Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt: Soziale Desintegration und Imbalance von Kontrolle [1. Aufl.] 9783658296179, 9783658296186

Diese Studie begeht einen neuen Weg zur Erklärung von Devianz und Gewalt im Jugendalter, indem sie versucht, zwei soziol

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German Pages IX, 315 [322] Year 2020

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Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt: Soziale Desintegration und Imbalance von Kontrolle [1. Aufl.]
 9783658296179, 9783658296186

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Ziele und Rahmung (Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer)....Pages 1-8
Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen und Theorie-Verknüpfung zur Erklärung von Gewalt (Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer)....Pages 9-27
Forschungsdesign (Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer)....Pages 29-43
Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik (Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer)....Pages 45-198
Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien (Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer)....Pages 199-243
Zusammenführung der Ergebnisse (Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer)....Pages 245-266
Fazit (Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer)....Pages 267-270
Anhang (Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer)....Pages 271-308
Back Matter ....Pages 309-315

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Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration

Stefan Kanis · Steffen Zdun Daniela Krause · Wilhelm Heitmeyer

Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt Soziale Desintegration und Imbalance von Kontrolle

Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration Reihe herausgegeben von Wilhelm Heitmeyer, Inst. f.interd. Konfliktfor., Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland

Die Schriftenreihe ist hervorgegangen aus dem in Bielefeld von Wilhelm Heitmeyer geleiteten und von Peter Imbusch koordinierten Forschungsverbund „Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotenzialen moderner Gesellschaften“ und präsentiert dessen zentrale Forschungsergebnisse. Mit der Leitformel „Stärkung von Integrationspotenzialen“ wird signalisiert, dass moderne Gesellschaften einerseits auf Grund ihrer Entwicklung und Ausdifferenzierung über erhebliche Integrationspotenziale verfügen, um Existenz-, Partizipations- und Zugehörigkeitschancen zu bieten; andererseits verweist sie bereits auf eine Reihe von Problemzusammenhängen. Zielsetzung des Forschungsverbundes war es, durch seine Analysen gravierende Problembereiche moderner Gesellschaften differenziert empirisch aufzuarbeiten, so dass Maßnahmen identifiziert werden können, die zur Stärkung ihrer Integrationspotenziale beitragen können. Der Forschungsverbund wurde finanziell vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12569

Stefan Kanis · Steffen Zdun · Daniela Krause · Wilhelm Heitmeyer

Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt Soziale Desintegration und Imbalance von Kontrolle

Stefan Kanis Universität Bielefeld Bielefeld, Deutschland

Steffen Zdun Universität Bielefeld Bielefeld, Deutschland

Daniela Krause Universität Bielefeld Bielefeld, Deutschland

Wilhelm Heitmeyer Universität Bielefeld Bielefeld, Deutschland

ISSN 2627-2016 ISSN 2627-2024  (electronic) Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration ISBN 978-3-658-29617-9 ISBN 978-3-658-29618-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Es ist immer wieder zu betonen, dass die Jugendzeit zu den spannendsten, aber auch angespanntesten und risikoreichsten Lebensphasen zählt. Den Hintergrund bildet die für moderne Gesellschaften typische Ambivalenz als Lebensparadigma. Die Chancen auf eine eigenständige Lebensplanung nehmen zu, aber die Berechenbarkeit der Lebenswege nimmt ab. Umso wichtiger ist es im Prozess des Aufwachsens in einer sich immer schneller wandelnden Gesellschaft mit zunehmenden Konkurrenzen und Unwägbarkeiten, sichere Erfahrungen der Integration und stärkender Anerkennung in den verschiedenen Sozialisationsfeldern von Familie, Schule und Gruppen von Gleichaltrigen machen zu können. Erfahrungen von sozialer Desintegration und damit einhergehenden Beschädigungen essenzieller Anerkennungen tangieren auch das grundlegende Bedürfnis nach Realitätskontrolle, also das eigene Leben „im Griff“ zu haben. In diesem Kontext ist die vorliegende Untersuchung platziert. Dazu sind erstmals zwei Theorien miteinander verbunden worden. Es ist die Theorie Sozialer Desintegration (TSD) und die Control Balance Theory (CBT). Diese Kombination ist angelegt worden, um weitergehende Erklärungen für Devianz und Gewalt bei einem Teil der Jugendlichen zu finden. Erleben solche Jugendlichen – im Vergleich zu anderen – ein erhöhtes Ausmaß an Desintegrationserfahrungen und Anerkennungsdefiziten? Daran schließt sich die Frage an: Haben sie keine Kontrollbalancen zwischen Selbstkontrolle und Fremdkontrolle, sodass Devianz und Gewalt eine wichtige „Strategie“ der eigenen Realitätskontrolle darstellt? Und dient diese Strategie auch dazu, Anerkennungen in ihren jeweiligen Bezugsgruppen von Gleichaltrigen herzustellen? Die Beantwortung solcher Fragen bewegte sich in mehrfacher Hinsicht auf neuen Wegen und Herausforderungen. Dies betraf sowohl die Theoriearbeit

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Vorwort

als auch die empirischen Auswertungen der gewonnenen quantitativen wie qualitativen Daten, die ebenfalls durch die zentralen Kategorien der beiden Theorien miteinander verbunden wurden. Dass dieses Vorhaben im Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld realisiert werden konnte, ist zuerst den vielen Schüler*innen zu verdanken, die die Fragebögen ausgefüllt haben und jenen, die zu intensiven Interviews bereit waren. Um die methodischen Herausforderungen mitsamt den zahlreichen „Umwegen“ aufgrund der neuen Figur einer Theorie-Verknüpfung ergebnisorientiert bearbeiten zu können und dieses Ergebnis vorlegen zu können, schulden wir vor allem Prof. Dr. Peter Schmidt von der Universität Gießen und Dr. Madlen Preuß vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld besonderen Dank. Für die unterstützende Arbeit in der Aufbereitung der Daten gilt den studentischen Hilfskräften Wiebke Weissinger und Kathrin Wagner weiterer Dank. Was wäre eine Untersuchung ohne ein besonders kompetentes und kooperatives Team, um diese Herausforderungen zu „stemmen“? Deshalb muss die Arbeit von Dr. Steffen Zdun, Daniela Krause und Stefan Kanis besonders hervorgehoben werden. Schließlich ist auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die großzügige finanzielle Unterstützung zu danken. Bielefeld Frühjahr 2020

Wilhelm Heitmeyer

Inhaltsverzeichnis

1 Ziele und Rahmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Zielsetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Begriffliche und empirische Rahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen und ­Theorie-Verknüpfung zur Erklärung von Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1 Die Theorie Sozialer Desintegration (TSD). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.2 Die Verbindungskategorie der beiden Theorien: Bedürfnis nach Realitätskontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.3 Control Balance Theory (CBT). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3 Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.1 Mixed-Methods-Ansatz und Methodentriangulation. . . . . . . . . . . . . 29 3.2 Standardisierte Befragung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.2.1 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.2.2 Datenaufbereitung und Berechnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.2.3 Analyseverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.3 Leitfadengestützte Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.3.1 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.3.2 Datenaufbereitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.3.3 Analyseverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4 Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik. . . . 45 4.1 Entscheidung über die Anzahl der quantitativ ermittelten Klassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.2 Klassenhomogenität und -separation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.3 Beschreibung der latenten Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.3.1 Wie sind die Werte zu lesen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 VII

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Inhaltsverzeichnis

4.3.2 Von der Analyse zu den Klassenlabels. . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.3.3 Klasse 1 – Sichtbare Desintegration – geringe Realitätskontrolle – auffällige Gewaltattitüden. . . . . . . . . . . 55 4.3.4 Klasse 2 – Gefährdete Integration – unsichere Realitätskontrolle – anfällige Gewaltattitüden. . . . . . . . . . . . 93 4.3.5 Klasse 3 – Gelungene Integration – ausbalancierte Realitätskontrolle – unauffällige Gewaltattitüden. . . . . . . . . 143 4.4 Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung. . . . . . . . . . . . . . . . 184 4.4.1 Theorie Sozialer Desintegration (TSD). . . . . . . . . . . . . . . . . 184 4.4.2 Control Balance Theory (CBT). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5 Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien . . . . . . . . . . 199 5.1 Gewalt und Delinquenz in der quantitativen Stichprobe. . . . . . . . . . 199 5.1.1 Deskriptive, allgemeine Beschreibung der Delinquenz in unserer Stichprobe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5.1.2 Deskriptive Beschreibung gewalttätigen Verhaltens . . . . . . . 201 5.2 Gewalt in den Klassen – quantitativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5.2.1 Täterschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5.2.2 Opfer von Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5.2.3 Kombination Opfer und Täter*innen von Gewalt. . . . . . . . . 205 5.3 Gewalt in den Klassen – qualitativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.3.1 Klasse 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.3.2 Klasse 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 5.3.3 Klasse 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.4 Delinquenz in den Klassen – quantitativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5.5 Delinquenz in den Klassen – qualitativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.5.1 Klasse 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.5.2 Klasse 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 5.5.3 Klasse 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 5.5.4 Alternative Verarbeitungsstrategien von herausfordernden Lebensumständen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6 Zusammenführung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.1 Grundgedanke der Theorie-Verknüpfung illustriert an zwei Beispielkontexten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 6.1.1 Heimjugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 6.1.2 Jugendtreffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 6.2 Weiterführende Gedanken zur Theorie-Verknüpfung. . . . . . . . . . . . 252

Inhaltsverzeichnis

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7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 8 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Angaben zu den Autor*innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

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Ziele und Rahmung

1.1 Zielsetzungen „Soziale Desintegrationserfahrungen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Imbalance von Kontrolle vergrößern die Gefahren devianten und gewalttätigen Verhaltens.“

Die Durchmusterung soziologischer Erklärungsansätze individueller Gewalt und ihre empirische Bewährung, die Albrecht (2002) vorgenommen hat, zeigt auf der breiten Basis der in seine Analyse einbezogenen Kriminalitätstheorien, dass einzelne Ansätze nicht in der Lage sind, die vielfältigen Phänomene und Faktoren von Gewalt vollständig zu erfassen und zu erklären. Albrecht gelangt zu einem Ergebnis, welches auch heute noch als „Anforderungsprofil“ gilt. Es besagt, „dass es notwendig ist, zwischen verschiedenen Formen der Gewaltkriminalität zu unterscheiden (1), dass mit multiplen Einflüssen zu rechnen ist (2), dass nicht statische, sondern dynamische Kausalstrukturen anzunehmen sind (3), dass Faktoren, die ein kriminelles Verhalten auslösen, nicht identisch sein müssen mit denen, die es aufrechterhalten (4), dass dieselben Ergebnisse einer Entwicklung auf unterschiedliche Ursachen zurückgehen (Äquifinalität) (5) und andererseits dieselben Faktoren unterschiedliche Folgen zeitigen können (Multifinalität) (6), dass psychische und soziale Faktoren nicht isoliert betrachtet, sondern in Mehrebenenmodellen verknüpft werden müssen (7) und dass Akteur*innen nicht als passive Objekte sozialer Einflüsse, sondern als Gestalter von Bedingungen gedacht werden sollten (8)“ (Albrecht 2002, S. 801).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6_1

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1  Ziele und Rahmung

Nun sind einzelne Forschungsprojekte sicherlich überlastet, diese komplexe Anforderungsliste zu erfüllen. Es kann bestenfalls um einige Annäherungen in einzelnen Punkten gehen. In dem Projekt, das Grundlage für dieses Buch ist, sind dazu vor allem zwei Aspekte herauszustellen, die im Analysekonzept eine zentrale Bedeutung haben. Diese sind eine Theorie-Verknüpfung und die Bedeutung der Jugendlichen als aktive Akteur*innen zur eigenen Realitätskontrolle unter den Bedingungen der Integrations-Desintegrationsdynamik im Zuge des Aufwachsens in einer ambivalenten modernen Gesellschaft. Deshalb hat sich diese Untersuchung zum Ziel gesetzt, zwei Theorien miteinander zu verknüpfen, um empirisch zu analysieren, ob sich dadurch eine größere Erklärungskraft mit Blick auf Gewalt unter Jugendlichen erreichen lässt. Die beiden Theorieansätze sind ausgewählt worden, da sie aufgrund ihrer theoretischen Anlage ein Verknüpfungs- und Ergänzungspotenzial besitzen. Die verwendeten Theorien sind Charles Tittles (1995) Control Balance Theorie (CBT) und Wilhelm Heitmeyers (1995) Theorie Sozialer Desintegration (TSD). Diese beschäftigen sich vor allem mit Integrations- und Desintegrationserfahrungen von Jugendlichen sowie mit dem Erleben von eigener und erfahrener Kontrolle in verschiedenen Lebensbereichen. Die zentrale Annahme in diesem Projekt ist, dass die Begrenzungen beider Ansätze durch eine „synthetische“ Theorie-Verknüpfung minimiert, d. h. die Reichweite der Aussagen vergrößert werden kann. Die TSD zielt darauf ab, Gewalt durch soziale Erfahrungen zu erklären. Es erscheint sinnvoll, diesen Ansatz durch die CBT zu erweitern, indem situative Interpretationen dieser Erfahrungen im Hinblick auf Realitätskontrolle damit verbunden werden, um eine Kontrollbalance zwischen Kontrollüberschuss einerseits und Kontrolldefizit andererseits in diesen sozialen Erfahrungen in unterschiedlichen Lebensbereichen zu erreichen. Daraus ergibt sich die zentrale These der Untersuchung: Soziale Desintegrationserfahrungen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Imbalance von Kontrolle vergrößern die Gefahren devianten und gewalttätigen Verhaltens. Die beiden Theorien wurden nicht nur wegen ihrer Bandbreite zentraler Kategorien gewählt, sondern auch aufgrund ihres Potenzials zur Erklärung von verschiedenen Devianz- und Gewaltformen. In Kap. 2 werden beide ausführlicher erläutert. Beide Theorien haben nicht nur im internationalen kriminologischen Theoriediskurs, sondern auch auf der Anwendungsebene in Form empirischer Forschung jeweils eine gewisse Aufmerksamkeit und Verbreitung erfahren. Während die CBT mittlerweile integraler Bestandteile diverser kriminologischer Hand-, Lehrund Theoriebücher geworden ist, aber wohl auch aufgrund ihrer Komplexität nur wenig empirisch überprüft wurde, zeichnet sich die TSD stärker durch ihre

1.2  Begriffliche und empirische Rahmung

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bereits vielfache Anwendung und die weit fortgeschrittene Operationalisierung ihrer Konstrukte aus. Dieser Unterschied dürfte nicht zuletzt auf die Entstehungsgeschichte beider Theorien zurückzuführen sein. Auf der einen Seite wurde die CBT von Tittle als eine Art Quintessenz und „General Theory“ aus diversen Defiziten gängiger Kriminalitätstheorien entwickelt, was sie in der Folge so komplex macht (Savelsberg 1996, S. 620; Tittle 1995, S. 1, 2004a, S. 395 f.). Auf der anderen Seite ist die TSD eher aus der Empirie für die Empirie und weniger vordergründig für einen weiteren Theoriediskurs entwickelt worden.

1.2 Begriffliche und empirische Rahmung „In der vorliegenden Studie fiel entsprechend die Wahl auf zwei Gewaltaspekte, die im Jugendalter prägnant sind. Auf der einen Seite geht es um leichte und schwere Körperverletzungen. Auf der anderen Seite wird Mobbing thematisiert.“

Da die Grundkonzeptionen beider Theorien im folgenden Kapitel aufgearbeitet werden, soll hier nun einführend das im Forschungsprojekt zugrunde gelegte Gewaltverständnis erläutert werden sowie ein kurzer Einblick in die Entwicklung von Jugendgewalt gegeben werden. Nicht nur die theoretische Erklärung der Entstehung von Gewalt ist seit jeher ein komplexes Unterfangen (Imbusch 2002), sondern bereits die Definition beziehungsweise Rahmung des Begriffs. Auch in diesem Kontext gibt und gab es bereits diverse intensive Debatten aus verschiedenen Lagern. Galtung (1990) beispielsweise plädiert für einen sehr weiten Gewaltbegriff, der all das einschließen solle, wodurch Menschen sich in der Umsetzung ihrer Wünsche, Bedürfnisse und Ziele eingeschränkt erleben. Einem solchen Verständnis wird dann aber teils vorgeworfen, dass es zu offen und „wässrig“ sei, da so gerade aus subjektiver Sicht fast alles zu Gewalt werden könne. Dem kann aber je nach theoretischem Erklärungs- oder empirischem Forschungsinteresse entgegengehalten werden, dass es durch ein weites und subjektives Verständnis möglich wird, zu erkennen und zu dokumentieren, welche Verhaltensweisen von Individuen als Gewalt empfunden werden und gegebenenfalls auch Reaktionen auslösen, die in weiterer Eskalation münden können. Engere Ansätze würden dies unberücksichtigt lassen. Im Gegensatz dazu liefert Popitz (1986, S. 48) einen Klassiker für ein enges Gewaltverständnis: Gewalt ist demnach eine „Machtaktion, die zur absichtlichen

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1  Ziele und Rahmung

körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Ausführenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat (…) oder, in Drohungen umgesetzt, zu einer dauerhaften Unterwerfung (…) führen soll“. Abgesehen von der Konzentration auf den Machtcharakter von Gewalt, die selbstverständlich auch andere Motivationen haben kann, ist hier seine Verengung auf körperliche Verletzungen relevant. Ähnlich wie bei einem weiten Verständnis – wie dem von Galtung – ließe sich auch dieser Ansatz leicht kritisieren, da es u. a. zu einer systematischen Ausblendung von psychischen Gewalterfahrungen kommt. Allerdings spricht für eine solche Verengung wiederum auch, dass hierdurch eine stärkere Konzentration auf bestimmte zentrale Aspekte des Phänomens erfolgen kann. In der Empirie ist es ohnehin notwendig, eine Definition zu wählen, die dem Forschungsgegenstand am besten entspricht beziehungsweise zentrale Gewaltphänomene benennt, die im zu untersuchenden Personenkreis von besonderer Bedeutung sind. In der vorliegenden Studie fiel entsprechend die Wahl auf zwei Gewaltaspekte, die im Jugendalter prägnant sind. Auf der einen Seite geht es um leichte und schwere Körperverletzungen, die unter Jugendlichen nicht nur ein zentrales Resultat der Austragung von ernsthaften Konflikten darstellen, sondern eben auch im Sinne von Popitz (1986) ein Machtinstrument sind, um in Anlehnung an die CBT (massive) Kontrolle über andere auszuüben und in Anlehnung an die TSD Anerkennung unter Peers zu erlangen und Desintegrationserfahrungen zu kompensieren. Auf der anderen Seite wird Mobbing (inner- oder außerhalb des Internets) thematisiert. Hierbei handelt es sich um eine weitgehend psychisch, aber auch strukturell angelegte Gewaltform, die lediglich in extremen Eskalationen auch physische Gewalt beinhalten kann. Zudem ist dies sowohl in der Schule als auch außerhalb eine zentrale Variante der Gewalt, mit der Jugendlichen aufeinander einwirken. Interessanterweise stellt auch Mobbing im Sinne von Popitz (1986, S. 48) ein Machtinstrument dar (Stichwort: „Drohungen (…) zu einer dauerhaften Unterdrückung“), um in Anlehnung an die CBT (massive) Kontrolle über andere auszuüben und in Anlehnung an die TSD Anerkennung unter Peers zu erlangen und Desintegrationserfahrungen zu kompensieren, wodurch sich beide Gewaltformen ergänzen und einen großen Teil des gewalttätigen Handlungsspektrums unter Jugendlichen abdecken. Während in der breiten Öffentlichkeit nach wie vor weitgehend die Meinung vertreten wird, Jugendgewalt würde immer weiter zunehmen, stimmen Hellfeldund Dunkelfelddaten zumindest seit einigen Jahren darin überein, dass diese seit ihren Spitzenwerten im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre deutlich nachgelassen hat, auch wenn in jüngster Zeit wieder ein leichter Anstieg zu verzeichnen ist (vgl. Abb. 1.1).

1.2  Begriffliche und empirische Rahmung

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100.000 90.000

80.000 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0 2000

2002

2004

2006

14-18 Jahre

2008

2010

2012

2014

2016

18-21 Jahre

Abb. 1.1   Zeitreihe Körperverletzung aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). (Quelle: BKA 2018)

Der Rückgang der Delikte zwischen 2008 und 2015 wird vor allem über folgende Entwicklungen erklärt: a) Zunahme des Anteils an Jugendlichen, die höhere Schulabschlüsse (Abitur) ablegen, b) Rückgang des Einsatzes elterlicher Gewalt in der Erziehung, c) Zunahme der elterlichen Zuwendung als positiver Erziehungsstil, d) zunehmende Gewaltmissbilligung der Gleichaltrigen, e) Rückgang des Kontakts zu delinquenten Freund*innen, f) rückläufige Bereitschaft der Jugendlichen, die Schule zu schwänzen, g) Verringerung von Freizeitaktivitäten, die unstrukturiert und von Erwachsenen unkontrolliert verbracht werden, h) geringere Zustimmung zu gewaltakzeptierenden Einstellungen, i) Rückgang des Alkoholkonsums (Pfeiffer et al. 2018). Bislang nicht ausreichend untersucht für belastbare Erklärungen ist hingegen der jüngste Anstieg der Delikte seit 2015, der sich im Hell- und Dunkelfeld zeigt. Auch wenn der starke Zuzug von Geflüchteten einen Beitrag zu diesem Anstieg geliefert zu haben scheint, ist weder dieser ausreichend untersucht (d. h. Gewalt gegen diese, Gewalt durch diese sowie Gewalt unter diesen), noch andere Faktoren, die gegebenenfalls auch dazu beigetragen haben mögen. Aus einer relativ aktuellen repräsentativen Viktimisierungsstudie (Hellmann 2014) geht zudem hervor, dass in der Altersgruppe von 16 bis 20 Jahren 25,9 % mindestens schon einmal Opfer einer Gewalttat wurden; die Fünfjahresprävalenz lag mit 20,7 % nicht sehr weit unter diesem Wert, was darauf schließen lässt, dass

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1  Ziele und Rahmung

es sich vorzugsweise um Opfererfahrungen im Jugendalter handelt und nicht bloß um weit zurückliegende Kindheitserlebnisse. Mit Blick auf die Beziehung zu den Täter*innen zeigt sich ferner, dass knapp die Hälfte von Unbekannten angegriffen wurde, während 40 % die Täter*innen kannten (Bekannte, Nachbarn, Freund*innen) und es sich in jedem zehnten Fall sogar um Verwandte handelte.

„Als Risikofaktoren für eine Täterschaft im Jugendalter gelten insbesondere der Ausschluss von beruflicher Bildung und Erwerbsarbeit, inkonsistente familiäre Erziehung, elterliche Vernachlässigung, mangelnde emotionale Nähe der Eltern und hohe Konfliktdichte mit Erfahrungen häuslicher Gewalt einschließlich Missbrauch sowie Arbeitslosigkeit, Überforderung, Vorstrafen und Drogenkonsum der Eltern, die nicht selten getrennt leben.“

Als Risikofaktoren für eine Täterschaft im Jugendalter gelten insbesondere „prekäre soziale, finanzielle und familiale Entwicklungsbedingungen, starke psychische und physische Belastungen, Leistungs- und Disziplinprobleme in der Schule, eine starke Bindung an delinquente Cliquen und massiver Konsum von Drogen“ (Ohder 2010, S. 182). Hinzu kommen u. a. der Ausschluss von beruflicher Bildung und Erwerbsarbeit, inkonsistente familiäre Erziehung, elterliche Vernachlässigung, mangelnde emotionale Nähe der Eltern und hohe Konfliktdichte mit Erfahrungen häuslicher Gewalt einschließlich Missbrauch sowie Arbeitslosigkeit, Überforderung, Vorstrafen und Drogenkonsum der Eltern, die nicht selten getrennt leben (Boers et al. 2006; Bushway et al. 2003; Equit 2011; Farrington 1995; Kerner 1989; Stelly und Thomas 2005). Ein Migrationshintergrund sowie das Wohnen und Aufwachsen in einem sozial benachteiligten Stadtgebiet stellen an sich hingegen keine eigenständigen Risikofaktoren dar, da der überproportional hohe Anteil an Gewalttäter*innen in bestimmten Populationen eher auf deren im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft prekäreren Umstände des Aufwachsens und sozialer Benachteiligung zurückzuführen sei (Baier et al. 2009). Generell ist bei einer Akkumulation von Risikofaktoren mit steigenden Übergangsschwierigkeiten vom Jugend- zum Erwachsenenalter zu rechnen, die subjektiv zwar unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet werden, aber insbesondere bei jungen Männern und unter bestimmten Bedingungen auch bei jungen Frauen Delinquenz begünstigen. So sind Gewalt und Jugendkriminalität sozial benachteiligter junger Menschen eine eher männliche Domäne, was nicht

1.2  Begriffliche und empirische Rahmung

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selten die demonstrative Zurschaustellung von Maskulinität und anerkennungsorientierte Machtinszenierungen beinhaltet (Anderson 1999; Bereswill und Neuber 2010; Zdun 2007). Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch junge Frauen mit Gewalt und Kriminalität auf diese Belastungsfaktoren reagieren (Equit 2011), selbst wenn sie bekanntermaßen insgesamt weniger durch Straftaten in Erscheinung treten. Auch wenn bei den Risikofaktoren von einer gewissen Beständigkeit ausgegangen werden muss, drückt sich dies nicht zwangsläufig in einer Stabilität der allgemeinen kriminellen Auffälligkeit der Jugendlichen aus. So kommen Freiheit et al. (2018, S. 203) zu dem Schluss, dass „starke Wendepunkte und Weichenstellungen“ Einfluss auf die weiteren kriminellen Handlungen haben und somit auch zur Beendigung dieser führen können. Für Mobbing gibt es dagegen nur wenige gesicherte Erkenntnisse, da der Forschungsstand hierzu nur sehr begrenzt ist. Hellfelddaten fehlen gänzlich, da Mobbing kein spezifischer Straftatbestand ist. Diverse Formen des Mobbings erfüllen nicht einmal die Kriterien eines Straftatbestandes wie etwa den der systematischen Ausgrenzung oder der regelmäßigen Beleidigung. Bei anderen Formen handelt es sich hingegen um zahlenmäßig nicht genauer bestimmbare Anteile von Straftatbeständen, z. B. Bedrohung. Auch im Bereich der Dunkelfeldforschung zu Mobbing sind deutliche Defizite zu konstatieren, da es beispielsweise bislang an belastbaren Langzeitstudien zur Entwicklung dieses Gewaltphänomens in Deutschland, aber auch anderswo, mangelt. Trotz einer mittlerweile großen öffentlichen und politischen Sensibilität für das Thema ist der empirische Forschungsstand äußerst defizitär. Bislang liegen keine belastbaren Zahlen zum Ausmaß dieses Phänomens vor, was aber auch darauf beruht, dass gerade bei diesem Thema Selbstauskünfte sowohl von Opfern als auch Täter*innen mit Vorsicht zu behandeln sind. Nicht bloß, weil es sich um ein Tabuthema handelt, sondern auch aufgrund teils unklarer ­Täter-Opfer-Konstellationen oder der subjektiven Wahrnehmung als das eine oder andere. Hierbei sind auch Mittäter*innen relevant, von denen nicht die Initiative ausgeht, die sich aber beteiligen, sowie Gleichaltrige, die zusehen, aber nicht eingreifen. Letztere können besonders problematisch sein, obwohl sie eigentlich nichts machen, da ihr Nichteingreifen den Täter*innen und Opfern signalisiert, dass das, was passiert, in Ordnung ist, d. h. die Täter*innen fortfahren können und die Opfer selbst Schuld seien. Bei der Frage nach den individuellen Risikofaktoren argumentieren Autor*innen wie Olweus (2006), dass es letztendlich alle und jeden treffen könne. Dennoch wird teils darauf hingewiesen, dass es eher isolierte Personen beziehungsweise solche mit geringem Selbstwertgefühl treffe. Zudem scheinen

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1  Ziele und Rahmung

Täter*innen solche Personen als Opfer zu bevorzugen, von denen wenig Gegenwehr zu erwarten ist. Allerdings ist das insofern vereinfachend, da viele Opfer auch Täter*innen sind (und umgekehrt) und insgesamt die Rollen zeitlich nicht stabil sein müssen (Sitzer et al. 2012).

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Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen und T ­ heorie-Verknüpfung zur Erklärung von Gewalt

„Theorie-Verknüpfung meint hier, dass sich die auf ein soziales Phänomen gerichteten Erklärungsabsichten verschiedener Theorien nicht widersprechen, sondern auf verschiedene Aspekte menschlichen Verhaltens in einem spezifischen Handlungskontext ergänzend beziehen.“

Die Erklärung von Gewalt soll mit einer Kombination unterschiedlicher Theorien erfolgen. Zunächst sind es jugend- und sozialisationstheoretische Ansätze, die grundsätzliche Bedingungen des Aufwachsens in der modernen Gesellschaft charakterisieren. Auf das Phänomen gewalttätigen Handelns sind dann ein desintegrationstheoretischer und ein kontrolltheoretischer Ansatz zugeschnitten. Dazu wird eine Theorie-Verknüpfung konzipiert. Theorie-Verknüpfung meint hier, dass sich die auf ein soziales Phänomen gerichteten Erklärungsabsichten verschiedener Theorien nicht widersprechen, sondern auf verschiedene Aspekte menschlichen Verhaltens in einem spezifischen Handlungskontext ergänzend beziehen. Damit ist kein bloßes additives Verhältnis gemeint, sondern ein verschränkendes, sodass ein möglichst einheitliches Ganzes zur Erklärung von Verhaltensweisen wie z. B. Gewalt im Handlungskontext des Aufwachsens unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen wie der sozialen Lage, des Verhältnisses zu den Eltern, den Leistungsanforderungen in der Schule, Zugehörigkeiten zu Gleichaltrigen-Gruppen etc. entsteht. Eine solche Theorie-Verknüpfung ist in dreifacher Hinsicht sinnvoll und im Hinblick auf Prävention, etwa von Gewalt durch Jugendliche, auch notwendig. Erstens ist der Blick auf die strukturellen Entwicklungen in der modernen Gesellschaft mit seinen herausfordernden Bedingungen des Aufwachsens zu werfen. Klassisch ist die Konzeption von der Entstrukturierung der Jugendphase © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6_2

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2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

(Olk 1985; Heitmeyer und Olk 1990; Heitmeyer et al. 2011) in Richtung der Individualisierungsprozesse (Beck 1983). Mit der Formel von der „Ambivalenz als Lebensparadigma“ (Heitmeyer 1995, S. 50 ff.), also der Doppelwertigkeit und Aufladung von widersprüchlichen Chancen, Erwartungen und Konsequenzen, lassen sich diese Herausforderungen charakterisieren. • Die Chancen der Lebensplanung und die Vielfalt der Optionen nehmen zu, aber die Berechenbarkeit der Lebenswege nimmt ab. • Die Entscheidungschancen werden größer, aber es steigt auch der Entscheidungszwang, der für die Eigenverantwortung der Konsequenzen von Erfolg oder Scheitern übernommen werden muss. • Die Befreiung aus einem Lebenslaufkorsett erhöht gleichzeitig die Verlustmöglichkeiten sicherheitsspendender sozialer Verortung. • Die Möglichkeiten größerer individualistischer Selbstdeutung gehen mit einer Destabilisierung sozialer Lebenszusammenhänge einher. • Der Verlust von Gewissheiten nimmt zu, aber das Bedürfnis nach ihnen bleibt. • Die Auflösung von Traditionen eröffnet neue Verhaltenschancen, aber die selbstverständlichen Regelungswege zur Verminderung von Konflikten sind verloren. • Die Lockerung von Normen als Verhaltensanweisungen und die Optionsvielfalt erhöhen die Freiräume, tragen aber auch zu einer Subjektivierung von Werten und Normen bei. Kommt es zu Verständigungsverlusten über gemeinsam geteilte Werte und Normen, die zur sozialverträglichen Lösung von Konflikten vorauszusetzen sind, kann der Freiheitsgewinn in das Recht des Stärkeren umschlagen. Diese Ambivalenzen stellen erhöhte Anforderungen an Jugendliche, um eine eigenständige Identität zu entwickeln und um einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Damit sind Suchbewegungen verbunden, um soziale Beziehungen aufzubauen und zu sichern, Statuspositionen zu erwerben, Handlungskompetenzen und emotionale Sicherheit zu gewinnen, um in Bezug auf Familie, Schule, ­Gleichaltrigen-Gruppe, Politik und Beruf handlungsfähig zu sein. Angesichts dieser Spannweite der skizzierten Ambivalenzen ist mit ganz unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien zu rechnen, die bei Problemlagen von abwartenden und hilfesuchenden bis zu autoaggressiven und gewalttätigen Verhaltensweisen reichen können. Zweitens ist es eine wichtige Frage, wie diese strukturellen Anforderungen individuell als soziale Erfahrungen in den verschiedenen Institutionen ausfallen.

2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

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Dazu gehören die sozialisationsrelevante Familie, etwa mit Vernachlässigung, Gewalt oder Liebe, die qualifikationserzeugende Schule, etwa mit Notengebung, Aufmerksamkeit, Sanktionen, die zugehörigkeitsrelevante ­Gleichaltrigen-Gruppe, etwa mit Stärkedemonstration, Devianz, Solidarität sowie kontrollrelevante Akteur*innen der Polizei oder Jugendämter mit Einschränkung, Strafandrohungen etc. Drittens sind diese Erfahrungen mit Verarbeitungsprozessen verbunden, also wie diese Erfahrungen interpretiert werden, z. B. als Trauer, Wut, Frustration, Aggression oder Gewalt. Sie können intraindividuell sehr unterschiedlich ausfallen und unterschiedliche Handlungsoptionen erzeugen; also man „frisst alles in sich hinein“, sucht mit relevanten Dritten nach konstruktiven Lösungen oder reagiert auf Erniedrigungen, Vernachlässigungen etc. auch gewalttätig. Hurrelmann (1983) hat dazu das Sozialisationsmodell des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ entworfen, um deutlich zu machen, dass Sozialisation als prägender Vorgang weder allein durch genetische Ausstattung noch durch einfache Rollenmodelle oder überwältigende Einflüsse der genannten Institutionen erfolgt. Stattdessen wird in diesem Modell das aktive Subjekt mit seinen unterschiedlichen Verlaufswegen eigenständiger Handlungsentscheidungen hervorgehoben. Gleichwohl können die Handlungsräume in Familie, Schule, ­GleichaltrigenGruppen, Polizei etc. ganz unterschiedlich eng oder weit sein durch die obwaltenden Regeln oder Sanktionsmöglichkeiten und vor allem eine je spezifische Mixtur von Handlungschancen, je nach zur Verfügung stehenden Unterstützungen durch Personen oder Institutionen – oder deren Fehlen. Was aber in jedem Fall bleibt, ist das individuelle Bedürfnis nach Realitätskontrolle (Holzkamp-Osterkamp 1975; Möller 1988), um die Handlungsräume so auszuloten, dass die Person über relevante Lebenswege und -chancen möglichst selbst verfügen kann. „Bewußte Lebenstätigkeit des Menschen ist nicht lediglich die Bewältigung einer aktuellen Situation durch Zielantizipation und Handlungskontrolle, sondern planende Voraussicht künftiger Situationen und generalisierte Realitätskontrolle durch Bereitstellung der Mittel zu ihrer Bewältigung. Die in der bewussten Planung erreichte Unsicherheitsreduktion ist mithin nicht nur verbesserte Situationskontrolle, sondern verbesserte Kontrollierbarkeit eines bestimmten Typus von Situationen“ (Holzkamp-Osterkamp 1975, S. 250). Das heißt, die Erfahrungen und Verarbeitungen werden dahin gehend geprüft, wie diese Realitätskontrolle gewährleistet beziehungsweise ausgebaut werden kann.

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2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

„Vor diesem Hintergrund sind zur Erklärung von Gewalt bei Jugendlichen solche Theorien relevant, die zum einen die Erfahrungen thematisieren, die in Institutionen gesellschaftlicher Integration gesammelt werden und die zum anderen Fragen der „Strategien“ von Realitätskontrolle thematisieren. Dazu sind zwei Theorien ausgewählt worden. Es sind die Theorien Sozialer Desintegration und die Control Balance Theory.“

Vor diesem Hintergrund sind zur Erklärung von Gewalt bei Jugendlichen solche Theorien relevant, die zum einen die Erfahrungen thematisieren, die in Institutionen gesellschaftlicher Integration gesammelt werden und die zum anderen Fragen der „Strategien“ von Realitätskontrolle thematisieren. Dazu sind zwei Theorien ausgewählt worden. Es sind die Theorien Sozialer Desintegration (TSD) und die Control Balance Theory (CBT). Sie werden im Folgenden einzeln vorgestellt.

2.1 Die Theorie Sozialer Desintegration (TSD) „Desintegration markiert die nicht wahrgenommene Verantwortung von Institutionen und Gemeinschaften, die existentiellen Grundlagen, soziale Anerkennung und persönliche Integrität für alle in der Gesellschaft lebenden Personen zu sichern.“

Die Theorie Sozialer Desintegration (Heitmeyer 1995; Anhut und Heitmeyer 2000, 2005) zielt auf die Erklärung u. a. von Gewaltphänomenen aufgrund ungenügender Integrationsleistungen einer Gesellschaft. Desintegration markiert die nicht wahrgenommene Verantwortung von Institutionen und Gemeinschaften, die existentiellen Grundlagen, soziale Anerkennung und persönliche Integrität für alle in der Gesellschaft lebenden Personen zu sichern. Das Theoriegebäude ist zunächst altersunabhängig aufgebaut und muss auf altersspezifische Bedingungen – etwa des Aufwachsens im Jugendalter – spezifiziert werden. Das Tableau enthält drei Dimensionen: Reproduktion, Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung (Heitmeyer 2018, S.  149). Dazu kommen zwei Ebenen: die objektiven und die subjektiven Faktoren unterschiedlicher Anerkennungsformen in den drei Dimensionen.

2.1  Die Theorie Sozialer Desintegration (TSD)

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Aus Sicht der TSD stellt sich Anerkennung als Folge der Lösung des Problems sozialer Integration ein. Unter sozialer beziehungsweise gesellschaftlicher Integration von Individuen und Gruppen wird im Anschluss an Peters (1993) ein gelungenes Verhältnis von Freiheit und Bindung verstanden. Dazu bedarf es des Desintegrationsansatzes zufolge insbesondere der Lösung dreier Aufgabenstellungen, um soziale Integration und das Bedürfnis nach Anerkennung sicherzustellen (vgl. auch Sitzer und Wiezorek 2005). In der sozialstrukturellen Dimension (dem Reproduktionsaspekt) stellt sich hiernach das Problem der Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft, was objektiv im Regelfall durch ausreichende Zugänge zu Arbeits-, Wohnungs- und Konsummärkten sichergestellt wird, aber auch subjektiv eine Entsprechung in Form einer Zufriedenheit mit der beruflichen und sozialen Position erfordert. Auf Jugendliche bezogen heißt dies u. a., dass sie im Bildungssystem ein Schulabschlusszertifikat erwerben, welches ihnen ermöglicht, in einem Berufsfeld tätig zu werden, das ihren Ansprüchen und Wünschen entgegenkommt und eine soziale Position zu erlangen, die ihnen den angestrebten Lebensstandard erlaubt. Integration ist z. B. dann gegeben, wenn Jugendliche mit ihren Schulleistungen zufrieden sind und in den alltäglich vermittelten Unterrichtsinhalten einen Sinn im Hinblick auf spätere Tätigkeiten und sozialen Status sehen. Hier ist dann die positionale Anerkennung platziert, die auch Vergleichsprozesse mit relevanten Anderen positiv ausfallen lässt. In der institutionellen beziehungsweise gesellschaftlich-normativen Dimension (dem Vergesellschaftungsaspekt) geht es um die Sicherstellung des Ausgleichs konfligierender Interessen, ohne die Integrität von Personen zu verletzen. Dies erfordert aus Sicht des Desintegrationsansatzes die Einhaltung basaler demokratischer Prinzipien, welche die moralische Gleichwertigkeit der (politischen) Anderen gewährleisten und die von den Beteiligten als fair und gerecht bewertet werden können. Zugleich bedingt die Aushandlung und konkrete Ausgestaltung dieser Prinzipien wiederum entsprechende Teilnahmechancen und -bereitschaften der Akteur*innen. Integrationsrelevante Erfahrungen machen Jugendliche in der institutionellen Dimension primär in der Schule und dem Freizeitkontext (Mitbestimmungsmöglichkeiten, Qualität der ­Lehrer*innen-Schüler*innen-Interaktion und Leistungsbewertungen beziehungsweise Vorhandensein und Gestaltungsmöglichkeiten sozialer Räume etc.) beziehungsweise den virtuellen Kontakträumen der sozialen Netzwerke. Hier lagern die Möglichkeiten, aber auch die Bedrohungen moralischer Anerkennung als wichtige junge Bürger*innen mit ihren Bedürfnissen nach psychischer und physischer Unversehrtheit. In der personalen Dimension, die den Vergemeinschaftungsaspekt umfasst, geht es schließlich um die Herstellung emotionaler beziehungsweise

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2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

expressiver Beziehungen zwischen Personen zum Zwecke von Sinnstiftung und Selbstverwirklichung. Hier werden erhebliche Zuwendungs- und Aufmerksamkeitsressourcen, aber auch die Gewährung von Freiräumen sowie eine Ausbalancierung von emotionalem Rückhalt und normativen Anforderungen benötigt, um Sinnkrisen, Orientierungslosigkeit, eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls oder Wertediffusion und Identitätskrisen zu vermeiden. Wichtig für Jugendliche in diesem Bereich ist vor allem die erfahrene Akzeptanz durch das Elternhaus und den Freund*innenkreis. Hier liegt die Betonung auf der emotionalen Anerkennung. Das nachfolgende Tableau gibt einen fokussierten Überblick zu den zentralen Kategorien der Theorie (vgl. Tab. 2.1). Dieses Tableau basiert auf Heitmeyer (2018, S. 149) und wurde an die Situation von Jugendlichen angepasst. Die Gelegenheitsstrukturen und -angebote sowie die verschiedenen Formen der Anerkennung sind mit Wahrnehmungs- und Erfahrungsdiskrepanzen verbunden, die eine Realitätskontrolle für verschiedene Gruppen der Jugendlichen erschweren (Siehe Tab. 2.2). Die Bewältigung der genannten drei Aufgabenstellungen steht aus Sicht des Desintegrationsansatzes in engem Zusammenhang mit der Bereitstellung von Gelegenheiten zu positioneller, moralischer und emotionaler Anerkennung und einer Selbstdefinition als zugehörig zum entsprechenden sozialen Kollektiv (Anhut und Heitmeyer 2005, S. 49). Erlebte Anerkennung führt danach zu einer positiven sozialen Identität und damit einhergehend zu einem positiven Selbstbild; Anerkennungsdefizite haben negative Auswirkungen auf die Realitätskontrolle in Form von Imbalancen der Kontrolle. Die TSD differenziert dementsprechend gesellschaftliche und gemeinschaftliche Integrationsdimensionen, die aber nicht unabhängig voneinander verhandelt werden. Die getroffene analytische Differenzierung wird über die „Scharnierfunktion“ der verschiedenen Formen von Anerkennung zusammengeführt (Mata und Sitzer 2014, S. 16).

„Unter den Bedingungen von Desintegration und verweigerter Anerkennung sind Normabweichungen, Delinquenz und Gewalt als Handlungsmuster im selben Maße reziprok anzunehmen, wie gelungene Integration freiwillige Normakzeptanz erwarten lässt.“

Subjektive Ebene

Objektive Ebene

Dimensionen Ebenen

Formen der Anerkennung

Positionale Anerkennung (Anerkennung von Fähigkeiten)

Schulische Qualifikation und Leistung

Gelegenheitsstrukturen und Zugang zu Schulformen -angebote

Herstellung individueller Unterstützung und sozialer Zusammengehörigkeit

Sozial-emotionale Dimension: Vergemeinschaftung

Soziale Unterstützung Emotionale Anerkennung (Sicherung von psychischer und sozialer Stabilität)

Soziale und politische Positionierung Moralische Anerkennung (inhaltliche Positionen werden anerkannt)

Familie und GleichaltChancen auf Beteiligung an öffentlichen Angelegen- rigen-Gruppen heiten, u. a. in InternetForen

Teilhabe an materiellen und Ausgleich konfligierender kulturellen Gütern Interessen durch Kommunikation

Lösung von Aufgaben

Institutionellpartizipatorische Dimension: Vergesellschaftung

Sozialstrukturelle Dimension: Reproduktion

Integrationsdimensionen

Tab. 2.1   Kategorien der Theorie Sozialer Desintegration (TSD

2.1  Die Theorie Sozialer Desintegration (TSD) 15

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2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

Tab. 2.2   Bereiche der Realitätskontrolle Integrationsdimensionen Bereiche der Realitätskontrolle

Sozialstrukturelle Dimension

Institutionellpartizipatorische Dimension

Sozial-emotionale Dimension

Erwartungen

Gerechtigkeit der Behandlung durch Lehrer*innen

Wahrgenommen und ernstgenommen werden

Liebe, Fürsorge

Unterstützende Anerkennende Unterstützung durch Zustimmungen bei Positionierungen Lehrkräfte

Verhinderung von Vernachlässigung, Einsamkeit

Geringe Akzeptanz Missachtung, Anerkennungsdefizite Unzureichende bei Positionierungen Vernachlässigung, Leistungen und Einsamkeit mangelnde Unterstützung durch Lehrkräfte Imbalancen der Kontrolle

Keine Beeinflussungsmöglichkeiten bei Ungerechtigkeitsempfindungen

Keine Beeinflussung Keine Beeinflussung von Liebesentzug/ zur PositionsunterFürsorge (bei Eltern) stützung oder Zugehörigkeit/Akzeptanz in GleichaltrigenGruppen

Eine gelungene Integration ist entsprechend auch möglich, wenn mangelnde Anerkennung in einzelnen Integrationsdimensionen durch ausreichende Anerkennung in einer oder mehreren anderen ausgeglichen werden kann. Denkbar ist zum Beispiel, dass durch die Herabstufung im hierarchischen Schulsystem – etwa von der Real- auf die Hauptschule – die positionelle Anerkennung einzelner Jugendlicher gering ausgeprägt ist. Sich gegenseitig unterstützende Familienmitglieder und Freund*innen, die Rückhalt, Zuspruch und Hilfe gewähren, könnten diesen Mangel durch genügend emotionale Anerkennung kompensieren. Das nahe soziale Umfeld (die Vergemeinschaftungsdimension) könnte das bieten, was in der Schule (der sozialstrukturellen Dimension) fehlt. Demnach drückt eine positive „Anerkennungsbilanz“ die gelungene Integration in das gesellschaftliche Kollektiv aus und lässt freiwillige Akzeptanz der gesellschaftlichen Normen erwarten. Umgekehrt kann es aber auch zu einer Problemkumulation kommen, wenn zum Beispiel eine Person, die ihre Position in der Schule als prekär erlebt, mit dem Gefühl institutioneller Ungerechtigkeit und fehlender sozio-emotionaler Unterstützung im nahen Umfeld konfrontiert ist. Unter den Bedingungen

2.1  Die Theorie Sozialer Desintegration (TSD)

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von Desintegration und verweigerter Anerkennung sind Normabweichungen, Delinquenz und Gewalt als Handlungsmuster im selben Maße reziprok anzunehmen, wie gelungene Integration freiwillige Normakzeptanz erwarten lässt. Dies erkläre sich dadurch, dass gerade die perzipierte Vorenthaltung von eigenen Integrationschancen und die damit verbundenen Anerkennungsverletzungen die Wahrscheinlichkeit erhöhten, dass diese in der Konsequenz auch anderen – etwa in der Form der Anerkennung psychischer oder physischer Unversehrtheit – vorenthalten würden und – so Honneth (2011, S. 37 ff.) – zu einer Verwilderung sozialer Konflikte führe. Erfahrungen von Desintegration und Anerkennungsverletzungen führen der TSD zufolge aber nicht zwangsläufig zu Devianz oder Gewalttätigkeit; es wird in der Theorie also kein deterministischer Prozess angenommen. Ob Desintegration und mangelnde Anerkennung letztlich zu Gewalt und Devianz führen, hängt von sogenannten Brechungsfaktoren ab. Darunter werden moderierende Variablen verstanden, die Einfluss auf die Wahl des jeweiligen Handlungsmusters nehmen. Dies können im weitesten Sinne soziale Kompetenzen, Zurechnungsmuster und/ oder soziale Vergleichsprozesse sein (Anhut und Heitmeyer 2005, S. 384). Dabei kann mit Anhut und Heitmeyer davon ausgegangen werden, dass Personen mit einer hohen sozialen Kompetenz nicht nur über bessere Anpassungsstrategien verfügen, sondern auch über ein aktives Umweltmanagement, sodass es ihnen leichter fällt, erlittene Frustrationen zu bewältigen (Anhut und Heitmeyer 2000, S. 53). Zugleich benötigt verweigerte Anerkennung eine Entlastung beziehungsweise Kompensation, um ein positives Selbstbild aufrechterhalten zu können. Die Anwendung von Gewalt wird im Rahmen der TSD als eine solche Entlastungsrespektive Kompensationsfunktion betrachtet. Anerkennungsbeschädigungen werden nicht nur von individuellen Ursachen beeinflusst, sondern zugleich ganz wesentlich von gesamtgesellschaftlichen Hintergrundprozessen und Konfliktlagen. In der sozialstrukturellen Dimension (zur Reproduktion) zählen hierzu insbesondere der seit längerem beobachtbare Zerfall der Normalerwerbsbiografie, die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse in Form von Zeit- und Leiharbeit, Erwerbsarbeit im Niedriglohnsektor oder in 1-€-Jobs, geringfügiger Beschäftigung, Minijobs, Scheinselbstständigkeit etc. (Brinkmann et al. 2006; Dörre 2006) sowie eine beobachtbare Zunahme der sozialen Polarisierung in der Gesellschaft (Böhnke 2006; Frick und Grabka 2009; Nachtwey 2016). Für Eltern, die von diesen Prozessen betroffen sind, wird es schwierig, ihren Kindern Autonomie, wechselseitigen Respekt und Rücksichtnahme vorzuleben, wenn sich ihre eigenen Anerkennungsquellen reduzieren. Für Jugendliche, die vor dem Problem stehen, dass überall das Menschenbild eines autonomen, kompetenten und erfolgreichen Individuums propagiert wird,

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2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

verschärft sich der individuelle Platzierungsdruck durch die neuen sozialen Polarisierungen erheblich, was bei den Verlierern des Modernisierungsprozesses immer häufiger zu Enttäuschungen führt und Gefühle von Resignation, Ohnmacht und Wut freisetzt. In der institutionell-partizipatorischen Dimension der Vergesellschaftung fördern Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken in Schule und Beruf, instrumentelle Arbeits- und Sozialbeziehungen in Betrieb, Ausbildung, Familie und Partnerschaft sowie eine konsumorientierte auf Geld, Status und Prestige fixierte Lebensweise eigennutzinteressierte Orientierungen des Sich-Durchsetzen-Müssens, der sozialen Distinktion und Ausgrenzung. Verschärfend wirkt hierbei, der seit den 1980er Jahren beobachtbare politische Klimawechsel (Hengsbach 1997), der die Ausbildung ichbezogener und konkurrenzorientierter Einstellungen begünstigt und entsolidarisierenden Verhaltensmustern Vorschub leistet. In der sozio-emotionalen Dimension der Vergemeinschaftung begünstigen ambivalente Individualisierungsprozesse u.  a. eine wachsende Instabilität von Paarbeziehungen, in deren Folge sich familiale Desintegration schädlich auf die Sozialisationsbedingungen von Kindern auswirken kann. Emotionale Überforderungen der Erziehungspersonen resultieren hier insbesondere aus gestiegenen individuellen Ansprüchen an gleichberechtigte Beziehungen bei gleichzeitiger Realisierung fortbestehender mannigfacher Ungleichheitserfahrungen und entladen sich häufig in Frustrationen, Verunsicherungen und einem insgesamt erhöhten Spannungs- und Konfliktpotenzial. In dem Maße jedoch, in dem Menschen in entsprechende familiale Konflikte involviert sind, reduzieren sich die zeitlichen und sozialen Ressourcen für die Erziehungsaufgaben. Die Instabilität familialer Beziehungen beeinträchtigt hierüber das Selbsterleben der Kinder und die für den Aufbau eines positiven Selbstbildes erforderlichen Anerkennungsleistungen (Peuckert 1997). Für die Wahl von Gewalt als Handlungsmuster wurden im Rahmen des Desintegrationsansatzes dabei bislang drei Wirkungsmechanismen identifiziert (Anhut und Heitmeyer 2005, S. 87 f.): • Vermeidung von Minderwertigkeit und Selbstwertbeschädigung. Hier bietet sich Gewalt als Handlungsmuster an, um Gefühle der Schwäche zu kompensieren beziehungsweise das Selbstwertgefühl zu erhalten. • Wiederherstellung von Normen. Hier wird Gewalt – auch in der kollektiven Form – zur Wiedererlangung von Respekt eingesetzt. • Alternativlosigkeit als Lernprozess. In diesem Fall wird Gewalt als Problemlösungsmuster genutzt, weil konstruktive Konfliktverarbeitungsmuster aufgrund eines Mangels an spezifischen sozialen Kompetenzen, vorhandener

2.2  Die Verbindungskategorie der beiden Theorien …

19

Entwicklungsdefizite (Empathiemangel, Identitätsstörungen, Selbstwertstörungen) oder fehlender Rollenbilder nicht zur Verfügung stehen. Diese Wirkungsmechanismen gelten, der Theorie nach, für durchschnittlich belastete Gewalttäter*innen im Jugend- und Heranwachsendenalter. Damit ist zugleich die Annahme verbunden, dass Gewalt als Handlungsmuster genutzt wird, solange es funktional ist, um das jeweilige Anerkennungsproblem – scheinbar – zu lösen. Entsprechend kann auf Gewalt verzichtet werden, wenn das funktionale Anerkennungsproblem anderweitig behoben werden kann und deshalb der Bedarf an Gewalt als Anerkennungsressource nicht mehr besteht. Die TSD enthält strukturell bedingte Erfahrungen des Aufwachsens im Jugendalter, Chancen oder Bedrohungen von Anerkennungen sowie Problemfolgen für ein negatives Selbstbild, um Jugenddelinquenz und Gewalthandeln zu erklären.

2.2 Die Verbindungskategorie der beiden Theorien: Bedürfnis nach Realitätskontrolle Bereits am Ende des sozialisationstheoretischen Kapitels mit dem Rekurs auf die Theorie von Hurrelmann (1983) zum „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekt“ wurde die Kategorie der Realitätskontrolle eingeführt. Sie soll hier wieder aufgerufen werden, weil ihr eine Verbindungsfunktion zwischen den beiden Theorien zugewiesen wird. Zum einen sind es die Erfahrungs- und Wahrnehmungsbestände in den Kontextdimensionen der TSD, die produktiv verarbeitet werden müssen, um vor allem positive Anerkennungsbilanzen zu erreichen, weil sie – nach dieser Theorie – auch vor abweichendem oder gewalttätigem Verhalten schützen beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit für dieses verringern. Gleichzeitig sind immer wieder Desintegrationsgefahren in den von der Theorie aufgezeigten Dimensionen (der schulischen Qualifizierung zur späteren Reproduktion etc.) gegeben, die bewältigt werden müssen. Daraus entsteht das „Bedürfnis nach Realitätskontrolle“ (Möller 1988, S. 179) in den sozialen Interaktionen, um Anerkennung zu erwerben („Ich schaffe das“) oder nicht „unterzugehen“, also als Loser in der Konkurrenzgesellschaft dazustehen, in der nur Gewinner zählen, um wahrgenommen und anerkannt zu werden. In diesen Interaktionen finden naturgemäß Begegnungen mit anderen Akteur*innen mit ähnlichen Bedürfnissen statt. Diese Interaktionen sind vielfach mit Emotionen aufgeladen und mit Gelegenheiten zur Machtausübung versehen,

20

2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

je nach individuellem Status (z. B. als Schüler*innen in der Klassengemeinschaft oder der Gleichaltrigen-Gruppe) oder institutioneller Funktion (z. B. als Lehrer*in mit der Verteilungsmacht von Lebenschancen durch Qualifikationsentscheidungen). Zum anderen ergeben sich nun Fragen danach, wie die Bestrebungen nach Realitätskontrolle in den von der TSD aufgezeigten Lebenskontexten mit den genannten Chancen und Gefährdungen ausfallen. Dazu stellt die Control Balance Theory (CBT) ein Instrumentarium bereit, das im Weiteren ausgeführt wird.

2.3 Control Balance Theory (CBT) „Entscheidend ist dabei das Kontrollverhältnis (control ratio), das die Beziehung von erfahrener und ausgeübter Kontrolle zueinander beschreibt und welches den Kern der Theorie bildet.“

Hier setzt nun die Theorie-Verknüpfung ein, indem die Control Balance Theory (CBT) von Charles Tittle (1995) eingeführt wird. Diese Theorie ist als Reaktion auf das Versagen der meisten sozialstrukturell ansetzenden Kriminalitätstheorien entstanden, in gleicher Weise die verschiedensten Formen devianten Verhaltens und Gewalt erklären zu können (Albrecht 2002). Tittle geht davon aus, dass Menschen universell ein bestimmtes Maß an Autonomie anstreben; in anderen Worten eine Realitätskontrolle. „Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Kontrolle, die andere über einen ausüben, und der Kontrolle, die man über andere ausübt, reduziert danach die Wahrscheinlichkeit, dass Individuen durch abweichendes Verhalten versuchen, diese Kontrollbalance in eine Richtung zu verändern, die dem Streben nach Autonomie (und im Lichte der TSD nach Anerkennung) zweckdienlich ist. Ein Kontrolldefizit führt unter spezifischen (…) Bedingungen dazu, dass Individuen bestimmte Formen des kriminellen Verhaltens einsetzen, um die Imbalance zu reduzieren. Ein extremer Kontrollüberschuss ist aber nicht in sich befriedigend, sondern verleitet zu devianten und kriminellen Handlungen, um diese Imbalance zu stabilisieren“ (Albrecht 2002, S. 792 f.). Während Kontrolle eine Tradition in der Kriminologie hat, ist es Tittle, der erstmals theoretisch darstellt, dass sowohl Kontrolldefizite als auch -überschüsse zu Devianz führen können (Braithwaite 1997, S. 78). Das Novum hierbei ist das

2.3  Control Balance Theory (CBT)

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Potenzial der Theorie, auch im Szenario des Kontrollüberschusses abweichendes Verhalten erklären zu können. Devianz und andere Formen des abweichenden Verhaltens sind dabei definiert als „behaviors or categories of behaviors, mainly but not entirely, by individuals that the majority of a given group regards as unacceptable (disapproved or having pejorative connotations) or that typically evoke collective responses of a negative type (including actions by officials who act on behalf of a group)“ (Tittle 2004a, S. 397). Das Ziel der Theorie ist es, mithilfe von Imbalancen (Überschuss oder Defizit) der Kontrolle deviantes Verhalten zu erklären. Entscheidend ist dabei das Kontrollverhältnis (control ratio), das die Beziehung von erfahrener und ausgeübter Kontrolle zueinander beschreibt und welches den Kern der Theorie bildet (Tittle 1995, S. 147 ff.; 2004b, S. 55). Kontrolle „means the ability of an individual […] to manipulate or block social or other actions and circumstances“ (Tittle 2004a, S. 397). Charles Tittle beschreibt, dass die zentrale kognitive Leistung darin bestehe, den möglichen durch abweichendes Verhalten erreichbaren Kontrollzuwachs gegen den potenziellen Kontrollverlust abzuwägen (Tittle 2004a, S. 397; 2004b, S. 55). Kontrolle auszuüben und Kontrolle zu erfahren sind zusammenhängende Konstrukte, die widerspiegeln, in welchem Umfang die Handlungsoptionen eines Individuums eingeschränkt oder erweitert werden. Die Handlungsoptionen sind einerseits vom Ausmaß abhängig, wie stark andere Personen dem Individuum bei dessen Zielverfolgung helfen, es dabei begrenzen oder steuern, und andererseits abhängig von den physischen und sozialen Konstellationen des Umfelds. „Physisch“ meint damit die Gegebenheiten in einer konkreten Situation, d. h., dass z. B. der Wunsch jemanden zu schlagen nicht immer erfüllt werden kann, weil die Zielperson schlicht zu weit weg ist oder etwa hinter einem Zaun. „Sozial“ beschreibt dagegen beispielsweise die Möglichkeit einer Person über (soziale) Handlungen und Kontakte Macht auszuüben, zu manipulieren und die Geschehnisse nach dem eigenen Willen gestalten zu können, um auf diesem Weg mehr Kontrolle erlangen zu können. Tittle (2004a, S. 397) geht dabei von der Grundannahme aus, dass jedes Individuum eine latente Bereitschaft hat, mehr Kontrolle zu erlangen (Braithwaite 1997, S. 78; Tittle 1995, S. 145 f.; 2004b, S. 56). Bewusst wird diese Bereitschaft jedoch am ehesten denjenigen mit Imbalancen, was sowohl für Überschüsse als auch für Defizite gilt. Charles Tittle (1995) beschreibt einen kausalen Prozess in mehreren Schritten, der drei verschiedene Verläufe nehmen kann (vgl. Abb. 2.1). Danach gibt es drei Zustände auf dem Kontinuum des Kontrollverhältnisses: Balance, Imbalance sowie ein erdrückendes Kontrolldefizit. Jede dieser drei Formen führe zu einem spezifischen Ergebnis, wobei Balance und ein erdrückendes Defizit zu einem

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2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

Kontrollbalance

Normen-Konformität

Imbalance der Kontrolle Motivation

Provokation

Erdrückendes Kontrolldefizit

1

Kontrollverhältnis (control ratio)

2

Gelegenheitsstrukturen (opportunity)

3

Beschränkungen (constraints)

4

Selbstkontrolle (self-control)

Devianz Gewünschtes Kontrollverhältnis (control balance desirability)

Hoch

Niedrig

Resignation

Abb. 2.1   Schematische Darstellung der Control Balance Theory (eigene Darstellung nach Tittle 2004a)

regel- und gesetzeskonformen Verhalten führen. Für die außergewöhnlich starken Defizite sieht die Theorie darüber hinaus einen Zustand völliger Resignation vor. Personen mit einer Imbalance tendieren dagegen zu Delinquenz (Tittle 2004b, S. 55 ff.). Diese dritte Option, deren Ergebnis ein auffälliges oder kriminelles Verhalten ist, steht im Zentrum der CBT. Der kognitive Prozess, ausgehend von einem spezifischen Kontrollverhältnis bis zu einer konkreten, auf dem Kontinuum des Gewünschten Kontrollverhältnisses zu verortenden Tat, um Kontrollgewinn zu erreichen, ist von einer Vielzahl von Einflussvariablen charakterisiert.

2.3  Control Balance Theory (CBT)

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„Der Prozess der Kontroll-Nivellierung, der über das Gewünschte Kontrollverhältnis entscheidet, wird im Wesentlichen durch vier Konstrukte bestimmt und gesteuert: (1) das Kontrollverhältnis (2) Gelegenheitsstrukturen; (3) Beschränkungen und (4) Selbstkontrolle.“

Der Prozess der Kontroll-Nivellierung (control balancing), der über das Gewünschte Kontrollverhältnis (control ratio desirability), das mit einer Tat erreicht werden kann, entscheidet, wird im Wesentlichen durch vier Konstrukte bestimmt und gesteuert: 1) das Kontrollverhältnis (control ratio) als Beginn der kausalen Kette sowie 2) Gelegenheitsstrukturen (opportunity) 3) Beschränkungen (constraints) und 4) Selbstkontrolle (self-control) (Tittle 2004b, S. 60). Diese Einflussvariablen wirken nicht ausschließlich auf den Prozess, sondern zusätzlich untereinander. Besonders hervorzuheben ist dabei die Beziehung zwischen Kontrollverhältnis und den Beschränkungen (Tittle 1995, S. 167 f.). Zusätzlich zu den Hauptfaktoren beschreibt Tittle weitere Einflussfaktoren, die er zu den Eventualverbindlichkeiten (contingencies) zusammenfasst. Sie sind der Versuch, individuelle Charaktereigenschaften und Lebensprägungen einer Person im kausalen Prozess der CBT zu berücksichtigen. Dazu zählen u. a. Moral, persönliche Vorlieben, Erfahrung, Intelligenz, Gewohnheiten und Persönlichkeit (Tittle 1995, S. 201 ff.; 2004a, S. 421). Das eventuelle Moment ist so zu verstehen, dass diese Variablen nicht immer zum Tragen kommen, da ihr eventuell beeinflussender Charakter davon abhängt, ob sie für den jeweiligen Prozess der Kontroll-Nivellierung relevant sind. Sobald jedoch einer dieser Faktoren tatsächlich eine Rolle spielt, ist diese verbindlich in dem Sinn, dass sie mit Sicherheit den Prozess beeinflusst. So sind z. B. langjährige Mitarbeit in einer Firma und ein introvertierter und zurückhaltender Charakter bei einem Kontrolldefizit im beruflichen Kontext sicher relevante Faktoren, z. B. bei einem anhaltenden Gefühl unfairer Behandlung durch Vorgesetzte. In diesem Fall beeinflussen sie das Individuum dahin gehend, dass es im entscheidenden Moment, in dem ein Kontrollgewinn gelingen könnte, etwa durch eine Aussprache mit dem Führungspersonal, zu passiv ist und die Chance vorüberziehen lässt. Die langjährige Arbeit in dem Unternehmen kann etwa zu der Einstellung führen, dass das eigene Handeln ohnehin keinen Einfluss auf die Vorgesetzten oder Arbeitsabläufe habe. Gepaart mit einer eher zurückhaltenden Persönlichkeit wird es dieser Person nur schwer gelingen, ein Kontrolldefizit zu überwinden.

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2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

Zu Beginn des Prozesses steht die Notwendigkeit einer spezifischen Imbalance der Kontrolle (Tittle 2004b, S. 56). Spezifisch heißt dabei, dass nicht jede Imbalance zu Devianz führt, sondern dass bestimmte für das Individuum wichtige Lebensbereiche betroffen sein müssen. Zusätzlich müssen bestimmte Formen des Ausgleichs unzureichend oder nicht in den für das betroffene Individuum relevanten Lebensbereichen vorhanden sein. Die Imbalancen der Kontrolle allein sind jedoch nicht ausreichend, um deviantes Verhalten zu begünstigen. Die CBT postuliert dafür weitere Voraussetzungen. Unabdingbar ist, dass sich das Individuum der Imbalance der Kontrolle bewusst wird (Tittle 1995, 2004a; 2004b), was laut Tittle durch Provokation geschieht. Es sind besonders Momente der Erniedrigung und Demütigung, in denen sich das Individuum der eigenen Imbalance bewusst wird sowie Momente, in denen das Individuum das Gefühl hat, ungehindert Kontrolle über andere ausüben zu können. Ferner nimmt Tittle an, dass das Mittel der Wahl, um diese Imbalance auszugleichen (bei Überschuss ist das Ziel kein Ausgleich, sondern noch mehr Kontrolle), deviantes Verhalten ist (Tittle 2004b, S. 56). Sobald das Bewusstwerden der eigenen Situation durch die Provokation initialisiert wurde und das Individuum annimmt, das Ungleichgewicht durch abweichendes Verhalten ausgleichen zu können, ist es motiviert (Tittle 2004a, S. 397). Motivation beschreibt einen weiteren wichtigen Baustein und sie ist neben der initiierenden Provokation die wichtigste Voraussetzung, damit es zu deviantem Verhalten kommen kann. Ähnlich wie das Bewusstwerden an die Provokation geknüpft ist, ist die Motivation Katalysator für potenzielle Devianz. In Abb. 2.1, dargestellt durch einen Doppelpfeil, interagiert und überschneidet sie sich mit den vier Kernkonzepten der CBT – Kontrollverhältnis, Gelegenheitsstrukturen, Beschränkungen, Selbstkontrolle. Interagieren und Überschneiden bedeutet, dass die Motivation in Wechselwirkung mit den vier Kernkonzepten, die sich ebenfalls gegenseitig beeinflussen (dargestellt durch „X“), gefördert oder gebremst werden kann. (1) Das Kontrollverhältnis hat in der CBT eine besondere Stellung, denn obwohl die vier zentralen Konzepte in einem interdependenten Verhältnis stehen, ist das Kontrollverhältnis als eine Art Hintergrundvariable zu verstehen, die eine Basis für den gesamten Prozess setzt und damit maßgeblich die Wahrscheinlichkeit für Devianz beeinflusst. Es gibt Aufschluss über das Verhältnis von ausgeübter und erfahrener Kontrolle einer Person. Tittle beschreibt außerdem, dass mithilfe des Kontrollverhältnisses zumindest mit Vorsicht auf das Spektrum möglicher Taten auf dem Kontinuum des Gewünschten Kontrollverhältnisses geschlossen werden kann. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch an die Ausprägung und beeinflussende Wirkung der drei anderen Kernkonzepte geknüpft (Tittle 2004a, S. 419).

2.3  Control Balance Theory (CBT)

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(2) So bedeutet die Wechselwirkung mit Gelegenheitsstrukturen, dass das Individuum zusätzlich zu möglichst günstigen situativen Rahmenbedingungen physisch und psychisch dazu fähig sein muss, sich deviant verhalten zu können (Tittle 2004b, S. 56 f.). Dabei ist das Spektrum vielfältig und reicht von der konkreten Situation der Provokation bis hin zu langfristig geplanten Maßnahmen, die Imbalance der Kontrolle auszugleichen. Bei einer spontanen Reaktion auf eine Erniedrigung heißt das, dass die betroffene Person z. B. die eigene Physis so einschätzen muss, dass etwa eine körperliche Auseinandersetzung zu ihrem Vorteil ausgeht, weil nur dann ein Kontrollgewinn erreichbar ist. Darüber hinaus darf die angenommene Gegenkontrolle nicht zu groß sein (Tittle 2004a, S. 397 f.; 2004b, S. 57). Andere längerfristig angelegte Wege des Kontrollgewinns, die etwa erhebliche finanzielle Mittel voraussetzen, stehen dagegen nicht jeder Person offen. Das heißt, dass das abweichende Verhalten grundsätzlich möglich sein muss, was wiederum an zusätzliche Faktoren geknüpft ist. (3) Neben der Imbalance, der Provokation, der Motivation und den Gelegenheiten ist das Individuum mit den Beschränkungen im Entscheidungsprozess konfrontiert. Die bisherige Beschreibung betont das Abwägen von Kontrollgewinn und potenzieller Gegenkontrolle als die primäre kognitive Leistung des Individuums im Umgang mit Imbalancen der Kontrolle und dem Finden des adäquaten abweichenden Verhaltens auf dem Kontinuum des Gewünschten Kontrollverhältnisses. Dabei erhält das Bestreben eines Individuums nach mehr Kontrolle laut Tittle (1995, S. 222; 2004a, S. 414) mit den Beschränkungen einen begrenzenden Gegenpol, den er als Kombination aus der Ernsthaftigkeit (seriousness) und dem situativen Risiko (situational risk) einer Handlung definiert. Die Beschränkungen sind die entscheidenden Variablen, die Individuen gegen einen potenziellen Kontrollgewinn abwägen. Die Ernsthaftigkeit beschreibt dabei das mögliche Ausmaß Kontrolle reduzierender Konsequenzen und das situative Risiko bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, dass diese die Kontrolle reduzierenden Konsequenzen tatsächlich eintreten (Tittle 2004a, S. 403 f.; 2004b, S. 62). (4) Neben dem Kontrollverhältnis, den Gelegenheitsstrukturen und den Beschränkungen ist die Selbstkontrolle die vierte und letzte der zentralen Variablen der CBT. Menschen sind verschieden und handeln nicht in jeder Situation gleich souverän, rational und kontrolliert. Im Rahmen der CBT ist die Ausprägung der Selbstkontrolle besonders für den Augenblick der Provokation relevant. Sie ist deshalb von Bedeutung, da hier die Annahme zugrunde liegt, dass Provokationen den Wunsch nach direkter Reaktion wecken, um den Status Quo wiederherzustellen (Tittle 2004a, S. 415). Abhängig davon, wie stark oder schwach die Selbstkontrolle ausgeprägt ist, kommt es im Moment der

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2  Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen …

Provokation zu einem idealen und theoriekonformen Verlauf der Ereignisse. Je größer die Selbstkontrolle, desto eher verläuft der Prozess wie von Tittle intendiert. Konkret sind damit diejenigen Fälle angesprochen, bei denen eine geringe Selbstkontrolle zu irrationalen Handlungen und einem entsprechend niedrigen Gewünschten Kontrollverhältnis führt. Die Theorie sieht vor, dass Individuen abwägen und ein möglichst hohes Gewünschtes Kontrollverhältnis anstreben, um die Imbalance der Kontrolle zu ihren Gunsten zu verändern. Eine durch geringe Selbstkontrolle und im Affekt ausgeführte Handlung kann für die provozierte Person unangenehme und für die Kontrollbalance unerwünschte Nebenwirkungen haben, weshalb eine geringe Selbstkontrolle die theoretisch ideale Abfolge des Kernprozesses der CBT aussetzen kann. Da Tittle dieses Szenario beschreibt, ist es in gewisser Weise dennoch in der Theorie angelegt. Im Gefüge der vier Hauptfaktoren spielt die Selbstkontrolle jedoch eine nachgeordnete Rolle. Sie hat zwar Einfluss auf die Wahl der Deliktart und deren Positionierung auf dem Kontinuum des Gewünschten Kontrollverhältnisses, die Vorauswahl potenzieller Taten wird jedoch maßgeblich durch die Konzepte Kontrollverhältnis, Gelegenheitsstrukturen und Beschränkungen gesteuert. Die Selbstkontrolle beeinflusst die Wahl lediglich in einem bereits begrenzten Ausschnitt zur Verfügung stehender Handlungsalternativen. Sie entscheidet nicht grundsätzlich, wie etwa die Beschränkungen, über die Wahrscheinlichkeit, delinquent zu werden. Eine größere Bedeutung wird dementsprechend den drei anderen zentralen Faktoren zugesprochen. Tittle (2004a, S. 417) fasst dies wie folgt: „The control ratio sets the parameters of what might happen, opportunity influences what can happen, and constraint influences whether it will happen.“ Das Resultat dieses Prozesses stellt dabei ein Spektrum dar, auf dem sich Formen des abweichenden Verhaltens relativ zur jeweiligen Gegenkontrolle und zum potenziellen Kontrollgewinn positionieren. Tittle nennt dieses Kontinuum das Gewünschte Kontrollverhältnis (control balance desirability) und führte es mit der Revision seiner Theorie als Reaktion auf Kritik ein. „By definition, control balance desirability will refer to a quality possessed in different degrees by various potential deviant acts“ (Tittle 2004a, S. 405). Das Gewünschte Kontrollverhältnis ist dabei als Kompositvariable aus zwei Indikatoren zu verstehen. Dabei ist die erste die wahrscheinlich langfristige Wirkung der Devianz für eine Veränderung des Kontrollverhältnisses. Die zweite Komponente beschreibt das Ausmaß, in dem eine bestimmte Form der Devianz den direkten und persönlichen Kontakt mit dem Opfer erforderlich macht (Tittle 2004a, S. 405; 2004b, S. 58). „Hence, control balance desirability refers to aspects of deviant behavior that bear on maximization of control manipulation, which involves long-range outcomes and effective escape from counter control“ (Tittle

2.3  Control Balance Theory (CBT)

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2004a, S. 406). Es handelt sich dabei also um ein Abwägen des potenziellen Nutzens sowie der Effektivität der Tat und die Art und Intensität des Kontakts mit dem Opfer, das als kognitiver Prozess des Individuums mit einer Imbalance der Kontrolle zu einer Entscheidung führt. Um die Interdependenzen der vier Hauptvariablen untereinander zu verstehen, muss man jede für sich genommen als Kontinuum betrachten. Und jede von ihnen hat ein im Sinne der CBT erstrebenswertes Maximum und ein weniger attraktives Minimum. Wenn jede der Variablen das Maximum ausschöpft, verspricht die Tat den größten möglichen Kontrollgewinn. Für das (1) Kontrollverhältnis hieße das, dass ein großer Überschuss besteht, für die (2) Gelegenheitsstrukturen bedeutet es, dass die betroffene Person ideale Bedingungen vorfindet, um handeln zu können. Für die (3) Beschränkungen bedeutet es, dass sie vollständig oder nur in geringem Maße vorhanden sind. Und im Fall der (4) Selbstkontrolle kann das Maximum dann erreicht werden, wenn sie besonders hoch ist, sodass nicht im Affekt, sondern wohl kalkuliert gehandelt wird (Tittle 2004a, S. 420). Es wird deutlich, dass bestimmte Konstellationen dieser Variablen zu einer gegenseitigen Verstärkung, aber auch Aufhebung führen können, welche letztendlich darüber entscheiden, wie erstrebenswert eine bestimmte Tat im Sinne der Theorie ist und in welchem Maß ein Kontrollgewinn und eine Verbesserung der ursprünglichen Situation eintreten.

„Die CBT kann vor diesem Hintergrund als eine spezifische Theorie zur Verarbeitungen von Erfahrungen und Wahrnehmungen in den von der TSD genannten Integrationsdimensionen mit den jeweiligen Interaktionsprozessen verstanden werden, um eine Realitätskontrolle zu erreichen oder zu sichern.“

Die CBT kann vor diesem Hintergrund als eine spezifische Theorie zur Verarbeitung von Erfahrungen und Wahrnehmungen in den von der TSD genannten Integrationsdimensionen mit den jeweiligen Interaktionsprozessen verstanden werden, um eine Realitätskontrolle zu erreichen oder zu sichern. Eine Form dieser Realitätskontrolle kann gewalttätiges Verhalten sein, um für sich selbst ein positives Selbstbild aufzubauen, etwa für die Anerkennung in der relevanten Bezugsgruppe der Gleichaltrigen oder der selbstdefinierten Anerkennung durch die wahrgenommene Angst der Opfer.

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Forschungsdesign

Der Mixed Methods-Ansatz dieses Forschungsprojekts sah die querschnittliche Verwendung mehrerer Erhebungsformen und -instrumente vor. Zu Beginn wurden qualitative Fokusgruppeninterviews geführt, denen ein ­ Pre-Test der quantitativen Erhebung folgte, der als Grundlage zur Entwicklung der quantitativen Hauptstudie diente. An diese schloss sich die qualitative Hauptstudie an, die sowohl Jugendlichen- als auch Experteninterviews vorsah.

3.1 Mixed-Methods-Ansatz und Methodentriangulation Die Diskussion zur interdisziplinären Jugendforschung (Heitmeyer 1986), zu der sowohl die Verbindung soziologischer, sozialpsychologischer und kriminologischer Theorien, als auch die Kombination quantitativer und qualitativer Methoden (Treumann 1986) gehören, ist nicht neu. Gleichwohl steht immer wieder die Auseinandersetzung um die Methoden-Triangulation als Analyse eines Problemkomplexes wie Gewalt von Jugendlichen auf der wissenschaftlichen Tagesordnung. Dies reicht bis zu einem „Paradigmenkrieg“ (Kelle 2017, S. 46). Es geht immer wieder darum, in welchem Verhältnis die beiden paradigmatisch unterschiedlichen methodischen Ansätze empirischer Forschung zueinander in Beziehung gesetzt werden können – soweit sie nicht durch ihre jeweiligen Wissenschaftsvertreter*innen mit paradigmatische Absolutismen als unvereinbar wechselseitig ausgeschlossen werden. Es geht also um die Überwindung paradigmengebundener Methodologien (Kelle 2017, S. 46), um so zu einem „dritten Forschungsparadigma“ (Johnson und Onwuegbuzie 2004) zu kommen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6_3

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3 Forschungsdesign

Zentraler Ausgangspunkt der gesamten Debatte sind die Arbeiten von Denzin (1970), der bei der Untersuchung des gleichen Forschungsgegenstandes durch unterschiedliche Methoden den Aspekt der Verbesserung der Validität betont hat. Dies ist kritisiert worden (Fielding und Fielding 1986, S. 33) und es ist in der aktuellen Debatte (vgl. u. a. Flick 2011; Kuckartz 2017; Kelle 2017) der Gesichtspunkt der Komplementarität, also der gegenseitigen Ergänzung in den Vordergrund geschoben worden. Dabei gibt es eine zentrale Botschaft: „Ein anerkanntes Grundprinzip von Mixed-Methods-Forschung lautet, dass die Schwächen, die beide Ansätze haben, durch jene Stärken, die den Verfahren aus der jeweils anderen Methodentradition zu eigen sind, ausgeglichen werden können“ (Kelle 2017, S. 41). Es geht hier nicht darum, die Validität von Ergebnissen zu erhöhen, sondern ein umfassenderes Bild des Gegenstandsbereiches, gerichtet auf eine möglichst „ganzheitliche, holistische Sicht zu erzielen“ (Lamnek 1995, S. 250). Auch dies bleibt eine Idealvorstellung, aber die Anstrengungen führen zumindest dazu, dass qualitative Methoden auch Informationen liefern, um quantitative Befunde besser verstehen zu können. Das bedeutet, die komplementäre Stärke qualitativer Daten zu nutzen, um z. B. in den quantitativen Daten unbenannte und dadurch zum Teil unbekannte Sinnstrukturen zur Interpretation der Befragten in ihren jeweiligen Lebenssituationen aufzuzeigen. Damit wird das zugrunde gelegte Sozialisationsmodell (vgl. Kap. 2) methodisch umgesetzt, dass die jugendlichen Akteur*innen nicht nur den Regelstrukturen der sozialen Umwelt ausgeliefert sind, sondern im Sinne des Bedürfnisses nach der – wenn auch begrenzten – Realitätskontrolle (vgl. Kap. 2) einen Eigensinn hervorbringen, der auch Gewaltoptionen einschließt. Insofern knüpfen wir mit dem Mixed-Methods-Ansatz an das „interpretative Paradigma“ (Wilson 1981) an, nach dem Akteur*innen sozialen Regeln nicht blind folgen, sondern im Sinne der individuellen Realitätskontrolle in strukturell gerahmten Integrations- beziehungsweise Desintegrationsprozessen in Schule, Öffentlichkeit, Peergroups und im Elternhaus „ausdeuten“ und daraus konstruktive Lösungen entwickeln oder eben gewalttätiges Handeln zwecks Realitätskontrolle wählen. Hier geht es also um die „anbindende Komplementarität“. Das bedeutet, dass die problemzentrierten qualitativen Interviews (Witzel 1985) an die im quantitativen Instrumentarium definierten Probleme angebunden sind, die ihrerseits wiederum vom ausgeführten Theorierahmen aus der Theorie Sozialer Desintegration (TSD) und der Control Balance Theory (CBT) angeleitet sind. Dies folgt methodologischen Auffassungen. Kelle (2017, S. 52) plädiert dafür, die theoretischen Kernannahmen, die den sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess

3.2  Standardisierte Befragung

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anleiten, nicht in erster Linie erkenntnistheoretischen Prämissen „auszuliefern“, sondern stärker gegenstandsbezogen, also sozialtheoretischen Konzepten zu folgen, wie dies durch die vorgelegte Theorie-Kombination geschieht. Bei der praktischen methodischen Umsetzung der Instrumente zur Erzeugung von Datensätzen verbietet es sich im hier vorgestellten Problembereich zur Gewalt für die qualitativen Interviews aufgrund von verdichteten Merkmalskombinationen im quantitativen Sample, daraus die Stichprobe für das qualitative Sample zu ziehen, weil dadurch die unverzichtbare Anonymität zerstört würde. Weiterhin wird in diesem Mixed-Methods-Ansatz vermieden (vgl. Kelle 2017, S.  44), die qualitativen Daten als Belege für Theorien mit einer ­„quasi-statistischen“ Rhetorik (Aussagen wie die „meisten Befragten“, wenn nur wenige Personen befragt wurden) zu verwenden.

3.2 Standardisierte Befragung 3.2.1 Stichprobe 3.2.1.1 Quantitativer Pre-Test Der Pre-Test erfolgte unter denselben Bedingungen, unter denen die quantitative Hauptuntersuchung durchgeführt werden sollte. Getestet werden sollten nicht nur die Verständlichkeit und die Qualität des Fragebogens, sondern auch, ob er in dem vorgegebenen zeitlichen Rahmen von Schüler*innen jedes Schultyps ausgefüllt werden konnte. Der Pre-Test wurde an vier Schulen in Bielefeld und einer Schule in Essen durchgeführt, wobei lediglich die neunten Klassen berücksichtigen wurden. Jeder der vier Schultypen wurde dabei in den Pre-Test einbezogen. Im Pre-Test wurden 66 Hauptschüler*innen, 58 Realschüler*innen und 67 Gymnasiast*innen befragt. Es nahmen 72 Mädchen und 118 Jungen teil. Bevor eine der Befragungen stattfinden konnte, wurden die Einverständnisse der Eltern eingeholt. Die Schulen haben hierfür Projektinformation für die Eltern sowie eine Einverständniserklärung erhalten, die die Schüler*innen unterschrieben zu dem Befragungstermin mitbringen oder den Klassenlehrer*innen geben sollten. Die Befragten haben vor dem Ausfüllen des Fragebogens durch Mitarbeiter*innen des Forschungsteams eine kurze Erläuterung erhalten. Während der Befragung stand den Schüler*innen eine Person aus dem Forschungsteam für Rückfragen zur Verfügung, sodass Unklarheiten in den Formulierungen oder der Struktur des Fragebogens einfach identifiziert werden konnten.

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3 Forschungsdesign

Getestet wurden zwei verschiedene Versionen des Fragebogens, die sich hinsichtlich der Messung von Kontrollbalance unterschieden. Die eine Hälfte der Schüler*innen erhielt jeweils die erste Version und die andere die zweite Version des Fragebogens, um die Reliabilität und Validität zu untersuchen. Im Verlauf des Pre-Tests wurden immer wieder Modifikationen am Fragebogen zur Förderung der Verständlichkeit der Items durchgeführt. Außerdem wurden die Filterführungen im Fragebogen optimiert. Letztendlich fiel die Wahl auf die Version des Fragebogens, welche weniger Item-Schwierigkeiten aufwies. Ein Ziel war außerdem, die Formulierungen der Items und ihre Verständlichkeit so anzupassen, dass Schüler*innen jeden Schultyps den Fragebogen ohne Schwierigkeiten ausfüllen konnten. Durch den Pre-Test wurde deutlich, dass der erarbeitete Fragebogen größtenteils für die Haupterhebung übernommen werden konnte. Von den zwei getesteten Fragebogendesigns wurde jenes gewählt, welches den Schüler*innen weniger Verständnisschwierigkeiten bereitete und weniger Item-Schwierigkeiten aufwies. Bis auf wenige ergänzende demographische Abfragen und einige Fehlerkorrekturen konnte das gewählte Fragebogendesign beibehalten werden. Deutlich wurde, dass das Zeitlimit einer Schulstunde (45 min) für Schüler*innen jeden Schultyps ausreichte, um den Fragebogen vollständig zu bearbeiten.

3.2.1.2 Quantitative Hauptstudie1 Die quantitative Haupterhebung diente dazu, die Hypothesen zu testen und zu untersuchen, ob sie das Potenzial haben, die Beteiligung an gewalttätigem Verhalten vorherzusagen. Die Haupterhebung sollte aus 2000 Jugendlichen bestehen. Dadurch wurde erwartet, eine ausreichende Anzahl von Jungen und Mädchen sowie genügend Einheimische und Personen aus den größten ethnischen Gruppen in den sechs ausgewählten Städten zu erfassen. Geplant war, insgesamt rund 100 Schulklassen zu erfassen, um die Variation in der Stichprobe in Bezug auf die Geschlechterverteilung und ethnischen Gruppen zu gewährleisten, aber auch, um die Anzahl von 2000 Befragten zu erzielen. Dabei sollte jeder der vier Schultypen jeweils ein Viertel der Stichprobe ausmachen. Die Stichprobe umfasste Schüler*innen aus der neunten Stufe in vier Schultypen (Gymnasium, Realschule, Gesamtschule und Hauptschule). Dies stellte eine effiziente und günstige Möglichkeit dar, die geplante Variation in der Stichprobe zu erhalten. Das deutsche Schulsystem reflektiert und reproduziert deutlich

1Das

vollständige Messinstrument (Fragebogen) ist unter „Messinstrument (Fragebogen)“ im Anhang zu finden.

3.2  Standardisierte Befragung

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die Differenzen in der sozialstrukturellen und institutionellen Integration, wobei sich Schüler*innen der Gymnasien am oberen Ende der Skala befinden und die Schüler*innen der Hauptschulen am unteren Ende. Es wurde angenommen, dass die gleichmäßige Vertretung beider Geschlechter in der Stichprobe in allen Schultypen erreicht werden könnte, während die Erfassung der ethnischen Gruppen in bestimmten Schultypen ein Problem darstellt. Insbesondere desintegrierte Gruppen sind an Gymnasien eher unterrepräsentiert. Die Haupterhebung war zunächst auf die drei im Forschungsantrag vorgesehenen Städte (Hannover, Köln und Frankfurt am Main) beschränkt. Aufgrund von Problemen der Teilnahmebereitschaft, insbesondere in Hannover, wurden im Verlauf der Haupterhebung noch Dortmund, Essen und Potsdam als Städte ergänzt. Vor der Kontaktaufnahme wurde zunächst für jede Stadt eine Liste aller Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie der Gymnasien angefertigt. Die Schulen wurden daraufhin zunächst schriftlich und eine Woche danach telefonisch kontaktiert. Jede Schule erhielt ein Informationsschreiben über den Inhalt der Studie sowie deren Ziele, das Vorgehen und den zeitlichen Rahmen der Befragung. Zu Beginn wurde der schriftliche Kontakt in Briefform aufgenommen. Allerdings zeigte sich schnell, dass Briefe in der Regel im Briefverkehr der Schulen untergingen, weswegen die weitere schriftliche Kontaktaufnahme über die entsprechenden E-Mail-Adressen der Schulen erfolgte. Außerdem wurde teilweise auf den schriftlichen Weg verzichtet und die Schulen wurden direkt telefonisch kontaktiert, um das Projekt darzustellen und bei Interesse das Informationsmaterial an die entsprechenden Ansprechpartner*innen weiterzuleiten. Die Kontaktaufnahme hat sich insgesamt als sehr zeitaufwendig erwiesen, was vielfach dadurch zu erklären war, dass die Schulen über mehrere Wochen wiederholt kontaktiert werden mussten, um endgültige Antworten auf die Teilnahme an der Befragung zu erhalten. Diese Reaktionen fielen dann allerdings noch häufig negativ aus. Unvorhersehbar war die sehr geringe Teilnahmebereitschaft von Schulen in Hannover (nur zwei Schulen haben sich insgesamt dazu bereit erklärt, an der Befragung teilzunehmen), die durch Überlastung des Kollegiums, einen Überhang von Aufgaben sowie durch die Teilnahme an anderen Befragungen erklärt wurde. Als sich diese geringe Teilnahmebereitschaft bereits deutlich abzeichnete, wurden im Herbst 2013 mit Dortmund und Essen noch zwei weitere Städte in die Untersuchung aufgenommen, um die geplante Stichprobe von 2000 Schüler*innen zu erreichen. Im Sommer 2014 wurden aus demselben Grund noch weitere Schulen aus Potsdam in die Erhebung aufgenommen. Die Aufnahme dieser drei Städte widersprach nicht dem Forschungsdesign, da dies nicht auf Vorannahmen über die drei ursprünglich vorgesehenen Städte beruhte, sondern sie

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3 Forschungsdesign

lediglich eine Variation der sozialstrukturellen Bedingungen aufweisen, die zur Überprüfung unserer Hypothesen erforderlich waren. Dortmund und Essen wurden aufgrund der ethnischen Zusammensetzung des Ruhrgebiets, der sozialstrukturellen Lage, der räumlichen Nähe zum Standort des Forschungsteams und wegen bereits bestehender Feldkontakte zu Schulen aus früheren Studien ausgewählt. Auf Potsdam fiel die Entscheidung, weil mit der Aufnahme einer Stadt aus den neuen Bundesländern eine größere Varianz der Stichprobe erreicht werden konnte. Im Vorfeld der Befragung erhielten die Schulen bei einer Zusage Informationen über das Projekt für die Eltern sowie eine Einverständniserklärung für die Teilnahme an der Befragung, die von den Eltern auszufüllen war. Bei jeder Befragung wurde der Fragebogen kurz erläutert und es wurde darauf hingewiesen, dass die Schüler*innen keine persönlichen Informationen wie ihren Namen oder ihre Adresse auf dem Fragebogen notieren sollten, damit Anonymität gewährleistet werden konnte. Die Anwesenheit einer Person aus dem Forschungsteam bei jeder Befragung trug außerdem dazu bei, auftretende Fragen der Schüler*innen klären zu können. Bei der Haupterhebung wurde die Version des Fragebogens verwendet, mit der die Schüler*innen während des Pre-Tests weniger Schwierigkeiten hatten und der das Kontrollverhältnis besser erfasste. Die nicht repräsentative Stichprobe umfasst 1912 Schüler*innen im Alter von 13 bis 19 Jahren (Mittelwert 14,82/Median 15/Standardabweichung .79), die aus vier verschiedenen Schultypen: Hauptschule (23 %), Realschule (34 %), Gymnasium (22 %), Gesamtschule (21 %) in sieben Städten (Bielefeld, Hannover, Frankfurt am Main, Köln, Dortmund, Essen, Potsdam) rekrutiert wurden. Mit 52 % zu 48 % sind etwas mehr Schüler als Schülerinnen in der Stichprobe vertreten. Im Fragebogen erfolgte ebenfalls eine Messung der Family Affluence Scale (FAS)2. Den Annahmen der FAS folgend, erreichen 12 % der Schüler*innen ein als niedrig einzustufendes familiäres Wohlstandsniveau, 56 % ein mittleres und 31 % ein hohes. Ferner haben 48 % der Befragten einen Migrationshintergrund. Im Anschluss werden die Aufbereitung der Daten und die damit verbundenen Berechnungen ausführlich erklärt, um sie nachvollziehbar und die Ergebnisse besser verständlich zu machen.

2Family

Affluence Scale (FAS) beschreibt eine Skala, mit deren Hilfe eine Messung des familiären Wohlstands gelingen soll. In der vorliegenden Studie waren dafür vier Items vorgesehen, die in einem additiven Index kombiniert und zusätzlich kategorisiert wurden. Die Summe der Antworten aller vier Items ist der Score, der für jede Person berechnet wurde. Es wurde erfragt, ob die Jugendlichen zu Hause ein eigenes Zimmer haben, wie oft sie in den vergangenen zwölf Monaten mit der Familie im Urlaub waren, ob sie zu Hause einen eigenen Computer haben und ob die Eltern ein Auto besitzen. Es konnte ein Score zwischen null und sieben erreicht werden. Die Kategorisierung erfolgte in niedrig, mittel und hoch, wobei die Grenzen 0–2, 3–5 und 6–7 sind.

3.2  Standardisierte Befragung

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3.2.2 Datenaufbereitung und Berechnungen3 Die Klassenanalyse bildet den Kern der quantitativen Auswertung der Stichprobendaten. Dafür waren umfangreiche Aufbereitungsarbeiten notwendig, die wir im Folgenden detailliert und verständlich nachvollziehbar machen wollen. Alle Variablen wurden zur Vorbereitung der Hauptanalyse Faktoren- und Reliabilitätsanalysen unterzogen. Dabei wurden explorative Faktorenanalysen durch konfirmatorische Verfahren ergänzt. Für die explorative Kontrolle wurden die Faktoren mit Maximum Likelihood extrahiert und Indikatoren mit Faktorladungen kleiner .5 von der weiteren Verwendung ausgeschlossen (Costello und Osborne 2005). Sofern eine Rotation notwendig war, erfolgte sie mit Varimax. Die konfirmatorische Prüfung erfolgte ebenfalls unter Zuhilfenahme des Maximum Likelihood-Schätzers. Für die Klassenanalyse wurden auf diese Weise 23 Faktoren bestimmt. Nachdem die Indikatoren der jeweiligen Konstrukte, falls notwendig, rekodiert wurden und eine Prüfung ihrer Dimensionalität erfolgte, konnte die Berechnung der Indizes durchgeführt werden. Dabei entschieden wir uns für Mittelwertindizes, wobei stets die Regel galt, dass n-1 Indikatoren einen gültigen Wert aufweisen müssen, um im Index berücksichtigt zu werden. Das heißt, wenn z. B. vier Indikatoren zu einem Index zusammengefasst wurden, dann mussten mindestens drei davon gültige Werte aufweisen. Die Fälle, die diese Bedingung nicht erfüllten, wurden entsprechend von der Berechnung ausgeschlossen. Bevor die Konstrukte der Klassenanalyse zugeführt werden konnten, mussten sie in einem weiteren Schritt aufbereitet werden. Da wir anstrebten, die Konstrukte dichotom zu analysieren, mussten die zuvor berechneten Indizes anschließend rekodiert werden. Zusätzlich gilt, dass die Indizes stets so kodiert wurden, dass niedrige/hohe Werte im Sinne der jeweiligen Theorie gut/schlecht sind beziehungsweise Integration/Desintegration (TSD) und Kontrollbalance/ Imbalance der Kontrolle (CBT) abbilden. Für die CBT und das zugehörige Konstrukt Impulsivität gibt es z. B. das Item „Manchmal suche ich gerne Streit“. Dieser Indikator wurde so kodiert, dass hohe Werte einer hohen Zustimmung entsprechen. In so einem Fall ist ein generell impulsives Verhalten anzunehmen, dass affektives Handeln mit dem Ziel, Kontrolle zu gewinnen, begünstigen kann. In der Regel erfolgt bei einem solchen impulsiven Verhalten kein Abwägen möglicher Konsequenzen und im für das Individuum ungünstigsten Fall kann der

3Eine detaillierte Übersicht aller Konstrukte und der dazugehörigen Items ist in Tab. 8.1 im Anhang zu finden.

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3 Forschungsdesign

ursprünglich angestrebte Zuwachs von Kontrolle in einem Defizit enden. Insofern sind hohe Werte für Impulsivität im Sinne der Theorie für das jeweilige Individuum als negativ zu bewerten. Die gleiche Logik wurde für alle Konstrukte der CBT und TSD angewendet. Da die Indizes zusätzlich dichotomisiert wurden, übertrugen wir diese Logik, sodass die Indizes mit 0 und 1 kodiert sind, wobei der höhere Wert als nachteilig für die Person zu bewerten ist; TSD – z. B. eine Unzufriedenheit mit den eigenen Leistungen in der Schule, das Empfinden ungerechter Behandlung durch die Lehrer*innen, viele familiale Konflikte etc.; CBT – z. B. hohe Impulsivität, geringe Selbstkontrolle, deutliche Imbalance der Kontrolle etc. Für die vier Dimensionen der Kontrolle (Kontrollverhältnis) war eine zusätzliche Aufbereitung notwendig. Das Ziel war es, dass eine Dimension jeweils die wahrgenommene ausgeübte und erfahrene Kontrolle auf/durch die Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen sowie Mitschüler*innen erfasst. Das Messinstrument sah für die Erfassung des Verhältnisses von ausgeübter und erfahrener Kontrolle zwei Items vor. Bei einem Item sollten die Befragten für die zuvor genannten Personengruppen, Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen Mitschüler*innen, mit einer Zahl von 0 („Ich fühle mich gar nicht eingeengt“) bis 5 („Ich fühle mich stark eingeengt“) angeben, wie schwach oder stark sie sich eingeengt fühlen. Das zweite Item erfasste entsprechend den umgekehrten Fall der Einflussnahme und die wahrgenommene Kontrolle über die Personengruppen sollte von 0 („Ich habe gar keinen Einfluss“) bis 5 („Ich habe starken Einfluss“) bewertet werden. Somit korrespondiert jeweils eine Gruppe des einen Items mit der jeweils gleichnamigen des anderen Items, z. B. die wahrgenommene Kontrolle durch die Eltern und die wahrgenommene ausgeübte Kontrolle auf die Eltern. Für die Berechnung des Verhältnisses zwischen beiden Kontrollformen entschieden wir uns dazu, jeweils Abstände zwischen den Items zu definieren. Das Ergebnis ist eine Variable, die von 0 bis 5 reicht. So kann z. B. die wahrgenommene erfahrene Kontrolle durch die Eltern 0 betragen („Ich fühle mich gar nicht eingeengt“) und die wahrgenommene ausgeübte Kontrolle auf die Eltern 5 („Ich habe starken Einfluss“). In diesem Fall ist der Abstand 5. Diese neue Variable wurde entsprechend für alle vier Personengruppen erstellt. Anschließend wurden die vier Variablen rekodiert, um festzulegen, welcher Wertebereich eine Kontrollbalance oder -imbalance definiert. Wir entschieden uns dazu, dass nur der Bereich von 0 bis 1 eine Kontrollbalance indiziert. Der Rest wurde dementsprechend als Imbalance der Kontrolle festgelegt. Die finalen Variablen haben dementsprechend die Werte 0 für Imbalance der Kontrolle und 1 für Kontrollbalance. Für die Klassenanalyse entschieden wir uns für die dichotome Lösung und verzichteten auf die Einteilung in Kontrollüberschuss,

3.2  Standardisierte Befragung

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Kontrollbalance und Kontrolldefizit, was mit der genannten Methode ebenso möglich gewesen wäre.4

3.2.3 Analyseverfahren „Die Analyse latenter Klassen ist ein Verfahren, das es erlaubt, Gruppen innerhalb einer Population anhand von Antwortmustern aus eine Anzahl von Variablen zu identifizieren.“

Die Analyse latenter Klassen (Latent Class Analysis, LCA) ist ein Verfahren, das es erlaubt, Gruppen (Klassen) innerhalb einer Population (Stichprobe) anhand von Antwortmustern aus eine Anzahl von Variablen zu identifizieren (Masyn 2013, S. 556). Die Erforschung Jugendlicher ist ein typisches Anwendungsgebiet für die LCA (vgl. Porcu und Giambona 2017). In der vorliegenden Studie ging es darum, Schüler*innen aufgrund gemeinsamer, nicht direkt messbarer Merkmale zu latenten Klassen zusammenzuführen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden die theoretischen Konzepte so operationalisiert, also in Fragen „übersetzt“, dass eine indirekte Messung in Form eines Fragebogens möglich wurde. Das Ergebnis der LCA, die Schätzungen der klassenbedingten Antwortwahrscheinlichkeiten für die einzelnen Indikatoren, ist Ausdruck der Zusammenhänge aller Indikatoren unter gleichzeitiger Berücksichtigung aller Indikatoren, die durch das Vorhandensein der latenten Struktur (Klassen) erklärt werden (Geiser 2010, S. 235; Masyn 2013, S. 556). Dabei sind wir explorativ vorgegangen. Das heißt, wir haben die theoretisch relevanten Variablen analysiert und von zwei bis fünf Klassen alle Varianten geprüft. Die Wahl des finalen Modells und der Menge der Klassen beruht dabei wesentlich auf der Auswertung von Messwerten. Hinzu kommen weitere Überlegungen, die letztendlich zur Wahl einer Lösung mit drei Klassen führte (vgl. Abschn. 4.1). Mit hilfe der Klassifizierung wird es möglich, charakteristische soziale Konstellationen, die als Indikatoren der beiden zugrunde liegenden Theorien erfragt wurden, herauszuarbeiten. Das erlaubt Aussagen darüber, unter

4Diese Variante wurde aufgrund sehr geringer Fallzahlen für die Gruppe mit einem Kontrollüberschuss ausgeschlossen. Eine Übersicht der Messung von erfahrener und ausgeübter Kontrolle mit dazugehörigen Häufigkeiten bietet Tab. 8.2 im Anhang.

38

3 Forschungsdesign

welche Bedingungen Desintegration bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Kontrollerfahrungen auftritt und somit Realitätskontrolle unterstützt oder schwächt.

3.3 Leitfadengestützte Interviews 3.3.1 Stichprobe 3.3.1.1 Fokusgruppen Die qualitative Voruntersuchung war erforderlich, da in Bezug auf bestimmte Aspekte nicht ausreichend empirische Informationen vorlagen. Insbesondere ging es darum, typische gewalttätige Verhaltensformen zu identifizieren und die sozialen und individuellen Lebensbereiche zu ermitteln, die in Bezug auf die Ausübung und Erfahrung von Kontrolle unter Schüler*innen aus verschiedenen Wohngegenden und Minderheitengruppen relevant sind. Wichtig zu ermitteln war, ob die Liste der Lebensbereiche erfahrener und ausgeübter Kontrolle von Piquero und Hickman (1999) erweitert werden musste. Die Diskussionen sollten in Fokusgruppen stattfinden, da die Form der Gruppendiskussion mehr Spontanität und eine breitere Fülle an Informationen durch die Interaktion der Jugendlichen untereinander garantierte als zum Beispiel Einzelinterviews. Das Ziel dieses Vorgehens war, über die Forschungsliteratur hinaus direkt von der Zielgruppe selbst Ideen für die Entwicklung des Fragebogens für die quantitative Studie zu gewinnen. Als Erstes wurde zur Vorbereitung der Fokusgruppen ein Leitfaden zu den Themen Gewalt sowie zu Aspekten der CBT und der TSD entwickelt. Mithilfe des Leitfadens wurden drei Fokusgruppeninterviews in Bielefeld und Braunschweig durchgeführt. Hieran nahmen jeweils sechs Jugendliche unserer Zielgruppe (Neuntklässler*innen) teil. Dabei handelte es sich um fünf Mädchen und 13 Jungen, die, wie es das Forschungsprojekt vorsah, bezüglich ihres Bildungs- und Sozialhintergrunds variierten. Hierzu zählte auch eine unterschiedliche ethnische Herkunft. Die Kontaktaufnahme erfolgte über verschiedene Forschungskontakte, vor allem zu einschlägigen Jugendtreffs, in denen Personen direkt angesprochen wurden. Die Diskussionen in den Fokusgruppen haben dazu beigetragen, weitere Lebensbereiche bezüglich der CBT in das Fragebogendesign aufzunehmen. Insbesondere konnte die Relevanz einiger Bereiche identifiziert werden, darunter unter anderem die Bereiche Partnerschaft, Freizeitaktivitäten und Freundschaften. Außerdem konnte hinsichtlich der institutionellen Desintegration der Jugendlichen die Relevanz von Mitbestimmung, Markenkleidung und Sanktionen von

3.3  Leitfadengestützte Interviews

39

abweichendem Verhalten ermittelt werden. Diese Aspekte wurden ebenfalls in das Fragebogendesign integriert.

3.3.1.2 Qualitative Hauptstudie5 Die qualitative Hauptstudie diente dazu, die Themen der Forschungsfragen zu vertiefen und durch Erkenntnisse zu ergänzen, die quantitativ nicht erfassbar wären. Die Haupterhebung sah 40 junge Menschen und zehn Feldexpert*innen vor. Dies sollte für eine ausreichende Streuung und Bandbreite bezüglich der Inhalte als auch Befragungsorte dienen. Vorgesehen war zunächst auch die Berücksichtigung der drei im Forschungsdesign vorgesehenen Städte, dies wurde aber nach den Schwierigkeiten der quantitativen Hauptstudie auch erweitert, zumal in den drei Städten teils Probleme bei der Motivation regionaler Jugendtreffs auftraten. Die Befragung erfolgte letzten Endes in den Städten Berlin, Bielefeld, Braunschweig, Duisburg und Düsseldorf. Die Stichprobe sollte sich zunächst bloß auf Jugendliche aus der Altersgruppe in der neunten Jahrgangsstufe (13 bis 15 Jahre) beschränken. Dies wurde während der Feldarbeit leicht erweitert, um relevante Fälle älterer Jugendlicher zu berücksichtigen und um den Wandel von Inhalten zentraler Forschungsthemen berücksichtigen zu können. Durch dieses Vorgehen sowie die jeweilige Population der Jugendlichen in den einschlägigen Jugendtreffs kamen neben den Schultypen Gymnasium, Realschule, Gesamtschule und Hauptschule Schüler*innen aus Förderschulen und Berufskollegs hinzu. Die Jugendlichen wurden jeweils vor Ort in Jugendtreffs durch den Interviewer angesprochen, über die Befragung informiert und hatten eine Einwilligungsbestätigung zu unterschreiben. Ein Teil der Interviews erfolgte zudem in städtischen Erziehungshilfeeinrichtungen beziehungsweise Jugendwohnheimen. Auch hier erfolgte eine zufällige Auswahl der Personen, die sich lediglich an den Samplingkriterien orientierte sowie der spontanen Bereitschaft zur Teilnahme. Feldexpert*innen waren jeweils Mitarbeiter*innen der beteiligten Einrichtungen sowie Mitarbeiter*innen vergleichbarer Jugendtreffs beziehungsweise Angebote für Jugendliche. Befragt wurden sieben weibliche und 33 männliche Jugendliche, um vor allem dem Umstand Rechnung zu tragen, dass männliche Jugendliche stärker durch körperliche Gewalt in Erscheinung treten. Die Altersspanne lag zwischen 13 und 17 Jahren (13 Jahre: eins, 14 Jahre: 14, 15 Jahre: zwölf, 16 Jahre: sieben, 17 Jahre: sechs). Zum Befragungszeitpunkt befanden sie sich in den folgenden

5Der

Leitfaden der Qualitativen Interviews ist in Tab. 8.4 im Anhang zu finden.

40

3 Forschungsdesign

Schulformen oder hatten von diesen einen entsprechenden Abschluss: Förderschule: fünf, Hauptschule: 21, Realschule: vier, Gesamtschule: fünf, Gymnasium: zwei, Berufsschule/-kolleg: drei. Dies ergab sich sowohl aus der Population in den Anlaufstellen für Interviews als auch der Samplingstrategie, nicht gleichverteilt die vier in der quantitativen Hauptstudie vorgesehenen Schulformen zu erfassen, sondern Jugendliche mit deutlich stärker ausgeprägten Risikofaktoren und einem Wohnsitz beziehungsweise Freizeitverhalten in benachteiligten Stadtgebieten.

3.3.2 Datenaufbereitung Da die Fokusgruppen lediglich als Input für die weitere Untersuchung dienen sollten, d. h. keiner detaillierten Analyse unterzogen wurden, fand bei diesen lediglich eine Audioaufnahme statt. Die Dateien wurden anschließend im Projektteam angehört und relevante Inhalte notiert. Diese flossen anschließend in die Entwicklung der weiteren Befragungsinstrumente ein. Im Gegensatz dazu wurden sämtliche Interviews der Hauptstudie, d. h. die der Jugendlichen und der Expert*innen vollständig transkribiert. Die Transkription erfolgte durch geschultes Fachpersonal und sah bereits die Anonymisierung der Interviews vor. Denn obwohl die Befragten darauf hingewiesen wurden, möglichst keine Angaben zu ihrer Person, Dritten sowie Orten zu machen, enthielten einzelne Audiodateien personenbezogene Daten, die in den Transkripten nicht mehr enthalten sein sollten. Entsprechend wurden die Daten für die Kodierung und Archivierung aufbereitet. In einzelnen Ausnahmefällen wurden weitere Schritte der Anonymisierung im Verlauf der Kodierung vorgenommen, wenn dem Projektteam beim Lesen der kompletten Interviews auffiel, dass es immer noch Hinweise in den Textdateien gab, die in irgendeiner Form auf die Einzelpersonen hindeuteten.

3.3.3 Analyseverfahren Aufgrund der explorativen Ausrichtung der Untersuchung und des Forschungsziels wurden Elemente der Grounded Theory verwendet. Diese ist geradezu darauf zugeschnitten, Theoriebildung eng auf den Gegenstand zu beziehen. Strauss und Corbin (1996, S. 7) sprechen auch von einer „gegenstandsverankerten Theorie“. Die Datenerhebung ist theoriegeleitet und die Theoriebildung empiriegeleitet. Induktion und Deduktion wirken wechselseitig aufeinander ein. Methodisches Kernstück ist das Theoretical Sampling (Glaser und Strauss 1971; Strauss und Corbin 1996). Die Forscher*innen gelten hierbei als „active sampler of theoretical

3.3  Leitfadengestützte Interviews

41

relevant data“ (Glaser und Strauss 1971, S. 58). Um die Datenerhebung nicht in einen naiven Empirismus abgleiten zu lassen, der in seinen theoretischen Vorannahmen gefangen bleibt (Geertz 1983), verlangt die Grounded Theory, dass die Forscher*innen sich auf die systematische Suche nach Gegenbeispielen und -evidenzen machen müssen. Das bedeutet u. a., dass die Befragten nicht willkürlich und wahllos durch Kontaktpersonen vermittelt werden, sondern aufgrund von Auswahlkriterien, die sich bei dieser Methode im Forschungsprozess zwecks inhaltlicher Differenzierung ergeben haben und nicht nur auf individueller Delinquenz beruhen. Eine weitere Voraussetzung für die theoriegeleitete Suche nach Gegenevidenzen, gerade bei längeren Feldforschungen, ist, dass die Forscher*innen der Gefahr des Going Native, also der Gefahr der Übernahme von Einstellungen und Werthaltungen der Befragten, entgegenwirken; denn das Going Native führt zu einer Horizontverengung und schränkt die funktionsnotwendige Offenheit des Theoretical Sampling ein. Die regelmäßige Unterbrechung der Feldforschung bei gleichzeitiger Rückkoppelung mit der Scientific Community wirkt in dieser Hinsicht gewissermaßen als „Gegengift“. Die Grounded Theory strebt nicht nach Repräsentativität der für die Datenerhebung ausgewählten Personen, wohl aber nach der Repräsentativität der empirisch generierten theoretischen Konzepte (Strauss und Corbin 1996). Dazu gilt es, die generierten Teilkonzepte und die Ergebnisse anderer relevanter Forschungen zu relationieren und in eine konsistente Theorie zu integrieren. Da die Forscher*innen zudem „broader structural conditions“ (Strauss und Corbin 1996, S. 422), etwa in Form von „economical conditions“, zu berücksichtigen haben, weil diese für die Befragten von subjektivem Belang sind, sind auch entsprechende Aggregatdaten (über die Einkommens- und Berufssituation im sozialen Umfeld) in die Theoriegenese einzubeziehen. Schon die Kontrastierung subjektiver Wahrnehmungen mit „objektiven“ Daten kann zu interessanten Ergebnissen führen. Darüber hinaus trägt die Berücksichtigung und vor allem die Spezifizierung der „broader structural conditions“ dazu bei, die Forschungsergebnisse nicht vorschnell auf vermeintlich ähnliche Entwicklungen in anderen Städten zu übertragen. Dennoch enthielt bereits die Entwicklung des Befragungsinstruments verschiedene Vorannahmen in der Form, dass zentrale Themenbereiche aus der quantitativen Erhebung beziehungsweise den beiden Theorieblöcken berücksichtigt wurden. Zwar ging der Interviewer ergebnisoffen in die Gespräche, allerdings wurden die Inhaltsbereiche für die Gesprächsimpulse somit teilweise aus dem Forschungsstand, aber auch aus den Erkenntnissen der Fokusgruppen abgeleitet. Die Befragungen waren zudem insofern problemzentriert, wie die in dieser Interviewform entwickelten Frage- und Nachfragetechniken (Witzel 1985)

42

3 Forschungsdesign

genutzt wurden, um Hintergrundinformationen und Einschätzungen über die relevanten Inhalte zu erlangen. Wie die Befragungen der Jugendlichen wurden die Interviews der Feldexperten anhand eines Leitfadens geführt. Neben einleitenden Stimuli bei dieser Methode zu den jeweiligen in den Interviews zu thematisierenden Problemlagen waren Vorüberlegungen zu potenziellen allgemeinen und spezifischen Sondierungen sowie zu Ad-hoc-Fragen zu treffen. Damit diese parat sind, falls der Gesprächsablauf ins Stocken geraten wäre beziehungsweise Aussagen zu spezifischen Problembereichen vertieft werden sollten, wurden diese Vorüberlegungen in Form von Stichworten ins Erhebungsinstrument aufgenommen. Die Auswertung des Interviewmaterials erfolgte in einer Analysegruppe, mehrstufig und computergestützt mithilfe der Software MaxQDA. Um der Komplexität der Einzelfälle gerecht zu werden, wurde das Interviewmaterial zunächst fallbezogen entsprechend der Grounded Theory in mehreren Schritten kodiert und kategorisiert (Strauss und Corbin 1996, S. 63 ff.; Strübing 2008, S. 28 ff.). Es wurde fallvergleichend, fallkontrastierend und zunehmend fallübergreifend ein System von Auswertungskategorien und Analyseheuristiken entwickelt. Darüber hinaus wurde für die Auswertung und den Vergleich der Erkenntnisse der verschiedenen Erhebungsformen auf die Klassenbeschreibung der quantitativen Hauptstudie zurückgegriffen. Nach der fallkonstrastierenden Analyse wurden die zentralen Aspekte der Klassenbeschreibung auf die Fälle der qualitativen Befragung angewendet, um den empirischen Versuch zu unternehmen, diese ebenfalls den drei Klassen zuzuordnen. Berücksichtigt wurden Kodes zur ersten Ebene der TSD (Schulnoten und Zukunftsaussichten, Behandlung durch Lehrer*innen, Beurteilung schulischer Leistungen seitens der Eltern), zur zweiten Ebene der TSD (Durchsetzungsvermögen in der Familie beziehungsweise Jugendheim und im Freund*innenkreis, Partizipation in der Schule), zur dritten Ebene der TSD (Verhältnis zu Familie, Freund*innen, relevanten Dritten), zur CBT (Kontrollerleben in der Familie, im Freund*innenkreis, unter relevanten Dritten) sowie zur Selbstkontrolle beziehungsweise Impulsivität. Entsprechend der Gewichtung der Einzelaspekte aus der quantitativen Klassenanalyse wurden die Kodes gesichtet und in einem mehrstufigen Prozess durch das Analyseteam zugeordnet. Dies gelang weitgehend problemlos, da wie im quantitativen Material zahlreiche Aspekte relativ pointiert entweder in die negative oder positive Richtung deuteten. Entsprechend folgte die Zuordnung, aus der sich sechs Befragte in Klasse 1 ergaben, 19 in Klasse 2 sowie fünfzehn in Klasse 3.

3.3  Leitfadengestützte Interviews

43

Hervorzuheben ist, dass die Einordnung unabhängig vom Deliktaufkommen vorgenommen wurde und nicht zwangsläufig Personen in Klasse 3 als ausnahmslos „harmlos“ einzustufen sind und auch nicht zwangsläufig Personen in den beiden anderen Klassen eher zu Delikten neigen. Gerade unter den Jugendlichen in den Jugendheimen gab es etwa einige, die massive Desintegrations-, Kontrollund Gewalterfahrungen als Opfer in der Familie gemacht haben, ohne selbst mit Delikten gegen Dritte darauf zu reagieren. Aber auch unter den anderen Jugendlichen stellten Gewalt und Mobbing lediglich eine Möglichkeit der Reaktion auf entsprechende Risikofaktoren dar.

4

Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Ziel dieses Kapitels ist es, eine detaillierte Beschreibung jeder der drei Klassen zu geben, um damit eine breite Basis für ein Verständnis der darauf folgenden Ergebnisse und Analysen zu schaffen. Dazu wird zunächst anhand eines Beispiels erläutert, wie die Werte zu lesen und zu verstehen sind (Abschn. 4.3.1). Anschließend beschreibt ein weiterer Abschnitt, auf welcher Grundlage die Labels der Klassen entstanden sind (Abschn. 4.3.2). Auf der Basis dieses Wissens wird danach jede Klasse für sich und detailliert dargestellt, jeweils zunächst anhand der quantitativen- und dann der qualitativen Daten (Abschn. 4.3.3 bis Abschn. 4.3.3). Abschließend erfolgt ein Vergleich der Klassen untereinander (Abschn. 4.4).

4.1 Entscheidung über die Anzahl der quantitativ ermittelten Klassen Für die Auswertung der quantitativen Daten wurden verschiedene Modelle geprüft, wobei die Berechnungen bei fünf Klassen abgebrochen wurden, da keine Verbesserung der Gütekriterien, vorrangig des VLMR-Tests, festzustellen war (vgl. Tab. 4.1). Die Ergebnisse zeigen, dass die Werte für eine Lösung mit zwei Klassen gut sind. Die Lösung mit drei Klassen unterscheidet sich davon nur geringfügig und bietet ebenfalls zufriedenstellende Werte. Vor allem die mittleren Wahrscheinlichkeiten der Zuordnungen für die Klassen sind hier positiv hervorzuheben. Diese nehmen bei allen weiteren Lösungen ab, sodass die Variante mit drei Klassen zu bevorzugen ist. Im Gegensatz zu zwei Klassen bietet das Modell mit drei Klassen inhaltlich mehr Differenzierungsmöglichkeiten und erlaubt deshalb eine © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6_4

45

95

119

4

5

aAIC

71

3

37841,623

37966,025

38161,518

38502,776

38493,836

38555,987

38673,836

BICb

38124,712

38192,021

38330,420

38524,516

Korrigiertes BIC

0,819 0,856 0,766 0,748 0,789

0,865 0,784 0,790 0,741

0,878 0,806 0,829

0,852 0,917

Mittlere Klassenzuordnungswahrscheinlichkeit

0,0000 0,0086

0,0201

0,0571

0,625

0,623

0,653

Signifikanz des VLMRTests

0,652

Entropie

- Akaike’s Information Criterion, bBIC - Bayesian Information Criterion, cVLMR-Test - Vuong-Lo-Mendell-Rubin-Test

−18801,812

−18888,013

−19009,759

38412,708

47

2

−19159,354

Anzahl der Log-likelihood AICa (freien) Parameter

Anzahl Klassen

Tab. 4.1   Gütekriterien zur Entscheidung über die Anzahl der Klassen

46 4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

4.2  Klassenhomogenität und -separation

47

detailliertere und den Theorien angemessenere Beschreibung der Schüler*innen in der untersuchten Stichprobe. Sie vermeidet eine zu starke Abstraktion und den dadurch bedingten Differenzierungsverlust. Deshalb und aufgrund der sonst ebenfalls guten Gütekriterien entschieden wir uns für die Lösung mit drei Klassen.

4.2 Klassenhomogenität und -separation1 Zur Bewertung der Güte der Klassen im Rahmen der angewendeten Methodik werden zwei Kriterien herangezogen, die Klassenhomogenität und die Klassenseparation (vgl. Tab. 4.2; siehe auch Abschn. 3.2.3). Die LCA stützt sich auf kategoriale Variablen und ist damit geeignet für die Auswertung der vorliegenden Datengrundlage. Das Ziel ist es, eine möglichst gute Klassenhomogenität bei gleichzeitiger Klassenseparation zu erhalten. Dabei beschreibt die Homogenität einer Klasse, dass sie möglichst hohe Antwortwahrscheinlichkeiten für einen Indikator aufweist, dass also alle Personen der Subgruppe möglichst eindeutig und charakteristisch auf einen Indikator antworten, d. h. mit einem Wert  .7. Gleichzeitig ist eine klare Trennung der Antwortwahrscheinlichkeiten für einen Indikator zwischen den Klassen wünschenswert. Bei einer Zweiklassenlösung wäre somit eine hohe Antwortwahrscheinlichkeit von Klasse 1 auf einen Indikator bei einer gleichzeitig niedrigen Wahrscheinlichkeit von Klasse 2 auf denselben Indikator ein gutes Ergebnis. Es signalisiert, dass die Klassen durch bestimmte Merkmale gut voneinander zu unterscheiden sind (Masyn 2013, S. 559). Zur Beurteilung der Klassenhomogenität ist jeweils die obere Zeile der klassenbedingten Wahrscheinlichkeiten eines Konstrukts heranzuziehen (vgl. Tab. 4.2). Die farbliche Kodierung verdeutlicht, dass die Jugendlichen, die Klasse 1 zugeordnet wurden, für zwölf von 23 Konstrukten sehr homogene Antworten zeigen. Hinzu kommt, dass der Wert (0,301) des Konstrukts „Kontrolle Lehrer*innen“ fast genau dem unteren Grenzwert für eine gute Klassenhomogenität entspricht. Die Homogenität der Antworten der Schüler*innen aus Klasse 2 ist dagegen mit elf von 23 Konstrukten etwas eingeschränkt. Es ist jedoch auch hier anzumerken, dass die Werte für drei Konstrukte, „Zufriedenheit Schulleistungen“ (0,663), „Anforderungen Schule“ (0,319) und „Wichtigkeit, andre zu beeinflussen“ (0,677), nahe der jeweiligen oberen beziehungsweise unteren Grenze (0,3) liegen. 1Eine detaillierte Übersicht aller Konstrukte und der dazugehörigen Items ist in Tab. 8.1 im Anhang zu finden.

48

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Tab. 4.2   Antwortwahrscheinlichkeiten der Konstrukte für Klassenhomogenität sowie Klassenseparation Konstrukt

Klassenbedingte Antwortwahrscheinlichkeiten

Odds Ratios (Klassenseparation)

Klasse 1

Klasse 2

Klasse 3

Klasse 1 vs. 2

Klasse 1 vs. 3

Klasse 2 vs. 3

0,663

0,931

2,88

19,74

6,86

1,53

4,63

3,02

2,21

12,39

5,62

1,31

5,22

3,97

17,63

31,52

1,79

8,58

0,91

0,11

2,71

13,68

5,06

5,20

11,39

2,19

202,83

151,97

0,75

17,64

111,25

6,31

Theorie sozialer Desintegration Zufriedenheit 0,406 Schulleistungen 0,594

0,337

0,069

0,319

0,586

Anforderungen 0,234 Schulleistung 0,766

0,681

0,414

0,723

0,852

0,970

0,277

0,148

0,03

0,298

0,358

0,689

0,702

0,642

0,311

0,426

0,929

0,959

Sicherheit Realisierung, schulischer Optimismus Ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen Interessen durchsetzen

0,574

0,071

0,041

0,547

0,912

0,917

0,453

0,088

0,083

0,818 Meinungsdiversität im 0,182 Freund*innenkreis

0,924

0,984

0,076

0,016

Bedürfnisse und Anliegen mitteilen

Vertrauen Freund*innen

0,796

0,953

0,978

0,204

0,047

0,022

Geborgenheit Familie

0,621

0,997

0,996

0,379

0,003

0,004

0,356

0,907

0,984

0,644

0,093

0,016

Vertrauen in der Familie

(Fortsetzung)

4.2  Klassenhomogenität und -separation

49

Tab. 4.2   (Fortsetzung) Konstrukt

Klassenbedingte Antwortwahrscheinlichkeiten

Konflikte in der 0,178 Familie 0,822

0,314

0,587

0,686

0,413

0,784

0,677

0,856

0,216

0,323

0,144

Odds Ratios (Klassenseparation) 2,11

6,56

3,11

0,58

1,64

2,84

1,34

0,78

0,58

1,41

9,26

6,56

1,42

1,55

1,10

0,88

8,97

10,19

1,38

10,59

7,67

3,72

4,08

1,10

3,17

15,40

4,86

1,43

2,43

1,71

0,92

1,22

1,32

1,77

2,80

1,58

Control BalanceTheory Wichtigkeit, andere zu beeinflussen Wichtigkeit, von anderen nicht beeinflusst zu werden

0,938

0,953

0,922

0,062

0,047

0,078

Ablehnung Gewalt/Moral intrinsisch

0,841

0,882

0,980

0,159

0,118

0,02

Ablehnung Gewalt/Moral extrinsisch

0,562

0,645

0,666

0,438

0,355

0,334

Impulsivität

0,518

0,486

0,906

0,482

0,514

0,094

Sanktionen der Eltern bei Schlägereien

0,747

0,803

0,969

0,253

0,197

0,031

Selbstkontrolle 0,845

0,953

0,957

0,155

0,047

0,043

Fremdkontrolle 0,242

0,503

0,831

0,758

0,497

0,169

Kontrolle Eltern Kontrolle Freund*innen Kontrolle Lehrer*innen

0,421

0,509

0,639

0,579

0,491

0,361

0,509

0,489

0,558

0,491

0,511

0,442

0,301

0,433

0,547

0,699

0,567

0,453 (Fortsetzung)

50

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Tab. 4.2   (Fortsetzung) Konstrukt

Klassenbedingte Antwortwahrscheinlichkeiten

Kontrolle Mit- 0,516 schüler*innen 0,484

0,554

0,713

0,446

0,287

Odds Ratios (Klassenseparation) 1,17

2,33

2,00

Grün ‚ sehr gute Gütewerte 0,7 (klassenbedingte Antwortwahrscheinlichkeiten) und < 0,2 bzw. >5 (Odds Ratios) Orange (hell) ‚ nahe an den sehr guten grünen Gütewerten Orange ‚ Werte außerhalb des Bereichs für sehr gute Gütewerte

Für Klasse 3 ist mehrheitlich von einer guten Homogenität zu sprechen. Bei 16 von 23 Konstrukten zeigen die Schüler*innen der Klasse 3 Werte, die deutlich über dem oberen Grenzwert von 0,7 liegen. Zudem kommen die Konstrukte „ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen“ (0,689) sowie „Ablehnung Gewalt/ Moral external“ (0,666) diesem Grenzwert sehr nahe. Eine hohe Klassenhomogenität ist ein wünschenswertes Ergebnis. Wenn ein Konstrukt jedoch für alle Klassen auf der gleichen Kategorie eine hohe Homogenität anzeigt, dann ist es nur eingeschränkt dafür geeignet, etwas für die jeweilige Klasse Spezifisches auszudrücken. Daher ist es wichtig, auch einen Blick auf die Klassenseparation zu werfen, welche in den drei Spalten mit der Überschrift „Odd Ratios“ in Tab. 4.2 zu finden ist. Dabei wurden paarweise alle Klassen miteinander verglichen. Idealerweise sollten sich die Werte außerhalb des Bereichs zwischen 0,2 und 5 befinden (vgl. Abschn. 3.2.3). Mit hilfe der farblichen Kodierung ist schnell ersichtlich, dass dieser Idealbereich mit der gewählten Lösung nicht immer erreicht werden konnte. Dennoch gibt es einige Fälle, bei denen die Konstrukte bei gleichzeitiger Klassenhomogenität in der Lage sind, zwischen den Klassen zu differenzieren und damit bei der Interpretation der Ergebnisse zu helfen. Hervorzuheben sind hier besonders die Konstrukte „Zufriedenheit Schulleistungen“, „Sicherheit Realisierung, schulischer Optimismus“, „Interessen durchsetzen“, „Meinungsdiversität im Freund*innenkreis“, „Vertrauen Freund*innen“, „Geborgenheit Familie“, „Ablehnung Gewalt/ Moral internal“, „Impulsivität“ sowie „Sanktionen der Eltern bei Schlägereien“. Das Konstrukt „Fremdkontrolle“ schneidet ebenfalls recht gut ab, da der Vergleich von Klasse 2 und 3 dem Grenzwert recht nahe kommt. Besondere Aufmerksamkeit sei auf das Konstrukt „Vertrauen in der Familie“ gerichtet, bei dem neben einer guten Klassenhomogenität eine vollständige Separation aller Klassen gelingt. Das Vertrauen in die Familie oder dessen Abwesenheit und der familiale Hintergrund werden bei allen weiteren Ergebnissen immer wieder eine wichtige

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

51

Rolle spielen. Neben den anderen, bereits genannten, ist das Konstrukt „Vertrauen in die Familie“ sehr geeignet, um zu beschreiben, was die Jugendlichen in den Klassen unterscheidet. ­Gleichzeitig zeigt es eine beinahe perfekte Klassenhomogenität. Lediglich der Wert für Klasse 1 ist nicht optimal, jedoch recht nahe am Grenzwert von 0,3. Das Konstrukt beinhaltet die beiden Items „Ich verbringe Zeit mit meiner Familie“ und „Bei Problemen würde ich mich an meine Familie wenden“. Die Ergebnisse drücken aus, dass Klasse 2 und 3 homogen so antworten, dass die Jugendlichen den Items zustimmen, sie verbringen also Zeit mit der Familie und wenden sich bei Problemen an Eltern und Geschwister. Mit leichter Einschränkung ist auch das Antwortverhalten von Klasse 1 auf diese Items homogen. Allerdings ist die Gegenkategorie stärker besetzt. Das heißt, dass die Schüler*innen in Klasse 1 diesen Items mehrheitlich nicht zustimmen. Mit anderen Worten: Die Zeit, die diese Jugendlichen mit ihrer Familie verbringen, ist reduziert und unterscheidet sich deutlich von den anderen Klassen. Hinzu kommt, dass sie sich bei Problemen nicht an Familienmitglieder wenden. Obwohl Klasse 2 und 3 beide mehrheitlich zustimmen, zeigen die Werte der Klassenseparation an, dass sich die Jugendlichen dieser Klassen voneinander unterscheiden. Sie sind grün markiert und deutlich über dem Wert von 5.

4.3 Beschreibung der latenten Klassen 4.3.1 Wie sind die Werte zu lesen? Bevor jede Klasse in einer detaillierten Einzelbetrachtung vorgestellt wird, sollen zunächst einige grundsätzliche Erklärungen zu einem besseren Verständnis der präsentierten Ergebnisse beitragen. Es soll geklärt werden, wie die berichteten Zahlen entstanden sind und wie sie die Entscheidungen für die späteren Klassenlabels trugen. Außerdem geht es darum zu vermitteln, wie die Zahlen zu lesen und zu verstehen sind. Hierzu ist es hilfreich, die Beschreibung des Analyseverfahrens zu lesen (vgl. Abschn. 3.2.3). Die Analyse latenter Klassen ist ein Verfahren mit dem Ziel des Auffindens von Ähnlichkeiten im Antwortverhalten von Befragten, um Personengruppen mit bestimmten Antwortmustern zu identifizieren und die Klassen untereinander möglichst scharf voneinander zu trennen (Masyn 2013). So gelingt es, Komplexität zu reduzieren und die in diesem Fall explorativ gewonnenen Klassen an die Theorien rückzukoppeln. Die so gewonnenen Klassen erlauben es, die Gesamtheit der in die Auswertung eingeflossenen Daten mit weniger Werten zu beschreiben, und sie können als Grundlage für weitere Analysen genutzt werden.

52

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Die Beschreibung jeder Klasse wird Ergebnisse in der Form von Schätzungen zu klassenbedingten Antwortwahrscheinlichkeiten (nachfolgend Wahrscheinlichkeit) in Prozent enthalten. Diese Werte sind das Resultat der LCA und sie demonstrieren innerhalb einer Klasse, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Personen dieser Klasse die vorgegebenen Antwortoptionen gewählt haben (Geiser 2010, S. 252 ff.). Ein Beispiel: Die Zufriedenheit der Jugendlichen und deren Eltern mit den schulischen Leistungen als eines der Konstrukte der TSD wurde mit zwei Fragen im Fragebogen gemessen. Aufgrund der Menge von Items und Konstrukten, die in die Analyse einflossen, war eine Informationsreduktion in zwei Schritten notwendig. Zunächst wurden in einem ersten Schritt die zur Messung eines Konstrukts verwendeten Fragen zusammengefasst. Im zweiten Schritt wurden dann die Skalen, also die Antwortoptionen, der Fragen zusammengefügt. Im Beispiel der Zufriedenheit mit den Schulleistungen wurden daher zunächst die beiden Fragen zu einem Mittelwertindex kombiniert. Das heißt, dass die im Beispiel vorliegenden zwei Werte der beiden Fragen für jede Person addiert und anschließend durch die Anzahl der Fragen dividiert wurden. Anschließend wurde die Antwortskala des so entstandenen Mittelwertindex dichotomisiert. Im Beispiel wurden also die Kategorien „sehr zufrieden“ und „eher zufrieden“ sowie „eher unzufrieden“ und „sehr unzufrieden“ zu jeweils einer Antwortoption kombiniert, sodass als Ergebnis nur noch zwei Antwortmöglichkeiten vorhanden sind. Diese Dichotomisierung ist zentral, denn die LCA gibt die Wahrscheinlichkeiten für genau diese beiden Antwortkategorien aus. Die obere Kategorie (Tab. 4.2) wurde dabei stets so kodiert, dass sie die im Sinne der Theorien positiven Ergebnisse repräsentiert. Eine hohe Wahrscheinlichkeit für die obere Kategorie bei den Fragen nach der Zufriedenheit mit den Leistungen in der Schule steht dabei im Sinne der TSD für eine gute Integration und umgekehrt (93 % für die obere ­Kategorie in Klasse 3,7 % für die untere). Entsprechend lassen sich die Ergebnisse aller weiteren Konstrukte der jeweiligen Theorie bewerten, was eine Aussage über die Integrations- und Desintegrationstendenzen sowie über Kontrollbalancen und -imbalancen und insgesamt über die Realitätskontrolle der Schüler*innen der Stichprobe erlaubt. Und da die Konstrukte beider Theorien gleichzeitig analysiert werden, erfolgen Aussagen zu einer Theorie stets unter Berücksichtigung der jeweils anderen. Somit wirkt sich eine Veränderung der in die Analyse aufgenommenen Konstrukte auf die Ergebnisse aller untersuchten Inhalte aus.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

53

4.3.2 Von der Analyse zu den Klassenlabels Dem Projekt liegen zwei Theorien zugrunde, die TSD und die CBT. Die TSD hat dabei den Prozess gesellschaftlicher Teilhabe zum zentralen Gegenstand, dessen Pole einen Bereich zwischen Integration und Desintegration aufspannen. Bei der CBT geht es im Wesentlichen um das Verhältnis von ausgeübter und erfahrener Kontrolle, das bei einem Ungleichgewicht zu Imbalancen der Kontrolle führen kann. Damit sind die für die verwendeten Theorien zentralen Konzepte benannt, deren Verbindung sich mithilfe des Begriffs der Realitätskontrolle ebenfalls in den Labels der Klassen ausdrücken sollte. Die Entscheidung über die Benennung der Klassen basiert dabei wesentlich auf der spaltenweisen Auszählung (Klassenhomogeniät) von Tab. 4.2. Das Ergebnis ist grafisch in Abb. 4.1 dargestellt. Die 50 %-Marke (0,5 Y-Achse) wird dabei als Schwellenwert genutzt, um eine Entscheidung für jedes auf der horizontalen Achse abgetragene Konstrukt zu treffen. Das heißt, wenn die Wahrscheinlichkeit in der oberen Antwortkategorie (über 50 %, vgl. Abschn. 4.3.1) größer als die der Gegenkategorie war, wurde das Konstrukt im Sinne der jeweiligen Theorie positiv bewertet. Für die TSD wurde dann mehrheitlich Integration angenommen, für die CBT Kontrollbalance. Für die sozialstrukturelle Dimension der TSD zeigt sich so, dass Klasse 3 bei allen vier Konstrukten im Sinne der Theorie positive Wahrscheinlichkeiten aufweist, da stets die obere Kategorie stärker ausgeprägt ist. Bei Klasse 2 kann man sehen, dass nur noch zwei der vier Datenpunkte im Diagramm über dem 1

0.5

TSD

Kontrolle Lehrer*innen

CBT Klasse 1

Klasse 2

Klasse 3

Abb. 4.1   Profile der klassenbedingten Antwortwahrscheinlichkeiten für Klasse 1 bis 3

Kontrolle Mitschüler*innen

Kontrolle Eltern

Kontrolle Freund*innen

Selbstkontrolle

Fremdkontrolle

Impulsivität

Sanktionen der Eltern bei Schlägereien

Wichtigkeit, andere zu beeinflussen Wichtigkeit, von anderen nicht beeinflusst zu werden Ablehnung Gewalt/Moral internal Ablehnung von Gewalt/Moral external

Konflikte in der Familie

Geborgenheit Familie

Vertrauen in der Familie

Vertrauen Freund*innen

Interessen durchsetzen

Bedürfnisse und Anliegen mitteilen Meinungsdiversität im Freund*innenkreis

Sicherheit Realisierung, schulischer Optimismus Ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen

Anforderungen Schulleistungen

Zufriedenheit Schulleistungen

0

54

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Schwellenwert von 0,5 liegen. Und bei der Klasse 1 ist es lediglich die Sicherheit über die Realisierung schulischer Leistungen, die als einziges Konstrukt im Sinne der Theorie Integration indiziert. Wenn man nun alle weiteren Konstrukte auf diese Art liest, zeigt sich, dass Klasse 3 bei allen TSD-Konstrukten in der positiven Kategorie die höheren Wahrscheinlichkeiten zeigt. Für Klasse zwei reduziert sich dieser Wert auf acht von elf und für Klasse 1 auf fünf. Bei den Messungen zur CBT zeigt Klasse 3 bei allen zwölf Konstrukten höhere Wahrscheinlichkeiten für die Antwortkategorie, die Kontrollbalance nahelegt. Für Klasse 2 reduziert sich dieser Wert auf neun, wobei die Entscheidung in zwei Fällen sehr knapp ausfällt (Fremdkontrolle, Kontrolle Eltern). Bezüglich der CBT-Konstrukte zeigt Klasse 1 bei der einfachen Entscheidung nach dem Positiv-Negativ-Schema keine Unterschiede zu Klasse 2. Wie der spätere Vergleich der Klassen jedoch zeigen wird, sind im Detail teilweise deutliche Differenzen zu finden (vgl. Abschn. 4.4). Es geht dann um die Frage, wie stark die positive oder negative Kategorie besetzt ist. Mit hilfe dieser Auszählung und entsprechend den zugrundeliegenden Theorien lassen sich die Klassen wie folgt beschreiben. Die Jugendlichen der Klasse 1 sind desintegriert und verfügen zusätzlich über Imbalancen der Kontrolle. Ihre Möglichkeiten sowie ihr Vermögen, Anerkennung und Kontrolle zu generieren sind erheblich reduziert, sodass ihr individuelles Bedürfnis nach Realitätskontrolle unbefriedigt bleibt und die Unzufriedenheit über diesen Zustand mit der Anwendung von Gewalt zur Lösung von Problemen ein Ventil finden kann. Die Personen in Klasse 2 zeigen Anzeichen von teilweiser Desintegration. Ihr Kontrollverhältnis ist teilweise unausgeglichen. Es gibt Hinweise auf Imbalancen, die sie von Klasse 3 unterscheiden. Für ein Drittel der TSD- und ein Viertel der CBT-Konstrukte deuten die Ergebnisse dieser Jugendlichen auf Probleme hin, welche die Realitätskontrolle beeinträchtigen. Klasse 3 versammelt diejenigen Jugendlichen, die in allen Dimensionen der TSD vollständig integriert sind und im Sinne der CBT über ein ausgeglichenes Verhältnis von ausgeübter und erfahrener Kontrolle verfügen. Ihnen gelingt es damit, in den Dimensionen der TSD die Interaktionsprozesse der CBT-Konstrukte so zu ihrem Vorteil zu gestalten, dass sie ihr individuelles Bedürfnis nach Anerkennung und Kontrolle zufrieden- und Realitätskontrolle damit herstellen können. Zusammenfassend benennen wir die Klassen daher wie folgt2:

2Eine

Übersicht aller Konstrukte, aufgeteilt nach Theorie und Klasse, mit den dazugehörigen Antwortwahrscheinlichkeiten ist in Tab. 8.1 im Anhang zu finden.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen Klasse 1

Sichtbare Desintegration – geringe Realitätskontrolle – auffällige Gewaltattitüden

Klasse 2

Gefährdete Integration – unsichere Realitätskontrolle – anfällige Gewaltattitüden

Klasse 3

Gelungene Integration – ausbalancierte Realitätskontrolle – unauffällige Gewaltattitüden

55

In der nachfolgenden Darstellung der Klassen werden jeweils zunächst zu jedem Aspekt die quantitativen und dann die qualitativen Ergebnisse präsentiert.

4.3.3 Klasse 1 – Sichtbare Desintegration – geringe Realitätskontrolle – auffällige Gewaltattitüden 4.3.3.1 Überblick und Demographie Mit 177 Befragten ist die erste die kleinste der drei Klassen und stellt 9 % der quantitativen Gesamtstichprobe dar. Mit etwa 59 % sind deutlich mehr Schülerinnen als Schüler vertreten. Das Verhältnis von Jugendlichen ohne (49 %) und mit (51 %) Migrationshintergrund ist in Klasse 1 recht ausgeglichen. Bezüglich der Schultypen fällt auf, dass die Realschule mit knapp 40 % deutlich am stärksten vertreten ist. Ein Viertel der Schüler*innen besucht die Hauptschule. Und mit 16 % ist der Anteil derjenigen, die ein Gymnasium besuchen, am geringsten. Die FAS zeigt für die Jugendlichen der Klasse 1 einen unterdurchschnittlichen Mittelwert von 3,69 an, wobei der der Mädchen etwas niedriger als der von Jungen ist. Bei einer Kategorisierung der FAS in niedrig, mittel und hoch zeigt sich, dass die niedrig-Kategorie bei weiblichen Befragten stärker ausgeprägt ist (29 % zu 21 %). In die Klasse 1 wurden nach Durchsicht der qualitativen Interviews sieben Jugendliche eingeordnet. Die Altersverteilung gestaltete sich folgendermaßen: einmal 13 Jahre, dreimal 15 Jahre, zweimal 16 Jahre und einmal 17 Jahre. Fünf Befragte waren männlich, zwei weiblich. Drei besuchten Förderschulen, drei Hauptschulen und einer die Realschule. Bemerkenswert und bei der Auslegung der Ergebnisse zu berücksichtigen ist zudem, dass fünf dieser Befragten in Heimen wohnten und nur zwei im elterlichen Haushalt. Die finanzielle Lage dieser Jugendlichen ist in den Familien weitgehend als prekär zu bezeichnen, da die Eltern nicht oder in gering qualifizierten und bezahlten Berufen tätig sind. Entsprechend sind sie es gewohnt, ihre Wünsche bei Anschaffungen hintenanzustellen oder dafür selbst zu sparen.

56

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Tab. 4.3    Demographische Beschreibung der Klasse 1 Geschlecht

N

Gültige Prozent

Männlich

72

40,9

Weiblich

104

59,1

Keine Angabe

1

Migrationshintergrund

N

Gültige Prozent

Ohne Migrationshintergrund

85

48,9

Mit Migrationshintergrund

89

51,1

Keine Angabe

3

Schultyp

N

Gültige Prozent

Hauptschule

45

25,4

Realschule

70

39,5

Gymnasium

29

16,4

Gesamtschule

33

18,6

N

Mittelwert (SD)

Gesamt

176

14,95 (0,903)

Männlich

71

15,10 (0,973)

Weiblich

104

14,86 (0,841)

Keine Angabe

1

Alter

FAS

N

Mittelwert (SD)

Gesamt

176

3,69 (1,69)

Männlich

72

3,82 (1,67)

Weiblich

103

3,60 (1,72)

Keine Angabe

1

FAS Gesamt

N

Gültige Prozent

Niedrig

45

25,6

Mittel

101

57,4

Hoch

30

17,0

Keine Angabe

1 (Fortsetzung)

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

57

Tab. 4.3    (Fortsetzung) Geschlecht Männlich

Weiblich

N

Gültige Prozent

Niedrig

15

20,8

Mittel

44

61,1

Hoch

13

18,1

Keine Angabe

0

Niedrig

30

29,1

Mittel

56

54,4

Hoch

17

16,5

Keine Angabe

1

J39M: Also mein Vater hat eine Behinderung, der arbeitet nicht. Der hat mal eine Ausbildung angefangen im kaufmännischen Bereich. Doch, gearbeitet hat der schon, Zeitungen austragen und so was. Aber er kann halt nicht acht Stunden stehen, das ist das Problem, weil er eine Prothese hat. I: Und bei Deiner Mutter? J39M: Ja, sie war mal selbstständig, hat dann alles aufgegeben. I: Hat die danach noch mal etwas gemacht? J39M:  Ja, sie hat dann als Packer gearbeitet. Und als sie die Zwillinge bekommen hat, hat sie in einer Gartenlandschaft gearbeitet und dann hat das nicht hingehauen, weil der Chef sich immer beschwert hat wegen den Kindern, weil sie musste auch mal früher nach Hause und so. Sie konnte auch nicht so viele Überstunden machen. Die hat dann da aufgehört und macht zwischenzeitlich Putzjobs. I: Wie war das denn, wenn Du etwas von ihr gekauft haben wolltest oder dass Du etwas machen darfst? J18W: Das war immer schwer. Ich habe wenig bekommen. Ich habe aber nicht oft gefragt. J25M: Aber ich habe ihn eigentlich nie so nach Geld gefragt. I: Warum nicht? Weil man hat doch immer mal etwas, was man haben möchte. J25M: Ja, musste ich von meinem Geld bezahlen. I: Da hat er dann gesagt, dass Du sparen sollst? J25M: Ja.

58

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Entsprechend ist teilweise die Unterbringung im Heim eine finanzielle Verbesserung, da die Jugendlichen hier ein regelmäßiges Taschengeld erhalten und zusätzliches Geld für Kleidung, Hygieneartikel und ein Sparbuch. In einem Heim können die Jugendlichen sogar zusätzliches Geld durch die Übernahme von Tätigkeiten verdienen. I: Wie viel verdienst Du damit ungefähr im Monat? J43M: Also das kommt drauf an. Letzten Monat habe ich nichts gemachtweil ich mich auf die Schule konzentriert habe. Davor waren das so 50 bis 100 EUR.

4.3.3.2 Integration – Desintegration Sozialstrukturelle Dimension Klasse 1 erhielt das Label „geringe Realitätskontrolle“, was verdeutlicht, dass sowohl die Messungen der TSD-Dimensionen als auch die der CBT-Konstrukte auf einige Defizite hinweisen, die einerseits deutliche Zeichen von Desintegration und andererseits Imbalancen der Kontrolle bedeuten. Den Jugendlichen dieser Klasse gelingt es in mehreren Lebensbereichen und täglichen Interaktionsprozessen nicht, Anerkennung zu bekommen und ebenfalls nicht, das aus dem Gleichgewicht geratene Kontrollverhältnis wieder in Waage zu bringen. Bezüglich der sozialstrukturellen Dimension muss in Klasse 1 deshalb von einer beinahe vollständigen Desintegration im Sinne der Theorie ausgegangen werden. Das heißt, dass die Schule als elementarer Sozialisationsraum für diese Jugendlichen wenig Perspektive bietet. Sie sind nicht zufrieden mit den schulischen Leistungen und fühlen sich den Anforderungen, welche die Schule an sie formuliert, nicht gewachsen. Das zeigt sich in Wahrscheinlichkeiten von 59 % (Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen) und 77 % (wahrgenommene Anforderungen der Schulleistungen) für die Antwortkategorien, die Desintegration anzeigen. Diese Gefühle der Unzufriedenheit, gepaart mit Versagensängsten, werden zusätzlich durch ein schwieriges Verhältnis zum Lehrpersonal belastet. Die Schüler*innen empfinden Benotungen als ungerecht und sind mit als nicht gerechtfertigt wahrgenommenen Schuldzuweisungen durch Lehrer*innen konfrontiert. Außerdem fühlen sie sich teilweise bloßgestellt und zu Unrecht bestraft. In der Summe führt dies zu einer als ungerecht wahrgenommenen Behandlung durch die Lehrenden (Wahrscheinlichkeit von 70 % für Antwortkategorie), was ein Indikator für desintegrative Prozesse ist. Die Schule als wichtiger Lebensbereich heranwachsender Jugendlicher kann unter diesen wahrgenommenen Bedingungen nicht als integrative Instanz wirken. Die Integration in der sozialstrukturellen Dimension der Schüler*innen der Klasse 1 ist gefährdet, was den weiteren Bildungsweg sowie potenziell

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

59

die späteren Zugänge zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen wie etwa dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt erschweren kann. Diese Prozesse werden von einem Verlust positionaler Anerkennung begleitet, was insgesamt die gesellschaftliche Teilhabe beeinträchtigt. Auch die qualitativen Interviews zeigen im Wesentlichen ein Bild von Schulversagen beziehungsweise Herabstufung in andere Schulformen. Das äußert sich in einer allgemeinen Unzufriedenheit der Jugendlichen und deren Eltern bezüglich der Leistungen oder einer Herabwürdigung dessen, wie der Unterricht in den niedrigeren Schulformen abläuft sowie die Einschätzung, dass die dortigen Schulabschlüsse minderwertig sind. I: Du sagst ja, dass Du auf dieser Förderschule bist. Würdest Du sagen, dass Du Dir deshalb Sorgen machst, dass Du später eine Ausbildung oder Arbeit finden kannst? J18W: Ja, so da habe ich schon ein bisschen Angst, weil ich kriege da ja jetzt nur einen Förderschulabschluss, und denke ich mir auch so: „Ja, was soll ich jetzt machen, wenn ich mich bewerbe bei … weiß nicht was, bei einer Erzieherin?“ Zum Beispiel, dann kann ich es ja vergessen, weil mit einem Förderschulabschluss ist ja nicht so gut, glaube ich. Deswegen würde ich ja danach auf das Berufskolleg hingehen und da weiter Schule machen. I: Du hast ja gerade erwähnt, Deine Mutter ist nicht ganz zufrieden mit dem, was Du im Moment planst, aber bist Du selbst damit zufrieden, in welcher Situation Du jetzt bist? Oder hättest Du schon lieber den höheren Abschluss, weil Du damit evtl. mehr machen könntest? J37M:  Gut, ich war auch in der fünften und sechsten Klasse auf dem Gymnasium (lacht) und bin dann in der Siebten auf‚  ne Realschule und dann dachte ich mir auch schon so: „Ja, gut, jetzt machst Du halt nur noch Realschulabschluss, Abi kannst Du trotzdem noch machen.“ Und dann bin ich jetzt auf die Hauptschule gekommen dann. Und jetzt so am Ende mit so einem Hauptschulabschluss, klar, du kannst damit trotzdem noch viel machen, dauert halt alles viel länger und so. Dann dachte ich mir schon so: „Ja, was bist Du eigentlich für ein Depp gewesen damals? Hättest Du Dich einfach mal hingesetzt und hättest das gemacht, dann hättest Du jetzt noch alles machen können.“ In der Wahrnehmung der qualitativ Befragten variiert das Verhältnis zum Lehrpersonal, enthält aber auch vor allem negative Züge. Hervorgehoben werden

60

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Gleichgültigkeit und Resignation der Lehrenden, Strenge sowie eine zumindest gefühlt ungerechte Benotung durch einzelne Lehrkräfte. I: Und wie haben die Lehrer an der Schule vorher reagiert, wenn da mal was war? J18W: Sehr streng. Auf der Schule, wo ich jetzt bin, meistens interessiert das die Lehrer gar nicht. Man sagt denen das, sie sagen nichts: „Klärt das unter Euch!“ I: Und hast Du das Gefühl, dass Du manchmal auch schlechtere Note bekommen hast, als Du verdient hättest? J18W: Ja, ich habe manchmal schon das Gefühl gehabt. Ich habe mir Mühe gegeben für die Arbeiten, aber habe auf einmal schlechtere Noten und dann habe ich mir gedacht: „Ey, ich habe das doch richtig gemacht!“, und so. I: Aber waren das dann bestimmte Lehrer? J18W: Ja, bestimmte. Die Strenge einzelner Lehrender kann jedoch auch von desillusionierten Schüler*innen instrumentalisiert werden, indem diese strategisch stören, damit sie als „Strafe“ den Unterricht verlassen dürfen. I:  Was hast Du denn vorher auf der anderen Schule für Strafen bekommen? J18W: So nach Hause gehen (lacht). Was für mich eigentlich nie eine Strafe war. Ich habe es immer so weit gebracht, bis ich nach Hause durfte. I: Du hast das also absichtlich gemacht? J18W: Ja, ich habe rumgemeckert und so. Sehr oft. Ich wollte immer nach Hause, weil diese Schule, ich hasse diese Schule einfach. Ich mag die nicht. Ich habe mich da nie wohl gefühlt. Einzelne Jugendliche sind allerdings mit dem Umgang in der Schule und den Lehrenden auch sehr zufrieden beziehungsweise merken Veränderungen oder Verbesserungen durch Schulwechsel. I: Und wie war das Verhältnis zu den Lehrern? J23M: Immer gut eigentlich. I: Also auch keine ungerechte Benotung oder Behandlung? J23M: Nee, eigentlich nicht. Ich kam mit den Lehrern immer klar durch den Respekt.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

61

I: Oder haben die Lehrer in der Schule dann versucht, Dich zu unterstützen? J25M: Meine alten Lehrer nicht. I: Aber die jetzigen Lehrer sind schon besser? J25M: Ja. Die Lehrer jetzt sind gut und nett. Interessant ist im Kontext positionaler Anerkennung jedoch, dass die jungen Menschen in den qualitativen Interviews trotz problematischer Ausgangslage relativ zuversichtlich sind, entsprechend ihrer Möglichkeiten Schulabschlüsse nachzuholen, Ausbildungsplätze zu finden beziehungsweise in den Arbeitsmarkt einsteigen zu können, ohne dabei in utopische Vorstellungen zu verfallen. I:  Und was für eine Art von Schulabschluss wirst Du dann am Ende haben, wenn Du die Schule verlässt? J25M: Weiß ich nicht. Wahrscheinlich gar keinen. Deshalb werde ich auch eine Ausbildung zur Beikochhilfe machen und dann gehe ich zum Bund. I: Also bekommt Ihr am Ende gar keinen Abschluss? J25M: Doch, ja, aber genau weiß ich das auch nicht.

Institutionelle Dimension Auch in der institutionellen Dimension verweisen die Ergebnisse der Klasse 1 auf Probleme. Besonders das Konstrukt, welches das Vermögen, die eigenen Interessen durchsetzen zu können, misst, gibt Hinweise auf Defizite beim Integrationspotenzial. Offenbar haben Jugendliche dieser Klasse dahin gehend Schwierigkeiten gegenüber der Familie, unter Freund*innen sowie in der Schule. Die Wahrscheinlichkeit für die Antwortoptionen für Desintegration beträgt immerhin 57 % und verweist damit mehrheitlich auf Integrationsdefizite. Die Items, bei denen es um das Gelingen geht, eigene Bedürfnisse und Anliegen zu kommunizieren und zu vertreten, zeigen ein gemischtes Ergebnis. Für die Schüler*innen der Klasse 1 beträgt die Wahrscheinlichkeit für die Antwortkategorien, die Desintegration signalisieren, immerhin 45 %. Grundsätzlich scheint vielfach die Durchsetzung von Interessen offenbar zugunsten der jeweils anderen verschoben, sodass Teilnahmechancen und -bereitschaft an Diskussionen, Diskursen sowie Entscheidungsprozessen für ­ diese Jugendlichen gefährdet sind. Es kann der Glaube an Fairness, Gerechtigkeit und Solidarität verloren gehen. Langfristig sind die moralische Anerkennung und die Integrität der Betroffenen gefährdet. Die Integration in der institutionellen Dimension kann nicht mehr in zufriedenstellender Weise gelingen.

62

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Die qualitativen Interviews zeigen in dieser Klasse teils massive Lebensprobleme. Im Bereich des Elternhauses geht es bis zur Anwendung von Gewalt, zur Unterdrückung und Vernachlässigung des Nachwuchses beziehungsweise der Bevorzugung neuer Partner*innen und deren Kinder. Sogenannte ­„Helikopter-Eltern“ waren im gesamten Sample der qualitativen Studie nicht zu finden, jedoch treten in Klasse 1 die massivsten Erfahrungen von fehlender Fürsorge und Unterstützung auf. Selbst wiederholte Gewaltanwendungen richten sich auch gegen Mädchen. J18W: Es gab halt abends Stress und meine Mutter ist dann halt ausgerastet und hat meine Schwester geschlagen. Meine Schwester hatte eine Platzwunde. Dann habe ich sie genommen und dann sind wir zur Polizei gegangen. Und die Polizei hat uns dann erst in ein anderes Heim geschickt und dann bin ich hier hingekommen und meine Schwester zu ihrem Vater. I: Wie lange hat das gedauert, nachdem Du bei der Polizei warst? J18W: Einen Tag. Danach bin ich am nächsten Tag hier [Jugendheim, A.d.V.] hingekommen. I: Und das wolltest Du auch so? J18W: Ja. I: Aber das war wahrscheinlich nicht das erste Mal, dass Deine Mutter ausgerastet ist, oder? J18W: Ja, das ist jeden Tag passiert. Also es ist jeden Tag passiert, kann man sagen. I: Aber wenn die [Stiefmutter, A.d.V.] Dich so schlecht behandelt hat, bist Du dann mal zu Deinem Vater gegangen und hast dem das erzählt? J25M: Nee. I: Warum nicht? J25M:  Um ihn nicht zu belasten und weil ich ja auch schlecht mit der umgegangen bin. Auf jeden Fall hätte er ihr Recht gegeben. J39M:  Dort gab es immer wieder Streitereien und ich durfte alles selber machen. Ich durfte meine eigenen Klamotten finanzieren, ich musste bei den Nachbarn irgendwie arbeiten gehen und sonst was. Dann schulisch musste ich auch alles selber bezahlen. Dann irgendwie, ja, alles was ich haben wollte, musste ich mich komplett selber drum kümmern. Und irgendwann kam auch noch ein Punkt, wo ich dann, weiß nicht, wenn ich dann nach Hause komme, dass ich nicht wieder mein Zimmer aufräumen darf, weil man dann irgendwas findet, was wieder kaputt

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

63

gemacht wurde von denen. Oder irgendwie irgendwas anderes, weil die Freundin die ist da sehr … nachtragend, nach so einem Streit da rastet die voll aus und schlägt dann meine Sachen zusammen. Und da hat sie die dann kaputt gemacht oder so. Ich weiß nicht, ob mein Vater auch dabei war, auf jeden Fall saß ich dann immer da und durfte alles wieder aufheben, durfte mir dann alles neu ersetzen, arbeiten. Und irgendwann hatte ich keinen Bock mehr drauf, da habe ich einfach gesagt: „Wisst Ihr was? Ihr könnt mich am Arsch lecken!“ Das habe ich wortwörtlich so gesagt. I: Und dann bist Du dort ausgezogen und hier hingekommen? J39M: Nee, ich bin in eine Wohngruppe erst einmal vorzeitig untergekommen, aber auch nicht weit weg. Und von da aus bin ich dann hier hingekommen. Aussagen wie die letzte zeigen eine sehr einschneidende und massive Form der Verarbeitung und Interessensdurchsetzung, da nicht wenige Jugendliche aus der Befragungsgruppe aus freiem Willen ins Heim gingen und nicht auf Drängen der Eltern oder des Jugendamtes. Unterstützt durch Externe oder aus alleiniger Entscheidung bevorzugen sie ein Leben außerhalb der Familie gegenüber einer Fortsetzung des bisherigen belasteten Lebens. Leichtere Varianten davon sind, dass sie sich von Sanktionen durch Eltern nichts anhaben lassen, die etwa in Verboten oder Hausarrest bestehen und dann als „nicht so schlimm“ abgetan werden. J37M: Wenn man mir jetzt mein Handy wegnimmt oder so, dann wäre ich auch eigentlich ziemlich froh. Dann nervt mich wenigstens keiner (lacht). Aber nee, das macht sie [Mutter, A.d.V.] bei meinem Bruder, ihm nimmt sie das Handy weg. Aber der ist dann auch richtig, der dreht dann völlig ab, wenn er mal irgendwie eine Woche kein Handy hat. Das ist richtig schlimm. Generell für die ganzen Jugendlichen ist das so geworden, ohne Handy können die alle nicht mehr. I: Und die wusste, dass Dich das sowieso nicht interessiert. J37M: Ja. I: Aber wenn sie Dich nicht rausgelassen hat, hat Dich das mehr gestört? J37M: Gestört hat es mich eigentlich nie, weil … ich habe gezockt so (lacht). I: Also hat sie dadurch auch nichts an dem verändern können, was sie an Dir gestört hat. J37M: Genau. Wenn sie immer arbeiten war, bin ich auch rausgegangen, habe mich mit einem Kumpel getroffen oder so.

64

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Aber auch nicht alle Jugendlichen haben die Entscheidung zur Heimunterbringung selbst getroffen; diese kann auch von den Eltern ausgegangen sein, wenn diese sich überfordert fühlen, was dann zu einem immensen Gefühl des Ausgeliefertseins in der Situation führen dürfte und der Erkenntnis, die eigenen Interessen gar nicht durchsetzen zu können. Es entsteht das Gefühl, ungewollt zu sein, besonders wenn die Jugendlichen zusätzlich zwischen verschiedenen Einrichtungen hin und her „gereicht“ werden. J37M: Sie hat dann gesagt: „Ja, Du musst jetzt gehen!“, und so. Dann kam halt auch so ein Sozialarbeiter vom Jugendamt und hat mich dann halt mitgenommen. Da war ich erst in einem anderen Heim, dann musste ich da irgendwann gehen, weil ich da nicht fest gewohnt habe. Dann war ich erst noch für ein halbes Jahr in einem anderen Heim, auch in der Nähe. Da konnte ich halt auch nur ein halbes Jahr bleiben, was eigentlich auch die Perspektive war, dass ich wieder nach Hause gehe, hat dann aber dann doch nicht so in dem Zeitrahmen geklappt und so. Dann seit … ja, März letzten Jahres wohne ich jetzt hier. Ja, und hier hieß es auch erst: „Ja, es wird daran gearbeitet, dass Du nach Hause kommst“, und so. Jetzt hatte ich letzten Monat mein Hilfeplangespräch und dann hieß es dann auf einmal von meiner Mutter: „Ja, äh, Du kannst doch nicht mehr, Du kannst doch nicht mehr nach Hause“, und so. Das ist halt schon scheiße so, dass einem seit zwei Jahren quasi gesagt wird: „Ja, es wird daran gearbeitet, dass Du wieder nach Hause kommst und so“, und du denkst auch, dass alles in Ordnung ist und so. Du machst auch selber die ganze Zeit alles dafür eigentlich, nur dann kommt halt trotzdem irgendwann: „Ja …“ I: Also Du hättest das auch schon gewollt, die ganze Zeit, dass Du wieder zurückgehst? J37M: Ja. I: Nur Deine Mutter will das nicht. J37M: Ja, so ungefähr. I: Ist da irgendetwas passiert, dass sie es jetzt auf einmal doch nicht will, oder weißt Du nicht, woran es liegt? J37M: Ich weiß es nicht, keine Ahnung. I: Wie war das denn, als sie gesagt hat, Du sollst gehen? Das wird ja nicht spontan gewesen sein wegen einer Kleinigkeit plötzlich. Das hat sich ja wahrscheinlich über einen längeren Zeitraum aufgebaut. Hat sie so was zum Beispiel dann auch schon öfters angedroht? J37M: Ja, hat sie schon, aber irgendwie …

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

65

I: Das hast Du dann nicht ernst genommen? J37M: Nee, nicht. I: Das erwartet man ja auch nicht von seinen Eltern. J37M: Nee, eigentlich nicht. I: Und wer hat dann immer entschieden, dass Du ins Heim gehst? J43M: Meine Mutter. I: Also die sagt dann immer plötzlich: „Jetzt kann ich nicht mehr“, und schickt Dich weg. J43M: Ja, die hat halt immer den Krisendienst gerufen. Abhängig vom eigenen Anspruchsdenken und den finanziellen Mitteln der Familie besteht das Gefühl, teils die eigenen Bedürfnisse kommunizieren zu können, insbesondere wenn der Bitte um Geld für Anschaffungen nachgekommen wird. I: Wie war das denn, wenn Du etwas von ihr gekauft haben wolltest oder dass Du etwas machen darfst? J18W: Das war immer schwer. Ich habe wenig bekommen. Ich habe aber nicht oft gefragt. I: Wenn Du aber etwas von Deiner Mutter möchtest, ist es relativ leicht oder eher schwer, sie zu überzeugen? J39M: Manchmal. I: Wobei ist es denn schwerer? J39M: Bei Geld. I: Wenn Du etwas Teureres haben möchtest. J39M: Ja. So ab 150 wird es schon schwierig. Anders gestaltet sich die Interessendurchsetzung im Freund*innenkreis. Dort setzen sich die Jugendlichen im Wesentlichen durch, indem sie sich von anderen nichts sagen lassen und höchstens von besten Freund*innen Ratschläge in Erwägung ziehen. J18W: Also, ich achte jetzt nicht drauf, was ich habe. Oder ich kaufe mir jetzt genau das Gleiche wie die, das ist ja immer so, alle kaufen sich ja immer das Gleiche. Und ich finde immer, man muss nicht immer das Gleiche wie die anderen tragen. J43M: Nee, das ist ja deren Sache, was die machen [delinquentes Verhalten, a.d.V.]. Das ist ja deren Leben. I: Also das interessiert Dich auch nicht besonders. J43M: Ja.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Entscheidungen im Freund*innenkreis über gemeinsame Aktivitäten werden folglich eher getroffen, indem Schnittmengen durch ausbleibenden Widerspruch zustande kommen, als dass man gemeinsame Interessen entwickelt und sich auf die Bedürfnisse der anderen einlässt. J37M: Also wenn ich jetzt einen Kumpel anrufe und sage: „Lass mal das und das machen“, und wenn der sagt: „Ja, nee, habe ich keinen Bock drauf. Lass lieber das und das machen“, ja, dann gucken wir halt so. Dann sage ich ja nicht direkt so: „Ja, okay, dann machen wir das, was Du gesagt hast“, oder er sagt nicht: „Ja, okay, dann machen wir das, was Du gesagt hast.“ Dann gucken wir halt, so einen Kompromiss zu finden. Die Jugendlichen wissen, dass in der Schule die Lehrenden letzten Endes die Entscheidungen treffen und sie dagegen wenig ausrichten können. Wie das obige Beispiel von J18W bereits zeigte, kann dies auch instrumentalisiert werden. Es wird bewusst Ärger gemacht, um früher nach Hause zu dürfen. Ein anderer Jugendlicher berichtete ähnlich, dass er teils bewusst provoziert, um den Lehrenden ihre Grenzen aufzuzeigen. J39M: Da bin ich auch so ein Typ, auch wenn meine Lehrer mich aufregen, die versuchen das sogar mit Absicht, weil ich habe so eine schöne Art, richtig zu provozieren, indem ich höflich und nett bleibe. Und das treibt sie dann meist an. I: Was für Lehrer versuchen Dich denn zu provozieren oder warum? J39M: Ja, wenn man jetzt schon Scheiße gebaut hat: „Ey, J39, hör auf!“ Ich sage: „Ich habe doch jetzt nichts gemacht“, und so. Und dann so einfach auf eine höfliche Art. Das ist dann so, die Lehrer wollen das dann nicht hören. I: Aber machst Du ab und zu in der Schule noch Scheiße? Also nichts Schlimmes, aber im Unterricht stören und so. J39M: Ja, klar. I: Das stört die dann ja auch. J39M: Ja, gut, dann kriegt man auch einen Anschiss, aber ich meine das ist nicht so dramatisch. In der Schule kommt die bewusste Übernahme von Ämtern wie das der/des Klassen- oder Schulsprecher*in hinzu, die dazu beitragen können, das Verhältnis zu den Lehrenden zu verbessern beziehungsweise das eigene Standing; teils werden diese aber jedoch auch ohne weitere Motivation und Reflexion der Aufgaben und Verantwortung übernommen.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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I: Hast Du in der Schule mal Positionen oder Funktionen übernommen? J23M:  Ich war Schulsprecher. Das hat mit Klassensprecher natürlich angefangen, dann war ja diese Runde mit den Klassensprechern und dann war ich Schulsprecher. I: Und hat Dir das irgendwelche Vorteile gebracht? J23M: Nee, ich wollte das einfach aus Spaß machen (lacht), und halt jeder fand mich süß, weil ich so klein war und so einen Busch Locken hatte. Da fand mich jeder süß und hat mich gewählt. I: Aber hat das einen Grund gehabt, aus dem Du das alles mitgemacht hast? J23M: Nee, ich habe das einfach so gemacht. Das war so eine Phase, wo ich mir einfach gesagt habe, ich bin cool.

Sozial-emotionale Dimension Die Jugendlichen der Klasse 1 zeigen auf zwei der fünf Konstrukte der ­sozial-emotionalen Dimension der TSD Hinweise auf desintegrative Prozesse. Zusätzlich ist das Ergebnis für eines der Konstrukte recht gemischt. Der Vergleich mit den anderen Klassen (vgl. Abschn. 4.4) gibt weiteren Aufschluss über Unterschiede. Deutlich hervorzuheben sind die Konflikte in der Familie. Die Fragen nach oft stattfindenden ernsthaften Streits mit den Eltern, nach dem durch die Eltern gewährten Freiraum und nach Aufgaben im Haushalt zeigen eine Wahrscheinlichkeit von 82 % für die Antwortkategorien, die Desintegration indizieren. Des Weiteren wurde das Vertrauen in der Familie untersucht. Dieses umfasst zwei Aussagen, welche die verbrachte Zeit mit der Familie sowie die Tatsache, sich bei Problemen an die Familie zu wenden, messen. Klasse 1 zeigt dabei eine Wahrscheinlichkeit von 64 % für Desintegration. Defizitäre Tendenzen zeigen sich ebenfalls bei dem Konstrukt, das Geborgenheit in der Familie erfassen soll. Es wurde gefragt, ob sich die Jugendlichen akzeptiert und sehr wohl in der Familie fühlen und ob sie darüber hinaus Liebe und Zuneigung durch die Familie empfinden. Immerhin 38 % beträgt die Wahrscheinlichkeit für die ­Desintegrations-Antwortoptionen. Neben Fragen zur Familie ist die zweite große Rubrik in der sozial-emotionalen Dimension der Freund*innenkreis. Die beiden Konstrukte ­ erfassen Meinungsdiversität im Freund*innenkreis und das Vertrauen zu den Freund*innen. Beide Konstrukte zeigen mit 82 % (Meinungsdiversität im Freund*innenkreis) und 80 % (Vertrauen in die Freund*innen) hohe Wahrscheinlichkeiten für die Antwortoptionen, die Integration bedeuten.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Wohl nicht zuletzt aufgrund des hohen Anteils an Heimunterbringung bei den qualitativ Befragten überrascht es nicht, dass hier ebenfalls massive Konflikte in der Familie auftraten. Wie bereits erwähnt, beinhalten diese teils schwere Formen von häuslicher Gewalt gegen den Nachwuchs sowie den Unwillen der Eltern, weiter mit ihrem Kind unter einem Dach zu wohnen. J18W: Also, sie hat es mir so beigebracht. Also wenn jemand zu einem böse ist, dass man drauf schlagen soll. Ich habe es halt von meiner Mutter so abgeguckt früher, kann man sagen. Und ich habe ja immer gemerkt, wenn sie aggressiv ist, ihre Lösung war halt Zuschlagen. Und bei mir hat es dann halt so im Kopf, so Schlagen ist verboten, aber meine Mutter hat es mir so beigebracht, also tue ich es einfach. (…) Also, sie hat immer geschlagen, also wenn ich was gemacht habe oder einfach mal so, weil mir ein Glas runtergefallen ist, dann hat sie mich auch geschlagen. Sie ist nie weggegangen, die konnte das nicht. I: Was war denn das Schlimmste, was sie mal mit Dir gemacht hat? J18W: Meinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Da war dann ein Loch und das ja richtig geblutet. Ich wollte eigentlich ins Krankenhaus, aber die hat das nur gewaschen und ein Pflaster drauf getan und gesagt, dass ich ruhig sein soll. Ich habe dann geweint. I: Und ist so etwas öfters passiert? J18W: So stark nicht, aber so Sachen schon. I: Es wäre gut, wenn Du am Anfang erzählen könntest, warum Du jetzt hier wohnst und nicht bei Deinem Vater. J25M:  Ich bin hier im Heim, weil ich nicht mit der Stiefmutter, also der Freundin, Lebensgefährtin, von meinem Vater klar kam. Da gab es auch Stress und so und dann bin ich ins Heim gekommen. I: Und das war Deine Entscheidung? J25M: Ja, ich wollte nicht mehr. J37M: Weil ich und meine Mutter uns halt immer irgendwie in die Haare gekriegt haben, immer verschiedene Meinungsverschiedenheiten hatten. Und ja, dann führte halt irgendwann eins zum anderen und dann musste ich halt hier hinziehen. (…) Sie hat mich schon rausgeschmissen. Sie hat gesagt, dass ich ins Heim gehen soll. Es gibt sowohl Berichte von „zerrütteten“ Familienverhältnissen als auch von einschneidenden Verlusterfahrungen durch einen verstorbenen Elternteil. Der Kontakt mit Stiefeltern fiel hier zumindest grundsätzlich schlecht aus. Hinzu

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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kommt, dass eine gemeinsame Freizeitgestaltung mit den Eltern schon seit Jahren nicht mehr erfolgt und die Jugendlichen eher fehlende Aufmerksamkeit und Desinteresse spüren als Geborgenheit, Stolz oder Anerkennung. J8M: Mein leiblicher Vater ist für mich tot. I: Dass ihr auch keinen Kontakt habt? J8M: Will ich auch gar nicht. Ich würde mich erhängen gehen. Wenn ich bei dem wohnen würde, ich würde sagen Tschüss, dann ramme ich mir ein Messer ins Herz. Nein, bei dem wohnen möchte ich nicht. Jeden Morgen wenn er aufsteht, wenn er aufsteht, mein leiblicher Vater ein Bier, ist egal, wie müde der ist. Ein Bier. Bier leer, ein neues Bier. Und das bis abends. Und wenn er wieder aufsteht, Bier. I: Und hat sich Deine Mutter dafür interessiert, was Du machst, wenn Du draußen bist, oder mit wem Du zusammen bist? J18W: Eigentlich nie so richtig. I:  Hat die Dich denn manchmal angerufen, wo Du bist, um das zu kontrollieren? J18W: Eigentlich auch nicht. Nur wenn sie wollte, dass wir kommen, und sauer war. Dann gab es sowieso immer Ärger. I: Gab es denn auch Sachen, die Ihr in der Familie zusammen gemacht habt? J18W: Ja, manchmal Fernsehen gucken, sonst wenig. (…) I: Hat Dir Deine Mutter mal das Gefühl gegeben, dass sie stolz auf Dich ist und Dich gelobt? J18W: Eigentlich nie, die hat meist gemeckert über alles. Auch mit der Schule. Aber darum hat sie sich auch nicht richtig gekümmert. J23M: Ja, mein Stiefvater versucht mir eigentlich jeden Tag was zu sagen. Aber mein Stiefvater allgemein, also jetzt nicht böse gemeint gegenüber meinem Stiefvater, ich hasse meinen Stiefvater, weil er hat mich, als ich klein war, hat er mich im Leben nicht gut behandelt. Seine Söhne sind ja das Wichtigste, also ich meine die zwei Geschwister, die Stiefbrüder. Deswegen, ich nehme den Mann nicht mehr ernst. Weil, ich bin jetzt 17 und ich lebe mein Leben, was ich mache. Ich habe meine Arbeit, fast meine eigene Wohnung und ist mir eigentlich alles egal. I: Also hat der nur die anderen besser behandelt oder auch Dich richtig schlecht behandelt? J23M: Nein, genau die Sache, also er hat die anderen besser behandelt und mich schlecht behandelt. So, er hat viele Sachen vorgezogen, was nicht

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dazu gehört. Sagen wir mal so, ich habe jetzt eine Zigarette geraucht, er hat davon erfahren und erzählt dazu, ich habe gekifft und das stimmt nicht. So, er erzählt ein paar Lügen dazu, er zieht irgendwas hoch. I: Und dann macht der Dich schlecht bei Deiner Mutter. J23M: Ja, genau. Aber das war früher so, jetzt nicht mehr, weil ich kann jetzt Argumente geben, ich kann mehr reden. Früher habe ich mich das nicht getraut. I: Also bis zu welchem Alter konntest Du das nicht? J23M: Bis zum 16. Lebensjahr ungefähr. I: Hat der Dich auch irgendwann mal geschlagen? J23M: Ja, das hat er auch schon, aber mir war das einigermaßen egal, weil ich wurde eigentlich sowieso täglich von meinem Bruder, ich habe mit meinem Bruder Spaßkämpfe gemacht und es wurde normal für mich und Schläge haben mir nach einer Zeit … also klar, es tut weh, es tut immer weh, aber nach einer Zeit hat es nicht mehr so weh getan wie am Anfang. Nach einer Zeit merkst du, es tut nicht mehr so weh und dann wurde es irgendwann normal für mich. Und was heißt … die Schläge, das ist nicht normal so, aber ich meine es wurde normal, dass ich da drauf klar kam, wenn mich jemand geschlagen hat. Ich konnte mich darauf einschränken. Wenn mich jemand geschlagen hat, ich bin nicht heulend in mein Zimmer gerannt und habe mir nichts dabei, ich habe mir immer in meinem Kopf gedacht, also mit meinem Kopf gedacht in dem Moment, habe mir gedacht, was ich mache. Also entweder ich gehe aus der Tür raus oder ich gehe in mein Zimmer und mir egal. Und es war damals so, dass ich viel abgehauen bin. Ich bin aus der Tür rausgegangen und bin zwei Monate nicht nach Hause gegangen. Das war eine einmalige Sache und seit diesem Tag ist nie wieder was vorgefallen. Also, nicht mehr so und eigentlich alles gut. I:  Hast Du denn das Gefühl gehabt, dass Du zu Hause so etwas wie Geborgenheit bekommen hast und man wirklich an Dir interessiert war? J39M: Ich kann Ihnen das gar nicht sagen. Weil es gibt noch tausend andere Varianten und was alles passiert ist. Ich kann es gar nicht einschätzen, das ist das Problem. I: Aber das meiste, was Du erlebt hast, ist aus Deiner Sicht eher schlecht gelaufen? J39M: Ja, schon. I: Ist es eher so ein generelles Problem, das die haben und das bei den Geschwistern genauso war?

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J39M: Ja, das war immer so, auch bei den anderen. Da kommen immer so Fragen auf. Nach vorne tun die immer so und so, aber das ist dann nachher immer so und so. J43M: Er hat mich auch oft früher beleidigt. Da bin ich halt auch ausgerastet. An einem Tag hat meine Mutter mich auch eingesperrt. Da habe ich halt die Türen eingetreten, um raus zu kommen. Und dann habe ich auch Vasen umgeschmissen und so. I: Warum hat sie Dich eingesperrt? J43M: Ja, weil ich da halt auch sehr wütend und aggressiv war. Und dann ist es halt übergekocht. Auch in den qualitativen Interviews wurde das Vertrauen in die Familie vertieft. Hier wirken am nachhaltigsten die bereits oben zitierten Erfahrungen von häuslicher Gewalt beziehungsweise des Rauswurfs aus dem Elternhaus, die gepaart mit den Vorgeschichten essenzielle Vertrauensbrüche darstellen. Gleiches gilt, wenn die Jugendlichen selbst entschieden haben, sich der Situation im elterlichen Haushalt durch Heimunterbringung zu entziehen, durch die ein vollständiger Vertrauensverlust dokumentiert wird. Einen interessanten Gegenpol zu diesen massiven schlechten Erfahrungen bieten vereinzelte Angaben dazu, bei der Freizeitgestaltung – nicht aufgrund von Desinteresse, sondern von bewussten Entscheidungen – Freiräume zu erhalten. I: Kontrolliert sie denn auch ziemlich stark, was Du machst, mit wem Du Dich triffst und so? J43M: Nee. I: Oder ist ihr das eher egal? J43M: Eher egal. I: Weil sie es nicht interessiert oder weil sie Dir vertraut? J43M: Weil sie mir die Freiheit geben möchte. Die qualitativen Interviews deuten im Freund*innenkreis in diesem Themenfeld ebenfalls vor allem in eine positive Richtung. Gerade die besten Freund*innen gelten als (potenzielle) Helfer*innen, Gesprächspartner*innen in Lebenskrisen und würden jemanden nicht verraten. I: Wonach entscheidest Du denn, wer ein Freund werden kann und wer nicht? J25M: Wie er sich verhält. Die sollen nett sein und man hilft sich.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

I: Wobei hilft man sich denn da? J25M: Halt wenn man Probleme hat, dass man spricht. I: Gibt es da Themen, über die Du nicht mit denen sprechen würdest, zum Beispiel über die Familie? J25M: Ja, habe ich so einen engeren Freundeskreis, wir reden über alles. J37M: Aber so meine Freunde von damals haben halt auch gesagt: „Das ist kein Ding.“ Die haben mir auch immer Hilfe angeboten und so und haben gesagt: „Kannst auch ruhig bei mir pennen, wenn was ist.“ (…) I: Gibt es das denn in Deinem erweiterten Freundeskreis, dass Leute teilweise Freunde untereinander verraten bei der Polizei, um selber keinen Ärger zu bekommen? J37M: Klar, gehört schon, aber so … nee, eigentlich nicht. Das macht eigentlich keiner. Gemischt waren die Aussagen dahin gehend, ob Konflikte in der Familie ein Tabuthema sind oder gerade am besten mit Freund*innen thematisiert werden können, die evtl. ähnliche Erfahrungen haben. I: Und wissen diese besten Freunde von den Problemen, die Du in der Familie hattest? J18W: Ja, also nicht alle, aber schon die meisten so. Aber den anderen erzähle ich das nicht so gerne, was ganz genau passiert ist. Ich sage halt immer, viel Stress mit meiner Mutter. I: Und haben die teilweise auch Stress zu Hause? J18W: Ja, auch. Also ein paar haben auch Stress natürlich, gibt es da auch, aber nicht so dolle wie bei mir. I:  Aber Du hast auch nicht das Gefühl, dass die das anderen weitererzählen könnten und Dich dann schlecht machen, sondern eher weil Du keinen Sinn darin siehst, denen das zu erzählen? J37M: Ja, es geht ja auch nicht jeden was an. I: Und bei Dir ist das dann wahrscheinlich auch mit der Familie kein Tabu, dass Du darüber mit Freunden gar nicht sprechen würdest. J37M: Ja, wenn du ein, zwei beste Freunde hast, die auch selbst Stress zuhause haben und dir dann auch ihre Probleme erzählen, da macht man das schon. I: Die verstehen es dann auch besser. J37M: Ja, klar. Deswegen kannst du denen das auch erzählen. Und du brauchst auch keinen Schiss haben, dass die dich dann auslachen oder es irgendjemanden erzählen oder so.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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Neben den besten Freund*innen gibt es entsprechend auch solche, denen man weniger vertraut, aber teils auch solche, von denen man sich ausgenutzt und in Delikte hineingezogen fühlt. J39M: Ich war auch oft mit den falschen Leuten zusammen. I: Inwiefern? J39M: Die haben in dem Sinne mich dazu überredet mitzumachen. Und dann war ich immer der Gearschte, weil sie sich dann immer da rausgezogen haben. Und dann bin ich immer wieder darauf reingefallen. I: Was waren das denn dann für Situationen? Solltest Du denen dann helfen, wenn die Ärger hatten? J39M: Ja, zum Beispiel. Oder die haben selbst Ärger angefangen und mich dann vorgeschickt. Oder gesagt, dass mich oder meine Familie jemand beleidigt hat, damit ich da hingehe. Aber eigentlich hatten die nur mit denen Ärger. I: Weil die auch wussten, dass Du den Kampfsport machst und dadurch besser kämpfen kannst? J39M: Ja, weil ich lasse mir, also zu diesem Zeitpunkt, wenn man mir auf den Hinterkopf haut und das dann auch nicht zugibt, dann lasse ich nicht mehr mit mir reden. I: Also würdest Du dann auch sagen, dass die Dich teilweise ausgenutzt haben? J39M: Ja. Zusammenfassend zeigt auch die sozial-emotionale Dimension deutliche Anzeichen desintegrativer Prozesse, welche einer Integration entgegenstehen. Als mangelhaft empfundenes Vertrauen gefährdet die Herstellung emotionaler Beziehungen, wodurch ein sinnstiftendes Moment verloren geht. Die Verbindung aus reduziertem oder fehlendem Vertrauen und der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Interessen unterminieren die Chancen zur Selbstverwirklichung. Hinzu kommen die konfliktgeprägte Situation in der Familie und ein gedämpftes Gefühl von Geborgenheit, sodass die Jugendlichen Schwierigkeiten haben, sozial-emotionalen Rückhalt zu finden. An wen soll man sich wenden, wenn nicht an Freund*innen, Eltern und Geschwister oder die Lehrer*innen? Zumindest die Freund*innen erweisen sich in Klasse 1 als Vertrauenspersonen und geben Hoffnung. Letztendlich bleibt jedoch die Ausbildung einer stabilen Identität gefährdet, da die emotionale Anerkennung durch relevante Bezugspersonen in der prägenden Phase der Adoleszenz defizitär ist.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

4.3.3.3 Kontrollbalance – Imbalance der Kontrolle Wenn es darum geht, anderen Personen vorschreiben zu wollen, was diese zu tun haben, haben die Jugendlichen der Klasse 1 eine Wahrscheinlichkeit von 78 % für die Kontrollbalance signalisierende Kategorie. Das heißt ebenfalls, dass mehr als ein Fünftel der Wahrscheinlichkeit auf die andere Kategorie entfällt, die Imbalance der Kontrolle repräsentiert, in diesem Fall ein Kontrollüberschuss beziehungsweise den Wunsch nach mehr Kontrolle. Bezüglich der Kontrolle der eigenen Person durch andere zeigt sich eine Wahrscheinlichkeit von 94 %, was bedeutet, dass die Kontrolle durch andere deutlich abgelehnt wird.

Moralische Aspekte Im Rahmen der CBT werden moralische Aspekte genannt, welche die Anwendung von Gewalt begünstigen oder verhindern können. Die Studie sah dafür zwei Konstrukte vor, die nach verschiedenen Gründen für die Ablehnung von physischer und psychischer Gewalt fragten. Eines der Konstrukte bezieht sich auf Begründungen, die auf einer Übernahme der Opfer-Perspektive basieren und deshalb bei den Befragten zur Ablehnung von physischer und psychischer Gewalt führen. Wir haben das intrinsische Moral genannt, da die Erklärung auf einer inneren Überzeugung der potenziell betroffenen Person basiert. Im Gegensatz dazu beinhaltet das zweite Konstrukt Items, welche die Ablehnung von Gewalt an situative Gegebenheiten oder andere Personen knüpfen. Damit ist gemeint, dass zum Beispiel  psychische Gewalt (Mobbing) nur dann abgelehnt wird, wenn die Möglichkeiten dazu nicht günstig sind. Aufgrund der Verlagerung der Begründung von eigenen Überzeugungen hin zu Rahmenbedingungen und anderen Personen haben wir dieses Konstrukt extrinsische Moral genannt. Die Schüler*innen der Klasse 1 zeigen für die intrinsische Moral eine Wahrscheinlichkeit von 84 % für die Antwortkategorie, die ein ausgeglichenes Kontrollverhältnis repräsentieren. Für das zweite Konstrukt liegt die Wahrscheinlichkeit auf der gleichen Kategorie bei 56 %. Das zeigt, dass ein erheblicher Teil der Jugendlichen in dieser Gruppe (Wahrscheinlichkeit für die Gegenkategorie 44 %) ihre Entscheidung über Schlägereien und Mobbing an die Freund*innen oder situative Möglichkeiten knüpft und diese Formen abweichenden Verhaltens nicht generell ablehnt. Auch in den qualitativen Interviews zeigen sich solche Aspekte. Empathie und Mitleid mit den Opfern sind ein Beispiel. I: Und Du hast dann sicherlich auch öfters Schlägereien gehabt. J23M: Ja, das auch schon, aber ich habe Grenzen, weil ich kann nicht Leute schlagen, wenn die vor mir stehen und mich so mit einem traurigen

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Blick angucken. Das geht nicht, ich kann das nicht. Manchmal muss es sein, klar, dann kann ich nicht einfach sagen, mach ich nicht. Manchmal ist das halt ein großer Grund, wo man das halt machen muss, aber manchmal kannst du sagen nein, kann ich nicht tun. I: Also wer guckt Dich denn dann traurig an? J23M: Halt die Person, die ich dann schlagen will oder wenn es halt zu einer Situation kommt, dass wir uns beide gegenseitig schlagen, ist auch schon vorgekommen. Also es gibt viele Situationen, wie man sich schlägt. Es gibt halt die Situation, wo ich Scheiße baue, es gibt die Situation, wo er Scheiße baut, oder Situationen, wo beide Scheiße bauen. Ja, und das ist halt das Problem. Dies kann sich daneben jedoch auch an einem Umdenken orientieren beziehungsweise der Frage, wie man mit eigenen Kindern umgehen würde oder jüngeren Geschwistern, für die man Vorbild sein möchte oder sich einfach anders verhält, als man es als Kind selbst durch die Eltern erfahren hat. J39M: Also ich hatte bislang auch schon drei kleine Geschwister auf dem Arm, zwischenzeitlich auch noch von Besuch oder so. Ich habe kein Problem mit kleinen Kindern oder so. Ich unterhalte mich mit denen, ich spiele mit denen. Ich komme mit Kindern gut klar. Bei mir wird das eher so Richtung 30 sein, weil wenn ich Kinder haben möchte, dann möchte ich haben, dass ich dann genug Geld habe, um die zu finanzieren, und dass sie auch ein vernünftiges Zuhause haben. I: Bist Du dann jemand, der sagen würde, weil Du das selbst erlebt hast und schlecht fandest, dass Du Deine Kinder nie schlagen würdest? J39M: Ich würde sie nie schlagen. Ich könnte es auch nicht. Ich kann meinem Bruder nicht eine auf die Finger hauen, wenn er irgendwo dran geht. Ich kann es nicht. Weil ich es dann einfach weiß, wenn der dann anfängt zu weinen, dann spiegelt sich das dann wider, was damals passiert ist. Und seitdem kann ich das nicht. Ich könnte es nicht.

Impulsivität Als weiteres Konstrukt wurde Impulsivität gemessen, da sie, ähnlich wie moralische Einstellungen, die Entscheidung für oder gegen abweichendes Verhalten beeinflusst. Dazu wurden drei Items verwendet, die danach fragten, ob jemand gern Streit sucht, ob jemand ausrastet, wenn er oder sie provoziert wird oder ob sich die befragte Person generell wie ein Pulverfass fühlt. Klasse 1 zeigt dabei für die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten von 52 % zu 48 % ein

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

a­ usgeglichenes Verhältnis. Das zeigt an, dass offenbar viele der Jugendlichen in dieser Klasse tatsächlich als sehr impulsiv zu bezeichnen sind, was abweichendes Verhalten im Falle einer Provokation begünstigen kann. Auch im qualitativen Datenmaterial zeigte sich eine klare Tendenz in Richtung hoher Impulsivität in Stresssituationen. Provokationen gegen die Kernfamilie, enge Freund*innen und die eigene Person werden teils sehr ernst genommen und führen zu quasi ritualisierten Eskalationsspiralen. J8W: Zum Beispiel einer macht jetzt die ganze Zeit so und das nervt mich und ich sage: „Hör auf!“, und der sagt dann: „Will ich nicht. Ich ärgere Dich jetzt“, und dann werde ich natürlich aggressiv. Aber wenn ich heule, werde ich noch mehr aggressiv. Dann kann mich keiner mehr kontrollieren. Dann kann mich auch keiner mehr festhalten, dann will ich nur noch drauf hauen. J18W: Also eine Freundin von mir hat geweint wegen der Person und das hat mir nicht gefallen, weil sie wie eine kleine Schwester für mich ist, und dann bin ich da hingegangen und habe der eine Ansage gemacht und die hat halt frech geantwortet und dann hatte ich meine Aggressionen nicht mehr unter Kontrolle. (…) Das letzte mit 15. Von zwölf bis 15. Mit zwölf war auch die Härteste, da habe ich auch eine Anzeige bekommen. I: Und was war da? J18W:  Schwere Körperverletzung. Eine Gehirnerschütterung, Kopfprellung und Bluterguss. J23M: Damals war das extrem so, wenn jemand gesagt hat: „Ich ficke Deine Mutter!“, so als Beispiel so, ich habe das extrem krank genommen. Durch das teilweise höhere Alter dieser Befragten zeigt sich in diesem Kontext aber auch ein Veränderungs- und Reifungsprozess, da die Impulsivität weniger fest verankert zu sein scheint und Lernprozesse stattfinden. I: Und wie hast Du das dann in den zwei Jahren dazwischen geschafft, dass nichts passiert ist? J18W: Ich habe es einfach unterdrückt, ich bin einfach weggegangen. J23M:  Aber wenn heute jemand zu mir kommt, ich habe Verantwortung, ich habe das, ich habe das, wenn jetzt jemand sagt: „Ich ficke Deine Mutter!“, kann ich nicht einfach auf den zugehen und dem einen Schlag geben. Das war jetzt vor fünf Monaten noch so, aber ich habe aus Fehlern gelernt.

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Doch nicht bei allen Jugendlichen fand der Wandel in Eigenregie statt; teils wurde externe Hilfe in Anspruch genommen. J39M: So zwischenzeitlich bin ich auch freiwillig zum Psychologen gegangen, danach. Zwei Jahre waren es und er hat mich auch gelehrt, dass ich irgendwas Sportliches machen muss und wo ich dann lerne, wie ich damit umgehen kann. I: Aber diese Kampfsportsachen hast Du doch schon vorher gemacht, oder? J39M: Ja, habe ich angefangen. I: Aber da hast Du dann angefangen, auch die Philosophie dahinter zu verinnerlichen. J39M: Also das was ich erst auch gemacht habe, war Karate. Und dann kam ja Judo. Und Judo ist ja dadurch entstanden, dass ich beim Psychologen war. Und da habe ich dann diese Ausdauer und dieses erst gelernt. J43M: Also ich der Schule hat ich halt auch öfters Aggressionen, weil ich war ja auch früher schon öfters im Heim und auch in der Psychiatrie. Und da reichte dann eigentlich schon ein einziger Satz über meine Mutter oder allgemein über meine Familie. Dann habe ich auch schon früher zugehauen. (…) Also es hatte auch was mit meinem ADHS zu tun, dass ich so aggressiv bin. I: Also das ist auch getestet und nachgewiesen worden? J43M: Ja. I: Bekommst Du dafür Medikamente? J43M: Bis vor den Sommerferien habe ich noch Tabletten bekommen. Wie J18W weiter oben bereits andeutet, verschwinden die Aggressionen jedoch nicht zwangsläufig komplett, sondern es wird gelernt, mit diesen anders umzugehen. Grundsätzlich ist mit den folgenden Zitaten noch einmal deutlich darauf hinzuweisen, dass Jugendliche in Klasse 1 nicht automatisch eine hohe Affinität zu Gewalt aufweisen müssen, sondern auch andere Coping-Strategien besitzen können. Deren Gemeinsamkeit ist weniger eine hohe Gewaltbereitschaft, sondern es sind die schwierigen Lebensbedingungen. I: Aber wenn Du keine Kämpfe hast, aber manchmal Aggressionen, wie schaffst Du es dann, damit umzugehen? J25M: Ich ergreife die Flucht, weil ich bin nicht so der Typ zum Schlagen. I:  Also wenn Du das merkst, gehst Du immer nur weg, damit nichts passiert.

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J25M: Manchmal höre ich auch Musik und lenke mich ab. J37M: Nee, eher nicht, die machen auch schon, sage ich mal, so die schlagen sich auch ab und zu mit irgendwelchen Leuten oder so. Aber ich halte mich da immer raus, keine Ahnung. (…) Ja, klar finde ich das nicht in Ordnung, wenn jetzt jemand meine Familie beleidigt oder so, aber keine Ahnung, wenn mich jetzt einer Hurensohn nennt und ich haue dem eine auf die Schnauze, dann hat er mich trotzdem Hurensohn genannt. Dann habe ich da auch nicht viel von, außer dass er mich vielleicht anzeigt.

Selbstkontrolle Ein zentrales Konstrukt im Rahmen der CBT ist die Selbstkontrolle. Dabei ist Selbstkontrolle so zu verstehen, dass es eine Form der Kontrolle gibt, die vom Selbst (Kontrolle durch die eigene Person) ausgeht, und eine Form, bei der das Selbst kontrolliert wird (Kontrolle der eigenen Person durch andere). Im Rahmen der Befragung haben wir daher Selbstkontrolle als intern und extern gemessen. Interne Selbstkontrolle beschreibt dabei die Annahme, dass die Kontrolle über das eigene Leben primär in der Verantwortung des Selbst liegt, wohingegen Fremdkontrolle eine Fremdbestimmtheit des Lebens ausdrückt. Die Schüler*innen der Klasse 1 zeigen eine Wahrscheinlichkeit von 85 % für die Antwortkategorie, die einer Eigenverantwortlichkeit zustimmt. Immerhin 16 % Wahrscheinlichkeit entfallen damit auf Zustimmungen für eine Ansicht, die das Gegenteil ausdrückt. Das Ergebnis für die Fremdkontrolle ist sehr eindeutig. Mit 76 % ist die Wahrscheinlichkeit für die Antwortkategorie, die einer Fremdbestimmtheit des Lebens zustimmt, deutlich höher als die Ablehnung dieser Items. Somit haben viele der Jugendlichen in Klasse 1 das Gefühl, wenig Kontrolle über das eigene Leben zu haben und sie machen häufig die Erfahrung, dass andere Menschen über ihr Leben bestimmen. In den qualitativen Daten der Klasse 1 zeigt sich bei der Selbstkontrolle insbesondere die eigene Entscheidung zur Heimunterbringung als ein zentrales Element. J25M:  Ich bin hier im Heim, weil ich nicht mit der Stiefmutter, also der Freundin, Lebensgefährtin von meinem Vater klar kam. Da gab es auch Stress und so und dann bin ich ins Heim gekommen. I: Und das war Deine Entscheidung? J25M: Ja, ich wollte nicht mehr. Ergänzt wird dies durch ein positives Erleben dieser Entscheidung im Heim, die den Jugendlichen zeigt, dass sie dazu in der Lage sind, ihr Leben in die Hand zu nehmen und in positive Bahnen zu leiten.

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I: Und wie läuft das hier in der Einrichtung? Kommst Du hier auch mit allen ganz gut zurecht? J37M: Ja, schon. Also keine Ahnung, ich habe so viel mit denen nicht zu tun, ich habe halt eher so mein Ding. Aber so mit ein paar von hier, aus meiner Gruppe, mit denen verstehe ich mich halt schon sehr gut und so. Interessant ist bei diesem Jugendlichen (J37M) zudem der Zusatz, dass seine Mutter in der Anfangsphase im Heim probierte, weiterhin Entscheidungen für ihn zu treffen, wogegen er sich dann wehrte und sich schließlich durchsetzen konnte. I: Und mit Deiner Mutter hast Du da das Gefühl, dass die versucht, zu bestimmen oder zu sagen, was Du machen sollst? J37M:  Ja, gut, das hat sie in der Anfangszeit, als ich nicht mehr zuhause gewohnt habe, hat sie das schon irgendwie versucht irgendwie, sage ich mal, also da hat sie auch hier angerufen und wenn ich gefragt habe, ob ich mal bis eins raus darf oder so, weil ich mit Kumpels halt feiern gehen wollte. Dann hat sie hier angerufen und gesagt: „Ja, ich will nicht, dass mein Sohn so lange draußen rumläuft und so.“ Ja, und das hat sie halt bei voll vielen Dingen schon gemacht und irgendwann habe ich dann zu ihr gesagt: „Ja, ganz ehrlich. Du hast mich damals rausgeschmissen und keine Ahnung, wenn Du jetzt irgendwie mich weiter kontrollieren willst oder so, dann kannst Du das machen, wenn ich wieder zuhause wohnen würde, aber nicht, wenn ich nicht zuhause wohne.“ Demgegenüber steht bei der Selbstbestimmung zudem die Möglichkeit über die Rückkehr ins Elternhaus, der die Jugendlichen mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen und dies höchstens schrittweise probieren würden. I: Oder wäre es nicht eine Option zu sagen, Du gehst einfach zu Deiner Mutter zurück? J18W: Also gibt es nicht. Ich darf eigentlich nicht mehr, aber die überlegen jetzt im Moment, ob das vielleicht doch geht. Weil von meiner Mutter aus, die meinte auch so, sie ist noch nicht sicher, ob sie es kann oder schafft, deswegen. I: Aber würdest Du das gerne machen oder bist Du Dir da auch nicht sicher? J18W: Ich bin mir auch noch nicht sicher so. Ich würde erst Probewohnen so gerne machen, so für einen Monat und gucken, ob das dann funktioniert. Sonst, wenn es nicht funktioniert, dann wieder hier, dann bleibe ich hier.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Entsprechend gehen die Berichte von externem Kontrollerleben vor allem in Richtung negativer Erlebnisse mit den Eltern. J18W: Es gab halt abends Stress und meine Mutter ist dann halt ausgerastet und hat meine Schwester geschlagen. Meine Schwester hatte eine Platzwunde. Dann habe ich sie genommen und dann sind wir zur Polizei gegangen. Und die Polizei hat uns dann erst in ein anderes Heim geschickt und dann bin ich hier hingekommen und meine Schwester zu ihrem Vater. Aber nicht jede/jeder Jugendliche mit solchen Erfahrungen geht ins Heim. Einer hat beispielsweise sehr negative Erfahrungen mit seinem Stiefvater gemacht (externe Kontrolle), gegen die er sich mit zunehmendem Alter jedoch zur Wehr setzte, sodass neben einem Umzug ins Heim andere gewaltlose Alternativen der Abwendung von den Eltern bestehen. J23M: Ich hasse meinen Stiefvater, weil er hat mich, als ich klein war, hat er mich im Leben nicht gut behandelt. Seine Söhne sind ja das Wichtigste, also ich meine die zwei Geschwister, die Stiefbrüder. Deswegen, ich nehme den Mann nicht mehr ernst. Weil ich bin jetzt 17 und ich lebe mein Leben, was ich mache. Ich habe meine Arbeit, fast meine eigene Wohnung und ist mir eigentlich alles egal. (…) I: Also bis zu welchem Alter konntest Du das nicht? J23M: Bis zum 16. Lebensjahr ungefähr. I: Hat der Dich auch irgendwann mal geschlagen? J23M: Ja, das hat er auch schon, aber mir war das einigermaßen egal, weil ich wurde eigentlich sowieso täglich von meinem Bruder, ich habe mit meinem Bruder Spaßkämpfe gemacht und es wurde normal für mich und Schläge haben mir nach einer Zeit … also klar, es tut weh, es tut immer weh, aber nach einer Zeit hat es nicht mehr so weh getan wie am Anfang.

Sanktionen Eine weitere Messung sah vor, das Kontrollempfinden in Form von Sanktionen durch die Eltern als Reaktion auf eine vorangegangene Schlägerei zu erfassen. Dafür wurde die Häufigkeit von Verboten gemessen. Dazu wurden verschiedene Arten von Sanktionen erfragt, mit denen die Jugendlichen konfrontiert waren, zum Beispiel ein Handy-, Fernseh- oder Ausgehverbot (vgl. Anhang Tab. 8.3).

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Die Jugendlichen in Klasse 1 zeigen eine Wahrscheinlichkeit von 75 % für die Kategorie, die ein ausgeglichenes Kontrollerlebnis repräsentiert. Diese Kategorie steht für eine selten oder nie stattfindende Sanktionierung. Entsprechend entfallen 25 % Wahrscheinlichkeit auf die Antwortkategorie, die mehr Kontrolle durch die Eltern in Form häufiger stattfindender Sanktionierung nahelegen. Abschließend wurde das Verhältnis von erfahrener zu ausgeübter Kontrolle (Kontrollverhältnis) für vier Lebensbereiche (Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen sowie Mitschüler*innen) gemessen. Dabei ging es um die Wahrnehmung der Jugendlichen und wie sie die auf sie ausgeübte Kontrolle durch die genannten Personengruppen empfinden und wie sie demgegenüber ihr eigenes Potenzial, Kontrolle über diese Personen auszuüben, einschätzen. Klasse 1 zeigt bei zwei von vier Konstrukten deutliche Hinweise auf Imbalancen der Kontrolle. In den Fällen der Eltern (58 %) und Lehrer*innen (70 %) sind die Wahrscheinlichkeiten deutlich zugunsten der Kategorie verschoben, die eine Imbalance der Kontrolle anzeigt. Für die Personengruppen der Freund*innen und Mitschüler*innen zeigen sich ausgeglichene Wahrscheinlichkeiten für Kontrollbalance und -imbalance. Auch im Bereich der Kontrollerfahrungen spielen in den qualitativen Interviews häusliche Gewalt und Heimunterbringung, egal ob selbst gewählt oder durch Rauswurf, eine zentrale Rolle. Grundsätzlich wirkt die Familie bei diesen Befragten wie ein teils anomischer und oft aggressiver Lebensraum. Neben den beiden genannten Extremformen der Kontrolle kommen zahlreiche Beispiele von anderen Sanktionen durch die Eltern hinzu. I: Also würdest Du sagen, dass Du so aufgewachsen bist, dass Du Gewalt als normale Reaktion in bestimmten Situationen angesehen hast? J39M: Ja, das ist wohl schon so. Das war auch immer sehr streng. Ich habe auch früher oft Schläge bekommen und das hat man sich dann auch angeeignet. I: Vielleicht kannst Du das heute nicht mehr richtig sagen, aber hast Du das damals als normal und gerechtfertigt erachtet, weil es ja von den Eltern kam, oder fandest Du das immer falsch? J39M: Nein, das dachte ich nie. Das fand ich nie okay, finde ich heute auch noch nicht okay. Nee, diese Schuld habe ich aber auch schon bei mir gesucht, weil ich dachte, das kann ja nicht sein. Ein Gegengewicht dazu sahen die Jugendlichen in Klasse 1 vor allem darin, sich selbst für eine Heimunterbringung zu entscheiden, Sanktionen als belanglos

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

abzutun, um dadurch das Selbstbild zu stärken beziehungsweise diese – gerade bei Willkür – nicht an sich herankommen zu lassen, oder sich mit zunehmendem Alter verstärkt aus dem Familienleben zurückzuziehen, mehr Freizeit mit den Freund*innen zu verbringen oder schon ein selbständiges Leben zu planen. Als eine positive Erfahrung stellen diese Jugendlichen es allerdings auch heraus, wenn die Eltern sich nicht in übertriebener Weise für ihr Freizeitverhalten und pünktliches Nachhause-Kommen interessieren, da dies eine elterliche Aufgabe sei. Das kann sogar als Kontrollüberschuss der Jugendlichen empfunden werden, wenn dem ein Aushandlungsprozess vorhergeht. Zumindest stellt dies einen Bereich dar, in dem diese sich nicht massiv unterdrückt fühlen. J23M: Nein, genervt hat mich das nie, weil es ist verständlich, dass meine Mutter so was fragt. I: Also das fandest Du eher gut, dass sie das gemacht hat. J23M: Ja. Aber das war schon stark. I: Hat die Dich dann auch immer wieder angerufen, um zu fragen, wo Du bist und was Du gerade machst? J23M: Ja, klar. Sie hat mich nicht angerufen, wenn ich draußen war so, aber die hat am Abend, wenn ich nach Hause so, eine Stunde vorher hat die mich angerufen: „J23, Du musst in einer Stunde zu Hause sein“; so als Vorwarnung. I: Und wenn er streng war, hat er auch immer wissen wollen, wo Du bist oder mit wem Du zusammen bist? J25M: Ja, wo ich bin, ja. I: Und hat er das auch irgendwie kontrolliert, dass er Dich zum Beispiel angerufen hat? J25M: Ich sollte immer anrufen, wenn ich weggehe. I: Das war aber nie so, dass es Dich genervt hätte? J25M: Nee. Das ging ja um mich.

Ausgeübte und erfahrene Kontrolle Anders als im Bereich der 3. Dimension der TSD zeigen sich bezüglich der Kontrolle im Freund*innenkreis interessanterweise mehr Probleme. Zum einen entsteht teilweise der Eindruck von einem gegenseitigen Wettbewerb. I: Gibt es das denn bei Euch oder hast Du das mitbekommen, dass sich Leute über die Klamotten oder Schuhe von anderen lustig machen? J37M: Ja, das war schon früher, als ich noch jünger war, da war das in meinem Freundeskreis beziehungsweise Klasse so. Also wenn jetzt jemand keine

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

83

Nike-Schuhe hatte oder so oder nur die billigen von Deichmann, sage ich mal, dann wurde halt schon so ausgelacht und so, aber … ausgelacht eher nicht. Da wurde schon: „Mit was für Schuhen läufst Du rum?“ Aber so irgendwie ein Kollege von mir, der kam letztens mit Schuhen von Deichmann für 20 EUR und die sahen halt komplett scheiße aus. Da habe ich zu ihm gesagt: „Digga, was sind denn das für Schuhe? Kauf Dir doch mal vernünftige! Dann rauchst Du nur zwei, drei Schachteln Kippen im Monat weniger und kaufst Dir dafür ein Paar ordentliche Schuhe.“ I: Aber unter Kindern und jüngeren Jugendlichen ist es schon so, dass man da ziemlich stark drauf achtet. J37M: Ja. I: Und man hat dann irgendwie Angst, sich bestimmte Sachen zu kaufen, weil man weiß, dass man damit der Depp wird. J37M: Ja. Zum anderen deuten verschiedene Aussagen in die Richtung, dass die Kommunikation verschiedene Schwächen hat: Kritik erfolgt teils wenig konstruktiv beziehungsweise man hört wenig aufeinander und man sieht sich vor allem als für sich selbst verantwortlich an, was die oben erwähnte Geborgenheit im Freund*innenkreis konterkariert. J18W: Also ich sage das denen, aber die können halt entscheiden, ob die das tun oder nicht. So und dann denke ich mir meinen Teil. (…) I: Und gibt es das bei Euch unter Freunden, dass man teilweise versucht, sich gegenseitig zu verändern oder darauf hinzuweisen, wenn einer was falsch macht? J18W: Nein, so was gibt es nicht. Also die versuchen es schon mal, aber ich bleibe so, wie ich bin. J23M: Es ist jedem selbst überlassen, was er dann mitmacht. Jeder ist jedem selber überlassen. Keiner hört auf keinen. I: Aber Du sagst denen auch nicht, dass Du nicht willst, dass die das machen, und versuchst, die zu überreden, dass die damit aufhören? J43M: Nee, das ist ja deren Sache, was die machen. Das ist ja deren Leben. I: Also, das interessiert Dich auch nicht besonders. J43M: Ja. Extremere Beispiele für solchen Eigensinn sind Verrat bei der Polizei oder sonstiger Verrat, der eigentlich als tabu unter Freund*innen gilt, aber teils aus Eigennutz erfolgt. Wenn Jugendliche das in ihrem Freund*innenkreis antizipieren

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

oder sogar erleben, führt das dazu, dass man untereinander permanent überlegt, was man Freund*innen anvertrauen kann, wie man sich vor diesen geben kann und welche Schwächen man preisgeben kann. I: Hat Dich von Deinen Freunden schon mal jemand verraten? J23M: Ja. Jetzt nicht so extrem, aber ich wurde auch schon verraten. Halt auch bei der Polizei und so was. Ich weiß auch welche Personen und ich habe auch diese Namen im Kopf, aber … I: Hast Du vor, Dich irgendwann einmal bei denen dafür zu rächen? J23M: Nee, nee. Es ist einfach so, er hat mich verraten, vielleicht chille ich noch mit dem an bestimmten Anlässen, ich spreche ihn nicht darauf an, werde ich auch nicht machen, ich gehe mit ihm raus, aber es wird halt einfach nicht wie vorher. Ich werde ihn nicht mehr anschreiben und sagen: „Komm, wir gehen jetzt da und da hin, nur wir zwei!“, das werde ich nicht mehr machen. I: Weißt Du, warum die das gemacht haben? J23M:  Also entweder er will sich beschützen oder er hasst mich oder hat keinen Bock auf mich. I: Aber waren die an Sachen beteiligt, wo sie dann evtl. erwischt wurden? J23M: Ja, sie waren einigermaßen beteiligt und einigermaßen nicht. Also sagen wir mal so, du machst Scheiße und du musst halt dazu stehen, und das waren halt diese Jungs, die nicht dazu standen. Deswegen bin ich ja auf diesem Modus, wo ich denke, scheiß drauf, dann haben die verkackt. Bezüglich der Lehrenden wiederholen sich im Kontext der Kontrollerfahrungen ähnliche Aspekte, wie sie bereits zuvor in anderem Zusammenhang genannt wurden. So sind sich die Jugendlichen darüber bewusst, dass Lehrer*innen durch die Notenvergabe und Entscheidungen über die Schullaufbahn sowie Versetzungen in andere Schul(form)en, die allesamt enorme Auswirkungen auf die späteren Chancen im Leben haben, ein immenses Kontrollpotenzial besitzen. Dem können die Jugendlichen nichts Vergleichbares entgegenhalten. Allerdings ist ihnen bewusst, dass sie selbst einen Beitrag dazu leisten können, wie gut das Verhältnis zu den Lehrenden ist, und dass entsprechende Bemühungen sich auf ihre schulischen Resultate auswirken können. Zudem können sie neben den langfristigen Effekten ihres Verhaltens kurzfristige Einflüsse sehen. Einerseits können sie Positionen in der Schule übernehmen, um ihr Verhältnis zu Lehrenden zu verbessern, andererseits können sie durch Provokationen aus dem Unterricht entlassen werden oder sich durch Schulwechsel der Strenge und den Anforderungen

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

85

an vorherigen Schulformen und Lehrer*innen entziehen. Letzteres kann bei mehrmaligen Verweisen an Haupt- und Förderschulen allerdings zu Langeweile und Unterforderung im Unterricht führen. Die Jugendlichen haben also grundsätzlich auch gewisse Kontrollmöglichkeiten, die aber nicht zwangsläufig in einem Überschuss münden, zumal sie eher kurzfristige Erfolgserlebnisse bringen als langfristigen Nutzen mit Blick auf das Berufsleben. Bislang nicht thematisiert wurden die Erfahrungen mit Mitschüler*innen. Im Verhältnis zu jenen zeigen sich deutlich ausgeprägtere sozial-darwinistische Züge des Umgangs als im Freund*innenkreis. Dies äußert sich vor allem in Mobbing, bei dem „Schwächen“ und Besonderheiten instrumentalisiert werden, was vor allem dauerhaft werden kann, wenn Einzelpersonen sich das gefallen lassen. Selbst bei Mädchen kann dies bis hin zu körperlichen Übergriffen reichen, die normalerweise eher eine Ausnahme im Bereich des Mobbings darstellen. Dies sind deutliche Formen defizitärer Kontrolle. I: Hast Du denn irgendwann vielleicht Deiner Mutter schon mal gesagt, dass Du die Schule gerne wechseln möchtest, um halt woanders hinzukommen, wo es besser ist? J8W: Ja, als ich noch auf der Hauptschule war, da habe ich gesagt: „Mama, ich möchte wechseln“, dann ein paar Tage später wurde mir Bescheid gesagt, dass ich wechseln darf. Da war ich natürlich glücklich (lacht), weil in der Hauptschule da ging es richtig, richtig hart los. Ich war in der Pause gewesen, jeder hat mich beleidigt, jeder hat mich geschlagen. Hinterher war es einmal so weit in der Pause, dass sie sich, nur Kerle und vielleicht ein einziges Mädchen, dass sie so weit gegangen, und ich alleine, dass die mich einmal komplett im Kreis umzingelt haben und dann zugeschlagen haben. Ich alleine, weil ich stand hier und die anderen standen außen mir. Der eine hat zugeschlagen, der andere hat zugetreten, der eine hat mir eine Faust gegeben in die Rippen. I: Aber hast Du eine Ahnung, warum das dann immer wieder passiert? J8W: Nein. I: Du wirkst ja jetzt irgendwie relativ frech und nett und dass Du Dich auch irgendwie durchsetzen kannst. Man hat ja nicht den Eindruck, dass Du so das typische Opfer wärst, sodass viele sagen, mit Dir kann man machen, was man möchte. J8W: Frech war ich nicht zu denen, ich war ganz lieb. Aber dann … I: Ich meine das eher so, dass Du Dich auch mit Worten wehren kannst und nicht zu schüchtern bist und nichts sagen würdest.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J8W: Ja, so bin ich meistens auch, aber wenn ich neu auf der Schule bin, sage ich gar nichts mehr, will erst einmal alleine bleiben zwei, drei Wochen und dann gehe ich erst näher an einen dran. I: Und das Mobbing war in der Schule. Aber von wann bis wann war das? J18W: Also in der Grundschule war das früher auch schon so. Und ich wurde früher auch beleidigt, weil ich früher auch so kurze Haare hatte. Ich hatte die erst vor Kurzem wieder kurz. Und die meinten, ich sehe aus wie ein Junge und so. Und dann auch: „Scheiß Riese!“, weil ich so riesig bin. Ich war auf der Grundschule die Größte. Wir waren nicht so viele auf der Grundschule, deswegen. Und die meinten das dann so. I:  Gut, aber dann warst Du ja wahrscheinlich auch kräftiger als viele andere. Hast Du dann auch ab und zu schon mit denen gekämpft? J18W: Nein, nicht wirklich. Also ich habe da erst nicht reagiert. Ich habe mir es ja so theoretisch gefallen gelassen. I: Und zwischen den drei Arten von Schulen hast Du diesbezüglich auch keine Unterschiede gemerkt? J37M: Ja, das war ungefähr alles so gleich. Da wird der ausgelacht wegen seiner Freundin oder der ausgelacht wegen seinem … ja, sei es in Facebook, was der für ein Profilbild drin hat oder so was, so völlig idiotische Sachen eigentlich. Ich habe mich da eigentlich immer rausgehalten, habe mir gedacht: „Ja, mein Gott, kann man eh nichts zu sagen.“ J43M: Also ich habe halt schon früher welche gemobbt mit Kumpels aus der Klasse. I: Warum habt Ihr das gemacht? J43M: Also er war halt ein bisschen dicker als wir. (…) Also dass er halt oft angefangen hat zu weinen, das war halt das Lustige. (…) I: Und bei so Sachen, dass man sich lustig macht über andere, gibt es das auch bei Euch unter Freunden z. B. beim Thema Kleidung oder wer welches Handy hat und so? J43M: Nee. Also schon wenn da so ein 14-Jähriger rumläuft und eigentlich keine Markenklamotten hat, lästern wir halt schon darüber so. I: Das ist also schon wichtig, dass man ein bisschen was hat. J43M: Ja. Also auch von der Hygiene her lästern wir auch, weil wir halt einen in der Klasse haben, der halt sehr unregelmäßig duscht und halt auch öfters stinkt. Das ist dann auch schon ekelig, wenn das in der Klasse riecht. Die obigen Zitate zeigen, dass Jugendliche in Klasse 1 sowohl Opfer, Täter*innen als auch wegschauend beim Thema Mobbing sein können. Zudem können

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

87

sie gerade bei der Frage nach Konsumdruck unter Peers entscheiden, sich an jenem zu beteiligen oder zu widerstehen beziehungsweise sich dem entgegenzustellen, auch wenn Letzteres nicht selten mit den eigenen finanziellen Mitteln zusammenhängen dürfte, was gleich auf doppelte Art in erlebten Kontrolldefiziten münden kann. J39M: Die Klamotten, die ich jetzt an habe, die habe ich schon seit zwei Jahren. I: Das heißt ja nichts. Das ist ja trotzdem schon modisch, wie Du gekleidet bist. Du sagst ja auch, dass es bei Euch Mobbing an der Schule gibt. Spielt das da auch eine Rolle? J39M:  Ja, dann machen sie sich meistens auch über Kik lustig und sonst irgendwas. Da sind dann meistens drei, vier Personen dabei. Das ist ganz normal. I: Was ist denn in Eurem Alter das wichtigste Statussymbol, womit man zeigt, was man hat? J39M: Bei mir gar nichts. I: Ich meine so insgesamt in Deiner Altersgruppe. J39M: Ja, die präsentieren mit allem rum: „Ich habe eine Bulls-Cap, Du nicht! Ich habe ein Samsung Galaxy S6, Du nicht! Ich habe ein IPhone 6 und Du dafür das S6. Und meins ist sowieso viel geiler.“ Ach, das ist … Ich bleib einfach ein neutraler Mensch. Ich lebe davon, was ich mir erarbeite. Und ich weiß, dass hier die Leute die wissen gar nicht, wie das ist, mal dafür zu arbeiten für die Sachen. Das wissen die gar nicht. Weil alles, was ich habe, habe ich selber gearbeitet und selber verdient. Ich weiß am besten, was ich, ja, brauche, was ich … Ich weiß, was ich kann und wenn ich jetzt z. B. auf die Straße kommen würde, ich würde niemals auf die Straße kommen, denn ich wüsste ganz genau, wie ich mein Leben finanzieren würde und sonst irgendwas. Und ich würde dann auch eine neue Wohnung kriegen und alles. Das ist für mich kein Problem. Mit Blick auf die Eltern dominiert – ähnlich wie schon bei anderen Codes – die gesamte Problematik, die zur Unterbringung in Heimen führt beziehungsweise zur bewussten Abwendung von der Familie. Dies ist dann als Kontrollhandlung der Jugendlichen zu verstehen, die damit schrittweise ein selbständiges Leben aufbauen wollen (s. Selbstkontrolle). Dem gehen jedoch oft jahrelange Unterdrückung und schlechte Behandlung voraus.

88

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

I: Was war denn das Schlimmste, was sie mal mit Dir gemacht hat? J18W: Meinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Da war dann ein Loch und das ja richtig geblutet. Ich wollte eigentlich ins Krankenhaus, aber die hat das nur gewaschen und ein Pflaster drauf getan und gesagt, dass ich ruhig sein soll. Ich habe dann geweint. J37M: Meine Mutter hat das halt ab und zu gestört irgendwie, weil sie war halt schon so … ja, bei ihr musste halt immer alles so tiptop, sauber sein, und auch das Zimmer von mir und meinem Bruder so. Wenn wir dann mal irgendwie einen Tag nicht aufgeräumt haben oder so, dann ist die direkt durchgetickt, sage ich mal. In den Heimen berichten diese Jugendlichen hingegen von keinen störenden Kontrollerfahrungen, sondern vielmehr vereinzelt davon, Dinge zu ihren Gunsten beeinflussen zu können. Dies ist ein Teil des Bemühens der dortigen Mitarbeiter*innen, ein Klima des Wohlbefindens und gelingenden Miteinanders zu schaffen. I: Aber wenn Du etwas möchtest, kannst Du irgendwie dann schon mit jemandem sprechen und dafür sorgen, dass das passiert? J18W: Ja (lacht). Also die sagen dann Nein und dann überzeuge ich sie dann irgendwie immer, dass sie es dann doch machen. Zum Beispiel zur Schule fahren, wenn ich mal nicht so gerne zur Schule fahren würde, alleine. Dann frage ich die immer und dann sagen die erst Nein und dann sage ich auch bitte und dann meinten die: „Ja, komm!“. Durch (ältere) Geschwister gibt es zumindest Kontrollversuche in der Richtung, dass die Befragten weniger Gewalt zeigen sollen, auch wenn sie dies nicht zwangsläufig beherzigen; besonders wenn die Geschwister in der Vergangenheit selbst gewalttätig waren. I: Weiß Deine Schwester von den Kämpfen, die Du hattest? J18W: Ja. I: Und was hat die dazu gesagt? J18W:  Die hatte ja auch welche, aber hat mir manchmal gesagt, dass ich weniger machen soll. I: Und haben Deine Geschwister mal versucht, Dich zu verändern oder Einfluss auf Dich zu nehmen? J23M: Ja, die haben zu mir gesagt: „J23, benimm Dich!“ Die haben mich auch ab und zu mal geschlagen, aber mir war das egal.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

89

I: Aber konntest Du dann dabei Deinen mittleren Bruder ernst nehmen, wenn er selbst mehr halt als Du? J23M: Ja, also er hat es ernst gemeint, weil er hat es mir so erklärt: „Seh nicht mich als Vorbild, sieh zu, dass Du nicht so wirst wie ich!“, so hat er mir das erklärt. Und das war mir dann schon so in das Ohr reingegangen, okay, auf eine andere Weise ist das auf dieses Ohr rausgegangen, aber nur am Anfang, jetzt nicht mehr. Ähnliche Ratschläge können aber auch von den Befragten in Richtung der Geschwister kommen. J37M: Also ich sage auch öfters zu ihm so: „Ja, mach dies und das lieber so, sonst gibt es wieder Ärger.“ Und da hört der auch meistens dann drauf. Abschließend findet sich mit Blick auf Partner*innen in dieser Klasse lediglich bei einer Befragten eine Art Zustand von Kontrollbalance, der jedoch auch spannungsgeladen war. J18W: Weil mit der jetzigen Freundin streiten … also wir streiten uns fast täglich, kann man sagen so. Aber nur wegen Kleinigkeiten. Und wir sagen immer: „Ja, wir schaffen das schon. Wir kriegen schon eine Lösung, wie wir das ändern.“ Und dann ist es meistens immer gut. I: Aber das macht Ihr halt so gegenseitig und nicht eine stärker als die andere. J18W: Nee, das ist schon gleich. Wir sagen beide was und dann finden wir immer eine Lösung. Andere Jugendliche berichten gerade in Bezug auf delinquentes Verhalten regelmäßige Versuche der Einflussnahme durch Partner*innen, auf die man sich jedoch nicht einließ beziehungsweise es dadurch zu Trennungen kam, da man auf diese Weise die Oberhand behalten und den Partner*innen keinen Kontrollüberschuss gewähren wollte. J23M: Ich will Single sein, also ich habe keine Lust auf eine Freundin, sagen wir es so. (…) I: Aber die hat Dir dann auch nie etwas zu dem Thema gesagt und versucht, Dich zu überreden, dass Du nicht mehr kämpfst? J23M: Nie.

90

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

I: Haben das andere Freundinnen mal probiert? J23M: Ja. Meine Antwort war halt: „Das ist mein Leben.“ Also klar, es ist meine Freundin, aber wenn es jetzt gerade mal zwei Monate ist, kann sie mir nicht sagen, was ich machen soll, weil sie mich jetzt gerade mal zwei Monate kennt. Daneben finden sich die bereits erwähnten Berichte von gegenseitiger Eifersucht, Misstrauen und teils überzogener Kontrolle, die jedoch weitgehend auf Gegenseitigkeit beruhen, weshalb dahin gehend nicht von einem Kontrollüberschuss die Rede sein kann. Vielmehr herrscht in vielen Partnerschaften ein Zustand von gegenseitigen Kontrollversuchen, welche die Jugendlichen daran hindern, zufriedenstellende Beziehungen zu führen, da man sich ständig in dem Bewusstsein befindet, sein eigenes Verhalten reflektieren, verheimlichen oder verbergen zu müssen, um Konflikte zu vermeiden.

4.3.3.4 Zusammenfassung „Anhand des Zusammenspiels von strukturellen, institutionellen und sozialen Gegebenheiten mit den situativen Interpretationen dieser Erfahrungen kann gezeigt werden, dass das individuelle Verlangen nach Anerkennung und Kontrolle in mehrfacher Hinsicht gestört ist und sich gegenseitig verstärkt, was letztendlich zu einer geringen Realitätskontrolle führt.“

Den Schüler*innen der Klasse 1 schreiben wir eine geringe Realitätskontrolle zu, da sie auf sechs der elf Konstrukte der TSD eindeutige Hinweise für Desintegration zeigen und bei drei von zwölf CBT-Konstrukten deutliche Imbalancen der Kontrolle aufweisen. Obwohl sich die letzte Aussage nur auf ein Viertel der CBT-Konstrukte bezieht, ist hervorzuheben, dass die Bewertung im Kontext des Vergleichs mit den anderen Klassen zu sehen ist (vgl. Abschn. 4.4.2). Außerdem unterstützen die Ausprägungen der übrigen CBT-Konstrukte dieses Fazit. Das ist so zu verstehen, dass die Antwortoptionen, die auf Imbalancen der Kontrolle schließen lassen, in Klasse 1 deutlich öfter als in den anderen Klassen stärker besetzt sind. Das führt nicht immer zu einer anderen Bewertung des Konstrukts, da wir die 50 %-Regel (vgl. Abschn. 4.3.2) für eine Entscheidung angelegt haben. Dennoch finden diese Unterschiede ihre Berücksichtigung in der Charakterisierung der Klasse. Darüber hinaus ist zu betonen, dass eines

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

91

der drei Konstrukte die Fremdkontrolle ist, das Konstrukt, das sehr deutlich die wahrgenommene Kontrolle anderer über das Leben der Jugendlichen bzw. eine Fremdsteuerung des Lebens verkörpert. Hinzu kommt, dass das Konstrukt gut dazu geeignet ist, die Klassen zu charakterisieren, da die Klassenhomogenität gut ist, und auch die Klassenseparation nähert sich dem Ideal an. Bezüglich der Fremdkontrolle zeigt sich, dass Klasse 1 die einzige ist, bei der die Antwortkategorien, die auf eine Imbalance der Kontrolle hinweisen, mit 76 % (vgl. Tab. 4.4) deutlich stärker besetzt sind als die Gegenkategorie und die anderen Klassen. Die beiden anderen Konstrukte stammen direkt aus der Messung der ausgeübten und erfahrerenen Kontrolle bezüglich verschiedener Personenkreise des täglichen Lebens (Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen, Mitschüler*innen). Gegenüber den Eltern und besonders gegenüber den Lehrer*innen zeigen die Schüler*innen hohe Wahrscheinlichkeiten für die Antworten, die Imbalancen der Kontrolle indizieren. Die Ergebnisse für Klasse 1 (vgl. Tab. 4.4) verweisen auf Defizite bei der Integration in den genannten Lebensbereichen in allen drei Dimensionen der TSD. Als besonders problematisch erweisen sich die Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen, Anforderungen in der Schule sowie die als ungerecht wahrgenommene Behandlung durch das Lehrpersonal in der sozialstrukturellen Dimension. Die Ergebnisse der CBT-Konstrukte verweisen besonders beim Verhältnis zu den Lehrer*innen auf ein Kontrolldefizit der Schüler*innen, und zwar mit dem höchsten Wert (70 %) über alle Klassen und abgefragten Personengruppen (Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen, Mitschüler*innen) hinweg (vgl. Abschn. 4.4). Verstärkt wird dieses Gefühl der Fremdkontrolle auch über die Lehrer*innen und Schule hinaus, da die Jugendlichen oft die Erfahrung eines fremdbestimmten Lebens (76 %) machen, auf das sie selbst nur wenig Einfluss haben. Situativ kann der Umgang mit diesen Umständen durch recht hohe Werte (48 %) bei impulsivem Verhalten erschwert werden und im schlechtesten Fall zu weiteren Kontrollverlusten führen. Die institutionelle Dimension kann als „durchwachsen“ angesehen werden, wobei offenbar die Fähigkeit, die eigenen Interessen im Freund*innenkreis, in der Familie und in der Schule durchsetzen zu können, problematisch ist (57 %). Auch das Vermögen der Schüler*innen, Bedürfnisse und Anliegen mitteilen zu können, ist vergleichsweise schwach (55 %) ausgeprägt (vgl. Abschn. 4.4). Diese Befunde werden durch die Ergebnisse der CBT-Konstrukte bekräftigt. Zunächst wäre da das bereits erwähnte Gefühl des Fremd-Bestimmtwerdens zu nennen und zusätzlich weist Klasse 1 bei drei der vier Personengruppen die höchsten Werte auf, die auf ein Kontrolldefizit hinweisen. Es gelingt diesen Jugendlichen kaum, sich gegenüber verschiedenen Personengruppen des Alltags durchzusetzen. Besonders

92

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Tab. 4.4    Auszug Antwortwahrscheinlichkeiten für die Konstrukte Klasse 1 Konstrukt

Klassenbedingte Antwortwahrscheinlichkeiten

Theorie sozialer Desintegration Zufriedenheit Schulleistungen

0,406 0,594

Anforderungen Schulleistung

0,234 0,766

Ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen 0,298 0,702 Interessen durchsetzen

0,426 0,574

Bedürfnisse und Anliegen mitteilen

0,547 0,453

Geborgenheit Familie

0,621 0,379

Vertrauen in der Familie

0,356 0,644

Konflikte in der Familie

0,178 0,822

Control BalanceTheory Impulsivität

0,518 0,482

Fremdkontrolle

0,242 0,758

Kontrolle Eltern

0,421 0,579

Kontrolle Lehrer*innen

0,301 0,699

deutlich wird dies gegenüber Lehrer*innen (nur 30 % können sich durchsetzen) und den Eltern (nur 42 % können sich durchsetzen). In der sozial-emotionalen Dimension ist es vor allem der familiale Kontext, der Probleme bereitet. Konflikte innerhalb der Familie (82 %) sowie ein reduziertes Vertrauen in die Familie (64 %) bestimmen hier offenbar den Alltag der Befragten. Dies wird zudem durch die CBT unterstützt beziehungsweise ver-

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

93

stärkt, was sich in den Zahlen zur wahrgenommenen Kontrolle durch die Eltern (58 %) ausdrückt. Die wahrgenommene Kontrolle der Eltern auf die Jugendlichen ist stärker als die der Jugendlichen auf ihre Eltern, was zu einem Defizit führt. Mangelndes Vertrauen gefährdet die Herstellung emotionaler Beziehungen, wodurch ein sinnstiftendes Moment verloren geht. Die Verbindung aus reduziertem oder fehlendem Vertrauen und der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Interessen unterminieren die Chancen zur Selbstverwirklichung. Hinzu kommen die konfliktgeprägte Situation in der Familie und ein gedämpftes Gefühl von Geborgenheit (nur 38 % fühlen sich geborgen), sodass die Jugendlichen Schwierigkeiten haben, sozial-emotionalen Rückhalt zu finden. An wen soll man sich wenden, wenn nicht an Freund*innen, Eltern und Geschwister oder die Lehrer*innen? Letztendlich ist die Ausbildung einer stabilen Identität gefährdet, da die emotionale Anerkennung durch relevante Bezugspersonen in der prägenden Phase der Adoleszenz defizitär ist. Hinzu kommt ein relativ impulsives Verhalten (48 %), das in der ohnehin konflikthaften Beziehung zu den Eltern wenig förderlich ist beziehungsweise diesen Zustand noch verstärkt. Anhand des Zusammenspiels von strukturellen, institutionellen und sozialen Gegebenheiten (TSD) mit den situativen Interpretationen dieser Erfahrungen (CBT) kann gezeigt werden, dass das individuelle Verlangen nach Anerkennung (TSD) und Kontrolle (CBT) in mehrfacher Hinsicht gestört ist und sich gegenseitig verstärkt, was letztendlich zu einer geringen Realitätskontrolle führt.

4.3.4 Klasse 2 – Gefährdete Integration – unsichere Realitätskontrolle – anfällige Gewaltattitüden 4.3.4.1 Überblick und Demographie Zur Klasse  2 zählen 817 Jugendliche, was 43  % der gesamten nicht repräsentativen quantitativen Stichprobe entspricht. Sie sind damit die zweitgrößte Gruppe nach der Klasse 1. Mit 53 % sind etwas mehr männliche Jugendliche in der Klasse vertreten. Bezüglich des Migrationshintergrunds überwiegen mit 53 % diejenigen Schüler*innen, die selbst im Ausland geboren sind oder mindestens ein Elternteil. Dementsprechend haben 47 % der Jugendlichen in Klasse 2 keinen Migrationshintergrund. Die Auswertung der Schultypen zeigt, dass die Realschule mit 37 % deutlich überwiegt. Mit 17 % ist die Gesamtschule am wenigsten vertreten. Ein Fünftel entfällt auf das Gymnasium (21 %) und ein Viertel auf die Hauptschule (25 %). Die FAS zeigt einen Mittelwert von 4,54 an, was einer mittleren Ausprägung entspricht. Männliche Befragte haben mit 4,79 einen höheren Score als weibliche

94

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Tab. 4.5    Demographische Beschreibung der Klasse 2 Geschlecht

N

Gültige Prozent

Männlich

427

52,5

Weiblich

378

47,5

Keine Angabe

3

Migrationshintergrund

N

Gültige Prozent

Ohne Migrationshintergrund

377

46,8

Mit Migrationshintergrund

429

53,2

Keine Angabe

11

Schultyp

N

Gültige Prozent

Hauptschule

202

24,7

Realschule

303

37,1

Gymnasium

170

20,8

Gesamtschule

142

17,4

N

Mittelwert (SD)

Gesamt

809

14,87 (0,816)

Männlich

422

14,88 (0,843)

Weiblich

385

14,86 (0,787)

Keine Angabe

8

Alter

FAS

N

Mittelwert (SD)

Gesamt

812

4,54 (1,63)

Männlich

424

4,79 (1,63)

Weiblich

386

4,26 (1,59)

Keine Angabe

5

FAS Gesamt

Männlich

N

Gültige Prozent

Niedrig

96

11,8

Mittel

471

58,0

Hoch

245

30,2

Keine Angabe

5

Niedrig

41

9,7

Mittel

229

54,0

Hoch

154

36,3

Keine Angabe

3 (Fortsetzung)

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

95

Tab. 4.5    (Fortsetzung) Geschlecht Weiblich

N

Gültige Prozent

Niedrig

55

14,2

Mittel

241

62,4

Hoch

90

23,3

Keine Angabe

1

(4,26). Und auch bei der Einteilung der FAS in die Kategorien niedrig, mittel und hoch zeigt sich, dass die Mädchen mit 14 % einen deutlich höheren Anteil in der niedrig-Kategorie haben als ihre männlichen Mitschüler mit 10 %. Ein Überblick der Ergebnisse der zweiten Klasse zeigt, dass die Jugendlichen auf den Dimensionen der TSD Antwortmuster aufweisen, die für manche Lebensbereiche desintegrative Tendenzen anzeigen, was zu dem Schluss führte, sie als teilweise desintegriert einzustufen. Gleiches gilt für die Messungen der CBT. Hier sind die Ergebnisse gemischt, sodass nicht von einer Kontrollbalance ausgegangen werden kann. Es gibt Situationen und Bereiche des alltäglichen Lebens, in denen die Schüler*innen der Klasse 2 Anzeichen für Imbalancen der Kontrolle zeigen. Für die Synthese der beiden Theorien bedeutet das, dass sowohl für Bereiche der TSD als auch der CBT Probleme zu erkennen sind, welche die Herstellung von Realitätskontrolle für die Jugendlichen dieser Gruppe erschweren und was uns dazu veranlasste, sie mit dem Label einer mittleren Realitätskontrolle zu versehen. In der qualitativen Analyse wurden 17 Interviewte der Klasse 2 zugeordnet. Neun Personen waren 14 Jahre alt, fünf Personen waren 15 Jahre alt, eine Person war 16 Jahre und zwei Personen 17 Jahre alt. Dreizehn Befragte waren männlich und vier weiblich. Einer besuchte eine Förderschule, neun besuchten Hauptschulen, einer eine Realschule, vier besuchten Gesamtschulen, einer besuchte ein Berufskolleg und einer war in einer schulischen Ausbildung. Zwölf Personen lebten im elterlichen Haushalt und fünf Personen in Heimen. In der Klasse 2 der qualitativ Befragten häufen sich im Vergleich zur Klasse 1 die Schilderungen einer angespannten finanziellen Situation in der Familie, wenngleich diejenigen überwiegen, die die finanzielle Situation als unproblematisch beziehungsweise zumindest mit der der Familien ihrer Freund*innen vergleichbar oder als besser bezeichnen. Neben denjenigen, die von ihren Eltern ein regelmäßiges Taschengeld erhalten, gibt es einige, denen kein eigenes Geld zur Verfügung steht. Sie müssen sich laufend mit Bitten an ihre Eltern wenden. Dies ist jedoch nicht zwangsläufig mit einem Gefühl der Benachteiligung

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

und Unzufriedenheit verbunden. Einige zeigen Verständnis dafür, nicht jeden Anschaffungswunsch erfüllt zu bekommen, wohingegen andere dahin gehend von Konflikten berichten. J24W: Meine Sachen hat sie auch verkauft, weil die nicht genug Geld für die Rechnungen hatte. Und dachte sie: „Ach, J24 ist nicht da, dann verkaufe ich mal all ihre Sachen.“ Ich meine, geht‘s noch? Das ist jetzt schon … das ist jetzt schon zweieinhalb Monate her, dass sie das gemacht hat, und ich bin immer noch total wütend. Normalerweise bin ich niemals länger wütend als drei Tage. Das ist heftig. I: Was hat die sonst schon so für Sachen gemacht? J24W: Ach … ganz viel. Sie hat mal eine Zeitlang … ich habe ja von Oma immer mein Taschengeld bekommen, das hat sie auch eine lange Zeit immer einkassiert für Sprit, weil sie selber es nicht hingekriegt hat, Sprit zu kaufen. Dann soll sie nicht Auto fahren. J41M:  Mmh. Ich habe ihn auch immer ab und zu nach Geld gefragt. Ich brauchte z. B. Geld für Chips und Zigaretten. Er sagt so: „Nein!“, weil wir zu wenig Geld hätten. Dann gibt der einen Tag später meiner Schwester 50 EUR auf die Hand. Das hat mich übelst geärgert. Ein Befragter berichtet zudem von Taschengeldkürzungen als Erziehungsmaßnahme. I: Aber wie hast Du das am Anfang bezahlt? Haben Deine Eltern Dir Geld gegeben? J22M: Von meiner Familie. Meine Familie wusste halt, dass ich rauche, aber trotzdem wollten die mir Geld geben und so, wollten mich nie ohne Geld lassen und so. Und dann halt habe ich so 20, 30 EUR bekommen. Und dann halt im Nachhinein, wo die gemerkt haben, ich höre sowieso nicht auf zu rauchen, dann haben die mir das Geld so verboten und geben mir jetzt nur noch so zehn, 15 EUR. Fünfzehn Euro geben die meisten nur, wenn ich mein Handy auflade, um anzurufen. I: Du hast ja auch diese Diebstähle gehabt. Hast Du das teilweise auch gemacht, um das Spielen [Teilnahme an Glücksspiel, A.d.V.] zu finanzieren? J22M: Nein, das nicht. Eine besondere Gruppe bilden die Jugendlichen, die in Heimen leben. Sie erhalten zwar ein regelmäßiges Taschengeld, sind aber dazu verpflichtet, die Ver-

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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wendung von Bekleidungs- und Hygienegeld nachzuweisen. Mehrheitlich geben sie an, mit diesem Verfahren gut zurechtzukommen. Ein Befragter hat jedoch den Eindruck, dass ihm Geld vorenthalten würde, welches ihm zusteht. J38W: Also wir bekommen das Bekleidungsgeld noch, aber das dürfen wir nur benutzen, wenn wir wirklich dringend Sachen brauchen. Dann müssen wir die halt auch zeigen, dass die kaputt sind. Aber wenn man halt zwei Hosen noch im Schrank hat, dann darf man sich nicht noch eine holen, weil man zwei Hosen noch hat. Und wir bekommen noch Hygienegeld, aber das wird kaum halt ausgezahlt. Also die haben das nicht einmal gesagt, dass wir das bekommen. Ich weiß das ja erst seit gestern.

4.3.4.2 Integration – Desintegration Sozialstrukturelle Dimension Bezüglich der wahrgenommenen Anforderungen schulischer Leistungen sowie einer ungerechten Behandlung durch Lehrer*innen signalisieren die Antworten der Jugendlichen eindeutig Desintegration. Bei den Items zu den Anforderungen in der Schule zeigt sich eine Wahrscheinlichkeit von 68 % für die Antwortoptionen, die Desintegration indizieren. Bei der als ungerecht empfundenen Behandlung durch das Lehrpersonal sind es 63 %. Insgesamt zeigen die Jugendlichen der Klasse 2 bei zwei von vier Konstrukten der sozialstrukturellen Dimension deutliche Zeichen von Desintegration, sodass davon auszugehen ist, dass ihre Zufriedenheit mit der eigenen sozialen Stellung und ihre sozialstrukturelle Integration beeinträchtigt sind. Somit gibt es bereits in der sozialstrukturellen Dimension erste Hinweise darauf, dass die Herstellung von Realitätskontrolle nicht mehr uneingeschränkt stattfinden kann, sondern durch die Anforderungen in der Schule sowie wahrgenommene Probleme mit den Lehrenden gestört ist. Das bedeutet zudem, dass die übrigen beiden Konstrukte der sozialstrukturellen Dimension (Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen und schulischer Optimismus) höhere Wahrscheinlichkeiten für die Antwortkategorien aufweisen, die Indikator für eine erfolgreiche Integration sind. Wie der spätere Vergleich der Klassen zeigen wird, sind die Werte jedoch auch hier reduziert (vgl. Abschn. 4.4). Bezüglich der Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen ist die Wahrscheinlichkeit für die Antwortkategorie, die Integration repräsentiert, 66 %. Das bedeutet, dass immerhin 34 % Wahrscheinlichkeit für die Desintegration messenden Kategorien gegeben sind. Entsprechend ist etwa ein Drittel der Schüler*innen in Klasse 2 unzufrieden mit den eigenen schulischen Leistungen oder die Eltern sind es. Bei den Fragen zum Optimismus bezüglich zukünftiger schulischer Leistungen sind es noch 15 % Wahrscheinlichkeit für

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die Desintegrationskategorie. Also ist jede/jeder sechste Schüler*in unsicher, das aktuelle Schuljahr zu schaffen oder den angestrebten Schulabschluss. Die qualitativ Interviewten, die der Klasse 2 zugeordnet wurden, unterschieden sich hinsichtlich ihrer Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen nicht von den qualitativ Interviewten, die der Klasse 1 zugeordnet wurden. Auch in der Klasse 2 hatte die Mehrheit der Befragten mittelmäßige bis sehr gute Noten und konkrete Zukunftspläne. In Klasse 2 herrschte zudem Optimismus, die eigenen Pläne verwirklichen zu können. J41M: Also ab und zu habe ich Angst, aber sonst, was ich mir bis jetzt vorgestellt habe, klappt das bis jetzt auch. I: Also Du bist Dir schon recht sicher, dass es funktionieren wird. J41M: Ja, so 95 %. Nur wenige Jugendliche hatten sich noch keine Gedanken darüber gemacht, was sie nach der Schulzeit machen möchten. Einzelne Befragte haben Rückstufungserfahrungen gemacht, beispielsweise aufgrund mangelnder ­Deutsch-Kenntnisse eine Hauptschule besuchen zu müssen oder von der Realschule auf die Hauptschule wechseln zu müssen. Sie ließen sich von diesen Erfahrungen jedoch nicht entmutigen. Andere Jugendliche berichten von Phasen der Verweigerung des Schulbesuchs und damit einhergehenden Notenverschlechterungen. J22M: Drei Monate habe ich durchgeschwänzt. Ich war gar nicht, nicht einmal in der Woche einmal so. Montag bis Freitag einfach gar nicht in der Schule gewesen. I: Warum hast Du das gemacht? J22M: Keine Lust auf Schule gehabt und sonst was. Keinen Bock gehabt. I: Und jetzt hast Du wieder mehr Lust? J22M: Nein, das war einfach so, ich habe es eingesehen, das bringt mir nichts. Ich muss ja was aus meinem Leben machen. J42M: Das … erst war das halt so mit dem … dass ich halt nicht hingegangen bin. Dann die Zeit war ich dann nicht mehr da. Dann bin ich halt auch in der Zeit hier hingezogen und dann ging das halt … war ich komplett raus aus der Schule und dann haben die ja von hier aus … haben die mich dann bei der Hauptschule angemeldet. Und seitdem läuft das auch alles wieder. Einzelne Jugendliche berichten ferner von Notenverschlechterungen, die aus familiären Konflikten oder dem Tod eines Elternteils resultierten.

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I: Und wie sind denn die Noten dann jetzt ungefähr? J36W: Naja, nicht so gut. I: Aber nicht so, dass Du die Klasse nicht schaffen wirst? J36W: Nö. (..) I: Aber hat es mit Deiner Mutter zu tun, dass Du jetzt weniger zur Schule gehst und dass die Noten schlechter sind, oder hat das eher andere Gründe aus Deiner Sicht? J36W: Das ist auch wegen Mama, da war ich traurig und konnte mich nicht konzentrieren [nach dem Tod, A.d.V.]. Und jetzt macht es nicht mehr so richtig Spaß manchmal in der Schule. Aber es ist auch vorher schon etwas schlechter geworden, weil ich fauler geworden bin. J38W: Also wo ich Stress mit Mama hatte nicht, also da waren die Noten schlecht. Aber jetzt habe ich geschafft, in die E-Kurse zu kommen. Die qualitativen Interviews zeigen außerdem, dass in Klasse 2 diejenigen Befragten überwiegen, die seitens ihrer Eltern nur gelegentlich Leistungsdruck als Reaktion auf schlechte Noten erleben und diesen als eher unproblematisch beschreiben. Gute Noten generieren elterliches Lob und mitunter materielle Belohnungen. Es gibt allerdings auch Schilderungen gegenseitiger Enttäuschung. J40M: Ja, das war auch richtig stark übertrieben. Also ich sollte zur Schule und sobald ich eine schlechte Note hatte, habe ich Ärger bekommen. So war das immer. I: Aber fühlst Du Dich teilweise von denen unter Druck gesetzt, dass Du mehr schaffen sollst, als Du kannst? J28M:  Nein, bei mir ist das eigentlich immer so, also ich schreibe eine schlechte Note, meine Eltern schreien mich nicht an, die sagen aber, dass ich das besser machen soll, dies und das. Und dann beim nächsten Mal schreibe ich eine Note besser. Und dann sagen die: „Gut gemacht.“ Und dann beim nächsten Mal schreibe ich wieder dieselbe Note, hat gesagt: „Ja, besser. Du könntest eine Drei schreiben“, dann ist auch gut. Beim nächsten Mal schreibe ich wieder eine Note schlechter. Und einmal hat die gar nichts gesagt, da habe ich eine Zwei geschrieben, ja. I: Aber hast Du das Gefühl, dass Deine Eltern stolz auf Dich sind, was Du in der Schule schaffst? J28M: Ja, die sind nicht so stolz auf mich, weil ich nicht so gute Noten habe. I: Aber die sind auch nicht unzufrieden mit Dir. J28M: Nein, das nicht.

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In einem Fall fühlt sich eine Jugendliche von ihrer Mutter wenig unterstützt und empfindet es daher als Kränkung, dass sich diese Mutter mit ihren guten Noten schmückt. I: Sie wird ja mitbekommen haben, dass Du in der Schule ziemlich gut bist. J24W: Ja, und das hat sie alles sich selber zugeschrieben: „J24 ist so gut in der Schule, alles mein Verdienst.“ I: Also hat sie Dich da auch nie für gelobt oder das Gefühl gegeben, dass sie stolz auf Dich ist? J24W: Doch, doch, mich hat sie dafür gelobt, aber auf dem Elternsprechtag: „Ja, meine J24 ist doch so gut. Das ist, weil ich so viel mit ihr lerne.“ Sie hat mit mir Vokabeln gelernt. Wow! Das kann ich auch selber. Meine Noten haben sich verbessert, seit ich hier (im Heim, A.d.V.) bin wieder. Demgegenüber erleben knapp die Hälfte der Jugendlichen ihre Lehrer*innen als fair, hilfsbereit und motivierend. Die übrigen Befragten fühlten sich aktuell oder in der Vergangenheit von – in der Regel einzelnen – Lehrer*innen ungerecht behandelt und benotet. J35M: Die terrorisieren mich. Die eine will immer meine Eltern anrufen, da habe ich das Telefon ausgemacht, ja. I: Und wenn Du in der Schule nichts machst, warum wollen die dann anrufen? J35M: Ja, weil ich immer meine Sachen vergesse. I: Also nur das? J35M: Ja. I: Und sonst gibt es keine Probleme mit denen? J35M: Nee. I: Und hast Du mit irgendwelchen Lehrern schon mal Probleme gehabt, dass die Dich unfair oder schlecht behandelt haben? J29W: Meine Mathelehrerin, denke ich, weil da habe ich auch die Fünf. I: Weißt Du denn, warum das so ist? J29W: Nee, keine Ahnung. Ich weiß nicht, aber die hat es irgendwie auf mich abgesehen, denke ich immer. Die kann mich nicht leiden. I: Und ist die nur bei Dir so? J29W: Bei mir. Die hat mir jetzt schon zum zweiten Mal einen Tadel geschickt. I: Aber ohne Grund?

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J29W: Die schickt immer Tadel, dass ich angeblich esse, obwohl ich nie esse. Ich habe meine ganze Mitschüler gefragt, alle haben gesagt, ich esse nicht. Also ich weiß nicht, was die echt hat. J41M: Da habe ich immer in der Arbeit in Englisch eins geschrieben, hatte auch mündlich eins. Und dann bekomme ich mein Abgangszeugnis und da steht eine Fünf auf dem Zeugnis. Und dann gehe ich zu meiner Lehrerin und ich so: „Ja, was soll das? Warum habe ich eine Fünf?“ „Kein Ahnung.“ Ich sage: „Ja, ich habe immer Einsen geschrieben.“ Sie sagt: „Okay, dann verbessere ich das.“ Dann, wo ich mein neues Zeugnis hatte, steht eine vier (lacht). Einige Befragte führen ungerechtes oder ablehnendes Verhalten der Lehrer*innen ihnen gegenüber auf rassistische Einstellungen zurück. J41M: Nur bei mir. Ich habe dem damals gesagt: „Nur weil ich Ausländer bin“, er so: „Das hat nichts damit zu tun.“ Ich sage: „Ja, dann helfen Sie mir doch.“ „Nein, keine Zeit“, und so. Dann, eine Minute später ruft ein Mitschüler ihn: „Können Sie mir helfen?“, dann geht er direkt zu ihr (lacht). J34M:  Nee, nicht schlechter behandelt, aber die haben immer geredet und so. Die waren halt Rassisten. Die sagen immer: „Du kommst nur nach Deutschland, um abzukassieren.“ Das hat die Lehrerin gesagt. Die ist halt Rassist. J21M: Ja, meine Klassenlehrerin, die ist eine Rassistin, die ist eine rassistische Nutte. Die hasst mich. Immer wenn was ist, die geht nur auf den Ausländer. Das bin ich. Alle da sind nur so weiß. I: Also nur gegen Dich oder auch gegen andere? J21M: Ja, vielleicht mal gegen den, manchmal. Ich aber am meisten, weil ich der Schwarze da bin. Ein anderer Befragter berichtet von einem gewaltsamen Übergriff eines Lehrers auf einen Mitschüler. J28M:  Meine ganze alte Klasse hasst den. Sogar die Mutter von meinem Freund, von meinem besten Freund, die hat mit dem geredet, und von meinem besten Freund hat der den Arm umgedreht und hat den dann verstaucht. Ein weiterer Befragter erlebte seitens eines Lehrers Unverständnis für bürokratische Anforderungen, die sich aus seinem Heimaufenthalt ergeben.

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J40M: Pff … es war halt so, wo ich auch hier gewohnt habe, ich musste immer für irgendwelche Gelder was unterschreiben lassen. Ich habe immer diese Extrawürstchen gekriegt, weil hier ist das ja nicht so, als wenn ich zu Hause wohnen würde. Und somit ging das immer einem Lehrer auf die Nerven. Und der war sowieso schon immer so ein selbstverliebter Lehrer, der hat dann sozusagen vor der Klasse mich bloßgestellt: „Ja, Du musst dies und das haben, wie immer halt.“ Da habe ich dann meine Meinung halt gesagt und das passte ihm nicht. Dadurch ist dann einen riesen Streit entstanden über mehrere Wochen, bis es irgendwann geklärt wurde und dann war er im Unrecht. Die teils gute finanzielle Lage der Jugendlichen schlägt sich auch darin nieder, dass nicht wenige in einem Verein aktiv sind beziehungsweise es zumindest schon einmal waren. Einige berichten jedoch von häufigen Wechseln beziehungsweise einer kurzen Dauer der Mitgliedschaft. Dies mag dazu beitragen, dass Trainer*innen selten Bezugspersonen sind. I: Und gibt es in den Vereinen oder gab es da mal Leute, die für Dich wichtig sind, zum Beispiel die Trainer, mit denen Du dann auch über Probleme sprechen konntest? J29W: Nee, der Verein war immer nur für Spaß, zum Abschalten. Da redet man nicht über Probleme. J28M: Ja, mein Trainer, (..) Ich habe den schon, seit ich klein bin, seit ich angefangen habe mit Fußball, immer mit dem gehabt. Aber mehr als Fußball reden wir mit dem nicht. Ich trainiere nur mit dem.

Institutionelle Dimension Bezüglich der Integration in der zweiten Dimension der TSD zeigen die Schüler*innen der Klasse 2 keine Auffälligkeiten. Mit 92 % (Interessen durchsetzen) und 90 % (Bedürfnisse und Anliegen mitteilen) sind die Wahrscheinlichkeiten für die Antwortoptionen, die Integration repräsentieren, hoch. Auch hier wird der anschließende Vergleich der Klassen untereinander weitere Details und Unterschiede zutage fördern (vgl. Abschn. 4.4). Auch in der Klasse 2 stellt bei den qualitativ Befragten teils die Einbindung in den Haushalt einen Aspekt der Positionierung in der Familie dar beziehungsweise eine Pflicht im Heim, die damit verbunden ist, seine Interessen und Wünsche durchzusetzen, indem man sich selbst einbringt. Dies wird von den Jugendlichen weitgehend akzeptiert und ist unabhängig vom Geschlecht.

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J28M: Äh, nein, nur manchmal die Garage putzen. Sonst muss ich halt gar nichts machen. J35M:  Also manchmal muss ich mein Zimmer aufräumen, aber sonst die Mutter. I: Und hast Du noch irgendwelche Aufgaben zu Hause? J36W: Nö. Außer … mein Zimmer sauber halten, sonst nichts. I: Macht Dein Vater den Rest? J36W: Ja. Neben Aufgaben im Haushalt konnte die gelegentliche Betreuung von jüngeren Geschwistern hinzukommen. Kein/e Befragte/r fühlte sich dadurch jedoch eingeschränkt. I: Nervt Dich das dann, wenn Du auf den aufpassen sollst? J35M: Nee, das ist auch nur selten. Und das ist ja mein Bruder. Ich wäre vielleicht manchmal lieber mit den Freunden, aber das ist okay Eine Ausnahme bildet lediglich ein Befragter, der das Gefühl hatte, dass seine Mutter sämtliche Haushaltsaufgaben auf ihn überträgt. J40M: Zum Beispiel ich sollte immer alles putzen, immer genau das machen, was sie sagte, oder: „Du gehst jetzt nach der Schule dahin und kaufst noch was ein!“ Ich habe aber keine Lust dazu, so war das. I:  Also die hat Dir immer die ganzen Aufgaben aus dem Haushalt gegeben, damit sie weniger machen musste. J40M: Genau, damit sie nichts machen musste. Einer der Befragten, die im Heim lebten, berichtet zudem von Anpassungsschwierigkeiten, als er mit den dortigen Haushaltsaufgaben konfrontiert wurde. Er sieht diese allerdings inzwischen  als Chance an, Selbstständigkeit zu erlernen. J41M: Dann das mit Putzen und so, dass man hier [im Heim, A.d.V.] putzen musste, dass man kochen musste. Das hat mich auch schon so ein bisschen genervt, aber nach einer Zeit, vielleicht nach zwei, drei Wochen hat man sich schon dran gewöhnt gehabt. I: Musstest Du so Sachen zu Hause auch mal machen? J41M: Nee. Das hat Mama gemacht. Außer Zimmer aufräumen, das habe ich selber gemacht.

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I: Aber würdest Du jetzt sagen, dass es vielleicht sogar ganz gut ist, so für die Zukunft, dass Du so etwas lernst? J41M: Ja, klar. Da lernt man auch so Selbstständigkeit. I: Das gibt einem ja auch andere Möglichkeiten, wenn man später mal alleine lebt. J41M: Genau. Dann isst man auch nicht immer nur bei Mc Donald’s (lacht). Hingegen hatten im Kontext Schule schon einige der qualitativ Befragten der Klasse 2 bereits die Position der/s Klassen- oder Schulsprecher*in übernommen, maßen dem im Vergleich zu Klasse 1 aber nicht unbedingt eine große Bedeutung bei. Die übrigen Befragten hatten kein Interesse daran, Positionen zu übernehmen. Ein Befragter gab an, sich einmal bei einer Wahl aufstellen lassen zu haben und es nach einer Niederlage nicht erneut versucht zu haben. I: Hast Du schon mal in der Schule irgendwelche Funktionen oder Posten übernommen? J29W: Ja, hatte ich, sogar schon zweimal. I: Und hat Dir das irgendwas gebracht? J29W: Nee. I: Haben die Lehrer Dich dann nicht anders behandelt? J29W: Ja, besser behandelt auf jeden Fall. I: Warum hast Du das gemacht? J41M: Einfach so, ich habe einfach gemeldet (lacht). I: Also Du hast gedacht, dass Du dann irgendeinen Vorteil durch hast, oder war das unwichtig für Dich? J41M: Nee. Einfach so, just for fun. I: Also eher aus Langeweile? J41M: (lacht) Ja. I: Warum bist Du das denn geworden? J36W: Weil ich da viele Leute kenne und die mich kennen. I: Aber wolltest Du das werden oder hast Du da einen Vorteil von? J36W: Nö, das ist alles normal. I: Aber warum hast Du die Idee gehabt, das zu machen? J36W: Die Leute haben mich gewählt. I: Ja gut, aber Du hättest Dich ja nicht zur Wahl stellen müssen. J36W: Ja. Aber ich fand das auch gut. Zu dieser Form der Rollenübernahme beziehungsweise Positionierung kommt es hier zwar teilweise, ohne dass dies jedoch als zentrales Instrument der

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Interessensdurchsetzung verstanden wird. Bloß ein Jugendlicher, der bereits verschiedene Funktionen in der Schule übernommen hat, machte die Erfahrung, sich dadurch gegenüber Lehrer*innen besser durchsetzen zu können und bekommt seitens seiner Mitschüler*innen auch dafür Anerkennung. J40M: Die Schüler haben auch zu mir gesagt, es gibt so: „Du kannst mit den Lehrern diskutieren. Du kannst unsere Meinung auch vertreten.“ (..) Die Lehrer haben irgendwann, wenn sie was hatten, dann haben sie nicht mehr diskutiert, weil sie wussten, es wird eine riesen Diskussion dann daraus. Aber ich auch nur diskutiert, wenn ich wusste, dass ich im Recht bin. Sonst habe ich das auch nicht gemacht Eine noch größere Ausnahme stellt das Engagement in Jugendgruppen dar, was in Form von Freizeitgestaltung und Arbeit für andere in Richtung Bedürfnisbefriedigung abzielte. J40M: Ich habe sehr viel im CVJM gemacht, ich habe viel bei der Feuerwehr gemacht auch, in Jugendgruppen, weil ich Jugendgruppenschein habe, habe ich öfter was geleitet. Mit Blick auf den Freund*innenkreis zeigt sich bei den qualitativ Befragten zudem eine gemischte Lage bezüglich der Existenz von Hierarchien beziehungsweise dahin gehend, ob und wer den Ton angibt. Letzteres kann sich teils bloß darauf beschränken, wer wortführend bei der Entscheidung über gemeinsame Freizeitaktivitäten ist. Zumal etliche Freund*innenkreise relativ stark durchmischt sind, zeigt sich bei beiden Geschlechtern diese Spannweite. J24W: Meistens wird auf X1 gehört. Also wenn ich was mit Freundinnen machen, dann so: „X1, was machen wir jetzt?“, und alle Ja und ich: „Da habe ich keinen Bock. Da komme ich nicht mit.“ Dann alle: „Warum kommst Du denn nicht mit?“, ich sage: „Ja, ich habe keinen Bock.“ Meistens richten sich einfach alle nach X1. Ich bin meistens eigentlich auch so eine, die so sagt: „Mache ich jetzt mit, ist mir jetzt auch scheißegal!“ I: Aber es ist nicht so, dass es Dich sehr stören würde, dass die das steuert? J24W: Nein, nein, das ist mir egal. Da habe ich jemanden, nach dem ich mich richten kann. Das muss ich nicht selber machen. I: Und wenn Du etwas möchtest, kannst Du die anderen relativ leicht überreden oder ist das schwierig? J28M: Bei Freunden kann ich eigentlich immer reden, ja, ich kann sehr gut überreden.

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I: Versuchst Du denn manchmal Leute zu sagen, wie die sich verhalten sollen? J35M: Ja, wenn die manchmal nerven. Wenn die dann so blöd kämpfen und sich verrückt verhalten. Das macht immer irgendwer. Das ist ja auch nicht alles so ernst, nur so im Spaß, aber manche machen das die ganze Zeit. Immer wenn die Langeweile haben, geht es los, weil die zu viel Energie haben. I: Machst Du dabei nicht mit? J35M: Doch schon, aber manchmal nervt das dann und dann sagt man, dass die aufhören sollen. I: Machen die das dann? J35M: Eher nicht. Man muss dann halt mit denen was anderes machen, was die ablenkt. Es ist hier halt wenig zu machen und es passiert jeden Tag das Gleiche. Da wird man dann unruhig. J36W: Klar, manche mögen viele, weil die nett sind oder gut aussehen oder so. Aber wichtiger sind die dann auch nicht. (…) I: Oder dass Du halt versuchst, wenn Du halt zum Beispiel sagst: „Ich möchte heute das und das machen“, dass Du halt versuchst, Dich dann auch durchzusetzen, und am Ende passiert auch das, was Du möchtest? J36W: Ja, wenn ich mal was machen will mit meinen Freunden, dann … also die diskutieren nicht, die sagen: „Ja, okay, machen wir, kein Ding.“ I: Also das schaffst Du dann auch immer, Dich durchzusetzen. J36W: Ja. Bei der Kommunikation von Bedürfnissen geht es in Klasse 2 ebenfalls vor allem um Anliegen gegenüber den Eltern. Hierbei besteht ein Bewusstsein für realistische und unrealistische Anliegen sowie ein unterschiedliches Herangehen. I: Aber wenn Du von Deinen Eltern etwas haben möchtest, dass die Dir etwas kaufen oder Dir etwas erlauben sollen, ist das leicht, die zu überreden, oder eher schwer? J16M: Also wenn es zum Beispiel zwölf oder 13 Grad wäre und dann ins Freibad gehen würde, das würden sie natürlich niemals erlauben, da könnte ich Stunden betteln und sie würden die Meinung nicht ändern. Bei so was nicht, aber wenn ich jetzt irgendwo hingehen möchte, zum Beispiel zu einem Laden oder so, dann würden die das schon erlauben; so was ist nicht schlimm.

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I: Aber gehst Du dann nur ein oder zwei Mal im Jahr zu Deinen Eltern und sagst, Du willst das oder das haben? J16M: Ja, das kommt bei mir nur sehr selten vor. Meistens ist es dann so, dass ich, ähm, dass sie mir das dann nicht von ihrem Geld kaufen, sondern dass ich auch Geld dazu gebe. I: Aber das sind dann größere Sachen, für die Du sonst lange sparen müsstest. J16M: Ja, das sind teure Sachen. I: Aber wenn Du etwas möchtest oder die überreden möchtest, gehst Du dann eher zum Vater oder eher zur Mutter? J16M: Eher zu meiner Mutter.

Sozial-emotionale Dimension Einen weiteren deutlichen Hinweis für Desintegration gibt die personale Dimension der TSD. Bei einem von fünf gemessenen Konstrukten zeigen die Jugendlichen klare Anzeichen, dass sie im Sinne der Theorie desintegriert sind. Die Fragen zu Konflikten in der Familie weisen eine Wahrscheinlichkeit von 67 % für die Antwortkategorien auf, die Desintegration nahelegen. Damit äußert ein erheblicher Teil der Schüler*innen dieser Klasse, dass sie oft einen ernsthaften Streit mit den Eltern haben und dass ihre Eltern ihnen zu wenig Freiraum lassen. Nicht wenige der qualitativ Befragten waren im Laufe ihrer Jugend zum Teil massiven familiären Problemen ausgesetzt. Bemerkenswert und teils ursächlich dafür ist, dass mehreren dieser Befragten aufgrund von Trennung oder Tod ein Elternteil fehlt. I: Haben Deine Eltern sich nach der Geburt getrennt? J24W: Mama ist mit mir schwanger geworden, da ist mein Vater abgehauen. I: Und hast Du den jemals getroffen? J24W: Ja, aber kein guter Eindruck. J41M: Ja. Ich habe den auch schon fünf Jahre nicht gesehen. I: Hättest Du denn Interesse an mehr Kontakt mit ihm, dass Du lieber mehr Zeit mit ihm hättest? J41M: Ja, eigentlich schon, klar. Er hat mir versprochen, dass er zu meinem Geburtstag kommt, aber da war er auch nicht da. Mitunter ist das Verhältnis zudem aufgrund von psychischen Krankheiten der Eltern belastet. Andere berichten von Konflikten, die aus dem Zuzug

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von ­Stiefeltern und -geschwistern resultieren, was wie schon in Klasse 1 alle Geschlechter betreffen kann. J38W: Hm, er hat ja auch noch Kinder gehabt und halt wir hatten da immer Streit gehabt, Mama hat sich nur um die gekümmert. Dann halt haben mein Bruder und ich uns so vernachlässigt gefühlt und dann wollten wir halt ausziehen und dann wir auch später ausgezogen, aber irgendwie klappte das dann zwischen uns so allen nicht mehr, weil zwischen mir und meinem Bruder so. Knapp die Hälfte der Jugendlichen berichtet, dass kaum oder gar keine gemeinsamen Freizeitaktivitäten mit den Eltern stattfinden. Dies betrifft allerdings auch Jugendliche, die das Verhältnis zu ihren Eltern als gut beschreiben. Mitunter scheitert es am Desinteresse der Jugendlichen beziehungsweise in konflikthaften Beziehungen daran, dass die Jugendlichen den Kontakt verweigern. I: Und wenn Du dann zu Hause warst, hat sie [Mutter, a.d.V.] dann die ganze Zeit etwas mit Dir gemacht? J24W: Nein, nein, nein. (…) Ich habe auf meinem Bett gelegen, sie auf ihrem Bett. Ich habe was auf meinem PC gemacht, sie nicht beachtet. Und sie hat … weiß ich nicht, sie hat dann meistens nur gepennt. (…) I: Und hast Du mit Deiner Mutter eigentlich jetzt noch Kontakt? J24: Ja, sie schreibt mich oft an und ruft mich öfters an. Ich antworte darauf immer nur so genervt, so: „Ja“, „Nee“, „Ja“, „Hm“, weil ich auch nicht wirklich Lust auf sie habe. I: Machst Du denn mit Deiner Mutter manchmal was zusammen? J29W: Nee, wir machen gar nichts. Das will ich auch nicht mehr. I:  Wie sieht es damit aus, dass Deine Mutter mit Dir auch mal was zusammen unternommen hat, also so in Richtung Freizeitgestaltung? Gab es da was oder warst Du eher auf Dich gestellt und warst mehr mit Freunden unterwegs? J40M: Pff, sie wollte was machen, aber ich wollte halt nicht, weil da war dann direkt der nächste Streit da. I: Also sie hat es schon noch ab und zu versucht, aber Du hattest dann keine Lust mehr. J40M: Ja. Also mein Vater, wenn der irgendwas gemacht hat, mit dem mache ich viel eher irgendwas.

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Viele Jugendliche sehen in ihren Eltern keine Ansprechpersonen bei Problemen; wie in Klasse 1 liegt dies zum Teil daran, dass sie ihre Eltern nicht belasten wollen, zum Teil aber auch daran, dass sie dafür Peers bevorzugen. I: Und redet Ihr viel und intensiv über Probleme, wenn was ist? J36W: Ja, ich rede mit Freundinnen. I: Aber nicht mit dem Vater oder der Schwester? J36W: Nee, die haben ihre Probleme. I: Auch nicht am Anfang nach dem Tod [der Mutter, a.d.V.]? J36W: Nee, da habe ich mich zurückgezogen, mein Vater auch. Ich glaube, dass es manchmal zu viel für ihn ist. I: Und für Dich jetzt? J36W: Am Anfang war es schwerer, aber ich denke jetzt nicht mehr so oft daran. Ich versuche das zu vergessen. Es hilft ja nicht, wenn ich immer schlechte Laune habe. Das Leben muss weitergehen. I: Über was für Probleme spricht man denn mit den Eltern? J34M: Nein, ich rede nicht mit meinen Eltern über Probleme. Dann gehe ich zu Freunden. Mitunter bleiben Enttäuschungen über das Verhalten der Eltern unausgesprochen. I: Also irgendeine Idee, woran das liegt, warum die Dich so behandelt hat? J29W: Ich weiß es wirklich nicht. Die Frage geht mir immer … die stelle ich mir jetzt sogar noch. Ich weiß es einfach nicht. (…) I: Sprichst Du da auch mal mit ihr und fragst sie danach, was das sollte? J29W: Ja, aber das nicht, das nicht. Ich rede nur manchmal mit der so über meine Probleme. So Schule, aber sonst auch nicht. Vielfach zeichnet sich somit auch in Klasse 2 bei den qualitativ Befragten zumindest im Alltag ein Bild von geringer emotionaler Bindung an die Eltern und von Erlebnissen fehlender Unterstützung und Nähe. Interessanterweise berichten jedoch zwei der Heimbewohner*innen, dass sich durch den Heimaufenthalt ihr Verhältnis zu den Eltern deutlich verbessert hat, nachdem klärende Gespräche stattfanden. J38W: Mama und ich haben uns halt sehr oft gestritten und seitdem wir halt von ihrem Ex-Mann halt ausgezogen sind und so, da war das halt richtig schlimmer. Da haben wir uns öfters gestritten. Dann halt wurde sie auch

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manchmal handgreiflich und dann haben wir dann beschlossen, bevor es halt heftiger wird, dass wir dann auseinander gehen. Aber wir haben halt immer noch guten Kontakt. Ich bin halt auch fast jedes Wochenende bei ihr, wir machen was zusammen. (…) Ja, wir reden auch sehr offen darüber, so wie mit Freunden halt. Sie fragt mich halt so Sachen, wie es mit dem Freund ist und so. Dann sage ich ihr das. Dann halt sie rastet auch gar nicht aus, sie sagt dann nur vielleicht manchmal: „Das ist nicht in Ordnung, mach das nicht noch einmal!“ Sonst rede ich jetzt mit ihr in der letzten Zeit auch über alles. J41M: Ja, das war ein aufwühlendes Gespräch. Dann haben meine Eltern geweint natürlich, also mein Stiefvater und meine Mutter. Und dann, ja, habe ich die um Verzeihung gebeten und dann haben die das angenommen. Alle qualitativ Befragten dieser Klasse berichten, dass sie Freund*innen haben, denen sie vertrauen können. Auch hier erfolgt eine Unterscheidung zwischen Kumpels, Freund*innen und besten Freund*innen. Wenngleich vereinzelt mehrere hundert Personen als gute Freund*innen bezeichnet werden, zählen viele nur einen Bruchteil ihrer Freund*innen zum engeren Freund*innenkreis. In diesem zählt vereinzelt auch die gegenseitige Unterstützung bei Schlägereien zu den verbindenden Elementen. Der weitere Freund*innenkreis zeichnet sich häufig durch Misstrauen, Manipulation und Konkurrenzkampf aus. Mehrere Jugendliche berichten von Lügen, Lästereien, gegenseitigem Verrat und gegenseitigen Ausspannen von Partner*innen. I:  Kritisiert Ihr Euch denn auch manchmal, wenn Euch was an den anderen stört? J36W: Ja, ich sage denen alles und die mir auch. Wir sind da ganz offen und sagen das sofort. Nur bei denen, die unwichtig sind, da lästern wir vielleicht oder sagen nichts. I: Wie groß ist Dein Freundeskreis inzwischen ungefähr? J34M: Mehr als 500. Ja, im Facebook auch, ich habe mehr als 600. Aber es gibt nur fünf gute Freunde und alle anderen sind vielleicht nur Freunde, aber die sind mir nicht so wichtig. Den Fünfen vertraue ich richtig. Also es gibt fünf Jungs, denen ich richtig vertraue, mit denen ich immer rausgehe. Und es gibt vielleicht 500, denen ich nicht vertraue und so. I: Aber warum siehst Du die dann überhaupt als Freunde an? J34M: Also ich kenne die nur aus der Schule und so, ich rede nicht mit denen, aber ich habe die als Freund. Aber ich vertraue denen nicht.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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I: Also Du hast die dann bei Facebook drin oder sonst wo im Internet, aber mehr auch nicht. J34M: Ja, so wir reden nicht so miteinander, wir treffen uns nicht, aber trotzdem das ist ein Freund. Also wenn ich was brauche, komme die vielleicht, aber wir sind nicht richtige Freunde, nicht wie J33 und J35. I: Hast Du es denn bei den anderen schon mal erlebt, dass die Dich verraten haben oder betrogen oder verarscht? J34M: Also nee. I: Was meinst Du denn dann damit, dass Du denen nicht so richtig vertrauen kannst? J34M: Ja, wenn ich dem nicht vertraue, dann sage ich dem auch nichts. Also es gibt Freunde … und ja, den Freunden, denen ich nicht vertraue, denen erzähle ich einfach nichts, weil sonst sagen die das weiter. Aber bei denen, denen vertraue ich, die wissen fast alles über mich und so. I: Würdest Du denen denn auch alles aus der Familie erzählen oder gibt es da auch Grenzen? J34M: Nein, also Sachen von zu Hause kommen nicht raus und so. Ob mit den besten Freund*innen über Familienprobleme gesprochen wird, variiert auch in dieser Klasse. J33M: Aber eigentlich redet man nicht, wenn man mit den Eltern selbst Stress hat. Man spricht, wenn es zu Hause hektisch wird oder viel los ist. Aber nicht, dass man streitet oder jemand Probleme in der Familie hat. Das sind ja die Probleme der Familie. J35: Wenn ich mit den Eltern streite oder die etwas nicht wollen, was ich mache, das sage ich nicht. Oder wenn einer in der Familie Probleme hat, das soll kein anderer wissen. Das ist für die Familie schlecht. I: Aber wenn Du denen vertraust, warum kannst Du denen das dann nicht erzählen und vielleicht auch Tipps von denen bekommen? J35M: Ja, keine Ahnung, manche Sachen müssen in der Familie bleiben. Ebenfalls variiert das Verhältnis zu Mitschüler*innen. Die Spanne reicht von einem vertrauensvollen über ein gleichgültiges bis hin zu einem feindseligen Verhältnis. I: Mobbing gibt es dann bei Euch in der Art schon. J38W: Ja. Aber die ganze Klasse redet schlecht über sich gegenseitig, deswegen.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

In den Heimen zeigt sich, dass alle Jugendlichen mindestens eine Ansprechperson unter den Mitarbeiter*innen haben, der sie vertrauen. Zudem scheinen sich die Befragten im Heim wohl zu fühlen. I: Sind die dann hier so eine Art Familienersatz für Dich? J40M: Also auf jeden Fall mit einem Bezugssozi bin ich relativ gut befreundet, zu dem kann ich auch nach Hause gehen. Aber generell, die sind schon so eine Art Freunde oder Ersatzfamilie für mich schon. I: Empfindest Du das dann hier insgesamt auch als so eine Art zu Hause oder ist das etwas anderes? J40M: Es ist nicht wirklich ein Zuhause, aber auch irgendwie doch. So ein bisschen beides. J42M: Ja, am Anfang war das alles so ziemlich komisch noch. I: Warum vor allem? J42M: Also diese ganzen neuen Leute hier und diese Sachen. Aber inzwischen ist das wie so eine Großfamilie. Man muss sich da erst rein finden, wenn man das will. Wenn man das nicht will, dann sagt man sowieso, alles ist scheiße. I: Und das hat dann auch alles relativ schnell funktioniert und dann war es okay. J42M: Ja. (…) I: Aber es ist schon so, dass Du nicht denkst, das ist hier nur ein Ort, an dem Du wohnen musst, sondern Du fühlst Dich hier auch wohl? J42M: Ja, klar. Das schließt vereinzelte Unmutsäußerungen aber selbstverständlich bezüglich einzelner Heimmitarbeiter*innen nicht aus, da es auch hier wie in anderen sozialen Kontexten zu Konflikten kommen kann. J38W: Weil die spielen hier immer so einen gegeneinander aus. Für die breite Mehrheit der qualitativ Befragten der Klasse 2 waren Jugendtreffs langjährige und häufig fast tägliche Anlaufpunkte. Die Jugendlichen scheinen insbesondere das Freizeitangebot und die Unterstützung bei Hausaufgaben und Bewerbungen zu schätzen. Die Sozialarbeiter*innen haben dennoch für viele Befragte keine besondere Bedeutung – daran änderte sich für eine Jugendliche auch mit dem Tod ihrer Mutter nichts. I: Haben die denn schon mal was für Dich getan, um Dich irgendwie zu unterstützen, vielleicht auch nach dem Tod Deiner Mutter?

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J36W: Nee, nichts Besonderes. Wir gehen hier halt nur so hin. Manchmal spielen wir. Mit ein paar Leuten verstehe ich mich, aber sonst ist das nicht so wichtig. I: Also hast Du zu keinem einen besonderen Kontakt? J27M: Nee. Da gehe ich nur hin, um Freunde zu treffen und zu zocken. I: Helfen die sonst noch bei was? J33M: Nee, nicht. Das ist mehr zum Lernen, Spielen und man kann sitzen und chillen. Nur einzelne Befragte ziehen es in Betracht, mit den Sozialarbeiter*innen über persönliche Probleme zu sprechen. I: Spielen die Leute, die hier arbeiten, trotzdem schon eine Rolle für Dich und sind so was wie Vertrauenspersonen? J29W: Nee, hier auch nicht. Aber eine ist sehr nett, die mag ich am meisten. Wir sprechen aber nur so. I: Und helfen die Dir auf irgendeine Art hier? J29W: Ja, einfach alles, ich kann mit der auch über manches reden. I: Aber auch über Probleme von früher? J29W: Nee, das geht keinen was an. Das ist sowieso vorbei. Das war Kindheit, jetzt ist Jugend. I: Und die Leute, die da arbeiten, war da jemals jemand eine Vertrauensperson für Dich? J35M: Also denen konnte man alles anvertrauen. Also da war auch eine vom Jugendamt, die hat gesagt, die hat Schweigepflicht. Und der konnte man alles sagen, egal was ist. I: Aber über was für Probleme hast Du mit der gesprochen? J35M: Also ich habe noch nie mit der geredet. Man kann das nur. Unter denjenigen, die solche Gespräche in Erwägung ziehen, berichtet nur ein Befragter davon, bereits mit einem Mitarbeiter über familiäre Probleme und Gewalttaten gesprochen zu haben. I: Und gibt es da irgendwen, der für Dich wichtig oder eine Vertrauensperson ist? J26M: Ja. I: Und sprichst Du mit denen über Probleme oder kannst Du Dich bloß mit denen gut unterhalten?

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J26M: Ja, alles eigentlich, ich unterhalte mich mit denen, wenn ich Probleme habe. I: Und bei was für Problemen gehst Du zu denen? J26M: Probleme, wenn ich was falsch gemacht habe. I: Was meinst Du damit? J26M: Also Kämpfe oder ich weiß nicht so … I: Also dann gehst Du eher zu denen oder zu Deinem Bruder? J26M: Ja. I: Und haben die dann irgendwelche Tipps und helfen Dir? J26M: Ja. I: Was zum Beispiel? J26M: Die sagen, dass ich das nicht mehr machen soll und eher weggehen soll. Äquivalent zur Klasse 1 geben sehr viele Jugendliche der Klasse 2 an, ein gutes Verhältnis zu ihren (Stief-)Geschwistern zu haben. Häufig finden gemeinsame Freizeitaktivitäten statt. Nur zwei Befragte berichten von Misstrauen und Enttäuschung sowie mangelnder Unterstützung. I: Wie funktioniert das eigentlich mit Deinen Geschwistern, versteht Ihr Euch gut? J29W:  Ich verstehe mich mit meinem Bruder manchmal richtig gut, aber manchmal auch voll scheiße. Manchmal ist der einfach so … I: Sprecht Ihr zum Beispiel auch über Probleme? J29W:  Ja, ich mit ihm eigentlich nur, aber sonst mit gar keinem von den anderen. Ich halte das dann lieber geheim. Denen traue ich nicht so. I: Haben die Dich denn früher mal gegen Deine Mutter unterstützt? J29W: Doch, mein Bruder. Der hat aber auch manchmal gelacht, wenn ich geschlagen wurde. I: Oder macht Ihr noch irgendetwas zusammen? J29W: Nein, eigentlich nicht. Manchmal gehen wir raus, aber sonst nicht. J34M: Ja, zum Beispiel mein Bruder manchmal erzählt über mich, obwohl das nicht stimmt. I: Um Dich dann gegenüber Deinen Eltern schlecht zu machen? J34M: Ja, also der macht das extra, damit ich nicht rausgehen darf. Etliche Jugendliche geben zudem an, in ernsten Partnerschaften zu sein beziehungsweise in der Vergangenheit in solchen gewesen zu sein. Der folgende Fall verdeutlicht, welche Rolle Partnerschaften für die Jugendlichen im besten Fall spielen können.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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I: Hat die Dich denn in irgendeiner Form unterstützt, also dass sie für Dich in irgendeiner wichtigen Art für Dich da war bei dieser Veränderung? J40M: Ja, das war auch keine leichte Zeit, als ich hier eingezogen bin. Und dabei hat sie mir geholfen. I: Auf welche Art? J40M: Ich hatte z. B. anfangs noch Ärger mit den Sozis hier auch. (…) Da konnte ich einfach zu ihr und so was. I: Gibt es denn schon konkretere Pläne in Richtung Zukunft? J40M: Ja, also ich gehe erst einmal ins betreute Wohnen und dann wir so langsam, das haben wir vor, nächstes Jahr oder übernächstes, dass wir zusammenziehen Einzelne Jugendliche gaben hingegen an, (noch) kein Interesse an einer Partnerschaft zu haben. Dies begründeten sie zum Teil mit religiösen Vorschriften. I: Also würdest Du gerne eine haben und Du darfst das nur nicht oder möchtest Du keine haben? J34M: Also ein Mädchen, ich würde gerne mit der zusammen sein, aber ich mache das nicht wegen Religion und auch weil ich keinen Bock drauf habe. Weil man kriegt mit Mädchen immer Probleme, wie alle auch sagen und so. I: Was für Probleme? J34M: Die sagen dann immer: „Die nervt“, sagt die immer: „Mach das hier und das!“ Also meine Freunde sagen das, aber ich weiß das nicht. Mir ist das mit Mädchen deshalb noch eher egal. I: Hast oder hattest Du schon mal eine Freundin? J33M: Nee, nie. I: Warum nicht? J33M: Eigentlich auch mit Religion. I: Also sagen Deine Eltern, Du darfst nicht? J33M: Ja. I: Würdest Du denn gerne eine haben wollen? Weil viele Jungs in Deinem Alter haben ja schon Freundinnen. J33M: (lacht) Weiß ich nicht. I: Also wirst Du warten, bis Du erwachsen bist und heiratest? J33M: Ja, vielleicht. J29W: In der Grundschule. I: Aber danach keine Beziehungen mehr?

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J29W: Nee, ich will das nicht, ich bin noch zu jung dafür, denke ich mir immer. Andere berichten zudem von Negativerfahrungen verschiedener Art in früheren Beziehungen. Die Jugendlichen fühlten sich nicht respektvoll und als austauschbar behandelt. I: Also der war schon leicht kriminell, könnte man sagen? J38W: Ja. I: Und wie lange hat das gedauert, bis Du gemerkt hast, dass der so ist? J38W: Drei Monate. Ja, vielleicht auch kürzer. I: Und am Anfang hat er sich eher verstellt? J38W: Ja, und dann wurde er nach einer Zeit richtig scheiße, hat sich kaum noch gemeldet. Dann hatte ich halt auch keine Lust mehr auf den. I: Hast Du denn Angst, dass die Dich verlassen könnten? J36W: Das ist auch schon passiert, weil man ja nie weiß, wie die anderen Mädchen sind. Wenn die einen richtig wollen, dann können die dem ja auch was bieten. Da sagen die Jungs dann ja. Da muss man aufpassen. Eine Befragte berichtet davon, von Verlustängsten geplagt zu sein. J24W: Das ist, ähm … das ist meistens so, dass ich Angst habe, dass er sich umverliebt, dass er eigentlich … dass seine Gefühle zu mir nicht stark genug sind. Weil ich es einfach schon viel zu oft erlebt habe, dass seine Gefühle nicht stark waren, nicht stark genug, und dann jemand anders kam und ihn mir weggeschnappt hat. Und da habe ich starke Verlustängste. I: Also wie oft hast Du so was schon erlebt? J24W: Bisher eigentlich alle meine Beziehungen. I: Aber würdest Du sagen, dass bei Deinen bisherigen Freunden mal einer dabei war, der richtige starke Gefühle Dir gegenüber hatte, oder waren das für die eher alles so Spaßbeziehungen? J24W: Höchstens einer. I: Und der hat Dich dann auch anders behandelt? J24W: Der hat mich am Ende richtig schlecht behandelt. Ich konnte vor ihm weinen und es war ihm scheißegal. Im Gegenzug verdeutlicht einer der Befragten, Partnerinnen wenig wertzuschätzen.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J10M: Wie soll ich das erklären, Freundin kann ich jetzt auch nicht so sagen, weil das ist ein Weib, wo ich sagen kann, wir streiten uns sinnlos. Die sagt: „Okay, geh weg, verpiss Dich!“ Wenn ich jetzt sagen würde, das ist meine Freundin, dann wäre die vielleicht auch dagegen. Ich wollte auch mehrmals so sagen: „Ich liebe Dich“, das weiß die auch, aber wie soll ich das erklären, das ist so krass, ja irgendwie. I: Ja, gut, aber so etwas richtig Ernstes mit starken Gefühlen oder so ist das nicht wirklich, oder? J10M: Also ich halte nicht von diesem … ich habe doch mehrere. I: Aber war schon mal eine dabei, bei der Du irgendwie gesagt hast, die ist für Dich besonders wichtig, oder hattest Du das bis jetzt noch nicht? J10M: Doch, hatte ich. I: Was war bei der dann anders? J10M: Ihr Charakter. Charakter ist wichtig, wie korrekt die ist, wie nett die ist. Das ist am Wichtigsten. Und gutes Aussehen natürlich. Das ist richtig wichtig. Zum Beispiel die ist richtig stressig, ich sage: „Reg mich nicht auf!“ Wenn ich zum Beispiel nur höre, das Weib, was ich zurzeit habe, ich habe auch zwei, so gesagt, ich habe sogar Dings, Rose, alles geholt, Kette, ich habe gesagt: „Ich will Dich haben“, und so, die weiß das auch. Die meinte auch: „Ich überlege noch zurzeit. Ich weiß nicht ganz genau.“ Zusammenfassend zeigen die Jugendlichen der Klasse 2 auf drei von elf Konstrukten der TSD klare Anzeichen für desintegrative Prozesse in den erfragten Lebensbereichen, wobei die schulischen Anforderungen in Verbindung mit einer als ungerecht empfundenen Behandlung durch die Lehrer*innen sowie Konflikte mit den Eltern besonders hervorstechen.

4.3.4.3 Kontrollbalance – Imbalancen der Kontrolle Die erste Auffälligkeit bezüglich der CBT zeigt sich in Klasse 2 bei den beiden Konstrukten zur Wichtigkeit von Beeinflussung mit den beiden Ausprägungen, andere zu beeinflussen oder von anderen beeinflusst zu werden. In beiden Fällen sind die Wahrscheinlichkeiten klar zu der Kategorie verteilt, die im Sinne der Theorie eine Kontrollbalance nahelegt. Die Wichtigkeit, von anderen nicht beeinflusst zu werden, erhält dabei ausgesprochen hohe Zustimmungen, die sich in einer hohen Wahrscheinlichkeit (95 %) für die Kategorie niederschlagen, die eine Kontrollbalance repräsentiert. Wenn es darum geht, die Wichtigkeit der Kontrolle über andere Personen zu bewerten, zeigt sich ein differenzierteres Bild. Knapp

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

ein Drittel (32 %) der Wahrscheinlichkeitsverteilung entfällt auf die zweite Kategorie, die für Imbalancen der Kontrolle steht. Ein Teil der Jugendlichen gibt hier an, andere kontrollieren und ihnen sagen zu wollen, was sie zu tun haben.

Moralische Aspekte Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den in- und extrinsischen (vgl. Abschn. 4.3.3.3) Begründungen zur Ablehnung von physischer und psychischer Gewalt, die als Moral zu den Einflussvariablen im Entscheidungsprozess der CBT zählen. Die intrinsisch motivierten Begründungen, zu denen etwa Items wie „Man sollte andere nicht schlagen, um ihnen keine Schmerzen zuzufügen“ gehören, haben eine Wahrscheinlichkeit von 88 % für die Kategorie, die eine Kontrollbalance repräsentiert. In der Zuordnung jedoch deutlich anders verteilt stellen sich die extrinsischen Begründungen in der Klasse 2 dar. Die größere Wahrscheinlichkeit (65 %) ist hier zwar auf der oberen Kategorie zu finden, entsprechend ist sie allerdings mit 36 % auf der Gegenkategorie relativ hoch. Das bedeutet, dass in Klasse 2 ein Teil der Jugendlichen Gewalt nicht generell aus moralischen Gründen ablehnt. Stattdessen wird die Ablehnung an bestimmte Bedingungen geknüpft, wie etwa die eigene körperliche Stärke oder das Verhalten anderer Personen. Wenn sie z. B. körperlich überlegen sind, ist Gewalt demnach durchaus ein adäquates Mittel für diese Schüler*innen. Die Mehrheit der qualitativ Interviewten der Klasse  2 äußerte keine intrinsische Motivation zum Gewaltverzicht. Lediglich einzelne Jugendliche gaben an, Gewalt abzulehnen beziehungsweise keinen Sinn in Schlägereien zu sehen. Die übrigen sahen Gewalt als normales Aushandlungsmittel im Jugendalter an. Einschränkungen wurden gegebenenfalls dahin gehend formuliert, dass Jüngere nicht geschlagen werden sollten, niemand ohne Grund geschlagen werden sollte oder dass niemand schwer verletzt werden sollte. J10M: Mein Bruder sagt zu mir selber: „Guck mal, wenn Du kämpfst, dann kämpfe nicht gegen kleinere Kinder, weil das ist ehrlos. Irgendwann wirst Du das schon verstehen. Weil stell Dir mal vor, Du bist fünf Jahre alt oder sieben und da kommt ein 15-jähriger! Du bist acht Jahre. Was willst Du reißen? Du bist für den ein Nackenklatscher, da bist Du schon weg.“ Mitunter wurden zudem Fairnessregeln formuliert, dass die Personenanzahl der kämpfenden Parteien ausgewogen sein sollte. Häufig waren die Geschwister der Jugendlichen ebenfalls gewalttätig – insbesondere die älteren Brüder.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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I: Die [Geschwister, A.d.V.] sagen dann dazu nichts? J33M:  Nee, mein älterer Bruder hat ja auch manchmal Schlägereien. Die Schwester sagt manchmal, dass wir so etwas nicht machen sollen. I: Aber darauf hörst Du dann nicht? J33M:  Es kommt ja darauf an, was passiert ist. Wenn die meine Mutter beleidigen, dann muss ich ja reagieren. I: Das sieht die aber anders? J33M: Ja, aber die ist Mädchen. Von diesen sowie von den Eltern wird dann häufig Verständnis und mitunter sogar Anerkennung für die Gewaltanwendung erwartet. I: Also Du hast jetzt viel immer wieder über Deine Mutter geredet. Wie ist das Verhältnis zu Deinem Vater? J5M: Auch gut. Also wir verstehen uns immer gut miteinander, wir reden öfters. Und der meint ja auch so, der ist auch so wie meine Mutter, also zum Beispiel, wenn einer ihn beleidigt oder meine Mutter, dann meint er auch so: „Okay, dann kannst Du auch wirklich zuhauen.“ Aber wenn das nur so Kleinigkeiten sind, dann nicht. Also da meint er so: „Einfach nicht auf die hören! Also einfach weitergehen!“ J10M: Mein Vater ist … mein Vater mag das auch nicht. Mein Vater hat zu mir gesagt selber: „Wenn was sein sollte, wenn er Dich zuerst angreift, okay, dann natürlich kannst Du nicht sagen: ‚Okay, warte, hör mal auf! Was machst Du?‘“ dann sagt der sogar selber: „Dann zeig, was Du drauf hast! Das ist so eine Situation, wo ich sagen kann, wenn einer Dir jetzt wirklich gar nichts gemacht hat, sinnlos greifst Du auch nicht an, will ich auch, dass Du irgendwie auch einen provozierst, ich will das nicht.“ Hat mein Vater halt so gesagt: „Wenn was sein sollte, der Dich angreifen sollte, dann zeig, was Du drauf hast! Weil am Ende kannst Du auch gewinnen.“ Weil das ist das Problem, warum fängt überhaupt an. Ein Befragter gibt zudem an, vonseiten eines Jugendtreffmitarbeiters ebenfalls Verständnis zu erwarten. J5M:  Also die (Jugendtreff-Mitarbeiter*innen, A.d.V.) haben gesagt: „Ja, okay …“, die konnten es auch zum Teil schon verstehen, also der eine konnte es auch schon zum Teil verstehen. Also wenn einer meine Mutter beleidigt, ja, er konnte es auch verstehen: „Ja, okay, das ist Deine Mutter. Und das sagt man ja nicht.“

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Diese Annahmen fußen auf entsprechenden Männlichkeits- und Ehrvorstellungen. I: Dann mal anders gefragt, gibt es Leute, bei denen Du wüsstest, wenn Du mit denen kämpfen würdest, dass Du dann eher angezeigt wirst? J35M: Ja, klar. Mit denen will man auch nicht kämpfen. Das sind voll die Mädchen, die rufen immer Hilfe. Ein Mann sollte kämpfen und so. Wir kämpfen ja auch nicht gegen die, die immer Hilfe wollen und brauchen.

Impulsivität Neben moralischen Aspekten wird Impulsivität als weitere wichtige Größe von der Theorie formuliert. Im Prozess der Entscheidungsfindung kann eine impulsive Persönlichkeit zur Anwendung oder Abkehr von deviantem Verhalten führen. Das Konstrukt wurde mit drei Items gemessen, wobei es darum ging, ob jemand gerne Streit sucht, leicht ausrastet und generell impulsiv ist. Die Wahrscheinlichkeiten sind beinahe gleich auf den Kategorien verteilt, wobei ein leichtes Übergewicht (51 %) für die Antwortoptionen besteht, die ein hohes Maß an Impulsivität bedeuten und damit eine höhere Wahrscheinlichkeit für Imbalancen der Kontrolle signalisieren. Eine Person, die im Sinne der Theorie motiviert ist und bewusst über Devianz als Lösung nachdenkt oder im Affekt handelt, kann – durch die impulsive Persönlichkeit gefördert – eher zu dem Schluss kommen, dass Gewalt eine adäquate Lösung ist. Insofern gilt für die Befragten in dieser Klasse, dass sich ein tendenziell eher impulsives Verhalten nachteilig auf das Erlangen von Realitätskontrolle auswirken kann. Dieses Ergebnis wird durch die Erkenntnisse der qualitativen Interviews gestützt. Unter den qualitativ Befragten der Klasse 2 beschreiben sich einige als impulsiv. Andere berichten bei Provokationen davon, häufig Aggressionen zu verspüren, die sie unterdrücken müssen, um nicht zu „explodieren“. J5M: Ja, Beispiel, also wenn einer meine … also meine Oma ist halt gestorben und einer hat halt zu mir gesagt: „Fick Deine Oma!“, und dann fand ich schon in dem Moment Gewalt … also einfach zuschlagen nur noch. I: Gibt es da einen Grund für? J21M: Nein, ich werde irgendwie so beleidigt, dass es so einen Punkt trifft so, zum Beispiel als Nigger oder Hurensohn so. Dann werde ich schnell aggressiv und haue zu. J22M:  Wenn ich aggressiv bin und jemanden schlagen will, dann tue ich es auch. Dann kann mich niemand aufhalten, deswegen, das ist das Problem bei mir.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J24W: Und, ähm, wegen meinen Aggressionen, das ist so, ich schlucke die, ich tue die irgendwo tief in mich rein und hoffe, dass die nicht ausbrechen. Manchmal werde ich allerdings aggressiv, aber ich werde nicht oft aggressiv, ich bin eigentlich ziemlich ausgeglichen. I: Aber wenn Du aggressiv wirst … J24W: Dann sollte sich niemand in meiner Nähe aufhalten. Weil ich dann einfach nur immer Lust habe, jemanden zu schlagen. Aber ich habe mich immer so weit unter Kontrolle, dass ich das niemals tun würde. Ich werde dann einfach aggressiv, gifte jeden an, aber wirklich jeden. J38W: Also ich bin schnell gereizt dann, wenn jemand eine Kleinigkeit macht, ich bin dann schnell gereizt. I: Dass Du dann aggressiv wirst. J38W: Ja. I: Aber Du lässt es quasi nicht raus. J38W: Nein. In meinem Kopf spielt sich das dann immer nur ab, was ich mit denen gerne machen würde (lacht). Noch nie habe ich dann jemanden so … Äquivalent zur Klasse 1 sind es sehr viele der qualitativ Interviewten der Klasse 2 gewohnt, unter Freund*innen aus Spaß beleidigt zu werden. Auch bildet die Bezeichnung als „Hurensohn“ die gängigste Initialzündung für Gewalt, was somit einen zentralen Trigger der Impulsivität darstellt. I: Also wo ist die Grenze, wo man sagt, das sollte man nicht? J5M: So Beispiel: „Du Hurensohn!“ oder: „Fick Deine Mutter!“, und so was. Da würde ich sagen, okay, da ist schon die Grenze überschritten. Da werde ich schon böse. J10M: Am meisten kämpft man auch wegen Familie, auch wegen was anderem auch eigentlich. Zum Beispiel einer sagt: „Boah, Du bist das und das“, dann sagen die: „Boah, halt mal Deine Fresse!“ Kommt auf die Leute eigentlich drauf an. Manchmal sagen die das und das. Und wenn am meisten die Familie ist, dann sagen die am meisten auch kämpfen und so. J35M: Also man soll keine Freunde beleidigen. I: Aber aus Scherz macht Ihr das ja trotzdem oft. J35M: Ja, manchmal. Aber mit den guten Freunden nicht so. I: Und durch was für ein Verhalten kann man Respekt gewinnen? J35M: Man soll seine Freunde respektieren, indem man sie nicht beleidigt.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Alternativ dazu wurde an einem Interviewstandort ständig die Bezeichnung für Mädchen als „Hurentochter“ verwendet, die dort den gleichen Effekt wie bei den Jungen hatte. Im Anschluss an das Interview mit J36W hat etwa der Interviewer miterlebt, wie jene auf dieses Stichwort hin sofort einen anderen Jugendlichen vor dem Jugendtreff verfolgt hat und es zumindest zu einem mehr oder weniger ernst gemeinten Spaßkampf kam. Dieser Begriff hatte für J36W besondere Bedeutung, da ihre Mutter vor einigen Jahren verstarb, was ein zentraler Grund dafür sein kann, warum sich der andere Jugendliche, nachdem er daran erinnert wurde, nach dem Gerangel bei ihr deutlich entschuldigte. Einzelne Interviewte messen hingegen Beleidigungen der Familie unter Freund*innen aus Spaß keine Bedeutung bei, was in Einklang mit dem Beispiel von J36W verdeutlicht, dass dieser Trigger nicht grundsätzlich funktioniert, sondern vor allem sozialisationsbedingt auftritt beziehungsweise im Kontext verstorbener Eltern. I: Und wenn man ein paar Stunden hier ist, hat man den Eindruck, dass irgendwer immer die Eltern von anderen beleidigt. J33M: Manche machen das aus Spaß und manche ernst. I: Aber bei den Leuten, die Ihr hier trefft, bei denen nehmt Ihr das nicht so ernst. J33M: Nee. I: Und wenn es jemand wäre, den man nicht so gut kennt, dann wäre es ernst. J33M: Ja

Sanktionen Die CBT thematisiert im Rahmen der Beschränkungen das situative Risiko, das der Ausübung von Gewalt hemmend gegenüber steht. Das situative Risiko beschreibt dabei die tatsächlichen Chancen, dass das abweichende Verhalten sanktioniert wird und somit eine Kontrollerfahrung stattfindet. Im Fragebogen war dafür die Messung von Sanktionen als Konsequenz einer Schlägerei vorgesehen. Verschiedene Verbote wurden erfragt, wie etwa die Beschränkung des Internetzugangs oder die Wegnahme des Smartphones. Für die Jugendlichen der Klasse 2 zeigt sich eine Wahrscheinlichkeit von 80 % für die Antwortkategorie, die für eine weniger häufig stattfindende Sanktionierung steht. Das bedeutet auch, dass knapp 20 % auf die Kategorie entfallen, die eine häufige Bestrafung signalisiert und damit für eine erhöhte Kontrolle durch die Eltern steht. Die qualitativ Befragten der Klasse  2 zeigen sich insbesondere von juristischen Sanktionen beeindruckt. Das Wissen darüber, ab dem Alter von

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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14 Jahren jugendstrafrechtlich belangt werden zu können, bewirkt, dass sich die Jugendlichen seitdem umsichtiger verhalten. Dies drückt sich weniger in einem Verzicht von Gewalt aus als vielmehr darin, dass die Jugendlichen einen gesteigerten Wert auf Absprachen darüber legen, einander nicht anzuzeigen. J33M: Ich kämpfe mit denen ja zum Beispiel, wenn die mich oder meine Familie beleidigen. Warum tun die das? Wenn die das machen und dann schlage ich die, dann können die mich doch nicht anzeigen. Und wenn wir einen provozieren, dann zeigen wir den danach doch auch nicht an. Das ist doch nicht normal. Das machen nur die Deutschen. Die sind feige. Wenn Du kämpfst, ist das danach wieder geklärt. Deshalb kämpft man ja. (…) Ich glaube, dass das für Jungs in dem Alter normal ist. Wenn die Polizei nach Hause kommen würde, dann würde es aber bestimmt Ärger geben. Besonders seit ich 14 bin. Da ist man dann vorsichtiger, dass man keinen Ärger bekommt. Ermahnungen sowie Strafen der Geschwister, Eltern, Betreuer*innen und Lehrer*innen haben den Jugendlichen zufolge in der Regel hingegen weniger Wirkung auf sie. I: Aber nervt Dich das, wenn Deine Mutter was sagt oder ist das egal? J21M: Ja, die sagt, ich soll mich in der Schule nicht mehr so oft boxen. Aber dadurch wird es nicht weniger. I: Die redet halt nur mit Dir, sonst macht sie nichts? J10M:  Die wollte dafür mich auch Therapie schicken. Habe ich gesagt: „Nein, Mama, brauchst Du nicht!“ Weil eigentlich nicht meine Mutter … meine Mutter hat so von meiner Schwester gehört, die meinte so Aggressionstraining. Ich habe aber gesagt: „Ich verspreche“, ich habe gesagt: „Ich verspreche Euch allen, ich werde mich verändern“, dann meinte die: „Okay, eine Woche hast Du Zeit. Wenn ich das noch mal höre …“ Zwei, drei Wochen, die haben abgewartet und abgewartet, dann haben die nichts gehört, dann haben die gesagt: „Okay, Du hast es geschafft. Bravo!“ I: Aber dann versuchst Du auch, von denen so die Sachen ein bisschen zu verstecken, damit die das nicht mitbekommen. J10M:  Ja, eigentlich auch. Dann sage ich: „Ey, Jungs, macht mal Ihr für mich!“, so, das ist kein Problem. (…) Mein Lehrer ist so einer, der sagt zu mir: „Hör auf damit!“, dann sage ich Okay. Er so: „Guck mal, wenn

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Du mir versprichst, dann kannst Du das halten. Ich kenne Dich. Aber danach, nach vielleicht einem halben Jahr kommt das wieder von Dir raus manchmal.“ Ich weiß nicht, wovon das kommt, ob das vielleicht geklemmt ist oder so. I: Also was hat denn die Schule gemacht, wenn Du irgendwie Kämpfe hattest, wie haben die reagiert? J5M: Also bei mir war es immer so, wenn ich einen geschlagen habe, also, äh, beim ersten Mal, äh, musste ich einfach nur in der Pause, äh, drinne sitzen und eine Entschuldigung schreiben. Bei der zweite war schon Elterngespräch und bei der dritte war das glaube ich eine Schulmaßnahme. I: Also Du kriegst dann halt so verschiedene Strafen, die immer höher werden. J5M: Mmh. I: Haben die denn versucht auch mal, irgendwie mit Dir zu reden, um Dir zu erklären, dass das auch kein gutes Verhalten ist und dass Du Dich ändern musst oder so was? J5M: Ja, die haben es gesagt, also: „Diese Schlägereien, Du sollst damit aufhören, das ist nicht gut!“ Und die meinten ja: „Du willst ja selber was Gutes dafür machen, Dein Zeugnis gut machen halt.“ Ja, habe ich auch gesagt: „Ja, stimmt, haben Sie auch Recht.“ I: Ja, aber letzten Endes war es Dir eigentlich relativ egal, weil Du ja einen bestimmten Grund hattest, warum Du es gemacht hast. J5M: Ja. I: Und wie haben Deine Eltern auf Deine Kämpfe und den Diebstahl reagiert? J36W: Die haben auch gesagt, dass ich das nicht mehr machen soll und Hausarrest gegeben oder Handy weggenommen, aber mehr nicht. I: Und hat das was bewirkt? J36W: Nee, ich muss ja manchmal was zum Anziehen haben und habe kein Geld dann, dann muss ich das ja irgendwie machen. Aber ich passe auf, dass nichts passiert. I: Aber ich meine insgesamt durch die Schule, hast Du da schon Strafen bekommen? J21M: Ja. Ich habe mal … also ich wurde mal nach Hause geschickt, weil ich einen weggehauen habe, der war wirklich weg. I: Und gab es sonst noch Strafen? J21M: Nicht so richtig. I: Reden die Lehrer dann auch mit Dir darüber und versuchen, Dich zu verändern?

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J21M: Das interessiert die gar nicht. Die reden nur was, aber ist denen auch egal. Und mir auch. J35M: Einen hasse ich noch, den habe ich dann geschlagen, der war am Bluten. Und dann kam ein Krankenwagen. Der ist so fett. Da habe ich seine Nase gebrochen. (..) I: Und hast Du dann Ärger bekommen oder eine Anzeige? J35M: Nee, da war ich noch nicht 14. Aber in der Schule musste ich die Hausordnung abschreiben. I: Hast Du mal die Schule wechseln müssen? J35M: Nee, ich war immer hier. Im Gegensatz zu diesen Schilderungen der Bedeutungslosigkeit von Sanktionen berichtet ein Befragter von der Relevanz eines Aufenthalts in einer Jugendstrafanstalt, die einen Wendepunkt für ihn darstellte. Er berichtet, dass es ihn zudem zum Umdenken gebracht habe, seine Eltern enttäuscht zu wissen. J22M: Aber sonst so hat die immer zu mir gesagt: „J22, hör auf, geh weg, lass den in Ruhe! Das ist nicht gut, wenn Du Dich boxt.“ I: Aber darauf hast Du dann nicht gehört? J22M: Nein, das ist diese Wut gewesen und deswegen. I: Also wenn sie Dir so was gesagt hat, hast Du dann halt nicht drauf gehört. Es war halt nur der Arrest beziehungsweise wie Deine Eltern darauf reagiert haben, dass Du Dich verändert hast. J22M: Ja, das auf jeden Fall. Dieser Befragte gibt ferner an, sich in der Schule inzwischen ebenfalls zurückzuhalten, da er Sorge hat, seine Mitschüler*innen könnten Lehrer*innen hinzuziehen. I: Und in der Schule? J22M: Nein, da nicht, weil dann petzen die vielleicht. Ja, nicht dass die zum Lehrer gehen und sagen, J22 war das. Dann entsteht Stress draus und darauf habe ich keine Lust. Deswegen lieber nicht. Deswegen mobbe ich auch keine anderen so. Auch Ermahnungen von Polizist*innen blieben oft unberücksichtigt. J10M: Es gab schon mal einen Polizisten, meine ich schon, der zu mir gesagt hat: „Warum machst Du das? Hör mal auf!“, und so. Vielleicht so was

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

mal, aber mehr glaube ich nicht. Der meinte: „Warum machst Du das? Das ist voll sinnlos.“ I: Aber das war dann nicht für Dich interessant. J10M: Ja, geht so. J21M:  Die [Polizisten, A.d.V.] sagen, dass ich meine Zukunft nicht kaputt machen soll und so. Das interessiert mich aber nicht, was die sagen.

Selbstkontrolle Zusammen mit dem Kontrollverhältnis, den Gelegenheitsstrukturen und den Beschränkungen stellt die Selbstkontrolle eines der Kernelemente der CBT dar. Das Zusammenwirken dieser Faktoren beeinflusst den zentralen Prozess der CBT, der den Verlauf von der Provokation bis hin zur Anwendung von Gewalt beschreibt. Die Selbstkontrolle ist hierbei ein wichtiges Konstrukt, das beschreibt, wie viel Kontrolle über das eigene Leben ausgeübt werden kann und wie sehr das eigene Leben als von anderen kontrolliert empfunden wird. Sie stellt ein weiteres zentrales Kriterium zur Bewertung der Realitätskontrolle der Jugendlichen in dieser Gruppe dar. Für die Messung der Selbstkontrolle wurden zwei Konstrukte verwendet, wobei eines die interne und das andere die externe Kontrolle erfassen soll. Intern beschreibt dabei das Vermögen eines selbstbestimmten Lebens, wohingegen extern für ein Gefühl der Fremdkontrolle steht. Für das Konstrukt, das ein Indikator für ein eigenverantwortliches Leben ist, zeigen die Jugendlichen eine Wahrscheinlichkeit von 95 % für die Antwortkategorie, die eine hohe Zustimmung signalisiert und damit für eine Kontrollbalance steht. Der Wert für die wahrgenommene Fremdkontrolle unterscheidet sich dagegen deutlich. Die beiden Antwortkategorien sind nahezu gleich stark besetzt. Gerundet entfallen je 50 % Wahrscheinlichkeit auf die Antwortkategorie, die für eine Kontrollbalance steht, und 50 % auf diejenige, die eine Imbalance der Kontrolle signalisiert. In der Gruppe der Jugendlichen in Klasse 2 gibt es also einen erheblichen Anteil, der Erfahrungen von Kontrollverlusten über das eigene Leben berichtet. Als zentrales Konstrukt der CBT liegt deshalb der Schluss nahe, dass die von der CBT beschriebenen Interaktionsprozesse vor dem Hintergrund der TSD-Dimensionen durch ein erhebliches Maß an empfundener Fremdkontrolle gestört sind und Realitätskontrolle erschweren. Interne Selbstkontrolle in Form davon, sich nicht von Dritten in Entscheidungen reinreden zu lassen, zeigen sich in den qualitativen Interviews u. a. bezüglich der Freund*innen- und Partner*innenwahl.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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I:  Und haben die dann auch teilweise gesagt, Du sollst Dich mit bestimmten Leuten nicht mehr treffen, weil die schlecht für Dich sind? J22M: Ja, meine Eltern zwar nicht, aber meine Brüder. Die haben auch gesagt: „Halt Dich ein bisschen fern von dem, der tut Dir nicht gut“, und so. I: Aber machst Du das dann teilweise auch, wenn die das sagen? J22M: Nein, das nicht. Es kommt darauf an, wie ich meinen Freund mag. Mag ich den jetzt so, dass der mir richtig wichtig ist, dann, klar, dann lasse ich mir das nicht verbieten. Aber wenn der mir nicht so wichtig ist, dann tue ich das auch so, weil meine Familie geht natürlich vor. I: Also das Hintergehen war quasi, weil sie [Mutter, A.d.V.] Dich ständig genervt hat, und Du hast eigentlich nur Dein Leben gelebt? J24W: Ja, sie wollte halt, dass ich zu einem bestimmten Jungen keinen Kontakt habe, weil ich mich in ihn verliebt habe, aber es sie gestört hat. Und da habe ich ihr gesagt: „Okay, habe ich keinen Kontakt mehr“, und in Wirklichkeit hatte ich noch Kontakt. Eigenverantwortung für das Leben zeigen diese Jugendlichen zudem bezüglich des Konsums von Drogen, was sich nicht bloß auf illegale Substanzen bezieht, sondern vielfach bereits bei einer bewussten Entscheidung gegen das Rauchen von Tabak anfängt. J34M:  Ja, das ist halt nicht gut für die Gesundheit. Also man muss noch bezahlen und deine Gesundheit geht noch kaputt. Also da ist nichts zu gewinnen, nur zu verlieren. Weil du verlierst dein Geld, du verlierst deine Gesundheit, auch Freunde. Also Rauchen ist nichts Gutes für mich. Weitere zentrale Beispiele für selbstbestimmtes Leben sind vor allem die bereits erwähnten Entscheidungen einzelner Jugendlicher für den Umzug in ein Heim. Doch auch hier kann es zu Erfahrungen von externer Fremdkontrolle kommen, die man dann entweder hinnimmt oder gegebenenfalls abwehrt. J38W: Sie machen einfach Termine, obwohl ich halt sage Nein. Also mein Betreuer, der für mich halt zugewiesen wurde, der macht einfach Termine und sagt mir dann einen Tag vorher oder an dem Tag Bescheid, obwohl die mir ja vorher Bescheid sagen können, weil ich habe ja auch meine eigenen Sachen, die ich machen muss. Und ich finde das

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

dann halt nicht in Ordnung, dass die dann einfach Sachen ohne mich bestimmen. Dann habe ich zu denen gesagt, entweder besprechen die das mit mir oder ich gehe dann da einfach nicht hin, weil ich auch keine Lust darauf habe, mich abzuhetzen, nur weil es denen gerade so passt mit dem Termin. Aber ich habe ja auch was Besseres zu tun. I: Was für Arten von Terminen machen die denn für Dich? J38W: Ja, also alle Termine. Arzt, dann wollen die, dass ich zur Therapie gehe, aber das ist ja selbst entscheiden, ob wir da hingehen oder nicht. Wenn ich nicht möchte, hat er so gesagt, dass ich halt einmal da hin muss und zuhören muss, was er zu sagen hat. Berichte extremerer externer Fremdkontrolle als durch die Vorgehensweisen und Regeln im Heim finden sich insbesondere mit Blick auf die Eltern, die teilweise die Ursache für eine Heimunterbringung sind. I: Dann bietet es sich an, dass Du mir erst einmal erzählst, warum Du jetzt hier lebst. J24W: Das liegt einfach daran, dass meine Mutter psychisch nicht, sagen wir mal, normal ist. Und ich habe es halt bisher ausgehalten, da zu wohnen. Dann hat sie es einmal übertrieben, also mein Vertrauen gebrochen. Und dann habe ich gesagt: „Okay, ich kann nicht mehr zurück nach Hause, will ich nicht mehr.“ Und dann bin ich halt hier hingekommen. I: Und kannst Du kurz erzählen, was da passiert ist? J24W: Das ist, ähm, ich habe mich oft mit ihr gestritten. Ja, und dann halt am Ende habe ich gesagt, ich fahre das Wochenende zu meiner Cousine, ich schlafe da, weil ich es zu Hause nicht mehr aushalte. Sie hatte es übertrieben. Und dann, ich bin zum Gleis gegangen, sie hat noch vorher so gesagt: „Wann kommst Du wieder?“, ich so: „Ja, Sonntag“, sie: „Ja, okay, bis dann.“ Bin dann halt zum Gleis gegangen, ganz normal, ich wollte mit der Bahn fahren, kommt meine Mama mit der Polizei aufgelaufen: „J24, mitkommen!“ Da habe ich so gedacht: „Hä, was ist denn hier los? Was will die denn?“ Ja … okay, bin ich halt hier gelandet, habe aber gedacht, nach dem Wochenende gehe ich wieder zurück nach Hause. Dann hat meine Mama so wunderschön gesagt am Sonntag, dass sie alle meine Sachen verkauft hat, alle, also elektronische Sachen, PC … Handy hatte ich ja zum Glück noch bei mir, sonst hätte sie das wahrscheinlich auch verkauft gehabt. Also PC, Fernseher, sämtliche Konsolen. Ja … war scheiße! I: Ja, klar.

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J24W: Weil darin hat auch mein Herzblut gesteckt und da waren halt auch private Daten drauf. Und da hat sie nicht dran gedacht. Das hat sie einfach so verkauft. I: Was ich gerade nicht ganz verstanden habe. Du bist dann am Bahnhof gewesen und wolltest zu der Cousine. A: Ja. I: Und dann bist Du mit der Polizei hier gelandet. J24W:  Ja, meine Mama hat beim Gleis, ich bin gerade hochgelaufen zum Gleis, Mama ist dann da mit zwei Polizisten aufgetaucht. Die Polizisten haben gesagt: „Sind Sie J24?“, ich: „Ja“, „Ja, mitkommen!“ Und ich: „Okay“, bin ich mitgegangen. Mama war dann auch dabei und ich habe mir so gedacht: „Fick Dich!“ Weil sei hätte es mir auch so sagen können, dass ich nicht soll. Sie hat ja vorher noch so gesagt: „Ja, wann kommst Du wieder?“ Ich meine echt! Nee! I: Aber dann hat die Polizei Dich hier hingebracht? J24W: Nein, mit der Polizei bin ich auf das Revier gegangen. Da habe ich zu dem Polizisten gesagt: „Ich möchte nicht mehr nach Hause, will ich jetzt nicht mehr. Es reicht mir.“ Da haben die gesagt: „Ja, okay. Da finden wir eine Einrichtung für Dich, da kannst Du dann hin.“

Ausgeübte und erfahrene Kontrolle Abschließend wurde das Kontrollerleben für vier verschiedene Personengruppen (Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen und Mitschüler*innen) erfragt, um daraus ein Verhältnis von erfahrener Kontrolle der eigenen Person sowie ausgeübter Kontrolle auf Personen der genannten Gruppen zu berechnen. Es zeigt sich, dass in zwei der vier Gruppen (Freund*innen und Lehrer*innen) die Wahrscheinlichkeiten für eine Imbalance der Kontrolle höher sind als für die Antwortkategorie, die für eine Kontrollbalance steht. Insgesamt ist die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten auf den Kategorien jedoch recht ausgeglichen, d. h. die obere und untere Kategorie sind ähnlich stark besetzt. Am deutlichsten fällt sie bei der Gruppe des Lehrpersonals aus, die eine Wahrscheinlichkeit von 57 % für die Antwortoption aufweist, die für Imbalancen der Kontrolle steht. Für die Gruppe der Freund*innen beträgt dieser Wert 51 %. Insgesamt zeigen die Werte, dass für die Schüler*innen der Klasse 2 Kontrollbalance und -imbalance gleichermaßen ausgeprägt sind. Das Verhältnis von ausgeübter und erfahrener Kontrolle ist neben den Gelegenheitsstrukturen, den Beschränkungen und der Selbstkontrolle ein Kernkonzept der CBT. Die Ergebnisse zeigen, dass bei zwei der vier Personengruppen (Lehrer*innen und Freund*innen) ausgeglichene Wahrscheinlichkeiten herrschen, was immer auch

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

bedeutet, dass ca. 50 % Wahrscheinlichkeit auf die Antwortoptionen entfallen, die im Sinne der Theorie Imbalancen nahelegen. Zusätzlich sind für zwei der vier Personengruppen Wahrscheinlichkeiten zugunsten von Imbalancen festzuhalten. Insgesamt zeigt damit ein weiteres wichtiges Konstrukt der CBT bei gleichzeitiger Berücksichtigung der TSD-Dimensionen deutliche Hinweise darauf, dass Realitätskontrolle nur unter erschwerten Bedingungen hergestellt werden kann und teilweise gestört ist. Diese Imbalancen können den Nährboden für abweichendes Verhalten bereiten. Einige der qualitativ Befragten gaben an, dass Freund*innen ihnen Verhaltensvorschriften machen. Während nur ein Befragter bereitwillig Befehle von Freund*innen entgegennimmt, die älter waren als er, stören sich die übrigen an solchen Kontrollversuchen durch Freund*innen. Ein Befragter berichtet davon, dass er als Reaktion darauf, zum Rauchen und zu Schlägereien angestiftet zu werden, den Freund*innenkreis gewechselt hat. I: Hast Du denn das Gefühl, dass es Leute gibt, die von außen versuchen, Dich zu manipulieren, zu steuern oder zu kontrollieren? J34M: Ja, ich hatte so welche Freunde. Die haben mir immer gesagt: „Mach das hier, mach das hier!“ Dann musste ich es halt machen. I:  Waren das dann schlechte Sachen oder ging das eher um normale Sachen? J34M: Ja, ich sollte rauchen und auch mit denen kämpfen. Und dann habe ich erst gesagt, ich will das nicht. Dann habe ich gesagt: „Ich will nicht mehr Dein Freund sein.“ Also wenn ich einen Freund habe, dann will ich, dass er nicht raucht und so Sachen. Halt ein normaler Junge, dass er nicht raucht und so Sachen so. Also der muss korrekt sein. Ein weiterer Befragter berichtet davon, dass er Angst hat, vor Gleichaltrigen sein Gesicht zu verlieren, wenn er auf Beleidigungen nicht gewaltsam reagiert. I: Oder warum siehst Du es als wichtig an, dass du dann kämpfst? J10M: Jetzt sagt mal, du bleibst unten, dann sagen die: „Boah, voll die Pussy!“, jeder so, sagen die dann. Dann sagt man schon direkt so: „Was soll ich dagegen jetzt sagen? Soll ich dagegen jetzt reagieren. Boah, jetzt geh mal weg!“, sagen wir mal. Weitere Beeinflussungen, die als störend empfunden werden, betreffen die Kleidungs- und Partner*innenwahl. Letzterer entzog sich eine Befragte dadurch, dass sie eine Freundin anlog.

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I: Und gibt es sonst noch Leute, die versucht haben, Dich ständig zu kontrollieren oder zu bestimmen, was Du tun sollst? J24W: Meine beste Freundin versucht es immer noch. Damals konnte sie es, aber sie hat halt versucht, über mich zu bestimmen, und ich habe dann ihr zuliebe so getan, dass sie es auch so kann, und dann habe ich aber immer hinter ihrem Rücken was anderes gemacht. Habe ich sie halt sozusagen hintergangen, angelogen. Ich habe so vor ihr gesagt: „Ja, okay, ich mache das“, und eigentlich habe ich es nicht gemacht. I: Gibt es auch Leute, die Dir öfter sagen, was Du machen sollst, was Dich dann nervt? J36W: Ja, J29W. Die sagt mir immer, ich soll das machen, ich soll das machen, ich soll meine T-Shirts rausziehen. Sie meint, ich würde schlampig rüberkommen. Sie ist so eine große Schwester für mich. I: Aber nervt Dich das dann richtig oder findest Du das eher gut? J36W: Ja, nicht so richtig, aber manchmal schon. Die sagt immer, dass das nicht geht. Sehr viele der Befragten berichten, dass die Beteiligung an Kämpfen in ihren Freund*innenkreisen keine Pflicht ist. J10M: Auf jeden Fall es gab einen, der hat uns im Stich gelassen zum Beispiel. Der saß einfach nur da, der meinte zur mir: „Ich komme doch nicht mit. Ich mache da nicht mit.“ Danach habe ich gesagt: „Okay, kein Problem.“ I: Und manchmal wollen die halt, dass Du mitkämpfst, und wollen Dich überreden. J26M: Ja. Aber ich entscheide dann, was ich will. Einzelne formulieren auch von sich aus die Erwartung an ihre Freund*innen, auf legale wie illegale Drogen zu verzichten. Ein Befragter hatte sich bereits von einem Freund abgewendet, als dieser mit dem Rauchen begonnen hat. J28M: Äh, ja, ein Freund von mir, weil der war früher in der Grundschule zusammen und dann hat der angefangen zu rauchen. Ja, und dann hatte ich keinen Kontakt mehr mit dem In der Klasse 2 sind ferner etwa zu gleichen Teilen Jugendliche vertreten, die in ihrem Freund*innenkreis oder unter Mitschüler*innen keinen Markendruck wahrnehmen, Jugendliche, die Markendruck wahrnehmen, sich diesem aber nicht

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

beugen, sowie Jugendliche, die aus Prestigegründen zu Markenkleidung greifen und mitunter selbst Markendruck ausüben. J21M: Ich habe eigentlich fast nur Markensachen. Ich kriege halt nur das Beste von meiner Mutter. (..) J21M: Also meine Jacke ist von Jack & Jones, meine Hose von Vans. I: Also das interessiert Dich schon, solche Sachen zu haben. J21M: Nein, eigentlich … ja, geht. Die Schuhe sind mir am wichtigsten so. I: Aber ist es unter Euch wichtig und dass man Respekt bekommt, wenn man etwas Bestimmtes hat? J21M: Nein, eigentlich nicht. Er darf tragen, was er will. Wir können es ihm ja nicht sagen. Der trägt doch auch ganz normale Nikes, der trägt nicht so Nike Air Force oder so. J27M: Manche beleidigen die dann oder mobben die als fett und so. Und manche, weiß ich nicht, weil die einen beleidigt habe, mobben die den. Ja, die mobben manche, weil die keine richtigen Schuhe an haben beziehungsweise hässliche Schuhe und so haben. I:  Also würdest Du denn sagen, deswegen ist es wichtig, dass Du so Schuhe hast, damit Dir das nicht passiert? J27M: Das interessiert mich nicht, wenn die mich so mobben, dass ich keine Schuhe habe und so. I: Und ist Markenkleidung für Euch wichtig? J29W: Ja! Also eigentlich nicht, aber ich mag das schon so, wenn ich was Ordentliches an habe. Also nicht unbedingt, aber ich mag es ordentlich. Wir können nicht türkische Sachen tragen. So Polenmarkt-Leggings, geht gar nicht. J34M: Mit mobben und so, das passiert öfter, so: „Guck mal Deine Schuhe an oder Deine Hose, Deine Jacke“, oder so, dass die sich lustig machen wegen Klamotten, ja, das passiert oft bei uns. Das passiert ja fast jeden Tag bei uns. I: Aber ist das ein Grund, warum man sagt, man muss bestimmte Sachen haben? Dass Du zum Beispiel solche Schuhe hast, damit die Leute Dich in Ruhe lassen? J34M: Nee, ich habe die ja nicht gekauft wegen die andere Leute. Weil die mir gefallen und so was. Und nicht jeder hat die, aber man muss nicht jemanden beleidigen wegen die Schuhe. Schuhe sind einfach Schuhe, und fertig.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J38W: Bei uns in der Klasse ist es so, aber wenn die so was tragen wollen, sollen die das tragen. Mich interessiert das nicht. I: Unter den Freunden gibt es das auch? J42M: Ja, man schaut schon drauf, wer was hat. Auch Handy und so. I: Und da will man dann halt auch mitmachen und zeigen, dass man was hat. J42M: Klar. Es gibt hier auch so einen Spezialisten, der läuft immer sehr gerne in Jogginghose rum. Da sage ich ihm immer dann: „Kannst Du Dir nicht einmal eine ordentliche Jeans besorgen?“ Aber das ist auch ein guter Freund inzwischen. I: Und in der Schule, gibt es das jetzt auch noch, dass man sich da teilweise über einander lustig macht und sagt: „Was hast Du an? Das sieht ja aus wie von Kik? Was hast Du denn für ein Handy?“ J42M: Ja … ist aber eher weniger inzwischen. Einschränkungen bezüglich der Bewegungsfreiheit beziehungsweise Gefahren im öffentlichen Raum in der Nähe des Wohnorts sehen nur wenige. Nur eine Befragte gab an, dass sie gefährliche Gegenden möglicherweise meiden würde, wenn sie alleine unterwegs wäre. Viele andere geben sogar eher an, sich dadurch geschützt zu fühlen, dass sie oder ihre Geschwister im Stadtteil bekannt sind. Andere haben eher das Gefühl, situative Eskalationen verhindern zu können, indem sie Provokationen ignorieren, sodass sie sich durch die Umgebung nicht beeinflusst fühlen, sondern Gefahrenlagen selbst steuern können. J5M: Also ja, also wenn mich wirklich einer beleidigen würde oder schlagen würde, dann würde ich so sagen, aus dem Wege gehen, darauf nicht hören. Einfach nicht darauf hören. Ja, viele meinten auch so: „Die, die Dich beleidigen, hör nicht auf die! Die sind einfach sowieso bekloppt im Kopf.“ Ja, seitdem habe ich auch keine Schlägerei mehr gemacht, mache ich auch nicht so. J21M: Ich gehe überall hin. Wer will mich denn hauen? Ich habe nicht viele Feinde. I: Gibt es denn irgendwelche Stellen da oder sonst in der Stadt, von denen Du sagst, dass Du dort nicht hingehen würdest, weil Dir da etwas passieren könnte? J22M: Ja, es gibt manche Stellen, wo ich weiß, das sind schlimme Leute und so, Asis, ja klar. Aber so sonst nein.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

I: Aber nicht dass Du sagst, dass Du dort dann nicht hingehst, weil es da gefährlich ist. J22M: Nein, das nicht. Auch mit dem Wohn- beziehungsweise sozialen Umfeld und möglichen Gefährdungen verbunden sind Restriktionen, die viele Jugendliche bezüglich der Ausgehzeiten und Wahl der Freund*innen durch die Eltern erleben – teilweise auch im Hinblick auf Alkohol- und Zigarettenkonsum. Dies empfinden die Befragten in der Regel jedoch als fürsorglich. J21M: Sie hat nichts gegen meine Freunde. Wenn so was ist, dann sagt sie mir das auch. Dann weiß ich das auch, weil meine Mutter nur das Beste für mich will. J22M: Meine Eltern haben immer zu mir gesagt: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Aber J22, wir wollen diese Kontrolle nicht. Weil Du willst auch Deinen Freiraum von uns und Deine Privatsphäre“, deswegen. I: Und wenn Du mal eine Stunde zu spät kommen würdest, würdest Du dann eher eine Strafe bekommen oder würden die nur fragen, wo Du warst? J26M: Die fragen, wo ich war. Dann sage ich das und dann ist gut. J34M: Aber meine Mutter sagt immer: „Wenn Deine Freunde rauchen oder so, rede erst einmal mit denen, sag denen, ich will das nicht, sonst gehe ich weg von Dir,“ und solche Sachen. Und wenn der nicht aufhört, dann muss man weggehen, weil sonst sagt der noch zu dir: „Hier, rauch!“, oder so was. Dann kommst du vielleicht auf diese Idee, es zu machen. Ja, dann macht man das halt, dann kriegt man auch Probleme und so. Also lieber keine falschen Freunde haben. Eine Befragte schildert, dass sie „machen kann, was sie möchte“ und (inzwischen) keinen elterlichen Regeln (mehr) ausgesetzt sei. I: Fragt der Dich denn manchmal, wo Du hingehst oder mit wem Du zusammen bist? J36W: Nee, selten. I: Weil Du meistens mit den gleichen Leuten zusammen bist oder denkst Du, das interessiert den nicht so sehr? J36W: Der weiß ja auch zum Teil, wer meine Freunde sind. Und ich denke, dass der auch an andere Sachen denkt und viel Stress jetzt hat. Ich frage den ja auch nicht, was der so macht.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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Solche Aussagen können auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert werden. Einerseits kann dies als fehlende Kontrolle und Gleichgültigkeit durch den Vater verstanden werden, andererseits kann man darin einen Kontrollüberschuss der Tochter sehen. Vergleichbar wären andere Interviews, in denen teils von einer schrittweisen Ablösung vom Elternhaus in der Jugendphase die Rede ist, was dann durchaus von den Jugendlichen als Kontrollüberschuss verstanden werden kann. Hier im konkreten Beispiel ist jedoch eher von einem grundsätzlichen Gefühl der Haltlosigkeit, Desorientierung und Identitätssuche, gekoppelt mit einem Bedürfnis nach mehr Kontrolle beziehungsweise Aufmerksamkeit auszugehen, da die ganze Familie nach dem frühen Tod der Mutter in ein „Loch gefallen“ zu sein scheint, weshalb sie momentan nicht mehr vom Vater erwartet. Durch elterliche Regeln gestört fühlten sich auf der Gegenseite lediglich vier Jugendliche. Diese sahen sich massiv durch Verbote eingeschränkt und erlebten diese Erziehungsmaßnahmen als psychische Gewalt, teilweise auch verbunden mit körperlicher Gewalt. Dies empfanden sie als unverhältnismäßig sowie teilweise als willkürlich beziehungsweise ausschließlich als Machtdemonstration. J24W: Sie kommt mit der Erziehung von mir nicht klar. Das hat sie auch schon öfters gesagt, dass sie damit nicht klarkommt, dass ich sie auch überfordere. Das hat man auch gemerkt. (…) Meine Grenzen war eher so: „Das darfst Du nicht machen“, so ein großer Bereich, was ich nicht machen darf, und so ein winziger Bereich: „Ja, das darfst Du.“ Und selbst den musste ich mir hart erkämpfen. (…) Wenn ich zum Beispiel zwei Minuten zu spät komme: „J24! Wo warst Du? Komm jetzt sofort nach Hause!“ Oder wenn ich mal ihr so geschrieben habe: „Ja, Mama, ich komme zwei Stunden später nach Hause, ich mache noch was mit Freunden“, „Nein! Du kommst jetzt nach Hause! Was erlaubst Du Dir? Das geht ja mal gar nicht!“ Ja, so was. I: Aber wenn Du mal zu spät gekommen bist, hat die Dich dann irgendwie bestraft? J24W: Angeschrien. (…) Sie ist mit mir viel durch die Gegend gefahren. Ich konnte ja auch nicht sagen, ich bleibe zu Hause, dann hat sie mich nur angeschrien. Ich durfte mit 13, nee, mit 14 war ich alt genug, um alleine zu Hause zu bleiben. Auch doll! Mit 14 ist man alt genug, um alleine zu Hause zu bleiben. I: Bis dahin ist sie dann nicht aus der Wohnung gegangen, wenn Du da warst? J24W: Bis dahin durfte ich nur zu Hause sein, wenn sie da ist. Und wenn sie weggefahren ist, musste ich mit.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

I: Und auf die Kritik von Dir hat sie nie reagiert, dass sie mal etwas verändert hat? J24W: Nein. Doch, sie hat mich angeschrien. I: Aber damals konntest Du das halt nie steuern und es kam immer plötzlich und Du wusstest nie, wann und wofür Du geschlagen werden könntest? J29W: Ja, das kam immer drauf an, wie es ihr ging. Das konnte man nie wissen. I: Gab es aber in der Zeit oder heute auch mal Sachen, wo sie wollte, dass Du was anders machst und dass sie dann Druck gemacht hat, dass Du Dich änderst? J29W: Nee, eher nicht. Sie hat auch fast nie gesagt, was das Problem ist. Und sonst hat sie sich wenig für mich interessiert. J40M: Wollte immer, dass ich das, was sie wollte, mache und sonst nichts. Das war auch so ein Grund, warum ich ausgezogen bin. Oder wenn ich Dienst hatte, dann sollte ich da nicht hingehen, war ja unnötig für sie, aber das war ja mein Hobby. I: Und hat die Dich dann bestraft, wenn Du was anderes gemacht hast? J40M: Ja, dann habe ich kein Taschengeld bekommen, gar nichts, durfte ich nicht raus, gar nichts. Fernsehverbot, alles, das ganze Programm. I: Wenn Du unterwegs warst und ohne sie was unternommen hast, hat sie dann immer ständig wissen wollen und kontrolliert, was Du machst? J40M: Ja. Das gab es schon ziemlich stark, also: „Was machst Du jetzt? Wo willst Du jetzt hin? Du kannst da nicht hin. Das darfst Du nicht! Du bist dann und dann wieder da“, so was halt. Ich musste schon immer früh zu Hause sein und so. I: Irgendeine Idee, warum das so war? War das aus Sorge? J40M: Aus Sorge eigentlich nicht. Man hat sich vielleicht mal was gebrochen öfters, aber sonst wüsste ich jetzt nicht. Kontrolle war das nur. Sie hat die Kontrolle komplett über mich versucht. J41M: Ich bin immer nach der Schule nie pünktlich nach Hause gekommen, sondern war ich immer noch mit Kollegen bis abends unterwegs. Dann hat er [Vater, a.d.V.] mich so gezwungen zum Lernen. Okay, das habe ich auch schon sowieso gemacht, aber wo ich einmal gelernt habe, hat er mich mit Handy aufgenommen und so. Das fand ich auch richtig scheiße. Und der hat mich auch so am Hals angepackt, dass ich so blaue Flecken hatte. Mit Blick auf die Schule besteht hier teils ein Bewusstsein, dass schlechte Noten und Behandlung durch Lehrer*innen auf dem eigenen Verhalten und Bemühen beruhen, d. h. man in dieser Hinsicht durchaus Kontrolle über das Geschehen hat.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J22M: Wenn ich mich schlecht behandelt gefühlt habe, habe ich gewusst so, ich habe selber schuld. Das lag immer an mir. I: Und hast Du von irgendeinem Lehrer mal schlechtere Note bekommen, als Du verdient hast? J22M: Nein, das hatte ich nie. Das lag auch an mir so. I: Also konntest Du durch Lernen Deine Noten immer selbst steuern. J22M: Ja. Mitunter finden sich auch Lehrende, die auf die Potenziale der Jugendlichen eingehen, gerade wenn immer wieder Leistungsschwankungen auftreten, und versuchen, mehr Anstrengungen zu motivieren. Dies wird dann nicht als störende Kontrolle wahrgenommen, wenngleich es sich um eine Einflussnahme handelt. I: Und versuchen die auch Dich irgendwie dazu zu motivieren, bessere Noten zu haben? J10M: Ja, mein Lehrer, der sagt: „Du schaffst das, aber du machst das nicht. Das ist der Scheiß bei Dir“, meint der. Ich sage: „Ja, haben Sie Recht. Ich gebe Ihnen Recht. Wenn Du was willst, kannst Du es schaffen, aber wenn Du zu wenig machst, ist das Deine Schuld.“ Gleichzeitig besteht bei diesen Jugendlichen die generelle Einsicht, dass die Lehrenden durch die Notenvergabe einen zentralen Einfluss auf die eigenen Möglichkeiten in der Zukunft haben. J5M: Ich will einen guten Abschluss haben und auch ein gutes Zeugnis haben. Also ich will jetzt nicht so Müllmann oder so, so was will ich nicht werden. Also ich habe ein paar Freunde, also das interessiert die gar nicht, also was die machen wollen. Ja, die schwänzen halt, die machen nie ihre Hausaufgaben halt. In dieser Klasse zeigten sich lediglich zwei der fünf Bewohner*innen zufrieden mit den Regeln im Heim. J41M: Ich finde es auch gut, dass die so viel machen. Wenn man sich erst einmal dran gewöhnt hat, ist das nicht so schlimm. Und vor allem organisieren die ja hier fast alles für einen. Besser als wenn man das selbst machen muss. Die übrigen Befragten äußerten Unzufriedenheit über Eingriffe in die Privatsphäre und das Freizeitverhalten.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J24W:  Und wenn ich im Wohnzimmer so Fernsehen gucke mit ihm, dann kuscheln wir und dann dürfen wir das nicht, weil es sich ja nicht im Heim gehört. Und das ist ein bisschen nervig. I: Also dürft Ihr nur außerhalb. J24W: Ja, außerhalb des Heims. Trotzdem, es ist nervig. J38W: Wir haben aber jetzt auch so Streitereien, weil die vom Heim erlauben halt nicht, dass ich bei meiner Mutter oder so schlafe oder bei Freunden. Mama findet das halt in Ordnung, wenn ich bei Freunden übernachte, dann machen wir halt alle was zusammen, weil meine Mama ja auch meine Freunde kennenlernen möchte, aber halt die regt sich halt immer auf mit dem Jugendamt, weil die sich einmischen bei Sachen, die sie eigentlich wirklich nichts angehen, bei denen wir die auch nicht um Hilfe gebeten haben. Eine Befragte fühlte sich zudem in ungerechtfertigter Weise ins Termindiktat genommen. J38W: Da machen die auch einfach Termine, ohne Bescheid zu sagen, wann ich und meine Mutter Zeit haben. Zudem unterschieden sich die qualitativ Befragten der Klasse 2 sehr hinsichtlich ihres Kontrollerlebens in den Beziehungen zu ihren Geschwistern. Einzelne Befragte machten deutlich, dass sie Verhaltensvorschriften seitens ihrer Geschwister annehmen und als Fürsorge empfinden. J22M: Wie soll ich sagen, meine Brüder sind so für mich meine Erziehungsberechtigten. Die verbieten mir alles und so. Jetzt nicht so alles, aber die machen so jetzt halt … wie soll ich sagen: „Du bist um neun Uhr zu Hause.“ I: Und ist das dann wichtig für Dich und Du hältst Dich an das, was der sagt? J26M: Ich halte mich an den. Der ist mein großer Bruder, er zeigt mir Respekt. I: Versuchen die Dich denn manchmal zu verändern oder haben die das früher mal gemacht? J29W: Ja, die sagen immer, was das Beste für mich ist und so. Ein Befragter war genervt davon, dass sein Bruder versucht, ihn zu kontrollieren. J34M: Ja, zum Beispiel mein Bruder manchmal erzählt über mich, obwohl das nicht stimmt.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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I: Um Dich dann gegenüber Deinen Eltern schlecht zu machen? J34M: Ja, also der macht das extra, damit ich nicht rausgehen darf. Eine weitere Befragte berichtet genervt von Machtdemonstrationen ihrer älteren Schwester. J36W:  Ich sage ihr immer, dass sie nichts von mir nehmen soll, aber sie hat dann immer gesagt, dass sie das darf, weil sie älter ist. Andere kontrollierten ihre Schwestern selbst dahin gehend, dass sie ihnen verbieten, einen Freund zu haben. Ein Befragter machte sogar deutlich, dass er sich vorstellen konnte, Gewalt zur Sanktionierung seiner Schwester anzuwenden. Hier ist von einem deutlichen Kontrollüberschuss auszugehen. J22M: Ja, meine kleine Schwester halt, ich kontrolliere die zwar nicht, aber ich bin hart zu ihr so. Sie darf mit keinem Jungen so Kontakt haben und so und darf nicht rauchen, darf nicht kiffen oder sonst was. I: Was würdest Du denn machen, wenn Du die mit einem Jungen sehen würdest? J22M: Ich würde meiner Schwester vielleicht drei, vier Backpfeifen geben, aber jetzt nicht so, dass sie, sage ich jetzt mal, dass sie blutet oder so, aber den Jungen, den würde ich zerstören. Den würde ich zerstören. J10M: Zum Beispiel meine kleine Schwester, wenn ich hören würde, meine kleine Schwester würde Scheiße bauen, kommt drauf an, was die macht, ich würde sagen: „Das will ich nicht sehen.“ Wenn ich hören würde, ein Junge würde sie zum Beispiel was Falsches machen wollen, dann sage ich: „Kein Problem, ich komme da hin.“ Bevor das schon passiert, bevor das passiert, ich würde direkt reagieren. Außerdem bilden Schilderungen unbeschwerter Liebesbeziehungen die Ausnahme. Ebenso wie unter den Befragten der Klasse 1 sind viele der Beziehungen von Eifersucht geprägt. Ein Befragter gab an, sich häufig aus Eifersucht mit Nebenbuhlern geschlagen zu haben. Diejenigen, die vermehrt Kontrolle ausüben, waren zahlenmäßig denjenigen überlegen, die vermehrt Kontrolle erfuhren. Insbesondere Partnerinnen kritisierten über den Umgang mit anderen Mädchen hinaus auch delinquentes – insbesondere aggressives – Verhalten bei den männlichen Befragten. Solche Kontrollversuche seitens der Partner*innen waren allerdings eher ein Grund für die Beendigung der Beziehung als für eine Verhaltensänderung. Eine Ausnahme bildet ein Befragter, der berichtet, u. a. für seine Partnerin den Konsum von Zigaretten und Marihuana eingestellt zu haben. Eine weitere Ausnahme bildet ein

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Befragter, der es toleriert, dass seine Freundin ungefragt sein Handy durchsieht und ihn ohrfeigt, wenn er anderen Mädchen hinterherschaut. J41M: Die ist übelst eifersüchtig. Also einmal waren wir zusammen essen und da war auch so ein hübsches Mädchen, dann habe ich sie so angeguckt. Die guckt mich so an: „Ist das Dein Ernst?“ „Ja.“ Dann hat sie mir eine Backpfeife gegeben (lacht), weil ich die angeguckt habe. I: Aber es ist nicht so, dass das ein Grund für Dich wäre, sie zu verlassen? J41M: Nein. Das stört mich nicht. I: Bist Du denn auch ein bisschen so? J41M: Ab und zu auch. Wie von Befragten der Klasse  1 ebenfalls geschildert, sind gängige Kontrollmaßnahmen, sich gegenseitig den Umgang mit dem jeweils anderen Geschlecht oder das Tragen von als aufreizend empfundener Kleidung zu untersagen. Eine Befragte, die angab, sich aufgrund ihres dominanten Verhaltens in Beziehungen schlecht zu fühlen, bildet hier eine Ausnahme. Männliche Befragte hingegen schienen es durch Geschlechterrollen legitimiert zu sehen, ihren Freundinnen Verhaltensvorschriften zu machen. I: Sagst Du denn den Freundinnen manchmal, was die tun sollen? J21W: Ja, mit Männern und so. Manche sind auch Schlampen, dann trenne ich mich. Die sollen nicht anderen schreiben und so. I: Also bist Du da eher eifersüchtig? J21W: Ja, so normal. Aber viele Mädchen machen, was die wollen. Das geht aber nicht.

4.3.4.4 Zusammenfassung „Bezüglich der strukturellen, institutionellen und sozialen Gegebenheiten sowie der situativen Interpretationen dieser Erfahrungen zeigt die Klasse 2 einige Auffälligkeiten, die das individuelle Verlangen nach Anerkennung und Kontrollbalance stören, was letztlich die Integration gefährdet, Gewalt zu einer Handlungsoption macht und zu einer unsicheren Realitätskontrolle führt.“

Die Klasse 2 ist durch eine unsichere Realitätskontrolle gekennzeichnet. Die Integration ist gefährdet, da die Ergebnisse für drei von elf Konstrukten

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

141

(Anforderungen Schulleistung, ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen, Konflikte in der Familie) der TSD deutliche Hinweise auf Desintegration anzeigen. Zusätzlich verweisen drei der CBT-Konstrukte (Impulsivität, Kontrolle Freund*innen, Kontrolle Lehrer*innen) auf Imbalancen der Kontrolle. Hinzu kommen zwei weitere Konstrukte (Fremdkontrolle, Kontrolle Eltern), die für Balance und Imbalance der Kontrolle gleichermaßen stehen (vgl. Tab. 4.6). Tab. 4.6    Auszug Antwortwahrscheinlichkeiten für die Konstrukte Klasse 2 Konstrukt

Klassenbedingte ­Antwortwahrscheinlichkeiten

Theorie sozialer Desintegration Zufriedenheit Schulleistungen

0,663 0,337

Anforderungen Schulleistung

0,319 0,681

Ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen

0,358 0,642

Konflikte in der Familie

0,314 0,686

Control BalanceTheory Ablehnung Gewalt/Moral intrinsisch

0,882 0,118

Impulsivität

0,486 0,514

Fremdkontrolle

0,503 0,497

Kontrolle Eltern

0,509 0,491

Kontrolle Freund*innen

0,489 0,511

Kontrolle Lehrer*innen

0,433 0,567

Kontrolle Mitschüler*innen

0,554 0,446

142

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Die Jugendlichen in Klasse 2 heben sich besonders dadurch hervor, dass sie selbst und ihre Eltern zwar in der Tendenz zufrieden mit den schulischen Leistungen sind, es dennoch einen recht hohen Anteil (34 %) gibt, dem es nicht so geht. Zusätzlich zeigen zwei Konstrukte (Anforderungen Schulleistungen, ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen) der sozialstrukturellen Dimension deutlich Desintegration an. Die Mehrheit (68 %) der Schüler*innen hat das Gefühl, den schulischen Anforderungen nicht gewachsen zu sein und kann manchmal die Hausaufgaben nicht lösen. Ebenfalls die Mehrheit (64 %) fühlt sich ungerecht behandelt durch Lehrer*innen. Dabei geht es um Fragen der Benotung, um Schuldzuweisungen, um Lächerlich-Machen sowie um Bestrafungen. Betrachtet man in diesem Zusammenhang die Kontrollbalance bezüglich der vier Personengruppen Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen und Mitschüler*innen, sieht man, dass die wahrgenommene Kontrolle durch die Lehrer*innen (57 %) unter allen Gruppen am größten ist und zudem eindeutig eine Imbalance zugunsten der Lehrer*innen zu sehen ist. Die zeigt, dass insbesondere durch unzureichende schulische Leistungen und mangelnde Unterstützung seitens der Lehrer*innen Anerkennungsdefizite drohen, welche die berufliche Qualifikation negativ beeinflussen können. Es droht eine eingeschränkte Teilhabe an materiellen und kulturellen Gütern. Gleichzeitig sinken aufgrund des Kontrolldefizits, zumindest gegenüber den Lehrer*innen, die Möglichkeiten, die Situation zu beeinflussen. Sozio-emotional sind die Jugendlichen der Klasse 2 weitgehend gut bis sehr gut integriert. Eine Ausnahme bilden jedoch die familialen Konflikte. Für die Mehrheit der Jugendlichen (69 %) gilt, dass es öfter ernsthafte Streits mit den Eltern gibt und dass sie das Gefühl von zu wenig Freiraum haben. Diese geringen Freiräume finden ihren Ausdruck auch im CBT-Konstrukt „Fremdkontrolle“, bei dem die Jugendlichen ein ambivalentes Antwortverhalten zeigen. Hier geht es um die Erfahrung, dass das eigene Leben fremdbestimmt ist. Fünfzig Prozent stimmen dieser Wahrnehmung zu. Trotz der sonst positiven Ergebnisse der sozial-emotionalen Dimension ist damit ein wichtiger Teil des sozio-emotionalen Rückhalts, die Situation in der Familie, gefährdet. Dadurch sind unmittelbar Aspekte psychischer und besonders sozialer Stabilität angesprochen. Diese wird durch emotionale Anerkennung hergestellt, welche jedoch in einer konflikthaften Beziehung zu den Eltern unsicher ist. Die Mehrzahl der Jugendlichen lehnt Gewalt ab (Ablehnung Gewalt/ Moral internal). Das betrifft sowohl die Bewertung psychischer als auch physischer Gewalt. Diese Ablehnung gründet dabei mehrheitlich (88 %) auf einer intrinsischen Motivation. In Verbindung mit Gewalt ist ein Blick auf die Impulsivität interessant. Dieser zeigt, dass sich die Jugendlichen mehrheitlich (51 %) als impulsiv bezeichnen, dass sie gerne Streit suchen, bei Provokation

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

143

ausrasten und sich manchmal wie ein „Pulverfass“ fühlen. Aufgrund dieser Impulsivität bergen Konfliktsituationen für sie die Gefahr von Kontrollverlust. Bezüglich der strukturellen, institutionellen und sozialen Gegebenheiten (TSD) sowie der situativen Interpretationen dieser Erfahrungen (CBT) zeigt die Klasse 2 einige Auffälligkeiten, die das individuelle Verlangen nach Anerkennung (TSD) und Kontrollbalance (CBT) stören, was letztlich die Integration gefährdet, Gewalt zu einer Handlungsoption macht und zu einer unsicheren Realitätskontrolle führt.

4.3.5 Klasse 3 – Gelungene Integration – ausbalancierte Realitätskontrolle – unauffällige Gewaltattitüden 4.3.5.1 Überblick und Demographie Die Klasse 3 stellt mit 918 Schüler*innen die größte Gruppe in der nicht repräsentativen quantitativen Stichprobe dar und macht damit 48 % des gesamten Samples aus. Die Auswertung zeigt außerdem ein Verhältnis von 58 % zu 42 % für Jugendliche ohne und mit Migrationshintergrund. Und die Differenzierung der vier untersuchten Schultypen: Hauptschule (21 %), Realschule (29 %), Gymnasium (25 %) und Gesamtschule (25 %) zeigt eine recht ausgeglichene Verteilung, so dass je ein Fünftel bis etwa ein Viertel der Jugendlichen auf den jeweiligen Schultyp entfallen. Die Messung zum familiären Wohlstand (Family Affluence Scale, FAS) zeigt einen Mittelwert von 4,70 für Klasse 3. Bei einer Spannweite von null bis sieben entspricht dieser Wert einer mittleren Ausprägung. Die Schüler*innen beziehungsweise deren Eltern sind damit mehrheitlich gut bis sehr gut situiert. In der Klasse 3 entfallen 10 % auf die Kategorie „niedrig“. Bezüglich der FAS ist weiterhin festzuhalten, dass bei einer Differenzierung in männliche und weibliche Jugendliche der Anteil von Mädchen in der niedrigen Kategorie deutlich höher ist als der von Jungen (9 % zu 12 %). Ferner zeigt sich bei den Mittelwerten, dass die Mädchen einen niedrigeren Score (4,64) aufweisen. Der Annahme einer vollständigen Integration liegen die Ergebnisse zu den Konstrukten der TSD zugrunde. Die Jugendlichen dieser Klasse zeigen für alle drei Dimensionen (sozialstrukturell, institutionell und sozial-emotional) hohe bis sehr hohe Wahrscheinlichkeiten für die Antwortkategorien, die Integration messen. Bezüglich der CBT-Konstrukte, besonders bei den verschiedenen Messungen der ausgeübten und erfahrenen Kontrolle, sind diese Befragten der Theorie entsprechend in einem Zustand der Kontrollbalance. In der Analyse der qualitativen Interviews wurden 16 Interviewte der Klasse 3 zugeordnet.

144

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Fünf Personen waren 14 Jahre alt, jeweils vier Personen waren 15 und 16 Jahre alt und drei Personen waren 17 Jahre alt. Fünfzehn Jugendliche waren männlich, eine weiblich. Einer besuchte eine Förderschule, acht besuchten Hauptschulen, zwei besuchten Gemeinschaftsschulen, einer ein Gymnasium, einer eine Oberschule, einer stand nach dem Abschluss an einer Gesamtschule kurz vor einer Ausbildung, einer besuchte ein Berufskolleg und einer war in einer Ausbildung. Dreizehn Personen lebten im elterlichen Haushalt und drei Personen lebten in Heimen. Der Großteil der qualitativ Interviewten bezeichnete die finanzielle Situation ihrer Familie als gut und als mit der von Familien der Freund*innen vergleichbar. Und dies, obwohl die Berufssituation der Eltern häufig nahelegt, dass eher wenig Geld zur Verfügung steht. In der Regel war nur ein Elternteil erwerbstätig. Auch diejenigen, von denen aufgrund von Tod oder Arbeitsunfähigkeit kein Elternteil arbeitete, empfanden ihre finanzielle Situation als unproblematisch. Sehr viele erhielten ein monatliches Taschengeld und konnten sich mit Bitten um darüber hinausgehende finanzielle Zuwendungen erfolgreich an ihre Eltern wenden. J2M: Also Taschengeld bekomme ich erst einmal 70 bis 80. Und wenn ich zwischendurch was haben will, geben die mir das auch.3 I: Aber könntest Du so schätzen, wie viel das so ungefähr zusätzlich im Monat sein könnte? Weil wenn Du sagst, Du hast jetzt mal irgendwie so eine Jacke gekriegt, dann kriegst Du ja vielleicht noch einmal was zwischendurch. J2M: Also das Höchste, was ich geschafft habe, war 200 im Monat. Aber so viel will ich zurzeit gar nicht mehr. Und wenn du das in bar hast, dann denkst du, du hast genug Geld, holst dir das und das und guckst du in dein Portemonnaie und hast nur noch einen Fuffi. Also da ist das Geld schon weg. Deswegen habe ich das lieber immer in der Woche, dann sind schon 20 EUR weg.

4.3.5.2 Integration – Desintegration Sozialstrukturelle Dimension Die sozialstrukturelle Dimension beschreibt im Rahmen der TSD die Teilhabe an Arbeits-, Wohnungs- und Konsummärkten, an Bildung sowie an materiellen und kulturellen Gütern. Vereinfacht geht es darum, die Zufriedenheit des 3Die

zwecks Gewährleistung der Anonymität gewählte Kennzeichnung der Interviewpassagen beinhaltet jeweils zunächst den Buchstaben J für Jugendliche/r, dann eine Zahl für die Nummerierung der Interviews sowie ein M oder W für das Geschlecht der Befragten. Die Kennzeichnung I steht jeweils für Fragen des Interviewers.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

145

Tab. 4.7    Demographische Beschreibung der Klasse 3 Geschlecht

N

Gültige Prozent

Männlich

500

54,6

Weiblich

415

45,4

Keine Angabe

3

Migrationshintergrund

N

Gültige Prozent

Ohne Migrationshintergrund

526

58,1

Mit Migrationshintergrund

380

41,9

Keine Angabe

12

Schultyp

N

Gültige Prozent

Hauptschule

195

21,2

Realschule

267

29,1

Gymnasium

226

24,6

Gesamtschule

230

25,1

N

Mittelwert (SD)

Gesamt

912

14,74 (0,742)

Männlich

499

14,76 (0,729)

Weiblich

412

14,72 (0,757)

Keine Angabe

6

Alter

FAS

N

Mittelwert (SD)

Gesamt

916

4,70 (1,62)

Männlich

499

4,75 (1,57)

Weiblich

414

4,64 (1,68)

Keine Angabe

2

FAS Gesamt

N

Gültige Prozent

Niedrig

94

10,3

Mittel

501

54,7

Hoch

321

35,0

Keine Angabe

2 (Fortsetzung)

146

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Tab. 4.7    (Fortsetzung) Geschlecht Männlich

Weiblich

N

Gültige Prozent

Niedrig

44

8,8

Mittel

279

55,9

Hoch

176

35,3

Keine Angabe

1

Niedrig

50

12,1

Mittel

221

53,4

Hoch

143

34,5

Keine Angabe

1

Individuums mit der beruflichen und sozialen Stellung abzubilden (Anhut und Heitmeyer 2000, S. 138 f.). Zufriedenheit ist dabei ein Ausdruck erfolgreicher Integration auf der sozialstrukturellen Dimension, die wiederum von positionaler Anerkennung begleitet wird. Was heißt das für die Stichprobe der Schüler*innen? Um eine Aussage über die Integration in der sozialstrukturellen Dimension treffen zu können, wurden vier Konstrukte in die Analyse der latenten Klassen aufgenommen. Diese vier Konstrukte sind Indikatoren für die Integration in die sozialstrukturelle Dimension. Damit sind Aussagen über die Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen, über die Einschätzung der Anforderungen in der Schule, über die Zuversicht, diesen Anforderungen gerecht werden zu können sowie über das Ausmaß als ungerecht empfundener Behandlung durch die Lehrer*innen möglich. Die latente Klasse 3 zeigt über alle Konstrukte der sozialstrukturellen Dimension eindeutig Werte, die für eine Integration in den gemessenen Lebensbereichen sprechen. Die Schüler*innen der Klasse 3 weisen bezüglich der eigenen sowie der elterlichen Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen eine Wahrscheinlichkeit von 93 % für die Antwortoptionen „sehr zufrieden“ und „eher zufrieden“ auf die Fragen „Wie zufrieden bist Du mit Deinen schulischen Leistungen?“ und „Wie zufrieden sind Deine Eltern mit Deinen schulischen Leistungen?“ auf. Neben der Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen sollten die Anforderungen bewertet werden, die seitens der Schule an die Jugendlichen formuliert werden. Dabei sollte angegeben werden, mit welcher Häufigkeit die

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

147

Schüler*innen in den vergangenen zwölf Monaten mit folgenden Situationen konfrontiert waren: „Ich habe das Gefühl, schulischen Anforderungen nicht gewachsen zu sein“ und „Manchmal kann ich Hausaufgaben nicht lösen“. Hier zeigt die Gruppe der Integrierten mit Kontrollbalance und hoher Realitätskontrolle eine Wahrscheinlichkeit von 59 % für die Antwortkategorien „seltener“ und „nie“. Dies signalisiert ein gewisses Maß an Unsicherheit, das sich jedoch nicht in der Beantwortung der Fragen zu zukünftigen schulischen Herausforderungen und dem Optimismus über das Erreichen des angestrebten Schulabschlusses widerspiegelt. So zeigt die Klasse 3 für dieses Konstrukt eine Wahrscheinlichkeit von 97 % für die Antwortkategorien „sehr sicher“ und „eher sicher“. Abschließend wurde in der sozialstrukturellen Dimension die wahrgenommene Behandlung durch die Lehrer*innen abgefragt. Die vier zur Messung herangezogenen Items können in Tab. 8.3 im Anhang eingesehen werden. Auch hier zeigen die Schüler*innen im Sinne der Theorie mit 69 % Wahrscheinlichkeit für die die sozialstrukturelle Integration signalisierenden Antworten eine eindeutige Zuordnung. Sehr viele der qualitativ Interviewten, die der Klasse 3 zugeordnet wurden, hatten mittelmäßige bis sehr gute Noten. Zudem hatte die Mehrheit der Interviewten konkrete Zukunftspläne. Lediglich ein Jugendlicher gab an, sich noch keine Gedanken darüber gemacht zu haben, was er nach der Schule machen möchte. Gute Noten sind jedoch kein Garant für einen unbeschwerten Blick in die Zukunft. Eine große Mehrzahl der Interviewten gab an, sich selbst unter Druck zu setzen. Im Gegenzug finden sich mitunter auch unter denjenigen, die mit ihren schulischen Leistungen unzufrieden waren, optimistische Einschätzungen der Zukunftschancen. Krankheit und Tod eines Elternteils spiegelten sich durchgehend in (vorübergehenden) Notenverschlechterungen wieder. J9M: Ich war nie ein Kind, dem alles zugeflogen ist. Ich musste wirklich immer büffeln. (…) Für meine Zukunft mache ich mir keine Sorgen. Ich schaffe ja meine Ausbildung. Das ist ja kein Problem für mich. J11W:  Und in der Grundschule fing das schon mit dem Ein mal Eins an. Ich habe Tage gebraucht, bis ich diesen Kack in meinen Kopf rein bekommen habe. Die Uhr zu lernen, war sowieso der Horror. Und, äh, dann mit der Schule wurde das halt immer besser. Und dann hat man auch Sprachen dazu bekommen, Leistungsfächer und all so was. Und dann ging das einfach. Aber ich musste halt wirklich was dafür tun, zugeflogen ist mir nichts. Dann gab es auch so Absteigerjahrgänge, so siebte Klasse, wo es wirklich bergab ging, wo du gedacht hast: „Hä, Du kannst die Schule schmeißen. Mit Deinem Abschluss wird es sowieso

148

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

nichts“, aber dann, zehnte Klasse war eigentlich gut. Ich hätte Abitur machen können, wollte ich aber nicht. I: Und Du lernst ja viel, weil Du später einen guten Job haben möchtest. Ist das ein Thema, über das Du Dir ständig Gedanken, Sorgen oder Druck machst? J15M: Ich lerne gerne, aber ab und zu ist die Schule auch stressig. Mit den vielen Tests. Ich setze mich auch unter Druck, weil ich jetzt in dieser Woche noch einen MSA schreibe. Und nächste Woche auch. Und dann wartet man noch bis Ende des Jahres auf seine Note, ob man bestanden hat oder nicht. Und das ist jetzt in diesem Jahr für mich ein großer Druck gewesen. Die erste Prüfung habe ich hinter mir gehabt, habe auch mit einer Eins bestanden. I: Und in welcher Klasse bist Du jetzt eigentlich? J15M: Zehnte. I: Und Du hast gerade ein Zeugnis gehabt. Wie waren da die Noten? J15M: 1,6 oder 1,8 war der Durchschnitt. Sehr viele der qualitativ Befragten berichten, dass ihre Eltern zufrieden mit ihren schulischen Leistungen sind. Oft ist die Wertschätzung verbunden mit materiellen Belohnungen. Auch dass Eltern sie dazu anhalten, sich schulisch anzustrengen, und ihnen berufliche Perspektiven aufzeigen, empfinden die Jugendlichen nicht als Druck. Auffallend ist, dass vereinzelt Jugendliche berichten, dass ihre Eltern lediglich gute Noten zum Anlass nehmen, um ihnen zu sagen, dass sie stolz auf sie sind. Allerdings berichten auch zwei Jugendliche von elterlichem Leistungsdruck, gute Noten zu schreiben – in einem Fall sogar verbunden mit Strafen für schlechte Noten. J4M: Ja, teilweise auch meine Eltern. Ja, wenn die dann sagen, keine Ahnung, ich habe schlechte Noten oder so in der Schule, dass ich dann als Strafe zum Beispiel meinen PC oder meinen Laptop weg bekomme oder mein Handy. Weil das ist ja schon so, dass die mich kontrollieren, ob ich auch gut in der Schule bin, regelmäßig da bin und so. J16M: Ich schreibe meistens Vieren oder Fünfen. Und ja, das ist halt ein bisschen, ich sage es mal so, das Glücksgefühl ist weg. Und ich weiß noch aus der Grundschule in der sechsten Klasse, da habe ich nur Einsen und Zweien geschrieben. Als ich dann auf die Oberschule kam, auf das Gymnasium, da gingen die Noten dann rasant runter. Und das ist halt … man fühlt sich halt nicht mehr so gut, weil wenn man nur noch schlechte Noten kriegt, dann hat man auch gar keine Lust mehr zu

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

149

lernen. Weil wenn man sich denkt, ich werde doch sowieso die Arbeit oder die LEK verhauen, deswegen. I: Aber hast Du das Gefühl, dass Du das quasi nicht richtig steuern kannst mehr oder dass Du auch, wenn Du mehr machen würdest, daran nichts ändern kannst? J16M: Also ich nehme es mir immer vor, aber ich weiß, dass ich zum Schluss wieder weniger lerne, als ich vorhatte. I: Gibt es das denn, dass Du von jemandem öfters kritisiert wirst oder angemeckert wirst über Dinge, die Du machst? J16M: Manchmal von meinem Vater, wenn ich … Auf dem Gymnasium ist es sehr schwer, also ich kriege auch oft schlechte Noten und er sagt halt mir, dass ich, ähm, viel mehr lernen muss und so. Also das wiederholt der auch oft, auch mit strengem Ton. Sehr viele der qualitativ Befragten erleben ihre Lehrer*innen als fair und hilfsbereit. Einzelne berichten von desinteressierten Lehrer*innen, durch die sie Aufstiegschancen verwehrt sehen, und/oder von Vorurteilen gegenüber Schüler*innen mit Migrationshintergrund. I: Aber es gibt keinen, der unfair mit den Noten ist oder Dich schlecht behandelt? J7M: Schlecht behandeln schon. Also es gibt ein paar Lehrer, wenn man nicht so gut ist, dann gehen die eher so auf die Mädchenseite, weil das ja Mädchen sind, deswegen. J9M: Ja, manche Lehrer geben einfach Noten. Zum Beispiel gestern habe ich meinen Schrank sortiert. Ich habe da einen Test gefunden von mir. Und dann stand da zuerst befriedigend. Und ich habe ja meine Punkte durch geguckt und danach wurde das ja durchgestrichen. Die hat da halt einfach befriedigend hingeschrieben und dann hat die korrigiert. Sie erst den Dings geschrieben, äh, die Note und danach hat die korrigiert. Ist ja bei den Lehrern, da ist das halt, wenn jemanden so vom Aussehen her nicht mögen, danach ist das ja halt normal. I: Also da gibt es so ein paar Lehrer, da hast Du das Gefühl, da ist es unfair, was die machen, und egal wie du lernst, du kannst eigentlich nicht besser werden? J9M: Ja, aber meine Eltern kommen schon manchmal, um mit den Lehrern zu reden, wie der ist in der Schule. Anstatt beim Elternsprechtag zu kommen, zu warten so lange, dann kommen die halt direkt jede Woche fast.

150

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

I: Und bringt das was? J9M: Ja, bringt schon was. J9M: Den Lehrern interessiert das gar nicht, was wir machen. Die sagen: „Hauptsache ich mache meinen Job. Und wenn du willst, kannst du einfach da rumsitzen. Das interessiert mich halt nicht.“ J11W: Also ich denke mal, jeder hat einen Lehrer, der nicht gut auf einen zu sprechen ist. Ich hatte auch einen davon, wo ich echt gedacht habe: „Boah, ey, jede Stunde versucht der mich echt runterzubuttern und will nicht, dass ich einen guten Abschluss kriege!“, oder sonst was, aber, äh, so eigentlich eher weniger. Ich habe mich mit den Lehrern meist gut verstanden.

Institutionelle Dimension Als Ergänzung zur sozialstrukturellen ist eine Integration in die institutionelle Dimension das Ziel einer erfolgreichen Partizipation an der Gesellschaft. Sie beschreibt die Möglichkeiten der institutionellen und politischen Teilhabe und hat dabei den Ausgleich von Interessen vor dem Hintergrund gegenseitigen Respekts zum Thema. Sowohl die eigene als auch die Integrität anderer soll dabei im fairen Wettstreit der Interessen gewahrt werden. Als Ergebnis einer erfolgreichen Integration in diesem Teilbereich formuliert die TSD als Ergänzung zur positionalen Anerkennung der sozialstrukturellen Integration die moralische Anerkennung. Um Informationen über die zweite Dimension der TSD bei den quantitativ befragten Schüler*innen zu bekommen, wurden zwei Konstrukte mit je drei Items verwendet. Dabei sollte das eine die Fähigkeit der Jugendlichen, ihre Interessen in der Familie, bei Freund*innen sowie in der Schule durchsetzen zu können, messen. Das zweite Konstrukt erfragte Möglichkeiten, die eigenen Bedürfnisse und Anliegen kommunizieren zu können. Dabei ging es um Diskussionen, Gespräche und das allgemeine Mitteilen von Bedürfnissen. Die Ergebnisse sind mit 96 % und 92 % Wahrscheinlichkeit für die Antwortoptionen, die Integration indizieren, sehr klar. Die Jugendlichen der Klasse 3 sind im Sinne der TSD sehr gut auf der institutionellen Dimension integriert. Alle qualitativ Befragten, die der Klasse 3 zugeordnet wurden, sind in den Haushalt beziehungsweise die Betreuung von Geschwistern eingebunden und verstehen dies als Selbstverständlichkeit. Ob feste Aufgaben von den Eltern verteilt wurden oder ob die Jugendlichen von sich aus anfallende Arbeiten erledigen, variiert. Im Kontext der Durchsetzung von Interessen in der Familie spielt die Übernahme von Aufgaben insofern eine Rolle, dass sie der eigenen Positionierung dient beziehungsweise ein Mittel zum Zweck sein kann.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

151

Neben häuslichen Aufgaben beziehungsweise der Positionierung in der Familie ist der schulische Bereich interessant. Ein knappes Drittel der qualitativ Befragten hatte bereits die Position des Klassen- oder Schulsprechers übernommen und signalisierte einen inneren Antrieb, diese Positionen gewissenhaft auszufüllen. Diejenigen, die Positionen übernahmen, erfuhren Anerkennung seitens der Lehrer*innen und/oder ihrer Mitschüler*innen. J13M: Ja, ich habe mich eigentlich nur gemeldet, weil ich Langeweile hatte, sagen wir es mal so, aber dann, so nach zwei, drei Tagen habe ich dann gemerkt, dass mir das richtig Spaß macht, Klassensprecher und Schulsprecher zu sein. I: Also, was hattest Du da für Funktionen? J13M:  Also als Schulsprecher muss man halt gucken, dass die Schule in Ordnung ist, dass da keine Schlägereien sind oder halt verschiedene Sachen. Und, ähm … sonst eigentlich nichts. Und als Klassensprecher dann halt gucken, dass die Klasse dann, dass man sich versteht. I: Also Du bist dann in den Pausen rumgelaufen und hast auch so ein bisschen kontrolliert, was die anderen machen. J13M: Ja. I:  Und haben die dann auch auf Dich gehört, wenn Du dazwischen gegangen bist zum Beispiel? J13M: Ja, teilweise. Also die Jugend von heute, die Fünftklässler, frech. Neben der Aufgabe an sich reizte einen Befragten zudem, dass das Engagement auf dem Zeugnis vermerkt wird, da er dies als wichtig für seine künftigen Karrierepläne erachtete. I:  Und übernimmst Du irgendwelche Aufgaben, Verantwortung oder Funktionen in der Schule? J15M: Klassensprecher war ich schon mal, nur Klassensprecher. I: Und das wolltest Du auch werden? J15M: Ja, das wollte ich. I: Aber jetzt nicht mehr, oder? J15M: Jetzt nicht wegen dem MSA. I: Und hast Du dadurch Vorteile gehabt? J15M: Vorteile, zum Beispiel ich konnte die Wünsche der Schüler erfüllen. Das sieht auch in meinem Zeugnis besser aus. I: Und hast Du das auch gezielt gemacht, damit das in Deinem Zeugnis steht?

152

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J15M: Ja, ich habe alle Pflichten erfüllt. Die haben mich auch auf dem Zeugnis gelobt, dass ich erfolgreich das erfüllt habe. Ich wollte in diesem Jahr auch eigentlich machen, aber da habe ich jetzt keine Zeit. Ein weiterer Befragter berichtet davon, im Bewerbungsprozess um ein Stipendium darauf hingewiesen worden zu sein, dass Klassensprecher*innen bei der Auswahl der Stipendiaten bevorzugt würden. J17M:  Also, es gibt doch immer so eine Wahl. Die Schüler wählen doch. Ein Schüler hat meinen Namen gesagt, dann hat das mein Lehrer aufgeschrieben und ich habe gesagt, ich möchte es nicht. Zu viel Stress. I: Also, jemand anders wollte Dich, aber Du wolltest sowieso nicht? J17M: Eigentlich wollte ich es sein, aber dann habe ich gedacht, wie es sein würde so. Dann habe ich auch gesagt: „Nein, will ich nicht.“ I: Also, was für Aufgaben hat man denn dann so, die so stressig sind? J17M: Man muss in Konferenzen dabei sein, Klassensprecherkonferenzen. I:  Aber denkst Du nicht, dass das vielleicht auch einen Vorteil haben könnte, dass die Lehrer einen dann auch besser beurteilen und sagen, dass Du motiviert bist? Man bekommt ja nicht nur die Schulnoten, sondern auch die Kopfnoten. J17M: Also, ein Klassensprecher ist auch wie ein Migrationshintergrund. Also ich habe mich vor kurzem bei einem Stipendium beworben, die haben mich gefragt, ob ich Klassensprecher bin, meinte ich „Nein“. Neben der Bedeutung einer Positionierung im Elternhaus und in der Schule kann speziell das Erleben von Anerkennung in anderen Lebensbereichen relevant sein. Ebenso wie die Wahl zur/m Klassensprecher*in ist vergleichbare Anerkennung im Sport ein Beispiel. I: Und bekommst Du da Lob und Anerkennung? J12M: Ja, kriege ich auch Anfang der Saison, geht Ende Liga, dann dürfen wir entscheiden, wer Kapitän ist. Und wir hatten dann ich und noch zwei Torhüter, da durften dann … also wir haben dann ein paar Mal, ähm, jeder mal ein Spiel gespielt von den Torhütern. Dann durfte die Mannschaft entscheiden, halt die Mehrheit hat dann gewonnen, ich wurde am meisten gewählt. Weil fast alle haben mich dann gewählt, dann bin ich jetzt Torwart. Die qualitativ Interviewten gaben außerdem mehrheitlich an, dass es in ihrem Freund*innenkreis keine Anführer*innen gibt. Lediglich eine Person schilderte,

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

153

dass er der erklärte Anführer sei. Mitunter wird gemeinschaftlich und gleichberechtigt ein einheitliches Freizeitverhalten abgestimmt. Andernfalls wird unterschiedliches Freizeitverhalten in der Regel nicht kritisiert. Die Jugendlichen zeigen mehrheitlich kein gesteigertes Interesse daran, ihre Wünsche in der Gruppe durchzusetzen. Bloß eine Person erwartet von Freund*innen, dass sie „öfters“ für gemeinsame Freizeitaktivitäten zur Verfügung stehen. I: Also, wenn Du irgendwas möchtest, wenn Du mit Deinen Freunden zusammen bist, dann wird ja wahrscheinlich nicht alles nach Deinen Wünschen laufen, oder? J11W: Also, dann einigt man sich auf irgendwas. I: Also, wie einigt Ihr Euch dann? J11W: Also, jetzt sage ich mal ein ganz blödes Beispiel, einer will kickern und einer will Dart spielen, dann: „Ja, habt Ihr Bock, Dart zu spielen?“ „Ja, klar.“ Dann … wird sind halt auch eine größere Gruppe, dann sagt man halt: „Ja, ich spiele jetzt mit den Leuten Dart“, und andere spielen halt Kicker. Man muss ja auch nicht immer was zusammen machen, deswegen. J12M: Eigentlich wir machen das immer so, wir planen Wochen, also zu jeder Woche irgendwas. Dann darf sich jeder was aussuchen. Zum Beispiel schwimmen, da machen wir einen Termin, wo jeder frei hat, wo jeder früh Schule aus hat, gehen wir dann schwimmen. Dann anderen Tag am Wochenende gehen wir irgendwie zusammen was Essen und so. Wenn überhaupt, findet man somit ein deutliches Bestreben nach Interessensdurchsetzung im familiären Kontext zur Gewährung von Wünschen sowie in der Schule, wo es dann mit Blick auf die Zukunft um strategische Entscheidungen bei der eigenen Positionierung geht. Als Ergänzung hierzu zeigt sich gerade bezüglich der Familie und der Kommunikation von Bedürfnissen, dass sich kein qualitativ Befragter von den Eltern finanziell benachteiligt fühlte. Auch diejenigen, die es gewohnt waren, nicht jeden Wunsch erfüllt zu bekommen beziehungsweise Kompromisse eingehen zu müssen (z. B. Mithilfe im Haushalt als Gegenleistung), zeigten dafür Verständnis. Manche zogen es auch vor zu sparen, anstatt ihre Eltern um Geld zu bitten. Einige betonten auch, keine großen Ansprüche zu haben. Die Jugendlichen haben ein gutes Verständnis davon, wie sie ihre finanziellen Interessen in der Familie kommunizieren und behaupten können. Darüber hinaus wissen sie auch, wie sie auf größere Anschaffungen hinarbeiten können, indem sie etwa Geld über einen längeren Zeitraum ansparen.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J9M: Aber sparen tue ich selten. Also, wenn ich zum Beispiel für … 500, 600 EUR was kaufen will, dann spare ich schon. Das ist ja was anderes. Aber wenn ich nur für 120 oder für 150 was kaufen will, dann spare ich nicht, dann frage ich meine Eltern oder meinen Bruder. J12M: Das ist dann 180 EUR ist Kindergeld und 100 EUR geht auf das Sparbuch für später, meinen Führerschein und so alles. Und 80 EUR kommt dann auf mein Konto. Ja, muss ich dann damit halt auskommen, aber nur wenn wir jetzt so mit Kollegen wo hingehen. Also 100 EUR auf mein Sparbuch und 80 EUR auf mein Konto. J11W: Äh, sagen wir mal so, als meine Mama mit meinem Papa zusammen gewohnt hat, als die noch verheiratet waren, klar, da war die Zeit wieder gut, aber dann nach einem Jahr wieder getrennt, ich habe mit meinem Bruder und meiner Mama alleine gelebt und wir mussten alles umdrehen, um uns wirklich was leisten zu können, um im Monat über die Runden zu kommen und so, weil meine Mama halt da noch die Ausbildung zu Ende gemacht hat und ich auf meinen Bruder aufgepasst habe. Meine Oma hat direkt nebenan gewohnt, die hat dann auf meinen Bruder aufgepasst oder auf mich. Klar, wo meine Mama dann meinen Stiefvater geheiratet hat, wurde das halt alles besser. J13M: Ja, dann holt meine Mama mir das. Also, dann sage ich immer … dann schleime ich immer bei meiner Mama ein bisschen. Dann sage ich: „Mama, kannst Du mir das holen? Du hast mich doch lieb, ne?“ Dann sagt die: „Boah, was willst Du jetzt schon wieder?“ „Ja, Du kannst mir doch das und das holen.“ „Boah, wie teuer ist das?“ „150 EUR.“ „Boah, hier nimm und geh!“ I: Gibt es das denn auch mal, dass Du sagst: „Wenn Du mir das und das gibst, dann mache ich dafür das und das“, dass Du ihr quasi was dafür anbietest, um sie zu überreden? J13M: Ja (lacht). I: Also was zum Beispiel? J13M: Ja, Wohnung sauber machen oder halt Badezimmer sauber machen oder …

Sozial-emotionale Dimension Die sozial-emotionale Dimension ist die letzte in unseren Ausführungen zur TSD im Rahmen der Klassenbeschreibung. Hierbei geht es um die Herstellung emotionaler Beziehungen zwischen Personen zum Zweck der Sinnstiftung. Weitere zentrale Inhalte sind Selbstverwirklichung und die Sicherung sozio-emotionalen Rückhalts. Diese sozial-emotional Integration findet ihren ­

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

155

Ausdruck in emotionaler Anerkennung. Hierfür sind fünf Konstrukte in der finalen Auswertung vorgesehen: Meinungsvielfalt im Freund*innenkreis, Vertrauen im Freund*innenkreis, Geborgenheit in der Familie, Vertrauen in der Familie und Konflikte in der Familie. Die quantitativ befragten Jugendlichen der Klasse 3 zeigen für alle fünf Konstrukte dieser Dimension eindeutige Werte, die für eine sozial-emotionale Integration sprechen. Besonders hoch sind die Wahrscheinlichkeiten mit 98 % (Meinungsvielfalt im Freund*innenkreis), 98 % (Vertrauen im Freund*innenkreis), 100 % (Geborgenheit in der Familie) sowie 99 % (Vertrauen in der Familie) für die ersten vier der fünf Konstrukte (vgl. Anhang Tab. 8.3). Das Ergebnis zu den Konflikten in der Familie weicht mit 59 % deutlich davon ab. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit für diese Schüler*innen, mit ihren Antworten in die Kategorie zu fallen, die für eine Integration auf der personalen Dimension spricht, deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit einer Desintegration. Der spätere Vergleich der Klassen untereinander wird diesen Befund unterstützen (vgl. Abschn. 4.4). Die Familiensituation der qualitativ Befragten, die der Klasse 3 zugeordnet wurden, variierte stark. Etwa die Hälfte der Befragten war im Laufe ihrer Jugend zum Teil massiven familiären Problemen ausgesetzt, sowohl unter den Jungen als auch den Mädchen. Mitunter sind die Eltern aufgrund eigener Probleme nicht dazu in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern, obwohl sie es möchten. Es fehlt eher an ausreichender Unterstützung oder man geht sich mitunter bewusst aus dem Wege, als dass ein Zuviel an Fürsorge vorzufinden wäre. Teils fehlt auch ein Elternteil aufgrund von Trennung oder Tod. I: Ja, also das heißt Deinen Vater hast Du nie getroffen? J3M: Den habe ich nie gesehen. Der ist vor meiner Geburt verschwunden, also abgehauen. I: Mmh. Ja, also hast Du mal versucht, Kontakt auszunehmen, oder? J3M: Ja, ich habe versucht, aber der will nichts von mir wissen. J4M: Ja, das war ja so, meine Mutter, die hatte ja noch vier weitere Kinder, dann noch meine Nichte, mein Neffe, also haben ja auch noch bei uns gewohnt und, äh, ja, dann musste die auch da drauf achten und da drauf achten und so. Und das war damals wirklich so, da war man viel auf sich alleine gestellt so. Man musste viel alleine machen, zum Beispiel morgens aufstehen oder dann auch, äh, die Schultasche packen, selber drauf achten, dass alles drin ist oder so, weil das geht ja nicht, dass … Also mein Vater, der ist ja Diabetiker und der hatte ja auch schon zwei Herzinfarkte, und durch die Tabletten, der schläft ja wirklich … der schläft den halben Tag dadurch. Der wird dadurch total müde,

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

durch die Tabletten und so. Und dann halt war mein Vater am Schlafen, dann meine Mutter wurde wach halt auch so und dann kann die ja nicht auf, äh, auf uns fünf Kinder gucken, dass auch alles drin ist. Und dann müssen die eher also, die später los oder dann so was halt. J11W: Klar, manche Sachen, die mir auf den … jetzt wirklich jeden Tag auf die Nerven gehen, die sage ich ihr halt wirklich schon, aber dann kommen halt so Sachen wie: „Kann ja gar nicht sein, Ihr versteht Euch doch richtig gut.“ Und das ist halt auch so ein Problem, aber manche Sachen, die dann so vorfallen, die erzähle, ich ihr dann gar nicht, damit sie sich keine Sorgen machen braucht oder damit sie mit meinem Stiefvater nicht noch mehr Stress hat, als ich mit ihm schon eh habe. I: Und das ist dann auch eher so eine Situation, in der Du dann wie bei dem Mobbing sagst, irgendwann in ein paar Jahren bist Du sowieso da raus, hast eine eigene Wohnung, und bis dahin hältst Du es noch aus. J11W: Ja, genau. Also so schwer ist das ja eh nicht, weil ich bin morgens da, dann ist der arbeiten. Ich bin mittags weg und der kommt dann. Ich bin abends da und der ist schon im Bett. Also so viel ist das nicht, am Wochenende bin ich eh nie zu Hause, meistens bei meinem Papa oder Freunden oder so. Aber dann gibt es so Sachen wie so, wo ich sage: „Sei mir nicht böse, aber in den Urlaub fahre ich schon gar nicht mehr mit.“ Ja, das klappt halt einfach teilweise, aber dann ist das so, wenn der Urlaub hat und ich dann zu Hause bin, dann ist das natürlich kritisch, aber da kommt man dann halt auch irgendwie mit klar. Während manche Jugendliche betonen, ihren Eltern immer die Wahrheit zu sagen und sie auch bei eigenem Fehlverhalten als wichtigste Ansprechpersonen zu sehen, wird in anderen Familien nicht vertrauensvoll miteinander gesprochen. Dies geschieht sowohl, weil die Kinder ihre Eltern mit Problemen nicht belasten möchten, als auch weil sie diese nicht als passende Ansprechpartner*innen erleben und sich lieber an andere wenden. I: Und wenn Du irgendwelche Probleme hast oder irgendetwas Dich stört, sprichst Du mit Deinen Eltern über alles oder gibt es Sachen, wo Du sagst, darüber würdest Du mit Deinen Eltern lieber nicht sprechen? J12M: Doch, eigentlich schon. Nee, erst eigentlich mit meinen Eltern darüber sprechen. Also immer bis jetzt, wenn ich … Ich habe immer die Wahrheit gesagt, wenn die irgendwas gefragt haben. Ja, dann haben die Okay gesagt, haben wir dann zusammen geklärt. Dann waren die auch nie dagegen, dass ich irgendwas dann falsch gemacht habe oder so.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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I: Also, das heißt, wenn der nicht gerne telefoniert und schreibt, dann trefft Ihr Euch, wenn Ihr Kontakt habt? J11W: Sagen wir mal so, der hat wenig Zeit, so. In seiner Freizeit. Der hat jetzt auch wieder eine neue Freundin und dann steht das natürlich alles wieder im Vordergrund, das auf die Reihe zu kriegen. Und ja, wenn wir mal was machen alle zwei Wochen oder so, bin ich sonntags bei dem. Wir machen was zusammen, aber so wirklich viel Zeit verbringen wir jetzt nicht, dass ich jetzt sagen könnte, ich würde dem auch alles erzählen oder könnte mit dem über alles reden oder so. Stiefeltern werden in der Regel gut akzeptiert. Einzelne Jugendliche fühlen sich jedoch im Vergleich zu neuen Partner*innen der Eltern oder (­ Stief-)Geschwistern vernachlässigt oder eingeengt durch die Erwartung, sich mit allen neuen Familienmitgliedern gut zu verstehen. Auch in diesem Kontext ist es eher zu wenig Verbundenheit als übertriebene Fürsorge, die Jugendliche erleben. Das Ausmaß der berichteten Freizeitaktivitäten mit der Familie reicht von nicht existent bis zu einem hohen Maße, das dem der Freizeitaktivitäten mit Freund*innen gleich kommt. I: Was gibt es denn für Sachen, die Du mit Deiner Familie machst? J9M: Kino. Wir waren, gestern waren wir Kino und ja so vorgestern haben wir auf dem Balkon gegrillt, ist ja normal. Und mehr gibt es auch nicht so. Zu Hause rumsitzen, reden, was für Probleme wir haben, so zusammen Fernsehen gucken, irgendwas. J16M: Ja, also zum Beispiel gehen wir ins Kino, wir shoppen manchmal. Ähm, dann noch irgendwo Essen gehen, im Restaurant. I: Was würdest Du sagen, wie viel Zeit ist das ungefähr pro Woche, die Du mit denen verbringst? J16M: Ich würde mal sagen so … das sind schon über zehn Stunden. Alle qualitativ Befragten berichten, dass sie Freund*innen haben, denen sie vertrauen können. Anerkennung und Lob bekommt man in diesen vertrauensvollen Beziehungen beispielsweise für Hilfsbereitschaft, (schulische) Erfolge, (sportliches) Geschick oder Humor. Die besuchte Schulform spielt unter den Freund*innen keine Rolle und führt nicht zu Ausgrenzung. Ins Auge springt jedoch die Unterscheidung zwischen Kumpels/Freund*innen und „besten Freund*innen“. Beste Freund*innen sind häufig langjährige Freund*innen, die sich in Krisensituationen bewährt haben. Sie sind diejenigen, bei denen man sich „ausheulen“ und wertvolle Tipps holen kann – die „Vernünftigen“.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Ob über Familienprobleme gesprochen wird, variiert aus verschiedenen Gründen. Manche geben an, dazu erzogen worden zu sein, Familienprobleme nicht nach außen zu tragen. Andere möchten sich im Freund*innenkreis ablenken und daher Familienprobleme nicht thematisieren. Der weitere Freund*innenkreis zeichnet sich häufig durch Misstrauen untereinander aus. I: Und der Unterschied zu den anderen Freunden ist, dass zu denen das alles, was Du gerade erzählt hast, nicht ganz so intensiv ist? J11W: Ja, mehr oder weniger Vertrauen. Es gibt dann Leute, denen würde ich halt nicht zum Beispiel alles erzählen, denen würde ich jetzt nicht alles preisgeben. Meiner besten Freundin erzähle ich zum Beispiel alles, egal was sie davon hält oder was sie davon nicht hält, äh, aber es gibt dann so spezielle Leute, denen würde ich zum Beispiel gar nichts erzählen. I: Also was wären das denn so für Themen, über die man dann mit der spricht, aber anderen nicht? J11W: Meine Familie, äh … I: Also das zum Beispiel mit dem Stiefvater, den Konflikt. J11W: Genau. Was in meiner Familie so abläuft, das würde ich meiner besten Freundin erzählen, jemand anders aber halt nicht. Oder vielleicht jemand anders, aber der, den ich auch schon seit Jahren kenne, sage ich jetzt mal, aber nicht allen. Dann krankheitsbedingt, was gerade so los ist, geht ja auch nicht jeden an. Oder dann halt beruflich, was ich gerade so mache, was ich vorhabe und so. Das geht ja auch nicht jeden an, das ist ja meine Sache. Dann, darüber redet man halt mit der besten Freundin, aber mit anderen Leuten dann nicht. I: Sprichst Du denn mit Freunden über Probleme, die es in der Familie gibt? J19M: Ja, habe ich auch schon. Das macht eigentlich jeder so von uns. I:  Also über die Familie, wenn Du zum Beispiel zu Hause Probleme hättest, dann würdest Du mit den Freunden nicht drüber reden? J13M: Nee. I: Und das machen die anderen auch nicht, oder? J13M: Nee. I: Aber geht es darum, dass Du den anderen nicht vertraust, oder warum passiert das nicht? J13M: Nein, ich kann denen vertrauen, aber ich sage das aus dem Grund nicht, weil ich das einfach, sagen wir es mal so, wenn eine Geschichte vorgefallen ist, dann habe ich keinen Bock, die von A bis Z zu erklären, und dann lassen wir das einfach.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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Mitschüler*innen sind nicht zwangsläufig die Gruppe, aus der der Freund*innenkreis rekrutiert wird. Dies kann schlicht an der Entfernung zwischen den Wohnorten liegen, wodurch gemeinsame Freizeitaktivitäten unterbunden werden. Mitunter wird von einem gehässigen Klassenklima und einzelnen, prägenden Negativerlebnissen berichtet. Andere berichten jedoch auch von einem solidarischen Klassenklima, in dem sie Familienprobleme oder ihren Heimaufenthalt kommunizieren können. I: Dann zu den Mitschülern. Sind die zum Teil auch Deine Freunde? J9M: Nein, nein. Ich habe keine so. Wenn ich so, mit meinen Mitschülern gehe ich gar nicht raus. I: Warum nicht? J9M: Weil das halt nicht gut ist für mich. Ich mag so was nicht. Erst mit denen so rausgehen und danach reden die in der Klasse so: „Ja, gestern war schön und so, dies und das.“ Ich kenne ja so welche Leute, die machen so was. Und dafür bin ich auch nicht. I: Also hast Du kein Vertrauen in der Klasse. J9M: Nein. I: Aber dann gibt es in der Schule niemanden, mit dem Du befreundet bist? J9M: Nein, nein, mit gar keinem bin ich befreundet. Aber in der Pause, okay, Pause gehe ich schon mit Leuten raus, ja, so Pausenraum chillen und so. Das ist ja was anderes. Aber rausgehen und so nein. I: Gibt es das denn bei Euch in der Klasse zum Beispiel? Es gibt ja immer irgendwelche Außenseiter. J12M: Nee, bei uns nicht. Bei uns sind wir so, wenn irgendwas gemacht wird, dann machen wir das entweder, also wenn wir Scheiße in der Schule bauen, also in der Klasse, alle zusammen. Dann wenn man gefragt, hält auch jeder seinen Mund, so also keiner sagt was. Aber wir halten immer zusammen in unserer Klasse, ich finde die auch gut, dass wir immer zusammenhalten. Aufgrund der Relevanz der Angaben werden in der Darstellung der qualitativen Daten auch Angaben zur sozio-emotionalen Einbindung in Heimen und Jugendeinrichtungen thematisiert sowie der Kontakt zu Geschwistern und Partner*innen. Das Verhältnis zu Heimmitarbeiter*innen variierte unter den drei qualitativ Befragten, die nicht im elterlichen Haushalt lebten. Zwei Jugendlichen schildern, dass sie mit Heimmitarbeiter*innen nicht vertrauensvoll kommunizieren, da sie davon ausgehen, diese seien dazu verpflichtet, alle erhaltenen Informationen zu dokumentieren.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J19M: Ja, ja. Habe ich zwei Stück. Also, ich habe … ich verstehe mich eigentlich mit allen ziemlich gut, mit den ganzen Betreuern hier. J31M: Es gibt eine Mitarbeiterin, die lästert viel. Nur über uns beide. Wenn wir irgendwas machen, die wird sofort weitererzählen. Zum Beispiel so ein kleines Problem ist, sie wird so groß machen und weiter. Man merkt, dass sie uns hasst. Sie ist so. I: Irgendeine Idee, woran das liegt? J31M: Nichts. Ich habe mit ihr gesprochen, was ihr Problem ist und so was. „Nichts, alles gut“, und so was. Aber es ist einfach Quatsch. I: Aber mit den anderen ist alles gut? J31M: Ist alles gut. Wenn wir auch hier sind, ich komme so um vier Uhr nach Hause, in mein Zimmer, bleibe ich auch da. Wenn, zwei Minuten, drei Minuten runterkommen, ein bisschen Hallo sagen, so was. Mehr nicht. I: Aber gibt es irgendwen, der hier arbeitet, der für Dich sehr wichtig ist und eine Vertrauensperson? J31M: Nee! Man kann denen nicht vertrauen. Denen vertrauen kannst du nicht, weil wenn du einem was sagst, das ist so, nicht dass die Verräter sind oder lästern und so, nein, die müssen alles weiter sagen. Weil die für Staat arbeiten, die müssen alles sagen. Zum Beispiel hier werden viele vermisst gemeldet und so. Und dann, wenn einer vermisst meldet, zum Beispiel wenn ich dann morgen komme, dann: „Bitte, erzähl keinem!“, nein, das gibt es nicht, die müssen das erzählen. Das ist alles in Ordnung. J32M: Also nicht alle Betreuer, aber ein paar Betreuer habe ich, denen ich vertraue. I: Aber dann auch nur die Sachen, für die die zuständig sind, und sonst gehst Du eher zu Freunden. Die sind sonst nicht irgendwie wichtig für Dich. J32M: Nee, die nicht. Die müssen auch alle gleich behandeln. Und die sagen halt gleich weiter, weil die müssen. Die können nicht sagen: „Du bist besser, ich mach das für Dich und für ihn nicht.“ I: Aber hast Du den Eindruck, dass die hier manchmal was machen, was die nicht für Dich machen müssten? Es wird ja hier nicht so sein, dass die keinen Bock haben wie die eine Lehrerin. Aber machen die mal was, was die nicht tun bräuchten, weil die so motiviert sind? J32M: Nee, glaube ich nicht. Ihre Aufgaben, mehr nicht. I: Aber seid Ihr denen relativ egal und die machen nur Ihren Job oder habt Ihr das Gefühl, dass die für Euch da sein wollen?

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J32M: Nein, wir sind denen nicht egal. Zum Beispiel wenn ich von der Schule nach Hause komme und traurig bin, dann kommen die direkt zu mir, die sagen: „Was ist los?“, die werden die ganze Zeit hinter mir sein, bis ich mit denen rede darüber. Jugendtreffs waren für viele der qualitativ Befragten langjährige und häufig fast tägliche Anlaufpunkte. Das Verhältnis zu den Mitarbeiter*innen variierte. Manche Jugendliche sehen in Sozialarbeiter*innen Freund*innen und Vertrauenspersonen, während andere Jugendliche keinen näheren Kontakt zu jenen haben und dies auch nicht wünschen. Die Jugendlichen scheinen insbesondere das Freizeitangebot und die Unterstützung bei Hausaufgaben und Bewerbungen zu schätzen. Familienprobleme werden trotz Sympathie nur von wenigen thematisiert. I: Gibt es denn irgendwas, wo Du sagen würdest, Du würdest mal von denen Hilfe nehmen, wenn bei der oder der Sache, dass das hier irgendwie, also dass Du die brauchen würdest? J2M: Ja, also beim Thema Arbeit oder so. Die haben hier auch viel Werkzeug. Wenn ich frage, ob die mir das und das mal leihen können oder so was, das machen die auch. Also hier die Hilfe anzunehmen, ist echt cool, weil die haben auch mehr Ahnung. Wenn ich meine Kollegen frage, die sagen mir das, wenn ich zu meinem Vater gehe, der sagt mir das, und dann gehe ich eigentlich immer zu denen hier, die die meiste Ahnung haben. Und der X3 (Name) hier unten, der Betreuer, der hat ja auch viel Ahnung von Autos, von Sport also. I: Also das heißt, die können es einfach besser als alle anderen, die Du kennst. J3M: Ja, die können das quasi besser als die, die ich kenne. Und mit denen habe ich auch Bewerbungen geschrieben und alles. Und die können es auch viel einfacher erklären als die anderen. J11W: Nee, also am Anfang, klar, am Anfang hat man sich einfach nur die Hand gegeben und Hallo gesagt, aber mittlerweile redet man wirklich mit manchen Personen, äh, über bestimmte Sachen, die man denen vielleicht auch anvertrauen kann oder die die mitbekommen, dass jetzt hier mal ein bisschen Stress ist oder so. Äh, ich verstehe mich, muss ich sagen, eigentlich mit allen Leuten hier gut, also was so die Betreuer und so hier angeht und die Mitarbeiter. Äh, ich verstehe mich wirklich mit allen gut, aber das tun teilweise wirklich alle.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Sehr viele qualitativ Befragten geben an, ein gutes Verhältnis zu ihren (­Stief-) Geschwistern zu haben. Häufig finden gemeinsame Freizeitaktivitäten – in einem gemeinsamen Freund*innenkreis – statt und die Geschwister unterstützen sich gegenseitig bei Problemen. Belastet wird das Verhältnis vereinzelt durch beengte Wohnverhältnisse. I: Und mit Deinem Bruder, gibt es da bestimmte Dinge, die Ihr zusammen macht? J16M: Mein Bruder und ich reden halt oft über Spiele, Computerspiele, auf der Konsole und so. Und manchmal über Fußball. Und mehr nicht. Also, wir haben schon ein paar andere Themen. I: Aber dass Ihr mal zusammen rausgeht und was macht? J16M: Ach so, doch, doch. Also wir gehen oft zusammen raus und spielen Fußball. I: Gehört die [Schwester] auch zu dem Freundeskreis dazu? J2M:  Ja, ich habe die auch manchmal raus genommen, mit den ganzen Leuten. Die bringe ich auch manchmal mit hier hin. Also mit der mache ich auch viel. Ich gehe mit ihr am Wochenende auch immer auf den Markt oder hol der mal was Neues. J4M: Ja, ich habe ja manchmal Stress zu Hause, also jetzt nicht mehr, früher, also mein Bruder, der ist ja vor kurzem ausgezogen halt, der hat mich auch immer geärgert und dann ging das wieder hin und her und hin und her so. Ja, und jetzt halt, seitdem der ausgezogen ist, ist das ja nicht mehr so, seitdem verstehen wir uns eigentlich richtig gut auch, so machen auch viel zusammen. J15M: Ja, ich wäre gerne alleine wegen dem Krach und weil ich auch in Ruhe lernen will. Ich komme ja auch öfters hier her, damit ich auch in Ruhe lernen kann. Ich habe zwar genug Platz dort, aber man fühlt sich nicht wohl nach der Schule. Man hat Schulstress und dann kommt der andere und knallt dagegen halt. Sehr viele der Befragten gaben an, in ernsten Beziehungen zu sein beziehungsweise in der Vergangenheit gewesen zu sein. Einzelne geben an, kein Interesse an Partnerschaften zu haben. Dies begründen sie zum Teil mit religiösen Vorschriften. I: Ist das ein religiöser Grund, dass Du sagst, das passt nicht? J17M: Ja, weil ich Moslem bin. Und ich will auch eigentlich keine. I: Warum nicht?

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J17M: Einfach so, keine Lust. J16M: Also gerade habe ich es eigentlich nicht nötig, weil in letzter Zeit regen mich Mädchen ein bisschen auf, deswegen. Wegen den Mädchen aus meiner Klasse. (..) I: Und die Beziehungen, die Du hattest, war da auch mal was Ernstes dabei? J16M: Nee, eigentlich nicht so. Das hat sowieso nicht lange gehalten. I: Hast Du im Moment eine Freundin? J9M: Ja, ich habe eine Freundin. I: Und würdest Du sagen, das ist was Ernsteres? J9M: Ja, das ist ernst. I: Wie lange seid Ihr schon zusammen? J9M: Drei Jahre. I: Hattest Du vorher schon mal eine längere Beziehung, die auch ernster war? J9M: Nein. I: Aber Beziehungen schon? J9M: Ja, so zwei, drei.

4.3.5.3 Kontrollbalance – Imbalance der Kontrolle Nachdem die Klasse 3 bezüglich ihrer Ausprägungen auf den Dimensionen der TSD beschrieben wurde, geht es nun darum, die Ergebnisse der Konstrukte der CBT einzuordnen. Wie das Label hohe Realitätskontrolle (integriert mit Kontrollbalance) nahelegt, zeigen die Jugendlichen für alle CBT-spezifischen Messungen Werte, die im Sinne der Theorie als Kontrollbalance zu werten sind. Es gelingt ihnen, die Interaktionsprozesse so zu ihrem Vorteil zu gestalten, dass ihr Verhältnis von ausgeübter und erfahrener Kontrolle weitgehend ausgeglichen ist. Die Schüler*innen der quantitativen Befragung dieser Klasse haben dadurch laut Theorie eine geringere Wahrscheinlichkeit, für deviantes Verhalten empfänglich zu sein. Die ersten beiden Faktoren im Rahmen der Messungen zur CBT erfassen die Wichtigkeit von Beeinflussung. Je zwei Items pro Konstrukt waren angelegt, um die Jugendlichen danach zu fragen, wie wichtig es ihnen ist, andere beeinflussen zu können, und umgekehrt, wie sie die Beeinflussung der eigenen Person durch andere bewerten. Auf die Fragen, anderen etwas vorschreiben zu wollen oder anderen zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben, besteht für die Schüler*innen der Klasse 3 eine Wahrscheinlichkeit von 86 %, dass sie diesen beiden Items nicht zustimmen. Hinsichtlich einer Beeinflussung durch andere zeigen die Jugendlichen eine Wahrscheinlichkeit von 92 % für die Antwortoptionen, die eine Kontrolle durch andere ablehnen.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Moralische Aspekte Als nächstes wurden moralische Aspekte erfragt. Die Zusammenfassung der Items zur Moral sieht dabei eine Differenzierung von in- und extrinsisch motivierten Begründungen für die Ablehnung von physischer und psychischer Gewalt vor. Moralische Aspekte spielen im Rahmen der CBT im Entscheidungsfindungsprozess des Individuums eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Realitätskontrolle. Je nachdem, wie moralische Werte bei einer Person ausgeprägt sind, können sie mit unterschiedlicher Intensität zur Ablehnung (Begrenzung) von deviantem Verhalten führen und dem Wunsch nach Kontrollausgleich nach der initiierenden Provokation und Motivation des Individuums entgegenwirken. Das, was wir intrinsische (vgl. Abschn. 4.3.3.3) Motivation zur Ablehnung von Gewalt genannt haben, hat in Klasse 3 eine Wahrscheinlichkeit von 98 % für die Antwortoptionen, die im Sinne der CBT zu einer Kontrollbalance führen. Intrinsisch soll dabei beschreiben, dass die Begründung für die Ablehnung von physischer und psychischer Gewalt primär aus Empathie und dem Vermögen, Konsequenzen antizipieren zu können, gespeist wird. Dagegen werden Begründungen bei dem, was wir als extrinsisch motiviert bezeichnen, ausgelagert oder eine Ablehnung erfolgt aus spezifischen Überlegungen, jedoch nicht generell. Damit ist gemeint, dass das Verhalten anderer Personen als Begründung angeführt wird oder dass die eigene physische Konstitution die Entscheidung über die Ablehnung von Gewalt beeinflusst. Mit anderen Worten: Diese Schüler*innen würden womöglich anders handeln, wenn es ihr Umfeld vorlebt oder wenn sie körperlich überlegen wären. Gewalt, ob physisch oder psychisch, scheinen sie jedoch nicht generell aus moralischen Gründen abzulehnen. Für diese extrinsische Motivation als zweites Moral-Konstrukt ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 67 % für die Antwortoptionen, die ein ausgeglichenes Kontrollverhältnis nahelegen. Das zeigt auch, dass ein Drittel der Wahrscheinlichkeit auf die Kategorie entfällt, die eher für eine Imbalance der Kontrolle spricht. Die Mehrheit der qualitativ Interviewten, die der Klasse 3 zugeteilt wurden, hatte eine intrinsische Motivation zum Gewaltverzicht. Einige verweisen dabei auf die Erziehungsgrundsätze ihrer Eltern. Auch diejenigen, die Gewalt nicht grundsätzlich ablehnen, vertraten dies etwa gegenüber Partner*innen oder Jugendtreffmitarbeiter*innen nicht offensiv. J2M: Eigentlich ist Gewalt gar nicht in Ordnung, sagen wir mal so. Nur zum Beispiel, wer meine Freundin beleidigt oder wie gesagt meine Familie oder so was … Ich mag das nicht, wenn man mich generell beleidigt. (…) Meine Mutter hat mich … die hat mir oft gesagt, dass Schlagen

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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keine Gewalt ist, also, äh, keine Lösung ist. Und dann habe ich mir das eigentlich abgewöhnt. (…) Weil ich kann da einfach nicht ab, wenn ein Mann ein Mädchen schlägt. J9M: ich wurde ja so beleidigt und ich habe zurück beleidigt. Derjenige hat auch nichts mehr gesagt. Ich habe den auch so böse angeguckt. I: Was heißt, Du hast zurück beleidigt? Du hast dann das Gleiche gesagt? J9M: Ja, ich habe dann halt das Gleiche gesagt und der hat mich so angeguckt, ich habe den böse angeguckt, danach hat der auch nichts mehr gemacht, der ist einfach weitergelaufen. Und meine Mutter hat das erfahren von so einer Freundin von der, die war auch direkt an der gleichen Stelle, und die hat das erfahren. Und meine Mutter meinte: „Ja, Du hast das gut gemacht“, und so. Aber ich schlage auf jeden Fall nie zu und so. J19M: Ja, von meinem Vater her, er war so eigentlich teilweise so genau das Gegenteil von mir. Er war halt aggressiver auch, also nicht zu mir, nur zu anderen Leuten so, die ihn halt auch ein bisschen provoziert haben und so. Wurde halt auch schon lauter. (…) I: Würdest Du sagen, dass das vielleicht auch ein Grund ist, warum Du selbst nie Leute geschlagen hast? J19M: Ja, das meiste habe ich eigentlich von meiner Mutter so. Die ist eigentlich genauso wie ich. Nicht aggressiv, aber sie kann sich auch durchsetzen, und ja.

Impulsivität Als Teil der Eventualverbindlichkeiten wurde quantitativ zusätzlich Impulsivität als Konstrukt mit drei Items gemessen. Diese erfragten den Umgang mit Streitsituationen, Provokationen sowie die Wahrscheinlichkeit spontaner Wutausbrüche. Das Ergebnis ist sehr eindeutig. Die Schüler*innen der Klasse 3 zeigen 91 % Wahrscheinlichkeit, die Antwortoptionen zu wählen, die Gelassenheit und wenig Impulsivität nahelegen. Auch von den qualitativ Interviewten beschreiben sich nur wenige als impulsiv. I:  Also, Du wirst dann auch aggressiver, wenn jemand Deine Mutter beleidigt. Also halten die anderen Dich dann zurück oder hältst Du Dich selber zurück? J13M: Nee, dann müssen das die anderen auch machen (lacht). I: Ja, also dann rastet Du auch aus?

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J13M: Ja, also wenn ich jetzt: „Komm, Du Opfer, Du siehst hässlich aus!“, und so, dann sehe ich halt hässlich aus. Na und? Dann denke ich mir das halt auch. Aber wenn das halt mit meiner Mutter oder generell mit meiner Familie ist, dann hört bei mir der Spaß auf. Und dann denke ich mir so, ja, der labert eh nur, blablabla. Aber dann kommt irgendwann die Mutter mit rein und dann ist Ende. J4M: Ja, das war ja früher so, wenn einer mich beleidigt hat oder so und das wirklich zu weit ging oder einer kam, der mich in den Bauch geboxt hat oder getreten hat oder so, dann konnte ich mich gar nicht mehr zurückhalten, als ob man da, ja, so dann, ob man so schwarz vor den Augen hat, so gesagt so. Man kriegt das gar nicht mehr so richtig mit so, was man macht so. Die Mehrzahl der qualitativ Interviewten verspürt hingegen keinen Drang zur unmittelbaren Gegenwehr bei Provokationen. I: Aber hast Du überhaupt Situationen, in denen Du denkst, es wird Dir zu viel, Du könntest gleich explodieren, oder passiert Dir so was nie? J19M: Nö. Damals vielleicht ab und zu mal, aber eigentlich so jetzt nicht. Also jetzt nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. J9M: Ich würde schon hingehen, aber ich würde die dann auseinander, ich würde die nicht so nah aneinander bringen. Ich würde die auseinander halten, so Abstand. Danach würde ich dazwischen reden, ich würde sagen: „Was ist los?“, und so, dies und das. Das mache ich ja öfters. Sehr viele der qualitativ Interviewten sind es sogar gewohnt, unter Freund*innen aus Spaß beleidigt zu werden (J6M: „Pisser, Arschloch! So was.“), auch wenn dieses Verhalten bloß von den männlichen Befragten dieser Klasse berichtet wurde. Trotz geringer Impulsivität ist die Schmerzgrenze teils jedoch schon bei Beleidigungen erreicht, die die Familie adressieren. Hier stoßen einige mit dem Grundsatz der Gewaltfreiheit an ihre Grenzen. Die Bezeichnung als „Hurensohn“ bildet die gängigste Initialzündung für Gewalt. Wenige Interviewte messen dem keine Bedeutung bei, wenn Freund*innen aus Spaß ihre Familie beleidigen. Lediglich ein Befragter hat für keinerlei Beleidigungen unter Freund*innen Verständnis. I: Und wie ist das bei Dir unter den Freunden, beleidigt Ihr Euch teilweise so im Spaß? J16M: Im Spaß also wir beleidigen uns direkt nicht, aber wir machen Witze über uns.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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I: Ja, also nichts richtig Bösartiges, aber das gehört schon zur Sprache dazu. J16M: Ja, ja. Aber nicht über die Familie und so. So weit gehen wir nicht. J31M: Ja, ja, ich mag Beleidigungen nicht. I: Also was sind es für Beleidigungen, die man unter Freunden sagen kann? J31M: Also das mit Mutter und so nicht. Das mag ich überhaupt nicht, aber zum Beispiel: „Ey, Du Lappen!“, und so, das ist ganz normal (lacht). Solchen Spaß mag ich. Ich mache nicht, aber ist kein Problem für mich. Oder Trottel und so, das ist egal. Unter Freunden passiert das immer. Aber so mit Eltern was zu tun, das mag ich nicht. J13M:  Dann kommen irgendwelche von rechts und sagen dann: „Ja, Du Schäbigen. Deine Mutter ist eh ‚ne Fehlgeburt“, und so. Das geht halt gar nicht. Meine Mutter ist auch schwer erkrankt gewesen. Da komme ich gar nicht drauf klar. (…) Also davor waren jetzt nicht viele Vorfälle, ich glaube zwei, glaube ich, aber ich habe dann halt nichts gemacht, weil meine Mutter war nicht krank.

Sanktionen Eine weitere quantitative Messung sah vor, die Häufigkeit von Verboten durch die Eltern als Reaktion auf eine vorangegangene Schlägerei zu erfassen. Dabei wurden mithilfe von drei Items verschiedene Arten von Sanktionen erfragt, z. B. die Wegnahme des Handys oder ein Ausgehverbot (vgl. Anhang Tab. 8.3). Die Schüler*innen der Klasse 3 zeigen eine Wahrscheinlichkeit von 97 % für die Kategorie, die ein ausgeglichenes Kontrollerlebnis nahelegt. In diesem Fall bedeutet es, dass die Jugendlichen selten oder nie durch die Eltern sanktioniert werden. Auch dieses Bild bestätigt sich in den qualitativen Interviews. Die Interviewten der Klasse 3, die bereits Gewalt angewendet haben, zeigen sich in der Regel von schulischen und juristischen Konsequenzen stärker beeindruckt als von Strafen der Eltern. Insbesondere die Strafen der Eltern fallen häufig gering oder ganz aus. Einzelne nehmen auch seitens der Lehrer*innen ein Desinteresse daran wahr, Schlägereien zu sanktionieren. Jugendtreffmitarbeiter*innen setzen Strafen für Beleidigungen und Gewalt zwar konsequent durch, indem vorübergehende Hausverbote ausgesprochen werden. Auf Schlägereien, die außerhalb der Reichweite der Jugendtreffs stattfinden, haben diese jedoch keinen Einfluss. J3M: Mittlerweile sind wir ja schon erwachsen. Wir wissen ja, was das für Konsequenzen hat und alles. Weil früher wussten wir das ja nicht, was da alles auf uns zukommen könnte.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

I: Dann zu Deinen Eltern. Von diesem Kampf, von dem Du erzählt hast, haben die davon erfahren? J7M: Ja, durch die Schule. I: Wie haben die reagiert? J7M: Nicht gut. Ja, mehrere Sachen, zum Beispiel ich darf nicht raus oder ­PC-Verbot und so, also mehrere Sachen. I: Und war das irgendwie auch ein Grund, warum Du gesagt hast, dass Du Dich verändert hast? J7M: War egal (lacht). I: Also Dich interessiert eigentlich nur, dass in Zukunft keine schlechte Bewertungen im Zeugnis stehen. J7M: Ja. J12M: Ja, der Junge hatte irgendwie Rückenprobleme und das müssen wir dann jetzt, der lag dann im Krankenhaus für einen Tag oder für eine Nacht, dann mussten wir jetzt dann Hälfte, Hälfte bezahlen. Die haben uns dann den Brief geschickt. Also beide Väter, auch von meinem Kollegen, haben dann gesagt: „Bezahlen wir nicht, müsst Ihr selber bezahlen!“ I: Aber das heißt Du musstest das bezahlen? J12M: Ja, ich und mein Kollege. I: Wie haben Deine Eltern reagiert, als das passiert ist? J12M: Ja, eigentlich relativ normal, weil das war keine große Sache, wo man eigentlich eine Anzeige machen müsste, weil der hat uns provoziert, der hat auch meinen Kollegen in den Schwitzkasten genommen. Und wir haben gesagt: „Okay, ist in Ordnung, wir gehen dann jetzt einfach weg und Du kannst hier bleiben.“ I: Also, da haben die Dich nicht für bestraft oder Dich kritisiert? J12M: Nee. Meine Mutter sagt jetzt: „Du bist jetzt 14 geworden, pass mehr auf, also dass Du keine Anzeigen mehr bekommst.“

Selbstkontrolle Ein weiteres wichtiges Konstrukt im Rahmen der CBT ist die Selbstkontrolle, die zusammen mit dem Kontrollverhältnis, den Gelegenheitsstrukturen und den Beschränkungen zentrale Aspekte der Theorie markiert und in einem interdependenten Wechselverhältnis das Handeln des Individuums beeinflusst und im Kontext der TSD-Dimensionen über den Erfolg oder Misserfolg zur Herstellung von Realitätskontrolle entscheidet. Im Rahmen der quantitativen Befragung wurde die Selbstkontrolle mit zwei Konstrukten erfasst, einmal intern und einmal extern.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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Wobei intern so zu verstehen ist, dass die Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Verlauf des eigenen Lebens, und dabei besonders das Kontrollerlebnis, in der Person selbst verortet werden. Demgegenüber beschreibt extern, dass das Selbst von außen bestimmt wird, indem andere Menschen über das Leben der Befragten bestimmen oder ein generelles Gefühl der Fremdkontrolle des eigenen Lebens besteht. Für die Selbstkontrolle zeigen die Jugendlichen der Klasse 3 eine Wahrscheinlichkeit von 96 % für die obere Kategorie. Das bedeutet, dass sie die Verantwortung und Möglichkeiten der Kontrollierbarkeit des eigenen Lebens primär in der eigenen Person sehen. Für die Fremdkontrolle zeigen sie eine Wahrscheinlichkeit von 83 % auf der oberen Kategorie. Damit stimmen sie Erfahrungen eines fremdbestimmten Lebens sowie einer Kontrolle des eigenen Lebens durch andere eher nicht zu oder lehnen diese Annahmen komplett ab. Die grundsätzliche Überzeugung, das eigene Leben selbst gestalten zu können, drückt sich in der Selbstkontrolle aus. Jugendliche, die an ihre Fähigkeiten glauben, beispielsweise die berufliche Zukunft aktiv gestalten zu können, zeichnen sich durch ein hohes Maß dieser Selbstkontrolle aus. J19M: Aber ich weiß halt, dass es nicht so geht, dass es teilweise auch so Sachen, wie man sich die vorstellt, dass die halt auch nicht so wirklich gehen. Wenn man sich was vorgenommen hat und das dann halt nicht klappt, das kann halt passieren so. I: Aber gibt es irgendwie so aktuellere Beispiele? J19M: Ja, später mal einen guten Job haben und so. I: Aber denkst Du, dass das funktioniert? J19M: Ja, klar. Das funktioniert, wenn ich mich anstrenge. Demgegenüber steht die Wahrnehmung, kaum oder nur sehr eingeschränkt Einfluss auf den eigenen Lebensverlauf nehmen zu können (Fremdkontrolle). Dies zeigte sich besonders stark bei zwei Jugendlichen, die als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Sie erleben Hilflosigkeit angesichts dessen, dass sie ihre Familien, die im Ausland in prekären Verhältnissen leben, nicht finanziell unterstützen können. I:  Was ist es eigentlich für ein Gefühl, dass Du und Deine zwei Geschwister schon hier sind, aber andere Geschwister nicht? J31M: Das ist scheiße. Ich habe ja sowieso Angst um alle, aber nur weil ich älter bin, durfte ich gehen. Aber meine Eltern haben kein Geld, um die anderen zu schicken. Und ich verdiene kein Geld, um denen zu helfen.

170

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Ausgeübte und erfahrene Kontrolle Abschließend wurden die Schüler*innen zu verschiedenen Personengruppen (Freund*innen, Eltern, Lehrer*innen, Mitschüler*innen) befragt und wie sie bezüglich dieser Personen die Kontrolle wahrnehmen, die sie auf andere ausüben, und wie sie die Kontrolle wahrnehmen, die gleichzeitig, ausgeübt von den gleichen Personengruppen, auf sie einwirkt. Aus diesen Werten von ausgeübter und wahrgenommener Kontrolle für identische Personengruppen wurden Differenzen berechnet, die als Messung des Kontrollverhältnisses dienten. Die Kontrollverhältnisse sind einzeln für Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen und Mitschüler*innen in die Analyse eingegangen, sodass differenzierte Aussagen möglich sind. Die Jugendlichen in Klasse 3 zeigen über alle Personengruppen hinweg recht deutliche Werte auf den Kategorien, die eine Kontrollbalance indizieren. Mit 71 % fällt der Wert am höchsten für Mitschüler*innen aus, gefolgt von Eltern mit 64 %, Freund*innen mit 56 % sowie Lehrer*innen mit 55 %. Damit sind die Gegenwahrscheinlichkeiten teilweise ebenfalls recht deutlich besetzt. Dennoch gilt, dass immer die im Sinne der CBT positive Kategorie die höchsten Wahrscheinlichkeiten aufweist. Das Kontrollverhältnis ist damit bei allen vier Personengruppen so ausgeprägt, dass das individuelle Bedürfnis nach Realitätskontrolle in den von der TSD beschriebenen strukturellen und institutionellen Dimensionen gefördert wird. Die qualitativ Interviewten sehen sich im Freund*innenkreis keinen Verhaltensregeln oder Kritik ausgesetzt, die sie als störend empfinden. Dennoch berichtet etwa die Hälfte von Verhaltenserwartungen, die das Handeln im Freund*innenkreis vorprägen. Andere Jugendliche schildern hingegen, dass eine Entscheidung zur Ablehnung von Gewalt keinen Wechsel des Freund*innenkreises erforderte. Sofern in Freund*innenkreisen konformes Verhalten eingefordert wurde, betraf dieses meist den Verzicht auf Drogen und kriminelle Handlungen. Im Gegenzug gibt es in einigen Freund*innenkreisen auch die Erwartungshaltung, sich an Schlägereien oder an delinquenten Handlungen zu beteiligen, was sich jedoch vorzugsweise bei den männlichen Befragten der Klasse 3 zeigte. I:  Oder hast Du irgendwie, um denen zu imponieren, manche Sachen gemacht, oder? J4M: Äh … Ja, zum Beispiel früher haben die, deshalb ich auch angefangen zu rauchen. Die haben ja alle geraucht und so und ich halt noch nicht. Und dann habe ich irgendwann ja auch angefangen zu rauchen so. Und dann fanden die das halt gut so.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

171

I: Ja. J4M: Aber heute finde ich das ja selber scheiße, dass ich rauche. Aber das ist ja auch nicht so leicht aufzuhören, weil das ist halt, das ist so im Kopf drinne so mit das Rauchen mittlerweile so. I:  Ja, klar. Haben die denn versucht, Dich irgendwie zu überzeugen, irgendwelche anderen Sachen zu machen, wo Du dann gesagt hast: „Nee, das mache ich nicht“? Also hatten die zum Beispiel mit illegalen Drogen zu tun oder mit anderen Formen von Kriminalität und wollten, dass Du da mitmachst? J4M: Pff … Ja, zum Beispiel halt jetzt früher, da waren auch teilweise bei, die sind dann Graffiti sprayen gegangen und so, die haben dann gesagt: „Ja, komm doch mit!“, und so. I: Und was haben Deine Freunde dazu gesagt, als Du Dich verändert hast? J7M: Die haben gesagt: „Warum bist Du so anders? Warum machst Du nicht mehr so Schlägereien mit?“, und so. I: Und dann hast Du denen das erklärt und dann war das für die in Ordnung? J7M: Ja, die sagen: „Du kannst ruhig mit Schlägerei machen“, das ist jetzt nicht so, deswegen. I: Aber die haben Dich nicht dazu motivieren können, wieder weiter zu machen? J7M: Nee. I: Die sind aber immer noch Deine Freunde und die kämpfen auch noch? J7M: Ja. Die kämpfen also fast jeden Tag so. J11W: Ich denke, wir akzeptieren uns gegenseitig so, wie wir sind. Wir versuchen uns nicht großartig zu ändern. Und ich denke mal, das ist auch gut so, weil ich denke, man sollte sich nicht für irgendjemanden ändern, damit man genau in diese Gruppe passt. I: Also die Verhaltensweisen kritisiert man so ein bisschen. J15M: Ja. I: Und merkst Du dann, dass die sich auch so ein bisschen verändern, wenn Du mit denen sprichst? J15M: Meistens. I: Und machen die das manchmal bei Dir auch zu irgendwelchen Themen? J15M: Ja, aus Spaß. I: Oder bist Du quasi so perfekt, dass man Dich nicht ändern muss? J15M: Nee (lacht). I: Aber da kommt halt weniger von den anderen? Es ist halt eher so, dass Du den Freunden was sagst? J15M: Ja.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

I: Gibt es denn irgendwelche andere Dinge, wo Du versuchst, die Freunde so ein bisschen zu verändern oder zu steuern? Vielleicht auch, wenn Du sagst, dass Du etwas Bestimmtes machen möchtest. J15M: Die wollen eigentlich alle so gute Noten haben wie ich und ich helfe denen auch im Unterricht, die Lehrer möchten, dass ich denen helfe, und immer, wenn wir ein Zeugnis bekommen, gestern haben wir ein Zeugnis zurückbekommen, und wenn die schlechte Noten sehen, dann sagen die immer: „Ich will mich verbessern“, aber setzen dann in Wirklichkeit gar nicht um. J19M:  Also, ich werde eigentlich gar nicht kritisiert oder irgendwie dazu angestachelt, was zu tun, was ich nicht will oder so. Das gibt es eigentlich nicht. I: Oder gibt es das andersherum, dass Du teilweise versuchst, anderen Leuten zu sagen, was die machen sollen oder die irgendwie zu verändern? J19M: Nein, nein. Das mache ich auch nicht. Gezielte Machtdemonstrationen als Form der Kontrolle im Freund*innenkreis schildert lediglich ein Interviewter: I: Ja, gibt es denn unter Deinen Freunden Leute, die versuchen, Dich so irgendwie zu kontrollieren, als Dir zu sagen, was Du machen sollst? J2M: Ja, ein paar, aber schaffen es nicht. Ein paar versuchen das. Aber da lasse ich mich nicht drauf ein. I: Auf was für eine Art denn zum Beispiel? J2M: Die versuchen mal … generell behandeln mich auch manchmal paar so wie einen Hund. Wenn die einen Ball wegschießen, dann sage die: „Ey, J2, hol mal!“ Dann sage ich: „Lauf doch selber! Du hast zwei gesunde Beine, du bist sportlich. Denkst Du, ich renne dem Ball jetzt hinterher?“ Ja, dann laufen die auch meistens immer selber. Also es gibt viele, die versuchen mich zu kontrollieren. I: Ne, versuchst Du das denn teilweise auch? J2M: Ich habe einen, also der hört auf mich. Das, was ich sage, macht der. I: Ja, nutzt Du das denn auch manchmal aus? J2M: Manchmal (lacht). I: Aber nicht irgendwie auf eine böse Art? J2M: Nee. I: Und den stört das nicht?

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

173

J2M: Nee. Der ist ja 18. Wenn ich mal sage: „Hol mal Zigaretten!“, steht der direkt auf und holt mir welche. Wenn ich mal sage: „Geh mal zu mir, ich habe Durst, hol mir Wasser!“, was macht der, der läuft und geht zu mir. Die Interviewten fühlen sich keinem Markendruck im Freund*innenkreis ausgesetzt, sodass derartige Formen der Kontrolle hier nicht stattfinden beziehungsweise diesen nicht nachgegeben wird. Denn auch diejenigen, die wahrnehmen, dass andere in ihrem Umfeld aus Prestigegründen zu Markenkleidung greifen, beugen sich diesem Druck nicht. J16M: Hauptsache es sieht für mich gut aus. Es gibt ja auch Sachen, die keine Marken sind und trotzdem gut aussehen. Also mir ist das egal. I: Und wie ist das bei den Freunden und Markenkleidung? J32M: Die haben teilweise mehr. Aber das kommt auch darauf an, was die Eltern haben und denen geben. Für manche ist das wichtig. Aber ich finde, es muss nicht alles teuer sein. Hauptsache es sieht gut aus. Das sagt bei uns auch keiner was zu den anderen. J13M: Bei uns ist einfach nur, wir tragen … also wir sprechen uns immer ab, was wir anziehen, sagen wir es mal so. Wir ziehen nicht einfach irgendwas an, wir sprechen uns immer ab. Also wir gehen immer mit 20 Leuten in einen Laden rein, kaufen das Gleiche und sprechen uns dann immer ab, was wir anziehen (lacht). Und dann schreiben wir das dann in die Gruppe rein. Und Handy, ach, ist egal, welches wir haben. Also Sachen auch. Da kannst Du Sachen von Kik, NKD oder sonst was an haben. Nur wenige der Befragten fühlten sich durch elterliche Regeln gestört. Es variierte, inwieweit die Eltern Einfluss etwa auf die Ausgehzeiten, den Zigarettenkonsum oder die Wahl der Freund*innen nahmen. Die Beschränkungen in ihrem Freizeitverhalten empfanden die Befragten in der Regel als fürsorglich. Einzelne bekamen seitens ihrer Eltern auch religiöse Vorschriften wie etwa auf den Verzehr von Alkohol und Schweinefleisch zu verzichten oder keine Partner*innen zu haben. J6M: Ja, ich verhalte mich vor meinen Eltern lieb, höre auch auf die. Und wenn die was sagen, muss ich es auch machen. J11W: Äh, die kontrollieren schon, dass ich jetzt, sage ich mal, äh … Ich habe ja zu meiner Mama ein sehr gutes Verhältnis, ich kann der alles erzählen

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

und so, und die hat nicht so den Kontrollzwang oder so, aber ich denke mal, wenn ich ihr jetzt nicht so vertrauen könnte, würde die dann auch mehr gucken, wo ich bin, was ich mache, mit wem ich unterwegs bin und so. Mir ist das auch sehr wichtig, was die davon hält so. I: Gibt es denn irgendwen, der Dir sagt, was Du tun sollst oder was Du nicht tun sollst, was Du dann als störend empfindest? J11W: Ja, äh, mein Stiefvater mit dem komme ich jetzt nicht so gut klar, weil er diesen Kontrollzwang wirklich hat, wo ich bin, was ich mache. Sage ich jetzt beispielsweise mal, wie mein Zimmer aussieht, wie ich mit meinen Geschwistern umgehe und all so was. Das ist halt ein bisschen nervig, aber… J12M: Weil meine Mutter sagt auch immer: „Viele Kollegen, dann gibt es auch immer viel Scheiße.“ Deswegen, meine Mama will das auch nicht, dass ich so viele Kollegen habe. Meine Mama will immer so, dass ich vernünftige Kollegen habe, die auch zu meinem Charakter und zu dem Freundeskreis passen, mit dem ich befreundet bin. Ja, eigentlich so. J12M: Ja, zum Beispiel das ist ein Thema, wo ein Kollege mal geraucht hat. Da hat zum Beispiel meine Mutter gesagt: „Ich möchte das eigentlich nicht“, aber mein Vater hat dann gesagt: „Das kann der selber entscheiden“, aber mein Vater wollte das auch nicht, dass ich irgendwie rauche, anfange wegen dem. Dann hat meine Mutter auch gesagt: „Okay, dann redet mit dem und setzt Euch irgendwo hin, sagt, dass das in Eurem Freundeskreis nicht so in Ordnung ist!“ Dann haben wir das gemacht, war alles dann wieder in Ordnung, hat der aufgehört. Aber der war auch nicht so irgendwie süchtig jetzt wie andere Jugendliche nach Zigaretten so. J12M: Ja, da will meine Mutter, dass ich ungefähr so um 21 Uhr zu Hause bin oder um 20 Uhr. Mein Vater sagt immer: „Ist doch eh Wochenende, keine Schule, keine Hausaufgaben.“ Bei mir ist das so, wenn ich nach Hause komme, erst einmal Essen. Zum Beispiel um halb zwei komme ich nach Hause öfters, dann muss ich essen, also von Schule nach Hause, essen, dann meine Hausaufgaben machen, dann so eine halbe Stunde, Stunde lernen, dann darf ich raus. Meine Mutter möchte dann immer, dass ich ungefähr um 20 Uhr zu Hause bin, mein Vater sagt, kann auch 21 Uhr, wenn die mit Kollegen. Aber mein Vater will auch nicht, dass ich jetzt irgendwie alleine oder zu zweit irgendwo rumlaufe, wo auch vieles passiert so. I: Und gibt es in der Familie irgendwelche Regeln, an die Du Dich halten musst?

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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J14M: Also, ich bin ja jetzt ein Moslem und das Wichtigste im Islam, also auch in der Familie, dass man kein Schweinefleisch essen darf sozusagen und auch eine Freundin zu haben, ist auch verboten. Und jetzt bezüglich der Mädchen ist es, äh, nicht gut, so ‚ne enge Sachen zu tragen. I: Und Deine Eltern wollen schon wissen, wo Du wann und mit wem bist? J16M: Mmh. Wenn sie auch mal merken, dass ich längere Zeit weg bin, dann rufen sie mich auch meistens an. Und die fragen dann, was los ist. I: Aber geht das dann so weit, dass es Dich manchmal nervt, dass die Dich zu oft anrufen? J16M: Nein, sie rufen meistens so einmal an, mehr nicht. I: Einmal am Tag? J16M: Ja. I: Aber nie, dass es Dich stört und Du denen das sagst? J16M: Ja, es hat einmal mich genervt, als ich im Kino war, aber sonst nicht, sonst ist ja normal. Einzelne berichteten aber auch, ihren Eltern aufgrund ihres Alters kein Recht mehr zuzugestehen, sie zu kontrollieren beziehungsweise dass die elterlichen Vorschriften mit zunehmendem Alter weniger wurden, sodass hier die Kontrolle nachlässt oder nicht mehr hingenommen wird. Letzteres kann zur Wahrnehmung von ausgeübter Kontrolle gegenüber den Eltern führen beziehungsweise einer Umkehr der „Machtverhältnisse“. I: Ja. Und außer jetzt hier irgendwie das mit den Zigaretten, versuchen die Dich teilweise irgendwie zu steuern oder zu kontrollieren noch oder auch nicht mehr so richtig? J2M: Nee, nicht mehr so richtig. Früher haben sie es geschafft, noch vor zwei, drei Jahre, aber seitdem sagt meine Mutter, ich bin selbst verantwortlich, da können die mich gar nicht mehr kontrollieren. Weil ich seit da an mache, was ich möchte. Klar, frage ich die auch, ob das okay für die ist, aber generell schaffen die nicht mehr so ganz. I: Gibt es denn irgendwas, wobei sie noch versucht, Dich zu kontrollieren oder zu steuern? J13M: Nee. I: In welchem Alter hat das denn ungefähr aufgehört? J13M: 14. I: Was hat die denn davor so alles probiert oder bei welchen Dingen hat die versucht, was zu ändern?

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J13M:  Ach, die hat mich früher immer gefragt: „Wo gehst Du hin? Mit welchen Leuten hängst Du ab? Und das will ich aber nicht. Und nee, dann gehst Du nicht!“ Und ach, dies, das. Und dann habe ich dann halt irgendwann gemacht: „Mama, ich habe da keine Lust mehr drauf. Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich mache.“ Und dann sagt die so: „Ja, hast Du Recht“, und so, alles klar. Seitdem macht die das auch nicht mehr. Mit Blick auf die Lehrer*innen berichten kaum Jugendlichen von störender Kontrolle, aber auch wenig von eigenem Kontrollbestreben. Zwar stören einzelne im Unterricht und erhalten dafür dann Rügen beziehungsweise Sanktionen, aber dies geschieht in eher geringem Maße. J14M: Also, ich störe manchmal im Unterricht, also rufe manchmal rein. Weil ich sitze knapp vor ihm und ich melde mich immer, aber er nimmt mich nie dran, dann rufe ich manchmal rein. Dann gibt er mir eine schlechtere Note. Darüber hinaus herrscht eher das Bewusstsein vor, für seine Noten selbst verantwortlich zu sein und die Lehrenden diesbezüglich nicht als Instanz zu erleben, die in übertriebener Weise ihre Kontrollmacht ausübt. Hingegen schildert ein Jugendlicher, dass er es als Defizit empfindet, im Vergleich zu seinen Brüdern nicht auf dem Gymnasium zu sein, womit er sich selbst belastet und diese Form der Kontrolle durchaus als defizitär erleben dürfte. I: Aber nur um das halt zu verstehen, fühlst Du dich schon irgendwie dumm und schlecht im Vergleich zu deinen Brüdern, dass du da auch ein schlechtes Gefühl hast? J9M:  Ja. Ich fühle mich ja auch dumm, weil ich ja nicht so auf dem Gymnasium drauf kam und so. Keiner der qualitativ befragten Heimbewohner fühlte sich durch die Regeln im Heim ernsthaft eingeschränkt und kontrolliert. Vielmehr zeigt sich eine Befürwortung klarer Strukturen und Regeln. J19M: Ja, es gibt auch welche, die haben Probleme mit welchen. Das gibt es auch, aber ich verstehe mich eigentlich mit jedem hier. I: Und woran liegt das bei den anderen?

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

177

J19M: Ja, irgendwelche Sachen, die die ungerecht finden oder so. Ja, eigentlich nur das, so Ungerechtigkeit. I: Aber die Dinge, die die unfair finden, findest Du die nicht unfair oder betreffen die Dich nur nicht? J19M: Die betreffen mich eigentlich nicht. (..) I: Ja, klar. Aber die wissen ja, dass sie das nicht machen dürfen, und dann ist das eigentlich nicht unfair, wenn die Regel so ist. J19M: Ja, genau. J32M: Also, wenn jemand zu mir was sagt, ich finde das auch gut. Also, ich habe einen, der ist zuständig für mich, der sagt immer, wie ich machen soll. Ich finde das ist gut für mich, besser für mich. Für Zukunft zum Beispiel, dass ich später nicht so mache, dass ich auch keinen Alkohol trinke oder kiffe oder das. Also ich bin auch kein Kiffer. Ich bin nie in meinem Leben Kiffer und will auch nicht anfangen. Die qualitativ Befragten unterschieden sich untereinander zudem sehr hinsichtlich ihres Kontrollerlebens in den Beziehungen zu ihren Geschwistern, weshalb dies auch erwähnenswert ist. Einige berichten von Machtdemonstrationen nur insofern, dass sich Geschwister gegenseitig für die Erledigung unliebsamer Aufgaben einspannen. Andere beschreiben das Verhältnis zu Geschwistern als ein Geben und Nehmen. Tendenziell wurden die Befragten eher von Geschwistern kontrolliert als umgekehrt. Beinahe alle erkannten die Geschwister jedoch als quasi erziehungsberechtigt an und zeigten sich folglich froh über die als Fürsorge empfundene Einflussnahme auf ihr Verhalten. Nur ein Befragter berichtete u. a. von der unangenehmen Erfahrung, dass seine Brüder sein Handy kontrollierten. Ein weiterer Befragter berichtete, dass die Brüder früher die Einhaltung des Verbots, eine Freundin zu haben, kontrolliert haben. J4M: Ja, also mein Bruder, da war der in der Ausbildung, der hatte dann mit mir immer geredet, also dem habe ich auch viel anvertraut und so. Und dann hat der, äh, hat der gesagt: „Ja, wenn Du Dich besser benimmst und so, dann kriegst Du vielleicht von mir auch noch monatlich Taschengeld oder so.“ Ja, also mit so Bestechen so in der Art hat er das dann versucht. I: Hat das denn funktioniert? J4M: Ja, teilweise schon. Also wenn ich dann … mein Bruder, der hat das dann auch knallhart durchgezogen. Wenn da mal ein Tag war, wo ich einen … beleidigt habe oder so, das war wirklich nur ein Tag, wo das

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

vorgekommen ist in dem Monat, dann hat der direkt das ganze Monat, also das ganze Dings, also Taschengeld gestrichen oder so für einen Monat, ja. J11W: Klar, also meine Schwestern jetzt nicht, aber mein Bruder sagt mir ab und zu so: „Ja, mach das und das mal anders! Komm, such Dir ein Praktikum! Ich helfe Dir.“ Und ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Bruder, wo ich auch sehr froh drüber bin. Und, äh, klar, kriegt man dann so einen Arschtritt, sage ich jetzt mal, manchmal auch von dem kleineren Bruder, aber das finde ich auch eigentlich gut. I: Warum macht der das? J11W: Um mir zu helfen. I: Weil bislang klang das alles so, als wenn das gar nicht nötig wäre. J11W: Nein, also, äh, ich denke mal, ich finde das gut, dass der das manchmal macht oder mich manchmal auch für irgendetwas anmeckert, wo ich im ersten Moment sauer drüber bin, aber im zweiten Moment eigentlich froh drüber bin, dass er das getan hat. Das sind so Sachen, wo man selber gar nicht drüber nachdenkt, wo er aber dann vielleicht auch drauf achtet, weil ich ihm halt wichtig bin. Und da bin ich halt auch sehr froh drüber. I:  Wie ist es mit Deinen älteren Geschwistern, kontrollieren die Dich manchmal? J14M: Eigentlich nicht. Also meine Brüder machen mit mir auch öfter Spaß, mit dem Catchen und bezüglich so Spaß. Ja, und meine großen Brüdern nehmen auch manchmal mein Handy und untersuchen das. Ich weiß auch nicht, warum, aber … I: Die gucken, was Du da so drauf hast. J14M: Ja. I: Nervt Dich das dann oder ist das egal? J14M: Da ist ja nichts, aber es nervt manchmal. I: Und kritisiert der Dich auch manchmal für irgendwas oder sagt, dass Du was anders machen sollst? J16M:  Ja. Auch wegen meinen Noten. Er sagt auch öfters, ich soll mich anstrengen und so. I: Ist er besser? J16M: Ja, er ist besser in der Schule als ich. I: Versucht er Dir denn manchmal zu helfen? J16: Ja, er hilft mir manchmal, aber manchmal hilft er mir auch nicht, weil er sagt: „Du musst auch mal selbst regeln und selbst lernen“, deswegen.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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Die Partnerschaften der qualitativ Befragten sind in etwa der Hälfte der Fälle von Eifersucht geprägt. So wird einander der Umgang mit dem jeweils anderen Geschlecht untersagt. Zudem machten einzelne männliche Befragte den Partnerinnen Kleidervorschriften. Diejenigen, die vermehrt Kontrolle ausübten, waren zahlenmäßig größer als die, die vermehrt Kontrolle erfuhren, sodass in Partnerschaften eher von Kontrollüberschüssen auszugehen ist. J9M: So zum Beispiel im Facebook, hatte ich auch mal, die auch, und Dings, mir schreiben auch meistens mehr Mädchen als Jungs und die wird immer eifersüchtig und die sagt auch: „Deaktiviere mal bitte Dein Facebook!“, und so. Und danach habe ich ihre Nachrichten geguckt; das war das Gleiche wie bei mir, aber nur umgekehrt, dass die Jungs ihr schreiben. Dann haben wir beide Facebook deaktiviert, wir sind jetzt so gesagt im Ruhestand mit Eifersucht und so. (..) I: Und Du willst auch nicht, dass sie mit Jungs alleine ist. J9M: Nee, das ist ja normal, wenn die mir das verbietet, dann verbiete ich der das auch. I:  Oder auch irgendwie bei der Kleidung, dass Du ihr sagst, was sie draußen nicht tragen soll? J9M: Ja, Kleidung, zum Beispiel einen Rock darf die nicht anziehen und Leggings darf die halt bei mir nicht anziehen, auch nicht so Top, wo hier so auf ist. I: Also wenn sie mit Dir zusammen ist auch? J9M: Nee, wenn die mit mir raus ist, ist das egal, sie kann anziehen, was die will. Ich bin ja der Person, der das sieht. Das ist ja nicht so schlimm. I: Aber was würdest Du denn machen, wenn sie jetzt trotzdem so rumläuft? J9M: Ja, ich würde die dann nach Hause schicken. Die wohnte mal bei mir um die Ecke direkt. Und wir haben uns mal getroffen, wo wir zur Schule gegangen sind früh morgens, und die hatte mal ein Top an. Ich wollte das ja nicht, ich habe die dann wieder nach Hause geschickt. Die wollte aber nicht, weil die halt zu spät kommt. Ich habe gesagt: „Interessiert mich dann halt nicht, Du gehst nach Hause!“ Ich habe die Schlüssel genommen, ich habe die dann hoch getragen, die dann Dinge, umziehen gegangen. I: Ja, hat sie so etwas Extremes auch schon mal mit Dir gemacht, dass sie gesagt hat, du musst dich irgendwie anders anziehen, oder so? J9M: Nee, bei uns Jungs ist das ja auch …

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

J13M: Da hat die einen Brief von ihrer Schule bekommen wegen Schwänzen und dann habe ich die, da bin ich auch einen Tag bei der gewesen und dann habe ich gesagt: „Schwänzt Du noch einmal, kriegst Du was hinter die Ohren von mir.“ Und dann hat sie geschwänzt und dann habe ich drei Tage nicht mit der geschrieben. Sie hat mir halt die ganze Zeit geschrieben, aber ich habe halt nicht mit ihr geschrieben. Und dann nach drei Tagen habe ich gesagt: „Das hast Du halt davon.“ Dann meinte die so: „Ja, okay, ich mache das nicht mehr. Wirklich.“ Weil ich hasse Leute, die schwänzen. Wenn es eins gibt, was ich hasse, dann ist das Leute, die schwänzen. Ja, sie sagt: „Okay, ich mache das nicht mehr.“ Ich so: „Okay, dann ist gut.“ Und seitdem hat die das auch nicht mehr gemacht. Aber von mir, nee. I: Bist Du denn irgendwie eifersüchtig? J32M: Nee. I: Und hattest Du schon mal eifersüchtige Freundinnen? J32M: Ja, meine Ex war eifersüchtig, wenn ich mit anderen Leuten gechillt habe oder ein Mädchen angerufen hat. I: Also die wird Dich dann ja öfters genervt haben. J32M: Ja, total. I: Hattest Du denn sonst noch Freundinnen, die Dir immer gesagt haben, was Du machen sollst und nicht? J32M: Nein, ich hatte so was noch nie. I: Wäre das dann auch ein Grund, sich von einem Mädchen zu trennen, wenn die mit so was nerven würde? J32M: Ja, wenn mir meine Freundin was sagt, was richtig ist, dann ändere ich das auch. Aber wenn die nur nervt und es hat keinen Grund, dann macht das keinen Sinn. I:  Und sagst Du manchmal den Freundinnen, dass die sich verändern sollen? J32M: Ja, auf jeden Fall. Wenn sie raucht, sie soll nicht mehr rauchen, nicht mehr feiern gehen. Also nicht so feiern gehen. Weil wenn sie feiern geht, sie soll mit mir feiern gehen oder nicht mit jemand andere. Und halt sie muss auf sich aufpassen, ich muss auch auf sie aufpassen. Und sie soll nicht kiffen oder falsche Freunde treffen oder trinken. So was mag ich nicht. I: Worauf musst Du aufpassen? J32M: Dass sie das nicht macht, weil ich das nicht will.

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

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4.3.5.4 Zusammenfassung „Sowohl für die strukturellen, institutionellen und sozialen Gegebenheiten sowie für die situativen Interpretationen dieser Erfahrungen zeigen die Jugendlichen in Klasse 3 fast ausnahmslos positive Ergebnisse. Das heißt, dass das individuelle Verlangen nach Anerkennung und Kontrollbalance befriedigt wird. Das ermöglicht ihnen eine gelungene Integration in verschiedenen Lebensbereichen und den Verzicht auf Gewalt. Insgesamt zeigen sie eine ausbalancierte Realitätskontrolle.“

Die Klasse 3 beschreiben wir mit einer ausbalancierten Realitätskontrolle. Zu diesem Fazit gelangen wir, weil ausnahmslos auf alle Konstrukte beider Theorien so geantwortet wurde, dass von einer gelungenen Integration in verschiedene Lebensbereiche sowie von einer Kontrollbalance ausgegangen werden kann. Zudem sind die Jugendlichen dieser Klasse unauffällig hinsichtlich ihrer Gewaltattitüden. Zusammenfassend sind die Jugendlichen der Klasse 3 besonders durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: Sie selbst sowie ihre Eltern sind generell zufrieden mit den schulischen Leistungen (vgl. Tab. 4.8). Das drückt sich ebenfalls in den Überzeugungen aus, den Jahresabschluss sowie den Schulabschluss zu erreichen, der gewünscht ist. Auf der sozialstrukturellen Dimension sind die sonst hohen Werte lediglich bei den Anforderungen in der Schule und der empfundenen Behandlung durch die Lehrer*innen etwas niedriger. Das zeigt an, dass es auch in Klasse 3 Schüler*innen gibt, die das Gefühl haben, den schulischen Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Die ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen betrifft Fragen der Benotung, Schuldzuweisungen, Lächerlichmachen sowie Bestrafungen. Wenngleich die CBT-Konstrukte für Klasse 3 Kontrollbalance anzeigen, lässt sich dennoch erkennen, dass diese Balance bezüglich der Gruppe der Lehrer*innen von allen vier erfragten Personenkreisen (Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen, Mitschüler*innen) am schlechtesten ausfällt. Das heißt, dass die Antworten mehrheitlich zwar so sind, dass das Verhältnis zugunsten der durch die Jugendlichen ausgeübten Kontrolle ausfällt, es gibt jedoch einen nennenswerten Anteil von Antworten, der das Gegenteil anzeigt. In dem Fall überwiegt die wahrgenommene Kontrolle der Lehrer*innen über die Schüler*innen. Insofern unterstützt das Ergebnis dieses CBT-Konstrukts die Erkenntnisse aus den TSD-Konstrukten.

182

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Tab. 4.8    Auszug Antwortwahrscheinlichkeiten für die Konstrukte Klasse 3 Konstrukt

Klassenbedingte ­Antwortwahrscheinlichkeiten

Theorie sozialer Desintegration Zufriedenheit Schulleistungen

0,931 0,069

Sicherheit Realisierung, schulischer Optimismus

0,970 0,030

Ungerechte Behandlung durch Lehrer*innen

0,689 0,311

Interessen durchsetzen

0,959 0,041

Bedürfnisse und Anliegen mitteilen

0,917 0,083

Vertrauen Freund*innen

0,978 0,022

Geborgenheit Familie

0,996 0,004

Vertrauen in der Familie

0,984 0,016

Konflikte in der Familie

0,587 0,413

Control Balance Theory Impulsivität

0,906 0,094

Sanktionen der Eltern bei Schlägereien

0,969 0,031

Kontrolle Eltern

0,639 0,361

Kontrolle Freund*innen

0,558 0,442

Kontrolle Lehrer*innen

0,547 0,453

Kontrolle Mitschüler*innen

0,713 0,287

4.3  Beschreibung der latenten Klassen

183

Weiterhin verfügen die Schüler*innen der Klasse 3 über ein außerordentlich gutes Vermögen, auf die eigenen Interessen in Diskussionen und Gesprächen aufmerksam zu machen, die Bedürfnisse und Anliegen mitzuteilen, für sie einzustehen und sie durchzusetzen. Dies gilt für die Lebensbereiche Familie, Freund*innenkreis und Schule gleichermaßen. Für die Familie ist außerdem hervorzuheben, dass sich die Jugendlichen in Klasse 3 akzeptiert und wohl fühlen und Liebe und Zuneigung von ihren Eltern erfahren. Bezüglich des sozio-emotionalen Rückhalts sind sie auch im Freund*innenkreis außerordentlich gut abgesichert, da sie Freund*innen haben, mit denen sie über alles sprechen können, auf die Verlass ist und die bei Problemen helfen. Gleiches gilt für den Rückhalt und Vertrauen in der Familie. Auf der sozial-emotionalen Dimension der TSD zeigt jedoch das Konstrukt, welches familiale Konflikte erfassen soll, eine reduzierte Homogenität. Die Mehrheit der Schüler*innen aus Klasse 3 vermittelt dort zwar eine gute Integration, dennoch gibt es eine recht hohe Wahrscheinlichkeit für die alternative Antwortkategorie. Die eingeschränkte Homogenität des CBT-Konstrukts, welches das Verhältnis von ausgeübter und erfahrener Kontrolle bezüglich der Eltern misst, unterstützt dieses Ergebnis. Wir gelangten zu dem Fazit einer Kontrollbalance für Klasse 3, weil ausnahmslos alle CBT-Konstrukte deutlich über dem Schwellenwert von 0,5 liegen. Dennoch sind ein paar Auffälligkeiten zu nennen. Bei den Konstrukten „Ablehnung von Gewalt/Moral external“ und drei der vier Konstrukte zur Kontrollbalance bei bestimmten Personengruppen (Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen) ist die Klassenhomogenität eingeschränkt. Am stärksten fällt dies bei der bereits genannten Gruppe der Lehrer*innen auf. Hinzu kommt, dass das Antwortverhalten bezüglich der Freund*innen ähnlich uneindeutig ausfällt. Damit ist gemeint, dass auch hier ein erheblicher Teil der Jugendlichen das Gefühl hat, dass die erfahrene Kontrolle durch Freund*innen die ausgeübte auf jene überwiegt und somit eine Imbalance der Kontrolle herrscht. Ähnliches gilt für die Lehrer*innen, wie wir bereits festgestellt haben. Das Verhältnis der Jugendlichen zu Gewalt zeichnet sich durch Ablehnung aus. Das gilt sowohl für psychische als auch physische Gewalt. Hervorzuheben hierbei ist, dass diese Ablehnung mehrheitlich intrinsisch motiviert ist und kaum extrinsischen Begründungen zum Gewaltverzicht herangezogen werden. Zusätzlich zur Ablehnung von Gewalt sind die Jugendlichen in Klasse 3 besonders wenig impulsiv. In Konfliktsituationen lehnen sie Gewalt ab, provozieren nicht und versuchen, dem Streit aus dem Weg zu gehen. Aufgrund des geringen Konfliktpotenzials sind diese Schüler*innen sehr selten mit Sanktionen durch die Eltern konfrontiert.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Sowohl für die strukturellen, institutionellen und sozialen Gegebenheiten (TSD) sowie für die situativen Interpretationen dieser Erfahrungen (CBT) zeigen die Jugendlichen in Klasse 3 fast ausnahmslos positive Ergebnisse. Das heißt, dass das individuelle Verlangen nach Anerkennung (TSD) und Kontrollbalance (CBT) befriedigt wird. Das ermöglicht ihnen eine gelungene Integration in verschiedenen Lebensbereichen und den Verzicht auf Gewalt. Insgesamt zeigen sie eine ausbalancierte Realitätskontrolle.

4.4 Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung In diesem Kapitel wird ein Blickwechsel vorgenommen. Die bisherigen Einzeldarstellungen der drei Klassen haben deutliche Differenzen im Hinblick auf die Balancen beziehungsweise Imbalancen der Kontrolle erbracht mit den Konsequenzen für die eigenständige Realitätskontrolle. Wie sehen nun die Ergebnisse aus, wenn ein Vergleich der drei Klassen in den Dimensionen und Kategorien der beiden Theorien vorgenommen wird? Auch dazu wird auf die unterschiedlichen Gelegenheitsstrukturen, Erfahrungen und Wahrnehmungen fokussiert, um eine Realitätskontrolle zu gewährleisten, sodass u. a. Devianz und Gewalt überflüssig werden, um soziale Anerkennung im Sinne der TSD und Kontrollbalancen im Sinne der CBT zu realisieren.

4.4.1 Theorie Sozialer Desintegration (TSD) 4.4.1.1 Sozialstrukturelle Dimension In der sozialstrukturellen Dimension der TSD, in der es um die Teilhabe und Anerkennung im schulischen Kontext geht, spielt die Zufriedenheit mit der schulischen Leistung eine bedeutende Rolle. Hierbei wird nicht nur die eigene Zufriedenheit berücksichtigt, sondern gleichzeitig die der Eltern. Im Vergleich der drei Klassen untereinander zeichnet sich ein klares Bild ab, denn Zufriedenheit mit den schulischen Leistungen ist deutlich unterschiedlich ausgeprägt. So sind die eigenen und elterlichen Zufriedenheiten in der Klasse der Jugendlichen mit gelungener Integration und ausbalancierter Realitätskontrolle am größten. Die Wahrscheinlichkeit der Unzufriedenheit in dieser Klasse ist in den quantitativen Daten mit sieben Prozent demzufolge am geringsten. In Klasse 2 mit den Jugendlichen mit gefährdeter Integration und unsicherer Realitätskontrolle überwiegt zwar ebenso die Zufriedenheit, jedoch deutlich geringer ausgeprägt als in Klasse 3. Die Wahrscheinlichkeit für die elterliche und eigene Zufriedenheit mit

4.4  Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung

185

den Schulleisten beträgt 66 %. Die vergleichsweise geringste Zufriedenheit mit den Schulleistungen ist in Klasse 1 festzustellen (41 %), sodass hier, in der Klasse der Jugendlichen mit sichtbarer Desintegration und geringer Realitätskontrolle, die Unzufriedenheit (59 %) wahrscheinlicher ist als die Zufriedenheit. In den qualitativen Daten finden sich in der Klasse 3 mittelmäßige bis sehr gute Schulleistungen, mit denen die Jugendlichen und deren Eltern unterschiedlich zufrieden waren. Generell überwiegt eine positive Stimmung, während bei einigen Jugendlichen sogar ein übermäßiger Leistungsdruck zu erkennen ist, dem diese sich selbst aussetzen, um zukünftige Ziele erreichen zu können. In der Klasse 2 finden sich ebenfalls mittelmäßige bis sehr gute Schulleistungen, mit denen die Jugendlichen und deren Eltern wiederum unterschiedlich zufrieden waren. Allerdings treten hier eher Berichte von Schulverweigerung beziehungsweise Notenverschlechterungen in Stressphasen der Jugend auf beziehungsweise durch familiäre Tragödien wie den frühen Tod eines Elternteils. In der Klasse 1 zeigt sich vor allem ein Bild von Schulversagen beziehungsweise Herabstufung in andere Schulformen, das sich negativ auf die Zufriedenheit der Jugendlichen und Eltern auswirkt, insofern diese nicht bereits resigniert haben. Die in Klasse 2 und 3 vorhandene Zufriedenheit mit den Schulleistungen geht nicht zwangsläufig mit der Überzeugung einher, der Leistungserwartung in der Schule gerecht zu werden. Dies ist ein weiterer Aspekt in der sozialstrukturellen Dimension und bezieht sich auf die Wahrnehmung der Jugendlichen, den schulischen Leistungsansprüchen genügen zu können. So überwiegt zwar in den quantitativen Daten in Klasse 3 die Wahrscheinlichkeit, den Ansprüchen gewachsen zu sein, jedoch bemerkenswerterweise nicht mit einem sehr hohen Wert (59 %). In den beiden anderen Klassen dominiert dagegen die Wahrscheinlichkeit für Überforderung. In Klasse 2 beträgt sie 68 % und in Klasse 1 beträgt sie 77 %. Das Gefühl, den schulischen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können, zeigt sich somit in allen drei Klassen deutlich, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Dies weist darauf hin, dass die Wahrnehmung von Überforderung unabhängig von der besuchten Schulform bestehen kann. An dieser Stelle sei auf die demografische Beschreibung der Klassen in Abschn. 4.3 hingewiesen. Völlig losgelöst von dem Gefühl, den Leistungserwartungen in der Schule gerecht werden zu können oder auch nicht, sind die Jugendlichen in allen drei Klassen davon überzeugt, das angestrebte schulbezogene Ziel zu erreichen. Dies meint zum einen die aktuelle Versetzung in die nächste Klasse, zum anderen den Schulabschluss zu erreichen, der angestrebt ist. Diese Überzeugung ist mit 97 % in Klasse 3 am stärksten ausgeprägt, gefolgt von Klasse 2 mit 85 %. Auch bei den Jugendlichen in Klasse 1 erweist sich die Wahrscheinlichkeit für schulischen Optimismus mit 72 % als relativ stark. Diese zunächst

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

widersprüchlich erscheinende Konstellation (einerseits teilweise schulische Überforderung, andererseits schulischer Optimismus) ist auf den zweiten Blick nicht inkompatibel. So führt die gelegentliche Überforderung in der Schule nicht dazu, dass die Jugendlichen den Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten verlieren. Möglicherweise trifft sogar das Gegenteil zu: vereinzelte Annäherungen an die eigene Leistungsgrenze stellen eine normale Erfahrung im Rahmen der Schulsozialisation dar und rütteln deswegen noch nicht am schulischen Optimismus, sondern bestärken ihn bisweilen. Korrespondierend mit den weitgehend guten Leistungen sehen die qualitativ befragten Jugendlichen der Klasse 3 positiv in die berufliche Zukunft, was erfreulicherweise auch diejenigen tun, die eher mittelmäßig abschneiden. In der Klasse 2 findet sich ebenfalls weitgehend ein optimistisches Bild von der Zukunft; unabhängig von den jeweiligen Schulnoten und Schultypen, sogar im Falle von Rückstufungen. In Klasse 1 herrscht eher ein Pessimismus vor, da man schlechte Schulleistungen und niedrige Schulformen mit fehlenden Optionen in der Zukunft gleichsetzt. Dennoch setzt man teilweise Hoffnung darin, durch mehr Bemühen in Zukunft daran noch etwas ändern zu können. Für die Beschreibung der Integration unter sozialstrukturellen Gesichtspunkten spielt über die Bewältigung von schulischen Anforderungen hinaus auch die subjektive Einschätzung der Verhältnisse zu den Lehrer*innen eine bedeutsame Rolle. Hierbei geht es beispielsweise um das Gefühl, von Lehrenden ungerecht behandelt zu werden oder vor der Klasse lächerlich gemacht worden zu sein. Derartige Erfahrungen und Wahrnehmungen verteilen sich in den drei Klassen unterschiedlich. In Klasse 3 der quantitativen Daten finden sie sich dabei vergleichsweise am wenigsten (69 %). Umgekehrt betrachtet bedeutet dies aber auch, dass es auch in der Klasse der Integrierten eine substanzielle Wahrscheinlichkeit (31 %) für eine ungerechte Behandlung seitens der Lehrer*innenschaft gibt. Mehr als doppelt so hoch ist diese Wahrscheinlichkeit in Klasse 2 (64 %), in der zumindest eine teilweise Integration vorliegt. Wiederum in Klasse 1 findet sich die vergleichsweise stärkste Wahrnehmung für eine unfaire Behandlung. Die Wahrscheinlichkeit ist hier mit 70 % am stärksten ausgeprägt; damit verweisen die Ergebnisse auf das relativ weit verbreitete Gefühl, von Lehrer*innen inadäquat behandelt zu werden. Weitgehend positiv werden die Erfahrungen der qualitativ Befragten mit den Lehrer*innen beschrieben, auch wenn in Klasse 3 vereinzelt negative Erlebnisse auftraten, die als Desinteresse der Lehrenden beziehungsweise Vorurteile beschrieben wurden. Lediglich die Hälfte berichtet in Klasse 2 von weitgehend fairen und hilfsbereiten Lehrer*innen. Ungerechtigkeiten in der Behandlung und Benotung treten hier eher auf, was teils auf rassistische und

4.4  Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung

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diskriminierende Motive zurückgeführt wird. In Klasse 1 sieht man das Verhältnis zu den Lehrenden weitgehend problematisch und führt das eigene schlechte Abschneiden nicht zuletzt auf jene zurück. Teils wird auch von Desinteresse der Lehrer*innen in niedrigen Schulformen berichtet. In Einzelfällen sind aber auch positive Erfahrungen vorhanden.

Institutionelle Dimension Bei der Vergesellschaftung im Rahmen der institutionellen Dimension ist der Fokus auf den Austausch von Argumenten zu einem Thema beziehungsweise das Einbringen persönlicher Sichtweisen und damit das Einstehen für die eigenen Bedürfnisse gelegt. Eine gelungene Integration in der institutionellen Dimension erfolgt, indem die Jugendlichen ihre individuellen Anliegen verteidigen, ohne die Interessen ihrer Mitmenschen zu verletzen. Das allgemein gehaltene Konstrukt zur Einschätzung der Vergesellschaftung bezieht sich auf keinen konkreten Lebensbereich, sondern untersucht ganz grundsätzlich die Bereitschaft, im Austausch mit anderen für die eigenen Interessen einzustehen. Auffallend ist hierbei die große Ähnlichkeit zwischen Klasse 2 und 3 in den quantitativen Daten. In beiden Klassen überwiegt die Wahrscheinlichkeit, die persönlichen Bedürfnisse selbstbewusst zu vertreten sehr deutlich und beträgt über 90 %. In Klasse 1 zeichnet sich ein anderes Bild. Zwar ist auch hier die Bereitschaft zur Interessenverteidigung vorherrschend, jedoch nur im leichten Ausmaß (55 %). Deutlich ist somit in der Klasse der Desintegrierten ein geschwächtes Selbstbewusstsein für die eigenen Anliegen und Bedürfnisse. Das eben beschriebene Verteilungsmuster findet sich fast identisch auch bei jenem Konstrukt zur institutionellen Desintegration wieder, bei dem es um einzelne Lebensbereiche geht, in denen die eigenen Anliegen behauptet werden. Konkret handelt es sich hierbei um Familie, Freund*innenkreis und Schule. Erneut sind in Klasse 2 und 3 die Wahrscheinlichkeiten zur aktiven Durchsetzung der persönlichen Interessen mit über 90 % stark ausgeprägt. Im Gegensatz dazu überwiegt in Klasse 1 die Wahrscheinlichkeit, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und diese nicht in den jeweiligen Lebensbereichen zu behaupten. Mangelndes Selbstbewusstsein oder unzureichende kognitive Fähigkeiten zur Selbstbehauptung erscheinen hierfür als mögliche Gründe. In der Familie ist bei den qualitativ befragten Jugendlichen der Klasse 3 die Übernahme von Aufgaben im Haushalt beziehungsweise die Betreuung von Geschwistern ein Mittel zur Durchsetzung von Interessen. Hierdurch positioniert man sich und erhält gegebenenfalls leichter Vorzüge oder es werden eher Wünsche erfüllt. So ist von einem gegenseitigen Geben und Nehmen auszugehen. In der Familie oder im Heim ist bei den Jugendlichen der Klasse 2 die Ü ­ bernahme

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

von Aufgaben im Haushalt sowie die Betreuung von Geschwistern ebenfalls ein Mittel zur Durchsetzung von Interessen. Die Interessensdurchsetzung in der Familie in Klasse 1 ist eng an die massiven familiären Konflikte und vielfache Heimunterbringung gebunden. Einerseits ist die Lage in den Familien teils so angespannt, dass von Interessensdurchsetzung im Alltag kaum die Rede sein kann, sondern eher ein Erleben von Willkür vorherrscht. Andererseits entziehen sich die Jugendlichen teils selbst dieser Situation und setzen damit ein zentrales Interesse nach einem gewaltfreien Leben gegenüber der Familie durch. Daneben ist im schulischen Kontext für Jugendliche der Klasse 3 die Übernahme von Positionen wie der der/s Klassen- oder Schulsprecher*in ein Mittel der Positionierung gegenüber den Lehrenden, aber teils auch strategisch mit Blick auf eine Erwähnung in den Leistungsbeurteilungen. Hingegen kommt es im schulischen Kontext für Jugendliche der Klasse 2 zwar teils auch zur Übernahme von Positionen wie der der/s Klassen- oder Schulsprecher*in, aber nicht als Mittel der Positionierung gegenüber den Lehrenden, sondern eher weil irgendwer diese Rolle übernehmen muss. Viele interessieren sich gar nicht für solche Ämter. In der Schule zeigt sich in Klasse 1 wiederum ein gemischtes Bild. Einerseits werden auch hier teils zum eigenen Vorteil Positionen wie die der/s Klassen- oder Schulsprecher*in angestrebt, andererseits kann dies auch hier eher motivationslos erfolgen. Interessendurchsetzung kann aber auch insofern stattfinden, dass bewusst im Unterricht gestört wird, um vorzeitig nach Hause geschickt zu werden. Im Freund*innenkreis werden Interessen und Freizeitaktivitäten in Klasse 3 in der Regel gemeinschaftlich ausgehandelt, Anführer*innen gibt es nicht und es besteht generell kein großes Bedürfnis, seine Wünsche durchzusetzen. Im Freund*innenkreis werden Interessen und Freizeitaktivitäten in Klasse 2 weniger gemeinschaftlich und eher durch Wortführer*innen oder Anführer*innen ausgehandelt. Auch wenn diese nicht über alles bestimmen, sind sie es, die am ehesten ihre Wünsche durchsetzen. Im Freund*innenkreis erfolgt die Durchsetzung von Interessen im Wesentlichen dadurch, dass man sich von anderen nichts sagen lässt und höchstens von besten Freund*innen Ratschläge in Erwägung zieht. Entscheidungen über Aktivitäten trifft man weniger anhand gemeinschaftlicher Interessen und man lässt sich kaum auf andere Bedürfnisse ein, sondern es geht eher darum, was auf am wenigsten Ablehnung stößt. Insgesamt zeigt sich für den Aspekt der Vergesellschaftung der Jugendlichen sehr deutlich, welche Rolle die Verteidigung der persönlichen Interessen für die Klassenunterschiede spielt. Desintegrationserfahrungen speisen sich teilweise aus verweigerter Anerkennung der jugendlichen Interessen. In einem wechselseitigen Prozess der Berücksichtigung von Interessen anderer und der Selbstbehauptung persönlicher Anliegen im Umgang mit der Familie, Freund*innen und auch in der

4.4  Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung

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Schule gestaltet sich die Lage für die Jugendlichen der Klasse 1 schwierig. Bei ihnen bestehen nur eingeschränkte Möglichkeiten, die eigenen Ziele zu verfolgen und gegen andere zu behaupten. In den qualitativen Interviews geht es bei der Kommunikation der Bedürfnisse in Klasse 3 vor allem um materielle Anschaffungen in der Familie, die man bei geringeren Summen relativ leicht kommunizieren und erhalten kann. Bei größeren Summen erfordert dies mehr Überzeugungskraft, Kompromisse, Gegenleistungen oder gegebenenfalls auch eine Weile des Sparens. In der Klasse 2 sieht dies ähnlich aus. Berichte von der Kommunikation von Bedürfnissen gehen vor allem um Anschaffungen durch die Eltern, zu denen man diese überredet beziehungsweise sich durch Sparen daran beteiligt. In den Familien der Klasse 1 geht es bei der Kommunikation von Bedürfnissen auch weitgehend um materielle Aspekte, denen teils nachgekommen wurde, wenn dies finanziell möglich war.

Sozial-emotionale Dimension Sozial-emotionale Aspekte sind für die Vergemeinschaftung der Jugendlichen von hoher Bedeutung, wobei zwischen zwei Bereichen zu unterscheiden ist. Auf der einen Seite steht die Familie mit ihren Zuneigungen, aber auch Herausforderungen. Auf der anderen Seite sind die Peers, bei denen es im gegenseitigen Umgang miteinander um Vertrauen und Meinungsaustausch geht. Insgesamt betrachtet zeigt sich für die Jugendlichen aller drei Klassen, dass sie Freund*innen haben, zu denen sie ein vertrauensvolles Verhältnis pflegen. Verlässlichkeit und die Gewissheit, in Krisensituationen zueinander zu stehen, sind jedoch insbesondere in Klasse 2 und 3 im quantitativen Datenmaterial sehr deutlich ausgeprägt. Mindestens 95 % Wahrscheinlichkeit in diesen beiden Klassen verweisen auf eine gelungene Integration mit den Peers. Auffällig sind dagegen die Jugendlichen in Klasse 1. Auch hier überwiegt zwar die Wahrscheinlichkeit, dass die Jugendlichen vertrauensvolle Freund*innen haben, jedoch ist die Wahrscheinlichkeit mit 80 % deutlich geringer ausgeprägt. Für ein gelingendes Heranwachsen von Jugendlichen bedarf es daneben jedoch auch eines Austausches mit Meinungen anderer Gleichaltriger, die von der eigenen abweichen. Hierdurch erlernen sie, sich auch mit anders gelagerten Ansichten auseinanderzusetzen und sich mit den Peers darüber zu verständigen. Dies gelingt den Jugendlichen in allen drei Klassen, allerdings in Klasse 1 erneut in abgeschwächter Form. Während in Klasse 2 und 3 die Wahrscheinlichkeit über 90 % beträgt, ist sie in Klasse 1 mit 82 % abermals reduziert. Im Gegensatz zur Familie bieten für die qualitativ befragten Jugendliche der Klasse 3 Freund*innen durchweg einen Raum des Vertrauens und der Hilfsbereitschaft. Allerdings unterscheiden diese auch zwischen guten Freund*innen

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

und „Kumpels“, denen man weniger vertraut beziehungsweise die von geringerer Bedeutung sind. Aufgrund einer angespannten Lage im Elternhaus sind die Freund*innen für Klasse 2 von noch größerer Bedeutung, da die Jugendlichen den besten Freund*innen vertrauen und sich ihnen anvertrauen. Der weitere Freund*innenkreis bietet jedoch auch wenig, da von viel Misstrauen, Manipulation und Konkurrenzkampf die Rede ist und die Jugendlichen sich eher in Schlägereien unterstützen. Auch in der Klasse 1 kann der Freund*innenkreis als Gegenpol zur Familie fungieren, wo die Jugendlichen Unterstützung und Zuspruch erfahren sowie über Probleme sprechen können. Aber abhängig von den eigenen Einstellungen konnten auch hier Gespräche über familiäre Konflikte ein Tabu sein. Neben den guten Freund*innen en gibt es aber auch hier solche, denen kaum vertraut wird, und solche, von denen sich die Jugendlichen ausgenutzt und in Delikte hineingezogen fühlen. Im Gegensatz zu den Peers, die Jugendliche selbst auswählen können, ist die Familie der Lebensbereich, in dem bedingungsloses Vertrauen und Geborgenheit idealerweise in ausgeprägter Form gegeben sind. Dies zeigt sich tatsächlich auch für die quantitativ befragten Jugendlichen der Klassen 2 und 3, in denen es nur minimale Wahrscheinlichkeiten dafür gibt, dass familiäre Geborgenheit nicht vorhanden ist (weniger als 1 %). Dieser Zustand findet sich nicht bei den Jugendlichen der Klasse 1. Die Wahrscheinlichkeit für ein Geborgenheitsgefühl in der Familie ist zwar höher als für ein ablehnendes Gefühl, jedoch ist es mit 62 % keine Selbstverständlichkeit. Jugendliche der Klasse 1 weisen also auch hier Desintegrationserfahrungen auf, die sich aus unzureichenden positiven Emotionen innerhalb der Familie ergeben. Demzufolge weisen diese Jugendlichen teilweise ein gestörtes Vertrauensverhältnis zu ihrer Familie auf. Mit 64 %iger Wahrscheinlichkeit verbringen Jugendliche der Klasse 1 keine Zeit mit ihrer Familie und würden sich bei Problemen auch nicht an sie wenden. Dies deutet stark auf ein gestörtes Familienverhältnis hin, in dem gegenseitige Unterstützung keine Selbstverständlichkeit ist. Das Vertrauen ist in Klasse 3 mit 98 % am stärksten, gefolgt von Klasse 2 mit 91 %. Zumindest teilweise kann man auch bei den Jugendlichen in Klasse 2 folglich davon ausgehen, dass es krisenhafte Momente in der Familie gibt. Die partielle Normalität von Konflikten im jugendlichen Bestreben nach Abgrenzung und Autonomie zeigt sich in einem weiteren Aspekt der sozio-emotionalen Dimension. Die Beschwerde über zu wenig persönlichen ­ Freiraum, die Häufigkeit ernsthafter Streitigkeiten mit den Eltern, aber auch die Bereitschaft, einen Beitrag im Haushalt zu leisten, drücken sich hier aus. Lediglich in Klasse 3 überwiegt die Wahrscheinlichkeit in schwacher Form, das Vorkommen solcher Auseinandersetzungen zu verneinen (59 %). In Klasse 2

4.4  Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung

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wiederum dominiert die Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein derartiger Konflikte mit 69 % deutlich. Bei den Jugendlichen der Klasse 1 ist erneut die negativste Ausprägung festzustellen (82 %). Desintegrationserfahrungen im Sinne einer konflikthaften Beziehung zu den Eltern sind bei diesen Jugendlichen sehr stark ausgeprägt. In Klasse 3 besteht in den qualitativen Interviews ein weites Spektrum von positiven Berichten bis hin zu massiven familiären Problemen, z. B. in Form von fehlender Unterstützung und mangelnder Fürsorge. Vertrauensvolle Kommunikation findet dann eher mit Freund*innen als den Eltern statt, was aber teils auch geschieht, um die Eltern nicht zu belasten oder ein altersgemäßer Wandel sein dürfte. Gerade beim Auftreten von Stiefeltern und -geschwistern können Erfahrungen von Zurückstellung erfolgen. Grundsätzlich ist zu den (Stief-)Geschwistern das Verhältnis aber eher positiv als negativ. Auch in Klasse 2 sind familiäre Probleme und Konflikte weit verbreitet. Diese sind oft durch Trennungen, Todesfälle, das Auftreten von Stiefeltern sowie psychische Probleme der Eltern geprägt. Vertrauensvolle Kommunikation ist die Ausnahme und die Jugendlichen richten sich eher an Freund*innen bei Problemen. Sie fühlen sich wenig unterstützt und erleben wenig Fürsorge. In Klasse 1 zeigt sich eine weitgehend problematische Situation, die teils schwere Formen von häuslicher Gewalt gegen den Nachwuchs beinhaltet sowie den Unwillen der Eltern, weiter mit ihrem Kind unter einem Dach zu wohnen. Der Kontakt zu Stiefeltern kann teils das einzige Problem sein, aber mitunter bestehen die Probleme auch mit den leiblichen Eltern. Von einem Vertrauensverhältnis kann hier kaum die Rede sein, da es bereits an essenziellen Beziehungsqualitäten mangelt wie etwa die körperliche Unversehrtheit im eigenen Zuhause. Über alle drei Dimensionen sozialer Desintegration hinweg betrachtet, zeigt sich weitgehend dasselbe Muster. In Klasse 3 finden sich die Jugendlichen mit den wenigsten Integrationsproblemen. Es gibt einzelne Krisenpotenziale in der Schule und auch innerhalb der Familie, im Großen und Ganzen jedoch sind dies Jugendliche, die über ein gesichertes Umfeld verfügen und die sich den normalen Herausforderungen des Heranwachsens stellen müssen. Jugendliche der Klasse 2 müssen als teilweise desintegriert bezeichnet werden, da einige problemhafte Konstellationen in der Schule zu beobachten sind. In Klasse 1 konzentrieren sich jene Jugendliche mit ausgeprägten Desintegrationserfahrungen. Auffällig sind hier nicht nur einzelne Krisenherde in der Schule und der Familie, sondern ebenso eine gestörte Vergesellschaftung durch mangelndes Eintreten für die eigenen Anliegen. Ausgrenzungserlebnisse finden sich bei Jugendlichen in gebündelter Form, wodurch positive Erfahrungen nur selten und eingeschränkt möglich sind.

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

4.4.2 Control Balance Theory (CBT) Im zweiten Schritt werden nun die Konstrukte für den Klassenvergleich herangezogen, die der CBT zugehörig sind. Zunächst geht es um die Frage, wie wichtig beziehungsweise unwichtig es den Schüler*innen ist, auf andere Menschen Einfluss nehmen zu können. Dabei zeigt sich eine auf die Klassen unterschiedlich verteilte Wichtigkeit. In Klasse 3 ist das Bedürfnis nach Einflussnahme am geringsten ausgeprägt (14 %). Die zweitgeringste Ausprägung findet sich in Klasse 1 mit 22 % Wahrscheinlichkeit, gefolgt von Klasse 2 mit 32 %. Das Bedürfnis, auf andere Kontrolle ausüben zu können und damit im Sinne der CBT möglicherweise ein Übermaß zu erhalten, besteht in allen drei Klassen und drückt damit auch das Bestreben aus, Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zu erleben. Das gegenteilige Bedürfnis drückt sich darin aus, von den Mitmenschen nicht beeinflusst zu werden. Hierbei zeigen sich jedoch kaum relevante Unterschiede zwischen den Klassen. Allen Jugendlichen, unabhängig davon, wie ausgeprägt ihre Desintegrationserfahrungen sind, haben das Bestreben, autonom und selbstständig zu sein, ohne von anderen Personen im eigenen Handeln eingeschränkt zu sein. Gewaltablehnung wird bei der intrinsischen (vgl. Abschn.  4.3.3.3) Motivation mit Empathie begründet beziehungsweise mit dem Antizipieren der Konsequenzen von gewalttätigem Verhalten. Im Rahmen der CBT haben solche moralischen Einstellungen Einfluss auf das Gesamtgefüge von individuellem Kontrollerleben. Die intrinsische Motivation beträgt in den quantitativen Daten der Klasse 3 nahezu 100 % und ist damit bei diesen Jugendlichen außerordentlich stark verankert. In Klasse 1 und 2 ist diese Form der Gewaltmissbilligung schwächer ausgebildet, mit 84 % beziehungsweise 88 % allerdings auch deutlich ausgeprägt. Die Ablehnung von Gewalt erweist sich somit bei Jugendlichen aller drei Klassen als eine bedeutsame Quelle zur Verhinderung von Gewalt. Im Gegensatz zur empathischen und Konsequenzen antizipierenden Gewaltablehnung begründet sich bei der extrinsischen Motivation die Gewaltmissbilligung anhand von außen an die Person herangetragener Argumente. Relativ gleich stark ausgeprägt ist diese Motivation in Klasse 2 (65 %) und 3 (67 %). Dies bedeutet aber auch, dass sowohl bei Jugendlichen, die eine gelungene Integration aufweisen, als auch bei jenen mit gefährdeter Integration eine Gewaltablehnung aus extrinsischer Motivation nur situativ oder unter Umständen erfolgt. Bei Jugendlichen der Klasse 1 greifen Rechtfertigungen zur Gewaltablehnung am wenigsten. In den qualitativen Daten der Klasse  3 wird Gewalt weitgehend aus moralischen Gründen (entsprechend der elterlichen Erziehung) abgelehnt.

4.4  Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung

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Nur wenige waren nicht strikt dagegen. In der Klasse 2 wird kaum intrinsische Motivation für einen Gewaltverzicht genannt, da Gewalt eher als legitimes Mittel der Aushandlung von Konflikten erachtet wird. Formuliert werden eher Tabus bei der Anwendung von Gewalt bezüglich der möglichen Opfer sowie Fairnessregeln im Kampf. Auch in Klasse 1 zeigen sich teils Aspekte wie Empathie und Mitleid mit Opfern. Dies kann damit zusammenhängen, was man selbst erlebt hat und wie man mit den Geschwistern und eigenen Kindern später einmal umgehen möchte aufgrund schlechter Erfahrungen in der Kindheit. Die Nicht-Beherrschung der eigenen Emotionen, auch bei Provokation, wird im Rahmen der CBT als ein weiterer Faktor im Zusammenspiel mit Kontrollerleben fokussiert. Die hierfür herangezogene Impulsivität ist lediglich in den quantitativen Daten der Klasse 3 unauffällig, denn mit 91 % geben hier die Jugendlichen eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für Emotionsbeherrschung an. Dies verhält sich in Klasse 1 und 2 deutlich anders, da in beiden ein etwa ausgeglichenes Verhältnis zwischen Beherrschung und Impulsivität festzustellen ist. Jugendliche der Klasse 2 zeigen somit auch starke Tendenzen für unüberlegtes und explosives Handeln, das anfällig für Gewalt machen kann. Als impulsiv erachten sich nur wenige qualitativ Befragte in Klasse 3. Auf Provokationen müsse man nicht direkt reagieren. Spaßbeleidigungen unter Freund*innen sind normal und erreichen höchstens bei Einbezug der Familie eine Grenze, die hier aber auch kaum überschritten wird. In Klasse 2 finden sich einige impulsive Befragte und andere, die angeben, lediglich auf bestimmte Beleidigungen gegen die Familie intensiv zu reagieren. Aber nicht alle Jugendlichen reagieren auf solche Beleidigungen, da dies weitgehend sozialisationsbedingt ist beziehungsweise mit dem Tod eines Elternteils zu tun haben kann. In Klasse 1 ist Impulsivität weit verbreitet. In Stresssituationen und bei Provokationen gegen die Kernfamilie, enge Freund*innen und die eigene Person kommt es zu quasi ritualisierten Eskalationsspiralen. Interessanterweise scheint dies jedoch nicht unveränderlich zu sein, sondern im Lebensverlauf mit höherem Alter teils nachzulassen beziehungsweise durch externe (professionelle) Unterstützung. Sollten Jugendliche bereits gewalttätig geworden sein, erweisen sich die darauf erfolgten Reaktionen der Eltern als bedeutsam für das Kontrollerleben der Jugendlichen. In den quantitativen Daten der Klasse 3 ist die vergleichsweise deutlichste Reaktion festzustellen. Mit 97 %iger Wahrscheinlichkeit erfahren Jugendliche in dieser Klasse die stärkste Sanktion, sofern sie gewalttätig waren. In diesem Sinne geht hier eine gelungene Integration auch mit elterlicher Fürsorge in Form von Verhaltenskorrekturen einher. Weniger stark ausgeprägt, aber nach wie vor spürbar, ist dies bei den Schüler*innen der Klasse 2 mit 80 %

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

und der Klasse 1 mit 75 %. Auch hier ist zu erwähnen, dass die gegenteilige Betrachtung darauf hindeutet, dass mit etwa 20 bis 25 %iger Wahrscheinlichkeit bei den teilweise beziehungsweise stark desintegrierten Jugendlichen (Klasse 1 und 2) eine sanktionierende Reaktion der Eltern ausbleibt. In den qualitativen Daten der Klasse 3 sind juristische und schulische Sanktionen beeindruckender als elterliche, insofern es überhaupt zu welchen kommt. In Klasse 2 sind es weitgehend die juristischen Sanktionen, die ab dem 14. Lebensjahr maßgeblich sind, was nicht zu einem Delinquenz- und Gewaltverzicht führen muss, sondern eher mehr Absprachen und Vorsicht begünstigt, um das Entdeckungsrisiko zu minimieren. Sanktionen durch andere Beteiligte sind relativ wirkungslos. In Klasse 1 sind elterliche Sanktionen zwar weitgehend nutzlos, aber allgegenwärtig und werden als teils willkürlich und inkonsistent erlebt. Ein Kontrollüberschuss tritt für die Jugendlichen durch einen selbst gewählten Umzug ins Heim auf. Eine erfolgreiche Bewältigung des alltäglichen Lebens und der Entwicklungsaufgaben können Jugendliche als ihren eigenen Erfolg bewerten und somit eine hohe Selbstkontrolle aufweisen. Sie nehmen sich dann als eigene/r Herr*in über ihr persönliches Leben wahr. Diese Einschätzung ist in den quantitativen Daten der drei Klassen unterschiedlich verteilt. Jugendliche der Klassen 2 und 3 weisen hierbei die höchsten Werte auf (95 %). Bei Jugendlichen der Klasse 1 zeigt sich teilweise ein Gefühl von Fremdbestimmtheit des eigenen Lebens, da eine Wahrscheinlichkeit von 16 % für diese Einschätzung besteht. In diesem Kontext zeigte sich als Selbstkontrolle in den qualitativen Daten der Klasse 3 vor allem der Glaube daran, eigene berufliche Ziele erreichen zu können. In Klasse 2 zeigt sich Selbstkontrolle eher in Richtung einer Ablehnung des Einmischens Dritter bezüglich der Freund*innen- und Partner*innenwahl sowie der bewussten Entscheidung gegen Drogen mit Blick auf die eigene Gesundheit. Wesentlich anders stellt sich das Bild für die Fremdkontrolle dar, bei der von einem Gefühl des Ausgeliefertseins des eigenen Lebens berichtet wird. Die aktive Gestaltung des persönlichen Lebens erscheint nicht möglich. Jugendliche der Klasse 3 nehmen ein solches Gefühl teilweise wahr, denn die Wahrscheinlichkeit hierfür beträgt bei ihnen 83 %. In Klasse 2 ist die Situation ausgeglichen. Die Wahrnehmung beziehungsweise die Nicht-Wahrnehmung externer Selbstkontrolle halten sich im Gleichgewicht. Teilweise desintegrierte Jugendliche erleben somit auch das Gefühl, dass andere Menschen unerwünscht Einfluss auf ihr Leben nehmen würden. Komplett umgekehrt zeigt sich das Gefühl des Ausgeliefertseins in Klasse 1. Diese Jugendlichen haben nicht den Eindruck, dass sie ihr Leben selbst gestalten und nach ihren Vorstellungen ausrichten können. Ausgeprägte Desintegrationserfahrungen dieser Jugendlichen

4.4  Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung

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gehen folglich einher mit der Wahrnehmung, keine Realitätskontrolle über das eigene Leben zu haben. Fremdkontrolle zeigte sich im Prinzip nur in zwei qualitativen Interviews von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten der Klasse 3, die Hilflosigkeit erleben, ihre Familie zu unterstützen. Externe Kontrollerfahrungen sind in Klasse 2 enger gepaart mit interner Selbstkontrolle und zeigen sich vor allem bei denjenigen in den Heimen, für die ein bewusster Umzug ins Heim ein Akt der Selbstbestimmung ist, aber auf der Grundlage übertriebener Kontrolle durch die Eltern beruht. Das gleiche Bild, wenn auch teils in extremeren Maße zeigt sich in Klasse 1. Zudem berichteten diese von Kontrollversuchen der Eltern bis in die Heime hinein, welche sie abwehren konnten, was zusätzlich zum Gefühl beiträgt, das Leben in die eigene Hand genommen zu haben. Alternativ war es möglich, sich mit zunehmendem Alter immer weiter aus der Familie zurückzuziehen, was besonders dann gelingt, wenn man sich an der Grenze zur Volljährigkeit befindet beziehungsweise ins Ausbildungs- oder Berufsleben eintritt. Zentral für die Einschätzung des Kontrollerlebens der Jugendlichen ist das Verhältnis von aktiv ausgeübter zu passiv erlebter Einflussnahme in Bezug auf vier konkrete Personen(gruppen): Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen sowie Mitschüler*innen. In den quantitativen Daten der Klasse 3 überwiegt mit einer Wahrscheinlichkeit von 64 % die Kontrollbalance, sodass auch bei diesen Jugendlichen von einer Tendenz zu gelegentlicher Imbalance in Bezug auf die Eltern auszugehen ist. Dagegen ist in Klasse 2 die Wahrscheinlichkeit für Balance genauso hoch wie für Imbalance. Jugendliche mit gefährdeter Integration erleben partiell ein Ungleichgewicht an elterlicher Kontrolle. Noch stärker ausgeprägt ist dies bei Jugendlichen der Klasse 1 mit 58 %iger Wahrscheinlichkeit für Imbalance. Passive und aktive Einflussnahme ist bei diesen Jugendlichen nicht ausgeglichen, wodurch eine Asymmetrie im Verhältnis mit den Eltern entsteht. Auch mit Blick auf die Eltern sind in den qualitativen Daten der Klasse 3 Berichte von störender Kontrolle die Ausnahme. Neben den schulischen Leistungen wird auf Ausgehzeiten, Drogenkonsum und die Wahl der Freund*innen geachtet, was jedoch vorzugsweise als Fürsorge erlebt wird. Mit zunehmendem Alter wird den Eltern dies aber nicht mehr zugestanden beziehungsweise erleben sich die Jugendlichen als erwachsen genug, dieser Kontrolle nicht mehr zu bedürfen, was dann zu einem gefühlten Kontrollüberschuss führen kann. Seitens der Eltern berichten die Jugendlichen in Klasse 2 teils von keiner Kontrolle, Kontrollüberschüssen, wenn sie sich nichts mehr sagen lassen, aber auch Kontrolldefiziten, die bis hin zu erlebter Willkür und Gewaltanwendung reichen konnten. In Klasse 1 dominieren hingegen die Berichte von Willkür und Gewalt, die sich durch die Kindheit und Jugend ziehen und für

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4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Erfahrungen eines massiven Kontrolldefizits sprechen, dem die Jugendlichen später nur die Abwanderung ins Heim beziehungsweise die Abkehr von der Familie entgegenzuhalten haben. Weniger Unterschiede zwischen den Klassen zeigen sich dagegen in den quantitativen Daten im Kontrollverhältnis mit den Freund*innen. Zwar besteht die größte Wahrscheinlichkeit für Balance in Klasse 3 (56 %), jedoch ist der Unterschied zur nächsten Klasse (hier: Klasse 1 mit 51 %) nicht besonders groß. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass Jugendliche aller drei Klassen, also unabhängig von ihrem jeweiligen Desintegrationserleben, teilweise Erfahrungen von Imbalance im Freund*innenkreis machen. Störende Kontrolle erleben die qualitativ befragten Jugendlichen der Klasse 3 durch Freund*innen kaum beziehungsweise diese lassen sich auf entsprechende Versuche nicht ein. Dennoch gibt es auch hier Verhaltenserwartungen, etwa auch bezüglich der Ablehnung von Delinquenz oder als Gegensatz auch der Unterstützung in Kämpfen, die dann aber eher auf Gegenseitigkeit beruhen und somit nicht als Kontrolle erlebt werden, sondern als Unterstützung. Auch bezüglich des Konsumverhaltens sieht es ähnlich aus: Entweder findet keine diesbezügliche Kontrolle statt oder man hat im Freund*innenkreis einen ähnlichen Stil und kleidet sich ähnlich, ohne das als Kontrolle zu erleben. Entsprechend der nicht vorhandenen Hierarchien kommt es auch kaum zu Machtdemonstrationen. Ein Teil der Jugendlichen in Klasse 2 erlebt auch Kontrolle durch Freund*innen. Diese Kontrollerfahrungen werden als störend empfunden und sowohl dahin gehend, Verhaltensregeln aufzustellen als auch Jugendliche durch Gruppendruck in Delikte hineinzuziehen. Gruppendruck tritt auch teils bezüglich des Konsumverhaltens beziehungsweise der Kleidung auf. In Klasse 1 herrscht unter den Freund*innen vielfach der Eindruck von einem Wettbewerb und Konkurrenzdruck, der ein Gefühl ständiger Kontrolle und einem Bedürfnis nach Kontrollversuchen gegenüber anderen bedeutet. Kontrolle ist hier zudem wenig zielführend und konstruktiv, sondern man sieht sich eher bloß als für sich selbst verantwortlich an. Dies kann so weit führen, dass man darum bemüht ist, möglichst keine Schwächen gegenüber anderen preiszugeben, weshalb hier wenig Vertrauen besteht und man sich mit Problemen kaum an andere wendet. Im Kontext von Schule, konkret bezüglich Lehrer*innen, könnte aufgrund der strukturellen Gegebenheit zunächst erwartet werden, dass die Möglichkeit der Einflussnahme seitens der Jugendlichen sehr begrenzt ist, womit sich eine starke Asymmetrie zeigen würde. Dies lässt sich jedoch quantitativ nicht bestätigen. Allerdings überwiegt lediglich in Klasse 3 die Wahrscheinlichkeit für Kontrollbalance mit 55 %. Sowohl in Klasse 1 als auch 2 dominiert dagegen tatsächlich die Einschätzung einer Imbalance (70 beziehungsweise 57 %) und bestätigt

4.4  Vergleich der Klassen nach Theorie-Gliederung

197

damit das zu erwartende asymmetrische Verhältnis zwischen Schüler*innen- und Lehrer*innenschaft. Besonders groß zeigt sich diese Imbalance für jene Jugendlichen, die auch von Desintegrationserfahrungen berichten. In der Klasse 3 der qualitativ Befragten herrscht weitgehend Kontrollbalance vor. Zwar reagieren die Lehrenden auf Störungen des Unterrichts und verteilen gegebenenfalls schlechte Noten, wenn die Leistungen nicht stimmen, jedoch besteht das Bewusstsein, für seine Noten selbst verantwortlich zu sein. In der Klasse 2 findet sich die generelle Einsicht, dass Lehrer*innen durch die Notenvergabe bedeutsam und kontrollierend für die Zukunft sind. Interessanterweise herrscht aber zu Teilen auch das Bewusstsein vor, dass man die Noten und das Verhalten der Lehrenden durch sein Auftreten und Bemühen steuern kann, weshalb hier die Gegenseitigkeit durch die Jugendlichen erkannt wird. Mit Blick auf die Lehrer*innen sehen sich die Jugendlichen der Klasse 1 realistischerweise in einem Kontrolldefizit, da diese sie durch schlechte Benotungen und Rücksetzungen in ihren Zukunftsoptionen einschränken können. Im zweiten Schulaspekt, Mitschüler*innen, zeigt sich das Kontrollverhältnis in einem anderen Muster. Auch hier ist zwar die größte Wahrscheinlichkeit für Balance in den quantitativen Daten der Klasse 3 zu finden, jedoch unterscheiden sich die Balance-Wahrscheinlichkeiten der Jugendlichen der Klasse 1 und 2 nur marginal voneinander (55 % beziehungsweise 52 %). Desintegrierte und teilweise Desintegrierte berichten somit gleichermaßen von ungleichen Ausmaßen in der aktiven und passiven Beeinflussung der Mitschüler*innen. In den qualitativen Daten zeigten sich bezüglich der Mitschüler*innen deutlich ausgeprägtere „sozial-darwinistische“ Züge des Umgangs als im Freund*innenkreis. Dies äußert sich vor allem in Mobbing, bei dem „Schwächen“ und Besonderheiten instrumentalisiert werden, was vor allem dauerhaft werden kann, wenn die Betroffenen sich dies gefallen lassen. Selbst bei Mädchen kann das sogar bis hin zu körperlichen Übergriffen reichen, die normalerweise gesellschaftlich eher eine Ausnahme im Bereich Mobbing darstellen. Dies sind deutliche Formen defizitärer Kontrolle. In den Heimen erleben die qualitativ Befragten der Klasse 3 auch keine störende Kontrolle, sondern sie zeigen sich eher über klare Strukturen und Regeln erfreut. In den Heimen werden im Gegensatz zu Klasse 3 die Regeln in Klasse 2 mit mehr Unzufriedenheit wahrgenommen. Gerade bezüglich der Achtung der Privatsphäre und der Einschränkungen im Freizeitverhalten erfolgt Kritik und ein Gefühl von eigenen Kontrolldefiziten. In Klasse 1 wurden keine negativen Erfahrungen berichtet, was aber an den wenigen Personen und der Fallauswahl liegen mag. Ergänzend zu den übrigen Jugendlichen wurde aber stärker darauf hingewiesen, dass man durch positives Verhalten oder Überzeugungskraft auch

198

4  Empirische Ergebnisse quantitativer und qualitativer Methodik

Dinge zu seinen Gunsten beeinflussen kann, wodurch man nicht zwangsläufig einen Kontrollüberschuss gewinnt, aber erkennt, dass man bei gutem Betragen problemlos in einem Zustand der Kontrollbalance gemeinsam leben kann. Mit Blick auf die Geschwister berichten die qualitativ befragten Jugendlichen der Klasse 3 unterschiedliche Erfahrungen. Diese reichen von einem gegenseitigen Einspannen für unliebsame Aufgaben über wechselseitiges Geben und Nehmen hin zu erfahrener Kontrolle, die weitgehend positiv erlebt wurde, da sie auch als Fürsorge wahrgenommen wurde. Im Kontext von Geschwistern tritt auch in Klasse 2 eine große Spannweite auf, die von fürsorglichen Vorschriften über Machtdemonstrationen hin zu überzogener Kontrolle reichen konnte. Letzteres geschah aber teils auch durch die Befragten ihren Schwestern gegenüber, die sie speziell mit Blick auf mögliche Partnerschaften einschränkten. In der Klasse 1 gibt es weniger Berichte vom Umgang mit Geschwistern, die sich auf gegenseitige mehr oder weniger erfolgreiche Bemühungen beziehen, die anderen von Gewalt abzuhalten. Dabei handelt es sich jedoch eher um Ratschläge, sodass sich hier im Sample eher ein Zustand der Kontrollbalance in Klasse 1 findet. Selbst in Klasse 3 mit ansonsten weitgehend positiven Sozialbeziehungen sind viele Partnerschaften von Eifersucht und Misstrauen geprägt. Auch in Klasse 2 zeigt sich dieses Ergebnis. Dies kann hin bis zu Gewalt gegen Partner*innen führen als auch Personen, die man als Konkurrenz wahrnimmt. Dominantes Verhalten von Mädchen scheint hier die Ausnahme zu sein. In Klasse 1 finden sich ebenfalls weitgehend problematische Beziehungen, die von gegenseitigem Misstrauen, Kontrollversuchen und einem Zustand gekennzeichnet sind, in dem man sein Verhalten gegenüber Dritten in Richtung Eifersucht oder sein delinquentes Verhalten verheimlichen und verbergen muss, um Konflikte zu vermeiden.

5

Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

Wie im Forschungsstand und der Darstellung der beiden zentralen Theorien für dieses Buch beschrieben wurde, werden problematische Lebensbedingungen und weitere Herausforderungen im Lebensverlauf als mögliche Ursachen für Gewalt und Delinquenz erachtet. Nach der Einordnung und Darstellung der drei Klassen, die genuin ohne Berücksichtigung von kriminellem oder sonstigem auffälligen Verhalten erfolgte, wird im Folgenden der Blick darauf gerichtet, welche delinquenten Verhaltensweisen oder sonstigen Verarbeitungsstrategien für die Lebensumstände in den drei Klassen nachgezeichnet werden können. Die quantitativen Daten sind dabei weitgehend auf Täter*innenverhalten und Opfererfahrungen beschränkt. Die qualitativen Daten bieten durch die Möglichkeit zusätzlicher Fragen, besonders jedoch aufgrund der Option zur inhaltlichen Vertiefung weitreichendere und detailliertere Einblicke.

5.1 Gewalt und Delinquenz in der quantitativen Stichprobe Abweichende oder auch delinquente Verhaltensweisen von Jugendlichen können sich auf vielfältige Weisen ausdrücken. Im vorliegenden Forschungsprojekt erfolgt eine Fokussierung auf gewalttätige Handlungen. Daher werden weitere delinquente (nicht gewalttätige) Handlungen nachfolgend nur überblicksartig berichtet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6_5

199

200

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

5.1.1 Deskriptive, allgemeine Beschreibung der Delinquenz in unserer Stichprobe Um ein breit gefächertes Bild der Jugendlichen hinsichtlich ihres devianten Verhaltens zu erhalten, wurden neun Deliktformen erfragt. Hierfür wurden die Schüler*innen gebeten, anhand kategorisierter Häufigkeiten das Vorkommen solcher Handlungen innerhalb der letzten zwölf Monate anzugeben. Es geht hier somit um die Inzidenz und nicht um die Prävalenz, die nach dem jemals vorgekommenen Verhalten fragen würde. Bereits auf den ersten Blick ist in Tab. 5.1 zu sehen, wie ungleich die Häufigkeiten verteilt sind. Der größte Anteil der gegebenen Antworten ist in der Kategorie „nie“ zu finden. Die geringste Verbreitung findet sich gleichermaßen für Einbrüche und für Drogenverkauf. Jeweils knapp 94 % geben an, diese beiden Delikte kein einziges Mal begangen zu haben. Während ein gutes Prozent der

Tab. 5.1   Häufigkeiten Delinquenz in den vergangenen 12 Monaten, relative und absolute Angaben Nie

Selten (einOft (drei- bis Sehr oft (zehnmal oder zweimal) neunmal) und häufiger)

Sachbeschädigung

71,4 (1345)

19,6 (370)

5,4 (102)

3,6 (67)

Jemanden abgezogen

86,2 (1621)

8,8 (165)

2,7 (50)

2,4 (45)

Bedrohung

86,8 (1634)

8,7 (164)

2,4 (46)

2,0 (38)

Diebstahl

83,9 (1579)

10,2 (191)

3,2 (60)

2,7 (51)

Einbruch

93,8 (1764)

3,6 (67)

1,3 (24)

1,4 (26)

Schule schwänzen

75,1 (1415)

14,8 (278)

5,7 (108)

4,4 (82)

Drogenkonsum

83,3 (1566)

6,5 (123)

4,6 (86)

5,6 (105)

Drogenverkauf

93,5 (1755)

2,6 (49)

1,6 (30)

2,3 (44)

Illegaler Download

57,2 (1075)

16,4 (308)

9,4 (176)

17,0 (320)

5.1  Gewalt und Delinquenz in der quantitativen Stichprobe

201

Stichprobe mindestens zehnmal irgendwo eingebrochen ist, trifft dies für den Drogenverkauf auf gut 2 % der Jugendlichen zu. Vergleichsweise am häufigsten sind illegale Downloads vertreten. Fast jede*r oder jeder zweite Befragte hat angegeben, mindestens einmal im vergangenen Jahr illegal Dateien im Internet heruntergeladen zu haben. Insgesamt 17 % machen dies sogar regelmäßig und geben eine Häufigkeit von wenigstens zehnmal im vergangenen Jahr an. Die weiteren abgefragten Delikte befinden sich in ihrer Häufigkeit zwischen diesen beiden Extremen (illegaler Download und Einbruch/Drogenverkauf). Beachtenswert sind hierbei Sachbeschädigungen und auch Schule schwänzen. Gut 28 % der Jugendlichen geben an, mindestens einmal in den letzten zwölf Monaten fremdes Eigentum beschädigt zu haben, immerhin knapp 4  % mindestens zehnmal. Damit gehören diese kriminellen Handlungen mit zu den am weitesten verbreiteten Delikten in unserer Stichprobe. Ein Viertel der Schüler*innen schwänzte die Schule mindestens einmal, gut 4 % sogar wenigstens zehnmal. Insgesamt betrachtet zeigt sich auch in unserer Untersuchung, dass jugendliche Delinquenz die Ausnahme und nicht die Regel ist. Damit knüpfen die Ergebnisse unserer Stichprobe an die vielfach bestätigten Resultate anderer kriminologischer Erhebungen an, die diese Abwesenheit von Kriminalität Jugendlicher aufzeigen (z. B. Spiess 2012).

5.1.2 Deskriptive Beschreibung gewalttätigen Verhaltens Im Folgenden wird die Verbreitung gewalttätiger Handlungen bei den befragten Jugendlichen berichtet. Dabei unterscheiden wir zwei verschiedene Gewaltformen. Zum einen haben wir physische Gewalt erfragt und zum anderen Handlungen gegen psychische Unversehrtheit. Knapp zwei Drittel der Schüler*innen haben im vergangenen Jahr niemanden körperlich verletzt (vgl. Tab. 5.2). Schlägereien ohne ernsthafte körperliche Verletzungen sind somit für die große Mehrheit keine Normalität. Dennoch gibt ein Drittel an, mindestens einmal jemanden geschlagen zu haben, wobei der Anteil mit ein- oder zweimal deutlich überwiegt. Immerhin knapp 4 % geben eine Häufigkeit von wenigstens zehnmal an. Für einen sehr kleinen Anteil Jugendlicher stellen Körperverletzungen bei Weitem keine Ausnahme dar, im Gegenteil: Es ist eher davon auszugehen, dass diese Jugendlichen eine Routine in

202

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

Tab. 5.2   Häufigkeiten physischer Gewalthandlungen in den vergangenen 12 Monaten, relative und absolute Angaben Nie

Selten (ein- oder zweimal)

Oft (drei- bis neun- Sehr oft (zehnmal mal) und häufiger)

Körperverletzung

64,0 25,3 (1.162) (460)

7,1 (128)

3,6 (65)

Körperverletzung mit anschließendem Arztbesuch

88,8 8,3 (1.591) (148)

1,5 (27)

1,4 (25)

k­örperlichen Auseinandersetzungen mit anderen haben. Über die genauen Zusammenhänge in der Gewaltsituation, also, ob es sich um Gleichaltrige, um Freund*innen oder Fremde handelt, liegen keine Informationen vor. Wesentlich seltener begehen die befragten Jugendlichen Körperverletzungen, die eine ärztliche Behandlung der Opfer nach sich ziehen. Fast 89 % haben in den vergangenen zwölf Monaten keine derartige gewalttätige Handlung begangen – gefolgt von etwa 8 % mit ein oder zwei schwerwiegenden Körperverletzungen. Nur eine Minderheit Jugendlicher gibt an, derartiges Verhalten häufiger zu zeigen. Eine regelmäßige und ernsthafte körperliche Schädigung der Opfer, sodass diese eine ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen müssen, ist demnach nur sehr wenig verbreitet. Es ist jedoch davon auszugehen, dass genau diese Jugendlichen für einen nicht unerheblichen Anteil der in dieser Altersgruppe vorkommenden Schlägereien verantwortlich sind (Baier et al. 2009; DJI 2019). Die Ausübung psychischer Gewalt haben wir unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Zum einen haben wir nach Mobbing in der virtuellen Welt und zum anderen nach Mobbing außerhalb des Internets gefragt (siehe Tab. 5.3).

Tab. 5.3   Häufigkeiten psychischer Gewalthandlungen in den vergangenen 12 Monaten, relative und absolute Angaben Nie

Selten (ein- oder zweimal)

Oft (drei- bis neun- Sehr oft (zehnmal mal) und häufiger)

Mobbing im Inter- 69,7 19,3 net (1270) (352)

6,8 (123)

4,2 (77)

Mobbing außerhalb 69,2 21,0 Internet (1260) (383)

6,1 (111)

3,6 (66)

5.2  Gewalt in den Klassen – quantitativ

203

Beide Formen der psychischen Gewaltanwendung sind etwa gleichermaßen verbreitet und unterscheiden sich nur geringfügig voneinander. So geben knapp 70 % an, dass sie jemanden sowohl in der realen als auch der virtuellen Welt gemobbt haben. Hierzu zählen Beleidigungen und eine absichtliche negative Darstellung. Etwa ein Fünftel gibt zumindest ein seltenes Mobbing zu, weitere 6 % ein gelegentliches mit drei bis neun Gelegenheiten. Ein kleiner Anteil von ungefähr 4 % hat andere im vergangenen Jahr mindestens zehnmal innerhalb und außerhalb des Internets gemobbt. Ob es sich bei den Betroffenen immer um die gleichen oder um unterschiedliche Personen handelt, wurde nicht erfragt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Mobbing in unserer Stichprobe keine Ausnahmeerscheinung ist, wobei es insgesamt etwas häufiger berichtet wird als physische Gewalt.

5.2 Gewalt in den Klassen – quantitativ 5.2.1 Täterschaft Bereits in den einzelnen Klassenbeschreibungen ist deutlich geworden, wie groß die Unterschiede zwischen den Klassen sind. Hinsichtlich verschiedener Aspekte von Desintegration und Kontrollbalance bestehen zwischen den Klassen große Differenzen, daher wird im Folgenden die Verbreitung von gewalttätigem Verhalten getrennt für die Jugendlichen der drei Klassen dargestellt. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Darstellungen erfolgt nun die Berichterstattung anhand der Skala physischer Gewalt, die sich aus den beiden Items zu körperlicher Gewalt zusammensetzt. Hierdurch ergibt sich für die Mittelwerte (MW) der Häufigkeiten ein möglicher Bereich von eins (nie) bis vier (sehr oft). Am wenigsten verbreitet ist körperliche Gewalt bei den Jugendlichen der Klasse 3 (MW = 1,18). Integrierte Jugendliche mit Kontrollbalance üben am seltensten physische Gewalt aus. De facto kommen körperliche Auseinandersetzungen bei diesen Schüler*innen nicht vor, da nur ganz vereinzelt Jugendliche überhaupt ein Vorkommnis in den vergangenen zwölf Monaten berichten. Signifikant häufiger wird körperliche Gewalt in der zweiten Klasse (MW = 1,43) und in der ersten Klasse (MW = 1,65) berichtet. Es zeigt sich somit ein linearer Anstieg in der Häufigkeit der Gewaltausübung von der dritten zur ersten Klasse. Je stärker die soziale Desintegration und je geringer ein ausgeglichenes Kontrollerleben, desto häufiger treten körperliche Gewalthandlungen auf. Ähnlich stellt sich die Verbreitung psychischer Gewalt dar, die sich aus den beiden Items zum Mobbing zusammensetzt. Berücksichtigt werden hier

204

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

­ orkommnisse sowohl innerhalb des Internets als auch abseits des Internets im V Alltag. Auch hier sind die geringste Häufigkeit in der dritten Klasse (MW = 1,24) und die stärkste Häufigkeit in der ersten Klasse (MW = 1,76) zu beobachten. Ebenso ist festzuhalten, dass es in der dritten Klasse in den letzten zwölf Monaten nahezu kaum psychische Gewalttätigkeit gab. Nur wenige Jugendliche berichten von derartigen Handlungen. Im direkten Vergleich zeigt sich eine etwas größere Häufigkeit von psychischer Gewalt im Gegensatz zu physischer Gewalt. Eine geringere Hemmschwelle und auch leichtere situative Möglichkeiten sind bei Mobbing eher gegeben als bei körperlichen Auseinandersetzungen. Diese auf der beschreibenden Ebene bleibenden Analysen können ergänzt werden, in dem die konkrete kausale Annahme geprüft wird, dass sich die Klassenzuordnung auf die Anwendung von Gewalt auswirkt. Die Analyse mithilfe einer logistischen Regression (vgl. Schendera 2008, S. 139 ff.) zeigt deutliche Effekte. Jugendliche der Klasse 2 haben eine etwa doppelt (2,08) so hohe Wahrscheinlichkeit, physische Gewalt anzuwenden wie Jugendliche der Klasse 3. Dies trifft ebenso auf die Jugendlichen in Klasse 1 zu. Auch ihre Wahrscheinlichkeit ist etwa doppelt so hoch im Vergleich zu Jugendlichen der Klasse 2. Für psychische Gewalt erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf 2,3. Insgesamt betrachtet lassen sich die Vorannahmen bestätigen. Jugendliche mit weniger guten Lebensbedingungen und Imbalancen der Kontrolle weisen signifikant häufiger Gewalt auf als Jugendliche mit besseren Lebenschancen. Hierbei spielen nicht nur Gefühle von Benachteiligung in der Schule oder emotionale Zurückweisung seitens der Eltern eine Rolle, sondern auch das persönliche Empfinden, den Menschen des persönlichen Umfelds ausgeliefert zu sein. Die aktive Gestaltung individueller Beziehungen erweist sich somit als relevante Größe im Verständnis von Gewalthandlungen.

5.2.2 Opfer von Gewalt Bevor nachfolgend die konkrete Beziehung zwischen Opfer- und Täterschaft thematisiert wird, erfolgt ein Überblick der Viktimisierungen, soweit sie in der Studie erfasst wurden. Hierfür wurden die Jugendlichen gefragt, wie oft sie innerhalb der vergangenen zwölf Monate von jemand anderem geschlagen oder verprügelt wurden und wie oft sie von einem anderen so stark geschlagen wurden, dass sie einen Arzt aufsuchen mussten. Ein Blick auf die Mittelwerte zeigt dasselbe Verteilungsmuster wie auch schon bei der Gewaltanwendung. In Klasse 3 kann die geringste Häufigkeit festgestellt werden (MW = 1,11). Integrierte Jugendliche mit Kontrollbalance werden beinahe nie Opfer von

5.2  Gewalt in den Klassen – quantitativ

205

physischer Gewalt. Etwas verbreiteter ist die Viktimisierung dagegen bei Schüler*innen der Klasse 2 (MW = 1,26). Zumindest ein gewisser Anteil der Jugendlichen mit teilweise desintegrativen Tendenzen wird gelegentlich Opfer von körperlichen Attacken. Die signifikant häufigste Betroffenheit ist bei Jugendlichen der Klasse 1 zu beobachten (MW = 1,47). Zwar berichten insgesamt nur sehr wenige Jugendliche von derartigen Vorkommnissen, vergleichsweise sind diese Jugendlichen jedoch am häufigsten in der Klasse mit den schlechtesten Lebensbedingungen zu finden. Auch im Hinblick auf die Betroffenheit psychischer Gewalt (Mobbing innerund außerhalb des Internets) wiederholt sich das Verteilungsmuster. Insgesamt ist die Betroffenheit dieser Gewaltform jedoch stärker verbreitet als körperliche Auseinandersetzungen. In der Klasse der Jugendlichen mit den günstigsten Lebensbedingungen (Klasse 3) ist die Betroffenheit am geringsten (MW = 1,25), gefolgt von Klasse 2 (MW  =  1,43). Jugendliche in Klasse 1 berichten am häufigsten von Mobbing (MW = 1,9). Tendenziell haben diese Schüler*innen ein- beziehungsweise zweimal im vergangenen Jahr Mobbing erlebt. Wie auch andere Studien schon mehrfach zeigen konnten, ist Mobbing ein Phänomen, von dem viele Jugendliche betroffen sind. Auch wenn die hier berichtete Studie nicht repräsentativ angelegt war, kann dieser Befund repliziert werden (Andresen und Möller 2019).

5.2.3 Kombination Opfer und Täter*innen von Gewalt Für die Frage, welche Faktoren Einfluss auf Gewalthandlungen nehmen, steht auch immer die eigene Opferwerdung im Fokus. Um der Annahme nachgehen zu können, dass es sich um kausale und nicht gleichzeitige Abläufe handelt, werden im Folgenden keine Mittelwerte dargestellt. Hierfür werden stattdessen Regressionsanalysen herangezogen, in denen explizit die Ursache und Wirkung (hier: Klassenzuordnung und Gewalt) einer Beziehung von Konstrukten angenommen wird. Um sich dieser Frage zu nähern, wurden unterschiedliche Konstellationen von Opfer/Täter*innen und physisch/psychisch untersucht. Daraus ergeben sich vier verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, die nacheinander geprüft wurden. Als erstes geht es um die Frage, ob die Opfererfahrung körperlicher Gewalt auch zur Anwendung physischer Gewalt führt. Wie vermutet zeigen sich zwischen den Klassen signifikante Unterschiede: Gewaltopfer zu sein, führt somit bei Jugendlichen aller drei Klassen zu aktiver Gewaltanwendung – jedoch mit unterschiedlicher Stärke. Die Stärke der Beziehung weicht jedoch vom ­bisherigen

206

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

Klassenmuster ab, denn den stärksten Einfluss der Opfererfahrung von körperlicher Gewalt auf die Anwendung physischer Gewalt findet sich mit einer erklärten Varianz von 12,3 % in Klasse 2, gefolgt von Klasse 3 mit 9,9 %. Etwa ein Zehntel der körperlichen Gewaltagitation ist somit in diesen beiden Klassen auf eigene Gewalterfahrungen zurückzuführen. Dagegen zeigt sich in Klasse 1 der geringste Effekt. Lediglich 6,4 % der physischen Gewaltanwendung können durch vorangegangenes Gewalterleben erklärt werden. Zwar ist nichts über die Täter*innen-Opfer-Beziehung bekannt, aber zwei Szenarien sind hier denkbar. Einerseits kann es sich um Vergeltung für vorangegangene Schlägereien handeln, sodass der konkreten Auseinandersetzung eine Vorgeschichte vorausginge. Andererseits können die jeweiligen Opferbeziehungsweise Tätererfahrungen völlig unabhängig voneinander sein und Täter*innen und Opfer in keiner Beziehung zueinander stehen. In beiden Fällen würde die eigene Gewaltanwendung eine Kompensationsfunktion erfüllen. Indem bewusst die Konfrontation gesucht wird, können die bisherigen Erlebnisse verarbeitet werden, um erfahrene Anerkennungsverletzungen und Kontrollverluste auszugleichen. Denkbar sind hier auch völlig unterschiedliche Settings. So können Jugendliche in einem sozialen Umfeld (also im weitesten Sinne des Freund*innenkreises) eher der Außenseiter*innen und somit jene Person sein, die innerhalb der Gruppe benachteiligt ist. In diesem Kontext wäre eher das Betroffensein von körperlicher Gewalt relevant. In einem anderen sozialen Umfeld mit anderen Personen (z. B. in der Schule) kann die Position eine höhere sein, womit eher die Täter*innenrolle verknüpft wäre. Welche konkrete Konstellation von Opfer- und Täter*innen-Sein hier relevant ist, kann aufgrund der Datenlage nicht geklärt werden. Berücksichtigt werden muss jedoch ebenso, dass sich in einer Schlägerei die Rollen auch verschieben beziehungsweise auch gleichzeitig vorhanden sein können. Zwar kann eine Person die Auseinandersetzung beginnen, am Ende jedoch die Person sein, die die größten Verletzungen davonträgt. Insofern ist die korrekte Festlegung, welche Person das Opfer und welche die/der Täter*in ist, häufig schwierig. Eine zweite Kombinationsmöglichkeit der Täter*innen-Opfer-Beziehung bezieht sich auf das Betroffensein und das Ausführen von Mobbing (also psychischer Gewalt). Hier wird davon ausgegangen, dass eigene Mobbingerfahrungen dazu führen, selbst andere Jugendliche auf die gleiche Art zu schädigen und ihnen psychische Gewalt anzutun. Diese Annahme lässt sich jedoch nicht bestätigen. Zwar zeigen sich signifikante Effekte in allen drei Klassen, die allerdings so schwach ausfallen, dass sie als nahezu irrelevant eingestuft werden müssen. Dies hängt auch damit zusammen, dass Mobbing im

5.3  Gewalt in den Klassen – qualitativ

207

Internet anonym ausgeführt werden kann, sodass das Opfer die Täter gar nicht kennt beziehungsweise kennen kann. Die zwei weiteren möglichen Konstellationen von Opfer und Täter*innen verknüpfen verschiedene Gewaltformen miteinander. Die erste Annahme bezieht sich darauf, ob die Viktimisierung durch physische Gewalt zu psychischer Gewaltanwendung führt. Die zweite Annahme fokussiert die Frage der physischen Gewaltanwendung in Abhängigkeit psychischer Gewalterfahrung. Die Ergebnisse sprechen gegen beide Annahmen. In keiner der drei Klassen zeigt sich eine Kausalbeziehung für diese Täter*innen-Opfer-Konstellationen. Eine kreuzweise Verbindung der beiden Gewaltformen muss somit verneint werden. Insgesamt kann festgehalten werden, dass sich Opfererfahrungen in unseren Daten lediglich bezüglich körperlicher Gewalt ursächlich auswirken. Das eigene Erleben von physischer Gewalt trägt folglich mit dazu bei, auch selbst zu körperlicher Gewalt zu greifen. Bemerkenswerterweise ist diese Verbindung bei Jugendlichen mit ungünstigen Lebensbedingungen am schwächsten ausgeprägt. Dies lässt darauf schließen, dass die Motivlage bei desintegrierten Jugendlichen eine andere ist. Denkbar wäre hier eine größere Willkür in der jugendlichen Gewaltanwendung, die weniger abhängig ist von bisherigen Gewalterfahrungen. Dagegen hängen körperliche Gewalthandlungen bei Schüler*innen der Klassen 2 und 3 stärker mit vorangegangen Opfererlebnissen zusammen. Diese stellen somit eine Art Vorbedingung dar. Folglich scheinen zufällige Begebenheiten als Auslöser für Gewalt bei integrierten Jugendlichen weniger bedeutsam als bei desintegrierten.

5.3 Gewalt in den Klassen – qualitativ 5.3.1 Klasse  1 In Schlägereien verwickelt waren alle qualitativ Befragten, die dieser Klasse zugeordnet wurden. Hierzu kam es bei einigen jedoch nur gelegentlich, während diese bei anderen mit größerer Regelmäßigkeit auftraten. I: Und wie viele Schlägereien hattest Du denn schon ungefähr, die ernster waren? J18W: Ähm … fünf. I: Aber sonst wahrscheinlich auch schon noch mehr, die nicht ganz so hart waren. J18W: Ja, so Spaß einfach so, so Geschubse und so. I: Und die ernsteren Dinge, in was für Situationen sind die entstanden?

208

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

J18W: Also durch Mobbing, früher in der Schule, weil ich so groß bin. Und dann so die anderen Sachen immer so Streitigkeiten wegen Freunde und so. I: Also was heißt das, wegen Freunden? J18W: So, ähm, eine Freundin … ähm, also eine Freundin von mir hat geweint wegen der Person und das hat mir nicht gefallen, weil sie wie eine kleine Schwester für mich ist, und dann bin ich da hingegangen und habe der eine Ansage gemacht und die hat halt frech geantwortet und dann hatte ich meine Aggressionen nicht mehr unter Kontrolle. I: Und was war da? J18W:  Schwere Körperverletzung. Eine Gehirnerschütterung, Kopfprellung und Bluterguss. I: Was hast Du da gemacht, dass das so weit ging? J18W: Ich habe die geschlagen (lacht). Nur mit Fäusten. Also runter gezogen, an den Haaren und so.

I: Wie viele Anzeigen hattest Du bis jetzt? J23M: Wenn ich jetzt zusammenrechne … also ich hatte letzte Woche noch einen Zeugentermin, da haben die mir die ganzen … haben mir auch gesagt, dass ich aus der Liste raus bin, weil ich war damals, ich habe viel Scheiße gebaut. Insgesamt habe ich 45 Anzeigen I: Und was war das? J23M: Schlägerei, Diebstahl, Raub, schwere Körperverletzung. Also alles war halt dabei.

I: Auch wenn Du keine genaue Zahl kennen wirst, was würdest Du sagen, wie viele härtere Schlägereien hattest Du bis jetzt? J39M: 50.

J37M: Pff … ich glaube, ich habe mich erst einmal im Leben geprügelt. Ja, das war auch was voll Bescheuertes eigentlich. Da war irgendwie so ein Typ aus meiner Klasse, keine Ahnung, der hatte irgendwie ein Problem mit mir, was weiß ich warum. Ja, und dann saß ich da mit Kollegen, mit meinen Klassenkameraden, dann kam der da hin und hat irgendwie gesagt: „Halt die Fresse!“ Und ich war am Handy schreiben so. Ich denke: „Was geht denn jetzt bei Dir ab?“ Ja, und dann der sich

5.3  Gewalt in den Klassen – qualitativ

209

i­rgendwie schlagen oder so, dann habe ich ihm halt auf die Fresse gehauen. Sah auch unschön aus bei ihm, aber (lacht) ja. Eigentlich schlage ich mich nicht. I: Also das hat dann nicht gereicht, den irgendwie ein bisschen wegzuschubsen? J37M: Nee, der wollte, ich hatte das Gefühl, der wollte auf die Fresse. I: Aber hast Du danach auch nicht gehört, was der wollte? J37M: Nee, der hat sich dann auch entschuldigt und so und meinte, ja, ich hätte nicht so ausrasten sollen und so, aber ich bin eigentlich nicht ausgerastet. I: Aber der war schon danach verletzt? J37M: Ja. Der sah richtig schlimm aus. Ich glaube Nase angeknackst und der hatte zwei blaue Augen. Wollte ich eigentlich auch nicht so, aber blieb mir nichts anderes übrig. Ich hasse das eigentlich auch so, wenn man sich schlägt so. Das bringt eh nichts. I: Also, Du wolltest quasi auch nach den ersten Schlägen aufhören, aber hast gemerkt, dass er nicht nachlässt? J37M: Ja, der hat dann halt nicht aufgehört und irgendwann lag der dann am Boden und stand dann erst nach zehn Minuten wieder auf. Gerade der letzte „Code“ von J37M – ebenso wie die quantitativen Ergebnisse – soll verdeutlichen, dass die Einstufung in Klasse 1 keineswegs damit gleichzusetzen ist, dass jemand durch physische Gewalt auffällig werden muss. Zwar stellte diese sowohl in den qualitativen und quantitativen Daten keine Ausnahme dar, war aber auch kein alltägliches Verhaltensmuster. Vor allem in dieser Klasse ist die Verbindung zu den Opfererfahrungen von Gewalt – und im Speziellen häuslicher Gewalt – von zentraler Bedeutung. Die Jugendlichen erachten Gewalt teilweise als relativ normal im zwischenmenschlichen Umgang in Konfliktsituationen. Andererseits kommt eine Bündelung sehr negativer Lebensumstände zusammen, die sich sowohl in diversen Aspekten der Klassenzuordnungen zeigt als auch im Erleben von Gewalt und sonstiger Misshandlung und Missachtung im Elternhaus. So wurden Jugendliche gleichzeitig in mehreren Lebensbereichen zu Opfern. J8M: Ich habe ein krummes Ohr, weil er mich mit einem Ohr aus dem Bett gezogen hat, als ich noch ein Säugling war. Er hat mein Ohr gepackt und hat so hochgezogen. Nichts anderes, nur das Ohr, und hat hochgezogen. Der hat noch nicht einmal unten angefasst, der hat nur das Ohr und dann richtig hochgezogen. Das Ohr war … also der Kopf war genauso. Und ich habe geschrien.

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5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

J18W: Es gab halt abends Stress und meine Mutter ist dann halt ausgerastet und hat meine Schwester geschlagen. Meine Schwester hatte eine Platzwunde. Dann habe ich sie genommen und dann sind wir zur Polizei gegangen. (…) I: Aber das wahrscheinlich nicht das erste Mal, dass Deine Mutter ausgerastet ist, oder? J18W: Ja, das ist jeden Tag passiert. Also es ist jeden Tag passiert, kann man sagen. I: Also Dir gegenüber auch oder nur bei der Schwester? J18W: Auch mir gegenüber.

I: Also mit Deiner Stiefmutter hat das ja nicht gut funktioniert. J25M: Ja. I: Und was mochtest Du an ihr nicht? J25M: Nur weil sie mich schlecht behandelt hat. I: Aber was hat sie denn zum Beispiel gemacht, was Dich gestört hat? J25M: Die hat auf jeden Fall die ganze Zeit versucht, mich fertig zu machen, wenn mein Vater nicht da war. I: Aber was zum Beispiel? J25M: Versucht, mir das Leben schwer zu machen. Für jede Kleinigkeit mich bestraft. Hausarrest oder Verbote halt eben. I: Hat sie Dich auch geschlagen? J25M: Ja, manchmal. In Bezug auf Mobbing gestand lediglich ein Befragter solches Verhalten ein und gab Spaß als Motiv an. Andere berichteten sogar, Mobbing klar abzulehnen und gegebenenfalls dagegen vorzugehen. I: Würdest Du denn sagen, dass Du auch mal wen gemobbt hast? J43M: Also ich habe halt schon früher welche gemobbt mit Kumpels aus der Klasse. I: Also dann auch Leute aus Deiner Klasse oder aus anderen Klassen? J43M: Nee, aus anderen Klassen. I: Also Jüngere oder aus dieser Parallelklasse? J43M: Parallelklassen. I: Warum habt Ihr das gemacht? J43M: Also, er war halt ein bisschen dicker als wir. I: Klar, aber das ist ja im Prinzip kein Grund.

5.3  Gewalt in den Klassen – qualitativ

211

J43M: Nee. Das war vor drei, vier Jahren. I: Jetzt bist Du ja schon etwas älter, könntest Du heute erklären, warum Du das getan hast? Ich meine, das mit dem Gewicht ist ja kein richtiger Grund, sondern es liegt ja eher an einem selbst, warum man das machen möchte. J43M:  Also, dass er halt oft angefangen hat zu weinen, das war halt das Lustige. I: Also dadurch hat man halt einfach Spaß gehabt, dass man gesehen hat, dass man jemanden zum Weinen bringen kann. J43M: Ja. J37M: Ich wurde nie gemobbt und habe auch nie irgendwen anders gemobbt eigentlich und so. Ja, wenn ich das irgendwie mal gesehen habe, auf dem Schulhof oder so, dann bin ich direkt da hingegangen und habe gesagt: „Hör auf, sonst passiert was!“, weil ich so was eigentlich gar nicht abkann. Ich meine, ich gehe ja jetzt auch nicht zu irgendjemandem hin, nur weil mir seine Fresse nicht gefällt, und haue dem dann eine rein oder sage: „Was bist Du denn für ein Assi?“, oder so. Ich meine, das ist ja sein Leben. Ich scheiße ja jetzt nicht jeden an, nur weil er so ist, wie er ist. Wie sich bereits bei der Gewalt zeigte, sind Opfererfahrungen in Klasse 1 relativ üblich. Während körperliche Gewalt eher zuhause erfolgte, erlebte man andere Delinquenz wie Mobbing erwartungsgemäß eher unter Peers. J18W: Ja, da wurde ich auch so gemobbt erst mit „Heimkind“, bla, bla. Und dann fand ich das halt auch nicht okay. Ich habe es mir erst gefallen gelassen, das war ja immer der Fehler. Ich hätte auch mal was anderes sagen können. Aber ich habe es mir immer gefallen lassen.

J43M: Zum Beispiel „mutterloses Kind“, oder so, oder „elternloses Kind“. I: Warum? J43M: Weil ich halt im Heim wohne und die denken dann, dass ich keine Eltern habe. J8W: Als ich noch auf der Hauptschule war, da habe ich gesagt: „Mama, ich möchte wechseln“, dann ein paar Tage später wurde mir Bescheid gesagt, dass ich wechseln darf. Da war ich natürlich glücklich (lacht),

212

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

weil in der Hauptschule da ging es richtig, richtig hart los. Ich war in der Pause gewesen, jeder hat mich beleidigt, jeder hat mich geschlagen. Hinterher war es einmal so weit in der Pause, dass sie sich, nur Kerle und vielleicht ein einziges Mädchen, dass sie so weit gegangen, und ich alleine, dass die mich einmal komplett im Kreis umzingelt haben und dann zugeschlagen haben. Ich alleine, weil ich stand hier und die anderen standen außen mir. Der eine hat zugeschlagen, der andere hat zugetreten, der eine hat mir eine Faust gegeben in die Rippen. Weitere Opfererfahrungen wurden nicht berichtet, d. h. entweder erfolgten keine oder diese waren eher irrelevant und spielten deshalb in den Berichten der Jugendlichen keine Rolle. Beim Mobbing könnte es wiederum ein Sampling-Artefakt, mangelndes Reflexionsvermögen oder ein Antwortverhalten in Richtung sozialer Erwünschtheit sein, da nur ein Befragter eigenes Mobbinghandeln berichtet. Denn auch in seinem Umfeld ist, wie die Aussagen zum erlebten Mobbing bestätigen, dieses durchaus präsent. Je nach Lesart der o. g. Berichte zum Erleben und Anwenden von körperlicher Gewalt kann jedoch argumentiert werden, dass Formen der Machtdemonstration und Konfliktregulation wie Mobbing in dieser Klasse nur ein mögliches Mittel darstellen und physische Gewalt deutlich unmittelbarer, direkter und kurzfristiger ist, wenn es beispielsweise um eine zeitnahe Vergeltung geht und keinen langfristigen Konflikt.

5.3.2 Klasse 2 Auffällig, möglicherweise aber ein Sampling-Artefakt ist, dass die Mehrheit der Jugendlichen in diverse Schlägereien verwickelt war. Erwartungsgemäß fallen hingegen Erzählungen bezüglich der großen Bandbreite am Aufkommen und an der Bereitschaft zu kämpfen aus. Einerseits gibt es Personen ohne physische Gewaltanwendung, die teils sogar zu schlichten versuchen, wenn Freund*innen um Unterstützung für eine größere Auseinandersetzung im Umfeld werben. I: Gibt es das denn bei Euch, dass Dich manchmal die Freunde rufen und sagen, dass Du die in Kämpfen unterstützen sollst? J26M:  Nein. Doch, manche, aber ich will nicht mitmachen bei so einer Situation. I: Aber die fragen Dich dann schon oder wissen die inzwischen, dass Du nicht mitmachst?

5.3  Gewalt in den Klassen – qualitativ

213

J26M: Die fragen. Dann sage ich: „Komm erst mal hoch, dann reden wir!“ Und dann gucke ich erst mal und dann sage ich, ob ja oder nein. Und dann fragen die mich ein paar Sachen so. I: Aber dadurch bist Du jetzt auch kein Außenseiter und dass die Witze über Dich machen. J26M: Nein. Eigentlich … mache ich auch manchmal mit, aber die wissen, dass ich das nicht mag, da mitzumachen. Andererseits gibt es kampferfahrene Jugendliche, die sich teils deutlich mittels Gewalt zu profilieren versuchen. I: Wie häufig ungefähr hast Du denn generell Kämpfe? J21M: Tja, ich prügele mich schon sehr oft. Weiß ich nicht, ich prügele mich halt voll oft. Mindestens dreimal pro Monat oder so. I: Und das ist dann meistens mit Leuten, die nicht Deine Freunde sind. J21M: Ja. I: Was sind das dann für Leute? J21M: Keine Ahnung, so Coole oder manche sind dick oder manche sind zu dünn, manche sind groß. I: Aber provozieren die eher Dich oder provozierst Du die? J21M:  Die machen irgendwie diese komischen Blicke oder keine Ahnung, irgendwas, was richtig abfuckt. I: Aber Du provozierst ja wahrscheinlich auch manchmal andere? J21M: Ja, ich werde meistens provoziert. Ich stelle mich häufig da hin und wenn ein dummer Spruch kommt, dann haue ich den.

I: Und was würdest Du sagen, wie viele Schlägereien Du ungefähr hattest? J22M: Über 30 kann man sagen. Das waren schon viele. I: In welchem Alter ging das los? J22M: Mit 13 Jahren hat es angefangen. I: Gab es dafür irgendeinen Grund, warum es da losging? J22M: Ich weiß nicht. Ich glaube, da wollte man halt bei den Freunden zeigen, dass man cool ist und so. I: Aber vorher hattest Du wahrscheinlich auch schon kleinere Kämpfe, oder? J22M: Ja, das ja. Da wurde es härter. I: Aber das war vor allem, um die Freunde zu beeindrucken? J22M: Ja.

214

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

I: Haben die Dir gesagt, dass Du das machen sollst, oder war das Deine eigene Idee? J22M: Die haben mich auch öfter weggezogen und gesagt: „Hör auf, J22!“, aber ich bin ein Sturkopf. Wenn ich aggressiv bin und jemanden schlagen will, dann tue ich es auch. Dann kann mich niemand aufhalten, deswegen, das ist das Problem bei mir. Provokationen sind, wie sich hier schon zeigte, ein zentrales Initiationselement ernster Kämpfe. Von großer Bedeutung ist dabei die Familie, aber auch die Integrität der eigenen Person kann relevant sein. Wichtig ist, dass beide Geschlechter vertreten sind. I: Und Du sagst ja, dass Du mit der Schwester öfters Streit hast, aber gibt es sonst Schlägereien oder Kämpfe? J36W: Ja, ich habe in der Schule voll oft Schlägereien mit Jungs. Das ist halt so, wenn das Wort Hurentochter fällt, dann ziehe ich meinen Schuh aus und werfe die erst einmal am Kopf ab. Das macht voll Spaß. I: Und das passiert oft? J36W: Ja. I: Und das ist dann ernst oder nur Spaß? J36W: Nein, das sind manchmal ernste und manchmal nicht ernste. I: Und gibt es sonst noch manchmal Kämpfe oder nur das? J36W: Nein, nur so Sachen Interessant ist an diesen beiden Fällen auch, dass diese – wie weitere Jugendliche – im Umfeld eines Jugendtreffs interviewt wurden, wo in den gemeinsamen Interaktionen ständige Beleidigungen, auch als Hurensohn und Hurentochter, vorkamen. Neben Gesprächen und spielerischen Aktivitäten war ein permanenter Wettbewerb um Coolness, den besten und frechsten Spruch virulent. Eine andere Spielart des Umgangs mit Beleidigungen, die vor allem den Initiationscharakter bestimmter Äußerungen zeigt, ist deren „Unausweichlichkeit“, d. h. der Gruppendruck, den diese innehaben, sodass es vor Peers schwerfällt, diese von Dritten einfach zu tolerieren oder zu ignorieren. Dies führt so weit, dass sich Freund*innen teils einen Spaß daraus machen, von vermeintlichen Beleidigungen zu berichten, um Personen in Konflikte zu verwickeln, in denen sich die Gegenseite zumindest erklären muss.

5.3  Gewalt in den Klassen – qualitativ

215

J10M: Bei uns gibt es auch zum Beispiel, wenn man sich so beleidigt, erst fängt das so … „Du bist behindert“, sagt man, dann sagen die das und das. Danach wird das nur schlimmer und eskaliert direkt zum Kampf eigentlich. Erst beleidigt man, dann sagen die: „Boah!“, das und das: „Boah, hast Du das gehört?“ Dann sagen die: „Ja, schlag den mal!“ Darum. I: Ja, also dass andere sagen, der hat das und das gesagt und dann sollst Du den schlagen? J10M: Ja, der hat das und das. Jetzt nicht unbedingt schlagen. Der sagt: „Boah, guck mal, was der gesagt hat?“ Dann bist du unter Druck, dann sagst du: „Boah, was soll ich jetzt dagegen sagen?“, und so. Dann sagst du das zurück. Dann sagt der auch, dann wird der wütend. I: Aber versuchst Du dann herauszufinden erst einmal, ob der das wirklich gesagt hat? J10M: Ja, ich frage den das selber zum Beispiel. I: Hast Du es dann schon mal erlebt, dass jemand gesagt hat: „Das habe ich gar nicht erzählt“, dass die Freunde das nur erfunden haben? J10M: Das war auch schon mal so, ja. Dann hat der gesagt: „Ich wollte nur gucken, ob Du was machst.“ Ähnlich wie bei den Tätererfahrungen zeigt sich bei den Opfererfahrungen eine große Bandbreite. Gerade diejenigen, die teils hart austeilen, müssen mitunter auch einstecken, da härtere Kämpfe oft nicht mit deutlich unterlegenen Gegner*innen ausgetragen werden. In einigen Opfersituationen ist man auch richtig unterlegen beziehungsweise reflektiert diese eher als Opfererfahrungen und nicht als harte Auseinandersetzungen. I: Was war denn dabei so der härteste Kampf? J10M: Der härteste … da habe ich auch kassiert. Aber ich wusste auch, dass ich kassieren würde. Das war eigentlich ein Kollege, wir konnten uns nicht verstehen. Ich habe gesagt das und das. Der wusste auch, dass ich sagen würde, ich werde von dem kassieren, weil das Sache ist. Der hat halt mehr drauf. Wusste ich auch, der ist dicker und so. Da habe ich gesagt Okay. Da hat der selber gesagt: „Okay, Du hast eh schon verloren. Das reicht mir schon.“ Dann haben wir uns wieder vertragen.

I: Und hattest Du auch schon Verletzungen? J21M: Ja, ich war vor kurzem im Krankenhaus (lacht).

216

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

I: Was hattest Du da? J21M:  Gehirnerschütterung und war am Kiefer verletzt. Einmal hatte ich auch das, es sind drei auf mich gekommen, drei, und dann musste ich ja versuchen, mich zu wehren. Ich lag am Boden, ich habe Tritte abbekommen. Irgendwann kam dieser Ausrastermoment von mir einfach: „Warum wollen drei mich verletzen?“ Dann bin ich aufgestanden und habe so was von wild um mich geschlagen, ich habe irgendwie nur noch schwarz vor Augen gesehen, ich habe alles gehauen, was hier vor mir war oder so neben mir. Da habe ich nur noch zugehauen. I: Und dann am Ende gegen drei gewonnen? J21M: Ja, zum Glück. Bedeutsam an Klasse 2 ist zudem die deutliche Mischung von Opfererfahrungen unter Peers sowie im häuslichen Kontext, die in Klasse 3 kaum vorkommt und in Klasse 1 von großer Relevanz ist. Im folgenden Beispiel eines Mädchens hat die häusliche Problematik sogar wiederholt zu Heimunterbringungen geführt, auch wenn sie zum Zeitpunkt des Interviews im Elternhaus wohnte. I: Aber würdest Du sagen, dass Du aggressiv bist? J29W: Ja, voll oft. Zu Hause. Wenn meine Mutter einfach schreit, dann weine ich, dann habe ich Emotionen. Ich muss dann immer irgendwie weinen. I: Also es ist halt ein schwieriges Verhältnis mit der Mutter? J29W: Ja, früher war das sehr schlimm. Da wurde ich immer geschlagen und so. Da war ich fünfmal im Heim. I: Aber Du bist immer wieder zurück nach Hause gekommen? J29W: Ja, ich war mal für acht Monate da. Das war so ein bisschen schlimm da. Immer wenn ich abgehauen bin oder so, dann kommt immer die Polizei. Oder wenn man rausgeht, ohne Bescheid zu sagen, dann kommt die Polizei hinter einem her. Die suchen Dich überall. Da bin ich abgehauen, einen Tag lang, ne, da sind die zu mir nach Hause gekommen, haben meine ganze Wohnung durchsucht und so. Das ist so aufregend, das nervt voll. Aber das war auch gut da. Du hast dein eigenes Zimmer und Bett, du kriegst Taschengeld, 60 Euro pro Monat. I: Aber Du wolltest dann auch immer zu Deiner Mutter zurück? J29W: Ich wollte immer zurück, weil ich habe sie so vermisst. Und dann habe ich geweint und hatte Emotionen. Aber das hat nichts geändert, das ist immer wieder passiert. Und jetzt hat sich das geändert. I: Hat die denn Deine Geschwister auch geschlagen? J29W: Nur mich.

5.3  Gewalt in den Klassen – qualitativ

217

I: Warum nur Dich? J29W: Ich weiß nicht. Das war schon immer so. Wirklich, ich weiß nicht. Sie meint, meine Geschwister sind anständig. I: Also Du hast Deine Mutter nur geärgert auf irgendeine Art und sie war genervt von Dir, aber an den anderen hat sie nichts gestört. J29W: Ja. Ich habe mal 2,50 Euro von meiner Mutter geklaut … das waren 2,50 Euro! Da hat die mich richtig mit dem Gürtel geschlagen, da hatte ich so voll fette Flecken. Das hat so wehgetan. Das war so richtig fett, das war ekelhaft, das war an meinem ganzen Körper. Und dann hat mich das Jugendamt öfter raus geholt. I: Wer hat denn dann entschieden, dass Du manchmal aus der Familie raus kamst? War das das Amt oder Du oder wer anders? J29W: Ja, Jugendamt. Aber dann ist es immer besser geworden. I: Und wie haben die das erfahren? J29W: Von den Nachbarn oder ich habe auch mal da angerufen, bei der Polizei. Einmal, ja. Teils fehlendes Problembewusstsein, aber auch starke Ablehnung aus moralischen Gründen fand sich grundsätzlich bei Mobbing. J24W: So ein bisschen ärgern vielleicht. Aber nichts Großartiges.

J27M: Da gibt es bei uns in der Klasse auch viele, denen das passiert. J29W:  Ich mobbe auch keine anderen. Ich finde das einfach nur … Und heute dieses Cybermobbing, da wollen sich Leute umbringen, weil sie gehackt wurden. So ein Mädchen. Und es hat sich schon mal jemand umgebracht. I: Aber Ihr fandet das alles gar nicht so schlimm? J42M: Ja, das … wenn man das so von … wenn man das so selber macht, dann merkt man das gar nicht so Bezeichnend für fehlendes Problembewusstsein ist auch der rassistische Spruch, der von einer Jugendlichen plötzlich während eines Interviews fiel, als ein dunkelhäutiger Jugendlicher auf einem Fahrrad vorbeifuhr. J36W: (lacht) Der fährt schwarz (lacht). Bedeutsam ist hier die Beiläufigkeit und mangelnde Reflexion da sie zuvor berichtete, Mobbing und Beleidigungen abzulehnen. Hierin deutet sich somit

218

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

sowohl der schon o. g. Wettbewerb um den frechsten und besten Spruch an, was hier dem Interviewer gegenüber probiert wurde, als auch eine fehlende oder ignorierte Empathie, dass derartige Kommentare verletzend sein können, wenn man selbst betroffen ist. Berichte von Opfererfahrungen erstreckten sich in dieser Gruppe neben den o. vg. physischen Gewalterlebnissen auf Mobbing. Zwar gab es einerseits diejenigen, die auch als Täter*innen von Gewalt in Erscheinung traten beziehungsweise als sehr durchsetzungsfähig einzustufen sind, die so etwas gar nicht mit sich machen ließen. J21M:  Ich? Gemobbt? Der versucht hat, mich zu mobben, den habe ich geschlagen. J34M: Es gibt Leute, die einfach nerven und so. Dann sagst du: „Ja, es reicht jetzt!“, und so. Dann machen die weiter, weiter, weiter. Dann gibt es einen kleinen Kampf und dann ist gut. Weil wenn du nichts machst, denken die, dass du schwach bist, aber auf einmal gibst du dem eine. Ja, dann hören die auf, weil die wissen schon das, dass du damit keinen Spaß machst. Wenn du immer ruhig bist und nichts dagegen machst, dann machen die das immer wieder mit dir. Andererseits gab es starke Mobbingerfahrungen unter Gleichaltrigen, wo sich in Anlehnung an J34 zeigt, wie wichtig es sein kann, Widerstand zu zeigen, um solche Delikte dauerhaft abzuwenden. J24W: Ich war klein und fett und habe immer so mit Schnappatmung geredet, mit so stoßartigem Einatmen. I: Hatte das mit dieser Grippe zu tun? J24W: Nein, nein, nein, das ist dauerhaft, das habe ich eigentlich immer noch. Und ich weiß nicht, ich wurde, das war vor einem Jahr vielleicht, in der Klasse … nein, ein Jahr ist zu viel, dreiviertel Jahr, habe ich vorne in der Klasse gestanden und sollte was erzählen, und mir fällt das nicht auf, wenn ich einatme, ja, so stoßartig. Und ich habe das anscheinend gemacht und das ist mir nicht aufgefallen und die ganze Klasse hat das so dämlich nachgeäfft, die haben alle so um mich rum gestanden, haben das so dämlich nachgeäfft und ich habe dann halt auch noch angefangen zu weinen. Die haben sich alle gut gefühlt. Richtige Wichser! Ja.

5.3  Gewalt in den Klassen – qualitativ

219

J40M: Ich war einfach ein bisschen zu dick für die. Und auch durch meine Leistenprobleme konnte ich nicht den ganzen Sport mitmachen. So fing das halt an. Ich war halt früher nicht so einer, der gesagt … ja, okay, ich nehme das dann auf mich, so einer war ich früher. I: Also waren das dann eher so Kleinigkeiten, die man in dem Alter sucht, wenn man gemein sein will. J40M: Genau. I: War das dann so stark, dass es Dich auch belastet und gestört hat? J40M: Ja, ich habe einmal die Klasse gewechselt deswegen. I: Aber an der gleichen Schule? J40M: Ja, ich habe dann wiederholt, weil ich auch im Krankenhaus in diesem Jahr war. Da habe ich dann auch wiederholt. Das Mobbing war auch auf dieser Gesamtschule sehr stark und so zum Ende hin wurde ich dann auch einmal zusammengeschlagen deswegen. Ich hatte dann auch eine Gehirnerschütterung und dann habe ich gesagt: „Okay, dann habe ich noch einen Grund, die Schule zu wechseln. Nehme ich einfach jetzt die andere.“

5.3.3 Klasse  3 Die Mehrheit der Befragten hatte keine Schlägereien und lehnte physische Gewalt eher ab beziehungsweise schreckte vor dieser als Mittel zur Durchsetzung von Interessen zurück. In den übrigen Fällen bestand Gewaltbereitschaft meistens bereits im Grundschulalter und hat mitunter mit dem Wechsel auf eine weiterführende Schule an Intensität nachgelassen. Schwere Gewalttaten bilden eine Ausnahme. J7M: Also die haben sich gegenseitig verabredet, und dann hat ein Kumpel von mir mich auch gerufen, aber ich wusste ja nicht, dass die kämpfen. Der hat gesagt: „Komm raus!“, dies, das. Dann bin ich rausgegangen, dann sagt der: „Wir wollen kämpfen, ich und der“, dann sind wir alle mitgegangen. I: Und war das dann brutaler als in der Schule? J7M: Ja, ist brutaler. I: Aber dann nur mit den Fäusten oder auch mit Waffen? J7M: Nein.

220

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

J12M: Und das war auch so einer, der immer provoziert hat, der war aus der Parallelklasse, wir waren aber im Förder. Dann war ich unten, der wollte mir da eine geben. Ich habe den dann gegen die Wand geschubst und dann, ich weiß nicht mehr, wie das ganz genau passiert ist, dann wurde ich einfach auf jeden Fall geschubst. Dann ich mit meinem Kopf gegen dem seine Nase, dann war die Nase oder so gebrochen, dann haben die Eltern Anzeige erstattet, obwohl der Sohn von denen gesagt hat: „Das war eigentlich meine Schuld.“ (…) Wir kannten den nicht. Da hat der auf einmal angefangen zu provozieren. Der ist auch nicht weggegangen. Wir haben gesagt: „Geh weg!“ Und dann hat der meinen Kollegen in den Schwitzkasten genommen, dann hat mein Kollege den auf den Boden geschubst, hat sich drauf gesetzt. Ich habe dann von oben gedrückt, damit mehr Gewicht drauf ist. Und dafür hat der dann eine Anzeige gemacht. Neben eigener Gewalt waren Opfererfahrungen von großem Interesse und zeigten sich auch mehrfach in Klasse 3. Häusliche Gewalt spielt hierbei nach Angaben der Befragten jedoch eine deutlich geringere Rolle als in der Schule beziehungsweise auf der Straße. J2M: Da bin ich mal da oben aus der Bahn gegangen, da war ich in X1 (Nachbarstadtteil), da sind irgendwie voll viele auf mich draufgegangen. I: Aber da kanntest Du keinen von, da hast Du auch keine Ahnung gehabt, wer die sind? J2M: Nein. Also da waren sieben Stück auf mich drauf. Ich bin froh, dass ein paar Kollegen mich dabei noch gesehen haben, die auch noch da helfen kamen. J31M: Als Kind ein paar Male Schläge, aber nicht stark. Das ist aber im Dorf normal. Das war aber nicht viel. Das war auch nur eine Ohrfeige oder so. Wie die folgende Sequenz zeigt, ist oftmals in Kämpfen unter Jugendlichen nicht eindeutig zu differenzieren, wer am Ende die/der Täter*in und wer die/das Opfer sind/ist. Klarer ist dagegen, wer angefangen hat und wer angegriffen wurde beziehungsweise wer am Ende wie verletzt ist, da sich auch einige Jugendliche in Klasse 3 durchaus zu wehren wussten. J13M: Also wir waren hier unterwegs in X1 (Stadtteil des Interviews) und dann hat der mich so, ich bin dann so vorbeigelaufen so und dann hat der so

5.3  Gewalt in den Klassen – qualitativ

221

mich weggeschubst, dann habe ich mich umgedreht, habe den gefragt, was mit dem los ist und dann wurde der auf einmal voll frech und so und dann hat der mir eine Backpfeife gegeben. Dann habe ich dem eine Faust gegeben und dann haben wir uns mitten auf der Straße gekloppt. Dann hatte der eine gebrochene Nase, äh, die am Bluten gewesen ist. Dann hatte der hier oben auf, am Bluten. Und Jochbein hatte der geprellt und ich hatte Nase am Bluten, über dem Auge am Bluten und hier hatte ich blau überall. Dies gilt auch bezüglich der „Verteidigung“ der Familie, die auch in Klasse 3 zum Impuls für Gewalt werden kann. J14M: Also ich mit meinen Freunden kämpfen manchmal aus Spaß, auch jetzt in der Oberschule. Aber in der Grundschule war es ernst gemeint. Also die fangen dann an mit, die Familie zu beleidigen. Und dann wurde ich provoziert und habe die geschlagen sozusagen. (…) Ja, wenn die mich dann beleidigen, äh, ja, höre ich weg, aber wenn es schlimme Beleidigungen sind, greife ich ein also. Zum Beispiel wie letztens, mein Freund hat mich, äh, hat meine Mutter beleidigt, vor einem halben Jahr oder so, und dann warf er Steine nach mir, dann habe ich ihn geschlagen. Insgesamt kann physische Gewalt also auch unter den relativ guten Lebensbedingungen in Klasse  3 auftreten und scheint eher mit spezifischen Eskalationsdynamiken in einer Wohngegend beziehungsweise an einer Schule zusammenzuhängen. Eine Voraussetzung ist, dass die Jugendlichen bereit sind, sich auf Provokationen einzulassen, beziehungsweise dass sie durch aggressive andere Jugendliche angegriffen werden, sodass eine Verteidigung notwendig wird. Keiner der Jugendlichen aus dieser Klasse gab an, andere zu mobben. Hingegen wurde teils von Opfererfahrungen in Form von Mobbing berichtet. J4M:  Bis zur Vierten war ich normal, und dann halt hat das angefangen mit meiner Lehrerin, also die hat mich … also was heißt die hat mich provoziert, sondern die hat mich fertig gemacht damals sogar, wegen meinem Körpergewicht halt, und irgendwann konnte ich das auch nicht mehr für mich halten und so. Dann bin ich da ausgerastet. Also dann habe ich die beleidigt und hin und her. Und ja, dann auf der Fünften kam ich dann da auf der Schule. (…) Auch Schüler haben mich da geärgert wegen meinem Übergewicht. Aber das hat dann auch ­irgendwann aufgehört, bis die gemerkt haben, dass mich das gar nicht mehr interessiert.

222

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

J11W: So wenn jetzt zum Beispiel jemand zu mir gehalten hat, dann war das zwei, drei Wochen später nicht mehr so, weil dann so viele Argumente gegen dich kommen, wo die eine Person dann sagt: „Ja, ich habe jetzt keinen Bock mehr, die ganze Kacke mit abzubekommen. Ich mache Dich dann auch mal lieber fertig“, so. Das ist ja einfacher, als irgendwas abzukriegen. (…) Ja, meiner Mama habe ich das halt schon erzählt. Nur diese Angst war halt da, wenn man sagt: „Ja, Mama, mach mal was!“, dass die dann zur Schule geht und die dann wieder einen Grund haben, auf dich einzuhacken: „Äh, Du holst Deine Mutter!“, und so was. I: Das hätte eh nichts verändert, oder? J11W: Ja, das hätte wahrscheinlich alles nur noch schlimmer gemacht. Es dürfte ein Sampling-Artefakt, mangelndes Reflexionsvermögen oder ein Antwortverhalten in Richtung sozialer Erwünschtheit sein, dass kein eigenes Mobbinghandeln berichtet wurde. Immerhin bestätigen die Aussagen zum erlebten Mobbing, dass dieses auch in der Lebenswelt der Klasse 3 kein Fremdwort ist. In Gruppen mit wenig physischer Gewaltausübung könnte dieses sogar anschlussfähiger sein als körperliche Varianten der Machtdemonstration und Konfliktregulation.

5.4 Delinquenz in den Klassen – quantitativ Als Ergänzung zu den beiden Hauptkategorien von Gewalt, physisch und psychisch, wurde weiteres deviantes Verhalten in Form von neun verschiedenen Delikten abgefragt. Abschn. 5.1.1 gab bereits Aufschluss über diese Formen abweichenden Verhaltens in der quantitativen Gesamtstichprobe, um einen allgemeinen Zugang zu bieten. Der Vergleich mit diesen Ergebnissen vermittelt einen guten Eindruck davon, wie sehr die jeweiligen Klassen von der Gesamtstichprobe abweichen. In diesem Abschnitt soll es nun darum gehen, einen Blick auf die verschiedenen Delikte bei gleichzeitiger Differenzierung in die drei Klassen zu werfen. Tab. 5.4 gibt Aufschluss darüber, mit wie vielen Prozent die Häufigkeiten jeweils in den drei Klassen vertreten sind. Es ist zu erkennen, dass die Zellen bis auf wenige Ausnahmen stets das gleiche Muster aufweisen, welches die bisherigen Ergebnisse auch im Bereich des nicht gewalttätigen delinquenten Verhaltens unterstützt. Damit ist gemeint, dass Klasse 3 Werte aufweist, die, verglichen mit den anderen Klassen, ein geringeres Niveau delinquenten Verhaltens ausdrücken. Betrachtet man z. B.

5.4  Delinquenz in den Klassen – quantitativ

223

das Minimum („nie“) und das Maximum („sehr oft“) der Antwortskala, sieht man, dass Klasse 3 über alle erfragten Delikte hinweg stets die höchsten Werte für „nie“ und die niedrigsten Werte für „sehr oft“ hat und diese mit jeder Klasse abnehmen („nie“) beziehungsweise zunehmen („sehr oft“). Die bisher herausgearbeiteten sozialen Konstellationen (vgl. Abschn. 4.3.3–4.3.5, 4.4 und 5.1–5.3) drücken sich damit auch im delinquenten Verhalten abseits von der zuvor diskutierten physischen und psychischen Gewalt aus. Die Auswertung in Abschn. 5.1.1 hat gezeigt, dass die beiden schwerwiegenden Delikte des Einbruchs und des Verkaufs illegaler Drogen die geringste Verbreitung unter allen befragten Jugendlichen aufweisen. Bei differenzierter Betrachtung bleibt dieses Bild erhalten. Es zeigt sich jedoch, dass Klasse 3 nach oben (98 %) und Klasse 1 deutlich nach unten (83 %) mit der Häufigkeit „nie“ abweicht. Und auch Klasse 2 liegt unter dem Wert der Gesamtstichprobe und verweist damit auf eine höhere Häufigkeit von Einbrüchen als der Stichprobenwert. Die Gegenkategorie „sehr oft“ zeigt, dass die Werte besonders in Klasse 1 vom Gesamtwert abweichen. Während insgesamt etwas mehr als 1 % angab, „sehr oft“ eingebrochen zu sein, erhöht sich dieser Wert auf knapp 5 %, wenn man ausschließlich Klasse 1 betrachtet. Für den Verkauf von illegalen Drogen mit der Häufigkeit „sehr oft“ zeigt Klasse 1 7 % im Vergleich zu den 2 % der Stichprobe. Generell ist festzuhalten, dass sowohl Klasse 2 als auch Klasse 1 in der Einzelbetrachtung bei der Antwortoption „sehr oft“ stets höhere Werte als die der Gesamtstichprobe zeigen. Mit der Ausnahme des Wertes von Klasse 2 beim Delikt Einbruch gilt dieser Befund umgekehrt auch für die Antwort „nie“. Das heißt, dass die Klassen 2 und 3 dort stets im negativen Sinn von der Gesamtstichprobe abweichen und niedrigere Werte zeigen. Weiterhin hervorzuheben ist das illegale Laden von Dateien aus dem Internet, welches offenbar als Kavaliersdelikt wahrgenommen wird. Das drückt sich in den vergleichsweise niedrigen Werten der Ablehnung aus, die mit etwa 63 % für Klasse 3 am höchsten ausfallen. Verglichen mit den anderen Delikten sind die Differenzen zwischen den Klassen recht gering, sodass die Klassen 1 und 2 mit 53 % und 48 % folgen. Die Ausprägung „sehr oft“ ist mit etwas mehr als einem Drittel der Personen aus Klasse 1 mehr als dreimal so hoch wie in Klasse 3. Besonders starke Unterschiede zwischen den Klassen zeigen sich bei der Frage zum Schule schwänzen. Nur etwas mehr als die Hälfte der Personen in Klasse 1 gibt an, dies nie in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung getan zu haben. Dagegen geben ca. 86 % der Schüler*innen aus Klasse 3 an, im gefragten Zeitraum nie die Schule geschwänzt zu haben. Die Antwortoption „sehr oft“ haben die Befragten der Klasse 1 etwa 13-mal häufiger angegeben als Klasse 3 und beinahe dreimal häufiger als Klasse 2. Das Verletzen der Schulpflicht ist damit ein deutlich ausgeprägtes Phänomen in Klasse 1.

224

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

Tab. 5.4   Delinquenz in den Klassen Wie oft ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, dass Du …

Nie

Selten (ein- oder zweimal)

Oft (drei- bis neunmal)

Sehr oft (zehnmal und häufiger)

Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 Gegenstände 53,8 63,2 82 von anderen oder Gebäude zerstört oder beschädigt hast (auch Graffiti ist gemeint)?

26

23,2 15,2 8,7

8,9

1,7

11,6 4,6

1,1

70,1 79,9 94,8 16,7 12,5 4 jemanden „abgezogen“ hast?

4

4,6

0,7

9,2

3

0,6

68,2 80,7 95,8 15,6 13,2 3,4 jemanden bedroht hast, damit sie oder er das tut, was Du willst?

8,1

3,7

0,2

8,1

2,4

0,6

62,2 79,9 91,7 18,6 12,4 6,5

8,7

4,3

1,1

10,5 3,4

0,7

4,6

1,5

0,4

4,6

1,9

0,3

13,2 7,6

2,7

15,5 5,5

1,2

etwas gestohlen hast?

83,2 91,4 97,9 7,5 irgendwo eingebrochen bist (z. B. in ein Geschäft, Wohnhaus, ein Auto oder einen Automaten)? den ganzen Tag die Schule geschwänzt hast?

5,2

1,3

52,9 67,4 86,3 18,4 19,5 9,8

(Fortsetzung)

5.5  Delinquenz in den Klassen – qualitativ

225

Tab. 5.4   (Fortsetzung) Wie oft ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, dass Du …

Nie

Selten (ein- oder zweimal)

Oft (drei- bis neunmal)

Sehr oft (zehnmal und häufiger)

Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 67,8 77,7 91,3 9,2

8,9

4

7,5

6,7

2,1

15,5 6,7

2,7

84,5 90,8 97,6 4,6 illegale Drogen an jemanden verkauft hast?

3,9

1,1

4

2,3

0,6

6,9

0,8

9

10,2 34,5 19,8 11,2

illegale Drogen genommen hast?

48,3 52,9 62,7 10,3 18,3 15,9 6,9 Dateien illegal heruntergeladen hast?

3,1

5.5 Delinquenz in den Klassen – qualitativ 5.5.1 Klasse  1 In dieser Klasse zeigten sich hauptsächlich Diebstähle, aber auch Raubdelikte und Sachbeschädigungen. Diese ereigneten sich teils aus Langeweile und „Geldnot“ und sind keine zentralen Verhaltensmuster. I: Hast Du sonst schon mal etwas Verbotenes getan, wofür man angezeigt werden kann? J37M: Ja, ich glaube da war ich zwölf oder 13. Da sind wir mal in so einen Drogerieladen gegangen mit zwei anderen Freunden und, ja, da haben wir halt jeder eine Schachtel Kippen eingesteckt und so. Ja, wurden wir halt erwischt, aber haben nur gesagt: „Wir machen es nie wieder“, und so. Und eigentlich dann auch nicht mehr.

226

5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

I: Und das sollte dann so eine Art Mutprobe sein oder hattet Ihr nur kein Geld? J37M: Ja, so ungefähr. Wir hatten halt nicht so viel Kohle und so, klar, mit zwölf, 13, da hast du noch nicht so viel Geld und so. Dann dachten wir halten: „Ja, okay. Kannst du ja mal probieren“, und so.

I: Hast Du sonst schon irgendwelche Sachen gemacht, die verboten sind beziehungsweise wofür man angezeigt werden kann? J43M: Also ich habe jetzt schon hier Feuerlöscher geklaut und bin auch in Tiefgaragen eingebrochen und habe dort mit Feuerlöschern rumgespielt. I: Was hast Du mit den Feuerlöschern hier gemacht? J43M: Ich habe die halt alle entleert und in den Wald geschmissen. I: Warum? Einfach so aus Spaß? J43M: Ja. (…) I: Hast Du sonst noch andere verbotene Dinge getan? J43M: Ich habe auch früher Roller geklaut. I: Um dann damit selbst zu fahren? J43M: Ja. I: Und ist das schwer? J43M: Also mit einem Schraubenzieher kann man das einfach machen. Die Drogenerfahrungen der Befragten der Klasse 1 reichen von genereller Ablehnung von Drogen bis hin zu gelegentlichem Konsum legaler und illegaler Drogen, hierbei jedoch ausschließlich Cannabis. Insgesamt neigen die Befragten der Klasse 1 trotz einer Bündelung eher negativer Lebensereignisse und -bedingungen nicht in besonderem Maße zu weiteren Formen der Delinquenz, da auch für sie beispielsweise solche aus dem Bereich der Vermögensdelikte kaum relevant zu sein scheinen. Ein Probierverhalten bezüglich Drogen gibt es auch hier, welches wiederum als jugendtypisch zu bezeichnen ist, aber kein zentrales Delinquenzmuster darstellt.

5.5.2 Klasse 2 Bei den weiteren Delinquenzformen zeigt sich in dieser Klasse eine relativ große Verbreitung von Diebstählen, die nicht wenige Befragte angaben. Sachbeschädigungen gab es in ein paar Fällen sowie auch unerlaubten Waffenbesitz.

5.5  Delinquenz in den Klassen – qualitativ

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Zu erwähnen ist zudem ein sexueller Missbrauch an einer Halbschwester, über dessen Ausmaß und Form der Jugendliche jedoch nicht konkret sprechen wollte. Diebstähle sind zwar bewusste Verbrechen, werden jedoch vor allem durch Entdeckung und Bestrafung problematisch und weniger durch ihre Unrechtmäßigkeit, was gegebenenfalls auch daran liegen könnte, dass vorzugsweise „gesichtslose“ Opfer, d. h. Unternehmen geschädigt werden. Gerechtfertigt werden diese zudem über „Geldnot“. I: Hast Du denn schon mal irgendetwas Verbotenes getan, wofür Du eine Anzeige bekommen hast oder hättest bekommen können? J29W: Ich habe geklaut, fünfmal oder so. Jetzt habe ich eine Anzeige. Jetzt muss ich vermutlich zum Gericht, aber ich habe noch nicht den Brief bekommen. Aber ich muss auf jeden Fall vor Gericht. Entweder habe ich Sozialstunden oder ich muss in den Jugendknast. I: Und warum hast Du geklaut? J29W: Na, ich hatte kein Geld. Das waren aber nur Kleinigkeiten im Supermarkt.

I: Du sprachst gerade von den Kämpfen, aber hast Du sonst schon mal was gemacht, was verboten ist, wofür man angezeigt werden kann? J36W: Ja, ich habe geklaut. Das war bei C&A. Wenn wir so zu House-Partys gehen, da brauchen wir Anziehsachen, ne, und dann fragen wir immer die Eltern: „Kriegen wir 20 Euro?“, oder so. Dann sagen die immer, da geben die 2,50 EUR und sagen: „Teil Dir das für die Woche ein!“ (lacht) Und dann brauchen wir Sachen und dann gehen wir einfach so klauen. I:  Aber in den Geschäften ist dann doch immer so ein Ding an der Kleidung, das von der Kleidung entfernt werden muss. J36W: Ja. I: Wie schaffst Du das denn dann, da etwas rauszuholen, ohne dass Du erwischt wirst? J36W: Also, guck, wir gehen in die Kabine, dann reißen wir das ab und ziehen das einfach an oder stecken das in die Tasche. Dann tut man andere Sachen drüber und tut so, als wäre nichts. Aber bei New Yorker sollten Sie das nicht machen, nee!

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I: Und wenn Du nur 30 Kämpfe hattest, aber Du hast 35 Anzeigen, wie passt das? J22M: Ja, ist auch wegen Diebstahl, Sachbeschädigung. Also das ist nicht nur wegen Körperverletzung. Und wegen Hausfriedensbruch vielleicht. I: Und waren bei dem Diebstahl auch Sachen dabei, die sich finanziell gelohnt haben, oder nur Kleinigkeiten? J22M: Nein, das war nur einmal so. Teure Fahrräder, mehr nicht. I: Und wie häufig bist Du nicht erwischt worden bei solchen Sachen? J22M: Ich sage jetzt mal so, wenn ich geklaut habe, dann habe ich geklaut, wo ich mir sicher bin, dass ich nicht erwischt werde. Weil wo ich das erste Mal erwischt wurde, wollte ich nie wieder erwischt werden, deswegen habe ich mich auch so, dass ich wusste, ich werde das schaffen. Habe ich auch gemacht, aber so sonst nicht. Ein erwartbar fehlendes Problembewusstsein scheint hingegen bei Urheberrechtsverstößen mit Musik und Filmen im Internet zu bestehen. Dieses lässt sich jedoch nur mit wenigen Interviewpassagen belegen, da in den Interviews nicht gezielt danach gefragt wurde. J24W:  Doch, ich habe, äh, mir illegal Musik runtergeladen, ja, nichts Großartiges, illegal Filme geguckt auf illegalen Seiten, aber nichts Großartiges. I: Also da wirst Du wahrscheinlich auch kaum jemanden in Deinem Alter finden, der das nicht schon mal gemacht hat, oder? J24W: Ja, es ist wirklich so. So das Typische. I: Und das sieht man ja auch nicht wirklich als Problem an, außer man wird erwischt, ne? J24W: Ja (lacht). Abschließend ist der schon erwähnte Fall interessant, bei dem es um den sexuellen Übergriff an einer Halbschwester ging. I: Und wäre es für den Anfang gut, wenn Du erzählen könntest, warum Du jetzt hier wohnst und nicht zu Hause. J41M: Also es gab auch Stress mit meinem Stiefvater die ganze Zeit. Dann wollte ich mich rächen, dann habe ich meine kleine Schwester angefasst. Und dann, ich war in Polen, dann kam ich wieder, dann sagten die, wir gehen jetzt zum Jugendamt, weil meine kleine Schwester

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hatte das gesagt. Und dann sind wir zum Jugendamt gegangen und dann gab es keine andere Möglichkeit, dann bin ich hier hingekommen. I: Also was heißt angefasst? J41M: Also so an intime Sachen angepackt. I: Aber das hast Du nur gemacht, um Deine Eltern zu ärgern? J41M: Also meinen Stiefvater vor allem (lacht). I: Und der Stiefvater, ist das der Vater von Deiner Schwester? J41M: Ja. I: Also ist das nur eine Halbschwester? J41M: Ja. Ich mag den Typ nicht und, ja. I: Aber wie wichtig ist Dir z. B. Deine Schwester? J41M: Also sehr wichtig, klar. I: Also die siehst Du auch als eine richtige Schwester an? J41M: Ja, klar. I: Also war das dann auch gar nichts gegen sie, sondern nur gegen den Stiefvater? J41M: Gegen ihn, ja. I: Wann war das? J41M: Vor … zwei Jahren. Das hat sich so drei bis vier Male wiederholt. Und ja, dann bin ich hier hingekommen. I: Aber hast Du das getan, um zu Hause raus zu kommen, oder hast Du über diese Folgen nicht nachgedacht? J41M: Nein, ich wollte nur meinen Stiefvater ärgern eigentlich. I: Nur um das zu verstehen, warum hast Du gerade das gemacht und nicht irgendetwas anderes? Wie bist Du auf diese Idee gekommen, dass den das vielleicht am meisten ärgert? J41M: Ja, weil ich wusste schon länger, dass mein Stiefvater einen richtigen Hass auf mich hat. Und dann, ja, schlagen konnte ich ja ihn auch nicht. (…) Also ich durfte jetzt … also ich habe jetzt Therapie gemacht wegen meiner Schwester jetzt. Meine kleine Schwester hat auch eine Therapie gemacht und ich durfte ein Jahr das Haus nicht betreten von meinen Eltern, durfte ich ein Jahr nicht machen. I: Und mit Deiner Schwester, wie ist da so der Kontakt? J41M: Also wenn ich da bin, dann freut sie sich natürlich auch. Also sie hat auch keinen Schaden davon, von der Sache bekommen. I: Das ist ja gut. J41M: Ja, und sie freut sich immer, wenn ich komme, so für die zwei Nächte von Freitag bis Sonntag immer.

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Schwierig ist die Interpretation dieses Delikts. Es ist dem Jugendlichen durchaus als schwerwiegend bewusst und wurde vor allem auch deshalb in dieser Form begangen. Jedoch war das konkrete Motiv die Rache an einer dritten Person und nicht am Opfer selbst, dessen Schaden er zwar in Kauf nahm, aber lediglich die Symbolik der Handlung als wichtig erachtete. Deshalb überraschte ihn wohl sogar die Massivität der Bestrafung. In diesem Fall fällt es insgesamt eher schwer, die Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber dem Stiefvater hervorzuheben, während die Rohheit gegenüber der Halbschwester in den Vordergrund tritt. Abschließend zeigen sich auch in dieser Klasse bei illegalen Drogen sowie beim Konsum von legalen Substanzen komplette Abstinenz und Ablehnung. Außerdem wurde ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Probierverhalten von verschiedenen Cannabisprodukten berichtet. J22M: Das war das, Marihuana habe ich mal ausprobiert. Alkohol auch und Zigaretten, aber sonst so nichts. I: Hast Du schon mal gekifft? J24W: Nein. Es wurde mir gestern angeboten, aber ich habe strikt abgelehnt.

5.5.3 Klasse  3 Einige Befragte geben an, bereits geklaut zu haben, schwarzgefahren zu sein oder die Schule geschwänzt zu haben. I: Würdest Du denn sagen, dass Du überhaupt schon mal etwas Verbotenes oder Kriminelles getan hast? J19M: Ja, habe ich. I: Was war das? J19M: Damals habe ich mal, äh, da vorne im Rewe was geklaut und schwarzgefahren bin ich auch schon, wurde ich auch gepackt. I: Und was hast Du geklaut? J19M: Äh, ja, Filter und Zigarettenpapier. I: Und warum hast Du das gemacht, hattest Du kein Geld dafür? J19M: Ja, erstens das und ich konnte mir das ja nicht holen, weil ich keine 18 bin. I: Ja, klar. Aber vor allem ging es um das Geld? Weil Du hättest sonst ja jemanden fragen können, ob er das für Dich holt.

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J19M: Ja, das schon, aber es war halt zu dem Zeitpunkt keiner da und dann dachte ich mir so: „Ja, dann mache ich das halt jetzt mal.“ Auch die wenigen Personen, die in ihrem Freund*innenkreis mit Marihuana in Berührung kamen, lehnten den Konsum ab oder hatten schnell wieder den Gefallen daran verloren. Lediglich eine Person gab an, noch gelegentlich zu kiffen. Alkohol wurde von den Interviewten nur gelegentlich beziehungsweise zu besonderen Anlässen wie etwa Geburtstagsfeiern konsumiert. Die Intensität des Rauchens reichte von etwa einer Zigarette am Tag bis hin zu zehn Zigaretten täglich. Viele lehnten Drogenkonsum aller Art ab. Dies begründeten sie mit Gesundheitsbewusstsein und ihrer Erziehung. Religion spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Insgesamt dürften die relativ guten Lebensbedingungen in Klasse 3 dazu beitragen, dass viele Formen der Delinquenz beispielsweise aus dem Bereich der Vermögensdelikte nicht relevant sind. Ein Probierverhalten bezüglich Drogen gibt es, das in seinem hier gezeigten Ausmaß als jugendtypisch in diesem Alter zu bezeichnen ist.

5.5.4 Alternative Verarbeitungsstrategien von herausfordernden Lebensumständen Da im qualitativ-explorativen Teil des Forschungsprojekts eine gezielte Eruierung und Vertiefung auch alternativer Verarbeitungsstrategien von herausfordernden Lebensumständen im Jugendalter vorgesehen war, bieten die qualitativen Daten hierzu viele Informationen. Aus verschiedenen Gründen wird jedoch darauf verzichtet, hierbei zwischen den drei Klassen zu differenzieren. Erstens zeigen sich teils starke Ähnlichkeiten beziehungsweise wenige Besonderheiten zwischen den Klassen. Zweitens scheinen die Besonderheiten eher von den Persönlichkeiten als den Lebensumständen abzuhängen. Drittens sollen gerade hier auch die Erfahrungen der Expert*innen einbezogen werden, die interessante Ergänzungen beisteuerten, ohne dass deren Auskünfte jedoch den Klassen zugeordnet werden könnten, was die anonyme Vorgehensweise bei der Befragung vorsah. Grundsätzlich ist zwischen zwei Varianten zu unterscheiden. Einerseits gibt es eher harmlose Wege der Verarbeitung, andererseits gibt es eher schädliche, die gesellschaftlich weniger Beachtung finden als körperliche Gewalt und Delinquenz gegen Dritte, jedoch für das Individuum auch schädlich sind und gegebenenfalls Ausdruck von dessen Verzweiflung. Positiv sind etwa Formen der Ablenkung und Zerstreuung, z. B. mittels Sport und Musik, die Aneignung

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kommunikativer Wege der Konfliktbewältigung sowie eine Kontrolle der eigenen Impulsivität. Auf der negativen Seite sind es vor allem Autoaggressionen und psychosomatische Folgeerkrankungen. Teilweise ist Sport hierbei jedoch weniger ein Mittel der Ablenkung, sondern ein Weg, um mithilfe bestimmter Sportarten Frust, Ärger und Aggressionen abzubauen. 1Also wir bieten halt bei einem ehemaligen Kollegen heilE4Jugendheim:  pädagogisches Reiten an; das ist dann auch oft für solche Mädchen der Fall. Andere Ventile sind natürlich Sport, Beschäftigung im Haus; wir haben viele Freizeiträume. Joggen gehen im Park; das hilft auch manchmal. Dann sage ich: „Hier nimm Deine Laufschuhe, geh jetzt einfach mal drei Runden durch den Park rennen! Dann kommst Du wieder, dann können wir darüber reden!“ Das passiert auch mal, das klappt auch mal. Oder wir haben so ein paar Mädels, die neigen so zu Dramen, die dann einfach mal kurz ein riesen Drama machen, einmal kurz groß austoben und aufbrausen und: „Alles scheiße!“, kurz zehn Minuten weinen und dann ist wieder alles gut, so. Das ist auch manchmal ein Ventil, um wieder runterzukommen für die.

I: Aber würdest Du sagen, dass die Sachen Dir dabei geholfen haben, Aggressionen abzubauen, die Du sonst vielleicht anders ausleben würdest? J16M: Ja. Also am meisten war das im Kampfsport. Da gab es ja diese Pads und wenn du einen schlechten Tag hattest oder so, man konnte dann halt schon so ein bisschen Gas geben. Das hat schon Spaß gemacht.

I: Wie oft gehst Du denn zum Training?

1In

Anlehnung an die Anonymisierung der Interviewauszüge der Jugendlichen erfolgt die Kennzeichnung der Interviews der Expert*innen. Das E steht jeweils für Expert*in, die Zahl für die Nummerierung der Interviews sowie das Arbeitsgebiet als Wort ausgeschrieben, um jeweils klarzustellen, in welchem Kontext die/der Befragte tätig ist.

5.5  Delinquenz in den Klassen – qualitativ

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J26M: Dreimal in der Woche. I: Und wenn Du an den anderen Tagen mal aggressiv oder nervös bist, was machst Du dann? J26M: Ja, ich habe doch selber Boxhandschuhe. Dann schlage ich einfach zu Hause gegen die Wand. J4M: Also American Football das war so, wenn ich mal so innerlich richtig wütend war, wenn ich so kurz vorm Platzen gewesen bin, dann habe ich das wirklich einbehalten, bis ein Spiel war oder Training und dann habe ich das da total raus gelassen auch so, weil da kannst du dann ja auch Leute wegtacklen und so. Ja, dann habe ich das halt da rausgelassen und so. Eine Alternative hierzu stellt Musik dar, die weniger kathartisch wirkt und im Wesentlichen der Zerstreuung oder des Rückzugs dient beziehungsweise dem kreativen Ausleben von Energien. J18W: Oder ich höre auch manchmal Musik. Oder selber machen Musik. I: Was machst Du dann? J18W: Klavier und Schlagzeug. Also hier unten ist ein Schlagzeug, aber im Moment nicht. I: Aber das sind Sachen, wo Du weißt, wenn Du gestresst bist, dass Du Dich damit beruhigen kannst. J18W: Genau.

I: Hast Du dann eher mit Freunden darüber gesprochen? J41M: Nee, dann bin ich einfach in mein Zimmer gegangen und dann war ich am Schlafen oder habe Musik gehört. I: Also Du hast Dich dann eher zurückgezogen und keine Unterstützung gesucht. J41M: Genau. Rückzugs- und Ausweichverhalten war aber gerade bei Provokationen ein vielfach probates Mittel, um Eskalationen unter Peers zu entgehen, wenn dies nicht durch Gruppendruck oder zu hohe eigene Impulsivität unterminiert wurde. J18W: Ich habe es einfach unterdrückt, ich bin einfach weggegangen.

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I: Also was machst Du jetzt anders oder wie schaffst Du es, Dich zu beruhigen, dass Du dann nicht ausrastest? J22M: Ja, also ich gehe denen einfach aus dem Weg. Ich denke mir einfach: „Da ist der Stress, geh einfach da lang, da ist kein Stress“, dann gehe ich einfach da lang. Teils wird aber auch nicht selbst der Rückzug gesucht, sondern dem Gegenüber in aggressivem Ton vermittelt, dass sich dieser zurückziehen und von einem ablassen soll, um beiden Parteien ein friedliches Auseinandergehen zu ermöglichen, ohne dass eine Seite „ihr Gesicht verlieren“ müsste. J24W: Dann sollte sich niemand in meiner Nähe aufhalten. Weil ich dann einfach nur immer Lust habe, jemanden zu schlagen. Aber ich habe mich immer so weit unter Kontrolle, dass ich das niemals tun würde. Ich werde dann einfach aggressiv, gifte jeden an, aber wirklich jeden. I: Aber das geht dann halt nie so weit, dass es andere schon getroffen hat. J24W: Nein. Kann sein, dass ich dann so: „Geh!“ schreie und mich dann verpisse, also weggehe, abrausche. Ja, aber ich habe das auch nicht sehr oft. Es braucht immer einen Auslöser. Gerade in der Familie stellen diese Varianten einen legitimen Weg der Vermeidung von Eskalationen dar. J2M: Also mit meiner Mutter hatte ich eigentlich bis jetzt noch nie Streit, nur mit meinem Stiefvater ab und zu mal. Und da denke ich mir einfach nur: „Komm, lass mich in Ruhe!“ Dann gehe ich raus oder so was. J11W: Ja, das ist teilweise nur mein Stiefvater, aber wo ich auch teilweise sage, so, links rein, rechts raus. Das stört mich gar nicht mehr, also ich übersehe das auch teilweise, weil ja, stört mich eigentlich gar nicht mehr, weil ich auch nicht so viel mit dem am Hut habe. Relativ ähnlich, aber mit anderer Konnotation, ist das Ignorieren von Provokationen, das gerade bei impulsiven Jugendlichen eine noch größere Herausforderung darstellen dürfte als bloßes Ausweichen, weshalb dieses wohl eher für weniger impulsive Jugendliche eine Alternative ist. I: Ja, klar. Also Du wirst öfters beleidigt. Beleidigst Du auch manchmal die anderen in der Schule?

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J8W: Nein, ich gehe einfach weg. I: Du ignorierst das dann? J8W: Ja, aber dann kommen die uns hinterher und dann irgendwann stelle ich mich neben den Lehrer und dann gehen sie weg.

I: Aber Du bist wahrscheinlich auch nicht so explosiv, dass wenn jemand etwas sagt, Du dann sofort ausrastest. J32M: Nee, gar nicht. Ich rede erst einmal. Für mich ist das normal. Ich kenne auch viele Leute, ich gehe einfach vorbei. Wenn du mich beleidigst, das interessiert mich einfach nicht.

I: Aber wenn das mal einer sagt, wie schaffst Du es dann, Dich zurückzuhalten? J31M: Also wenn ich ihm nichts tue, er wird mir auch nichts sagen, oder? Er kann nicht einfach zu mir kommen und so was sagen. Deswegen, es kommt ja auch nichts zu mir. Und wenn ich zu niemandem so was sage, niemand sagt zu mir auch. Aber ich habe auch am Abend, am Wochenende, da sind viele besoffene Leute und so, vielleicht sagen die: „Ey, Du scheiß Ausländer!“, und dies und das. Und dann sagt man, ja, besoffen, ist doch scheißegal. I: Das ignoriert man dann einfach. J31M: Ja, ignorieren. I: Also gibt es das nicht, wenn Ihr einfach auf der Straße unterwegs seid, dass Euch fremde Jugendliche beleidigen, die sich nicht ignorieren wollen lassen? J31M: Da im Park gibt es so Leute, die nerven, aber da gehen wir einfach vorbei. Eine andere Variante im Sportkontext, bei der es jedoch nicht um das Auspowern geht, ist die Anerkennung von Regeln im Kampf beziehungsweise die Veränderung normativer Vorstellungen. Damit ist die Ablehnung von willkürlichen und ungeregelten Gewaltanwendungen gemeint. Dies wird im Idealfall wohl vor allem in Box- und Kampfsportvereinen vermittelt und verinnerlicht. J26M: Ich boxe seit zwei Jahren, und da müssen wir eine Regel haben. Wer frech ist oder beleidigt, der geht direkt zum Trainer, der kriegt Schläge mit dem Stock. Und dann wird der erst einmal für den Tag nicht mehr

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Training machen, dann wird der nach Hause geschickt. Und dann darf der erst mal nächstes Mal wiederkommen. Wenn der wieder so was macht, dann muss der rausgehen vom Verein. Also so etwas bringt Respekt, also so ein Verein bringt Respekt. I: Aber findest Du das dann okay oder würdest Du sagen, das ist eigentlich zu hart? J26M: Gerecht ja, das ist gerecht. Wer einen Fehler macht oder wir sind da einfach nur so am Spielen, dann denkt der sich: „Ja, was ist das denn? Unnötig, was ich hier mache.“

J39M: So zwischenzeitlich bin ich auch freiwillig zum Psychologen gegangen, danach. Zwei Jahre waren es, und er hat mich auch gelehrt, dass ich irgendwas Sportliches machen muss und wo ich dann lerne, wie ich damit umgehen kann. I:  Aber diese Kampfsportsachen hast Du doch schon vorher gemacht, oder? J39M: Ja, habe ich angefangen. I: Aber da hast Du dann angefangen, auch die Philosophie dahinter zu verinnerlichen. J39M: Also das was ich erst auch gemacht habe, war Karate. Und dann kam ja Judo. Und Judo ist ja dadurch entstanden, dass ich beim Psychologen war. Und da habe ich dann diese Ausdauer und dieses erst gelernt. Im kommunikativen Bereich findet man hingegen Alternativen beispielsweise in Form von Gesprächen mit Vertrauenspersonen, welche die Jugendlichen beruhigen und Ratschläge geben können. J11W: Ja, wenn ich gestresst oder genervt bin, rede ich halt mit Personen, denen ich vertrauen kann, mit meiner besten Freundin oder so. Oder irgendwas Kreatives, wo ich meinen Kopf dann auch in eine andere Richtung lenken kann, um nicht mehr da dran denken zu müssen.

J13M: Zum Beispiel E1Sozialarbeit kann ich halt viel erzählen, was in meiner Familie losgeht, weil die die halt auch teilweise kennen oder auch schon mal gesehen haben, und ja. Ja, also das ist für mich. Wenn ich schlechte Laune habe, dann komme ich hier hin, weil die sind dann für mich der Rückhalt und dann geben die mir wieder gute Laune.

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I: Also was meinst Du mit schlechter Laune? Dass Du aggressiv bist oder was anderes? J13M: Nein, nur schlechte Laune. Also wenn ich zu Hause irgendwie Stress habe, dann habe ich ja schlechte Laune. Dann bin ich ja nicht aggressiv, dann habe ich schlechte Laune. Und dann komme ich halt hier hin und dann erzähle ich halt manchen, aber nur manchen das und dann sagen die: „Komm, lass mal das und das machen!“ I: Und danach ist es wieder besser? J13M: Ja.

I: Und sprichst Du mit denen über Probleme oder kannst Du Dich bloß mit denen gut unterhalten? J26M: Ja, alles eigentlich, ich unterhalte mich mit denen, wenn ich Probleme habe. I: Und bei was für Problemen gehst Du zu denen? J26M: Probleme, wenn ich was falsch gemacht habe. I Was meinst Du damit? J26M Also Kämpfe oder ich weiß nicht so … I: Also dann gehst Du eher zu denen oder zu Deinem Bruder? A: Ja. I: Und haben die dann irgendwelche Tipps und helfen Dir? J26M: Ja. I: Was zum Beispiel? J26M: Die sagen, dass ich das nicht mehr machen soll und eher weggehe. Daneben gibt es vereinzelt Beispiele dafür, Konflikte kommunikativ zu lösen, auch wenn dies nicht grundsätzlich funktionieren muss und auch ein Eskalationspotenzial beinhaltet. I: Aber wenn Dich jetzt mal wieder jemand richtig nerven würde, dann würde es wahrscheinlich wieder passieren? J21M: Nein, ich würde erst einmal versuchen, mit dem zu reden. Wenn der weiter frech ist und versucht, mir eine zu geben, wenn er das versucht, dann schlage ich erst zu. Schließlich gibt es auch Versuche, die eigene Impulsivität zu kontrollieren beziehungsweise zu „therapieren“; teils auch mit professioneller Hilfe.

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E3Jugendamt: Also unter Alkohol, ich weiß nicht, drei Viertel unserer Teilnehmer kann ich im Moment sagen, die haben ihre Gewaltstraftaten unter Alkoholeinfluss gemacht. Wobei ich dann … es immer nett zu sagen, also die Jugendlichen: „Ja, das mache ich ja nur, wenn ich Alkohol trinke.“ Aber die Gewaltbereitschaft, das Potenzial ist trotzdem da. Und daran muss gearbeitet werden. Und wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, wo man Alkohol konsumiert, also kulturelles Event, und die müssen einfach lernen, damit umzugehen. Und das reicht uns nicht, sich darauf auszuruhen: „Ja, ich trinke jetzt keinen Alkohol mehr.“ Das reicht uns Trainern nicht, da arbeiten wir weiter an dem Punkt. I: Und wie Sie sagen, es ist ja nicht so, dass das Problem verschwindet, wenn man aufhört zu trinken. E3Jugendamt: Es ist super. Das ist der erste Schritt, weil man dann nämlich Erfahrungen macht, dass es auch ohne Gewalt geht oder dass man vielleicht andere Strategien entwickelt, mit unangenehmen Gefühlen umzugehen. Aber besser wäre es, wenn sie sich auch im Griff haben, wenn sie was getrunken haben, weil dass sie irgendwann mal wieder was trinken, das ist sehr wahrscheinlich in dem Alter.

J43M: Also es hatte auch was mit meinem ADHS zu tun, dass ich so aggressiv bin. I: Also das ist auch getestet und nachgewiesen worden? J43M: Ja. I: Bekommst Du dafür Medikamente? J43M: Bis vor den Sommerferien habe ich noch Tabletten bekommen. I: Und was war das dann? J43M: Medikinet. I: Und brauchst Du das nicht mehr? J43M: Ich will das nicht mehr nehmen, weil ich das jetzt schon über neun Jahre nehme. I: Und Du merkst, dass das nicht wirklich gut für Dich ist. J43M: Ja. I: Und hast Du eine Veränderung bemerkt, seitdem Du das nicht mehr nimmst?

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J43M: Also ich bin zwar aufgedrehter, aber meine Freunde kommen halt damit klar und meine Freundin. I: Und Du schaffst es halt auch, Dich unter Kontrolle zu halten, dass nichts passiert. J43M: Ja. I: Hast Du dafür irgendwas gelernt, wie Du das hinbekommen kannst, also irgendwelche Tricks oder Tipps? J43M: Also ich bin halt so, wie ich bin. Also eigentlich habe ich dafür nichts gelernt. I: Ich meine, ob die vom Jugendamt oder irgendwer anders mit Dir Trainings gemacht haben, um das zu kontrollieren. J43M: Nee. Das wurde nicht gemacht, das wollte ich auch nicht. I: Aber hat Dir jemand so etwas mal angeboten? J43M: Nee. Aber ich hätte es auch eigentlich nicht angenommen. I: Aber Du würdest sagen, dass Du im Moment auch so Deine Aggressionen im Griff hast? J43M: Ja.

I: Hast Du denn auch mal irgendwelche Therapien oder Hilfsprogramme mitgemacht, die versucht haben, Dir zu helfen bei den Problemen, die Du da erwähnst? J18W: Ich war in so einer Tagesklinik. Da hatte ich ja Hilfe. I: Wie lange warst Du da? J18W: Einen Monat. I: Und hat das irgendetwas gebracht? J18W: Nicht wirklich, nein Im Bereich der negativen Varianten spielten Autoaggressionen eine untergeordnete Rolle, was jedoch wiederum ein Sampling-Artefakt sein könnte. Hervorzuheben ist in diesem Kontext ebenfalls, dass es ein Irrglaube ist, Autoaggressionen ausschließlich dem weiblichen Geschlecht zuzuschreiben. J26M: Ja. Ich habe immer gegen die Wand geschlagen, wenn ich aggressiv war. Meine Hand hier ist auch jetzt kaputt. I: Aber jetzt schlägst Du nicht mehr gegen die Wand, wenn Du aggressiv bist? J26M: Jetzt schlage ich gegen den Sandsack.

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E4Jugendheim: Bei den Mädchen ist ganz häufig Ritzen ganz großes Thema. Das haben wir jetzt auch schon lange nicht mehr massiv gehabt, aber ich kann mich da an ein, zwei, drei, vier Fälle erinnern, wo das sehr extrem war, um auch Anerkennung, denke ich, zu bekommen. Also mal war es ein ganz kleiner Blödsinn und hat irgendwo aufgeschnappt, dass man sich da ja ritzen kann und so. Also die Richtung dann auch (lacht). Manchmal aber auch an der psychischen Erkrankung, dass es daran liegt, dass das der Fall war. Aber Ritzen ist dann schon ein Thema. Und bei den Jungs würde ich jetzt mal sagen, dann nicht Ritzen, sondern mal mit der Faust volle Wucht gegen eine Betonwand schlagen. Das ist für mich dann auch schon selbstverletzendes Verhalten, weil man ja weiß, es tut höllisch weh. Aber da haben wir auch Erfahrungen mit und auch Erfahrungen dann bezüglich dieser Hinsicht, das ist ja, wir sind ja keine therapeutische Einrichtung, dann geben wir das meist dann weiter an einen Kinder- und Jugendpsychologen oder müssen dann doch mal eine Zwangseinweisung über das Gesundheitsamt in die Psychiatrie anstreben. So da gibt es dann verschiedene Methoden. Aber Ritzen ist sehr, sehr häufig, ja. I:  Es werden ja dann weniger die sein, die auf der Straße andere schlagen, die sich ritzen. E4Jugendheim: Mmh. I: Könnte man irgendeinen Unterschied zwischen denen festmachen? E4Jugendheim: Ja. Laut und leise (lacht), so. Es sind oft die Mädchen, die sich ritzen, die wirklich ihre Probleme–ich rede jetzt von den Mädchen, die wirklich psychisch erkrankt sind, nicht die, die sich mal ritzen, weil sie es irgendwo gehört habe –meist die Mädchen, die sich dann in sich kehren, viel in sich gekehrt sind, über ihre Probleme reden und dann am besten noch die Mutter dann wieder Mega-Stress macht und diesen Druck einfach nicht standhält. Dann läuft es in der Schule nicht gut. Dann sind es meist die Mädels, die etwas ruhiger sind und sich dann in ihr Zimmer verziehen und es dann da machen. Da gibt es dann auch so Sachen, dass wir dann auch mal bei bestimmten Mädchen geguckt haben, dass keine Messer in der Küche sind, dass sie keine Rasier-

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klinge haben, aber irgendwas finden sie immer, womit sie ritzen können. Aber das würde ich jetzt mal so tippen, dass das meist so die in sich gekehrteren Mädchen sind mit vielen Problemen, anstatt die großen, die lauten Mädchen, die auch genauso viele Probleme haben, aber anders damit umgehen, ein anderes Ventil suchen, kann man sagen.

E7Schule:  Wir haben jetzt gerade, am Montag hat ein neuer Kurs angefangen, und da sitzt eine Schülerin drin, wir haben es noch warm, die ist kurzärmelig, die hat den ganzen Arm voll von gesund vernarbten Wunden. Da gab es noch kein Gespräch, die Zeit war noch nicht dafür gewesen, aber das sieht deutlich nach Autoaggressionen aus. Das gibt es immer mal wieder, vor allem bei Mädchen. E10Sozialarbeit: Also bei Mädchen ist Autoaggression angesagt, ohne Ende noch. Aber das ist so ein Heimlich-Bereich, den wir nicht mitkriegen. Also Autoaggression im Sinne von Ritzen, das würde ich noch mitkriegen, aber auch Bulimie, Ernährung. In anderen Fällen entscheiden sich die Jugendlichen bewusst gegen Autoaggression, auch wenn sie schon einmal darüber nachgedacht haben. I:  Was manche Mädchen machen, ist dann Gewalt nicht nach außen, sondern Gewalt gegen sich selbst einzusetzen. Hast Du so etwas irgendwann mal gemacht oder darüber nachgedacht? J11W:  Äh, drüber nachgedacht nicht, auch gemacht nicht. Nur, ähm, man stellt sich dann halt immer so doofe Fragen:Warum, weshalb? Äh, klar, vielleicht mal ein, zwei Mal drüber nachgedacht, äh, ob es irgendwas anderes gibt, was mehr weh tut, als dass man jetzt immer die ganze Zeit zu Hause sitzt, ausgeschlossen wird von allen, diese Angst, wieder zur Schule zu gehen, ähm, aber wirklich getraut habe ich mich das jetzt nicht, muss ich sagen. Weil dann schon, wenn man nach Hause kommt, ist man schon froh, zu Hause zu sein. Die Geschwister, die Familie, die auch zu einem gehalten haben.

I: Und Du machst dann auch nichts gegen Dich selbst?

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5  Gewalt, Delinquenz und weitere Verarbeitungsstrategien

J38W: Nein, niemals. Dafür ist mein Leben viel zu schön. Wofür hat Gott denen das Leben geschenkt? Eine weitere Art der individuellen Reaktion auf schwierige Lebensbedingungen ist die Entwicklung psychosomatischer „Auffälligkeiten“, die teils nur bedingt erkannt werden. E4Jugendheim: Ich glaube auch ein Mädel ist dabei, ja, das ist ganz, ganz häufig. Also bei den Jungs nicht so, bei den Mädchen viel mehr. Also wir haben da ein, zwei, drei Mädels, würde ich jetzt mal so ganz spontan sagen, die immer die größten Wehwehchen haben und alles hier, alles kaputt und Knieschmerzen und Hüftschmerzen und: „Ich kann das nicht, ich kann dies nicht.“ Dann geht man zum Arzt und der Arzt sagt: „Da ist nichts.“ Also ich glaube unter anderen Umständen im Leben, da wäre das nicht der Fall, da gebe ich Dir recht. Und das ist speziell bei zwei Mädels, da fällt mir da ein, da ist es ganz extrem. (…) Das ist der klassische Kandidat und die hat auch eine richtig, ich sage jetzt mal, beschissene Kindheit hinter sich. Das ist so das Mädel, das mir einfällt. Und das ist auch wirklich das Auffälligste, weil das psychosomatische Erscheinungsbild ist einfach prägend bei ihr. Und das geht wirklich von Weisheitszähne bis Fuß gebrochen, so ungefähr. Also wirklich einmal den ganzen Körper (lacht).

E7Schule: Psychosomatische Auffälligkeiten … Da muss man vorsichtig sein, fachlich dahin gehend können wir gar nicht arbeiten. Das sind ja dann nur die entsprechenden Beschreibungen, die die Schüler geben. Schon … Es wird von Einschlafproblemen, Schlafstörungen gesprochen. Das Thema Körpergewicht, also Figur taucht auch immer wieder mal auf, solche Geschichten. Aber das sind jetzt Dinge, die Einzelne mitbringen, die man dann im Gespräch, in der sozialpädagogischen Arbeit mit ihnen erfährt. J40M: Ich war auch im Krankenhaus richtig, musste ich deswegen. Also ich hatte wirklich … Es gab einen direkten Zusammenhang. I: Also was für Folgen gab es dann?

5.5  Delinquenz in den Klassen – qualitativ

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J40M:  Ich hatte nur noch Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, komplett. Also ich konnte irgendwie nicht mehr, der Kopf, da ging gar nichts mehr. Da bin ich auf so eine psychosomatische Station gekommen, wo ich im Krankenhaus bestimmt auch ein halbes Jahr lag. Dann ging das auch für eine Weile, es war alles wieder weg und wo ich dann wieder nach Hause kam, ging es wieder los. I: Und wie lange, bevor Du ausgezogen bist, war das? J40M: Das war ein Jahr oder anderthalb Jahre. Die alternativen Verarbeitungsstrategien zeigen einerseits, dass auf herausfordernde Lebensbedingungen nicht grundsätzlich mit Gewalt oder anderen Delikten reagiert wird, was den beiden Theorien nicht widerspricht, die zentral für diese Untersuchung sind. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Wegen, mehr oder weniger schwere Lebensphasen und -umstände zu verarbeiten. Andererseits bietet dies bereits Hinweise darauf, wie die zentralen Annahmen und Erkenntnisse der beiden Theorien mit dem Umgang mit entsprechenden Lebenssituationen verknüpft zu sein scheinen. Dies soll stärker im folgenden Kapitel thematisiert werden.

6

Zusammenführung der Ergebnisse

„Starke Kontrolle und Einschränkung der Lebensführung von Dritten, vor allem durch wichtige Personen aus dem unmittelbaren Umfeld verbunden mit fehlender Anerkennung, Missachtung und Zurückweisung begünstigen Delinquenz und Gewalt.“ Der Grundgedanke der Kombination von CBT und TSD kann so formuliert werden: Starke Kontrolle und Einschränkung der Lebensführung von Dritten, vor allem durch wichtige Personen aus dem unmittelbaren Umfeld verbunden mit fehlender Anerkennung, Missachtung und Zurückweisung begünstigen Delinquenz und Gewalt. Diese Verhaltensweisen sind als eine spezifische Form von Realitätskontrolle zu verstehen, die über andere Formen nicht zu erreichen waren. Sie dienen dazu, in den relevanten sozialen Bezugsgruppen wie u. a. den Peers durch Risikobereitschaft, Grenzüberschreitungen von anerkannten sozialen Normen und Machtdemonstrationen durch Gewalt dann „alternative“ Anerkennungen zu erreichen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die als defizitär erlebten Lebensumstände verschiedene Reaktionen hervorrufen, die sich in Form kurzfristiger Kompensation oder langfristiger Lösungsversuche äußern. Andersherum ist davon auszugehen, dass keine entsprechenden Reaktionen nötig sind beziehungsweise solches Verhalten andere Ursachen hätte, wenn solche Erfahrungen nicht gemacht würden, d. h. man kaum in einengender Art und Weise kontrolliert würde, sich bei der Erreichung seiner Lebensziele nicht eingeschränkt, sondern eher gefördert fühlte und zudem Anerkennung und Respekt erlebte sowie als erwünschte Person wahrgenommen würde. Diese Grundgedanken werden nun an zwei Beispielkontexten, Kinder- und Jugendheime und Jugendtreffs, empirisch untermauert. In einem abschließenden Kapitel © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6_6

245

246

6  Zusammenführung der Ergebnisse

(vgl. Abschn. 6.2) werden die zusammenführenden Überlegungen zur Verknüpfung der Theorien fortgeführt.

6.1 Grundgedanke der Theorie-Verknüpfung illustriert an zwei Beispielkontexten Anerkennung und Respekt sowie das Gefühl, als erwünschte Person wahrgenommen zu werden, sind Erfahrungen, die in den qualitativen Daten selbst in Klasse 3 höchstens in begrenztem Maße vorkommen, da es sich hier eher um einen Idealtyp handelt. Man könnte ein solch spannungs- und stressarmes Leben in Anlehnung an die so genannte „Stresskurve“1 wohl sogar als unterfordernd bezeichnen. Dem entgegen ist es eher alarmierend, dass sich die negative Darstellung in ihrem „Idealtyp“ relativ deutlich in einigen Fällen der Klasse 1 zeigt. Gerade bei einigen „Heimjugendlichen“ häuften sich in allen oder fast allen Lebensbereichen, teils seit der frühen Kindheit, massive Negativerfahrungen an, die mitunter beispielsweise nicht mehr unter die Kategorie „Kontrolle“ fallen, sondern eher als systematische Demütigung, Misshandlung und Unterdrückung einzustufen sind. Gleichzeitig sind für diese Jugendlichen Anerkennung, Vertrauen, emotionale Nähe eher Fremdwörter, die sie gegebenenfalls durch professionelle Dritte erleben sowie vereinzelt durch Peers und Partner*innen, aber eher nicht in der Familie und teils auch nicht unter Freund*innen. Sie beschreiben daher am „idealtypischsten“, dass für sie gerade körperliche Gewalt nicht nur im Elternhaus erlernt wurde, sondern dort auch Teil der Kommunikation unhinterfragt, willkürlich und ein Mittel der Konfliktbewältigung war. Sie zeichnen ein Gesamtbild negativer Erfahrungen, von denen Gewalt nur eine ist, und von eigenen negativen Verhaltensweisen oder mit der Zeit auch alternativen Verarbeitungsstrategien. I: Was uns zum Beispiel auch interessiert, ist, ob das, was bei Dir in der Familie passiert ist, auch ein Grund ist, warum Du selbst Schlägereien hattest. Wie siehst Du das? Gibt es da einen Zusammenhang?

1Die

Stresskurve beschreibt die kognitive Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit vom individuellen Stresslevel beziehungsweise Ausmaß an psychischer Anspannung (Yerkes und Dodson 1908).

6.1  Grundgedanke der Theorie-Verknüpfung illustriert …

247

„Also sie hat es mir so beigebracht. Also wenn jemand zu einem böse ist, dass man drauf schlagen soll. Ich habe es halt von meiner Mutter so abgeguckt früher, kann man sagen.“

J18W: Also sie hat es mir so beigebracht. Also wenn jemand zu einem böse ist, dass man drauf schlagen soll. Ich habe es halt von meiner Mutter so abgeguckt früher, kann man sagen. Und ich habe ja immer gemerkt, wenn sie aggressiv ist, ihre Lösung war halt zuschlagen. Und bei mir hat es dann halt so im Kopf, so Schlagen ist verboten, aber meine Mutter hat es mir so beigebracht, also tue ich es einfach. So habe ich früher halt gedacht, aber jetzt tue ich es ja nicht mehr. I: Du sagst ja auch, Du hast gelernt, wenn Du aggressiv wirst, wenn Du dann weggehst oder was anderes machst, um Dich abzulenken, dass Du dann nicht zuschlagen musst. Würdest Du sagen, dass Deine Mutter das auch gemacht hat? J18W: Also sie hat immer geschlagen, also wenn ich was gemacht habe oder einfach mal so, weil mir ein Glas runtergefallen ist, dann hat sie mich auch geschlagen. Sie ist nie weggegangen, die konnte das nicht. I: Ja, aber ich meine die Schlägereien. Wo kam das her? J39M: Ja, das ist, wenn man Stress mit seinen Eltern schon hat. Das macht aggressiv. Wenn man allein schon Stress mit den Eltern hat, keinen Kontakt mit der Mutter, wenn man dann hört: „Ja, fick Deine Mutter!“, so als Begriff, irgendwann sagt man dann: „Ey, hast Du einen an der Klatsche, oder was? Oder soll ich Dir eine ticken?“ Und dann fertig. Dann geht das eine Wort auf das andere und dann fängt es an.

6.1.1 Heimjugendliche Während die gesellschaftliche Vorstellung weit verbreitet ist, dass „Heimjugendliche“ entweder durch das Jugendamt aus den Familien entfernt werden oder die Eltern mit diesen schlichtweg nicht mehr zurechtkommen und deshalb eine professionelle Betreuung bevorzugen, ist hervorzuheben, dass die Mehrheit des Samples auf einem anderen Wege in die Heime kam. Diese haben zu weiten Teilen selbst die Entscheidung getroffen, den familiären Haushalt zu verlassen, um dadurch ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich aus diesen ­Lebensbedingungen zu befreien. Auf der einen Seite steht hier also eine der wohl

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6  Zusammenführung der Ergebnisse

verzweifeltesten Lebensentscheidungen, sich von den Menschen abwenden zu müssen, die eigentlich den sichersten Schutzraum in der Kindheit und Jugend bieten sollten. Auch sie wachsen mit dem Idealbild der intakten Familie auf, was teilweise stark an ihrem Selbstbild in der Form zweifeln lässt, ob nicht sie die Ursache ihrer misslichen Lage sind. I: Hast Du das damals als normal und gerechtfertigt erachtet, weil es ja von den Eltern kam, oder fandest Du das immer falsch? J39M: Nein, das dachte ich nie. Das fand ich nie okay, finde ich heute auch noch nicht okay. Nee, diese Schuld habe ich aber auch schon bei mir gesucht, weil ich dachte, das kann ja nicht sein. Teilweise nehmen die Jugendlichen die Familie in Schutz beziehungsweise rechtfertigen die Gewalt, indem sie sich auf die Familienhistorie beziehen. Damit mildern sie die elterliche Schuld ab. J18W: Ein bisschen tut es mir ja auch leid, weil sie es früher ja auch so gelernt hat von ihrer Mutter. Sie hat es ja von ihrer Mutter auch gelernt. Und sie hat es dann uns so weiter. Auf der anderen Seite entsteht aus der Not heraus teils eine der besten Lebensentscheidungen der Jugendlichen, die trotz aller Zweifel und Zukunftssorgen im Übergangsprozess tatsächlich dazu führt, dass diverse Risikofaktoren beziehungsweise Negativerfahrungen entsprechend der zentralen Aspekte beider Theorien schlagartig oder zumindest schrittweise überwunden beziehungsweise angegangen werden. In der Schule werden zwar die Noten und das Verhältnis zu den Lehrenden nicht automatisch besser, jedoch kommt oftmals die Motivation an der Schule zurück, da die Jugendlichen sich wieder auf ihre Zukunft konzentrieren können. Es ist nicht mehr länger notwendig, sich in schwierigen Familienverhältnissen zu behaupten, sodass zusätzliche Energien frei werden können, z. B. für die neue „Ersatzfamilie“ im Heim. Durch das dortige Personal erfahren die Jugendlichen Unterstützung dabei, sich zu einer eigenen Persönlichkeit zu entwickeln und die eigenen Interessen zu vertreten. Der häufig damit einhergehende neue Freund*innenkreis sowie der neue Lebensalltag im Heim können im Idealfall zu emotionaler Nähe, Bindungen, Vertrauen etc. beitragen. An Selbstkontrolle und Impulsivität kann gegebenenfalls gezielt gearbeitet werden. Kontrolle wird zwar weiterhin erlebt, jedoch mit klaren Regeln, ohne Willkür und mit zunehmenden Freiräumen, da eine Heimunterbringung zum Ziel hat, junge Persönlichkeiten auf ihre zukünftige Lebenswelt vorzubereiten, um eine Realitätskontrolle zu erleben.

6.1  Grundgedanke der Theorie-Verknüpfung illustriert …

249

Diese Darstellung ist allerdings auch idealtypisch und zeigt lediglich die Möglichkeiten, die kein einfacher und schneller Prozess sind, der es u. a. auch erfordert, dass die Jugendlichen sich auf ihr neues Umfeld einlassen und an die jeweiligen Regelwerke anpassen. Bedeutsam ist aber, welches Potenzial in der Abkehr von der Familie steckt, da man bei denselben Jugendlichen sowohl den negativen Extremfall der Kombination beider Theorien beobachten kann als auch den Wandel hin zu einer Annäherung an den positiven Idealzustand von gesellschaftlicher Teilhabe, emotionaler Einbindung und ausgeglichenem Kontrollerleben, die prosoziales Verhalten begünstigen.

6.1.2 Jugendtreffs „Die Jugendtreffs sind gleichzeitig auch Ort der körperlichen und emotionalen Nähe, d. h. Kompensationsraum für familiäre Defizite.“

Vergleichbar damit, wenn auch auf einem deutlich niedrigerem Level, ist die vorbildliche Arbeit, die in gut geführten und engagierten Jugendtreffs geleistet wird, die von Jugendlichen nicht bloß zur kostenfreien Unterhaltung und als Anlaufstelle bei schlechtem Wetter genutzt werden, sondern die Vertrauenspersonen und soziale Unterstützungssysteme bieten, auf die junge Menschen nach Bedarf zurückgreifen können. Denn auch diese kann man als Ort und sozialen Raum der Verarbeitung und Kompensation von Lebenserfahrungen und -problemen einstufen. Jugendliche aus allen drei Klassen bezeichnen diese Einrichtungen sowohl bei einzelnen Herausforderungen als auch der Bündelung von Problemlagen als eine zentrale Ressource der Verarbeitung. Dies beinhaltet wiederum zwei Ebenen. Die eine ist die Darstellung des Zusammenspiels beziehungsweise Auftretens von Problemlagen aus dem Spektrum beider Theorien, die zu Stress, Ärger, Wut, Ausgrenzung etc. führen können. Die andere ist die Darstellung des Umgangs damit, d. h. der konkreten Nutzung dieses Verarbeitungsraums, z. B. um Ruhe zu finden oder sich auszutoben. E1Sozialarbeit: Wenn die das wollen, können die alles machen, nebenan im Tischtennisraum. Da dürfen die Radio hören, da können die Handys hören, da können die rumtoben, da können die Faxen machen, auch draußen. Und das wird irgendwo akzeptiert. Klar, wird das auch mal vorne, aber wenn ich dann sagen: „Ja, jetzt geht rüber, macht drüben weiter!“, dann halten die sich daran. Weil manche brauchen dieses Austoben, was ja auch normal ist.

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6  Zusammenführung der Ergebnisse

Die Jugendtreffs sind gleichzeitig auch Ort der körperlichen und emotionalen Nähe, d. h. Kompensationsraum für familiäre Defizite. E4Jugendheim: Also das ist ganz groß bei körperlicher Nähe, da merkt man bei ganz vielen Kindern, die aus sehr … ja, ich nenne es mal, aus so verwahrlosten Verhältnissen kommen, die ganz viel körperliche Nähe suchen und dadurch auch Anerkennung suchen, so: „Guck mal, was ich gemacht habe? Krieg ich eine Umarmung dafür?“ „Klar, kriegst Du eine Umarmung.“ E10Sozialarbeit: Es ist der alte Beatles-Spruch: „All you need is love.“ Du kannst mit allen Sachen umgehen, du kannst alles ausgleichen, aber nicht fehlende Liebe in Kinder und Jugend. Das kannst du nicht ersetzen. Da kannst du auch nichts nachmachen. Das kannst du nicht zeitweise machen. Das ist so. Das ist das, glaube ich, das Hauptding. Es klingt platt, aber es ist so. Und dann in den Geschlechterrollen definitiv, ähm, Mann. Also vaterlose Jungs ist so ein, also was du als Erstes merkst als Pädagoge. Die merkst du innerhalb von Sekunden. Das ist ein bestimmtes Rollenverhalten, aber auch mit Brüchen. Echtheit, Wahrhaftigkeit. Das sind so die Sachen. Ich denke das begegnet denen nicht. Lob, Tadel. (…) Also hier funktioniert das, was in Gesellschaft nicht mehr funktioniert. Regeln und Gesetze sind ja Verabredungen innerhalb einer Gesellschaft, die nicht kontrolliert werden müssen, sondern an die sich die überwiegende Mehrheit der Menschen hält. J13M: Dann habe ich schlechte Laune. Und dann komme ich halt hier hin und dann erzähle ich halt manchen, aber nur manchen das und dann sagen die: „Komm, lass mal das und das machen!“ Bedeutsam ist auch die Erfahrung, dass hier Versprechen eingehalten werden, was nicht für alle Jugendliche selbstverständlich ist und Sicherheit gibt sowie als Vorbild dient. E5Sozialarbeit: Ich glaube, was für die Jugendlichen auch noch ganz gut ist, also neben der Begleitung haben die in uns auch immer so eine Vorbildfunktion. Also wir sind auf einmal für sie eine sehr verlässliche Größe, weil das sind die zu Hause nicht gewohnt und dann wird oft gesagt: „Ja, ja, machen wir“, oder: „Machen wir nicht“, und dann wird es doch anders gemacht. Bei uns ist es

6.1  Grundgedanke der Theorie-Verknüpfung illustriert …

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relativ klar, was wir sagen, da bleiben wir auch dabei, und sie erleben uns ja auch, wie wir sozusagen miteinander umgehen, was oft für sie in dem Alltag gar nicht zu ihrer normalen Lebenssituation gehört. Also da kriegen sie noch einmal eine ganz andere Vorbildfunktion mit uns. Hierzu zählt es auch, Alternativen für störende Verhaltensweisen aufzuzeigen, anstatt bloß zu belehren und Dinge einzufordern, um quasi Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. E2Jugendamt:  Ich bin weder Freund noch Familienersatz. Vielleicht kann man es am besten umschreiben als andere Vorbilder, alternative Vorbilder. Wir sind keine Lehrer und können halt auf andere Weise wertschätzend mit denen umgehen und denen andere Perspektiven zeigen und hoffen, dass wir Impulse setzen können, dass sich bei ihnen etwas verändert. E9Sozialarbeit: Das könnte man vielleicht schon noch als Teil von einem Leitkonzept sehen, weil das ist so im Team, auch von der Leitung vorgegeben worden, dass halt schon das Ziel sein sollte, halt Angebote zu machen, um dieses Profilieren über Gewalt halt irgendwie … also Alternativangebote sozusagen dazu zu schaffen. Sachen, worüber man zeigen kann, wie toll man ist, das sind immer wieder bei uns Sachen, wo wir versuchen, irgendwelche anderen Wettbewerbsmöglichkeiten auch zu schaffen, wo die halt zeigen können, dass die was drauf haben. Ebenso gehört zu diesem sozialen Erfahrungsraum Wertschätzung und evtl. die Übertragung von Verantwortung. E5Sozialarbeit: Also du bist für dein Leben und für das, was du tust, selbst verantwortlich. Weil wir oft so Verniedlichungsstrategien haben: „Ich habe ihn nur ein bisschen gehauen“, oder: „Der hat so blöde geguckt“, also Rechtfertigungen. Da sagen wir dann: „Ja, wenn der blöde guckt, das kann natürlich auch sein, aber das gibt Dir noch lange nicht das Recht, dass Du zugehauen hast. Du hast entschieden, dass Du das machst.“ Also und was wir nicht machen, wir machen so einen demütigungsfreien Ansatz, d. h. wir setzen den nicht auf den heißen Stuhl und ärgern den, solange bis der ausflippt und

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6  Zusammenführung der Ergebnisse

sagen: „Ha, ha, hast Du nicht geschafft!“ Sondern uns geht es eher drum, dass er sein eigenes Leben erkennt und dass er sieht, wo seine Muster sind, und selber überlegt: „Was kann ich in Zukunft ändern?“

6.2 Weiterführende Gedanken zur ­­TheorieVerknüpfung „Diese Beispiele werden hervorgehoben, da die familiäre Situation gerade in der hier untersuchten Altersgruppe trotz aller Abkopplungsprozesse und –versuche im Jugendalter von zentraler Bedeutung ist.“

Nachdem dieser Grundgedanke der Verknüpfung beider Theorie dargestellt wurde und illustrativ die Relevanz von Heimen und Jugendtreffs in diesem Kontext, soll die Theorie-Verknüpfung noch einmal konkreter auf den Punkt gebracht werden. Ein Leitgedanke beider Theorien ist die Kompensation beziehungsweise der Ausgleich von Erfahrungen. Die qualitativen Daten in ihrer Breite und Tiefe, ebenso wie die quantitativen Daten in ihrer größeren Präzision und Schärfe verdeutlichen, dass die einzelnen Aspekte beider Theorien teils fließend ineinandergreifen und jeweils für das Individuum eine bestimmte Mischung ergeben, die veränderbar ist, aber gleichzeitig zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben sowohl delinquentes als auch nicht-delinquentes Verhalten begünstigt. Bei einzelnen Jugendlichen sind viele zentrale Aspekte positiv, bei anderen negativ, was deren Handlungsspielraum stärker in die eine oder andere Richtung einengen dürfte. Denn es gibt unzählige Kombinationen einzelner positiver und negativer Aspekte, die keinerlei Kompensation bedürfen. Diese Kombinationsgeflechte haben wir vereinfachend in drei Klassen dargestellt, auch wenn innerhalb der Klassen jeweils eine relativ hohe Bandbreite an Ausprägungen bestehen kann, was keine Schwäche des Ansatzes ist, sondern bloß zeigt, wie sich menschliche Erfahrungen, Erlebnisse, Konflikte, Verhaltensweisen usw. auf Spektren abbilden lassen. Zudem ist die Einordnung sinnvoll, um nicht an Einzelfallanalysen hängen zu bleiben und Gemeinsamkeiten und Muster aufzudecken. Die spezifische Ausformulierung dieser Muster der Klassen erfolgte bereits in früheren Kapiteln. Die Kombination beider Theorien dient nicht dazu, Verhaltensweisen zu prognostizieren. Höchstens ist mit der Art der Klasse eine größere oder kleinere Wahrscheinlichkeit der Anwendung von Gewalt, anderer Delinquenz

6.2  Weiterführende Gedanken zur Theorie-Verknüpfung

253

oder weiteren Verarbeitungsformen von herausfordernden Lebenssituationen verbunden. Bedeutsam ist deshalb vielmehr die Erkenntnis, dass günstige Kombinationen der zentralen Aspekte beider Theorien sowie positive Veränderungen in einzelnen oder mehreren Bereichen einen kompensatorischen Ausgleich schaffen können und sich gegebenenfalls auf das Verhalten sowie die Lebenszufriedenheit junger Menschen auswirken. Andersherum können maßgebliche Verschlechterungen Negativentwicklungen begünstigen, die sich auch auf das Verhalten niederschlagen können. Konkrete Beispiele aus den Daten hierfür waren Tode von Elternteilen sowie Partnerschaften einzelner Elternteile mit Personen, mit denen die Jugendlichen nicht auskommen und andersherum. Diese Beispiele werden hervorgehoben, da die familiäre Situation gerade in der hier untersuchten Altersgruppe trotz aller Abkopplungsprozesse und ­-versuche im Jugendalter von zentraler Bedeutung ist. Bei jungen Erwachsenen oder Heranwachsenden dürfte, wie sich auch bei den wenigen älteren Befragten im qualitativen Sample andeutete, das Elternhaus und darin gesammelte Erfahrungen nicht bedeutungslos werden, jedoch gerade nach einem Auszug einen neuen Stellenwert einnehmen. Deshalb soll im Weiteren noch einmal abgekoppelt von der Klasseneinteilung der Blick auf die Relevanz der Familie als Sozialraum gerichtet werden, in dem zentrale Lebenserfahrungen gesammelt werden, und wie die Jugendlichen damit umgehen. Das soll – wie zuvor die Thematisierung der Heimjugendlichen und der Jugendtreffs – der Vertiefung der Erkenntnisse zu den Mechanismen dienen, wie zentrale Aspekte beider Theorien ineinandergreifen, da sich jeweils zahlreiche Kombinationen aus den Bereichen der Anerkennung und der Kontrolle ergeben, die nachhaltigen Einfluss auf die Lebenssituation der Jugendlichen nehmen. Als bezeichnend trotz aller Kürze des folgenden Zitats ist dieses auch vor dem Hintergrund, dass das befragte Mädchen noch keine junge Erwachsene kurz vor dem Sprung in ein eigenes Leben ist, sondern eine 14jährige, die im elterlichen Haushalt lebt. I: Machst Du denn mit Deiner Mutter manchmal was zusammen? J29W: Nee, wir machen gar nichts. Das will ich auch nicht mehr.

„In viele Interviews mehren sich Anzeichen von familiärer Zerrüttung und einem Alltag, der bloß noch neben-, aber nicht miteinander stattfindet. Beiderseits findet man Resignation, Enttäuschung, aber gerade auf elterlicher Seite teils auch Überforderung.“

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6  Zusammenführung der Ergebnisse

In vielen Interviews mehren sich Anzeichen von familiärer Zerrüttung und einem Alltag, der bloß noch neben-, aber nicht miteinander stattfindet. Beiderseits findet man Resignation, Enttäuschung, aber gerade auf elterlicher Seite teils auch Überforderung. Was bleibt, sind einerseits Defizite und Nachholbedarf auf emotionaler Ebene, andererseits ein willkürlicher und inkonsistenter Umgang, der nicht zuletzt in Gewalt und permanenten Konflikten münden kann. E4Jugendheim: Also das ist ganz groß bei körperlicher Nähe, da merkt man bei ganz vielen Kindern, die aus sehr … ja, ich nenne es mal, aus so verwahrlosten Verhältnissen kommen, die ganz viel körperliche Nähe suchen und dadurch auch Anerkennung suchen, so: „Guck mal, was ich gemacht habe? Krieg ich eine Umarmung dafür?“ „Klar, kriegst Du eine Umarmung.“ E9Sozialarbeit: Also dieses So–laut-schreien-wie-möglich hängt auch oft mit so was zusammen, dass man halt merkt, man kriegt von den Eltern nicht die Aufmerksamkeit, also versucht man sich die irgendwie anders zu holen, indem man irgendwas Krasses macht, weil die Eltern sonst halt nicht drauf reagieren. Und das passiert nicht nur bei denen, wo es so viele Kinder gibt, sondern ich glaube das ist so grundsätzlich etwas, was man durchaus hinter diesem Verhalten auch erkennen kann, die Eltern auch zu beeindrucken. Halt auch zur Not über irgendwelche negativen Dinge, nicht über irgendwas, wo die Eltern jetzt positiv drauf reagieren, sondern eigentlich jede Aufmerksamkeit von den Eltern ist schon für die ein Erlebnis. I: Hat Dir Deine Mutter mal das Gefühl gegeben, dass sie stolz auf Dich ist und Dich gelobt? J18W:  Eigentlich nie, die hat meist gemeckert über alles. Auch mit der Schule. Aber darum hat sie sich auch nicht richtig gekümmert. (…) I: Was war denn das Schlimmste, was sie mal mit Dir gemacht hat? J18W: Meinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Da war dann ein Loch und das ja richtig geblutet. Ich wollte eigentlich ins Krankenhaus, aber die hat das nur gewaschen und ein Pflaster drauf getan und gesagt, dass ich ruhig sein soll. Ich habe dann geweint. I: Und ist so etwas öfters passiert? J18W: So stark nicht, aber so Sachen schon.

6.2  Weiterführende Gedanken zur Theorie-Verknüpfung

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J24W: Dann halt am Ende habe ich gesagt, ich fahre das Wochenende zu meiner Cousine, ich schlafe da, weil ich es zu Hause nicht mehr aushalte. Sie hatte es übertrieben. Und dann, ich bin zum Gleis gegangen, sie hat noch vorher so gesagt: „Wann kommst Du wieder?“, ich so: „Ja, Sonntag“, sie: „Ja, okay, bis dann.“ Bin dann halt zum Gleis gegangen, ganz normal, ich wollte mit der Bahn fahren, kommt meine Mama mit der Polizei aufgelaufen: „J24W, mitkommen!“ Da habe ich so gedacht: „Hä, was ist denn hier los? Was will die denn?“ Ja … okay, bin ich halt hier gelandet, habe aber gedacht, nach dem Wochenende gehe ich wieder zurück nach Hause. Dann hat meine Mama so wunderschön gesagt am Sonntag, dass sie alle meine Sachen verkauft hat, alle, also elektronische Sachen, PC … Handy hatte ich ja zum Glück noch bei mir, sonst hätte sie das wahrscheinlich auch verkauft gehabt. Also PC, Fernseher, sämtliche Konsolen. Ja … war scheiße! I: Und dann bist Du mit der Polizei hier gelandet. J24W: Ja, meine Mama hat beim Gleis, ich bin gerade hochgelaufen zum Gleis, Mama ist dann da mit zwei Polizisten aufgetaucht. Die Polizisten haben gesagt: „Sind Sie J24W?“„, ich: „Ja“, „Ja, mitkommen!“ Und ich: „Okay“, bin ich mitgegangen. Mama war dann auch dabei und ich habe mir so gedacht: „Fick Dich!“ Weil sie hätte es mir auch so sagen können, dass ich nicht soll. Sie hat ja vorher noch so gesagt: „Ja, wann kommst Du wieder?“ Ich meine echt! Nee! I: Hast Du irgendeine Idee, warum Deine Mutter das gemacht hat? J24W: Sie kommt mit der Erziehung von mir nicht klar. Das hat sie auch schon öfters gesagt, dass sie damit nicht klarkommt, dass ich sie auch überfordere. Das hat man auch gemerkt. I: Klar. Aber warum ist die auf die Idee gekommen, da mit der Polizei aufzutauchen und hat dann Deine Sachen verkauft? J24W: Ja, meine Sachen hat sie erst verkauft, als ich hier war. Meine Sachen hat sie auch verkauft, weil die nicht genug Geld für die Rechnungen hatte. Und dachte sie: „Ach, J24W ist nicht da, dann verkaufe ich mal all ihre Sachen.“ Ich meine, geht’s noch? Das ist jetzt schon … das ist jetzt schon zweieinhalb Monate her, dass sie das gemacht hat, und ich bin immer noch total wütend. Normalerweise bin ich niemals länger wütend als drei Tage. Das ist heftig.

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6  Zusammenführung der Ergebnisse

E2Jugendamt: Eher die Familienstrukturen. Die leben es dann so vor, unterstützen nicht ausreichend oder einfach vielleicht auch selbst abhängig oder erkrankt oder es gibt so viele Geschwister, dass der eine mehr oder weniger nicht auffällt quasi oder das einfach nicht mehr überschaubar ist, wer hier was macht und sich keiner drum kümmern kann. Mit den Ursachen und Wirkzusammenhängen, die das familiäre Leben erschweren, setzen sich vor allem weitere Feldexpert*innen auseinander, aber teils sind diese auch deutlich den Jugendlichen selbst bewusst beziehungsweise dienen diesen der Rechtfertigung elterlichen Verhaltens oder zumindest der verstandesmäßigen Einordnung. E8Schule: Wenn man zum Beispiel mehrere Kinder hat, ist alleinerziehend oder hat keine Ausbildung, Sprachprobleme und so weiter, der Aufenthalt ist hier nicht gesichert oder man ist rechtlich unsicher, wie man mit Dingen umgeht. Man hat einfach mit sich selber zu tun, um zu überleben, und kann sich dann nicht noch um alle Kinder so kümmern, wie es sein sollte. Die Schuld dann den Eltern zu geben, das finde ich … das passiert auch Eltern, die keinen Migrationshintergrund haben, die weniger gebildet sind, die sich in der Gesellschaft nicht so bewegen können, da passiert das genauso. Und das hat was damit zu tun und aus keinem anderen Grund. Also das finde ich schlimm. I: Also ich denke auch, dass ein Großteil der Eltern ihre Kinder nicht bewusst vernachlässigen oder kein Interesse haben. E8Schule: Die können es einfach nicht, die sind nicht stark genug in der Gesellschaft. E7Schule: Das sind die Mittel, die Fähigkeiten. Aber sie wollen es, sie sind auch stolz, wenn ihre Kinder es schaffen. (…) Und man kann da nicht sagen, dass die Eltern sich nicht um die kümmern dann, sondern die haben einfach auch mit ihrem Leben viel zu tun, das muss man so sagen. J24W: Das liegt einfach daran, dass meine Mutter psychisch nicht, sagen wir mal, normal ist. Die Zerrüttung einiger Familien drückt sich jedoch auch in vielen Kleinigkeiten aus, die von außen betrachtet zumindest erstaunlich sind, z. B. dass Jugendliche

6.2  Weiterführende Gedanken zur Theorie-Verknüpfung

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keine Ahnung haben, wann ihre Eltern Geburtstag haben oder was diese beruflich auch nur ungefähr machen. E3Jugendamt:  Ich habe mir das mit den Jugendlichen bisher immer so erklärt, vielleicht interessiert es sie auch gar nicht. Aber das ist auch schon irritierend, dass es einen nicht interessiert, was die Eltern machen, womit die ihr Geld verdienen, wo die den ganzen Tag so rumlungern. E5Sozialarbeit: Es geht noch besser, man fragt die nach dem Namen und dem Geburtsdatum, keine Antwort. Schüler, zehnte Klasse, keine Chance. Ich würde tippen, von einer Schulklasse mit 30 Schülern wissen es höchstens fünf. E6Sozialarbeit: Wann die Eltern Geburtstag haben? E5Sozialarbeit: Ja, der Rest weiß es nicht. I: Woran liegt das? E6Sozialarbeit: Auch da sind es schon wieder ganz viele Möglichkeiten. Also das fängt damit an, dass zu Hause nicht miteinander geredet wird. Ich glaube auch, was oft vorkommt, ist, dass Eltern nicht erzählen, wenn sie keine Arbeit mehr haben. Also die gehen morgens aus dem Haus, die sind den ganzen Tag weg und es kommt ja irgendein Geld anscheinend zu Hause an und da wird nicht groß drüber geredet, dass der Papa seinen Job verloren hat oder dass die Mama vielleicht morgens noch drei Stunden putzen geht, aber eigentlich vom Amt lebt oder so. Also da wird dann nicht groß erzählt, was man macht. I: Was hat die für einen Job? J5M: Das weiß ich nicht. Also bei so was, das interessiert mich auch nicht so. I: Aha. Also überhaupt keine Idee, was das sein könnte? J5M: Nee, also wirklich, ich weiß gar nichts, also was sie arbeitet. Das ist mir egal, also was für sie eine Arbeit hat so. Auf so was höre ich nicht oder achte ich auch nicht. E8Schule: Der macht da irgendwas oder da oder so. Das hat vielleicht auch manchmal was damit zu tun, dass das Arbeiten nicht immer ganz legal ist (lacht). Viele arbeiten auch schwarz, das muss man auch so sehen. Und ehe man sich da verplappert.

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6  Zusammenführung der Ergebnisse

I: Und manches ist vielleicht auch peinlich. E8Schule:  Ja, das ist auch die Möglichkeit. Aber man redet in den Familien nicht so. Und ich glaube das hat was mit der Familienstruktur zu tun. Da gibt es ja viele gute und viele schlechte Untersuchungen auch drüber, dass der Mann als Ernährer in der Familie ja auch in dem Sinne versagt, die ganze Familienstruktur auch auseinanderbricht, trotzdem die Position gehalten werden soll. Der Sohn im Prinzip auch ein anderes Verhältnis zum Vater hat, weil der Vater geht zum Beispiel nicht arbeiten oder schafft es nicht oder seinen Aufgaben in dem Sinne nicht gerecht. Das bringt das natürlich alles ins Wanken und eine Kommunikation in der Familie ist nicht so geübt in diesen Familien. Das ist leider so. Also wir haben zum Beispiel viele, die dann eher mit der Mutter reden. Die dann so ein bisschen so das Sprachrohr ist oder die Vermittlerin als die Väter dann. Die Expert*innen bringen mit Schwarzarbeit und Arbeitslosigkeit beziehungsweise Scham für bestimmte Berufe mögliche Erklärungen neben Interessenlosigkeit ins Spiel, aber auch diese deuten dann auf teilweise schlechte Kommunikationsstrukturen beziehungsweise Spannungen und Unzufriedenheit in der Familie hin. Abschließend ist auf die bereits angesprochene geringe gemeinsame Freizeitgestaltung in den Familien hinzuweisen, die teils am Nebenher liegt, aber auch mitunter zum Abkopplungsprozess in der Adoleszenz gehört und nicht grundsätzlich negativ einzustufen ist. Denn es kommt auf die Gründe dafür an und ob die Jugendlichen überhaupt gewillt beziehungsweise motiviert wären, mit den Eltern zusammen zu sein. E9Sozialarbeit: Ich habe das Gefühl, das ist auch wieder sehr altersabhängig. Also zum Beispiel aus dem Kinderbereich weiß ich schon eher, dass da Eltern irgendwie auch eine Menge Freizeitangebote auch noch mit ihren Kindern durchführen. Ab einem gewissen Alter ist das irgendwie so ein bisschen vorbei. Also ich weiß nicht, ob es da an den Jugendlichen selber liegt, dass die auch keinen Bock mehr haben. Ich meine, das ist auch irgendwie so ein Alter, würde ich sagen, so ab 14, wo man sich auch so ein bisschen versucht, von den Eltern rauszuziehen. Andererseits könnte das aber vielleicht auch wieder damit zu

6.2  Weiterführende Gedanken zur Theorie-Verknüpfung

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tun haben, dass, wenn das wieder größere Familien sind, die Jüngeren eher im Fokus stehen und die Älteren haben dann schon teilweise wieder selber eher so eine Art Elternfunktion, dass die sich dann ein Freizeitprogramm für ihre kleinen Geschwister leisten. Neben diesen vielleicht nicht immer angenehmen Aspekten des familiären Miteinanders beziehungsweise der schrittweisen Abkopplung in der Jugend finden sich im Sample auch positive Gegenentwürfe, die von Miteinander, Verbundenheit, gegenseitigem Respekt sowie Wertschätzung geprägt sind. J11W: Aber dadurch, dass ich mit meiner Mama immer zusammen war und auch alles durchgestanden habe, kann ich meiner Mama eigentlich auch alles erzählen, ohne, dass jetzt … Also über meine Freunde weiß meine Mama alles Bescheid, wo ich bin, was ich mache. Die hilft mir auch. I: Das will die auch immer wissen? J11W: Ja, die interessiert das. Die sagt aber auch: „Wenn Du mir das nicht erzählen willst, dann musst Du mir das nicht erzählen. Das ist okay. Aber wenn Du mir irgendwas erzählen willst, was Du jetzt gerade loswerden willst, kannst Du es tun, ich werde es auch keinem sagen“, und dann ist das halt auch so. J15M: Die sind alle stolz auf mich. J17M: Zum Beispiel zum Sommer, in den Ferien verbringe ich mehr Zeit mit den Eltern, also mit der ganzen Familie praktisch, wir spazieren, so ‘ne Sachen halt. I: Aber machst Du mit Deinen Eltern oder Geschwistern auch noch was zusammen? J34M:  Ja, ich gehe manchmal raus, Fußball spielen, Picknick, Grillen, Eis essen. Dann gehen wir halt da raus. J38W: Ja, wir reden auch sehr offen darüber, so wie mit Freunden halt. Sie fragt mich halt so Sachen, wie es mit dem Freund ist und so. Dann sage ich ihr das. Dann halt sie rastet auch gar nicht aus, sie sagt dann nur vielleicht manchmal: „Das ist nicht in Ordnung, mach das nicht noch einmal!“ Sonst rede ich jetzt mit ihr in der letzten Zeit auch über alles.

260

6  Zusammenführung der Ergebnisse

Solche familiären Bedingungen helfen dann, Probleme in anderen Lebensbereichen abzufedern beziehungsweise begünstigen Lebensverläufe, in denen dies weniger nötig ist. Ein ganz anderer Lebensbereich, der bislang nur bedingt thematisiert wurde, ist das Beziehungsleben der Jugendlichen, das teils (noch) nicht existent ist. Insbesondere bei familiären Schieflagen können Partnerschaften auch massive Probleme aufweisen, sodass hier Einflüsse zu vermuten sind. Vieles wirkt durch mangelndes Selbstbewusstsein beziehungsweise fehlendes Vertrauen in mögliche oder vorhandene Partnerschaften hinein, da die Jugendlichen entsprechendes Beziehungsverhalten gegebenenfalls vorgelebt bekommen haben beziehungsweise vorgelebt bekommen. E9Sozialarbeit: Also das Verhalten, wie das dann abläuft, ist teilweise auch problematisch. Also … weiß ich nicht, teilweise spielt da auch im Extremfall Gewalt wieder eine nicht unerhebliche Rolle. Also wenn so Liebe dadurch ausgedrückt wird, dass man sich ständig irgendwie gegenseitig haut, das ist irgendwie eine komische Form von Beziehung. Das Kämpfen ist dann auch nicht unbedingt auf so eine liebevolle Art und Weise, sondern da sind halt schon im Extremfall welche dabei gewesen, die sich wirklich da mehr oder weniger grün und blau gehauen haben. Also das jetzt auch nicht unbedingt in der Einrichtung, sondern außerhalb. I: Aus Eifersucht und irgendwelchen Streit raus? E9Sozialarbeit: Ja, Eifersucht spielt eine große Rolle, auf jeden Fall. Also ich glaube die provozieren sich da auch dann ganz gut gegenseitig. Das läuft auch nicht immer so. Es gibt auch andere, wo das nicht so krass mit dieser Gewalt oder so ist, aber Eifersucht spielt auf jeden Fall immer eine große Rolle, weil das ist auch wieder so, vielleicht ist noch jemand anders im Jugendzentrum, der auch Interesse an demjenigen hat. Und wenn dann mal die Freundin nicht da ist, dann wird da auch gut rumgebaggert oder so. Oder auch umgekehrt. I: Also das ist schon eher überdurchschnittlich hoch bei Euren Jugendlichen, ohne das jetzt statistisch genau beziffern zu können? E9Sozialarbeit: Ich wüsste jetzt nicht, wo der gesellschaftliche Durchschnitt ist, denn das gibt es sicherlich insgesamt viel, aber bei uns

6.2  Weiterführende Gedanken zur Theorie-Verknüpfung

261

ist es schon bei 80, 90 %, dass es immer wieder ein großes Thema ist. E10Sozialarbeit: Eifersucht ist, das ist eine Generation, die ich nicht mehr verstehe, das muss ich auch wirklich sagen. Also der Besitz einer Handynummer einer Frau ist, als ob du dein Ding in sie reingesteckt hast. Das kann schon dazu dienen, die Beziehung scheitern zu lassen. Also ganz, ganz gruselig. Also Kontrolle, ganz viel Kontrolle. Es ist ganz viel Misstrauen dabei, wobei ich grundsätzlich das erst einmal toll finde, dass die ihre Gefühle hier ausleben, ne, dass sie einfach verliebt sind, dass sie einfach leiden. Das gehört einfach dazu zum Erwachsenwerden. I: Aber irgendeine Idee, woran das liegt, dass die da so extrem bei sind? E10Sozialarbeit:  Ja, es gibt keine Basics, es gibt null Basement mehr in diesem Land, in dieser Gesellschaft. Deswegen hast du ja auch, wo Gesellschaften sich auflösen, ist doch ganz klar, hast du die Back to the Roots-Familien. Du hast diese Generation, Familiensysteme werden immer wichtiger. Klappen zwar nicht, aber das ist ja der nächste Bruch, den sie haben. Klappt überhaupt nicht, bricht auf. Können sie auch nicht so leben, wie sie wollen. Aber Familie ist seit zehn Jahren ganz wichtig, Kinder kriegen ist wichtig, Familie, Partnerin, ist alles ganz wichtig. Das heißt das System löst sich auf. I: Aber vertrauen die dann den Partnern nur nicht … E10Sozialarbeit: Nein. I: … oder ist das auch so, dass die einen Grund dafür haben? E10Sozialarbeit: Nee, sich selber auch nicht. Da auch Übertragungsklamotten. Also das hat sich nach meiner Beurteilung aufgelöst. Also Treue ist ganz wichtig, aber nur beim Partner. Und das gilt für beide Geschlechter. I: Aber ist das begründet oder eher nur fiktiv? Also betrügen die sich wirklich permanent? E10Sozialarbeit: Ja, ja. Aber Betrügen an einer anderen Stelle. Ich glaube das ist Selbstbetrug. Du hast ein Bild von was. (…) Ich sage immer: „Mädels, Ihr gebt so viel Geld für Klamotten aus.

262

6  Zusammenführung der Ergebnisse

Lächelt doch einfach mal! Dann verdoppelt Ihr Eure Schönheit. Einfach mal lächeln.“ Dieses sich selber nicht trauen, das ist ja auch so ein Ding. E6Sozialarbeit:  Viele Jungs sagen: „Klar, das ist ein Zeichen von Liebe, wenn ich da alles kontrolliere, was die machen.“ Und auch die Mädchen sagen: „Mensch, der liebt mich so sehr, dass der wissen will, wer mich anruft, und dass der wissen will, was ich so in meiner Freizeit mache“, und dass Mädchen sogar behaupten, dass das normal ist. Also die selber sagen nicht, das ist Kontrolle oder dass die sich kontrolliert fühlen, sondern für die ist das völlig normal und das gehört dazu, wenn der mich liebt. Also das ist ein Kompliment. Der liebt mich so sehr. E1Sozialarbeit: Also die in festen Beziehungen sind, sind nicht unbedingt die Jungs, die wirklich Probleme machen. J24W: Wenn ich merke, dass die andere Person mir viel bedeutet, und ich merke, dass jemand anders mir die wegnehmen will, dann denke ich immer so: „Schlampe! Verpiss Dich! Meins! Meins! Geh! Geh!“ Immer so. I: Aber würdest Du sagen, dass es dann auch immer eine ernste Gefahr gab, oder würdest Du aus heutiger Sicht sagen, dass war auch teilweise von Dir übertrieben? J24W: Das ist, ähm … das ist meistens so, dass ich Angst habe, dass er sich umverliebt, dass er eigentlich … dass seine Gefühle zu mir nicht stark genug sind. Weil ich es einfach schon viel zu oft erlebt habe, dass seine Gefühle nicht stark waren, nicht stark genug, und dann jemand anders kam und ihn mir weggeschnappt hat. Und da habe ich starke Verlustängste. I: Also wie oft hast Du so was schon erlebt? J24W: Bisher eigentlich alle meine Beziehungen. Dieser eine, der 26-jährige der war halt eigentlich, der war in meine beste Freundin vorher verliebt. Sie fand das ekelig. Verstehe ich auch, dass sie das ekelig fand. Und ja … dann war ich halt mit ihm sozusagen zusammen, aber er hat sie immer wieder erwähnt, er hat immer wieder gesagt: „Ach ja, X1W, so toll.“

6.2  Weiterführende Gedanken zur Theorie-Verknüpfung

263

Und ich irgendwie: „Ich auch?“ Und er: „Ja, Du auch. Du noch mehr.“ Und ich: „Hm, klar. Sicher. Voll. Ja.“ Dieser Aspekt setzt sich noch in einem anderen Bereich fort. Denn die Jugendlichen geben nicht nur in Partnerschaften den Druck weiter beziehungsweise externalisieren ihr Misstrauen in Beziehungen, sondern praktizieren oder missbrauchen gegebenenfalls ihre Überlegenheit auch gegenüber Geschwistern. Das deutet darauf hin, dass das, was zu Hause vorgelebt wird, durch die Befragten nicht umgekehrt wird, sondern Fortsetzung findet; nur eben im Jugendalter in einem Bereich, in dem sie, anders als gegenüber Erwachsenen, im Vorteil sind. E9Sozialarbeit: Da gibt es ein paar Fälle, wo das auch problematisch ist. Also weil die dann halt aus den Familienstrukturen heraus so versuchen, den großen Bruder und Beschützer dann halt zu spielen, ähnlich einer Vaterrolle, und dann auch die jüngeren Schwestern sehr einschränken in ihrem Verhalten, dann sagen: „Nee, Du musst jetzt nach Hause gehen!“, obwohl die Eltern eigentlich gesagt haben: „Nee, Du darfst bis neun Uhr in der Einrichtung bleiben.“ Die versuchen das dann irgendwie selber zu entscheiden und da müssen wir dann halt immer gucken, dass wir die großen Brüder ein bisschen bremsen, damit man versucht, den Mädchen die Freiräume zu geben, die sie auch haben sollen. I: Also kommt das dann auch weniger von den Eltern und ist eher von den Geschwistern selbst. E9Sozialarbeit: Nee, das kommt von da teilweise … Wiederum glaube ich auch als Fall der eigenen Aufwertung der Rolle sozusagen von den großen Brüdern. Die großen Brüder versuchen gegen die Eltern zu wirken und ich glaube, das hat schon was damit zu tun, dass die sich selber damit irgendwie in ihrer Rolle bestärken wollen, dass die sagen: „Okay, ich kann jetzt hier meine Macht auf die kleine Schwester ausüben.“ J22M: Wie soll ich sagen, meine Brüder sind so für mich meine Erziehungsberechtigten. Die verbieten mir alles und so. Jetzt nicht so alles, aber die machen so jetzt halt … wie soll ich sagen: „Du bist um neun Uhr zu Hause.“ I: Die kontrollieren das stärker als Deine Eltern?

264

6  Zusammenführung der Ergebnisse

J22M: Auf jeden Fall. Weil meine Brüder wollen, dass ich nicht auf die Fresse fallen wie was weiß ich. I: Aber kontrollierst Du dann teilweise die jüngeren Geschwister dann auch selbst? J22M: Ja. I: Dass Du es dann mit den Jüngeren genauso machst wie die mit Dir? J22M:  Ja, meine kleine Schwester halt, ich kontrolliere die zwar nicht, aber ich bin hart zu ihr so. Sie darf mit keinem Jungen so Kontakt haben und so und darf nicht rauchen, darf nicht kiffen oder sonst was. I: Was würdest Du denn machen, wenn Du die mit einem Jungen sehen würdest? J22M: Ich würde meiner Schwester vielleicht drei, vier Backpfeifen geben, aber jetzt nicht so, dass sie, sage ich jetzt mal, dass sie blutet oder so, aber den Jungen, den würde ich zerstören. Den würde ich zerstören. I: Warum darf die das nicht? J22M: Sie ist einfach zu jung. Sie ist 13 und sie ist zu jung, weil sie ist ein Mädchen. Weil heutzutage ist es nicht mehr so wie früher. Die kleinen Mädchen werden schon zu Schlampen. Heutzutage hast du einen Freund, hüpfst du zum anderen Freund, sage ich mal, hast du einen Monat eine Beziehung, dann verliebst du dich irgendwo da. Und dann auf einmal nennt dich direkt jemand Schlampe. Und jetzt halt, wenn ich höre, dass jemand meine Schwester als Schlampe beleidigt, was soll ich dann als großer Bruder machen? Ich ticke dann doch aus. Deswegen lieber soll die sich von Jungs fernhalten, dass nicht so über die geredet wird und dass ich nicht in Probleme rein komme. Das ist alles viel besser als so was. I:  Oder mal anders gefragt, Du hast ja schon Freundinnen gehabt, oder? J22M: Ja. I: Wann hattest Du die erste Freundin? J22M: Mit sieben (lacht). I: Aber ich meine die erste, wo es dann mit Küssen war und auch etwas weiter ging. J22M: Mit 14 hat so was anderes angefangen.

6.2  Weiterführende Gedanken zur Theorie-Verknüpfung

265

I: Aber da warst Du dann ja auch nicht viel älter als Deine Schwester. Und Deine Freundin war vermutlich auch nicht viel älter, oder? J22M: Ja, die war im Alter von mir so. Ich hatte bis jetzt nur eine Freundin, die war jünger als ich ein Jahr, aber sonst so etwas älter oder mein Alter. I: Aber in welchem Alter dürfte Deine Schwester denn dann einen Freund haben? J22M: Mit 18, weil mit 18 ist sie volljährig. Da kann ich ihr auch nichts verbieten so. I: Warum gilt das dann für sie anders als für Dich? Oder anders gefragt, warum waren Deine Freundinnen dann dadurch keine Schlampen? J22M: Das ist anders, weil ich ein Junge bin. Meine Schwester darf das nicht. J32M: Ja, wir sollten schon aufpassen, dass die keine Jungs haben und dass denen nichts passiert. Aber die waren sowieso mehr zu Hause als die Jungs. Wir waren mehr draußen. I: Idee, warum die dann mit ihren Freundinnen nicht hier hinkommen? E1Sozialarbeit: Weil türkische Mädchen immer noch … wir haben ja nachmittags, wenn Schule ist, dann sind ja relativ viele türkische Mädchen auch da bis drei, vier Uhr. Aber im Abendbereich sind die halt in Anführungszeichen Schlampen und Schlampen oder türkische Mädchen, die ins Jugendzentrum gehen, sind Schlampen. Eine Schlampe möchte keiner sein. Das ist nach wie vor ein Problem. Wir hatten es mal vor … also Anfang der 2000er Jahre, da hatten wir mal eine Zeitlang, da haben wir sehr viel Projektarbeit mit der Gesamtschule gemacht und da hatten wir auch sehr viele, sehr intelligente türkische Mädchen bei uns in der Einrichtung. Zum Teil sind die auch Ärztinnen und alles Mögliche geworden. Die haben es auch geschafft für ein paar Jahre, hier abends ganz klar sein zu dürfen, ohne in den Ruf zu kommen, ihr seid das, ne. Aber das haben die sich erarbeitet damals. Und das ist dann irgendwann wieder aus irgendwelchen Gründen wieder den Bach runtergegangen.

266

6  Zusammenführung der Ergebnisse

Aber hatten wir auch mal so eine Erfahrung. Aber jetzt die meisten würden Gefahr laufen, dann eben halt so. Das heißt nicht, die dürfen zusammen nicht spazieren gehen, aber nicht ins Jugendzentrum. Jugendzentrum ist für türkische Jugendliche ihr Freiraum, hier sind wir, die Jungs, hier möchten wir keine Mädchen haben. Freundinnen werden draußen zum Spazierengehen gemacht. Alles in allem scheinen in diesen letzten Aussagen bezüglich des Umgangs zwischen Jungen und Mädchen sowohl in Partnerschaften als auch zwischen Geschwistern noch einmal einige zentrale Aspekte beziehungsweise die komplexen Verknüpfungen durch, denen sich diese Untersuchung gewidmet hat. Auf der einen Seite steht ausgeübte und erfahrene Kontrolle zwischen den Jugendlichen, auf der anderen Seite stehen Verhaltensweisen zwischen eigentlich eng miteinander verbundenen Menschen, denen es an Anerkennung, Respekt, aber auch Vertrauen mangelt. Die Jugendlichen suchen sich in dieser für alle Beteiligten bedrückenden Lage kleine Nischen, in denen sie sich ausleben können, in denen sie das Gefühl haben können, selbst Kontrolle auszuüben und nicht bloß kontrolliert zu werden. Darüber hinaus können sie in diesen Nischen Verhaltensweisen zeigen, mittels derer sie vermeintliche Anerkennung durch ihre Peers erfahren. Im Wettbewerb um diese raren Ressourcen nehmen sie es in Kauf, (vermeintlich schwächere) Personen aus dem sozialen Umfeld emotional zu verletzen.

7

Fazit

„Je stärker die soziale Desintegration und je geringer ein ausgeglichenes Kontrollerleben durch Selbst- und Fremdkontrolle in den verschiedenen Sozialisationsfeldern, desto häufiger treten körperliche und auch psychische Gewalthandlungen auf.“ Die Analyse stellt einen neuen Weg zur Erklärung devianten und gewalttätigen Verhaltens bei Jugendlichen dar. Dieser Weg besteht in einer Theorie-Verknüpfung und ihrer empirischen Umsetzung, die es bisher in der kriminologischen Forschung nicht gegeben hat. Es ist die integrative Verknüpfung der Theorie Sozialer Desintegration (TSD) und der Control Balance Theory (CBT). Die Ausgangsthese war: Soziale Desintegrationserfahrungen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Erfahrung von Imbalancen der Kontrolle über die eigene biographische Entwicklung in verschiedenen Sozialisationsinstanzen von Familie, Schule und der Gruppe von Gleichaltrigen angesichts der Ambivalenzen des Aufwachsens in der modernen Gesellschaft vergrößern die Gefahren devianten und gewalttätigen Verhaltens. Dieses Verhalten wird als ein – höchst problematischer – Weg zur Realitätskontrolle im eigenen Leben interpretiert, sodass in Gewalt ein subjektiver Sinn gesehen wird. Die empirischen Ergebnisse zeigen nun mithilfe der quantitativen Methode der „Latent Class Analysis“ und die darauf bezogenen qualitativen Leitfadeninterviews das zentrale Ergebnis: Je stärker die soziale Desintegration und je geringer ein ausgeglichenes Kontrollerleben durch Selbst- und Fremdkontrolle in den verschiedenen Sozialisationsfeldern, desto häufiger treten körperliche und auch psychische Gewalthandlungen auf. Diese Aussage wird durch kausalorientierte Regressionsanalysen gestützt. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6_7

267

268

7 Fazit

Die Ergebnisse legen Konsequenzen sowohl für die wissenschaftliche als auch für die praktische Arbeit in den verschiedenen Sozialisationsfeldern nahe. Für die wissenschaftliche Arbeit kann die vorgelegte Konzeption mit ihren empirischen Aussagen als Stimulation dienen, verschiedene Theorie-Verknüpfungen zu erproben, um Erklärungsblickwinkel zu verändern ­ und Erklärungsreichweiten zu vergrößern, damit bisher unterbelichtete Faktoren heller ausgeleuchtet werden können. Deshalb ist der Blick auf den methodischen, empirischen und theoretischen Mehrwert zu richten. Aufgrund der eingangs bereits erwähnten Komplexität der beiden Theorien könnte man kritisieren, dass deren Kombination empirisch impraktikabel sei. Tatsächlich stellte uns – wie in Abschn. 3.2 erwähnt – die Operationalisierung und Kombination beider Theorien vor Herausforderungen. Die daraus hervorgegangenen Ergebnisse zeigen, dass unser Ansatz durchaus fruchtbar war und sowohl auf methodischer als auch empirischer Seite wertvolle Hinweise für weitere eigene, aber auch anderweitige Forschung zu den beiden Theorien in dieser Integrationsform bereithält. Insgesamt bietet der gewählte Forschungsansatz den Vorzug, dass einerseits nicht nur einige wenige Aspekte zur Erklärung von jugendlicher Gewalt thematisiert wurden, sondern ein breites Bündel, was den erlangten Erkenntnissen empirische Tiefe verleiht. Andererseits wurden aufgrund der Komplexität beider Theorien nur jene Aspekte in der Untersuchung berücksichtigt, die aufgrund des Forschungsstandes für die Zielgruppe besonders relevant erschienen. Sprich, eine adäquate Theorieanalyse und -integration gerade komplexer Theorien sollte vorsehen, dass nicht grundsätzlich alle möglichen Unteraspekte erfasst werden. Tittle (1995) argumentiert in diesem Sinne sogar, dass dies bei der Untersuchung der komplexen CBT empirisch nicht möglich sei. Die Auswahl der zu untersuchenden Bausteine der Theorie müsse sich an der Zielgruppe, den Deliktformen und den Rahmenbedingungen orientieren.

„Der theoretische wie analytische Mehrwert für die Integration der Theorien liegt in der Bedeutung der Kategorie der Realitätskontrolle, die in der hier vorgestellten Studie in der TSD bisher nicht platziert war und in weiteren Untersuchungen weiter ausgebreitet werden sollte.“

Der theoretische wie analytische Mehrwert für die Integration der Theorien liegt in der Bedeutung der Kategorie der Realitätskontrolle, die in der hier vorgestellten Studie in der TSD bisher nicht platziert war und in weiteren

7 Fazit

269

­ ntersuchungen weiter ausgebreitet werden sollte. In dieser Untersuchung U „strahlt“ sie gewissermaßen in beide Theorien hinein und erhält so den zugewiesenen Verbindungsstatus. Mit diesem empirischen Zuschnitt der Theorien auf das Forschungsfeld ist auch der methodische Mehrwert der Studie verbunden. Sowohl bei der TSD als auch der CBT kam es zur Entwicklung neuer und Verfeinerung bestehender Items. Trotz der bereits relativ elaborierten Entwicklung der Items zur TSD gab es bislang wenige Vorlagen zur Untersuchung von Jugendlichen in unserer Zielgruppe (vgl. Freiheit et. al. 2018). Vor allem bezüglich der zweiten Dimension der Theorie, der gesellschaftlich-normativen Integration, beschäftigen sich bestehende Operationalisierungen vielfach mit politischer Partizipation bei Erwachsenen. Diese spielt jedoch in der Lebenswelt der Jugendlichen oftmals keine oder kaum eine Rolle, weshalb es sich hier anbot, gesellschaftliche Partizipation in den Lebensbereichen zu erfassen, in denen diese für die Jugendlichen eher möglich und verbreitet ist. Darüber hinaus konnten jedoch viele Items verwendet beziehungsweise modifiziert werden, die sich bereits empirisch bewährt haben. Im Bereich der CBT konnte auf deutlich weniger Vorwissen bezüglich der Operationalisierung der zentralen Aspekte der Theorie zurückgegriffen werden. In Anlehnung an die Arbeiten von Wood und Dunaway (1997– 8) sowie Piquero und Hickman (1999) war aus dem bestehenden Forschungsstand abzuleiten, welche Vorgehensweisen und Fragestellungen zu vermeiden sind. Insofern leistet die vorliegende Untersuchung mit Blick auf die CBT einiges an methodischer Pionierarbeit. Bezogen auf die CBT liegt der empirische und theoretische Mehrwert der Studie vor allem darin, dass bislang insgesamt relativ wenige Forschungsarbeiten, insbesondere im deutschsprachigen Raum, mit diesem Ansatz durchgeführt wurden und jede neue Studie immer noch Pionierarbeit leistet. Empirisch bestehen bezüglich des Erklärungswertes der Theorie sowohl mit Blick auf verschiedene Deliktfelder als auch für spezifische Zielgruppen wenige Erkenntnisse. Somit leistet das vorliegende Projekt wertvolle Einblicke in das Zusammenspiel der hier berücksichtigten Aspekte der Theorie. Im Gegensatz zu früheren Anwendungen der Theorie können wir hierbei auf eigens dafür erhobene Daten zurückgreifen, d. h. zielgerichtet formulierte Items. Empirisch neu ist zudem die Kombination von quantitativen und qualitativen Daten; in dieser Kombination wurde nach unserem Wissen die CBT noch gar nicht angewandt. Dies bringt vertiefende Einblicke in die Wirkmechanismen, die im Rahmen dieser Theorie beschrieben werden. Denn wenn vom Kontrollerleben der Jugendlichen die Rede ist, sollte es naheliegen, dieses Erleben auch detailliert zu erfassen und darzustellen. Mit den hier präsentierten Daten ist dies gelungen. Zudem können die

270

7 Fazit

Ergebnisse dazu beitragen, das von Tittle vorgeschlagene Modell des Zusammenspiels der zentralen Faktoren (Kontrollverhältnis, Gelegenheitsstrukturen, Begrenzungen, Selbstkontrolle) der CBT genauer zu beschreiben. Für die Praxis in den genannten Sozialisationsfeldern liegt die Herausforderung darin, den Anerkennungsprozessen sehr viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken statt der gesellschaftlich prämierten Konkurrenzlogik (Groenemeyer und Ratzka 2012, S. 403; Heitmeyer 1991, S. 21; Oberwittler 2012, S. 817). Das folgt den empirischen Ergebnissen anderer Untersuchungen, wonach die eigene Anerkennung die Anerkennung von Anderen und auch von sozialen Normen hinsichtlich der physischen und psychischen Integrität von Anderen erhöht (Anhut und Heitmeyer 2005). Und im Umkehrschluss, dass die Missachtung durch Andere auch deren Missachtung erhöht, um eine Realitätskontrolle mittels Machtdemonstration zu erreichen, bei der auch soziale Normen verletzt werden. Das heißt für die Schule als zentrale Institution zur Verteilung von Lebenschancen nach Stärken der Jugendlichen zu suchen, statt nach Schwächen zu fahnden. Für die Familie bedeutet dies, Liebe und Empathie als Anerkennungsquelle zu intensivieren, anstatt Missachtung als Machtinstrument einzusetzen. Und in der Gruppe von Gleichaltrigen wäre das Zugehörigkeitsgefühl wechselseitig zu verstärken, anstatt machtorientierte informelle Hierarchien auszuspielen. Das würde vor allem die Entwicklung der Fähigkeit zur Empathie erfordern, die aber durch die dominierende Konkurrenz- und Machtlogik zu verkümmern scheint. Und im Sozialisationsfeld der sozialen Netzwerke im Internet ist die Unkontrollierbarkeit der Bedrohung von Realitätskontrolle und Anerkennung für Jugendliche extrem angewachsen, deren Auswirkungen noch gar nicht abzuschätzen sind. Die Langzeituntersuchung „Delinquenz im Altersverlauf“ von Boers und Reinecke (2019) zeigt, dass sich nicht zwangsläufig verfestigte Handlungsmuster ergeben. Es hängt viel von den Interaktionsmustern in den Sozialisationskontexten von Schule, Familie und Peers ab; aus unserer Sicht vor allem von den Anerkennungsqualitäten. Auf gesellschaftlicher Ebene gilt die Aussage aus internationalen Vergleichen, dass soziale Ungleichheit, die sich in alle Sozialisationsfelder hinein vermittelt und sich in den Desintegrationsgefahren spiegelt, Gesellschaften zerstört und die Gewaltquoten erhöht (Wilkinson und Pickett 2009). Dieser Prozess beginnt bereits früh im Kindes- und Jugendalter mit mangelnder Anerkennung.

8

Anhang

Tab. 8.1   Konstrukte der TSD und CBT mit Reliabilitätstests und dazugehörigen Häufigkeiten der Einzelitems

(Fortsetzung)

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6_8

271

272

8 Anhang

Tab. 8.1   (Fortsetzung)

(Fortsetzung)

8 Anhang

273

Tab. 8.1   (Fortsetzung)

(Fortsetzung)

274

8 Anhang

Tab. 8.1   (Fortsetzung)

(Fortsetzung)

8 Anhang

275

Tab. 8.1   (Fortsetzung)

(Fortsetzung)

276 Tab. 8.1   (Fortsetzung)

8 Anhang

8 Anhang

277

Tab. 8.2   Messung der erfahrenen und ausgeübten Kontrolle mit dazugehörigen Häufigkeiten

Tab. 8.3   Konstrukte der TSD und CBT mit Antwortwahrscheinlichkeiten nach Klasse

(Fortsetzung)

278 Tab. 8.3   (Fortsetzung)

8 Anhang

8 Anhang

279

Tab. 8.4   Leitfaden der qualitativen Interviews

(Fortsetzung)

280

8 Anhang

Tab. 8.4   (Fortsetzung)

(Fortsetzung)

8 Anhang Tab. 8.4   (Fortsetzung)

281

282

8 Anhang

Messinstrument (Fragebogen) Zunächst ein paar allgemeine Fragen zu Deiner Person 1. In welchem Land sind Deine leiblichen Eltern und Großeltern geboren? Bei Deinen Großeltern kannst Du mehrere Länder ankreuzen. Dein Vater

Deine Mutter

Deutschland/DDR Griechenland Italien Polen Portugal Russland/Kasachstan Spanien Türkei in einem anderen Land

2. Hast Du die deutsche Staatsangehörigkeit? ja

ja, doppelte Staatsbürgerschaft

nein

3. Seit wann lebst Du hier in Deutschland? seit der Geburt

seit ____________ (Bitte Jahr eintragen)

Deine Großeltern

8 Anhang

283

4. Gib hier bitte Dein Geschlecht an. männlich

weiblich

5. Wie alt bist Du? __________Jahre nein

ja

, und zwar _______ (Bitte Anzahl eintragen)

6. Hast Du Geschwister? Und wenn ja, wie viele? 7. Gehörst Du einer Glaubensgemeinschaft an? Wenn ja, welcher? männlich

weiblich

Nun kommen wir zu Dir und Deiner Familie  8. Inwiefern stimmst Du den folgenden Aussagen zu? Stimme völlig zu

Ich fühle mich voll und ganz akzeptiert Ich fühle mich sehr wohl Ich erhalte Liebe und Aufmerksamkeit In der Schulzeit habe ich feste Zeiten, wann ich abends zu Hause sein muss Meine Eltern wollen wissen, wer meine Freunde sind Ich verbringe Zeit mit meiner Familie Bei Problemen würde ich mich an meine Familie wenden

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

284

8 Anhang

9. Wie gut verstehst Du Dich mit Deinen Eltern (bzw. Erziehungsberechtigten) und Geschwistern? Sehr

gut

Eher

gut

Eher schlecht

Sehr schlecht

Trifft nicht zu

Mit meiner Mutter verstehe ich mich… Mit meinem Vater verstehe ich mich… Mit meinen Geschwistern verstehe ich mich…

☞ Wenn Du keine Geschwister hast, mache bitte bei Frage 11 weiter! 10. Geschwister verstehen sich nicht immer gut. Wie oft hast Du ernsthaft Streit mit Deinen Geschwistern? Mindestens 1× in der Woche

Mindestens 1× im Monat

Seltener als 1× im Monat

Nie

11. Auch Eltern und Kindern streiten sich miteinander. Wie oft hast Du ernsthaft Streit mit Deinen Eltern? Mindestens 1× in der Woche

Mindestens 1× im Monat

Seltener als 1x im Monat

Nie

12. Ist es schon vorgekommen, dass Dir Deine Mutter etwas erlaubt hat, Dein Vater aber verboten (oder umgekehrt)? Mindestens 1× in der Woche

Mindestens 1× im Monat

Seltener als 1× im Monat

Nie

8 Anhang

285

13. Viele Jugendliche beschweren sich, weil ihre Eltern sie wie Kinder behandeln und ihnen vorschreiben, was sie tun und lassen sollen. Wie oft kommt so etwas bei Dir vor? Mindestens 1× in der Woche

Mindestens 1× im Monat

Seltener als 1× im Monat

Nie

14. Viele Jugendliche beschweren sich, weil ihre Eltern ihnen zu wenig Freiraum lassen. Wie oft kommt so etwas bei Dir vor? Mindestens 1× in der Woche

Mindestens 1× im Monat

Seltener als 1× im Monat

Nie

15. Wie stehst Du zu den folgenden Aussagen? Stimme völlig zu Ich finde es in Ordnung, dass ich auch Aufgaben im Haushalt erledigen muss Es ist gut, dass man sich im Alltag an Regeln hält Man kann nicht nur tun und lassen, was man möchte Man muss sich im Leben anpassen, um seine Ziele leichter zu erreichen

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

Muss ich nicht

286

8 Anhang

16. Welchen höchsten Abschluss haben Deine Eltern erreicht? Vater

Mutter

Abgeschlossenes Studium an einer Universität/Fachhochschule Abitur/Fachhochschulreife Mittlere Reife/Realschulabschluss Hauptschulabschluss/Volksschulabschluss keinen Schulabschluss weiß nicht

17. Besitzt Deine Familie ein Auto? Nein

Ja, eins

Ja, zwei oder mehr

18. Hast Du ein eigenes Zimmer für dich allein bei euch zu Hause? Nein

Ja

19. Wie oft bist Du in den letzten 12 Monaten mit Deiner Familie in den Urlaub gefahren? (Damit sind mehrere Tage gemeint und keine Wochenendfahrten z. B. zu Verwandten.) Mehr als zweimal

Zweimal

Einmal

Nicht einmal

20. Hast Du zu Hause einen eigenen Computer für Dich allein? Nein

Ja

8 Anhang

287

21. Mit wem wohnst Du zusammen? Kreuze bitte alle Personen an, mit denen Du zusammenlebst. Mutter Vater Geschwister Stiefmutter Stiefvater Großeltern Mit anderen Personen Wohne in einem Heim Wohne allein

22. Wie viele Bücher habt Ihr in etwa zu Hause? Weniger als 10 Bücher 11–50 Bücher 51–100 Bücher 101–200 Bücher 201–500 Bücher 501–1000 Bücher über 1000 Bücher

288

8 Anhang

Kommen wir jetzt zu Deinen Freunden und Deiner Freizeit  23. Wie läuft es sonst so mit Deinen Freunden/Freundinnen? Inwiefern treffen die folgenden Aussagen auf Dich zu? Stimme völlig zu

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

Ich habe Freunde/Freundinnen, mit denen ich über alles sprechen kann Ich habe Freunde/Freundinnen, auf die ich mich immer verlassen kann Bei Problemen helfen wir uns immer gegenseitig In meinem Freundeskreis wird es akzeptiert, wenn jemand eine andere Meinung hat Wenn wir unterschiedliche Meinungen vertreten, ist das für uns kein Problem

24. Auch unter Freunden kommen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte vor. Wie häufig hast Du Streit mit Deinen Freunden/Freundinnen? Mindestens 1× in der Woche

Mindestens 1× im Monat

Seltener als 1× im Monat

Nie

25. Hast Du zurzeit einen festen Partner/eine feste Partnerin? Nein

Ja

☞ Wenn Du keinen Partner/keine Partnerin hast, mache bitte bei Frage 27 weiter!

8 Anhang

289

26. Fühlst Du dich gelegentlich von Deinem Partner/Deiner Partnerin eingeschränkt, weil er/sie Dir Sachen vorschreibt oder verbietet? Nein

Ja

27. Wie oft verbringst Du Deine Freizeit … Mehrmals die Woche … in einem Verein/beim Training (z. B. Musik, Sport, Reiten)? … in einer Kirche/einer Moschee/einem Gebetshaus? … in einer anderen Einrichtung (z. B. Rotes Kreuz, Freiwillige Feuerwehr, Bürgerverein)? … mit der Verrichtung eines Nebenjobs? … in einem Jugendzentrum/Jugendhaus/Jugendtreff Ich hänge die meiste Zeit über mit meinen Freunden ab Ich arbeite ehrenamtlich oder sozial Ich beschäftige mich allein Ich habe familiäre Pflichten zu erfüllen

1× in der Woche

1× im Monat

Seltener

Nie

290

8 Anhang

28. Wenn Du an die Dinge denkst, die man als Jugendlicher braucht, um bei anderen gut anzukommen (z. B. Markenkleidung, das neueste Handy). Hast du alles, was du Dir wünschst, oder fehlt Dir einiges? Eigentlich habe ich alles, was ich mir wünsche Eigentlich habe ich nicht alles, aber doch sehr viel Mir fehlt einiges Mir fehlt sehr viel Das ist mir nicht wichtig

29. Manche Personen versuchen zu bestimmen, was wir tun und lassen sollen. In welchem Ausmaß fühlst Du Dich eingeengt, weil diese Personen über Dein Verhalten bestimmen wollen? Bitte gib zwischen 0 und 5 für die einzelnen Bereiche an, wie das bei Dir ist. Wenn etwas nicht auf Dich zutrifft, mache bitte ein Kreuz im Feld daneben. 0 = Ich fühle mich gar nicht eingeengt. 5 = Ich fühle mich stark eingeengt. Freunde Eltern Lehrer Mitschüler Partner/Partnerin Geschwister Personen im Verein Personen im Jugendzentrum

Wenn du diese nicht hast oder besuchst, trage keine Zahl ein, sondern mache ein Kreuz.

8 Anhang

291

30. Jetzt kommen wir zum umgekehrten Fall. Wir möchten von Dir wissen, wie sehr Du das Gefühl hast, auf Verhalten und Handlungen dieser Personen Einfluss nehmen zu können. Bitte gib zwischen 0 und 5 für die einzelnen Bereiche an, wie das bei Dir ist. 0 = Ich habe gar keinen Einfluss. 5 = Ich habe starken Einfluss. Freunde Eltern Lehrer Mitschüler Partner/Partnerin Wenn du diese nicht hast oder besuchst, trage keine Zahl ein, sondern mache ein Kreuz.

Geschwister Personen im Verein Personen im Jugendzentrum

31. Wie stehst Du zu den folgenden Aussagen? Stimme völlig zu

Ich möchte nicht, dass andere mir vorschreiben, was ich tun soll Ich möchte anderen vorschreiben, was sie tun sollen Ich lasse mir nicht gern von anderen sagen, wie ich mich verhalten soll Ich sage anderen gern, wie sie sich verhalten sollen

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

292

8 Anhang

32. Personen und Einrichtungen sind für jeden unterschiedlich wichtig. Wie wichtig sind sie für Dich? Trage die Zahlen 0 (unwichtig) bis 5 (wichtig) ein. Freunde Eltern Lehrer Mitschüler Partner/Partnerin Wenn du diese nicht hast oder besuchst, trage keine Zahl ein, sondern mache ein Kreuz.

Geschwister Verein Jugendzentrum

33. Bitte gib an, in welchem Ausmaß Du in den genannten Bereichen Deine Interessen und Bedürfnisse durchsetzen kannst. Stimme völlig zu

In meiner Familie kann ich meine Interessen durchsetzen Im Freundeskreis kann ich meine Interessen durchsetzen In der Schule kann ich meine Interessen durchsetzen Im Verein/beim Training kann ich meine Interessen durchsetzen Im Jugendzentrum kann ich meine Interessen durchsetzen

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

Besuche ich nicht

8 Anhang

293

34. Würdest Du Dich persönlich als … Sehr religiös Eher religiös Eher nicht religiös Überhaupt nicht religiös

… bezeichnen? ☞ Wenn Du überhaupt nicht religiös bist, mache bitte bei Frage 36 weiter! 35. Inwiefern stimmst Du der folgenden Aussage zu? Mein Glaube ist anderen Religionen überlegen. Stimme völlig zu

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

294

8 Anhang

36. Inwiefern stimmst Du den folgenden Aussagen zu? Stimme völlig zu Es gibt Menschen, die zu mir halten, auch wenn ich Fehler mache Es gibt Menschen, die mich so nehmen, wie ich bin Durch die Erwartungen anderer werde ich erheblich eingeengt Jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich Wie mein Leben verläuft, hängt von mir selbst ab Ich mache häufig die Erfahrung, dass andere über mein Leben bestimmen Ich habe wenig Kontrolle über die Dinge, die in meinem Leben passieren In Diskussionen kann ich auf meine Anliegen aufmerksam machen In Gesprächen stehe ich für meine Interessen ein Ich teile meine Bedürfnisse mit

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

8 Anhang

295

37. Gib für die nachfolgenden Verhaltensweisen bitte wieder an, inwiefern die Aussagen auf Dich zutreffen. Stimme völlig zu

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

Manchmal suche ich gerne Streit Wenn mich jemand provoziert, raste ich aus Manchmal fühle ich mich wie ein Pulverfass, jederzeit bereit, zu explodieren

38. Wie oft ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, dass … Sehr oft

(zehnmal und häufiger)

… Du von einem Anderen/einer Anderen geschlagen oder verprügelt wurdest? … Du von einem Anderen/einer Anderen so stark geschlagen wurdest, dass Du zum Arzt musstest? … andere Gegenstände von Dir zerstört oder beschädigt haben? … Du „abgezogen“ wurdest? … Du von jemanden bedroht wurdest, damit Du tust, was sie oder er will? … Sachen von Dir gestohlen wurden? … Du im Internet von anderen beleidigt oder absichtlich negativ dargestellt wurdest? … Du gemobbt wurdest (nicht im Internet)?

Oft

(drei- bis neunmal)

Selten

(ein- oder zweimal)

Nie

296

8 Anhang

39. Hast Du oder haben Deine Eltern anschließend Anzeige bei der Polizei erstattet? Ja, zehnmal und häufiger

Ja, dreimal bis neunmal

Ja, ein- oder zweimal

Nein, noch nie

Schlägereien und Gewalt 40. Wie oft ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, dass Du …

8 Anhang

297

41. Wie häufig haben Deine Eltern davon erfahren, dass du jemanden geschlagen hast? Sehr oft

(zehnmal und häufiger)

Oft

(drei- bis neunmal)

Selten

(ein- oder zweimal)

Nie

42. Wie häufig bist Du von Deinen Eltern dafür bestraft worden? Sehr oft

(zehnmal und häufiger)

(a) Verbot (TV, Handy, PC, Internet) (b) Handy weggenommen (c) Hausarrest/Ausgehverbot (d) Mutter/Vater hat dich angebrüllt (e) eine Ohrfeige (f) eine Tracht Prügel

Oft

(drei- bis neunmal)

Selten

(ein- oder zweimal)

Nie

298

8 Anhang

43. Welche Strafe von Frage 42 ist die schlimmste, die Du in den letzten 12 Monaten von Deinen Eltern dafür bekommen hast, dass du jemanden geschlagen hast? _____ (Buchstaben eintragen) 44. Man kann Gewalt aus verschiedenen Gründen ablehnen. Was spricht Deiner Meinung nach gegen die Anwendung von Gewalt? Stimme völlig zu

Man sollte andere aus moralischen Gründen nicht schlagen Man sollte andere nicht schlagen, um ihnen keine Schmerzen zuzufügen Man sollte andere nicht schlagen, wenn man selbst nicht geschlagen werden möchte Man sollte andere nicht schlagen, wenn man nicht stark genug ist Man sollte andere nicht schlagen, weil man so erzogen wurde Man sollte andere nicht schlagen, weil die Freunde das auch nicht machen

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

8 Anhang

299

45. Wie wahrscheinlich ist es, dass Du oder Deine Eltern es nach einer Schlägerei mit staatlichen Institutionen (z. B. Jugendamt, Polizei, Justiz) zu tun bekommen? Sehr wahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Sehr unwahrscheinlich

46. Wie wahrscheinlich ist es, dass Du in Zukunft jemanden schlagen wirst? Sehr wahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Sehr unwahrscheinlich

47. Wie wahrscheinlich ist es, dass Du von Deinen Eltern dafür bestraft wirst, dass Du jemanden geschlagen hast? Sehr wahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Sehr unwahrscheinlich

300

8 Anhang

Mobbing  48. Wie oft ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, dass Du …

49. Wie häufig haben Deine Eltern davon erfahren, dass du jemanden gemobbt hast? Sehr oft

(zehnmal und häufiger)

Oft

(drei- bis neunmal)

Selten

(ein- oder zweimal)

Nie

8 Anhang

301

50. Wie häufig bist Du von Deinen Eltern dafür bestraft worden? Sehr oft

(zehnmal und häufiger)

Oft

(drei- bis neunmal)

Selten

(ein- oder zweimal)

Nie

(a) Verbot (TV, Handy, PC, Internet) (b) Handy weggenommen (c) Hausarrest/Ausgehverbot (d) Mutter/Vater hat dich angebrüllt (e) eine Ohrfeige (f) eine Tracht Prügel

51. Welche Strafe von Frage 50 ist die schlimmste, die Du in den letzten 12 Monaten von Deinen Eltern dafür bekommen hast, dass du jemanden gemobbt hast? _____ (Buchstaben eintragen)

302

8 Anhang

52. Man kann Mobbing aus verschiedenen Gründen ablehnen. Was spricht Deiner Meinung nach gegen Mobbing? Stimme völlig zu

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Stimme überhaupt nicht zu

Man sollte andere aus moralischen Gründen nicht mobben Man sollte andere nicht mobben, um ihnen nicht weh zu tun Man sollte andere nicht mobben, wenn man selbst nicht gemobbt werden möchte Man sollte andere nicht mobben, wenn die Möglichkeiten fehlen Man sollte andere nicht mobben, weil man so erzogen wurde Man sollte andere nicht mobben, weil die Freunde das auch nicht machen

53 Wie wahrscheinlich ist es, dass Du oder Deine Eltern es nach Mobbing mit staatlichen Institutionen (z. B. Jugendamt, Polizei, Justiz) zu tun bekommen? Sehr wahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Sehr unwahrscheinlich

54. Wie wahrscheinlich ist es, dass Du in Zukunft jemanden mobben wirst? Sehr wahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Sehr unwahrscheinlich

8 Anhang

303

55. Wie wahrscheinlich ist es, dass Du von Deinen Eltern dafür bestraft wirst, dass Du jemanden gemobbt hast? Sehr wahrscheinlich

Eher wahrscheinlich

Eher unwahrscheinlich

Sehr unwahrscheinlich

56. Wie oft ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, dass Du … Sehr oft

(zehnmal und häufiger)

… Gegenstände von anderen oder Gebäude zerstört oder beschädigt hast (auch Graffiti ist gemeint)? … jemanden „abgezogen“ hast? … jemanden bedroht hast, damit sie oder er das tut, was Du willst? … etwas gestohlen hast? … irgendwo eingebrochen bist (z. B. in ein Geschäft, Wohnhaus, ein Auto oder einen Automaten)? … den ganzen Tag die Schule geschwänzt hast? … illegale Drogen genommen hast? … illegale Drogen an jemanden verkauft hast? … Dateien illegal heruntergeladen hast?

Oft

(drei- bis neunmal)

Selten

(ein- oder zweimal)

Nie

304

8 Anhang

57. Wurdest Du schon einmal von der Polizei vernommen, weil Du verdächtigt wurdest, irgendetwas begangen zu haben? Ja, zehnmal und häufiger

Ja, dreimal bis neunmal

Ja, ein- oder zweimal

Nein, noch nie

58. Hast Du oder haben Deine Eltern es wegen Deinem Verhalten schon einmal mit staatlichen Institutionen (z. B. Jugendamt, Polizei, Justiz) zu tun bekommen? Ja, zehnmal und häufiger

Ja, dreimal bis neunmal

Ja, ein- oder zweimal

Nein, noch nie

Jetzt machen wir mit dem Thema Schule weiter. 59. Konntest Du nach der Grundschule die Schule besuchen, die Du besuchen wolltest? Nein

Ja

60. Musstest Du im Verlauf Deiner Schullaufbahn schon einmal eine Klasse wiederholen? Nein

Ja

8 Anhang

305

61. Wie war das im vergangenen Jahr? Musstest Du die Klasse wiederholen? Nein

Ja

62. Bist Du schon mal von der Schule geflogen? Nein

Ja, einmal

Ja, mehrfach

63. Wie sicher bist Du Dir, dass … Sehr sicher … Du in diesem Jahr nicht sitzenbleibst? … Du den Schulabschluss bekommst, den Du haben möchtest?

Eher sicher

Eher unsicher

Sehr unsicher

306

8 Anhang

64. Beschreibe bitte anhand der folgenden Sätze Deine Beziehung zu den Lehrerinnen und Lehrern. Stimme völlig zu

Stimme eher zu

Stimme eher nicht zu

Es gibt Lehrer, die mich ungerecht benoten Ich fühle mich von den Lehrerinnen und Lehrern ernst genommen und anerkannt Ungerechtigkeiten in der Schule lasse ich mir nicht gefallen Es gibt Lehrer, die mir für alles in der Klasse die Schuld geben Manchmal werde ich nicht drangenommen, obwohl ich mich häufig gemeldet habe Ich wurde schon mal von einem Lehrer/einer Lehrerin vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht Ich bin schon mal für etwas bestraft worden, was ich gar nicht gemacht habe Manchmal werde ich von einer Lehrerin/einem Lehrer gelobt

65. Wie wichtig ist es Dir, in der Schule gute Leistungen zu zeigen? Sehr wichtig Eher wichtig Eher unwichtig Ganz unwichtig

Stimme überhaupt nicht zu

8 Anhang

307

66. Wie zufrieden bist Du mit Deinen schulischen Leistungen? Sehr zufrieden Eher zufrieden Eher unzufrieden Sehr unzufrieden

67. Wie zufrieden sind Deine Eltern mit Deinen schulischen Leistungen? Sehr zufrieden Eher zufrieden Eher unzufrieden Sehr unzufrieden

68. Wie oft trafen in den letzten 12 Monaten die folgenden Aussagen auf Dich zu? Mehrmals die Woche Ich habe das Gefühl, schulischen Anforderungen nicht gewachsen zu sein Manchmal kann ich Hausaufgaben nicht lösen

1× in der Woche

1× im Monat

Seltener

Nie

308

8 Anhang

69. Wenn Du diese Liste anschaust, hast Du schon mal irgendetwas davon in Deiner Schule gemacht? Klassensprecher/Klassensprecherin bei der Schülerzeitung mitgearbeitet Schulsprecher/Schulsprecherin Schülervertreter Streitschlichter/Mediator nichts davon

Vielen Dank für’s Mitmachen!

Angaben zu den Autor*innen

Stefan Kanis, Studium der Soziologie an der G ­eorg-August-Universität Göttingen. Seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Jugendgewalt, islamistische Einstellungen und Radikalisierung Jugendlicher, Cross-National Homicide Studies - Makro-Level Determinanten von Gewalt und kriminologische Dunkelfeldforschung. Dr. Steffen Zdun,  Studium der Sozialwissenschaften an der Gerhard Mercator Universität Duisburg und Promotion in den Staatswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Jugenddelinquenz, Desistance, Straßenkultur, Polizei, kriminologische Dunkelfeldforschung. Daniela Krause, Studium der Soziologie an den Universitäten Potsdam und Bielefeld. Von 2008 bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Projekten am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, u. a. in dem Langzeitprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und in dem DFG-Projekt, das Grundlage des vorliegenden Buchs ist. Aktuell arbeitet sie auf kommunaler Ebene als Integrationsbeauftragte. Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer war von 1996 bis 2013 der Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Kanis et al., Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt, Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29618-6

309

310

Angaben zu den Autor*innen

Universität Bielefeld. Nach seinem altersbedingten Ausscheiden arbeitet er jetzt dort als Forschungsprofessor. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, Theorie Sozialer Desintegration, Konflikttheorien, Gewalt, Rechtsextremismus, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Islamismus.

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