Lebenslage und Sozialarbeit: Elemente zu einer Soziologie von Hilfe und Kontrolle [1 ed.] 9783428454150, 9783428054152

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Lebenslage und Sozialarbeit: Elemente zu einer Soziologie von Hilfe und Kontrolle [1 ed.]
 9783428454150, 9783428054152

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ANTON AMANN

Lebenslage und Sozialarbeit

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 7

Lebenslage und Sozialarbeit Elemente zu einer Soziologie von Hilfe und Kontrolle

Von

Anton Amann

DUNCKER

&

H Ü M B L O T

/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Amann, Anton: Lebenslage u n d Sozialarbeit : Elemente zu e. Soziologie von Hilfe u. K o n t r o l l e / von A n t o n Amann. — B e r l i n : Duncker u n d Humblot, 1983. (Sozialwissenschaftliche Schriften ; 7) I S B N 3-428-05415-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05415 6

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist aus einer langjährigen Analyse gesellschaftlicher Ursachen heutiger Sozialarbeit und der Binnenstruktur ihrer realen Ausfaltung entstanden, ohne die Gewißheit am Anfang, daß Ergebnisse dieser Arbeit i n Gestalt eine Buches sich zusammenfinden würden. Je mehr sich aber Semester u m Semester die Diskussion ausdifferenzierte, Zettelkästen, Exzerpthefte und Projektdokumentationen sich bis an die Ränder des täglichen Lebens ausdehnten und kongenial dazu das Unbehagen über die Defizite einer soziologischen Theorie der Sozialarbeit anstieg, desto drängender wurde der Wunsch, i n einem konzeptiven Schritt Übersicht und theoriekonstitutive Begrifflichkeit i n die buntschillernde Welt der Sozialarbeitsdiskussion zu bringen — zumindest einen Versuch i n jenem Wissensbereich zu unternehmen, der aufgrund prinzipiell beschränkter Kapazitäten persönlich zugänglich ist. Mißtrauen gegen John Torrances' schnelles Urteil, daß die heute i n Österreich betriebene Soziologie weitgehend die Blüte einer künstlichen Saat sei, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Amerika importiert wurde und ein wissenschaftshistorisches Interesse an eben dieser österreichischen Soziologie i n der Zwischenkriegszeit führten zu einer näheren Beschäftigung mit O. Neurath und — vor allem — seinen soziologischen Schriften. Das Lebenslagenkonzept und die damit verbundenen theoretischen und politischen Intentionen, die m i r P. Neurath deutlicher machte, und dafür danke ich i h m an dieser Stelle nochmals und vor der Öffentlichkeit, schienen m i r Ansatzpunkte genug zu enthalten, u m eine Bearbeitung für die vorliegenden Probleme einer makro- und mikroorientierten Analyse der Sozialarbeit zu wagen; schon deshalb wurde dieses Konzept m i r interessant, weil die seltsam einseitige und schiefe Rezeption des Wiener Denkens u m den Ersten Weltkrieg und i n der Zwischenkriegszeit i n den deutschen und angelsächsischen Humanwissenschaften eine Kulmination u. a. darin erfuhr, daß an O. Neurath vornehmlich der „neopositivistische" Anteil vermarktet wurde, während seine eminent soziologischen und gesellschaftsplanerischen Schriften einfach der Wahrnehmungsverzerrung vorgefaßter Verwertbarkeitsvorstellungen anheimfielen. Eine mich sehr ermutigende Korrespondenz mit W. Engelhardt i n Köln, der für eine Diskussion des Lebenslagenkonzeptes auch Interesse in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vermutete, gab den Ausschlag. Durch eine Auswahl vieler, wenn auch bei weitem nicht aller wichtigen Quellen, durch

6

Vorwort

die Verwendung zahlreicher empirischer Belege und durch den Versuch, Gedankengänge auf das Thema Sozialarbeit zu beziehen, die sich nicht unbedingt den main stream-Überlegungen fügen mögen, habe ich getrachtet, den Nachweis zu führen, daß es eine soziologische Theorie der Sozialarbeit nicht gibt; vor allem keine, die sich der Ebene der gesellschaftlichen Ursachen und jener individuellen Handelns mit gleichem Interesse annähme. Andere Ansätze zu einer Soziologie der Sozialarbeit sind also vonnöten. Fruchtbar können sie allerdings nur unter ständigem und kritisch sich selbst vergewisserndem Bezug zu empirischen Grundlagen entstehen; Forschung und praktische Erfahrung, wie sie m i r jederzeit i n großem Ausmaß i m Ludwig-BoltzmannInstitut für Sozialgerontologie und Lebenslaufforschung i n Wien zur Verfügung standen. Vorworte werden geschrieben, wenn am Schluß deutlich ist, was noch der Erwähnung bedarf; ein Gedanke, der wohl wegen seiner Omnipräsenz unter Autoren kaum ausgesprochen wird, ist jener, ob die A r beit sich auch gelohnt hat, die unsere Tage verschlang; m i r diente als Maßstab, was J. M. Keynes sozialwissenschaftlicher Analyse generell konzedierte: sie verlange vom Leser viel guten Willen und ein großes Maß an Kooperation; es gebe tausend Einwände, die nicht fundamental, aber trotzdem berechtigt seien und es gebe sie deshalb, weil es keine vollständige Darstellung des Gedachten und Denkmöglichen gebe. Die Forderung nach sachlicher Vollständigkeit würde eine Darstellungsweise bedeuten, die weitschweifig und kompliziert bis zur Obskurität wäre. Was bleibt, ist immer eine Auswahl, eine Unterdrückung von Vielem zugunsten des Gesagten. Die Gefahr, die sie i n sich trägt, w i r d dort manifest, wo der Autor das Bewußtsein der Leser nicht trifft; dann allerdings ist auf klärende Diskussion zu hoffen. Wissenschaftliche Arbeiten werden häufig unter der mehr oder weniger deutlichen Perspektive einer kumulativen Erkenntnisentwicklung präsentiert — allerdings zeigt sich immer nachdrücklicher, daß diese, einst von R. K. Merton auch theoretisch begründete Vorstellung eines Wissenschaftsfortschritts i n den Sozialwissenschaften keine Gültigkeit beanspruchen kann. Die Sozialarbeitsdiskussion z. B. zeigt zu eindringlich, wie die Konzentration auf lan/g sich schon entwickelnde Ansätze zwar möglicherweise zu einer Festigung mancher Thesen, aber sicher nicht zu einer vollen Rezeption ihr dienlicher Konzepte beiträgt. Auch hier scheint J. Nestroys D i k t u m zu gelten: Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut als er wirklich ist. Anton

Amann

Inhalt

Einleitung: Gesellschaftstheoretische Orientierung und forschungsleitende Hypothesen

9

Richtlinien der Untersuchung

9

Strukturbegriff u n d Lebenslage

17

Die Vieldimensionalität v o n Lebenslagen

18

Komplexe Theorie u n d faktisches Handeln — Gründe für eine Integration verschiedendisziplinären Wissens

21 22

— Zur Frage der Wissensvermittlung

26

Bezüge sozialarbeiterischen Handelns

41

Die F u n k t i o n gesellschaftstheoretischer Orientierung

42

Teil I: Probleme der Theorienbildung in der Sozialarbeit

46

Defizite i n der Verwissenschaftlichung der Sozialarbeit

46

Theorien der Sozialarbeit: Die helfende Beziehung — Konzeptuelle Grundprobleme — Der Primat der Methodik des Helfens — Helfen als unverzichtbare Praxis

52 52 59 63

Theorien der Sozialarbeit: A r m u t als bestimmendes S t r u k t u r m e r k m a l . . — Exkurs über den Armutsbegriff bei G. Simmel — Der Ansatz von H. Zander — Der Ansatz von W. Hollstein

66 70 72 74

Dimensionen einer Theorie der Sozialarbeit

79

Teil I I : Elemente zu einer Theorie der Sozialarbeit

90

Argumente am Beginn

90

Sozialarbeit u n d Wohlfahrtsstaat — Die öffentliche Verantwortung für das W o h l des einzelnen — Konnotationen des Begriffes Wohlfahrt — Wohlfahrtsstaat als k o l l e k t i v e Anerkennung gesellschaftlicher dürfnisse? — Individualismus versus Kollektivismus?

92 94 101 Be-

110 123

8

Inhalt

Theorie der Lebenslage — Die Grundlegung bei O. Neurath — Das Forschungskonzept v o n 1937 — Die Wendung bei G. Weisser

127 127 134 139

Lebenslage als Konzept der Sozialarbeitsanalyse . — Die theoretischen Grundlinien des Konzeptes — Methodische Voraussetzungen der Lebenslagenanalyse

147 147 153

Soziale Dienste als Realisierungsform v o n Sozialarbeit — K r i t e r i e n der empirisch-theoretischen Abgrenzung

157 159

Sechs Thesen zur A r b e i t m i t älteren Menschen — Tendenzen institutioneller Entwicklung — Merkmale der Klientensituation

164 166 172

Teil I I I : Mikrotheoretische Lebenslagenanalyse von Klienten der Altenarbeit 181 Die These der „Defizit-Transition" — Lebenslagendimensionen u n d Risikopopulation — U n i f o r m u n d n o n - u n i f o r m events — Krankheitsepisode u n d der Weg zur kompetenten Stelle

181 182 186 187

Z u r Einordnung der Analyse — Ziele u n d Absichten der Studie — Die Untersuchungspopulation — Methodologie u n d verwendete Techniken

189 193 195 197

Der Gesundheitszustand als Dimension der Lebenslage 207 — E i n theoretischer Exkurs 207 — Der „subjektive" Gesundheitszustand 216 — Physische Defizienzen, Hilfebedürftigkeit u n d Abhängigkeit 223 — Voraussetzungen, unter denen Angewiesensein auf die Hilfe anderer entsteht 225 Soziale Isolierung, Einsamkeit u n d der Defizitbegriff — Einige Bemerkungen zu den Begriffen — Die Vielschichtigkeit des Problems

226 226 228

Die Lebenslagendimensionen Einkommen u n d Wohnen — Vorbemerkungen — Rahmenbedingungen der finanziellen Situation — Finanzielle Lage, Gesundheitssituation u n d Konsumaspekte — Wohnung u n d Wohnen

233 233 235 237 238

K u m u l a t i v e Benachteiligung, m u l t i p l e Defizite; Funktionen der A l t e n arbeit 240 — Wege i n die Aussichtslosigkeit? 242

Einleitung

Gesellschaftstheoretieche Orientierung und forschungsleitende Hypothesen Ich, sagte er uns, B i n der Zweifler, ich zweifle ob Die A r b e i t gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat. (B. Brecht)

Richtlinien der Untersuchung Wer sich der Mühe einer ordnenden Sichtung soziologischer Untersuchungen zum Themenkreis Sozialarbeit unterzieht, sieht sich vor zwei dominierenden Typen von Problemstellungen: 1. wie gestaltet sich Sozialarbeit i m Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Teilbereichen aus und weshalb geschieht dies so, und 2. wie w i r d Sozialarbeit i m je konkreten Fall vollzogen und weshalb zeigt sie diese charakteristischen Formen ihrer täglichen Praxis? Diese Typisierung spiegelt eine allgemeinere Zweiteilung der theoretischen Erkenntnisprogramme i n den Wissenschaften vom Menschen wider, die sich — grob betrachtet — nach Verfahren und Gegenstand unterscheiden; am einen Pol des Bandes möglicher Erkenntnisabsichten steht die Analyse politisch-ökonomischer Verhältnisse i n einer Gesellschaft und ihrer historischen Entwicklungsgesetzlichkeiten, am anderen findet sich das Individuum als sozialinteraktive, selbstgestaltende Größe, und damit, am stärksten den einen Pol kontrastierend, die tiefenhermeneutische Analyse subjektiver Strukturen durch die Psychoanalyse (A. Lorenzer). I n beiden Bereichen kommt dem Strukturbegriff wesentliche Bedeutung zu, wobei jedoch die Logik des Begriffes subjektiver Struktur jene objektiver Strukturen nicht einfach deckt und daher die Frage der Vermittelbarkeit der Analysen subjektiver und objektiver Strukturen sich als zentrales Arbeitsproblem aufdrängt. I n den soziologischen Disziplinen, einschließlich ihrer sozialphilosophischen und ideengeschichtlichen Begründungszusammenhänge, ist mit dieser Situation eine bisher andauernde, aber kaum weiterführende Diskussion verbunden, die sich auf Handlungstheorien ganz unterschiedlichen Anspruchs einerseits und deren Stellung gegenüber und mög-

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Einleitung

liehe Verbindungen mit Gesellschaftstheorien andererseits konzentriert 1 . Eine deutliche Polarisierung und teilweise auch eingestandene Resignation, die sich i m Stichwort der Ergänzungsbedürftigkeit der beiden Perspektiven niederschlägt, sind i m Diskussionsbereich des historischen Materialismus wie auch des Funktionalismus deutlich geworden; die Auseinandersetzungen zwischen dem Kreis u m L. Althusser einerseits und jenem u m L. Sève andererseits u m Marxismus und die Möglichkeiten einer Theorie der Persönlichkeit scheinen kaum weiter geführt zu haben als jene, die i m Gefolge des amerikanischen Strukturfunktionalismus zwischen Systemtheorien und Handlungstheorien entstanden sind. Selbst die den traditionellen Funktionalismus rigoros überwindenden Entwürfe von N. Luhmann scheinen sich mehr auf die Erkenntnislinien gesellschaftlicher Evolution und Systembildung h i n zu neigen als auf eine Vermittlung von Mikro- und Makrostruktur. Daß gesellschaftliche Verhältnisse nicht unvermittelt auf individuelles Verhalten übergeführt werden können, sondern daß dieser Prozeß nur i m Wege einer detaillierten Analyse der Produktion subjektiver Strukturen unter objektiven Bedingungen zu erschließen ist — darüber besteht Einverständnis zumindest unter jenen, die nicht i n die ökonomistische Falle tappen wollen; wie eine solche Konzeptualisierung allerdings vorangetrieben werden könnte — dazu liegen nur Entwürfe und Vorschläge vor. A m deutlichsten zu erkennen ist dies i n jenen Forschungsbereichen, i n denen die Rückbindung von Erkenntnissen i m Feld des Subjektiven an die objektiven Verhältnisse als unabdingbar erkannt wird: i n den Versuchen einer Vermittlung von Gesellschaftsanalyse und Psychoanalyse, i n biographischen Forschungsansätzen etc.2. Was nun als theoretisches Programm hier zumindest skizzenhaft aufleuchtet, bleibt i n der empirischen Sozialarbeitsforschung uneingelöst; eine Theorie der Sozialarbeit, die Makro- und Mikroperspektive verbände, gibt es nicht. Die genannte Trennung, die ihren Ursprung i n je unterschiedlichen Ausgangsfragestellungen hat (z. B. die treibende Kraft und historische Gesetzmäßigkeit gesellschaftlichen Wandels bei K. Marx oder die 1 Vgl. als deutlichen Hinweis die E n t w i c k l u n g der „Theoriediskussion" i n der BRD seit dem 17. Deutschen Soziologentag i m Spätherbst 1974 (Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages. Stuttgart 1976). 2 Anstelle anderer: Lorenzer, Α., Die Wahrheit der psychoanalytischen E r kenntnis. F r a n k f u r t 1974; Horn, K., Psychoanalyse u n d gesellschaftliche Widersprüche, i n Dahmer, H. (Hrsg.), Analytische Sozialpsychologie. F r a n k furt a. M. 1980, Bd. 2, S. 576—600; Rosenmayr, L. (Hrsg.), Die menschlichen Lebensalter — K o n t i n u i t ä t u n d Krisen. München 1978; Geulen, D., Zur K o n zeptualisierung sozialisationstheoretischer Entwicklungsmodelle, in: Lebensw e l t u n d soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen 1980. F r a n k f u r t / New Y o r k 1981, S. 537—556.

Richtlinien der Untersuchung

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Rationalität gerichteten Ziel-Mittel-Handelns bei M. Weber), w i r d zudem noch durch normativ-ideologische Orientierungen häufig überdeckt, i n deren Gefolge dann jeweils spezifische Diagnosen der sozialen Gegebenheiten und darauf verpflichtete Lösungsvorschläge entstehen. I m Bereich der Sozialarbeit finden sich die am stärksten polarisierten Formen i n den sogenannten strukturtheoretischen Ansätzen einerseits und den mikrotheoretischen (interaktionistischen etc.) andererseits. A n gesellschaftlichen Totalitätsvorstellungen orientierten Strukturanalysen, denen das Individuum mitunter zur Puppe an der Schnur gerät, steht eine am Individuum orientierte Diagnostik m i t Adaptations- und Steuerungsstrategien als Lösungsversuch gegenüber, die der gesellschaftliche Verursachung dessen, was therapiert werden soll, nur widerstrebend anerkennt. Daneben finden sich — weniger theoretisch pointiert — jene Untersuchungen, die eher i n der Tradition empirischer Detailanalysen Einzelfragen des Objektbereichs Sozialarbeit behandeln. Wenig verwundert es daher, daß einer ständig wachsenden Wissensproduktion, die immer differenziertere Zusammenhänge der sozialen Realität zu erfassen versucht, eine zunehmend fragmentarische und ärmliche Systematik i n diesem anwachsenden Wissen gegenübersteht. Die Ebene der politischen Kräfte, die Handlungsebene der institutionellen Bedingungen (in Parteien, Verbänden, Sozialhilfeorganisationen, Interessenvertretungen, Ausbildungsorganisationen etc.) bleibt am nachhaltigsten ausgeblendet. Für die Forschungssituation ist dieser Sachverhalt prekär. Nur die empirische Rekonstruktion der Entwicklung der Sozialarbeit auch auf dieser Ebene kann zeigen, wie die den ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandel bestimmenden Kräfte der Gesellschaft und ihre Widersprüche sich bis auf die Ebene individueller Existenz hindurch vermitteln. Faßt man unter institutionellen Bedingungen u. a. auch rechtliche Grundlagen zusammen, eröffnen sich Aspekte von recht einprägsamer Deutlichkeit. A n Einzelbeispielen der österreichischen Sozialhilfegesetze (da es kein Bundesgesetz gibt, hat jedes Bundesland sein eigenes Sozialhilfegesetz), die einen beträchtlichen Teil sozialarbeiterischen Handelns normativ strukturieren, kann die Vielfalt realer Bedingungen illustriert werden. Art, Höhe und Dauer von Leistungen sind i m Gegensatz zur Sozialversicherung nicht an Vorleistungen gebunden, sie werden vielfach durch den Referenten des jeweiligen Sozialamtes i n Entsprechung zu bestimmten „Richtlinien" definiert; i n allen diesen Ländergesetzen sind, allerdings i n manchen Ländern recht unterschiedlich, strenge Verhaltenskontrollen für die Bezieher verankert: das Wiener Sozialhilfegesetz zieht für diese Kontrollzwecke die sparsame Verwendung der zugestandenen Mittel und A r beitswilligkeit bei gegebener Arbeitsfähigkeit und -möglichkeit heran (die Arbeitspflicht als Regulativ der Armenfürsorge war schon i m 15.

12

Einleitung

Jahrhundert bekannt, wie Geiler von Keysersberg berichtet), das Tiroler Sozialhilfegesetz kennt außerdem noch die vorsätzliche oder grob fahrlässige Selbstverschuldung der Notlage. Die Interpretationsbedürftigkeit der rechtlichen Tatbestände anhand von Richtlinien bzw. „Gewohnheits"-Standards ist außerdem ein klares Indiz dafür, daß i m je einzelnen Fall auch die „Innenerfordernisse" von Institutionen gestaltende Kraft erlangen und dazu beitragen, daß Sozialarbeit eben das wird, was sie ist. Nun lassen sich die Analyse objektiver Gegebenheiten und jene ihrer vielfach vermittelten und gebrochenen Repräsentanz i n der Person nicht einfach als zwei Werkstücke i m Drehverschluß zusammenschrauben; Subjektivität und Objektivität schließen abstrakt einander aus, sie müssen i m Raster ihrer alltagsweltlich-lebensgeschichtlichen und real-historischen Verknüpfung offengelegt werden. Das methodologische Problem, das auch hier nicht endgültig gelöst werden kann, hat A. Lorenzer i n der bereits genannten Arbeit unter vergleichbarer Perspektive formuliert: „Eine historisch-materialistische Rekonstruktion darf nicht subjektive Strukturmomente beliebig an objektive Strukturmomente ankleben, auch w e n n gute Gründe dafür sprechen, daß der Kausalnexus diesen P u n k t berührt. Der Kausalnexus ist vielmehr minutiös i n seinem Durchgang durch die verschiedenen subjektiven u n d objektiven Strukturebenen zu verfolgen, u n d zwar unter Wahrung der Logik jeder dieser Ebenen!" (S. 225).

I n der hier vorliegenden Arbeit w i r d diese methodologische Forderung insofern nicht „minutiös" erfüllt, als die i m dritten Teil der Untersuchung dargestellten Fallanalysen tatsächlich nicht i n jedem ihrer konkreten Elemente auf den Vermittlungszusammenhang m i t objektiven Gegebenheiten untersucht werden (konnten). Sie gelten jedoch als „Typen" spezifischer Entwicklung unter der Legitimität, die ihnen durch die theoretische Begründung als „Defizit"-Lebenslagen zukommt. I m konzeptuellen Bereich soll die dort entwickelte These der „Defizit-Transition" ein Scharnier zur gegenseitigen Vermittlung darstellen. Die soziologische Analyse bedarf eines neuen Ansatzes i n der Sozialarbeitsforschung. Die Zielvorstellung eines solchen Ansatzes, der der oben angedeuteten Orientierung gerecht wird, liegt darin, jene Lebenslagen von Menschen i n Entstehung und Wandel zu analysieren, die ihrerseits Ziel von Sozialarbeitsmaßnahmen werden und i m Falle des Wirksamwerdens von Maßnahmen auch Sozialarbeit noch als Element dieser Lebenslagen zu begreifen. Sozialarbeit, als Teil der praktischen Sozialpolitik, umfaßt Maßnahmen planmäßigen politischen Handelns, die auf die soziale Lage Einfluß nehmen sollen, u m ein gewünschtes, normativ definiertes Ziel zu errei-

Richtlinien der Untersuchung

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chen. A l l diese Maßnahmen können als Inbegriff von Versuchen verstanden werden, Lebenslagen von Menschen planmäßig zu beeinflussen. Diese Lebenslagen sind i n ihrer objektiven Strukturiertheit Ergebnis eines allgemein gesellschaftlich-historischen Entwicklungsprozesses, sie sind aber gleichzeitig auch der i m Erleben und Handeln aktualisierbare (Chancen) und tatsächlich aktualisierte (Wahlentscheidungen) Lebensund Existenzraum von Menschen m i t individuell je unterschiedlichen Bedürfnissen, Lebenserfahrungen, Ausbildungsgängen, Fähigkeiten und Plänen. Lebenslagen von Menschen sind durch die generelle Produktionsweise ebenso allgemein bestimmt, wie spezifisch durch regionalökonomische, infrastrukturelle, bildungspolitische, rechtliche und normativ-kulturelle Bedingungen. Lebenslagen sind Ausgangsbedingungen individueller Existenz ebenso wie sie Produkt des sozialen Handelns i m Wege über institutionalisierende Mechanismen sind. Exakt i n diesem Sinn haben Sozialpolitik bzw. Sozialarbeit eine einheitliche Bezugsgröße: der sozialarbeiterischen Tätigkeit bieten sie den generellen Adressaten, der Sozialarbeitsforschung das zusammenhängende Erkenntnisobjekt. Werden nun jeweils Lebenslagen und auf sie bezogenes Handeln als Erkenntnisgegenstand der Sozialarbeitsforschung akzeptiert, so ergibt sich auch die Entwicklungsrichtung für eine soziologische Theorie der Sozialarbeit: sie muß sowohl den historischen, sozialen Wandel erzeugenden, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozeß als auch die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Entwicklung einerseits und persönlicher Existenz und Entwicklung andererseits als zentrale Fragestellung verfolgen. Ein solches Programm ist nicht i n einer einzigen Arbeit zu realisieren. Hier sollen Grundlinien eines solchen Ansatzes skizziert werden. Es w i r d auf Grenzen verwiesen, die übersprungen werden müssen und deren Überspringen letzten Endes geänderte Perspektiven mit neuen Schwierigkeiten bringt. Die vorliegende Arbeit ist i n drei Schwerpunkten organisiert, die entlang einer durchgehenden theoretischen Fragestellung untereinander zusammenhängen. I.: Der erste Teil — eine vorbereitende Diskussion — umfaßt die Analyse der eingangs angemerkten Polarisierung in der Entwicklung von Theorien (auch der Sozialarbeit) anhand jüngerer Studien und programmatischer Abhandlungen. Eine kritische Untersuchung der zugrundeliegenden Annahmen theoretischer A r t sowie empirische Befunde aus zahlreichen Studien dienen dem Nachweis, daß — unter theoriekonstruktiven Aspekten — die Trennung i n strukturtheoretische und mikrotheo-

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Einleitung

retische Ansätze nicht notwendig ist, ja die Betrachtung von aktuellen Problemen der Sozialarbeit unter dem einen oder anderen Gesichtspunkt geradezu in verkürzte und einseitige Problemdeutungen führen kann. Die i n ihren Anfängen schon weiter zurückliegende Kontroverse zwischen Sozialarbeit als Hilfe einerseits und Sozialarbeit als Repressionsagentur der Gesellschaft andererseits läßt von einem übergeordneten Bezugspunkt der Analyse her den Objektbereich auch so begreifen: Sozialarbeit stellt im Rahmen eines umfassenderen Konzeptes von Sozialpolitik ein Interventionsinstrument der Gesellschaft dar, das der Steuerung und Gestaltung kollektiver und individueller Lebenslagen dient. Der Gegenpart dieser strukturellen Perspektive ist die Wahrnehmung, Bewertung und der „Gebrauch" von Verteilungsergebnissen durch das Individuum, seine Verarbeitungsmuster ökonomisch-sozialer Vorausbedingungen. Der übergreifende theoretische Ansatz dieser auf zwei unterschiedliche Abstraktionsebenen gerichteten Überlegungen ist jener der Lebenslage. II.: Die grundrißhafte Nachzeichnung der sozialstrukturellen und institutionellen sowie individuellen Bedingungen der Sozialarbeit i m „Wohlfahrtsstaat" und die Entwicklung des Lebenslagenkonzeptes — unter Einbeziehung seiner Begriffsgeschichte — sind die zentrale Thematik des zweiten Teiles. Die Skizze der sozialarbeiterischen Grundlagen ist wesentlich auf den Bereich der Arbeit mit älteren Menschen bezogen. Die Begründung ergibt sich einerseits aus einer persönlichen Wertposition, derzufolge Altenarbeit als Handlungsfeld wie als Forschungsbereich unterentwickelt ist, andererseits aus einer methodologischen Voraussetzung: die empirischen Materialien des dritten Teiles der Untersuchung sind unter der Perspektive biographischer Orientierung erhoben worden (Lebensrückblicke i m höheren Alter und subjektive Bedeutung wichtiger Ereignisse) und sie beziehen sich ausschließlich auf die ältere Klientel der offenen Altenhilfe. Altenarbeit ist keine Sonderform der Sozialarbeit; allerdings hat sie es mit charakteristischen Bedürfnislagen zu tun, aus denen auch ganz spezifische Bedingungen und Möglichkeiten der konkreten Arbeit entstehen. Selektivität der bürokratischen Organisationen i n Hinsicht auf die Auswahl und Befriedigung von Bedürfnissen, die Wirkung konkreter Arbeitsformen (Handlungsmuster) i n der Betreuungssituation auf den Klienten und seine Umwelt, die Formierung organisierten Hilfehandelns durch die Bedürfnisartikulation des Klienten, die Bedürfnisdefinition i m Kontext der sozialen Situation etc. verweisen auf die i n Teil I verdeutlichten Interdependenzen von sozialstrukturellen Bedingungen und individuell gestalteten (und bewältigten) Lebenslagen.

Richtlinien der Untersuchung

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III.: Der dritte Teil der Arbeit präsentiert systematisch ausgewählte Materialien einer empirischen Studie zur Analyse der Lebenslagen von Klienten der offenen Altenhilfe. Das Schwergewicht dieses Abschnittes liegt auf der eingehenden und problemorientierten Beschreibung von Voraussetzungen und Wirkungen der Altenarbeit, auf der Situationsinterpretation der Klienten und auf soziokulturellen und lebensgeschichtlichen Hintergründen dieser Situationen. Hier w i r d mit Hilfe empirischen Materials aus einer explorativen Studie und unter theoretischer Orientierung auf ein Konzept der faktischen Lebenslage versucht, die an die Person und die Situation des Klienten gebundenen Bedingungen und Charakteristika herauszuarbeiten, die Handlungsvoraussetzung der Arbeit mit älteren Menschen sind. Die unmittelbare Verknüpfung mit der Situation des Sozialarbeiters w i r d programmatisch entworfen; es ist dabei ein erklärtes Ziel der Arbeit zu zeigen, wie diese Situation der Klienten der Altenhilfe durch Aspekte multipler Defizite gekennzeichnet ist, daß sie Entfremdungstendenzen außerberuflicher Herkunft beinhalten und daß die Betreuungssituation tendenziell die Funktion eines „In-Ruhe-Stellens" der Lebenslage impliziert. Die theoretische Fragestellung, die dieser Analyse zugrundeliegt, läßt sich so formulieren: welchen theoretischen und methodologischen Grundbedingungen muß eine soziologische Theorie der Sozialarbeit genügen, wie ist die empirische Rekonstruktion ihrer Entwicklung möglich und worin liegen die Bezugspunkte ihrer praktischen Relevanz? Für diese Diskussion dienen m i r zwei Hypothesenkonzepte als Ausgangsbasis; ihre Nützlichkeit w i r d sich aus ihrem Strukturierungsbeitrag für das gesamte Diskussionsmaterial erweisen. — das allseits konstatierte Theoriedefizit der Sozialarbeit ist nur durch die Kombination von theoretischen Bezugsrahmen verschiedener Reichweite und der entsprechenden Methodologien zu überwinden. Diese theoretischen Bezugsrahmen müssen sowohl den historischen, sozialen Wandel erzeugenden, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozeß als auch die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Entwicklung einerseits und Interessenauseinandersetzungen und Institutionen sowie persönlicher Existenz und Entwicklung andererseits als zentrale Fragestellungen verfolgen können (vgl. die oben bereits eingeleitete Argumentation). I n ihrer Kapazität, die Entstehung und Funktionsweise gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozesse, Klassenkonflikt und soziale Bewegungen zu analysieren, liegt unbestreitbar die Überlegenheit historischmaterialistischer bzw. politökonomischer Zugriffsweisen; dies zeigt sich vor allem i n jenen Diskussionen, in denen es u m die Erklärung von

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Einleitung

Krisentendenzen und von Entwicklungen struktureller Notlagen geht, i n und aus denen das beschädigte Leben entsteht, u m das sich Sozialarbeit i n unserer Gesellschaft kümmert. Allerdings können die Intentionen dieser gesellschaftstheoretischen Perspektive für heute aktuelle Analysen nur solange Gültigkeit besitzen, solange damit nicht auch die Verpflichtung auf spezielle Annahmen einer Theorie verbunden ist, die ihre Wurzeln i m 18. und 19. Jahrhundert hat. Die Offenheit gegenüber den eigenen, originären Entwicklungen und Leistungen von Institutionen (vor allem Bürokratie) und gegenüber der feinstrukturierten Perspektive individueller Existenz (welch letztere ja dem herrschenden Paradigma der Sozialarbeitspraxis die wesentliche Grundlage abgibt) liegt wiederum eher i n der Kompetenz der vornehmlich interaktionistisch und phänomenologisch-alltagsweltlich orientierten Theoriekonstruktionen. Diesen allerdings muß vielfach zum Vorwurf gemacht werden, daß sie ihrerseits die gesellschaftlich vermittelten Strukturbedingungen, aus denen heraus jene Welt sich erst formiert, die sie zu untersuchen trachten, aus den Augen verlieren. Damit ergibt sich aus der bisherigen Diskussion die Notwendigkeit zur zweiten Hypothese: — eine Analyse eines spezifischen Objektbereichs (wie ζ. B. die Altenarbeit), die unter der Absicht gesellschaftlicher Aufklärung und praktischer Relevanz erfolgt, hat zumindest von folgenden Prinzipien auszugehen: E r k l ä r u n g der strukturellen V e r m i t t l u n g u n d Abhängigkeit der untersuchten Tatbestände Beschreibung der faktischen Lebens- (Problem-) Lagen i n mehrdimensionaler Sicht Konzeptualisierung jener besonderen Muster u n d Problemlagen, die i m untersuchten Bereich die Formierungsbedingungen praktischen Handelns abgeben (im Falle der Sozialarbeit ζ. B. die sozialen Ungleichheiten u n d gesellschaftlichen Benachteiligungen der K l i e n t e n sowie die Organisationsformen u n d Funktionsweisen, unter denen Sozialarbeit w i r k s a m wird).

U m für den Fortgang der Argumentation diese einzelnen Prinzipien zu verdeutlichen, werde ich sie kurz skizzieren. Grundsätzlich habe ich i n der vorliegenden Arbeit den Weg gewählt, in einer differentiellen Betrachtungsweise möglichst der Vielfalt an Aspekten gerecht zu werden, die dem Konzept der Lebenslage inhärent sind. Damit hoffe ich, über einen Diskussionsstand der Lebenslage hinauszugelangen, der i m Interesse von Indikatorenbildung und Operationalisierungsverfahren häufig sich i m Schematismus empirischer Begriffe erschöpft. Dies mag als Einwand gegen K r i t i k gelten, die i n den folgenden Untersuchungen Verliebtheit ins Detail und Orientierung am Weit-Hergeholten vermuten möchte.

Strukturbegriff u n d Lebenslage

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Strukturbegriff und Lebenslage Der Begriff der (Sozial-) Struktur ist ein Schlüsselbegriff der Gesellschaftsanalyse; diese Charakterisierung, die dem Begriff durch F. Fürstenberg gegeben wurde, t r i f f t aus mehreren Gründen zu. Der Begriff hat den Vorteil, unabhängig vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt des Forschers als theoretisches Instrument einsetzbar zu sein 3 ; er macht eine empirisch eindeutige Voraussetzung, nämlich, daß es i n der sozialen Wirklichkeit Zusammenhänge gibt, deren konkretes Moment er ist (als Ziel und Ergebnis menschlichen Handelns); der Begriff bezieht sich auf relativ dauerhafte soziale Gebilde und Handlungsmuster, i n denen die Individuen verankert sind; die Struktur, die ein soziales System aufweist, hat zugleich für die Individuen die Qualität handlungsleitender Verbindlichkeit (vgl. den „Zwangscharakter" der sozialen Tatbestände bei E. Durkheim), sie ist Teil jener (Gesamt-) Situation, an der der einzelne sein Handeln orientiert (in der Marx'schen Theorie ist das Handeln der Individuen durch die [ökonomische] Struktur bestimmt, umgekehrt ergibt sich aber auch die Struktur erst aus dem Handeln der Menschen); schließlich ist die (Sozial-) Strukturanalyse auch eine spezifische Form der Gesellschaftsanalyse, ihr liegt die Auffassung zugrunde, daß die wissenschaftliche Arbeit von unterschiedlichen Handlungsfeldern ausgehen kann, an denen der Mensch mit unterschiedlicher Intensität teilnimmt (nach F. Fürstenberg) 4 . I m Bereich von Beschreibung und Analyse der Sozialarbeit stellen sich die strategisch wichtigen Kategorien dar als die sozialökonomischen und lebensgeschichtlichen Veränderungen, die bestimmend die Situationen mitgestaltet haben, i n denen sozialarbeiterische Intervention notwendig wurde; sie finden sich i m Bereich von Arbeitsmarkt, Schule und Familie, den i n diesen Bereichen durchlaufenen Sozialisationsund Desozialisationsprozessen, i n den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen, die durch Krieg, Arbeitslosigkeit, Not und Unterdrückung Karrieren unterbrochen, Partnerschaften zerstört, aber auch neue Ausgangsbedingungen geschaffen haben. Sie sind i n der historischen Entwicklung eines Systems der sozialen Sicherheit zu suchen, die noch eine große Zahl von Personen kennt, die die entsprechenden Anspruchsvor3 Dies w i r d deutlich aus weltanschaulichen u n d erkenntnislogisch so unterschiedlichen Versuchen, den Strukturbegriff anzusetzen w i e z. B. jenen v o n Merton, R. K., Social Theory and Social Structure. New Y o r k 1968, bes. die Teile I u n d II.; Murdock, G. P., Social Structure. New Y o r k 1949; Laitko, H., S t r u k t u r u n d Dialektik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 16 (1968), S. 674—697; Tomberg, F., Basis u n d Überbau. Darmstadt / Neuwied 1969, bes. S. 67 ff. 4 I n diesen verkürzten Ausführungen habe ich mich teilweise an die System a t i k v o n B. Schäfers, Sozialstruktur u n d Wandel der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1979, S. 5/6 gehalten.

2 Amann

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Einleitung

aussetzungen nicht erwerben konnten und deshalb stärker benachteiligt sind als „jüngere" Alterskollegen, die die Pensionsphase durchleben; i n den historisch bedingten Verhältnissen einer Sozialarbeit, die schwergewichtig „Jugend"-Arbeit ist und die dem älteren Menschen erst langsam und zögernd sich zuwendet. Die Generallinie der strukturellen Erklärung sozialer Einzelphänomene stellt sich i n der hier gefaßten Konzeption als Analyse sozialer Ungleichheitsordnungen dar. Die theoretischen Kategorien zur Bestimmung der strukturellen Zusammenhänge sind Macht, Reichtum, Wissen und Ansehen. Sie schlagen durch i n die soziale Grundgliederung der Gesellschaft (z.B. räumlich, wirtschaftlich, demographisch), i n Ordnungsgefüge und Rollenstrukturen sowie Institutionen, i n soziale Schichtung und Mobilität sowie i n die historischen Gehalte der konkreten Situation (ζ. B. kohorten- oder generationenspezifische Effekte bei der Analyse von wechselseitigen Bewertungen zwischen Altersgruppen). Die gesellschaftstheoretische Orientierung einer Analyse sozialer Ungleichheitsordnungen ist auf Bedingungen verhinderter oder Ansätze möglicher Emanzipation zu richten. Für die vorliegende Arbeit heißt dies, daß Sozialpolitik und mit ihr Sozialarbeit als Interventionsinstrumente des Staates betrachtet werden, mit deren Hilfe der Gestaltungsprozeß soziokultureller und ökonomischer Strukturen betrieben wird: politische Gestaltung sozialer Lebensverhältnisse. Die Analyse w i r d zeigen, daß die charakteristische Entwicklung von Sozialarbeit unter Produktionsbedingungen einer kapitalistischen W i r t schaft und unter Bedingungen der Massenverwaltung und der aufgrund wirtschaftlicher Expansion ermöglichten Geldleistungen (im Glauben an die universale Äquivalenz des Geldes) für nahezu jede A r t von materiellem Existenzbedürfnis dazu geführt hat, daß der Sozialarbeiter kaum Möglichkeiten hat, auf die Ursachen der Defizitsituationen Einfluß zu nehmen und damit notwendig i n die Rolle des Erfüllungsgehilfen eines bewahrenden Systems gedrängt wird. Die Vieldimensionalität von Lebenslagen Eine zureichende Bestimmung des Verhältnisses zwischen „Erscheinungsformen der Sozialhilfebedürftigkeit" (H. Strang), den jeweils zugeordneten Interventionen und der umfassenderen gesellschaftlichen Relevanz solcher Situationen leidet zumeist an zweierlei: zum einen an einer mangelhaften Analyse der Innenverhältnisse dessen, was als Tatbestand die Intervention nötig machte, zum andern an einer Ungleichgewichtung oder gar Vernachlässigung jener bedingenden Faktoren, die eine Defizitsituation herbeiführten. Die Erforschung von Ursachen findet sich häufig eingespannt zwischen zwei auseinanderstrebenden A n t -

Die Vieldimensionalität v o n Lebenslagen

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Worten: auf der einen Seite i n den Bereich der völligen Selbstverschuldung, auf der andern Seite i n jenen der gesellschaftlichen Totalverursachung. Ähnlich wie i n der sozialmedizinischen Forschung am Beispiel des organmedizinischen Modells, muß i n einer Analyse der Sozialarbeit — und hier i m engeren Bereich der Situation des Klienten — die Entstehung der Hilfebedürftigkeit auf ein Zusammenwirken individueller Dispositionen und bestimmender sozio-ökonomischer Faktoren zurückgeführt werden. Die soziologische Erweiterung dieser sozial-medizinischen Vorstellung betrachtet diese Dispositionen allerdings nicht als genetisch-konstitutionelle Anlagen allein, sondern als lebensgeschichtlich erworbene Erlebnis- und Verarbeitungsfähigkeiten äußerer Lebensbedingungen (Chancen, Belastungen, Konflikte). Die zentralen Vermittlungsmechanismen dieser Erlebens- und Verhaltensweisen sind die verschiedenen Sozialisationsprozesse, die Menschen i n Kindheit, Familie, Beruf und Arbeit etc. durchlaufen, i n denen sie Bewältigungstechniken, Reaktionsweisen und Verhaltensprofile sich aneignen, aufgeben und neue erlernen. Sozialarbeit hat es meist mit Verhalten zu tun, das als abweichend eingestuft wird, mit physisch-psychischen Defizitsituationen; Sozialarbeit mit Älteren hat es häufig m i t chronisch Kranken, mit Bewegungsbehinderten, Armen und Einsamen zu tun 5 . Diese Situationen sind nicht auf jeweils eine Ursache zurückzuführen, sondern auf eine Interdependenz zwischen disponierenden Elementen und auslösenden und verursachenden Faktoren. Arbeitsbedingungen sind schichtspezifisch verteilt, sie können selbst krankheitsfördernd sein. Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Techniken der Konfliktbewältigung und Identitätsfindung sind an Arbeitsinhalte und Arbeitsorganisation, an Sozialbeziehungen und ökonomische Situation gebunden. Für eine Analyse der hier ins Auge gefaßten A r t sind also ζ. B. A r t , Dauer und Intensität von Belastungen ebenso wichtig wie die Chancen, ihnen auszuweichen oder sie zu verarbeiten. „Eine nicht gelungene Form der Verarbeitung belastender, auf das Individuum einwirkender psychosozialer Faktoren kann zur Dekompensation und Entwicklung einer Krankheit führen. (...) Je weniger sich ein Mensch seinen aktuellen sozialen Umweltbelastungen entziehen kann, durch die er auch psychisch sich bedroht fühlt, u m so eher werden die psychosozialen Probleme die Form einer Krankheit annehmen" 6 . Der bereits oben behandelte Begriff der Sozialstruktur dient i m Sinne der empirischen Sozialforschung häufig als „unabhängige Variable" zur 5 Amann, Α., Velimirovic, H., Beiträge zu einer Strukturanalyse der A l t e n arbeit. Eurosocial — occasional papers no. 4, Wien 1976. 6 Geissler, Β., Soziale Lebensverhältnisse u n d gesundheitliche Belastung, in: Geissler, B., Thoma, P. (Hrsg.), Medizinsoziologie. F r a n k f u r t / New Y o r k 1979, S. 117.

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Erklärung sozialer Phänomene i m Bereich menschlichen Verhaltens. Das Konzept, das meist Verwendung findet, ist jenes der Sozialschicht. Für diesen Begriff ist festzuhalten, daß trotz eines relativ gleichen und weit verbreiteten Forschungsinteresses bis heute keine allgemein anerkannte Konzeptualisierung vorhanden ist. Auch die ausgefeilten empirisch-statistischen Verfahren zur Erfassung sozialer Ungleichheit müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, daß sie den realen Zusammenhängen äußerlich bleiben 7 . Tatsächlich sind ja Einkommensdifferenzierungen, Ausbildungsunterschiede oder Profile des kulturellen Verhaltens nicht theoretische Kategorien, die Unterschiede faktischer Lebenslagen erklären können, sondern Dimensionen, die diesen Lebenslagen selbst angehören. Die theoretische Entwicklung erklärender Kategorien hat also wohl an „Grundverhältnissen" der Menschen zueinander anzusetzen. Zur Entwicklung derartiger Kategorien w i r d hier der Rahmenbegriff Lebenslage verwendet. Die Kerngestalt dieser Lebenslage ist das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, das die Bevölkerungsgliederung ebenso wie die Beziehungen der Menschen untereinander bestimmt. Allerdings, dieses Verhältnis ist nicht ohne weiteres greifbar und i m alltäglichen Bewußtsein nicht vorhanden. Es ist schon deshalb nicht ohne weiteres greifbar, weil jene Inhalte, die darüber i m Bewußtsein sich finden, durch die Filter von Erziehung, Ausbildung und Arbeit bereits hindurchgegangen sind. Wer mit Sicherheit der Silikose entgegenarbeitet, das erhöhte Sterberisiko aber durch Prämien sich abdecken läßt, ist bereits Opfer dieses Filters geworden. Trotzdem ist gerade diese Form von (verkehrtem) Bewußtsein wichtig für die Analyse von menschlichen Lebenslagen. Ebenso wie der Mensch durch die objektiven Bedingungen seiner Existenz bestimmt wird, ebenso handelt er gemäß seinem Bewußtsein über diese Existenz. Als Grundlagen für die Konzeption des Lebenslagenbegriffs werden die Arbeiten von O. Neurath und G. Weisser verwendet, die — seltsamerweise bisher i n der soziologischen Diskussion nur mangelhaft rezipiert — wesentliche Überlegungen für eine integrierende Zusammenschau von sozialwissenschaftlicher Analyse und sozialpolitischer Maßnahmenplanung beinhalten. Lebenslage kann der Sozialpolitik Handlungsadressat und gleichzeitig der wissenschaftlichen Analyse Objektbereich sein. Korrektur und Ergänzung soziologischer A r t stellt die Bearbeitung der Dimension des individuellen Bewußtseins über die Lebenslage und die Verknüpfung eines solchen Ansatzes mit Fragen der Altenarbeit dar. I n der Diskussion über die soziologischen Perspektiven der Sozialarbeitsdebatte w i r d dabei zutage treten, daß soziolo7 Herkommer, S., Zur Bedeutung des Schichtbegriffs für die Klassenanalyse, i m Lepsius, M . R. (Hrsg.), Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages. Stuttgart 1976, S. 202—222.

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gische Theorien i n bedeutendem Maße eines Menschenbildes ermangeln, das die Person i n den Mittelpunkt der Überlegungen stellt. Der hohe Abstraktionsgrad vieler theoretischer Ansätze verleitet zu einer Soziologie ohne den Menschen. Komplexe Theorie und praktisches Handeln Sozialwissenschaftliche Theorien sollen die Rekonstruktion eines Problemzusammenhanges leisten und die Bedingungen ihrer eigenen Umsetzbarkeit reflektieren. Rekonstruktion eines Problemzusammenhanges beinhaltet — und das w i r d weniger häufig gesehen — unter anderem auch die Analyse der eigenen Selektionskriterien einer wissenschaftlichen Disziplin für die Entdeckung und Begründung von Problemen; sie beinhaltet i m hier konkretisierten Fall einer Theorie der Sozialarbeit Fragen der A r t : welches sind die spezifischen Erkenntnisinteressen der Soziologie an der Sozialarbeit, worin bestehen die Erwartungen der Sozialarbeit an die Soziologie etc.? Umsetzbarkeit beinhaltet generell die überprüfbare „Tauglichkeit" für praktische Zwecke 8 und die Fragen nach dem Verhältnis hochkomplexer Wissenssysteme zu hochkomplex organisierten Handlungssystemen. Worüber hier also Verständigung zu erzielen wäre 9 , ist jener Bereich, den N. Luhmann i n systemtheoretischer Konzeption als das Gegenüber von Wissenschaftssystem und Anwendungssystem beschrieben hat, die beide für sich recht konstante Selektionshorizonte und Orientierungsstrukturen entwickelt haben, von denen her die Erkenntnisgewinnung ebenso wie praktisches Handeln gesteuert werden 10 . Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit werde ich den angedeuteten Fragenkomplex an zwei Aspekten behandeln, die ihre Bedeutung vor 8

Kaufmann, F. X., Sozialpolitisches Erkenntnisinteresse u n d Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie u n d Sozialpsychologie, Sonderheft 19/1977, S. 49. 9 Ich beanspruche nicht, die Verständigung hier einzulösen, ich versuche, einige m i r wesentlich erscheinende Aspekte ans Licht zu bringen, die bisher i n der Forschung über Sozialarbeit k a u m thematisiert worden sind. 10 Diese Konzeption findet sich in: Luhmann, N., Theoretische u n d p r a k t i sche Probleme der anwendungsbezogenen Sozialwissenschaf ten, i n : Wissenschaftszentrum B e r l i n (Hrsg.), Theoretische u n d praktische Probleme der anwendungsbezogenen Sozialwissenschaften. Dezember 1975, S. 17. Z i t i e r t nach: Kaufmann, F. X., op. cit., Fußnote 38. I n Fragen der Sozialarbeit würde ich die Interpretation von „Selektionshorizonten" soweit treiben, daß darunter auch noch die anerkanntermaßen größeren Toleranzen bei P r a k t i k e r n gegenüber medizinischem Fachjargon als gegenüber dem sozialwissenschaftlichen fielen. Auch dieses F a k t u m spielt eine Rolle für die Frage der Vermittelbarkeit.

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allem i m Zusammenhang von wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischem Handeln finden: a) die Separierung der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untereinander, für deren Integration es praktische u n d theoretische Gründe gäbe, b) das Auseinandertreten v o n wissenschaftlichem Erkennen u n d praktischem Handeln, i n dem aus der Sicht v o n P o l i t i k e r n u n d P r a k t i k e r n die A l l g e meinheit u n d K o m p l e x i t ä t wissenschaftlichen Wissens als unangemessen, aus der Sicht der Wissenschaft das Bewußtsein des Praktikers als verkürzt oder einfach falsch eingeschätzt w i r d .

Für Fragen einer theoretischen Begründung der Sozialarbeit sind beide Aspekte von Bedeutung; sie sollen daher i n kurzen Zügen dargestellt und später auf einen übergreifenden Bezugspunkt h i n zusammengeführt werden. Für eine Integration verschiedendisziplinärer Wissenspotentiale läßt sich das wesentliche Argument dort finden, wo i n behutsamer Verknüpfung verschiedener Erklärungsmöglichkeiten für dasselbe Phänomen die Erkenntnis sich breiter und tiefer gestalten wird; der Angelpunkt für eine Diskussion des zweitgenannten Aspektes liegt i n der Tatsache, daß offensichtlich eine zunehmende Verdichtung der Kontexte politischpraktischen Handelns (Ausdifferenzierung der Subsysteme der Sozialarbeit, zunehmende Professionalisierung, Verrechtlichung der Handlungstatbestände etc.) i m Rahmen politischer Gestaltung sozialer Lebensverhältnisse zunehmende Allgemeinheitserfordernisse an praktische Theorien stellt, wenn Steuerbarkeit und Effektivität gewahrt bleiben sollen. Nach herkömmlicher Auffassung unterscheiden sich die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen nach ihrem Gegenstand, den Erkenntnisquellen und den Methoden. Für eine Vereinheitlichung gibt es praktische und theoretische Gründe; ich werde mich i m folgenden auf die praktischen Gründe beschränken — die theoretischen gehören i n die wissenschaftshistorische und erkenntnistheoretische Diskussion. Eine kurze Darstellung dieser Entwicklung findet sich bei W. Stegmüller 11 . Gründe für eine Integration verschiedendisziplinären Wissens

Zu den praktischen Gründen gehört — wie W. Stegmüller ausführt —, daß der Forscher jeder Disziplin bisweilen sich genötigt sieht, die Grenzen seines Gebietes zu überschreiten, u m für die eigene Arbeit Erkennt11 Stegmüller, W., Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Stuttgart 1978, Bd. I, Kap. I X , Abschnitt 5. Eine i m wesentlichen auf die Person O. Neuraths bezogene Diskussion findet sich bei: Hegselmann, R. (Hrsg.), Otto Neur a t h — Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus u n d Logischer E m p i rismus. F r a n k f u r t 1979, S. 102—119.

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nisse anderer Wissenschaftsgebiete zu verwenden. Ein und dasselbe Erkenntnisobjekt, ζ. B. der komplexe Vorgang einer Wahrnehmung, erfordert für seine umfassende Erklärung aufeinander bezogenes physiologisches, psychologisches und physikalisches Wissen 12 . Um die Notwendigkeit einer solchen übergreifenden Betrachtungsweise zu illustrieren, soll folgendes Beispiel etwas ausführlicher dargestellt werden: Handlungs- und Erkenntnisobjekt der Analyse i m Teil I I I dieser Arbeit ist der alte Mensch, der hilfe- und betreuungsbedürftig geworden ist. Anhand der Kategorie „Alter" kann gezeigt werden, wie die Erklärung der sozialen und personalen Lage solcher alter Menschen die Verwendung einer ganzen Reihe verschiedendisziplinärer Erkenntnisse notwendig macht. Für die inhaltliche Diskussion beziehe ich mich hierbei auf Überlegungen von L. Rosenmayr 13 , die i n propädeutischer Weise eine sozialwissenschaftliche Begründung der Kategorie Alter umreißen. Ob A l t e r überhaupt eine sozialwissenschaftliche Kategorie sei, lautet L. Rosenmayrs erste Frage, und nicht viel mehr nur ein biologisches Phänomen, das psychologische Auswirkungen zeigt. I n einem solchen Fall käme dem Biologischen gewissermaßen Priorität zu, „die sozialen Klassen und Schichten wären demnach als gesellschaftliche Grundstrukturen und zusammen mit den kulturellen Gegebenheiten als Modifikatoren der biologisch-psychologischen Einzelprozesse anzusehen" 14 . Eine derartige Konzeption würde Alter jedoch i n quasi außergesellschaftlicher Form fassen, nicht als etwas, das i n seiner typischen Erscheinungsweise durch die Gesellschaft erst hervorgebracht wird. Alter wäre primär — nach heutigem Wissensstand — als ein Prozeß irreversibler Veränderungen des Organismus zu begreifen, die auf eine abnehmende Adaptationsfähigkeit, auf eine Störung der Homöostase zwischen Organismus und Umwelt hinausliefe 15 . Fragen des Status, der Geltung und der Nützlichkeit der Alten, Fragen der sozio-kulturell gebundenen Sinngebung, der Selbst- und Fremddeutung des Alters, ja sogar jene nach der Funktion rechtlicher Altersgrenzen (von „minderjährig" über „passives Wahlrecht" bis zu „Pensionsalter") wären von einem solchen Ansatz her nicht zu beantworten. Wir, sagt L. Rosenmayr, „gehen davon aus, daß sowohl das Produktionssystem w i e auch das Orientierungs- u n d Sinndeutungssystem einer Gesellschaft den verschiedenen Altersgruppen i m Rahmen der sozialen Arbeitsteilung auch verschiedene 12

Stegmüller, W., op. cit., S. 393. Rosenmayr, L., Rosenmayr, H., Der alte Mensch i n der Gesellschaft. Reinbek / Hamburg 1978, Kap. 1 u n d 2. 14 Rosenmayr, L., Rosenmayr, H., op. cit., S. 21. 15 Op. cit., S. 51 u n d 85. 13

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Aufgaben zuweisen u n d sie dadurch gestalten. Den Männern u n d Frauen, den Jungen u n d Alten, den verschiedenen, nach Geschlecht u n d A l t e r gliederbaren Gruppen also, werden verschiedene Funktionen arbeitsteilig angesonnen oder gar aufgezwungen. Die A l t e r s s t r u k t u r w i r d gesellschaftlich ,in Dienst' genommen, u n d sie w i r d j e nach Produktionssystemen einerseits u n d Modellen der Deutung des Lebenssinns andererseits definiert. A l t e r erscheint dann als gesellschaftliche Festlegung biologischer Vorgegebenheit, u n d zwar i n doppelter Weise: entsprechend den ökonomischen Prozessen der Bedürfnisbefriedigung u n d entsprechend den orientierenden u n d den Lebensstil gestaltenden Modellen u n d Normierungen" 1 6 .

Eine solche Perspektive nun macht es nötig, Theorienbildung und Forschungsprogrammatik der Soziologie mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu verbinden. Familienbeziehungen, Ehefragen erfordern psychologische und psychoanalytische Einsichten; Einkommens- und Konsumaspekte sind nicht ohne ein Mindestmaß an volkswirtschaftlichem Wissen zu diskutieren; Fragen der Position, der Geltung und Wertschätzung der A l t e n i n der Gesellschaft sind nur unter Beiziehung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und der vergleichenden Anthropologie zu behandeln; der ganze weite Bereich der Leistungsfähigkeit i m Alter, der Bereich von Gesundheit, Krankheit, Rehabilitation erfordern die Verknüpfung medizinisch-biologischen, psychologischen und soziologischen Wissens. Schon diese Perspektive, sagt L. Rosenmayr, gehe weit über die Vorstellung von „sozialer Überformung" biologischer Realität hinaus. Hier besteht nun allerdings die Gefahr, einem Fehlschluß aufzusitzen: die Formulierung eines genuin soziologischen Ansatzes zur Bestimmung von Alter heißt noch nicht, soziale Überformung als Rahmenbegriff verlassen und eine neue Perspektive etabliert zu haben; damit ist eine neben anderen formuliert, die nun gemeinsam auf ein übergeordnetes integrierendes Erkenntnisziel zu beziehen sind. I m Sinne der philosophischen Anthropologie könnte ja sogar argumentiert werden, daß die kulturelle und soziale Überformung i m Sinne kulturformender Inhalte Ergebnis notwendiger Interaktion i m Vollzug von Arbeit (Bearbeitung der „äußeren" und „inneren Natur") sei, damit auch wissenschaftliche Arbeit eine Weise kultureller Überformung biologischer Gegebenheiten darstelle, hinter die oder über die hinaus sozialwissenschaftliche Theorie nie gehen kann, da sie dieser angehört. Doch weiter; A l t e r n ist i m zeitlichen Ablauf ein jeweils sich ändernder „Status, der sich aus Zeitspannen i m individuellen und sozialen Leben ergibt, die durch Handlungen, Positionen und spezifische Entscheidungen charakterisiert werden" 1 7 . 16 17

Op. cit., S. 21. Op. cit., S. 34.

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Außer dieser disziplinübergreifenden Perspektive, die eine stärker ausgeweitete und tiefere Erkenntnis der Probleme schon von der reichhaltigen Palette der Betrachtungsmöglichkeiten her ergeben kann, schlägt L. Rosenmayr eine dynamische Perspektive vor, die zu einer Konstituierung der Kategorie Alter notwendig ist. „Die Disziplinen der Sozialgerontologie gehen sowohl v o m A l t e r als Z u stand wie auch v o m A l t e r n als lebenslangem Vorgang aus u n d müssen die Methodik ihrer Untersuchungen dementsprechend gestalten. Die Nichtbeachtung bzw. Geringschätzung dieser zweifachen Perspektive hat oft zur A n w e n d u n g unzureichender Methoden, zu Fehlinterpretationen von Daten u n d damit zu falschen Theorien geführt" 1 8 .

Wiewohl diese Unterscheidung i n der wissenschaftlichen Tradition natürlich eine alte Technik ist („Statik" gegenüber „Dynamik"), hat sie an dieser Stelle ungemein wichtige Implikationen: „Alter" w i r d schnell als eine kalendarische Größe begriffen, der dann bestimmte Zustände oder Merkmale einfach zugeordnet werden. Hohes kalendarisches Alter w i r d häufig mit physischem und diffus überhaupt mit Verfall gleichgesetzt. Alter und vor allem höheres Alter w i r d gerne mit Rigidität und Verhärtung von Standpunkten und Werthaltungen gleichgesetzt. Eine Querschnittsbetrachtung — ausgerichtet auf jeweils eine bestimmte Kohorte — mag eine solche Annahme sogar bestätigen; eine Längsschnittuntersuchung w i r d zeigen, daß es wellenförmige, von verschiedenen Bedingungen abhängige Verlaufsformen gibt, daß sich Selbst- und Fremdbild über den Lebensverlauf h i n ändern, abhängig sind von bestimmten Karriereverläufen, von Bedingungen der historischen und sozialen Zeit; sie werden zeigen, daß es einen über die Zeit hinweg sich entwickelnden Ausgleich von Defizienzen gibt durch Verlagerung von Interessen, durch Neu- oder Weiterentwicklung bisher nicht notwendiger Fähigkeiten etc. Auch solche Untersuchungen werden nicht ohne eine dynamische Persönlichkeitstheorie, ohne sozial- und wirtschaftsgeschichtliches Faktenwissen und deren Integration i n soziologische Konzepte auskommen können. Das zweite Prinzip, das L. Rosenmayr anführt, könnte als bilanzierende Betrachtung des Lebensverlaufs bezeichnet werden. „Eine soziologische Erforschung des höheren Alters ohne Befassung m i t Fragen des m i t t l e r e n Lebensalters ist inkompetent; die Stellung der alten Menschen i n den (in ,ihren') Familien k a n n ohne Berücksichtigung ihrer Stellung i n früheren Phasen des Familienlebenszyklus nicht zureichend bestimmt werden. Spätere Lebensphasen resultieren aus vorangegangenen, u n d Studien einer Altersgruppe bedürfen des Vergleichs m i t Ergebnissen über andere" 1 9 . 18 19

Op. cit., S. 28. Op. cit., S. 28/29.

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Ein solcher Vergleich von Altersgruppen ist anerkanntermaßen eine fruchtbare Vorgangsweise für die Analyse von Konflikt- und Konkurrenzmustern zwischen Generationen. Ebenso dürfte er aber sinnvoll sein — und hier könnte sich wieder der besondere Vorteil der disziplinübergreifenden Perspektive zeigen — für die Untersuchung dessen, was i m psychologischen Paradigma für die Situation: junger Sozialarbeiter — alter Klient mit Abwehr, Übertragung etc. bezeichnet wird. Was hinter solchen innerpsychischen Mechanismen, die an äußerem Verhalten interpretiert werden, steht, sind ja die je spezifischen, wirtschaftlich, sozial und k u l t u r e l l bestimmten Profile des historisch-sozialen Wandels, die an den aufeinanderfolgenden Kohorten deutlich werden 20 . Während es beispielsweise zu politsoziologischen Themen eine Fülle kohortenspezifischen Materials gibt, ist dieser Ansatz i m Bereich der Sozialarbeit völlig unterentwickelt. Es dürfte ζ. B. kaum eine Untersuchung geben, die versucht hat, Konfliktsituationen zwischen alten Patienten und jungen Sozialarbeitern auf der umfassenderen Folie kohortenspezifischer Unterschiede i n den Einstellungen und Verhaltensorientierungen, Lebenserfahrung und Vergleichsgruppenwerten zu Autorität, Sexualität, Geschlechtsrolle, Hilfebedürftigkeit etc. zu analysieren; was für die bekannten Probleme i n diesen Beziehungen als A n t wort auftaucht, ist i n der Regel die bekannte psychoanalytische Figur der Übertragung und Gegenübertragung. Anhand der Kategorie Alter, die ja nur der abstrakte Orientierungspunkt sowohl für Altenarbeit als auch Altersforschung darstellt, läßt sich zeigen, daß eine Integration von Erkenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen geradezu Voraussetzung für die adäquate Behandlung anstehender Fragen ist. Begriffe und Konzepte verschiedener Disziplinen müssen aufeinander bezogen werden können. Auch der Mensch, der letzten Endes Zielpunkt der Erkenntnisbemühungen ist, fällt nicht i m Alltag i n beliebig isolierbare Teildimensionen auseinander. A n i h m zeigt sich die mangelnde Wissensintegration am deutlichsten, wenn er — i n einer wirtschaftlichen und sozialen Krise — durch Gesprächstherapie einzelbehandelt wird. Zur Frage der Wissensvermittlung

A u f die allgemeinen und grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis gehe ich hier nicht ein; einem Thema, das sich mit derartiger Beharrlichkeit durch die abendländische Ideengeschichte zieht, kann nicht i n einem Unterkapitel Genüge geschehen. Hier gilt es, einige Gedanken zu formulieren, die den Begründungszusammenhang von Lebenslagenanalysen betreffen. 20

Op. cit., S. 38 ff.

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Soziologische Theorien der Sozialarbeit können den Anspruch praktischer Bedeutung erheben, wenn sie den Modus ihrer eigenen Verwendbarkeit mitreflektieren; dies bedeutet zweierlei: — sie müssen i n Konstruktion und empirischer Verbindlichkeit methodologischen Regeln genügen, ohne die sie nicht Theorie i m systematischen Sinne wären und — sie müssen so organisiert sein, daß Ebene und Modus ihrer Verwendbarkeit i n Beziehung gesetzt werden können zu praktisch/politischen Handlungsnotwendigkeiten, die zumindest als aktuelle erkannt sind. Darin liegt eine Schwierigkeit, die i m gegebenen Stand der Wissenschaftsentwicklung einen Widerspruch bedeuten und die Forderung zu einem unerreichbaren Prinzip hochspielen könnte. Die Sozialwissenschaften haben i m Bereich ihrer Theorienbildung, ihrer systematischen Dokumentationen (ζ. B. Sozialberichterstattung), i n der historischen Tiefe von Entwicklungsmodellen eine Komplexität erreicht, die die Grenzen individueller Handlungsbezüge bei weitem überschreitet. Dadurch ist Wissenschaft — wie N. Luhmann es formuliert — „ i n der Lage, sehr viel kompliziertere Sachzusammenhänge als Ordnung zu begreifen. Der Rückgang auf Ursachen, die außerhalb des Handlungshorizontes wirken, die also nicht bewußt motivieren, ja vielleicht nicht einmal motivfähig sind", so könnte man fortsetzen, übersteigt grundsätzlich das Selektionsvermögen des handelnden Subjekts 21 . Allenfalls Organisationen können mit computerunterstützten, entscheidungstheoretischen Verfahren handlungsvorbereitende Auswahlen relevanter Wissenspotentiale betreiben. Aus dieser Sicht ist die eindimensionale Forderung nach verständlicherer sprachlicher Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse — sofern darin die Lösung aller Verständigungsprobleme zwischen Wissenschaft und Praxis gesehen w i r d — schlicht einfältig. Es geht prinzipiell u m die Frage, Wissen welcher Form auf welcher gesellschaftlichen Ebene unter welchen Verwertungsabsichten vermittelt wird. Struktur- und Prozeßdaten über die ältere Bevölkerung eines Landes, aus denen der Bedarf an Heim- und Pflegeplätzen prognostiziert wird: unmittelbar zeit- und ortbezogene Maßnahmenvorschläge zur Reduktion von Obdachlosenzahlen: psychosoziale Erkenntnisse über Wiedereingliederungsschwierigkeiten eines Haftentlassenen: gruppen- und motivationstheoretisches Wissen für die Aktivierung von Gruppen i n einem Gemeinwesenprojekt: all diese Beispiele verweisen i n abstrakter Form auf einen Verwendungszusammenhang. I n aktualisierten Situa21

345.

Luhmann, N., Zweckbegriff u n d Systemrationalität. F r a n k f u r t 1973, S.

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tionen w i r d sich jedoch dieser abstrakte Verwendungszusammenhang entlang folgender Merkmale unterschiedlich ausgestalten 22 . — Spezifität der Verwendungsabsicht — sozialer Kontext der Vermittlung — Organisationsform des relevanten Wissens — Vermittlungsfähigkeit („Brauchbarkeit") des Wissens. Spezifität der Verwendung sab sieht: Die Vorstellungen über A r t , Umfang und Inhalt von Wissen, das über Handlungsbereiche zu Zwecken der Planung und Intervention benötigt wird, dürfte i m allgemeinen unspezifisch, i m Falle tatsächlicher Spezifizierung aber bereits unmittelbar maßnahmenbezogen und damit kontextentzogen sein. M i t kontextentzogen bezeichne ich instrumentalisiertes Wissen, das i m Sinne von Einzelteilen aus dem Nachschublager der empirischen Dokumentation erhältlich ist (z. B. isolierte Einzeldaten der A r t : wie viele Fälle betreut ein Sozialarbeiter, u m Über- oder Unterbelastung zu beurteilen) und i n bereits politikbezogene, vorstrukturierte Programmentwürfe nur noch eingepaßt wird; dieses Wissen ist von den methodologischen Regeln seiner Produktion, vom Kontext seines theoretischen Bezuges losgelöst und damit häufig auch beliebig interpretierbar. Tatsächlich hängt die jeweils aktuelle Spezifizierung von Wissen, das für praktisches Handeln zu Orientierung, Entscheidung und Kontrolle notwendig wird, von den je eigenen Bedingungen der Handlungssituation einschließlich des Zeithorizontes der Handlungsplanungen ab. Ein Modellversuch zur Jugendberatung mit Schwerpunkt Empfängnisregelung und Schwangerenhilfe, für den die Finanzierungszusage, einige diffuse Vorstellungen über „Marktlücken" der Jugendberatung und der Zeithorizont des Modells vorhanden sind (und diese A r t von „Strukturiertheit" weisen viele Modellversuche i m Zeitpunkt ihrer Geburt auf), erfordert völlig unterschiedliche Wissensinhalte, Kooperationsformen etc. Wie kommt man an die Jugendlichen heran — über andere Jugendliche, über Lehrer, Eltern, Polizei, Gynäkologen, die Pfarre? Ist es sinnvoll, einen Verein zu gründen, können Sozialarbeiter i n ein Arbeitsverhältnis genommen werden? Welcher A r t sind die Erfahrungen bestehender Beratungsinstitutionen, w i r d die hier geplante Tätigkeit dort abgedeckt? Lassen sich die Folgen des Modellversuchs kontrollieren, 22 Diese Merkmale stellen keine Typologie dar, sie sind Orientierungsmarken für die Organisation empirischer Erfahrungen u n d sind deshalb auch nicht erschöpfend.

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welche Variablen kommen i n Frage? Wer entwirft das Beratungsprogramm, welche Konzepte haben sich i n diesem Praxisfeld bewährt? Der Katalog läßt sich verlängern. Eines aber erweist sich jetzt schon deutlich: welche A r t von Wissen immer i n Frage kommt, es stammt aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen; akzeptiert man, daß eine wissenschaftliche Disziplin sich zumindest teilweise aus ihren ganz spezifischen Regeln der Wissensproduktion (Methodologie) konstituiert und daß jedes disziplinäre Wissen den Anspruch auf Handlungsrelevanz erheben wird, so ist klar, daß für jeweils besondere Fälle bereits hier die Frage konfligierender Konzepte auftauchen w i r d und damit die Frage auch des politischen Gehaltes einer solchen Vermittlungssituation (an dieser Stelle spielt natürlich auch wieder das Argument der notwendigen interdisziplinären Integration herein). Das i n Frage kommende Wissen w i r d unterschiedliche Abstraktheitsgrade aufweisen, es w i r d i n gegeneinander verschobenen Zeitpunkten relevant werden. Die Modelle der Kooperationsformen zwischen den Beteiligten (ζ. B. externe mit einem Soziologen, dessen Hilfe für die Entwicklung eines Evaluierungskonzeptes nötig wird, interne, wenn Sozialarbeiter gemeinsam mit einem Psychologen und einem Gynäkologen Beratungsprogramme entwerfen) werden sich sehr unterschiedlich gestalten; die Vermittlungsformen werden sich zwischen direkter, kurzfristig an ihren Konsequenzen kontrollierbaren Hinweisen und Vorschlägen einerseits und längerfristigen, gemeinsamen Lernprozessen andererseits bewegen. I n diesem Beispiel, das alltägliche Praxis spiegelt, liegt ein wichtiger Kern des Vermittlungszusammenhanges von Forschung und Praxis; folgt man überhaupt der — meist impliziten — Nachfrage-AngebotFigur, so hat deren Aktualisierung zur Voraussetzung, daß Wissensinhalte spezifiziert werden, und zwar i n zweierlei Hinsicht: aus dem Kontext praktischen Handelns einerseits (der immer zugleich das Universum aktualisierter Handlungen und die dadurch vorläufig dahingestellten, aber nicht prinzipiell ausgeschlossenen Möglichkeiten bedeutet) und aus dem Kontext wissenschaftlicher Praxis andererseits (für den eine ähnliche Logik gilt). Das bedeutet aber letztlich, daß Vermittlung von Wissen zwischen Forschung und Praxis eines Prozesses der gemeinsamen Selektion aus einem prinzipiell seinen Grenzen nach unbestimmten Universum von Möglichkeiten bedarf. Sozialer Kontext der Vermittlung: Ich halte diese Kategorie für besonders der empirischen Erforschung bedürftig — weit über jenes Maß hinaus, das inzwischen durch die Aktionsforschungsdiskussion vorgegeben wurde. Die Kernfigur der methodischen Begründung einer Eigenart der Aktionsforschung gegen-

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über sogenannter herkömmlicher Sozialforschung liegt i n dem grundsätzlichen Argument, daß die Distanz zum Untersuchungsgegenstand aufzulösen getrachtet werde und das Handeln auf Mitarbeit an gesellschaftlichen Änderungen gerichtet sei. Zum Angelpunkt dieser Konzeption w i r d der Diskurs: eine für jede Form der sozialen Interaktion unverzichtbare Dimension der Verständigung über „Wahrheit". Faßt man die wesentlichen Linien zusammen, so ergibt sich: Absicht ist die Änderung aktueller Lebensverhältnisse bestimmter Menschen oder Gruppen von Menschen; Ziel ist die Etablierung strategischen „Reflexionswissens" und an solidarischer A k t i o n gemessene Handlungsperspektiven; Mittel schließlich ist die Integration des Forschers i n die A l l tagswelt des Erforschten und die Eröffnung eines so weit wie möglich herrschaftsfreien Diskurses 23 . Dieses Modell ist zum einen i n kritischer Absicht gegen eine praxisabstinente, „herrschaftsstabilisierende" Beratungsforschung formuliert, zum andern sind die konkreten Verhältnisse der gesellschaftlichen Produktion, Verteilung und Verwendung von Wissen differenzierter, die sozialen Kontexte variabler. Ein erstes Beispiel mag i n den Werten gesehen werden, die das Handeln leiten. I m Rahmen wissenschaftlicher Tätigkeit w i r d ein Hang zur Unabhängigkeit, zur „akademischen Freiheit" diagnostiziert; Autonomie des Wissens auf der Basis einer „scientific community" w i r d geltend gemacht — eine Haltung, die P. M. Blau und R. Scott als „professionelle Orientierung" i m Gegensatz zu „bürokratischer Orientierung" bezeichnet haben 24 . Was häufig als politisches Unverständnis und Praxisfremdheit den Forschern vorgehalten wird, hat seine Ursachen i n gegenseitig sich ausschließenden „Selektionshorizonten" (N. Luhmann). I n diesen Bereich gehört außerdem zweifellos die je typische Kompetenz eines Praktikers und eines Forschers, die von vornherein einmal wechselweise i n Frage gestellt wird. Politische wie wissenschaftliche Institutionen, die i n maßgeblicher A r t an der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse beteiligt sind, sind häufig auch Großorganisationen (das gilt für Gewerkschaften und Kammern, für kommerzielle Forschungsinstitute, ja selbst für wissenschaftliche Groß-Zentren), die nach ihrem eigenen Verständnis Öffentlichkeitswirksamkeit und Meinungsbildung auch entgegen objektiven Situationsanalysen ohne Einbußen wesentlicher A r t betreiben können 25 . Erfahrungsgemäß sind auch politische Organisationen, die als Auftrag23 Vgl. A m a n n , Α., Interpretieren oder Handeln?, in: österreichische Zeitschrift für Soziologie 4 (1980). 24 Blau, P. M., Scott, R., Formal Organizations. London 1963, K a p i t e l I I I . 25 w h y t e , W. H. Jr., L ' homme de Γ organisation. Paris 1959. Zit. nach: Bie, P. de, Problemorientierte Forschung. F r a n k f u r t / B e r l i n / W i e n 1973.

Komplexe Theorie u n d praktisches Handeln

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geber i n Erscheinung treten, sensibel gegenüber politischen Konjunkturen und tagespolitischen Fragen; sie reagieren daher eher i n kurzfristiger A k t i o n als m i t langfristigen Erwägungen. Das führt i n konkreten Fällen zu unterschiedlicher Bewertung des i m Auftrag produzierten Wissens. Außerdem scheint es i m Vermittlungsprozeß zwischen Forschung und Praxis zwei besonders wichtige und kritische Punkte zu geben, wie J. Rémy 2 6 herausgehoben hat: die Zeitphasen vor und nach der Forschung; i m ersten Fall erhebt sich die Frage der Übersetzung der mehr oder weniger allgemeinen Auftragsfrage i n eine Forschungsfragestellung, i m zweiten Fall die Übersetzung der Ergebnisse i n handlungsbezogene Inhalte. Selbst unter den Bedingungen eines qualitativ hochstehenden Dialogs t r i t t hier ein Problem auf, hinter das Auftragsforschung und Politikberatung nicht zurückgehen können. I n der Phase der Auftragsübersetzung und der Durchführung liegen Interpretations« und Bewertungsarbeit dessen, was zu erforschen ist, schwergewichtig auf der Seite der Forschung; i n der Phase danach, wenn es u m „Anwendung" der Ergebnisse geht, wechselt diese Position i n den Bereich der Praxis. Exakt hier findet sich die Sprungstelle, an der dann über Brauchbarkeit und Nutzen des Wissens durch den Praktiker entschieden wird. Hier ist die Stelle, an der jene „MißVerständnisse" zu begreifen sind, die das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung i n Wien i n einem Projekt zum Auftraggeber-Auftragnehmerverhältnis konstatiert: 9 % der Sozialwissenschafter befürchten, daß ihr Forschungsprojekt dem Auftraggeber nichts Neues bringen könnte; ihnen stehen 43% an Auftraggebern gegenüber, denen die Projekte tatsächlich nichts Neues gebracht haben 27 . Organisationsform

des relevanten Wissens:

Wissenschaft und Sozialpolitik sind Subsysteme derselben Gesellschaft: von ihr hervorgebracht und ihrer Entwicklungslogik unterworfen. Dies kann bereits als zureichender Grund für die Annahme gelten, daß sich die Frage nach der Nutzbarkeit einer Wissenschaft oder ihrer Produkte abstrakt überhaupt nicht stellen läßt. Welches Wissen für die Praxis von Interesse ist und wie es aufbereitet oder organisiert sein sollte, kann nicht unabhängig von sozialpolitischen Zielen (Handlungszielen überhaupt) diskutiert werden. Dieses Argument steht i n engem Zusammenhang m i t zwei bereits genannten: jenem der großen Mannigfaltigkeit konkreten Wissensbe26 Rémy, J., L a recherche orientée et Γ action pastorale et religieuse. UNESCO Dokument SHC/WS 22, S. 7—9. Zit. nach: Bie, P. de, op. cit. 27 Firnberg, H., Zur Rolle der Sozialwissenschaften i n der Österreichischen Wissenschaftspolitik: Das Anwendungsdefizit der Soziologie, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 1 (1978), S. 8.

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Einleitung

darf s und jenem des notwendigen, gemeinsamen (von Forschung und Praxis) Auswahl- und Heraushebungsprozesses bestimmter Wissensinhalte. Entscheidend scheint mir, daß i n solchen aktualisierten Situationen nicht nur die Wissensinhalte erst gewählt, sondern auch die Organisationsformen des nötigen Wissens mitentschieden werden (für die Frage, wie die Institutionalisierungsrate der Älteren zu reduzieren sei, bedarf es mehr und anderer Unterlagen als nur einer Umfrageforschung über die Gründe der Institutionalisierung bei jenen, die schon drin sind). „Was heißt >sozialwissenschaftliches Wissen