werden 202 . Zum anderen vermag der Weg interner Be195 Berckhauer; DRiZ 1976, S. 235; Hertwig, Geringfügigkeit, S. 258; Naucke, DJT-Gutachten, D 104. 196 Ahrens, Hauptverhandlung, S. 236; Arzt, JuS 1974, S. 697; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 240; Naucke, DJT-Gutachten, D 104. 197 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 242. V gl. auch Hertwig, Geringfügigkeit, S. 258 f. 198 Vgl. Ahrens, Hauptverhandlung, S. 238 m. w. N.; Rössner; Bagatelldiebstahl, S. 225. 199 Vgl. Die Beschlüsse des 51. Deutschen Juristentages in Stuttgart, NJW 1976, S. 2009. 200 Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz, Recht und Staat, Heft 447/448, Tübingen 1975. 201 Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 915.

B. Bagatellkriminalität

329

mühungen um die Wiederherstellung des Betriebsfriedens unter Umständen besser die betriebseigenen Interessen zu wahren, wie sie beispielsweise in der Erhaltung einer für den Betrieb wichtigen Arbeitskraft begründet sein können203 . Eine einheitliche gesetzliche Grundlage für die bereits zahlreich praktizierten, dabei aber unterschiedlich ausgestalteten innerbetrieblichen Sanktionierungssysteme würde den Beteiligten zudem eine Steigerung an Verfahrenssicherheit einbringen 204. Demgegenüber gilt es zu bedenken, daß sich ein derartiges Regelungskonzept nur allzu leicht in die Nähe von Gesellschaftsjustiz begibt, wie sie kennzeichnend für unlängst überwundene sozialistische Gesellschaftsordnungen war205 . Gerät die Betriebszugehörigkeit neben ihrer Primärfunktion als Erwerbsquelle zu einem Instrument sozialer Kontrolle, ist dies - gerade auch im Hinblick auf die erwartbaren Szenarien gegenseitigen Mißtrauens und Überwachens unter den Beschäftigten nicht nur dem allgemeinen Betriebsklima abträglich, sondern verschärft darüber hinaus die qua Rechtsverhältnis ohnehin bestehende Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber206 . Ein im Ausgang gutgemeintes Entkriminalisierungsanliegen verkehrt sich ins Gegenteil, wenn - wie im Falle der Betriebsjustiz - am Ende eine faktische Verschärfung der Reaktionen bei gleichzeitiger Verschmälerung der Verteidigungsmöglichkeiten Ergebnis der Reformbemühungen ist207 . Die von den Verfassern des Entwurfs vorgesehene Sanktionskompetenz der innerbetrieblichen Schiedsstellen steht zudem im Konflikt mit dem staatlichen Rechtsprechungsmonopol208 und ist wohl nicht zuletzt deshalb gerade auch auf die verständliche Ablehnung der Gewerkschaften gestoßen 209 . Der "AE-Betriebsjustiz" ist insgesamt besehen ein weiteres Beispiel für ein punktuelles Kurieren an Einzelsymptomen, das notwendig zu Ungleichbehandlungen bei vergleichbar gelagerten Fällen führen muß und das des weiteren den Blick auf eine Gesamtlösung der Bagatellkriminalitätsproblematik verstellt21O. Sektorale Regelungsalternativen sind - unabhängig von ihren jeweils spezifischen Unzulänglichkeiten - stets Stückwerk und stehen im Verdacht, die Entwicklung eines Gesamtkonzepts zu behindern.

Kaiser; ZStW 90 (1978), S. 892; Lüderssen, Polizei und Strafprozeß, S. 223 f. Lüderssen, Polizei und Strafprozeß, S. 223. 204 Vgl. Kaiser; ZStW 90 (1978), S. 891; Kapahnke, Opportunität und Legalität, S. 39; Lüderssen, Polizei und Strafprozeß, S. 223 ID. w. N. 205 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 241; Kunz, Bagateilprinzip, S. 180 f. 206 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 241; Kunz, Bagateilprinzip, S. 182. 207 Vgl. Kunz, Bagateilprinzip, S. 182. 208 Kunz, Bagateilprinzip, S. 180. 209 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 242. 210 Eser; Geseilschaftsgerichte, S. 47; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 241; Kaiser; ZStW 90 (1978), S. 892; Kunz, Bagateilprinzip, S. 184; vgl. auch Rieß, Vereinfachte Verfahrensarten, S.122. 202 203

5. Teil: Reformvorschläge de legeferenda

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6. Präzisierung und Übernahme der §§ 153, 153 a StPO in das materielle Recht

Ein so1chennaBen favorisiertes Gesamtregelungskonzept, welches zunächst sämtliche bagatellarischen Verhaltensweisen differenziert zu erfassen sucht und anschließend einer dem jeweiligen Beachtlichkeitsgrad angemessenen Reaktion zuführt, könnte seinen Ausgang in einer Präzisierung der gegenwärtigen §§ 153, 153 a StPO bei anschließender Übernahme der Vorschriften in den Allgemeinen Teil des StGB nehmen 211 • In diesem Zusammenhang müßten in einem ersten Schritt mit den unbedingten und mit den bedingten Bagatellen die zwei in ihrem Beachtlichkeitsgrad divergierenden Bereiche bagatellarischer Delinquenz voneinander abgegrenzt werden, wobei insbesondere eine Eingrenzung des de lege lata weit über die Erfassung bedingter Bagatellen hinausgehenden Regelungsbereichs des § 153 a StPO zu erfolgen hätte212 • Um dem gegenwärtigen Vorwurf einer weitestgehenden Unbestimmtheit der Anwendungsvoraussetzungen zu begegnen, ist de lege ferenda möglichst präzise festzulegen, wann ein tatbestandiich erfaBtes Verhalten als unbedingt bagatellarisch und wann wiederum als nur bedingt bagatellarisch einzustufen ist. Als systematischer Anknüpfungspunkt zur Festlegung absoluter respektive bedingter Geringfügigkeit dient - nach Krümpelmann 213 - eine quantitative Bewertung der Tat anhand der einzelnen Komponenten des Handlungs- und Erfolgsunwerts sowie der Schuld. Sowohl Handlungs- als auch Erfolgsunwert haben Einfluß auf die Schuldkomponente und müssen am Ende den jeweils vorzugebenden Anforderungen genügen, damit der Tater in den Genuß eines vollständigen Sanktionsverzichts oder aber einer gesonderten strafrechtlichen Behandlung gelangen kann 214• Betrachtet man nun innerhalb der verschiedenen Deliktsgruppen einerseits den Taterfolg, andererseits die Art und Weise der Tathandlung - sowie bei Gefährdungsdelikten den Grad der Gefahr -, so lassen sich gerade im Bereich der Eigentums- und Vennögensdelikte bei der überwiegenden Anzahl der Tatbestandsmerkmale quantitative Abstufungen vornehmen, die den bedingten oder aber den unbedingten Bagatellfall beschreiben2l5 . Beispielsweise hängt die Einstufung der Beachtlichkeit eines Diebstahls wohl nicht zuletzt vom wirtschaftlichen Wert der gestohlenen Sache ab, der als quantitativ meßbarer Faktor eine Klassifizierung des Unrechtsgehalts ebenso erlaubt wie Art und Intensität der tatsächlichen Sachherrschaft des Opfers im Zeitpunkt der Wegnahme 216• Weiteren Aufschluß über den möglichen Kausch. S. 242 ff.; Naucke. DIT-Gutachten, D 115 ff. Zum ursprünglich vom Gesetzgeber intendierten Regelungsbereich des § 153a StPO und der späteren Ausdehnung bis weit in den Bereich mittlerer Kriminalität vgl. oben "Teil 3.C.ßI.l." bzw. "TeiI3.D.I.2.a)bb)". 213 Krümpelmann. Die Bagatelldelikte, S. 36, 62 ff. 214 Krümpelmann. Die Bagatelldelikte, S. 65, 106. Vgl. dazu auch bereits oben "Teil 3.B.III.l." sowie "TeiI5.B.n.l.a)". 215 Krümpelmann. Die Bagatellde1ikte, S. 113 ff. 216 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 113. 211

212

B. Bagatellkriminalität

331

Bagatellcharakter einer Tat geben zudem etwaige Qualifizierungs- und Privilegierungstatbestände eines Delikts217 . Ähnliche Ansatzpunkte für eine quantitative Abstufung im Beachtlichkeitsgrad bieten auch die Tatbestände der Unterschlagung und des Betrugs218 . Ganz allgemein kann gesagt werden, daß eine Tatbestandsverwirklichung weniger beachtlich und dann auch regelmäßig im Bereich der unbedingten Bagatellen anzusiedeln sein wird, wenn ein "Grenzfall der Subsumtion" vorliegt219 . So ist die Entscheidung darüber, wann im Einzelfall eine formale Verwirklichung des Tatbestands unbedingt geringfügig ist und infolgedessen sanktionslos zu bleiben hat, nicht selten (auch) eine Frage der Verkehrsanschauung und ergibt sich - wenn man beispielsweise das Kriterium des Taterfolgs als quantitativen Bagatellisierungsmaßstab heranzieht - etwa anhand eines Vergleichs des eingetretenen Schadens mit den gegenwärtig vorherrschenden Preisstrukturen 22o • Im tatbestandlichen Bereich von Körperverletzungen kann möglicherweise die Auffassung der Medizin über den Schweregrad einer Verletzung Aufschluß über die sachgerechte Einstufung einer weniger beachtlich erscheinenden Tatbestandsverwirklichung als bedingte oder unbedingte Bagatelle geben 221 . Um den neu auszugestaltenden Vorschriften weiterhin die im Hinblick auf Prävention und Atypik notwendige Flexibilität zu erhalten, müßten die Bagatellisierungsvoraussetzungen rechtstechnisch als Regelbeispiele ausgeformt werden. Da es sich bei der Bagatellisierungsproblematik - wie gesehen - um eine Frage des Unrechtsgehalts und des jeweiligen Schuldgrads handelt, müßten die insoweit reformierten Vorschriften der §§ 153, 153 a StPO im Anschluß in den Allgemeinen Teil des StGB eingestellt werden 222 . Auf diese Weise ließe sich nicht nur der zu Recht mit Nachdruck kritisierte weite Beurteilungsspielraum der Strafverfolgungsbehörden erheblich beschneiden, sondern es würde wegen der lustiziabilität zugleich dem verfassungsrechtlichen Bedürfnis nach effektiver Rechtsschutzgewährung Rechnung getragen und mithin eine weitere richtige Konsequenz aus der Kritik an der lex lata gezogen werden. Denn wären Bagatellisierungsentscheidungen künftig reine Rechtsanwendung 223 , würde dies nicht nur dazu führen, daß im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen Staatsanwaltschaft und Gericht das Strafverfahren nach § 17011 StPO bzw. §§ 206 a, 260 III StPO einzustellen hätten 224 : viel-

Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 113 m. w. N. Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 114 ff. mit weiteren Beispielen für eine quantitative Abstufung innerhalb der Urkundsdelikte, der Aussagedelikte sowie im einzelnen für die §§ 113, 142,259 StGB. 219 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 118. 220 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 119. 221 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 119 m. w. N. 222 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 240; vgl. ferner Meyer, GA 1997, S. 407. 223 Vgl. Kausch, S. 247; Zipf, FS Peters, S. 501. 224 Vgl. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 140. 217

218

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5. Teil: Refonnvorschläge de legejerenda

mehr ließen sich diese Entscheidungen darüber hinaus in einem Rechtsmittelverfahren überprüfen 225 • Dennoch ist auch das vorbezeichnete Modell nicht über jeden Zweifel erhaben. Zwar entscheidet die Staatsanwaltschaft bei der vorgesehenen Einstellung aus Rechtsgründen im absoluten Geringfügigkeitsbereich nur noch marginal über Strafbarkeitsgrenzen 226, da angesichts der de lege ferenda zu fordernden Konkretisierung der Bagatellisierungsvoraussetzungen durch die Hand des Gesetzgebers allenfalls eine minder bedeutsame Zone ausfüllungsbedürftiger Ungenauigkeiten zurückbleiben würde. Die konkrete Beurteilung der Geringfügigkeit im Einzelfall ist aber abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, die sich innerhalb der Strukturen eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens bisweilen nur unzureichend klären lassen227 • Da des weiteren die künftige Behandlung der sanktionsbedürftigen bedingten Bagatellen aufgrund massiver verfassungsrechtlicher Vorhaltungen nicht ohne eine Rückübertragung der staatsanwaltschaftlichen Sanktionskompetenz auf den Richter auskommen wird228 , bietet es sich an, die gesamte Bagatellkriminalitätsproblematik de lege ferenda auf die gerichtliche Ebene zu verlagern. So könnte im Rahmen eines im Anschluß zu erörternden materiell-verfahrensrechtlichen Gesamtkonzepts der Inhalt der §§ 153, 153 a StPO in präzisierter und restringierter Form in den Allgemeinen Teil des StGB eingestellt und mit einem (vereinfachten) Verfahren verbunden werden, in dem ein Gericht über die Straflosigkeit bei unbedingten Bagatellen und über eine spezielle, möglicherweise am derzeitigen Rechtsfolgenkatalog des § 153 a StPO orientierte Sanktionierung des Bagatelltäters entscheidet. Die Übernahme der §§ 153, 153 a StPO in das materielle Recht ist demzufolge allenfalls ein erster Schritt auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Konzept zur künftigen Behandlung von Bagatellkriminalität. 7. Stellungnahme

Die materiellrechtliche Verortung eines Geringfügigkeitsprinzips ist im Grunde der richtige erste Schritt auf dem Weg zu einer künftigen Behandlung von Bagatellkriminalität. Erst die systemgerechte Verbringung der Problematik auf die materiellrechtliche Ebene vermeidet das angesichts materieller Überreichweiten bestehende prozessuale Korrekturbedürfnis mit all seinen im Vorfeld aufgezeigten rechtsstaatlichen Defiziten. Um sich jedoch nicht dem drohenden Vorwurf einer staatlichen Überreaktion auszusetzen, kann ein Lösungsansatz nicht auf eine materiellrechtliche Kompo225 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 232; Naucke, DIT-Gutachten, D 116 Fn. 357; vgl. auch Ahrens, Hauptverhandlung, S. 256; Zipf, FS Peters, S. 502. 226 Vgl. zu diesen Bedenken noch bei § 42 öStGB oben "TeiI5.B.III.2.". 227 Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 147 f. Vgl. dazu auch bereits oben "TeiI3.D.lY.2.". 228 Dazu im einzelnen oben "Teil3.D.lY.".

B. Bagate1lkriminalität

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nente beschränkt bleiben, sondern muß - nicht zuletzt aufgrund justizökonomischer Zwänge - um eine verfahrensrechtliche Entsprechung ergänzt werden. Im Anschluß soll daher ein Lösungsansatz zur Diskussion gestellt werden, der die Vorzüge einer materiellrechtlichen Regelung mit begleitenden Reformen auf der verfahrensrechtlichen Ebene kombiniert und als ganzheitliches Modell zur künftigen Behandlung sowohl absoluter als auch relativer Geringfügigkeiten antritt.

IV. Materiellrechtlich-verfahrensrechtlicher Lösungsansatz Ein ganzheitliches Lösungskonzept nimmt seinen Ausgang bei der materiellrechtlichen Verankerung einer Abstufung unterschiedlich beachtlichen deliktischen Verhaltens und verknüpft diese mit einer möglichst sachgerechten Entsprechung auf der verfahrensrechtlichen Ebene. Die konkrete Ausgestaltung dieser beiden Komponenten ist nachfolgend zu erörtern.

1. Wiedereinführung einer dritten Deliktskategorie der Straftaten als materiell rechtlicher Anknüpfungspunkt einer Gesamtlösung

Um dem Dilemma materieller Überreichweiten des Strafrechts sowie - ganz allgemein - dem Fehlen hinreichender Differenzierungen für deliktische Verhaltensweisen am unteren Ende der Skala der Strafwürdigkeit abzuhelfen, wird vorgeschlagen, de lege ferenda eine neue Deliktskategorie zu konzipieren und als Ausdruck der Wertdifferenz des beurteilten Verhaltens in das materielle Recht aufzunehmen. Weniger beachtliche, aber de lege lata dennoch unter einen Vergehenstatbestand subsumierbare Verhaltensweisen sollen auf diesem Wege aus dem Kriminalstrafrecht herausgelöst und - in einer eigenen Kategorie zusammengefaßt - einem in jeglicher Hinsicht verhältnismäßigen staatlichen Reaktionsprogramm zugeführt werden. Eine derart sichtbare, materiellrechtliche Ausgliederung einer möglichst präzise abzuschichtenden Stufe deliktischen Verhaltens, die beispielsweise mit "Verfehlungen" überschrieben werden könnte 229 , würde zur Folge haben, daß - bei justiziabler Grenzziehung 230 - in diesen Fällen künftig von vornherein die Strafbarkeit und nicht nur (fakultativ) die Verfolgbarkeit entfallen würde 231 • Als Standort einer solchen Regelung wird der Allgemeine Teil des StGB vorgeschlagen. Es ist in diesem 229 Baumann, FS Peters, S. 10; Berckhauer; DRiZ 1976, S. 237; Dencker; JZ 1973, S. 151; Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 147, 176; derselbe, FS Lange, S. 828 ff.; derselbe, ZStW 92 (1980), S. 246 ff.; Lampe, Wiedervereinigung I, S. 63 f.; Rössner; Bagatelldiebstahl, S. 215; Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 255. Vgl. zur Bildung einer eigenen Kategorie abweichenden Verhaltens auch Zipf, Kriminalpolitik, S. 74. 230 Vgl. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 248. 231 Vgl. Grünwald, ZStW 82 (1970), S. 266.

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5. Teil: Refonnvorschläge de legeferenda

Zusammenhang daran zu denken, § 12 StGB um die Kategorie der "Verfehlungen" zu erweitern 232 , oder aber die den "Verfehlungen" eigene Besonderheit einer fehlenden Anbindung an spezifische Deliktstatbestände im Besonderen Teil durch die Schaffung einer neuen, selbständigen Vorschrift - beispielsweise einem § 12 a StGB - besonders hervorzuheben 233 . Eine tatbestandliche Verselbständigung der "Verfehlungen" erscheint dagegen in hohem Maße unzweckmäßig und ist von daher in der konkreten Umsetzung einer allgemeinen, deliktsübergreifenden Regelung unterlegen 234 . Der Einführung einer dritten Deliktskategorie, die in Form eines übergreifenden Geringfügigkeitsprinzips weniger beachtliche Delinquenz aus dem Kriminalstrafrecht herausnimmt, stehen Vorbilder in anderen Rechtsordnungen zur Seite. So haben die meisten ausländischen Rechtsordnungen weiterhin eine Deliktskategorie der Übertretungen, und im DDR-StGB gab es eine Kategorie der Verfehlungen 235 . Die im Zusammenhang mit diesem Lösungsvorschlag geäußerte Kritik236 übersieht, daß es sich bei der geplanten Einführung einer dritten De1iktskategorie der "Verfehlungen" zum einen nicht um eine Erweiterung der bestehenden kriminalstrafrechtlichen Deliktsstufen, sondern um eine Kategorisierung "unter der Schwelle des Kriminalstrafrechts,,237 handelt, und daß zum anderen bei der Konzipierung eines ganzheitlichen Bagatell(straf-)rechts in keiner Weise ein überkommenes Regelungsmodell mit all seinen Unzulänglichkeiten "adoptiert" werden so1l238, wofür es zudem ganz offensichtlich an den weiteren Rahmenbedingungen fehlen würde 239 . Mithin geht es bei diesem Vorhaben weder darum, in reaktionärer Haltung "das Rad der Rechtsgeschichte,,240 zurückzudrehen und eine Renaissance der früheren "Übertretungen" einzuleuten241 , noch soll mit der Verwendung beVgl. Gössel, DIT-Gutachten, C 41 f.; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 247. So Kunz, Bagatellprinzip, S. 339. 234 Vgl. Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 148; derselbe, FS Lange, S. 831 m. w. N.; derselbe, ZStW 92 (1980), S. 248. 235 Vgl. zu den §§ 3,4 des früheren StGB der DDR, die eine von den Kriminalstraftaten abgetrennte Kategorie der "Verfehlungen" vorsahen, Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 147; Gössel, DIT-Gutachten, D 41 f.; Grünwald, ZStW 82 (1970), S. 266; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 184 ff. In gleicher Weise verfügt mit den .. Übertretungen" das gegenwärtige französische Strafrecht über eine selbständige dritte De1iktskategorie, vgl. Gewaltig, action civile, S. 3. 236 Vgl. beispielsweise Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 256, der eine terminologische Anlehnung einer dritten Deliktskategorie an die §§ 3, 4 StGB/DDR augenscheinlich untrennbar mit einer - zugegebenennaßen unerwünschten - Wiederbelebung der seinerzeit in der DDR zur Behandlung dieser bagatellarischen Verhaltensweisen berufenen Gesellschaftsgerichte verbunden sieht. Vgl. auch Dreher, FS Welzel, S. 926 Fn. 31, der in diesem Zusammenhang auf "ein völlig anderes Reaktionssystem und eine ganz andere Gerichtsverfassung" der (ehemaligen) DDR verweist. 237 Hirsch, FS Lange, S. 829. Vgl. auch Zipf, Kriminalpolitik, S. 74. 238 Hirsch, FS Lange, S. 829; derselbe, ZStW 92 (1980), S. 247 Fn. 90. 239 Vgl. Grünwald, ZStW 82 (1970), S. 264. 240 So der Vorwurf von Dreher, FS Welzel, S. 926. 232 233

B. Bagatellkriminalität

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stimmter Termini eine inhaltliche Anleihe bei kriminal politischen Gesamtprogrammen vergangener sozialistischer Gesellschaftsordnungen genommen werden 242 . Es geht vielmehr darum, die im Anschluß zu konzipierende sachgemäße, außerstrafrechtliche Behandlung bagatellarischer Delinquenz auf eine tragfähige, materiellrechtliche Grundlage zu stellen, wobei die konkrete Benennung der zu diesem Zwecke vorgesehenen dritten Deliktskategorie wertfrei und unbelastet, d. h. ohne gleichzeitige programmatische Festlegung verstanden sein will. Gewichtiger erscheint eine Kritik hingegen, wenn sie nicht am Grundgedanken der Schaffung einer dritten Deliktskategorie, sondern mehr bei der Umsetzungsproblematik ansetzt243 • So ist zugegebenermaßen die konkrete Grenzziehung zwischen unbedingt und bedingt bagatellarischer Delinquenz, sowie die zwischen Bagatellen und der im Beachtlichkeitsgrad darüberliegenden leichten bis mittelschweren Kriminalität schwierig und wahrscheinlich nicht ohne Briiche zu bewerkstelligen. Zunächst einmal gilt es, einen geeigneten Abgrenzungsmaßstab zu finden. Da sich die Abstufung kriminalstrafrechtlicher Deliktskategorien stets nach dem verwirklichten Unrecht einer Tat richtet 244 , liegt es nahe, auch zur Abgrenzung bagatellarischer Verhaltensweisen vom Kriminalunrecht den insoweit geringeren Handlungs- und Erfolgsunwert der (Bagatell-)Tat als Abgrenzungsmaßstab heranzuziehen 245 und dabei weiterhin auf die Kompensationsfähigkeit des geringeren Unrechts mit den de lege ferenda gleichsam zu konzipierenden besonderen, außerstrafrechtlichen Unrechtsfolgen abzustellen. Durch eine entsprechende Begrenzung des Rechtsfolgenausspruchs ließe sich zudem eine Beschränkung des besonderen, außerstrafrechtlichen Regelungsprogramms auf Bagatellen erzielen 246 : Indem das Höchstmaß der Kompensierbarkeit von Unrecht gesetzlich festgelegt wird, läßt sich mit den dieserart beschriebenen bedingt-bagatellarischen Verhaltensweisen inhaltlich der Bereich nach oben hin abgrenzen, für den ein Ausscheiden aus der (Kriminal-)Strafbarkeit (noch) zu einer nichtstrafrechtlichen Ersatzreaktion führen kann, was wiederum im Urnkehrschluß den im Beachtlichkeitsgrad

Vgl. Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 215. Hirsch, FS Lange, S. 829; derselbe, ZStW 92 (1980), S. 248 Fn. 90; vgl. auch Lampe, Wiedervereinigung I, S. 56, 63 Fn. 22. 243 So beispielsweise Schlüchter, GA 1994, S. 404, wonach sich das Vorhaben einer materiellrechtlichen Verselbständigung bagatellarischer Verhaltensweisen mittels Schaffung einer eigenen Kategorie der "Verfehlungen" "schon vom Ansatz her (vor) schier unlösbare Abgrenzungsprobleme" gestellt sehe. 244 Vgl. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 249 Fn. 94 m. w. N. 245 Hertwig, Geringfügigkeit, S. 265. Dazu Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 248: "Durch das Erfordernis des geringen Erfolgsunwerts werden alle objektiven Unrechtsfolgen der Tat einbezogen; und beim Handlungsunwert findet der Grad der aufgewandten deliktischen Energie Beriicksichtigung." Vgl. auch AE-EV, S. 81 f.; Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 878; ebenso Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 94. 246 Kunz, Bagatellprinzip, S. 325, der die gesetzlich zulässige Geldauflage de lege ferenda auf "höchstens 300 DM" begrenzen will. 241

242

5. Teil: Refonnvorschläge de legeferenda

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darüberliegenden Fällen leichter bis mittlerer Kriminalität de lege ferenda verwehrt bleiben so1l247. Der derart abgegrenzte Bagatellbereich ist im Anschluß einer dem jeweiligen Beachtlichkeitsgrad angemessenen staatlichen Reaktion zuzuführen. Wahrend dabei absolute Geringfügigkeiten vollständig sanktionslos zu stellen sind, müßte für die bedingten Bagatellen, bei denen trotz insoweit erhöhter Beachtlichkeit eine Reaktion mit der Härte der Kriminalstrafe jedenfalls unverhältnismäßig wäre, de lege ferenda ein besonderer Sanktionskatalog konzipiert werden 248 , der sich bei seiner inhaltlichen Ausgestaltung im wesentlichen an dem Sanktionsarsenal des derzeitigen § 153 a StPO orientieren könnte 249 , und mit dessen Hilfe dem Rechtsanwender ein dem Bagatellcharakter dieses Unrechts gerecht werdendes, "abgewogenes, wohldosiertes und darum einzelfallgerechtes Reaktionsverhalten,,25o ermöglicht werden würde. So könnte man beispielsweise formulieren 251 : (1) "Verfehlungen" sind rechtswidrige Taten, die einen Vergehenstatbestand erfüllen, sofern wegen des nur als leicht zu bewertenden Unrechts im Einzelfall

1. die Ahndung der Tat mit einer Geldbuße im Höchstmaß von 30 Tagessätzen 252 zugunsten der Staatskasse 253 ,

247 Damit könnte eine Restriktion des Anwendungsbereiches erzielt und damit ein Regelungsrahmen abgesteckt werden, der in etwa der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers bei der Schaffung des § 153a StPO im Jahre 1974 entsprechen würde (vgl. dazu oben "Teil

3.c.m.1.").

248 Baumann, FS Peters, S. 12; Berckhauer, DRiZ 1976, S. 237; Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 50; Lampe, Wiedervereinigung I, S. 82, 114; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 213; vgl. auch Dencker, JZ 1973, S. 150; Zipf Kriminalpolitik, S. 74. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Vorschläge des AE-EV (S. 8, 86 f.) zur Erweiterung des Rechtsfolgenkatalogs des § 153a StPO. Hiernach kann die Staatsanwaltschaft - in Anlehnung an §§ 59a H, 56c m StGB bzw. Nr. 233 S. 2, Nr. 235 m RiStBV - den Beschuldigten (u. a.) anweisen, sich einer ambulanten Heilbehandlung oder einer ambulanten Entziehungskur zu unterziehen (so § 153a H Nr. 5 AE-EV) oder sich an sozialpädagogischen, familientherapeutischen oder anderen unterstützenden Maßnahmen zu beteiligen (Nr. 6). 249 Vgl. dazu Kausch, S. 242, 246, der die Rechtsfolgen in § 153a StPO einen ,,Fortschritt" nennt, der "auch bei der anzustrebenden Neuregelung erhalten bleiben (müsse)". 250 Kunz, Bagatellprinzip, S. 54. 251 Vgl. dazu auch den Vorschlag bei Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 176. 252 Zum konkreten Höchstmaß von 30 Tagessätzen vgl. den Gesetzgebungsvorschlag bei Gössel, DIT-Gutachten, C 45. Vgl. auch AE-EV, S. 81, wonach eine sanktionslose Einstellung des Strafverfahrens auf Fälle beschränkt bleiben soll, bei denen der Tater - würde er verurteilt - keine höhere Strafe als eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu erwarten hätte. Zur Einstellung des Verfahrens nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen bei einer Straferwartung von bis zu 180 Tagessätzen vgl. AE-EV, S. 8,43,85. 253 Vgl. dazu aber auch AE-EV, S. 86, wonach sich die Zahlung von Geldbeträgen an die Staatskasse mit dem Risiko trage, daß die justiznahe Verwendung der eingezahlten Gelder nicht garantiert sei.

B. Bagatellkriminalität

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2. nach Schuldfeststellung die Erteilung einer diesem Umfange entsprechenden Leistungsauflage zur Wiedergutmachung des durch die Tat verursachten Schadens, 3. die Erteilung einer sonstigen vergleichbaren gemeinnützigen Leistungsauflage regelmäßig ausreicht. (2) An einer ahndungsbedürftigen Tat fehlt es, wenn Taterfolg sowie Art und Weise der Tatbegehung unbedeutend sind. Für beide Beachtlichkeitsstufen bagatell arischer Delinquenz könnten zum Zwecke einer weiteren inhaltlichen Präzisierung verschiedene Regelbeispiele angefügt werden, die - inhaltlich an anerkannten Strafzielerwägungen ausgerichtet254 - den konkreten Anwendungsfall bei der Entscheidung über den Bagatellcharakter einer Tat anleiten könnten 255 . Eine dritte Deliktskategorie, wie sie hier in den Grundzügen zur weiteren Diskussion vorgeschlagen wird, erfüllt neben ihrer Abstufungsfunktion weiterhin eine Ordnungsfunktion 256, indem sie die Zuständigkeit der künftig mit Bagatellsachen befaßten Gerichte bestimmt und darüber hinaus Anknüpfungspunkt für etwaige, vom Nonnalverfahren abweichende prozessuale Regelungen ist. Dabei gilt es, auch bei den Fragen von Gerichtszuständigkeit und Verfahrensausgestaltung der geringeren Beachtlichkeit von Bagatellen hinreichend gerecht zu werden und den Umfang der staatlichen Reaktion dem Anlaß entsprechend zu gestalten. So stellt die ganzheitliche Überführung der rechtlichen Behandlung bagatell arischer Delinquenz in ein gerichtliches Verfahren, das neben dem Plus an verfahrensrechtlichen Garantien eine wesentlich gleichmäßigere Rechtsanwendungspraxis verspricht, zwar einerseits einen deutlichen Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit gegenüber der lex lata in Aussicht, jedoch gilt es andererseits auch auf verfahrensrechtlicher Ebene zu beachten, daß nicht am Ende der prozessual betriebene Aufwand außer Verhältnis zu dem relativ geringen Übel der angedrohten Sanktion gerät257 . Angesichts der Geringfügigkeit des Anlasses erscheint der Umfang des strafprozessualen Nonnalverfahrens als eine insgesamt unverhältnismäßige staatliche Reaktion und verpflichtet daher im Anschluß zur Konzipierung eines sachgerechten Bagatellverfahrens, das seinem Anlaß sowie den Realitäten der Justizressourcen hinreichend Rechnung trägt.

254 Dazu, daß sich "die Bagatellbestimmung ... nach den gleichen Bewertungsgesichtspunkten richtet, die als Strafzwecke die finalen Zumessungsgründe der Strafmaßbestimmung abgeben", vgl. bei Kunz, Bagatellprinzip, S. 266. Vgl. auch bereits oben "TeiI3.B.III.1.a)bb)", "Teil3.B.III.2.", "Teil3.D.I.2.a)aa)" sowie "Teil3.D.I.2.b)". 255 Vgl. Lampe, Wiedervereinigung I, S. 114. 256 Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1067. Vgl. dazu auch den Vorschlag einer "Vorschrift für das Einführungsgesetz" bei Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 176. 257 Eser; Gesellschaftsgerichte, S. 51.

22 Horstmann

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5. Teil: Refonnvorschläge de legeferenda 2. Prozessuales Element eines ganzheitlichen Regelungsmodells

Die Begrenztheit der Justizressourcen sowie der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Hande1ns gebieten es, der umfassenden Verlagerung der Bagatellproblematik auf die gerichtliche Ebene ein vereinfachtes Verfahren an die Seite zu stellen, das beiden Gesichtspunkten in ausreichender Weise Rechnung trägt. In diesem Zusammenhang erscheint insbesondere der die Abschaffung der "Übertretungen" im Jahre 1974 begleitende Verzicht auf das sog. Strafverfügungsverfahren als kurzsichtig, da die Kriminalisierung, die mit dem Wegfall dieser Deliktskategorie einherging, in tatbestandlicher Hinsicht nichts am eigentlich bagatellarischen Charakter der betreffenden Verhaltensweisen geändert hat. In der Konsequenz wurde den Bagatellen durch diese gesetzgeberische Maßnahme neben der materiellrechtlichen Höherstufung eine zusätzliche Aufwertung auf verfahrensrechtlicher Ebene zuteil, auf die schließlich im Gegenzug mit der Einführung des § 153 a StPO reagiert worden ist258 . Bei der zu favorisierenden Abschaffung dieser Vorschrift wird künftig - aus den vorgenannten Gründen - auf prozessualer Ebene eine Lücke entstehen, die es im Rahmen eines ganzheitlichen Lösungsansatzes de lege ferenda zu schließen gilt. Bei der Konzipierung einer derartigen prozessualen Regelungsalternative kann zum einen auf bereits gesetzlich vorhandene vereinfachte Verfahrensmodelle zurückgegriffen werden - die dann gegebenenfalls in modifizierter Form zur Diskussion zu stellen sind -, zum anderen können unter Umständen verschiedene Gesetzentwürfe, die aus früheren Novellierungsanliegen hervorgegangen sind und ein solches vereinfachtes Verfahren zum Gegenstand haben, fruchtbar gemacht werden. Da es bei der Ausgestaltung einer künftigen Regelungsalternative in erster Linie darum gehen muß, die Defizite der lex lata ausreichend zu berücksichtigen, muß es im konkreten Fall der Konzeption eines vereinfachten Bagatellverfahrens, das de lege ferenda als prozessuale Entsprechung einer materiellrechtlichen Komponente an die Stelle der derzeitigen §§ 153, 153 a StPO treten soll, primär darauf ankommen, neben der sachgerechten Beschränkung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse eine Stärkung wesentlicher Verfahrens garantien als rechtsstaatlichen Zugewinn anzustreben 259 .

258 Zum Wegfall des Strafverfügungsverfahrens vgl. Naucke, DIT-Gutachten, D 26. Zur prozessualen Korrektur materiellrechtlicher Höherstufungen durch § 153a StPO vgl. bereits oben "TeiI3.C.III.1.". 259 Aus diesem Grunde scheidet das vorn Arbeitskreis Strafrecht konzipierte staatsanwaltschaftliche "Verfehlungsverfahren" (in: Lampe, Wiedervereinigung I, S. 87 ff.) von vornherein aus. Bereits die Tatsache, daß der Entwurf das Verfahren - und insbesondere auch die Auferlegung von ,,Leistungen" - vollständig in die Hände der Staatsanwaltschaft legt, setzt ihn den gleichen Bedenken aus, derer sich zuvor § 153a StPO - insoweit ohne Erfolg - erwehren mußte; vgl. dazu oben "Teil 3.D.IV.". Zu den rechtsstaatlichen Defiziten der gegenwärtigen prozessualen Lösung, denen es im Rahmen eines Altemativmodells weitestgehend abzuhelfen gilt, vgl. im einzelnen oben "TeiI3.B.ßI.", "Teil3.B.lV.", "Teil3.B.V." sowie "Teil3.D.".

B. Bagatellkriminalität

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a) Einsatz eines reformierten Privatklageverfahrens

Innerhalb bestehender Verfahrensmodelle wäre zunächst an den Einsatz eines reformierten Privatklageverfahrens zu denken, das nach entsprechender Erweiterung des § 374 I StPO künftig eine prozessuale Verfolgung der Bagatelldelikte durch den Geschädigten auf dem Privatklagewege vorsehen könnte26o • Die beachtliche Kritik, die an diesem Rechtsinstitut ganz allgemein von seiten der Wissenschaft geäußert wird 261 , spricht dabei jedoch mehr für eine stärkere ZUfÜckdrängung denn für eine Erweiterung und Aufwertung des Prinzips der Privatklage. Insbesondere die im Verfahrensmodell der Privatklage angelegte und bei einem Ausbau weiter forcierte Verkürzung des strafrechtlichen Schutzes für sozial Schwächere disqualifiziert diesen Regelungsvorschlag bei der Suche nach prozessualen Verfahrensvereinfachungen innerhalb einer Gesamtlösung der Bagatellproblematik.

b) Alternativ-Entwurf einer Novelle zur StPO aus dem Jahre 1980

Im Dezember 1980 hat ein Arbeitskreis deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer einen alternativen Novellierungsentwurf zur Strafprozeßordnung (AE Novelle zur StPO) vorgelegt, worin die Verfasser neben dem Ausbau des Strafbefehlsverfahrens u. a. ein nichtöffentliches, einzelrichterliches Verfahren als eine "mittlere, dritte Verfahrensart" zwischen Strafbefehl und traditionellem Hauptverfahren vorgeschlagen haben262 . Es erhebt sich die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit diese prozessualen Überlegungen, die ihrerseits auf eine Streichung des § 153 a StPO hin ausgerichtet sind263 , im Rahmen eines Gesamtkonzepts zur künftigen Behandlung der Bagatellkriminalität fruchtbar gemacht werden können. Kernstück des Entwurfs - und an dieser Stelle von vorrangigem Interesse - ist eine von den Verfassern konzipierte besondere, vereinfachte Verfahrensart vor dem Einzelrichter264, deren Neuheitswert einmal in der Verankerung bagatellspezifischer, nichtdiskriminierender Sanktionen im Rechtsfolgentei1 265 sowie einiger Än260 Vgl. hierzu Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 32 f.; Hirsch, FS Lange, S. 832 f.; Naucke, DIT-Gutachten, D 112; Schmitt, ZStW 89 (1977), S. 641 f. 261 Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 32 f.; Baumann, FS Peters, S. 13; Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 147; Schmitt, ZStW 89 (1977), S. 641 f. 262 Alternativ Entwurf Novelle zur Strafprozeßordnung, Tübingen 1980. 263 AE Novelle zur StPO, S. 6, 15. 264 §§ 407 bis 407i des Alternativentwurfs. Als Anwendungsvoraussetzungen normiert § 407 I AE: "Das Verfahren vor dem Strafrichter mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung (nichtöffentliches Verfahren) findet statt, wenn der Beschuldigte im wesentlichen geständig ist, das Ergebnis der Ermittlungen damit übereinstimmt und der Beschuldigte mit dem nichtöffentlichen Verfahren einverstanden ist. Dieses Verfahren ist nur zulässig, wenn allein Rechtsfolgen nach § 407a oder § 407b zu erwarten sind und das Strafbefehlsverfahren rechtlich nicht in Betracht kommt oder kriminalpädagogisch nicht angezeigt ist."

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege jerenda

derungen im Beweisrecht266 , insbesondere aber in der Möglichkeit eines Öffentlichkeitsausschlusses in der Hauptverhandlung begründet liegt. Insgesamt erwartet man sich von diesem Verfahren neben einem Zugewinn an Sozialstaatlichkeit einen Rückgewinn von Rechtsstaatlichkeit 267 • So soll bei beweismäßig einfach gelagerten Fällen der kleinen und mittleren Kriminalität das Einverständnis sowie die Geständnisbereitschaft des Taters dazu genutzt werden, unter Ausschluß der Öffentlichkeit kriminalpädagogisch wertvolle Konfliktbewältigung zu betreiben, indem man zum Wohle des Angeklagten die bei öffentlicher Verhandlung regelmäßig gesteigerte Nervenbelastung und Stigmatisierungswirkung zu verringern sucht268 • An die Stelle der rollenbedingten, aus kriminalpädagogischer Sicht jedoch oft kontraproduktiven und resozialisierungsfeindlichen Konfrontation zwischen den Verfahrensbeteiligten soll nach der Vorstellung der Entwurfsverfasser die Chance zu "kooperativer (Re-)Sozialisierung" treten 269 . Auf diese Weise könne den Forderungen des Sozialstaats im Strafverfahren ebenso zur besseren Geltung verholfen werden wie durch einen besonderen, auf das Sozialisationsziel zugeschnittenen Katalog nichtdiskriminierender Sanktionen27o • Indem der Entwurf in seinem Rechtsfolgenteil die Auflagenverhängung - bei darüber hinaus voller Wiederherstellung der richterlichen Kompetenz - von einem ausdrücklichen Schuldspruch abhängig macht271 , gewinnt er auch aus rechts staatlicher Sicht an Attraktivität. Und dennoch sind es nicht nur die vereinzelten inhaltlichen Unbestimrntheiten272 , die hier den anfanglich guten Eindruck trüben: Vielmehr scheint es so, als werde bei diesem Alternativentwurf einiges Grundlegende vernachlässigt. So wird beispielsweise dem Beschuldigten im Rahmen eines solch reformierten Verfahrens ein permanentes Wohlverhalten gegenüber den auf staatlicher Seite Beteiligten ab265 § 407a AE sieht in diesem Zusammenhang vor: l. Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird, Geldstrafe, Fahrverbot, 2. Verwarnung mit Strafvorbehalt, Entziehung der Fahrerlaubnis, bei der die Sperre nicht mehr als 3 Jahre beträgt, 3. Bekanntgabe der Verurteilung, Verfall, Einziehung und Unbrauchbannachung. § 407b AE enthält derweil einen Katalog an Auflagen (Absatz 2) und Weisungen (Absatz 3), deren Anwendungsvoraussetzungen in Absatz 1 wie folgt normiert sind: "Sind die Rechtsfolgen nach § 407a Nr. 1- 3 kriminalpädagogisch nicht erforderlich, so ergeht allein ein Schuldspruch. Dieser muß mit Auflagen und kann mit Weisungen und Rechtsfolgen nach § 407a Nr. 4 verbunden werden." 266 § 407e VI AE. 267 Vgl. Gribbohm, ZRP 1982, S. 55; ebenso Hilger, NStZ 1982, S. 312. 268 AE Novelle StPO, S. 7. 269 AE Novelle StPO, S. 6; vgl. auch Engels / Frister, ZRP 1981, S. 111. 270 AE Novelle StPO, S. 6 f. 271 § 407g I AE. Zu den diesbezüglichen Defiziten bei § 153a StPO vgl. im einzelnen oben "TeiI3.D.IV." sowie "TeiI3.D.VI.". 272 Vgl. Hilger, NStZ 1982, S. 312, der seinen Vorwurf fehlender Bestimmtheit auf die inhaltlich unklaren Wendungen "im wesentlichen geständig" sowie ,,kriminal pädagogisch nicht angezeigt" innerhalb der Anwendungsvoraussetzungen nach § 407 I AE bezieht.

B. Bagatellkriminalität

341

genötigt, was wiederum bedenklich an die Drucksituation innerhalb der Verfahrenskonstellation des § 153 a StPO erinnert273 . Um in den Genuß des Öffentlichkeitsausschlusses sowie des milderen Sanktionsarsenals zu gelangen, muß der Beschuldigte "im wesentlichen geständig" sein und überdies im weiteren Verlauf des Verfahrens zusätzliche Einbußen an Prozeßrechten in Kauf nehmen, um nicht durch eine nachträgliche Aufkündigung der Kooperationsbereitschaft die einmal "erkaufte" privilegierte Behandlung wieder zu verlieren. Diese Gefahr ist dem AEVerfahrensmodell deswegen inhärent, weil der Richter die Bagatellsache zu jeder Zeit an das ansonsten zuständige Gericht verweisen kann 274 , so daß der Beschuldigte auch nach abgelegtem Geständnis niemals sicher ist, daß der (mitunter teuer) "erkaufte" Vorteil einer prozessualen Sonderbehandlung auch bis zum Ende Bestand hat. Der insoweit zentrale Aspekt der "Kooperation" zwischen den Verfahrensbeteiligten läßt demzufolge nicht nur inhaltliche Klarheit vermissen. Es hat vielmehr den Anschein, als erschöpfe sich die vie1gepriesene "Kooperation" an dieser Stelle im einseitigen Verzicht auf Verfahrensrechte seitens und zu Lasten des Beschuldigten, der sich infolge einer "nötigungsähnlichen Pression,,275 ohne echtes Wahlrecht zur Sache einläßt276, im wesentlichen gesteht 277 und die Vorzüge der Nichtöffentlichkeit nicht zuletzt mit einer reduzierten Mitwirkung bei der Beweisaufnahme 278 sowie weiteren Einbußen im Hinblick auf verfahrensrechtliche Garantien teuer bezahlt279 . Dabei kommt erschwerend hinzu, daß einige der vorgesehenen Verfahrensvereinfachungen faktisch ins Leere laufen dürften. So schlägt beispielsweise die geplante Novellierung bei den Beweiserhebungsregeln dann nicht gewinnbringend zu Buche, wenn - was ja im Hinblick auf § 407 I AE eine der Eingangsvoraussetzungen des vereinfachten Verfahrens ist - bereits ein Geständnis vorliegt: In diesem Falle bestünde ohnehin nur noch Grund zu einer abgekürzten Wahrheitsfindung 280. Neben anzweifelbaren Vereinfachungswirkungen besteht weiterhin die 273 Beulke, JR 1982, S. 314; Engels/Frister; ZRP 1981, S. 113, 115; Fezer; ZStW 106 (1994), S. 55; Hilger; NStZ 1982, S. 313; Mehle, NStZ 1982, S. 310; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 1l. Dieses Risiko sahen bereits die Entwurfsverfasser selbst, vgl. AE Novelle StPO, S. 7. Zu den gleichlautenden Vorwürfen bei § 153a StPO vgl. oben "Teil 3.D.VII.". 274 § 407 f. AE. 275 Engels/ Frister; ZRP 1981, S. 113. 276 §§ 407e V, 407 f. 11 Nr. 1 AE. 277 Vgl. § 407 f. I AE in Verbindung mit den Voraussetzungen in § 407 I AE. 278 § 407e VI S. 1 AE. Zur Kritik vgl. Engels/ Frister; ZRP 1981, S. 115 f. m. w. N.; Hilger; NStZ 1982, S. 313. Zu den Einbußen an Verfahrensrechten, die sich fUr den Angeklagten nicht zuletzt aufgrund der großzügigen Freistellung des Richters von den §§ 249 bis 256 StPO ergeben (§ 407e VI S. 2 AE), vgl. Engels/Frister ZRP 1981, S. 116: "So laufen insbesondere seine Rechte leer, Fragen an den Zeugen zu richten (§ 240 I StPO, Art. 6 III d EMRK) und Erklärungen abzugeben (§ 257 I StPO), weil die Zeugen nicht vernommen und die Urkunden nicht verlesen werden müssen." 279 Vgl. zu alledemEngels/Frister; ZRP 1981, S. 115 f. 280 Fezer; ZStW 106 (1994), S. 54.

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5. Teil: Reformvorschläge de lege ferenda

Gefahr, daß es hinsichtlich des erhofften sozialstaatlichen Zugewinns ebenfalls bei einem unerfüllten Wunschdenken bleiben wird, da die hierzu notwendige aktive Mitarbeit des Beschuldigten - sofern sie denn überhaupt stattfindet281 - weniger Ausdruck seiner Resozialisierungsbereitschaft als vielmehr seiner Resignation sein dürfte282• Zentraler Angriffspunkt der Kritik ist jedoch die aus der Sicht des Beschuldigten scheinbar größte Errungenschaft des Alternativentwurfs: die Öffentlichkeitsregelung. An dieser Stelle fehlt es ganz offensichtlich an einem nachvollziehbaren funktionalen Zusammenhang zwischen dem Geständnis des Beschuldigten einerseits und seinem Interesse an der Öffentlichkeit einer Hauptverhandlung oder einer entsprechenden Geheimhaltung andererseits 283 • So ist beispielsweise wenig einsichtig, warum ein geständiger Beschuldigter sein etwaiges Interesse an einer von der Öffentlichkeit kontrollierten Hauptverhandlung aufgeben muß, nur um die Chance auf eine minder beeinträchtigende Sanktionierung im nichtöffentlichen Verfahren zu wahren 284 . In gleicher Weise erhellt es wenig, warum ein Beschuldigter, der entweder mit gutem Recht die Aussage verweigert oder der sich selbst wie sich später unter Umständen herausstellen mag: auch zu Recht - für unschuldig hält und mithin überhaupt kein Geständnis abzulegen vermag, sich dem Pranger einer öffentlichen Hauptverhandlung aussetzen muß285 • Diese Verknüpfung von Geständnis und Öffentlichkeit bleibt schlichtweg ungereimt. Zutreffenderweise dürften Vereinfachungen und Abkürzungen im Verfahren lediglich vom Einverständnis des Beschuldigten, nicht hingegen von seiner Geständnisbereitschaft abhängig gemacht werden 286• Das im vorbezeichneten Alternativentwurf vorgeschlagene vereinfachte, nichtöffentliche Verfahren stellt demzufolge - trotz einiger ansprechender Elemente - insgesamt betrachtet kein geeignetes prozessuales Regelungskonzept im Rahmen eines ganzheitlichen Modells zum künftigen Umgang mit bagatellarischer Delinquenz dar.

Insoweit zweifelnd Schüler-Springorum, NStZ 1982, S. 308. Vgl. Engels/FristeT, ZRP 1981, S. 116; ebenso Gribbohm, ZRP 1982, S. 55, der dem Entwurf in diesem Zusammenhang "zu ideale Vorstellungen von der Wirklichkeit" vorwirft. 283 Engels/FristeT, ZRP 1981, S. 114. Zur allgemeinen Kritik an der im Alternativentwurf getroffenen Öffentlichkeitsregelung vgl. Gribbohm, ZRP 1982, S. 55; ebenso BilgeT, NStZ 1982, S. 312; Keller/Schmid, wistra 1984, S. 205; Weigend, KrirnJoum. 1984, S. 11. 284 Vgl. insoweit § 407b AB, wonach die besonderen, nichtdiskriminierenden Rechtsfolgen ausschließlich für das nichtöffentliche Verfahren vorgesehen sind. Dazu Beulke, IR 1982, S. 314: ,,Nur von einern M~rer wäre unter diesen Umständen zu erwarten, daß er auf der berechtigten Forderung nach Offentlichkeit beharrt." 285 Beulke, IR 1982, S. 314. 286 Vgl. Engels/FristeT, ZRP 1981, S. 114; FezeT, ZStW 106 (1994), S. 54 m. w. N. 281

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B. Bagatel1kriminalität

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c) Ausgestaltung eines vereinfachten gerichtlichen Verfahrens anhand der Vorschläge des Diskussionsentwurfs für ein Rechtsmittelgesetz aus dem Jahre 1975

Die Koppelung der eingangs vorgeschlagenen materiellrechtlichen Komponente mit einer verfahrensrechtlichen Entsprechung ist dennoch dringlich. Denn am Ende würde sonst alle Zufriedenheit über den materiellrechtlich erworbenen rechtsstaatlichen Zugewinn nicht verhindern, daß sich den Kritikern einer derartigen Reform insbesondere an den Stellen Ablehnungsgründe darbieten werden, an denen die besonderen Vorzüge der abzulösenden Regelung gelegen haben. Da an der lex lata im besonderen der Entlastungseffekt begrüßt wird 287 , muß eine Alternativlösung - will sie größtmögliche Akzeptanz erfahren - de lege ferenda dort ansetzen und bei der konkreten Ausgestaltung des Konzepts die "Kosten" ausreichender Rechtsstaatlichkeit durch die gleichzeitige Berücksichtigung von Vereinfachungs- und Beschleunigungselementen so gering wie irgend möglich zu halten suchen. Dabei gilt es jedoch zu beachten, daß die Grenzen der Vereinfachung jedenfalls dort erreicht sein werden, wo die Neuregelung tragende Prinzipien des Strafverfahrensrechts über Gebühr beeinträchtigt und die Behandlung bagatellarischer Delinquenz dann aus diesem Grunde rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügen würde 288 . Als Vorbild für ein solches vereinfachtes, mündliches Verfahren vor dem Einzelrichter könnte derweil das sog. Strafbescheidverfahren aus dem "Diskussionsentwurffür ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen" dienen289 . Es überschreitet zwar angesichts seiner kriminalstrafrechtlichen Einbindung sowie seines weit gesteckten Zuständigkeitsrahmens den Bereich der Bagatellsachen erheblich und ist mithin einer vollständigen Übernahme in diesem Kontext nicht zugänglich 290 • Aber es enthält einige brauchbare Vereinfachungs- und Beschleunigungselemente, die unter Umständen im Rahmen der zur Erörterung stehenden Problematik fruchtbar gemacht werden können 291 • Es wird daher im folgenden unter Einbeziehung weiterhin notwendiger Verfahrenselemente ein vereinfachtes Verfahren zu konzi-

287 Dazu im einzelnen oben "Teil 3.C.m.2.", "Teil 3.D.m.l." sowie "Teil 3.D.XII.". Von einigen Autoren wird daher ein besonderes Bagatellverfahren von vornherein als dem Anlaß entsprechend zu aufwendig empfunden, vgl. beispielsweise Erb, Legalität und Opportunität, S. 252 ff.; Fezer; ZStW 106 (1994), S. 45; Weigend, KrimJourn. 1984, S. 10. 288 Vgl. dazu den Beschluß ,,1.3." der Abteilung Strafprozeß des 50.DIT 1974, K 270. 289 Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz), vorgelegt von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Strafverfahrensreform", Dezember 1975. Dort: §§ 289 bis 295c StPO. Vgl. ausführlich zu diesem Entwurf Rieß, DRiZ 1976, S. 3 ff.; ferner Krauth, FS Dreher, S. 697 ff.; Lisken, DRiZ 1976, S. 197 ff. Zu einigen anderen europäischen Verfahrensmodellen, die gleichsam der Beschleunigung strafrechtlicher Konfliktverarbeitung dienen sollen, vgl. Eser; ZStW 108 (1996), S. 122 ff. 290 Vgl. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 244. 291 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 246; Naucke, DIT-Gutachten, D118.

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5. Teil: Reformvorschläge de legeferenda

pieren sein, welches die Vereinfachungs- und Beschleunigungswünsche der Praxis in einem rechts staatlich verträglichen Rahmen zu befriedigen sucht292 . Diesen Anforderungen gewachsen scheint ein mündliches Verfahren zu sein, in dem nach einer über den bloßen Akteninhalt hinausgehenden - in geeigneten Fällen jedoch summarisch erfolgenden 293 - Sachaufklärung ein mit beschränkter Sanktionsgewalt ausgestatteter Einzelrichter auf der Grundlage eines formellen Schuldspruchs eine nichtdiskriminierende Rechtsfolgenentscheidung zu treffen hat294 . Angesichts der eingangs aufgezeigten Vorgaben müßte ein solches Verfahren - neben einigen Abstrichen bei diversen Förmlichkeiten - insbesondere auch über rechtsstaatlieh verträgliche Lockerungen im Bereich der Verfahrensgrundsätze von Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit verfügen und über diese Vereinfachungen die Attraktivität einer Gesamtlösung zu steigern suchen. Dabei setzen Überlegungen zur künftigen Rationalisierung des Aufwands bereits im frühen Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung ein, wobei zusätzlich zum Verzicht auf einen formalisierten Eröffnungsbeschluß 295 mögliche Präklusionen bei Beweisanträgen vorgeschlagen werden 296 . Instruktiv ist in diesem Zusammenhang auch das sog. Berichtsmodell von Dencker297 , das die Entlastung der späteren Hauptverhandlung mit Hilfe eines im Vorfeld zu erarbeitenden "konsentierten Berichts ..298 über eine allseitig außer Streit gestellte Tatsachenbasis erreichen will. Im weiteren Verlauf des Verfahrens soll dann u. a. eine deutlich verringerte Formstrenge innerhalb des Beweisantragsrechts die erwünschte Vereinfachung erbringen: Indem zwar nicht die Art, wohl aber der Umfang der Beweisaufnahme künftig in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts einzustellen wäre299 , könnten 292 So auch Berckhauer, DRiZ 1976, S. 237: "Die prozessuale Ausgestaltung der Verfolgung von Verfehlungen hätte sich arn Grundsatz der Verfahrensvereinfachung und dem Rechtsstaatsprinzip auszurichten." 293 Hirsch. ZStW 92 (1980), S. 246; Rieß, IR 1975, S. 227; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 225; Wolter, GA 1985, S. 72. 294 Vgl. Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 147; derselbe. FS Lange, S. 828; Kaiser, ZStW 90 (1978), S. 898; Kunz. Bagatellprinzip, S. 342 ff.; Wolter, GA 1985, S. 78. Zur Notwendigkeit eines der Sanktionierung vorausgehenden Schuldspruchs vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), S. 50; Kühl, Unschuldsvermutung, S. 117 f. Dazu auch im einzelnen bereits oben "TeiI3.D.VI.". 295 Rieß. IR 1975, S. 228. Vgl. auch § 290 DE-Rechtsmittelgesetz. 296 So wohl Gössel. DIT-Gutachten, C 62. Kritisch gegenüber einer Präkludierung von Beweisanträgen hingegen Bemsmann, ZRP 1994, S. 331. 297 Dencker, StV 1994, S. 504 ff. 298 Dencker, StV 1994, S. 506. 299 Rieß, IR 1975, S. 228; ebenso § 295 I DE-Rechtsmittelgesetz; zustimmend Fezer, ZStW 106 (1994), S. 56; Kunz. Bagatellprinzip, S. 342. Zu den durchaus variierenden Anforderungen an den Gang der Beweisaufnahme vgl. auch Lüderssen, Polizei und Strafprozeß, S. 222. Demgegenüber weist Bemsmann, ZRP 1994, S. 331 in erster Linie auf die Gefahren einer (weitreichenden) Beschränkung des Beweisantragsrechts hin: "Das Beweisantragsrecht enthält ... keine rechtsneutrale Manövriermasse ... Das Beweisantragsrecht ist vor allem auch Gegengewicht gegen die Verfahrens- und Definitionshoheit der Ermittlungsbehörden im

B. Bagate1lkriminalität

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- bei gleichzeitiger Beibehaltung von Amtsermittlungsgrundsatz 300 und freier richterlicher Beweiswürdigung301 - der Geringfügigkeit einer Sache nicht angemessene, schwerfällige Beweisaufnahmen für die Zukunft vermieden werden. Eben diesem Ziel verpflichtet sind letztlich auch aIl diejenigen Vorschläge, die auf eine Einschränkung der Verfahrensprinzipien von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit abzielen. Neben einer den Mündlichkeitsgrundsatz tangierenden Ausweitung der gerichtlichen Verwertungsmöglichkeiten von Schriftstücken ohne vorherige Verlesung302 ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch an eine Erweiterung des Kreises verlesbarer Urkunden zu denken 303 • Die auf diesem Wege einzusparenden Justizressourcen - etwa infolge manch überflüssig werdender Zeugenvemehmung - dürften die vergleichsweise geringe Beeinträchtigung des Unmittelbarkeitsprinzips ohne weiteres aufwiegen 304 . So wird gerade auch in weniger aufwendigen Fallkonstellationen oft eine bloß mittelbare Beweisaufnahme ausreichen, um zur Wahrheitsfindung angemessen beizutragen 305 • Daß bei alledem immer und uneingeschränkt am Prinzip der materiellen Wahrheit festzuhalten iseo6 , versteht sich. Ganz im Dienste von Vereinfachung und Beschleunigung stehen des weiteren Änderungsvorschläge, die Lockerungen der gegenwärtig bestehenden Anwesenheitsregelungen 307 oder aber sinnvolle Abstriche bei den derzeitigen Anforderungen an den Umfang von Verhandlungsprotokollierung und EntscheidungsbegrünVorverfahren. Es stellt insoweit tendenziell ,Waffen- bzw. Chancengleichheit' her. Die dem Beschuldigten mit dem Beweisantragsrecht eingeräumte ,aktive verfahrensrechtliche Befugnis' verliert aber an kompensatorischer Effizienz, wenn ihm prozeßökonomisch begründete Grenzen gesetzt werden." 300 Fezer, ZStW 106 (1994), S. 50; Kunz. Bagatellprinzip. S. 342; Rieß. IR 1975, S. 228. Vgl. dazu auch § 295 I DE-Rechtsmittelgesetz. 301 Zu dieser "Grundvoraussetzung für ein vereinfachtes gerichtliches Verfahren" vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), S. 50 m. w. N. 302 Gössel. DIT-Gutachten, C 60; Rieß, IR 1975, S. 228; vgl. auch § 295 11 DE-Rechtsmitteigesetz. 303 Kunz, Bagatellprinzip, S. 342 f. m. w. N.; Rieß. IR 1975, S. 228. Vgl. auch § 295 III DE-Rechtsmittelgesetz. 304 Dazu, daß die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ohne weiteres zur Disposition der Verfahrensbeteiligten gestellt werden könnte, vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), S. 56 f. 305 Vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), S. 52. Insgesamt kritisch gegenüber einer Einschränkung von Unmittelbarkeit im Verfahren hingegen Bemsmann, ZRP 1994, S. 331: "Unmittelbarkeit heißt Authentizität des Erlebens und Identität des kommunikativen Zusammenhangs aller wahrheitsrelevanten Wahrnehmungen des Gerichts ... Unter diesen Voraussetzungen sichert die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme auch die Unabhängigkeit des Gerichts, dem die Herrschaft über die Strukturierung der Wahrheits suche nicht genommen werden darf." 306 Rieß. IR 1975, S. 227; vgl. auch DE-Rechtsmittelgesetz, S. 38. Aus diesem Grunde erscheint auch eine Bindung des Gerichts an ein mögliches Geständnis des Angeklagten - wie es etwa das amerikanische Rechtsinstitut des plea guilty vorsieht - im deutschen Strafverfahren nicht vorstellbar. 307 Wolter, GA 1985, S. 78; vgl. auch § 293 DE-Rechtsmittelgesetz. Zum gelockerten Verteidigungszwang vgl. zudem § 62 DE-Rechtsmittelgesetz.

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5. Teil: Reformvorschläge de lege ferenda

dung zum Inhalt haben 308 . So soll beispielsweise nicht erforderlich sein, daß die richterliche Begründung in einem Bagatellverfahren in ihren Anforderungen über die eines abgekürzten Urteils nach § 267 IV StPO hinausgeht 309 . Über den Zeitpunkt des Verfahrensabschlusses hinaus gibt es weitere dem Entlastungsgedanken verpflichtete Regelungsvorschläge, die auf mögliche Einschränkungen bei der Wahl des Rechtsmittels abzielen 31O . Zwar müsse dem Angeklagten eines vereinfachten (summarischen) Verfahrens grundsätzlich der Weg ins Normalverfahren offenstehen, jedoch sei es angesichts der geringen Bedeutung einer Bagatellsache nicht einsichtig, warum ihm insgesamt ein breiteres Rechtsmittelangebot unterbreitet werden solle, als dies etwa für die ungleich schwereren Schwurgerichtsfälle vorgesehen sei311 . Um zudem das auf dem Rechtsmittelwege anschließende ordentliche Beweisverfahren nicht in justizbelastender Weise zu einer Art "Rabattinstanz,,312 verkommen zu lassen, in der vom Verurteilten pro forma eine (noch) günstigere Entscheidung zu erreichen versucht werden kann, stellen einige Autoren für diesen Fall einen Verzicht auf das Verschlechterungsverbot zur Diskussion313 . Ein unbestreitbarer Fortschritt im Bemühen um eine insgesamt prozeßökonomischere Ausgestaltung der Verfahrenslandschaft - sowie eine Stärkung der Stellung des Verletzten - ließe sich des weiteren durch eine obligatorische Verknüpfung des neu zu konzipierenden Bagatellverfahrens mit der Adhäsion nach den §§ 403 ff. StPO erzielen 314 . Durch eine entsprechende Änderung der einschlägigen Vorschriften könnte die gleichzeitige Klärung zivilrechtlicher Ansprüche im Zusammenhang mit der Bagatelltat zum Regelfall erhoben und auf diesem Wege die Gefahr einer unökonomischen doppelten Beweiserhebung gebannt werden 315 . Was sich für den Verletzten mit Blick auf den im Strafverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatz sowie seine (nur) hier mögliche Zeugenaussage als eine erhebliche Beweiserleichterung darstellen könnte 316 , spart zudem summa summa rum wertvolle Justizressourcen. Wolter, GA 1985, S. 78; vgl. auch §§ 295b, 295c DE-Rechtsmittelgesetz. Rieß, JR 1975, S. 229. 310 Vgl. Gössel, DIT-Gutachten, C 43, C 47; Schmitt, ZStW 89 (1977), S. 647; Tröndle, Probleme der Strafprozeßreform, S. 73 f. 3lI Tröndle, Probleme der Strafprozeßreform, S. 73 f., 104. 312 Tröndle, Probleme der Strafprozeßreform, S. 104. 313 So beispielsweise Tröndle, Probleme der Strafprozeßreform, S. 104. 314 Vgl. Hirsch, ZStW 83 (1971), S. 147; derselbe, FS Lange, S. 828, 832 f.; Kausch, S. 247; Rieß, FS Schäfer, S. 205; Schöch, NStZ 1984, S. 389 f. m. w. N.; vgl. auch Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 51 Fn. 162. 315 Vgl. dazu die Änderungsvorschläge bei Gewaltig, action civile, S. 128, die insbesondere auf eine obligatorische Informationspflicht gegenüber dem Verletzten durch eine entsprechende Änderung des § 403 11 StPO sowie weiterhin auf eine Beschränkung der möglichen Ablehnungsgründe durch eine entsprechende Änderung der Vorschrift des § 405 S. 2 StPO abzielen. Zum Adhäsionsverfahren und seinen Vorzügen allgemein vgl. etwa Glaremini Becker, JA 1988, S. 602 ff. 308

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B. Bagatel1krirninalität

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Aber auch außerhalb justizökonomischer Anliegen lassen sich bei der Konzeption eines vereinfachten Bagatellverfahrens Elemente integrieren, die nicht nur dazu vorgesehen sind, die Vorzüge der lex lata vergessen zu machen. Vielmehr gilt es, die Attraktivität des Lösungsmodells auch mittels solcher Neuerungen zu steigern, die eine direkte Antwort auf die Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Regelung zu geben wissen. So ließe sich de lege ferenda eine Verbesserung dadurch erzielen, daß zum Zwecke der Präventionssteigerung die richterliche Entscheidung im Bagatellverfahren in ein zentrales Register einzutragen wäre 31 ?, wodurch der Täter jedoch - etwa in analoger Anwendung des § 13 III JGG318 - nicht als vorbestraft zu gelten hätte. Ein besonderes Augenmerk wird des weiteren auf die Öffentlichkeitsregelung eines neuen Verfahrensmodells zu richten sein. Dieser Punkt hat im Rahmen des bisherigen Verfahrens nach § 153 aI StPO reichlich Anlaß zur Kritik gegeben 319 . So wird in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, die Öffentlichkeit im Bagatellverfahren für die gesamte Dauer der Hauptverhandlung respektive für einzelne, die Aufklärung persönlicher Umstände des Täters betreffende Teile 32D im Grundsatz auszuschließen und nur auf Antrag des Angeklagten zuzulassen 321 , oder aber - in Abänderung des § 172 GVG - eine obligatorische Vorabentscheidung des Richters über einen möglichen Öffentlichkeitsausschluß vorzusehen 322 • Zur Begründung dieses Angriffs auf einen der Pfeiler rechts staatlicher Verfahrensmaximen wird vorgetragen, daß insbesondere wegen des lediglich bagatellarischen Verfahrensanlasses das grundsätzlich anzuerkennende Informationsinteresse der Allgemeinheit hinter dem Diskretionsinteresse des Angeklagten zurückzutreten habe, sofern dieser es wünsche323 • Der seinerzeit primär zum Schutze des Angeklagten installierte Mechanismus einer durch die Öffentlichkeit kontrollierten Hauptverhandlung müsse grundsätzlich zur Disposition des Angeklagten stehen, wenn am Ende - gerade auch im Hinblick auf künftige Resozialisierungschancen 324 von einer im Lichte der Öffentlichkeit stattfindenden Austragung des Konflikts mehr Schaden als Nutzen zu erwarten sei. Unabhängig davon, daß die Öffentlichkeitsmaxime - bei aller ihr verbliebenen Bedeutung325 - längst kein durchgängiges Vgl. Glaremin/Becker, JA 1988, S. 602. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 246. 318 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 246. 319 Dazu im einzelnen oben "Teil3.D.VIII.". 320 Rieß, FS Schäfer, S. 213 f. 321 Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 246; Kohlmann, JA 1981, S. 587; Rieß, JR 1975, S. 228; Tröndle, Probleme der Strafprozeßreform, S. 103 f.; Wolter, GA 1985, S. 78. Vgl. dazu auch § 170a GVG DE-Rechtsrnittelgesetz. 322 Beulke, JR 1982, S. 315, wonach die "Kann"-Regelung des § 172 GVG in eine "Sol1"Regelung umgewandelt und zusätzlich durch eine "Muß"-Regelung für besonders sensible Fälle ergänzt werden soll. 323 Kunz, Bagatellprinzip, S. 343. 324 Vgl. Kohlmann, JA 1981, S. 587; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 383. 325 Dazu bereits oben "TeiI3.D.VIII."; vgl. auch Kohlmann, JA 1981, S. 581 ff. 316 317

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5. Teil: Reformvorschläge de lege jerenda

Prinzip mehr darstellt und von daher auch den hier angetragenen Einschränkungen nicht per se unversöhnlich gegenüberstehen dürfte, wird man ganz generell im vereinfachten Verfahren dem Einverständnis der Prozeßbeteiligten größere Bedeutung beimessen können, als dies für das Normalverfahren gilt326 . Es hat sich gezeigt, daß der rechts staatliche Zugewinn einer materiellrechtlichen Verankerung der Bagatellkriminalitätsproblematik nicht zwingend mit untragbaren Mehrbelastungen für die Justiz einhergehen muß. Die weitgehende Verlagerung der rechtlichen Behandlung von Bagatellkriminalität auf die gerichtliche Ebene determiniert somit keinesfalls notwendig einen ,)ustizkollaps", sondern kann über weite Strecken dadurch kompensiert werden, daß man als prozessuale Entsprechung ein besonderes Bagatellverfahren konzipiert, das den Vereinfachungs- und Beschleunigungswünschen der Praxis hinreichend Rechnung trägt und das dariiber hinaus die rechts staatlichen Vorzüge eines materiellrechtlichen Anknüpfungspunktes unterstützt. Die vorgenannten Elemente können zu diesem Zwecke fruchtbar gemacht werden.

3. Verankerung einer besonderen Bagatellgerichtsbarkeit im GVG

Mit der Durchführung der vereinfachten Bagatellverfahren müßten de lege ferenda besondere Spruchkörper innerhalb der Amtsgerichte betraut werden, die wenngleich mit Berufsrichtern zu besetzen - unter den Kriminalgerichten anzusiedeln wären 327 . Eine solche Organisationsform, die im Gerichtsverfassungsgesetz zu verankern wäre, hätte nichts mit den früheren "Friedensgerichten" im damaligen Land Württemberg-Baden gemein, die seinerzeit mit Laien - zum Teil mit Gemeindebeamten - besetzt waren328 und deren gesetzliche Grundlage daher vom Bundesverj'assungsgericht329 im Jahre 1959 zu Recht als mit Art. 101 I S. 2 GG unvereinbar erklärt worden ist. Um diesen Verwechslungen vorzubeugen, könnten die künftig einzurichtenden Bagatellgerichte - die ihrerseits den Anforderungen der Verfassung genügen müßten - beispielsweise "Verfehlungsgerichte" genannt werden 33o .

Rieß, IR 1975, S. 227. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 245 f.; vgl. auch Berckhauer; DRiZ 1976, S. 237; Hirsch, FS Lange, S. 829; Rössner; Bagatelldiebstahl, S. 225 f.; ferner Eser; Gesellschaftsgerichte, S. 52 ff. 328 Zum damaligen Gesetz über die Friedensgerichtsbarkeit vom 29. 3. 1949 (Reg.BI. 47) und dessen Aufhebung im Anschluß an den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 11. 1959 vgl. Kern, Der deutsche Rechtspfleger 1960, S. 266 ff. 329 Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 7.11. 1959 (in: BVerfGE 10, 200). 330 Berckhauer; DRiZ 1976, S. 237. 326 327

B. Bagatellkriminalität

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v. Ergebnis Bei der erforderlichen Präzisierung und Kontrolle der Opportunitätseinstellungen de lege ferenda enthalten, was den Bereich der Bagatellkriminalität betrifft, die untersuchten bisherigen systemimmanenten Reformvorschläge zwar einerseits zahlreiche gute Ansätze, sie lassen jedoch andererseits gewichtige Probleme ungelöst. Punktuelle Nachbesserungen an der lex lata vermögen nicht deren Hauptmanko in zufriedenstelIender Weise aufzulösen: Bei allem Bemühen um eine Präzisierung und Kontrolle der opportunitätsgeprägten Handlungsermächtigungen verbleibt es am Ende doch beim beklagenswerten Zustand einer ausufernden Kompetenzzuschreibung an die Staatsanwaltschaft im Bereich opportunitätsgeleiteter Verfahrensentscheidungen. Diese Kernpunkte der Kritik, namentlich die faktische Festlegung von Strafbarkeitsgrenzen im unteren Vergehensbereich, insbesondere aber die staatsanwaltschaftliche Sanktionskompetenz im Rahmen von § 153 a I StPO, können - so hat es zumindest den Anschein - im Wege einer bloß systemimmanenten Reform der gegenwärtigen prozessualen Lösung nicht wirklich überzeugend angegangen werden, da sie innerhalb dieser prozessualen Lösung praktisch gesetzessystematisch angelegt sind. Materiellrechtliche Lösungsansätze erweisen sich dagegen als ein erster richtiger Schritt auf dem Weg zu einem künftig sachgerechteren Umgang mit der Bagatellkriminalitätsproblematik, da sie die Reform dort ansetzen lassen, wo sich ihr Anlaß befindet: im materiellen Recht. Mit einer systemgerechten Verortung allein ist indes so lange nichts gewonnen, wie dieser richtige Ansatz nicht aus Griinden der Verhältnismäßigkeit sowie aus ressourcenbedingter Rücksichtnahme um eine prozessuale Entsprechung ergänzt worden ist. Diesem Umstand trägt nunmehr ein ganzheitliches Regelungsmodell Rechnung, welches neben einem materiellrechtlichen Anknüpfungspunkt über begleitende Änderungen im Prozeßrecht verfügt. In diesem Zusammenhang ist auf materiellrechtlicher Ebene die Wiedereinführung einer dritten Deliktskategorie vorzuschlagen, die künftig solche Verhaltensweisen aus dem Kriminalstrafrecht ausfiltern könnte, deren deliktischer Beachtlichkeitsgrad gering ist und deren ungerechtfertigte materiellrechtliche Aufwertung bislang einer Korrektur auf prozessualer Ebene bedurfte. Die materiellrechtliche Zuweisung dieser bagatellarischen Verhaltensweisen an eine eigene Kategorie unterhalb der Schwelle des Kriminalstrafrechts hätte zur Folge, daß auf die dieserart ausgegrenzten Fälle mit einem insgesamt verhältnismäßigen staatlichen Reaktionsprogramm reagiert werden könnte, welches neben besonderen, nichtdiskriminierenden Rechtsfolgenentscheidungen ein dem Anlaß angemessenes, vereinfachtes Verfahren bereitzuhalten hätte. Zusätzlich zu einem ganz allgemein verbuchbaren Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit würde sich ein derartiges Regelungsmodell im besonderen durch die sachgerechte Beschränkung staatsanwaltschaftlicher Kompetenzen - nicht zuletzt aufgrund der Rückübertragung rechtsprechender Gewalt auf den Richter - auszeichnen. Die materiellrechtliche Ausgrenzung von bagatellarischen Verhaltensweisen aus dem Kriminalstrafrecht hat den weiteren Vorteil, daß auf diesem Wege vom Ge-

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5. Teil: Refonnvorschläge de lege ferenda

setzgeber in einer Art Negativabgrenzung festgelegt werden kann, welchen deliktischen Verhaltensweisen im Gegenzug diese Einordnung als Bagatelltat und damit auch die privilegierte Behandlung in Form der Sanktionierung mit besonderen, nichtdiskriminierenden Sanktionen verwehrt werden soll. So wurde darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber des Jahres 1993 durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz den Regelungsrahmen des § 153 a StPO erheblich erweitert und auf diesem Wege ein schon früher ohnehin in der Kritik stehendes Normprogramm zusätzlich für die leichte bis mittelschwere Kriminalität zugänglich gemacht hat. Die materiellrechtliche Einordnung bietet demgegenüber die Chance, unterschiedlich Einzustufendes auch unterschiedlich zu behandeln. Im folgenden ist daher noch der künftige Umgang mit Fällen der sog. leichten bis mittel schweren Kriminalität zu erörtern, die bei einer materiellrechtlichen Herausnahme der Bagatelldelinquenz nach wie vor im Regelungsbereich des Kriminalstrafrechts verbleiben und für deren Erledigung sich de lege ferenda Formen denken lassen, die der Praxis mit Beschleunigungs- und Vereinfachungselementen in rechtsstaatlichen Anforderungen genügender Weise über den Fortfall des bisherigen Entlastungsinstrumentariums hinweghelfen können.

c. Die künftige Behandlung leichter bis mittlerer Kriminalität Die Regelung des § 153 a StPO gehörte schon längere Zeit vor der gesetzgeberischen Erweiterung durch die Änderung der Schuldklausei im Jahre 1993 zum bevorzugten Regelungsinstrument der Praxis (auch) in Bereichen der mittelschweren Kriminalität331 • Insbesondere bei den Kriminalitätsformen, die aufgrund ihrer regelmäßig komplexen Verfahrenslage sowie ihrer oft schwierigen Beweissituationen spezielle Anforderungen an Aufwand und Mittel stellen, avancierte die Vorschrift des § 153 a StPO bei den Strafverfolgungsorganen schnell zu einer gern genutzten - da insgesamt ressourcensparenden - Erledigungsmöglichkeit332 . Es geht nunmehr "legal" nicht mehr nur um prozessuale Korrekturen von materiellen Überreichweiten des Strafrechts: Oberster Maßstab dieser weitreichenden Entkriminalisierungsmaßnahmen ist vielmehr ein weiteres Mal der schlichte Pragmatismus im Strafverfolgungsalltag. Die Unverhältnismäßigkeit einer kriminalstrafrechtlichen Behandlung von Verhaltensweisen in Grenzbereichen strafrechtlicher Verantwortlichkeit - insoweit eines der ursprünglichen Motive des Gesetzgebers im Jahre 1974 bei der Schaffung des § 153 a StP0333 - kann in den hier betroffenen Fällen schlechterdings kein Argument mehr sein, um deliktische Verhaltensweisen diesen Kalibers dem konventionellen Strafverfahren zu entziehen. Einzig Dazu bereits oben "Teil3.D.I.2.a)bb)(1)". Angesprochen sind hier im besonderen die Bereiche der Wirtschafts- und Umweltkriminalität; vgl. dazu oben "Teil 3.D.m.1." sowie "Teil 3.D.m.2. ". 333 Dazu oben "Teil 3.c.m.1. ". 331

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C. Die künftige Behandlung leichter bis mittlerer Kriminalität

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der mit der Vorschrift ebenfalls zu erzielende Entlastungseffekt zugunsten der Justiz - ursprünglich nur ein weiteres, zuletzt jedoch das ausschließliche Motiv des Gesetzgebers 334 - kann hier noch glaubhaft ins Feld geführt werden, wenn es darum geht, den Einsatz der Regelung selbst bei Fällen mittelschwerer Kriminalität zu begründen. Damit scheint jedoch - bei allem grundsätzlichen Verständnis für justizökonomische Anliegen - eine weitere Toleranzgrenze überschritten: Infolge der Ausdehnung opportunitätsgeleiteter Erledigungsmöglichkeiten bis weit hinein in mittelschwere Kriminalitätsformen werden in der Konsequenz zu große Bereiche vom kriminalstrafrechtlichen Rechtsgüterschutz freigestellt und einer Regelung überantwortet, die - wie aufgezeigt worden ist - erhebliche Defizite aufweist. Indem von der opportunitätsgeprägten Einstellungsermächtigung des § 153 a StPO auch in Fällen leichter bis mittelschwerer Kriminalität verstärkt Gebrauch gemacht wird, erhöht sich die Phalanx der Einwände um einen weiteren: Nunmehr gilt es zu rechtfertigen, warum mittels einer insgesamt verfassungswidrigen Opportunitätseinstellungsermächtigung eine materiellrechtlich angemessene Kriminalisierung prozessual unterlaufen und somit die effektive Durchsetzung sachgemäßen materiellen Strafrechts vereitelt werden darf335 . Bei dem Versuch, diesem unerträglichen Zustand abzuhelfen, muß erneut nach einer Lösung gesucht werden, die ein Mehr an Rechtsstaatlichkeit mit den Bedürfnissen der Praxis nach größtmöglicher Entlastung miteinander in Einklang zu bringen versteht. Zu diesem Zwecke kann auch an dieser Stelle zunächst einmal das im Alternativ-Entwurf einer Novelle zur StPO aus dem Jahre 1980 enthaltene nichtöffentliche Verfahren vor dem Einzelrichter in Erwägung gezogen werden, dessen Anwendungsbereich den hier zur Diskussion stehenden Fällen der leichten bis mittelschweren Kriminalität mit Blick auf § 407 a AE offenstünde336 . Angesichts der verschiedentlichen Unzulänglichkeiten dieses Verfahrensmodells, die oben bereits erörtert worden sind 337 , scheint es jedoch im Ergebnis kein geeigneter Ersatz für die gegenwärtige Regelung zu sein; es verbleiben allenfalls die Neuerungen, die der Entwurf in den §§ 408 bis 412 AE zur Reform des Strafbefehlsverfahrens vorschlägt. So scheint generell das Strafbefehlsverfahren in den §§ 407 ff. StPO, das vor der Änderung des § 153 a StPO im Jahre 1993 häufig in solchen Fällen zum Einsatz kam, in denen das ehemalige Erfordernis der "geringen Schuld" überschritten Dazu oben "TeiI3.C.m.2.". Vgl. zur Gefahr einer prozessualen Unterwanderung materiellrechtlicher Intentionen im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts Rieß, FS Schäfer, S. 186; ferner Müller; ZRP 1975, S.49. 336 Dazu bereits oben "Teil5.B.lV.2.b)". Vgl. auch die Vorbemerkung der Entwurfsverfasser (AE Novelle StPO, S. 6), die das von ihnen konzipierte nichtöffentliche Verfahren als einen neuen Weg "zur Behandlung der mittleren Kriminalität" vorstellen. 337 Dazu im einzelnen oben "TeiI5.B.lV.2.b)". 334 335

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5. Teil: Reformvorschläge de lege ferenda

war338 , ein Rechtsinstitut zu sein, das unter Umständen geeignet ist, im Bereich leichter bis mittelschwerer Kriminalität justizökonomischen Anliegen eine rechtsstaatlich einwandfreie Regelung zur Verfügung zu stellen. Seit der Erweiterung des Rechtsfolgenkatalogs durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz von 1993, namentlich durch die neu eingeführte Möglichkeit, nach § 407 11 S. 2 StPO freiheitsentziehende Maßnahmen mit Bewährungsmöglichkeit zu verhängen, erstreckt sich der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens mittlerweile auch auf solche deliktische Verhaltensweisen, die der leichten bis mittelschweren Kriminalität zuzuschlagen sind 339 • Versperrt man zudem de lege ferenda - wie im vorhergehenden vorgeschlagen - dem oberhalb der Bagatelldelinquenz liegenden deliktischen Verhalten den Weg in die gesonderte Bagatellbehandlung, so bietet sich für diesen Bereich nahezu zwangsläufig das gegenüber dem sonst einschlägigen Normalverfahren in vielerlei Hinsicht "preiswertere" Strafbefehlsverfahren der §§ 407 ff. StPO an. Um dem Reformvorschlag jedoch die notwendige Akzeptanz durch die Rechtspraxis zu sichern, sollte die Regelung über ihre bloße Geeignetheit hinaus praktisch weitestgehend attraktiv ausgestaltet sein. So wird sich die gewünschte Lenkungswirkung leichter einstellen, wenn die Neuregelung ihren Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit mit den Vorteilen justizentlastender Wesenszüge zu verbinden weiß. Hierzu scheint ein (reformiertes) Strafbefehlsverfahren durchaus in der Lage zu sein, verknüpft es doch u. a. die Vorzüge richterlicher Sanktionskompetenzen nach vorangegangener Schuldfeststellung sowie einer unter Präventionsaspekten begriißenswerten registermäßigen Tatererfassung mit den justizentlastenden Vorteilen eines abgekürzten, vereinfachten Verfahrens. Insbesondere in der grundsätzlichen Nichtöffentlichkeit des Verfahrens liegt die Chance, neben einer unerwünschten Stigmatisierung des Taters die oft hohen Kosten sowie die erheblichen Zeitverluste für alle Beteiligten zu vermeiden, die eine öffentliche Hauptverhandlung regelmäßig mit sich bringt. Das Strafbefehlsverfahren bietet die Chance, das Verfahren "verhältnismäßig billig und auch diskret, ohne Zeitverlust und Aufsehen" zu erledigen 340• Der wohl größte (rechtsstaatliche) Vorzug einer Abwicklung über das Strafbefehlsverfahren liegt jedoch im Verbleib der Sanktionskompetenz beim Richter, was im Falle leichter bis mittelschwerer Kriminalität angesichts der Höhe der in dieser Kategorie potentiell zur Verhängung anstehenden Sanktionen in besonderem Maße unverzichtbar ist. Daß dieser Sanktionierung eine bloß summarische Verfahrensführung vorausgeht, ist insoweit hinnehmbar, als dem BeschulKeller/Schmid, wistra 1984, S. 206 Pn. 65. Zum Anwendungsfenster "mittelschwere Kriminalität" vgl. oben "Teil 3.D.I.2.a) bb)(2)(b)". 340 Vgl. BT-Drs. 12/1217, S. 42 unter Hinweis auf BVerfGE 25,158 (165). Zu den Vorzügen einer raschen und ökonomischen Erledigung einer Strafsache im Strafbefehlsverfahren sowie zu möglichen Reformansätzen vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), S. 40 ff. Zu den zahlreichen Vorteilen der Regelung vgl. Heinz, PS Kaiser, S. 113; Keller/Schmid, wistra 1984, S. 207; Siegismund/Wickem, wistra 1993, S. 93 m. w. N.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht, S. 351. Den weiteren Ausbau dieses Rechtsinstituts zum Zwecke einer Steigerung der Entlastungswirkung fordern u. a. Jescheck, DRiZ 1983, S. 389; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 180. 338 339

C. Die künftige Behandlung leichter bis mittlerer Kriminalität

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digten mittels seines Einspruchsrechts der Weg ins Normalverfahren inklusive ordentlicher Beweisführung stets eröffnet bleibt und insoweit die Abkürzung des Verfahrens von seinem Einverständnis abhängig gemacht wird. Um dennoch die Stellung des Beschuldigten im Verfahren zu stärken und gleichzeitig auch die Attraktivität der Regelung für die rechtsanwendende Praxis zu steigern, wäre das derzeitige Strafbefehlsverfahren in einigen Punkten noch einer Teilreforrn zu unterziehen. In erster Linie muß dabei über die Einführung einer (obligatorischen) Anhörungspflicht vor der Beantragung des Strafbefehls durch die Staatsanwaltschaft341 , insbesondere aber vor dem Erlaß desselben durch das im Antragswege angerufene Gericht nachgedacht werden 342 . Obwohl eine Anhörungspflicht seinerzeit im Gesetzgebungsverfahren erwogen worden ist343 , hat sich dieser Vorschlag - wie § 407 III StPO zeigt - am Ende nicht durchgesetzt. Anstelle dessen hat man die fehlende Einbindung des Angeschuldigten über die Ausweitung der Pflichtverteidigerbestellung nach § 408 b S. 1 StPO aufzufangen versucht344 • Die künftige Verschaffung rechtlichen Gehörs vor Erlaß des Strafbefehls würde nicht nur rechtsstaatliche Forderungen befriedigen: die erweiterte Einflußnahme des Angeschuldigten 345 hätte überdies zur Folge, daß sich das Gericht eine breitere, über den bloßen Akteninhalt hinausgehende Beurteilungsgrundlage verschaffen könnte, so daß die spätere Entscheidung nicht allein auf der Grundlage einer fremden Beweiswürdigung ergehen müßte 346 • Und auch der an dieser Stelle zu erwartende Einwand einer unerträglichen Mehrbelastung der Gerichte verfangt nicht. Denn unabhängig davon, daß die in Art. 103 I GG verankerte Gehörrnaxime nicht allein vor schlichten Vereinfachungs- oder Beschleunigungsinteressen zurückweichen darf, läßt die Vgl. § 408 IV AB Novelle StPO; ebenso Kunz, Bagatellprinzip, S. 346. So beispielsweise Gössel, DIT-Gutachten, C 46; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 925; Rieß, Vereinfachte Verfahrensarten, S. 132; Schlüchter, GA 1994, S. 407; Siegismund/ Wickern, wistra 1993, S. 92. 343 Vgl. BR-Drs. 314/91, S. 14, 125 ff. 344 Vgl. BT-Drs. 12/1217, S. 43. Vgl. zu alledem auch Siegismund/Wickem, wistra 1993, S.90. 345 Neben dem Beschuldigten steht weiterhin der durch die Straftat Verletzte als tauglicher Adressat eines de lege ferenda zu etablierenden Anhörungsrechts zur Debatte. Hierdurch könnte die insgesamt schwache Stellung des Verletzten im Verfahren (vgl. dazu oben "Teil3.D.Y." sowie "Teil 3.D.xI.") (weiter) gestärkt werden. 346 Eser, JZ 1966, S. 663; vgl. auch Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 925; ebenso Rieß, Vereinfachte Verfahrensarten, S. 131 f. Daß derweil für die Forderung nach rechtlichem Gehör mit einer "ex post-Abhilfe" in Gestalt der Einspruchsmöglichkeit nicht viel gewonnen ist, verdeutlicht Eser a. a. 0., S. 664: "Denn so wenig man einen anderen allein deshalb verwunden darf, weil er nur zu rufen braucht, um sofort wieder verbunden zu werden, genauso wenig läßt es sich mit dem Pflaster des Einspruches rechtfertigen, den Beschuldigten überhaupt in seinem Recht auf vorherige Anhörung zu beschneiden. Wäre es anders, müßte überall dort, wo durch entsprechende Rechtsbehelfe noch eine volle Nachprüfbarkeit der Vor-Entscheidung gewährleistet ist, eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs im vorangegangen Verfahren möglich sein. Das wird jedoch zu Recht als unzulässig abgelehnt." 341

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23 Horstmann

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5. Teil: Reformvorschläge de lege ferenda

Einführung einer vorherigen Anhörungspflicht darüber hinaus eine nicht unerhebliche Entlastungswirkung erwarten. So wird bisher in vielen Fällen ein Einspruch gegen den Strafbefehl - und damit in der Konsequenz das aufwendigere Hauptverfahren - nur deswegen erfolgen, weil sich der Betroffene durch die Verweigerung des rechtlichen Gehörs "überfahren" fühlt und er sich von dem mündlichen Vorbringen seiner Belange ein aus seiner Sicht besseres Ergebnis verspricht347 • Zahlreiche Einspruchsfälle könnten demnach höchstwahrscheinlich vermieden werden, wenn dem Betroffenen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt des Verfahrens qua Gesetz eine Standortbestimmung ermöglicht und damit auch seine Akzeptanz gegenüber der späteren Rechtsfolgenentscheidung erhöht werden würde. Da der erwünschte Entlastungserfolg des Strafbefehlsverfahrens ganz generell im wesentlichen vom Faktor ,,Einspruchsverhalten des Betroffenen" abhängen wird348 , gilt das Interesse bei einer Reform insbesondere solchen Statistiken, die im Hinblick auf "erfolgreiche" Strafbefehlsanträge eine günstige Prognose auszustellen wissen. Diesbezüglich kann auf den durchweg positiven Befund - eines allerdings noch jungen Teils - der Strafverfolgungsstatistiken in den Ländern Baden- Württemberg und Nordrhein-Westfalen hingewiesen werden 349 , die seit dem Berichtsjahr 1993 die zusätzliche Aufschlüsselung enthalten, ob die Verurteilung nach allgemeinem Strafrecht durch (1) Strafbefehl ohne Einspruch des Beschuldigten, (2) Urteil nach Einspruch gegen den Strafbefehl, (3) Urteil nach vom Richter anberaumter Hauptverhandlung auf Strafbefehlsantrag oder (4) Urteil ohne vorausgegangenen Strafbefehl erfolgte. Aus diesen Statistiken geht hervor, daß sich für den betrachteten Zeitraum im allgemeinen Strafrecht die Verurteilung durch Strafbefehl - gegen den mithin kein Einspruch erfolgte - als die Regel und nicht etwa die Ausnahme erwiesen hae so . So wurden beispielsweise im Jahre 1996 in BadenWürttemberg 91,8% der Strafbefehle ohne Einspruch rechtskräftig; die Einspruchsrate in Nordrhein-Westfalen lag im gleichen Zeitraum mit 4,7% sogar noch darunter. Die aus diesen Zahlen hervorgehende günstige Prognose für eine künftige Justizentlastung durch einen verstärkten Einsatz des Strafbefehlsverfahrens soll indes nicht der einzige Anreiz für die Strafverfolgungsbehörden bleiben, sich dieses Rechtsinstituts fortan bei der Bewältigung leichter bis mittel schwerer Kriminalität verstärkt zu bedienen. Zur weiteren Steigerung der Attraktivität ist beispielsweise de lege ferenda ein Ausbau des gegenwärtigen Rechtsfolgenteils des § 407 11 StPO 347 Vgl. Eser. JZ 1966, S. 666; Hünerfeld, ZStW 90 (1978), S. 925. Ein späterer Einspruch und die damit verbundene Verlängerung des Verfahrens könne - so Schlüchter (in: GA 1994, S. 407) - des weiteren vermieden werden, wenn der Richter in einer dem Erlaß des Strafbefehls vorausgehenden Anhörung des Angeschuldigten zur festen Überzeugung gelange, daß dieser in jedem Fall den Einspruchsweg beschreiten werde und er aus diesem Grunde auch direkt einen Termin zur Hauptverhandlung anberaumen könne. 348 Vgl. Heinz, FS Kaiser, S. 115. 349 Nachweise bei Heinz, FS Kaiser, S. 113 ff.; derselbe, ZStW 111 (1999), S. 474 f. 350 Heinz, FS Kaiser, S. 116; derselbe, ZStW 111 (1999), S. 475.

D. Geringfügigkeitseinstellungen nach § 31 a BtMG

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in Betracht zu ziehen, wobei im Zusammenhang mit einem differenzierten, attraktiven Sanktionsarsenal insbesondere an die Möglichkeit eines Schuldspruchs mit anschließender Auflagenverhängung - etwa nach dem Vorbild des § 408 III AB zu denken wäre. Auf diese Weise ließe sich ein Vorzug der lex lata in ein aus rechtsstaatlicher Sicht weitaus ansprechenderes Gefüge einpassen. Die Ersetzung des § 153 a StPO durch ein derart reformiertes Strafbefehlsverfahren würde im Bereich der leichten bis mittelschweren Kriminalität dazu führen, daß de lege ferenda an die Stelle eines in vielerlei Hinsicht unzulänglichen Verfahrensmodells eine rechtsstaatlichen Anforderungen besser genügende Regelung treten würde, die gleichsam eine Entlastungswirkung verspricht.

D. Geringfügigkeitseinstellungen nach § 31 a BtMG An der opportunitätsgeprägten Einstellungsermächtigung des § 31 a BtMG war im "Dritten Teil" dieser Untersuchung insbesondere die weitgehende Konturenlosigkeit ihrer Anwendungsmerkmale zu kritisieren 351 • Die (auch) daraus resultierende Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung im kleinkriminellen Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts hatte im Jahre 1994 zur Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts an die Länder geführt, in Zukunft für eine im wesentlichen einheitliche Rechtsanwendung beim Vollzug der Vorschrift Sorge zu tragen 352 . Dieser Anstoß zu einer freiwilligen Selbstkoordinierung der Einstellungspraxis durch Herausbildung einheitlicher Anwendungsrichtlinien hat jedoch bislang nicht zum gewünschten Erfolg geführt353 . Und auch in naher Zukunft ist Abhilfe von dieser Stelle kaum zu erwarten. Es hat vielmehr den Anschein, als sei eine Umsetzung des verfassungsgerichtlichen Beschlusses angesichts unüberwindbarer Auffassungsunterschiede der Landesjustizverwaltungen in weite Ferne gerückt 354 . Um sich dennoch nicht einfach dem Schicksal einer ungleichmäßigen Rechtsanwendung zu ergeben, bieten sich für den künftigen Umgang mit bagatellarischer Betäubungsmittelkriminalität weitere - im Ausgang vollkommen unterschiedliche - Lösungsmodelle an. Zum einen könnte de lege ferenda eine systemimmanente Reform zur Präzisierung der unbestimmten Anwendungsvoraussetzungen des § 31 a BtMG durch den Bundesgesetzgeber führen. Hierdurch würde nicht nur dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot und damit auch einer künftigen Vereinheitlichung der RechtsDazu im einzelnen oben "Teil 3.F.". Dazu im einzelnen oben "Teil 3.F.". 353 Vgl. Ambos, MschrKrim 1995, S. 48; Aulinger; S. 95 ff., 133; Klingner; NJW 1994, S. 2977 ff.; NelleslVelten, NStZ 1994, S. 368, die darüber hinaus darauf hinweisen, daß es Richtlinien angesichts fehlender Justiziabilität ganz allgemein an der Eignung fehle, Rechtsanwendungsgleichheit zu garantieren; vgl. dazu auch bereits oben "TeiI5.B.II.l.b)bb)". 354 Aulinger; S. 326; Klingner; NJW 1994, S. 2978. 351

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23*

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5. Teil: Refonnvorschläge de legeferenda

anwendungspraxis zugearbeitet: Die exakte Festlegung von Strafbarkeitsgrenzen durch den Gesetzgeber hätte zur (weiteren) guten Folge, daß die de lege lata bestehende Se1ektionsmacht der Staatsanwaltschaft im Opportunitätsbereich erheblich zurückgeschnitten und staatliches Handeln damit insgesamt vorhersehbarer würde 355 . Dabei gilt es jedoch gleichsam zu bedenken, daß - wie bereits zuvor für den Fall der §§ 153, 153 a StPO - sämtliche gutgemeinten Randkorrekturen systemimmanenter Couleur (auch) bei § 31 a BtMG im Ergebnis nicht mehr als Makulatur ergeben, wenn die Kernproblematik praktisch gesetzessystematisch in der prozessualen Lösung selbst angelegt ist356 . Das systemimmanente Kurieren an einzelnen Erscheinungsformen der lex lata hilft schlechterdings nicht über die Tatsache hinweg, daß im Falle des § 31 a BtMG ein weiteres Mal das Strukturprinzip der Opportunität dazu verwandt worden ist, strafrechtliche Sozialkontrolle in großem Ausmaße auf die exekutivischen Schultern der Staatsanwaltschaft zu verlagern und die in diesem Zusammenhang getroffenen Entscheidungen einer richterlichen Kontrolle weitestgehend zu entziehen 357 . Es ist daher auch im Geringfügigkeitsbereich der Betäubungsmittelkriminalität eine primär materiellrechtliche Verortung der Problematik erforderlich358 . Dabei muß im konkreten Fall insbesondere über das Für und Wider einer Fortdauer der Berechtigung zur materiellrechtlichen Kriminalisierung solcher Verhaltensweisen nachgedacht werden, die im gegenwärtigen Strafverfolgungsalltag regelmäßig zur anschließenden prozessualen Entkriminalisierung freigegeben sind. Beispielsweise befremdet es bei der Strafandrohung des § 29 BtMG, daß über die Kriminalisierung von Besitz und Erwerb auch geringer Mengen Betäubungsmittel zum Eigenverbrauch der nach geltendem Recht straflose Konsum der Droge de facto ebenfalls kriminalisiert wird. Ein Konsumierungsvorgang ohne vorherigen Erwerb oder Besitz stößt schnell an die Grenzen des allgemein noch Vorstellbaren 359 • Dieser Widerspruch wiegt umso schwerer, als die Sozial- und Gesundheitsschädlichkeit des gelegentlichen Konsums von Cannabisprodukten nicht unumstritten ist und die konkreten physischen und psychischen Wirkungen eines Gebrauchs dieser Stoffe innerhalb der Wissenschaft unterschiedlich beschrieben werden360 • Einigkeit besteht indes darin, daß der Konsum von Cannabisprodukten weder zu körperlicher Abhängigkeit führt noch eine Toleranzbildung verursacht; das Vgl. dazu auch oben "TeiI5.B.II.1.". Dazu bereits oben "Teil5.B.l1.4.". 357 Vgl. für die Opportunitätseinstellungen nach den §§ 153, 153a StPO im einzelnen oben "TeiI3.D.IV." sowie "TeiI3.D.Y.". 358 So auch das von der Senatsentscheidung abweichende Votum des Verfassungsrichters Sommer, BVerfGE 90, 145 (212 f.). Vgl. auch Ambos, MschrKrim 1995, S. 49; Aulinger, S. 65 f. m. w. N. 359 Vgl. Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 41; ebenso Lüderssen, StV 1994, S. 509. 360 Vgl. hierzu die Nachweise bei BVerfGE 90, 145 (177 ff.); Albrecht u. a., Strafrechtultima ratio, S. 42. 355

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D. Geringfügigkeitseinstellungen nach § 31 a BtMG

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Suchtpotential bei diesem Rauschmittel ist gering 361 • Des weiteren verursacht der lediglich gemäßigte Genuß allenfalls geringe unmittelbare gesundheitliche Schäden362 und hat darüber hinaus ganz generell - entgegen einer früher häufig anzutreffenden Auffassung - keine sog. Schrittmacherfunktion auf ,,härtere" Drogen hin 363 • Richtig ist, daß ein Großteil der Konsumenten ,,härterer" Drogen über anfängliche Rauscherfahrungen mit Cannabisprodukten verfügt. Der Urnkehrschluß funktioniert dagegen nicht, denn nicht jeder Konsument von Cannabisprodukten erweitert später seine Drogenerfahrung um solche Präparate, deren verheerende Gebrauchsfolgen ganz außer Frage stehen364 • So käme vermutlich auch kaum einer auf die Idee, den Konsum von Nikotin und Alkohol als sog. ,,Einstiegsdroge" anzuprangern, obwohl mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit behauptet werden kann, daß nahezu alle Konsumenten ,,härterer" Drogen den vorherigen Kontakt mit diesen Suchtstoffen aufzuweisen haben. Umso unklarer wird dann aber die Differenzierung, die der Gesetzgeber an dieser Stelle vornimmt. Bei allen begründeten Vorbehalten gegenüber der gegenwärtigen Regelung des Betäubungsmittelstrafrechts sollen jedoch keinesfalls denkbare Gegenpositionen übergangen werden, die es im Rahmen eines verantwortungsvollen Umgangs mit der Thematik notwendigerweise zu berücksichtigen gilt und die auch nicht leichtfertig mit dem Hinweis auf mögliche andere Mißstände vom Tisch gefegt werden dürfen. So birgt der Konsum von Cannabisprodukten, ungeachtet manch hypertropher Anwandlung von kategorischen Rauschrnittelgegnern, auch nach heutigem Erkenntnisstand der Wissenschaft eine Reihe nicht unbeträchtlicher Gefahren und Risiken. Weitestgehend konsensfähig ist dabei neben der Erwartbarkeit von körperlichen Schäden bei Dauerkonsumenten insbesondere auch die nicht selten eintretende psychische Abhängigkeit von der Droge365 • Diese kaum bestreitbare Restgefährlichkeit des Präparats gilt es zu bedenken, wenn die Forderung nach einer uneingeschränkten Freigabe erhoben wird. Vor diesem Hintergrund könnte sich dann auch eine materiellrechtliche Entkriminalisierung durch ersatzlose Streichung der einschlägigen Straftatbestände insoweit als folgenreich erweisen, als hierdurch die Gefahr beschworen wird, daß infolge einer ungewollten Signalwirkung bis dato betäubungsmittelabstinent lebende Zeitgenossen zum künftigen Drogenkonsum animiert werden könnten. Dies steht insbesondere dann zu befürchten, wenn die Vgl. hierzu die Nachweise bei BVerfGE 90, 145 (180). Vgl. hierzu die Nachweise bei BVerfGE 90,145 (180); vgl. auch NelleslVelten, NStZ 1994, S. 366. 363 Vgl. hierzu die Nachweise bei BVerfGE 90, 145 (181); vgl. Albrecht u. a., Strafrechtultima ratio, S. 41 f.; ebenso Ambos, MschrKrim 1995, S. 51. 364 Ein solcher Schluß wäre ebenso falsch, wie die weit verbreitete Ansicht, daß jeder, der längerfristig Nikotin in hohen Dosen konsumiert, auf kurz oder lang an Lungenkrebs oder einern sog. "Raucherbein" erkranken wird. Zutreffend ist dagegen lediglich, daß nahezu jeder Lungenkrebs- bzw. "Raucherbein"-Patient einschlägige Erfahrungen mit Nikotin gemacht haben dürfte. 365 Vgl. hierzu die Nachweise bei BVerfGE 90, 145 (180). 361

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5. Teil: Reformvorschläge de lege jerenda

nunmehr gänzlich legalisierten Rauschmittel öffentlich vertrieben und - so ist es zu erwarten - auf dem neu eröffneten Markt massiv beworben würden 366 . Es stellt sich jedoch andererseits die Frage, ob nicht ohnehin bereits in Reaktion auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 - jedenfalls was die gegenwärtige Präventionswirkung der materiellrechtlichen Strafandrohung anbelangt - ein durchaus vergleichbarer Zustand eingetreten ist. Das Signal, das hier von seiten des Gerichts dadurch gesetzt wurde, daß die Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung gewisser geringfügiger Verhaltensweisen in § 29 BtMG nicht zuletzt von der prozessualen Korrekturmöglichkeit über die Vorschrift des § 31 a BtMG abhängig gemacht worden ise 67 , hat von der gewünschten Präventivkraft einer materiellrechtlichen Strafandrohung nicht allzuviel übriggelassen 368 • In der Wahrnehmung eines breiten Teiles der Bevölkerung ist diese Strafandrohung infolge des öffentlichkeitswirksamen Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses faktisch nicht mehr existent. Überdies dürfte das Gericht mit seiner Einschätzung zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit prozessualer Korrekturen im Bereich des lückenlos mit Strafe bedrohten unerlaubten Umgangs mit Cannabisprodukten 369 dem Kern der Kritik sehr nahe gekommen sein. Als unverhältnismäßig erscheint die bezeichnete Kriminalisierung schon allein deshalb, weil es sich hier ausschließlich um Fälle der Selbstschädigung oder Selbstgefährdung handelt37o • Dariiber hinaus lehren die Erfahrungen der Vergangenheit im Umgang mit dem Alkohol, daß Prohibition vollkommen ungeeignet ist, süchtiges Verhalten zu verhindern 37 ). Eine repressive Vorgehensweise in dieser Richtung erweist sich im besten Fall als wirkungslos, im schlimmeren Fall sogar als kontraproduktiv und mitunter inhuman 372 • Dennoch haben all diese unterschiedlichen Erkenntnisse bislang nicht dazu geführt, einer repressiven Drogenpolitik im Geringfügigkeitsbereich zu entsagen und § 31 a BtMG im Wege einer materiellrechtlichen Entkriminalisierung gegenstandslos zu machen. Stattdessen hält man weiterhin an der unehrlichen Lösung einer materiellen Strafandrohung bei gleichzeitiger prozessualer Korrekturoption über § 31 a BtMG fest. Im Dienste der Verhältnismäßigkeit verrichten Opportunitätseinstellungen ein weiteres Mal die Arbeit, für die sich eigentlich der Gesetzgeber verantwortlich fühlen müßte. Wie ein solcher Auftrag auszusehen hätte, läßt sich nach dem Vorgenannten wie folgt umschreiben: die gebotene materiellrechtliche Ausdünnung der de lege lata umfassenden Kriminalisierung geringfügiger Vgl. Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 43. Vgl. BVerfGE 90, 145 (185, 187 ff.). 368 Zur Aufrechterhaltung von materiellen Strafandrohungen zum Zwecke der Prävention bei gleichzeitiger prozessualer Entkrirninalisierung der entsprechenden Verhaltensweisen vgl. bereits oben "Teil3.D.xIII.". 369 BVerfGE 90, 145 (189). 370 Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 40; vgl. auch Ambos, MschrKrim 1995, S. 50. 371 Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 44; vgl. auch Ambos, MschrKrim 1995, S. 50 f.; ebenso Lüderssen, StV 1994, S. 513. 372 Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 40. 366 367

E. Kronzeugenregelungen

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Delinquenz im Umgang mit Cannabisprodukten373 würde einen Fortbestand der opportunen Einstellungsermächtigung nach § 31 a BtMG künftig in Gänze überflüssig werden lassen. Die Vorschrift wäre demzufolge ersatzlos zu streichen. Insgesamt besehen erscheint das Kriminalstrafrecht als der falsche Ort, um ein gesellschaftliches Problem dieser Art erfolgversprechend anzugehen 374 . Der bisherigen repressiven Drogenpolitik ist vielmehr eines inhärent: sie nützt dem Anliegen augenscheinlich wenig und schadet vielmehr der Rechtsstaatlichkeit im Ganzen 375 . So werden beispielsweise (auch) zur Bekämpfung von Betäubungsmittelkriminalität nicht selten verdeckte Ermittlungsmethoden bis an die Grenze des rechtsstaatlieh gerade noch Verträglichen hin ausgedehnt und dabei verfassungsrechtliche Garantien im Konfliktfall auf dem Altar der Zweckmäßigkeit geopfert. In der Tradition dieser unheilvollen Kompromisse stehen derweil auch die verschiedentlichen Kronzeugenregelungen, zu deren künftigem Schicksal im Anschluß eine kurze, diesen ,,Fünften Teil" abschließende Stellungnahme erfolgen soll.

E. Kronzeugenregelungen Die Rechtsfigur des Kronzeugen beruht - wie bereits im ,,Dritten Teil" dieser Bearbeitung eingehend erörtert376 - auf reinen Nützlichkeitserwägungen und stellt den wohl nachhaltigsten Einbruch in das verfassungsrechtlich fundierte Legalitätsprinzip dar. Zu Legitimationszwecken wird bei einer Kronzeugenregelung regelmäßig auf die Besonderheiten der sie hervorbringenden Kriminalitätsform und einen damit zusammenhängenden staatlichen "Ermittlungsnotstand" hingewiesen. Die rechtsstaatlichen und kriminalpolitischen Bedenken gegenüber einer jedweden Ausformung dieser Rechtsfigur sind jedoch erheblich. Neben den gravierenden Ungleichbehandlungen, die sich aus der strukturbedingten Privilegierung deliktisch besonders belasteter Tliterkreise ergeben, ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch auf die beiderseitige Mißbrauchsgefahr hinzuweisen: Droht staatlicherseits durch die vorschnelle Anwendung einer Kronzeugenregelung der Amtsermittlungsgrundsatz unterlaufen zu werden, so ergibt sich auf seiten des potentiellen Kronzeugen anläßlich der in Aussicht gestellten Wohltaten ein latenter Anreiz zur Lüge. Erliegt er dieser Versuchung, droht infolge der unwahren Einlassung nicht nur der Regelungszweck des Rechtsinstituts vereitelt zu werden, sondern es werden unter Umständen auch unbeteiligte Dritte zu Unrecht mit Strafverfolgungsmaßnahmen überzogen. Über alledem schwebt zudem permanent der Vorwurf der 373 So beispielsweise Ambos, MschrKrim 1995, S. 49, der "die einzig rechtsstaatliche unbedenkliche Lösung (in der) schon tatbestandliche(n) Entkrirninalisierung von Erwerb und Besitz zum Eigenverbrauch" sieht. 374 Vgl. Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 40. 375 Vgl. Albrecht u. a., Strafrecht-ultima ratio, S. 41. 376 Dazu oben "TeiI3.G.".

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5. Teil: Reformvorschläge de lege ferenda

Käuflichkeit, wodurch die staatliche Strafrechtspflege einen beträchtlichen Ansehensverlust erleidet. Die hoheitliche Aufforderung zum Verrat am Komplizen aus blanken ermittlungspragmatischen Gründen erscheint eines Rechtsstaates kaum würdig. Der manches Mal "levantinische Handel" mit dem Straftäter muß sich daher über kurz oder lang negativ auf spezial- und generalpräventive Zielsetzungen des Staates auswirken. Die vorgenannten "Kosten" einer Kronzeugenregelung schlagen auch voll zu Buche, da der tatsächliche Nutzen dieses Rechtsinstituts mehr als zweifelhaft ist. So sprechen eine Vielzahl gewichtiger Gründe - die im wesentlichen durch Erfahrungen aus der Praxis bestätigt werden - gegen eine hinreichende Effizienz von Kronzeugenregelungen 377 • Wenn nun aber ein derart gravierender Angriff auf Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit nicht einmal ansatzweise durch gewisse Beachtlichkeitserfolge auf der Habenseite abgefedert wird, fehlt es dem betroffenen Rechtsinstitut an jeglicher (weiteren) Existenzberechtigung. Der Gesetzgeber des Jahres 1999 hat demzufolge bezüglich des Kronzeugengesetzes die einzig richtige Konsequenz gezogen und sich gegen eine neuerliche Verlängerung der Regelung entschieden. Für die gegenwärtig noch aktive Kronzeugenregelung des § 31 BtMG ist aus den vorgenannten Gründen de lege ferenda ein vergleichbares Schicksal vorzuschlagen.

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Dazu im einzelnen oben "Teil3.G ....

Gesamtergebnis Opportunitätseinstellungen bestimmen dieser Tage in weiten Bereichen das Bild staatlicher Strafverfolgungstätigkeit. Sie sind Ausprägungen eines rechtstheoretischen Gegenprinzips zur verfassungsrechtlich fundierten Legalität, die wiederum trotz ihrer wechselvollen Geschichte unverändert den Regelfall der strafrechtlichen Gesetzeskonzeption in Deutschland ausmacht. Im symbiotischen Zusammenspiel mit dem für eine rechtsstaatliche Strafrechtskultur unverzichtbaren Legalitätsprinzip bildet der Opportunitätsgedanke einen bedeutsamen Gegenpart, dessen Aufgabenfeld sich innerhalb dieses einheitlichen Reaktionssystems mit dem Auftrag zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit sowie den nicht minder beachtlichen Beiträgen zur Verfahrensbeschleunigung und dem Erhalt der Funktionsflihigkeit der Strafrechtspflege umreißen läßt. So ist es auch weniger das Strukturprinzip der Opportunität selbst als vielmehr dessen konkrete Umsetzung im Rahmen der lex lata, woran sich die Kritik entzündet. Die Lockrufe von Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit verführen nur allzu leicht zu einer übermäßigen und unangemessenen Gebrauchmachung vom Opportunitätsgedanken. Nicht selten wird dabei die Rechtsstaatlichkeit regelrecht ausmanövriert. So sieht sich bisweilen bereits der Anlaß zu einer Opportunitätsregelung Vorwürfen ausgesetzt: Indem beispielsweise der Gesetzgeber in Bereichen bagatellarischer Delinquenz die ,,Flucht ins Prozeßrecht" antritt und dem Rechtsanwender ein prozessuales Korrekturinstrument zum Ausgleich für materielle Überreichweiten des Strafrechts zur Verfügung stellt, entzieht er sich auf diese Weise seinem ureigenen materiellrechtlichen Entkriminalisierungsauftrag. So erweist sich dann auch manches Argument, das für opportune Einbrüche in das rechts staatliche Legalitätsprinzip vorgetragen wird, als Fehler des materiellen Rechts und mithin als ein Versäumnis des Gesetzgebers. In anderen Fällen wiederum ergeben sich Opportunitätsanlässe weniger aus einem Vermeidungsverhalten der Legislative als vielmehr aufgrund ermittlungspragmatischer Anliegen seitens der Exekutive, die durch eine normative Installation flexibler Handlungsermächtigungen für den Strafverfolgungsalltag befriedigt werden sollen. Hierbei kommt es dann manches Mal zu Mängeln in der konkreten Ausgestaltung der opportunen Regelungen, die wiederum ein schlechtes Licht auf die Opportunität als solche werfen. Ausnahmslos alle innerhalb dieser Bearbeitung zur Diskussion gestellten opportunitätsgeprägten Einstellungsvorschriften trifft der Vorwurf einer weitgehenden Unbestimmtheit ihrer Anwendungsvoraussetzungen und der Folgeerscheinung einer ungleichmäßigen Rechtsanwendung. Der Zugewinn an Flexibilität und Justizentlastung wird des weiteren dadurch teuer erkauft, daß mittels opportuner Handlungsermächtigungen Kompetenzen an die Staatsanwaltschaft delegiert werden, die ihr von Verfassungs wegen nicht zustehen. Neben den be-

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Gesamtergebnis

achtlichen Defiziten bei der Rechtsschutzgewährung, die es de lege lata gegenüber opportunitätsgeleitetem Strafverfolgungshandeln zu beklagen gilt, dürfte dies einer der bemerkenswertesten Aspekte im stattlichen Füllhorn an Unzulänglichkeiten gegenwärtiger Opportunitätseinstellungsermächtigungen sein. Das über weite Strecken ausgiebige Spiel der Rechtspraxis auf der breit angelegten Opportunitätsklaviatur trägt einen weiteren Teil zu einem insgesamt fatalen Bedeutungsverlust einer rechtsstaatlichen Werten verpflichteten, legalitätsgeleiteten Strafverfolgung bei. Um diesem Zustand abzuhelfen, bieten sich de lege ferenda zwei im Ausgang divergierende Lösungsansätze an. Eine Bändigung ausufernder Opportunität kann zum einen systemimmanent durch punktuelle Randkorrekturen an konkreten Ausprägungen des Opportunitätsgedankens innerhalb der lex lata, oder aber durch verschiedentliche Modifikationen an den materiellrechtlichen Bezugspunkten staatlichen Strafverfolgungshandelns zu erreichen gesucht werden. Von bei den denkbaren Vorgehensweisen zeigt sich insgesamt betrachtet der (auch) materiellrechtliche Weg als der vorzugswürdige. Für den Bereich der Bagatellkriminalität bedeutet dies, daß de lege ferenda der hier bisher vorherrschenden Opportunität ein ganzheitliches Lösungskonzept entgegenzusetzen ist. An die Stelle der gegenwärtigen §§ 153, 153 a StPO hat künftig eine materiellrechtliche Ausgrenzung der verschiedenen Beachtlichkeitsgrade bagatellarischer Verhaltensweisen zu treten, die es ermöglicht, der dann justiziablen Einstufung ein in jeglicher Hinsicht angemessenes staatliches Reaktionsprogramm anzuschließen. Im Zuge dieser materiellrechtlichen Ausgrenzung von Bagatellen wird aus dem bisherigen Regelungsrahmen des § 153 a StPO ein Bereich leichter bis mitteischwerer Kriminalität übrigbleiben, dem angesichts seiner punitiven Beachtlichkeit das Privileg eines gesonderten Bagatellverfahrens vorzuenthalten ist. Um dennoch justizökonomische Interessen zu wahren, ist für die künftige verfahrensrechtliche Behandlung dieser Fälle ein teilweise reformiertes Strafbefehlsverfahren vorzuschlagen. Im Betäubungsmittelstrafrecht soll eine materiellrechtliche Entkriminalisierung die gegenwärtige Notwendigkeit opportuner Geringfügigkeitseinstellungen nach § 31 a BtMG ersetzen. Die Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung ist hier bisher in besonderem Maße frappant. Eine ersatzlose Eliminierung unverhältnismäßig weit geratener materieller Strafandrohungen würde demgegenüber das unbefriedigende prozessuale Korrekturinstrument überflüssig machen. Zu verzichten ist auch auf Kronzeugenregelungen. Durch sie wird regelmäßig ein aus rechtsstaatlicher Sicht zu hoher Preis im Hinblick auf den erwartbaren Nutzen gezahlt. Für das gegenwärtige Recht bedeutet dies, daß die "kleine" Kronzeugenrege1ung des § 31 BtMG zu streichen ist. Die vorliegende Untersuchung praxisrelevanter Opportunitätseinstellungen hat gezeigt, daß die Gelegenheit zu opportunem Staatshandeln stets die Gefahr von Maßlosigkeit und Willkür in sich trägt. Was als notwendige Ergänzung zum

Gesamtergebnis

363

Grundsatz der Legalität erdacht war, hat sich im Laufe der Zeit zunehmend verselbständigt und gefährdet mittlerweile in weiten Bereichen die rechtsstaatlichen Errungenschaften einer im Grundsatz legalitätsverpflichteten Strafrechtspflege. Insgesamt besehen erscheint daher die Forderung nach einer Rückkehr zu einem Mehr an Legalität als ein dringliches Anliegen. Die Bändigung von Opportunität ist dabei insbesondere an den Stellen dringlich, wo sie in erster Linie dazu benutzt wird, einer systemkonformen Lösung materiellrechtlicher Probleme auszuweichen, oder aber der pure Pragmatismus den Einsatz opportunen Strafverfolgungshandelns beherrscht. Nutzen und Opportunität dürfen nicht mit Gerechtigkeit verwechselt werden.

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