Zur Narratologie des Schweigens: Erzählte Erinnerungslücken und Identitätsbrüche in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [1 ed.] 9783737015202, 9783847115205

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Zur Narratologie des Schweigens: Erzählte Erinnerungslücken und Identitätsbrüche in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [1 ed.]
 9783737015202, 9783847115205

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 34

Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte

Anna Kaufmann

Zur Narratologie des Schweigens Erzählte Erinnerungslücken und Identitätsbrüche in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation am Fachbereich 05 – Sprache, Literatur und Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen eingereicht. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Arián Irsula López: Serie Materia 2017, Mixta/Tela 50x50 cm (in Privatbesitz); Foto: Anna Kaufmann. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1520-2

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Linguistische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Begriffsklärung und Verortung in der Sprache . . . . . . . . . 2.1.2 Schweigen als nonverbales sprachliches Zeichen . . . . . . . . 2.1.3 Lokalisierung von Schweigeformen im Gespräch: Schweigezug, Abbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Mitteilungscharakter und hörerseitige Bedeutungszuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Schweigen als kommunikative Handlung: Schweigehandlung . 2.1.6 Schweigefunktionen im Kontext von Trauma und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Psychotraumatologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Traumadefinition und Symptomatik der Traumafolgestörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Schweigen als Traumafolgestörung bzw. Vermeidungssymptom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Das autobiographische Gedächtnis und seine Funktionsweise 2.2.4 Schweigen als Ausdruck der Störung des autobiographischen Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Literaturwissenschaftliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Schweigen in der literarischen Kommunikation des Erzähltextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Formen der Schweigewiedergabe . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Schweigen in der binären Gesamtstruktur des Erzähltextes . .

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Inhalt

2.3.4 Schweigen als Strukturelement des Erzähltexts – darstellendes Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Schweigen als Strukturelement des Erzähltexts – dargestelltes Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Schweigetyp I: Schweigen-Wollen/Reden-Abwehren . . . . . . . . . 3.1 Jan Koneffke: Ein Sonntagskind (2007) . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Kriegserfahrung und generationelle Verortung . . . . . . . 3.1.3 Verschweigen von schuldhaftem (Nicht-)Tun nach Kriegsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Intra-/interpersonale Folgen von verschwiegenem schuldhaften (Nicht-)Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Exkurs: Linda Boström Knausgård: Willkommen in Amerika (2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Schweigen als Zäsur, Dehnung und Auflösung von Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Schweigen als Wiederholung und Absenz von Handlung . . 3.2.4 Schweige-Intensität und Erzähldynamik: Konfliktspannung 3.2.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schweigetyp II: Schweigen-Sollen/Nicht-reden-Dürfen . . . . . . 4.1 Herta Müller: Herztier (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Kommunikationsraum Diktatur: Sprachlenkung und repressives Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Zur Inszenierung des repressiven Schweigens auf der Darstellungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Eleonora Hummel: Die Fische von Berlin (2005) . . . . . . . 4.2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Zum Verschweigen im kommunikativen Gedächtnis der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Zum Verschweigen im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Schweigetyp III: Schweigen-Müssen/Nicht-reden-Können . . . . . . 5.1 W.G. Sebald: Austerlitz (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Kindertransport als Entwicklungstrauma: Formen und Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Baugeschichtliche Trauma-Metaphorik und Sprachlosigkeit 5.1.4 Traumanarration: Ein zuhörender Erzähler . . . . . . . . . 5.1.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch (2016) . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Reden über Schweigen zur Erzeugung von Rätselspannung . 5.2.3 Schweigen über Störerfahrungen: Vermeidungs- und Verhüllungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Narrative Traumabewältigung. Erzählen als Mittel der Selbstkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schweigen-aushalten-Müssen/Reden-Fordern . . . . . . . . . . . . . 6.1 Gila Lustiger: So sind wir (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Holocaust, Trauma, Generation . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Wirkfaktoren transgenerationeller Übertragung I: Transfer 6.1.4 Wirkfaktoren transgenerationeller Übertragung II: Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Ute Scheub: Das falsche Leben. Eine Vatersuche (2006) . . . . . 6.2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Erinnerungen an eine Vater-Tochter-Beziehung: Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Suche nach dem verschwiegenen schuldhaften Tun . . . . . 6.2.4 Intrapersonale Folgen des Verschweigens: Sprache des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Interpersonale Folgen des Verschweigens: Unbewusste Identifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 8. Bibliographie . . . . . . . . . . 8.1 Siglenverzeichnis . . . . . . 8.2 Untersuchte Primärliteratur 8.3 Weitere Primärliteratur . . 8.4 Sekundärliteratur . . . . . . 8.5 Internetquellen . . . . . . .

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Danksagung

Der Entstehungsprozess der vorliegenden Dissertation ist von verschiedenen Menschen auf unentbehrliche Weise unterstützt worden. Allen voran bedanke ich mich bei meinem Doktorvater und Erstgutachter, Prof. Dr. Carsten Gansel, der den Konzeptionsprozess mit anregenden Hinweisen begleitet und mich zum Schreiben ermutigt hat. Dass ich Workshops, internationale Tagungen/Kongresse und Lehrprojekte mitgestalten und neue Textsorten erproben durfte, bedeutet mir neben der wissenschaftlichen Förderung ein großes Glück. Einen herzlichen Dank richte ich an Herrn Prof. Dr. Joachim Jacob für seine Bereitschaft, die vorliegende Arbeit als Zweitgutachter zu begleiten. Dem Direktor des International Graduate Centre for the Study of Culture in Gießen, Prof. Dr. Dr. h.c. Ansgar Nünning, gilt mein besonderer Dank. Ohne das Promotionsstipendium wäre die Realisierung des Vorhabens nicht möglich gewesen, ganz zu schweigen vom wertvollen Zugang zu stimulierendem Austausch mit Nachwuchswissenschaftlern und etablierten Forschern auf internationalem Niveau. José Fernández Pérez danke ich für konstruktive Gespräche über das Was und Wie der Promotion und dafür, dass ich diesen Weg mit einem Freund gehen durfte. Herzlich danken möchte ich abschließend meiner Familie und Christoph Kaufmann – für ihren anhaltenden Zuspruch und das dem Entstehungsprozess der Arbeit zu jeder Zeit entgegengebrachte Verständnis. Frankfurt am Main, 31. August 2021

Zusammenfassung

Die Arbeit im Schnittfeld von Literaturwissenschaft, Linguistik und Psychotraumatologie geht der Frage nach, wie das Schweigen als eine originär sprachliche Figuration der Auslassung literarisch konfiguriert, mithin erzählt werden kann. Gegenstand der Analyse sind individuelle und negativ konnotierte Schweigeformen im Kontext von verstörenden bzw. traumatischen Erfahrungen wie schuldhaftes Tun/Kriegshandlungen, politische Repression, Lagerhaft, Flucht, Vertreibung und sexualisierte Gewalt. Die Analyse folgt einer dreigliedrigen Schweigetypologie, die auf den schweigenden Akteur fokussiert: (1) Schweigen-Wollen bzw. Reden-Abwehren (defensives Schweigen), (2) Schweigen-Sollen bzw. Nicht-reden-Dürfen (repressives Schweigen) und (3) Schweigen-Müssen bzw. Nicht-reden-Können (überwältigtes Schweigen). Ergänzend wird mit (4) Schweigen-Aushalten bzw. Reden-Fordern die rezeptive Seite des Schweigens in den Blick genommen. Das Korpus umfasst sieben deutschsprachige Gegenwartsromane, die Schweigen im Zusammenhang mit Zäsuren der deutschen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts (u. a. Zweiter Weltkrieg bzw. Holocaust, kommunistische Diktatur bzw. Stalinismus) verhandeln und in Bezug zu Fragen des Erinnerns und der Identitätskonstitution setzen. Im Rahmen des Exkurses findet ein Erzähltext (Übersetzung aus dem Schwedischen) Berücksichtigung, der Schweigen im Kontext einer prekären Familiensituation thematisiert. Ausgehend von der Einbettung des Schweigens in die Ebenen der literarischen Kommunikation (extradiegetische Sprechsituation bzw. erzähltes Schweigen versus intradiegetische Sprechsituation bzw. zitiertes Schweigen) und die binäre Struktur des Erzähltexts werden Schweigekonfigurationen auf der Ebene der Geschichte (dargestelltes bzw. first-degree silence, u. a. schweigende Figuren, Schweigen als Auslöser der Handlung, Dominanz von statischen Motiven anstelle von Figurenhandlung, Räume limitierten Sprechens) und auf der Ebene der Erzählung (darstellendes bzw. second-degree-silence, u. a. lückenhafte Erzählerrede, Dominanz von Innenweltdarstellungen, Schweigen als Moment der Spannungssteigerung, Stillstand der erzählten Zeit bzw. Dehnung der Erzählzeit) identifiziert. Im Zen-

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Zusammenfassung

trum der Erarbeitung der Schweigefunktionen steht die Klassifikation von Schweigen als ambivalenter Störfaktor: Sorgt es einerseits für Irritation und Abbruch von Kommunikation und Kohärenz, setzt es andererseits Prozesse der Redewiederaufnahme und Bedeutungsaushandlung in Gang. Die Textanalysen zeigen auf, dass das Schweigen im Sinne einer kommunikativen Handlung tendenziell destruktiv mit der Ausbildung von Erinnerungs- und Identitätsentwürfen korreliert, es im Verständnis einer narrativen Strategie hingegen zum produktiven Moment der Strukturierung und Formgebung der Erzähltexte avanciert. Ausgehend von erzähltheoretischen Überlegungen macht die Arbeit Ansätze aus der Linguistik (Schweigen in Form des bedeutungsvollen Gesprächsabbruchs und Schweigezugs), der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (Schweigen als Auslassung im kommunikativen und kollektiven Gedächtnis), der Psychotraumatologie (Schweigen als Vermeidungssymptom und Ausdruck einer Lücke im autobiographischen Gedächtnis) und der narrativen Identitätstheorie (Schweigen als Ausdruck fragmentierter Selbstdarstellung) für die Textinterpretation fruchtbar.

1.

Einleitung

Die vorliegende Studie geht der Frage nach, auf welche Weise Schweigen als sprachliche Figuration der Auslassung in literarischen Texten erzählt werden kann. Mit Blick auf die Strukturelemente einer Geschichte wird untersucht, inwiefern Schweige-Darstellungen konventionalisierte Erzählweisen irritieren. Leitfragen sind: Welche Erzählmodi sind für die Inszenierung von Schweigen prädestiniert? Inwiefern fordert seine Darstellung das Prinzip der Zeit heraus? Wie beeinflussen Schweigenarrationen den Handlungsaufbau und die Spannungserzeugung? Welche Räume sind für die Darstellung von Schweigen geeignet? Mit dem Ansinnen, eine Bandbreite von Inszenierungsformen aufzuzeigen, leistet die Studie erstens einen Beitrag zur Erforschung des Schweigens als narrative Strategie. Das Innovationspotential des Vorhabens resultiert dabei nicht zuletzt aus der interdisziplinären Perspektivierung des Untersuchungsgegenstandes, der Verschränkung von literatur- und sprachwissenschaftlichen, psychotraumatologischen und erinnerungstheoretischen Forschungszugängen. Mit der Konzentration auf individuelle Schweigeformen im Kontext von verstörenden Erfahrungen, das defensive Verschweigen von schuldhaftem Tun (NichtSprechen-Wollen), das Nicht-Sprechen-Dürfen im Kontext von politischer Repression und Stigmatisierung (Nicht-Sprechen-Sollen) und die überwältigte Sprachlosigkeit in Folge von psychisch-körperlicher Erschütterung (NichtSprechen-Können) knüpft die Studie thematisch an die Traumaforschung an. Mit der Interpretation von Schweigen als Traumasymptom und Ausdruck einer Störung des autobiographischen Gedächtnisses nimmt sie einen in der Diskussion bislang vernachlässigten Gegenstand in den Blick und leistet zweitens eine Aktualisierung der literarischen Motivgeschichte des Schweigens. In acht Textanalysen wird die These geprüft, dass das Schweigen auf der Ebene der Geschichte destruktiv mit der Entwicklung der Erzähler bzw. Figuren korreliert, es auf der Ebene der Erzählung hingegen zum produktiven Moment der literarischen Formgebung und Strukturierung avanciert.

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Einleitung

Doch inwiefern lässt sich das Schweigen als Absenz-Phänomen fassen? Heinrich Bölls Satire »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen«1 eröffnet erste Einblicke: Der Protagonist, Redakteur einer Radioanstalt, pflegt eine ungewöhnliche Leidenschaft: »Wenn ich Bänder zu schneiden habe, wo die Sprechenden manchmal eine Pause gemacht haben – auch Seufzer, Atemzüge, absolutes Schweigen –, das werfe ich nicht in den Abfallkorb, sondern das sammle ich.«2 Auf die Frage, was er »mit den Schnippeln«3 anfange, antwortet Murke: »Ich klebe sie aneinander und spiele mir das Band vor, wenn ich abends zu Hause bin. Es ist noch nicht viel, ich habe erst drei Minuten – aber es wird ja auch nicht viel geschwiegen.«4 Aus Perspektive der Linguistik lässt sich die Ironie dieser Episode darauf zurückführen, dass mit dem Herauslösen der Schweige-Phasen aus ihrem »konkreten interaktiven Entstehungskontext«5 ihre Semantik verlorengeht. Pointiert formuliert: »Selbst bedeutet es nichts, bedeutsam wird es erst durch die Redesituation und das Vorher und Nachher im Redefluß.«6 Neben dem kontextabhängigen Ausdruckswert verdeutlicht das Beispiel,7 dass das Schweigen ein Bestandteil der Sprache ist,mithin dass es »nie durch sich selber Zeichencharakter hat, sondern immer durch ein sprachliches Umfeld. [… Es] muß – mit verbalen Mitteln – angezeigt werden, um überhaupt bemerkbar zu sein«8. So zeugt Murkes Tonband genau genommen nicht von Schweigen, sondern von Stille, der Abwesenheit von Geräuschen im Allgemeinen.9 Von Schweigen als 1 Böll, Heinrich: Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren. 3. Aufl. Köln 2018: Kiepenheuer&Witsch, S. 7–54. 2 Ebd., S. 46. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Vgl. Meise, Katrin: Une forte absence. Schweigen in alltagsweltlicher und literarischer Kommunikation. Script Oralia 89. Zugl. Freiburg/Breisgau Univ. Diss. 1995. Tübingen 1996: Gunter Narr, S. 35. 6 Schmitz, Ulrich: Beredtes Schweigen – Zur sprachlichen Fülle der Leere. Über Grenzen der Sprachwissenschaft. In: Ders. (Hrsg.): Schweigen. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 42. Oldenburg 1990: Redaktion OBST, S. 5–58, hier: S. 25. 7 Vgl. Hart Nibbrig, Christiaan: Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede. Frankfurt/M. 1981: Suhrkamp, S. 41. 8 Lorenz, Otto: Schweigen in der Dichtung: Hölderlin – Rilke – Celan. Studien zur Poetik deiktisch-elliptischer Schreibweisen. Palaestra – Untersuchungen aus der deutschen, englischen und skandinavischen Philologie 284, Zugl. Göttingen Univ. Diss. 1983. Göttingen 1989: V&R, S. 10. 9 Vgl. Ulsamer, Fleur: Linguistik des Schweigens. Eine Kulturgeschichte des kommunikativen Schweigens. Europäische Hochschulschriften Reihe 21 Linguistik 246. Zugl. Innsbruck Univ. Diss. 2001, Frankfurt/M. 2002: Peter Lang, S. 31–35; vgl. Zimmermann, Klaus: Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. In: Rosengren, Inger (Hrsg.): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1982. Lunder germanistische Forschungen (LGF) 52, Stockholm 1983: Almqvist&Wiksell Intern., S. 37–45, hier: S. 41; Schmitz betont: »Schweigen ist Abwesenheit von Artikulation, Stille ist Abwesenheit von Geräusch. Schweigen ist also der sprachliche Sonderfall von Stille.« Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 6; es ließe sich einwenden, dass mit Ein-

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kommunikative Option10 bzw. Mitteilung, die in einer Gesprächssituation lokalisiert ist und hörerseitig verstanden werden muss, kann in der Aneinanderreihung beliebiger Schweigephasen nicht mehr die Rede sein. Angedeutet wird das Erkenntnisinteresse der sprachwissenschaftlichen Schweige-Forschung, die sich seiner begrifflichen Bestimmung widmet, Merkmale wie seine Materialabstinenz, Ambiguität, Dauer, Fülle bzw. Leere herausstellt,11 sodann Schweigephasen in der Gesprächsorganisation lokalisiert.12 Pragmalinguistische Zugänge diskutieren seinen Mitteilungs- bzw. Handlungscharakter, untersuchen den Grad seiner Kommunikativität,13 entwickeln Schweige-Typologien und suchen seine kontextabhängigen Funktionen zu bestimmen.14 Diese für den Gegenstand ele-

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schalten des Tonbandes die Erwartung verbunden ist, Stimmen zu hören und da dies ausbleibt, von Schweigen die Rede sein könnte. Da das Tonband jedoch auch Musik enthalten könnte, der Kontext Sprache bzw. Gespräch vorab nicht eindeutig bestimmt ist, liegt kein Schweigen vor. Sofern Murke die Aufnahme in den Kontext einer ihn störenden alltäglich umgebenen Geschwätzigkeit setzt, mag die Aufnahme für ihn Züge eines Schweigens aufweisen. Vgl. Hahn, Alois: Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. In: Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hrsg.): Schweigen. Archäologie literarischer Kommunikation 11. München 2013: Wilhelm Fink, S. 29–50, hier S. 29f.; vgl. Ders.: Schweigen als Kommunikation und die Paradoxien der Inkommunikabilität. In: Ders./Melville, Gert/Röcke, Werner (Hrsg.): Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierungen literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Geschichte. Forschung und Wissenschaft 24. Berlin 2006: Lit-Verlag, S. 93–114, hier: S. 94. Vgl. Schröter, Melanie: Die Vielfalt des ›Nichts‹. Zur Kommunikativität von Schweigen im Spannungsfeld zwischen Intention und Erwartung von Kommunikation. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 42, 2005, S. 43–61, hier S. 43f.; vgl. Apel, Heiner/Corr, Andreas/ Ullrich, Anna: Produktive Störungen: Pause, Schweigen, Leerstelle. In: Gansel, Carsten/ Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 133. Berlin 2013: de Gruyter, S. 97–112, hier: S. 102. Bergmann, Jörg: Schweigephasen im Gespräch – Aspekte ihrer interaktiven Organisation. In: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Beiträge zu einer empirischen Sprachsoziologie. Tübinger Beiträge zur Linguistik 189. Tübingen 1982: Narr, S. 143–184; vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 78–89. Heinemann, Wolfgang: Das Schweigen als linguistisches Phänomen. In: Eggert, Hartmut/ Golec, Janusz (Hrsg.): »… wortlos der Sprache mächtig.« Schweigen und Sprechen in der Literatur und sprachlicher Kommunikation. M&P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung. Stuttgart 1999: J.B. Metzler, S. 301–314; vgl. Schröter, Die Vielfalt des ›Nichts‹. 2005; vgl. Saville-Troike, Muriel: The Place of Silence in an Integrated Theory of Communication. In: Tannen, Deborah/Saville-Troike, Muriel: Perspectives on Silence. Norwood 1985: Ablex Publishing, S. 3–18; Lagaay, Alice: How to Do – and Not to Do – Things with Nothing. Zur Frage nach der Performativität des Schweigens. In: Gronau, Barbara/Lagaay, Alice: Performanzen des Nichttuns. Wien 2008: Passagen Verlag, S. 21–32. Vgl. Jensen, Vernon: Communicative Functions of Silence. ETC: A Review of General Semantics 30, 1973, H. 3, S. 249–257; vgl. Johannesen, Richard: The Functions of Silence: A Plea for Communication Research. Western Speech 38, 1974, H. 1, S. 25–35; vgl. Stedje, Astrid: »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen« – Über kulturbedingtes, kommunikatives und strategisches Schweigen. In: Rosengren, Sprache und Pragmatik. 1983, S. 7–35; vgl. Zim-

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Einleitung

mentaren Einsichten bilden auch den Einstieg für die vorliegende Studie, die das Schweigen im Sinne einer (nicht) intentionalen kommunikativen Strategie15 auffasst und Formen und Funktionen im spezifischen Gesprächs- und Handlungskontext von Trauma und Erinnerung nachgeht. An die linguistischen schließen sozial- und kulturwissenschaftliche Zugänge an, die thematische Funktionsbestimmungen vornehmen, etwa in Bezug auf Aspekte wie Religiosität,16 Geheimhaltung,17 Rollen- und Kulturspezifika.18 Hier sind es die begrifflichen Abgrenzungen des Schweigens vom Verschweigen19 und von der Lüge20 sowie Konzepte wie die Stigmatisierung21 und das Tabu22, die für die Textanalysen fruchtbar gemacht werden. Literaturwissenschaftliche Zugänge widmet sich dem Schweigen als Motiv bereits in Schriften der Antike,23 entwickeln Überlegungen zu einer »Topogra-

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mermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983; vgl. Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 30–33; vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 67–118. Lewandowski, Theodor: [Art.] Schweigen. In: Ders.: Linguistisches Wörterbuch 3. 5. Aufl. Heidelberg 1990: Quelle&Meyer, S. 931. Vgl. Raueiser, Stefan: Schweigemuster. Über die Rede vom Heiligen Schweigen. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Odo Casel, Gustav Mensching, Rudolf Otto, Karl Rahner, Wilhelm Weischedel und Bernhard Welte. Europäische Hochschulschriften Reihe 23 Theologie 582. Zugl. Frankfurt Phil.-Theol. Hochs. St. Georgen 1995. Frankfurt/M. 1996: Peter Lang; vgl. Bellebaum, Alfred: Schweigen und Verschweigen. Bedeutungen und Erscheinungsvielfalt einer Kommunikationsform. Opladen 1992: Westdeutscher Verlag, S. 34–55. Vgl. ebd., S. 81–98. Vgl. Stedje, »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen.« 1982; vgl. Ulsamer. Linguistik des Schweigens. 2002, S. 171–207. Vgl. Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 44f.; vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 108–110. Bellebaum, Schweigen und Verschweigen. 1992, S. 89–93; Falkenberg, Gabriel: Lügen. Grundzüge einer Theorie sprachlicher Täuschung. Tübingen 2015: de Gruyter; Müller, Jörn: Lüge und Wahrhaftigkeit. Eine philosophische Besichtigung vor dem Hintergrund der Sprechakttheorie. In: Ders./Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.): Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht. Darmstadt 2007: WBG, S. 27–55. Vgl. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 24. Aufl. Frankfurt/M. 2018: Suhrkamp; vgl. Fuchs-Heinritz, Werner/Klimke, Daniela/Lautmann, Rüdiger/Rammstedt, Otthein/Stäheli, Urs/Weischer, Christoph/Wienold, Hanns: [Art.] Stigma. In: Dies. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. 5. Aufl. Wiesbaden 2011: VS, S. 864; vgl. Lobenstein-Reichmann, Anja: Stigma. Semiotik der Diskriminierung. In: Liebert, WolfAndreas/Schwinn, Horst (Hrsg.): Mit Bezug auf Sprache. Festschrift für Rainer Wimmer. Tübingen 2009: Narr, S. 249–271. Vgl. Kraft, Hartmut: Tabu. Magie und soziale Wirklichkeit. Düsseldorf/Zürich 2004: Walter; vgl. Ders.: [Art.] Tabu. In: Mertens, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. 4. Aufl. Stuttgart 2014: Kohlhammer, S. 938–943; vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 111f. Vgl. Beßlich, Siegfried: Schweigen – Verschweigen – Übergehen. Die Darstellung des Unausgesprochenen in der Odyssee. Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. Neue Folge Reihe 2. Zugl. Mainz Univ. Diss. 1965. Heidelberg 1966: Winter.

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phie des Schweigens«24 anhand von Texten aus dem Mittelalter, gehen der »Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert«25 nach, fokussieren das Schweigen in der Sprachkrise der Moderne »als Verweis auf die Begrenztheit sprachlicher Darstellbarkeit«26, vermessen die »Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts«27 in der Diskussion zum Unsagbarkeitstopos und entwickeln ausgehend vom »Nicht(s) sagen«28 eine »Archäologie des ›linguistic turn‹ […], die weniger das Hin- als das Abwenden vom Sagen zum Leitfaden hat«29.30 Eine Jahrhunderte umspannende Geschichte des literarischen Schweigemotivs beabsichtigt die vorliegende Studie allerdings nicht zu leisten, richtet ihr Titel den Fokus doch (1) auf die Frage nach der Narratolgie des Schweigen bzw. (2) auf das Erzählen von Erinnerungslücken und Identitätsbrüchen (3) in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ausgehend von dieser Schwerpunktsetzung ist erstens zu konstatieren, dass wenige selbständige Publikationen vorliegen, die einen narratologischen Blick auf den Gegenstand richten.31 Volker Roloff etwa schlägt in seiner Dissertation »Reden und Schwei24 Schnyder, Mireille: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200. Historische Semantik 3. Göttingen 2003: V&R; vgl. Ruberg, Uwe: Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters. Mit kommentierter Erstedition spätmittelalterlicher Lehrtexte über das Schweigen. Münstersche Mittelalter-Schriften 32. München 1978: Wilhelm Fink. 25 Benthien, Claudia: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006: Wilhelm Fink. 26 Vgl. Butzer, Günter/Jacob, Joachim: [Art.] Schweigen/Stille. In: Dies. (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2. Aufl. Stuttgart 2012: Metzler, S. 389–391, hier: S. 391. 27 Schneider, Sabine (Hrsg.): Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2010: Königshausen&Neumann; vgl. Fäcke, Julia: An den Grenzen der Sprache. Literarische Beschreibungen des Unsagbaren am Beispiel der späten Prosa Ingeborg Bachmanns und Samuel Becketts. Bibliotheca Academica – Literaturwissenschaft 3. Würzburg 2013: Ergon-Verlag; vgl. Siguan, Marisa: Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub. Linguae&Litterae 45. Berlin 2014: de Gruyter; vgl. Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München 2001: C.H. Beck; vgl. Altmann, Eva: Das Unsagbare verschweigen. Holocaust-Literatur aus Täter-Perspektive. Eine interdisziplinäre Textanalyse. Bielefeld 2020: Transcript. 28 Alloa, Emmanuel/Lagaay, Alice (Hrsg.): Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert. Edition Moderne Postmoderne. Bielefeld 2008: Transcript. 29 Alloa, Emmanuel/Lagaay, Alice: Einleitung. In: Dies., Nicht(s) sagen. 2008, S. 7–22, hier: S. 19. 30 Vgl. die Übersichtsdarstellungen zum Schweigemotiv von Daemmrich, Horst/Daemmrich, Ingrid: [Art.] Dialog-Schweigen. In: Dies.: Themen und Motive in der Literatur. 2. Aufl. Tübingen 1995: Francke, S. 96–102; vgl. Mayer, Heike: [Art.] Schweigen. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik 8, Rhet–St. Tübingen 2007: Niemeyer, S. 686– 706; vgl. Butzer/Jacob, [Art.] Schweigen/Stille. 2012, S. 389–391. 31 Annäherungen an Schweigen als Erzählstrategie liefern u. a. Goller, Mirjam: Gestaltetes Verstummen. Nicht-Sprechen als narrative Konstituente in der russischen Prosa der frühen Moderne. Berliner Slawistische Arbeiten 24. Zugl. Berlin Humboldt-Univ. Diss 2001. Frankfurt/M. 2003: Peter Lang; Schönwandt, Katja: Das Gegenstück zum Sprechen. Unter-

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gen« die Trennung von darstellendem und dargestelltem Schweigen vor,32 Uwe Ruberg lokalisiert es in seiner Monographie »Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters« auf sechs Ebenen des Erzähltexts,33 Otto Lorenz betont in seiner Dissertation »Schweigen in der Dichtung«, dass der »Doppelcharakter [des Schweigens] darstellend und dargestellt zugleich [ist].«34 Der Unterscheidung von Schweigen auf der Ebene der Geschichte und der Ebene der Darstellung geht die Annahme einer binären Struktur des Erzähltexts voraus, die von den Autoren erzähltheoretisch jedoch kaum grundiert wird. Einen Schritt in diese Richtung geht Elisabeth Loevlie, die in ihrer Monographie »Literary Silences« zwischen first-degree- und second-degree-silence differenziert – meint ersteres »silence that is described in the narrative. It can be the mention of the word silence, a description of a silent experience, or a silent character«35, fasst letzteres »silence that is not mentioned or described on the level of the narrative, but rather occurs as a dynamic that arises from the text, that is produced by the text and that takes place in the actual reading of the text«36. Wegweisende Überlegungen legt Katrin Meise vor, die das Schweigen in ihrer Dissertation »Une forte absence« in alltagsweltlicher und literarischer Kommunikation untersucht und ihren Vorschlag einer Differenzierung zwischen silence du récit und récit du silence ausgehend vom Modell der literarischen Kommunikation entwickelt.37 Überlegungen zur Zeitkonzeption von Schweigedarstellungen leistet Myriam-Naomi Walburg.38 So trägt die vorliegende Arbeit der Beobachtung, dass erzähltheoretische Fragen zum Schweigen unbeantwortet geblieben sind, Rechnung. Im Unterschied zu Roloff, der sich explizit von dem

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suchungen zum Schweigen in der skandinavischen und deutschen Literatur. Berliner Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte 10. Zugl. Kiel Univ. Diss. 2008. Frankfurt/M. 2011: Peter Lang; Sammelbände, die das Schweigen vorrangig als literarisches Motiv untersuchen, liegen u. a. vor von Markewitz, Sandra (Hrsg.): Jenseits des beredten Schweigens. Neue Perspektiven auf den sprachlosen Augenblick. Bielefeld 2013: Aisthesis; Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit. Reihe Historische Anthropologie 18. Berlin 1992: Dietrich Reimer; Bednarowska, Aleksandra/KołodziejczykMróz, Beata: Verschwiegenes, Unsagbares, Ungesagtes sagbar machen. Der Topos des Schweigens in der Literatur. Perspektivenwechsel 4. Berlin 2017: Weidler Buchverlag. Vgl. Roloff, Volker: Reden und Schweigen. Zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas in der französischen Literatur. Münchener Romanistische Arbeiten 34. Zugl. München Univ. Diss. 1970. München 1973: Wilhelm Fink, S. 20. Vgl. Ruberg, Beredtes Schweigen. 1978, S. 15–17. Vgl. Lorenz, Schweigen in der Dichtung. 1989, S. 23. Loevlie, Elisabeth: Literary Silences in Pascal, Rousseau, and Beckett. Oxford Modern Language and Literature Monographs New York 2003: Oxford University Press, S. 30. Ebd. Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 91–147. Walburg, Myriam-Naomi: Zeit der Mehrsprachigkeit. Literarische Strukturen des Transtemporalen bei Marica Bodrozˇic´, Nina Bouraoui, Sudabeh Mohafez und Yoko Tawada. Literatur – Kultur – Theorie 25. Würzburg 2017: Ergon-Verlag, S. 163–193.

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Vorhaben distanziert, »Kombinationen über die ästhetische Funktion des Schweigens als Medium der Dichtung in allgemeiner Form nachzugehen, so interessant eine solche Poetik des Schweigens sein könnte«39, ist dies gerade die Absicht der vorliegenden Studie. Mit der titelgebenden Schwerpunktsetzung ist zweitens auf den Untersuchungskontext verwiesen. Die Schlagwörter Erinnerungslücken und Identitätsbrüche deuten an, dass individuelle Schweigeformen in den Blick genommen werden, die mit dem Erleben von verstörenden Erfahrungen in Zusammenhang stehen und negativ konnotiert sind.40 Ausprägungen des bedeutungsvollen Schweigens41 wie das zustimmende, das innige, Vertrautheit und Wesensgleichheit anzeigende sowie das hilflose Schweigen finden keine Berücksichtigung. Stattdessen liegt der Fokus auf Formen des strategischen Schweigens42, die teilweise oder ganz an die Stelle von verbaler Artikulation rücken,43 auf bestimmte Ziele gerichtet und in komplementäre Kommunikationsabläufe44 eingebettet sind, wie sie sich zwischen Angehörigen disparater Hierarchieebenen und Erfahrungsgemeinschaften einstellen. Interaktionssituationen dieser Art treten besonders eindrücklich im Zusammenhang mit zwischenmenschlich verursachten traumatischen Erfahrungen auf, sogenannten man-made desasters, in deren Mittelpunkt die »massive Bedrohung des Opfers«45 bzw. eine »Todeskon-

39 Roloff, Reden und Schweigen. 1973, S. 20. 40 Sidney Baker differenziert zwei Formen des interpersonal silence, »when speech breaks down or words become irrelevant«. Er fasst negative silence als »disturbed or psychically-taut type of silence«, das auftritt »in situations wherein fear, hatred, anger, or acute anxiety strike us dumb« und erläutert positive silence wie folgt: »In strong contrast, there is also a placid, contented type of interpersonal silence, such as that sometimes […] encountered between lovers or old friends. They know each other so well that words are unnecessary. They can remain happily in each other’s company without need for words and without any feelings of unrest at continued silence. It will be obvious immediately that people who enjoy this form of interpersonal silence must be closely identified with each other. Conversely, those, who are involved in the tension-ridden form of interpersonal silence are clearly under considerable strain. They are so angry with or fearful of another person or they are subject to such acute intrapersonal unease that they reject any form of commonality or identification with the situational partner.« Baker, Sidney: The Theory of Silences. Journal of General Psychology 53, 1955, S. 145–167, hier: S. 157f. 41 Vgl. Assmann, Aleida: Formen des Schweigens. In: Dies./Assmann, Schweigen. 2013, S. 51–68, hier: S. 51–57. 42 Ebd., S. 57. 43 Vgl. Stedje, »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen.« 1982, S. 27. 44 Watzlawick, Paul/Beavin, Janet/Jackson, Don: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 13. Aufl. Bern 2017: Hogrefe, S. 81. 45 Neuner, Frank/Schauer, Maggie/Elbert, Thomas: Narrative Exposition. In: Maercker, Andreas (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörungen. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg 2013: Springer, S. 327–347, hier: S. 331.

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frontation oder andere extreme Gefahrensituationen stehen«46. Diese Beobachtung aufgreifend, geht die Dissertation Schweigeformen in Folge des Erlebens von interpersonalen Grenzerfahrungen, darunter Kriegshandlung und Machtdemonstration, politische Repression und Lagerhaft, Flucht und Vertreibung sowie sexualisierte Gewalt nach. Auch ein Blick auf die literatur- und kulturwissenschaftliche Traumaforschung zeigt die Notwenigkeit des Vorhabens auf: Die seit den 1990er Jahren veröffentlichten Beiträge widmen sich vorzugsweise der Struktur und literarischen Darstellbarkeit des Traumas.47 Trotz einer Thematisierung der »Unmöglichkeit seiner Narration«48, die eine Auseinandersetzung mit dem Schweigen unmittelbar hätte anstoßen können, liegt keine eigenständige Studie zum Konnex von Schweigen und Trauma vor. Das Schweigen wird in thematisch angrenzenden Arbeiten lediglich mitverhandelt, etwa im Verbund »Sprache und Diktatur«,49 Gewalt und Schweigen,50 Folter und Schweigen.51 Einen intermedialen Ansatz wählt Alexandra Müller, die Formen der Visualität des Schweigens, mithin (typo-)graphischen Elementen nachgeht, die Schweigen im Erzähltext sicht- bzw. wahrnehmbar machen.52 Forschungsvorhaben an der Justus-Liebig-Universität Gießen erarbeiten eine neue Perspektive auf den Gegenstand. Sie kategorisieren das Trauma als lebensweltliche Störung53 und nehmen davon ausgehend Untersuchungen zum Handlungs- und 46 Maercker, Andreas: Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. In: Ders., Posttraumatische Belastungsstörungen. 2013, S. 13–34, hier: S. 15. 47 Vgl. Bronfen, Elisabeth/Erdle, Birgit/Weigel, Sigrid (Hrsg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln 1999: Böhlau; vgl. Fricke, Hannes: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen 2004: Wallstein; Kopf, Martina: Trauma und Literatur. Das Nicht-Erzählbare erzählen – Assia Djebar und Yvonne Vera. Wissen&Praxis 134. Frankfurt/M. 2005: Brandes&Apsel. 48 Assmann, Aleida: Stabilisatoren der Erinnerung – Affekt, Symbol, Trauma. In: Rüsen, Jörn/ Straub, Jürgen (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge im Geschichtsbewußtsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2. Frankfurt/M. 1998: Suhrkamp, S. 131–152, hier: S. 151. 49 Dhouib, Sarhan (Hrsg.): Formen des Sprechens, Modi des Schweigens. Sprache und Diktatur. Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive. Weilerswist 2018: Velbrück Wissenschaft. 50 Vgl. Hane, Reika: Gewalt des Schweigens. Verletzendes Nichtsprechen bei Thomas Bernhard, ¯ e. Communicatio – Studien zur europäiKo¯ bo¯ Abe, Ingeborg Bachmann und Kenzaburo¯ O schen Literatur- und Kulturgeschichte 46. Berlin 2014: de Gruyter. 51 Vgl. Pröbstl, Tanja: Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen. Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen. Zugl. München Univ. Diss. 2013. Bielefeld 2015: Transcript. 52 Zu den untersuchten Elementen gehören u. a. leere Flächen und Abbildungen, schwarze und weiße bzw. leere Seiten, Gedankenstriche, Asteriske und Indizes, Bildmanipulationen, Retuschen und Unkenntlichmachungen, Durchstreichungen, Zensierungen und Anonymisierungen. Vgl. Müller, Alexandra: Trauma und Intermedialität in zeitgenössischen Erzähltexten. Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik 9. Heidelberg 2017: Universitätsverlag Winter, S. 175–206. 53 Vgl. Gansel, Carsten: Störungen des ›Selbst‹ – Trauma-Erfahrungen und Möglichkeiten ihrer künstlerischen Konfiguration – Vorbemerkungen. In: Ders. (Hrsg.): Trauma-Erfahrungen

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Symbolsystem Literatur vor, die nach der »Rolle der Künste bei der ›Verarbeitung‹ von existentiellen Krisensituationen und fundamentalen gesellschaftlichen Zäsuren«54 fragen. Insbesondere die in diesem Zusammenhang von Heiner Apel, Andreas Corr und Valentine Ullrich aufgeworfenen Überlegungen zum Schweigen als einem »produktive[n] und nicht zuletzt künstlerisch eingesetzte[n] Störf[al]l«55 bilden Anknüpfungspunkte für die vorliegende Analyse, die einen Beitrag zur Schließung der identifizierten Forschungslücke zu leisten sucht. Schweigenarrationen im Kontext von Traumata zu untersuchen und mit Fragen des Erinnerns und der Identitätskonstitution zu verbinden erscheint auch insofern gewinnbringend, als interdisziplinäre Forschungsergebnisse vorliegen, die sich für die Textinterpretation fruchtbar machen lassen. So bestimmen psychotraumatologische und hirnphysiologische Arbeiten das Phänomen des Sprachverlusts, des speechless terrors56, in Folge des Erlebens traumatischer Erfahrungen als ein Vermeidungssymptom und als eine Störung des autobiographischen Gedächtnisses.57 Soziologische Ansätze gehen dem Motiv der emotionalen Distanzierung nach, das Opfer von psychischer wie körperlicher Gewalt an ihr Schweigen über Leiderfahrungen knüpfen.58 Psychosoziale Studien verhan-

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und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 159. Berlin/Boston 2020: de Gruyter, S. 1–6, hier: S. 4; vgl. Ders.: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Ders./Ächtler, Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 31–56; vgl. Ders.: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur. Theorie und Praxis. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, H. 4, S. 315–332. Gansel, Störungen des ›Selbst‹. In: Ders., Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. 2020, S. 4. Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. In: Gansel/Ächtler, Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 97–112. Vgl. Fischer, Gottfried: Einführung in die Theorie und Praxis der Traumatherapie. In: Brecht, Frank/Schröder, Johannes (Hrsg.): Trauma und Traumatherapie. Grenzen, Forschung, Möglichkeiten. Schriftenreihe des Heidelberger Symposiums zur interdisziplinären Arbeit in der Sozialpsychiatrie 11/12. Heidelberg 2014: Heidelberger Hochschulverlag, S. 37–59, hier S. 42; vgl. Rauch, Scott u. a.: A Symptom Provocation Study of Posttraumatic Stress Disorder Using Positron Emission Tomography and Script-Driven Imagery. Archives of General Psychiatry 53, 1996, S. 380–387. Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 13–34; vgl. Neuner/ Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 327–347; vgl. Staniloiu, Angelica/Kordon, Andreas/Makowitsch, Hans: Erinnerung und Erinnerungsblockaden aus psychologischneurowissenschaftlicher Sicht. In: Gansel, Carsten/Ächtler, Norman/Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hrsg.): Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Edition Gegenwart. Beiträge zur neuesten deutschensprachigen Literatur und Kultur 3. Berlin 2019: Okapi, S. 29–48. Vgl. Rosenblum, Rachel: Distancing Emotion. Surviving the Account of Catastrophe. Passions in Context 2, 2011, H. 1, S. 119–150; vgl. Kavemann, Barbara/Rothkegel, Sibylle: Trauma Sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. Vergessen und Erinnern – Sprechen und Schweigen. Trauma und Gewalt 8, 2014, H. 3, S. 202–213; vgl. Welz, Claudia: A Voice Crying

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deln Schweigen als eine Form der Nichtenthüllung59 und belegen, dass es zum Andauern problematischer Familienvergangenheiten beitragen kann, sofern es zu einem Medium der Transmission verstörender Erfahrungen gerät.60 Sie heben weiterhin hervor, dass traumatischer Stress zu einer zeitweisen, mithin dauerhaften Beeinträchtigung der Funktionsweise des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses führen kann,61 auch bringen sie das Nicht-Erinnern- und NichtErzählen(-Können) von bedeutsamen Lebenserfahrungen mit Fragen nach der Stabilität des Selbstkonzepts von Traumatisierten in Verbindung.62 Diese Sichtweise wird von identitätstheoretischen Forschungsansätzen geteilt, die narrative Verfahren zur Auflösung von Gedächtnisblockaden und zur Überwindung von Sprachlosigkeit diskutieren.63 Mit Blick auf die Verortung im Fachbereich der Literaturwissenschaft ist festzuhalten, dass sich die vorliegende Studie mit ihrem narratologischen Erkenntnisinteresse und ihrer Bezugnahme auf übergeordnete Erzähltextmodelle in die Tradition der strukturalistischen Erzähltheorie einschreibt,64 die auf eine

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Out from the Wound – with or without Words: On Trauma, Speech, and Silence. Dialog: A Journal of Theology 56, 2017, H. 4, S. 412–427. Spitznagel, Albert: Selbstenthüllung: Formen, Bedingungen und Konsequenzen. In: Ders./ Schmidt-Atzert, Lothar (Hrsg.): Sprechen und Schweigen. Zur Psychologie der Selbstenthüllung. Bern 1986: Hans Huber, S. 17–46, hier: S. 39–41. Vgl. Danieli, Yael: Psychotherapists’ Participation in the Conspiracy of Silence About the Holocaust. Psychoanalytical Psychology 1, 1984, H. 1, S. 23–42; vgl. Bar-On, Dan/Gilad, Noga: Auswirkungen des Holocaust auf drei Generationen. Psychosozial 15, 1992, H. 54/III, S. 7–21; vgl. Danieli, Yael: Introduction. In: Dies. (Hrsg.): International Handbook of Multigenerational Legacies of Trauma. The Plenum Series on Stress and Coping. New York 1998: Plenum Publishing, S. 1–17; vgl. Rosenthal, Gabriele: Gemeinsamkeiten und Unterschiede im familialen Dialog über den Holocaust. In: Dies. (Hrsg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Reihe Edition Psychosozial. 3. Aufl. Gießen 1999: Psychosozial-Verlag, S. 18–25, hier: S. 22. Vgl. Piefke, Martina/Markowitsch, Hans: Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis. In: Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010: Springer, S. 11–21, hier: S. 20. Vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328; vgl. Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis. In: Gudehus/Eichenberg/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung. 2010, S. 75–84. Vgl. Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf: Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. 2. Aufl. Wiesbaden 2004: VS; vgl. Boothe, Brigitte: Erzähldynamik und Psychodynamik. In: Neumann, Michael (Hrsg.): Erzählte Identitäten. Ein interdisziplinäres Symposium. Reihe Kulte/Kulturen. München 2000: Wilhelm Fink, S. 59–76; vgl. Scheidt, Carl/Lucius-Hoene, Gabriele/Stukenbrock, Anja/Waller, Elisabeth (Hrsg.): Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. Stuttgart 2015: Schattauer; vgl. Boothe: Das Narrativ. Biographisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart 2011: Schattauer. Vgl. Nünning, Asgar/Nünning, Vera: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In:

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»systematische[] Darstellung der wesentlichsten Elemente des Erzählens und ihrer strukturellen Zusammenhänge«65 abzielt. Die Beantwortung der Frage nach der Erzählbarkeit des Schweigens erfolgt mittels Erarbeitung fundierter Textanalysen. Dabei bildet das Interpretationsverfahren des close reading, die »textgenaue, detailbezogene Lektüre und Analyse eines literarischen Textes«66, die seiner »Vielschichtigkeit […] Rechnung trägt«67, den methodologischen Ausgangspunkt. Das textzentrierte Vorgehen wird um die Erschließung der kulturellen Dimension der Texte erweitert, wobei die komplexe Struktur des Untersuchungsgegenstandes und die spezifische Verortung im Handlungskontext von Trauma, Erinnerung und Identität ein interdisziplinäres Textkorpus zur Relationierung der literarischen Primärtexte erforderlich macht.68 Ausgehend von der Annahme, dass die Analyse von Schweigeformen textuelle Strukturen wie »Auslassungen, Brüche und Widersprüche in der Darstellung sowie […] Verschiebungen […], und Symbole oder Metaphern«69 in den Blick nimmt, es im Kern darum geht, latente Textinhalte wie die dem Schweigen vorausgehenden Ursachen und seine Funktionen zu identifizieren,70 werden psychotraumatologische, erinnerungskulturelle- und identitätstheoretische Diskurse in die Textanalyse einbezogen. Dies erscheint auch insofern sinnvoll, als das Erzählen in jenen Disziplinen eine ähnlich prominente Rolle wie in der Literaturwissenschaft einnimmt. Anknüpfungspunkte für die Figurenanalyse ergeben sich etwa in Bezug auf pathologisches Verhalten (Gedächtnisverlust und Sprachlosigkeit als Traumafolge), psychische Prozesse (Schweigen als vermeidendes Verhalten oder Mittel der Gesichtswahrung) und genealogische Entwicklungen (Schweigen als Medium der Transmission verstörender Erfahrungen).71 Diese Überlegungen spielen auch in Hinblick auf die Struktur der Geschichte, die Motivierung des Geschehens und den Aufbau der Erzählung eine Rolle. Dabei zielt die Studie weniger auf eine Verbindung einzelner Textelemente mit psychoanalytischen und erinnerungstheoretischen Theoremen (partiale Deutung) als auf eine mög-

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Dies. (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4. Trier 2002: WVT, S. 1–33. Stanzel, Franz: Theorie des Erzählens. 8. Aufl. Göttingen 2008: V&R, S. 13f. Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen. Stuttgart 2010: J.B. Metzler, S. 294. Neuhaus, Stefan: Grundriss der Literaturwissenschaft. 5. Aufl. Tübingen 2017: A. Francke, S. 247. Vgl. Nünning/Nünning, Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. 2010, S. 295, 302. Ebd., S. 56. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 58–60.

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lichst integrative Deutung, die einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den Textelementen nachzuzeichnen sucht, ab.72 In Bezug auf das Untersuchungsmaterial ist drittens festzuhalten, dass deutschsprachige Erzähltexte des 20. Jahrhunderts im Zentrum stehen, in denen das Schweigen als Motiv ebenso wie als narrative Strategie Wirkung entfaltet, es inhaltlich und formal im Sinne von Hans Jauß den Status einer systemprägenden Dominate73 einnimmt. Eine Konzentration auf Texte, die dem Konnex von Schweigen und Trauma anhand historischer Zäsuren der deutschen Geschichtsschreibung nachspüren, erscheint nicht zuletzt aufgrund der Anbindung der Dissertation an den germanistischen Fachbereich naheliegend: Um Schweigen im Kontext mit schuldhaften Kriegshandlungen während des Zweiten Weltkrieges geht es in Jan Koneffkes »Ein Sonntagskind« (2007) und Ute Scheubs »Das falsche Leben« (2006), in Hans-Ulrich Treichels »Tagesanbruch« (2016) korreliert es mit Flucht, Vertreibung und sexualisierter Gewalt gegen Ende des Krieges. W.G. Sebalds »Austerlitz« (2001) und Gila Lustigers »So sind wir« (2005) verhandeln das Schweigen aus der Perspektive von Opfern des Holocaust am Beispiel des Kindertransports und der transgenerationell wirksamen Vernichtungserfahrung. Herta Müllers »Herztier« (1994) lokalisiert das Schweigen wiederum in der Geschichte der deutschsprachigen Minderheit der Banater Schwaben in der Diktatur Rumäniens der 1980er Jahre, Eleonora Hummel bringt es in »Die Fische von Berlin« (2005) mit der ambivalenten Verfolgungsgeschichte der deutschsprachigen Minderheit der Sowjet- bzw. Russlanddeutschen in Verbindung. Die narrativ-fiktionalen Geschichtsdarstellungen nehmen in unterschiedlichem Umfang Bezug auf die außerliterarische Realität, folgen den Prinzipien des historischen Erzählens und lassen sich nach Ansgar Nünnings Gattungstypologie tendenziell als realistisch historische Romane einordnen – unter anderem, weil sie »vergangene Ereignisse oder Prozesse auf der diegetischen Ebene in Form einer fiktiven Handlung vermittel[n …], die sich in einem raumzeitlich mehr oder weniger präzise konturierten Milieu vollzieht«74, die Ge72 Vgl. Schönau, Walter/Pfeiffer, Joachim: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. 2. Aufl. Stuttgart 2003: J.B. Metzler, S. 85f.; vgl. Wyatt, Frederick: Anwendung der Psychoanalyse auf die Literatur: Phantasie, Deutung, klinische Erfahrung. In: Curtius, Mechthild (Hrsg.): Seminar: Theorien der künstlerischen Produktivität. Entwürfe mit Beiträgen aus Literaturwissenschaft, Psychoanalyse und Marxismus. Frankfurt/M. 1976: Suhrkamp, S. 335–357, hier: S. 353–355. 73 Jauß, Robert: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur: Gesammelte Aufsätze 1956–1976. München 1977: Fink, S. 327–358, hier: S. 332f.; ich danke Carsten Gansel für diesen Hinweis. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 7. Aufl. Berlin 2016: Cornelsen, S. 140. 74 Nünning, Ansgar: Kriterien der Gattungsbestimmung. Kritik und Grundzüge von Typologien narrativ-fiktionaler Gattungen am Beispiel des historischen Romans. In: Gymnich, Marion/

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schehnisse vergleichsweise chronologisch vermitteln und ein vergangenheitsorientierter Zeitbezug vorherrscht. Dabei sind es individuelle und höchst emotionale Lebenserfahrungen und Schweigehandlungen, die vorrangig von einer personal voice75 vermittelt werden. Die spezifische Relation zwischen Historie und Erzähltext beschreibt Paul Ricœur im Kreis der Mimesis. Ricœur nimmt an, dass »die Fabelkomposition in einem Vorverständnis der Welt des Handels verwurzelt [ist]: ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Ressourcen und ihres zeitlichen Charakters«76. Würde sie »nicht etwas [… gestalten], was in der menschlichen Handlung bereits Gestalt hat«77, wäre die »Literatur unrettbar unverständlich«78. Es ist die außerliterarische Welt bzw. die »pränarrative Struktur der Erfahrung«79 (Präfiguration, Mimesis I), aus der die literarische Komposition (Konfiguration, Mimesis II) hervorgeht, die »aus – einer Mannigfaltigkeit von Ereignissen oder Vorfällen […] eine Geschichte macht; [… bzw.] die Ereignisse oder Vorfälle – in eine Geschichte verwandelt«80. Die Rezeption des Erzähltexts durch den Leser schließt den Kreis der Mimesis (Refiguration, Mimesis III).81 Welche Bedeutung den skizzierten Überlegungen Ricœurs insbesondere für die Erfassung von Texten zukommt, »in denen es darum geht, realistisch historische Zeitläufe und die in ihnen agierenden Personen zu erfassen«82, ist an verschiedenen Gegenständen erprobt worden, von Carsten Gansel etwa im Kontext von ›Adoleszenz und Störung‹ und ›Erinnerung und Störung‹.83 So folgt die vorliegende Untersuchung einem Verständnis von Literatur, das Wilhelm Vosskamp als eine Form »der kulturellen Selbst-Wahrnehmung und Selbst-

75 76 77 78 79 80 81 82 83

Neumann, Birgit/Nünning, Ansgar (Hrsg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Studies in English Literary and Cultural History 28. Trier 2007: WVT, S. 73–99, hier: S. 91. Vgl. Lanser, Susan: Fictions of Authority: Woman Writers and Narrative Voice. Ithaca/New York 2018: Cornell University Press, S. 18–21. Ricœur, Paul: Zeit und historische Erzählung 1. Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 18/I. 2. Aufl. München 2007: Wilhelm Fink, S. 90. Ebd., S. 104. Ebd. Ebd., S. 118. Ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 88, 113; Ricœur beschreibt die Mimesis III als »den Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Zuhörers oder Lesers […], also […] der Welt, die das Gedicht konfiguriert, und d[ie]jenige[], in der sich die tatsächliche Handlung entfaltet«. Ebd., S. 114. Gansel, Carsten/Kulkova, Mariya: Zur Funktion von Gedächtnis und Erinnerung in Gusel Jachinas Wolgakinder (2019). German as a Foreign Language 1, 2021, S. 138–165, hier: S. 143. Vgl. Gansel, Carsten: »Der Tod ist ein Geschenk« – Störungen in der Adoleszenz und terroristischer Selbstmordattentate in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Ders./ Kaulen, Heinrich (Hrsg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 8. Göttingen 2011: V&R, S. 247–262, hier: S. 250; Gansel/Kulkova, Zur Funktion von Gedächtnis und Erinnerung in Gusel Jachinas Wolgakinder (2019). 2021, S. 141–145.

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Thematisierung«84 von Gesellschaft fasst: »In Texten beobachten sich Kulturen selbst. […] Literarische Texte sind spezifische Formen des individuellen und kollektiven Wahrnehmens von Welt und Reflexion dieser Wahrnehmung.«85 Es sei darauf verwiesen, dass Vosskamps Überlegungen von Carsten Gansel bereits für gattungstheoretische Bestimmungen im Bereich der Phantastik, mithin der Kinder- und Jugendliteratur angewendet worden sind.86 Neben dem Bezug auf das Was ist in Hinblick auf das Wie des Erzählens zu ergänzen, dass zusätzlich zum Schweigen und zum Trauma auch das Erinnern ein Auswahlkriterium für das Textkorpus bildet. Auf diesen Aspekt geht die Berücksichtigung des Romans »Willkommen in Amerika« (2016) der schwedischen Autorin Linda Boström Knausgård zurück, die das Schweigen als Ausdruck von innerfamiliärer Machtausübung verhandelt. Da das Erinnern für sämtliche Protagonisten eine zentrale Stellung einnimmt, wichtige Ereignisse auf der diegetischen Ebene »in der erinnernden Rückschau«87 hervorgebracht werden, lassen sich die ausgewählten Erzähltexte nach Birgit Neumanns Klassifikation der Gattung der fictions of memory88 zuordnen. Dies erscheint auch insofern sinnvoll, als eine Analyse des Schweigens »ob [… es] nun explizit angezeigt oder implizit vollzogen wird, sprachliche[r] Hinweise [… bedarf]. Alle Formen des bewußten Aussparens von Informationen […] benötigen ein kontextuelles, hinreichend genau konturiertes Umfeld«89. Narratologisch betrachtet ermöglichen fictions of memory über ihre doppelte Zeitstruktur, das Spannungsverhältnis zwischen der Vergangenheitsund der Gegenwartsebene, Schweigehandlungen im Abgleich von Erinnertem und Erzählten zu inszenieren. So bildet die Rhetorik der Erinnerung90 eine not84 Vosskamp, Wilhelm: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42, 1998, S. 503–507, hier: S. 504; ich danke Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann für diesen Hinweis. Gansel, Carsten/Herrmann, Elisabeth: »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation« – Anmerkungen zum Versuch, Gegenwartsliteratur zu bestimmen. In: Gansel, Carsten: (Hrsg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 10. Göttingen 2013: V&R unipress, S. 7–22, hier: S. 13f. 85 Vosskamp, Die Gegenstände der Literaturwissenschaft. 1998, S. 504. 86 Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2016, S. 16, 140. 87 Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer »Fictions of Memory«. Media and Cultural Memory 3. Zugl. Gießen Univ. Diss. 2004. Berlin/New York 2005: de Gruyter, S. 137. 88 Vgl. ebd., S. 213–217. 89 Lorenz, Schweigen in der Dichtung. 1989, S. 23. 90 Vgl. Gansel, Carsten: Rhetorik der Erinnerung – Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 1. Göttingen 2009: V&R unipress; vgl. Ders.: Rhetorik der Erinnerung. Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur. In: Ders./Korte, Hermann (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 2. Göttingen 2009: V&R unipress, S. 11–38.

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wendige Bedingung für die Analyse des Schweigens, das »im sprachlichen Kunstwerk nur durch Beobachtungen anderer, Reflexionen des Erzählers oder vergegenwärtigte Handlung wirkungsvoll gestaltet werden [kann]«91. Die Überlegungen zur Narratologie des Schweigens erfolgen in zwei Schritten, theoretischen Betrachtungen und differenzierten Textanalysen. Die einleitende linguistische Perspektivierung (Kapitel 2.1) grenzt den Gegenstand begrifflich von verwandten Phänomen wie Stille, Ruhe und Pause ab, verortet das Schweigen in der Sprache und klassifiziert es als nonverbales sprachliches Zeichen. Es folgt seine Positionierung im Gesprächskontext bzw. die Eingrenzung auf die Schweigetypen Abbruch und Schweigezug. Unter Bezugnahme auf pragmalinguistische Ansätze wird der Handlungscharakter des Schweigens herausgestellt: In Bezug auf Watzlawicks Axiome der Kommunikation sein Mitteilungscharakter, in Bezug auf Grices Maxime der Kommunikation sein Charakteristikum der hörerseitigen Bedeutungszuschreibung. Nach Bühlers Organon-Modell und Austins/Searles Sprechakttheorie wird die Übertragbarkeit universaler Sprachfunktionen auf das Schweigen diskutiert, woraus seine Bestimmung als (nicht) intentionale kommunikative Handlung abgeleitet und Formen und Funktionen des Schweigens im Gesprächs- und Handlungskontext von Trauma und Erinnerung bestimmt werden. Aus psychotraumatologischer Perspektive (Kapitel 2.2) werden der Trauma-Begriff und das klinische Bild der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB) nachvollzogen und das Schweigen als Traumafolgestörung klassifiziert. Die Erläuterungen zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses führen zur Interpretation von Schweigen als Ausdruck einer Störung des autobiographischen Gedächtnisses. Im Rahmen der literaturwissenschaftlichen bzw. erzähltheoretischen Einordnung (Kapitel 2.3) wird das Schweigen zunächst in den textinternen Ebenen der literarischen Kommunikation lokalisiert, woraufhin Formen der Schweigewiedergabe anhand von Primärtextauszügen illustriert werden. Ausgehend vom Zweiebenenmodell wird das Schweigen sodann in der binären Grundstruktur des Erzähltexts verortet: Mit Blick auf das Wie der Darstellung wird das Verhältnis von Erzählinstanz und Schweigen am Beispiel der im Korpus enthaltenen Erzählsituationen erläutert, woran Überlegungen zur zeitlichen Konzeption des Schweigens angeschlossen werden. Mit Blick auf das Was der Darstellung wird am Untersuchungsmaterial erörtert, inwiefern Schweigeinszenierungen konventionalisierte Erzählweisen in Frage stellen. So spannen die Ansätze aus der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Psychotraumatologie und der Erinnerungstheorie das gedankliche Koordinatensystem auf, innerhalb dessen die Textanalysen entwickelt werden (Kapitel 3–6). Diese folgen der übergeordneten Frage, inwiefern Schweigen zum Gegenstand des Erzähltexts gemacht (Schweigen als literarisches Motiv) und mit 91 Daemmrich/Daemmrich, [Art.] Dialog-Schweigen. 1995, S. 101.

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welchen erzählerischen Mitteln es inszeniert wird (Schweigen als Erzählstrategie). Zur Interpretation der Ursachen, Funktionen und Folgen des Schweigens werden außerliterarische Forschungsansätze herangezogen. Gesamtheitlich betrachtet bildet der Aufbau der Analyse eine dreigliedrige Schweigetypologie ab, die als Schwerpunktsetzung zu verstehen ist: Zunächst steht das Schweigen im Sinne eines Nicht-sprechen-Wollens im Zentrum (Kapitel 3). Das zugehörige Text-Cluster umfasst Jan Koneffkes »Ein Sonntagskind« und Linda Boström Knausgårds »Willkommen in Amerika«. Es wird zu zeigen sein, dass Koneffke eine Erzählsituation inszeniert, in der über weite Strecken ausschließlich dem Leser, nicht jedoch dem Figurenensemble das Verschweigen des Erzählers kenntlich ist. Boström Knausgård installiert hingegen eine Erzählerin, deren Weigerung zu sprechen in Form eines inneren Monologs dargestellt wird, wobei illusionsdurchbrechende Leseransprachen an die Existenz ihrer Stimme erinnern und das Schweigen auch mittels Auflösung des Prinzips der Zeitlichkeit und der Absenz von Figurenhandlung erzählt wird. Schweigen im Sinne eines repressiven Nicht-sprechen-Dürfens (Kapitel 4) verhandeln Herta Müllers »Herztier« und Eleonora Hummels »Die Fische von Berlin«. In beiden Narrationen wird das figurale Schweigen in Räumen entfaltet, in denen das Sprechen durch Sprachlenkung und Tabuisierung limitiert ist und die Figuren danach streben, neue Räume des Sagbaren für sich zu erschließen. Während Hummel das Schweigen als Familiengeheimnis und Auslassung im kulturellen Gedächtnis konzipiert, zeichnet sich Müllers Inszenierung durch die Aussparung von Handlungsabläufen in der erzählerischen Vermittlung, die Konzentration auf statische Konstituenten der Erzählung sowie das Stilmittel der Wiederholung aus. Um Schweigen im Sinne eines Nicht-Sprechen-Könnens (Kapitel 5) in Folge des Erlebens traumatischer Erfahrungen geht es in W.G. Sebalds »Austerlitz« und Hans-Ulrich Treichels »Tagesanbruch«. Legt Sebald seinem Protagonisten eine baugeschichtliche Metapher als Ausdruck für dessen in Sprachlosigkeit versunkene Kindheitserfahrungen in den Mund und zeigt die Rolle des Zuhörers als notwendige Bedingung für das Erzählen von Erfahrungen auf, inszeniert Treichel das Verstummen einer Figur als Voraussetzung für das Nach-Worten-Suchen einer anderen, wobei das Schweigen als Initiator des Erzählprozesses sowie als Mittel des Spannungsaufbaus Wirkung entfaltet. Folgen die skizzierten TextCluster der Perspektive der schweigenden Akteure, widmet sich das vierte Cluster (Kapitel 6) der rezeptiven Seite des Schweigens. Sowohl in Gila Lustigers »So sind wir« als auch in Ute Scheubs »Das falsche Leben« wird das Aushalten-Müssen von Schweigen bzw. das Reden-Fordern verhandelt. Zu zeigen sein wird, dass Lustiger Schweigen als Medium der transgenerationellen Übertragung von verstörenden Erfahrungen inszeniert, wohingegen Scheubs Protagonistin mit Schweigen im Sinne einer Leerstelle im kommunikativen Gedächtnis ihrer Familie konfrontiert ist. Die Schlussbetrachtung widmet sich neben der überblicks-

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artigen Darstellung der Analyseergebnisse auch der Bewertung des Schweigens, mithin der Frage, inwiefern es für die Figuren und Erzähler in Hinblick auf die Ausbildung von Erinnerungs- und Identitätsentwürfen eine Möglichkeit oder einen Mangel92 darstellt. Zudem wird die in den Analysen erarbeitete Korrelation von Schweigen und Vergessen sowie von Erzählen und Erinnern zur Diskussion gestellt – unter Bezugnahme auf psychosoziale Studien, die in den transdisziplinären Diskurs zum Umgang mit traumatischen Erfahrungen Stimmen einbringen, die entgegen dem vorherrschenden Konsens einer heilend-stabilisierenden Funktion des Erzählens für das Schweigen optieren.

92 Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 44.

2.

Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

2.1

Linguistische Einordnung

Es liegt nahe, das Schweigen im Sinne einer originär sprachlichen Figuration der Auslassung in einem ersten Schritt im Kontext der Linguistik zu verorten. Dabei wird es zunächst von sach- und sinnverwandten Termini wie Ruhe, Stille und Pause abgegrenzt und als Bestandteil der Sprache bestimmt. Es folgen Ausführungen zur Klassifikation von Schweigen als sprachliches Zeichen und zur Lokalisierung von Schweigeformen im Gespräch. Ausgehend von der Bestimmung seines Mitteilungscharakters und seiner potentiellen Bedeutsamkeit wird ein Verständnis von Schweigen als (intentionale) kommunikative Handlung erarbeitet. Unter Bezugnahme auf etablierte Schweigesystematiken wird mit Blick auf den spezifischen Gesprächs- und Handlungskontext der Arbeit eine dreigliedrige Schweigetypologie bestimmt, aus der sich die Gliederung der vorzunehmenden Textanalysen ableitet. Eine linguistische Verortung des Untersuchungsgegenstandes erscheint auch insofern sinnvoll, als das Schweigen Bestandteil des Gesprächs bzw. Dialogs ist, der ein[en] Grundbaustein literarischer Texte [… bildet, wobei s]eine Verwendung […] voraus[setzt], daß sein Wesen syntaktisch und semantisch erkannt wurde. Es ist deutlich, daß Autoren durch die Anordnung des Sprechens und Verstehens oder des Sprechens und Schweigens sowohl wichtige Textrelationen herstellen als auch dem Leser […] wesentliche Informationen vermitteln.93

In diesem Sinne zeigen die folgend skizzierten Beobachtungen wichtige Anknüpfungspunkte für die Untersuchung des Schweigens in der textimmanenten Kommunikation auf und spannen in Verbindung mit der psychotraumatologischen Perspektivierung (Kapitel 2.2) und den erzähltheoretischen Überlegungen (Kapitel 2.3) das Koordinatensystem auf, innerhalb dessen die Analyse der literarischen Schweigekonfigurationen entwickelt werden (Kapitel 3–6). 93 Daemmrich/Daemmrich, [Art.] Dialog-Schweigen. 1995, S. 96.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

2.1.1 Begriffsklärung und Verortung in der Sprache Zur Annäherung erfolgt zunächst eine begriffliche Bestimmung des Schweigens wie es im Wörterbuch definiert und in der Alltagssprache verwendet wird. So führt der Duden als Standardwerk zur deutschen Sprache unter dem Lemma ›Schweigen‹ die Bedeutung »das Nichtreden; das Nicht-mehr-Reden«94 und unter ›schweigen‹ »a) nicht [mehr] reden; nicht antworten; kein Wort sagen […] b) nicht [mehr] tönen, keine Klänge, Geräusche [mehr] hervorbringen [… und] c) verschweigen«95 auf. Ähnlich dazu werden in der alltagskonzeptuellen Auffassung primär Assoziationen wie ›das Fehlen von Lauten (lautlos)‹, ›das Fehlen von Worten (wortlos, wortkarg)‹ sowie ›verstummen‹ mit dem Schweigen assoziiert.96 Auch die Variante ›ruhig sein‹ wird konzeptionell mit Schweigen verknüpft, wobei das Lemma ›Ruhe‹ wie folgt definiert ist:97 »1. a) durch kein [lärmendes] Geräusch u. lebhaftes Treiben gestörter Zustand; [fast völlige] Stille […] b) Bewegungslosigkeit […] 2. Zustand erholsamer, beschaulicher Untätigkeit; Entspannung, Erholung […] 3. durch keinerlei Unfrieden, keinen Kampf, Streit o. Ä. beeinträchtigter [normaler] Zustand […] 4. durch keine Erregung gestörter Zustand des seelischen Gleichgewichts; Gelassenheit.«98 Die erste Bedeutungsvariante von ›Ruhe‹ ruft einen weiteren Begriff auf, die Stille, der in engem Bezug zum Schweigen steht und dessen Bedeutungsnuancen wie folgt abgesteckt sind: »1. a) durch kein lärmendes, unangenehmes Geräusch gestörter [wohltuender] Zustand […] b) Zustand, der dadurch geprägt ist, dass [plötzlich] kein lautes Geräusch, kein Ton mehr zu hören ist, alles schweigt […] 2. Zustand des Ruhigseins […] 3. in aller Stille.«99 Die ersten Bedeutungsvarianten von ›Ruhe‹ und ›Stille‹ entsprechen einander nahezu, sodass bezüglich der Absenz von Akustik eine semantische Überschneidung vorliegt, die sich auch mit dem Assoziationsradius von Schweigen deckt. Entsprechend fungieren die Lemma ›Ruhe‹ und ›Stille‹ teils als Synonyme zu ›Schweigen‹, sodass nach der Wörterbuchdefinition eine Sinn- bzw. Sachverwandtschaft vorliegt. Ein detaillierter Vergleich der Bedeutungsspektren der drei Termini stellt jedoch graduelle Unterschiede heraus: So werden Ruhe und Stille primär mit der Abwesenheit von Akustik im Allge-

94 Dudenredaktion: [Art.] Schweigen. In: Ders. (Hrsg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bde. 8 Schl–Tace. 3. Aufl. Mannheim 1999: Dudenverlag, S. 3479. 95 Ebd. 96 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 31f. 97 Vgl. ebd., S. 32. 98 Dudenredaktion: [Art.] Ruhe. In: Ders. (Hrsg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bde. 7 Pekt–Schi. 3. Aufl. Mannheim 1999: Dudenverlag, S. 3244f. 99 Dudenredaktion: [Art.] Stille. In: Ders. (Hrsg.), Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 8. 1999, S. 3745.

Linguistische Einordnung

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meinen (Geräusch- und Tonlosigkeit) in Verbindung gebracht.100 Dies wird etwa beim rituellen Stille-Bewahren im Kontext religiöser Zeremonien deutlich, wo gerade Nicht-Sprechen erwartet wird. Negiert wird dabei nicht der Sprechakt bzw. die Kommunikation, sondern das Erzeugen von Geräuschen.101 So ist die Stille durch ihre Geräuschkomponente stärker »an Vorstellungen von Nichtintentionalität und Bedeutungslosigkeit gebunden«102. Ruhe und insbesondere Stille bezeichnen im Grunde statische Zustände, die im Vergleich zur Dynamik von Geräuschen und Lärm tendenziell als angenehm, mithin als erstrebenswert gelten (etwa im Sinne von »endlich war Ruhe eingetreten«103 oder »es herrschte friedliche, sonntägliche […] Stille«104) und positiv konnotiert sind.105 Ähnliches gilt für den Terminus ›Pause‹, der laut Duden erstens eine »kürzere Unterbre-

100 Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann verortet neben dem Schweigen auch die Ruhe in den Bereich der Sprache und schließt lediglich die Stille davon aus: »Schweigen und Ruhe entsteht durch das Aussetzen von Sprechen, Stille dagegen durch das Aussetzen von Klang, Ton, Musik und jeglichem Geräusch.« Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 66. Ausgehend von der Definition des Schweigebegriffs wie sie im Wörterbuch erfolgt und seiner alltagskonzeptionellen Verwendung folgt diese Arbeit grundsätzlich der Auffassung, dass Stille und Ruhe primär mit Geräuschlosigkeit verbunden sind, Schweigen hingegen die Abwesenheit von Sprache fokussiert, so argumentiert auch die Linguistin Ulsamer in ihrer empirischen Studie. Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 31–35. Es ließe sich diskutieren, Schweigen und Stille als gegensätzliche Pole (Nicht-Sprechen versus Geräuschlosigkeit) einer Skala zu betrachten und Ruhe in deren Mitte zu verorten, da es sowohl mit der Absenz von Sprache als auch von Geräuschen einhergeht, wie die Redewendung Ruhe geben zeigt, die beide Bedeutungsnuancen enthält. 101 Vgl. Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 41; Stefan Raueiser erläutert: »Stille als Distanz zum Lärm der Welt und gleichzeitig als Übung schweigender Anbetung ist ein probates Mittel der Gottesbegegnung und der Selbstfindung.« Raueiser, Schweigemuster. 1996, S. 29; religiös motivierter Sprachverzicht, etwa von Mönchen im Kloster (Sprechaskese), signalisiert die Abkehr vom Weltlichen (der Sprache als etwas Menschliches), die Tilgung von Subjektivität und die Hinwendung zum Göttlichen; aus Schweigen bzw. Nicht-Sprechen soll absolute Stille als Medium unmittelbarer Gotteserfahrung erwachsen. Vgl. Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 66; vgl. Bellebaum, Schweigen und Verschweigen. 1992, S. 41–55. 102 Benthien, Barockes Schweigen. 2006, S. 18. 103 Dudenredaktion, [Art.] Ruhe. 1999, S. 3244. 104 Dudenredaktion, [Art.] Stille. 1999, S. 3745. 105 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 35; Wolfgang Piltz weist darauf hin, dass »der Begriff ›Stille‹ ursprünglich wohl für Ruhezustände in der Dimension materieller Bewegtheit verwendet wurde (›Räder stehen still‹, ›Hände still halten‹) und ›Schweigen‹ ursprünglich nur in der Sprachdimension, jeder also ein eigenes Dimensionsprofil hat. […] ›Stille‹ hat noch eine weitere Eigenart: Sie hat nicht unbedingt Anfang und Abschluß wie ›Schweigen‹ […] und ist nicht unbedingt Komplementärphänomen, während ›Schweigen‹ nur dort erscheint, wo sonst geredet wird, wo zuvor geredet wurde und danach wieder. ›Stille‹ kann – cum grano salis – ewig sein, zum Beispiel die Stille im Weltraum, die Urstille.« Piltz, Wolfgang: Die Philosophie des Schweigens – Das Schweigen in der Philosophie. Hochschulschrift. Zugl. Würzburg Univ. Diss. 1987, S. 174f.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

chung einer Tätigkeit, die der Erholung, Regenerierung o.Ä. dienen soll«106 (Ruhepause) oder ein »vorübergehendes Aufhören von etw.«107, (Pause im Gespräch) bezeichnet und weiterhin in der Musik und Verslehre Gebrauch findet, etwa als »Taktteil innerhalb eines Musikwerks, der nicht durch Töne ausgefüllt ist«108, als »Pausenzeichen« oder als »vom metrischen Schema geforderte Takteinheit, die nicht durch Sprache ausgefüllt ist«109. Dem Schweigen haftet eine vergleichsweise pejorative Wertung an, wovon das breite Ausmaß negativer Bedeutungsvarianten im 21. Jahrhundert zeugt, das neben dem Ausdruck von nicht vorhandener Akustik auch den Ausdruck unangenehmer Gefühle wie Verachtung (zu Tode schweigen), Furcht/Schrecken/Trauer (Zum Schweigen bringen, Schweigeminute) und nachdenklich Sein (in Schweigen versunken, verlegenes Schweigen) sowie die Verwendung im thematischen Kontext von Geheimhaltung (totschweigen, verschweigen, Verschwiegenheit, Schweigepflicht, Stillschweigen, schweigen wie ein Grab, sich in Schweigen hüllen, jemanden zum Schweigen bringen), Stimmungsstörungen (Stillschweigen, Schweigsamkeit) und Enthüllung (das Schweigen brechen) umfasst.110 Im Verständnis eines Absenzmarkers von Geräuschen ist Schweigen begrifflich eng mit den Termini Pause, Ruhe und Stille verbunden, anders als die letzten beiden wird es jedoch explizit im Kontext von Sprache bzw. Kommunikation verortet, mithin entsteht es erst durch das Aussetzen von Sprache »unter der Bedingung des Sprechenkönnens [… und ist] als Phänomen […] ohne Sprache nicht vorstellbar«111. So wird im deutschsprachigen Raum lexikalisch zwischen der Absenz von Sprache (im Sinne von Schweigen bzw. pragmatischem Schweigen) und der Absenz von Geräuschen und Lärm (im Sinne von Stille und Ruhe bzw. akustischem/prosodischem Schweigen) unterschieden.112 Im Unterschied zur Ruhe und Stille dominiert beim in den 106 Dudenredaktion: [Art.] Pause. In: Ders. (Hrsg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bde. 6 Lein–Peko. 3. Aufl. Mannheim 1999: Dudenverlag 1999, S. 2876. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 33; vgl. Dudenredaktion, [Art.] Schweigen. 1999, S. 3479. 111 Trettin, Käthe: Die Logik und das Schweigen. Zur antiken und modernen Epistemotechnik. Weinheim 1992: VCH, S. 2; ich danke Stefan Raueiser für diesen Hinweis. Raueiser, Schweigemuster. 1996, S. 17; Schmitz betont: »Schweigen ist die Abwesenheit von Artikulation, Stille ist Abwesenheit von Geräusch. Schweigen ist also der sprachliche Sonderfall von Stille.« Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 6. 112 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 34f.; zur lexikalischen Markierung unterschiedlicher Bedeutungsvarianten von Schweigen im Deutschen stellt Ulsamer im Vergleich zum Englischen fest: »In englischen Wörterbüchern findet man für silence die Bedeutungsvarianten ›Stille‹, ›Ruhe‹ (›quietness‹) und ›Schweigen‹ (›absence of talk, also of letters‹), was verdeutlicht, dass das Englische die semantischen Varianten von akustischem und pragmatischem Schweigen lexikalisch nicht trennt […]. Engl. pl. silences umfasst sämtliche Bedeutungsvarianten, die im Deutschen im Falle einer Zusammenführung dieser

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Gesprächsfluss eingebetteten Schweigen das dynamische Moment, mithin der Zustandswechsel, was beim Schweigen-Brechen bzw. bei der Wiederaufnehme der Rede deutlich wird. Es haftet dem Schweigen ein »absolute[r] Charakter [… an], der nur zwei Optionen zulässt, nämlich entweder zu schweigen oder nicht zu schweigen – ohne prozeduralen Übergang. […] ›Ein bisschen‹ zu schweigen, ist […] unmöglich.«113 Von der Pause, die auch im Gesprächskontext verortet ist, setzt sich das Schweigen zudem durch seine Dauer – Heinemann bestimmt sogar eine Relevanzschwelle von etwa zehn Sekunden –114 sowie durch den Umstand ab, dass bei der Pause der Sprechakt lediglich verzögert realisiert, keineswegs jedoch suspendiert wird.115 Aufgrund seiner originären Verortung in der Sprache bewegt sich das Schweigen unabdingbar in der Dichotomie von Sprechen–Nicht-Sprechen bzw. Artikulation–Nicht-Artikulation,116 es gilt, das Verhältnis von Schweigen und Sprechen näher in den Blick zu nehmen. Da das Schweigen ein Aussetzen bzw. Fehlen von Sprache, ein »Nichtreden«117, markiert, scheint es auf den ersten Blick einem kommunikativen Missstand gleichzukommen und als »eine sprachliche Extremform [… bzw.] das Andere der Sprache«118 in ein gegensätzliches Verhältnis zum Sprechen zu treten.119 Hinsichtlich der Frage, ob Schweigen das Reden oder Reden das Schweigen unterbricht, konstatiert Zimmermann bezüglich der gesellschaftskonstituierenden Funktion des Redens und der Kommunikation im Allgemeinen, dass »eher das Schweigen als Unterbrechung oder Verzicht des

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Variationen in nur einem Begriff zu erheblichen Missständen führen würde. Engl. pl. silences überschneidet sich nämlich in seiner Bedeutung mit quiet und calm, wobei sich quiet auf das bloße Fehlen von Geräuschen (dt. Stille) und calm auf das Fehlen jeglichen ruhestörenden Lärms (dt. Ruhe) bezieht. Engl. sg. silence hingegen meint das Fehlen von Sprache und Kommunikation ebenso wie das dt. Schweigen […].« Ebd., S. 34; Ulsamer bezieht sich u. a. auf einen Beitrag zur Semantik des Schweigens von Christian Mair, der konstatiert, dass »silence foregrounds the absence of speech and communication (as only silence is eloquent), quiet stresses the absence of noise in general, and calm the absence of disturbance of any kind«. Mair, Christian: The Semantics of Silence. In: Grabher, Gudrun/Jessner, Ulrike (Hrsg.): Semantics of Silences in Linguistics and Literature. Anglistische Forschungen 244. Heidelberg 1996: Universitätsverlag C. Winter, S. 19–28, hier; S. 20. Sass, Hartmut von: Topographien des Schweigens. Eine einleitende Orientierung. In: Ders. (Hrsg.): Stille Tropen. Zur Rhetorik und Grammatik des Schweigens. Freiburg 2013: Karl Alber, S. 9–29, hier: S. 13. Heinemann, Wolfgang: Das Schweigen als linguistisches Phänomen. In: Eggert, Hartmut/ Golec, Janusz (Hrsg.): »… wortlos der Sprache mächtig.« Schweigen und Sprechen in der Literatur und sprachlicher Kommunikation. Stuttgart 1999: J.B. Metzler, S. 301–314, hier: S. 309. Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 41. Vgl. Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 100. Lewandowski, [Art.] Schweigen. 1990, S. 931. Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 32. Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 32; vgl. Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 31f.

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Redens zu sehen [ist], und das Reden (als Unterbrechung des Schweigens) als die Rückkehr aus einem anormalen in den Normalzustand«120. Auch Hartmut von Sass konstatiert: »[D]ie Sprache beheimatet das Schweigen, nicht umgekehrt.«121 So gilt üblicherweise nicht Schweigen, sondern Sprechen bzw. sprachliche Kommunikation als der Normalfall –122 sofern Mündlichkeit bzw. gesprochene Sprache fokussiert wird.123 Schweigen als Absenz von Sprache, »as absence of sound and therefore as absence of communication«124, wird vielfach als kommunikativer Missstand gewertet.125 In Fortsetzung dieses Gedankens lässt sich das Schweigen im Sinne von Ludwig Jäger zugespitzt formuliert als ein zu vermeidender kommunikativer Unfall fassen – wobei Schweigen die Störung bzw. Denormalisierung und Sprechen den Wiedereintritt in den Zustand der Transparenz bilden (vgl. Kapitel 4.2.2). Diese Einschätzung ist eng mit der Auffassung moderner Industriegesellschaften verbunden, die den Ausfall von Produktivität und den Verlust von Effizienz grundsätzlich negativ bewerten, was die sogenannte Maschinenmetapher illustriert: »If one assumes the engine should be running, the silence will indicate failures. […] The normal state of the machine is thought of as a steady hum or buzz, with hesitation or silences indicating trouble, difficulty, missing cogs, and so forth.«126 Die akustische Unterbrechung gilt auch in den Medien als »gefürchteter Unfall. Sobald im Hörfunk eine Stille von wenigen Sekunden überschritten wird, wird automatisch Alarm ausgelöst und ein Ersatzprogramm abgespielt. Für solche Fälle hat das Radio immer eine ›Notfallmusik‹ auf Lager.«127 Als Ausdruck einer Störung vermeintlich reibungslos ablaufender Kommunikation scheint das Schweigen sinnbildlich in ein gegensätzliches Verhältnis zum Sprechen zu treten – eine Auffassung, die sich bei genauerer Betrachtung nicht aufrecht halten lässt. In der Sprachwissenschaft bzw. der Gesprächslinguistik herrscht Konsens in der Auffassung, dass eine dichotome Gegenüberstellung von Sprechen und Schweigen und die Annahme, dass »sprachliche Absenz lediglich den Hintergrund bilde, vor dem das Sprechen auf- und ausgeführt werde«128, nicht zu120 Vgl. Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 38. 121 Sass, Topographien des Schweigens. 2013, S. 10. 122 Vgl. Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 51; vgl. Bellebaum, Schweigen und Verschweigen. 1992, S. 12f. 123 Der Begriff Kommunikation schließt gesprochene und geschriebene Mitteilungen ein. Vgl. Faßler, Manfred: Was ist Kommunikation? 2. Aufl. München 1997: Wilhelm Fink, S. 18; ich danke Fleur Ulsamer für diesen Hinweis. Ulsamer, 2002. Linguistik des Schweigens, S. 52. 124 Scollon, Ron: The Machine Stops: Silence in the Metaphor of Malfunction. In: Tannen/ Saville-Troike, Perspectives on Silence. 1985, S. 21–30, hier: S. 21. 125 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 32. 126 Vgl. Scollon, The Machine Stops. 1985, S. 26. 127 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 66. 128 Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 100.

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trifft.129 Anstatt Schweigen als »Negation und Negativum des Sprechens«130 zu werten, im Sinne einer »Negativ-Folie, auf der sich das demgegenüber positiv konnotierte Sprechen entfaltet«131, dominiert vielmehr ein integrativer Ansatz: »Es gibt keine Sprache und kein Sprechen ohne Schweigen, und es gibt kein Schweigen ohne Sprechen […]. Sprechen und Schweigen leben in Symbiose; sie sind dialektisch aufeinander angewiesen.«132 Sprechen und Schweigen lassen sich als »zwei Komplementärkräfte im Kommunikationsgeschehen [fassen], die in Wertschätzung und Wirkung einander vielfach wechselseitig bedingen«133. Dies wird im Kontext der Gesprächsorganisation offensichtlich, wo das Schweigen die formale Grenze, den Anfang und das Ende einer Äußerung markiert und die Funktion des boundary-marking134 übernimmt.135 So definiert Zellig Harris eine Äußerung auch als »any stretch of talk, by one person, before and after which there is silence on the part of the person«136. Hinsichtlich dieses Aspekts liegt Strukturgleichheit zwischen Sprechen und Schweigen vor.137 Es ist somit das »Wechselspiel von Sprache und Schweigen, das Kommunikation erst ermöglicht«138.

129 Vgl. Schüler, Lisa/Lehnen, Katrin: Schweigen zur Sprache bringen. Überlegungen zu Sprachlosigkeit und Schweigen in Kirsten Boies Roman Ringel, Rangel, Rosen. In: Ächtler, Norman/Rox-Helmer, Monika (Hrsg.): Zwischen Schweigen und Schreiben. Interdisziplinäre Perspektiven auf zeitgeschichtliche Jugendromane von Kirsten Boie und Gina Mayer. Literarisches Leben heute 3. Frankfurt/M. 2013: Peter Lang, S. 115–140, hier: S. 117f.; vgl. Jaworski, The Power of Silence. Social and Pragmatic Perspectives. Language and Language Behaviors Series 1. Newbury Park Calif. 1993: Sage Publications, S. 34, 47f.; vgl. SavilleTroike, The Place of Silence in an Integrated Theory of Communication. 1985, S. 3f., 15. 130 Goller, Gestaltetes Verstummen. 2003, S. 16. 131 Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 100; vgl. Lagaay, How to Do – and Not to Do – Things with Nothing. 2008, S. 26f. 132 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 6. 133 Mayer, [Art.] Schweigen. 2007, S. 686. 134 Vgl. Saville-Troike, The Place of Silence in an Integrated Theory of Communication. 1985, S. 3f. 135 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 53; Rebecca Ehret formuliert pointiert: »silence […] must be understood as the only possible way to shape and structure verbal expression. Without interrupting silence, utterances would not make any sense.« Ehret, Rebecca: Communicative Silence: An Ethnolinguistic Approach to Non-Verbal Communication. In: Grabher/Jessner, Semantics of Silence. 1996, S. 99–111, hier: S. 107. 136 Harris, Zellig: Structural Linguistics. A Phoenix Book 52. 7. Aufl. Chicago 1966: Chicago University Press, S. 14. 137 Vgl. Goller, Gestaltetes Verstummen. 2003, S. 16. 138 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 5.

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2.1.2 Schweigen als nonverbales sprachliches Zeichen Um seinem kommunikativen Charakter näherzukommen, ist es gewinnbringend, das Schweigen semiotisch zu verorten, es mithin als sprachliches Zeichen zu fassen und seine charakteristischen Eigenschaften zu bestimmen. Innerhalb der Klassifikation sprachlicher Zeichen bildet das Schweigen neben den verbalen Zeichen (Wörter, Sätze, Texte) und den diese begleitenden paraverbalen Zeichen (Intonation, Lautstärke, Sprechtempo, Rhythmus, Tonfall etc.) ein nonverbales Zeichen – ein Zeichentyp, zu dem auch die Mimik und Gestik, der Blickkontakt, die Nähe bzw. Distanz zum Gesprächspartner sowie dessen Erscheinungsbild und Körperhaltung gezählt werden.139 Obwohl Schweigen wortlos erfolgt, lässt es sich aufgrund seiner Stellvertreter-Funktion, dadurch, dass es für etwas anderes steht, zur Klasse sprachlicher Zeichen zählen.140 Davon ausgehend nimmt die vorliegende Arbeit Gesprächskontexte in den Blick, in denen »das Schweigen primär oder allein die Aussage übermittelt«141, bestimmte Informationsgehalte durch »quasi lexikalische Verwendung eines nonverbalen Zeichens«142 vermittelt bzw. substituiert werden.143 Nach der Zeichentypologie von Charles Peirce lässt sich der abstrakte Zeichencharakter des Schweigens als indexikalisch bzw. symptomatisch beschreiben, da zwischen dem Schweigen und dem (Nicht-)Bezeichneten weder ein Ähnlichkeits- bzw. Abbildverhältnis (Ikon) noch eine willkürliche Beziehung (Symbol) besteht.144 Stattdessen steht das Schweigen zum (Nicht-)Bezeichneten in einem Folgeverhältnis und fungiert als Anzeichen (Index) für etwas zu Bezeichnendes.145 Es »weist auf etwas hin, das nicht dargestellt oder abgebildet, dass also nicht repräsentiert werden [… kann] beziehungsweise: das nicht repräsentiert werden soll«146. Diese Beobachtung aufgreifend, wird das 139 Vgl. Schoenthal, Gisela: [Art.] Nonverbale Kommunikation. In: Glück, Helmut (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache. 4. Aufl. Stuttgart 2010: Metzler, S. 463f.; Lewandowski betont, dass das Schweigen »ein informations- und bedeutungshaltiges Element der (nonverbalen) Kommunikation [ist]«. Lewandowski, [Art.] Schweigen. 1990, S. 931. 140 Vgl. Busch, Albert/Stenschke, Oliver: Germanistische Linguistik. Bachelor-Wissen. 2. Aufl. Tübingen 2008: Narr Francke Attempo, S. 18. 141 Stedje, »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen.« 1982, S. 27. 142 Scherer, Klaus: Die Funktion des nonverbalen Verhaltens im Gespräch. In: Wegner, Dirk (Hrsg.): Gesprächsanalysen. Vorträge, gehalten anläßlich des 5. Kolloquiums des Instituts für Kommunikationsforschung und Phonetik, Bonn, 14.–16. Oktober 1976. IKP-Forschungsberichte 65, Reihe I Kommunikationsforschung. Hamburg 1977: Helmut Buske, S. 275–297, hier: S. 280; ich danke Fleur Ulsamer für diesen Hinweis. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 53f. 143 Vgl. Scherer, Die Funktion des nonverbalen Verhaltens im Gespräch. 1977, S. 279f.; vgl. Stedje, »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen.« 1982, S. 27. 144 Vgl. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2000: Metzler, S. 65f., 179, 185, 193. 145 Ebd. 146 Lorenz, Schweigen in der Dichtung. 1989, S. 48.

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Schweigen im thematischen Horizont der Arbeit als Anzeichen von Geheimhaltung schuldhaften Tuns (Kapitel 3), als Folge politischer Repression (Kapitel 4) und als Symptom verstörender Ereignisse bzw. Traumata (Kapitel 5) untersucht. Das nonverbale Zeichen Schweigen weist folgende Merkmale auf: Im Sinne von Ferdinand de Saussures Konzept der Arbitrarität sprachlicher Zeichen ist es nicht kodiert/materiell, ihm ist kein Zeichenausdruck (Signifiant, Ausdrucksseite) bzw. kein Lautbild (image acoutique, Schallphänomen) zu eigen.147 Und »weil ein materieller signifiant (Ausdruck, Zeichenträger) fehlt, fehlt auch ein codiertes signifié (Inhaltsseite, Bedeutung): Schweigen kann grundsätzlich alles bedeuten.«148 In diesem Sinne »fungiert denn das […] Schweigen insgesamt als Zeichen: in bestimmten Kontexten wird die bloße Abwesenheit eines signifiants als signifiant verstanden.«149 Schweigen ist, wie Schmitz pointiert formuliert, »der Joker der Sprache: […] seine Rolle [hängt] allein vom Kontext ab«.150 Seine konkrete Funktion lässt sich lediglich unter Berücksichtigung des unmittelbaren kommunikativen sowie interaktionalen Kontexts ermitteln,151 »[s]elbst bedeutet es nichts, bedeutsam wird es erst durch die Redesituation und das Vorher und Nachher im Redefluß«152. Hinsichtlich seiner Interpretation resümiert Bergmann: »Schweigen ist damit eines jener Gesprächsobjekte, bei denen die Beantwortung der Frage, was sie zu bedeuten haben, ganz entscheidend davon abhängt, wo sie platziert sind.«153 Mit seiner Ambiguität geht einher, dass Schweigen erst durch seinen Gebrauch als indexikalisches Zeichen Mitteilungsfunktion erhält,154 wodurch der Rolle des Hörers und seiner Verstehensleistung essenzielle Bedeutung zukommt (vgl. Kapitel 6).155 Pointiert stellt Alois Hahn heraus: »Von Schweigen kann man […] nur reden, wenn es in einem Erwartungshorizont auftaucht, in dem auch Reden möglich gewesen wäre. Es muss also als kommunikative Option verstehbar sein, als Mitteilung eben.«156 In diesem Sinne klassifiziert Hartmut von Sass das Schweigen auch als »forensischen Akt,

147 Vgl. Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Zweisprachige Ausgabe französisch-deutsch mit Einleitung, Anmerkung und Kommentar. Bearb. v. Peter Wunderli. Tübingen 2013: Narr, S. 171. 148 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 32. 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Vgl. Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 37; vgl. Schröter, Die Vielfalt des ›Nichts‹. 2005, S. 46f.; vgl. Schüler/Lehnen, Schweigen zur Sprache bringen. 2013, S. 117. 152 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 25. 153 Bergmann, Schweigephasen im Gespräch. 1982, S. 144. 154 Vgl. Lorenz, Schweigen in der Dichtung. 1989, S. 74. 155 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 54. 156 Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 29f.

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weil vor einem Forum geschwiegen wird, das eigentlich hören will – das Forum wird so zur potentiellen Audienz (lat. audire = [an]hören)«157.

2.1.3 Lokalisierung von Schweigeformen im Gespräch: Schweigezug, Abbruch Im Anschluss an die Begriffsbestimmung und Verortung des Schweigens in der Sprache und der Semiotik lässt es sich innerhalb des Gesprächs lokalisieren. Dass das »Schweigen im Gespräch [dort] entsteht […], wo Reden aufhört. Und es […] dort [endet], wo Reden wieder einsetzt«158, mag auf den ersten Blick offensichtlich erscheinen. Doch in welchen konkreten »interaktiven Entstehungskontext[en]«159 tritt es auf ? Und inwiefern wirkt sich seine Platzierung im Gespräch auf dessen weiteren Verlauf aus? Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen gibt die Konversationsanalyse, deren ausgewiesener Gegenstand die formale Gestaltung von Gesprächsstrukturen (die Verfahrensaspekte von Kommunikation) ist,160 und deren »zentrale Aufgabe [… darin besteht], die Bedingungen und Regeln systematisch zu erforschen, die die ›natürliche‹ Gesprächskommunikation, d. h. dialogisches sprachliches Handeln in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (Alltag, Institutionen, Medien usw.), bestimmen«161. Folgend werden die grundlegenden und für die Frage nach der Platzierung des Schweigens relevanten Prinzipien zur Gesprächsorganisation überblicksartig dargestellt. Es ist zunächst der Mechanismus des Sprecherwechsels (turn taking), mittels dessen die Interagierenden bei alternierenden Beteiligungsrollen die zeitliche Abfolge ihrer Äußerungen in Zügen regeln.162 Als Gesprächszug (turn) lässt sich nach Erving Goffman »alles das [fassen], was ein Individuum tut und sagt, während es an der Reihe ist«163. Im Unterschied zu einer sprachlichen Äußerung stellt der Gesprächszug so einerseits ein Mehr [dar], weil der Sprecher, der die Äußerung vollzieht, zusätzlich an der Reihe sein muß [… und andererseits ein Weniger], weil der Zuginhaber nicht unbedingt eine

157 158 159 160

Sass, Topographien des Schweigens. 2013, S. 25. Bergmann, Schweigephasen im Gespräch. 1982, S. 147. Meise, Une forte absence. 1995, S. 35. Vgl. Ehlich, Konrad: [Art.] Konversationsanalyse. In: Glück, Metzler Lexikon Sprache. 2010, S. 365f. 161 Brinker, Klaus/Sager, Sven: Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung. Grundlagen der Germanistik 30. 4. Aufl. Berlin 2006: Erich Schmidt, S. 19. 162 Vgl. Sacks, Harvey/Schegloff, Emanuel/Jefferson, Gail: A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation. Language 50, 1974, H. 4 (Part 1), S. 696–735. 163 Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt/M. 1974: Suhrkamp, S. 201.

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sprachliche Äußerung vollziehen muß. Zum Zuginhaber ist er ja qua Sprecherwechsel geworden und nicht, weil er schlicht etwas äußert […].164

Die Organisation des Sprecherwechsels wird interaktiv ausgehandelt und erfolgt nach bestimmten Regeln.165 Sie bestimmt im Wesentlichen darüber, an welcher Strukturstelle das Schweigen im Gespräch (zwischen oder innerhalb eines Gesprächszuges) lokalisiert sein, wessen Gesprächszug es zugeordnet werden und inwiefern es Einfluss auf den weiteren Kommunikationsverlauf nehmen kann.166 Bezüglich der Äußerungsabfolge spielen auch sogenannte Paarsequenzen (adjacency pairs) bzw. Sprechhandlungsfolgen eine Rolle. Es sind dies sprachliche Ereignisse von unterschiedlichen Beteiligten, die unmittelbar aufeinander folgen bzw. deren erster Teil vom Adressaten eine passende Anschlusshandlung fordert und deren zweiter Teil diese einlöst, wie es prototypisch bei den Paarsequenzen Frage–Antwort, Gruß–Gegengruß, Vorwurf–Entschuldigung, Rechtfertigung der Fall ist.167 Zudem nimmt das Prinzip der lokalen Kohärenz Einfluss auf die Organisation von Äußerungssequenzen, das besagt, »dass Äußerungen sich normalerweise auf das beziehen, was ihnen im Gespräch unmittelbar vorausgeht«168. Die skizzierten gesprächsorganisierenden Strukturen »geben den Interagierenden die Möglichkeit, Ort und Kontext eines eintretenden Schweigens in der Zug-um-Zug-Abfolge ihrer Äußerungen zu bestimmen und solchermaßen zu begründeten Interpretationen […] zu gelangen«169. Mittels sequenzieller Analyse von aufeinanderfolgenden Redebeiträgen belegt Stephen Levinson das breite Wirkungsspektrum, dass das Schweigen entsprechend seiner spezifischen Situierung im Gespräch entfalten kann, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass »all the different significances attributed to it must have their sources in the structural expectations engendered by the surrounding talk. So sequential expectations are […] capable of constructing many different kinds of significance

164 Meise, Une forte absence. 1996, S. 70; Auer hebt in Bezug auf die Komplementarität der Rollen Sprecher und Rezipient hervor, »daß der Sprecher nicht schon einfach dadurch zum Sprecher wird, daß er sprachliche Laute von sich gibt; die Etablierung der Sprecherrolle erfordert vielmehr, erfolgreich konversationellen Raum für die Produktion einer Äußerung zu beanspruchen und (mindestens) einen anderen Teilnehmer als Rezipienten zu gewinnen«. Auer, Peter: Kontextualisierung. Studium Linguistik 19, 1986, S. 22–47, hier: S. 31. 165 Vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson, A simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation. 1974, S. 696–735. 166 Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 46. 167 Vgl. ebd.; vgl. Ehlich, Konrad: [Art.] Adjacency pair. In: Glück, Metzler Lexikon Sprache. 2010, S. 10; vgl. zu den adjacency pairs, die auch als Nachbarschaftspaare gelten, Levinson, Stephen: Pragmatik. Ins Deutsche übersetzt von Ursula Fries. Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 39. Tübingen 1990: Max Niemeyer, S. 302–307. 168 Gülich, Elisabeth/Mondada, Lorenza: Konversationsanalyse. Eine Einführung am Beispiel des Französischen. Romanistische Arbeitshefte 52. Tübingen 2008: Max Niemeyer, S. 49. 169 Bergmann, Schweigephasen im Gespräch. 1982, S. 148.

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out of the sheer absence of talk.«170 Die gesprächsanalytische Perspektive auf den Gegenstand verdeutlicht, dass sich das Schweigen nicht auf die bloße Absenz von Sprache reduzieren lässt und dass insbesondere der Sprecherwechsel »can […] quite literally make something out of nothing«171. Ausgehend von Goffmans Definition des Gesprächszugs betont Meise, dass zu diesem nicht bloß das »verbale[ …], Tun der Individuen, während sie an der Reihe sind (Goffman), [… sondern] auch die signifikante Unterlassung« zählt.172 Ausgehend von der formalen Rolle des Schweigens in der Interaktion, konstatiert sie, dass das Schweigen lediglich eine mögliche Form des Nutzens eines vorhandenen Gesprächszuges darstellt.173 Mithin folgt sie der Argumentation Jörg Bergmanns, der sinnbildlich formuliert, »daß die einzelne sprachliche Äußerung nur der ›Gast‹ (Sacks) in einem Redezug ist«174, unabhängig davon, ob sie verbal oder nonverbal erfolgt. Diese Überlegungen fortsetzend, klassifiziert Meise – in einer Weiterentwicklung der dreiteiligen Systematik zur Schweigeplatzierung von Bergmann –175 vier zentrale Positionen im Gespräch, an denen Schweigen auftreten kann und beschreibt deren Einfluss auf den weiteren Kommunikationsverlauf und die sich jeweils ergebene Schweigeform als Abbruch, Hesitationspause, Schweigezug und Gesprächsflaute.176 Da in der vorliegenden Arbeit das Schweigen als kommunikative Handlung im Zentrum stehen soll, konzentrieren sich die Ausführungen auf die tendenziell bedeutsamen bzw. beredten Ausprägungen Abbruch und Schweigezug. Schweigen in Form eines Abbruchs liegt vor, sofern ein Gesprächspartner das Rederecht inne hat, seinen Beitrag beginnt, jedoch abrupt abbricht und nicht beabsichtigt, ihn fortzusetzen bzw. zu beenden.177 Bezüglich der lokalen Kohärenz von Abbrüchen erläutert Meise, dass diese tendenziell in konfliktreichen Beziehungsgesprächen auftreten und sich »auf strategische Ursachen im weitesten Sinne [zurückführen lassen]: Ein Gesprächsteilnehmer läßt bewußt etwas offen, äußert nur einen Teil dessen, was er 170 Levinson, Stephen: Pragmatics. Cambridge Textbooks in Linguistics. Cambridge 1983: Cambridge Univ. Press, S. 329; vgl. zur Untersuchung ebd., S. 326–332; vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 24. 171 Levinson, Pragmatics. 1983, S. 321. 172 Meise, Une forte absence. 1996, S. 70. 173 Vgl. ebd. 174 Bergmann, Jörg: Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Schröder, Peter/Steger, Hugo (Hrsg.): Dialogforschung. Jahrbuch 1980 des Instituts für deutsche Sprache (IDS). Sprache der Gegenwart 54. Düsseldorf 1981: Schwann, S. 9–51, hier S. 33. 175 Bergmann differenziert drei Typen von Schweigephasen im Gespräch, es sind dies redezuginterne Pausen, freie Gesprächspausen und Redezugvakanzen. Bergmann, Schweigephasen im Gespräch. 1982, S. 154. 176 Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 33–67; vgl. zu kommunikativ-strukturierenden Schweigefunktionen (Schweigen beim/innerhalb/anstelle eines Turnwechsels) Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 80–101. 177 Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 52–56.

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vermeintlich sagen will und enttäuscht damit die zuvor aufgebauten Erwartungen«178. Dieser Fall tritt im Untersuchungskorpus zum Beispiel bei Gila Lustigers Erzähltext auf, in dem die Erzählerin auf ihre an den Vater gerichtete Frage nach dessen Schweigen über den Holocaust lediglich einen Satz als Antwort erhält, woraufhin der Vater einen Abbruch mittels Themenwechsel vollzieht. Abbrüche können als demonstrative Verweigerung der Kooperation fungieren, wobei »zum einen […] eine Aktivität als anstehend identifizierbar sein, und zum zweiten […] das Nichtvollziehen bzw. das Sich-Sperren manifest werden [muss]. Demonstrative Verweigerungen zeigen insofern eine Verwandtschaft mit Andeutungen«179. Von Schweigen in Form eines Schweigezugs spricht Meise, sofern ein vorangehender Beitrag bzw. Gesprächszug abgeschlossen und die Zuweisung eines Folgezuges an einen konkreten Gesprächspartner erfolgt ist, dieser formal betrachtet das Rederecht erhalten hat, ohne dass er die Redeübernahme bzw. das Leisten eines Beitrages überhaupt beabsichtigt.180 Bezüglich der lokalen Kohärenz ist in diesem Fall denkbar, dass die Antwort auf eine zuvor gestellte Frage aus-, dass die erwartete zweite Paarsequenz vakant bleibt bzw. an ihrer Stelle ein Schweigezug erfolgt. Anders als beim Abbruch schuldet der Gesprächspartner seinem Gegenüber beim Schweigezug nicht nur einen Beitragsteil, sondern den gesamten Beitrag.181 Ein solcher Fall liegt mit Blick auf das Textkorpus etwa in Eleonora Hummels Roman »Die Fische von Berlin« vor, wo die Großmutter der Erzählerin auf die von der Enkelin gestellten Frage nach der Vergangenheit des Großvaters lediglich schweigt. Festzuhalten ist, dass »[o]b sie […] auf Unsicherheit, Unverständnis, Unkooperativität oder einfach nur auf ein denkbares Mißverständnis zurückgehen – strukturell betrachtet konstituieren [… Schweigezüge] unausgefüllte ›slots‹ innerhalb der turn-by-turn-Abfolge.«182 Ebenso wie Abbrüche indizieren sie zwischen den Dialogpartnern bestehende Konflikte, was Levinson (sofern klar ist, dass die Unterbrechung nicht auf ausbleibenden ›channel contact‹ zurückzuführen ist) in der prägnanten Formel »›No response means there’s a problem‹«183 fasst. Schweigezüge werden einer expliziten Stellungnahme vielfach vorgezogen, um ein offenes Austragen von Konflikten abzuwehren und stellen im Falle eines »›dispräferierten‹ Sachverhalts […] die ›präferierte‹ Alternative dar[]«184. So gilt als verbindendes strukturelles Element 178 Ebd., S. 55. 179 Vgl. Kallmeyer, Werner: Kritische Momente. Zur Konversationsanalyse von Interaktionsstörungen. In: Frier, Wolfgang/Labroisse, Gerd (Hrsg.): Grundlagen der Textwissenschaft. Linguistische und literarturwissenschaftliche Aspekte. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 8. Amsterdam 1979: Rodopi, S. 59–109, hier: S. 73. 180 Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 57–67. 181 Vgl. ebd., S. 56f. 182 Ebd., S. 62. 183 Levinson, Pragmatics. 1983, S. 320. 184 Meise, Une forte absence. 1996, S. 64.

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von Abbruch und Schweigezug die enttäuschte Erwartung, dass das (Weiter-) Sprechen gerade nicht geleistet wird. Abbrüche und Schweigezüge können, müssen jedoch nicht zwangsläufig zum Zusammenbruch der Kommunikation führen. Figurationen der Absenz wie diese werden in der pragmatischen Linguistik auch als »produktive[…] Bestandteil[e] interaktionaler Prozesse«185 diskutiert. Es liegt dies daran, dass Abbrüche und Schweigezüge vielfach eine Thematisierung durch den Gesprächspartner auslösen und dabei selbst zum Gesprächsgegenstand avancieren – mithin setzt Kommunikation über Kommunikation ein.186 Das Ausbleiben einer Antwort seitens des Gesprächspartners kann einen Sprecherwechsel nach sich ziehen, sodass der Gesprächspartner, der zuvor das Rederecht innegehalten und etwa eine Frage gestellt hat, erneut das Wort ergreift. Auf diese Weise kann seitens des Rezipienten eine korrigierende Bearbeitung von Abbruch und Schweigezug mittels unterschiedlicher Interventionstypen eingeleitet werden, wie Bergmann ausführt, etwa durch Wiederholung der Äußerung, durch Selbstkorrektur (wie Klärungen und Reformulierungen), durch korrekturinitiierende Interventionen (wie Insistieren auf eine Antwort, Nachfragen) sowie durch Interpretationsangebote des Schweigens (Vermutungen zur Entstehung oder den Gründen Schweigens formulieren).187 Die Rettung des Gesprächs vor dem Zusammenbruch auf metasprachlicher Ebene gelingt dabei nicht notwendigerweise, da sie mit neuen Anforderungen verbunden ist, etwa »einen vertieften Einblick in die eigene (mentale und gefühlsmäßige) Innenwelt und den Mut zur gegenseitigen Selbstoffenbarung«188 erfordert.189 Zu berücksichtigen ist, dass »Metakommunikationen über Aspekte von [auch unterlassenen] Äußerungen des Dialogpartners eher eine Konfliktverschärfung mit sich bringen als die Verbesserung der Beziehung«190. Gleichwohl muss Schweigen in Form des Abbruchs oder Schweigezugs nicht ausschließlich das Ende der Rede signalisieren – unter Einbezug des interaktiven Charakters zwischenmenschlicher Verständigung kann es sich zu einem »Anknüpfungsmoment für weitere Kommunikation«191 entfalten, wie es etwa bei Eleonora Hummels Geschichte der Fall ist, wo das 185 186 187 188 189

Vgl. Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 97. Vgl. ebd., S. 99; vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 59–61. Vgl. Bergmann, Schweigephasen im Gespräch. 1982, S. 166–180. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 99f. Andreea Ghita kategorisiert das Reparieren von Schweigen durch die Gesprächspartner als metalinguistic intolerance to silence. Vgl. Ghita, Andreea: Pragmatic Aspects of Silence. In: Piétri, Etienne (Hrsg.): Dialoganalyse V. Referate der 5. Arbeitstagung. Paris 1994. Beiträge zur Dialogforschung 15. Tübingen 2017: Max Niemeyer, S. 377–388, hier: S. 385. 190 Schwitalla, Johannes: Sprachliche Mittel der Konfliktreduzierung in Streitgesprächen. In: Schank, Gerd/Schwitalla, Johannes (Hrsg.): Konflikte in Gesprächen. Tübinger Beiträge zur Linguistik 296. Tübingen 1987: Narr, S. 99–175, hier: S. 147. 191 Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 97.

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Schweigen der Großmutter den Dialog der Enkelin mit ihrem Großvater über dessen Vergangenheit initiiert.

2.1.4 Mitteilungscharakter und hörerseitige Bedeutungszuschreibung An die Verortung von Schweigen im Gespräch und die Identifikation der Schweigeformen Abbruch und Schweigezug schließt die Bestimmung seiner Funktionen an. Ausgehend von den Axiomen der Kommunikation nach Watzlawick/Beavin/Jackson wird zunächst der kommunikative Charakter des Schweigens herausgearbeitet. Unter Hinzunahme der von Paul Grice entwickelten Maxime der Kommunikation wird anschließend illustriert, dass das Schweigen im Gespräch typischerweise hörerseitig Bedeutung zugeschrieben wird. Anhand des Sprachfunktionsmodells von Austin und Searle wird zudem überprüft, welche universalen Sprachfunktionen auch für das Schweigen Gültigkeit besitzen,192 woraus sich seine Klassifikation als kommunikative Handlung ableitet. Inwiefern Schweigen »ein informations- oder bedeutungshaltiges Element der (nonverbalen) Kommunikation ist«193, wird unter Bezugnahme auf pragmatische Ansätze der Linguistik deutlich, die Schweigen neben anderen Figurationen der Absenz wie die Pause und Leerstelle als eine »Möglichkeit [diskutieren], daß durch nichts etwas gesagt wird«194 – die mithin seinen Handlungscharakter herausstellen. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick argumentiert, dass zwischenmenschliche Kommunikation auf bestimmten Grundregeln bzw. Axiomen basiert,195 wobei mit Blick auf das Schweigen vor allem das erste, zweite und fünfte Axiom relevant sind. Das erste Axiom, »Man kann nicht nicht kommunizieren«196, meint, dass jedes Verhalten197 in zwischenpersönlichen Situationen Mitteilungscharakter198 hat. Watzlawick 192 Die Übertragbarkeit von Überlegungen zur Funktion der Sprache auf das Schweigen ist (wie in Kapitel 2.1.1 angesprochen) grundsätzlich gegeben, da Sprechen und Schweigen »feste Bestandteile der zwischenmenschlichen Kommunikation sind. Sie ergänzen und ähneln einander in ihrer Funktion und Bedeutung«. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 65. 193 Lewandowski, [Art.] Schweigen. 1990, S. 931. 194 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 24. 195 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation. 2017, S. 57–82. 196 Ebd., S. 60. 197 »Es muss ferner daran erinnert werden, dass das ›Material‹ jeglicher Kommunikation keineswegs nur Worte sind, sondern auch alle paralinguistischen Phänomene (wie z. B. Tonfall, Schnelligkeit oder Langsamkeit der Sprache, Pausen, Lachen und Seufzen), Körperhaltung, Ausdrucksbewegungen (Körpersprache) usw. innerhalb eines bestimmten Kontextes umfasst – kurz, Verhalten jeder Art.« Ebd., S. 58. 198 Als Mitteilung (message) bezeichnet Watzlawick eine einzelne Kommunikation, unter Interaktion versteht er hingegen den wechselseitigen Ablauf von Mitteilungen zwischen zwei oder mehreren Personen. Vgl. ebd.

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erläutert: »Handeln oder Nichthandeln, Worte oder Schweigen haben alle Mitteilungscharakter: Sie beeinflussen andere, und diese andere können ihrerseits nicht nicht auf diese Kommunikation reagieren und kommunizieren damit selbst.«199 In Bezug auf das Schweigen macht Watzlawick explizit: Es muss betont werden, dass Nichtbeachtung oder Schweigen seitens des anderen dem eben Gesagten nicht widerspricht. […] selbst Unsinn, Schweigen, Absonderung, Regungslosigkeit […] oder irgendeine andere Form der Verneinung oder Vermeidung von Kommunikation [ist] selbst eine Kommunikation […].200

Weil es eine Form des Verhaltens ist – nicht ohne Grund wird es auch mit dem Terminus »Schweigeverhalten«201 umschrieben – besitzt Schweigen Mitteilungscharakter. Bezüglich der Frage, welche Mitteilungen schweigend realisiert werden können, gibt das zweite Axiom Aufschluss, das lautet: »Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, derart, dass letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist.«202 Unter dem Inhaltsaspekt fasst Watzlawick primär Informationen über unpersönliche Objekte bzw. Fakten über den außersprachlichen Gegenstand,203 unter dem Beziehungsaspekt dagegen solche über diese Informationen, mithin Hinweise, inwiefern erstere hörerseitig verstanden werden sollen.204 Ulsamer stellt mit Blick auf das zweite Axiom heraus, dass Schweigen in »diesem Sinne […] niemals Fakten über Außersprachliches, sondern immer nur Einstellungen dazu [vermittelt], d. h. Informationen, die eindeutig dem Beziehungsaspekt [zwischen Sender und Empfänger] zuzuordnen sind.«205 Mit anderen Worten: Schweigen ist vor allem Metakommunikation. Dies wird mit Blick auf die Analysen etwa im Kontext des repressiven Zum-Schweigen-Bringens von Minderheiten durch ein totalitäres Regime deutlich (Kapitel 4). Das Bedeutungsspektrum eines politisch motivierten Redeverbots kann Ausprägungen wie die Ablehnung des politischen Kurses, die Angst vor Sanktionen, die Verachtung treuer Regierungsanhänger oder die Solidarität unter Gleichgesinnten umfassen. Politische Schweigegebote illustrieren besonders eindrücklich jene Interaktionsform, in denen die Gesprächspartner voneinander abweichende Ziele verfolgen und/oder disparate Rollen einnehmen. Auf diesen Aspekt zielt auch das fünfte Axiom: »Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder

199 200 201 202 203 204 205

Ebd., S. 59. Ebd., S. 59f. Lewandowski, [Art.] Schweigen. 1990, S. 931. Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation. 2017, S. 64. Vgl. ebd., S. 61f. Vgl. ebd., S. 61. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 70.

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Unterschiedlichkeit beruht.«206 Da die Definition der Beziehung und damit einhergehend die Metakommunikation, speziell das Schweigen, umso stärker in den Vordergrund rückt, je konfliktreicher Beziehungen sind, die seitens der Interaktanten »durch wechselseitiges Ringen um ihre Definition gekennzeichnet sind«207, fokussiert die Arbeit Schweigeformen, die innerhalb von komplementären Kommunikationsabläufen lokalisiert sind, unter anderem Schweigen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Hierarchieebenen (Kapitel 4), Erfahrungsgemeinschaften (Kapitel 3, 5) und Generationen (Kapitel 6). So lässt sich Schweigen im von Sinne Watzlawick als paradoxe Form von Kommunikation definieren, die obwohl sie nonverbal erfolgt, Mitteilungscharakter aufweist. Schweigen gilt als »vollwertiges Mitglied des Kommunikationssystems«208. Dass Schweigen im Gespräch etwa in Form des Abbruchs und Schweigezugs hörerseitig Bedeutung zugeschrieben wird, lässt sich unter Einbezug der vom Sprachphilosophen Paul Grice entwickelten Maxime der Kommunikation bzw. dessen handlungstheoretischem Modell rationaler Kommunikation aufzeigen. Die Maxime bilden wesentliche Annahmen bzw. Erwartungen ab, die Kommunikationspartner üblicherweise an Gespräche herantragen, damit diese gelingen, das heißt um sie »maximal effizient, rational, kooperativ zu führen«209. Aufbauend auf dem allgemeinen Kooperationsprinzip: »Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged«210, formuliert Grice mit Blick auf die gemeinsame Erreichung des Gesprächsziels erstens die Maxime der Quantität (quantity): »1. Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of exchange). 2. Do not make your contribution more informative than is required«211, zweitens die Maxime der Qualität (quality): »›Try to make your contribution one that is true‹ […] 1. Do not say what you believe to be false. 2. Do not say that for which you lack adequate evidence«212, drittens die Maxime der Relevanz (relation/relevance): »›Be relevant.‹«213 und viertens die Maxime der Modalität/Art und Weise (manner/modality): »›Be perspicuous‹ […] 1. Avoid obscurity of expression. 2. Avoid ambiguity. 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). 4. Be orderly«214. In Anwendung dieser konzeptionellen Überlegungen auf das Schweigen wirkt es auf den ersten 206 207 208 209 210 211 212 213 214

Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation. 2017, S. 81. Ebd., S. 63. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 51. Levinson, Pragmatik. 1990, S. 105; vgl. Grice, Paul: Studies in the Way of Words. Cambridge/ Massachusetts 1989: Harvard University Press, S. 26. Ebd. Ebd. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd.

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Blick, als würde Schweigen kein kooperatives kommunikatives Verhalten darstellen, läuft es dem Gelingen der Kommunikation doch offenkundig entgegen: So bildet etwa das Verschweigen einen scheinbaren Verstoß gegen die Maxime der Relevanz, sofern etwas, das aufgrund seiner Wichtigkeit in Bezug auf ein Gesprächsthema hätte gesagt werden müssen, dem Gesprächspartner bewusst vorenthalten bzw. verheimlicht wird (vgl. Kapitel 3). Denkbar ist auch, dass Schweigen einen scheinbaren Verstoß gegen die Maxime der Quantität und der Modalität bildet, sofern etwa die Antwort auf eine gestellte Frage Auslassungen enthält, abbricht oder gänzlich vakant bleibt (vgl. Kapitel 6). Die Verstöße gegen die Gesprächsregeln erfolgen dabei scheinbar, weil die Gesprächspartner einander unterstellen, dass ihre Beiträge stets als kooperativ gestaltet interpretiert werden können, dass sie sich – selbst bei scheinbarer Nichtbeachtung – auf mindestens einer Ebene an die Maxime der Kooperation halten.215 Die reziprok angestrebte kooperative Gesprächsführung veranlasst den Hörer eines Schweigens, nach möglichen Gründen zu suchen, um es doch noch sinnvoll in den Gesprächskontext einzubetten – etwa mittels Nachfrage, warum der Gesprächsbeitrag weniger informativ ist als es der aktuelle Gesprächszweck erfordert. Als übergeordneter kommunikativer Zweck ließe sich in den genannten Beispielen etwa die Gesichtswahrung, die Aufrechterhaltung des Selbstbildes, der Schutz des Gegenüber oder die Abwehr von Sanktionen durch (Ver-)Schweigen bestimmen. Durch die scheinbare Verletzung oder offenkundige Beachtung der Gesprächsregeln entsteht nach Grice eine konversationelle Implikatur216, der Umstand, dass Gesagtes und Gemeintes voneinander abweicht bzw. dass »Sprecher mit sprachlichen Äußerungen mehr oder anderes zu verstehen geben können als sie wörtlich sagen«217. Dass das Gemeinte über das wörtlich Gesagte hinausgeht, trifft auf das Schweigen in den genannten Gesprächskonstellationen zu, sofern hörerseitig erkennbar ist, dass das (Ver-)Schweigen kein bloßes NichtSprechen ist, sondern selbst als Mitteilung bzw. »kommunikative Strategie eingesetzt«218 wird. Ergänzend zur Herausstellung des Mitteilungscharakters, dem das Schweigen nach Watzlawick/Beavin/Jackson als eine Form des Verhaltens zu eigen ist, illustrieren auch die konversationstheoretischen Überlegungen nach Grice, dass Schweigen im Gespräch hörerseitig als bedeutsam aufgefasst wird, wenn auch nicht immer zweifelsfrei zu bestimmen ist, welche konkrete Bedeu215 Vgl. Levinson, Pragmatik. 1990, S. 105–107; vgl. Grice, Studies in the Way of Words. 1989, S. 24–57, hier: S. 30f. 216 Die Bedeutung einer Äußerung setzt sich nach Paul Grice aus dem Gesagten und dem Implikatierten zusammen, wobei das Gesagte den Wahrheitsbedingungen unterliegt, das Implikatierte hingegen dem Teil, der nicht wahrheitsfunktional gefasst werden kann. Vgl. Grice, Studies in the Way of Words. 1989, S. 24–57. 217 Finkbeiner, Rita: Einführung in die Pragmatik. Darmstadt 2015: WBG, S. 21. 218 Lewandowski, [Art.] Schweigen. 1990, S. 931.

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tung wortlos vermittelt wird. »Zwar gilt immer: Wer schweigt, redet nicht. Aber keinesfalls gilt: Wer nicht redet, schweigt.«219 Entsprechend nimmt die Arbeit auch keine Formen des bloßen Nicht-Redens (nicht-referentielles Schweigen), sondern solche des Nicht-Redens über bestimmte Sachverhalte (referentielles Schweigen) in den Blick.220 Anhand universaler Sprachfunktionsmodelle lässt sich weiterhin prüfen, welche universalen Funktionen, die für das Sprechen definiert worden sind, auch für das Schweigen Gültigkeit besitzen und inwiefern sich diese mit Blick auf den thematischen Kontext der Arbeit gewinnbringend differenzieren lassen. Die Übertragbarkeit von Überlegungen zu Funktionen der Sprache auf das Schweigen ist insofern gegeben, als beide »feste Bestandteile der zwischenmenschlichen Kommunikation sind. Sie ergänzen und ähneln einander in ihrer Funktion und Bedeutung«221. Der Sprachtheoretiker Karl Bühler beschreibt Sprache mit den Worten des Philosophen Platon als ein Werkzeug, das zentrale Aufgaben in der Kommunikation übernimm, mithin als »ein organum, um einer dem andern etwas mitzuteilen über die Dinge«222. In seinem Organon-Modell visualisiert er die zwischen Sender und Empfänger (den Benutzern sprachlicher Zeichen) erfolgende mündliche Kommunikation223 und stellt drei elementare Funktionen sprachlicher Zeichen heraus: Erstens die Darstellungsfunktion (Symbol), die die Informationsvermittlung zwischen Sprecher und Hörer fasst (bzgl. Gegenständen, Personen, Sachverhalten etc.), zweitens die Ausdrucksfunktion (Symptom), die (Selbst-)Aussagen über den Sprecher meint (u. a. Gefühle, Hoffnungen, Gedanken etc.) und drittens die Appellfunktion (Signal), die auf die Aufforderung bzw. Beeinflussung des Denkens und Handelns des Hörers abzielt (u. a. Bitte, Befehl, Wunsch).224 Bühler nimmt an, dass jedes Zeichen diese drei Funktionen 219 Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 30. 220 Katja Schönwandt erläutert: »Man kann über etwas Bestimmtes schweigen oder auch einfach nur schweigen. Dementsprechend lässt sich das Schweigen in referentielles und nicht-referentielles Schweigen einteilen. Das referentielle Schweigen ist ein Nicht-Reden über etwas. Es bezieht sich auf einen spezifischen Themenkreis oder ein Objekt, über das sonst gesprochen würde. Dies kann zu Beispiel heißen, dass etwas Bestimmtes verschwiegen wird. Im Gegensatz dazu bedeutet ein nicht-referentielles Schweigen, dass jemand schlicht nicht spricht. […] das referentielle und das nicht-referentielle Schweigen [sind] nicht logisch voneinander abhängig: Man kann auch einfach nichts zu sagen haben, ohne etwas Bestimmtes nicht zu sagen.« Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 38. 221 Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 65. 222 Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 3. Aufl. Stuttgart 1999: Lucius&Lucius, S. 24. 223 Fleur Ulsamer versteht unter dem Begriff Kommunikation »[ j]ede Interaktion, in der zwischen zwei oder mehreren Parteien vermittelt wird«. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 51; vgl. Lewandowski, Theodor: [Art.] Kommunikation. In: Ders.: Linguistisches Wörterbuch 2. 5. Aufl. Heidelberg 1990, S. 551–554. 224 Vgl. Bühler, Sprachtheorie. 1999, S. 28.

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mit unterschiedlicher Gewichtung annimmt.225 Da das Modell nicht nur die Verwendung von sprachlichen Zeichen einschließt, sondern auch para- und nonverbale Zeichen fasst, lässt es sich für die Beschreibung der mit dem Schweigen verknüpften kommunikativen Absichten, die Bestimmung allgemeiner ›Schweigefunktionen‹ fruchtbar machen. Als nonverbales sprachliches Zeichen weist das Schweigen kein physikalisches Schallphänomen auf, wodurch es im engeren Sinne keine Informationen vermittelt und keine Darstellungsfunktion innehat.226 Gleichwohl besitzt Schweigen eine Ausdrucksfunktion. So rückt es in der Arbeit etwa als Symptom im Schatten eines Traumas in den Blick,227 sofern es den literarischen Figuren bzw. Erzählern nicht möglich ist, verstörende Erfahrungen und die daraus resultierenden psychischen Belastungen zur Sprache zu bringen (vgl. Kapitel 5). Eine andere Ausdrucksfunktion lässt sich in der Angst vor Gesichtsverlust oder Sanktionierung bestimmen, sofern Geheimnisse über schuldhaftes Tun offenkundig verschwiegen werden (vgl. Kapitel 3). Zudem kann mittels Schweigen eine Aufforderung an einen Hörer im Sinne eines Signals gesendet werden,228 etwa die Bitte, ein prekäres Thema fallen zu lassen (vgl. Kapitel 4) oder den Wunsch, das Beharren auf eine Antwort infolge einer gestellten Frage aufzugeben (vgl. Kapitel 6). Die Anwendung von Bühlers Sprachfunktionsmodel auf das Schweigen verdeutlicht, dass diesem abgesehen von der Darstellungsfunktion die gleichen universalen Funktionen wie dem Sprechen zu eigen sind.

2.1.5 Schweigen als kommunikative Handlung: Schweigehandlung Welche universalen Funktionen bzw. kommunikativen Absichten Schweigen als paradoxe und bedeutungsvolle Form von Kommunikation innehat, lässt sich anhand des Leitgedankens der linguistischen Pragmatik nachvollziehen, nach dem »Sprechen (d. h. Äußern von Sätzen) […] eine Form menschlichen Handelns [ist]«229, die mit bestimmten Bedeutungen bzw. kommunikativen Zwecken verbunden ist. Austin und Searle legen im Rahmen ihrer Sprechakttheorie dar, dass sprachliche Äußerungen nicht nur Sachverhalte beschreiben und Behaup225 226 227 228

Vgl. zum Dominanzphänomen ebd., S. 32. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 68. Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57f. Es mag an dieser Stelle irritieren, dass Bühlers Verständnis vom Signal von der Auffassung Saussures’ bzw. Peirce’ abweicht, die das Schweigen in der Klassifikation sprachlicher Zeichen als eines mit Index-Charakter (nicht mit Signal-Charakter) beschreiben. Es geht dies auf die unterschiedliche Begriffsprägung zurück. 229 Wunderlich, Dieter: Grundlagen der Linguistik. Reinbek/Hamburg 1974: Rowohlt Taschenbuch, S. 309.

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tungen aufstellen, sondern selbst Handlungen, sogenannte Sprechakte, vollziehen, die die Realität verändern.230 Sie fassen Sprechakte als »Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation«231, die sich aus drei bzw. vier Teilakten zusammensetzen, die durch eine Indem-Relation verbunden sind.232 Dabei handelt es sich erstens um den Äußerungsakt (das physische Hervorbringen der Lautsprache), zweitens um den propositionalen Akt (zusammengesetzt aus dem Referenzakt, der Bezugnahme auf Objekte der außersprachlichen Wirklichkeit und dem Prädikationsakt, der Zuweisung von Eigenschaften zu den Objekten), drittens um den illokutionären Akt (kommunikative Absicht, Handlungszweck der Äußerung) und viertens um den perlokutionären Akt (Wirkung der Sprechhandlung).233 Im Zentrum der Sprechakttheorie steht der illokutionäre Akt, die sprachlich vollzogene Handlung, wobei Searle fünf Illokutionstypen unterschiedet: Representiva (u. a. Behauptungen, Feststellungen), Direktiva (u. a. Befehle, Anordnungen, Fragen, Bitten), Kommissiva (u. a. Versprechen, Drohungen), Expressiva (u. a. Emotionsausdrücke) und Deklarativa (Worterteilung).234 In Anwendung dieser Überlegungen auf das Schweigen fällt zunächst auf, dass es keinen Äußerungsakt aufweist bzw. ihm kein Schallphänomen zu eigen ist und es daher nicht verbal auf Objekte der außersprachlichen Wirklichkeit Bezug nimmt.235 Gleichwohl sind auch ›Schweigeakte‹ auf die Erreichung kommunikativer Ziele gerichtet, sie bilden illokutionäre Akte, wie mit Blick auf das Korpus der Arbeit deutlich wird: Anhaltendes Schweigen kann, sofern es anstelle einer erwarteten verbalen Antwort auf eine (wiederholt) gestellte Frage folgt (vgl. Kapitel 6.1), beispielsweise die Aufforderung oder Bitte (Direktiva) kommunizieren, das angesprochene Thema fallen zu lassen und drängende Nachfragen einzustellen. Auch eine emotionale Selbstoffenbarung (Expressiva) lässt sich schweigend vermitteln, etwa durch die Offenlegung der Unfähigkeit, einen emotional belastenden Sachverhalt in Worte fassen zu können. Zudem wirkt sich Schweigen auf den Kommunikations- bzw. Handlungsprozess aus, es liegt ein perlokutionärer Akt vor, sofern es einen Gesprächspartner, der auf seine Frage keine Antwort erhält, verunsichert oder verärgert und zum Zusammenbruch der Kommunikation führt. Die Beispiele lassen erkennen, dass der Gesprächsverlauf 230 Vgl. Austin, John: Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words). Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny. 2. Aufl. Stuttgart 2002: Reclam, S. 29f., 35. 231 Vgl. Searle, John: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt/M. 2003: Suhrkamp, S. 30. 232 Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte. 2002, S. 35, 117. 233 Vgl. ebd., S. 112, 116–120; vgl. Searle, Sprechakte. 2003, S. 40–42. 234 Vgl. Searle, John: Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge 1979: Cambridge University Press, S. 1–29. 235 Vgl. Finkbeiner, Einführung in die Pragmatik. 2015, S. 14.

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auch ohne den Einsatz von verbalen Zeichen maßgeblich beeinflusst wird und dass sich dem Schweigen »zweifellos illokutive und perlokutive Eigenschaften zuschreiben«236 lassen, selbst wenn es aufgrund des ausbleibenden Äußerungsaktes im Sinne der Sprechakttheorie keine Sprechhandlung darstellt.237 Mit Blick auf die vorrangig literaturwissenschaftliche Fragestellung der Arbeit ist dies zweitrangig. Stattdessen wird der Arbeit ausgehend von der Beobachtung, dass Schweigen offenkundig eine realitätsverändernde bzw. realitätskonstituierende Wirkung zu entfalten vermag,238 in einem weiter gefassten Sinne das Verständnis zu Grunde gelegt, dass Schweigen »unter der Bedingung des Sprechenkönnens«239 und »in einer Situation, in der eine Äußerung erwartet wird, […] eine kommunikative Handlung [darstellt]«240. Es gilt, dass auch die Unterlassung einer Handlung selbst wieder eine Handlung ist, [… was] man daraus [ersieht], daß die Unterlassung ähnlich wie die Handlung selbst verantwortet werden muß; auch sie kann mit Sanktionen geahndet werden. Schweigen in einer Situation, in der eine Äußerung erwartet wird, ist demnach eine kommunikative Handlung, wenn auch keine Sprechhandlung (da ja nichts geäußert wird).241

Diesen Gedanken fortsetzend, führt Zimmermann analog zur Sprechhandlung den Terminus der Schweigehandlung ein: Schweigen, situiert innerhalb einer Theorie des kommunikativen Handelns, gibt uns die Möglichkeit, von Schweigen als Handlung zu reden, von Schweigehandlungen. Es scheint angebracht zu unterscheiden zwischen Resultaten, die Ergebnisse von Handlungen sind, und Resultaten, die aus nicht-intentionalen Ergebnissen herrühren. Schweigen ist zwar Nicht-Reden, aber nicht Nicht-Handeln. Es kann vielleicht ein NichtHandeln-Wollen sein, ist aber als solches wiederum nur Handeln, da auch das Unterlassen einer bestimmten Handlung eine Handlung ist, da es auf es zurückführbare Resultate zeitigt. Es gibt also intentionales und nicht-intentionales Schweigen. Da beide Formen in Handlungskontexten auftreten, wird auch meistens das nicht-intentionale Schweigen als Handlung interpretiert.242

236 Meise, Une forte absence. 1996, S. 22. 237 Nicht zuletzt klassifiziert Deborah Tannen das Schweigen als indirekten Sprechakt: »Silence is the extreme manifestation of indirectness. If indirectness is a matter of saying one thing and meaning another, silence can be a matter of saying nothing and meaning something.« Tannen, Deborah: Silence: Anything But. In: Dies./Saville-Troike, Perspectives on Silence. 1985, S. 93–111, hier: S. 97. 238 Michal Ephratt untersucht die Rolle des Schweigens (eloquent silence) anhand von Roman Jakobsons Sprachfunktionsmodell. Vgl. Ephratt, Michal: The Functions of Silence. Journal of Pragmatics 40, 2008, S. 1909–1938. 239 Trettin, Die Logik und das Schweigen. 1992: VCH, S. 2. 240 Wunderlich, Grundlagen der Linguistik. 1974, S. 310. 241 Ebd. 242 Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 37.

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Ausgehend vom Grad der Intentionalität klassifiziert Heinemann lediglich solche Schweigeformen als Schweigehandlungen, die ein willentliches Nicht-Sprechen darstellen – die sogenannten intendierten Unterlassungs-Handlungen.243 Davon grenzt er Fälle ab, in denen Schweigen bzw. Nicht-Sprechen verlangt, aber ungewollt akzeptiert wird (Schweigen als Nicht-Sprechen-Dürfen, SchweigeAufforderungen) und Fälle, in denen Schweigen das Resultat eines Nicht-Sprechen-Könnens ist (etwa aus psychischen Gründen). Nicht-intentionale Ausprägungen des Schweigens wie diese subsummiert er unter dem Begriff des nichtintentionalen Nicht-Sprechens.244 Für die vorliegende Arbeit ist diese Unterscheidung zu eng gefasst, da im Handlungs- und Gesprächskontext von Schuld, Scham, Schmerz und Trauma auch Formen des nicht intentionalen Schweigens auftreten und berücksichtigt werden sollen. Der Aspekt der Intentionalität spielt auch bezüglich der Kommunikativität bzw. Bedeutungsübermittlung des Schweigens eine Rolle, wie Melani Schröter in ihrer Systematik zeigt, in der sie intentionalem Schweigen (bspw. bewusstes Vorenthalten einer Antwort) eine höhere Kommunikativität zuweist als nicht-intentionalem Schweigen (etwa symptomatischem Nicht-Sprechen).245 Schröter bestimmt die Kommunikativität von Schweigen als graduierbare Eigenschaft im Spannungsfeld zwischen der Intentionalität des Schweigens seitens des Schweigenden und der Rede-Erwartung bzw. Bedeutungszuschreibung seitens des Rezipienten – in diesem Sinne nimmt die Arbeit Schweigeformen mit hoher Kommunikativität in den Blick.246 Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass das Schweigen stets eine Form des Verhaltens darstellt (Watzlawick/Beavin/Jackson) und sofern es in 243 Ausgehend von der Intentionalität definiert Heinemann Schweigen als »das markierte Fehlen eines vom Partner erwarteten (Sprachhandlungs-)Tuns, des Sprechens, etwas Privatives also im Sinne von Aristoteles, eine intendierte Unterlassungs-Handlung. […] In diesem Sinne ist das Schweigen in der Tat ein ›konstitutives Element menschlicher Kommunikation‹ (Schmitz 1995, 27).« Heinemann, Das Schweigen als linguistisches Phänomen. 1999, S. 306. Zwar rückt die vorliegende Arbeit ebenfalls den Handlungscharakter des Schweigens ins Zentrum, anders als bei Heinemann wird jedoch die Auffassung vertreten, dass die Intentionalität allein kein konstituierendes Merkmal von Schweigen bildet. 244 Vgl. ebd., S. 307. 245 Schröter, Die Vielfalt des ›Nichts‹. 2005, S. 43–61. 246 Melanie Schröter unterscheidet graduell zwischen (1) Schweigen mit hoher Kommunikativität (Fall 1: Sprechen wird erwartet, Schweigen ist intendiert bspw. das bewusste NichtBeantworten einer Frage, Fall 2: Sprechen wird erwartet, Schweigen ist nicht intendiert, bspw. das symptomatische Schweigen in Folge eines Traumas), (2) Schweigen mit mittlerer Kommunikativität (Fall 1: Sprechen wird nicht erwartet, schweigen ist intendiert bspw. bei diskreter Zurückhaltung, Fall 2: Sprechen wird nicht erwartet bzw. Schweigen wird erwartet, Schweigen ist intendiert, bspw. im Gottesdienst) und (3) Schweigen mit niedriger Kommunikativität (Fall 1: Sprechen ist nicht erwartet, Schweigen ist nicht intendiert bspw. die Situation im Wartezimmer eines Arztes, Fall 2: Es liegt keine kommunikative Situation vor, bspw. ist jemand allein, Fall 3: Es liegt keine Handlung vor, bspw. beim Schlafen). Vgl. ebd., S. 51–55.

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einer kommunikativen Situation auftritt grundsätzlich vom Hörer als bedeutungsvoll interpretiert wird (Grice), ihm Ausdrucks- und Appellfunktion (Bühler) bzw. illokutionäre wie perlokutive Funktionen (Austin/Searle) zu eigen sind. Auch nicht-intentionales Schweigen wie das symptomatische Schweigen in Folge eines Traumas kann Bedeutung übermitteln und den Gesprächsverlauf maßgeblich beeinflussen. Es spielt für die Textanalyse (Kapitel 3–6) somit eher eine untergeordnete Rolle, in welchem Grad das verhandelte Schweigen kommunikativ ist. Entscheidend ist in erster Linie, dass es kommunikativ ist. Aus diesem Grund finden die Überlegungen Bergmanns und Schröters als ergänzende Hinweise Berücksichtigung – der Grad der mit dem Schweigen verbundenen Intentionalität, Erwartbarkeit und Kommunikativität lässt sich im Rahmen der Analyse im Einzelfall prüfen, wenn auch die Einschränkung besteht, dass diese Faktoren sich nicht immer eindeutig bestimmen lassen. Die vorangegangenen linguistischen Ausführungen zusammenführend, findet in der Arbeit folgende Schweige-Definition Anwendung: Schweigen wird »unter der Bedingung des Sprechenkönnens«247, sofern es innerhalb einer Kommunikationssituation auftritt und seitens des Hörers als bedeutungsvoll eingestuft wird bzw. als Mittel zur Erreichung kommunikativer Ziele in Erscheinung tritt als eine kommunikative Handlung gefasst.248 Es gilt: »[C]ommunicative silence […] is deliberately produced for communicative purposes in what is perceived by both parties as a communicative situation.«249 Kommunikativ ist Schweigen also insofern, als seine Bedeutung hörerseitig erkannt wird, beispielsweise im Sinne einer (un-)bewusst ausbleibenden Antwort oder insofern, als »Kommunikation verboten oder unmöglich (gemacht) ist, d. h. [in Fällen,] in denen ein Dritter aufgrund bestimmter Bedingungen die Gewalt über 247 Trettin, Die Logik und das Schweigen. 1992, S. 2. 248 Vgl. zu den konstituierenden Merkmalen von Schweige-Handlungen auch Heinemann, Das Schweigen als linguistisches Phänomen. 1999, S. 305–308; Saville-Troike erläutert hinsichtlich der Kommunikativität von Schweigen: »[A] distinction should be made between the absence of sound when no communication is going on, and silence which is part of communication. Just as not all noise is part of ›communication‹, neither is all silence.« SavilleTroike, The Place of Silence in an Integrated Theory of Communication. 1985, S. 4; in Bezug auf verbale Interaktion unterscheidet Dell Hymes zwischen der Sprechsituation (speech situation) und dem Sprechereignis (speech event): In der Sprechsituation kann, es muss aber kein sprachlicher Austausch stattfinden (etwa beim Sport oder bei der Arbeit), dagegen fasst das Sprechereignis Interaktionen, die aufgrund des sprachlichen Austausches stattfinden (etwa Vorträge, Kaffeeklatsch). In der vorliegenden Arbeit wird Schweigen primär im Kontext von Sprechereignissen untersucht. Vgl. Hymes, Dell: Models of the Interaction of Language and Social Life. In: Gumperz, John/Hymes, Dell (Hrsg.): Directions in Sociolinguistics. The Ethnography of Communication. 2. Aufl. Oxford 1986: Basil Blackwell, S. 35– 71, hier: S. 56. 249 Sobkowiak, Włodzimierz: Silence and Markedness Theory. In: Jaworsky, Adam (Hrsg.): Silence. Interdisciplinary Perspectives. Studies in Anthropological Linguistics 10. Berlin 1997: Walter de Gruyter, S. 39–61, hier: S. 44.

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Reden und Nicht-Reden hat«250. In diesem Sinne markiertes Schweigen soll als kommunikativ, als vielsagend und ausdrucksvoll gelten und von nicht-kommunikativem Schweigen abgegrenzt werden. So nimmt die vorliegende Arbeit explizit Gesprächskontexte in den Blick, in denen mittels Schweigen »mehr oder weniger intentional – eine Botschaft übermittel[t wird]«251. An die Bestimmung von Schweigen als kommunikative Handlung schließt die Frage nach seiner Funktion an, dem Beitrag, den Schweigehandlungen hinsichtlich bestimmter kommunikativer Ziele »bewirken, erbringen, leisten, bezwecken […, wobei] die Wirkungen […] beabsichtigt oder unbeabsichtigt und einem Menschen bewußt oder nicht bewußt sein [können]«252.

2.1.6 Schweigefunktionen im Kontext von Trauma und Erinnerung Ausgehend von der Herleitung, dass Schweigen eine Form von Kommunikation darstellt, die in unterschiedlicher Form an bestimmten Gesprächsstellen platziert ist und Bedeutung entfaltet, lässt sich der Frage nachgehen, inwiefern es im thematischen Horizont der Arbeit Einsatz »als kommunikative Strategie«253 findet. In der Gesprächslinguistik werden neben universalen Sprachfunktionsmodellen wie sie Bühler und Austin/Searle entwickeln weitere Konzepte diskutiert, die ausgehend von den mit dem Schweigen verknüpften Ursachen, Intentionen oder dem allgemeinen Gesprächskontext konkrete gesprächsrelevante Schweigefunktionen zu identifizieren und zu systematisieren suchen.254 Dabei spiegelt die Vielzahl und Heterogenität der sich teilweise überschneidenden Modelle den Sachverhalt bzw. die zugrundeliegende Problematik wider, dass eine »Funktion des Schweigens […] stets abhängig [ist] von der kommunikativen Absicht, die dahinter steht. Sie ist je nach Gesprächskontext, der ein Handlungskontext ist, in dem das Schweigen selbst zur Handlung wird, immer eine andere«255. Die Erstellung eines Funktionsmodells des Schweigens mit universalem Geltungsanspruch, das alle denkbaren Gesprächskontexte einbezieht, ist daher kaum möglich.256 Zur Klassifikation relevanter Schweigeformen und -funktionen im Gesprächs- und Handlungskontext von Schuld, Scham, Schmerz und Trauma lassen sich insbesondere drei Ansätze fruchtbar machen, die 250 251 252 253 254

Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 38. Stedje, »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen.« 1982, S. 28. Bellebaum, Schweigen und Verschweigen. 1992, S. 30. Lewandowski, [Art.] Schweigen. 1990, S. 931. Vgl. u. a. die Übersicht zu Schweigefunktionsmodellen von Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 67–80. 255 Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 70. 256 Vgl. ebd., S. 72, 77.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

nachfolgend überblicksartig vorgestellt, kommentiert und zum Teil modifiziert werden (eine detaillierte Darstellung der Schweigefunktionen erfolgt im Rahmen der Textanalysen unter Bezugnahme auf die im jeweiligen Kontext relevanten kulturwissenschaftlichen, soziologischen und psychologischen Ansätze). Für eine erste Eingrenzung der Bedeutungsvielfalt des Schweigens lässt sich Ulsamers Konzeption heranziehen, die zwischen Schweigeformen mit primär kommunikativ-strukturierender und solchen mit eher kommunikativ-strategischer Funktion unterscheidet.257 »Die erste Funktion bezieht sich auf das Schweigen als strukturierendes Merkmal des Gesprächs, die zweite betrifft den […] strategischen Einsatz des Schweigens«258. Die Bezeichnung strategisch fasst »nicht notwendigerweise Funktionen, die auf tatsächlichen Strategien im Sinne präventiv gefasster Pläne aufbauen«259. Gleichwohl wird das Schweigen, so Ulsamer, »manchmal zum Teil einer sprachlichen Strategie im Sinne der Gesprächslinguistik, die darunter ›Wahl und […] Einsatz sprachlicher und parasprachlicher Mittel zur Realisierung/Durchsetzung von Intention/Zielvorstellung‹ versteht«260. Da die vorliegende Arbeit Schweigen als kommunikative Handlung fasst und seine Beweggründe und Funktionen bezüglich der Konstitution von Erinnerungs- und Identitätsentwürfen zu erarbeiten sucht, sind es die kommunikativ-strategischen Funktionen, die in den Vordergrund rücken und die Ulsamer weiterhin in sogenannte Vermeidungs- und Verhüllungsstrategien gliedert.261 Erwächst Schweigen als Vermeidungsstrategie aus dem Bedürfnis der Gesichtswahrung (das eigene oder das des Gesprächspartners) bzw. der Aufrechthaltung des Selbstimage (Höflichkeit, Takt), resultiert Schweigen als Verhüllungsstrategie aus der (un-)bewussten Zurückhaltung von Informationen bzw. der Bewahrung von Geheimnissen (Verschweigen, Tabu, politische Schweigegebote).262 Dieser Gliederungsvorschlag ist für die vorzunehmende Analyse nicht differenziert genug: Auch verhüllendes Schweigen, wie es im Kontext der Verheimlichung von schuldhaftem Tun oder von Sprechverboten als Ausdruck politischer Unterdrückung denkbar ist, weist Vermeidungscharakter auf, sofern es auf die Abwehr von Gesichts- und Glaubwürdigkeitsverlust sowie von Sanktionen wie gesell257 258 259 260

Vgl. ebd., S. 80–118. Ebd., S. 80. Ebd., S. 101. Ebd.; Fleur Ulsamer zitiert Theodor Lewandowski: Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch. 1990, S. 749; vgl. Lewandowski: [Art.] Gesprächsstrategie. In: Ders.: Linguistisches Wörterbuch 1. 5. Aufl. Heidelberg 1990: Quelle&Meyer, S. 359f. 261 Vgl. ebd., S. 101–118. 262 Vgl. ebd.; Fleur Ulsamer weist darauf hin, dass eine strikte Trennung zwischen den strukturierenden und strategischen Funktionsebenen oftmals nicht möglich ist – auf den ersten Blick strukturierende Funktionen wirken zudem strategisch und umgekehrt, sodass eine Zuordnung zu strategischen und strukturierenden Funktionen einer Schwerpunktsetzung folgt. Ebd., S. 80.

Linguistische Einordnung

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schaftliche Ächtung und politische Repression gerichtet ist. Auch bei der Erfassung spezieller Schweigetypen wie dem Nicht-Sprechen-Können als Symptom verstörender Erfahrungen, dessen Beweggründe weder ausschließlich im Gesichtsverlust noch in der Geheimniswahrung liegen, kommt das dichotome Konzept an seine Grenzen. So wird die vorgeschlagene Gliederung zwischen kommunikativ-strukturierendem und kommunikativ-strategischem Schweigen zwar aufgegriffen, die weitere Untergliederung des strategischen Schweigens jedoch lediglich als Vorausschau auf das Spektrum möglicher relevanter Funktionen berücksichtigt. Eine ertragreichere Segmentierung in Hinblick auf den Gesprächs- bzw. Handlungskontext von Schuld, Scham, Schmerz und Trauma bietet die Schweigetypologie von Klaus Zimmermann, der im Unterschied zu Ulsamer nicht die mit dem Schweigen verbundenen Intentionen an den Ausgangspunkt seiner Kategorisierung stellt, sondern von den Schweigeursachen ausgeht und aus dieser kausalen Perspektive vier Schweigetypen identifiziert.263 Zum Schweigen Wollen (Typ 1) zählt er den »Verzicht auf sozialen Kontakt überhaupt. Darin ist dann eingeschlossen Nicht-Reden […] im Sinne von sich aus der Gesellschaft zurückziehen«264, die »Verschwiegenheit […] als ein themaabhängiges Schweigen«265 sowie der »Verzicht, bestimmte Sprechhandlungen durchzuführen; nicht denunzieren, nicht petzen […] etc.«266. Zum Nicht-Reden/Schreiben Dürfen (Typ 2) zählt er Schweigeformen, die im Zusammenhang mit Zensur, Sprechund Kommunikationsverboten, Redeängsten, Situationsbedingtheit und Tabus auftreten.267 Als Nicht-Reden/Schreiben Können (Typ 3) fasst er zum Beispiel »von einer Situation oder einem Sachverhalt so gebannt oder erschüttert sein, daß ›es einem die Sprache verschlägt‹«268 sowie »aus psychischen Gründe über Themen, Sachverhalte etc. nicht reden können«269. »Keinen Zweck mehr im Reden/Schreiben sehen«270 (Typ 4) bildet weiterhin jene Fälle ab, in denen »das Erreichen der Intention als nicht mehr möglich eingeschätzt wird, z. B. vor der Verbohrtheit eines Kommunikationspartners resignieren«271. Für die Identifikation von Schweigeformen und -funktionen im thematischen Kontext der vorliegenden Arbeit erweist sich Zimmermanns ursachenorientierte Typologie als besonders fruchtbar, sodass sie im Sinne eines Analyserasters Anwendung 263 264 265 266 267 268 269 270 271

Vgl. Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 39–41. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 39f. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd. Ebd.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

findet. Zur Anpassung an den spezifischen Kontext sowie zur Vereinheitlichung der Typenbezeichnungen werden folgende Modifikationen vorgenommen: Da Schweigen Wollen (Typ 1) Schweigeformen bezeichnet, die freiwillig, das heißt aus einem Wunsch oder Bedürfnis resultieren, wobei die Zurückhaltung von Informationen bzw. das Vermeiden von Kommunikation im Zentrum steht, wird Schweigen-Wollen begrifflich mit ›Reden-Abwehren‹ verknüpft und in der Analyse im Kontext von schuldhaftem Tun und der Ausübung von Macht untersucht (Kapitel 3). Zimmermanns Typ des Nicht-Reden/Schreiben-Dürfens wird das Komplement ›Schweigen-Sollen‹ zugewiesen, da die in der Arbeit zugrunde gelegte Typenbezeichnung einheitlich vom Schweige-Begriff ausgehen soll und das ›Schweigen-Sollen‹ den erzwungenen Charakter dieses Typs hervorhebt. Im Rahmen der Analyse wird ›Schweigen-Sollen‹ thematisch mit Zensurmaßnahmen und politischen Schweigegeboten verknüpft (Kapitel 4). Der dritte von Zimmermann genannte Typ, das Nicht-Reden/Schreiben-Können wird um den Aspekt ›Schweigen-Müssen‹ ergänzt, wodurch terminologisch das Schweigen ins Zentrum rückt, das in der Analyse mit überwältigenden, mithin verstörenden Erfahrungen in Zusammenhang gebracht wird (Kapitel 5). Da der von Zimmermann vorgeschlagene vierte Typ in der vorliegenden Arbeit eine untergeordnete Rolle spielt, findet er im Rahmen der Analyse keine tiefergehende Beachtung. Stattdessen werden die Analysen der ersten drei Schweigetypen, in dessen Zentrum der Schweigende, mithin die ›produktive‹ Seite des Schweigens, der Sender steht, um ein Untersuchungscluster ergänzt, das die Perspektive des Hörers, die rezeptive Seite des Schweigens fokussiert: Unter ›Schweigen-Aushalten/Reden-Fordern‹ wird das Schweigen als Störfaktor der transgenerationellen Kommunikation diskutiert (Kapitel 6). Um das Spektrum der Schweigefunktionen weiter einzugrenzen, lassen sich Überlegungen von Vernon Jensen hinzuziehen, der vorschlägt: »[S]ilence performs many functions, which might be categorized as linkage, affecting, revelational, judgmental, and activating functions.«272 Jensens Klassifikation ist dichotomisch aufgebaut, mithin ordnet er jeder der fünf Funktionen einen komplementären Terminus zu. Demnach kann Schweigen sowohl verbinden als auch isolieren (linkage function), heilen ebenso wie verletzen (affecting function), offenbaren und verdecken (revelational function); zudem lässt sich Schweigen als Ausdruck von Zustimmung und Ablehnung ( judgemental function), Aktivität und Inaktivität (activating function) fassen.273 Insbesondere die ersten drei Funktionspaare dieser Klassifikation lassen sich für eine weiterführende Beschreibung der von Zimmermann eingeführten Schweigetypen fruchtbar machen. So lässt sich der Typ ›Schweigen-Wollen/Reden-Abwehren‹ primär mit der 272 Jensen, Communicative Functions of Silence. 1973, S. 256. 273 Vgl. ebd.

Psychotraumatologische Einordnung

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revelational function verbinden (Offenbarung eines Geheimnisses durch Schweigeverhalten versus Geheimhaltung von schuldhaftem Tun mittels Dethematisieren) und der Typ ›Schweigen-Sollen/Nicht-reden-Dürfen‹ mit der linkage function zusammenbringen (u. a. Schweigen als verbindendes Element von Gleichgesinnten, die leidvolle Erfahrungen teilen versus Schweigen als kommunikatives Mittel der Ab- bzw. Ausgrenzung). Am Typ ›Schweigen-Müssen/Nichtreden-Können‹ lässt sich eindrücklich die affecting function illustrieren, etwa die Frage, ob der schweigende Umgang mit traumatischen Erfahrungen eine heilende Funktion zukommt oder jene Erfahrungen vielmehr auf Dauer setzt. Von den skizzierten Klassifikationen der Schweigefunktionen wirft insbesondere Jensens Ansatz die Frage nach einer Bewertung des Schweigens auf, wobei hervorzuheben ist, dass Schweigen aufgrund seiner Ambiguität grundsätzlich sowohl negative als auch positive Funktionen innehat, »one negative – a failure of language – and a positive – a chance for personal exploration«274, sodass die Einschätzung seiner Intentionen und Folgeen nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Gesprächs- bzw. Handlungskontexts, der beteiligten Interagierenden sowie der geltenden kommunikativen, kulturellen und rollenbedingten Normen erfolgen kann. Etwas weiter gefasst lässt sich vermutlich gewinnbringender fragen, »inwiefern und für wen es eine Möglichkeit bzw. einen Mangel darstellt«275.

2.2

Psychotraumatologische Einordnung

Die vorliegende Arbeit nimmt Schweigeformen in den Blick, die in engem Zusammenhang mit verstörenden, mithin traumatischen Gewalterfahrungen stehen, darunter Kriegshandlungen (defensives Verschweigen von schuldhaftem Tun, Kapitel 3), politische Verfolgung (repressive Schweigegebote, Kapitel 4), Flucht, Vertreibung und sexualisierte Gewalt (überwältigte Sprachlosigkeit, Kapitel 5) sowie Internierung und Lagerhaft (transgenerationelle Weitergabe von Traumata mittels Schweigen, Kapitel 6). Das Erleben derartiger Extremereignisse geht typischerweise mit überwältigenden Affekten wie Hilflosigkeit, Furcht, Entsetzen und Überforderung einher, die Einfluss auf die Prozesse der Informationsverarbeitung und – das ist von besonderem Interesse – die Fähigkeit zur Narration jener Ereignisse nehmen, stören und zum Erliegen bringen können.276 In diesem Zusammenhang lässt sich die Frage aufwerfen, ob das, worüber geschwiegen wird, Teil des zwischenmenschlich Kommunizierbaren ist – in dem Sinne, dass das, 274 Tannen, Silence. 1985, S. 94. 275 Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 44. 276 Vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

[w]as nicht zur Sprache kommt, […] unter anderen Umständen durchaus zur Sprache gebracht werden [könnte]. Das Verschwiegene steht im Blick, ist gewusst und sprachlicher Darstellung zugänglich. Es wird nicht zur Sprache gebracht aus Angst vor Desintegration (Zurückweisung, Ausschluß, Exkommunikation, Strafverfolgung)277 –

oder ob es darüber hinaus in den durch die menschliche Natur begrenzten Bereich des Nicht-Artikulierbaren reicht – in dem Sinne, dass sich Erfahrungen von überwältigender Qualität der sprachlichen Artikulation entziehen, da sie »die Möglichkeiten wiedererkennender Wahrnehmung und die Formen kultureller Verarbeitung übersteigen […]. Hier geht es um das oftmals lange anhaltende Schweigen der Opfer«278. Zum Nachvollzug der Ursachen dieser komplementären sowie weiterer Ausprägungen des Schweigens im Sinne eines Nicht-SprechenWollens (Täter-Perspektive) und eines Nicht-Sprechen-Könnens (Opfer-Perspektive) wird folgend den psychischen Prozessen, die sich bei den Betroffenen im Zuge des Erlebens von extremen Gewaltereignissen typischerweise einstellen, nachgegangen. Für eine erste Annäherung an den Konnex von Extremerfahrung und Nichterzählbarkeit werden der Begriff des Traumas und das klinische Erscheinungsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) orientiert an den beiden international gebräuchlichen Krankheits-Klassifikationssystemen, die Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association (APA) skizziert und aufgezeigt, inwiefern sich Schweigen erstens als eine Folge bzw. ein Symptom eines Traumas fassen lässt (Kapitel 2.2.1, 2.2.2). Den skizzierten Zusammenhang vertiefend, wird Schweigen zweitens als Ausdruck einer Störung des autobiographischen Gedächtnisses der Betroffenen bzw. der hirnphysiologisch begründeten Unfähigkeit, das Trauma zu narrativieren, definiert (Kapitel 2.2.3, 2.2.4). Die Ausführungen zielen darauf ab, grundlegende Zusammenhänge und Begrifflichkeiten im Konnex von Erinnerung, Trauma und Narration, auf die im Rahmen der Textanalysen (Kapitel 3–6) fortlaufend Bezug genommen wird, überblicksartig darzustellen. Darüber hinaus werden im Rahmen der Analysekapitel ausgewählte thematische Gesichtspunkte mit dem Schweigen verknüpft – beim defensiven Schweigen-Wollen etwa Schuld bzw. Täterschaft (Kapitel 3), beim repressiven Schweigen-Sollen strukturelle politische Gewalt (Kapitel 4), beim überwältigten Schweigen-Müssen sexueller Missbrauch und Vernachlässigung (Kapitel 5), bei der schweigend vermittelten Weitergabe von traumatischen Erfahrungen Scham (Kapitel 6). Der Einbezug psychotraumatologischer Ansätzen wird für die Figurenanalyse, insbesondere die Interpretation ihres (unbewussten) Schweige-Verhaltens, dessen Ursachen, Ausprägungen, 277 Assmann, Jan: Einführung. In: Ders./Assmann, Schweigen. 2013, S. 9–25, hier: S. 18. 278 Ebd., S. 20.

Psychotraumatologische Einordnung

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Entwicklungen und Folgen fruchtbar gemacht und trägt dazu bei, das subversive Potential der für die Analyse ausgewählten Erzähltexte zu erschließen.279 Dieses Vorgehen findet auch insofern Berechtigung, als es sich »bei der Anwendung traumatheoretischer Erkenntnisse nicht um einen beliebigen literaturtheoretischen Ansatz unter anderen [… handelt, sondern] um eine Herangehensweise, die über ihre hirnphysiologische Fundierung und Erfahrungswerte aus der Traumatherapie ein empirisch überprüfbares Fundament hat«280. Gottfried Fischer plädiert für ein produktives Wechselverhältnis von Psychoanalyse, Psychotherapie und Kunst,281 wobei die psychoanalytische Literaturwissenschaft keine Psychoanalyse von Texten oder Autoren [darstellt]. Das tertium comparationis ist vielmehr der Kommunikationsprozeß in Psychoanalyse und Kunst. […] In der Triade Autor-Text-Leser/Interpret laufen bewußte und unbewußte Kommunikationsprozesse ab, die sich mit therapeutisch verändernder Interaktion und Kommunikation in der psychoanalytischen Arbeit in mancher Hinsicht vergleichen lassen.282

Fischer identifiziert Parallelen zwischen der künstlerischen Bearbeitung des Traumas und dem therapeutischem Verständigungsprozess: »In beiden Situationen muß kreativ eine Ausdrucksform gefunden werden, die geeignet ist, die ›dauerhafte Erschütterung von Welt- und Selbstverständnis‹, welche die traumatische Erfahrung bewirkt, zu überwinden und dialektisch ›aufzuheben‹«283. So gerät gerade der mitfühlende Leser bisweilen unter einen extremen »Empathiestress«, ein Phänomen, das Therapeuten aus dem geduldigen und mitfühlenden Anhören bisweilen haarsträubender Traumaberichte nur allzugut kennen […]. Den Leser ergreift eben jene Lähmung und Hilflosigkeit, die den qualitativen Kern der traumatischen Erfahrung bildet.

Nach Fischer lassen sich literarische Traumakonfigurationen als Ausdrucksformen bzw. Erzählstrategien des Traumas auffassen, die eine »neue[]« Sprache, eine[] »Metasprache« [evozieren], die über die bisherigen, traumagebundenen Ausdrucksmittel hinausweist und geeignet erscheint, das Paradoxon der »traumatischen Information« – mit einer Erfahrung zu leben, mit der sich nicht leben läßt – zu entschlüsseln und […] »aufzuheben«: d. h. sie aufzubewahren (lat. conservare), und zwar als Erinnerung, sie zu eliminieren (tollere) und sie zugleich auf eine

279 Vgl. Köppe, Tilmann/Winko, Simone: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. 2. Aufl. Stuttgart 2013: J.B. Metzler, S. 64. 280 Fricke, Das hört nicht auf. Trauma. 2004, S. 231. 281 Vgl. Fischer, Gottfried: Psychoanalyse und Psychotraumatologie. In: Mauser, Wolfram/ Pietzcker, Carl (Hrsg.): Trauma. Freiburger Literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 19. Würzburg: Königshausen&Neumann 2000, S. 11–26, hier: S. 15. 282 Ebd. 283 Ebd., S. 25.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

neue, eine »Metaebene« des Selbst- und Weltverständnisses hin zu überschreiten (elevare) […].284

2.2.1 Traumadefinition und Symptomatik der Traumafolgestörungen Bevor das »Gewalt- und Gewaltfolgenparadigma [… im Rahmen der Textanalyse] als ›Interpretament‹, als Deutungsmuster Verwendung [findet]«285, erfolgt eine Darstellung der zentralen Aspekte des Trauma-Begriffs sowie der Entwicklung der Psychotraumatologie als eigenständiges Forschungsfeld. Das aus dem Altgriechischen entlehnte Wort Trauma bezeichnet eine Wunde, Verletzung oder starke Erschütterung.286 Aus psychologischem Blickwinkel bildet es »eine seelische Verletzung, die auf ein traumatisierendes Ereignis (oder deren mehrere) zurückgeht, bei dem im Zustand von extremer Angst und Hilflosigkeit die Verarbeitungsmöglichkeiten des Individuums überfordert waren«287. Es ist darauf hinzuweisen, dass das Wort »Trauma« […] häufig fälschlich verwendet [wird], nämlich statt für die »Wunde« zur Benennung eines Ereignisses. »Ich habe ein Trauma gehabt!«, sagt jemand, und beabsichtigt, damit die Information weiterzugeben, einem entsprechenden Ereignis ausgesetzt gewesen zu sein. Das ist therapeutisch relativ irrelevant. Relativ irrelevant ist auch, ob jemand irgendwann einmal eine Wunde hatte. Von Bedeutung ist aber, ob jemand aktuell unter einer Wunde leidet.288

Hinsichtlich der Geschichte der Psychotraumatologie und seiner Entwicklung als Subdisziplin von Psychiatrie und Psychotherapie konstatiert Günter Seidler, Pionier des Faches in Deutschland:289 Das, was wir heute »Traumafolgestörung« nennen, dürfte es schon immer gegeben haben. Naturkatastrophen, große Hungersnöte und gewaltige Epidemien, Kriege, das, was wir heute »Arbeitsunfälle« nennen, Macht, die noch unverhüllter als gegenwärtig mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt wurde, und Gewalt gegen Frauen und Kinder dürften allgegenwärtig gewesen sein.290

284 Ebd., S. 16. 285 Seidler, Günter: Psychotraumatologie. Das Lehrbuch. Stuttgart 2012: Kohlhammer, S. 28. 286 Vgl. Dudenredaktion: [Art.] Trauma. In: Dies. (Hrsg.): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Duden 7. 5. Aufl. Berlin 2014: Dudenverlag, S. 865. 287 Seidler, Psychotraumatologie. 2012, S. 32f. 288 Ebd., S. 33. 289 Vgl. Schröder, Johannes/Lässer, Marc: Vorwort. In: Brecht/Schröder, Trauma und Traumatherapie. 2014, S. 7–10, hier: S. 8. 290 Seidler, Psychotraumatologie. 2012, S. 21.

Psychotraumatologische Einordnung

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Gleichwohl beginnt »die Beschreibung der für die heutige Psychotraumatologie relevanten Krankheitsbilder [… erst] im 19. Jahrhundert«291. Auslöser für seelische Verwundungen bzw. Reaktionen werden seit Jahrhunderten immer wieder beschrieben,292 angefangen mit der Darstellung seelischer Reaktionen von Eisenbahn-Unfallopfern Mitte des 19. Jahrhunderts, den sogenannten railway spine injuries (technische Katastrophen) sowie zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen und dem Krankheitsbild der Hysterie im Rahmen der Entwicklung der Freud’schen Psychoanalyse Ende des 19. Jahrhunderts über die Diagnosen sogenannter Kriegsneurosen von Soldaten des Ersten Weltkrieges (Schockneurose, shell-shock), die umgangssprachlich Kriegszitterer oder Schüttler genannt wurden, bis hin zur Erforschung der psychischen Belastungen und des Persönlichkeitswandels von Überlebenden des Holocaust und den Befunden amerikanischer Veteranen des Vietnam- und Koreakrieges in den 1960er Jahren sowie den Beschreibungen von seelischen Folgen der von Vergewaltigung bzw. sexuellem Missbrauch betroffenen Frauen und Kindern ab den 1970er Jahren.293 Auf der Beobachtung aufbauend, »dass sich die Symptombilder der Betroffenen unabhängig von der Art der Gewalteinwirkung sehr glichen«294, sind Vorschläge zur Konzeptualisierung eines spezifischen posttraumatischen Symptommusters erarbeitet worden, die die American Psychiatric Association 1980 verändert und unter dem Begriff Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders aufgenommen hat.295 1992 fügt auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die PTSD zum Diagnoseschlüssel der International Classification of Deseases, Injuries and Causes of Death (ICD 10) hinzu.296 Der Begriff Psychotraumatologie wird »1991 im Zusammenhang mit der Gründung des Deutschen Instituts für Psychotraumatologie (DIPT) durch […] Fachleute der Psychologie, Medizin, Rechtswissenschaft, Psychoanalyse und Psychotherapie um Gottfried Frischer erstmals in 291 Ebd. 292 Vgl. Thomann, Klaus-Dieter/Rauschmann, Michael: Die »posttraumatische Belastungsstörung« – historische Aspekte einer »modernen« psychischen Erkrankung im deutschen Sprachraum. Medizinhistorisches Journal 38, 2003, H. 2, S. 103–138, hier: S. 103. 293 Vgl. zur Geschichte der Psychotraumatologie Seidler, Psychotraumatologie. 2012, S. 21–28; vgl. Ders.: Einleitung: Geschichte der Psychotraumatologie. In: Maercker, Posttraumatische Belastungsstörungen. 2013, S. 3–12. 294 Seidler, Psychotraumatologie. 2012, S. 27. 295 Vgl. Koehler, Karl/Saß, Henning: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-III. Übersetzt nach der 3. Aufl. des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association. Weinheim/Basel 1984: Beltz, S. 248–251. 296 Vgl. Thomann/Rauschmann, Die »posttraumatische Belastungsstörung«. 2003, S. 104; vgl. Dilling, Horst/Mombour, Werner/Schmidt, Martin, (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Weltgesundheitsorganisation. Bern 1992: Huber, S. 157f.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

Deutschland […] verwendet«297. In den folgenden Jahren etabliert sich die Psychotraumatologie als eigenständiges Forschungs- und Praxisfeld.298 An den skizzierten Überblick lassen sich die Definition des Traumas und die Darstellung des klinischen Erscheinungsbildes der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) anschließen. So definiert die WHO das Trauma als »ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde«299. Die APA unterscheidet in ihrer Trauma-Definition explizit zwischen der objektiven Ereigniskonstellation (A1-Kriterium): »[D]ie Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalten«300 und der subjektiven Erlebniskonstellation (A2-Kriterium): »Die Reaktionen der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen«301. Differenziert wird demnach zwischen dem Ereignis (die objektive Qualität des Ereignisses) und der Erfahrung (die subjektive Verarbeitungskapazität des Individuums).302 So definieren Fischer/Riedesser die traumatische Erfahrung auch als »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt«303. Ausgehend vom Aspekt des Erlebens von »Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe an bedrohliche Umwelteinflüsse«304 lässt sich das Trauma auch als »eine unterbrochene [soziale] Handlung, eine Kampf- oder Fluchtreaktion [fassen], die leerläuft und uns hilflos und handlungsunfähig zurücklässt«305. Doch welche Extremereignisse werden in

297 Seidel, Psychotraumatologie. 2012, S. 32. 298 Vgl. Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter (Hrsg.) Lehrbuch der Psychotraumatologie. 5. Aufl. München 2020: Ernst Reinhardt, S. 17–21. 299 Dilling, Horst/Mombour, Werner/Schmidt, Martin (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Weltgesundheitsorganisation. 9. Aufl. Bern 2014: Huber, S. 207. 300 Saß, Henning/Wittchen, Hans-Ulrich/Zaudig, Michael/Houben, Isabel: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – Textrevision – DSM-IV-TR. Übersetzt nach der Textrevision der 4. Aufl. des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association. Göttingen 2003: Hogrefe, S. 520. 301 Ebd. 302 Vgl. Ehlert-Balzer, Martin: [Art.] Trauma. In: Mertens, Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. 2014, S. 962–967, hier S. 962. 303 Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2020, S. 88. 304 Fischer, Einführung in die Theorie und Praxis der Traumatherapie. 2014, S. 40. 305 Ebd.

Psychotraumatologische Einordnung

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diesem Sinne als traumatisch eingestuft? Als »massive Bedrohung des Opfers«306 gelten Ereignisse unterschiedlichster Art, wobei für eine weiterführende Klassifikation zwischen menschlich verursachten/interpersonellen (man-made desasters) versus zufälligen/akzidentellen Traumata sowie zwischen kurzfristigen (Typ-I-) versus langfristigen (Typ-II-) Traumata unterschieden wird.307 Sind Typ-I-Traumata »meist durch akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung gekennzeichnet«308, handelt es sich bei Typ-II-Traumata eher um »Serien verschiedener traumatischer Einzelereignisse [… mit] geringe[r] Vorhersagbarkeit des weiteren traumatischen Geschehen[s]«309. Davon ausgehend zeichnet sich mit Blick auf das Untersuchungskorpus ab, dass die in den Texten verhandelten Schweigetypen allesamt in Zusammenhang mit gravierenden negativen Erlebnissen auftreten, in deren Mittelpunkt eine »Todeskonfrontation oder andere extreme Gefahrensituationen stehen«310. Die Annahme liegt nahe, dass es sich bei jenen Extremereignissen, darunter Kriegshandlungen (Jan Koneffkes »Sonntagskind«), politische Repression (Herta Müllers »Herztier«), Lagerhaft und Zwangsarbeit (Gila Lustigers »So sind wir«, Eleonora Hummels »Die Fische von Berlin«), Flucht und Entwurzelung (W. G. Sebalds »Austerlitz«) sowie sexualisierte Gewalt (Hans-Ulrich Treichels »Tagesanbruch«) um Ereignisse mit potentiell traumatischer Qualität handelt. Nach der ICD- bzw. DSM-Klassifikation weisen sie ein hohes traumatisches Potential auf und lassen sich, wie die Analysen im Einzelnen zeigen werden, vielfach als interpersonelle Typ-II-Traumata einstufen – jener Traumatyp, der »in vielen Fällen zu stärker beeinträchtigenden und chronischeren psychischen Folgen führen [… kann] als die anderen Formen«311. Weiterhin können die psychischen Symptome beschrieben werden, die auf das Erleben bzw. Beobachten von traumatischen Ereignissen typischerweise folgen. Es gilt in der modernen Traumaforschung als Konsens, dass jene Extremereignisse bei den Betroffenen zu einem Zusammenbruch der zentralen Ich-Funktionen und schließlich zu einer basalen Erschütterung des psychischen Apparates [führen], der nun von dem Bemühen bestimmt wird, die traumatische Situation nachträglich zu bewältigen. Dieser Restitutionsversuch des Ichs ist nach psychoanalytischem Verständnis für die typischen posttraumatischen Symptome verantwortlich, die im Kern in einer zwanghaften Wiederholung des traumatischen Geschehens […] bestehen.312 306 307 308 309 310 311 312

Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 331. Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 15. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ehlert-Balzer, [Art.] Trauma. 2014, S. 962.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

Die auftretenden Folgeerscheinungen werden von der WHO und der APA weitgehend übereinstimmend im klinischen Bild der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zusammengefasst.313 Dazu gehören neben dem Erlebnis des Traumas (Ereigniskriterium) das Auftreten von Intrusionen (unwillkürliche und belastende Erinnerungen an das Trauma), Vermeidungsverhalten und ein allgemeiner emotionaler Taubheitszustand sowie anhaltendes physiologisches Hyperarousal (Überregung), wobei die Symptome über mindestens einen Monat hinweg andauern.314 Zur ersten Gruppe Intrusionen/Wiedererleben zählt die American Psychiatric Association ungewollt wiederkehrende und belastende Erinnerungen oder Erinnerungsbruchstücke, deren Intensität von Einzelerinnerungen bis zum Überwältigtwerden von der Erinnerung reicht315. Entsprechend sind Betroffene durch eine »ungewollte Gebundenheit an das schreckliche Erlebte gekennzeichnet […, die] sich in Bildern, Geräuschen oder anderen lebhaften Eindrücken des traumatischen Ereignisses [formiert], die unbeabsichtigt in den wachen Bewusstseinszustand als auch in den Schlaf ›eindringen‹«.316 Zu den Intrusionen zählen auch belastende (Alb-)Träume, die teils jahrelang nach dem gleichen Muster ablaufen,317 sowie Flashbacks, sogenannte kurzdauernde Nachhallerlebnisse, bzw. Erinnerungsattacken, die sich plötzlich einstellen, von besonders lebhafter, realistischer Qualität sind und von dem Gefühl begleitet werden, das traumatische Ereignis noch einmal zu durchleben.318 Zur zweiten Gruppe Vermeidungs-/Betäubungssymptome gehören das bewusste »Vermeiden von Gedanken und Gefühlen, die an das Trauma erinnern (z. B. eigene Gedankenstoppversuche bzw. Selbstkommentare: ›Ich mache mich sonst nur selbst verrückt‹)«319 sowie die Aktivitäts- und Situationsvermeidung, mithin »[p]hobisches Vermeiden von Aktivitäten oder Situationen, die Erinnerungen an das Trauma bewirken«320. Auffällig ist, dass »trotz dieser intensiven Versuche […] die Vermeidung der Gedanken an das Erlebte in den meisten Fällen nicht [gelingt]«321, sie kann auch (Teil-)Amnesien auslösen bzw. dazu führen, dass »[w]ichtige Elemente des traumatischen Geschehens […] nicht mehr erinnert werden [können …]. Im Extremfall kann das ganze traumatische Geschehen nicht mehr erinnert werden; es herrschen nur unscharfe Erinnerungen oder 313 Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 14. 314 Vgl. ebd.; vgl. Dilling, Internationale Klassifikation psychischer Störungen. 2014, S. 207; vgl. Saß/Wittchen/Zaudig/Houben, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. 2003, S. 520f. 315 Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18. 316 Ebd., S. 17. 317 Ebd., S. 18. 318 Vgl. ebd. 319 Ebd. 320 Ebd. 321 Ebd., S. 17.

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Erinnerungsbruchstücke vor.«322 Auch das sogenannte Numbing, die »Abflachung der allgemeinen Reagibilität«323 gehört zu den Vermeidungs- bzw. Betäubungssymptomen.324 Darunter fallen das verminderte Interesse, »an wichtige[n] Aktivitäten des täglichen Lebens oder an individuell vor dem traumatischen Erlebnis gern ausgeführten Aktivitäten«325, das Entfremdungsgefühl bzw. das »Gefühl der Losgelöstheit oder Fremdheit von anderen Personen, die nicht das gleiche traumatische Ereignis erlebt haben […, bzw. die subjektiv] unüberwindlich empfundene Kluft zwischen den anderen und einem selbst […]«326, der eingeschränkte Affektspielraum, mithin die »Empfindung, dass das Trauma das eigene Gefühlsleben zerstört hat, z. B. die Fähigkeit jemanden zu lieben, sich zu freuen aber auch die Fähigkeit zur Trauer«327 sowie das Gefühl der eingeschränkten Zukunft bzw. das Gefühl, dass nichts Wichtiges mehr im eigenen Leben passieren kann […, zu dem auch das Gefühl gehört, dass] das Trauma bzw. seine Verursacher […] Jahre (oder »die beste Zeit«) des Lebens zerstört [haben] und diese […] nie wieder ersetzt werden [können]. Zukunftspläne werden nicht mehr gemacht.328

Die dritte Symptomgruppe Hyperarousal umfasst die körperlichen Reaktionen auf das Erlebte, da sich die »Erregungsschwelle des autonomen Nervensystems [bei Traumatisierten] senkt […], d. h. Belastungen […] früher und nachhaltiger [wirken]. Auch kleine nachfolgende Belastungen führen zu stärkerer Erregung«329. Es treten zum Beispiel Ein- und Durchschlafschwierigkeiten auf, es liegt eine erhöhte Reizbarkeit vor,330 auch haben Betroffene »[a]usgeprägte Schwierigkeiten, sich auf einfache Abläufe zu konzentrieren (z. B. Buch lesen, Film sehen, Formular ausfüllen)«331. Weitere Symptome dieser Gruppe sind die übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz) bzw. das »ständige[] Gefühl, des Nicht-Trauen-Könnens. Fortdauerndes und unrealistisches Gefährdungsgefühl«332 sowie eine übermäßige Schreckreaktion bzw. »eine sehr leichte Erschreckbarkeit, die schon durch leichte Geräusche und Bewegungen ausgelöst werden kann«333. Es lässt sich festhalten, dass auf das Erleben bzw. Beobachten

322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333

Ebd., S. 18. Ebd., S. 17. Vgl. ebd. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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eines Traumas typischerweise Reaktionen wie das Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und emotionale Taubheit sowie körperliche Symptome folgen.

2.2.2 Schweigen als Traumafolgestörung bzw. Vermeidungssymptom Ausgehend von den drei Hauptsymptomgruppen der PTBS lässt sich der schweigende Umgang mit Extremerfahrungen der Gruppe der Vermeidungsbzw. Betäubungssymptome zuordnen – sofern das Schweigen im Sinne eines Nicht-Thematisierens darauf abzielt, das psychisch extrem belastende Erinnern, das einem Vergegenwärtigen der erlittenen traumatischen Ereignisse ähnelt, abzuwehren. Untersuchungen zum Konnex von Trauma und Narration bzw. der Bereitschaft und Fähigkeit von Traumatisierten, sich auf den narrativen Prozess einzulassen liegen insbesondere im Rahmen der Holocaust-Forschung vor.334 Aus rückblickend abgefragten (Lebens-)Geschichten und Reflexionen von Überlebenden der Shoah geht hervor, dass das Jahre, mithin Jahrzehnte andauernde Schweigen über die Verfolgungsvergangenheit mit dem Bedürfnis korreliert, das Erinnern jener extrem schmerzhaften Erfahrungen abzuwehren und eine emotionale Distanz zu den Geschehnissen aufzubauen.335 Die Dringlichkeit des Wunsches, sich vor dem Aufkommen der belastenden Erinnerungen und dem erneuten Durchleben der Erfahrungen mittels Schweigen zu schützen, beschreibt der jüdische Schriftsteller Aharon Appelfeld, der 1932 in Rumänien geboren, im Alter von neun Jahren von Antisemiten verfolgt und in ein Zwangsarbeitslager deportiert worden ist, diese Tortour überlebt hat und von 1975 bis 2001 an der Ben-Gurion-Universität des Negev als Professor für hebräische Literatur gelehrt hat, eindrücklich als eine Über- bzw. Weiterlebensstrategie: »For many years the members of my generation were concerned with the concealment and repression, or, to use a harsher word, the suppression of memory. It was impossible to live after the Holocaust except by silencing me-

334 Vgl. u. a. Bar-On, Dan: Furcht und Hoffnung. Von den Überlebenden bis zu den Enkeln. Drei Generationen des Holocaust. Hamburg 1997: Europ. Verl.-Anst.; vgl. Ders.: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern. Reinbek 1996: Rowohlt; vgl. Grünberg, Kurt: Schweigen und Ver-Schweigen. NS-Vergangenheit in Familien von Opfern und von Tätern oder Mitläufern. Psychosozial 20, 1997, H. 68/II, S. 9–22; vgl. Rosenthal, Der Holocaust im Leben von drei Generationen. 1999; vgl. Wiseman, Hadas/Metzl, Einat/Barber, Jacques: Anger, Guilt, and Intergenerational Communication of Trauma in the Interpersonal Narratives of Second Generation Holocaust Survivors. American Journal of Orthopsychiatry 76, 2006, H. 2, S. 176–184. 335 Vgl. Welz, A Voice Crying Out from the Wound. 2017, S. 412–427; vgl. Rosenblum, Distancing Emotion. 2011, S. 119–150.

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mory.«336 Gerät die Erinnerung zum Feind, gegen den es anzukämpfen gilt, wie es Appelfeld bildlich formuliert – »Memory became your enemy. You worked constantly to blunt it, to divert it, and to numb it as one numbs pain. This battle lasted for years. People learned how to live without memory the way one learns to live without a limb of one’s body«337 – scheint das Verhüllen traumatischer Erfahrungen in Schweigen eine Möglichkeit zu offerieren, zurückliegende Extremerfahrungen auszuhalten und sich jenseits davon auf ein (Weiter-)Leben in der Gegenwart und Zukunft einzulassen. Auch der italienische HolocaustÜberlebende Primo Levi weist bezüglich seines Umgangs mit den traumatischen Erfahrungen auf den schützenden Aspekt des Schweigens hin: »Wer tief verletzt worden ist, neigt dazu, die Erinnerung daran zu verdrängen, um den Schmerz nicht zu erneuern […].«338 Gleichwohl gelingt es Levi, seine traumatischen Erfahrungen – 1944 wurde der 24-Jährige nach Auschwitz deportiert, wo er elf Monate bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee im Januar 1945 überlebt hat – über die Literatur in das kollektive Gedächtnis einzuspeisen. Mithin steht der Schwierigkeit, traumatische Erfahrungen zur Sprache zu bringen, das Bedürfnis nach Zeugenschaft gegenüber.339 Dass Traumatisierte Schweigen vielfach als eine positiv konnotierte Möglichkeit wahrnehmen, um sich auf eine bessere Zukunft hin auszurichten, bildet auch eine soziologische Studie von Kavemann und Rothkegel zu Faktoren der Offenbarungsbereitschaft bzw. zum Sprech- und Schweigeverhalten im Kontext

336 Appelfeld, Aharon: Introduction. In: Ders.: Beyond Despair. Three Lectures and a Conversation with Philip Roth. New York 1994: Fromm International Publishing, S. ix. 337 Ebd. 338 Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien 1990: Hanser, S. 20. 339 Vgl. u. a. die autobiographisch geprägten Arbeiten von Primo Levi »Ist das ein Mensch?«, »Atempause« und »Die Untergegangenen und die Geretteten«. Diesen Punkt greifen Elie Wiesel und Jorge Semprun in ihrem 1995 aufgenommenen Gespräch »Schweigen ist unmöglich« auf, indem sie konstatieren, zehn bzw. fünfzehn Jahre nicht über ihre Verfolgungserfahrung gesprochen zu haben, weil, »E. W.: […] man nicht [darüber] sprechen kann. J. S.: Man kann nicht über alles sprechen, man kann nicht alles vorstellbar, nachvollziehbar machen. Das geht einfach nicht«. Semprún, Jorge/Wiesel, Elie: Schweigen ist unmöglich. Frankfurt/M. 2012: Suhrkamp, S. 18. Dennoch leisten beide einen Beitrag für das kollektive Gedächtnis, u. a. mittels Beteiligung an Gedenkveranstaltungen, wie Wiesel darlegt: »Ich gehe nur schweren Herzens zu derartigen Veranstaltungen. Widerwillig. […] Ich mag das eigentlich überhaupt nicht. Mir bleibt aber keine Wahl, es gibt keine Alternative dazu. […] Gleichzeitig sage ich mir aber, daß die, die all das nicht miterlebt haben, einige Symbole brauchen. Einige Fixpunkte, an denen sie ihre Wißbegierde, ihren Erfahrungshunger festmachen können. Wir nehmen nur für sie an derartigen Veranstaltungen teil, ganz gleich, ob es um Buchenwald oder Auschwitz geht. […] Wir werden bald nicht mehr da sein. Man muß Spuren hinterlassen.« Ebd., S. 23, 31. Wiesel resümiert zum Ende des Gesprächs: »Es [das Sprechen über den Holocaust] ist immer zu wenig, aber wir sollten dennoch darüber sprechen. Wir wissen nicht, wie wir es sagen sollen, uns fehlen die Worte, aber wir sollten es dennoch tun. Zeugnis ablegen.« Ebd., S. 41f.

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von sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend ab.340 Die Auswertung ihrer durchgeführten qualitativen Interviews, die nicht der Frage »Warum sprechen die Betroffenen nicht über das, was ihnen zugestoßen ist?«341, sondern der Frage nachgehen »›Was wollen die InterviewpartnerInnen aufrechterhalten, indem sie schweigen?‹«342, zeigt auf, dass das Schweigen von Opfern sexualisierter Gewalt insbesondere von dem Bedürfnis geleitet ist, »ungewollte oder unabsehbare Konsequenzen bzw. Gefährdungen für sich selbst oder andere zu vermeiden«343. Das Schweigen kann dabei sowohl das »Ergebnis eines Abwägungsprozesses [… als auch] eine intuitive Reaktion der Betroffenen [sein]«344. Zu den konkreten Motiven, über sexualisierte Gewalterfahrungen zu schweigen, zählt neben dem Wunsch des Aufrechterhaltens des Familienverbandes auch der Schutz vor »angedrohten oder befürchteten Gefahren, […] absehbaren oder befürchteten emotionalen Belastungen bzw. Stigmatisierung. Eine Offenbarung wurde als Risiko gesehen […].«345 Es liegt nahe, dass sich die genannten Schweigemotive, insbesondere die Einstellung, dass das Schweigen über verstörende, mithin traumatische Erfahrungen »eine Option [ist], für die sich viele entscheiden, weil sie als subjektiv bessere, sinnvollere Wahl erscheint«346, nicht auf Traumatisierte im Kontext von sexueller Gewalt beschränken, sondern sich auf strukturell ähnliche Kontexte (u. a. Opfer von Folter, Misshandlung, Demütigung) übertragen lassen. Auffällig ist, dass das Bedürfnis, durch Schweigen zu schützen, nicht allein die Betroffenen (intrapersonelle Ebene), sondern auch Personen in ihrem sozialen Umfeld (interpersonelle Ebene) einschließt. Der Psychoanalytiker Gurt Grünberg weist hinsichtlich des Schweigens über die Erfahrung des Holocaust in Familien von jüdischen Überlebenden auf den basalen Umstand hin, dass »Überlebende, die ihren Kindern nicht ›alles‹ erzählen, […] ihnen nicht notwendigerweise etwas vor[enthalten], sie produzieren durch ihr Schweigen keine Unwahrheit. Sie versuchen vielmehr, sich und gleichermaßen die anderen zu schützen«347. Die Psychotherapeutin Yael Danieli beobachtet ein spezifisches Kommunikationsmuster, die conspiracy of silence, das sich nach dem Ende des 340 Kavemann/Rothkegel, Trauma Sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. 2014, S. 202– 213; die Autorinnen verstehen unter dem Begriff Offenbarung einen interaktiven Prozess zwischen den Betroffenen, ihren Bezugspersonen und ihrem Umfeld (u. a. Behörden, der öffentliche Diskurs), der die Betroffenen entweder ausgrenzt oder eine Normalität definiert, die Raum für Integration und Anerkennung des Gewalterlebens bietet. Vgl. ebd., S. 204f. 341 Ebd., S. 204. 342 Ebd. 343 Ebd., S. 207. 344 Ebd., S. 206. 345 Ebd., S. 207. 346 Ebd., S. 204. 347 Grünberg, Schweigen und Ver-Schweigen. 1997, S. 12.

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Krieges vielfach zwischen Holocaust-Überlebenden und Mitgliedern der (amerikanischen) Gesellschaft sowie in der Interaktion der Überlebenden mit ihren Nachfahren in Bezug auf die traumatischen Erfahrungen etabliert:348 [A]ll of my interviewees [in the late 1960s] without exception asserted that no one, including mental health professionals, listened to them or believed them when they attempted to share their Holocaust experiences and their related, continuing suffering. […] Many thus bitterly opted for silence about the Holocaust and its aftermath. […] survivors’ war accounts were too horrifying for most people to listen to or believe. Their stories were therefore easy to ignore or deny. Even people who were consciously and compassionately interested played down their interest, partly rationalizing their avoidance with the belief that their questions would inflict further hurt.349

Bezüglich der Folgen des Fehlens einer signalisierten Bereitschaft zum Zuhören resümiert Danieli: »The reactions of society at large to survivors have a significant negative effect on their posttrauma adaption and their ability to integrate their traumatic experiences […] by intensifying their already profound sense of isolation, loneliness, and mistrust of society.«350 Vielerorts festigt die conspiracy of silence die Auffassung von Überlebenden, dass »›nobody could really understand‹ unless they had gone through the same experiences«351. Auch im intergenerationellen Dialog zwischen Überlebenden und ihren Nachkommen kann sich die nonverbale Abmachung, die traumatischen Erfahrungen der Eltern unausgesprochen und abgetrennt vom Alltag zu halten, fortsetzen.352 Einerseits basiert der Pakt des Schweigens auf dem elterlichen Wunsch, das Geschehene zu vergessen und der Überzeugung, dass das Zurückkalten von grausamen Holocaustdetails notwendig für eine normale Entwicklung des Kindes sei: »[The survivors] believed that silence would protect their children from pain and ensure that they become healthy, ›normal‹ Americans.«353 Neben der Ambition zu 348 Vgl. Danieli, Introduction. 1998, S. 4–6; vgl. Dies.: Psychotherapists’ Participation in the Conspiracy of Silence About the Holocaust. 1984, S. 23–42. 349 Danieli, Introduction. 1998, S. 4; Yael Danieli benennt weitere Faktoren, die das gesellschaftliche Nicht-Nachfragen beeinflussen: »[B]ystanders’ guilt for having knowingly neglected to do anything to prevent Nazi atrocities or for having been spared for their fate by living outside of Europe at the time led many to regard the survivors as pointing accusing fingers at them. Reactions such as, ›That is the past. Let bygones. … Be grateful and happy for getting to America. … Look at the positive side of things‹, ensured the survivors’ silence about the Holocaust. Survivors were also faced with the pervasively held myth that they had actively or passively participated in their own destiny by ›going like sheep to the slaughter‹ and with suspicion that they had performed immoral acts in order to survive.« Danieli, Yael: Families of Survivors of the Nazi Holocaust. Some Short- and Long-Term Effects. The Series in Clinical and Community Psychology: Stress and Anxiety 8, 1982, S. 405–421, hier: S. 407. 350 Ebd. 351 Ebd. 352 Vgl. ebd., S. 405–421. 353 Ebd., S. 408.

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schützen weist die Sozialpsychologin Angela Moré auch auf das Schamgefühl als Schweigemotiv der Eltern hin: Die Kinder sollten mit dem Erlittenen, dem Grauenvollen, dem unsäglich Zerstörenden nicht in Berührung kommen, sollten […] nichts von den Demütigungen und Zerstörungsprozessen, die den Eltern widerfahren waren, erfahren. Die eigene Ohnmacht und Entwürdigung der Verfolgten zerstörte nicht nur das Vertrauen in die Menschlichkeit, sondern erzeugte neben den traumatischen Folgen auch tiefe Scham, die die Überlebenden vor ihren Kindern zu verbergen suchten.354

Andererseits wird die conspiracy of silence durch die sensitive Wahrnehmung der Vulnerabilität der Eltern durch die Nachkommen und deren Orientierung zur Meidung von Konflikten und Belastungen der Eltern gefestigt.355 Langfristig resultieren laut Danieli »denial and avoidance […] in a false family atmosphere in which ›everything was all right‹. But the children grew up in painful bewiderment: they did not understand the inexplicable torment within the family or their own sense of guilt«356. Die Psychologen Hadas Wiseman, Einat Metzl und Jacques Barber beobachten, dass die emotionale Beziehung zwischen Überlebenden und ihren Kindern oftmals durch eine mutual overprotection357 geprägt ist, ein Verhaltensmuster, in which the parents’ tendency to overprotect their children was met with the children’s tendency to be overprotective of their parents. […] Such behaviors were perceived as stemming from a good, caring intension on the parents’ part, in response to which the HSO [Holocaust Survivors Offspring] appeared to feel obligated to their parents’ special care for them, even when it became a burdon. […] the parents’ overprotection […] appeared to lead to frustration, which in order to protect the parents was not expressed.358

Sie weisen auf die Einschränkung des vermeintlichen Schutzes hin, der mittels Schweigen gewährt werden soll, denn trotz reciproval overprotectiveness ist es für Nachkommen im alltäglichen familialen Miteinander »impossible always to anticipate situations that could potentially touch on the parent’s traumas. This seems to be particularly the case when parents’ trauma was not talked about openly and there was silence about the survivors’ traumatic experiences«359. Das 354 Moré, Angela: Schweigen und Verschweigen. Kommunikationstabus und ihre Folgen im intergenerativen Dialog. In: Färber, Klemens/Alder, Stephan (Hrsg.): Das Geheimnis in der Psychotherapie. Gießen 2018: Psychosozial-Verlag, S. 153–172, hier: S. 155. 355 Vgl. ebd. 356 Danieli, Families of Survivors of the Nazi Holocaust. 1982, S. 408. 357 Wiseman/Metzl/Barber, Anger, Guilt, and Intergenerational Communication of Trauma in the Interpersonal Narratives of Second Generation Holocaust Survivors. 2006, S. 176–184, hier: S. 182. 358 Ebd. 359 Ebd., S. 180.

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teilweise jahrzehntelang andauernde kommunikative wie emotionale Verschließen der traumatisierten Eltern und das ausbleibende Nachfragen durch die nachfolgende Generation beschreibt der Psychologe und Holocaust-Forscher Dan Bar-On anschaulich im Bild der doppelten Mauer360, die nur in seltenen Fällen von beiden Seiten gemeinsam durchbrochen wird (vgl. vertiefend Kapitel 6.1). Mit der Kommunikationsstörung geht vielfach einher, dass die Nachgeborenen die wahrgenommene Lückenhaftigkeit ihrer Familiengeschichte mittels Vorstellungskraft zu ergänzen suchen, wodurch das Familiengeheimnis umso stärker im Bereich des Unheimlichen und der Mystifizierung verankert wird.361 In diesem Zusammenhang klassifizieren die Trauma-Forscher Michelle Ancharoff, James Munroe und Lisa Fisher das Mitteilen bloß einzelner Facetten der traumatischen Erfahrungen als underdisclosure, eine Variante des Schweigens, die einen von verschiedenen Mechanismen der transgenerationellen Transmission darstellt.362 Sie weisen auf die Problematik hin, die mit der imaginierten Vollendigung der nicht erzählten Verfolgungsgeschichte der Eltern durch die Kinder aufkommt: When only partial details of the parent’s trauma are known, children may struggle to complete the story and gain closure. In an effort to know and feel closer to their parents, children may fantasize or imagine the trauma their parents experienced, which can be as horrifying, or more horrifying than accurate information.363

Ebenso kommt die Soziologin Gabriele Rosenthal in der Auswertung der von ihr durchgeführten qualitativen empirischen Fallstudien zum Dialog über die Vergangenheit von Familien in der Nazi-Zeit zu dem Schluss, dass das Schweigen, die damit verbundenen Familiengeheimnisse und die Familienmythen sowohl in Familien von Verfolgten als auch in denen von MitläuferInen und TäterInnen zu den wirksamsten Mechanismen beim Fortwirken problematischer Familienvergangenheiten gehören.364

360 Vgl. Bar-On, Furcht und Hoffnung. 1997, S. 33. 361 Vgl. Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterscheide im familialen Dialog über den Holocaust. 1999, S. 22f.; vgl. Klütsch, Verena/Reich, Günter: Die mehrgenerationelle Weitergabe von Traumatisierungen – empirische und familiendynamische Perspektiven. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 61, 2012, H. 8, S. 564–583, hier: S. 572f. 362 Vgl. Ancharoff, Michelle/Munroe, James/Fisher, Lisa: The legacy of Combat Trauma. Clinical Implications of Intergenerational Transmission. In: Danieli, International Handbook of Multigenerational Legacies of Trauma. 1998, S. 263. 363 Ebd. 364 Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im familialen Dialog über den Holocaust. 1999, S. 22; vgl. zum Nicht Erzählen, das »u. E. die stärkste intergenerationelle Wirkung« der verschiedenen Transmissionsmodi hat bereits die Studie von Bar-On/Gilad, Auswirkungen des Holocaust auf drei Generationen. 1992, S. 20.

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Im Sinne eines Mediums der unbewussten Weitergabe der traumatischen Erfahrungen an nachfolgende Generationen kann sich das Schweigen von Traumatisierten mithin in einem negativen Effekten perpetuieren, der die intendierte positive Zielsetzung des Selbst- und Fremdschutzes konterkariert. Die skizzierten Forschungsergebnisse lassen erkennen, dass das Schweigen in Folge von traumatischem Erleben ähnlich der Gedanken- und Gefühls, der Aktivitäts- und Situationsvermeidung oder der Vermeidung symbolisierender Auslöser bzw. Schlüsselreize aus dem Bedürfnis des Selbst- und Fremdschutzes der Betroffenen resultiert.365 Es hängt dies damit zusammen, dass das Verhüllen von überwältigenden Erfahrungen in Schweigen deren Bewertung und Einordnung in die eigene Lebensgeschichte vage lässt, wie Irene Levin herausstellt: [S]ilence connected to extraordinary events […] keeps the situation ambiguous which might be felt as easier to relate to and less definite. The individual person might […] think that it is more comfortable not to talk about the event and keep it silent, than to openly interact with the past.366

Das Erinnern von traumatischen Erfahrungen stellt Betroffene vor die Herausforderung, sich erneut jenen extrem schmerzhaftem Gefühlen auszusetzen, die die Ereignisse begleitet haben – Rachel Rosenblum beschreibt diese Herausforderung als »double danger to which direct testimony seems to expose the speaker: the return of guilt, and the reactivation of a persistent, piercing, intractable shame«367 –, was eine emotionale Bereitschaft zur kommunikativen Öffnung voraussetzt. Anders als das Schweigen erfordert das Zur-SpracheBringen über die kohärente narrative Verkettung hinaus eine Anerkennung der Erfahrungen – etwa die schmerzhafte Selbstpositionierung als Opfer von ethnisch-religiöser Verfolgung oder sexualisierter Gewalt. Unumkehrbar erfolgt im Erzählprozess auch eine Bewertung der zurückliegenden Erfahrungen: The moment silence ceases to exist the experience will gain a certain meaning. When we make the unspeakable visible or talked about, it becomes a social reality and one can interact with it. […] Ending silence with words makes the situation final. Once the experience is narrated and labelled, the situation becomes irreversible. And for some, this is impossible to live with.368

Auch aus diesem Grund ist es Traumatisierten oftmals nicht bzw. kaum möglich, sich auf die Narration ihrer traumatischen Erfahrungen einzulassen. Ohne eine Versprachlichung, ein interpersonales Mitteilen bleibt die integrative Bearbei365 Vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 333. 366 Levin, Irene: The Social Phenomenon of Silence. In: Dies./Seeberg, Marie/Lenz, Claudia (Hrsg.): The Holocaust as Active Memory. The Past in the Present. London 2016: Routledge, S. 187–198, hier: S. 196. 367 Rosenblum, Distancing Emotion. 2011, S. 142. 368 Levin, The Social Phenomenon of Silence. 2016, S. 193f.

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tung der belastenden Erfahrungen in die Lebensgeschichte und ihre mögliche Neubewertung jedoch aus: »By keeping the past event silenced, one segments a certain understanding of the past and prevents it from being seen differently as time goes on. […] the reinterpretation of the past becomes limited.«369 Zwar korreliert die schützende Funktion des Schweigens mit dem Wunsch nach dem Vergessen der belastenden Vergangenheit. Gleichwohl weisen die skizzierten Studien darauf hin, dass Schweigen als Strategie bzw. Technik des Vergessens370 langfristig, sofern keine (psychotherapeutische) Aufarbeitung des traumatischen Erlebens erfolgt, problematisch ist: Wie beim Zudecken wird beim Schweigen ein belastendes Ereignis nicht [aus dem Gedächtnis] gelöscht, sondern nur aus der Kommunikation verbannt. […] Wenn das Schweigen […] aufgrund von Tabus und Traumata erzeugt wird, kann es sich [entgegen der eigentlichen Absicht des Sich-Entledigens] zu einer unbewussten und unkontrollierten Form der Bewahrung und Weitergabe entwickeln.371

So lässt sich das Schweigen in Folge des Erlebens traumatischer Erfahrungen aus psychoanalytischer wie soziologischer Perspektive in einem ersten Schritt als ein Vermeidungssymptom bestimmen, das auf die Abwehr des Erinnerungs- und Erzählprozesses zielt.372 Das Schweigemotiv des Selbst- und Fremdschutzes lässt 369 Ebd., S. 195. 370 Aleida Assmann bestimmt das Schweigen als eine von verschiedenen Techniken des Vergessen, zu dem sie auch Handlungen bzw. Verfahren wie das Löschen, Zudecken, Verbergen, Überschreiben, Ignorieren, Neutralisieren, Leugnen und Verlieren zählt. Assmann, Aleida: Formen des Vergessens. Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge 9. 3 Aufl. Göttingen 2017: Wallstein, S. 20–26, hier: S. 22f. 371 Ebd. 372 Zum Schweigen in der Psychotherapie konstatiert Joost Meerloo 1952: »The strategy of silence and silent denial is a well-known defense mechanism.« Meerloo, Jost: Free Association, Silence, and the Multiple Function of Speech. The Psychiatric Quarterly 26, 1952, H. 1, S. 21–32, hier S. 25; in der Interpretationsgeschichte des Schweigens in der Psychotherapie wird das Schweigen von Patienten bis in die 1940er Jahre als Widerstand konzeptualisiert – im Sinne eines Phänomens, das »die Fortsetzung der Arbeit stört«. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke 2/3. Die Traumdeutung. Über den Traum. Frankfurt/M. 1999: Fischer, S. 521 – vgl. Wepfer, Res: Schweigen in der Psychotherapie. Zum Umgang der Psychoanalyse mit dem Widerspenstigen. Reihe Klinische Psycholinguistik. Zugl. Zürich Univ. Diss. 1998. Frankfurt/M. 1998: VAS, S. 9–80, hier: S. 11, 38; Res Wepfer erläutert die von Freud vertretene Haltung zum Schweigen: »[Die] Assoziationen des Klienten und deren Mitteilung zählen zu jener Zeit zum wichtigsten Arbeitsmaterial der psychoanalytischen Behandlung. Das Schweigen behindert diesen Mitteilungsfluss und lässt damit den therapeutischen Prozess scheinbar stillstehen.« Ebd., S. 11; Res Wepfer formuliert zugespitzt: »Schweigen ist unter dieser Perspektive immer ein Verschweigen.« Ebd., S. 38; Res Wepfer konstatiert, dass sich in »Arbeiten zu frühen Störungen und Schweigen […] die Idee [verbreitete], dass die Widerstandsthese allein […] nicht mehr ausreicht […, da es] v. a. strukturelle Defizite [sind], die das Schweigen bedingen.« Ebd., S. 54; sukzessive verbreiten sich Einflüsse, die »das Schweigen in der Psychoanalyse von etwas ›Fehlerhaftem‹, das es zu beheben gilt, zu etwas Aussagekräftigem, das es zu analysieren gilt, machen. [… diese]

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sich neben den aufgerufenen Kontexten auch mit den anderen im Untersuchungskorpus verhandelten verstörenden, mithin traumatischen Erfahrungen assoziieren. Inwiefern das Schweigen dabei dem übergeordneten Ziel dient, »ein bestehendes System aufrechtzuerhalten, das durch eine Offenbarung […] gefährdet würde [… wobei] Sprechen […] als Systembruch zu sehen [ist]«373, ist im Rahmen der Analyse im Einzelfall zu prüfen. Es ist zu ergänzen, dass neben dem Schutzbedürfnis auch Erinnerungsblockaden bzw. Phasen des Vergessens374 das Schweigen infolge traumatischen Erlebens bedingen: Durch zeitweises oder komplettes Vergessen (Amnesie) sind den Betroffenen die verstörenden Ereignisse nicht in Gänze zugänglich, wodurch sie unverstanden bleiben bzw. nicht in die Lebensgeschichte integriert werden können.375 Der spezifische Zusammenhang von Trauma, autobiographischem Gedächtnis und Narration wird daher folgend näher betrachtet.

2.2.3 Das autobiographische Gedächtnis und seine Funktionsweise Dass das Schweigen in Folge des Erlebens von traumatischen Ereignissen nicht allein ein Vermeidungs- bzw. Schutzverhalten ist, belegen Studien aus der Psychologie und Psychotherapie, der experimentellen Gehirnforschung (Neurobiologie) und der Sprachwissenschaft.376 Das interdisziplinäre Forschungsinteresse am Konnex von traumatischer Erfahrung und Narration resultiert aus der Beobachtung, dass »[t]raumatisierte Menschen […] nicht über ihre Erfahrungen sprechen [können]. Sie haben enorme Schwierigkeiten, sich auf den narrativen Prozess einzulassen«377. Doch worin begründet sich die Sprachlosigkeit in Bezug

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Ansätze […] zielen […] auf eine Integration des Schweigens in den psychotherapeutischen Prozess.« Ebd.; entsprechend »definiert die [spätere] integrative Epoche [der Schweigeforschung] das Schweigen als kommunikative Leistung. Wenngleich auch in dieser Epoche Schweigen mit Widerständen in Zusammenhang gebracht wurde, so dominiert doch die Meinung, solche Widerstände seien dem therapeutischen Verlauf durchaus nutzbar zu machen und böten eine wichtige Möglichkeit zu intensiver Auseinandersetzung.« Ebd., S. 54f.; das »Schweigen wurde [… mithin] als Ausdruck des neurotischen Konflikts gesehen, und Ausdruck wird mit Kommunikation gleichgesetzt.« Ebd., S. 57. Kavemann/Rothkegel, Trauma Sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. 2014, S. 204. Vgl. ebd., S. 205. Vgl. ebd.; vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328. Vgl. ebd., S. 333; vgl. Rauch u. a., A Symptom Provocation Study of Posttraumatic Stress Disorder. 1996, S. 380–387; vgl. Scheidt/Lucius-Hoene/Stukenbrock/Waller, Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. 2015; vgl. Boothe, Das Narrativ. 2011; vgl. Deppermann, Arnulf/Lucius-Hoene, Gabriele: Trauma erzählen. Kommunikative, sprachliche und stimmliche Verfahren der Darstellung traumatischer Ereignisse. Psychotherapie und Sozialwissenschaft 7, 2005, H. 1, S. 35–73. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328.

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auf das Erlebte? Es ist eine durch die traumatische Erfahrung ausgelöste Störung des autobiographischen Gedächtnisses, die die Unfähigkeit zur Narration erklärt.378 Zum Nachvollzug jener Prozesse, die während bzw. nach dem Erleben eines Traumas im Gehirn ablaufen und zur Einschränkung der Fähigkeit zur Narration führen, werden der Aufbau des autobiographischen Gedächtnisses und seine (un-)gestörte Funktionsweise skizziert. So spielt im Kontext des Erinnerns von traumatischen Lebensereignissen, die in ihrer Sperrigkeit kaum oder gar nicht zu verarbeiten sind und an die die Betroffenen durch wiederkehrende belastende Erinnerungen mithin über ihre gesamte Lebensspanne ungewollt gebunden bleiben, das Langzeitgedächtnis ein Rolle, das Informationen über Jahrzehnte hinweg speichern kann.379 Nach Endel Tulvings Konzept multipler Gedächtnissysteme umfasst das menschliche Langzeitgedächtnis fünf Subsysteme, die zum Teil auf der unbewussten Ebene (implizites Gedächtnis), zum Teil auf der bewussten Ebene operieren (explizites Gedächtnis), wobei das episodischautobiographische Gedächtnis das komplexeste System darstellt.380 Es ist wahrscheinlich nur beim Menschen anzutreffen und etabliert sich etwa im Alter von vier Jahren.381 Das episodisch-autobiographische Gedächtnis ermöglicht ein bewusstes Erinnern von Ereignissen, die einen Selbstbezug aufweisen bzw. mit dem Eindruck der Selbsterfahrung einhergehen, kontextabhängig sind, das heißt sowohl räumlich als auch zeitlich in die eigene Lebensgeschichte situiert werden

378 Vgl. ebd., S. 327–333. 379 Vgl. Piefke/Markowitsch, Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis. 2010, S. 11; vgl. Staniloiu/Kordon/Makowitsch, Erinnerung und Erinnerungsblockaden. 2019, S. 30f. 380 Tulving differenziert fünf Subsysteme, die phylogenetisch und ontogenetisch aufeinander aufbauen: das prozedurale Gedächtnis, das Priming-Gedächtnissystem, das perzeptuelle Gedächtnis, das Wissenssystem und das episodisch-autobiographische Gedächtnis. Vgl. Tulving, Endel: Episodic Memory and Autonoesis. Uniquely Human? In: Terrace, Herbert/ Metcalfe, Janet (Hrsg.): The Missing Link in Cognition. Origins of Self-reflective Consciousness. New York 2005: Oxford University Press, S. 3–56; vgl. Markowitsch/Piefke, Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis. 2010, S. 12. 381 Vgl. Tulving, Episodic Memory and Autonoesis. 2005, S. 5; »Human beings possess a form of memory (episodic memory) and a form of consciousness (autonoetic consciousness, or ›autonoesis‹) that no other animals do. Thus, the thesis is that these two aspects of the mind are unique in humans, in the sense that the mental capacities that define them do not exist in quite the same full-fledged form in other species.« Ebd., vgl. ebd., S. 34; vgl. zur Bedeutung des Spracherwerbs, zu narrativen Fähigkeiten, zur Ausbildung von Zeitvorstellungen, emotionalen wie mentalen Konzepten und zum Selbstkonzept als Einflussfaktoren der Entwicklung des autobiographisches Gedächtnisses Nelson, Katherine: Über Erinnerungen reden. Ein soziokultureller Zugang zur Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses. In: Welzer, Harald/Markowitsch, Hans (Hrsg.): Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Stuttgart 2006: Klett Cotta, S. 78– 94; vgl. Nelson, Katherine/Fivush, Robyn: The Emergence of Autobiographical Memory: A Social Cultural Development Theory. Psychological Review 111, 2004, H. 2, S. 486–511.

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können und darüber hinaus emotional gefärbt sind.382 Tulving beschreibt die Funktionsweise des autobiographischen Gedächtnisses sinnbildlich als eine mentale Zeitreise bzw. »mental time travel (imagining oneself at different times) […] not only into the past but, more important, into the future«383: »Mental time travel takes the form of remembering personally experienced and thought-about events, occasions, and situations that occurred in the past, together with imagining (preexperiencing) personal happenings in the subjectively felt future.«384 Die Selbstreferenzielle Perspektive erhält das episodisch-autobiographische Gedächtnis durch die Verknüpfung mit einem autonoetischen Bewusstsein (›auto‹– selbst, ›noetisch‹–bewusst), das es von den anderen Gedächtnissystemen unterscheidet.385 Es arbeitet rekonstruktiv, da es die zurückliegenden persönlichen Erlebnisse stets ausgehend von der Gegenwart neu perspektiviert.386 Weil sowohl die Einspeicherung als auch der Abruf episodisch-autobiographischer Erinnerungen von den in der Gegenwart vorherrschenden Stimmungen und Emotionen beeinflusst wird, ist es nicht statisch, sondern dynamisch bzw. zustandsabhängig.387 Dabei gelingt das Erinnern am besten, wenn die Stimmungen bei Einspeicherung und Abruf übereinstimmen – dies gilt auch für das ungewollte Erinnern traumatischer Erfahrungen in Form von Intrusionen oder Flashbacks.388 Um eine Einordnung vergangener Ereignisse in die eigene Lebensgeschichte sowie ihre Evaluation zu leisten, muss das episodisch-autobiographische Gedächtnis sowohl deklarative/explizite Gedächtnisanteile, mithin Kontextinformationen über Orte, Zeiten und Ereignisabläufe (auch kaltes Gedächtnis genannt) als auch non-deklarative/sensorisch-perzeptuelle Ereignisdetails (Geräusche, Gefühle, Bilder und Gerüche), mithin emotionale Dispositionen (auch heißes Gedächtnis genannt) verarbeiten.389 Dies geschieht in unterschiedlichen Gehirnarealen auf synchrone Weise, sodass das autobiographische Gedächtnis aufgrund seiner komplexen Arbeitsweise besonders anfällig gegenüber Störungen ist – sei es aufgrund von physiologischen Hirnschäden oder psychischen 382 383 384 385 386 387 388 389

Vgl. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 75. Tulving, Episodic Memory and Autonoesis. 2005, S. 7, 22. Ebd., S. 47. Vgl. Piefke/Markowitsch, Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis. 2010, S. 16f.; vgl. Tulving, Episodic Memory and Autonoesis. 2005, S. 5, 8ff. Vgl. Piefke/Markowitsch, Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis. 2010, S. 17. Vgl. Staniloiu/Kordon/Makowitsch, Erinnerung und Erinnerungsblockaden. 2019, S. 36. Vgl. ebd.; vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie. 2013, S. 18. Vgl. Brewin, Chris: A Cognitive Neuroscience Account of Posttraumatic Stress Disorder and its Treatment. Behaviour Research and Therapy 39, 2001, H. 4, S. 373–393; Metcalfe, Janet/ Jacobs, William: A ›Hot-System/Cool-System‹ View of Memory Under Stress. PTSD Research Quarterly 7, 1996, H. 2, S. 1–3; vgl. zur Illustration der Arbeitsweise des heißen Gedächtnisses die schematische Darstellung von Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 330–334.

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Erkrankungen.390 Hinsichtlich der Unfähigkeit zur Narration traumatischer Ereignisse ist dies von besonderer Bedeutung.

2.2.4 Schweigen als Ausdruck der Störung des autobiographischen Gedächtnisses Wie neurowissenschaftliche Studien belegen, wird die Gedächtnisleistung in erheblichem Maße von Stress beeinflusst – sowohl in Hinblick auf die Wahrnehmung von Informationen als auch in Hinblick auf die Quantität und Qualität der Merkfähigkeit.391 Kurzfristiger Stress kann unter bestimmten Bedingungen eine positive, fördernde Wirkung auf das Erinnerungsvermögen haben, da »Stress unsere Aufmerksamkeit bündelt und wir bestimmte wichtige, für die spezielle Lage relevante Details besser behalten.«392 Es ist dies der Grund, warum wichtige Lebensereignisse, »die emotional erlebt werden und verbunden sind mit wesentlichen menschlichen Zielen, entweder großen Erfolgen oder Misserfolgen, […] über viele Jahre mit großer Genauigkeit erinnert werden [können]«393. Dies ist auf eine erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen, insbesondere von Glucocorticoiden, zurückführen, die die Reizweiterleitung in den Hirnbereichen der hippocampalen Formation und der Amygdala verstärken.394 Im Unterschied dazu wirken sich Dauerstress (eine anhaltend hohe Konzentration von Glucocorticoiden führt zu einer unwiederbringlichen Schädigung und zum Absterben von Nervenzellen der hippocampalen Formation) sowie extreme Stresssituationen negativ auf die Erinnerungsleistung aus.395 So kann traumatischer Stress zu einer zeitweisen, mithin dauerhaften Beeinträchtigung der Funktionsweise des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses führen.396 Vermutlich ist für den Gedächtnisverlust auch in diesem Falle eine kurzfristig extrem hohe Ausschüttung von Stresshormonen im Hippocampus verantwortlich, wobei individuell verschieden ist, ob bzw. in welchem Umfang sich eine Erinnerungsblockade einstellt.397 Der durch eine traumatische Situation ausgelöste »Verlust der bewussten Abrufbarkeit biographischer Erinnerungen […], der auch mit einer

390 Vgl. Staniloiu/Kordon/Makowitsch, Erinnerung und Erinnerungsblockaden. 2019, S. 33. 391 Vgl. Kühnel, Sina/Markowitsch, Hans: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses. Heidelberg 2009: Spektrum Akademischer Verlag, S. 181. 392 Ebd., S. 183. 393 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328. 394 Vgl. Kühnel/Markowitsch, Falsche Erinnerungen. 2009, S. 181f. 395 Vgl. ebd., S. 183f. 396 Vgl. Piefke/Markowitsch, Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis. 2010, S. 20. 397 Vgl. Kühnel/Markowitsch, Falsche Erinnerungen. 2009, S. 185f.

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fehlenden oder veränderten Identität einhergeht«398, wird als dissoziative Amnesie bezeichnet.399 Der Begriff Dissoziation fasst die »teilweise oder völlige Desintegration psychischer Funktionen, wie der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung des Selbst und der Umgebung und der unmittelbaren Empfindungen«400. Die Störung des Bewusstseins weist unterschiedliche Formen auf,401 im Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen bezeichnet die dissoziative Amnesie einen Erinnerungsverlust bzw. »das Auseinanderlaufen und damit […] den Zusammenbruch des episodischautobiographischen Gedächtnisses, das ja per definitionem eine synchrone Aktivierung von Hirnregionen, die emotionale und faktenbezogene Anteile koordinieren, verlangt«.402 Da diese Art der psychogenen, das heißt nicht durch eine organische Schädigung des Gehirns ausgelöste Amnesie reversibel ist, schlägt Markowitsch die Bezeichnung mnestisches Blockadesyndrom vor.403 Das geschilderte psychopathologische Phänomen stellt sich bei traumatischen Ereignissen ein, die eine massive Bedrohung404 für die Betroffenen darstellen und den menschlichen Körper »innerhalb von Sekunden in einem Zusammenspiel von Nervensystem und Hormonen […] in Alarmbereitschaft [versetzen]«405. In höchstem Erregungsniveau werden Emotionen wie Schrecken und Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit aktiviert, die zusammen mit den sensorisch-perzeptuellen Ereignisdetails (sensorische, kognitive, emotionale und physiologische Elemente) besonders intensiv im heißen Gedächtnis, das als assoziatives Netzwerks angelegt ist, in Form von Bildern, Geräuschen, verbunden mit Gefühlen und Gedanken406 abgespeichert werden.407 Dagegen misslingt jedoch »die zeitliche und räumliche Verankerung dieses Erlebnisses [… im kalten Gedächtnis]. Auch die chronologische Abfolge einzelner Momente des Erlebnisses ist nicht verfügbar«408. Da das kalte Gedächtnis »(verbal zugreifbare, kontextuelle Repräsentation) […] die Voraussetzung dafür [bildet], Lebensereignisse in einer nachvollziehbaren Form erzählen und selbst verstehen zu können«409 im Falle des 398 Staniloiu/Kordon/Makowitsch, Erinnerung und Erinnerungsblockaden. 2019, S. 44. 399 Vgl. Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer Störungen. 2014, S. 214f.; vgl. Eckardt-Henn, Annegret: [Art.] Dissoziation. In: Mertens, Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. 2014, S. 188–193, hier: S. 188. 400 Ebd. 401 Vgl. ebd. 402 Staniloiu/Kordon/Makowitsch, Erinnerung und Erinnerungsblockaden. 2019, S. 43. 403 Vgl. ebd., S. 45; vgl. Markowitsch, Hans: Functional Retrograde Amnesia – Mnestic Block Syndrome. Cortex 38, 2002, H. 4, S. 651–654. 404 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 331. 405 Ebd. 406 Vgl. ebd., S. 333. 407 Vgl. ebd., S. 330–332. 408 Ebd., S. 333. 409 Ebd., S. 331.

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Erlebens traumatischer Ereignisse fehlt, bleibt die Kontextualisierung der Ereignisse aus, ein bewusster Zugriff ist kaum möglich. Die im heißen Gedächtnis nahezu eingebrannten sensorisch-perzeptuellen wie emotionalen Gedächtnisanteile können hingegen durch Schlüsselreize (u. a. Gerüche und Geräusche) noch Jahre später aktiviert werden, wobei ein Anstoßen des heißen Gedächtnisses mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Feuern der gesamten Struktur führt. Die ungewollte Aktivität dieses Netzwerks resultiert in dem intrusiven Wiedererleben der traumatischen Situation auf sensorischer, kognitiver, emotionaler und physiologischer Ebene, welches das Kernsymptom der PTBS darstellt.410

Aufgrund der fehlenden räumlichen wie zeitlichen Einordnung der Ereignisse stellt sich bei der Aktivierung des heißen Gedächtnisses bei den Betroffenen ein »Hier-und-Jetzt-Gefühl [ein]. Es entsteht also der Eindruck, als ob das Trauma gerade und im Moment erneut passieren würde«411. So wird auch davon gesprochen, dass eine »im klinischen Sinne traumatisierte Person […] noch nicht aus der traumatischen Szene herausgetreten [ist]; es hat, im wörtlichen Sinn keine Ex-Position stattgefunden. […] Eine räumliche Verortung und zeitliche ›Vergeschichtlichung‹ hat nicht stattgefunden«412. Die »exzessiven Erinnerungen [… bleiben für Betroffene] unverstanden und unkontrolliert«413, mithin »ein Fremdkörper, der nicht zum Bestandteil der eigenen Biografie werden kann«414. Es ist der Zusammenbruch des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses bzw. die fehlschlagende »Orchestrierung menschlicher Gedächtnissysteme«415 aus dem bzw. der die Unfähigkeit der Betroffenen resultiert, von den traumatischen Ereignisse zu erzählen.416 Insbesondere bei mehrfach Traumatisierten kann der Zusammenbruch der Funktionsweise des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses dazu führen, dass »ganze Lebenszeitperioden […] in der Sprachlosigkeit, im ›sprachlosen Terror‹, versinken und nur durch einzelne Bilder und Gefühle zugänglich sind. Die erhebliche Lücke in der Autobiografie bewirkt Brüche und Unsicherheiten in der eigenen Identität.«417 Rosenthal do410 Ebd., S. 332. 411 Ebd., S. 333; Ehlers und Clark stellen heraus: »[T]he reexperiencing symptoms are isolated memory fragments that are triggered by matching cues and that are experienced as if things were happening in the ›here and now‹ because they are not integrated which other autobiographical information.« Ehlers, Anke/Clark, David: A Cognitive Model of Posttraumatic Stress Disorder. Behavioral Research and Therapy 38, 2000, H. 4, S. 319–345, hier: S. 337. 412 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 329. 413 Neuner, Frank: Stabilisierung vor Konfrontation in der Traumatherapie – Grundregel oder Mythos? Verhaltenstherapie 18, 2008, H. 2, S. 109–118, hier: S. 110. 414 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 329. 415 Ebd. 416 Vgl. ebd., S. 329, 333. 417 Ebd., S. 333; vgl. Rosenthal, Gabriele: Traumatische Familienvergangenheiten. In: Dies., Der Holocaust im Leben von drei Generationen. 1999, S. 35–50, hier: S. 40.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

kumentiert in biographischen Interviews mit Holocaust-Überlebenden die Sprachlosigkeit und nachhaltige Zerstörung des Kontinuitätsgefühls der Betroffenen:418 Die erlebte Lebensgeschichte bietet sich diesen Menschen »zerrissen« und »fragmentiert« dar. Ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Lebensphasen – […] der Zeit vor der Verfolgung, der Verfolgungszeit und der Zeit nach dem Überlebthaben – kann nur schwer hergestellt werden.419

Hirnphysiologische Studien mit bildgebenden Verfahren wie die PositronenEmissionstomographie, die die Gehirnaktivität über den Stoffwechsel visualisieren, zeigen, dass bei schweren Traumata die Koordination der beiden Gehirnhemisphären atypisch verläuft.420 »Insbesondere das zumeist in der linken Hemisphäre gelegene motorische Sprachenzentrum bleibt inaktiv bei Personen, die experimentell mit ihrem persönlichen Traumabericht konfrontiert werden«421, erläutert der Psychotherapeut und Psychoanalytiker Gottfried Fischer: In der Unteraktivität bestimmter Hirnregionen scheint der Zustand von »speechless terror«, jenem sprachlosen »Horrorzustand«, von dem Traumaopfer immer wieder berichten, eine hirnphysiologische Entsprechung zu haben. In panischer Angst und ohne die Fähigkeit, zu sprachlichem Ausdruck werden traumatische Situationen zumeist in fragmentarischen Sinneseindrücken erinnert, die das Opfer zunächst in keinen bewussten Zusammenhang mit dem traumatischen Ereignis zu bringen vermag […].422

Da sich das Trauma in einer Störung der Verarbeitung von Informationen aus verschiedenen Gehirnareale manifestiert, wird es auch als »Informationstrauma, als Sprachverlust«423 bezeichnet. Das Schweigen infolge des Erlebens eines Traumas, »die Nichterzählbarkeit des traumatischen Erlebnisses ist entsprechend nicht allein die Folge eines Vermeidungs- und Schutzverhaltens, sondern Ausdruck des Fehlens einer narrativen Struktur, deren späterer Aufbau dann allerdings aufgrund von Vermeidung verhindert wird«424. Dies berücksichtigend lässt sich die in Kapitel 2.2.2 vorgenommene Klassifikation von Schweigen als Vermeidungssymptom um seine Bestimmung als Ausdruck einer psychogenen Gedächtnisstörung ergänzen. Es lässt sich festhalten, dass die »Sprachlosigkeit […] zentrales Merkmal des Traumas [ist], die Unfähigkeit, das Ereignis selbst zu verstehen und mitzutei418 Vgl. ebd., S. 39. 419 Ebd., S. 39f. 420 Vgl. Rauch u. a., A Symptom Provocation Study of Posttraumatic Stress Disorder. 1996, S. 380–387; vgl. Fischer, Einführung in die Theorie und Praxis der Traumatherapie. 2014, S. 42. 421 Vgl. ebd. 422 Ebd. 423 Ebd. 424 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 333.

Literaturwissenschaftliche Einordnung

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len«425. An diesem Punkt setzen narrative Therapieverfahren, insbesondere die Narrative Expositionstherapie (NET) an, die über die Rekonstruktion des autobiographischen Gedächtnisses auf eine Überwindung der Sprachlosigkeit und die Erarbeitung einer kohärenten Lebensgeschichte in Form einer flüssigen Narration abzielt.426 Für die Exposition spricht, dass das Schweigen den Betroffenen langfristig keine Erleichterung im Umgang mit den Erfahrungen bereitet, wie der klinische Psychologe und Psychotherapeut Frank Neuer berichtet: Meine Erfahrung mit schwer traumatisierten Patienten zeigt, dass fast alle Patienten zu Beginn der Behandlung ambivalent sind. Sie haben Angst vor der Erinnerung an schmerzhafte Ereignisse. Gleichzeitig sind sie sich bewusst, dass das jahrelange Schweigen ihnen nicht geholfen hat, ihr Erlebnis zu vergessen oder zu verarbeiten, und sie haben das Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen und ihre Erinnerungen mit einem Therapeuten zu besprechen.427

Innerhalb eines sicheren Gesprächsrahmens mit professionellen wie einfühlsamen Therapeuten können Traumatisierte schrittweise lernen, die Anteile ihres heißen und kalten Gedächtnisses wieder zusammenzubringen, die Ereignisse zeitlich und räumlich zu strukturieren und die damit verbundenen (Angst-) Gefühle allmählich zu habitualisieren.428 Dass die traumatischen Erfahrungen in die eigene Lebensgeschichte integriert und verstanden werden, ist wichtig, weil das autobiographische Gedächtnis eine zentrale Rolle für das Selbstkonzept spielt bzw. dafür, »sich selbst als eine über die Zeit beständige und eigenständige Person zu erleben«429. Menschen »brauchen [… ihre] Erinnerung, um [… sich] in der Gegenwart für die Zukunft zu orientieren und auszurichten.«430

2.3

Literaturwissenschaftliche Einordnung

Aus Perspektive der erzähltheoretischen Literaturwissenschaft wird der Frage nachgegangen, auf welche Weise die kommunikative Handlung Schweigen in einem literarischen Text erzählt werden kann bzw. welche konkreten Schweigekonfigurationen das Textkorpus umfasst. Unter Bezugnahme auf das Kommunikationsmodell narrativer Texte wird das Schweigen zunächst als Teil der literarischen Kommunikation bestimmt, auf den kommunikativen Ebenen des fiktionalen Erzähltexts lokalisiert und das breite Spektrum seiner (un-)mittel-

425 426 427 428 429 430

Ebd., S. 329. Vgl. ebd., S. 329f., 334. Neuner, Stabilisierung vor Konfrontation in der Traumatherapie. 2008, S. 116. Vgl. ebd., S. 329, 333f. Ebd., S. 328. Staniloiu/Kordon/Makowitsch, Erinnerung und Erinnerungsblockaden. 2019, S. 29.

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Interdisziplinäre Zugänge zum Schweigen

baren Präsentationsformen angedeutet. In Erweiterung des Blickwinkels wird unter Bezugnahme auf das Zweiebenenmodell erläutert, inwiefern das Schweigen zum Strukturelement des Erzähltexts avancieren kann. Dabei wird der für die Präsentation des Schweigens zentrale Konnex von Schweigen und Erzählinstanz ebenso fokussiert wie die Frage nach dem Einfluss, den das Schweigen auf die übrigen zentralen Bestandteile einer Geschichte nehmen kann. Die Überlegungen werden anhand von Auszügen aus dem Textkorpus illustriert.

2.3.1 Schweigen in der literarischen Kommunikation des Erzähltextes Analog zu Gérard Genettes prägnanter Formel »Wer spricht (mit wem)?«431, die auf den Erzählakt bzw. die Stimme des Erzählers abzielt, lässt sich mit Blick auf den Gegenstand der vorliegenden Arbeit fragen ›Wer schweigt (gegenüber wem)?‹. Einen Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage bietet das Kommunikationsmodell narrativer Texte432, das zum ersten graphisch visualisiert, »[d]aß in und durch Literatur kommuniziert wird, und, zum zweiten, daß diese Kommunikation auf verschiedenen Ebenen des Textes stattfindet«433. In seiner Basisversion bildet das Modell drei ineinander eingebettete434 Ebenen ab, wobei ein hierarchisches Subordinationsverhältnis zur jeweils höheren Ebene vorliegt, auf denen die an der Kommunikation des literarischen Texts beteiligten Sender und Empfänger verortet sind.435 Auf der gedanklich äußersten Ebene der realen Kommunikation (textextern) sind der reale Autor und der reale Leser lokalisiert. Darin ist die Ebene der erzählerischen Vermittlung (textintern, extradiegetisch) eingebettet, auf der sich ein fiktiver Erzähler an einen fiktiven Adressaten wen431 Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1994: Fink, S. 132. 432 Vgl. Wenzel, Peter: Zu den übergreifenden Modellen des Erzähltextes. In: Ders. (Hrsg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 6. Trier 2004: WVT, S. 5–22, hier: S. 6; vgl. Ders.: Ein Plädoyer für Modelle als Orientierungshilfen im Literaturunterricht. Literatur in Wissenschaft und Unterricht 30, 1997, H. 1, S. 51–71. 433 Meise, Une forte absence. 1996, S. 99. 434 Vgl. Nünning, Ansgar: [Art.] Einbettung, narrative. In: Ders.: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe. 5. Aufl. Stuttgart 2013: Metzler, S. 160. 435 Vgl. Nünning, Ansgar: [Art.] Kommunikationsmodell dramatischer, lyrischer und narrativer Texte. In: Ders., Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 2013, S. 388f.; mit elaborierteren, weitere Ebenen definierenden Modellversionen lässt sich die Struktur von komplexeren Erzählungen abbilden, in denen eine oder mehrere Binnenerzählungen in einer Rahmenerzählung verschachtelt sind oder es lassen sich weitere Instanzen wie der implizite Autor bzw. der implizite Leser ergänzen. Vgl. Wenzel, Zu den übergreifenden Modellen des Erzähltextes 2004, S. 10–14; zum Sender-Empfänger-Kommunikationsmodell vgl. Shannon, Claude/Weaver, Warren: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. München 1976: Oldenbourg, S. 16f.

Literaturwissenschaftliche Einordnung

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det. In diese Ebene ist die Ebene des Erzählten (textintern, diegetisch) integriert, auf der die in der Geschichte handelnden Figuren miteinander sprechen. Über diese drei Ebenen hinaus können weitere »Sprechsituationen beliebig tief ineinandergeschachtelt werden«436. Es ist ein Merkmal bzw. Strukturierungsprinzip literarischer Texte, »dass verschiedene Sprechsituationen auf hierarchisch überund untergeordneten Ebenen ineinander verschachtelt sein können«437. So illustriert das Modell das zentrale Gattungsmerkmal, durch das sich »die Kommunikationssituation in einem Roman oder einer Kurzgeschichte normalerweise von der in einem Drama unterscheidet, nämlich durch die sogenannte Mittelbarkeit (mediacy), d. h. durch das Vorhandensein eines vermittelnden Kommunikationssystems«438. Ausgehend von der jeweiligen Stellung des Erzählers zum Geschehen lassen sich verschiedene Typen des Erzählers unterscheiden, je nachdem, ob dieser »an der von ihm erzählten Geschichte als Figur beteiligt ist [(homodiegetisch) … oder] nicht zu den Figuren seiner Geschichte gehört [heterodiegetisch]«439. Anknüpfend an das Kommunikationsmodell narrativer Texte lässt sich das Schweigen bzw. die Frage ›Wer schweigt (gegenüber wem)?‹ textintern sowohl in der Kommunikation zwischen dem fiktiven Erzähler und dem fiktiven Leser, das heißt innerhalb der Erzählung (erste Ebene), als auch in der Figurenrede bzw. innerhalb der Geschichte (zweite Ebene), verorten. Es lässt sich darüber hinaus auch im Zusammenspiel der narrativen und diegetischen Ebenen lokalisieren, »die sich im Text abwechseln, komplettieren, aufeinander verweisen und insofern gewissermaßen miteinander ›im Dialog stehen‹«440, wie es Meise anschaulich in der Metapher der Musikkomposition beschreibt: Nun ist es nicht nur in der Musikpartitur häufig der Fall, daß eine Stimme aussetzt, ›pausiert‹, während die andere das Thema übernimmt und weiterführt. Auch im Text kann auf einer Kommunikationsebene geschwiegen werden, während die andere den Part fortsetzt; ja, die eine scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die andere zum Einsatz kommt: Indem etwa die zweite Kommunikationsebene durch szenische Darstellung vollständig konstituiert wird, tritt die erste ganz zu deren Gunsten im Text zurück, wenngleich dieses Verstummen nur ein scheinbares ist, denn: […] »feindre de montrer, c’est feindre de se taire«441.442 436 Kummer, Werner: Sprechsituation, Aussagesystem und die Erzählsituation des Romans. Ein Beitrag zu einer Theorie der Kommunikationsspiele. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 2, 1972, H. 5, S. 83–105, hier: S. 90; Nünning, Ansgar: [Art.] Sprechsituation. In: Ders. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 2013, S. 705f. 437 Ebd., S. 705; zur intra- und extradiegetischen Sprechsituation vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Aufl. München 2009: C.H. Beck, S. 84f. 438 Wenzel, Zu den übergreifenden Modellen des Erzähltextes. 2004, S. 7. 439 Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2009, S. 81. 440 Meise, Une forte absence. 1996, S. 106. 441 Genette, Gérard: Figures III. Collection Poétique. Paris 1972: Edition du Seuil, S. 187.

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Diese Überlegungen lassen sich am Beispiel der ineinander eingebetteten Sprechsituationen in Hans-Ulrich Treichels Roman »Tagesanbruch« (Kapitel 5.2) veranschaulichen. Dort wendet sich die fiktive Ich-Erzählerin in einer imaginären Kommunikationssituation an ihren soeben verstorbenen Sohn (extradiegetische Sprechsituation), dem sie in einer Art Zwiegespräch von einem Schweigen erzählt, das im Zusammenhang mit einem ihr beider Leben betreffenden verstörenden Vorfall (ihre mehrfache Vergewaltigung mit Folge einer Schwangerschaft zum Ende des Zweiten Weltkrieges) steht: »[A]lles […] von dem ich dir nie etwas erzählt habe […]. Was das war? Man muss nicht alles mit seinen Kindern bereden. Man muss […] schweigen können« (T 12). Sodann erfolgt ein Wechsel in die Vergangenheit (intradiegetische Sprechsituation), in der sie als Teil des Figurenensembles das Störmoment mitsamt seiner raumzeitlichen Umstände (auch mittels zitierter Rede) und ihr einsetzendes Schweigen wiedergibt. Dabei tritt die Ebene des Erzählten gegenüber der Ebene der erzählerischen Vermittlung in den Vordergrund, wobei das Schweigen der zu jener Zeit jungen Frau »eigens zum kommunikativen Ereignis (›événement‹) wird«443. Auf die narrative Ebene zurückkehrend, resümiert die Erzählinstanz gegen Ende des Romans: »Wir [ihr Ehemann und sie] spürten eine große Befangenheit […,] Schock […,] Todesangst […]. Wir haben […] nie darüber gesprochen. Weder damals noch später.« (T 71f.) Das Beispiel deutet an, dass unabhängig davon, ob das Schweigen Teil der Erzählerrede (erste Kommunikationsebene bzw. récit de paroles) oder Teil der Figurenrede (zweite Kommunikationsebene bzw. silence du récit) ist, »auf verschiedenste Weise dargestellt, beschrieben, ›imitiert‹ werden [kann].«444

2.3.2 Formen der Schweigewiedergabe Es ist im Sinne Genettes der »Grad an Mittelbarkeit oder […] an mimetischer Illusion im Rahmen der Erzählung«445, der verschiedene Formen der erzählerischen Vermittlung von Schweigen ermöglicht. Analog zur Wiedergabe von 442 Meise, Une forte absence. 1996, S. 107; Meise weist auf die Einschränkung der Analogie hin: »So kann allein die erste, übergeordnete Ebene Aufschluß über Existenz und Einsatz einer zweiten geben; diese hingegen kann gewissermaßen nie wirklich ›solistisch‹ auftreten, weil das Zurücktreten der ersten Kommunikationsebene lediglich ein ›feindre de se taire‹ bedeutet […]. Sie bleibt beim Einsatz der zweiten Kommunikationsebene eigentlich stets auch präsent (›elle reste là‹), wenngleich zeitweise nicht hörbar, – und erscheint daher zumindest in solchen Momenten eher als Oberton denn als unabhängige Oberstimme in der Partitur.« Ebd., S. 128. 443 Ebd., S. 107. 444 Ebd. 445 Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2009, S. 49.

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Worten lässt sich zwischen seiner bloßen Erwähnung durch den Erzähler ohne inhaltliche Spezifizierung (›erzähltes‹ Schweigen, narrativer Modus) und seiner szenischen Präsentation innerhalb der Figurenrede (›zitiertes‹ Schweigen, dramatischer Modus) unterscheiden. Eine Erwähnung des nonverbalen Akts der Erzählerin in Herta Müllers Roman »Herztier« (Kapitel 4.1) illustriert den ersten Fall: »Edgar bewegte den Kopf, als würde er mitreden. Aber er schwieg.« (H 252) Dominiert hier der narrative Modus, da Edgars Schweigen durch die Erzählerin lediglich berichtet wird, ist die erzählerische Distanz im folgenden Figurendialog, der in Form der transponierten bzw. indirekten Rede präsentiert wird (in die ein autonomer innerer Monolog eingeschoben ist), verringert: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, sagte Edgar, wenn wir reden, werden wir lächerlich. Wir saßen schon zu lange vor den Bildern auf dem Boden. Vom Sitzen waren meine Beine eingeschlafen. Mit den Wörtern im Mund zertreten wir so viel wie mit den Füßen im Gras. Aber auch mit dem Schweigen. Edgar schwieg. (H 7)

Die Gedankenrede der Erzählerin (dritte und vierte Zeile), die an Edgards Äußerung (erste und zweite Zeile) anschließt, markiert indirekt, dass die Erzählerin auf Edgars einleitende Äußerung mit Schweigen reagiert. Edgards Schweigen (letzte Zeile) lässt sich als eine Antwort auf die Präsentation der (Gedanken-) Rede der Erzählerin (fünfte und sechste Zeile) interpretieren, da sie wie ein Redebeitrag in einer neuen Zeile einsetzt und auf die in der (Gedanken-)Rede thematisierte Grenze des Sagbaren Bezug nimmt. Noch weiter reduziert sich die erste Kommunikationsebene bzw. rückt der dramatische Modus in den Vordergrund, sofern an dieser Stelle notiert wäre »(Schweigen)«, wobei sich die Klammern als Indikatoren einer vermittelnden Instanz auffassen lassen,446, sofern dort stünde »Schweigen« oder sofern graphische Markierungen wie »–« oder »…« folgten. Dieses Schweigen »wird nicht gezeigt, sondern erfahren«447, im Vordergrund steht mithin das »präsentische ›Erscheinen‹ des Sprachlosen«448. Mittels einer solchen Darstellung avancierte das Schweigen Edgards zum performativen Akt. Die skizzierten Darstellungsformen bilden einander gegen-

446 Meise argumentiert, dass sich graphische Indikatoren wie der Absatz, Gedankenstrich, Doppelpunkt und die direkte Rede mit dem dramatischen Modus verbinden lassen, die das Schweigen umschließende Klammer hingegen als »Indizierung der ersten Kommunikationsebene in der zweiten« mit dem narrativen Modus verknüpft ist. Meise, Une forte absence. 1996, S. 121. 447 Benthien, Barockes Schweigen. 2006, S. 22. 448 Ebd.

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überliegende Endpunkte einer Skala, auf der sich Misch- bzw. Übergangsformen seiner Präsentation differenzieren lassen.449 Für die Zuordnung des Schweigens zur Stimme des Erzählers oder der Figurenrede bzw. zur Abgrenzung der »erste[n] von der zweiten Ebene der Kommunikation (und diese gegebenenfalls von weiteren Ebenen) […] bedarf es […] eines Gliederungsmerkmals«450. Im Sinne der linguistischen Textanalyse handelt es sich dabei um Sätze (gegebenenfalls auch Surrogate solcher Sätze), die eine Kommunikationssituation thematisieren, z. B. in der Form: »A sagte zu B:« […, mithin um] metakommunikative[] S[ä]tz[e] bzw. Hypers[ä]tz[e] […, die] anzeig[en], daß in die erste Ebene der Kommunikation, an der Sprecher und Hörer teilhaben, eine zweite Ebene der Kommunikation eingebettet ist. Diese[] metakommunikative[n] S[ä]tz[e] stell[en] den Bezugspunkt für die eventuell in dieser Mitteilung vorkommende personale, temporale und lokale Deixis zur Verfügung […]. Das Verbum solcher metakommunikativen Sätze ist in der Regel ein verbum dicendi, bei nicht geäußertem Kommunikationsakt ein verbum sentiendi oder cogitandi.451

Wie die Redewiedergabe452 ist auch die erzählerische Vermittlung von Schweigen, die Katrin Meise analog als Schweigewiedergabe453 bezeichnet, von formalen 449 Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 104; vgl. die Übersicht zum Grad der Mittelbarkeit von Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2009, S. 62. 450 Gülich, Elisabeth/Raible, Wolfgang: Überlegungen zu einer makrostrukturellen Textanalyse – J. Thurber, The Lover and his Lass. In: Gülich, Elisabeth/Heger, Klaus/Raible, Wolfgang: Linguistische Textanalyse. Überlegungen zur Gliederung von Texten. Papiere zur Textlinguistik 8. Hamburg 1979: Helmut Buske, S. 73–126, hier: S. 82; ich danke Katrin Meise für diesen Hinweis. Meise, Une forte absence. 1996, S. 100; ähnlich dem Kommunikationsmodell narrativer Texte legen Gülich/Raible aus textlinguistischer Perspektive einen Beschreibungsrahmen verschiedener Kommunikationsebenen im Erzähltext bzw. seiner Makrostrukturen vor. Demnach bildet der Text als Ganzes die übergeordnete erste Kommunikationsebene bzw. Textoberfläche (entspricht der Kommunikation zwischen Erzähler und Leser), in die die Kommunikation zwischen den Figuren eingebettet ist, die auf der zweiten Ebene erfolgt. Innerhalb der zweiten Kommunikationsebene können weitere Kommunikationsebenen einbettet sein. Vgl. ebd., S. 74f., 81f. 451 Ebd., S. 82f. 452 Als Redewiedergabe bezeichnet Gülich »das Wiedergeben, Zitieren, Berichten, Erwähnen oder Anführen von [meist zurückliegenden] Äußerungen«. Sie fasst den Terminus weniger unter grammatischen oder stilistischen, sondern unter kommunikativen Gesichtspunkten und versteht das »Wiedergeben von Rede […] als eine kommunikative Handlung […], deren Gegenstand andere kommunikative Handlungen sind«. Gülich, Elisabeth: Redewiedergabe im Französischen. Beschreibungsmöglichkeiten im Rahmen einer Sprechakttheorie. In: Meyer-Hermann, Reinhard (Hrsg.): Sprechen – Handeln – Interaktion. Ergebnisse aus Bielefelder Forschungsprojekten zu Texttheorie, Sprechakttheorie und Konversationsanalyse. Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 26. Tübingen 1978: Max Niemeyer, S. 49–102, hier: S. 50; mit Blick auf die Kommunikationsebenen eines Textes beschreibt Gülich »eingebettete Kommunikationsakte bzw. Kommunikationsakte auf einer zweiten, ggf. weiteren Ebenen [… als Redewiedergabe]. Die eingebettete Kommunikationsebene fungiert jeweils als Redegegenstand auf der übergeordneten Ebene […]. Die übergeordnete

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Indikatoren begleitet, die »die dargestellte fremde Rede von der eigenen Aussage ab[]grenzen, in die sie eingebettet ist«454. Dazu zählen neben den redekennzeichnenden bzw. redeeinleitenden Verben und Nomen und den syntaktischen Indikatoren (u. a. deiktische Ausdrücke und Konjunktionen) die Sprecher- und Adressatenkennzeichnung, die Konstitution des Redegegenstandes sowie graphische Indikatoren (u. a. Doppelpunkt, Anführungszeichen, Gedankenstrich, Leerzeile, Fett- und Kursivdruck).455 Mittels unterschiedlicher Ausführlichkeit ihrer Kennzeichnung sowie Kombination der Indikatoren lassen sich verschiedene Formen der Redewiedergabe generieren.456 Das narrative Gestaltungsverfahren lässt sich mit Einschränkung auf die Wiedergabe des Schweigens übertragen: Zwar kann es natürlich dort keine »Sprecher«-Kennzeichnung im engeren Sinne geben, wo gar nichts gesprochen wird. Aber […] wir [haben] es unter Umständen auch beim Schweigen mit einem »Inhaber« bzw. einem Aktanten zu tun – und folglich im Text statt mit einer Sprecherkennzeichnung mit einer »Schweigerkennzeichnung«, ebenso wie auch beim Schweigen eine Adressatenkennzeichnung vorliegen kann. Gleichfalls lassen sich im Text nomina und verba tacendi und möglicherweise gar die Konstitution eines »Schweigegegenstandes« aufzeigen, der mit ganz speziellen graphischen Indikatoren einhergeht.457

Diese für die vorliegende Arbeit grundlegenden analytischen Überlegungen zur Einbettung des Schweigens in die Kommunikationsebenen des literarischen Erzähltexts nach Meise, die die Notation von Auslassungen in der Kommunikation zwischen den Figuren unter dem Begriff récit du silence458 fasst, werden im Folgenden anhand von Textausschnitten aus dem Untersuchungskorpus illustriert (Markierung zur Hervorhebung durch die Verfasserin).

453 454 455 456 457 458

Ebene ist jeweils Meta-Ebene zur eingebetteten Ebene […]. In welcher Weise ein Kommunikationsakt auf der zweiten Ebene in die erste Ebene der Kommunikation eingebettet wird, spielt dabei zunächst keine Rolle. Es ist für das Vorliegen von Redewiedergabe also nicht entscheidend, ob eine zweite Ebene der Kommunikation ausdrücklich etabliert wird oder ob sie nur suggeriert oder evoziert wird. Insofern ist der Terminus ›Redewiedergabe‹ nicht besonders zutreffend […]. Der Terminus ›Redewiedergabe‹ […] soll also nicht eine bestimmte Form des ›Wiedergebens‹ von Rede bezeichnen, sondern als Oberbegriff für alle Formen von Kommunikation auf der zweiten bzw. weiteren Ebenen verwendet werden.« Ebd., S. 53f., vgl. S. 56. Meise, Une forte absence. 1996, S. 107. Ebd., S. 104. Vgl. die Matrix zu Redewiedergabe-Indikatoren von Gülich, Redewiedergabe im Französischen. 1978, S. 77. Vgl. ebd., S. 60–65. Meise, Une forte absence. 1996, S. 108. Ebd., S. 108–127; vom récit du silence grenzt Meise das silence du récit ab. Vgl. ebd., S. 128– 140.

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Es liegt eine explizite Schweiger- und Adressatenkennzeichnung vor: 1. »Alles in allem muss ich sagen, dass sein ganzes Leben nicht gut für sein Herz gewesen ist. Nicht der Krieg, nicht die Vertreibung, nicht das Übergewicht, nicht der Diabetes, nicht das Geschäft, nicht die Steuernachzahlung, gar nichts. Und alles andere, von dem ich dir nie etwas erzählt habe, ebenfalls nicht.«459 2. »Ein einziges Mal hat mein Mann den Versuch unternommen, mich zu einer erbbiologischen Untersuchung zu überreden. Ich habe erst geschwiegen und dann nur ein einziges Wort dazu gesagt: ›Nein.‹« (T 77) Im Falle der impliziten Schweigerkennzeichnung lässt sich der Schweigende »aus der Dialoggestaltung erschließen«460: 3. »Ich könnte jetzt […] mit meiner Schwester sprechen, herausfinden, inwieweit sie und die anderen [(Groß-)Eltern und Geschwister] am Verrat beteiligt waren; alle, die geschwiegen haben.«461 4. »In seinen letzten zwei Lebensjahren absolvierte mein Vater die gemeinsame Mahlzeiten im Wohnzimmer, ohne einen einzigen Satz über die Lippen zu bringen. Wir Kinder gewöhnten es uns ab, das Wort an ihn zu richten. ›Mutter, was macht der Vater heute Nachmittag?‹, fragte einmal einer meiner Brüder, während unser Vater mit uns am Mittagstisch saß.«462 Unterschiedliche verba dicendi (5–9) zeigen das Schweigen an oder eine Verbalphrase (10) markiert »das Fehlen der physikalisch vollzogenen oder wahrgenommenen Sprechtätigkeit«463: 459 Treichel, Hans-Ulrich: Tagesanbruch. 2. Aufl. Berlin 2016: Suhrkamp, S. 12 [im Folgenden unter der Sigle »T« mit Seitenzahl im Text]. 460 Ebd., S. 112. 461 Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen 2005: Steidl, S. 151 [im Folgenden unter der Sigle »FB« mit Seitenzahl im Text]. 462 Scheub, Ute: Das falsche Leben. Eine Vatersuche. München 2006: Piper, S. 31 [im Folgenden unter der Sigle »FL« mit Seitenzahl im Text]. 463 Meise, Une forte absence. 1996, S. 115; Jef Verschuren differenziert drei Formen schweigeaktbezeichnender Verben: »Let uns call the lexical tools to describe the absence of acts as speaking as such verba silendi [… the basic ones in English are probably TO BE SILENT, NOT TALK, NOT SPEAK, and TO SAY NOTHING. Many other verba tacendi mean that the tacens refrains from talking about a particular subject (in which case he/she may either be completely silent or talking about something else): these I call verba reticendi […]. The basic English examples are TO BE SILENT ABOUT, NOT TALK ABOUT, NOT SPEAK ABOUT, and TO SAY NOTHING ABOUT. In addition […] there is a third category of words and expressions by means of which a person’s being silent can be described […] verba cessandi, verbials denoting a person’s silence after he/she has been speaking (or writing) and sometimes implying that he/she will resume his/her linguistic activity after a brief interval.« Verschuren, Jef: What People Say they Do with Words. Prolegomena to an EmpiricalConceptual Approach to Linguistic Action. Advances in Discourse Processes XIV. Norwood

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»Edgar bewegte den Kopf, als würde er mitreden. Aber er schwieg.«464 »›Welche Krankheit hat er denn?‹ fragte ich […]. Großmutter antwortete nicht.« (FB 19) 7. »Mein Mann hat das Thema nie wieder berührt. Ebenso wenig wie ich.« (T 77) 8. »Es gab ja auch nichts zu reden. Ich wusste ohnehin alles, den ganzen Schrecken. Den der anderen und unseren. Das haben wir dir alles nicht erzählt […].« (T 13) 9. »Dem Kammerjäger habe ich davon [dem Fund von tierischem Kot auf dem Dachboden] nichts gesagt. Der hätte womöglich die Behörden verständigt, und man hätte am Ende den gesamten Dachstuhl zerlegt«. (T 56) 10. »›Was mich innerlich ausfüllte, war der SA-Dienst. Diesen nahm ich so, wie ich in der herkömmlichen evangelischen Frömmigkeit empfand: keine Erwartung von Dank, aber in dankbarer Hinnahme der Kameradschaft, ohne groß zu fragen nach den Folgerungen und nach dem Warum. Man packte das Leiden seiner Umwelt zu seinem eigenen und trug es gemeinsam, und war dabei irgendwie glücklich, ohne das alles richtig artikulieren zu können.‹« (FL 81) 5. 6.

Verba dicendi mit limitiertem Aspekt (Zeitadverb) kennzeichnen das Schweigen auf indirekte Weise,465 wobei »das Schweigen nicht selbst erwähnt, sondern durch die es angrenzende Äußerung von ihrem Endpunkt her markiert wird«466: 11. »Dass dieser Zweifel [ob als Vater des Kindes der Erzählerin anstelle ihres Ehemannes einer der drei Männer infrage kommt, die sie zu Kriegsende vergewaltigt haben] trotzdem in uns nagte – heute kann ich es aussprechen.« (T 76) 12. »Ich harrte noch immer im Schnee aus, und ich sah, dass auch mein Mann reglos auf dem Boden kniete, bis der Soldat einen weiteren Befehl rief, den ich auch sogleich zu verstehen glaubte: ›Verschwindet!‹ Es war nicht das Wort, aber der Tonfall, der mich sicher sein ließ, den Soldaten zu verstehen. […] Ich wusste nicht, was wir tun sollten, und mein Mann wusste es offenbar

1985: Ablex Publishing Corporation, S. 75f.; im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen im Sinne von Verschuren die verba tacendi und verba silendi. 464 Müller, Herta: Herztier. München 2007: Hanser, S. 252 [im Folgenden unter der Sigle »H« mit Seitenzahl im Text]. 465 Vgl. den Hinweis von Katrin Meise auf Hoppenkamps, Hermann: Information oder Manipulation? Untersuchungen zur Zeitungsberichterstattung über eine Debatte des Deutschen Bundestages. Reihe Germanistische Linguistik 8. Zugl. Heidelberg Univ. Diss 1976. Tübingen 1977: Niemeyer, S. 18. 466 Meise, Une forte absence. 1996, S. 116.

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auch nicht, bis er sich schließlich, noch immer auf den Knien, nach dem Soldaten umwandte und dann zu mir sagte. ›Er ist weg.‹« (T 71) Das einmalige (13) bzw. dreimalige (14) Wiederholen einer Frage oder Aufforderung markiert das Auftreten von Schweigen anstelle einer verbalen Reaktion: 13. »›Welche Krankheit?‹ fragte ich [es folgen Innenweltdarstellungen der Erzählerin]. ›Welche Krankheit hat er denn?‹ fragte ich nochmals.« (FB 19) 14. »›Ich [Mutter zur Tochter] muss dir etwas Furchtbares sagen.‹ Sie rang mit der Fassung. ›Dein Vater ist tot.‹ [… es folgt zitierte Gedankenrede in Form des autonomen inneren Monologs] ›Sag doch was‹, bat meine Mutter. […] ›Sag doch bitte was!‹ Ich konnte nicht. Die Zunge war festgeklebt am Gaumen. Sie ließ sich nicht mehr bewegen. ›Sag doch bitte endlich was!‹ Immer flehentlicher wurde der Ton meiner Mutter. […] Das, was ich wirklich empfand […], die Schockfreude, der Freudenschock, das durfte um Gottes Willen nicht über die Lippen. Ich bewegte den Mund. Nichts kam. […] ›Sag doch bitte was!‹ Ich wollte reden, schon um meine Mutter zu beruhigen, aber meine Zunge hatte alles verlernt, was sie je gekonnt hatte.« (FL 13f.) Eine nonverbale Handlung wie Gestik (15–16) und Mimik (17) verweist auf Schweigen: 15. »›Glaubt ihr ernsthaft, dort [in Deutschland] wartet jemand auf euch?‹ Vater zuckte bedauernd mit den Schultern.« (FB 32) 16. »›Wer von euch kann zu dem Vorfall etwas sagen?‹ Nasira Achmedownas Stimme verhallte im Klassenzimmer. Niemand regte sich.« (FB 127) 17. »›Ihr bleibt doch länger?‹ Mutter zog fragend die Braue hoch. War es uns etwa anzumerken? Daß wir nur Gäste waren, die weiterziehen wollten … Lieber heute als morgen. ›Na ja, eure Vorbesitzer […], die sind weg.‹« (FB 73) Mithin suggeriert der »Text ›wahrnehmbare‹ Schweigephasen […], indem auf ganz andere Tätigkeiten verwiesen wird«467: 18. »›Schmidt!‹ Ich kam gerade noch rechtzeitig. ›Ja!‹ rief ich außer Atem und bekam einen Haken [in der Anwesenheitsliste durch die Lehrerin]. ›Kerimowa!‹ Ich schaute mich um, ob Assja da war. Keine Antwort. Kein Haken.« (FB 138) 19. »Ihr habt Glück gehabt mit dem Wetter, sagte mein Großvater. Heute ist’s schön. Er machte eine Pause und schnaufte. Die Wanduhr tickte. Gestern und vorgestern hat’s ja nur geregnet. Wir nippten an unseren Tassen. Aßen Nusskuchen. Die Uhr tickte. Draußen tschilpten die Vögel. Die Wände kreisten uns ein.« (FL 54) 467 Ebd., S. 117.

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Der Schweigegegenstand wird explizit dargelegt: 20. »Zehn Jahre Kriegsgefangenschaft in Russland, was soll man dazu sagen? Wir haben gar nichts dazu gesagt. […] Er [der Bruder der Erzählerin] hat nie darüber gesprochen, und ich habe ihn nie danach gefragt.« (T 30f.) 21. »›Warum hast du uns nie etwas über den Krieg erzählt?‹ Mein Vater schwieg. Ich hörte ihn atmen. […] ›Weil ich euch immer hab beschützen wollen.‹«468 Graphische Indikatoren wie Asteriskus (22), Auslassungszeichen (23) und Gedankenstrich (24) markieren beredtes Schweigen bzw. Gemeintes, das über Gesagtes hinausgeht, wobei das Gemeinte leserseitig interpretiert werden muss: 22. Erst auf Seite 56 von 80 berichtet die Erzählerin von dem ihr Leben überschattenden Ereignis – dass sie nach Kriegsende, als sie mit ihrem Ehemann auf der Flucht vor russischen Soldaten aus Polen nach Westen war, mehrfach vergewaltigt worden ist. Dieser Rückblick (Analepse), der über das Gewaltereignis hinaus auch die folgenden Tage und Wochen summarisch zusammenfasst und den Kern der Erzählung bildet, vor dessen Wiedergabe die Erzählerin stunden- bzw. seitenlang zurückschreckt, führt nach 20 Seiten zurück in die erzählerische Gegenwart, ohne dabei den währenddessen offenbar erfolgten Akt des Aufschreibens jener Ereignisse explizit zu machen: » * Das Geschriebene ist unleserlich. Vielleicht hätte ich besser einen Füllfederhalter benutzt als diese Kugelschreiber aus dem kleinen Lebensmittelladen.« (T 81) 23. »Ich [der depressive und suizidgefährdete Vater] könnte euch [die Familienmitglieder] ja alle mitnehmen … [in den Tod].« (FL 32) 24. »›Konntest Du Hartmut nicht retten?‹ verlangte der Kumpel mit heiserer Stimme zu wissen, eine Frage, die Konrad zusammenzucken ließ. ›Ich war in der Kaserne‹, erwiderte er erregt, ›wo ich mich von einem anderen Einsatz erholte. Als es passierte, war ich in Stettin, nicht mit Hartmut zusammen, verstanden?‹ – ›Ist ja man gut Junge‹, wiegelte Erwin ab. Sie schwiegen, bis Konrad sich wieder beruhigt hatte.«469 Die aufgeführten Beispiele illustrieren, dass »das Schweigen, genau wie jede Form von Rede, mittels verschiedener Indikatoren auf vielfältige und abgestufte Weise im Erzähltext eingebettet, beschrieben, inszeniert und gar mimetisch abgebildet werden kann«470. Dabei stellen das Berichten des Schweigens durch den Erzähler 468 Lustiger, Gila: So sind wir. Ein Familienroman. 4. Aufl. Berlin: Piper 2016, S. 67 [im Folgenden unter der Sigle »SW« mit Seitenzahl im Text]. 469 Koneffke, Jan: Ein Sonntagskind. Berlin 2015: Galiani, S. 188 [im Folgenden unter der Sigle »ES« mit Seitenzahl im Text]. 470 Meise, Une forte absence. 1996, S. 123.

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und sein Zitieren bzw. Evozieren durch die Figuren lediglich zwei mögliche Varianten der Schweigewiedergabe471 dar. Außerdem lassen die Auszüge aus der Erzähler- bzw. Figurenrede erkennen, dass »das Schweigen als ein Phänomen, das sich lediglich über seine lineare Ausdehnung in der Zeit […] manifestiert […] die Darstellung einer fein gegliederten, sequentiellen Ereignisverkettung [… benötigt, um] ›wahrnehmbar‹ auf der Textoberfläche in Erscheinung zu treten«472.

2.3.3 Schweigen in der binären Gesamtstruktur des Erzähltextes Meises Beobachtung, dass sich »das Schweigen als Element fingierter Mündlichkeit im literarischen Dialog kaum je in der Funktion [erschöpft], beim Leser zur Illusionsbildung beizutragen, indem es etwa den Eindruck natürlicher oder ›echter‹ Kommunikation erwecken soll«473, lässt sich als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen fassen. Anders als bei den Notationsformen474 des Schweigens auf der Textoberfläche (Kapitel 2.3.2) soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern Schweigen zu einem konstitutiven Strukturelement des literarischen Texts avancieren kann. Dies lässt sich unter Bezugnahme auf das Zweiebenenmodell des Erzähltexts veranschaulichen, einem klassischen erzähltheoretischen Modell, das sich ähnlich dem Kommunikationsmodell für die systematische Gesamtbeschreibung eines Erzähltextes heranziehen lässt.475 Das von Seymour Chatman eingeführte Modell unterscheidet in seiner Basisversion »zwischen dem Was einer Erzählung – d.h dem Erzählten selbst, oder: der Ebene der Geschichte [story] – und dem Wie der Erzählung – d. h. der Art ihrer Präsentation, oder: der Ebene des Erzähldiskurses [discourse]«476. Die Ebene der Geschichte gliedert sich weiterhin in eine Ebene der dynamischen Strukturierung, nämlich die Handlung – die sich zum einen aus gezielten Handlungen der Figuren und zum anderen aus nicht-intendierten

471 472 473 474 475 476

Ebd., S. 107. Ebd., S. 117f. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Vgl. Wenzel, Zu den übergreifenden Modellen des Erzähltextes. 2004, S. 5. Ebd., S. 7f.; vgl. Chatman, Seymour: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca 1980: Cornell University Press, S. 19; die elaborierte Version des Zweiebenenmodells gliedert die Diskursebene weiterhin hinsichtlich des Umsetzungsmediums (u. a. Film, Buch) und der Umsetzungsstruktur (Reihenfolge, Dauer und Häufigkeit des Erzählens; Figurencharakterisierung; Erzählinstanz, Erzählmodus und Erzählsprache). Vgl. Wenzel, Zu den übergreifenden Modellen des Erzähltextes. 2004, S. 15.

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Geschehnissen zusammensetzt –, und in die Ebene der statischen Konstituenten der Erzählung, bestehend aus den Figuren und dem Raum (oder: den Schauplätzen).477

Fokussiert das Kommunikationsmodell primär die erzählerische Vermittlung (Mittelbarkeit), rückt das Zweiebenenmodell »mit der Handlung, den Figuren und dem Raum […] die drei wichtigsten, weitgehend voneinander unabhängigen Bestandteile einer Geschichte [… ins Blickfeld], die in verschiedenen Werken ganz unterschiedlich stark ausgeprägt sein können«478. Trotz ihrer unterschiedlichen Perspektive auf den Erzähltext ist das Kommunikationsmodell narrativer Texte […] insofern kompatibel mit der Unterscheidung zwischen der Ebene des Erzählten und der des Erzählens […], als sich der Begriff histoire bzw. story auf die Gesamtheit der Aspekte bezieht, die die Ebene der erzählten Geschichte, d. h. die eingebettete Kommunikationsebene, konstituieren, während der Begriff discours der Struktur der erzählerischen Vermittlung, mithin der zweiten werkinternen Kommunikationsebene, entspricht.479

Ergänzend zu der am Kommunikationsmodell erörterten Frage nach der Schweigewiedergabe bzw. seiner graduellen Einbettung in die Ebene der erzählerischen Vermittlung und die Ebene des Erzählten, bietet das Zweiebenenmodell einen über die sprachliche Kommunikation hinausgehenden Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich das Potential, das das Schweigen in der Gesamtstruktur einer Geschichte entfalten kann, abzeichnet. Es lassen sich folgende Leitfragen formulieren: Welche Bedeutung kommt dem Schweigen im Zusammenhang mit der Stimme, das heißt dem Akt des Erzählens sowie dem Verhältnis von Erzähler zum Erzählten (Wie der Erzählung) zu? Welchen Einfluss nimmt es auf die zentralen Bestandteile einer Geschichte, das Figurenensemble, den Raum und die Handlung (Was der Erzählung)? Bevor diesen Fragen an konkreten Textbeispielen nachgegangen wird, sei auf die analytischen Überlegungen Volker Roloffs hingewiesen, der das Schweigen in Anlehnung an die binäre Grundstruktur des Erzähltexts auf der Ebene des Erzähldiskurses als darstellendes Schweigen480 bezeichnet, das »Schweigen und Verschweigen als Darstellungsmittel in der Erzähltechnik oder Dramaturgie des literarischen Werks«481. Von den »Darstellungsmitteln und Methoden des Verschweigens, etwa der verzögerten Enträtselung der Handlung, der der Spannung und Mystifikation [dient], der Aussparung von Motivationen oder der Inkohärenz der Rede«482 grenzt er das dargestellte Schweigen483 auf der diegetischen 477 478 479 480 481 482

Ebd., S. 8. Ebd. Nünning, [Art.] Kommunikationsmodell. 2013, S. 389. Roloff, Reden und Schweigen. 1973, S. 20. Ebd. Ebd.

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Ebene ab. Unter dem dargestellten Schweigen fasst Roloff das »Reden und Schweigen (bzw. Unsagbarkeit) als ausgesprochenes literarisches Thema, in verschiedenen Spielarten als Handlungs- und Erzählmotiv, als inhaltliches Problem oder Kennzeichen der dargestellten Personen und Ereignisse«484. Roloffs einschlägige Überlegungen zur narrativen Einbettung des Schweigens in den Erzähltext, die er in den 1970er Jahren an mittelalterlichen Texten entwickelt, sind auch für die Analyse des Schweigens in gegenwartsliterarischen485 Texten wegweisend. Dies zum einen, weil sie an die etablierten klassisch-erzähltheoretischen Prämissen anschließen wie sie im Zweiebenenmodell bzw. im Kommunikationsmodell visualisiert und den Analysen (Kapitel 3–6) zu Grunde gelegt sind und zum anderen, weil ihr Geltungsanspruch nach wie vor besteht. Gleichwohl ist die von Roloff suggerierte begriffliche Trennung zu relativieren, wie Otto Lorenz ausführt: Schweigen hat, wo es als selbstauferlegtes und durchgehaltenes Schweigegebot erscheint, einen Doppelcharakter, ist also darstellend und dargestellt zugleich. Immer müssen deshalb, ob Schweigen nun explizit angezeigt oder implizit vollzogen wird, sprachliche Hinweise vorhanden sein. Alle Formen des bewußten Aussparens von Informationen: des Verschweigens von Namen, des Ausbleibens von erwarteten Fragen oder Antworten, des dunklen Andeutens mittels ›uneigentlicher‹ Rede benötigen ein kontextuelles, hinreichend genau konturiertes Umfeld. Bedeutsamkeit kann Schweigen nur innerhalb eines solchen vom Autor abgesteckten, vom Rezipienten erkundeten Umfeldes gewinnen.486

Ergänzend zu der von Roloff eingeführten Terminologie des darstellenden bzw. dargestellten Schweigens lässt sich für eine erzähltheoretische Analyse auch Uwe Rubergs Ansatz fruchtbar machen, der sich der Frage nach der Verortung des Schweigens ebenfalls anhand von mediävistischen Texte widmet und es auf sechs Ebenen des Erzähltexts lokalisiert.487 Ruberg bestimmt Schweigeformen auf der sogenannten Handlungsebene (Schweigen als Erzählmotiv, Schweigesituation), auf der programmatischen Ebene (Schweigen als Reflexionsgegenstand durch Figuren, Erzähler, Autor), auf der Zeichenebene (Dingbedeutung, Schweigemetaphorik, Schweigegebärden, Symbole), auf der Stil- und Strukturebene (Sprache, Rhetorik, Metrik, Pointierungen, Spannungspausen, Figuren), auf der Ebene der Erzähltechnik (auffallendes Aussparen und Übergehen von Einzelheiten, Zusammenhängen und Hintergrundinformationen sowie Abschneiden eines Er483 Ebd. 484 Ebd. 485 Vgl. Gansel/Herrmann, »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation.« 2013, S. 7– 21. 486 Lorenz, Schweigen in der Dichtung. 1989, S. 23. 487 Ruberg, Beredtes Schweigen. 1978, S. 15–17; vgl. die Übersicht von Mayer, [Art.] Schweigen. 2007, S. 699.

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zählfadens durch den Erzähler) sowie auf der Ebene der Dialogtechnik (dramatische Gesprächsinszenierung, Spannungspausen, Innehalten, Verstummen, Überhören, Ignorieren, mithin die sprachliche Feingliederung). Dieser Ansatz geht über die von Roloff vorgeschlagene binäre Unterscheidung zwischen darstellendem und dargestelltem Schweigen hinaus und konkretisiert mit der Zeichenebene, der Stil- und Strukturebene sowie der pragmatischen Ebene Ausprägungen des Schweigens auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung, die bei Roloff lediglich eine untergeordnete Rolle spielt, in der vorliegenden Arbeit jedoch ebenso wie die Ausprägungen des dargestellten Schweigens in den Blick genommen werden. Eine neuere Arbeit aus dem englischen Sprachraum legt Elisabeth Loevlie vor, die eine binäre Differenzierung zwischen first-degree- und second-degree-silence vornimmt. Beschreibt ersteres »a silence that is described in the narrative. It can be the mention of the word silence, a description of a silent experience, or a silent character. It is, one might say, a silence that ›happens‹ within the narrative«488, fasst letzteres »silence that is not mentioned or described on the level of the narrative, but rather occurs as a dynamic that arises from the text, that is produced by the text and that takes place in the actual reading of the text«489. Loevlies Terminus first-degree-silence entspricht dem von Roloff eingeführten Begriff dargestelltes Schweigen, der Terminus second-degree-silence dem darstellenden Schweigen. Da Roloffs Begriffspaar früher datiert ist und aus dem deutschsprachigen Raum stammt, findet es folgend Anwendung.

2.3.4 Schweigen als Strukturelement des Erzähltexts – darstellendes Schweigen Im Anschluss an die Einordnung des Schweigens in die binäre Grundstruktur des Erzähltexts wird seine Rolle in Bezug auf den Erzähldiskurs bzw. das Wie der Darstellung untersucht. Der Konnex zwischen Schweigen und Erzähler ist bereits in Kapitel 2.3.2 erläutert worden, in dem verschiedene Formen der Schweigewiedergabe490 in Abhängigkeit zum Erzählmodus illustriert worden sind. Im Folgenden wird die Erzählinstanz bzw. die Stimme in den Fokus gerückt und untersucht, in welchem Verhältnis Erzähler und Schweigen im Erzähltext stehen und welche konkreten Schweigekonfigurationen durch die im Textkorpus vorliegenden Erzählertypen generiert werden. Es schließen Überlegungen zum Verhältnis von Schweigen und Erzählzeit an.

488 Loevlie, Literary Silences. 2003, S. 30. 489 Ebd. 490 Meise, Une forte absence. 1996, S. 107.

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Es ist im Sinne von Gérard Genette ein heterodiegetischer Erzähler, der in Jan Koneffkes »Ein Sonntagskind« (Kapitel 3.1) die Geschichte von Felix Kannmacher aus der dritten Person erzählt. Da der Blickwinkel an die Wahrnehmung der Hauptfigur geknüpft ist, begleitet der Leser Felix bei den verstörenden Erfahrungen, die er im Rahmen des Sonderkommandos zum Ende des Krieges sowie seiner beruflichen Entwicklung an der Hochschule macht und erhält Einblick in seine Innenwelt. Es ist dies der Grund dafür, dass der Leser in der Lage ist, Felix’ spätere Äußerungen gegenüber den übrigen Figuren in Bezug auf die Frage seiner Beteiligung am Krieg als Lügen zu identifizieren. Familie, Freunde und Kollegen erkennen nicht, dass Felix ihnen wesentliche Teile seiner Vergangenheit vorenthält bzw. das Geschehene umdichtet – es gibt keinen Anlass, an seinen Äußerungen zu zweifeln. Für den Leser offenbart sich im Abgleich von Erfahrung und Behauptung hingegen eine Diskrepanz, über die die Figuren bis zum Tod der Hauptfigur keine Kenntnis erlangen. Der Erzähler verschafft dem Leser einen Informationsüberschuss gegenüber dem Figurenensemble491. Hinzu kommt, dass sich der personale Erzähler gegen Romanende als Sohn der Hauptfigur zu erkennen gibt, wodurch ein kunstvoller Wechsel der Erzählebenen stattfindet – der Erzähler wird selbst Teil der Geschichte (mis en abyme). Durch dieses Überraschungsmoment erkennt der Leser, dass auch ihm etwas verschwiegen worden ist, der Text lässt ihn mithin erfahren, wovon er bis dahin erzählt hat. Indem sich das Erzählte als Binnenerzählung einer übergeordneten Rahmenerzählung offenbart wird der leserseitig bestehende Wissensvorsprung aufgehoben. In Linda Boström Knausgårds »Willkommen in Amerika« (Kapitel 3.2) ist eine autodiegetische Erzählerin installiert, die bereits zu Beginn des Romans schweigt, worüber der erste Satz des Texts den Leser informiert: »Ich spreche schon seit Langem nicht mehr. Alle haben sich daran gewöhnt.« (WA 7) Durch die interne Fokalisierung erhält der Leser Einblicke in die Innenwelt der Figur und folgt ihren Gedankengängen, die in Form des autonomen inneren Monologs präsentiert werden. Gleichwohl kann auch der Leser bloß erahnen, was das Figurenensemble zunehmend eindringlicher von der Erzählerin zu erfahren verlangt – auf welche Ursache sich ihr Schweigen, das sie bis zum Ende des Romans nicht bricht, zurückführen lässt. Die kontinuierliche Präsentation von Gedanken, Kommentaren und Reflexionen der Erzählerin lässt das Erzähltempo retardieren, wobei das Geschehen nahezu pausiert. In Herta Müllers Roman »Herztier« (Kapitel 4.1) ist es im Sinne von Stanzels Typologie die Vermischung einer auktorialen mit einer Ich-Erzählsituation, die die erzählte rumänische Diktatur als einen Raum des repressiven Schweigens492 491 Vgl. ebd., S. 129f. 492 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 61–63.

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erfahrbar macht. Zwar erhält der Leser durch die interne Fokalisierung Einblicke in die Innenwelt der Erzählerin und ihre psychische Verstörung, gleichwohl dominiert in wechselnder Intensität der Eindruck, dass eine Distanz zum Erleben der Figur aufrecht gehalten wird. Dazu trägt bei, dass die Geschichte von staatlich erzeugter Angst und Gleichschaltung, von Unterdrückung und Entmündigung über weite Strecken weniger erzählt als durch die Montage von Wahrnehmungsdetails gezeigt bzw. visualisiert wird, ähnlich einem Kameraschwenk, wobei ein über den Bewusstseinshorizont der Erzählerin hinausgehender Erzählstandpunkt eingenommen wird. Auch lässt die auktoriale Erzählinstanz die Redewiedergabe mit der Präsentation von Gedanken der Hauptfigur geradezu dialogisch ineinandergreifen. Neben Gesprächssituationen wie dem Verhör oder dem codierten Sprechen seitens der regimekritisch eingestellten Figuren, bei denen Gemeintes und Gesagtes oftmals divergiert, ist es maßgeblich das Oszillieren zwischen auktorialer und Ich-Erzählsituation, das eine Wahrnehmungsform evoziert, die kontinuierlich zwischen dem Zustand des Beobachtens und des Beobachtet-Werdens changiert. Auf diese Weise wird im Raum limitierter Kommunikation der beredsame Charakter des repressiven Schweigens der Figuren für den Leser erfahrbar gemacht. Auch bleibt es der Interpretation des Lesers überlassen, ob die im Rahmen der Geschichte (Binnenhandlung) dargestellten Ereignisse überhaupt erzählt – im Sinne von verbalisiert – werden oder ob es sich dabei lediglich um die Präsentation von Gedankenrede handelt. Dieser künstlerische Effekt wird generiert, indem die Geschichte zum Ende wieder in die Szene des Textanfangs (Rahmenhandlung) zurückkehrt, in dem die der Diktatur entkommenen Figuren einen Dialog über die Unmöglichkeit des Erzählens ihrer verstörenden zurückliegenden und nachwirkenden Erfahrungen führen. In Eleonora Hummels Roman »Die Fische von Berlin« (Kapitel 4.2) ist die Perspektive der Erzählinstanz hingegen ganz an den begrenzten Wahrnehmungs- und Bewusstseinshorizont der Hauptfigur geknüpft (interne Fokalisierung). Der Einsatz einer autodiegetischen bzw. Ich-Erzählinstanz bedingt, dass der Leser gemeinsam mit der kindlichen bzw. jugendlichen Hauptfigur eine Leerstelle im kommunikativen Gedächtnis der russlanddeutschen Familie Schmidt entdeckt, mithin den Umstand, dass ihr bis dato ein bedeutendes Kapitel ihrer Familiengeschichte verschwiegen worden ist (gleichzeitiges Erzählen). Nach dieser handlungsinitiierenden Entdeckung begleitet der Leser sie bei der Aufdeckung des Geheimnisses, wobei das Suggerieren des Schweigegegenstandes sukzessive in ein Ausformulieren übergeht. Anders als in Koneffkes »Ein Sonntagskind« ist die Erzählerin nicht Sender, sondern Adressat des Schweigens der sie umgebenen Figuren. Entsprechend geht die Anbindung der Erzählperspektive an den Wahrnehmungshorizont der Erzählerin für den Leser nicht mit einem Informationsüberschuss, sondern mit einer Limitierung seines Wissens

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einher – die Erzählerin füllt das dargestellte Schweigen in diesem Fall »nicht [… ihrerseits] mit Kommentaren und Erläuterungen aus[]«493. W. G. Sebald (Kapitel 5.1) setzt einen autodiegetischen Erzähler ein, der in Anwesenheit eines Zuhörers seine von traumatischen Erfahrungen geprägte Lebensgeschichte erstmals zu narrativieren sucht. Trotz interner Fokalisierung bleibt eine Distanz zwischen dem Leser und der Figur aufrecht, zum einen, weil der Leser das erinnerte Geschehen nicht kennt und es ihm ebenso wie dem Zuhörer vom erzählenden (Figuren-)Ich mitgeteilt wird, zum anderen, weil kontinuierlich Signale erfolgen, die das Erzählte auf Äußerungen dritter und vierter Vermittlungsinstanzen zurückführen, wodurch die Geschichten »als subjektive Konstrukte klar erkennbar [sind]«494. Nachträglich erzählt die Figur dem zuhörender Erzähler, woran sie sich erinnert, welche Eindrücke sie während des Erzählens rekapituliert und was ihr von anderen erzählt worden ist – dass ihre frühe Kindheit in Sprachlosigkeit versunken ist. In Hans-Ulrich Treichels Erzählung »Tagesanbruch« (Kapitel 5.2) liegt wie in Hummels Erzähltext eine autodiegetische (Ich-)Erzählerin vor, allerdings ist sie es, die offenlegt, anderen Figuren, insbesondere ihrem Sohn, ein für die Familie bedeutsames Ereignis verschwiegen zu haben. Wie in Koneffkes »Ein Sonntagskind« ist das Verschweigen an die Erzählinstanz als Sender geknüpft. Anders als dort liegt hier jedoch eine umgekehrte Erzählreihenfolge vor: Präsentiert der Erzähler in Koneffkes Roman zunächst verstörende Erfahrungen, die er dem Figurenensemble fortan verschweigt (gleichzeitiges Erzählen), gibt Treichels Erzählerin über zwei Drittel des Romans fortwährend zu erkennen, dass sie über einen Gegenstand, der in der nicht näher bestimmten Vergangenheit liegt, Stillschweigen bewahrt hat, wobei zunächst unklar bzw. lediglich angedeutet ist, worum es sich dabei handelt (nachträgliches Erzählen). Erst innerhalb ihrer sodann erfolgenden Lebensrückschau (Wechsel in die Vergangenheit) legt sie den Schweigegegenstand offen. Da die Perspektive an die erzählerische Gegenwart geknüpft ist, der Leser mithin keine Kenntnis über die Vergangenheit der Erzählerin hat, kann er bis zur Preisgabe des Schweigegegenstandes lediglich Vermutungen anstellen und deren Zutreffen, sobald die Erzählerin ihr Schweigen bricht, überprüfen. In Gila Lustigers »So sind wir« (Kapitel 6.1) und Ute Scheubs »Das falsche Leben« (Kapitel 6.2) verhält sich die Relation von Erzähler und Schweigen ähnlich der Konstellation in Eleonora Hummels »Die Fische von Berlin«. Hier wie dort ist 493 Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 129. 494 Solheim, Birger: Die Wende als Möglichkeit eines neuen Blicks auf die Vergangenheit. Zeitund Raumkonzepte zwischen Realität und Fiktion bei W.G. Sebald und Jürgen Becker. In: Breuer, Ulrich/Sandberg, Beatrice (Hrsg.): Grenzen der Identität und Fiktionalität. Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 1. München 2006: Iudicium, S. 318–331, hier S. 319.

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eine autodiegetische Erzählerin mit interner Fokalisierung installiert, die eine Leerstelle im kommunikativen Gedächtnis ihrer Familie identifiziert und nachträglich zu füllen sucht. Dabei wird die Erzählerin und der an ihre Perspektive gebundene Leser zum Adressat von Schweigehandlungen. Die Schweigekonfigurationen unterscheiden sich insofern, als Hummels Erzählerin den Großvater immer wieder dazu motiviert, ihr Teile seiner bisher verschwiegenen Geschichte anzuvertrauen. Das über Monate hinweg dialogisch gesammelten Wissen um seine Vergangenheit form sukzessive seine Geschichte. In Scheubs und Lustigers Roman liegt ein Figurendialog dieser Art nicht vor. In Lustigers Roman, dessen Erzählerin der nicht erzählten Geschichte ihres Vaters, einem Shoah-Überlebenden, nachspürt, sind es psychische Beweggründe, die das Gespräch zwischen den Generationen verunmöglichen. In Scheubs Roman, in dem die Erzählerin der verschwiegenen Beteiligung ihres Vaters am Zweiten Weltkrieg nachgeht, ist der schweigende Vater bereits Jahrzehnte vor der Erzählzeit verstorben. So erfolgt der Akt des Erzählens im Falle Lustigers und Scheubs monologisch, wobei viele Fragen der Erzählerinnen zum Schweigegegenstand unbeantwortet bleiben. Mit Blick auf die Relation von Schweigen und Erzählzeit ist angeklungen, dass das Schweigen in besonderer Relation zur Umsetzungsstruktur der Erzählung, mithin der Reihenfolge, Dauer und Häufigkeit des Erzählens steht. Es hängt dies mit der Zeitlichkeit des Schweigens zusammen, wie Susan Sontag konstatiert: »Any given silence has its identity as a strech of time being perforated by sound.«495 Umgekehrt zur Zeitdehnung lässt sich Schweigen im linear voranschreitenden Erzähltext auch als ein inszenierter Stillstand fassen. In diesem Fall gilt: »Silence is equated with arresting time.«496 Als Ausdehnung von Zeit nimmt Schweigen etwa Gestalt an, sofern es weder durch einen Anfang noch durch ein Ende markiert ist (vgl. die Analyse zum Erzähltext von Boström Knausgård). Der Aspekt des Stillstands tritt hingegen stärker in den Vordergrund, sofern das Schweigen zeitlich begrenzt wird, etwa von seinem Ende her durch das Wiedereinsetzen von Sprache (vgl. die Analysen der Erzähltexte von Hans-Ulrich Treichel und Eleonora Hummel). Das Durchbrechen des linearen Ablaufs von Sprache im Text bzw. das Auflösen der Zeitlichkeit durch Schweigen fasst Myriam-Naomi Walburg »als Absage an die Erwartung einer Chronologie des Erzählens«497. Am Beispiel ausgewählter Gegenwartsliteratur demonstriert sie die »Zeitlichkeit der Stagnation [… auf] zwei Ebenen […] – Schweigen als Leere und Schweigen als Wiederholung«498. Auf beide Ausprägungen, die unterbrochene

495 Sontag, Susan: The Aesthetics of Silence. In: Dies.: Styles of Radical Will. New York 1969: Farrar, Straus&Giroux, S. 3–34, hier: S. 11. 496 Ebd., S. 17. 497 Walburg, Zeit der Mehrsprachigkeit. 2017, S. 170. 498 Ebd., S. 189.

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bzw. verzögerte sowie die repetitive Zeitstruktur wird im Rahmen der Analyse näher eingegangen (vgl. insbesondere Kapitel 3.2, 4.1, 5.2). Die skizzierten Schweigekonfigurationen illustrieren, dass die eingesetzte Erzählinstanz die Art und Weise der Inszenierung des Schweigens maßgeblich beeinflusst.499 Dabei nehmen die Stellung des Erzählers zum Geschehen und die interne Fokalisierung eine zentrale Rolle ein, die dem Leser einen Wissensüberschuss gegenüber dem Figurenensemble verschaffen und über den Abgleich zwischen der Schweigewiedergabe und der Figurenhandlung und -rede Rückschlüsse auf das dargestellte Schweigen ermöglichen können.

2.3.5 Schweigen als Strukturelement des Erzähltexts – dargestelltes Schweigen Komplementär zur Übersicht der im Korpus enthaltenen Darstellungsformen des Schweigens wird im Folgenden der Frage nachgegangen, welchen Einfluss das Schweigen auf die Strukturelemente der Geschichte, die Figuren, den Raum und die Handlung nehmen kann. Letzteres spielt bezüglich der Auswahl und Analyse des Textkorpus’ eine besondere Rolle und wird daher detaillierter in den Blick genommen. Es liegt nahe, das Schweigen im Sinne einer Eigenschaft oder einer Handlung zunächst in Bezug zu den Trägern derselben, mithin den Figuren zu setzen. Im Rahmen des Textkorpus’ führen die Figuren folgende Typen von Schweigehandlungen aus: Sowohl die Hauptfigur in Koneffkes »Ein Sonntagskind« als auch diejenige in Boström Knausgårds »Willkommen in Amerika« üben sich im Schweigen-Wollen, erstere das schamhafte Verschweigen von schuldhaftem Tun, letztere das Nicht-Reden als Ausdruck familiärer Machtausübung und Isolation. In Müllers »Herztier« und Hummels »Die Fische von Berlin« steht hingegen das repressive Verstummen des individuellen Sprachgebrauchs der Protagonisten im Kontext von politischen Redegeboten wie -verboten im Zentrum. In Sebalds »Austerlitz« und Treichels »Tagesanbruch« sind die Figuren mit einem Schweigen-Müssen als Symptom von verstörenden, mithin traumatischen Erfahrungen konfrontiert. Bei Lustigers »Das sind wir« und Scheubs »Das falsche Leben« stehen die Protagonisten dem Schweigen ihrer Elterngeneration gegenüber, das aus unterschiedlich gelagerten Gründen resultiert. Sämtliche mit Schweigehandlungen in Verbindung stehende Figuren eint eine mehrdimensionale Konzeption, sie sind nach Manfred Pfisters Typologie als Individuen konzipiert.500 Sie verfügen erstens über mannigfaltige Ei499 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, eine Darstellung sämtlicher möglicher ErzählerSchweige-Konstellationen vorzunehmen. Eine analytische Übersicht gibt Meise, Une forte absence. 1996, S. 128–140. 500 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Aufl. München 2001: Wilhelm Fink, S. 244–246.

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genschaften (axis of complexity), zeigen in Bezug auf den Verlauf der Handlung bzw. ihr Schweigeverhalten zweitens tendenziell ein durch traumatisches Erleben begründetes Entwicklungsdefizit bzw. eine verzögerte Entwicklung auf – die wachsende Bereitschaft zur Offenbarung im Zuge des Schweigen-Brechens (u. a. Hummel, Treichel), die Stabilisierung des Selbst im Zuge der Überwindung von Sprachlosigkeit (u. a. Sebald), die Integration von Störerfahrungen in die eigene Lebensgeschichte im Zuge einer Hinwendung zum Sprechen (u. a. Boström Knausgård) oder die Integration bzw. Befreiung von Störerfahrungen im Zuge der Bearbeitung von Leerstellen im kommunikativen Gedächtnis der Familie (u. a. Lustiger, Scheub) – (axis of development) und gewähren drittens umfassende Einblicke in ihr Innenleben (axis of penetration into the ›inner life‹).501 Das Schweigen lässt sich darüber hinaus in Bezug zu den räumlichen Strukturen einer Geschichte setzen. Diese Relation spielt etwa in Herta Müllers Roman »Herztier« eine zentrale Rolle, wo es der politische Kontext, die inszenierte rumänische Diktatur ist, die das kommunikative Handeln der Figuren bestimmt. Im Sinne von Elisabeth Ströker lässt sich dieser Schauplatz als Anschauungsraum fassen – da die Darstellung aufgrund der starken Limitierung des individuellen (kommunikativen) Handelns der Figuren auf die Montage von visuellen Wahrnehmungsdetails und Momentaufnahmen der Protagonistin setzt.502 In Kapitel 4.1 wird erarbeitet, inwiefern die in dem erzählten Raum einseitig verteilten Machtverhältnisse mittels Maßnahmen wie Sprachlenkung, Tabuisierung bestimmter Themen bzw. Verbot konkreter Ausdrucksformen und Unterbindung individueller Sprechweisen die Entdifferenzierung des öffentlichen wie privaten Sprachgebrauchs bedingen. Darüber hinaus lässt sich die Ausreise der Erzählerin aus der rumänischen Diktatur nach Deutschland zum Ende des Romans im Sinne der Raumsemantik von Jurij Lotman als Überschreitung einer klassifikatorischen Grenze zwischen zwei topologisch, semantisch wie topographisch komplementären (Sprach-)Räumen auffassen. Einen anders gelagerten Fall stellt Hummels »Die Fische von Berlin« dar, indem der Wechsel des politischen Systems, die wachsende zeitliche Distanz zu den verstörenden Ereignissen und die Abgeschiedenheit des ländlichen Raums es der Figur des Großvaters ermöglichen, das jahrzehntelange Schweigen über die Verfolgungsvergangenheit der Familie gegenüber der Enkelin zu brechen. 501 Im Anschluss an Joseph Ewen plädiert Rimmon-Kenan hinsichtlich der Figurenkonzeption für eine skalare Typologie: »Ewen […] suggests a classification of characters as points along a continuum rather than according to exhaustive categories. And in order to keep the principle of classification clear, he advocates a distinction among three continua or axes: complexity, development, penetration into the ›inner life‹«. Rimmon-Kenan, Shlomith: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. 2. Aufl. London 2003: Routledge, S. 40–42. 502 Vgl. Haupt, Birgit: Zur Analyse des Raums. In: Wenzel, Einführung in die Erzähltextanalyse. 2004, S. 69–87, hier: S. 76f.

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Neben den Figuren und Räumen als statische Konstituenten einer Geschichte lässt sich fragen, in welchem Bezug das Schweigen zur Ebene der dynamischen Strukturierung bzw. der Handlung steht. Einen Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage deutet die im linguistischen Theorieteil der Arbeit vorgenommene Begriffsbestimmung des Schweigens an. In Kapitel 2.1.1 ist gezeigt worden, dass das Schweigen in der Sprache verortet und von sachverwandten Phänomenen wie der Stille abzugrenzen ist. Gleichwohl wurde auf die semantische Überschneidung der beiden Begriffe bezüglich der Absenz von Akustik im Allgemeinen (und von Geräuschen/Tönen bzw. von Sprache im Besonderen) hingewiesen. Dieser Aspekt des Bedeutungsspektrums des Schweigens bildet den Anknüpfungspunkt für die Argumentation, dass das Schweigen als Absenzmarker bzw. im Sinne einer Figuration der Auslassung die Gesamtstruktur der Handlung eines Erzähltextes zu beeinflussen vermag.503 Wie in Kapitel 2.1.5 erarbeitet worden ist, ist Schweigen bedeutsam unter der Voraussetzung, dass eine Kommunikationssituation vorliegt, Reden möglich ist und auch erwartet wird. In Übertragung dieses Prinzips auf die Kommunikation zwischen Text und Leser kann das Auslassen von zentralen Elementen einer Geschichte wie beispielsweise die (Figuren-)Handlung als bedeutsam aufgefasst werden, da die Erwartungen an den Aufbau einer Geschichte, die Rezipienten üblicherweise an literarische Texte herantragen, irritiert wird. Weiterhin hängt »[m]it dem Erzählen […] implizit die Erwartungshaltung zusammen, dass nur solche Geschichten übermittelt werden, die es wert sind, erzählt zu werden.«504 So ist etwa in Bezug auf die Oberflächenstruktur der Handlung bzw. deren Elemente denkbar, dass der Fortlauf der Handlung in gewisser Weise stagniert bzw. zum Stillstand gebracht wird, mithin dass anstelle von Figurenhandlung im engeren Sinne gerade deren Absenz inszeniert wird. Es ist in diesem Zusammenhang zu vergegenwärtigen, dass Ereignisse »im narratologisch-strukturellen Sinne [… die] kleinste[] Einheit einer Handlung [bilden]«505. Sie lassen sich in die Gruppe der dynamischen Ereignisse wie das Geschehen (nichtintendierte Zustandsveränderung) und die absichts503 Auch Myriam-Naomi Walburg schlussfolgert in ihrer Analyse zur Zeitlichkeit des Schweigens: »Bei der Untersuchung der Darstellung von Schweigen in den literarischen Text[] selbst wird schnell deutlich, dass es die Bedeutung von Schweigen als Absenz von ist, die dort zum Tragen kommt und [… den] Text[] prägt. Es ist gerade die Abwesenheit von Menschen, Orten und Sprache […], welche die Erzählung […] generiert und in enger Verbindung mit dem Schweigen steht.« Walburg, Zeit der Mehrsprachigkeit. 2017, S. 169. 504 Martínez, Matías (Hrsg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017: J.B. Metzler, S. 15. 505 Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2009, S. 108; die Autoren führen in Bezug auf Boris Tomasevskij aus, dass Ereignisse bzw. »Motive offenbar eine propositionale Funktion haben und insofern (Behauptungs-)Sätzen analog sind. Formal gesehen, sind sie nämlich aus Subjekt und Prädikat zusammengesetzt, wobei als Subjekte Gegenstände oder Personen und als Prädikate Geschehnis-, Handlungs-, Zustands- und Eigenschaftsprädikate verwendet werden können«. Ebd.

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volle Figurenhandlung, die in Bezug auf die Handlung eine situationsverändernde Funktion aufweisen und in die Gruppe der statischen Ereignisse, die die Geschichte nicht vorantreiben, gliedern. Zu den statischen Ereignissen zählen Eigenschaften (auf Menschen bezogen bzw. belebt) und Zustände (nicht auf Menschen bezogen bzw. unbelebt).506 Sofern in einer Geschichte statische Ereignisse gegenüber dynamischen Ereignissen dominieren, kann der Eindruck entstehen, dass die Handlung nicht bzw. kaum merklich voranschreitet, wobei das Prinzip der Temporalität ausgeschaltet zu sein scheint. Der Effekt des Stillstands tritt umso deutlicher hervor, sofern die Dominanz statischer Ereignisse von einem unbestimmten Ereigniszusammenhang (Motivierung) begleitet wird. Sofern leserseitig nicht klar erkennbar ist, inwiefern bzw. ob die präsentierten Ereignisse kausal oder final (oder lediglich kompositorisch) motiviert sind,507 kann über die gesamte Erzählung hinweg mitunter »ein bloßer Wechsel von Zuständen«508 vorherrschen. Für die Gesamtstruktur der Geschichte bedeutet dies, dass sich keine Geschichte im engeren narratologischen Sinne entwickelt, sondern ein bloßes Geschehen vorliegt, da die Ereignisse lediglich additiv, mithin »(chronologisch) aufeinander, [… anstatt] nach einer [erkennbaren] Regel oder Gesetzmäßigkeit auseinander [zu] folgen«509. Besonders anschaulich tritt der Effekt des Stillstands in Linda Boström Knausgårds Roman »Willkommen in Amerika« hervor, indem das Schweigen der elfjährigen Ich-Erzählerin Ellen maßgeblich zum Strukturelement der Geschichte (ebenso wie der Erzählung) avanciert. Es ist die kontinuierliche Präsentation von Zuständen und repetitiven Handlungen wie »An jedem Werktag gehe ich zur Schule« (A 25), »Die Tage und Nächte gleichen einander« (A 12) oder »Der Schlaf kam jede Nacht wie ein dunkler Nebel« (A 33), die die Figur aus dem sie umgebenen Geschehen zu distanzieren scheint und zum Eindruck ihrer Passivität beiträgt. Die inszenierte Monotonie Ellens Alltag illustriert, dass das Mädchen kaum in der Lage ist, »zeitliche Angaben zu machen. […] diese[] Zeitlichkeit der absoluten Gleichförmigkeit veranschaulicht […, dass ihr die] Dreiteilung von Zeit in Vergan-

506 Vgl. ebd., S. 108f.; vgl. Busse, Jan-Philipp: Zur Analyse der Handlung. In: Wenzel, Einführung in die Erzähltextanalyse. 2004, S. 23–49, hier: S. 26. 507 Die kausale Motivierung »erklärt ein Ereignis, indem sie es als Wirkung in einen UrsacheWirkungs-Zusammenhang einbettet, der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich gilt«. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2009, S. 111; bei der finalen Motivierung ist der »Handlungsverlauf […] von Beginn an festgelegt, selbst scheinbare Zufälle erfüllen sich als Fügungen göttlicher Allmacht«. Ebd.; wohingegen die »[k]ausale und finale Motivierung […] gleichermaßen die objektive Ordnung der erzählten Welt [… betreffen, folgt die] kompositorische[] oder ästhetische[] Motivierung […] künstlerischen Kriterien«. Ebd., S. 114. 508 Vgl. ebd., S. 110. 509 Ebd., S. 109.

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genheit, Gegenwart und Zukunft […] nicht mehr möglich ist«510. Hinzu kommt, dass die Bewusstseinsprozesse, in die die Ich-Erzählerin dem Leser Einblick gewährt, kaum Gefühle, Haltungen oder Meinungen enthalten. Damit wird neben der Figurenhandlung im engeren Sinne auch die mit der Präsentation von Gedankenrede einhergehende leserseitige Erwartung von Expressivität unterlaufen. Stattdessen herrscht eine sachverhaltsartige Registrierung der von Ellen wahrgenommenen Zustände und Gegebenheiten vor, wie folgende Gedankenzitate illustrieren »Ich hatte Freunde, aber die gibt es nicht mehr« (A 9), »Das Zimmer umgibt mich still« (A 18) oder »Die Schule brannte« (A 88). Erst in Verbindung mit aufkommenden schmerzhaften Erinnerungen an den verstorbenen Vater bzw. in der Gesamtschau des Romans erschließt sich dem Leser die Aneinanderreihung statischer Ereignisse und das Schweigen Ellens als kausal motiviert bzw. als Symptom ihrer psychischen Verstörung. Mit der Dominanz statischer Ereignisse geht einher, dass sich die erzählerische Gegenwart Ellens im Sinne von William Labov durch eine auffällig geringe tellability bzw. reportability auszeichnet –511 Ellens Schweigen dauert bereits zu Beginn des Romans an und abgesehen von einem schulischen sowie familialen Vorfall passiert in der erzählerischen Gegenwart wenig, das überhaupt lohnt, erzählt zu werden. Die arrangierte Handlungsarmut in der erzählerischen Gegenwart signalisiert, dass die erinnerten Szenen aus Ellens Vergangenheit bzw. »die Rückblicke geradezu die Höhepunkte des Erzählten [darstellen]«512. Im Verständnis einer Absenz von (Figuren-)Handlung bzw. einer Konzentration auf die statischen Konstituenten der Geschichte in Verbindung mit einer Zeitlichkeit, die »de[n] linearen Fortlauf der Narration […] durchbr[icht] und auf[hebt]«513, kann das Schweigen über ein bloßes Figurenmerkmal hinaus als konstitutives Moment für die Gesamtstruktur der Geschichte Wirkung entfalten. Über die im klassischen erzähltheoretischen Zweiebenenmodell abgebildeten Elemente eines Erzähltexts hinausgehend, lassen sich auch solche strukturellen Aspekte mit dem Schweigen verknüpfen, »deren Relevanz sich vor allem aus der kognitiven und rezeptionsorientierten Erweiterung der Erzähltheorie ergibt, wie der Gestaltung von Erzählanfang und Erzählschluss, der Struktur der Spannung und dem Wechselspiel von Illusionsbildung und -durchbrechung«514. So trifft nicht bloß auf den Untersuchungsgegenstand des Dramas, sondern auch auf den Erzähltext die von Claudia Benthien vorgenommene Beobachtung zu, dass »das 510 Walburg, Zeit der Mehrsprachigkeit. 2017, S. 189. 511 Labov, William: The Transformation of Experience in Narrative Syntax. In: Ders. Language in the Inner City. Studies in the Black English Vernacular. 5. Aufl. Philadelphia 1972: University of Pennsylvania Press, S. 354–396, hier: S. 370. 512 Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. 8. Aufl. Stuttgart 1993: J.B. Metzler, S. 129. 513 Walburg, Zeit der Mehrsprachigkeit. 2017, S. 170. 514 Wenzel, Zu den übergreifenden Modellen des Erzähltextes. 2004, S. 20.

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Schweigen und Verstummen von Figuren, oftmals an zentralen Umschlagpunkten der Handlung, ein wichtiges Gestaltungsmoment [darstellt]«515. In Treichels »Tagesanbruch« bildet etwa das mit dem Tod einhergehende Verstummen des Sohnes der Erzählerin die hinreichende Voraussetzung dafür, dass diese ihr Schweigen, das sie ihrem Sohn gegenüber Zeit seines Lebens aufrechtgehalten hat, bricht. So offenbart sie zum Ende des ersten Kapitels: »Jetzt kann ich es dir ja sagen.« (T 10) Dieser Hinweis steuert die Rezeption fortan und nimmt in der Textinterpretation eine Schlüsselrolle ein. Das mit dem Tod des Sohnes einsetzende Schweigen initiiert somit die Aufnahme der erzählerischen Vermittlung des Geschehens. Weiterhin lässt sich am Beispiel von Treichels Erzählung veranschaulichen, dass das figurale Schweigen auch zum Aufbau einer auf den Handlungsverlauf bezogenen Spannung beitragen kann.516 So variiert die Erzählerin fortlaufend Äußerungen wie »Man muss nicht alles mit seine Kindern bereden« (T 12), »Das Beste ist, still zu sein« (T 13) oder »Jetzt kann ich es ja sagen, du hörst mich nicht mehr« (T 33). Der auf der Ebene des Erzähldiskurs wiederholte metakommunikative Hinweis auf den Umstand, dass sie dem Sohn etwas verschwiegen hat, ohne jedoch zu spezifizieren, worum es sich dabei handelt, baut einen ebenso intensiven wie zielgerichteten Spannungsbogen auf, der die ersten zwei Drittel des Romans umspannt. Die Tatsache, dass erst das Verstummen des Sohnes ihre Zunge löst, suggeriert, dass es mit diesem im Zusammenhang steht. Aufgrund des deutlich markierten Informationsdefizits und der Vergangenheitsorientierung des Nicht-Gesagten liegt nach William Brewer ein Rätselspannungsschema (curiosity discourse structure)517 vor. Erst im letzten Drittel der Erzählung wird die aufgebaute Spannung mit der Offenlegung des Schweigegegenstands aufgelöst (vgl. Kapitel 5.2). In Linda Boström Knausgårds Roman »Willkommen in Amerika« lässt sich schließlich ein besonderes Verhältnis zwischen der Illusionsbildung und ihrer Durchbrechung beobachten. Die Gedankenrede der Erzählerin wird in Form des autonomen inneren Monologs präsentiert. Dabei wirft die Erzählerin hin und wieder Fragen auf wie »Habe ich gesagt, dass wir in einer Wohnung leben?« (WA 8), »Mein Vater ist tot. Habe ich das schon gesagt?« (WA 11) oder »Habe ich 515 Benthien, Barockes Schweigen. 2006, S. 21. 516 Vgl. Wenzel, Peter: Zur Analyse der Spannung. In: Ders., Einführung in die Erzähltextanalyse. 2004, S. 181–195, hier: S. 181; auch Volker Roloff verweist in seiner Untersuchung des Schweigens anhand mediävistischer Texte auf »die Verwendung des Schweigemotivs als Spannungsmittel der Erzählung«. Roloff, Reden und Schweigen. 1973, S. 189. 517 Brewer, William: The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading. In: Vorderer, Peter/Wulff, Hans/Friedrichsen, Mike (Hrsg.): Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. LEA’S Communication Series. Mahwah/ N.J. 1996: Lawrence Erlbaum Associates, S. 107–127, hier: S. 113f.

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von unserem Landhaus erzählt?« (WA 35) (Kursivdruck zur Hervorhebung durch die Verfasserin), wobei der Eindruck entsteht, dass die Fragen nicht ausschließlich an die Erzählerin selbst, als Anstoß ihrer Gedankenspiralen, adressiert sind. Stattdessen wirkt es, also würde ein Wechsel vom dramatischen in den narrativen Modus (Zunahme von Distanz) in Form einer Leseransprache vorliegen, wodurch die zuvor aufgebaute ästhetische bzw. narrative Illusion518 durchbrochen wird. Indem die Erzählerin als vermittelnde Instanz in den Vordergrund rückt, wird signalisiert bzw. der Leser erinnert, dass sie trotz ihres über die gesamte Geschichte hinweg anhaltenden Schweigens über eine Stimme verfügt. Nicht allein die Fiktionalität des Textes, sondern die Künstlichkeit ihres Schweigens, zu dem sich die Erzählerin entschlossen hat, wird mittels Illusionsdurchbrechung herausgestellt.519 Die vorangegangenen erzähltheoretischen Überlegungen zur Schweigewiedergabe, den im Korpus vorliegenden konkreten Schweigekonfigurationen und den zuletzt skizzierten Überlegungen zu seinem Potential in Bezug auf die Gesamtstruktur der Geschichte bilden in Verbindung mit den Erkenntnissen der linguistischen, erinnerungs- und identitätstheoretischen Einordnung des Schweigens die theoretische Grundlage, die für die Erzähltextanalysen (Kapitel 3–6) im Folgenden fruchtbar gemacht werden.

518 Vgl. Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Buchreihe der Anglia 32. Zugl. München Univ. Habil.-Schr. 1991. Tübingen 1993. Niemeyer, S. 31–44. 519 Vgl. Bauer, Anke/Sander, Cornelia: Zur Analyse der Illusionsbildung und der Illusionsdurchbrechung. In: Wenzel, Einführung in die Erzähltextanalyse. 2004, S. 197–222, hier: S. 200.

3.

Schweigetyp I: Schweigen-Wollen/Reden-Abwehren

Das erste Textcluster widmet sich der Analyse des Schweigen-Wollens bzw. Reden-Abwehrens. Schweigen steht hier in einem Folgeverhältnis zu dispräferierten Ursachen und bildet im Vergleich zum Erzählen derselben die präferierte Alternative.520 Das Schweigen ist bei Jan Koneffkes Figur ebenso wie bei Linda Boström Knausgårds Erzählerin Ergebnis einer mehr oder weniger bewusst getroffenen Entscheidung gegen das Sprechen und somit von einem hohen Kommunikativitätsgrad gekennzeichnet.521 Koneffkes Protagonist, der als 17-Jähriger zum Ende des Zweiten Weltkriegs auf deutscher Seite in Kampfhandlungen von Partisanenverbänden und Sonderkommandos eingebunden ist, hüllt seine verstörenden wie beschämenden Erfahrungen von Gewalt, Sterben und Tod in anhaltendes Schweigen. Thematisierungsverzicht, Lügen und wortreiches Umfälschen von persönlicher Tat- und Unterlassungsschuld dienen der Verdrängung jener belastender Vergangenheitsanteile.522 Sein defensives Schweigen523 ist mithin auf die Abwehr von Sanktionen und die »Aufrechterhaltung der offiziellen gegenüber einer geheimen zweiten, aber gleichzeitigen Alternatividentität«524 gerichtet. Dass sich die Figur Zeit ihres Lebens einer Selbstenthüllung525 verweigert geht mit destruktiven intra- wie interpersonale Folgen einher. Auch bei Boström Knausgårds Erzählerin, der elfjährigen Ellen, ist das Schweigen eng mit verstörenden Erfahrungen verknüpft, wenngleich diese ihren Ursprung in prekären Familienstrukturen haben. Ihre Weigerung zu sprechen resultiert aus fortwirkenden Stör-Erfahrungen mit ihrem depressiven und gewalttätigen Vater. Dabei isoliert der Einschluss nach Innen das Mädchen von den Geschehnissen der erzählerischen Gegenwart. Weil ihr monatelanges Schweigen an die Stelle von 520 Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 64. 521 Vgl. Schröter, Die Vielfalt des ›Nichts‹. 2005, S. 51–55. 522 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. 3. Aufl. München 2018: C.H. Beck, S. 176–181. 523 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57. 524 Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 45. 525 Vgl. Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 20.

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Schweigetyp I: Schweigen-Wollen/Reden-Abwehren

verbaler Interaktion tritt und sich die Erzählerin den Versuchen ihrer Angehörigen, sie zum Sprechen zu bewegen, wiederholt entzieht, avanciert es sukzessive zu einem Familienkonflikt. So bildet die Leitfrage, ob Ellen ihr Schweigen brechen wird oder nicht, einen intensiven Spannungsbogen, der die Textrezeption maßgeblich steuert.

3.1

Jan Koneffke: Ein Sonntagskind (2007)

3.1.1 Einleitung Jan Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt, studierte Philosophie und Germanistik an der Freien Universität Berlin.526 Neben seiner Arbeit als Schriftsteller und Publizist von Lyrik, (Kinder-)Romanen und Essays ist Koneffke als Übersetzer aus dem Italienischen und dem Rumänischen sowie als Rundfunkautor tätig.527 Er ist Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland,528 2001 hielt er die Bamberger Poetik-Vorlesung. Sein literarisches Schaffen ist vielfach gefördert worden, etwa mit dem Villa-Massimo-Stipendium (1995), dem GrenzgängerStipendium der Robert Bosch-Stiftung (2007) und dem Stipendium des Deutschen Literaturfonds (2018/2019). Für seinen 2015 veröffentlichten Roman »Ein Sonntagskind«, indem er »Familien- und Zeitgeschichte, […] Private[s] und Politische[s] [kunstvoll verquickt]«529, ist Koneffke 2016 der mit 20.000 Euro dotierte Uwe Johnson-Preis verliehen worden. Honoriert hat die Jury vor allem das mentalitätsgeschichtliche Gespür, das Koneffke unter Beweis stellt, wenn er zeigt, auf welche Weise der einzelne im 20. Jahrhundert in die gesellschaftlichen Zeitläufe hineingezogen wurde und es zu Brüchen in der Biographie gekommen ist […], wie erschreckend widerstandslos sich [… die Hauptfigur] im Zweiten Weltkrieg eingeordnet hat und zum Handlanger eines unmenschlichen Systems wurde. Dennoch wird […] die kathartische Entdeckung von Schuld und Verstrickung nicht zur Projektionsfläche für moralische Aburteilung durch die Nachgeborenen, sondern zum Aus526 Vgl. Arnold, Sven: Eintrag »Koneffke, Jan« in Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Letzter Zugriff am 07. 01. 2021). 527 Vgl. ebd. 528 Vgl. Eintrag »Koneffke, Jan« in Munzinger Online/Personen – Internationales Bibliographisches Archiv. (Letzter Zugriff am 03. 08. 2021). 529 Staudacher, Cornelia: Pommersche Familiensaga. Deutschlandfunk Kultur vom 22. 09. 2015. (Letzter Zugriff am 09. 01. 2021).

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gangspunkt für (selbst)kritische Fragen nach dem Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen.530

»Ein Sonntagskind« bildet den Abschluss einer Familiensaga, die zunächst die Vertreibung der Kannmachers aus Pommern (»Eine nie vergessene Geschichte«, 2008) und sodann die Flucht von Felix Kannmacher vor den Nationalsozialisten nach Rumänien (»Die sieben Leben des Felix Kannmachers«, 2011) verhandelt. Der 580 Seiten umfassende dritte Teil zeichnet vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Bundesrepublik – der Kriegs- und Nachkriegszeit, der Studentenbewegung der 1960er Jahre und des RAF-Terrors, der deutschen Teilung und dem Mauerfall 1989 – »mit grossem epischem Atem und immenser Fabulierlust die aufwühlende Lebensgeschichte des Konrad Kannmacher«531 nach, der eine Kehrtwende vom adoleszenten Wehrmachtsoldaten, Fahnenjunker und Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse über den sich humanistischen Werten verschreibenden Dorfschullehrer zum linksliberalen PhilosophieHochschuldozenten, Forschungsschwerpunkt Ethik, vollzieht und gleichwohl nicht von den belastenden, mithin schuldhaften Kriegserfahrungen loskommt. Die durch einen personalen, teils auktorialen Erzähler chronologisch vermittelte Darstellung von Auszügen aus sieben Jahrzehnten (erzählte Zeit) wird durch den Einschub von phantastischen Kurzgeschichten unterbrochen, die aus Perspektive des jugendlichen Ich-Erzählers Konrad erzählt werden, der sich darin »ein erfolgreiches Leben ausmalt«532. Wie Koneffke erläutert, bilden die Einschübe einen »Kontrapunkt«533 zum übrigen Erzählten, da sie »viel freier fließen, […] viel leichter sind als das übrige Geschehen auf realistischer Ebene«534. Der kontrastierende Aufbau folgt einem Erzählprinzip, das Koneffke in der Formel »Realismus ist Traumarbeit«535 fasst. Demnach entsteht Literatur aus der Transformation von (erinnerter) Wirklichkeit, wobei das Erinnern die Wirklichkeit märchenhaft, traumhaft und phantastisch verfremdet, da »Elemente der Wirklichkeit in andere Konstellationen treten, die der ›wirklichen Wirklichkeit‹

530 Jury des Uwe-Johnson-Preises: Begründung der Jury. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): UweJohnson-Preis 2016 – Jan Koneffke »Ein Sonntagskind«. Berlin 2017: Leetspeak, S. 69f., hier: S. 69. 531 Braun, Michael: Ein aufwühlendes Familienepos. Neue Zürcher Zeitung vom 27. 10. 2015.

(Letzter Zugriff am 09. 01. 2021). 532 Carsten Gansel im Gespräch mit Jan Koneffke: »Ich musste das erzählen«. In: Gansel, UweJohnson-Preis 2016. 2017, S. 58. 533 Ebd., S. 59. 534 Ebd. 535 Jan Koneffke in seiner Antwort auf eine Umfrage unter deutschsprachigen Schriftstellern der Jahrgänge 1950 bis 1966 mit dem Titel »Wieviel Literatur im Leben, wieviel Politik in der Poesie?«. Neue Rundschau 103, 1992, H. 2, S. 127.

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widersprechen«536. Im letzten Kapitel des Romans gibt sich der Sohn der Hauptfigur, Lukas Kannmacher, als Erzähler von Konrads Geschichte zu erkennen und bestimmt den Fund von persönlichen Dokumenten des Vaters, die ihm nach dessen Tod in die Hände fallen, als Initiationsmoment des Erzählens. Die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe bilden »in [… einer] rohen, kriegslüsternen Sprache«537 die tiefe Verinnerlichung soldatischer Werte, das mitleidlose Eintauchen in die Brutalität des Krieges und die selbstherrliche Inszenierung der vermeintlich ruhmreichen wie heldenhaften Kriegsbeteiligung des jugendlichen Vaters ab – und offenbaren Lukas einen ihm bis dato unbekannten Mann, der »mit dem liebevollen Vater seiner Kindheit nicht vereinbar war«538. So erschließt sich dem Leser das Dargestellte als die vom Sohn rekonstruierte und teilweise erfundene Biographie seines Vaters, die auch jene Anteile der Vergangenheit enthält, die dieser Zeit seines Lebens aus der Selbsterzählung, aus Familiengesprächen und aus offizieller wie öffentlicher Kommunikation bewusst ausgespart bzw. verschwiegen hat. Besonders in diesen, den materiellen Ausgangspunkt und die Konzeption des Erzählens betreffenden Aspekten sowie im Motiv der Suche nach den blinden Flecken in der Lebensgeschichte des Vaters steht der Roman in engem Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit, wie der Autor im Zusammenhang mit dem Entstehungsprozess der Kannmacher-Trilogie darlegt: »Ein Sonntagskind« beruht auf einer Menge authentischen Materials. Das Kuriose ist, dass [es mir], als ich […] einen dritten abschließenden Teil schreibe wollte, […] an dem entscheidenden Material noch fehlte. Und durch die Publikation des ersten Romans bin ich zu diesem Material gekommen, weil ein ehemaliger Schulkamerad Briefe geschickt hat meines Vaters aus dem Jahr 1945, einige Monate nach Kriegsende, indem er seine Kriegserlebnisse einem Kriegskameraden schildert, sehr ausführlich, sehr detailliert und in einem Stil, einem Gestus, der vollkommen verschieden war von dem Menschen, den ich selbst kennengelernt hatte. Das war frappierend, hat mich schockiert und hat mich umso mehr angestachelt, […] darüber zu schreiben, wie jemand mit diesen Erlebnissen und dieser Haltung später zu dem werden konnte, der er geworden ist.539

Im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Carsten Gansel bekräftigt der Autor, dass sein Vater, Gernot Koneffke, »bis zu einem gewissen Punkt [ein] identifizierbare[s] reale[s] Vorbild[]«540 für die Konzeption der Konrad-Figur 536 Carsten Gansel im Gespräch mit Jan Koneffke. 2017, S. 60; Koneffke stellt heraus: »Dieses kontrafaktische, ironische, fantastische und komische Erzählen ist ein äußerst wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Nämlich etwas zu erzählen, was hätte gewesen sein können, hätte gewesen sein sollen. Ich setze erzählerisch das Seinsollende gegen das Seiende. […] als Geste des Widerspruchs.« Ebd., S. 60f. 537 Ebd. 538 Ebd. 539 Staudacher, Pommersche Familiensaga. 2015. 540 Carsten Gansel im Gespräch mit Jan Koneffke. 2017, S. 50.

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stellt und erläutert, welche Relevanz den Briefen aus dessen Jugendzeit, authentische Zeugnisse der letzten Kriegsjahre, für das Erzählen zukommt: »Ich habe das Briefmaterial im ersten großen Kapitel, das von den letzten Kriegsmonaten handelt, gänzlich integriert […] und ich hätte diese Kriegskapitel gar nicht schreiben können, wenn mir nicht diese Briefe […] zur Verfügung gestanden hätten. Die bildeten die Grundlage.«541 Ebenso wie bei den Figuren Ludwig und Konrad hat ein offenes Gespräch zwischen dem Autor und seinem Vater über dessen Verstrickung in den Zweiten Weltkrieg nicht stattgefunden, wie Koneffke bemerkt: [O]bwohl ich wusste, dass er Soldat war in jener Zeit […] hat [er] nichts davon erzählt, aber ich habe auch nicht gefragt. Und wie das so oft ist, sind die ›blinden Flecken‹ nur schwer auszuhalten, wenn derjenige, der nicht mehr da ist, mit dem man darüber hätte reden sollen oder reden wollen oder reden müssen. Da ist die Arbeit hier an diesem Buch gewesen, dem auf die Spur zu kommen.542

So ist es das späte Aufdecken eines Verschweigens und Verleugnens von gewalttätigen Kriegshandlungen, die mit Schuld- und Schamgefühlen einhergehen und in ihrer Qualität noch die voranschreitende Gegenwart der Hauptfigur belasten, die Koneffke in den Mittelpunkt seines Romans stellt.543 Sie rücken auch ins Zentrum der nachfolgenden Analyse, die – der Perspektive der adoleszenten Figur folgend – zunächst herausstellt, welche konkreten Erfahrungen Konrad Kannmacher während des Krieges macht, mithin welcher Erfahrungsgemeinschaft544 er sich zuordnen lässt. Daran anschließend wird der Frage nachgegan541 Ebd., S. 45, 47. 542 Ebd., S. 52. 543 Die sich Koneffke in diesem Zusammenhang u. a. aufdrängende Frage: »Wie hatte er das verkraftet, nie mit sich ins Reine gekommen zu sein, sich jahrzehntelang zu verstellen, und das noch vor seinen Förderern und besten Freunden«, motiviert sein Schreiben und avanciert zu einem Leitfaden des Romans. Koneffke, Jan: Marie Cresspahl – Das bin ich (nicht). Dankesrede zum Uwe-Johnson-Preis. In: Gansel, Uwe-Johnson-Preis 2016. 2017, S. 29–44, hier: S. 40f. 544 Der Begriff Erfahrungsgemeinschaft wird im Sinne der sogenannten Generationseinheit nach Karl Mannheim verwendet: »Während verwandte Generationslagerung nur etwas Potentielles ist, konstituiert sich ein Generationszusammenhang durch eine Partizipation der derselben Generationslagerung angehörenden Individuen am gemeinsamen Schicksal und an den dazugehörenden, irgendwie zusammenhängenden Gehalten. Innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft können dann die besonderen Generationseinheiten entstehen. Diese sind dadurch charakterisiert, daß sie nicht nur eine lose Partizipation verschiedener Individuen am gemeinsam erlebtem, aber verschieden sich gebenden Ereigniszusammenhang bedeuten, sondern daß sie ein einheitliches Reagieren, ein im verwandten Sinne geformtes Mitschwingen und Gestalten der gerade insofern verbundenen Individuen einer bestimmten Generationslagerung bedeuten.« Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hrsg. v. Kurt Wolff. Berlin 1964: Luchterhand, S. 509–565, hier: S. 547; ein weiteres Kriterium für die Erzeugung von Erfahrungsgemeinschaften bildet nach Berger/Luckmann die Sprache, da sie für die Be-

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gen, welcher kommunikativer Strategien sich die erwachsene Figur in den 1950er bis 2000er Jahren bedient, um die zurückliegenden Handlungen und Einstellungen, deren Aufdeckung seine Integrität und Existenz als politisch engagierter Hochschuldozent im linken Milieu bedroht, zu verdecken. Im dritten Schritt werden die intra- und interpersonale Folgen des jahrzehntelangen Verschweigens seines schuld- und schambehafteten Tuns ermittelt.545

3.1.2 Kriegserfahrung und generationelle Verortung Konrads Kriegserfahrungen werden im ersten, etwa 100 Seiten umfassenden Teil des Romans geschildert, der mit dem Kapitel »Fertigmachen zum Sterben« in medias res wie folgt einsetzt: Gegen Ende November begann Konrad Kannmachers Krieg, knapp sechs Monate vor dem Zusammenbruch. Man schickte den jungen Soldaten nach Bromberg in der Woiwodschaft Kujawien-Pommern, westlich der Weichsel und nahe Thorn, wo er auf Partisanenjagd gehen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war er siebzehn Jahre, ein versponnener Bursche und schlaksiger Lulatsch, der im Feld seine Angst nicht bezwingen konnte. Nicht bereits in der pommerschen Erde verscharrt zu sein, verdankte er nur seinen Schulkameraden Erwin Pfaff, Sohn des Damenschneiders Pfaff aus Freiwalde, und Hartmut Hildebrandt, Sproß eines Buchbinders, die Konrad, den Kumpel und Freund, nicht im Stich ließen. (ES 7)

Konrad, der »eine maßlose Scham vor den Freunden [empfindet], die richtige Kerle waren, mutige Landser« [ebd.], wird von ihnen mit seinem Spitznamen Alfredo aufgezogen, der »auf seinem anderen Vornamen Alfred beruht[]« (ES 10) und »an Waghalsigkeit und Verruchtheit erinnert[], Eigenschaften, die Konrad als letzte besaß« (ebd.). Auf Drängen seiner Tante Alma ist ihm der Name in Anlehnung an seinen Großonkel Alfred Heise gegeben worden, einem »Ex-Kolonisten im westlichen Afrika, Abenteurer[] und Held[] der Waterbergschlacht, der mit einer Truppe von 1.500 Mann 40.000 Hereros besiegt hatte« (ES 11).546 wältigung von Wirklichkeit vorgeprägte Muster bereitstellt und dadurch individuelle Erfahrungen sinnbildend typisiert. Vgl. Berger, Peter/Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. 23. Aufl. Frankfurt/M. 2010: Fischer Taschenbuch, S. 41; ich danke Norman Ächtler für diesen Hinweis. Ächtler, Norman: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960. Zugl. Gießen Univ. Diss. 2012. Göttingen 2013: Wallstein, S. 28. 545 Vgl. zu einer aktuellen Analyse von »Ein Sonntagskind«, in der die Frage nach der Inszenierung von Erinnerung im Zentrum steht, Gansel, Carsten/Hernik, Monika: Erinnerungsboom, unzuverlässiges Erinnern und »Tricks der Erinnerung« in Jan Koneffkes Ein Sonntagskind (2015). German as a Foreign Language 1, 2021, S. 87–106. 546 Zu dieser auf die außerliterarische Wirklichkeit Bezug nehmenden Darstellung sei ergänzt: Unter der Bezeichnung Schlacht am Waterberg bzw. Schlacht am Ohamakari werden Ge-

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Heise ist ein überzeugter Nationalsozialist, ein »Stern am Familienhimmel der Kannmachers, der makellos rein oder finster erstrahlte, […] abwechselnd edelsteinweiß[] und blutrot[ …], unerreichbar und sagenumwoben« (ebd.), der als Handelsbeauftragter der Deutschen Botschaft in Bukarest, die Petroleumversorgung des Deutschen Reiches sicherstellt (vgl. ebd.). Gern wäre der 17Jährige ein »starker, entschlossener Mensch« (ebd.) wie sein Vorbild Heise, stattdessen nimmt »seine Angst […] von Tag zu Tag zu« (ES 12). Regelmäßig plagen Konrad Durchfall und Erbrechen (vgl. ES 19, 55, 57), so auch bei einem Einsatz im Dezember 1944, wo seine Truppe nahe Bromberg »einen feindlichen Haufen […] aufs Korn nehmen und ausschalten soll[]« (ES 12): Konrad wischte sich wieder und wieder den Angstschweiß ab, der in seine Augen rann, beißend und brennend. Er hockte im Gras, […] zog beide Knie zum Bauch, die er fest mit den Armen umklammerte. Das half nur kurzfristig gegen den Aufruhr in Magen und Darm, die sich schmerzhaft verkrampften. Er war diese peinlichen Qualen gewohnt, wenn es zu einem Einsatz kam, stellten sie sich automatisch ein. »Ist dir schlecht?« fragte Hartmut, der an einer Kippe zog und den Freund halb ironisch, halb mitleidig musterte, »du bist aschgrau, Menschenskind.« […] Vor Schmerzen halb krumm und auf den Beinen aus Fleischgallert setzte er einen Fuß vor den anderen. Er schaffte nicht mehr als drei Schritte, fiel, von einem Schwindel ergriffen, zu Boden und kotzte, als wolle er sich seine Seele auswringen. (ES 12f.)

Konrad ist einer der wenigen Überlebenden des Einsatzes, von dem er kurz darauf kaum noch weiß, was »im einzelnen passiert war« (ebd.). Die verstörende Qualität der zurückliegenden Ereignisse verschlägt ihm buchstäblich die Sprache, sodass er bei seiner Rückkehr in die Kaserne nicht fähig ist, die Fragen seiner Kumpel zum Hergang zu beantworten. Stattdessen »starrt[] [er] ins Leere und schw[eigt]« (ebd.). Später suchen ihn die Ereignisse in Gestalt von Erinnerungsattacken heim: »[T]ief steckte Konrad der Schock in den Knochen, […] grauenhaft war diese Erinnerung an das Gesicht, das er mit einer Maschinenpistolensalve zerfetzt hatte, eine Erinnerung, die blitzartig aufzuckte und in qualvoller Klarheit vor seinem Bewußtsein stand, ehe sie wieder verlosch« (ebd). fechte zwischen den Herero-Stämmen und dem Deutschen Reich in Südwestafrika im Jahr 1904 gefasst. Bei dem Kolonialkrieg ließen die deutschen Schutztruppen unter Generalleutnant Lothar von Trotha die Hereros am Waterberg einkesseln, denen ein Rückzug gelang, der sie durch die Omaheke-Wüste führte, wo sie für die deutschen Truppen keine militärische Bedrohung mehr darstellten. General von Trotha ließ die Wüste abriegeln und die Wasserstellen am Rande der Kalahari besetzen, woraufhin ein Großteil des HereroVolkes (vermutlich zehntausende Hereros) qualvoll verdurstete. Die auf vollständige Vernichtung der Hereros abzielende Kriegsführung der deutschen Kolonialmacht gilt heute als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts. Vgl. Unterberg, Swantje: Schlacht am Waterberg. »Aufräumen, aufhängen, niederknallen«. Spiegel Geschichte vom 08. 08. 2014. (Letzter Zugriff am 30. 04. 2021).

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In den folgenden Tagen »verkapselt[] sich sein Entsetzen […]. Eine andere Erfahrung [… schob] sich in den Vordergrund, die Erfahrung von kalter Entschlossenheit. Er hatte den Feind aus geringer Entfernung […] erschossen, um seinen Kameraden vorm Tod zu bewahren.« (ES 13f.) In einem Brief an die Eltern inszeniert Konrad den Einsatz hingegen selbstbewusst als »seinen ersten Erfolg« (ES 15): Nicht alles in seinem zehn Seiten umfassenden Brief entsprach hundertprozentig der Wahrheit. Beim Aufbruch der anderen erbrochen zu haben, verschwieg er. Angeblich hatte er sich einen Fuß verstaucht und lahmend den Anschluss zur Gruppe verpaßt. Und von seiner hirnrissigen Schießerei, ohne Sinn und Verstand bis zur letzten Patrone, ins Nichts, in die diesige dunkelnde Luft, mit verheultem Gesicht und berserkerhaft schreiend, verriet er den Seinen kein Wort. Um so entschiedener versicherte er, eine saubere Arbeit verrichtet zu haben, und forderte seine Familie auf, stolz zu sein, stolz auf den Sohn, der ein tapferer deutscher Soldat sei. (ES 16)

Für den Leser, dem die interne Fokalisierung des personalen Erzählers Einblicke in Konrads Innenwelt gewährt, offenbart der Abgleich seines auf eineinhalb Seiten geschilderten Erlebens des Einsatzes mit der darauf folgenden schriftlichen Darstellung eine eklatante Diskrepanz: Im Brief an die Familie erwähnt Konrad seine unbändige, lähmende Angst mit keinem Wort. Gedanklich teilt er seine Beweggründe mit: »Zu tief saß seine Scham, als Soldat eine Niete zu sein, keinen Mumm in den Knochen zu haben.« (ES 15) Durch bewusstes Auslassen jener Empfindungen und Handlungen, in denen er vom vermeintlichen Ideal soldatischer Männlichkeit abweicht, hält er seinen Angehörigen »etwas, das zum Thema gehört [… bzw.] wichtige Momente [… vor]. Die aber hätte [… sie] kennen müssen, um die Lage angemessen beurteilen zu können«547. So erfährt die Familie aus seiner Darstellung nicht, wie es wirklich gewesen ist –548 bzw. dass Konrad zu Beginn seines Fronteinsatzes entgegen seiner Darstellung gerade keine »harte Person […] – hart gegen den Feind und hart gegen sich selber [ist]« (ES 28), sondern ein 17-jähriges Mitglied der Wehrmacht, bei dem es »mit dem kalten Charakter [hapert], und [… das, wie Konrad sich unablässig vorwirft, von] Memmenhaftigkeit, dieser elendigen Feigheit […] beherrscht [… ist]« (ES 12). Am Ende seines Briefes bedient er sich zudem eines folgenreichen stilistischen Clous: »Mit Bedacht setzt[] er an den Schluß seiner Zeilen beide Vornamen, Konrad und Alfred« (ES 16), wodurch er sich in die Aura des skrupellosen Onkels hüllt und ein zweites Selbst kreiert, dem er sein schuldhaftes Tun wie Unterlassen in dem Maße zuschreibt, wie er sein bisheriges Selbst davon befreit. So nimmt Konrads Verschweigen von verstörenden und beschämenden Kriegserfahrun-

547 Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 44. 548 Vgl. ebd.

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gen, das er Jahre später in der »Nahkommunikation«549 mit seinen Angehörigen und Freunden von Angesicht zu Angesicht fortsetzt (Kapitel 3.1.3), innerhalb der »Fernkommunikation der Schrift«550 bzw. im Brief an die Eltern seinen Anfang. Vor dem Hintergrund der Brutalität des Krieges stechen zwei Erfahrungen heraus, die sich besonders stark in Konrads Gedächtnis einbrennen. An erster Stelle steht der Verlust seines Freundes Hartmut Hildebrandt, der infolge eines überraschenden Angriffs durch russische Truppen bei Hohenfeld an der Dievenow lebensbedrohlich verletzt wird. Hat der Freund Konrad wenige Stunden zuvor noch an die »Faulenzernachmittagsstunden [ihrer Jugend erinnert, als sie] splitternackt in der Wipper mit tausend bescheuerten Heldengeschichten im Kopf [gebadet haben]« (ES 78), lehnt dieser nach dem Granatenbeschuss »mit einer Schulter am Baum […]. Eine dunkle Masse quoll aus seinem Unterleib, und er stierte mit riesigen Augen zu Konrad, der sich, taub vor Entsetzen, [… von einem Kumpel] am Arm in die Nacht ziehen ließ« (ES 81). Die nicht wiedergutzumachende Schuld (vgl. ES 82), dem »elend verreckt[en], […] sterbenden Freund seinen Beistand verweigert [zu haben]« (ES 85), lastet umso schwerer auf Konrads Gewissen als dieser sich bloß seinetwegen, »um [… ihn] nicht alleine zu lassen« (ES 58) für den riskanten Einsatz im Sonderkommando gemeldet hat. Konrad hat sich in der Hoffnung gemeldet, einem geplanten U-Boot-Einsatz zu entgehen und sich Ruhm und Ehre zu verdienen (vgl. ES 56) – er ist zu diesem Zeitpunkt überzeugt, dass wer »als Soldat aus dem Krieg ohne Auszeichnung heimkehrt[], […] ein Versager und Feigling [ist], [… und] sich vor den Leuten [blamiert]« (ebd.). Hartmut hingegen begreift sofort, dass es sich beim Sonderkommando um ein »Todeskommando« (ES 57) handelt und sich »freiwillig zu einem [solchen …] zu melden, […] absolut hirnverbrannt [ist]« (ebd.). Das Bild Hartmuts, »der seine Hand in die dunkle Masse aus Darmschlingen und blutigem Kot taucht[] – eine Erinnerung, bei der Konrads Kopf zu zerspringen droht[]« (ES 102), und seine Stimme: »Um dich nicht alleine zu lassen, Alfredo, ist dir das nicht klar?« (ES 86), lassen Konrad fortan nicht mehr los. Vier Monate vor Kriegsende, auf dem Rückzug des Sonderkommandos aus Stettin, das die Stadt »als letzte verbliebene Wehrmachtseinheit« (ES 111) verlässt, ereignet sich ein zweiter Vorfall, der bei Konrad ähnlich starke Scham- und Schuldgefühle auslöst. Als die Truppe »auf einem von den Besitzern verlassenen Gutshof, runde zehn Kilometer von Wismar entfernt und nicht mehr unmittelbar vor den russischen Truppen« (ES 113) Rast macht, »alle Mann […] halbtot in den Betten [ratzen]« (ebd.) und Konrad Wache schiebt, entdeckt er, dass sein Kumpel Sische Fahnenflucht begeht. Was daraufhin geschieht, ist Konrad nur schwer erinnerlich: 549 Assmann, Einführung. 2013, S. 17. 550 Ebd.

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Ob er wieder zum Haupteingang lief und, als sei nichts passiert, vor der Freitreppe Posten bezog, heillos verwirrt und verbittert? Ob er, mit bebender Stimme und hundsmiserablem Gewissen, den Leutnant belog, als man beim Aufbruch entdeckte, daß Sische verduftet war, und beteuerte, von seiner Flucht habe er nichts bemerkt […]? Oder stellte er sich das nur vor? Warf er seine Kippe weg, rannte ins Gutshaus und hieb mit der Faust an das Zimmer im ersten Stock, um den Leutnant zu melden, was los war, der umgehend […] den Trupp in drei Gruppen ein[teilte …], um Sische den Weg abzuschneiden […]? Und brauchte der Haufen mit Konrad nur zwanzig Minuten, bis er auf den Ausreißer stieß, der sich […] willenlos entwaffnen und wieder zum Gutshof bringen [ließ], wo […] der schwere, breitschultrige Mann flennte[, … sich] widerstandslos […] vor die Mauer bugsieren [ließ]. Hatte er sich an Sisches Erschießung beteiligt? Nahm er Aufstellung, als es der Leutnant befahl, um auf den […] lustigen Burschen und treuen Kameraden, der nur noch ein menschliches Wrack voller Reue und Scham war, das mit pendelndem Kopf seine Stiefel anstierte? […] Schoß er, zusammen mit den anderen, auf Sische, der in sich zusammensackte und auf den Kies kippte, oder in letzter Sekunde, mit Absicht, nur auf einen Feuchtigkeitsfleck an der Mauer, unmittelbar neben dem Ohr? (ES 114f.)

Auch wenn die Erzählstimme in fragendem Ton alternative Szenarien formuliert, so legt doch die Detailgenauigkeit der Darstellung nahe, dass Konrad seinen Kumpel verraten und sich an dessen Erschießung beteiligt hat. Das Zurücklassen des Jugendfreundes Hartmut und der Verrat seines Kumpels Sische sind Grenzerfahrungen, mithin Zerstörungen, die aus den strukturellen Rahmenbedingungen des Krieges resultieren. Es sei darauf hingewiesen, dass Carsten Gansel die Kategorie Störung ausgehend von Niklas Luhmanns systemtheoretischem Ansatz für die Geistes- und Sozialwissenschaften neu konturiert hat. Zur Angabe des Intensitätsgrades einer Störung führt er eine begriffliche Differenzierung zwischen Aufstörung (integrierbar/restitutiv), Verstörung (reparierbar/regenerativ) und Zerstörung (nicht integrierbar/irreversibel) in die Diskussion ein und weist auf die Relevanz des Ortes bzw. der Lokalität sowie der Zeit bzw. Temporalität von Störungen hin.551 Im Sinne von Reinhard Koselleck handelt es sich bei den geschilderten Erfahrungen um sogenannte Primärerfahrungen, die sich für Konrad aus Momenten der »singulär[en] wie unwiederholbar[en …] Überraschung«552 ergeben. So ist es zunächst die ver551 Vgl. Gansel, Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur. 2014, S. 315–332; vgl. Ders., Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 31–56. 552 Koselleck, Reinhart: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2003: Suhrkamp, S. 27–77, hier: S. 34; Reinhart Koselleck unterscheidet, wie Norman Ächtler präzise resümiert, »die strukturellen – zu ergänzen wären die kulturellen – Rahmenbedingungen des Erfahrungshaushalts einer Gemeinschaft von zwei interdependenten Arten synchronen, kurz- und mittelfristigen Erfahrungsgewinns. Erstere unterliegen einem langfristig-diachronen Wandlungsprozess und können nur in der (historiografischen) Retrospektive erfasst werden, sind gleichwohl als ›Hintergrunderfahrung‹ stets präsent. Demgegenüber wird

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störende Qualität der zurückliegenden Ereignisse, die Konrad intensiv erfährt, mithin psychische Dispositionen, die seinen Umgang mit dem (Nicht-)Tun fortan prägen. Dabei spielt neben der individuellen Erfahrung auch Konrads Verortung in den genealogischen und historischen Zusammenhang, in die Familiengeschichte und die kollektive, nationale Geschichte, eine Rolle.553 Im Verständnis von Generation als »horizontale Alterskohorte […], die durch die gemeinsame Teilung spezifischer Erfahrungen gekennzeichnet ist«554, bewegt sich der 1917 geborene Wehrmachtssoldat Konrad auf der Seite der NS-Täter und Mitläufer zwischen der sogenannten ersten und zweiten Generation. Ausgehend vom epochalen Einschnitt des Zweiten Weltkriegs als Neubeginn der Generationenzählung lassen sich im »Generationenmodell als zeitliche Ordnung der Nachkriegsgeschichte«555 zur ersten Generation die Jahrgänge zwischen 1880 und 1920 zählen, mithin die 14er Generation (Jahrgänge 1880–1895), die im Kaiserreich geboren und sozialisiert worden und deren Schlüsselerlebnis die Niederlage 1918 ist, sowie die 33er Generation (Jahrgänge 1900–1920), deren Vertreter im Kaiserreich geboren, in der Weimarer Republik sozialisiert und von einer autoritären Werthaltung geprägt worden sind.556 Insbesondere letztere trägt die

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555 556

eine Primärerfahrung gemacht im Moment eines singulären, unwiederholbaren Überraschungseffekts, der jedes Individuum für sich affiziert. Erfahrung als ›Ergebnis eines Akkumulationsprozesses‹ dagegen resultiert aus den Schlüssen, die sich aus Konfrontationen mit wiederholt auftretenden Ereignissen ziehen lassen. Solche Lebenserfahrungen machen, insoweit es sich um ›mittelfristige Erfahrungsstabilisierungen‹ handelt, begrenzte Antizipationen künftiger Entwicklungen möglich.« Ächtler, Generation in Kesseln. 2013, S. 27; vgl. Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. 2003, S. 27–77. Vgl. Assmann, Aleida: Unbewältigte Erbschaften. Fakten und Fiktionen im zeitgenössischen Familienroman. In: Kraft, Andreas/Weißhaupt, Mark (Hrsg.): Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität. Konstanz 2009: UVK, S. 49–70, hier, S. 56. Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata. 2013, S. 4; Morés Äußerung bezieht sich auf Überlegungen von Karl Mannheim. In seinem Aufsatz »Das Problem der Generationen«, in dem er Vorarbeiten des Philosophen Wilhelm Dilthey und des Kunsthistorikers Wilhelm Pinder fortsetzt, stellt Mannheim zum Phänomen der Einheit einer Generation heraus: »Nicht das Faktum der in derselben chronologischen Zeit erfolgten Geburt, des zur selben Zeit Jung-, Erwachsen- Altgewordenseins, konstituiert die gemeinsame Lagerung im sozialen Raume, sondern erst die daraus entstehende Möglichkeit an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren und noch mehr, von derselben Art der Bewußtseinsschichtung aus dies zu tun.« Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. 1964, S. 536; ich danke Heinrich Kaulen für diesen Hinweis. Kaulen, Heinrich: Der »Generationsroman«. Typologie, Geschichte, aktuelle Beispiele. In: Ächtler, Norman/Heidrich, Anna/ Fernández Pérez, José/Porath, Mike (Hrsg.): Generationalität, Gesellschaft, Geschichte. Schnittfelder in den deutschsprachigen. Literatur- und Mediensystemen nach 1945. Berlin 2021: Verbrecher Verlag, S. 341–355, hier: S. 342. Ostheimer, Michael: Ungebetene Hinterlassenschaften. Zur literarischen Imagination über das familiäre Nachleben des Nationalsozialismus. Göttingen 2013: V&R unipress, S. 21. Vgl. den differenzierten Überblick über sieben historische Generationen des 20. Jahrhunderts von Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. 2. Aufl. München 2014: C.H. Beck, S. 58–69, hier: S. 60f.

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soziale und politische Verantwortung für den Krieg und den Holocaust und steht »in den Augen der Nachwelt unter dem Generalverdacht der Schuld«557. Zur zweiten Generation lassen sich die Jahrgänge zwischen 1930 und 1950 zählen, mithin die Generation der Kriegskinder (Jahrgänge 1930–1945), »deren frühe Erfahrungen durch Kinderlandverschickung, Bombennächte, Flucht, Vertreibung und Vaterlosigkeit geprägt sind«558, sowie die 68er Generation (Jahrgänge 1940–1950), die »als Kinder zu Zeugen des Scheiterns der Elterngeneration und ihrer öffentlichen Beschämung [werden]«559. Sie wachsen mit dem Programm der Re-Education560 auf und sind zugleich konfrontiert mit »Elternhäuser[n], in denen diese Umerziehung gerade nicht statt[findet]«561. Konrad fällt aus dem vereinfachenden Modell der Generationenfolge, das auch eine moralische Trennung von schuldigen und unschuldigen Jahrgänge vornimmt,562 heraus 557 558 559 560

Vgl. Assmann, Unbewältigte Erbschaften. 2009, S. 54. Assmann, Geschichte im Gedächtnis. 2014, S. 62. Assmann, Unbewältigte Erbschaften. 2009, S. 55. Der Begriff Re-Education fasst »im Unterschied zur ›democratization‹, die sich auf institutionelle Reformen richtete […] den Versuch, das politisch-kulturelle Wertsystem und -bewusstsein sowie die ideologischen Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu verändern, und zwar im Sinne bürgerlich-freiheitlicher, individualistischer Demokratievorstellungen nach vornehmlich amerikanischem Muster«. Schnell, Ralf: Deutsche Literatur nach 1945. In: Beutin, Wolfgang/Beilein, Matthias/Ehlert, Klaus/Emmerich, Wolfgang/Kanz, Christine/Lutz, Bernd/Meidl, Volker/Opitz, Michael/Opitz-Wiemers, Carola/Schnell, Ralf/ Stein, Peter/Stephan, Inge: (Hrsg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Aufl. Stuttgart 2013: Metzler, S. 483–514, hier S. 491. 561 Assmann, Geschichte im Gedächtnis. 2014, S. 62. 562 Vgl. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. 2018, S. 173; an dieser Stelle drängen sich Überlegungen zur Frage nach einer Kollektivschuld auf, zu der sich Jean Améry wie folgt äußert: »Kollektivschuld. Das ist natürlich blanker Unsinn, sofern es impliziert, die Gemeinschaft der Deutschen habe ein gemeinsames Bewußtsein, einen gemeinsamen Willen, eine gemeinsame Handlungsinitiative besessen und sei darin schuldhaft geworden. Es ist aber eine brauchbare Hypothese, wenn man nichts anderes darunter versteht als die objektiv manifest gewordene Summe individuellen Schuldverhaltens. Dann wird aus der Schuld jeweils einzelner Deutscher – Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld – die Gesamtschuld eines Volkes. Der Begriff der Kollektivschuld ist vor seiner Anwendung zu entmythisieren und zu entmystifizieren.« Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. 2. Aufl. Stuttgart 1980: Ernst Klett, S. 117; ich danke Kurt Grünberg für diesen Hinweis. Grünberg, Schweigen und Ver-Schweigen. 1997, S. 19; auch Karl Jaspers verneint die Frage nach einer Kollektivschuld: »Ein Volk als Ganzes gibt es nicht. […] Ein Volk kann nicht zu einem Individuum gemacht werden. Ein Volk kann nicht heroisch untergehen, nicht Verbrecher sein, nicht sittlich oder unsittlich handeln, sondern immer nur die einzelnen aus ihm. Ein Volk als Ganzes kann nicht schuldig oder nicht unschuldig sein, weder im kriminellen, noch im politischen (hier haften nur die Bürger eines Staates), noch im moralischen Sinn.« Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. Heidelberg 1946: Schneider, S. 39; ich danke Matthias Hirsch für diesen Hinweis. Hirsch, Matthias: Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt. 6. Aufl. Göttingen 2014: V&R, S. 44; Matthias Hirsch resümiert Jaspers, der argumentiert, dass es weder eine verbrecherische noch eine moralische oder metaphysische Kollektivschuld geben könne, wohl aber

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– zunächst aufgrund der Handlungen seines Vaters Ludwig Kannmacher, die nicht der paradigmatischen Täter-Rolle seiner Generation entsprechen: Als »fanatischer Kriegsgegner« (ES 7) verhilft er der Familie von Samuel Schlomow, Besitzer des Bankhauses, in dem der Vater als Buchhalter angestellt ist, ins Exil (vgl. ES 210f.), woraufhin er von der Gestapo in Lauenburg sechs Monate inhaftiert wird (vgl. ES 166, 212). Zudem macht er den freiwilligen Eintritt seines 15-jährigen Sohnes Konrad in die Waffen-SS durch dessen Einschreibung als Reserveoffiziersbewerber ungültig (vgl. ES 9) und legt ihm bei der Einberufung im Herbst 1944 nahe, Fahnenflucht zu begehen: »Mach dich aus dem Staub, wenn es brenzlig wird. Rechtzeitig.« (ES 8) So ist es vielmehr Konrad, der sich nach seiner Rückkehr zur Familie eingestehen muss, dass sein Vater Recht behalten hat, als dieser den Krieg »von Anfang an [… als verloren]« (ebd.) erklärt hat. Beschämt begreift Konrad, dass er die militärischen Werte wie Pflichterfüllung, Tapferkeit und Selbstaufgabe fürs Kollektiv unhinterfragt internalisiert hat, mithin an ein positives Selbstbild geglaubt hat, das an Konzepten wie Stolz, Ehre und Tapferkeit orientiert gewesen ist und dass er an einem verbrecherischen Krieg persönliche Mitschuld trägt.563 Aufgrund seines Geburtsjahres bewegt sich Konrad zwischen der ersten und zweiten Generation, lässt sich mithin der 45 Generation (Jahrgänge 1926–1929) zuordnen, deren Vertreter in der Weimarer Republik geboren und im Nationalsozialismus als Kinder- und Jugendliche in der Hitler-Jugend, in Napola-Schulen und als Flak-Helfer sozialisiert […], bis zuletzt zurückgestellt [worden] und […] erst in den letzten Kriegsjahren und -monaten zum Einsatz [gekommen sind].564

Anders als die Vertreter der ersten bzw. der 33er Generation ist Konrad »für eine Karriere im NS-Staat zu jung [gewesen]«565, gleichwohl hat er sich in den letzten sechs Monaten aktiv am Krieg beteiligt. Was ihn mit dieser Generation verbindet, ist der spezifische Umgang mit jenen verstörenden Kriegserfahrungen, die er nach 1945 aus seinem Bewusstsein auszublenden und innerhalb der familialen, öffentlichen wie institutionellen Kommunikation zu verschweigen und zu vereine politische Haftung: »Ein Volk haftet für seine Staatlichkeit. Angesichts der Verbrechen, die im Namen des Deutschen Reiches verübt worden sind, wird jeder Deutsche mitverantwortlich gemacht. Wir haften kollektiv.« Ebd., S. 56; Matthias Hirsch erläutert Jaspers Äußerung: »Meines Erachtens beschreibt Jaspers hier die Verantwortung eines jeden Mitglieds einer Gemeinschaft für ihren Charakter und ihre Taten, da jeder durch Identifikation unlösbar immer ein Teil auch der Auswirkungen und Auswüchse, ist, die er für sich entschieden ablehnt.« Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. 2014, S. 45. 563 Dass er bei seiner Einberufung gegen den Vater wegen »Schwarzseherei und Ermunterung zur Fahnenflucht […] eine Anzeige ernsthaft erwogen [… hatte,] war nicht nur eine schwer zu verkraftende Schuld. […] Sie verurteilte Konrad zu […] Befangenheit gegen den Vater, einer ewigen, unwiderruflichen Scham«. (ES 166) 564 Assmann, Geschichte im Gedächtnis. 2014, S. 61. 565 Ebd., S. 46.

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leugnen sucht. Im Sinne des Historikers Christian Meier leidet mitunter auch Konrad am »eigentümliche[n] Phänomen der ›deutschen Herkunftsschwäche‹, der Störung des normalen Anschlusses an die Vergangenheit, die dadurch entstand, daß die Kriegsgenerationen über ganze Teile ihrer Biographie zumeist schwiegen«566. Hinzu kommt, dass der bei Kriegsende 18-Jährige sein »Leben nach [… 1945] sozusagen noch einmal von vorn […] beginn[t], und […] sich [… fortan] zu den Werten der Demokratisierung […] bek[e]nnt«567. So entgeht das Sonntagskind aufgrund seines Geburtsjahres und seiner Verhüllungsstrategie weithin dem Generalverdacht der Schuld,568 wodurch es ihm möglich ist, sich in 566 Meier, Christian: Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik. München 2001: Hanser, S. 133. 567 Assmann, Geschichte im Gedächtnis. 2014, S. 47. 568 Ein dritter Grund, der zum gelingenden des Verschweigen von Konrads Kriegsbeteiligung beiträgt, ist das die westdeutsche Kultur der 1950er Jahre dominierende Klima des kommunikativen Beschweigens der NS-Verbrechen, worunter der Historiker Hermann Lübbe den in der Bundesrepublik weit verbreiteten Konsens bezeichnet, weder Schuld noch Leid öffentlich zu debattieren. Hermann Lübbe wertet »[d]iese gewisse Stille [… als] das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland«. Lübbe, Hermann: Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart. In: Broszat, Martin/Dübber, Ulrich/Hofer, Walther/Möller, Horst/Oberreuter, Heinrich/Schmädeke, Jürgen/Treue, Wolfgang (Hrsg.): Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll. Berlin 1983: Siedler, S. 329–349, hier: S. 334; vgl. Ders.: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historische Vergangenheiten. München 2007: Fink, S. 8–10, 19f.; Lübbe knüpft mit seiner Interpretation an ein Konzept der Dethematisierung an, das Christian Meier bereits in der Antike beschreibt, als der athenische Rat in Folge der Einnahme und Zerstörung der griechischen Polis Milet durch die Perser den integrativen ›Beschluß [fasste], nicht an Schlimmes zu erinnern‹, um persönliche oder parteiliche Rache zu verhindern und durch das Ruhen-Lassen der Vergangenheit den Aufbau einer unbelasteten Zukunft zu ermöglichen. Vgl. Meier, Christian: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München 2010: Siedler, S. 15–30; solche auf kollektiver Ebene stattfindenden Schweigeprozesse stehen nicht Zentrum von Koneffkes Roman, der vielmehr individuelle Formen des Verhüllens, Verdrängens und Verleugnens schuldhafter Biographieanteile in face-to-face-Sprechsituation verhandelt und können daher nicht Teil der Analyse sein. Gleichwohl ist für eine weitergehende Beschäftigung mit dem kollektiven Beschweigen neben Herman Lübbes kontrovers diskutierter Interpretation auf eine von Gesine Schwan vertretene Position zu verweisen. Die Politikwissenschaftlerin wendet sich gegen Lübbes These einer institutionellen wie gesellschaftlichen Erneuerung durch Schweigen und wertet insbesondere das Beschweigen von Schuld als Ausdruck der vielfach nicht erfolgten kritischen Auseinandersetzung mit persönlicher Schuld, das wiederum Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt der neu gegründeten Bundesrepublik hatte: »[I]ch bin überzeugt davon, daß das Schweigen über Schuld nur scheinbar hilft […]; daß es zudem hohe Kosten verursacht, weil es untergründig zerstörerisch wirkt – auf die Menschen (die Täter, die Opfer, die nachfolgenden Generationen) und auf das politische Gemeinwesen der Demokratie. Dabei geht es vornehmlich […] um moralische Schuld. Moralische Schuld vererbt sich nicht […], aber die psychischen und moralischen Folgen ihres

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der politischen Öffentlichkeit der neugegründeten Bundesrepublik erfolgreich einer Erzählgemeinschaft569 anzuschließen, die sich auf Erfahrungen des Widerstands gegen das NS-Regime gründet und Krieg wie Holocaust aufs Schärfste verurteilt.

3.1.3 Verschweigen von schuldhaftem (Nicht-)Tun nach Kriegsende Mit dem Ende des Krieges gehen Konrads Primärerfahrungen in Erinnerungen über. Zur diachronen Wirkung des Zweiten Weltkrieges auf das Bewusstsein stellt der Historiker Reinhart Koselleck heraus: Die Erinnerung an den Krieg ist […] keine stabile Größe, die unverändert weiterwirkt. Sie unterliegt vielmehr den Kriegsfolgen, die die Erinnerung an den Krieg überformen, verdrängen, kanalisieren, kurzum verändern können. Vieles wird vergessen, anderes bleibt hartnäckig wie ein Stachel im Bewußtsein stecken. Vieles wird verdrängt, anderes glorifiziert.570

›Hartnäckig wie ein Stachel‹ bleiben in Konrads Bewusstsein nach 1945 die unhinterfragte Beteiligung am Krieg sowie die verstörenden Erfahrungen vom Verlust des Jugendfreundes Hartmut und von der gewaltsamen Erschießung des Kumpels Sische stecken. Als Mitglied der deutschen Wehrmacht erfasst auch ihn Beschweigens beschädigen noch die folgenden Generationen und den Grundkonsens einer Demokratie.« Schwan, Gesine: Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens. Frankfurt/M. 1997: Fischer Taschenbuch, S. 17; für Schwan ist die »›[b]eschwiegene Schuld‹ […] nicht nur das Beschweigen des Gegensatzes von Handeln und Norm, sondern vor allem das Beschweigen der inneren Gründe, aus denen es zu diesem Gegensatz gekommen ist, die Weigerung mich der ehrlichen Selbstprüfung zu unterziehen, mir meine Freiheit, meine Wertmaßstäbe zu vergegenwärtigen und meine Verantwortung anzuerkennen, meine prinzipielle Schuldfähigkeit nicht nur rhetorisch und halbherzig, sondern bewußt, klar und auf konkrete Fälle bezogen zu akzeptieren. Zugespitzt: Die eigentliche Schuld liegt im nachfolgenden Beschweigen«. Ebd., S. 103. 569 Albrecht Lehmann weist darauf hin, dass der »homo narrans, der Erzähler als Individuum mit seiner eigenen Geschichte und seinen vielen Erzählgeschichten […] nicht isoliert in der Welt [steht], sondern […] sich als ein Sozialwesen in der prinzipiell unbegrenzten Anzahl von Situationen [artikuliert]. Deshalb geht die von [… ihm] vertretene Erzählanalyse stets von einer übersubjektiven ›Gemeinsamkeit des Erlebens‹ aus. Aus der Gemeinsamkeit des sozialen Erlebens in der Familie und dem Milieu heraus konstituiert sich eine ›Erzählgemeinschaft‹ mit milieubedingten und milieuübergreifenden Gewohnheiten und Traditionen. […] Erzähler leben in einer Gemeinschaft, die sie prägt, gehören Familien, Berufsmilieus, Betrieben und weiteren Gruppen an«. Lehmann, Albrecht: Individuelle und kollektive Dimensionen des Erzählens. In: Hartung, Olaf/Steininger, Ivo/Fuchs, Thorsten (Hrsg.): Lernen und Erzählen interdisziplinär. Wiesbaden 2011: VS, S. 27–38, hier: S. 31. 570 Vgl. Koselleck, Reinhart: Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein. In: Ders., Zeitschichten. 2003, S. 265–284, hier: S. 272.

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die im Zuge des »Wertewechsel[s] vom NS-Staat zur demokratischen Verfassung«571 zunächst seitens der Alliierten vorgenommene Rollenzuschreibung des schuldhaften NS-Täters und Mitläufers. Zwar wird der geflohene Prisoner of War weder juristisch noch politisch haftbar gemacht, gleichwohl geht sein zurückliegendes reales Tun bzw. Unterlassen mit einem Schulderleben bzw. Schuldgefühl einher.572 Im Sinne von Karl Jaspers Differenzierung des Schuldbegriffs trifft ihn eine moralische Schuld573, da die Instanz, die sie definiert, mithin sein Gewissen, innerhalb des Individuums liegt. Dass er versucht, seine Beteiligung am Krieg fortan zu verschweigen bzw. seine Tatschuld574 und seine Unterlassungsschuld575 zu verleugnen, entspricht in den Grundzügen den Merkmalen des Tätergedächtnisses, das, wie Aleida Assmann darlegt, in asymmetrischer Relation zum Gedächtnis der Kriegsopfer steht: »Täter [sind] gerade nicht um öffentliche Anerkennung, sondern im Gegenteil um Unsichtbarkeit bemüht […]. Leid stärkt das Selbstbild, Schuld droht es zu zerstören.«576 Im Kontext des Erinnerns von Gewaltgeschehen spielt das Schweigen im Sinne einer Bewältigungsstrategie der 571 Vgl. Assmann, Geschichte im Gedächtnis. 2014, S. 51. 572 Es scheint, dass bei Konrads Schulderleben das affektive Moment überwiegt, mithin »das Irrationale, Unrealistische und das emotional Drückende« gegenüber dem einsetzenden Bewusstsein einer Schuld, »die Einsicht in einen Anteil realer Schuld […,] die er anerkennen muß«. Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. 2014, S. 31f. 573 Jaspers bestimmt die moralische Schuld wie folgt: »Für Handlungen, die ich doch immer als dieser einzelne begehe, habe ich die moralische Verantwortung, und zwar für alle meine Handlungen, auch für politische und militärische Handlungen, die ich vollziehe. Niemals gilt schlechthin ›Befehl ist Befehl‹. Wie vielmehr Verbrechen Verbrechen bleiben, auch wenn sie befohlen sind (obgleich je nach dem Maße von Gefahr, Erpressung und Terror mildernde Umstände gelten), so bleibt jede Handlung auch der moralischen Beurteilung unterstellt. Die Instanz ist das eigene Gewissen und die Kommunikation mit dem Freunde und dem Nächsten, dem liebenden, an meiner Seele interessierten Menschen.« Jaspers, Die Schuldfrage. 1946, S. 31; ich danke Matthias Hirsch für diesen Hinweis. Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. 2014, S. 31. 574 Heinz Häfner differenziert verschiedene Formen der Schulderfahrung, die Tatschuld und die Existenzschuld. Bezieht sich erstere »auf eine einzige Handlung«, bezieht sich letzte »auf die ganze Gesinnung, auf alle meine Absichten und Ziele, auf alles, ›was ich bin und aus mir gemacht‹ habe.« Häfner, Heinz: Grundlinien einer daseinsanalytischen Gewissenspsychopathologie. Psyche 13, 1960, H. 11, S. 667–685, hier: S. 670f.; Matthias Hirsch weist auf den grundsätzlichen »Charakter des Doppelten oder Dialektischen der Schuld [… hin, der] sich auch in der alten Unterscheidung von ›culpa‹ (schuldig geworden sein) und ›debitum‹ ( jemandem etwas schulden) [zeigt]. ›Culpa‹ betrifft das Tun, das Handeln am anderen (aber auch an sich selbst), mit dem man sich schuldig gemacht hat, läßt sich also auch als Beziehungsgeschehen begreifen, während die Schuld am Sein von der Vernachlässigung der Verantwortung und Verpflichtung gegenüber der eigenen Identität herrührt, der nie umfassenden, nie vollkommenen eigenen Existenz des Menschen (dem entspricht die christliche Lehre von der Erbsünde als unausweichliche Gegebenheit); man schuldet sich (und den anderen), in gewisser Weise zu sein.« Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. 2014, S. 33. 575 Vgl. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. 1980, S. 117. 576 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. 2018, S. 81.

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Vergangenheit eine zentrale Rolle – je nach Perspektive kommen ihm dabei verschiedene Funktionen zu: Während Schweigen für das Opfer eine Durchgangsphase des Selbstschutzes und der Entlastung vom Schmerzensdruck darstellt, ist es die letzte Zuflucht für den Täter. Schweigen verschafft dem Opfer für eine Weile Distanz zu dem bedrohlichen Trauma, dem Täter dagegen gewährt es Sicherheit und Schutz vor Verfolgung. Tabuisierung der Tat ist deshalb das Ziel des Täters, während aufarbeitende Erinnerung das therapeutische und moralische Ziel des Opfers ist.577

Eben dies trifft auf Konrad zu, dem das Schweigen über seine belastenden Kriegserfahrungen eine ›letzte Zuflucht‹, ›Sicherheit und Schutz vor Verfolgung‹ verspricht. Dem Bedürfnis, »sich nicht weiter auf die Gräueltaten der nah zurückliegenden Vergangenheit einlassen zu müssen«578, komm er mittels kommunikativer Strategien wie dem Verschweigen, Lügen und Erfinden von alternativen Geschehensdarstellungen nach, wie anhand von Gesprächsszenen aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg sowie dem geteilten Deutschland im Folgenden herausgearbeitet wird. Bezüglich seines Umgangs mit den Kriegserfahrungen fällt zunächst auf, dass Konrad nach seiner Rückkehr aus der britischen Gefangenschaft selbstreferentielle bzw. selbstenthüllende Kommunikation meidet, es sind dies mündliche oder schriftliche Erzählungen, »in denen [der] Sprecher/Schreiber anderen Personen etwas über sich selbst […] mitteil[t]«579. Von den Eltern wird er mit offenen Armen willkommen geheißen, seine Befürchtung, »von seinem Vater verurteilt zu werden, gnadenlos, hart, voller triefender Ironie, was seine Begeisterung vor dreizehn Monaten anging« (ES 165f.), bewahrheitet sich nicht. Gedanklich hat er sich dessen Reaktion ausgemalt: »›Dieser Krieg ist verloren, das war er von Anfang an, wer sagte das seinerzeit, als du nicht abwarten konntest, zu deiner Ersatzkompanie zu kommen? Nein, mein Sohnemann stank vor Begriffsstutzigkeit in seiner fanatischen Vaterlandsliebe!‹« (ES 166) Dass Konrad gegen den Vater wegen des Aufrufs zur Fahnenflucht »eine Anzeige ernsthaft erwogen [… hatte], war nicht nur eine schwer zu verkraftende Schuld. Mehr als das: Sie verurteilte Konrad zu […] Befangenheit gegen den Vater, einer ewigen, unwiderruflichen Scham« (ebd.). So fühlt sich Konrad während seines zehnmonatigen Aufenthaltes in Lehnsahn, wo die Kannmachers nach Kriegsende eine Bleibe finden, »antriebslos, [… er leidet] an verzehrenden Selbstzweifeln, [… und kann] sich von seiner Scham nicht befreien« (ES 171). Da die Angehörigen ihn nicht zu seinen Erfahrungen an der Front befragen und er das Thema seinerseits meidet, bilden die zurückliegenden Monate in den Gesprächen der Fa577 Ebd., S. 82. 578 Ebd., S. 101. 579 Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 20.

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milie und ihrem kommunikativen Gedächtnis580 eine Leerstelle, die neben den Vorfällen mit Hartmut und Sische auch Konrads Angst vor dem Einsatz und die Verleihung des Eisernen Kreuzes Erster Klasse umfasst (vgl. ES 176). So liegt bezüglich seiner Kriegserfahrungen kein bloßer Redeverzicht, sondern ein bewusster Thematisierungsverzicht, mithin ein Verschweigen jener belastenden Lebenserfahrungen in der familialen Kommunikation vor.581 Das Verschweigen bildet den Kern seiner Verhüllungsstrategie582, mittels der Konrad versucht, die schuldhaften Anteile seiner Vergangenheit gegenüber seinen Angehörigen geheim zu halten. Nach Jensens Klassifikation folgt Konrads Rede-Abwehr der revelational function.583 Es ist sein Jugendfreund und Kamerad Erwin Pfaff, der Konrad in Lehnsahn einen Besuch abstattet und das belastende Thema zur Sprache bringt. Anders als Konrad ist Erwin nicht von Zweifel[n] und Niedergeschlagenheit [… geplagt]. Er machte sich keine Gedanken um Recht oder Unrecht, das sinnlose Morden im Krieg. Den deutschen Zusammenbruch betrachtete Erwin als Schicksalsschlag, mit dem man sich notgedrungen abfinden mußte. (ES 182)

Am Kaffeetisch berichtet Erwin im Plauderton von ihren Einsätzen, glaubt, vor der Familie »mit Partisanenjagderlebnissen Eindruck zu schinden« (ES 185): »Je unvorbereiteter sie auf den Angriff waren, um so geringer fielen unsere Verluste aus. Und wir waren erst mit unserer Arbeit zufrieden, wenn der letzte Scheißpole erledigt war.« (ES 185f.) Diese Schilderung steht im Widerspruch zur Darstellung Konrads, der in seinen Briefen an die Familie »entschieden[] versicherte […], eine saubere Arbeit verrichtet zu haben« (ES 16). Ungeachtet des Missfallens und »betretene[n] Schweigen[s] am Tisch« (ES 186), gibt Erwin auch Konrads Einsatz-Angst, die er der Familie schamhaft vorenthalten hat, preis und enthüllt seine Selbstinszenierung als »tapferer deutscher Soldat« (ES 16), alias Alfredo, als Täuschung/Bluff:

580 Im Unterschied zum kulturellen beruht das kommunikative Gedächtnis auf Alltagskommunikation, die »durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit gekennzeichnet [ist]«. Das kommunikative Gedächtnis ist sozial vermittelt, gruppenbezogen und durch einen beschränkten Zeithorizont von etwa drei bis vier Generationen gekennzeichnet. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M. 1988: Suhrkamp, S. 9–19; das kommunikative Gedächtnis ist als »Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft […] an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden«. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2008: C.H. Beck, S. 14. 581 Vgl. zur Unterscheidung von Schweigen und Verschweigen Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 44. 582 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 108–110. 583 Vgl. Jensen, Communicative Functions of Silence. 1973, S. 252–254.

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Besorgt waren Hartmut und ich nur um Konrad […], kein Einsatz, vor dem sich Alfredo nicht naß machte. Habe ich recht, Junge, ging dir der Arsch nicht auf Grundeis? […] Oh ja, eine Memme, das war er, bis zu dieser Sache beim Gutshof […]. Ich bekam einen Volltreffer ab, […] und wenn ich den Heldentod haarscharf verpaßt habe […], verdanke ich das meinen [sic!] Freund Konrad Kannmacher, der sich rechtzeitig von unserer Gruppe entfernt hatte und dem einen der Polen seine Fresse zersiebte. Im Handumdrehen sollte aus Konrad, dem Schisser, ein tapferer, deutscher Soldat werden. (ES 186)

Konrad verfolgt die unfreiwillige Demaskierung584 zunächst »ohne sich zu rechtfertigen oder dem Schulkumpel zu widersprechen« (ebd.). Erst als Erwin fortsetzt: »Na, was sonst, hat man dir nicht das Eiserne Kreuz Erster Klasse verliehen?« (ES 187), meldet er sich zu Wort und muss »dringend die Notbremse ziehen« (ebd.): »[D]as EK2 haben sie mir verliehen, nur das EK2« (ebd.), stammelt er. Offenbar sieht er sich »gezwungen, auf die aktuelle Gefahr [d]es Geheimnisverrats unmittelbar mit einer Lüge zu reagieren«585. Nach Alfred Bellebaum greift Konrad hier auf eine reaktive Decklüge586 zurück, da seine bislang erfolgreiche Geheimhaltung der EK1-Verleihung vor den Angehörigen aufzufliegen droht. Indem er Erwin widerspricht bzw. darauf beharrt, lediglich das EK2 erhalten zu haben, nutzt er auch die Strategie der begrenzte[n] Kumpanei587. Das Eingestehen des »vergleichsweise [weniger] []bedeutende[n] Geheimnis[ses]«588 folgt der Intention, die zentrale Information der EK1-Verleihung zu schützen und weitere Nachfragen seiner Angehörigen zu unterbinden – im Sinne von »throwig the dog a bone = dem Hund einen Knochen hinwerfen«589. Gleichwohl deckt Erwin mit seiner Schilderung Konrads Nicht-Reden über seine Kriegserfahrungen als bewussten Thematisierungsverzicht auf und entlarvt den sich durch Verschweigen von familialer Verurteilung zu entlasten Suchenden als kompromittiert. Das Umfälschen590 von schuldhaften Biographieanteile erfolgt vor dem Hintergrund, dass persönliches Erinnern […] ein dynamischer Prozess [ist], in dem man sich von den Bedingungen und Bedürfnissen der Gegenwart aus immer wieder anders auf die Ver-

584 Albert Spitznagel fasst die Demaskierung als »eine mißlungene Geheimhaltung von selbstbezogenem Wissen oder von begangenen bzw. aktuellen Handlungen […] mit dem Ergebnis, daß etwas sozial transparent geworden ist, was nicht transparent werden sollte. […] Jemand fühlt sich demaskiert, wenn andere bemerken, daß seine Selbstdarstellung strategisch ist. Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 35. 585 Bellebaum, Schweigen und Verschweigen. 1992, S. 91. 586 Ebd. 587 Ebd., S. 89. 588 Ebd. 589 Ebd. 590 Aleida Assmann bestimmt fünf Strategien der Schuldabwehr: »Aufrechnen, Externalisieren, Ausblenden, Schweigen und Umfälschen«. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. 2018, S. 169.

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gangenheit einlässt und dabei gerade so viel von ihr zulässt wie man gebrauchen oder ertragen kann.591

Eben dies verdeutlicht die Lüge Konrads, der sich wegen seiner »leichtsinnigen Kriegs- und Soldatenbegeisterung, die nur ein dummer Junge aufbrachte« (ES 170) insbesondere vor seinem Vater schämt, der »niemals den Irrtum begangen [hat], ›Sieg Heil!‹ zu schreien und an den Endsieg zu glauben« (ES 166), der stattdessen »mutig und selbstlos« (ebd.) einem vom NS-Regime verfolgten Juden ins Exil verholfen hat, ohne »[g]roßes Gewese« (ebd.) darum zu machen. Im Angesicht des »[U]nangreifbaren« (ebd.) fühlt Konrad sich als »Versager, der sich von falschen Ideen hatte mitreißen lassen« (ES 170). Auch im Zusammenhang mit Hartmuts Tod bedient sich Konrad der Lüge, mithin dem »verbale[n] Schweigen […, das] den Charakter der ablenken Tarnung [… hat]«592. Anders als im Falle der Verleihung des EK1, wo seine Lüge der Geheimhaltung folgt, geht sie im Falle von Hartmuts Tod der Verheimlichung voraus. Dies wird im Abgleich von Konrads unmittelbarer Reaktion auf das Ereignis und seinem späteren Umgang damit deutlich. Damals weicht er wochenlang davor zurück, Hartmuts Eltern zu kontaktieren, wozu er sich verpflichtet fühlt. Er entschließt sich, ihnen die tatsächlichen Todesumstände vorzuenthalten. Gedanklich rechtfertigt er seinen Entschluss: »Es war besser, wenn er die[] Wahrheit in sich begrub, tief in seinem Innern […] und vergaß. Sie war nicht das richtige Mittel, […] um den Kummer der Eltern zu lindern.« (ES 102) Stattdessen behauptet er in seinem Brief, »den Tod seines Freundes nicht miterlebt [zu haben und beteuert, es sei] ein schmerzloses Ende [gewesen]« (ES 108). Im Sinne von Gabriel Falkenberg lässt sich in diesem Fall von einer starken Lüge593 sprechen, da Konrad »etwas behaupte[t], was […] er nicht glaubt [… und] von dem [… er] überzeugt ist, daß es nicht so ist«594 – verfolgt ihn der verstörende Moment, als er seinen sterbenden Freund zurücklässt, doch in all seinen fürchterlichen Details bis in die erzählerische Gegenwart (vgl. ES 399, 565). Monate später, während Erwins Besuch in Lehnsahn, muss sich Konrad dessen Fragen zum Tod des gemeinsamen Freundes stellen: »Konntest Du Hartmut nicht retten?« verlangte der Kumpel mit heiserer Stimme zu wissen, eine Frage, die Konrad zusammenzucken ließ. »Ich war in der Kaserne«, erwiderte er erregt, »wo ich mich von einem anderen Einsatz erholte. Als es passierte, war ich in Stettin, nicht mit Hartmut zusammen, verstanden?« – »Ist ja gut, Junge«, wiegelte Erwin ab. Sie schwiegen, bis Konrad sich wieder beruhigt hatte. »Was ich weiß, weiß ich 591 Ebd., S. 175. 592 Sass, Topographien des Schweigens. 2013, S. 15. 593 Von der starken Lüge grenzt Falkenberg die schwache Lüge ab, die den Umstand bezeichnet, dass man »etwas behauptet, […] von dem man weder glaubt, daß es so ist, noch glaubt, daß es nicht so ist«. Falkenberg, Lügen. 2015, S. 136. 594 Ebd.

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nur aus Berichten von anderen Sonderkommandomitgliedern«, versetzte er schluckend, »die an diesem Auftrag beteiligt waren«, und wiederholte den Briefschwindel an Hartmuts Eltern […]. (ES 188)

In Anwendung des Höflichkeitsmodells der Linguisten Penelope Brown und Stephen Levinson lässt sich Erwins Frage als ein face-threatening-act (FTA)595 klassifizieren, der Konrads face596 bzw. sein öffentliches Selbstbild bedroht. 595 Brown/Levinson legen ihrer Definition des Begriffs face-threatening-acts (FTA) die Annahme zu Grunde, dass »certain kinds of acts intrinsically threaten face, namely those acts that by their nature run contrary to the face wants of the addressee and/or of the speaker. By ›act‹ we have in mind what is intended to be done by a verbal or non-verbal communication […].« Brown, Penelope/Levinson, Stephen: Politeness: Some Universals in Language Usage. Studies in Interactional Sociolinguistics 4. Cambridge 1996: Cambridge University Press, S. 65; in ihrem hierarchisch angelegten Höflichkeitsmodell bilden sie Strategien für das Ausführen von gesichtsbedrohenden Akten ab, wobei sie annehmen, dass »Sprecher die implizite gesichtsbedrohende Kraft einer intendierten eigenen Äußerung einschätzen und die tatsächliche Realisierung nach einem Kalkül der sich gegenseitig beeinflussenden Beziehungsdimensionen ›Macht‹, ›Distanz‹ und ›sozialer Rang‹ kalibrieren, d. h. zwischen den Polen ungeschminkten Aussprechens des Sprechakts […] und einer größtmöglichen Schonung der Gesichtsbedrohung plazieren«, wie Johannes Schwitalla pointiert zusammenfasst. Schwitalla, Johannes: Beziehungsdynamik. Kategorien für die Beschreibung der Beziehungsgestaltung sowie der Selbst- und Fremddarstellung in einem Streit- und Schlichtungsgespräch. In: Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Gesprächsrhetorik. Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß. Studien zur deutschen Sprache 4. Tübingen 1996: Gunter Narr, S. 279–349, hier: S. 282; Brown/Levinson modellieren Verhaltensstrategien zwischen den Polen der maximalen Direktheit (»Do the FTA«, »on record«, »without redressive action, baldly«) und der maximalen Indirektheit (»Don’t do the FTA«). Vgl. Brown/Levinson, Politeness. 1996, S. 69; von diesem Modell ausgehend, lässt sich das Schweigen bzw. Nicht-Sprechen, sofern es aus der Entscheidung, einen gesichtsbedrohenden Akt zu vermeiden, resultiert, als maximal uneindeutige Äußerungsform, mithin als eine ›face-saving‹Strategie fassen; Maria Sifianou relativiert den hohen Höflichkeits-Status, dem das Schweigen nach Browns/Levinsons Modell im Sinne der Superstrategie ›don’t do the FTA‹ zukommt und erläutert, dass auch Schweigen als gesichtsbedrohender Akt wirken kann, etwa sofern in einem entsprechenden Gesprächskontext eine erwartete Äußerung wie das Formulieren von Komplimenten oder Gratulationen ausbleibt. Vgl. Sifianou, Maria: Do We Need to Be Silent to Be Extremely Polite? Silence and FTAs. International Journal of Applied Linguistics 5, 1995, H. 1, S. 95–110, hier: S. 99f. 596 Erving Goffman bezeichnet mit dem Begriff face »the positive social value a person effectively claims for himself by the line others assume he has taken during a particular contact. Face is an image of self delineated in terms of approved social attributes – albeit an image that others may share, as when a person makes a good showing for his profession or religion by making a good showing for himself. […] A person may be said to have, or be in, or maintain face when the line he effectively takes presents an image of him that is internally consistent, that is supported by judgements and evidence conveyed by other participants, and that is confirmed by evidence conveyed through impersonal agencies in the situation«. Goffman, Erving: On Face-Work. An Analysis of Ritual Elements in Social Interaction. In: Ders.: Interaction Ritual. Essays on Face-To-Face Behavior. New York 1982: Pantheon, S. 5– 45, hier: S. 5f.; Brown/Levinson knüpfen an Goffmans Definition ihr Verständnis des Begriffs face an: »[A]ll competent adult members of a society have (and know each other to have) […] ›face‹, the public self-image that every member wants to claim for himself,

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Erwin signalisiert auf direkte, unverhohlene Weise, dass Konrad Hartmut nicht gerettet hat – wobei er seinerseits präsupponiert, dass erstens Konrad und Hartmut in jener Situation zusammen gewesen sind, dass zweitens die Rettung Teil der Handlungsrolle eines Freundes ist und dass drittens eine Chance auf Gelingen der Rettung bestanden hat. Da seine Annahme mit dem tatsächlichen Hergang nahezu übereinstimmt, bringt er Konrad aus der Fassung, der Zeit benötigt, »um sich wieder [zu] beruhig[en]« (ES 188). Um sein Gesicht zu wahren, greift Konrad seine vor Monaten ausgedachte Lüge wieder auf und schmückt sie mit Details aus, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Es scheint sodann, als würde Erwin die Äußerung glauben bzw. nicht als sachlich falsch erkennen und Konrads Unruhe als Ausdruck seines Verlustschmerzes werten – nicht jedoch als Ausdruck seiner Scham über die verschwiegene unterlassene Hilfeleistung. Zum Gelingen der Täuschung trägt bei, dass es Erwin kaum möglich ist, den Wahrheitsgehalt von Konrads Darstellung zu prüfen, da »alle anderen Sonderkommandomitglieder, die sie ins Wanken bringen konnten, […] tot [waren]« (ES 188). Da Konrad »sich […] gezwungen [sieht], dem mißtrauisch gewordenen [… Erwin] die [damalige] Lüge zu verheimlichen«597, lässt sich seine Lüge auch als eine Zwecklüge598 klassifizieren. Augenscheinlich scheut er sich vor der Offenlegung des tatsächlichen Hergangs und befürchtet, dass Erwin ihm eine Mitschuld an Hartmuts Tod zuspricht. Das Festhalten an der Lüge im Angesicht des ›Dritten‹ im Bunde – einst sind die Schulfreunde Konrad, Hartmut und Erwin unzertrennlich gewesen und wurden von den Soldaten ihrer Einheit »›Kleeblatt‹« (ES 10) genannt – markiert, dass Konrad das Zurücklassen Hartmuts als einen nicht zu entschuldigenden Verrat ihrer Freundschaft wertet. Wie auf die meisten Lügner trifft auch auf Konrad zu, dass er »mindestens dem Hörer suggerieren [will], dass er […] an die Wahrheit des Sachverhaltes glaubt«599 – klammert er sich doch selbst an »den Briefschwindel […] als sei er wahr« (ES 188). In den folgenden Monaten absolviert Konrad das Not-Abitur, nimmt ein Lehramtsstudium auf und unterrichtet in einem Schleswig-Holsteinischen Dorf consisting in two aspects: […] »negative face: the want of every ›competent adult member‹ that his actions be unimpeded by others [… and] positive face: the want of every member that his wants be desirable to at least some others.« Brown/Levinson, Politeness. 1996, S. 61f.; Brown/Levinson erläutern: »Thus face is something that is emotionally invested, and that can be lost, maintained, or enhanced, and must be constantly attended to in interaction. In general, people cooperate (and assume each other’s cooperation) in maintaining face in interaction, such cooperation being based on the mutual vulnerability of face. That is, normally everyone’s face depends on everyone else’s being maintained, and since people can be expected to defend their faces if threatened, and in defending their own to threaten other’s faces, it is in general in every participant’s best interest to maintain each other’s face […].« Ebd., S. 61. 597 Bellebaum, Schweigen und Verschweigen. 1992, S. 91. 598 Vgl. ebd., S. 91f. 599 Müller, Lüge und Wahrhaftigkeit. 2007, S. 37.

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als Volksschullehrer. Bei der privaten Teilnahme an einem Philosophie-Kongress lernt er Professor Jochen Moosbach kennen, der sein Interesse an dem Fach fördert, ihn zum Philosophie-Studium ermuntert und als Doktorand annimmt. Vor Jochen, der Konrad Förderer und Freund zugleich ist, leben seine Schuldgefühle immer wieder auf. Jochen hat während des Krieges Fahnenflucht begangen und ist daraufhin zum Tode verurteilt worden (vgl. ES 300, 306f.). Seine Frau Nelli ist im Widerstand aktiv gewesen (vgl. ES 300–303). Vor dem Paar, das ihm ein moralisches Vorbild ist, schämt sich Konrad für seinen soldatischen Gehorsam und sein enthemmtes Handeln besonders stark. Dies umso mehr, weil die Frage, »[o]b einer sauber war und bei den Nazis seinen menschlichen Anstand bewahrt hatte oder nicht, […] bei Moosbach ein ewiges Thema [war]« (ES 374). Weil Konrad ›seinen menschlichen Anstand bewahrt haben wollte‹, behauptet er, nichts als ein mutloser Milchbart in Wehrmachtsklamotten gewesen zu sein, zu zaudernd und schlotternd, um je einen Schuß abzugeben. In seinen knapp sieben Monaten auf Partisanenjagd oder beim Sonderkommando habe er sich als totaler Versager erwiesen, anders als seine pommerschen Schulkameraden Erwin Pfaff, Hartmut Hildebrandt oder Karl Stoph. (ES 373f.)

Vor Jochen und Nelli bagatellisiert Konrad seine Beteiligung am Krieg und fingiert ein ins Gegenteil verkehrtes Abbild seiner Selbst – obwohl sich der Adoleszente damals freiwillig für den Einsatz im Sonderkommando gemeldet hat, im Rahmen dessen ihm für die erzielten Erfolge das Eiserne Kreuz Zweiter und Erster Klasse verliehen und er zum Fahnenjunker befördert worden ist. Ein »totaler Versager« (ES 374), wie er sich zu Lasten seiner Schulfreunde und Kameraden präsentiert, ist er nach Einschätzung der ihm vorgesetzten Offiziere keineswegs gewesen. Seine anfängliche Einsatz-Angst, die sich in Übelkeit, Erbrechen und wiederkehrenden Durchfallattacken niederschlägt – Umstände, in denen Konrads Geschichte ihren wahren Ausgangspunkt nimmt –, legt er mit dem Tod Hartmuts ab (vgl. ES 104). Auch die ihn belastenden Schuld- und Schamgefühle verheimlicht er seinen Freunden. Anstatt seine Tatschuld600 zu offenbaren, fingiert er eine Geschichte des Erleidens und ist »darum [bemüht], sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus zu stilisieren«601. Neben dem Verschweigen und Lügen ist auch das Erfinden alternativer Geschehensabläufe Teil von Konrads Verhüllungsstrategie. So erzählt er Jochen und Nelli von einen Kameraden namens Alfredo, »der bei seinem Sonderkommando gewesen sei und dem man das EK1 zuerkannt habe« (ES 374). Die Freunde wissen nicht, dass Alfred Konrads zweiter Vorname ist und kennen auch nicht die damit 600 Vgl. Häfner, Grundlinien einer daseinsanalytischen Gewissenspsychopathologie. 1960, S. 670 f. 601 Rosenthal, Traumatische Familienvergangenheiten. 1999, S. 37.

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zusammenhängende Geschichte – dass Konrad mit Alfredo die Figur des tapferen Soldaten kreiert hat, die in Briefen vor und nach 1945 in flammender Begeisterung für den Krieg seine vermeintlichen Heldentaten schildert, wissen sie nicht. Vor den Freunden schreibt Konrad sein Fehlverhalten der Figur Alfredo zu, unter anderem die Erschießung des fahnenflüchtigen Sische: Ja, sein erfundener Kumpel erlaubte es Konrad, Erlebnisse wiederzugeben, die er vor den beiden verdreht oder schlichtweg vertuscht hatte. Er dichtete sie dem erfolgreichsten Mitglied in Holzapfels Sonderkommando, »Alfredo«, an, der eine lausige Woche vor Kriegsende den Mittelgewichtsmeister Sische verpfiff, als dieser Reißaus nehmen und Fahnenflucht begehen wollte, und hatte sich, widerspruchslos, als korrekter Soldat, der nichts anderes als seine Pflicht tat, an Sisches Erschießung beteiligt. [ebd.]

Das Erfinden des kampfbereiten NS-Täters Alfredo lässt sich aus psychologischer Perspektive als Externalisierung602 fassen, mittels der sich Konrad von seinem persönlichen schuldhaften Tun bzw. jenen identitätsbedrohenden Teilen seiner Biographie zu befreien sucht. Damit intendiert er zum einen eine Befreiung von dem ihn plagenden schlechten Gewissen (ES 374), mithin eine Reinigung seiner Selbst. Zum anderen sucht er – »unter dem Druck des sozialen Affekts der Scham«603 gegenüber seinen moralischen Vorbildern – jeden etwaigen Verdacht einer schuldhaften Teilnahme am Krieg zu zerstreuen, um als vollständiges Mitglied ihrer antifaschistischen Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft anerkannt zu werden. Im Sinne von Brown/Levinson geht Konrad dem Bedürfnis nach, sein gegenwärtiges positive-face604 aufrechtzuhalten, das heißt von seinen Vorbildern anerkannt und gemocht zu werden, weil er fürchtet, mit der Offenlegung der tatsächlichen Geschehnisse und seiner mittlerweile abgelegten Gesinnung die Loyalitätsbeziehung zu den Freunden und seine berufliche Existenz als Hochschuldozent zu gefährden. So steht auch das Erfinden der Figur Alfredo »im Dienste einer neuen Identität [… bzw.] der Aufrechterhaltung der offiziellen 602 Im vorliegenden Kontext fasst der Sammelbergriff Externalisierung im weiteren Sinne »projektive[] Prozesse[], also solche[] psychischen Vorgänge[], bei denen gewisse intrapsychische Inhalte nicht als die eigenen erkannt und erlebt, sondern der äußeren Welt und insbesondere anderen Menschen zugeschrieben werden. So können aggressive Impulse, Stimmungen, Wünsche, Konflikte etc. […] nach ›außen‹ verlegt bzw. projiziert werden. In anderen Fällen handelt es sich […] um neu entstehende phantasierte Objekte und sonstige Weltbezüge, in die die eigenen Wünsche, Aggressionen, Stimmungen etc. projiziert werden. [… dieser Abwehrmechanismus] dien[t] der Verschleierung, der Verleugnung eines nicht akzeptierten Selbstanteils«. Mentzos, Stavros: [Art.] Externalisierung. In: Mertens, Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. 2014, S. 243–246, hier: S. 243, 245. 603 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. 2018, S. 82. 604 Brown/Levinson verstehen unter dem Begriff positive face »the want of every member that his wants be desirable to at least some others«. Brown/Levinson, Politeness. 1996, S. 61f.; vgl. hierzu auch Kapitel 3.1.3.

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Identität gegenüber einer geheimen zweiten, aber gleichzeitigen Alternatividentität«605. Über das Verschweigen seiner persönlichen Beteiligung am Krieg im Kreise seiner Familie hinausgehend, entwickelt Konrad innerhalb des politisch engagierten linken Zirkels seiner Freunde und Institutskollegen eine ausgeprägte Beredsamkeit, um seine Verstrickung in den Krieg zu verdecken.606

3.1.4 Intra-/interpersonale Folgen von verschwiegenem schuldhaften (Nicht-)Tun Konrads Verschweigen und Verleugnen seiner Beteiligung am Krieg zielt in Gänze darauf ab, jene schuldhaften Erfahrungen, die »mit dem eigenen Identitätsprofil inkompatibel«607 sind, von sich abzuspalten. Obwohl die sprachliche Täuschung seiner Freunde und Kollegen gelingt, geht sie mit negativen intra- wie interpersonellen Folgen für die Figur einher. Mit Blick auf den zeitlichen Verlauf wird zunächst deutlich, dass die Verhüllung seiner Schuld seine psychische Gesundheit angreift: Bereits während des Krieges klammert sich Konrad »an den Schwindel [in Bezug auf Hartmuts Tod], als sei er wahr, ja, [er] hatte bald Zweifel, was seine Erinnerung anging, [die er …] mehr und mehr als ein qualvolles Hirngespinst [betrachtete]« (ES 108). Jahre später, als Konrad im Gespräch mit Jochen und Nelli die Alfredo-Figur erfindet, der er seine dunklen Biographieanteile zuschreibt, gesteht er gedanklich, »nicht mehr entwirren [zu können], ob der angeblich […] von einem Tommy erledigte Kumpel sein Schatten war – oder er selber der Schatten ›Alfredos‹« (ES 374). Da jedoch das autobiographische Gedächtnis eine zentrale Rolle für das Selbstkonzept608 eines Menschen spielt – psychologische Forschungen weisen unter anderem auf den Aspekt hin, dass »[w]ir […Menschen] unsere Erinnerung [brauchen], um uns in der Gegenwart für die Zukunft zu orientieren und auszurichten«609 – wirkt sich die Störung von Konrads Gedächtnis destruktiv auf seine Selbstwahrnehmung, die Frage, wer er ist, aus. Das jahrelange Lügen und Fingieren führt dazu, dass Konrad Erfahrung 605 606 607 608

Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 45. Vgl. ebd. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. 2018, S. 82. Das Selbstkonzept eines Menschen wird durch individuelle Erlebnisse, Motivationen und Ziele bestimmt; es bündelt Selbstzuschreibungen, die eine Person aus ihren Erfahrungen im Zeitablauf für sich ableitet. Somit stellt es eine spezielle Sichtweise auf die Vergangenheit dar, die abbildet, welche persönlichen Ereignisse (nicht) als bedeutungsvoll eingestuft und welche entsprechend der eigenen Präferenzen in der Erinnerung (um)gedeutet werden. Vgl. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 80f.; vgl. Ders.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart 2007: Kohlhammer, S. 127– 131. 609 Staniloiu/Kordon/Markowitsch, Erinnerung und Erinnerungsblockaden. 2019, S. 29.

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und Erfindung nicht mehr trennscharf voneinander abzugrenzen vermag, wodurch sein Selbstkonzept geschwächt wird. Dass er die entstandene Selbstwidersprüchlichkeit hinnimmt, auf die Herstellung von personaler Identität im Sinne der »Wahrung der unverwechselbaren Einheit der individuellen Person angesichts wechselnder Handlungsbedingungen bzw. deren Wiederherstellung nach eingetretener Schuld«610 verzichtet, trägt nicht zur Verwirklichung seiner Selbst, sondern zum Verlust seiner personalen Identität bei.611 Das Verleugnen seiner Kriegsbeteiligung und ideologischen Verirrung gegenüber Jochen und Nelli belastet Konrad – auch, weil »je länger das Schweigen währt, [es sich] um so alternativloser macht«612. Im täglichen Universitätsbetrieb verdrängt er sein schlechtes Gewissen weitgehend. Erst als er in den 1960er Jahren eine Gastdozentur an der Universität von Albany innehat (vgl. ab ES 344) und er sein vertrautes Umfeld verlässt, kann er sich den belastenden Gedanken nicht länger entziehen. Er reflektiert seine Täuschung: Auf dem amerikanischen Schiff, meilenweit von der Heimat entfernt, konnte er Dingen ins Auge schauen, an die er zu Hause zu denken nicht wagte: Er hatte sich vor seinen Freunden verstellt, wenn es um seine Wehrmachtszeit ging. Ja, er hatte sie wieder und wieder belogen, sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus Feigheit, zum einen, um beider Vertrauen zu rechtfertigen, zum anderen, um nicht vom Anspruch zerrieben zu werden, den Jochen und Nelli erhoben. (ES 373)

Dass Konrad sich nicht offenbart, wiegt umso schwerer, als er sich bewusst ist, dass das Verleugnen seiner Kriegsbeteiligung den Nährboden bildet, auf dem seine Freundschaft mit Jochen und Nelli, seine Hochschulkarriere sowie sein 610 Thomas von Aquin zitiert nach Ludger Honnefelder, Gewissen und personale Identität. In: Arbeitskreis katholischer Schulen in freier Trägerschaft (Hrsg.): Gewissensbildung heute – zwischen Standfestigkeit und Anpassung. Referate und Berichte der Jahrestagung der Vereinigung Deutscher Ordensschulen und -internate (Sektion Schule) vom 28.–30. Oktober 1985 in Freising. Materialien 7. Bonn 1986: Arbeitskr. kath. Schul. i. fr. Tr., S. 24–38, hier: S. 35; ich danke Gesine Schwan für diesen Hinweis. Schwan, Politik und Schuld. 1997, S. 43. 611 Vgl. ebd., S. 42–46. Schwan argumentiert, dass Schuld »aus der ›Nicht-Koinzidenz‹ des Menschen mit sich selbst [erwächst]. Wir sind nicht einfach mit uns identisch, sondern treten, ob wir wollen oder nicht, dank unseres Reflexionsvermögens in ein Verhältnis zu uns selbst, das wir in anderem Kontext Freiheit nennen. Diese ständig angelegte Nicht-Koinzidenz erfahren wir im Gewissen zugleich als die Aufgabe, die durch normative Verfehlungen gestörte Selbst-Übereinstimmung wiederherzustellen. Im Gewissen ergeht mir der Auftrag zur personalen Identität, die ein natürliches und ein moralisches Element enthält. Das natürliche (z. B. der Fingerabdruck) ist mir mitgegeben, das moralische muß ich selbst aufbringen. Insgesamt ist meine personale Identität daher meine Leistung. Vom Gewissen ausgehend, bedeutet sie die ›Bewahrung der Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst‹, d. h. zwischen den eigenen Normen und dem Verhalten. Personale Identität ist aber nicht nur formale Widerspruchslosigkeit, sie ergibt sich material ›aus einem als sinnvoll erfahrenen Entwurf geglückten Lebens‹, sie ist qualitative Identität, Übereinstimmung meines Tuns mit meiner Vorstellung vom Guten.« Ebd., S. 42. 612 Sass, Topographien des Schweigens. 2013, S. 26.

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gesellschafts-politisches Engagement gedeihen. Die nach 1945 erfolgte Annäherung von der »Idealvorstellung seiner Selbst (Ideal-Ich) und der Realität seines Selbst«613 verdankt er seinen Freunden: [E]r kam sich seinen Freunden verpflichtet vor. Sie hatten Konrad zur Laufbahn vom Dorflehrer in einem Kaff Schleswig-Holsteins zum Philosophieassistenten in Frankfurt verholfen. […] Den Mut, leidenschaftlich politisch zu wirken, in der Partei und im Ostermarschkomitte, beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund oder in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, hatte er erst mit den Freunden entwickelt […]. Und bei aller Dankbarkeit, die er empfand, hatte Konrad den Eindruck, als sei er der falsche Mann auf seinem Assistentenstuhl am philosophischen Fachbereich. Er kam sich bis heute als Hochstapler vor, der es niemals verdient hatte, Doktor zu werden. Das machte aus deiner Beziehung zu Nelli und Jochen ein unangenehmes Versteckspiel. (ES 373)

Augenscheinlich wirkt sich Konrads schlechtes Gewissen gegenüber den Freunden auf sein Selbstwertgefühl aus. Obwohl bereits sein erster philosophischer Aufsatz auf einem Kongress Zuspruch findet (vgl. ES 278, 283), Jochen seinen »philosophischen Scharfsinn« (ES 290) lobt und ihm nach seinem Doktor zu einer Assistentenstelle an der Frankfurter Universität verhilft, wo er den Ruf entwickelt, »wissenschaftlich exakter zu sein als der Lehrer« (ES 425) und er sodann eine Professur an der Universität Bamberg annimmt (ES 490), ist Konrad überzeugt, »dass er es niemals verdient hatte, Doktor zu werden« (ES 373). Die psychoanalytische Forschung beschreibt Minderwertigkeits- und Schuldgefühle wie diese als Ausdruck einer Spannung zwischen dem Über-Ich und dem Ich, bzw. als Strafe des Ichs durch das Über-Ich aufgrund der Nichteinhaltung von Normen.614 Eben dies trifft auf Konrad zu, den die Angst, »sich bei einer Wortmeldung [im Seminar] peinlich zu vergaloppieren und als philosophischer Hochstapler aufzufallen, der seinen akademischen Posten dem blinden Vertrauen eines Freundes verdankte« (ES 425), Zeit seines Lebens nicht loslässt. Seine anhaltende Überzeugung, »als Philosoph eine Niete zu sein« (ES 525), lässt sich als Wendung gegen sein Selbst zur Kompensation seiner Lebenslüge interpretieren. Neben der psychischen Destabilisierung wirkt sich das Verschweigen bzw. Verleugnen seiner Kriegsbeteiligung auch auf seine sozialen Bindungen aus. Als er 1967 Knut Hildebrandt, dem Bruder seines verstorbenen Freundes Hartmut, in Ostberlin einen Besuch abstattet, um in Erinnerungen an ihre pommersche Jugend zu schwelgen, bringt dieser ihn mit der Staatssicherheit (Stasi) in Kontakt. 613 Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. 2014, S. 32. 614 Vgl. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17 [1915– 17]). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933 [1932]). FreudStudienausgabe 1. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. 12. Aufl. Frankfurt/M. 1994: Fischer, S. 503f., 515; ich danke Gesine Schwan für diesen Hinweis. Schwan, Politik und Schuld. 1997, S. 203–205.

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In der Folge wird er von einem Mitarbeiter namens Lachmanski, der über Konrads Vergangenheit im Bilde ist, erpresst – zurück im westdeutschen Frankfurt soll er eine Spitzel-Tätigkeit aufnehmen, ansonsten würde seine Vergangenheit publik (vgl. ES 411): »Ein harmloser Wehrmachtsoldat waren Sie nicht, als Mitglied der Waffen-SS, beispielsweise, oder beim Sonderkommando kurz vor dem Zusammenbruch, wo Sie das Eiserne Kreuz Erster Klasse erhielten, das nur einer bekam, der sich richtig ins Zeug legte und beim Menschenerschießen nicht naß machte. […] Eisernes Kreuz Erster Klasse und Mitgliedschaft bei der SS werden Sie bei den sauberen Antifaschisten in Mißkredit bringen. Wollen wir wetten, Genosse Professor? Moosbach wird außer sich sein vor Entsetzen.« (ebd.)

Getrieben von der Angst, aufzufliegen, nimmt Konrad den fragwürgen Auftrag an. Er ist sich bewusst, dass er mit der Lieferung von »schriftliche[n] Mitteilungen und Protokolle[n], sei es von SDS- und Gewerkschaftsversammlungen [… oder] von Diskussionen bei Moosbachs im Wohnzimmer, die vor allem personenbezogen sein sollten« (ES 415f.) an einen Frankfurter Verbindungsmann seinen »Verrat an der Freundschaft zu Jochen und Nelli« (ebd.) auf eine neue Ebene hebt. So leistet das Verschweigen und Verleugnen seiner Vergangenheit weiteren Lügen Vorschub bis »Konrad […] nicht mehr aus noch ein [weiß]« (ES 416). Auch in Hinblick auf seinen Vater, Ludwig Kannmacher, trägt Konrads Verschwiegenheit zur Aufrechterhaltung einer unüberwindbaren emotionalen Distanz bei. Seine Kriegserfahrungen hat er dem Vater schamhaft vorenthalten, ebenso die Achtung, die er diesem gegenüber empfindet, so vermag er bloß gedanklich zu formulieren, dass »es kein besseres Vorbild gab als seinen Vater« (ES 457). Anstatt »miteinander zu sprechen, […] schw[ei]gen sich [… beide] beharrlich an« (ES 282) und so verehrt Konrad den Vater »aus der Ferne, beklommen, verlegen und scheu« (ES 457). Ihre Verbindung beschreibt er bildhaft in der Bewegung »eines Mondes, der seinen Planeten umkreist und zum ewigen Abstand verurteilt ist« (ebd.). Die Distanz zwischen Vater und Sohn illustriert, dass für »die Aufrechthaltung interpersonaler Beziehungen […] fortlaufend soziale Informationen beschafft werden [müssen], sei es über den [Gesprächs-] Partner oder über die Beziehung selbst«615. Das ausbleibende Anvertrauen616 615 Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 41f. 616 Nach Albert Spitznagel bildet das Anvertrauen »eine wesentliche Voraussetzung für Entwicklung und Stabilität enger oder intimer Beziehungen […]. Die Abhängigkeit des Anvertrauen(-Könnens) von der Erfüllung einer Konjunktion begrenzender Bedingungen erfordert daher vom Sprecher die Verarbeitung von komplexen sozialen wie persönlichen, aktuellen wie gespeicherten Informationen, aus der schließlich die Entscheidung resultiert, was und wieviel man jeweils wem und wann mitteilt. […] Anvertrauen erzeugt nicht nur Vertrauen, sondern Vertrauen ist wiederum Voraussetzung für Anvertrauen«. Ebd., S. 36f.

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Konrads trägt dazu bei, dass sich keine Intimität/Enge in ihrer Beziehung einstellt. Weil sich Konrad der Selbstenthüllung Zeit seines Lebens verweigert und sich stattdessen biographischer Reparaturstrategien617 wie dem Verschweigen, Lügen und Erfinden bedient, um seine »bedrohliche Vergangenheit«618 zu verhüllen, bleibt ihm die entlastende Möglichkeit verwehrt, im Gespräch seine »biographische[n] Erfahrungen zu überprüfen, rückblickend anders zu interpretieren und vor diesem Hintergrund die Zukunft neu zu konstruieren«619. Hinsichtlich der Bewältigung von Schuld betont Matthias Hirsch, dass »Schuld […] nicht ungeschehen zu machen oder sonst aufhebbar [ist]«620. Schuld lässt sich jedoch bewältigen durch Versöhnung mit dem Geschädigten (der dazu bereit sein muß) als einer Neudefinition ihrer Beziehung sowie durch die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft, deren Ordnung gestört worden ist. Die Voraussetzung ist Schuldbewußtsein und Schuldanerkennung, ein Bekenntnis, verbunden mit einer gefühlsmäßigen Einsicht, eben der Reue.621

In Anwendung dieser Überlegung auf Konrads Umgang mit seiner Tatschuld622 fällt auf, dass er diese zwar anerkennt, Reue und Scham empfindet und sowohl im Hinblick auf seine Kriegsbeteiligung als auch auf seine Verhüllungsstrategie das Bewusstsein entwickelt, die »Illusion, seinem Ideal-Selbst nahe zu sein, verloren [… zu haben]«623. Gleichwohl bleibt ein wichtiger Schritt in Richtung der Überwindung seiner Schuld aus – das Bekennen bzw. »Öffentlich-Machen«624. Nach Karl-Peter Hubbertz lassen sich zu den Voraussetzungen für einen selbstverantwortlichen Umgang mit Schuld neben der »Annahme des eigenen Schattens (d. h. im Sinne ganzheitlicher Wahrnehmung die Integration von Persönlichkeitsanteilen, welche mit dem schuldhaften Handeln verknüpft sind)«625 auch der »Dialog mit den anderen (d. h. der kommunikative Austausch über schuldhaftes Handeln, seine Genese sowie das eigene Selbst)«626 sowie die Umkehr und Neuentscheidung (d. h. der Versuch, nach Annahme und dialogi617 Vgl. Rosenthal, Gabriele: Fragestellung und Methode. In: Dies., Der Holocaust im Leben von drei Generationen. 1999, S. 11–17, hier: S. 15. 618 Ebd. 619 Timmermann, Helene: Eltern psychisch kranker Kinder. Mehrgenerationale Fallrekonstruktionen. Frankfurt/M. 2011: Brandes&Apsel, S. 18. 620 Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. 2014, S. 50. 621 Ebd. 622 Vgl. Häfner, Grundlinien einer daseinsanalytischen Gewissenspsychopathologie. 1960, S. 670 f. 623 Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. 2014, S. 55. 624 Ebd. 625 Hubbertz, Karl-Peter: Schuld und Verantwortung. Eine Grenzbeschreitung zwischen Tiefenpsychologie, Ethik und Existenzphilosophie. Münster/Hamburg 1992: Lit–Verlag, S. 60. 626 Ebd.

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scher Verarbeitung der eigenen Schulderfahrung sein eigenes Selbstkonzept und Handeln neu auszurichten)«627 zählen. Da Konrad sich nicht zu seinen schuldhaften Handlungen und Versäumnissen bekennt, sondern angstvoll vor dem »Dialog mit wichtigen Bezugspersonen des eigenen Lebenszusammenhangs«628, etwa Jochen und Nelli, zurückweicht, bleibt ihm die Überwindung seiner Schuld und die Weiterentwicklung seines Selbst verwehrt. Denn eine solche »Stellungnahme erfordert, sich selbst und anderen Antwort zu geben auf die Frage, worin der eigene Schuldanteil gesehen wird und welche Folgerungen hieraus für das eigene Handeln erwachsen«629. Ob sich nach einem Bekenntnis seine Befürchtungen bewahrheitet hätten – Ludwig Kannmacher tatsächlich mit ihm gebrochen hätte, Jochen und Nelli sich von ihm abgewandt hätten und seine universitäre Karriere beendet gewesen wäre – wagt er nicht herauszufinden. Ende der 1980er Jahre geht Konrad in den Vorruhestand, wobei er sich Fragen zu seiner »Kindheit und Jugend […], zur Kriegszeit und seinem beruflichen Werdegang« (ES 569) weiterhin verweigert oder sie »einsilbig, trocken und abwehrend [beantwortet]. ›Wen interessiert das […]?‹« (ebd.). Im Alter »neigt[] [er] zu Demut und einer Bescheidenheit, die der Verleugnung verschwistert war« (ebd.), bemerkt sein jüngster Sohn Lukas, eine Beobachtung, die diesem retrospektiv umso bitterer erscheint, als er erst nach dem Tod des Vaters anhand von Briefen aus dessen Jugendzeit von dessen Kriegsbeteiligung erfährt. Mit Blick auf die Störung von Konrads mentaler Gesundheit und seiner sozialen Beziehungsfähigkeit zeigt sich, dass das intentionale Verschweigen seiner Beteiligung am Krieg mit hohen psychologischen Kosten einhergeht.630

3.1.5 Fazit In Jan Koneffkes »Ein Sonntagskind« bildet das Verschweigen von verstörenden schuldhaften Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Darstellungsebene das konstitutive Strukturelement des Romans. Auf der Ebene der Geschichte (story) ist es die Figur Konrad Kannmacher, die mit 17 Jahren wenige Monate vor dem Ende des Krieges eingezogen wird und im Rahmen von Partisanen- und Sonderkommandoeinsätzen verstörende Erfahrungen von Gewalt und Verlust, von Sterben und Tod macht. Nach dem Ende des Krieges und im Zuge des demokratischen Wertewechsels sucht Konrad seine Beteiligung am Krieg zu verhüllen. Dabei 627 628 629 630

Ebd. Ebd. Ebd., S. 59. Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 39.

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kommt ihm zugute, dass er als Angehöriger der 1945er Generation dem Generalverdacht der Schuld weithin entgeht. Er holt sein Abitur nach, nimmt ein Philosophiestudium auf, etabliert sich an der Frankfurter Universität als Dozent und entwickelt sozial-politisches Engagement. Der Aufbau seiner Hochschulkarriere und neuer Freundschaften basiert auf dem Verschwiegen seiner vermeintlichen Heldentaten im Krieg – seiner blinden Verinnerlichung militärischer Werte, seines brutal-enthemmten Vorgehens, das mit der Verleihung des Eisernen Kreuzes Erster Klasse ausgezeichnet worden ist. Seine kommunikativen Handlungen des Verschweigens, Lügens und Verleugnens des schuldhaften Tuns zielen auf die Entschuldung sowie die Stabilisierung einer vermeintlich neuen, offiziellen gegenüber seiner geheim gehaltenen schuldhaften Identität ab. Da das Verschwiegene gewusst und sprachlicher Darstellung zu großen Teilen zugänglich ist, Konrad jedoch nicht bereit ist, die schuld- und schambehafteten Biographieanteile zu offenbaren bzw. sich selbst zu enthüllen, liegt in erster Linie ein Schweigen-Wollen vor. Zwar gelingt es ihm, das Geheimnis seiner Vergangenheit Zeit seines Lebens zu bewahren, die Unaufrichtigkeit gegenüber seinen Freunden entwickelt sich jedoch langfristig zu einer Belastung. Zu den intrapersonalen Folgen gehören ein schwach ausgeprägtes Selbstkonzept, mangelndes Selbstvertrauen und starke Gewissensbisse. Letzte belasten ihn umso stärker, als er in der Zeit der deutschen Teilung von der Stasi erpresst wird, eine Spitzeltätigkeit aufzunehmen. Die Meldungen, die er in dieser Zeit vornimmt und die auch seine Freunde betreffen, heben seinen Verrat diesen gegenüber auf eine neue Stufe. So bringt das Verschweigen seiner Vergangenheit nicht die erhoffte Stabilisierung seines Selbst, sondern weitere Akte des Lügens und Verheimlichens hervor. Auf der Ebene der Erzählung (discourse) zeigt sich, dass das Ausmaß von Konrads Verschweigen noch die nächste Generation umfasst. Es ist sein jüngster Sohn, Lukas Kannmacher, der sich gegen Ende des Romans überraschend als diejenige Stimme zu erkennen gibt, die die Geschichte aus persönlichen Dokumenten des Vaters post mortem rekonstruiert und teilweise erfunden hat. Die Inszenierung des Schweigens in »Ein Sonntagskind« zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass auf der Ebene der Geschichte Konrads Gesprächspartner kaum Anlass sehen, an seinen Darstellungen zu zweifeln. Das Figurenensemble erkennt seine Äußerungen etwa in Bezug auf Hartmuts Tod und seine Handlungsrolle als Mitglied des Sonderkommandos nicht als eine sprachliche Täuschung. Dass Konrad zentrale Aspekte seiner Lebensgeschichte verschweigt, ist über weite Teile des Romans ausschließlich dem Leser kenntlich, dem mittels eines personalen Erzählers Einsicht in die Innenwelt der Figur gewährt wird, in ihre Überlegungen zum Umgang mit den belastenden Erfahrungen und ihre dem Schweigen zugrunde liegenden Intentionen. Dieser erzählerische Clou offenbart sich imletzten Kapitel des Romans im Moment des Wechsels der Erzählebene, als deutlich wird, dass Konrads Geschichte das Ergebnis einer retrospektiv erfolgten

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Schweigetyp I: Schweigen-Wollen/Reden-Abwehren

Recherche zur Vergangenheit der Familie Kannmacher ist – die auch dem Sohn vorenthalten worden ist. Lukas Kannmacher erzählt, wovor Konrad Zeit seines Lebens angstvoll zurückgewichen ist, wofür er keine Worte gefunden hat. Mithin schreibt er seinem Vater die verschwiegene Täterschaft, seine externalisierte Vergangenheit als Wehrmachtssoldat wieder zu und füllt im zeitlichen Abstand von einer Generation jene Leerstelle im Familiengedächtnis auf, die dieses dunkle Kapitel seiner Biographie umfasst.

3.2

Exkurs: Linda Boström Knausgård: Willkommen in Amerika (2016)

3.2.1 Einleitung »Willkommen in Amerika«631 ist der zweite Roman der 1972 im schwedischen Boo geborenen Autorin Linda Boström Knausgård, der 2016 erschien und ein Jahr darauf ins Deutsche übersetzt wurde. Begonnen hat die schriftstellerische Arbeit der geschiedenen Ehefrau des norwegischen Autors Karl Ove Knausgård mit lyrischen Texten, 1998 erschien ihr Erstlingswerk, der Gedichtband »Gör mig behaglig för såret«, 2011 die Kurzgeschichtensammlung »Grand Mal« und 2013 ihr erster Roman »Helioskatastrofen«, mit dem ihr der internationale Durchbruch gelang.632 In »Välkommen till Amerika« bzw. »Willkommen in Amerika« verhandelt Boström Knausgård die Geschichte der 11-jährigen Ich-Erzählerin Ellen, die sich im Zuge des Todes ihres depressiven wie gewalttätigen Vaters in Schweigen und soziale Isolation zurückzieht und sich dem Einfluss ihrer Familie entzieht. Der Roman weist autobiographische Züge auf – wie die Erzählerin wuchs auch die Autorin gemeinsam mit ihrem Bruder als Tochter einer TheaterSchauspielerin und eines manisch-depressiven Vaters auf. Gleichwohl distanzierte sich Boström Knausgård von der Romanfigur: Ich bin [… im] gleichen Spannungsfeld [aufgewachsen], ich kenne die Situation nur zu gut. Aber auch wenn vieles im Buch selbst erlebt ist, ist es kein autobiographischer Roman. Ich habe verdichtet und Fäden gezogen, mit meinen Erinnerungen gespielt und bin mit der Freiheit des Schriftstellers in meine Kindheit zurückgekehrt. Ich denke, ich

631 Boström Knausgård, Linda: Willkommen in Amerika. Frankfurt/M. 2017: Schöffling&Co. [im Folgenden mit der Sigle »WA« mit Seitenzahl im Text]. 632 Vgl. Barbara Fellgiebel im Gespräch mit Linda Boström Knausgård: »Nur wenn ich schreibe, fühle ich mich frei.« Literaturcafe.de, Buchkritiken und Tipps vom 23. 02. 2018. (Letzter Zugriff am 30. 03. 2021).

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habe ein Negativ geschrieben, in dem die Familie schwarz und weiß ist. Auch wenn ich bisweilen ein stilles Kind war, habe ich nie wie Ellen aufgehört zu sprechen.633

Der 92 Seiten umfassende Text (die deutsche Übersetzung fasst etwa 130 Seiten) wurde in Schweden 2016 für den renommierten August-Literaturpreis in der Kategorie Belletristik nominiert,es ist bislang der einzige ins Deutsche übersetzte Roman der Autorin.634 Die Rezensionen in der deutschen Presse führten die Außergewöhnlichkeit des »betörend poetisch[en]«635 Texts »von unübertrefflicher Kürze, Dichte und Tiefe«636 auf seine eindringliche Sprache, die »[k]napp, musikalisch, bilderreich«637 ist, auf die »perfekt rhythmisierten Satzfolgen«638 und die Intensität des Erzählens zurück, das »[z]ugleich scharfkantig und überbelichtet […] zurückhaltend und doch von einer Unbedingtheit [ist], der man sich kaum entziehen kann«639. Mithin entfaltet das Schweigen der Erzählerin, das sich im Verlauf des Romans immer umfassender auszubreiten scheint, eine »so unheimlich[e] [Intensität], dass man selbst beim Lesen den Drang verspürt, diese Stummheit zu durchbrechen, ein Fenster aufzureißen oder die junge Erzählerin aus ihrer Erstarrung zu schütteln«640. So ist es die außergewöhnliche Inszenierung des Schweigens, die die Berücksichtigung des Romans im Rahmen der Exkurs-Analyse motiviert, auch wenn das Schweigen im Unterschied zur übrigen Textauswahl nicht im Kontext einer historischen Zäsur steht, sondern als Ausdruck einer familialen kommunikativen Störung thematisiert wird. Gleichwohl ist auch Ellens Schweigen eng mit verstörenden Erfahrungen bzw. Erinnerungen verknüpft, die ihre Gegenwart immer wieder unvermittelt überlagern und die abzuschütteln ihr erst mit dem Eintritt in die Phase der Adoleszenz641 gelingt.642 Mithin avanciert das Schweigen zum konstitutiven 633 Ebd. 634 Vgl. ebd.; vgl. Schwedische Verlagsvereinigung (Hrsg.): Augustpriset. Nominerade 2016. (Letzter Zugriff am 23. 08. 2021). 635 Matt, Beatrice von: Linda Boström Knausgårds Kindergeschichte ist alles, was die Romane ihres Ex-Mannes Karl Ove nicht sind: kurz, dicht, tief. Neue Zürcher Zeitung vom 24. 02. 2018. (Letzter Zugriff am 30. 03. 2021). 636 Ebd. 637 Abenstein, Edelgard: Mit poetischer Zartheit des Tonfalls. Deutschlandfunk Kultur Buchkritik vom 08. 08. 2017. (Letzter Zugriff am 30. 03. 2021). 638 Ebd. 639 Porombka, Wiebke: Das schweigende Kind. Zeit online Kultur vom 19. 09. 2017. (Letzter Zugriff am 30. 03. 2021). 640 Ebd. 641 Flaake und King bezeichnen mit dem Begriff der Adoleszenz das Ende der Kindheit und den Übergang zum Erwachsenenalter, mithin jene »lebensgeschichtliche Phase, in der der Zu-

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Strukturelement des Romans, mittels dessen der Themenkomplex der Verarbeitung von verstörenden Kindheitserfahrungen und der Individuation643 der Erzählerin in teils prekären familiären Umfeldbedignungen inszeniert wird. Dabei kommt der zeitlichen Struktur des Romans, dem Prinzip der Temporalität, eine besondere Rolle zu – im Sinne des inszenierten Stillstands des Zeitverlaufs auf der Ebene der Erzählung ebenso wie der phasenweisen Absenz von Figurenhandlung auf der Ebene der Geschichte. Geleitet wird die Rezeption gesamtheitlich von der Frage nach dem Fortlauf des Schweigens, dem limitierten Paradigma ›Schweigen oder Schweigen-Brechen‹, wobei die Mutter und der Bruder der Erzählerin diese zur Aufgabe ihres widerständigen Verhaltens zu bewegen suchen – auch auf gewalttätige Art und Weise. Dieses Einwirken bedingt nicht allein eine Veränderung der Qualität Ellens Schweigen, das zwischen Ausdrucksformen wie der Weigerung gegenüber dem linearen Fortschreiten der Zeit, der Selbstermächtigung gegenüber den Angehörigen und ihrer psychischen sammenhang zwischen körperlichen, psychischen und sozialen Prozessen besonders deutlich wird«. Flaake, Karin/King, Vera: Psychosexuelle Entwicklung, Lebenssituation und Lebensentwürfe junger Frauen. Zur weiblichen Adoleszenz in soziologischen und psychoanalytischen Theorien. In: Dies. (Hrsg.): Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Weinheim 2003: Beltz, S. 13–39, hier: S. 13; Helmut Remschmidt verweist auf die sich während der Adoleszenz einstellenden komplexen Prozesse, darunter die körperliche Entwicklung/sexuelle Reifung (physiologische Aspekte), kognitive wie emotionale Vorgänge wie die Identitätsausbildung (psychologische Aspekte) und auf die Adoleszenz als Zwischenstadium, in der Jugendliche noch nicht institutionell abgesichert sind, jedoch zu einer verantwortungsvollen aktiven Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen motiviert werden (psychosoziale Aspekte). Vgl. Remschmidt, Helmut: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart 1992: Georg Thieme, S. 2f. 642 Zu einer aktuellen Analyse von »Willkommen in Amerika«, die das Erinnern von verstörenden Kindheitserfahrungen auf der Handlungs- und Darstellungsebene des Romans als konstitutives Strukturmerkmal bestimmt vgl. Heidrich, Anna: Zum Erinnern von verstörenden Kindheitserfahrungen in Linda Boström Knausgårds Willkommen in Amerika (2017). German as a Foreign Language 1, 2021, S. 123–137. 643 Die Individuation lässt sich als komplexer Prozess der Neukonstruktion und Aushandlung fassen, bei dem sich die vormalige kindliche Beziehung zu den Eltern grundlegend verändert. Parallel zum Autonomiestreben der Adoleszenten, ihrer Abgrenzungs- und Loslösungsbewegung von den Eltern, erfolgt der Aufbau einer neuartigen Verbundenheit zu diesen. Vgl. Youniss, James/Smollar, Jacqueline: Adolescent relations with mothers, fathers, and friends. Chicago 1985: University of Chicago; in diesem Sinne argumentiert Vera King mit Blick auf die adoleszente Triade von Familie, Adoleszenten und Gleichaltrigen: »Neues entsteht aus dem, durch die psychosexuellen Wandlungsprozesse angestoßenen, schrittweisen Integrationsprozess unterschiedlicher Interaktionserfahrungen in unterschiedlichen Beziehungen, die zunächst vielfach polarisiert, fragmentiert und mitunter exzessiv oszillierend inszeniert und erlebt werden. Individuation basiert auf dieser Integration unterschiedlicher inter- und intragenerationeller Erfahrungsbereiche, aus der heraus neues, […] ›dezentriertes‹, Licht auf die eigene Geschichte geworfen werden kann […].« King, Vera: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. 2. Aufl. Adoleszenzforschung. Zur Theorie und Empirie der Jugend aus transdisziplinärer Perspektive 1. Wiesbaden 2013: Springer Fachmedien, S. 134.

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Destabilisierung oszilliert. Ergänzend trägt die Dreieckskonstellation der Figuren zum Aufbau eines intensiven Spannungsbogens bei.

3.2.2 Schweigen als Zäsur, Dehnung und Auflösung von Zeitlichkeit Die deutsche Übersetzung des Romans setzt in medias res wie folgt ein: Ich spreche schon seit Langem nicht mehr. Alle haben sich daran gewöhnt. Meine Mutter, mein Bruder. Mein Vater ist tot, also weiß ich nicht, was er dazu sagen würde. Vielleicht ist es ererbt. Das Erbe schlägt in meiner Familie hart durch. Unerbittlich. In direkt absteigender Linie. (WA 7)

Gleich zu Beginn des Romans werden die Koordinatenpunkte benannt, zwischen denen sich die Geschichte aufspannt: Es ist das Schweigen eines Mädchens, das die Mitglieder ihrer Familie auf besondere Art und Weise verbindet und über dessen Ursache zunächst Unklarheit herrscht. Möglicherweise, so imaginiert die Erzählstimme, ist es das Ergebnis einer genetischen Prädisposition – eine Überlegung, die auf die psychische Erkrankung des Vaters vorausdeutet, die im Fortgang des Romans sukzessive beschrieben wird. Deutlich wird, dass es eine extradiegetisch-autodiegetische Erzählinstanz mit interner Fokalisierung ist, die die Geschehnisse vermittelt. Passend zur Schweige-Thematik erfolgt dies anhand der Präsentation von Gedankenrede in Form des autonomen inneren Monologs. Auf diese Weise ist Ellens Stimme lediglich für den Leser, nicht jedoch für die sie umgebenen Figuren wahrnehmbar. Ellens Schweigen bildet in Bezug auf die zeitliche Präsentation der Handlung eine Zäsur, es trennt die sprechende Vergangenheit von der schweigenden Gegenwart, wie das Mädchen reflektiert: »Ich hatte Freunde, aber die gibt es nicht mehr. Sie gehen mittlerweile zu anderen nach Hause, seit der Sache mit dem Schweigen. Bis dahin waren ständig Kinder bei uns. […] Jetzt ist es still« (WA 9), woraufhin Ellen schlussfolgert: »Das Schweigen […] macht doch einen Unterschied« (WA 8, 9). Damit widerspricht sie der Bewertung ihrer Mutter, die gegenüber der hilflosen Klassenlehrerin darauf beharrt, dass Ellens Schweigen »keinen Unterschied [macht …]. Es ist eine Marotte […]. Machen Sie keine große Sache daraus. […] Sie wird herauswachsen« (WA 9, 15). Dass sie das irritierende Verhalten ihrer Tochter »akzeptiert[ … und Ellen] in Ruhe [lässt]. Es würde bestimmt vorübergehen. Vielleicht würde es vorübergehen« (WA 8) ist von der Hoffnung auf ein nahes Ende des Schweigens getragen. Währenddessen setzt es Ellens Freundschaften ein Ende und verschiebt die Position, die das Mädchen in der Gemeinschaft der Schulkameradinnen einnimmt: »Vielleicht war ich eine Art Anführer gewesen. Es tat gut, das nicht mehr zu sein. Nicht mehr so viele im Auge behalten müssen.« (WA 9f.) Nun bleibt Ellen in »der Kantine

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[…] für [s]ich und [… isst] an einem Einzeltisch. Keiner sagt mehr etwas zu mir, und die Erinnerung an mich selbst in dieser Schule, an die Spiele und die Person, die über alles Mögliche bestimmte, ist dabei zu verblassen« (WA 26). So rückt an die Stelle des Mit-Ellen-Sprechens das Über-Ellen-Sprechen, wie es etwa die Klassenlehrerin tut: »Sie telefoniert einmal in der Woche mit meiner Mutter. Sie sprechen über mich, und ich weiß nicht, ob mir das gefällt oder nicht.« (WA 25) Ellens Schweigen geht neben ihrer sozialen mit einer räumliche Isolation einher: »Früher gab es den Park als eine Möglichkeit. Früher spielte ich mit meiner Freundin in diesem Baum. Stundenlang waren wir dort oben und redeten über die Welt, wie wir sie sahen.« (WA 20) In der erzählerischen Gegenwart zieht sie sich in ihr Kinderzimmer zurück und beobachtet aus der Distanz, was um sie herum passiert: »Das Zimmer umgibt mich still. Die Wände sind jetzt nackt, nachdem ich die Plakate heruntergerissen habe. Ich setze mich aufs Fensterbrett und schaue hinunter auf den einzigen Baum des Hofs.« (WA 18) Auch Ellens Handlungsradius verengt sich – hat sie doch vor ihrem Schweigen im Schulchor gesungen (vgl. WA 13) und ihre Mutter, die Schauspielerin, zu Proben und Aufführungen in das städtische Theater begleitet: »Ich habe es geliebt. Ihr Aussehen. Ihr Wesen, das da auf der Bühne leuchtete und leuchtete.« (WA 12) Gedanklich bemerkt sie: »Das mache ich nicht mehr. Ich höre, wenn sie geht, und ich höre, wenn sie zurückkommt […], ohne dass ich wusste, welche Rolle sie gerade spielte.« (ebd., 43) Sofern Ellen nicht in der Schule ist, wo sie weder spricht noch schreibt (vgl. WA 25), verbringt sie die Zeit grübelnd und träumend in ihrem Zimmer, wo sie auch ihre Mahlzeiten einnimmt: »[Ich h]olte mir draußen in der Küche einen Teller […]. Das Essen konnte ich nicht verweigern. Mein Hunger war zu groß« (WA 51). Innerhalb der Familie entwickelt sich Ellens Schweigen zu einem destruktiven Moment, das die Beziehung ihrer Mitglieder auf die Probe stellt. Ellens Weigerung zu kommunizieren und soziale Informationen auszutauschen (mangelndes Intimitätsverhalten644), stellt vor allem die zuvor enge Beziehung zu ihrer Mutter auf die Probe: Mama sagt, ich würde mich verweigern. Ich wolle das Leben um mich herum schwingen lassen und nicht mittendrin stehen und mich überschütten lassen wie alle anderen. Sie mochte mich jetzt weniger […]. Auch ich mochte sie weniger. Wir standen uns an einem Graben gegenüber und maßen den Abstand, oder war es so, dass wir einander mit Blicken maßen? Wer ist stark?, fragten wir einander. Wer ist die Starke und wer die Schwache? (WA 14)

Im Schweigen kehrt sich Ellen von ihrer Mutter ab, der sie früher »alles erzählt [… und die ihr jede] Stimmungsschwankung [entlockt] hatte […, die alles] Böse [mit]nahm […] und [es …] verschwinden [ließ]« (WA 46f.), die ihr »Licht […] 644 Vgl. Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 41f.

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über [… der Familie] ausschüttete« (WA 31) und auf die sie stolz gewesen ist (vgl. ebd.). In Ellens Erinnerung sitzt ihre Mutter als Lichtgestalt »[s]chöner als alle anderen […] beim Elternabend. Sie unterhielt sich mit allen, mit der Lehrerin und den anderen Eltern. Sie machte Eindruck. Niemand konnte ihr widerstehen. Ich am allerwenigsten.« (ebd.). Trotz der schweren Depression des Vaters, der phasenweise »nur auf dem Bett lag und an die Wand starrte« (WA 15) und anderntags die Familie tyrannisiert – die Mutter schlägt (vgl. WA 76) oder unangekündigt auftaucht (vgl. WA 64f.) – rückt die Mutter nicht von ihrer unerschütterlichen Behauptung: »Wir sind eine helle Familie« (WA 15), ab, worauf die Tochter mit Verständnislosigkeit reagiert: »Wo ist das Licht?, fragte ich sie mit den Augen. Von welchem Licht redest Du?« (ebd.) Da Ellens sich der mütterlichen Fürsorge und Zuneigung bewusst entzieht – »[d]as war wohl das Schlimmste: dass ich ihr nicht erlaubte, für mich da zu sein. Dass ich nichts von dem annahm, was sie gab« (WA 34) – nimmt ihr Schweigen den Ausdruck eines Widerstandes an, den Ellen ihrer »zu groß[en], zu fröhlich[en], zu übermächtig[en Mutter]« (WA 17) entgegensetzt, die sie für die Erkrankung des Vaters mitverantwortlich macht (vgl. WA 45f.) und die ihre Verstörung infolge der Krankheit des Vaters negiert. Von der Mutter ausgehend, beschreibt Ellen ihr Schweigen in folgendem Bild: »Die Sprache nahm das Licht mit. Es tanzte nicht mehr über die Wände der Wohnung.« (WA 15) Und mit der Zeit wuchs die »Stille um mich herum […] und wurde auch zur Stille der anderen. […] Manchmal dachte ich, ich würde sie bestrafen. Weil ich mit meiner Dunkelheit gegen all das Licht anrannte« (WA 43, 50f.). Das Schweigen wirkt nicht bloß als eine Zäsur, es wirkt auch störend auf Ellens Zeitempfindens ein. So offenbaren ihre Gedanken den Wunsch, »in der Stille [zu] sitzen, die kein Ende nimmt, [zu] sehen, wie sie erstarkt und von allem Besitz ergreift« (WA 28). In der Gesamtschau des Romans entsteht der Eindruck, dass sich mit dem Anhalten des Schweigens für Ellen sukzessive das Prinzip der Temporalität auflöst. Dieser Eindruck wird auf der Darstellungsebene mittels Irritation der zeitlichen Präsentation der Handlung inszeniert, in Form der Zeitdehnung (bei Pausierung der Geschichte), in Form der achronologischen Erzählreihenfolge (Analepsen) und in Form der Synchronisation von Vergangenheit und Gegenwart (Zeitlosigkeit). Der Eindruck von der Ausdehnung der Erzählzeit gegenüber der erzählten Zeit entsteht primär durch die Fokussierung auf die Innenweltdarstellung der Erzählerin, die unter anderem konfuse Tagträume offenbaren: Mein Vater schlüpfte unter meine Lider und sang […]. Ich versuchte, ihn zu verscheuchen, aber er tanzte wie die blauen Punkte hinter meinen Lidern. Mal war er groß, mal klein. Manchmal wuchs er zu einem Riesen, und ich wurde an die Wand gedrückt und bekam kaum Luft. […] Papa verschwand wieder, und stattdessen wuchs das Meer vor mir. Ich ging durch das Wasser […]. Ich sah die Adler […]. (WA 99)

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Der Vater bildet ein wiederkehrende Irritationsmoment, das nahezu sämtliche (Alp-)Träume des Mädchens durchzieht. Zudem enthalten die Bewusstseinsprozesse Szenen, in denen Ellens Wahrnehmung der erzählerischen Gegenwart mit Erinnerungen und Phantasien amalgamieren. So etwa im Kontext einer Mitteilung, die Ellen nach monatelangem Schweigen für ihre Mutter in ihrem Tagebuch notiert, woraufhin sie zusammenbricht: Du bist verloren, pochte es in mir, während ich durch den Fußboden sank. Ich saß auf der Eisentreppe am Kücheneingang, sog den Geruch von altem Staub ein [… und stieg] die Treppe hinunter. Dabei begegnete ich meinem Bruder, der langsam an mir vorbeiging, ohne mich zu sehen. Ganz unter auf der Treppe saß Mama und rauchte. Ich ging an ihr vorbei und strich über ihr blondes Haar. Dann griff ich nach der Klinke der Tür, die zum Hof hinausführt. Dahinter verliefen die Fahrbahnen. Die Straße dröhnte, und mein Vater war da, kahlköpfig, die Spiegelscherbe [eine Theater-Requisite der Mutter] in seiner Stirn. Willkommen in Amerika, rief er laut, um gehört zu werden. Willkommen in Amerika. (WA 98)

Neben (Tag-)Träumen und Phantasien enthalten Ellens unaufhörlich kreisende Gedanken – »[s]ie lauerten mir auf und stürzten sich auf mich. Sie waren laut, und ich hatte angefangen, mit den Händen zu wedeln, wie wenn man Fliegen verscheucht« (WA 38) – Reflexionen über ihr Schweigen und Erinnerungen an ihren Vater, für dessen Tod sich Ellen insgeheim verantwortlich fühlt: »Es ist meine Schuld. Ich habe laut zu Gott gebetet, dass er ihn sterben lassen möge. Eine solche Macht hatte mein Sprechen also. […] Vielleicht ist es so, dass ich zu sprechen aufhörte, weil mein Wunsch in Erfüllung gegangen war« (WA 11). In ihrer kindlichen Naivität festigt sich ihre Überzeugung, »Zugang zu Gott [zu haben]. Gott und ich hatten meinen Vater gemeinsam getötet. Wir hatten es ein für alle Mal zusammen getan. Gott und ich« (WA 33). Die Erinnerungen stellen sich unbewusst, vielfach ohne konkrete Auslöser ein und gewähren Einblicke in die verstörenden Erfahrungen, die Ellen veranlasst haben, für den Tod des eigenen Vaters zu beten: »Jede Nacht dasselbe Gebet. Alle Tage und Nächte der Welt. Dieselben Worte. Derselbe Wunsch. Bis zu jener Nacht, in der er tatsächlich im Schlaf starb.« (WA 66) Gesamtheitlich betrachtet kommt den Analepsen die explikative Funktion zu, offenzulegen, wie es zu der gegenwärtigen Situation bzw. Ellens Gefühl, dass sein Tod »große, freie Räume in [… ihr öffnete]. Räume, die die Stille ausfüllte« (WA 38), gekommen ist (analytisches Erzählmodell). Nahezu alle Erinnerungen an den Vater lassen sich unter dem Gefühl der Angst subsummieren. So rekapituliert Ellen etwa dessen bizarren Versuch, sich nach der Scheidung der Eltern – »[f]ür ihn gab es sie nicht. Wir konnten nicht einfach ohne ihn weiterleben. Doch, das konnten wir. Viel besser« (WA 65) – widerrechtlich Zugang zur Wohnung seiner geschiedenen Frau und den Kindern zu verschaffen. Das unheimliche Überraschungsmoment dominiert die Erinnerung:

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Eines Nachts kam Papa am Fallrohr hochgeklettert. Er hatte seine Wohnung satt, aber Mama hatte ihm den Schlüssel zu unserer abgenommen. Seine Augen glommen in der Nacht, als er auf den Balkon stieg und wir einander ansahen. Er konnte jederzeit auftauchen. Er tauchte immer auf. Seine schwarzen Augen in der Nacht. Der Blick, der mich sofort zum Schweigen brachte. Als wollte er uns töten. (WA 48)

Noch nach dem Tod des Vaters prüft Ellen, ob die Balkontür der Wohnung verschlossen ist, um sich in Sicherheit zu wiegen (vgl. WA 33). Das Gefühl, dem Vater schutzlos ausgeliefert zu sein, hat sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt und nimmt in variierten Erinnerungen Gestalt an (vgl. WA 99, 115). Auffällig ist, dass das Detail des furchteinflößenden Blicks des aus der Dunkelheit auftauchenden Vaters in einer Art Schneeball-Verfahren neue Elemente in Ellens heißem Gedächtnis aktiviert.645 Dabei handelt es sich um eine Grenzerfahrung, die das Leben der Famiienmitglieder leibhaftig in Gefahr bringt: Einmal, als wir von einem Besuch bei Großmutter oben im Norden zurückkamen, hing Gasgeruch in der ganzen Wohnung. Papa hatte den Gashahn aufgedreht, und die Luft war ganz dick und schwer einzuatmen. Mama lief mit mir und meinem Bruder hinunter auf die Straße und befahl uns, dort zu warten. Dann rannte sie wieder hinauf in die Wohnung, stellte das Gas ab und öffnete das Fenster. […] später am Abend hörte ich, wie sie mit Papa telefonierte. Hast du versucht, uns umzubringen? (WA 48f.)

Der Vater scheint geistig verwirrt, kaum zurechnungsfähig zu sein. Für die Familie entwickelt er sich zu einer unheilvollen Bedrohung – offenbar infolge des Fortschreitens seiner Depression und der erfahrenen Zurückweisung. Vergeblich versucht Ellen, die Gedanken an ihn zu vertreiben und sich bewusst zu machen, dass keine Gefahr mehr von ihm ausgeht, auch wenn er »drohte […], zurückzukommen. […] Ich stellte mir seine […] weißlich grüne Gesichtsfarbe [vor]. Ich berührte sein Gesicht und schloss ihm die Augen. Wieder und wieder schloss ich ihm die Augen« (WA 101f.). Es ist dem Mädchen nicht möglich, aus den damaligen Szenen herauszutreten (Ex-Position646), was sich als Anzeichen dafür interpretieren lässt, dass jene Grenzerfahrungen zerstörend, im Sinne einer nicht

645 Der Begriff heißes Gedächtnis ist eine Metapher für die sensorisch-perzeptuellen Ereignisdetails und emotionalen Dispositionen, die Betroffene im Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen besonders intensiv erinnern. Das kalte Gedächtnis fasst hingegen explizite, bewusst abrufbare Kontextinformationen über Orte, Zeiten und Ereignisabläufe. Vgl. Brewin, A Cognitive Neuroscience Account of Posttraumatic Stress Disorder and its Treatment. 2001, S. 373–393; vgl. Metcalfe/Jacobs, A ›Hot-System/Cool-System‹ View of Memory Under Stress. 1996, S. 1–3; vgl. zur Arbeitsweise des heißen Gedächtnisses die Illustration von Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 330–334. 646 Im Kontext der Traumaforschung und narrativen Expositionstherapie wird diskutiert, dass »[e]ine im klinischen Sinne traumatisierte Person […] noch nicht aus der traumatischen Szene herausgetreten [ist]; es hat, im wörtlichen Sinn keine Ex-Position […, keine] räumliche Verortung und zeitliche ›Vergeschichtlichung‹ […] stattgefunden«. Ebd., S. 329.

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integrierbaren, nachhaltigen Umwälzung, auf ihre Psyche einwirken.647 Die belastenden Erinnerungen schieben sich phasenweise in den Vordergrund ihrer Gedanken und überlagern ihre erzählerische Gegenwart. Dabei entfalten sie eine solche Intensität, dass Ellen eines Tages überzeugt ist, den Vater plötzlich sehen, hören und sogar riechen zu können, mithin setzen field memories648 ein: Papa war in meinem Zimmer. […] er schaute auf, als ich hereinkam. Kleines, sagte er. Wie gut, dass du kommst. […] Du machst dich, […]. Ich wollte ihn nicht ansehen […]. Du sollst wissen, dass ich an euch denke. Die ganze Zeit. Ich versuchte ihn zu ignorieren, aber das war nicht möglich. Sein Geruch erfüllte das Zimmer. Dieses Rasierwasser, das er benutzte. Ich stieg aus dem Bett, um das Fenster zu öffnen. Würde es ausreichen, wenn man sich hinunterstürzte? War es hoch genug? Es waren immer du und ich, als du klein warst. […] Das war die beste Zeit. Wie sollte ich ihn aus meinem Zimmer schaffen? […] Du warst immer dabei. […] Wie sollte ich ihn zum Schweigen bringen? […] Deine Mutter versteht nicht viel. […] Ich musste ihn zum Schweigen bringen. (WA 111–113)

Ähnlich einem Flashback649 meint Ellen, den Verstorbenen in Hier-und-jetztQualität wahrzunehmen. In seiner Lebendigkeit bzw. seinen intensiven sensorisch-perzeptuellen Details übersteigt dieser Erinnerungsstrom alle vorherigen. An dem Textausschnitt wird weiterhin deutlich, dass Ellen keine frühere Szene rekapituliert, sondern den Vater als einen nicht abzuschüttelnden Begleiter ihrer voranschreitenden Gegenwart wahrnimmt. Sie ist nicht in der Lage, trennscharf zwischen dem, was war und dem, was ist zu unterscheiden. Gedanklich bemerkt sie: »Die Tage und Nächte gleichen einander. Die Stille weicht die Umrissen auf, wodurch alles in eine Art Dunst gehüllt ist.« (WA 12) Das Fortwirken der Vergangenheit erzeugt den Eindruck eines Stillstandes, den Ellens Schweigen auf Dauer setzt. Da sie den kommunikativen Austausch innerhalb der Familie ebenso wie die Interaktion mit Gleichaltrigen außerhalb der Familie abbricht, schränkt sie die Möglichkeit, ihr Verständnis der Situation mit anderen Sichtweisen abzugleichen, infrage zu stellen und neu auszuhandeln, radikal ein.650 Der 647 Vgl. Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 31–56; vgl. Ders., Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur. 2014, S. 315–332. 648 Vgl. zur Unterscheidung von field memories und observer memories bzw. Feld- und Beobachtererinnerungen Shacter, Daniel: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek/Hamburg 2001: Rowohlt, S. 45. 649 Bei den sogenannten Flashbacks handelt es sich um kurzdauernde Nachhallerlebnisse, die durch Plötzlichkeit und Lebendigkeit gekennzeichnet sind und für Betroffene mit dem Gefühl einhergehen, das traumatische Erlebnis noch einmal zu erleben. Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18. 650 Vera King verweist in diesem Zusammenhang auf den Perspektivenwechsel bzw. die Vervielfältigung von Erfahrung, die für die Fähigkeit der Reflexion geläufiger Beziehungsmuster und familialer Selbstverständlichkeiten und somit für die Herausbildung von Neuem in der Adoleszenz von zentraler Bedeutung sind. Erst mittels inner- und außerfamilialer (Familie und Peers), intra- und intergenerationaler Beziehungserfahrungen und Kommunikationsstile ist eine ungehinderte Adoleszenz im Sinne der Individuation und Identi-

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Mangel an persönlichen Begegnungen und neuen Erfahrungen verengt ihre Aufmerksamkeit auf die anhaltenden Stör-Erfahrungen. Die Verschränkung der Stimme des Vaters mit Ellens Innenweltdarstellung in der Szene zeigt den hohen Grad an Zerrissenheit bzw. psychischer Verstörung des Mädchens an. Dabei wird der Suizid für das am Fenster stehende Mädchen zu einer greifbaren Option, um ihrem in der Angst erstarrten Leben ein Ende zu setzen.

3.2.3 Schweigen als Wiederholung und Absenz von Handlung Die im Zusammenhang mit der Erzähldauer und der Erzählreihenfolge skizzierte Irritation Ellens Zeitempfinden erfährt durch die Darstellung der Monotonie ihres Alltags auf der Ebene der Handlung eine Intensivierung. So stellt das Mädchen gedanklich fest: »An jedem Werktag gehe ich zur Schule« (WA 25), oder: »Der Schlaf kam jede Nacht wie ein dunkler Nebel.« (WA 33) Das iterative Erzählen führt in Kombination mit der bloßen Erwähnung ohne weiterführende Spezifizierung der sich wiederholenden Ereignisse zu einer starken Raffung der erzählten Zeit (Zunahme an Mittelbarkeit). Es scheint dabei, als würden die Figurenhandlungen ihr aktives Moment verlieren und den Charakter von Geschehnissen annehmen, die Ellen weniger aktiv durchführt als ihr vielmehr passiv bzw. teilnahmslos wiederfahren. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass trotz der fortlaufend gewährten Einblicke in ihre Bewusstseinsprozesse über weite Passagen eine nahezu neutrale Wahrnehmung vorherrscht. Geschehnisse und Zustände werden vielfach ohne subjektive Wertung sachverhaltsartig registriert, was Ellen aus ihrer Umgebung entrückt. Über die Absenz explizit vermittelter Expressivität wird die emotionale Taubheit des Mädchens gegenüber dem Geschehen der erzählerischen Gegenwart inszeniert, was folgende Gedankenzitate illustrieren: »Mein Vater ist tot« (WA 11), »Das Zimmer umgibt mich still« (WA 18), »Keiner sagt mehr etwas zu mir« (WA 26) oder »Der Weg nach Hause« (ebd.). Hinsichtlich der Oberflächenstruktur der Handlung bzw. deren Elemente ist erkennbar, dass über die Reduzierung bzw. Absenz von Figurenhandlung im engeren Sinne der Effekt eines Stillstands erzeugt wird. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass ein Ereignis bzw. Motiv »im narratologisch-strukturellen Sinne [… die] kleinste[] Einheit einer Handlung [bildet]«651. tätsbildung möglich. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. 2013, S. 128– 133. 651 Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2009, S. 108; ausgehend vom Literaturwissenschaftler Boris Tomaschewski erläutern die Autoren, dass Ereignisse bzw. »Motive offenbar eine propositionale Struktur haben und insofern (Behauptungs-)Sätzen analog sind. Formal gesehen, sind sie nämlich aus Subjekt und Prädikat zusammengesetzt, wobei

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Motive lassen sich einerseits in die Gruppe der dynamischen Motive wie das Geschehen (nichtintendierte Zustandsveränderung) und die absichtsvolle Figurenhandlung, die in Bezug auf die Handlung eine situationsverändernde Funktion aufweisen, und andererseits in die Gruppe der statischen Motive, die die Geschichte nicht vorantreiben, gliedern.652 Zu den statischen Ereignissen zählen wiederum Eigenschaften (auf Menschen bezogen bzw. belebt) und Zustände (nicht auf Menschen bezogen bzw. unbelebt).653 Dies berücksichtigend, lässt sich in »Willkommen in Amerika« eine Dominanz von statischen gegenüber dynamischen Motiven beobachten, wodurch in Verbindung mit der kontinuierlichen Innenweltdarstellung der Erzählerin der Eindruck entsteht, dass die Handlung stagniert und phasenweise gänzlich pausiert. Einen Großteil von Ellens Gedanken, so wird bei eingehender Betrachtung deutlich, nehmen Reflexionen von Eigenschaften ein, insbesondere diejenigen der Mutter: Der Geruch meiner Mutter. Der Schweiß, in dem sie schlief. Der warme schwere Körper, neben den man sich legen und so tun konnte, als schliefe man ebenfalls. Ihre tiefen Atemzüge. Das Zimmer mit den Samtvorhängen und dem Bild. Das Diplom der staatlichen Schauspielschule, das eingerahmt an der Wand hinter dem Telefontisch hing. Das schwarze Strumpfband auf dem Bild, als Erinnerung an die eine oder andere Vorstellung. Der braune Aschenbecher aus Glas. Im Zimmer meiner Mutter roch es immer nach Zigaretten und Körper. Oder nach Abgasen, wenn sie morgens das Fenster zum Lüften öffnete. (WA 20f.)

Die Charakterisierung der Mutter als starke, selbstbewusste und erfolgreiche Frau erfolgt in Bezug auf den sie umgebenen Raum. Dabei trägt die Fokussierung auf unbelebte Gegenstände dazu bei, dass Ellen weniger ein Portrait als vielmehr ein Stillleben der schlafenden, nahezu reglosen Mutter zeichnet. Ausführliche Beschreibungen wie diese sind der Figurenkonturierung zuträglich, lassen das Fortschreiten der Handlung jedoch retardieren. Neben solchen Eigenschaftsdarstellungen nimmt Ellen immer wieder Zustandsbeschreibungen vor, auch in Hinblick auf ihr Schweigen: Die Nacht mochte ich am liebsten. Es war die Zeit der tiefen Stille, und sie gab mir das Gefühl, dass sich alles verlangsamte und für den nächsten Morgen Schwung nahm. Die Dunkelheit, in der man ruhen konnte. Es war einfach nur still. Mein Bruder und meine Mutter schliefen. Es gab nichts, was getan werden musste oder nicht getan werden wollte. […] Die Nacht war wie ein Freund. In der Nacht war die Stille nichts Besonderes. Und die Einsamkeit war unverstellt. Anders als am Tag, wo mein Schweigen gleichsam eine Reaktion auf Mama oder meinen Bruder war. Ich war eins mit der Nacht, und wir sprachen dieselbe Sprache. Atmeten dasselbe Schweigen. (WA 59f.) als Subjekte Gegenstände oder Personen und als Prädikate Geschehnis-, Handlungs-, Zustands- und Eigenschaftsprädikate verwendet werden können«. Ebd. 652 Vgl. ebd., S. 109. 653 Vgl. ebd., S. 108f.; vgl. Busse, Zur Analyse der Handlung. 2004, S. 26.

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In der Stille der Nacht laufen die zentralen Facetten Ellens Schweigen allegorisch zusammen: Das vermeintliche Stagnieren der Zeit, da »sich alles verlangsamte« (WA 59), die Absenz von Handlung bzw. dynamischen Ereignissen, da »nichts […] getan werden muss[]« (ebd.), ebenso wie die Absenz von Geräuschen bzw. Kommunikation, da ihr Schweigen keine »Reaktion auf [… jemanden] war« (vgl. WA 60). Da sie sich nachts nicht in einer Kommunikationssituation befindet, liegt genau genommen kein Schweigen vor, vielmehr wechselt Ellen in den Modus des Stillseins. Das Übertragen von Attributen der Nacht auf das Mädchen lassen seine menschlichen Eigenschaften insofern verblassen, als ihr Einschluss nach Innen als Abkehr von der sie umgebenen Erfahrungswelt inszeniert wird. Dabei ist die Dunkelheit auch negativ konnotiert – in jenen Szenen, in denen die erinnerte Schwermut und Elegie des depressiven Vaters sich mit der gedrückten Gemütsverfassung der Erzählerin überlagern. Mithin verortet Ellen ihr Schweigen metaphorisch im Assoziationsfeld von Einsamkeit, Krankheit, Tod und Dunkelheit und verknüpft das Reden mit komplementären Begriffen wie Licht, Freude und Emotionen – als Ausdruck des Lebens. Sinnbildlich beschreibt sie die Erkrankung des Vaters und dessen irritierende Passivität als Einbruch der Dunkelheit, die auch ihre erzählerische Gegenwart umfasst: Die Dunkelheit war überall. Die Dunkelheit roch. Sie roch nach Angst und etwas Süßem. […] Ich wusch mir darin die Haare, meinen Körper, meine ganze Person. Ich aß von der Dunkelheit und wurde innerlich davon eingefärbt. Die Dunkelheit schlich sich Schritt für Schritt ein. Nur Mama war weiterhin hell. Die Dunkelheit wich ihr aus. (WA 41)

Der Effekt des Stillstands, zu dem die Dominanz von statischen Ereignissen beiträgt, tritt im ersten und zweiten Drittel des Roman stärker als im letzten Drittel hervor, da zunächst ein unbestimmter Ereigniszusammenhang (Motivierung) vorherrscht. So ist für den Leser zunächst nicht eindeutig erkennbar, wie sich die von Ellen gedanklich präsentierten Ereignisse sinnhaft verbinden lassen – zumal ihre Gedanken assoziativ zwischen unterschiedlichen Themen (u. a. der kranke Vater, die Mutter, der Bruder), Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), Modi (u. a. Ellens eigene Gedankenzitate, von Ellen gedanklich zitierte fremde Rede) und Ausdruckformen (Erinnerungen, Wahrnehmungen, Träume, Imaginationen) hin und her springen, wodurch die Erzählung auf den ersten Blick in lose Einheiten zerfällt. So scheint zunächst »ein bloßer Wechsel von Zuständen«654 zu dominieren, wodurch sich keine Geschichte im engeren narratologischen Sinne entwickelt, sondern ein bloßes Geschehen vorliegt. Es hängt dies maßgeblich damit zusammen, dass die Ereignisse lediglich summarisch, »(chronologisch) aufeinander, [… anstatt] nach einer [für den Leser erkenn-

654 Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2009, S. 110.

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baren] Regel oder Gesetzmäßigkeit auseinander [zu] folgen«655. Erst im späteren Erzählverlauf lässt sich an den Analepsen bzw. der Vergangenheitsfokussierung des Mädchens seine psychische Verstörung als verbindendes Element bestimmen (kausale Ereignismotivierung).656 Der Eindruck, dass auf der Ebene der Geschichte statische Motive dominieren, die in Bezug auf die Handlung keine situationsverändernde Funktion aufweisen, resultiert aus einem Abgleich mit den dynamischen Motiven in der Gesamtschau der Handlung. Der erste Leseeindruck resultiert in einem Mangel an Figurenhandlung im engeren Sinne – zum einen, weil die Erzählung in Form des inneren Monologs vermittelt wird und zum anderen, weil außer repetitiven Tätigkeiten wie Ellens Schulbesuch, dem Aufenthalt in ihrem Zimmer und der Einnahme der Mahlzeiten kaum nennenswerte Handlungen erfolgen. Mithin zeichnet sich Ellens erzählerische Gegenwart im Sinne von William Labov durch eine auffällig geringe tellability657 bzw. reportability aus.658 Die arrangierte Handlungsarmut lenkt den Rezeptionsfokus daher umso stärker auf die erinnerten Szenen aus Ellens Vergangenheit, wodurch »die Rückblicke geradezu die Höhepunkte des Erzählten [bilden]«659. Bei einer tiefergehenden Betrachtung der Tiefenstruktur der Handlung lassen sich in der erzählerischen Gegenwart jedoch absichtsvolle Handlungen der Mutter und des Bruders der Erzählerin identifizieren, die stets auf dasselbe Ziel gerichtet sind: Ellens Schweigen zu brechen und ihren instabilen Zustand (soziale Isolation, Konzentration auf ihre Innenwelt, Passivität) zu entstören.

3.2.4 Schweige-Intensität und Erzähldynamik: Konfliktspannung Mit Blick auf die Wirkung, die das Schweigen auf die Gesamthandlung einnimmt, ist zu beobachten, dass in dem Maße, in dem das Andauern des Schweigens den Handlungsradius der Erzählerin verringert, es zum Initiator der Handlungen für die sie umgebenen Figuren avanciert. Aus der partiellen Informiertheit über den Ausgang der Handlung seitens der Figuren ebenso wie des Lesers ergibt sich ein 655 Ebd., S. 109. 656 Die kausale Motivierung »erklärt ein Ereignis, indem sie es als Wirkung in einen UrsacheWirkungs-Zusammenhang einbettet, der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich gilt«. Ebd., S. 111; im Unterschied dazu ist bei der finalen Motivierung der »Handlungsverlauf […] von Beginn an festgelegt, selbst scheinbare Zufälle enthüllen sich als Fügungen göttlicher Allmacht«. Ebd.; wohingegen die kausale und finale Motivierung »gleichermaßen die objektive Ordnung der erzählten Welt [… betreffen, folgt die] kompositorische[] oder ästhetische[] Motivierung […] nicht empirischen, sondern künstlerischen Kriterien«. Ebd., S. 114. 657 Labov, The Transformation of Experience in Narrative Syntax. 1972, S. 370. 658 Vgl. Martínez, Erzählen. 2017, S. 5, 15. 659 Lämmert, Bauformen des Erzählens. 1993, S. 129.

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intensives Spannungspotential.660 Es resultiert aus der offenen Frage, ob Ellen ihr Schweigen brechen wird oder nicht, auf die es lediglich zwei Antwortmöglichkeiten gibt (minimales Paradigma).661 Daher soll das für die Wirkung des Romans zentrale Phänomen der Spannung im Sinne »einer[] Art der Textorganisation«662 näher betrachtet und die Entwicklung des Schweigens anhand der fünf Phasen des Konflikt- und Bedrohungsspannungsschemas663 illustriert werden.664 Demnach benennt Ellens Feststellung zu Beginn des Romans: »Ich spreche schon seit Langem nicht mehr. Alle haben sich daran gewöhnt. Meine Mutter, mein Bruder« (WA 7), den zentralen Konflikt, der die Ausgangssituation bzw. die sogenannte Vordisponierungsphase (Phase 1/5) im Spannungsverlauf bildet.665 Dass Ellens Einschätzung infrage zu stellen ist, darauf weist die Erzählerin explizit hin, indem sie erstens den komplexen Auslöser ihres Schweigens benennt: »Mein Vater ist tot. […] Es ist meine Schuld« (WA 11), der eng mit ihrer Überlegung verknüpft ist, dass ihr »ganzes Schweigen eine Reaktion auf [… ihre Mutter ist]« (WA 31), Ellen zweitens die Ausprägungen beschreibt, in denen sich ihr schweigendes gegenwärtiges von ihrem sprechenden früheren Dasein unterscheidet (vgl. WA 9, 12, 15, 20), und sie drittens die Reaktionen anderer bezüglich ihres Schweigen evaluiert: »Das Schweigen […] macht doch einen Unterschied.« (WA 8f.) Die sodann präsentierten Rückwendungen gewähren dem Leser Einblicke in Ellens Vergangenheit und lassen ihr Schweigen als Reaktion auf diese, mithin als Symptom ihrer psychischen Verstörung erkennen. Indem veranschaulicht wird, dass und auf welche Weise die belastenden Erfahrungen noch Ellens Gegenwart 660 Vgl. Pfister, Das Drama. 2001, S. 142f. 661 Vgl. Wenzel, Zur Analyse der Spannung. 2004, S. 182f. 662 Dolle-Weinkauff, Bernd: Inszenierung – Intensivierung – Suspense. Strukturen des ›Spannenden‹ in Literatur und Comic. In: Petzold, Dieter/Späth, Eberhard (Hrsg.): Unterhaltung. Sozial- und literaturwissenschaftliche Beiträge zu ihren Formen und Funktionen. Erlanger Forschungen Reihe A, Geisteswissenschaften 70. Erlangen 1994: Universitätsbund, S. 115– 138, hier: S. 135. 663 Das Konflikt- und Bedrohungsspannungsschema ist im Unterschied zum Rätselspannungsschema nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft gerichtet und enthält oftmals ein binäres Lösungsschema. Diese Spannungsformen weisen im Unterschied zum Überraschungsschema eine intensive, länger andauernde sowie zielgerichtete Spannung auf, wobei der Informationsvorbehalt gegenüber dem Leser deutlich signalisiert wird. Im Unterschied zum Rätselspannungsschema verlaufen Handlung und Erzählung nahezu parallel zueinander. Vgl. Wenzel, Zur Analyse der Spannung. 2004, S. 186–192. 664 William Brewer spricht im vorliegenden Fall von einer suspense discourse structure. Brewer, The Nature of Narrative Suspense and The Problem of Rereading. 1996, S. 113. 665 Vgl. Wenzel, Zur Analyse der Spannung. 2004, S. 188, 191; nach William Brewer bildet der Hinweis auf das Nicht-mehr-Sprechen der Erzählerin das »initiating event […] that has the potential to lead to a significant outcome (good or bad) for one of the main characters in the narrative«. Brewer, The Nature of Narrative Suspense and The Problem of Rereading. 1996, S. 113.

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überschatten, wird eine »emotionale[] Einbindung des Rezipienten in das Geschehen [… ebenso wie eine Identifizierung] mit der […] in einen Konflikt involvierten Figur [respektive Ellen, ermöglicht]«666. So bedingt die zweite Phase, das Erwecken von Anteilnahme, eine Intensivierung der in der Ausgangssituation angelegten Konfliktspannung (Phase 2/5).667 Der weitere Verlauf ist von Handlungen des Ellen umgebenen Figurenensembles geprägt, die auf das Brechen ihres Schweigens gerichtet sind. Diese Maßnahmen bilden die dritte Phase im Spannungsbogen, der sich bezüglich des Paradigmas Schweigen versus Schweigen-Brechen durch ein intensives emotionales »Wechselspiel von Furch und Hoffnung«668 (changing fortunes) auszeichnet (Phase 3/5).669 Dazu gehört, dass Ellen ihr Schweigen zunächst nicht als einen Mangel, sondern als eine Möglichkeit wertet,670 da es ihrer Position als jüngstes Mitglied der Familie ungekannte Stärke verleiht: »In den ersten Tagen war es wie ein Rausch gewesen.« (WA 31) Je länger es andauert, umso deutlicher verschiebt es die Konstellation der Mutter und Tochter von einem Korrespondenz- zu einem Kontrastpaar671, wie folgende Textpassage beispielhaft illustriert: »Du bist nur ein Kind, pflegte Mama zu sagen und mir unters Kinn zu fassen, damit ich sie anschaute. Du bist nur ein Kind, und jetzt reicht es. Hörst du, was ich sage? Jetzt reicht es.« (ebd.) Zwar kann sich Ellen mittels Schweigen dem Einfluss ihrer Mutter entziehen, doch die Rolle der Gegenspielerin ist ihr fremd: »Ich machte sie klein. Das war entsetzlich« (WA 32), und überlegt zuweilen, »doch wieder zu sprechen an[zu]fangen, damit Mama nicht verschwand« (ebd.). Doch Ellen bricht ihr Schweigen nicht und die Sorge, ihr könne versehentlich ein Wort über die Lippen kommen, spornt sie in ihrem Entschluss noch an: »Manchmal habe ich Angst, ich könnte im Schlaf reden. Jemand könnte mich hören, und es könnte gegen mich verwendet werden. Ich sehe das triumphierende Gesicht meiner Mutter. Es wäre nicht gerecht.« (WA 19). Je länger ihr Weigerung zu sprechen andauert, umso destruktiver wirkt es auf die Kommunikation und den Zusammenhalt der Familie ein, wie Ellen reflektiert: »Die Stille um mich herum wuchs und wurde auch zur Stille der anderen. Mama sprach mich immer noch an, erwartete aber keine Antwort mehr.« (WA 43) Ellens Schweigen wirkt auch deshalb so irritierend auf ihre Umwelt da sie sich nicht bloß der verbalen, sondern auch der nonverbalen Kommunikation verweigert:

666 667 668 669 670 671

Wenzel, Zur Analyse der Spannung. 2004, S. 191. Vgl. ebd., S. 188, 191. Dolle-Weinkauff, Inszenierung – Intensivierung – Suspense. 1994, S. 117. Vgl. Wenzel, Zur Analyse der Spannung. 2004, S. 188, 192. Vgl. Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 44. Vgl. Bachorz, Stephanie: Zur Analyse der Figuren. In: Wenzel, Einführung in die Erzähltextanalyse. 2004, S. 51–67, hier: S. 56f.

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[Z]uweilen kam Mama in mein Zimmer [… und strich] mir über die Haare […]. Ist alles gut? […] Bekommst du genug frische Luft? Willst du nicht für eine Weile in den Park gehen? Ich bewegte mich nicht. Hütete mich sorgfältig davor, zu nicken oder den Kopf zu schütteln. (WA 52)

Auch wenn das Mädchen allein ist, will es keinen Laut von sich geben: »Plötzlich war das Weinen da. Die Tränen drängten aus meinen Augen und kullerten die Wangen herab. Ich weinte lautlos, ich konnte nicht schluchzen, obwohl ich kurz davor war.« (WA 86). Es entsteht der Eindruck, dass sich das Schweigen Ellens Kontrolle zunehmend entzieht und dessen anfängliche Einschätzung als Möglichkeit in einen Mangel umschlägt.672 So drängen sich ihr Zweifel über die Sinnhaftigkeit des Schweigens auf: »Ich hatte ein Leben gehabt. Hatte ich das immer noch? Meine Weigerung war größer, als ich es selbst je gewesen war.« (WA 45). Doch die Überlegung der Mutter, einen Arzt zu konsultieren: »Mama ließ mich also nicht in Ruhe. Es würde als nicht von selbst vorübergehen. Man brauchte einen Spezialisten« (WA 69f.), überdeckt die Zweifel und entfacht ihre Weigerung erneut: Ich sah es vor mir. Wie der Spezialist meinen Körper abtastete, gleichsam bei ihm anklopfte, um eine Antwort zu erhalten. Wie der Spezialist vertraulich mit mir sprach […]. Woher kam diese Weigerung? […] Was war geschehen, kurz bevor ich mich entschloss, mit dem Sprechen aufzuhören? […] Der Wille des Spezialisten würde sich mit dem meinen messen, und wer würde stärker sein? […] Die Wahrheit war […], dass niemand mich zwingen konnte. Mama nicht und schon gar nicht ein Spezialist. […] Meine Weigerung war stärker und deutlicher als all ihre Versuche. (WA 70–72)

Im Wechselbad der Gefühle kommen Ellens Zweifel wieder auf: Das Leben [… ging] seinen Gang […], während ich abseitsstand. Machte es mir nichts aus, dass ich mich nicht mittendrin befand wie alle anderen? […] War ich jetzt nicht gänzlich sicher auf meinem Beobachtungsposten im Abseits? Aber war das nicht eigentlich feige? Es waren die anderen, die lebten und zusammenprallten, die es wagten, die mutig waren, und ich war ein Angsthase. (WA 73)

Es sind die Adressaten des Schweigens, die die zunehmend angespannte Situation eskalieren lassen. Die Mutter reagiert abwechselnd mit Hilflosigkeit und Wut: »Du bist der theatralischste Mensch, der mir je begegnet ist, sagte Mama manchmal, wenn sie mir zürnte. […] Sie war kurz davor, mich zu schlagen, schüttelte mich und packte mich an den Schultern, als wolle sie wenigstens ein paar Worte aus mir herauspressen.« (WA 75) Ellens Bruder, der einen Hang zur Aggressivität zeigt (vgl. WA 17, 76), bietet das Verhalten der Schwester neue Angriffsfläche: »Willst du, dass ich sie schlage?« (WA 75), fragt er die Mutter, die »nur weinend das Zimmer verl[ässt]« (ebd.). Erst ein Störfall außerhalb der 672 Vgl. Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 44.

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Familie scheint eine Wendung der Situation herbeizuführen – die Schule brennt: »Der Rauch war von Weitem zu sehen. Das gesamte Obergeschoss stand in Flammen […] Die Polizei hatte das gesamte Gebiet abgeriegelt. […] Der Rauch quoll aus dem Gebäude, und schwarze Wolken ballten sich zusammen und stiegen zum Himmel auf.« (WA 88) Der überraschende Vorfall löst bei Ellen den dringenden Wunsch aus, sich der Mutter mitzuteilen: Ich nahm das Tagebuch und einen Stift. Mit zitternder Hand schrieb ich: Die Schule hat heute gebrannt. Damit ging ich in die Küche hinaus und legte das Tagebuch auf den Tisch. Dann ergriff ich den Arm meiner Mutter und zeigte auf den Tisch. Sie weinte. Sie schaute mich an, während die Tränen über ihr Gesicht strömten. […] Mucksmäuschenstill stand ich in ihrer Umarmung. Was hatte ich getan? […] Bereute ich es? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, wie schön es gewesen war, diese Worte zu schreiben. Sollte ich noch weitere Worte schreiben? […] Langsam lockerte Mama die Umarmung. […] Alles wird gut. Verstehst du das? Ich nickte. Konnte nicht anders, wenn sie mich so hielt und in mich hineinschaute. (WA 96f.)

Für einen kurzen Moment tritt die Erzählerin aus der Isolation ihres Schweigens heraus und nähert sich über die Fernkommunikation der Schrift der Nahkommunikation des Gesprächs an.673 Dabei ist weniger der Inhalts- als der Beziehungsaspekt674 der Äußerung von Bedeutung, mithin Ellens Wunsch, sich ihrer Mutter persönlich mitzuteilen, ihre Nähe zu spüren und zu signalisieren, dass das Schweigen eine bewusste Entscheidung ist – die revidiert werden kann. So kommt der notierte Satz, der im eigentlichen Sinne keinen Selbstbericht, keine direkte Referenz Ellen gegenüber aufweist, einer impliziten Selbstenthüllung675 gleich: »Ich hatte etwas von Grund auf verändert. Die Folgen konnte ich nicht überblicken.« (WA 96) Doch wider Erwarten hält Ellen an ihrem Schweigen fest, bis sich ein gewaltsamer Vorfall in der Familie ereignet, der die aufgebaute Spannung in Bezug auf die Frage, ob Ellen ihr Schweigen brechen wird oder nicht, noch einmal intensiviert (Phase 4/5):676 Ich war ganz unvorbereitet, als mein Bruder [eines Abends beim Essen] plötzlich das Messer nach mir schleuderte. Ich schrie. Der Laut, der mir entschlüpf war. Mein Bruder und meine Mutter lächelten und fuhren fort zu essen. Da stand ich auf, zog mich in mein Zimmer zurück, warf mich aufs Bett und weinte. (WA 103)

Dass die Mutter und der Bruder sich gegen Ellen verbünden und sie einvernehmlich körperlicher Gewalt aussetzen, schwächt ihren Impuls, sich mitzuteilen wieder ab. Ellens Mutter reagiert mit Ratlosigkeit: »Du warst immer fröhlich. Das 673 674 675 676

Vgl. Assmann, Einführung. 2013, S. 17. Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation. 2007, S. 61–64. Vgl. Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 20. Vgl. Wenzel, Zur Analyse der Spannung. 2004, S. 188, 192.

Exkurs: Linda Boström Knausgård: Willkommen in Amerika (2016)

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bist du nicht mehr. Wenn du nur erklären könntest, warum. […] War es jetzt nicht genug? Wie lange sollte das so weitergehen?« (WA 108). Doch Ellen kapselt sich nur umso fester in ihr Schweigen ein: »Bis ich sterbe, hätte ich ihr sagen können. Ich hätte alles erzählen können« (ebd.) Erst der Eintritt in die Phase der Adoleszenz setzt Ellens Entschluss maßgeblich infrage, was mit einem Abfall der bis dahin aufgebauten Spannung einhergeht (Phase 5/5).677 Hat sie ihr Spiegelbild lange Zeit gemieden, »um nicht zu sehen, wie das Wachstum in mir aussah« (WA 92), wagt sie allmählich den Blick auf sich: »Das war ich, aber auch jemand anderes. Eine Unbekannte, die meine Gesichtszüge mit einer Selbstverständlichkeit bewohnte, von der ich nichts gewusst hatte« (WA 107). Ellens körperliche Veränderungen – »[i]ch war jetzt fast die größte in der Klasse. Anfang eine der kleineren, war ich in die Höhe geschossen« (WA 51) – werden von Stimmungsschwankungen begleitet, die ihre bisherigen Überzeugungen aufweichen. Wollte sie am Vortag noch sterben, flößt ihr der im Zwiegespräch mit Gott getätigte Wunsch am Tag darauf Angst ein: »Wollte ich das wirklich?« (WA 91) Und obwohl ihr »[ j]egliches Wachstum […] unerhört [erscheint]« (WA 92), realisiert sie, dass es »nicht möglich [war], die Zeit aufzuhalten und im Jetzt zu verharren« (ebd.). So fokussiert Ellen zunehmend die Nachteile des Schweigens, vor allem die in sämtliche Lebensbereiche Einzug gehaltene Passivität, und beginnt sich an der Reduktion ihrer Außenwahrnehmung als die, »die nicht spricht« (WA 57), zu stören. Der Übergang zum Erwachsenenalter bestärkt auch ihren Wunsch, sich von den fortwirkenden schmerzhaften Erfahrungen mit ihrem Vater zu befreien. So folgt sie in dem Moment, als sie meint, ihn im Kinderzimmer wieder leibhaftig wahrzunehmen, einem inneren Reflex und notiert zum zweiten Mal etwas in ihr Tagebuch: »Du bist tot. Du darfst nicht hier herkommen« (WA 113). Deutlich wird, dass das Verstummen des Phantoms bzw. die Überwindung der Vergangenheit die notwendige Voraussetzung für das Brechen ihres Schweigens darstellt. Die notierte Aufforderung ist Ellens erste auf dieses Ziel gerichtete Handlung, die ihr vor Augen führt, wie stark seine Krankheit sie belastet (hat). Zum ersten Mal gesteht sie: »Habe ich gesagt, ich würde nicht an die Krankheit denken? Das stimmt nicht. Am Ende führten doch alle meine Gedanken dorthin.« (WA 119f.) Im Sinne von Mario Erdheim erfährt Ellen den Eintritt in die Phase der Adoleszenz als eine lebensgeschichtliche Erfahrung, »die ein neues Verständnis des Erinnerten gestattet«678 und eine »Neubewertung [… ihrer] Vergangenheit erlaub[t]«679. Dies veranschaulicht eine Erfahrung, die zu Beginn des Romans aus der Perspektive 677 Vgl. ebd. 678 Erdheim, Mario: Die Veränderung der bedeutungsgebenden Struktur durch Adoleszenz und Therapie. Psychotherapie in Psychiatrie, Psychotherapeutischer Medizin und Klinischer Psychologie 7, 2002, H. 1, S. 88–90, hier: S. 90. 679 Ebd., S. 89.

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Schweigetyp I: Schweigen-Wollen/Reden-Abwehren

des Kindes und gegen Ende erneut aus dem Blickwinkel der adoleszenten Ellen vermittelt wird. Es handelt sich um eine Nacht, in der ihr Vater im Sommerhaus der Familie über Stunden hinweg und schier endloser Wiederholung ein Lied singt und seine Tochter zwingt, der Szene beizuwohnen. Auffällig ist, dass in der ersten Version die Handlungen des Vaters dominieren. Ellen präsentiert die Szene stark gerafft, ohne Erwähnung von Details oder Sinneseindrücken: Papas Veränderung begann im Sommerhäuschen. Eines Nachts konnten wir nicht schlafen, weil er uns ununterbrochen das Lied des Conférenciers aus Cabaret vorsang […]. Außerdem trank er unablässig. Mama rief schließlich ein Krankenhaus an, und sie kamen und holten ihn ab. (WA 36)

Im erneuten Nachdenken über diese (oder eine auffällig ähnliche) Szene richtet die Erzählerin ihren Blick stärker auf sich selbst. Erst die adoleszente Ellen ist in der Lage, die zuvor deskriptive Darstellung der Ereignisabfolge um wertende Ausdrücke zu ergänzen, wobei observer memories680 einsetzen: Dann folgte die Erniedrigung. Damals kannte ich das Wort noch nicht, aber ich empfand sie mit jedem Teil meines Körpers. Wie in jener Nacht, in der ich nicht auf die Toilette gehen durfte, weil ich auf dem Stuhl sitzen und meinen Vater anschauen musste, als er dieses Lied sang […]. Ich erinnere mich daran, was für ein Gefühl es war, als ich mich nicht mehr zurückhalten konnte und der Urin an meinem Nachthemd hinunterfloss, über den Stuhl und auf den Fußboden. Ich weiß noch, dass ich weinte […]. (WA 139f.)

Rückblickend gelingt es Ellen, ihre damaligen Gefühle und das Fehlverhalten des Vaters zu benennen, wodurch sie eine emotionale Distanz aufbauen kann. Dass das schmerzhafte Wiedererleben dem bewussten Nachdenken weicht, signalisiert, dass Ellen zur Dezentrierung fähig ist – es ihr mithin gelingt, »aus der Unmittelbarkeit von selbstbezogener Erfahrung und damit einhergehendem Affekt in eine sich selbst betrachtende, reflexive Position zu wechseln«681. Es ist dies Ausdruck des identitätsbildenden Prozesses, in den sie eingetreten ist und der auch eine Neubewertung des Schweigens anstößt: Erstmals macht sich Ellen das familiale Gleichgewicht als »engmaschige[s] Netz von Verständnis und gutem Willen, dass keiner gegen die unausgesprochene Ordnung verstieß[, bewusst]« (WA135). Sie begreift: »Alle mussten dazu beitragen, sonst zerriss das Netz. Es war wohl gleichzeitig stark und unendlich anfällig.« (ebd.) Ellen erkennt, dass das destruktive Potential ihres Schweigens die familiale Balance ebenso herausfordert wie der übermäßige Einsatz der typischen Ausdrucksformen ihrer Mutter (Positivismus) und ihres Bruders (Gewalt): 680 Vgl. zur Unterscheidung von field memories und observer memories bzw. Feld- und Beobachtererinnerungen Shacter, Wir sind Erinnerung. 2001, S. 45. 681 King, Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. 2013, S. 129.

Exkurs: Linda Boström Knausgård: Willkommen in Amerika (2016)

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Mein Bruder konnte mit einem Schlag alles zerstören. […] Meine Mutter konnte aufhören, alles zu meistern […]. Und ich? […] Ich hatte mit meiner Weigerung das Netz bis zum Zerreißen gespannt. Langsam hatte ich die Schnüre ausgedehnt, langsam gaben sie nach und beherbergten so das Schweigen. (WA 135)

Im Ausdehnen des familialen Netzes findet das Thema des Romans, die anhaltende Spannung, sowie die Form seiner Inszenierung auf der Darstellungsebene eine sinnbildliche Entsprechung. Mit dieser Erkenntnis stellen sich weitere Neuerungen ein. So verlässt Ellen den geschlossenen Raum der Wohnung (vgl. WA 109), möchte nicht mehr sterben (vgl. WA 91, 136) und verspürt, wie in ihrer gegenwärtigen Lebensphase des ›Dazwischen‹ – auf dem Balkon Comic lesend wie ein Kind (vgl. WA 131), dabei Zigarette rauchend und Kaffee trinkend wie eine Erwachsene (vgl. ebd.) – ein fast vergessenes Gefühl in ihr aufkeimt: »Es kam mir in den Sinn, dass ich glücklich war.« (WA 132) Zwar hält Ellens Schweigen bis zum Ende des Romans an, ihre voranschreitende adoleszente Entwicklung stellt das Schweigenbrechen jedoch in Aussicht. Gesamtheitlich betrachtet zeigen die illustrierten Phasen der Spannungskurve des Romans die enge Verknüpfung der zeitlichen Erzählstruktur und der Intensität des Erzählens auf. Dabei nimmt die Retardierung bzw. Pausierung der erzählten Zeit mittels Konzentration auf die Innenweltdarstellung und Absenz von Figurenhandlung eine konstitutive Rolle ein. Es ist mithin der Spannungsbogen, die besondere Form der narrativen Struktur, durch den bzw. die die Lektüre – obwohl kaum Erzählenswertes passiert – eine intensive Sogkraft entfaltet.

3.2.5 Fazit Linda Boström Knausgård verhandelt in ihrem Roman »Willkommen in Amerika« (2016) das Schweigen eines elfjährigen Mädchens, das infolge von verstörenden Erfahrungen mit ihrem depressiven wie gewalttätigen Vater einsetzt. Zwar ist es das Resultat einer bewussten Entscheidung, gleichwohl ist es eng mit ihrer Vergangenheit verknüpft, die noch die Gegenwart der Ich-Erzählerin überschattet. Weder das Ellen umgebene Figurenensemble, das mit seinem teils gewaltsamen Einwirken als Kontrastpaar zur Erzählerin angelegt ist, noch außerhalb der Familie lokalisierte Ereignisse können das Mädchen zur Aufgabe seines Schweigens bewegen. Erst der Eintritt in die Phase der Adoleszenz setzt eine bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, ihrem Selbstkonzept682 und ihrer gegenwärtigen Rolle in der Familie in Gang und stellt eine 682 Das Selbstkonzept eines Menschen wird durch individuelle Erlebnisse, Motivationen und Ziele bestimmt; es bündelt Selbstzuschreibungen, die eine Person aus ihren Erfahrungen im Zeitablauf für sich ableitet. Somit stellt es eine spezielle Sichtweise auf die Vergangenheit dar,

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Schweigetyp I: Schweigen-Wollen/Reden-Abwehren

Aufgabe des Schweigens in Aussicht. Bis dato changiert die Qualität ihres anhaltenden Schweigens zwischen dem überwältigten Zuviel der schmerzhaften Kindheitserfahrungen, der Verweigerung gegenüber dem Voranschreiten der Zeit und der Selbstermächtigung im familialen Gefüge. Passend zur Thematik ist der Roman in Form eines inneren Monologs konzipiert, wodurch nicht das Figurenensemble, sondern ausschließlich der Leser Einblicke in die mit dem Schweigens verbundenen Motive erhält. Zwar lenkt das Schweigen Ellens Aufmerksamkeit auf ihre Innenwelt und setzt zahlreiche Reflexionsprozesse in Gang. Je länger es andauert, umso umfassender versetzt es ihre Entwicklung jedoch in einen Stillstand, da es ihre interpersonale Beziehungen zerbrechen, ihr Selbstwertgefühl schwinden und ihren Handlungsradius verengen lässt. So schlägt Ellens anfängliche Bewertung des Schweigens als eine Möglichkeit sukzessive in die eines Mangels um. Ob die Erzählerin ihr Schweigen brechen wird oder nicht entwickelt sich zur Leitfrage der Geschichte, wobei die Intensität des Schweigens eng mit der Erzähldynamik gekoppelt ist. Mithin lässt sich der aufgebaute Spannungsbogen im Konfliktspannungsschema nachzeichnen, wobei die Spannung mittels Retardierung der erzählten Zeit immer wieder aufs Neue intensiviert und am Ende doch nicht eindeutig aufgelöst wird – Ellens Entscheidung zum Schweigen-Brechen wird lediglich in Aussicht gestellt. Zu einer narrativen Strategie avanciert das Schweigen auf der Handlungsebene des Romans mittels Präsentation der Monotonie von Ellens Alltag, die sich aus der Dominanz von statischen gegenüber dynamischen Motiven, der Absenz von Figurenhandlung im engeren Sinne sowie der geringen tellability ergibt. Auf der Darstellungsebene wird das Schweigen im Effekt einer Zäsur des Zeitempfindens der Erzählerin in ein Vorher und Nachher, der Durchbrechung des linearen Zeitverlaufs in Form der Zeitdehnung (Pause), der Synchronisation von disparaten Zeitebenen (Zeitlosigkeit) sowie mittels Erzählabbrüchen (diskontinuierliches Erzählen, Analepsen) und einer stakkatohaften Satz- und Sprachmelodie inszeniert. So findet das Schweigen in »Willkommen in Amerika« auf besondere Weise in der zeitlichen Struktur des Erzählens, dem inszenierten Stillstand, Ausdruck.

die abbildet, welche persönlichen Ereignisse (nicht) als bedeutungsvoll eingestuft und welche entsprechend der eigenen Präferenzen in der Erinnerung (um)gedeutet werden. Vgl. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 80f.; Ders.: Das autobiographische Gedächtnis. 2007, S. 127–131.

4.

Schweigetyp II: Schweigen-Sollen/Nicht-reden-Dürfen

Die Analysen im zweiten Textcluster widmen sich dem Schweigen-Sollen bzw. Nicht-reden-Dürfen, wobei das Wechselverhältnis von individuellen mit kollektiven Schweigeformen in den Blick genommen wird. Herta Müller und Eleonora Hummel verhandeln in ihren Erzähltexten Schweigeformen im Kontext von autoritären Herrschaftsstrukturen. Dabei versetzt Herta Müller ihre Protagonistin in das totalitär regierte Rumänien der 1970er bzw. 1980er Jahre und inszeniert einen historischen Schauplatz, in dem die Sprache auf besondere Weise politisch vereinnahmt ist und die Redesituationen rigiden Beschränkungen unterliegen. Grices Konversationsmaxime werden in diesem Raum unter veränderten Vorzeichen, den spezifischen Bedingungen einer kommunistischen Diktatur, realisiert. So fokussiert die Autorin im Sinne von Paul Watzlawick komplementäre Kommunikationsabläufe, deren Charakteristika in der Redesituation des Verhörs besonders anschaulich werden. Dabei ist das repressive Schweigen der Figuren im Raum öffentlicher, offizieller und privater Kommunikation insofern beredsam, als freie »Kommunikation verboten oder unmöglich (gemacht) ist, [… weil] ein Dritter aufgrund bestimmter Bedingungen die Gewalt über Reden und Nicht-Reden hat«683. Die Autorin inszeniert wie staatliche Maßnahmen, darunter die ideologische Sprachlenkung (Propaganda), Zensur und das Verbot konkreter Ausdrucksweisen auf die Entindividualisierung des Sprachgebrauchs hinwirken, was mit gravierenden Folgen für die Entwicklung der zentralen Figuren einhergeht, die sich nach Räumen des Sagen-Dürfens sehnen. Sprachliche Normierungsprozesse wie diese thematisiert auch Eleonora Hummel, deren elfjährige Protagonistin Alina eine Lücke im kommunikativen Gedächtnis ihrer sowjet- bzw. russlanddeutschen Familie entdeckt und sukzessive eine Geschichte von Verfolgung, Gulag und Zwangsumsiedlung zutage bringt. Dass ihr Großvater über seine leidvolle Vergangenheit jahrzehntelang Stillschweigen bewahrt hat, geht primär auf Formen struktureller Gewalt wie das Mundtot-Machen von Betroffenen bzw. gesellschaftliche Tabuisierungsprozesse 683 Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 38.

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Schweigetyp II: Schweigen-Sollen/Nicht-reden-Dürfen

jenes Kapitels der sowjetdeutschen Geschichte zurück. Hummel erzählt, wie die deutschsprachige Minderheit mit ihrer Entmündigung auch das Recht, erinnert zu werden bzw. Teil des kollektiven Gedächtnisses der Sowjetunion zu sein, verliert (damnatio memoriae). So verhandeln Müllers und Hummels Erzähltexte das Schweigen-Sollen als ein »Nicht-zu-Wort-Kommen der eigenen (politischen, gesellschaftlichen wie privaten) Stimme«684.

4.1

Herta Müller: Herztier (1994)

4.1.1 Einleitung Herta Müller wurde 1953 im rumänischen Nit,chidorf als Angehörige der deutschsprachigen Minderheit der Banater Schwaben geboren.685 Sie wuchs in der sozialistischen Republik Rumänien auf, die von 1965 bis 1989 eine totalitäre Diktatur unter Nicolae Ceaus,escu war.686 Müller besuchte in Timis,oara das Gymnasium, wo sie die rumänische Sprache lernte, sich in der ›Aktionsgruppe Banat‹ engagierte und von 1973 bis 1976 ein Lehramtsstudium mit den Fächern

684 Dhouib, Transformationen. 2018, S. 11. 685 Vgl. Eintrag »Müller, Herta« in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv. (Letzter Zugriff am 30. 10. 2020); Herta Müllers Großvater, der ein wohlhabender Kolonialwaren- und Getreidehändler war und ausgedehnte Ländereien besaß, wurde vom kommunistischen Regime im Kontext der Kollektivierungsmaßnahmen in Rumänien enteignet. Ihr Vater war Soldat der Waffen-SS, ihre Mutter wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufgrund ihrer deutschen Wurzeln zur Wiedergutmachung sowjetischer Kriegsschäden für fünf Jahre in ein Zwangsarbeiterlager in der heutigen Ukraine deportiert. Vgl. Eke, Norbert: Biographische Skizze. In: Ders. (Hrsg.): Herta Müller-Handbuch. Stuttgart 2017: J.B. Metzler, S. 2–12, hier: S. 4. 686 »Von 1965 bis 1989 führte er [Ceaus,escu] das brutalste kommunistische Regime des gesamten Ostblocks, während seiner Herrschaft verwandelte sich Rumänien in ein Armenhaus. Die Menschen litten unter dem selbsternannten Führer […]. Wenn die Menschen in Rumänien heute an den Conducator (dt.: Führer) denken, dann erinnern sie sich an Lebensmittel-Rationierungen und leere Regale, an fehlende Medikamente, an eine strikte Anti-Abtreibungspolitik […] an die Securitate, die damaligen Geheimdienstmitarbeiter, die durch Zwangsabgaben und Bestechungen zu reichen Männern wurden. An zahllose Briefe und Telefongespräche, die nie privat blieben. […] an die körperliche und psychische Folter, die sie in Gefängnissen ertragen mussten. […] an die miserable Wirtschaftslage […] an die Export-Politik des Diktators, welche die Menschen ausbluten ließ. An die Zentralwirtschaft und Industrieförderung, durch die das Land riesige Schuldenberge anhäufte. Und an den boomenden Schwarzmarkt, der durch den Verbot sämtlicher Importe aufblühte.« Cibu, Nadine/Dorsi, Yves: Rumänien: Erinnerungen an die Diktatur. Arte info vom 11. 01. 2018. (Letzter Zugriff am 30. 10. 2020).

Herta Müller: Herztier (1994)

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Deutsch und Rumänisch absolvierte.687 Ab 1977 arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, bevor sie aufgrund ihrer Weigerung, mit dem rumänischen Nachrichten- bzw. Geheimdienst Securitate zu kollaborieren, entlassen wurde.688 Es sind die in diesem Zusammenhang erfahrenen Schikanen und Ausgrenzungen, die auch im Verlust ihres Büros und in der Verleumdung, ein Geheimdienstspitzel zu sein, Gestalt annahmen sowie die biographische Zäsur des Todes ihres Vaters 1978, die Müller zum Schreiben veranlassten: Ich hatte mich nicht mehr im Griff, mußte mich meines Vorhandenseins auf der Welt vergewissern. Ich fing an, mein bisheriges Leben aufzuschreiben – woher ich komme, dieses dreihundertjährige starre Dorf, diese Bauern mit ihrem Schweigen, dieser Vater mit seinem LKW auf den holprigen Straßen, sein Suff und seine Nazi-Lieder mit den ›Kameraden‹. Diese Mutter, hart und verstört, wie vom Leben beleidigt, immer in den randlosen Maisfeldern. Und ich in der Fabrik, Maschinen, groß wie ein Zimmer, Öllachen überall, wie ein Spiegel, der einen senkrecht in die Erde rutschen läßt. Dieser Stücklohn am Fließband, die mechanischen Griffe der Hände, die fahlen Augen, Blicke wie altes Zinkblech. Daraus entstanden die Kurzgeschichten der ›Niederungen‹.689

Nach ihrer Entlassung aus der Fabrik aufgrund von »›Individualismus, Nichtanpassung ans Kollektiv und Fehlen sozialistischen Bewußtseins‹«690 konnte Müller durch Interventionen der Securitate nur noch zeitweise als Lehrerin arbeiten und vertiefte ihre schriftstellerische Tätigkeit. Die Freundschaft zu den oppositionellen Literaten der Aktionsgruppe Banat, die 1975 staatlich aufgelöst wurde, hielt sie aufrecht und trat dem geduldeten Adam-Müller-GuttenbrunnLiteraturkreis bei.691 Fortan wurde sie vom Geheimdienst überwacht und war zermürbenden Repressionen und Diskeditierungsmaßnahmen in Form von Verhören, Hausdurchsuchungen und Morddrohungen ausgesetzt – auch die Veröffentlichung ihrer Prosasammlung »Niederungen« wurde verzögert (sie erschien 1982 stark zensiert in Bukarest und 1984 im Westberliner RotbuchVerlag), schließlich wurde sie mit einem Reise- und Publikationsverbot belegt.692 Gleichwohl konnte Müller 1987, zwei Jahre vor dem Sturz Ceaus,escus, in die 687 Vgl. Eintrag »Müller, Herta« in Munzinger Online/Personen; vgl. Eke, Biographische Skizze. 2017, S. 6–9; in der ›Aktionsgruppe Banat‹ engagieren sich junge Autoren, darunter Rolf Bossert, Albert Bohn, Werner Kremm, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner. Vgl. Eke, Biographische Skizze. 2017, S. 6. 688 Vgl. Zierden, Josef: Eintrag »Müller, Herta« in Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Letzter Zugriff am 30. 10. 2020). 689 Eke, Biographische Skizze. 2017, S. 7. 690 Müller, Die rote Blume und der Stock. In: Dies., Der König verneigt sich und tötet. 6. Aufl. Frankfurt/M. 2010: Fischer, S. 151–159, hier: S. 153. 691 Vgl. Eke, Biographische Skizze. 2017, S. 6. 692 Vgl. ebd., S. 7–9; vgl. Zierden, Eintrag »Müller, Herta« in Munzinger Online/KLG.

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Schweigetyp II: Schweigen-Sollen/Nicht-reden-Dürfen

Bundesrepublik ausreisen, wo das Gros ihres Werkes entstand bzw. entsteht. Seither lebt und arbeitet die Autorin, deren Textsortenspektrum neben Romanen, Lyrik, poetologischen Essays, zeitkritischen Kolumnen und Reden auch Text-Bild-Collagen umfasst, in Berlin.693 Im Rahmen von Gastdozenturen, Lehraufträgen, Poetik-Vorlesungen (1989/1990 in Paderborn, 1995 in Bonn, 2001/2002 in Tübingen, 2009 in Leipzig) und Reden reflektiert Müller ihr Schreiben und ihr Verständnis von Sprache.694 Das bedrohte und unterdrückte Leben in der kommunistischen Diktatur – Motive wie das abgeschottete Dorfleben, die politischen Repressionen in der Stadt und die Ausreise in den Westen – und damit in Zusammenhang stehende Fragen zum Verhältnis von »MachtOhnmacht, Freiheit-Unterdrückung, Wahrheit-Lüge, Sprache-Identität, Zugehörigkeit, Heimat und Exil«695 bilden den Stoff, mit dem sie sich immer wieder aufs Neue auseinandersetzt. Mithin lässt sich ein »Grundmotiv ihrer Literatur [… in der] Angst von Menschen [bestimmen], die in Diktaturen ihrer Würde beraubt werden – ein Trauma, das über Grenzen und Zeiten hinaus weiterwirkt, wobei Rumänien nicht nur einen Ort, sondern beispielhaft auch einen Zustand darstellt.«696 Den Vorwurf der Überholtheit ihres Stoffs lässt Müller nicht gelten: Ich habe keine Wahl, ich bin am Schreibtisch und nicht im Schuhladen. Manchmal möchte ich laut fragen: Schon mal was gehört von Beschädigung? […] Von Rumänien bin ich längst losgekommen. Aber nicht […] von der gesteuerten Verwahrlosung der Menschen in der Diktatur, von ihren Hinterlassenschaften aller Art, die alle naselang aufblitzen. […] dieses Thema [lässt mich] nicht in Ruhe.697

In der Dankesrede zur Verleihung des Hoffmann-von-Fallersleben-Preises für zeitkritische Literatur führte sie die Gründe für ihre thematische Fixierung aus: »Beschädigungen, das muss man sich eingestehen, sind und bleiben Bindungen – notwendig, ungestüm und gnadenlos. […] Dieser Phantomschmerz im Erinnern hat das betörende Zeug, das keine Ruhe gibt.«698 Leben und Schreiben, so das Selbstverständnis der Autorin, sind untrennbar miteinander verbunden: Ich kann […] schwer beurteilen, wie das Gezerre der Tage in die Sätze gesickert ist. Welchen Weg die Imagination im Satz genommen hat und wie sie ohne Drangsalierung gewesen wäre. Aber die lange, immer in einem sitzende Angst verändert alles, wahr693 Vgl. ebd.; vgl. Eke, Biographische Skizze. 2017, S. 9. 694 Vgl. Zierden, Eintrag »Müller, Herta« in Munzinger Online/KLG. 695 Lægreid, Sissel: Sprachaugen und Wortdinge. In: Mahrdt, Helgard/Lægreid, Sissel (Hrsg.): Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller. Würzburg 2013: Königshausen&Neumann, S. 55–80, hier: S. 55. 696 Eintrag »Müller, Herta« in Munzinger Online/Personen. 697 Müller, Herta: Bei uns in Deutschland. In: Dies.: Der König verneigt sich und tötet. 2010, S. 176–185, hier: S. 185. 698 Müller, Herta: Denk nicht dorthin, wo du nicht sollst. In: Dies.: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. Frankfurt/M. 2013: Fischer, S. 25–41, hier: S. 36.

Herta Müller: Herztier (1994)

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scheinlich auch die Dringlichkeit der Sprache, den Schnitt im Satz, also das, was man ›Stil‹ nennen könnte. Der Alltag hat die Inhalte bestimmt, und die Inhalte enthalten doch den Stil. Sie suchen sich den Stil, den sie brauchen. Ich glaube, Überdruß am Staat und Todesangst machen ganz andere Sätze als Gleichgültigkeit und Gewöhnlichkeiten. Darum nimmt einem das Schreiben ja auch die Angst, darum gibt es Halt – einen imaginären Halt, keinen wirklichen. Halt nach innen, nicht nach außen.699

Dass ihr Schreiben eine Reaktion auf Erfahrenes ist, erläuterte Müller 2009 in einem Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Michael Lentz. Schreiben sei für sie »eine[] Art Wirklichkeit, […] eine[] Art, mit sich selbst zurechtzukommen«700. Sie empfinde es als »blanke Notwendigkeit, diesem Scheißleben etwas entgegenzusetzen, mit [… sich] selbst etwas Eigenes zu machen, das [… ihr] der Staat nicht wegnehmen kann, weil es fiktional ist. […] eine Selbstvergewisserung, daß nicht [… sie] verrückt [… ist,] sondern dieses System«701. So lässt sich die Funktion Müllers Erzählens aus erzähltheoretischer Perspektive insbesondere in der Veranschaulichung von beschädigenden Erfahrungen und ihrer Bewältigung bestimmen.702 Müllers Arbeiten sind autobiographisch geprägt, immer wieder gerät die außerliterarische Wirklichkeit, mithin das Leben im totalitären Rumänien der 1970er bis 1980er Jahre zum Ausgangspunkt der literarischen Darstellung. Gleichwohl wäre es, wie der Literaturwissenschaftler Norbert Eke betont, »ein Missverständnis zu glauben, Herta Müllers Erinnerungstexte produzierten (oder reproduzierten) ein ungebrochenes authentisches Bild, wie es gewesen ist. Das hat Müller selbst auch wiederholt eingeräumt. Sie, so Müller, arbeite ›mit diesen realen Dingen fiktiv‹«703. Die Rolle der Zeitzeugin lehnt sie entschieden ab: »Ich schreibe keine Historie und keine Zeitzeugenberichte, ich betreibe keine Aufklärung. […] Ich mache Literatur.«704 In einem Essay aus dem Jahr 2002 erläuterte sie: Bücher über schlimme Zeiten werden oft als Zeugnisse gelesen. Auch in meinen Büchern geht es notgedrungen um schlimme Zeiten, um das amputierte Leben in der Diktatur […]. Für viele sind meine Bücher somit Zeugnisse. Ich aber empfinde mich im

699 Müller, Herta: Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Leipziger Poetikvorlesung 2009. 2. Aufl. München 2013: Suhrkamp, S. 14f. 700 Ebd., S. 7. 701 Ebd., S. 18. 702 Vgl. Brosch, Renate: Veranschaulichen/Vergegenwärtigen. In: Martínez, Erzählen. 2017, S. 293–302; vgl. Lucius-Hoene, Gabriele/Scheidt, Carl: Bewältigen von Erlebnissen. In: Martínez, Erzählen. 2017, S. 235–242. 703 Eke, Biographische Skizze. 2017, S. 2; Müllers Äußerung ist aus einem Gespräch von Beverley Eddy mit der Autorin zitiert. Eddy, Beverley: »Die Schule der Angst«. Gespräch mit Herta Müller vom 14 April 1998. The German Quarterly 72, 1999, H. 4, S. 329–339, hier: S. 333. 704 Börsenblatt (Hrsg.): Herta Müller im Porträt. Die Worte perlen und leuchten. Börsenblatt Literaturszene vom 08. 10. 2009. (Letzter Zugriff am 25. 08. 2021).

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Schweigetyp II: Schweigen-Sollen/Nicht-reden-Dürfen

Schreiben nicht als Zeugin. Ich habe das Schreiben gelernt vom Schweigen und Verschweigen. Damit begann es.705

Das Verhältnis von Erfahrung und Schreiben bzw. das Verständnis von der literarischen Formung von Erinnerung beschreibt Müller wie folgt: Ich glaube, das, was man erlebt hat, lässt sich nicht eins zu eins in Sprache übertragen, weil die Sprache ein völlig künstliches Metier ist und die Sprache etwas ganz anderes ist als das Erlebte. Außerdem ist es zeitlich versetzt: Man schreibt ja nicht, während man etwas erlebt, sondern man schreibt es danach […]. Es muss immer rekonstruiert werden, und zwar durch Sprache; oder vielleicht sogar konstruiert durch Sprache. […] Und das Erlebte ist nur noch ein Vorwand oder eine Ursache, das den Text dann zur Folge hat. Aber es geht nicht eines ins andere über. Ich habe öfter schon gesagt: Ich habe vielleicht Dutzende Verhöre erlebt beim Geheimdienst. Ich habe aber nie ein Verhör aufgeschrieben, wie es wirklich war, sondern, weil ich die erlebten Verhöre kenne, traue ich mich, Verhöre zu erfinden, weil ich die Gewissheit habe, dass ich das in der Sprache nicht falsch mache, auf Grund des Erlebten, was ich im Kopf habe.706

In Anlehnung an Serge Doubrovsky, Jorge Semprún und Georges-ArthurGoldschmidt fasst Müller ihr Schreiben, das die Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen auflöst, als ›autofiktional‹.707 In ihren poetologischen Reflexionen führt sie zudem den Begriff ›erfundene Wahrnehmung‹ für ihr Schreibverfahren ein, das »nicht auf eine Simulation, sondern auf eine sprachliche Bearbeitung der (vergangenen) Wirklichkeit [abhebt]«708. Neben diesem Merkmal zeichnet sich Müllers Poetik durch eine sprachkritische Haltung aus, die zunächst auf ihre sensible Beobachtung der allgemeinen Unzulänglichkeit von Sprache zurückgeht, wie sie mit Blick auf ihr Erproben der Gültigkeit der Sprache im Kindesalter erinnert: Ich redete sie [die Pflanzen auf der Wiese] mit ihren Namen an. Der Name »Milchdistel« sollte wirklich die Pflanze mit der Milch in den Stilen sein. Aber die Pflanze hörte nicht drauf. Ich versuchte es mit erfundenen Namen: »Stachelrippe«, »Nadelhals«, um das 705 Müller, Herta: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich. Kann Literatur Zeugnis ablegen? In: Arnold, Heinz (Hrsg.): Herta Müller. Text +Kritik 155. München 2002: Richard Boorberg, S. 6–17, hier: S. 8; der Titel des Essays greift eine zentrale Äußerung der Figur Edgar aus Müllers Roman »Herztier« auf, der acht Jahre zuvor erschienen ist und das repressive Zum-Schweigen-Bringen von Regimekritikern durch die Machtpraktiken eines diktatorischen Regimes verhandelt. Die Folgen der Diktatur für das Individuum zur Sprache zu bringen ist das Thema, das Herta Müllers Schreiben initiiert: »Ich erinnere mich an die Zeit der Diktatur als an ein Leben, in dem ich immer mehr wußte, was man nicht sagen kann.« Ebd., S. 17. 706 Marisa Siguan im Gespräch mit Herta Müller. Kolloquium mit der Nobelpreisträgerin in der Aula Magna der Universität Barcelona vom 27. 06. 2012, 1:30:54, hier: 19:55–21:58. (Letzter Zugriff am 03. 08. 2021). 707 Vgl. Müller, In der Falle. Göttingen 1996: Wallstein, S. 21. 708 Siguan, Schreiben an den Grenzen der Sprache. 2014, S. 246.

Herta Müller: Herztier (1994)

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Wort »Milch« und »Distel« zu umgehen. In den falschen Namen tat sich zwischen mir und der richtigen Pflanze die Lücke ins Leere auf.709

Neben die frühe Entdeckung der sprachinhärenten Inkongruenz von Signifikat und Signifikant trat im Jugend- und Erwachsenenalter die Erfahrung der politischen Vereinnahmung der Sprache durch das totalitäre Regime Ceaus,escus – in Form der kalkulierten Propaganda, des Verbots der freien Rede und der Zensur. Es ist die »genormte Sprache eines manipulierten Kollektivs, in der jede individuelle Äußerung als Kritik gedeutet [wird]«710. Müller vertritt die Ansicht, dass »in Diktaturen […] Sprache unglaublich missbraucht, verschandelt [wird]. Ideologie ist eine einzige Sprachverschandelung, – egal in welcher Art von Diktatur«711. Notgedrungen schärfte das Leben im totalitären Überwachungsstaat Rumäniens ihren Blick für jegliche Anzeichen von Bedrohung. Im Rahmen eines Verhörs durch die Securitate stellte sich etwa ein Fahrradunfall, von dem sie »ein paar Schürfwunden an den Rippen, sonst nichts [davontrug]«712 als Angriff auf ihr Leben heraus: »Der Geheimdienstler sagte ohne jeden Zusammenhang: ›Ja, ja, es gibt wirklich Verkehrsunfälle.‹«713 Das Wort ›Fahrrad‹ erhielt fortan die Konnotation ›Mordwaffe‹ und Radfahren wird in Müllers Wahrnehmung zur Todesart. Mithin erfuhr die Autorin durch die Machtpraktiken des Regimes eine Verfremdung etablierter Sinnzusammenhänge: »Die Einheit der Dinge mit sich selbst hatte ein Verfallsdatum. Alles rundum schien sich nicht mehr sicher zu sein, ob es das oder dies oder etwas ganz anderes ist. Über kurz oder lang gab es nur noch nichtige Dinge mit wichtigen Schatten.«714 So war es die »Vergrößerung des Blicks durch Angst«715, die ihren äußerst präzisen ebenso wie kreativen Sprachgebrauch formte und sich – aus textimmanenter Perspektive betrachtet – im ästhetischen Prinzip des ›fremden Blicks‹ konfiguriert, der »aus den vertrauten Dingen [kommt], deren Selbstverständlichkeit einem genommen wird«716. Die ihre Arbeit prägende Verschiebung bzw. (De-)Montage der Sprache bricht mit der habitualisierten Verwendung derselben und erzeugt Irritationen, die die Zerstörung des Individuums in der Diktatur kenntlich machen. Zwar ist Müller überzeugt, dass es »nicht […] für alles Worte gibt. […] Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht 709 710 711 712 713 714 715 716

Müller, Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm. 2002, S. 8. Siguan, Schreiben an den Grenzen der Sprache. 2014, S. 251f. Marisa Siguan im Gespräch mit Herta Müller. 2012, 37:50–38:32. Müller, Herta: Der Fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne. In: Dies., Der König verneigt sich und tötet. 2010, S. 130–150, hier: S. 131. Ebd. Ebd., S. 134. Müller, Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm. 2002, S. 13. Müller, Der Fremde Blick. 2010, S. 147; Müller erläutert: »Fremd ist für mich nicht das Gegenteil von bekannt, sondern das Gegenteil von vertraut. Unbekanntes muß nicht fremd sein, aber Bekanntes kann fremd werden.« Ebd., S. 136.

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aufhalten können«717. Gleichwohl ist die Suche nach einer adäquaten Darstellung von beschädigenden Erfahrungen, »der Wunsch: ›Es sagen können‹«718, für ihre Poetik leitend und nimmt auch in aufstörenden Sprachbildern Gestalt an: Wenn ich Gelebtes in die Sätze stelle, fängt ein gespenstischer Umzug an. Die in Wörter verpackten Tatsachen gleiten an einen weder mir noch ihnen bekannten Ort. Um im Bild des Umzugs zu bleiben: Es ist mir beim Schreiben, als stelle sich das Bett in den Wald, der Stuhl in einen Apfel. Aber es ist auch umgekehrt: die Handtasche wird größer als die Stadt, der Fingernagel größer als das Haus. […] nur durch völlige Veränderung wird das Gelebte mit Worten so kompatibel, daß ein Satz dem Gelebten wieder ähneln kann. […] Beim Schreiben wirft man das Gelebte in ein anderes Metier. Es ist nicht mehr Tag oder Nacht, Dorf oder Stadt, sondern es herrschen Substantiv und Verb, Haupt- und Nebensatz, Takt und Klang.719

Das experimentelle Spiel mit dem deutschen Dialekt, dem Hochdeutschen und der rumänischen Sprache erzeugt Müllers artifizielle Poetik, die Einzelwortgrenzen und logisch-semantische Grenzen ebenso überschreitet wie verdichtet und eine starke Bildlichkeit und vergleichsweise kurzschrittige Syntax aufweist.720 Es sind dies mit Gründe dafür, dass Müller »eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [ist]«721, wie Norbert Eke im Vorwort des 2017 publizierten Handbuchs zur Autorin konstatierte. Seit 1995 ist Müller Mitglied in der Akademie für Sprache und Dichtung, seit 2016 auch Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.722 Nach zahlreichen Auszeichnungen für ihr Werk wurde ihr 2009 der Nobelpreis für Literatur verliehen, der sie »mit einem Paukenschlag international sichtbar [machte], und […] zeigt[e …], dass ihre Literatur, die oft ihren Ausgangspunkt in den Erfahrungen der deutschen Minorität in Rumänien hat, nicht nur von regionalem Interesse […], sondern auch Teil der europäischen Geschichte ist«723. Für den Roman »Herztier« (1994), der folgend im Zentrum steht, wurde Müller 1995 mit dem mit 20.000 Euro dotierten europäischen Literaturpreis Prix Aristeion und 1998 mit dem mit 100.000 Euro dotierten International IMPAC Dublin Literary Award ausgezeichnet.724 Das autobiographisch geprägte Prosastück bildet »zusammen mit Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) und Heute wär ich mir lieber 717 718 719 720 721 722 723 724

Müller, Wenn wir schweigen. 2002, S. 9. Ebd. Ebd., S. 15. Vgl. Lægreid, Sprachaugen und Wortdinge. 2013, S. 61; vgl. Köhnen, Ralph: Terror und Spiel. Der autofiktionale Impuls in frühen Texten Herta Müllers. In: Arnold, Herta Müller. 2002, S. 18–29, hier: S. 24f. Eke, Norbert: Vorwort. In: Ders., Herta Müller-Handbuch. 2017, S. VII–VIII, hier: S. VII. Vgl. Eintrag »Müller, Herta« in Munzinger Online/Personen. Mahrdt, Helgard: Einleitung. In: Dies./Lægreid, Dichtung und Diktatur. 2013, S. 13–21, hier: S. 14. Zierden, Eintrag »Herta Müller« in Munzinger Online/KLG.

Herta Müller: Herztier (1994)

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nicht begegnet (1997) […] eine Trilogie traumatischer Beschädigungen, die der totalitäre Überwachungsstaat den Menschen zufügt«725. Die Handlung ist in der rumänischen Diktatur verortet, die als Raum rigide geregelter Kommunikation, als Raum des repressiven Schweigens inszeniert wird. Sie folgt den Protagonisten Edgar, Kurt und Georg sowie der namenlosen Ich-Erzählerin, die ihre deutschen Herkunftsorte zum Studium in einer größeren Stadt verlassen und Arbeitsstellen als Lehrer (Edgar, Georg), Ingenieur (Kurt) und Übersetzerin (Erzählerin) annehmen. Aufgrund ihres dissidenten Verhaltens – sie beschaffen und lesen ausländische Literatur, verfassen Gedichte, fotografieren die prekären Arbeitsbedingungen in den Fabriken ebenso wie den staatlichen Umgang mit Häftlingen und dokumentieren die Fluchttoten des Landes – geraten sie ins Visier des Geheimdienstes. Sie werden gewaltsam verfolgt, aus ihren Arbeitsstellen entlassen, öffentlich verleumdet und psychisch destabilisiert, was die Freundschaft an ihre Grenzen bringt, ihren gesellschaftlichen Ausschluss besiegelt, in den Tod Georgs (Selbstmord durch Fenstersprung) und Kurts (augenscheinlich erhängt) und in die Ausreise von Edgar und der Erzählerin nach Deutschland mündet. Die Geschichte von staatlich erzeugter Angst und Gleichschaltung, von Unterdrückung und Entmündigung wird von der Erzählerin in loser, dabei weitgehend chronologischer Abfolge vermittelt und mit aufstörenden Erinnerungen an ihre Kindheit in der materiellen und emotionalen Armut eines rumänisch-deutschen Dorfes verwoben. Zur Annäherung an das Leitmotiv des repressiven Schweigens der Protagonisten wird im Folgenden zunächst der allgemeine Zusammenhang von Sprache und Diktatur in seinen Grundzügen beleuchtet und die spezifischen Bedingungen der im Roman dargestellten Redesituation, innerhalb der sich das Figurenensemble bewegt und (non-)verbal kommuniziert, nachgezeichnet. Dafür werden diskursanalytische Ansätze einbezogen, die für die Analyse der Schweigefunktionen im Kontext autoritärer Herrschaftsstrukturen besonders fruchtbar sind: Über die Identifikation von kommunikativen Akteuren (staatliche Führung, Kollektiv, Individuum) und Räumen der Kommunikation (öffentlich, offiziell und privat) werden die zentralen Ausprägungen des Sprechens und Schweigens erkundet. Im Anschluss werden die erzählerischen Mittel erarbeitet, die die Störung der Selbstverständlichkeit des Sprachgebrauchs und die Beredsamkeit des erzwungenen Schweigens der Protagonisten auf der Darstellungsebene inszenieren.

725 Mahrdt, Helgard: »Man kann sich doch nicht mit einer Katastrophe versöhnen.« Herta Müller: Einführung in Leben und Werk. In: Dies./Lægreid, Dichtung und Diktatur. 2013, S. 27–54, hier: S. 36; die Figuren Georg und Kurt werden mit den ehemaligen Freunden der Autorin, Rolf Bossert und Roland Kirsch, assoziiert, die mutmaßlich durch das Einwirken der Securitate zu Tode gekommenen sind. Vgl. Eke, Biographische Skizze. 2017, S. 9; vgl. Moyrer, Monika: »Herztier«. In: Eke, Herta Müller-Handbuch. 2017, S. 41–49, hier: S. 49.

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4.1.2 Kommunikationsraum Diktatur: Sprachlenkung und repressives Schweigen Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, sagte Edgar, wenn wir reden, werden wir lächerlich. Wir saßen schon zu lange vor den Bildern auf dem Boden. Vom Sitzen waren meine Beine eingeschlafen. Mit den Wörtern im Mund zertreten wir so viel wie mit den Füßen im Gras. Aber auch mit dem Schweigen. Edgar schwieg. Ich kann mir heute noch kein Grab vorstellen. Nur einen Gürtel, ein Fenster, eine Nuß und einen Strick. Jeder Tod ist für mich wie ein Sack. Wenn das jemand hört, sagte Edgar, hält man dich für verrückt. […] Sie [die Toten] spürten vielleicht anders als wir, daß der Diktator ein Fehler ist, sagte Edgar. Sie hatten den Beweis, weil auch wir für uns selber ein Fehler waren. Weil wir in diesem Land gehen, essen, schlafen und jemanden lieben mußten in Angst […]. (H 7)

So lauten die in Form der autonomen direkten Rede präsentierten Reflexionen der Figur Edgar und der Ich-Erzählerin, die dem Roman im Prolog vorangestellt sind. Die Erzählebene ist kaum ausgestaltet, vielmehr wird der Fokus sogleich auf Geschehnisse gerichtet, die in der nicht näher bestimmten Vergangenheit liegen. Edgars kursorische Feststellung, darüber weder schweigen noch reden zu können sowie die Äußerung der Erzählerin in Bezug auf die Toten lassen erahnen, dass Ereignisse von schmerzhafter Qualität hinter den beiden liegen, die noch die erzählerische Gegenwart überschatten. Mögen die Reflexionen auf den ersten Blick unzusammenhängend scheinen, so evozieren die Wörter »Grab«, »Diktator« und »Angst« doch einen negativ konnotierten Assoziationsraum, der – so wird mit zunehmender Kenntnis des Romangeschehens deutlich – zentrale Aspekte des gefährdeten Lebens der Protagonisten, die sich als Kritiker des totalitären Regimes zu erkennen geben, benennen. Im Unterschied zu jenen »Tote[n, die] einen Sack mit Wörtern hinter sich [lassen]« (ebd.), wie es die Erzählerin formuliert, sind Edgar und sie der Diktatur entkommen und reflektieren: »Wenn einer, nur weil er geht, ißt, schläft und jemanden liebt, Friedhöfe macht, […] dann ist er ein größerer Fehler als wir. Ein Fehler für alle, ein beherrschender Fehler ist er. […] Und dennoch haben wir Glück.« (H 8) Angedeutet wird, dass die Protagonisten die Verpflichtung verspüren, an Stelle der Mundtot-Gemachten Zeugnis vom Geschehenen abzulegen. Doch wie lässt sich von einer verstörenden, mithin traumatischen Lebenswirklichkeit erzählen? Noch dazu ohne Gefahr zu laufen, dass der Wahrheitsgehalt des Erzählten und die eigene Glaubwürdigkeit in der neuen Umgebung in Zweifel gezogen werden? So führt der Prolog über den als unauflösbar empfundenen Widerstreit zwischen der Unmöglichkeit, über die zurückliegenden Erfahrungen Stillschweigen zu bewahren und der essentiellen Unzulänglichkeit ihrer sprachlichen Darstellung

Herta Müller: Herztier (1994)

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rückblickend auf die Geschichte hin. Diese erfüllt mit Blick auf die Gesamtkomposition des Romans die explikative Funktion, offenzulegen, was auf den ›Bildern auf dem Boden‹ zu sehen und mit den ›Wörtern im Mund zertreten‹ wird und wer die ›Toten‹ sind – mithin wie es zu der augenscheinlichen Verstörung der Protagonisten und ihrem eigentümlichen Sprachgebrauch gekommen ist. Im Prolog wird der politische Kontext bzw. die politische Machtverteilung der inszenierten Diktatur Ceaus,escus (H 183) als determinierendes Moment des kommunikativen Handelns der Figuren herausgestellt. Auf der Handlungsebene des Romans stehen die Normierung des öffentlichen Sprachgebrauchs, das Tabuisieren von als prekär geltenden Themen sowie das Zum-Schweigen-Bringen ideologiekritischer Stimmen im Zentrum. Es sind dies Formen des Sprachgebrauchs, die auf einer Konzeption von Kommunikation basieren, wie sie in der realen Wirklichkeit einer Diktatur vorherrschen (›Realitätsprinzip‹726). Für die Analyse der Sprech- und Schweigeformen in »Herztier« lassen sich mithin diskurslinguistische Erkenntnisse fruchtbar machen, die den grundsätzlichen Zusammenhang von Sprache und Diktatur betreffen: Die Sprache ist Mittel und Ausdruck von Machtlegitimation, sie wirbt, manipuliert, kontrolliert und lenkt, steht zugleich jedoch auch im Dienste der repressive Strukturen herausfordernden Subversion. Sprache umfasst dabei nicht nur alle Formen des stimmhaften und schriftlichen Sich-Äußerns, sondern auch unterschiedliche Modi des Schweigens, die Repressionen wie Subversion bedienen und alle Räume des Öffentlichen, Semi-Öffentlichen und Privaten einnehmen können.727

Die Sprache als »das wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft«728 wird in Diktaturen im besonderen Maße zum politischen »Kampfplatz«729 bzw. zum »Instrument der Machtausübung«730, weil sie zur ideologischen Legitimierung und Stabilisierung der einseitig etablierten Herrschaftsstrukturen verein726 Nach dem Realitätsprinzip basiert die fiktive Welt einer Geschichte in unterschiedlichem Maße auf der Welt unserer Wirklichkeitskonzeption bzw. ist so nah an der realen Welt wie möglich konstruiert: »[T]he ›principle of minimal departure‹ […] states that we reconstrue the world of a fiction […] as being the closest possible to the reality we know. This means that we will project upon the world of the statement everything we know about the real world, and that we will make only those adjustments which we cannot avoid.« Ryan, Marie-Laure: Fiction, Non-Factuals, and the Principle of Minimal Departure. Poetics 9, 1980, H. 4, S. 403– 422, hier: S. 406. 727 Dhouib, Sarhan: Transformationen. In: Ders., Formen des Sprechens, 2018, S. 9–16, hier: S. 11. 728 Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 2010, S. 39. 729 Bauer, Gerhard: Sprache und Sprachlosigkeit im »Dritten Reich«. Köln 1988: Bund-Verlag, S. 33. 730 Stock, Kristina: Wir und die Anderen. Machtpolitische Dimensionen von Sprache unter besonderer Berücksichtigung des Aspekts der Gruppenbildung in der arabischen politischen Rhetorik. In: Dhouib, Formen des Sprechens. 2018, S. 69–98, hier: S. 69.

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Schweigetyp II: Schweigen-Sollen/Nicht-reden-Dürfen

nahmt wird.731 Über die Instrumentalisierung des Sprachgebrauchs lassen sich Denkstile und Mentalitäten in der Gesellschaft vermitteln bzw. ideologische Prägungen verankern.732 Die Normierung des öffentlichen Sprachgebrauchs erfolgt über die Kontrolle des Diskurses: Sprachgebrauch ist in der Diktatur – wie auch in demokratischen Systemen – ein Instrument der Ordnung, der Selektion und Organisation von Diskursen und in diesem Sinne ist der Diskurs mit seinen konkreten sprachlichen Realisierungen Ausdruck von bestimmten Machtverhältnissen. Ein Unterschied zu pluralistischen Gesellschaften besteht darin, dass die Macht in Diktaturen einseitig und stabil verteilt ist: Es ist vor allem die staatliche Macht, die es vermag, Sprachgebrach zu regeln und zu normieren.733

Michel Foucault fasst den Diskurs als eine »geregelte und diskrete Serie[] von Ereignissen«734, mithin als ein Zeit- bzw. Gesellschaftsgespräch, in dem Wissen und Bedeutungen nach veränderlichen Regeln über sprachliche, themenkohärente Aussagen formuliert werden. Foucault nimmt an, »daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen«735. Gleichwohl zeichnen sich die in Diktaturen lokalisierten Diskurse durch eine äußerst rigide Beschränkung ihrer Produktivität und Möglichkeitsbedingungen aus. Im Sinne einer »›Arena der Öffentlichkeit‹ [kann er] nur von bestimmten, streng selektierten Diskursteilnehmen genutzt werden, auch die Äußerungen, Formulierungsweisen und Themen werden reglementiert und selektiert.«736 In Anlehnung an Foucault lässt sich der Diskurs raummetaphorisch konzipieren – sowohl unter dem Aspekt der »Ökonomie praktischer Ortsgebundenheit zur Sortierung von Gesellschaft«737 als auch im Sinne eines »relational-abstrakten Raumbegriff[s], der Raum im Sinne von Räumlichkeit als Strukturdarstellung von Ordnungen der Ein- und Aus731 Vgl. Bock, Bettina/Khiari-Loch, Ina/Schmidt, Sarah: Sprachnormierung, Macht und Kommunikationsstrategien. In: Dhouib, Formen des Sprechens. 2018, S. 21–25, hier: S. 21. 732 Vgl. Bauer, Sprache und Sprachlosigkeit im »Dritten Reich«. 1988, S. 14f. 733 Bock/Khiari-Loch/Schmidt, Sprachnormierung. 2018, S. 21. 734 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. 9. Aufl. Frankfurt/M. 2003: Fischer, S. 38. 735 Ebd., S. 10f.; Foucault bestimmt drei Arten von Ausschließungssystemen, die das Ereignishafte am Diskurs von außen unterbinden: das Verbot (Was ist in einer Situation sagbar?), die Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn (die soziale Form der Ausschließung) sowie der Gegensatz zwischen Wahrem und Falschem (Wille zur Wahrheit). Vgl. ebd., S. 11– 17; vgl. Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge. 4. Aufl. Paderborn 2018: Wilhelm Fink, S. 95f. 736 Bock, Bettina: Kommunikationsräume in der Diktatur – zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. In: Dhouib, Formen des Sprechens. 2018, S. 26–48, hier: S. 46. 737 Schreiber, Verena: Raumangebote bei Foucault. In: Glasze, Georg/Mattissek, Annika (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung. Bielefeld 2009: Transcript, S. 199–212, hier: S. 199.

Herta Müller: Herztier (1994)

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schließung in der Verbindung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken versteht«738. Ausgehend von der Beobachtung, dass die räumliche Ordnung der erzählten Welt in »Herztier« »zum organisierenden Element wird, um das herum auch die nicht-räumlichen Charakteristika aufgebaut werden«739, ist dieser Ansatz der soziolinguistischen Diskursforschung für eine strukturierte Untersuchung der im Roman verhandelten repressiven Kommunikationspraxis besonders fruchtbar. Die Linguistin Bettina Bock beschreibt die Metapher des Kommunikationsraumes im Kontext von Diktaturen als einen begrenzten Raum mit einem Innen und einem Außen […], wobei diese Eingrenzung als schützend oder gerade als begrenzend und beengend in Erscheinung treten kann. […] gerade die Exklusivität, der Grad der Abgeschlossenheit nach außen, [ist] ein Merkmal, das für Kommunikation und Sprachgebrauch in Diktaturen von Bedeutung ist. […] Kommunikationsräume sind mehr oder weniger einsehbar und zugänglich für unterschiedliche Akteure, Informationen dringen nur eingeschränkt nach außen oder werden gerade offensiv verteilt. Die verschiedenen Kommunikationsräume sind also durch je spezifische Eigenschaften gekennzeichnet, die insbesondere die Regeln des Sprechens und Schweigens bestimmen. […] Der Kommunikationsraum gibt den Diskursteilnehmern gewissermaßen einen Handlungsrahmen vor […]. Die je spezifischen diskursiven Regeln sind Ausdruck von Machtverhältnissen bzw. von einer bestimmten Verteilung von Macht.740

Laut Bock stellen die »relativ stabilen Machtverhältnisse in Diktaturen […] unter anderem eine Ursache für die Ausbildung spezifischer Kommunikationsräume [dar], darunter auch solcher, in denen die Akteure versuchen, sich dem Zugriff der Staatsmacht zu entziehen«741. Sie weist darauf hin, dass für Diktaturen häufig […] drei Räume bzw. Sphären beschrieben [werden], in denen Kommunikation stattfindet: Es wird eine – unterschiedlich definierte und teilweise auch mit unterschiedlichen Benennungen bzw. Abgrenzungen einhergehende – Unterscheidung zwischen einem ›privaten‹ oder ›informellen‹ und einem ›öffentlichen‹ Bereich getroffen und ein – sehr unterschiedlich beschriebener – ›Zwischenbereich‹ angenommen.742

Entscheidend für die Abgrenzung zwischen privater und offizieller Kommunikation ist die soziale Rolle der Sprecher (bspw. Amtspersonen, Institutionen versus Freunde, Nachbarn), die mit unterschiedlichen Verbindlichkeiten und »einem Komplex an Verhaltenserwartungen verbunden sind und die Kommu-

738 Ebd., S. 199f. 739 Lotman, Jurij: Die Struktur des künstlerischen Textes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Frankfurt/M. 1973: Suhrkamp, S. 332. 740 Bock, Kommunikationsräume in der Diktatur. 2018, S. 28f. 741 Ebd., S. 30. 742 Ebd., S. 36f.

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nikationssituation vorstrukturieren«743.744 Öffentliche Kommunikationsräume zeichnen sich gegenüber privaten primär über eine höhere Anzahl an Rezipienten bzw. Adressaten aus – typischerweise realisiert sich öffentliche Kommunikation in den Massenmedien.745 »Zwischen offizieller und öffentlicher Kommunikation hingegen gibt es Überschneidungsbereiche, auch wenn nicht alle offizielle Kommunikation in der Öffentlichkeit stattfindet.«746 In Anwendung dieser räumlichen Konzeption des Diskurses auf die in »Herztier« inszenierte Diktatur lassen sich – der Bewegung der namenlosen Erzählerin folgend – Kommunikationsräume mit unterschiedlichen Sprachgebrauchsformen und -funktionen identifizieren, die allesamt durch die Dimension des Offiziellen bestimmt sind. Diese Beobachtung aufgreifend, werden im Folgenden die zentralen Maßnahmen – die ideologische Sprachlenkung (Propaganda), das Verbot konkreter Ausdruckformen (Tabus, Gerüchte) und das Unterbinden individueller Sprechweisen – nachvollzogen, mittels derer das diktatorische Regime den Sprachgebrauch im öffentlichen wie privaten Raum zu entdifferenzieren und ein repressives Schweigen im Sinne eines Nicht-Sprechen-Dürfens zu etablieren sucht, das »in der Angst der Verfolgung und Repression und in der beständigen Kontrolle durch die Geheimdienste seinen Motor [findet]. Es ist ein Nicht-zu-WortKommen der eigenen (politischen, gesellschaftlichen oder privaten) Stimme.«747 Zu Beginn des Romans beschreibt die Erzählerin das Wohnheim, in dem sie während ihres Studiums lebt, als Raum halböffentlicher Kommunikation, in dem das Regime gezielt ideologischen Einfluss auf die Studierenden ausübt: Ein kleines Viereck als Zimmer, ein Fenster, sechs Mädchen, sechs Betten, unter jedem ein Koffer. Neben der Tür ein Schrank in die Wand gebaut, an der Decke über der Tür ein Lautsprecher. Die Arbeiterchöre sangen von der Decke zur Wand, von der Wand auf die Betten, bis die Nacht kam. Dann wurden sie still […]. Das kleine Viereck gab es vierzigmal in jedem Heim. Jemand sagte, die Lautsprecher sehen und hören alles, was wir tun. (H 11)

Im vermeintlich privaten Wohnheimzimmer vermittelt die Regierung offensiv sozialistisches Gedankengut. Der Textauszug illustriert, dass anstelle des Zugangs zum Diskurs gerade der individuelle Entzug davon reguliert ist. Es ist den Studierenden kaum möglich, sich der permanenten Indoktrination748 zu ent743 Ebd., S. 35. 744 Vgl. ebd. 745 Vgl. ebd.; vgl. Brinker, Klaus/Cölfen, Hermann/Pappert, Steffen: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Grundlagen der Germanistik 29. 9. Aufl. Berlin 2018: Erich Schmidt, S. 143. 746 Bock, Kommunikationsräume in der Diktatur. 2018, S. 35. 747 Dhouib, Transformationen. 2018, S. 11. 748 Der Begriff Indoktrination »bezeichnet eine gezielte, massive Manipulation der Einstellung, Meinung oder Werthaltung von Individuen oder (gesellschaftlichen) Gruppen durch ge-

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ziehen, eine Beeinflussungsstrategie, um unabhängiges Denken und Reden im Kern zu ersticken. Die entindividualisierende Ausdrucksweise (etwa ›Viereck‹) und die Kontrastierung des täglichen Dröhnens mit der nächtlichen Stille lassen weiterhin erkennen, dass die Erzählerin die Begrenzung des Kommunikationsraumes als beengenden Einschluss und als aggressive Form der Bemächtigung empfindet. In diesem Sinne markiert sie die komplementäre Relation zwischen Sender und Empfänger der Lautsprecherbotschaften auch anhand einer semantisch aufgeladenen topologischen Ordnung: Aus ihrer Perspektive steht die weithin anonyme Menge der Studierenden ›unten‹ der medial vermittelten Stimme des Diktators bzw. den dessen Ideologie verbreitenden Arbeiterchören ›oben‹ gegenüber. So werden die Studierenden als Zuhörerschaft inszeniert, die nicht durch freien Willen, sondern durch Zwang konstituiert ist. Im Hinweis auf die bauliche Gleichförmigkeit der Wohnheime zeichnet sich zudem die Reichweite der Indoktrination ab: Was im Zimmer der Erzählerin durch die Lautsprecher dringt, ertönt in sämtlichen Zimmern des Wohnheimkomplexes – möglicherweise in allen staatlich getragenen Einrichtungen des Landes. Diese Form der medienvermittelten und einseitigen Form der öffentlichen (Massen-) Kommunikation verläuft zwischen einem Sender und potentiell uneingeschränkt vielen Adressaten (nach dem Schema 1:n).749 Dabei suggeriert die von ›jemandem‹ geäußerte Vermutung, die Lautsprecher beschallten nicht bloß, sondern würden das, was im Zimmer gesagt und getan wird, auch überwachen, dass die typische Schutz- bzw. Rückzugsfunktion des privaten Diskursraumes nahezu aufgehoben und die soziale Rolle der Studierenden als bloße Kommilitoninnen infrage gestellt ist. So gewährt die Beschreibung des Wohnheimzimmers Einblicke in die Art und Weise der Instrumentalisierung von Sprache: Das diktatorische Regime sucht mittels Propaganda750 ein breites Publikum auf seine steuerte, einseitige Information, unter Einsatz psychologischer Techniken oder unter Zwang. Ziel ist die Unterdrückung selbstständigen Denkens, die Verhinderung (politischer) Kritik und/oder eine ideologische Gleichschaltung«. Schubert, Klaus/Klein, Martina: [Art.] Indoktrination. Bundeszentrale für politische Bildung, Nachschlagen, Lexika, Das Politiklexikon, I. (Letzter Zugriff am 26. 08. 2021). 749 Vgl. Röhner, Jessica/Schütz, Astrid: Psychologie der Kommunikation. Basiswissen Psychologie. 3. Aufl. Berlin/Heidelberg 2020: Springer, S. 159–163; der Begriff Kommunikation wird in der vorliegenden Arbeit im Sinne von Six/Gleich/Gimmler verwendet, die sieben Kennzeichen von Kommunikation bestimmen: Beteiligte/Teilnehmer, Botschaft/Kommunikationsinhalt, Kommunikationsmittel und Modalitäten, Kontext, Aktivität, Interaktivität und Intentionalität. Vgl. Six, Ulrike/Gleich, Uli/Gimmler, Roland: Kommunikationspsychologie. In: Dies. (Hrsg.): Kommunikationspsychologie und Medienpsychologie. Weinheim 2007: Julius Beltz, S. 21–50, hier: S. 21f. 750 Der Begriff Propaganda »bezeichnet die schriftliche, mündliche oder anderweitige, z. B. auch elektronische (mobile) Verbreitung (politischer, religiöser etc.) Überzeugungen, oft in Verbindung mit weiterer persönlicher Überzeugungsarbeit. Der Begriff P. hat (ebenso wie

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Ideologie einzuschwören, mithin sozialistische Prägungen und Denkstile zu verankern und eine entsprechende Version der Wirklichkeit zu konstruieren. Da die Regierung zu diesem Zweck auch in die private Sphäre eindringt, avanciert das Wohnheimzimmer zu einer »Alternative zur Öffentlichkeit […] oder Parallelöffentlichkeit. [… Es übernimmt] Aufgaben, die aus Perspektive des ›normalen Bürgers‹ sonst dem (offiziell-)öffentlichen Bereich zugeordnet wären«751. Inwiefern die Dimension des Offiziellen auch den öffentlichen Raum bestimmt, lässt sich eindrücklich anhand einer politischen Veranstaltung und der systematischen Überwachung des öffentlichen Lebens nachvollziehen. So nimmt die Erzählerin an einer Kundgebung in der Aula ihrer Universität teil, auf der eine Studentin namens Lola, eine der fünf Kommilitoninnen, mit denen sie ihr Wohnheimzimmer teilt, exmatrikuliert und aus der Partei ausgeschlossen wird. Lola ist im Schrank des Zimmers erhängt aufgefunden worden. Aus den Aufzeichnungen in Lolas Tagebuch, das die Erzählerin in ihrem Koffer findet, gewinnt sie den Eindruck, dass Lola der Tod als einziger Ausweg aus ihrer Zwangslage erschienen ist: Lola ist in Folge eines Stelldicheins mit dem Sportlehrer schwanger geworden und von diesem, als sie ihn in Kenntnis setzt, beim Lehrstuhl angezeigt worden (vgl. H 31). Mit seiner Abweisung hat der Lehrer ihre Hoffnung auf den sozialen Aufstieg, der Armut ihres Heimatdorfes mittels Studium und Mann in »weißem Hemd« (H 11) zu entkommen (vgl. ebd.), zunichte gemacht. Die Erzählerin registriert, dass infolge des Vorfalls vor dem Wohnheimeingang ein Bild von Lola aufgehängt wird, »das gleiche, das im Parteibuch war. Unter dem Bild hing ein Blatt […]: Diese Studentin hat Selbstmord begangen. Wir verabscheuen ihre Tat und verachten sie. Es ist eine Schande für das ganze Land« (H 30). In knappen Sätzen wird Lolas Tod als Selbstmord deklariert, als Schandmal, »durch das [… sie] sich von allen übrigen Mitgliedern [ihrer Bezugsgruppe …] negativ unterscheidet und aufgrund dessen [… sie] soziale Deklassierung, Isolation [… und] allgemeine Verachtung [… erfahren soll] (Stigmatisierung)«752. Mit einem Stigma behaftet zu sein, bedeutet, »in unerwünschter Weise anders, als […] antizipiert [zu sein]«753, wobei diejenigen als ›normal‹ gelten, »die von den jeweils in Frage stehenden Erwartungen nicht negativ abweichen«754 – in der inszenierten kommunistischen Gesellschaftsord-

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Agitation, Indoktrination) einen negativen Unterton und wird oft mit den politischen Manipulationen autoritärer und totalitärer Regime in Verbindung gebracht«. Schubert, Klaus/Klein, Martina: [Art.] Propaganda. Bundeszentrale für politische Bildung, Nachschlagen, Lexika, Das Politiklexikon, P. (Letzter Zugriff am 26. 08. 2021). Bock, Kommunikationsräume in der Diktatur. 2018, S. 37. Fuchs-Heinritz u. a., [Art.] Stigma. 2011, S. 864. Goffman, Stigma. 2018, S. 13. Ebd.

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nung wird etwa die Wahrung des Wohlergehens des Kollektivs hoch priorisiert. Die Bekanntmachung inszeniert Lolas Tod als Politikum von nationaler Reichweite. Das nicht näher definierte ›Wir‹ scheint im Kern die Mitglieder der Partei abzubilden und sich in konzentrischen Kreisen ausdehnend auch die Angehörigen der Universität bzw. die gesamte Gesellschaft einzuschließen. Es steht der in der dritten Person angesprochenen Lola diametral gegenüber. Die Gruppenbildung ist eine rhetorische Strategie, mittels der die Adressaten für den Inhalt der Bekanntmachung vereinnahmt werden sollen.755 Zudem forciert die Stellungnahme die Zurückweisung von Schuld am Vorfall seitens der staatlichen Einrichtung sowie dessen ideologische Instrumentalisierung: Auf die Rufschädigung Lolas mittels Lancierung ausgewählter Informationen folgt zwei Tage später post mortem ihr Ausschluss aus Universität und Partei im Rahmen einer zu diesem Zweck einberufenen Kundgebung. Form und Funktionen des Sprachgebrauchs lassen erkennen, dass Lolas öffentliche Brandmarkung als staatsfeindliches Element auf repressive Weise zur Entscheidung aller gemacht wird. Dabei erinnern Lolas Kommilitonen die von Trauer, Angst und Verunsicherung gezeichnete Kundgebung im Nachhinein wie folgt: Hunderte waren dabei. Jemand stand hinter dem Rednerpult und sagte: Sie hat uns alle getäuscht, sie verdient es nicht, Studentin unseres Landes und Mitglied unserer Partei zu sein. Alle klatschten. Am Abend sagte jemand im Viereck: Weil es allen zum Weinen war, klatschten sie zu lange. Niemand hat sich getraut, als erster aufzuhören. Jeder schaute beim Klatschen auf die Hände der anderen. Einige hatten kurz aufgehört und erschraken und klatschten wieder. Dann hätte die Mehrheit gerne aufgehört, man hörte, wie das Klatschen im Raum den Takt verlor, aber weil diese wenigen mit dem Klatschen ein zweites Mal begonnen hatten und feste Takte hielten, klatschte auch die Mehrheit weiter. Erst als in der ganzen Aula ein einziger Takt wie ein großer Schuh an den Wänden hinauf polterte, gab der Redner mit der Hand das Zeichen zum Aufhören. (H 32f.)

Auffällig ist, dass die Umstände für Lolas Tod nicht thematisiert werden und stattdessen der knappe Wortlaut der schriftlichen Bekanntmachung reformuliert wird. Die Wiederholung zielt darauf ab, Zweifel an der Darstellung zu zerstreuen 755 Vgl. Stock, Wir und die Anderen. 2018, S. 71, 74; Stock erläutert: »Politiker benutzen die WirForm oder vereinnahmende Anreden, um zumindest verbal eine zahlenmäßig meist nicht definierbare Gruppe zu erschaffen, die aus Menschen besteht, die mit dem Redner eine Gemeinschaft bilden, [… auch] ›Insider-Gruppe‹ bezeichnet. Wer nicht zu dieser Gemeinschaft gehört, ist – der rhetorischen Logik folgend – ein Außenseiter, der sich bestenfalls in eine ›Outsider-Gruppe‹ eingliedern kann. Oft werden diese Outsider-Gruppen gar nicht erwähnt. Wenn doch, dann eher in der 3. Person Plural als unter einer direkten Bezeichnung. […] Ausfüllen kann der Zuhörer das ›Wir‹ mit allen Assoziationen, die durch seine eigenen Erfahrungen, sein Wissen schlechthin bestimmt werden. Aus der kommunikativen Situation, in der die Rede gehalten wird, geht mitunter hervor, wer zu der nicht näher bezeichneten Gruppe gehört.« Ebd., S. 75, 97.

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und die Verurteilung Lolas als Täter, keineswegs als Opfer, suggestiv zu vermitteln. Der Redner appelliert an das Wir-Gefühl der Zuhörer, indem er die ›WirGruppe‹ positiv über die Abgrenzung zu Lola charakterisiert, die als niederträchtig täuschendes ›Element‹ bzw. Feindbild konstruiert wird.756 Die öffentliche Ansprache ist gesamtheitlich betrachtet eine Form der direkten Massenkommunikation, die als einseitige Informationsvergabe von einem Sender zu zahlreichen Empfängern erfolgt, ein Format, das Rückfragen seitens der Studierenden von vornherein unterbindet.757 Deren Verhalten signalisiert jedoch Zweifel an der Diffamierung/Verunglimpfung Lolas: So lässt sich das zunächst abebbende und sodann plötzlich wiedereinsetzende Klatschen als Ausdruck ihres instinktiven Gefühls lesen, Mitleid gegenüber der Toten zu empfinden – ein Gefühl, das der Aufforderung des Podiumssprechers, Lolas Ausschluss als richtig und angemessen anzuerkennen, entgegenläuft. Das reziproke Beobachten des Nachbarn bringt auf nonverbale Weise die Angst des Einzelnen, aus der anonymen Masse hervorzutreten, zum Ausdruck. Der unter den Studierenden herrschende Konformitätsdruck wird im Fortgang des Geschehens deutlich: Nachdem das Klatschen in der Großen Aula durch die Hand des Rektors abgebrochen worden war, ging der Turnlehrer ans Rednerpult. […] Es wurde abgestimmt, um Lola aus der Partei auszuschließen und aus der Hochschule zu exmatrikulieren. Der Turnlehrer hob als erster die Hand. Und alle Hände flogen ihm nach. Jeder sah beim Heben des Arms die erhobenen Arme der anderen an. Wenn der eigene Arm noch nicht so hoch wie die anderen in der Luft war, streckte so mancher den Ellbogen noch ein bißchen. Sie hielten die Hände nach oben, bis die Finger müde nach vorne fielen und die Ellbogen schwer nach unten zogen. Sie schauten um sich und stellten, da noch niemand den Arm herunterließ, die Finger wieder gerade und hoben die Ellbogen nach. Man sah die Schweißflecken unter den Armen, die Hemd- und Blusensäume rutschten heraus. Die Hälse waren langgestreckt, die Ohren rot, die Lippen halboffen. Die Köpfe bewegten sich nicht, aber die Augen glitten hin und her. Es war [… und] es blieb so still [zwischen den Händen], bis der Turnlehrer seinen Arm auf das Pult legte und sagte: Wir müssen nicht zählen, selbstverständlich sind alle dafür. (H 35f.)

Der Lehrer repräsentiert in seiner Rolle als Amtsperson die Universität ebenso wie die Partei. Indem er den Abstimmungsvorgang selbstbewusst und entschieden einleitet und unnötig lange hinauszögert, übt er die seinem Amt inhärente Macht über die Studierenden aus und fordert sie nonverbal dazu auf, seinem Urteil zu folgen. Dabei wird deutlich, dass das Formulieren der ›WirGruppe‹ auch dem Zweck dient, eine emotionale wie moralische Grundlage zu erzeugen, von der ausgehend die Gruppe bezüglich des sich ereigneten Konflikts

756 Vgl. ebd., S. 84. 757 Vgl. Röhner/Schütz, Psychologie der Kommunikation. 2020, S. 159–163.

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zu Loyalität verpflichtet wird (Mobilisierung).758 Augenscheinlich ist den Studierenden bewusst, dass ein ›Nein‹ einen Verstoß gegen die Parteilinie bedeutet. Es ist die Angst vor möglichen Sanktionen, die ihr Abstimmungsverhalten bzw. ihr Stillhalten motiviert: So beharrlich wie sie die Arme nach oben recken, so wenig möchten sie an Lolas Stelle stehen und »von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen [sein]«759. Ihre Verunsicherung wird durch das sukzessiv verringerte Erzähltempo und die Fokussierung auf visuelle Details inszeniert, wodurch die in der Luft liegende Anspannung und die Unverhältnismäßigkeit des Vorgangs, mithin das groteske Moment der Situation erfahrbar werden. Der ,einstimmige‹ Parteiausschluss von Lola lässt sich somit kaum als Ergebnis eines freien Meinungsbildungsprozesses fassen. Vielmehr manifestiert das Ergebnis die einseitig etablierte Machtverteilung in einem von Diffamierung, Angst und Konformitätsdruck geprägten Raum, in dem »das Politische die öffentliche Kommunikationspraxis in hohem Maße bestimmt[]«760. Auch abseits von politischen Versammlungen bietet der öffentliche Raum wenig Freiraum für individuelle Sprechweisen. So wehren etwa die Mitbewohnerinnen der Erzählerin das Gespräch über den aufstörenden Vorfall ab: »Ich wollte über Lola reden, und die Mädchen im Viereck sagten, ich solle endlich schweigen. Sie hatten begriffen, daß ohne Lola der Kopf leichter war.« (H 42) Zudem ist »nach zwei Tagen […] Lolas Heft aus [… ihrem] verschlossenen Koffer verschwunden« (H 33) – die Erzählerin begreift: Es gab keinen Schlüssel, der den Koffer gegen fremde Hände schützte, wenn keines der Mädchen im Zimmer war. Vielleicht […] auch keinen Schlüssel gegen bekannte Hände […]. Das Kofferschloß hatte sich selber zur Lüge gemacht. Es gab so viele gleiche Kofferschlüssel im Land wie Arbeiterchöre. Jeder Schlüssel war gelogen. (H 34)

Um sich der Propaganda und den Mädchen, denen sie misstraut, zu entziehen, meidet die Erzählerin fortan das Wohnheim. So »hatte [ich] das Streunen gelernt, ich nahm die Straße unter die Füße« (H 46). Auf ihren ruhelosen Streifzügen nimmt sie ihre Umgebung als bedrohlich wahr: Beim Streunen sah ich […] die Wächter auf den Straßen auf und ab gehen. Junge Männer mit weißgelben Zähnen wachten vor großen Gebäuden, auf Plätzen, vor Läden, an Haltestellen, im struppigen Park, vor den Studentenheimen, in Bodegas, vor dem Bahnhof. […] Emporkömmlinge, Selbstverleugner, aus dem Nichts gekrochene Gewissenlose und über Leichen gehende Gestalten […]. (H 58f.)

758 Vgl. Stock, Wir und die Anderen. 2018, S. 85f. 759 Goffman, Stigma. 2018, S. 7. 760 Pappert, Steffen: Sprach- und Informationslenkung in der DDR. In: Dhouib, Formen des Sprechens. 2018, S. 49–68, hier: S. 67.

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Die Erzählerin ist gewahr, dass der öffentliche Raum flächendeckend von Mitarbeitern des Geheimdienstes überwacht wird. Durch ihre Omnipräsenz und ihr aufstörendes Verhalten verbreiten sie Angst und Schrecken in der Bevölkerung: Einen schrien sie an, weil die Sonne brannte, weil der Wind bließ, oder weil es regnete. Am zweiten zerrten sie und ließen ihn gehen. Den dritten schlugen sie nieder. […] einen vierten [führten sie] ab, entschlossen und ohne Wut. Nach einer Viertelstunde standen sie wieder im Revier. (H 60)

Die jungen Männer sind Profiteure des Systems, die »ihre Zuverlässigkeit durch die Zahl der Feinde [bewiesen]« (H 58). Sie demonstrieren den Passanten das Monopol des Diktators über die Staatsgewalt, indem sie willkürlich entscheiden, wer Feind und wer Freund ist: »Man sollte sehen, daß es […] keine Gründe brauchte, nur die Laune. Die Passanten gingen schnell und leise an ihnen vorbei. Sie erkannten sich wieder von früher. Das machte die Schritte […] so still.« (H 60) Auch in den Kneipen und Cafés spürt sie eine Atmosphäre der Angst, die den freien Meinungsaustausch einschränkt. Sie beobachtet Fabrikarbeiter, die sich nach dem Ende ihrer Arbeit betrinken und Streit anzetteln: »Immer im Rudel in den Sommergarten einer Bodega. […] Die Männer torkelten und schrien sich an, bevor sie sich leere Flaschen auf den Kopf schlugen.« (H 37) Später, so ist die Erzählerin überzeugt, bereuen die Arbeiter ihren Kontrollverlust: Wenn sie am nächsten Tag nüchtern blieben, gingen sie ganz allein durch den Park, um sich zu fassen. Ihre Lippen waren vom Suff weiß aufgesprungen. Ihre Mundwinkel eingerissen. Sie stellen die Füße bedächtig ins Gras und mahlten im Hirn jedes Wort noch einmal durch, das sie im Suff geschrien hatten. Sie saßen kindisch in den Gedächtnislücken des vergangenen Tages. Sie fürchteten, daß sie in der Bodega etwas geschrien hatten, was politisch war. Sie wußten, daß die Kellner alles melden. (H 38f.)

Mit dem flächendeckenden Einsatz von Spitzeln zielt die Regierung darauf ab, Informationen über tatsächliche oder potentiell staatsfeindliche Äußerungen zu sammeln, regimekritische Stimmen zu identifizieren und mundtot zu machen. Ausgehend von der allgegenwärtigen Überwachung der Bevölkerung, beschreibt die Erzählerin Rumänien als Raum repressiver Kommunikation, wobei sie Raum und Unterdrückung gleichsetzt: »Sie [die Arbeiter] waren in der Angst zu Hause. Die Fabrik, die Bodega, Läden und Wohnviertel, die Bahnhofshallen und Zugfahrten […] paßten auf. Die Wände und Decken und der offene Himmel.« (H 39) Offizieller und öffentlicher Kommunikationsraum fallen in weiten Teilen zusammen, weshalb die Erzählerin viele Orte als »verlogen« (vgl. ebd.) wahrnimmt. Hinzu kommt die Tabuisierung von als prekär geltenden Themen, mithin das Verbot, öffentlich über bestimmte »Themen, Objekte, Personen, Sachverhalte [… zu] reden […], bzw. deren Namen [… zu] nennen […], aus Angst […] vor

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gesellschaftlicher Sanktion«761. Es ist untersagt, Kritik am Diktator und an den herrschenden Lebensumständen zu üben, obwohl sich die Bevölkerung aufgrund der prekären wirtschaftlichen Versorgungslage des Landes gezwungen sieht, für das tägliche Auskommen »Fleisch oder Streichhölzer[], Mais oder Waschpulver, Kerzen oder Schrauben, Haarnadeln oder Nägel[] oder Bretter[]« (H 58) zu stehlen. Die Beispiele zeigen, dass der öffentliche Raum für individuelle Sprechweisen nahezu undurchlässig ist – »ein ›Eigenleben‹ des öffentlichen Kommunikationsraums [existiert] gerade nicht«762. Zwar fördern die staatlichen Maßnahmen der Sprachlenkung, Überwachung und des Verbots bestimmter Themen die Entdifferenzierung des öffentlichen Sprachgebrauchs. Gleichwohl initiiert das repressive Zum-Schweigen-Bringen eines Großteils der Bevölkerung die »Ausbildung spezifischer Kommunikationsräume, […] in denen die Akteure versuchen, sich dem Zugriff der Staatsmacht zu entziehen«763. So wird der Diktator in der Gesellschaft hinter vorgehaltener Hand beschimpft (vgl. H 59), freie bzw. widersprüchliche Sprechweisen werden in andere Räume wie das Kino verlagert – »hier kann man reden« (H 78f.) – und die Unzufriedenheit über die prekären Lebensumstände indirekt, etwa in Form von Gerüchten, artikuliert: Man hörte jeden Tag Gerüchte über die alten und neuen Krankheiten des Diktators. […] ihnen glaubte niemand. Dennoch flüsterten alle in ein nächstes Ohr. Auch wir [die Erzählerin, Edgar, Kurt und Georg] gaben die Gerüchte weiter, als wäre der Schleichvirus des Todes drin, der den Diktator zuletzt doch erreicht: Lungenkrebs, Rachenkrebs flüsterten wir, Darmkrebs, Gehirnschwund, Lähmung, Blutkrebs. (H 69)

Die Hoffnung vieler Bürger, vom Diktator befreit zu werden, überlagert sich mit dem Wunsch, das abgeriegelte Land zu verlassen. Doch die Erfolgschancen einer Flucht sind gering: Jede zweite Flucht scheiterte an den Hunden und Kugeln der Wächter. Das fließende Wasser, die fahrenden Güterzüge, die stehenden Felder waren Todesstrecken. Im Maisfeld fanden Bauern beim Ernten zusammengedorrte oder aufgeplatzte, von Krähen leergepickte Leichen. Die Bauern […] ließen die Leichen liegen, weil es besser war, sie nicht zu sehen. Im Spätherbst ackerten die Traktoren. (ebd.)

So macht »die Angst vor der Flucht […] aus jeder Reise des Diktators eine Dringlichkeitsreise zum Arzt: fernöstliche Luft gegen Lungenkrebs, Wildwurzeln 761 Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 40; Hartmut Kraft fasst Tabus als »Grenzen des Handelns, Redens und Denkens. […] Mithilfe der Tabus definiert eine Gruppe, was zu ihr gehört – und was nicht. Wir können Tabus deshalb als eine interpersonelle Abwehr verstehen, mit der sich Personen und Gruppen gegeneinander abgrenzen«. Kraft, Tabu. 2004, S. 10, 14; vgl. Ders.: [Art.] Tabu. 2014, S. 938–943. 762 Bock, Kommunikationsräume in der Diktatur. 2018, S. 46. 763 Ebd., S. 30.

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gegen Rachenkrebs, Heizbatterien gegen Darmkrebs, Akupunktur gegen Gehirnschwund, Bäder gegen Lähmung.« (H 69f.). Die Gerüchte erzeugen Distanz zum Geschehen, die die Aussichtslosigkeit der Situation, die Ohnmacht des Einzelnen, erträglicher machen soll: »Das Geflüster mahnte zum Abwarten mit der Flucht. Jedem wurde von der Schadenfreude heiß, ohne daß der Schaden jemals kam. Jedem schlich die Leiche des Diktators wie das eigene, verdorbene Leben durch die Stirn. Alle wollten ihn überleben.« (H 70) Sobald sich die Gerüchte jedoch verselbstständigen, werden die engen Grenzen ihrer Ermutigungsbzw. Bewältigungsfunktion erreicht: Mutmaßungen zufolge streut »der Geheimdienst […] selber die Gerüchte über die Krankheiten des Diktators, um Leute zur Flucht zu treiben und sie zu erwischen. Um Leute zum Flüstern zu treiben und sie zu erwischen.« (H 58). Einen neuen Kommunikationsraum erschließt die Erzählerin mit Edgar, Kurt und Georg, die »jemanden [suchten], der mit Lola im Zimmer war [… und] bezweifelten, daß Lolas Tod ein Selbstmord war« (H 43). In ihrem Beisein erinnert sie Sätze aus Lolas lyrischen Aufzeichnungen, die die Studenten in ein Heft notieren. »Ich sagte: Auch dein Heft wird bald verschwinden, weil Edgar, Kurt und Georg auch in einem Studentenwohnheim wohnten auf der anderen Seite des struppigen Parks […]. Doch Edgar sagte: Wir haben einen sicheren Platz in der Stadt, ein Sommerhaus in einem wilden Garten.« (ebd.) Neben dem Heft verstecken die Freunde eigens verfasste Gedichte (vgl. H 57), Fotos, die den aggressiven Umgang der Polizei mit Gefangenen dokumentieren (vgl. ebd.) und deutschsprachige Bücher aus dem Ausland im Sommerhaus – sie hängen die Sachen »in eine[m] Leinensack an die Unterseite des Brunnendeckels« (H 43), mithin, wie Georg ironisch hinzufügt, »an einen inneren Haken« (ebd.). Den Namen des Besitzers der Laube verraten die Jungen der Erzählerin nicht, auf ihre Frage bleiben »Edgar, Kurt und Georg […] stumm. Ihre Augen standen schief, und in den weißen Winkeln, wo Äderchen zusammenliefen, glänzte unruhig das Schweigen« (H 44). So gewährt das Sommerhaus den Studenten einen Freiraum für den privaten Austausch von Gedankengut abseits des offiziellen Diskurses und der staatlichen Informationskontrolle. Die Erzählerin bemerkt: »In den Büchern aus dem Sommerhaus stand mehr, als ich zu denken gewohnt war.« (H 45) Die sich zwischen den vier Freunden einstellende symmetrische Form der Kommunikation beruht auf Ebenbürtigkeit, dem »Streben nach Gleichheit und Verminderung von Unterschieden zwischen den Partnern«764. Vor allem in diesem Aspekt unterscheidet sie sich von der öffentlichen Kommunikation, wie sie im Rahmen der Kundgebung stattfindet und der halböffentlichen Kommunikation, wie sie im Wohnheim und in der Öffentlichkeit erfolgt. Die Jungen ermahnen die Erzählerin, sich ihrer Sprecherrolle stets bewusst zu sein: »Verlaß dich nicht auf falsche 764 Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation. 2017, S. 80.

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Freundlichkeit, warnten [… sie]. Die Mädchen im Zimmer versuchen alles […]. Mit der Frage, wann kommst du wieder, meinen sie: Wie lange bleibst du weg.« (H 87) Als die Freunde ins Visier des Geheimdienstes geraten, müssen sie das Versteck aufgeben, die »Bücher, Fotos und Hefte [teilen sie] untereinander auf[…]« (H 89). Sie sind fortan mit einer Kommunikationsform konfrontiert, die sich ebenfalls unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit, jedoch nach anderen diskursiven Regeln realisiert: Das Verhör. Es sind zunächst die Jungen, die verhaftet und vom Geheimdienst misshandelt werden. Grund sind die Gedichte, insbesondere eines, das »in einem der Bücher aus dem Sommerhaus [stand]« (H 86f.) und das die Jungen »immer wieder [auf]sagten« (H 86): Jeder hatte einen Freund in jedem Stückchen Wolke so ist das halt mit Freunden wo die Welt voll Schrecken ist auch meine Mutter sagte das ist ganz normal Freunde kommen nicht in Frage denk an seriöse Dinge. (ebd.)

Die Erzählerin resümiert Kurts Verhaftung: Kurt mußte den Mund öffnen, und der Hauptmann stopfte ihm das [zerknüllte] Blatt hinein. Kurt mußte das Gedicht essen. Beim Essen mußte er würgen. Der Hund Pjele sprang ihn zweimal an. Er zerriß ihm die Hose und zerkratze ihm die Beine. (H 87f.)

Ungeachtet des Einwandes, dass das Gedicht ein altes Volkslied sei (vgl. H 89), wird den Studenten vorgeworfen, zur Flucht aufzurufen. Auch die Erzählerin wird zum Verhör bestellt und mit dem Gedicht konfrontiert. Dabei offenbart sich die Komplementarität des Kommunikationsablaufs:765 Auf dem Tisch lag ein Blatt. Der Hauptmann Pjele sagte: Lesen. Auf dem Blatt stand das Gedicht. Laut lesen, damit wir uns beide vergnügen […]. Ich las laut: […]. Der Hauptmann Pjele fragte: Wer hat das geschrieben. Ich sagte: Niemand, es ist ein Volkslied. Dann ist es Volkseigentum, sagte der Hauptmann Pjele, also darf das Volk weiterdichten. Ja, sagte ich. Dann dichte mal, sagte der Hauptmann Pjele. Ich kann nicht dichten, sagte ich. Aber ich, sagte der Hauptmann Pjele. Ich dichte und du schreibst […], damit wir uns beide vergnügen: Ich hatte drei Freunde in jedem Stückchen Wolke so ist das halt mit Huren wo die Welt voll Wolken ist auch meine Mutter sagte das ist ganz normal drei Freunde kommen nicht in Frage denk an seriösere Dinge.

765 Vgl. ebd., S. 79–81.

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Ich mußte singen, was Hauptman Pjele gedichtet hatte. Ich sang, ohne meine Stimme zu hören. Ich fiel aus der Angst in die sichere Angst. Die konnte singen, wie das Wasser singt. […] Schön hast du gedichtet, deine Freunde werden sich freuen. Ich sagte: Das haben Sie gedichtet. Na, na, sagte der Hauptmann Pjele, das ist doch deine Schrift. (H 104–106)

Im Unterschied zur symmetrischen Sprecherrelation, wie sie im Gespräch unter den Freunden vorliegt, wird im Verhör der Rangunterschied zwischen dem Hauptmann und der Erzählerin als Folge der einseitigen Machtverteilung deutlich. Als hohes Parteimitglied nimmt der Hauptmann die superiore Position im Gespräch ein, er allein entscheidet über die Verteilung des Rederechts, den Sprecherwechsel und kanalisiert das (sprachliche) Handeln der Erzählerin, die ihrerseits die inferiore Position innehält.766 Der verbale Schlagaustausch demonstriert, dass die von Grice formulierten Maxime zur effizienten, rationalen und kooperativen Gestaltung alltäglicher Kommunikation in der spezifischen Situation des Verhörs ihre Gültigkeit verlieren bzw. sich verkehren.767 So verfolgt die Erzählerin im Bewusstsein, sich dem Verhör nicht entziehen zu können, das Ziel, nicht zu kooperieren bzw. dem Hauptmann möglichst wenig Informationen preiszugeben. Beispielsweise lässt sich ihre Äußerung, nicht dichten zu können, mit Kenntnis des Romangeschehens als Vorwand identifizieren – ist ihr der Umgang mit Texten durch ihre Beschäftigung mit Belletristik und Lyrik doch bekannt –, um der Aufforderung des Hauptmanns nicht gänzlich widerstandslos nachzukommen. Zum Schutze ihrer selbst und ihrer Freunde verstößt sie wissentlich gegen die Maxime der Qualität bzw. das Gebot, den eigenen Gesprächsbeitrag wahr zu gestalten.768 Indem der Hauptmann den von ihm gedichteten Text, der die Erzählerin zur Hure erklärt, abschließend als von ihr verfasst behauptet und damit seine Macht demonstriert, missachtet auch er die Qualitätsmaxime. Doch da er in seinem Amt die machthabende Instanz repräsentiert, obliegt es ihm, die diskursiven Regeln bzw. das, was in dem Gespräch als wahr gilt, zu bestimmen. Die Verhöre, die ihren Ausgangspunkt in einem als nicht ideologiekonform deklarierten und im Privaten rezipiertem Gedicht nehmen, markieren die massiven Anstrengungen, die das Regime aufbringt, um kritische Stimmen in der Bevölkerung zum Schweigen zu bringen. Die strikte Kontrolle der Diskursproduktivität im Sinne der Sprachlenkung, des Verbots bestimmter Themen und des Mundtot-Machens von Kritikern dient der diktatorischen Staatslenkung dazu, ihren »Macht- und Einflussbereich so weit wie möglich auszudehnen und die Kommunikationsräume einer Gesellschaft größt-

766 Vgl. ebd., S. 80. 767 Vgl. Grice, Studies in the Way of Words. 1989, S. 26f. 768 Vgl. ebd.

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möglich zu vereinnahmen, um ihre ideologischen bzw. hegemonialen Ansprüche bestmöglich durchsetzen zu können.«769 Die zu Dissidenten erklärten Freunde werden fortan überwacht, von den Kommilitonen ausgegrenzt und ihre Wohnheimzimmer und Elternhäuser mehrfach durchsucht (vgl. H 61f., 76).770 Die existenzielle Angst entwickelt sich zum sozialen Bindeglied: »Weil wir Angst hatten, waren Edgar, Kurt, Georg und ich täglich zusammen. Wir saßen zusammen am Tisch, aber die Angst blieb so einzeln in jedem Kopf, wie wir sie mitbrachten, wenn wir uns trafen Wir lachten viel, um sie voreinander zu verstecken.« (H 83) Auch das Schweigen der Freunde über ihre Repressionen gegenüber Dritten »fördert und sichert [ihren] sozialen Zusammenhalt, es schweißt [… die] Gruppe […] zusammen«771. Als sich ihre Wege am Ende des Studiums trennen, vereinbaren sie einen Sprachcode, um sich auf dem Postweg vor den Augen des Geheimdienstes unbemerkt mitzuteilen, welche Formen der Repression ihnen widerfahrenen: Beim Schreiben das Datum nicht vergessen, und immer ein Harr in den Brief legen […]. Wenn keines mehr drin ist, weiß man, daß der Brief geöffnet worden ist. […] Ein Satz mit Nagelschere für Verhör, […] für Durchsuchung einen Satz mit Schuhe, für Beschattung einen mit erkältet. Hinter die Anrede immer ein Ausrufezeichen, bei Todesdrohung nur ein Komma. (H 90)

Der Plan lässt sich jedoch nur schwerlich in die Tat umsetzen, wie die Erzählerin reflektiert, als sie bemerkt, observiert zu werden und wiederholt mit einem Verhör samt Morddrohung – »Ihr seid eine böse Saat. Dich stecken wir ins Wasser« (H 106) – konfrontiert ist: Ich hatte Edgar geschrieben: Ich bin seit einer Woche erkältet und finde meine Nagelschere nicht. Georg hatte ich geschrieben: ich bin seit einer Woche erkältet, und meine Nagelschere schneidet nicht. Vielleicht hätte ich erkältet und Nagelschere nicht in einem Satz schreiben dürfen, vielleicht hätte ich erkältet und Nagelschere im Brief verteilen müssen. Vielleicht hätte ich zuerst Nagelschere und dann erkältet schreiben müssen. Aber erkältet und Nagelschere waren nur noch ein Klopfen gewesen, größer als mein Kopf, nachdem ich einen 769 Bock/Khiari-Loch/Schmidt, Sprachnormierung, Macht und Kommunikationsstrategien. 2018, S. 22. 770 Der Begriff Dissidenz fasst eher »einzelne Personen oder kleine Gruppen, die ihre regimekritische Haltung offen äußern, in der Gesellschaft aber kaum auf nennenswerte offene Unterstützung treffen. Als Opposition gelten dagegen größere, überregional, wenn nicht landesweit zumindest locker organisierte Gruppen, die in der Regel eine Art Grundsatzprogramm besitzen und relativ offen auch zu aktuellen Problemen Stellung beziehen«. Klokocˇka, Vladimir/Zimer, Klaus: [Art.] Opposition. In: Ziemer, Klaus (Hrsg.): Sozialistische Systeme. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft. Pipers Wörterbuch zur Politik 4. München 1989: Piper, S. 305–315, hier: S. 309f. 771 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 58.

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ganzen Nachmittag Sätze mit erkältet und Nagelschere vor mich hingesagt hatte, um den richtigen zu finden. Erkältet und Nagelschere hatten mich herausgeworfen aus ihrem eigenen und unserem vereinbarten Sinn. Ich fand nichts mehr darin und ließ sie stehen in einem Satz, der vielleicht gut und bestimmt schlecht war. Erkältet oder Nagelschere in diesem einen Satz durchzustreichen und ein paar Sätze später wieder hinzuschreiben wäre noch schlechter gewesen. Ich hätte in beiden Briefen jeden anderen Satz durchstreichen können. Nur erkältet und Nagelschere durchzustreichen, wäre ein Hinweis gewesen und dümmer als ein schlechter Satz. (H 101f.)

Deutlich wird, dass »die Codierung […] auch sprachlich zum Nebeneinander von Wörtern führt, die ihres eigentlichen Sinnes beraubt w[e]rden.«772 Das stundenlange Kreisen der Gedanken der Erzählerin um die Platzierung der CodeWörter spiegelt ihre wachsende Verunsicherung und das Fortschreiten der Verunsicherung ihres Sprachgebrauchs wider. Das Bemühen, den Hinweis unbemerkt in den Text einfließen zu lassen, läuft ihrer Angst, die Briefe könnten abgefangen und der Hinweis entdeckt werden, entgegen: »Das Komma sollte schweigen, wenn der Hauptmann Pjele die Briefe las, damit er die Briefe wieder zuklebte und weiterschickte. Aber wenn Edgar und Georg die Briefe öffneten, sollten die Komma schreien.« (H 107) Das Komma kann die lähmende Angst der Erzählerin nicht transportieren: »Ein Komma, das schweigt und schreit, gab es nicht. Das Komma hinter der Anrede war viel zu dick geworden.« (ebd.) So offenbart das Ansinnen, intime Informationen auf verschlüsselte Weise postalisch zu vermitteln, dass die Freunde auch in privaten Textdokumenten stets eine Art Öffentlichkeit in Form eines Mitlesers annehmen, was eine konsequente Selbstreflexion und das Verbergen kritischer Inhalte bedingt und den individuellen Sprachgebrauch massiv beeinflusst.773

4.1.3 Zur Inszenierung des repressiven Schweigens auf der Darstellungsebene Das Schweigen ist nicht allein zentraler Gegenstand der Romanhandlung, es wirkt auch als narratives Verfahren, insbesondere hinsichtlich des Aufbaus bzw. der Präsentation der Handlung, des Erzählmodus’ und der Erzählsprache, wie ausgewählte Beispiele zeigen. So weist bereits der Textanfang ein stilistisches Merkmal auf, das für die Darstellung des Romangeschehens gesamtheitlich charakteristisch ist:

772 Moyrer, »Herztier«. 2017, S. 42. 773 Vgl. Engeroff, Stefanie: Sprachkulturen der Systemgegnerschaft und der systemimmanenten Kritik in der DDR. Von der marxistischen Dissidenz bis zur Szene vom Prenzlauer Berg. Zugl. Frankfurt/M. Univ. Diss. 2013. Berlin 2013: Weißensee Verlag, S. 333–335.

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Lola kam aus dem Süden des Landes, und man sah ihr eine armgebliebene Gegend an. Ich weiß nicht wo, vielleicht an den Knochen der Wangen, oder um den Mund, oder mitten in den Augen. Sowas ist schwer zu sagen, von einer Gegend so schwer wie von einem Gesicht. Jede Gegend im Land war arm geblieben, auch in jedem Gesicht. Doch Lolas Gegend, und wie man sie an den Knochen der Wangen, oder um den Mund, oder mitten in den Augen sah, war vielleicht ärmer. Mehr Gegend als Landschaft. (H 9)

Erzähltheoretisch betrachtet umfasst der Texteinstieg ein Ereignis, das im Zusammenhang mit der Handlung eine statische Funktion aufweist, das heißt die dargestellte Situation nicht verändert. Zur Beschreibung von Eigenschaften wie diesen kommt die Darstellung von Zuständen, etwa die Wohnsituation der befreundeten Studenten hinzu: Edgar, Kurt und Georg wohnten im gleichen Heim, in verschiedenen Zimmern. Edgar im vierten, Kurt im zweiten, Georg im dritten Stock. In jedem Zimmer waren fünf Jungen, fünf Betten, fünf Koffer darunter. Ein Fenster, ein Lautsprecher über der Tür, ein Schrank in die Wand gebaut. In jedem Koffer lagen die Socken, unter den Socken Rasiercreme und ein Rasiermesser. (H 61)

Die kontinuierliche Präsentation von Eigenschaften und Zuständen lässt das Erzähltempo in »Herztier« stagnieren und evoziert den Eindruck eines Stillstands. Zwar weist der Roman auch Geschehnisse mit dynamischer Funktion auf, wie die Einberufung der Kundgebung, das sich einstellende Studienende, die Verhöre und Entlassungen der Freunde aus ihren Arbeitsverhältnissen. Aus ihrer Perspektive handelt es sich dabei jedoch bloß um einen Wechsel von Zuständen, nicht um die aktive Realisierung intendierter Handlungsabsichten. So spiegelt die auffällige Reduktion von dynamischen Motiven bzw. die Einschränkung des figuralen Handlungsspielraums die staatlich erzwungene Passivität des Individuums in der Diktatur wider. Sobald die Figuren eigeninitiativ handeln, werden sie sanktioniert bzw. wird ihr Handeln ›stillgelegt‹, was anhand der Sanktionierung ihres Verhaltens und ihrer zum Teil verhinderten Ausreise deutlich wird. Darüber hinaus zeigen die Textauszügen, dass das Geschehen weniger linear erzählt als vielmehr assoziativ visualisiert wird. An die Stelle des ›Sagens‹ tritt immer wieder das ›Schauen‹ und ›Zeigen‹: Der Enkel [des Nachbarn der Erzählerin] spielte Fahrkartenkontrolleur mit sich selber. Wenn er saß, war er Passagier. Wenn er stand, war er Kontrolleur. Er sagte: Die Fahrkarten bitte. Er zog sich die Fahrkarte mit der einen Hand aus der anderen Hand. Die linke Hand war Passagier, die rechte Kontrolleur. Herr Feyerabend sagte: Komm her, dann spiele ich die Passgiere. Ich bin lieber alles zusammen, sagte das Kind, dann weiß ich, wer seine Karte nicht findet. (H 194)

Momentaufnahmen wie diese gewähren Einblicke in die Folgen der rigiden Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens durch das diktatorische Regime. Dabei konstituiert sich die Gesamtkomposition des Romans weniger über eine dyna-

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misch voranschreitende Handlung als über die assoziative Vernetzung einzelner perzeptiver (Bewusstseins-)Details, mithin über ein bildhaftes Verfahren. Ähnlich einem Kameraschwenk werden über die Bewegung der Erzählerin durch den Raum Ansichten des repressiven Lebens eingefangen und detailliert bzw. in Großaufnahme gezeigt.774 Dass die Erzählerin die Szenen nicht in einen eindeutigen Erklärungszusammenhang einordnet, lässt sich als Ausdruck ihrer wachsenden Verunsicherung und Fremdbestimmung sowie als Kritik an dem permanent kommunizierten Macht- und Wahrheitsanspruch des politischen Regimes interpretieren, das auf eine ideologisch motivierte Vereinfachung komplexer Zusammenhängen abzielt. So lässt sich die Motivierung des Geschehens weniger in der objektiven Ordnung der erzählten Welt als in der ästhetischen Funktion der Ereignisse und Wahrnehmungsdetails in Hinblick auf die Gesamtkomposition des Romans bestimmen. Hinzu kommt, dass der Anteil der Figurenrede passend zum Thema des repressiven Schweigens insgesamt gering ist. Offene Gespräche führt die Erzählerin lediglich im Geheimen mit ihren Freunden. Davon abgesehen erfolgt ihr Sprachgebrauch, etwa im Kontext der Verhöre oder des Verfassens von Briefen nach dem vereinbarten Sprachcode, stets kontrolliert, in Verbindung mit einer selbstreflexiven Prüfung. Der Grad der Mittelbarkeit ist insbesondere im Rahmen der Verhöre verringert, ansonsten dominiert über weite Passagen der narrative Modus. Tritt Figurenrede auf, erfolgt sie vielfach indirekt, mittels Andeutungen. So artikulieren etwa die Freunde ihre Angst vor Übergriffen durch das Regime nicht explizit, sondern bringen sie in Form von gegenseitigen Beleidigungen und Sticheleien zum Ausdruck: Wir konnten uns oft nicht ertragen, weil wir aufeinander angewiesen waren. Wir mußten uns kränken. Du mit deiner schwäbischen Vergeßlichkeit. […] Mit deinem schwäbischen Geldzählen. Mit deiner schwäbischen Klobigkeit. […] Du schwäbisches Arschkappelmuster, du schwäbisches Mondskalb, du schwäbisches Kamepelsackel. Wir brauchten Wut aus langen Wörtern, die uns trennten. Wir erfanden sie wie Flüche als Abstand gegeneinander. […] Der gesuchte Streit war immer Absicht, nur was er antat, blieb ein Versehen. (H 83f.)

Dass Gesagtes eine Stellvertreterfunktion für Nicht-Gesagtes, aber implizit Gemeintes übernimmt, bildet ein maßgebliches Stilmittel des Romans: So fungieren 774 Vgl. zur Bildlichkeit von Müllers Poetik u. a. Köhnen, Ralf (Hrsg.): Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Bildlichkeit in Texten Herta Müllers. Frankfurt/M. 1997: Peter Lang; vgl. Eke, Norbert: Augen/Blicke oder: Die Wahrnehmung der Welt in den Bildern. Annäherung an Herta Müller (Einleitung). In: Ders. (Hrsg.): Die erfundene Wahrnehmung: Annäherung an Herta Müller. Paderborn 1991: Igel, S. 7–21; vgl. Becker, Claudia: ›Serapiontisches Prinzip‹ in politischer Manier. Wirklichkeits- und Sprachbilder in »Niederungen«. In: Eke, Die erfundene Wahrnehmung. 1991, S. 32–41.

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die Sticheleien offenbar als Ventil zur Regulierung der wachsenden Angst. Dabei lässt sich das Erfinden neuer Wörter als Ausdruck eines individuellen Sprachgebrauchs fassen, der der staatlichen Sprachnormierung entgegenläuft.775 Deutlich wird, dass sich erst unter Berücksichtigung der spezifischen Redesituation und der gesamtheitlichen Betrachtung sämtlicher Wahrnehmungen ein Bild dessen ergibt, wovon auf indirekte Weise erzählt wird. Das Prinzip der Auslassung bzw. Aussparung ist für den Aufbau der Erzählung konstitutiv. So werden »für den Plot zentrale[] Handlungsabläufe manchmal gerade nicht erzählt, stattdessen aber durch spezifische Narrationsverfahren […] für den Leser imaginierbar«776. Dies wird besonders deutlich anhand einer Szene, in der die Erzählerin ihrer Kollegin Tereza von einem zurückliegenden Verhör berichtet: Ohne Grund, als spreche ich laut mit mir selber, fing ich zu reden an. Tereza […] rührte sich nicht, um die dunkle Genauigkeit nicht zu verwischen. 1 Jacke, 1 Bluse, 1 Hose, 1 Strumpfhose, 1 Höschen, 1 Paar Schuhe, 1 Paar Ohrgehänge, 1 Armbanduhr. Ich war ganz nackt, sagte ich. 1 Adreßbuch, 1 gepreßte Lindenblüte, 1 gepreßtes Kleeblatt, 1 Kugelschreiber, 1 Taschentuch, 1 Wimperntusche, 1 Lippenstift, 1 Puder, 1 Kamm, 4 Schlüssel, 2 Briefmarken, 5 Straßenbahnkarten. 1 Handtasche. Alles war aufgeschrieben in Rubriken auf einem Blatt. (H 144f.)

Die Erzählerin berichtet nicht direkt, wie sich der Ablauf des Verhörs ereignet hat. Stattdessen zählt sie ihre Kleidungsstücke in Form einer Liste auf. So zeichnet sie auf implizite Weise nach, dass sie sich während des Verhörs hat ausziehen müssen. »Das nachgeschobene ›Ich war ganz nackt‹ bestätigt nur, was die Liste bereits erzählt hat«777. Ebenso erschließt sich erst mit der Äußerung ›1 Handtasche‹, dass es sich bei den zuvor aufgezählten Habseligkeiten um den Inhalt dieser Tasche handelt. »Dass die Auflistung innerhalb ihrer Erzählung Tereza gegenüber die Wiedergabe einer faktischen Liste ist, die der Hauptmann, vermutlich während sie sich auszog, erstellte, erfährt der Leser wiederum mit kalkulierter Verzögerung«778 durch den letzten Satz. Neben dieser Art der Aussparung von Geschehen in der Erzählung ›fehlen‹ auch narrative Überleitungen zwischen den assoziativ aufgerufenen Szenen. So etwa in folgender Textpassage, in dem die Erzählerin ihre Ankunft in Deutschland thematisiert: 775 Vgl. Schmidt, Sarah: »Die Angst ist der unheimliche Meister der Wahrnehmung.« Das System Angst und seine Bedeutung für Wahrnehmung und Sprache bei Herta Müller. In: Dhouib, Formen des Sprechens. 2018, S. 124–147, hier: S. 145. 776 Johannsen, Anja: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld 2008: Transcript, S. 205. 777 Ebd., S. 198. 778 Ebd.

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Edgar lebte noch im Übergangsheim. Ein Greis in den besten Jahren, spöttelte er, ein gescheiterter Lehrer. Wie ich zwei Monate vor ihm, so sollte jetzt er beweisen, daß er in Rumänien aus politischen Gründen entlassen worden war. Zeugen reichen nicht aus, sagte der Beamte. Nur ein Papier mit Stempel, aus dem das hervorgeht. Woher. Der Beamte zuckte die Schultern und lehnte den Kugelschreiber senkrecht an die Blumenvase. Er fiel um. (H 246)

Im ersten Sinnabschnitt weist die Erzählerin darauf hin, dass Edgar und sie bei den deutschen Behörden mit ähnlichen Problemen bei der Anerkennung ihres Status’ als politisch Verfolgte konfrontiert sind. Ohne ausformulierten Übergang, leidglich durch einen Absatz markiert, ruft sie daraufhin eine Gesprächsszene mit einem Beamten aus der Verwaltung auf, die, so deutet die Verschränkung der Szenen an, ihre damalige als auch die gegenwärtige Erfahrung Edgars widergibt. In Bezug auf das nach wie vor irritierende Moment der nicht erfüllbaren Forderung des Beamten wird die Vergangenheit mit der Gegenwart synchronisiert. Auch die Unterbrechung der linearen bzw. chronologischen Darstellung des Geschehens ist Teil von Müllers auflösendem Erzählverfahren. So unterbricht die Erzählerin etwa die Beschreibung ihrer Freundschaft zu Tereza durch eine Vorausdeutung: Ich war nicht mehr im Land. Ich war in Deutschland und bekam die Morddrohungen vom Hauptmann Pjele aus der Ferne als Anrufe und Briefe. […] Dann kam Tereza zu Besuch. […] Weißt du, wer mich geschickt hat. Pjele. […] Wir standen auf dem Bahnsteig, sie, die noch drei Wochen bleiben wollte, und ich, die wollen mußte, daß sie sofort verschwand. (H 157, 158, 161)

Die abrupt einsetzende, wenige Tage umfassende Prolepse nimmt das Ende der Freundschaft der beiden Frauen in einem Moment, indem sie einander nah sind, vorweg. Fortan schürt das Wissen um die Anwerbung Terezas als Geheimdienstspitzel das Misstrauen gegenüber der Figur. ›Miterzählt‹ bzw. beiläufig vorweggenommen wird im Zuge der Vorausdeutung auch der entscheidende Ausgang der andauernden Repressionen – die Ausreise der Erzählerin aus Rumänien. Die erzählerische Auslassung zentraler Geschehnisse und Handlungsübergänge in Verbindung mit der Auflösung des Prinzips der Zeitlichkeit erfordert eine aufmerksame Rezeption durch den Leser, der »permanent dazu aufgefordert [ist], selbst die Lücken zu füllen und zu ergänzen«779. Auf der sprachlichen Ebene des Texts wird das repressive Schweigen weiterhin in Form von Auslassungen und Entindividualisierungen dargestellt. Dabei spielt das Moment der Wiederholung (Kongruenz) von Wörtern und Wortgruppen in 779 Ebd., S. 210.

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Verbindung mit der Abweichung (Deviation) eine zentrale Rolle. Die Strategie der Repetition ermöglicht es, in einem ersten Schritt einen Zusammenhang zu erzeugen und diesen daraufhin zu variieren oder zu dekonstruieren, wodurch sich Auslassungen im Sinne von Erwartungsbrüchen in der Rezeption inszenieren lassen. So werden etwa die Freunde der Erzählerin durch die kontinuierliche Wiederholung ihrer Namen in identischer Reihenfolge »Edgar, Kurt und Georg« (H 43) textintern als zusammengehörig behauptet, es wird eine enge Relation suggeriert. Als mit dem Tod Georgs und Kurts die Gruppe zerbricht, verbleiben von der Reihung »Edgar, Kurt, Georg und ich« (H 51) nur noch der erste und letzte Name, die mittleren Namen entfallen – ähnlich dem Bild einer leeren Klammer. Die semantisch erzeugte Ganzheit bzw. leserseitig über Seiten hinweg eingeübte Namensfolge ermöglicht es, das Fehlen von Kurt und Georg durch die Auslassung ihrer Namen in der verkürzten Reihung indirekt zu vermitteln bzw. zu visualisieren. Mit Junker lassen sich Abweichungen dieser Art als Unterkategorie der stilistischen Wiederholungsstruktur fassen, die sich780 [d]urch das Phänomen »Wiederholung« [definieren]. Sie sind der negative Sonderfall der Wiederholung, sie sind die Strukturen der Nicht-Wiederholung der entsprechenden bekannten, da eingeübten sprachlichen Struktur. Der gemeinsame Nenner stilistischer Auffälligkeit ist nicht die Deviation, sondern das Phänomen »Wiederholung«, wobei die Abweichung nur den negativen Sonderfall darstellt.781

Neben das stilistische Element der Auslassung treten depersonalisierende Ausdrücke, die die erzwungene Gleichförmigkeit bzw. die monotone Stimme des Kollektivs inszenieren. So bleiben die Mitbewohnerinnen der Erzählerin bis auf Lola namenlos, es sind lediglich »sechs Mädchen« (H 11) bzw. »alle Mädchen, die in einem Stockwerk des Heims Tür an Tür in den kleinen Vierecken wohnten« (H 23). Auf ähnliche Weise kommen Indefinitpronomen zum Einsatz, die von konkreten Personen auf eine nicht näher bestimmte Menge rekurrieren. So deutet etwa der Satz »Jemand sagte, die Lautsprecher [in den Wohnheimzimmern] sehen und hören alles, was wir tun« (H 11) an, dass die Äußerung nicht von einer unbekannten Person, sondern im Sinne von ›irgendjemandem‹ bzw. ›einem unter den sechs Gleichen‹, mithin von ›allen‹ erfolgt, wodurch vermittelt wird, dass die Überwachung allgemein bekannt ist. Sich selbst beschreibt die Erzählerin zu Beginn des Romans ebenfalls als Teil der anonymen Menge der Studierenden: »Vielleicht hieß ich in den ersten drei Jahren in diesem Viereck jemand. […] Alle Mädchen standen […]. Jemand zog […] Jemand lachte laut. Jemand stopfte […] Jemand fing an […] Ich weiß nicht mehr, welche von ihnen 780 Vgl. Junker, Hedwig: Stilanalyse und Strukturanalyse in der Literaturwissenschaft. In: Spillner, Bernd (Hrsg.): Methoden der Stilanalyse. Tübingen 1984: Gunter Narr, S. 11–20, hier: S. 15. 781 Ebd.

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ich war » (H 19, 26). Auch die Geheimdienstmitarbeiter werden verallgemeinernd als »die Männer« (H 33), »die junge[n] Männer« (H 58) oder »die Wächter« (ebd.) und die Arbeiter der Metall- und Holzindustrie als »Proletariat der Blechschafe und Holzmelonen« (H 37) sowie als »Rudel« (ebd.) bezeichnet. Die schematische Gruppenbildung suggeriert Gleichheit unten den ihr Zugeordneten und spiegelt die Art und Weise, wie die Erzählerin ihre Umgebung wahrnimmt ebenso wider wie das Ansinnen der Regierung, den kollektiven Sprachgebrauch zu entdifferenzieren. Der poetologische Effekt der Verallgemeinerung wird weiterhin durch die Rezitation von Gerüchten und Volksliedern fortgesetzt. Über die Krankheiten des Diktators flüstern »alle in ein nächstes Ohr. […] Lungenkrebs, Rachenkrebs flüsterten wir, Darmkrebs, Gehirnschwund, Lähmung, Blutkrebs« (H 69). Die Mitbewohnerin der Erzählerin rezitieren Lieder wie Meine Mutter sagt sie gibt mir wenn ich einmal heirate zwanzig große Kissen alle voll mit Stechmücken zwanzig kleine Kissen alle voll mit Ameisen zwanzig weiche Kissen alle voll mit faulen Blättern (H 11f., vgl. H 241)

und die Jungen singen: Gelber Kanarienvogel gelb wie das Eigelb mit weichen Federn und abwesenden Augen. (H 68)

Mit der Weitergabe von Gerüchten und der Wiederaufnahme von Liedgut aus der mündlichen Erzähltradition verliert sich die eindeutige Zuordnung von Äußerung und Sprecher, wodurch der Einzelne für den Inhalt nicht verantwortlich gemacht werden kann. Im Rahmen der repressiven kommunikativen Praxis in der Diktatur lässt sich diese Sprechweise als Schutz vor Sanktionen deuten. Indem die Wiederholung von allgemein bekannten Textbausteinen unbekannter Urheberschaft an die Stelle individueller Äußerungen rückt, gerät sie zur Worthülse, die je nach Sprecherkontext unterschiedliche Bedeutungen transportieren kann. Dass der Roman gegen Ende zu der im Prolog eingeführten Szene zurückkehrt, mithin wieder an den Anfang der Geschichte gelangt, setzt den von Edgar formulierten Widerstreit über den Umgang mit verstörenden Erfahrungen und die Frage, ob es eine Möglichkeit ihrer Narration gibt, auf Dauer. Dabei bleibt offen, ob das im Roman dargestellte Geschehen im Sinne eines Flashbacks der

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Erzählerin lediglich gedanklich vergegenwärtigt bzw. in Form einer Analepse Einblicke in ihre Innenwelt gewährt worden ist – oder ob das Geschehen im Anschluss an die Reflexion im Prolog tatsächlich verbalisiert worden ist, womit sie Edgars Zweifel an einer sprachlichen Darstellung ihre Version der Geschichte entgegensetzen würde. Deutlich wird, dass die Protagonisten erst in einem zeitlichen Abstand zu den verstörenden Erfahrungen in der Lage sind, ihre damals empfundene Ohnmacht und ihre in der erzählerischen Gegenwart empfundene Sprachlosigkeit zu artikulieren: Ihre Konfrontation mit einem repressiven Schweigen-Müssen weicht einem existenziellen Nicht-sprechen-Können.

4.1.4 Fazit In ihrem Roman »Herztier« inszeniert Herta Müller eine sozialistische Diktatur als Raum repressiven Schweigens, in dem »politische Herrschaft […] als Sprachregime durchgesetzt [wird]«782. Mittels Maßnahmen wie Sprachlenkung und formelhafte Indoktrination, Verbot konkreter Sprechweisen (Tabu) und Mundtot-Machen kritischer Stimmen sucht das Regime den offiziellen politischideologischen Diskurs im öffentlichen Raum zu normieren und den Sprachgebrauch zu entdifferenzieren. Dabei dringt die Dimension des Offiziellen auch in den Raum privater Kommunikation ein, wodurch dieser seine schützende Funktion als Ort des freien Meinungsaustausches weitgehend verliert. Der Roman zeigt, dass die massive Einschränkung der Kommunikationsformen bzw. die rigide Verteilung von »Rederecht und Schweigepflicht [… die etablierten] Herrschaftsverhältnisse ab[bildet], und die Art, in der Individuen damit umgehen, […] über ihre gesellschaftlichen Chancen entscheide[t].«783 Agiert die namenlose Ich-Erzählerin zunächst als Teil der stummen Masse der Studierenden, die in ihrem (Sprach-)Handeln fremdbestimmt ist, versucht sie, initiiert durch die Freundschaft mit den Studenten Edgar, Kurt und Georg, sich der kontinuierlichen Indoktrination und der Kontrolle durch die staatliche Universität zu entziehen. Ihr Rückzug aus dem gleichförmigen Kollektiv bildet ihre Individuation bzw. das Aufkeimen einer privaten wie politischen (Gegen-)Stimme ab: Durch die Gespräche mit den regimekritisch eingestellten Studenten kommt die Erzählerin mit ausländischer Literatur ebenso wie mit subversiven Praktiken, die das politische System infrage stellen, in Kontakt. Da der öffentliche Raum für individuelle Sprechweisen nahezu undurchlässig ist und ein Raum privater Kommunikation kaum existiert, erschließen die Freunde eigene ›Räume des 782 Kramer, Sven/Aghsain, Abdellatif: Subversion und Gegendiskurs. In: Dhouib, Formen des Sprechens. 2018, S. 177–181, hier: S. 177. 783 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 17.

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Sagbaren‹, indem sie bestehende Räume in ihrer Funktion erweitern (das Kino als Ort der Kommunikation nutzen), indirekte Sprechweisen ausüben (Gerüchte über den Diktator teilen) und einen geheimen Raum bzw. ein Versteck für den Austausch nonkonformer Literatur abseits der staatlichen Kontrollinstanzen einrichten. Als die Freunde ins Visier des Geheimdiensts geraten, müssen sie sich auf neue Formen der Kommunikation einstellen, insbesondere auf das erzwungene und nach eigenen diskursiven Regeln erfolgende Verhör. Fortan werden sie überwacht, verleumdet und sozial ausgegrenzt, sind mit gewalttätigen Übergriffen und Morddrohung konfrontiert, die die jungen Menschen zunehmend destabilisieren und die Selbstverständlichkeit ihres Sprachgebrauchs sukzessive infrage stellen (geheimer Sprachcode, permanente Selbstreflexion). Den Repressionen und dem wiederholten Vorwurf der Volksverhetzung entkommen die zu Dissidenten Erklärten nur zum Teil – Georg reagiert auf den Druck mit Selbstmord, Kurt wird tot aufgefunden. Lediglich der Erzählerin und Edgar gelingt die Ausreise aus dem abgeschotteten Rumänien. Das dort von den Freunden als ein Nicht-Sprechen-Dürfen empfundene Schweigen, das »in der Angst vor Verfolgung und Repression und in der beständigen Kontrolle durch die Geheimdienste seinen Motor [gefunden hat]«784, verändert außerhalb der Diktatur seine Qualität. Zwar gelingt der Erzählerin im Sinne der Lotmannschen Raumsemantik mit ihrer Ankunft in Deutschland die Überschreitung einer klassifikatorischen Grenze, wobei sich die topographische Distanz zwischen den Ländern in Oppositionspaaren wie ›Diktatur versus Demokratie‹, ›repressives Schweigen versus freie Meinungsäußerung‹ und ›Immobilität versus Mobilität‹semantisieren lässt. Gleichwohl gerät ihr Schweigen zu einer existenziellen Sprachlosigkeit, einem Nicht-Sprechen-Können über die zurückliegenden Erfahrungen, deren verstörende Qualität noch die Gegenwart beeinflusst. Auf der Darstellungsebene des Romans avanciert das Schweigen zum Erzählverfahren: Durch die Dominanz statischer Motive wird das Erzähltempo retardiert und das Leben der Freunde als Stillstand inszeniert. Zudem werden die Folgen der permanenten staatlichen Überwachung weniger erzählt als vielmehr durch Montage zahlreicher Wahrnehmungsdetails aus dem Blickwinkel der Erzählerin visualisiert, mithin in Bildern ›gezeigt‹. Dass zentrale Handlungen in der Narration ausgespart bleiben, ausformulierte Übergänge zwischen den einzelnen Szenen ›fehlen‹ und die Vermittlung der Geschehnisse weniger linear bzw. chronologisch als vielmehr assoziativ erfolgt, fordert den Leser heraus, den Inhalt der kunstvoll erzeugten Lücken und Abbrüche aus dem Kontext zu erschließen. Sofern Figurenrede erfolgt, umfasst sie oftmals Andeutungen – das Gemeinte weicht vielfach vom Gesagtem ab. Auch sprachliche Mittel, etwa die Repetition von Wortgruppen, die Häufung von Indefinitpronomen und das Ersetzen individueller Äu784 Dhouib, Transformationen. 2018, S. 11.

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ßerungen durch in den Volksmund übergegangenes Liedgut anonymen Ursprungs machen die Entdifferenzierung des Sprachgebrauchs des Individuums, mithin die monotone Stimme des Kollektivs erfahrbar.

4.2

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4.2.1 Einleitung Eleonora Hummel, geboren 1970 in Zelinograd (heute Nur-Sultan, Hauptstadt von Kasachstan), entstammt einer russlanddeutschen Familie, die im Zuge des Zweiten Weltkrieges nach Kasachstan deportiert wurde.785 1980 zog die Familie in den Nordkaukasus, siedelte 1982 nach Deutschland, in die ehemalige DDR, aus, und ließ sich in Dresden nieder, wo die Fremdsprachensekretärin und Autorin bis heute lebt und arbeitet.786 Hummels literarisches Schaffen begann Mitte der 1990er Jahre mit der Veröffentlichung von Kurzprosa, gefördert wurde ihre Arbeit unter anderem 2001 mit dem Stipendium des 5. Klagenfurter Literaturkurses, 2002 mit dem Russlanddeutschen Kulturförderpreis des Landes BadenWürttemberg und 2011 mit dem Hohenemser Literaturpreis.787 2005 erschien ihr 785 Vgl. Hummel, Eleonora (Hrsg.): Eleonora Hummel, Autorin. (Letzter Zugriff am 17. 05. 2020); vgl. Eberhard Büssem im Gespräch mit Eleonora Hummel. BR-Online alpha-Forum Sendung vom 13. 02. 2006. (Letzter Zugriff am 17. 05. 2020); die Russlanddeutschen sind die Nachkommen jener deutschen Kolonisten, die sich im 18./19. Jahrhundert dem Ruf der Zarin Katharina II folgend im Russischen Reich angesiedelt haben, wobei der Begriff eine heterogene Gruppe fasst – ausgehend von den Herkunftsgebieten in der ehemaligen Sowjetunion ließe sich zwischen russischen, kasachischen, ukrainischen, weißrussischen, usbekischen Russlanddeutschen etc. differenzieren. Nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) werden die bis Ende 1992 nach Deutschland immigrierten Russlanddeutschen als Aussiedler und die ab 1993 eingereisten als Spätaussiedler bezeichnet. Die Russlanddeutschen gelten nicht als Ausländer, sondern als heimkehrende Staatsbürger. Vgl. Worbs, Susanne u. a. (Hrsg.): (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse. Nürnberg 2013: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (=Forschungsbericht 20). (Letzter Zugriff am 25. 05. 2020); vgl. Isterheld, Nora: »In der Zugluft Europas.« Zur deutschsprachigen Literatur russischstämmiger AutorInnen. Zugl. Bamberg Univ. Diss. 2017. Bamberg 2017: University of Bamberg Press, S. 32f. 786 Vgl. Hummel, Autorin; vgl. Paulsen, Nina: »Die Hoffnung ist ein Hefeteig«: Lesung mit Eleonora Hummel in Nürnberg. Siebenbürgische Zeitung vom 10. 03. 2015. (Letzter Zugriff am 17. 05. 2020). 787 Vgl. ebd.; vgl. Hummel, Eleonora (Hrsg.): Eleonora Hummel, Auszeichnungen. (Letzter Zugriff am 17. 05. 2020); vgl. Stadtverwaltung Hohenems (Hrsg.): Hohenemser Literaturpreis. Die bisherigen Preisträger/innen. (Letzter Zugriff am 05. 08. 2021). 788 Vgl. Hummel, Auszeichnungen. 789 Der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung folgend, differenziert Alexander Ritter drei Phasen in der russlanddeutschen Literaturgeschichte: Die erste Phase von 1763–1917 (Beginn der Einwanderung bis Oktoberrevolution) geht einher mit dem »kulturgeschichtliche[n] Prozeß der Etablierung und Konsolidierung eines auf heimatische Traditionen bezogenen Lebens […]. Die [primär deutschsprachigen] literarischen Klein- und Gebrauchsformen herrschen vor: Volkslied, Laienspiel und Schwank, Predigt, Traktat und Verordnungen«. Die zweite Phase datiert Ritter von 1917–1941 (Oktoberrevolution bis Beginn des Zweiten Weltkrieges), sie geht in etwa mit der Gründung, dem Bestehen und dem Ende der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSR) 1924– 1941 einher. Dabei behält »die [vorwiegend bilinguale] Literatur […] ihren ausgeprägten funktionalen Gebrauchswert, nun aber ausschließlich im Rahmen der staatlich geforderten politischen Aufklärung. Sie tritt als Spott- und Kampflied, als Pamphlet, dokumentarischer Bericht und ideologisierte Erzählung in den Dienst der politischen Absicht und übt die Diktion des revolutionär-appellativen Sprechens«. Die Textproduktion kommt mit Beginn des Zweiten Weltkrieges und damit einhergehenden gesellschafts-politischen Veränderungen wie dem Deportationserlass von 1941, der Auflösung von Institutionen und Infrastruktur zur Pflege der deutschen Sprache, dem Verbot, Deutsch zu sprechen und in deutscher Sprache zu publizieren sowie der Tabuisierung des ›Stalinistischen Terrors‹ weitgehend zum Erliegen und setzt erst Mitte der 1950er Jahre (dritte Phase) im Zuge der Teilrehabilitierung bzw. Aufhebung des Kollaborationsvorwurfes der deutschen Minderheit mit dem NS-Regime 1964 wieder ein. Ritter, Alexander (Hrsg.): Nachrichten aus Kasachstan. Deutsche Dichtung in der Sowjetunion. Hildesheim 1974: Olms, S. IX–XIII, vgl. ebd.; anknüpfend an die Ausführungen Ritters schlägt Sofie Friederike Mevissen vor, die dritte Phase mit der in den 1980er Jahren einsetzenden Migrationsbewegung zu verbinden und bis zur Gegenwart zu datieren: Im Kontext der deutschen Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1991 siedeln auch viele russlanddeutsche Autoren in die ›historische Heimat‹ Deutschland aus, wobei ihre Texte insbesondere auf die sowjetische Lebenswelt und die Ankunft in Deutschland Bezug nehmen. Zur ersten Phase lassen sich Autoren wie Nelly Wacker, Nelli Kossko und Dominik Hollmann, zur zweiten Phase Autoren wie Nelly Däs, Viktor Heinz, Johann Warkentin und Ilona Walger zählen. Vgl. Mevissen, Sofie: Russlanddeutsche Literatur. Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier Russlanddeutsche vom 29. 10. 2018. (Letzter Zugriff am 17. 05. 2020); vgl. Shchyhlevska, Natalia: Historizität und Interkulturalität im Roman Die Fische von Berlin von Eleonora Hummel. Germanica 51, 2013. (Letzter Zugriff am 25. 05. 2020); vgl. Paulsen, Nina: Erinnerung als Traumabewältigung in der Literatur der Russlanddeutschen: Einblicke in die Vergangenheit und Gegenwart der Literatur der Russlanddeutschen. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung. Edition Gegenwart 1. Berlin 2018: Okapi, S. 33–68, hier: S. 59–63. Vgl. Krieger, Viktor: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. Eine Geschichte der Russlanddeutschen. Bonn 2015: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 10f.; vgl. Ders.: Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft. Historische Schlüsselerfahrungen und kollektives Gedächtnis. Geschichte, Kultur und Lebensweisen der Russlanddeutschen 1. Berlin 2013: Lit–Verlag, S. 141–168. Gansel, Carsten: »Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren.« Gespräch mit Eleonora Hummel. In: Ders.: Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989–2014. Hrsg. v. Norman Ächtler. Berlin 2015: Verbrecher Verlag, S. 563–592, hier: S. 577. Vgl. Mevissen, Russlanddeutsche Literatur. 2018. Ebd. Vgl. Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. 2015, S. 14; vgl. Schwanitz, Mirko: »Anfang einer neuen Tradition«. Deutschlandfunk Kultur heute, Russlanddeutsche Literatur vom 04. 12. 2018. (Letzter Zugriff am 29. 04. 2020); vgl. Museumsverein für russlanddeutsche Kultur und Volkskunde e.V. (Hrsg.): Über das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte, Leitbild. (Letzter Zugriff am 17. 05. 2020); vgl. Paulsen, Erinnerung als Traumabewältigung. 2018, S. 63f.; vgl. Shchyhlevska, Historizität und Interkulturalität. 2013. Meyer, Frank: »Die Fische von Berlin«. Deutschlandfunk Kultur, Buchkritik vom 07. 04. 2005. (Letzter Zugriff am 17. 05. 2020). Vgl. Schwanitz, »Anfang einer neuen Tradition«. 2018; vgl. Paulsen, Erinnerung als Traumabewältigung. 2018, S. 63–67; vgl. Shchyhlevska, Historizität und Interkulturalität. 2013; vgl. Isterheld, »In der Zugluft Europas«. 2017, S. 19; anders verhält es sich mit deutschsprachiger Literatur von russischstämmigen Autoren wie Alina Bronsky, Marjana Gaponenko, Lena Gorelik, Olga Grjasnowa, Wladimir Kaminer, Wlada Kolosowa, Olga Martynova, Katerina Poladjan, Julya Rabinowich, Nellja Veremej und Vladimir Verdlib, deren öffentliche Präsenz und Publikationsdichte seit 2000 deutlich angestiegen ist. Vgl. ebd., S. 15, 17. Gansel, »Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren.« 2015, S. 579f. Meyer, »Die Fische von Berlin«. 2005.

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abzugeben«799, »lebendig und ohne Pathos«800 zu formulieren sind stilistische Merkmale, die Hummels Prosa kennzeichnen. Dabei werden die Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerungsminderheit und die Verfolgungsvergangenheit im kommunikativen Gedächtnis der Familie als offenes Geheimnis und im kulturellen Gedächtnis der ›geschlossenen Gesellschaft‹ des Real-Sozialismus als Tabuthema inszeniert. Insbesondere in diesem Punkt rekurriert die fiktionale Erzählung auf die empirische Wirklichkeit der Sowjetunion der 1930er bis 1980er Jahre, wie die Autorin mit Blick auf ihre Vorfahren hervorhebt, die aus Angst vor staatlichen und gesellschaftlichen Sanktionen auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Verfolgungsgeschichte verschwiegen: Niemand [hat] meinen Großvater gefragt […], was er denn erlebt hat. Deshalb war vielleicht auch kein Anreiz da, das zu erzählen. Außerdem sind die Generationen meiner Großeltern und meiner Eltern beide nach dem Prinzip aufgewachsen, dass Schweigen Gold war und Reden Silber. Man ging von Folgendem aus: Je mehr man schweigt, desto länger bleibt man am Leben und desto ruhiger lebt man auch. Das war die Einstellung, deshalb hat man so etwas nicht erzählt, sondern man redete über das Wetter. [… auch in meiner Familie] war [das Thema] zwar unterschwellig immer vorhanden, aber es wurde nicht offen darüber gesprochen.801

Wie die Autorin andeutet, stellen die aus dem Blickwinkel Alinas bzw. ihres Großvaters erinnerten Geschehnisse keine Einzelschicksale dar, sondern sind auf diese oder ähnliche Weise Bestandteil vieler russlanddeutscher Familienvergangenheiten.802 Da mit dem beschriebenen transgenerationellen Schweigen die Problematik einhergeht, dass »nicht in Worte gefasste Erinnerungen […] verloren [gehen]«803, wie Hummel betont, kommt dem Erinnern und dem intergenerationellen kommunikativen Austausch für die Bewahrung der Familiengeschichten ebenso wie der kollektiven Geschichte der Sowjet- bzw. Russlanddeutschen eine essentielle Bedeutung zu – dies umso mehr, da die authentische mündliche Überlieferung der beteiligten Jahrgänge bzw. das lebendige Erfahrungsgedächtnis an die verstörenden Ereignisse zunehmend verlischt.804 In diesem Sinne stellt »Die Fische in Berlin« einen im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion jahrzehntelang tabuisierten, mithin verschwiegenen Gegenstand zur

799 800 801 802 803 804

Eberhard Büssem im Gespräch mit Eleonora Hummel, 2006. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.; vgl. Paulsen, »Die Hoffnung ist ein Hefeteig.« 2015. Gansel, »Nicht in Worte gefasste Erinnerungen gehen verloren.« 2015, S. 592. Vgl. Gansel, Carsten: Das Vergangene erinnern. Russlanddeutsche Literatur vor und nach 1989 (Einleitung). In: Ders., Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung. 2018, S. 17– 31, hier: S. 20; vgl. Paulsen, Erinnerung als Traumabewältigung. 2018, S. 59.

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Diskussion und wirft Fragen zur kollektiven und kulturellen Verständigung über Formen des Vergessens und Erinnerns auf.805

4.2.2 Zum Verschweigen im kommunikativen Gedächtnis der Familie Dass das Prinzip Erinnerung806 und das Motiv des (Ver-)Schweigens in »Die Fische von Berlin« nach Hans Robert Jauß den Status von systemprägenden Dominanten einnehmen,807 zeichnet sich bereits am Erzählanfang ab, der mittels Vorwort wie folgt einsetzt: Selbst heute verläßt mich nicht das Gefühl, daß zwischen dem, der mein Großvater war, und mir etwas unausgesprochen geblieben ist. An manchen Tagen ist dieses Gefühl nur unterschwellig da, an anderen drängt es empor an die Oberfläche. Es scheint mir dann ganz nah, und doch weiß ich nicht, wie es sich greifen ließe. (FB 7)

Es ist die Stimme der autodiegetischen Erzählerin Alina Schmidt, die ausgehend von der erzählerischen Gegenwart im Berlin der 1990er Jahre das zentrale Moment in der Beziehung zu ihrem Großvater reflektiert: In einer (noch) nicht näher bestimmten Vergangenheit scheint sich eine kommunikative Störung ereignet zu haben, deren Folgen bis in die erzählerische Gegenwart nachwirken. Die kaum ausgestaltete extradiegetische Erzählebene bildet sodann den Rahmen für zwei ineinander geschobene Rückwendungen (Analepsen): Zunächst die Geschichte der elfjährigen Erzählerin Alina, die als jüngstes Kind von drei Geschwistern in den 1980er Jahren in der Sowjetunion lebt – erst in Kasachstan und später im Nordkaukasus – und deren deutschstämmiger Familie nach über zwanzig Jahren erfolgloser Antragstellung schließlich doch noch die Ausreise nach Deutschland genehmigt wird (die erzählte Zeit umfasst hier etwa zwei Jahre). Auf dieser intradiegetischen Ebene setzt, aufgefordert von Alinas Nachfragen, ihr Großvater zu erzählen an, der in elf Rückwenden verstörende, mithin traumatische Ereignisse seiner Jugend erinnert. Damit trifft auf die Konzeption von »Die Fische von Berlin« in doppelter Hinsicht zu, was Birgit Neumann als Gattungsmerkmal der fictions of memory bestimmt – dass das Erinnern für die Figuren eine zentrale Bedeutung gewinnt und die Geschichte auf der diegetischen und in diesem Fall auch auf der metadiegetischen Ebene maßgeblich in der

805 Vgl. ebd., S. 20f. 806 Gansel, Carsten: Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. In: Ders./Zimniak, Pawel (Hrsg.): Das »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 3. Göttingen 2010: V&R unipress, S. 19–35. 807 Jauß, Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. 1977, S. 332f.

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erinnernden Rückschau hervorgebracht wird.808 Ausgehend vom gegenwärtigen Wissenshorizont der Ich-Erzählerin verweist die in ultimas res formulierte Hinführung auf die rekapitulierten Geschichten unter dem spezifischen Blickwinkel dessen, was zwischen Alina und ihrem Großvater nicht gesagt worden ist, auf das alle drei Erzähl- bzw. Handlungsstränge verbindende Motiv (Rezeptionsleitung): Es ist das Schweigen über schmerzhafte traumatische Aspekte der Vergangenheit der Familie, insbesondere des Großvaters, das sich aus den Binnenerzählungen als ein repressives Schweigen-Sollen entpuppt, dessen Mitteilungscharakter erst durch die nicht abreißenden interessierten Nachfragen der Enkelin und ihre Bereitschaft zuzuhören Gehör findet. Nach einer mehrere Jahrzehnte umfassenden Latenzphase entfaltet das Schweigen im Sinne einer kommunikativen Störung, mithin als »Anknüpfungsmoment für weitere Kommunikationen«809 eine produktive Wirkung. Hinsichtlich der Gesamtkomposition des Romans erfüllen die chronologisch erzählten Rückwendungen die explikative Funktion offenzulegen, auf welche Ereignisse Alinas Resümee zurückgeht (konsekutive Verknüpfung), wobei der Wechsel auf die intradiegetische Erzählebene zunächst aufzeigt, dass und jener auf die metadiegetische Ebene sodann welche verstörenden Lebenserfahrungen verschwiegen worden sind. Der narrativen Struktur des Romans folgend, wird der Blick zunächst auf die intradiegetische Ebene gerichtet und der Frage nachgegangen, wie Alina der Existenz des Familiengeheimnisses auf die Spur kommt, bevor in einem zweiten Schritt der Ausschluss der Verfolgungsgeschichte der sowjetdeutschen Familie Schmidt aus dem kollektiven Gedächtnis der UdSSR nachgezeichnet wird. Gleich zu Beginn ihrer Rückwende führt Alina die Figur des Großvaters ein, dem sie besonders zugewandt ist – ausnahmslos verbringt sie die schulfreien Sonntage bei den Großeltern – »in [… ihrer] Erinnerung gibt es keinen Sonntag, an dem nicht Großvater am Ende [… ihres] Weges die Tür geöffnet hätte« (FB 7). Mit den Augen einer Elfjährigen beschreibt sie ihn: »Mein Großvater war ein hochgewachsener, schweigsamer Mann mit einer Glatze, die wie poliert aussah« (FB 8), er »pflegte eine Leidenschaft fürs […] Angeln« (FB 7) und »statt zu reden, rauchte er viel« (FB 10). Dass er Alina »selten beim Namen an[sprach]. Er nannte [… sie] Wnutschka, Enkelin, obwohl [… sie] nicht die einige war, nur seine jüngste« (FB 10), hinterfragt sie nicht weiter. Den Großteil ihrer gemeinsamen Zeit verbringen die beiden schweigend, etwa wenn sie »vor dem Ofen auf der Bank […] sitzen. […] Großvater [… ] seinen Rücken [wärmt], raucht[] […] und zufrieden aus[sieht]. Er redet[] kaum mit [… ihr]. Und [… ihr] genügt[] es, wenn 808 Vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 137, 213–217; vgl. Gansel, Carsten: Die »Grenzen des Sagbaren überschreiten«. Zu »Formen der Erinnerung« in der Literatur in der DDR. In: Ders.: Rhetorik der Erinnerung. 2009, S. 19–38. 809 Vgl. Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 97.

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[… sie] neben ihm [… sitzt], mit den Füßen Muster auf den Boden malt[] und schw[eigt]« (FB 8), wenn Alina ihn zum Angeln begleitet und sie »stundenlang stumm da[]sitzen und auf Fische warten« (FB 49) oder wenn der Großvater ungestört Radio hören will – er stellt »jeden Sonntag um die gleiche Zeit […] das Radio an« (FB 11), die »Stimme Amerikas, deren Wahrheiten im Rauschen sowjetischer Störsender unterg[ehen]« (FB 15), und Alina »ganz leise sein [muss], wenn [… sie] bei ihm bleiben [will]« (FB 11). Alinas Wissenshorizont ist zu diesem Zeitpunkt auf das Offensichtliche beschränkt, sie versteht nicht, »was Großvater an diesem Programm mit dem schlechten Ton so fesselt[]« (FB 12), nimmt sein »Verhalten als normal [… hin]. Es [… wird] zu einem Ritual zwischen Großvater und [… ihr]. Er lauscht[] den Stimmen im Radio, und [… sie sitzt] zu seinen Füßen« (ebd.). Auf diese Weise reinszeniert die ›gealterte Alina‹ in ihren Kindheitserinnerung das Schweigen zwischen ihrem Großvater und sich zunächst als Ausdruck inniger Vertrautheit und Wesensverwandtschaft.810 Was die Vergangenheit des Großvaters betrifft, weiß das Mädchen nur vom Hörensagen, dass dieser »früher bei einem Ofenbauer in die Lehre gegangen [ist]« (FB 9), wobei »früher […] lange her sein [mußte]. Nach dem Krieg war er jahrelang verschollen, und als er zurückgekommen war, hatte er seinen ersten eigenen Ofen in Großmutters Küche gebaut, den, vor dem ich sonntags neben ihm saß.« (ebd.) Weil den Großvater seither eine ausgeprägte Kälteaversion plagt, darf zu Hause »das Thermometer nie unter 24 Grad sinken. Wenn jemand stöhnte, es sei zu warm, stellte er sich taub und sein Blick ging durch die Wand.« (FB 8) Sein Verhalten bzw. seine »seltsame Leidenschaft fürs Heizen und Angeln, für Fische und Öfen« (FB 7) führt Alina auf den gemeinsamen Nenner des Schweigens zurück: »Heizen und Angeln sind Tätigkeiten, die ohne Worte auskommen. Mag sein, daß er sie darum so liebte.« (FB 8) In dieser Einschätzung wird der kindliche Blickwinkel aufgebrochen, es ist das erinnernde Ich, das die Eindrücke des Kindes vor dem gegenwärtigen Wissenshorizont und mit dem Schweigen als Brennpunkt der Erinnerung einzuordnen und nachträglich in einen sinnhaften Zusammenhang zu bringen sucht. Dass der Großvater seit seiner Rückkehr nicht nur die Kälte scheut, sondern auch »das rechte Bein nach[zieht]« (FB 9), ist für die Elfjährige nichts Ungewöhnliches, zwar kennt sie die genauen Umstände, die zu der Verletzung geführt haben nicht (vgl. ebd.), sie nimmt jedoch an, dass seine Verwundung mit dem Krieg zusammenhängt: »Welcher Art seine Verletzung auch war, ich fand sie nicht schlimm. Es gab viele alte Männer, denen ein Arm 810 Aleida Assmann fasst inniges Schweigen ebenso wie zustimmendes, trotziges, feiges und hilfloses Schweigen als Ausprägung des bedeutungsvollen Schweigens; hingegen ordnet sie Schweigeformen im Umgang mit Schuld, Scham, Schmerz und Trauma, soziale Pakte des Schweigens wie Takt und Tabu, das Augen Verschließen, das strafende sowie das repressive Schweigen dem strategischen Schweigen zu. Vgl. Assmann, Formen des Schweigen. 2013, S. 51–68.

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oder ein Bein fehlte, Kriegsveteranen, die im Lebensmittelladen außer der Reihe bedient wurden.« (ebd.) Dass seine deutschen Wurzeln den 1917 im Russischen Kaiserreich geborenen und in der Sowjetunion aufgewachsenen Eduard Bachmeier von anderen Angehörigen seiner Generation diametral unterscheidet und seine auffällige Schweigsamkeit nicht bloß ein Charakterzug, ein »Zustand des Nichtredens ist, sondern auch – mehr oder weniger intentional – eine Botschaft übermittel[t]«811, mithin ein kommunikatives Schweigen ist, erschließt sich Alina erst sukzessive. Es sind zwei ungewöhnliche Entdeckungen und eine ausstehende Antwort der Großmutter, die ihre Aufmerksamkeit auf eben jene Zusammenhänge richten. Eines Sonntags, »an dem alles wie immer [… ist]« (FB 12), und sie der Großmutter bei der Hausarbeit hilft, entdeckt sie im Schlafzimmer der Großeltern ein vergilbtes Foto, das den Großvater – beinahe hätte sie ihn nicht erkannt, so jung sah er aus (vgl. FB 16) – mit vier anderen Männern barfüßig und rauchend im Gras sitzend zeigt (vgl. ebd.). Auf der Bildrückseite ist notiert: »Igarka, 1956« (FB 17). Alina malt sich aus, wie es zu der Aufnahme gekommen sein könnte – möglicherweise sind es Angelfreunde, die gerade auf ihren Fang warten (vgl. FB 16)? Doch »vielleicht war alles auch ganz anders. Je länger [sie] hinschaut[], desto gespannter ersch[eint] [ihr] das Lächeln [… des] Großvaters« (FB 17). Als sie die Aufnahme ihrer achtzehnjährigen Schwester Irma zeigt und fragt, »ob sie etwas darüber wüßte« (ebd.), gibt diese ihr bloß eine knappe Antwort: »›Keine Ahnung. Großvater muß dort mal gearbeitet haben‹« (ebd.), wobei sie »nicht ganz bei der Sache« (ebd.) zu sein scheint. Kurz darauf entdeckt Alina beim Wechseln der Bettwäsche ein altes Messer: Unter Großvaters Kopfkissen blitzte etwas auf. Ich griff danach. Ein aufgeklapptes Taschenmesser, nicht mehr neu, mit verbogener fleckiger Klinge, aber gut geschärft. Ich drehte es in der Hand. Zuerst hielt ich es für ein Angelutensil, das irrtümlich im Bett gelandet war. Großvater schien langsam vergesslich zu werden. Das Bett war eindeutig der falsche Ort für ein Messer. (FB 18)

Irritiert vom ungewöhnlichen Aufbewahrungsort bringt Alina das Messer in die Küche, wo ihre Großmutter und Schwester das Mittagessen vorbereiten. Die sich dort einstellende kommunikative Störung stellt sich aus narratologischer Sicht als Initiator für die sich im Folgenden ereignenden und rückblickend erinnerten Handlungen heraus. »Irma, die am Herd über einem Suppentopf gebeugt stand, hört[] auf zu rühren [… und] über Großmutters Nase bildet[] sich eine Falte. ›Warum kannst du dich nicht einfach nur nützlich machen, Kind? Warum mußt du immer etwas anstellen?‹ Ihre Wangen begannen zu zittern.« (ebd.) Alina begreift nicht, was sie falsch gemacht haben soll, »fühlt[] [… sich] schuldig, ohne [… sich] eines Vergehens bewußt zu sein« (ebd.). Auf ihre Frage, wohin das 811 Stedje, »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen.« 1982, S. 28.

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Messer gehört, antwortet die Großmutter: »›Dein Großvater braucht es. Es ist gut gegen seine Krankheit.‹« (ebd.) Da der Hinweis auf eine Krankheit nicht mit Alinas Wissen über den Großvater übereinstimmt – »daß Großvater krank sein soll[ …, kann sie] nicht glauben. Im Sommer arbeitet[] er ohne müde zu werden im Garten […]. Die Sache mit dem Bein hat[] er gut im Griff […]. Er macht[] keine Diät und hat[] einen gesunden Appetit« (FB 19) –, ist Alina irritiert, sie kann die Äußerung der Großmutter nicht einordnen und erwidert verständnislos: »Welche Krankheit?« (ebd.), woraufhin die Großmutter nichts antwortet, schweigt. Aus Perspektive der linguistischen Gesprächsanalyse lässt sich das Ausbleiben ihrer Antwort nach Meise als Schweigezug kategorisieren, da der vorangehende Beitrag bzw. Gesprächszug Alinas (das Stellen einer Frage) abgeschlossen und die Zuweisung eines Folgezuges an einen konkreten Gesprächspartner, in diesem Falle die Großmutter, erfolgt ist – diese formal betrachtet das Rederecht erhalten hat, wobei sie die Redeübernahme bzw. das Leisten eines Beitrages überhaupt nicht beabsichtigt.812 Typischerweise weisen Schweigezüge, die »strukturell betrachtet […] unausgefüllte ›slots‹ innerhalb der turn-by-turn-Abfolge [darstellen]«813, auf zwischen den Dialogpartnern bestehende Konflikte hin.814 Eben dies ist in der vorliegenden Gesprächssequenz der Fall. Im Sinne von Stephen Levinsons pointierter Formulierung »›no response means there’s a problem‹«815 erzeugt das Schweigen der Großmutter, da es im Kontext einer Alina bis zu diesem Zeitpunkt unbekannten ›Krankheit‹ auftritt, eine Unterbrechung bzw. Störung des ansonsten reibungslos ablaufenden Sprecherwechsels.816 Mit Blick auf den weiteren Gesprächsverlauf zeichnet sich ab, dass sich der kommunikative Störfall zum produktiven bzw. korrekturinitiierenden Moment interaktionaler Prozesse entwickelt.817 Im Sinne der Transkriptionstheorie Ludwig Jägers lässt sich das Störmoment Schweigen als Ausgangspunkt einer transkriptiven Bearbeitung in Form der wechselseitigen Aushandlung von Sinn fassen, mithin als Verfahren der Verständnissicherung und Entstörung.818 Zur Klärung des Sachverhalts ergreift Alina erneut das Wort, 812 813 814 815 816 817 818

Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 57–67. Ebd., S. 62. Ebd., S. 60, 64. Levinson, Pragmatics. 1983, S. 320. Vgl. Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 99. Vgl. ebd., S. 97; vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 62. Ludwig Jäger geht davon aus, »dass sich kommunikative Verläufe in mindestens zwei Zuständen befinden können: (1) in dem der Ungestörtheit [bzw. ›medialen Transparenz‹], in dem die jeweils verwendeten sprachlichen (symbolischen) Mittel als solche nicht thematisch sind, sodass ein unmittelbares ›looking through‹ auf die Semantik des Kommunizierens möglich ist« und in dem »das jeweilige Zeichen/Medium mit Bezug auf den Gehalt, den es mediatisiert […] verschwindet, transparent wird« sowie im »(2) […] Zustand der Unterbrechung des Transparenz-Modus durch den Redner selbst oder einen Interaktanten«, das »Sichtbarwerden des Mediums«, in dem ein »›looking-at‹ auf bestimmte thematisierte

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mithin lenkt sie »die Wahrnehmung auf die […] Störstelle […] und [macht] sie zum Gegenstand von Kommunikation«:819 »›Welche Krankheit hat er denn?‹ fragt[] [… sie] nochmals.« (FB 19) Durch die Wiederholung signalisiert sie, dass sie die Frage der Großmutter »als unbeantwortet, die Handlungssequenz als unabgeschlossen betrachtet, und [… dass sie ihre] zunächst ins Leere gelaufene Initiative nicht einfach fallen läßt, sondern einen erneuten Anlauf unternimmt, um doch noch eine Antwort […] zu erhalten«820. Doch Alinas Intervention zur korrigierenden Bearbeitung des Schweigezugs, mit der sie der Großmutter »die Möglichkeit gibt, [… ihr] Schweigen zu beenden und die offen gelassene Antwort nachzureichen«821, schlägt fehl, erneut antwortet die »Großmutter […] nicht« (FB 19). Stattdessen schaltet sich Irma in das Gespräch ein: »›Frag ihn [den Großvater] doch selbst. Aber ich glaube, seine Krankheit hat keinen Namen.‹« (ebd.) Durch die Preisgabe eines ›Krankheits‹-Details und das Von-sich-Weisen der ›Zuständigkeit‹ bzw. den Verweis auf den Großvater als besseren Ansprechpartner bewahrt Irma die Großmutter vor weiteren Nachfragen. Dabei gibt sie sich, die Rolle der Vermittlerin übernehmend, als Mitwisserin eines den Großvater betreffenden Geheimnisses zu erkennen, in das Alina nicht eingeweiht ist. Zwar kann Alina nicht nachzuvollziehen, warum die Großmutter die Beantwortung ihrer Frage verweigert (Schweige-Motiv) bzw. was mit der ›Krankheit‹ gemeint ist (Schweige-Inhalt). Sie versteht gleichwohl, dass das Schweigen kein bloßes Nicht-Reden, sondern in hohem Grad kommunikativ ist, da es sowohl mit ihrer Redeerwartung bricht (es fehlt der zweite Teil des adjacency pairs bzw. der Frage-Antwort-Paarsequenz) als auch intentional, da wiederholt, erfolgt.822 Es vermittelt im Sinne von Watzlawicks zweitem Axiom weniger einen Inhalts- als

819 820

821 822

Ausschnitte der Rede in ihrer materialen Präsenz [zustande kommt], weil diese aus dem kommunikativen Verlauf gelöst und Gegenstand transkriptiver Bearbeitung werden. […] Transkription ließe sich dann beschreiben als der jeweilige Übergang von Störung zu Transparenz, von De- zu Rekontextualisierung der fokussierten Zeichen/Medien und ihrer jeweiligen Iterationsbedingungen.« Jäger schlussfolgert: »,Störung‹ und ,Transparenz‹ sind […] Aggregatzustände [der Kommunikation], die alle Prozesse medialer Sinn-Inszenierung durchlaufen«. Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Krämer, Sybille (Hrsg.): Performativität und Medialität. München 2004: Wilhelm Fink, S. 35–73; hier S. 59f., 61, 60, 61, 60f., 59; vgl. Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 108. Vgl. Gansel, Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur. 2014, S. 316; vgl. Ders., Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 31–56. Nach Jörg Bergmann bildet die Wiederholung neben der Selbstkorrektur, korrekturinitiierenden Interventionen und der expliziten Formulierung von Interpretationsangeboten eine der Interventionsformen nach Redezugvakanz zur ›Entstörung‹ des Gesprächsfortgangs. Vgl. Bergmann, Schweigephasen im Gespräch. 1982, S. 166f. Apel/Corr/Ullrich, Produktive Störungen. 2013, S. 99. Vgl. Schröter, Die Vielfalt des ›Nichts‹. 2005, S. 50f.

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vielmehr einen Beziehungsaspekt zwischen den Sprecherinnen823: Indem die Großmutter im Kontext der ›Krankheit‹ des Großvaters die Stellungnahme verweigert, signalisiert sie ihrer Enkelin, dass es sich dabei um ein sensibles Thema handelt, das sie mit Alina nicht offen besprechen möchte.824 Da die Beziehung von Großmutter und Enkelin mit Blick auf die ›Krankheit‹ durch einen Wissensunterschied gekennzeichnet ist, liegt nach Watzlawicks fünftem Axiom eine komplementäre Kommunikationssituation vor.825 Dass für die Großmutter über den »›dispräferierten‹ Sachverhalt[] [… zu schweigen] ganz offensichtlich die ›präferierte‹ Alternative darstellt«826, schürt Alinas Neugierde umso mehr – was hat es mit der rätselhaften ›Krankheit‹ des Großvaters bloß auf sich? So gehen ihr »Großmutters Worte […] nicht mehr aus dem Sinn« (FB 20). Anstatt das Messer unter das Kissen zurückzulegen, nimmt sie es an sich (vgl. ebd.) und beschließt, den Großvater »nächsten Sonntag [… danach zu] fragen« (FB 21). In der darauffolgenden Woche fühlt sich dieser jedoch unwohl (vgl. FB 44), sodass das klärende Gespräch ausbleibt. Und auch an diesem Tag bleibt die Großmutter Alina eine Antwort schuldig – auf ihre Frage, was mit dem Großvater sei (vgl. ebd.), schärft diese ihr lediglich ein, von dem Thema abzulassen: »Hör auf, nach Dingen zu fragen, die unglücklich machen.« (ebd.) Damit macht sie im Sinne von Austins und Searles Sprechakttheorie den kommunikativen Zweck ihres Schweigens explizit. Von der Großmutter, das wird Alina klar, wird sie nichts weiter in Erfahrung bringen können. Um der rätselhaften »Krankheit ohne Namen« (FB 36) dennoch auf den Grund zu kommen, stellt sie in den folgenden Wochen bei den übrigen Familienmitgliedern Nachforschungen an, beginnend mit Irma, die mit Äußerungen wie: »Alte Leute werden wunderlich« (ebd.) zunächst die kommunikative Strategie verfolgt, das Thema zu verharmlosen. Da Alina sich jedoch nicht abschütteln lässt, holt die Schwester aus: »Wenn Großvater sein Taschenmesser unter seinem Kopfkissen spürt, schläft er ruhig wie ein Kind« (ebd.), und ergänzt: »Jeder weiß, daß man mit einem alten Klappmesser nichts dagegen ausrichten kann. Er auch« (FB 36f.). Damit wechselt Irma die Taktik – sie setzt nun darauf, durch die Erklärung der Bedeutung des Messers bzw. eines bereits preisgegebenen Details Alina gegenüber den Anschein von Offenheit zu erwecken und sie auf diese Weise von weiteren Nachforschungen abzuhalten.827 Nach dem Motto »Throwing the dog a bone = dem Hund einen

823 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation. 2017, S. 61–64; Meise, Une forte absence. 1996, S. 66. 824 Vgl. ebd., S. 64. 825 Vgl. ebd., S. 78–81. 826 Ebd., S. 64. 827 Alfred Bellebaum unterscheidet sechs Formen der Geheimhaltung von Geheimnissen, neben dem Schweigen, der Mitwisserschaft und begrenzten Kumpanei auch den Themen-

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Knochen zuwerfen«828 versucht sie, die Geheimhaltung zu wahren und sich der konflikthaften Gesprächssituation zu entziehen. Doch Irmas Ansinnen schlägt fehl, ihre Bemerkung trägt vielmehr dazu bei, Alinas Irritation zu verstärken: »Nichts dagegen ausrichten – gegen was denn?!« (FB 37), klagt Alina die Auflösung Irmas Äußerungen prompt ein. Daraufhin reißt dieser der Geduldfaden, sie weist die sieben Jahre jüngere Schwester (vgl. FB 13) schroff ab: »Ach, was weiß ich denn, was einen im Alter so plagt! Schlechte Träume vielleicht? […] Meine Güte, kannst Du lästig sein! [Irma erklärt ihre Mitteilungsbereitschaft bzw. das Gespräch als beendet:] Frag ihn [den Großvater] doch selbst, wenn du nichts besseres zu tun hast; ich muß jetzt lernen.« (FB 37)

Im Unterschied zum nonverbalen Schweigen der Großmutter weicht Irma Alinas Fragen mit vielen Worten aus und sucht ihr Wissen um den Sachverhalt mittels Bagatellisierung und begrenzter Kumpanei zu verschleiern.829 Aus dem sechs Jahre älteren Bruder Willi, der sich grundsätzlich »nicht um die Vergangenheit [… kümmert und überzeugt ist, dass diese nun einmal] [… ist] wie sie [… ist]; unnütz, darüber nachzudenken« (FB 38), bekommt Alina kein Wort heraus. So geht sie bei ihrer Mutter, die »immerhin […] Großvaters Tochter [ist]. Eine Tochter muß[] über ihren Vater Bescheid wissen, und wenn es nur seine Krankheiten [… sind]« (ebd.), zu einer ausgeklügelteren Befragungsstrategie über. Eines Morgens wagt sie sich vor: »Ich muß in der Schule einen Vortrag halten« (FB 39), und erwidert auf die einsilbige Antwort der Mutter: »›Ich dachte, ich frage Großvater ein wenig über den Krieg aus‹« (ebd.), woraufhin diese unvermittelt inne [hält] und [sich] zu [… Alina] um[dreht]. Ihre Augenbrauen waren zu einer fliegenden Schwalbe zusammengerückt. »Was ist das für eine Idee.« Ihr Satz enth[ä]lt keine Betonung, weder ein Frage- noch ein Ausrufezeichen. Und doch klang er, als hätte [… sie] etwas angestellt. (FB 39)

Ihre Äußerung und die diese begleitende Mimik und Intonation signalisieren, dass Alina mit ihrer Frage einen wunden Punkt getroffen und die Mutter ein Stück weit aus der Fassung gebracht hat. Beschwichtigend lenkt sie ein: »Das ist nicht allein meine Idee. Lena schreibt auch über ihren Großvater. Er ist Kriegsveteran. Alle schreiben über ihre Kriegsveteranengroßväter.« (ebd.) Ungeachtet dessen rät die Mutter, wobei sie Alina die »Hand auf [… den] Arm [legt] und [… ihr] kurz ins Gesicht [schaut]« (ebd.), ein anderes Thema zu wählen, da der »Großvater […] seine Ruhe [braucht]« (FB 39). Körpersprache und Blickkontakt wechsel, das Dementi und das Lügen. Vgl. Bellebaum, Schweigen und Verschweigen. 1992, S. 88–93. 828 Ebd. 829 Vgl. ebd.

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verleihen ihrem Äußerungsakt und der damit vollzogenen Aufforderung, das Thema zugunsten der Gesundheit des Großvaters fallen zu lassen, Nachdruck. Alina, die die Begründung der Mutter als fadenscheinige Ausrede auffasst, ist verärgert – zum dritten Mal gewinnt sie den Eindruck, aus dem Kreis der Wissenden ausgeschlossen zu werden und von einer Mauer des Schweigens umgeben zu sein. Gereizt erwidert sie: »Er [der Großvater] hat doch seine Ruhe, er ist Rentner. Ich will nur wissen, was er im Krieg erlebt hat. Lenas Großvater erzählt davon gerne.« (ebd.) Doch anstatt preiszugeben, welche Erfahrungen der (Groß-) Vater im Krieg gemacht hat, stellt die Mutter Alinas Interesse an dem Thema grundsätzlich in Frage: »›Ein seltsamer Wunsch. Ich wollte es niemals wissen. Wozu auch? Dieses Wissen ist unnütz.‹« (FB 39) Doch Alina ist nicht bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen bzw. ihre Nachforschungen einzustellen – zu geheimnisvoll erscheinen ihr die Reaktionen der Angehörigen. So wendet sie sich unter dem Vorwand, etwas »für die Schule vorbereiten [zu müssen]« (FB 45), an ihren Vater. Explizit erkundigt sie sich, ob die Verletzung des Großvaters eine Kriegsverletzung sei (vgl. FB 46), woraufhin dieser bloß »die Nase [rümpft und eine Gegenfrage stellt:] ›Wie kommst du darauf ?‹« (ebd.). Alina erläutert: »›Weil er humpelt. Alle alten Männer, die humpeln, waren im Krieg.‹« (ebd.) In der sich daraufhin einstellenden zähen Frage- und Antwort-Sequenz greift der Vater auf Verallgemeinerungen zurück, wodurch er seine Verschwiegenheit wahrt und sich Alinas bohrenden Nachfragen entzieht. Ausweichend reagiert er mit Äußerungen wie »›ich erinnere mich nicht genau. Es heißt […]‹« (ebd.), verleiht seiner Ungeduld Ausdruck mittels »›Was gibt’s denn noch, Kind?‹« (ebd.), lenkt von seiner Person ab, indem er zurückfragt: »›Wie soll ich das wissen? Ich war doch nicht dabei‹«, betont wie die Mutter: »›Das ist doch alles nicht mehr wichtig.‹« (ebd.), und resümiert: »›Du verstehst es nicht. Manchmal fällt es ihm [dem Großvater] schwer zu begreifen, daß die Vergangenheit unwiderruflich vorbei ist. Das ist bei den Alten wie eine Krankheit, gegen die es kein Mittel gibt. Nur Schweigen. Aber, leider, es heilt nicht.‹« (ebd.) So kann Alina lediglich in Erfahrung bringen, dass der Großvater durch einen Unfall, der vermutlich vor 1956 geschehen ist, einige Zehen verloren hat (vgl. FB 46) und ist von der mageren Ausbeute ihrer Recherche enttäuscht. Die Dialogsequenzen illustrieren, dass das Schweigen ebenso wie die wortreichen Ausflüchte der Familienmitglieder bezüglich Alinas Fragen dem kommunikativ-strategischen Zweck dienen, bestimmte Aspekte der Vergangenheit des Großvaters zu verhüllen.830 Da es sich bei sämtlichen (non-)verbalen Reaktionen nicht um einen bloßen Redeverzicht, sondern um einen intentionalen Thematisierungsverzicht handelt – über einen

830 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 80, 101.

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Sachverhalt, der Alina indirekt betrifft – liegt ein familiales Verschweigen vor.831 Im Zentrum der skizzierten Dialogsequenzen steht nach Jensens die sogenannte revelational function des Schweigens bzw. die Geheimhaltung von Informationen gegenüber der von Mitwisserschaft ausgeschlossenen Alina.832 So lässt sich auch von einem offenen Geheimnis sprechen.833 Weiterhin zeichnet sich ab, dass die Bereitschaft, die offenkundig negativ konnotierte Vergangenheit des Großvaters zu thematisieren – erwähnt die Großmutter doch ›Dinge die unglücklich machen‹, weist Irma auf ›schlechte Träume‹ (vgl. FB 37) und die Mutter auf das ›Ruhebedürfnis‹ des Großvaters (vgl. FB 39) hin –, eng an die generationelle Zugehörigkeit, mithin den Grad der persönlichen Betroffenheit von jenen Ereignissen geknüpft ist: Als Angehörige der Generation des Großvaters weigert sich die Großmutter, die Vergangenheit überhaupt zu thematisieren – es ist denkbar, dass sie seine (oder ähnliche) Erfahrungen geteilt hat. Weniger rigide weichen Alinas Eltern ihren Fragen aus, dennoch geben sie ihr bloß allgemeine Hinweise, bestehen darauf, die ›abgeschlossene‹ Vergangenheit ruhen zu lassen und stellen ihre Nachforschungen generell infrage. Als Angehörige der dritten Generation zeigt Irma die größte Bereitschaft, auf Alinas Fragen einzugehen. Sie verrät ihr einige Details und ermutigt sie, das persönliche Gespräch mit dem Großvater zu suchen. Die Aufgeschlossenheit Alinas, die weitere sieben Jahre jünger als ihre Schwester ist, zeigt, dass sie sich der Familienvergangenheit deutlich unbefangener zuwenden kann als ihre Eltern und Großeltern. So verdeutlicht die Analyse der Dialogsequenzen, dass im kommunikativen Gedächtnis der Familie Schmidt, das sich nach Jan Assmann über die Alltagskommunikation bildet, die »durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit gekennzeichnet [ist]«834 und auch als »Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft« bezeichnet wird, da es »an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden [ist]«835, wesentliche identitätskonstituierende Aspekte der Familienvergangenheit nicht enthalten sind – es mithin fragmentiert und vage ist. Diese Beobachtung stimmt mit Ergebnissen der Studie von Gabriele Rosenthal, Viola Stephan und Niklas Radenbach zum kommunikativen Umgang von Angehörigen russlanddeutscher Familien mit ihrer Verfolgungsgeschichte überein, wobei die Sozialwissenschaftler mit Blick auf die transgenerationellen Folgen derartiger Fa831 Vgl. ebd., S. 108–110; vgl. Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 44f. 832 Vgl. Jensen, Communicative Functions of Silence. 1973, S. 252–254. 833 Alfred Bellebaum unterscheidet zwischen behüteten und offenen, anvertrauten und freien, Einzel- und Gruppen- sowie einfachen und reflexiven Geheimnissen. Vgl. Bellebaum, Schweigen und Verschweigen. 1992, S. 93–98, hier S. 93f. 834 Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 10. 835 Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. 2008, S. 14.

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milien- und Kollektivgeschichten herausstellen, dass »Lücken und leere Stellen im Familiengedächtnis, die sich nicht auffüllen lassen, […] das eigene Zugehörigkeitserleben brüchig und problematisch werden lassen [können]«836. Da die Deutschen aufgrund der wechselnden historischen Verhältnisse […] in der Sowjetunion […] immer wieder genötigt [waren], ihre Familien- und Lebensgeschichten entsprechend den jeweiligen dominanten kollektiven Diskursen umzuschreiben sowie bestimmte Bereiche der familialen und kollektiven Geschichten zu verschweigen,837

wird im Folgenden die Wechselwirkung des Familiendialogs mit dem öffentlichen Diskurs und dessen Bedeutung für das kollektive Gedächtnis der russlanddeutschen Volksgruppe in der Sowjetunion in den Blick genommen.

4.2.3 Zum Verschweigen im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion Um die Mauer des Schweigens über die Vergangenheit zu brechen, wendet sich Alina schließlich direkt an den Großvater. Eines Sonntags fragt sie ihn nach dem vergilbten »Foto, wo [… er] im Wald sitzt« (FB 51). Er versichert, dass seine Erinnerung daran noch »so klar [sei] als wär’s gestern gewesen]. Dieser Wald steht in Sibirien« (ebd.), doch die Erklärung, warum er dort war, zögert er hinaus und versucht das Thema mit den Worten: »Das ist längst vergangen. Was vergangen ist, soll man nicht wieder aufrühren« (FB 52), abzuwehren. Angespornt von ihrer kindlich-unbefangenen Neugierde und ihrem Wunsch, das Familiengeheimnis zu lüften – womöglich auch den Grund für die von »›Sch-sch!‹ und ›Psst!‹« (FB 24) durchsetzte Sprache der Eltern zu erfahren –, insistiert Alina auf eine Antwort: »Mutter sagt, wer fragt, soll auch eine Antwort bekommen. Also frage ich.« (FB 52) Es ist dies der Anfang eines sich über mehrere Monate hinweg erstreckenden Gesprächs, in dem der 1917 im sowjetischen Gebiet Stalino geborene Großvater seine Lebensgeschichte, zentrale Stationen seiner »Vergangenheit, die Jahrzehnte zurücklieg[en], [… und] noch klar in [… seinem] Kopf [sind]« (FB 82), erinnert: Angefangen mit seiner Verhaftung während ›des Großen Terrors‹ Ende der 1930er Jahre (aufgrund des Vorwurfes, sowjetischer Volksfeind bzw. kanadischer Spion zu sein), über seine Folgeleistung des Wehrkommando-Befehls zur Mobilisierung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges im Zuge dessen er zum Faschisten erklärt und zum Arbeitsdienst (Trudarmija) verpflichtet wird bis zu seiner Flucht ins Heimatdorf Timofejewka, von wo aus 836 Rosenthal, Gabriele/Stephan, Viola/Radenbach, Niklas: Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familien von »Russlanddeutschen« ihre Geschichte erzählen. Frankfurt/M. 2011: Campus, S. 20. 837 Ebd.

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seine Familie nach Kasachstan deportiert worden ist. Von seinem Einsatz als Dorfältester (Starosta) durch die deutsche Besatzung und seiner Flucht aus der UdSSR mit den zurückweichenden Wehrmachtstruppen bei Kriegsende sowie seiner Zwangsarbeit auf einem Bauernhof in Brandenburg (sowjetisch besetzte Zone), wo er kurz vor der Heirat der Bauerstochter 1945 durch die sowjetische Militäradministration aufgespürt und zwangsrepatriiert, vor ein Militärtribunal gestellt und wegen Landesverrats zu 25 Jahren Arbeitslager im äußersten Norden Sibiriens (NorilLag) verurteilt wird. 1956, nach elf Jahren Lagerhaft, wird er im Zuge der nach dem Tod Stalins 1953 einsetzenden Liberalisierungsmaßnahmen amnestiert und begibt sich auf die Suche nach Überlebenden seiner Familie nach Kasachstan. Da er die Extremereignisse chronologisch darstellt, »eine räumliche Verortung und zeitliche ›Vergeschichtlichung‹«838 vornimmt und auch subjektive Erlebensperspektiven einbindet, scheint keine Störung seines autobiographischen Gedächtnisses vorzuliegen.839 Bemerkenswert ist vielmehr, dass es das erste Mal überhaupt ist, dass der Großvater seine Geschichte erzählt, wie er seiner Enkelin gesteht: »Niemand fragte danach, weil die Antwort gefürchtet war, und keiner antwortete, weil die Frage ungestellt blieb. Ich weiß auch heute nicht, was einfacher ist, zu schweigen oder zu reden …« (FB 83) Es hängt dies maßgeblich damit zusammen, dass der Großvater bei seiner Entlassung aus dem Gulag wie viele andere eine Schweigeverpflichtung vorgelegt bekommen [hat]. [… Er] unterschrieb sie, wie so viele andere Papiere zuvor, danach war es vergessen, es hatte keine Bedeutung. Und dennoch, drei Jahrzehnte lang [… hat er sich] daran gehalten, weil niemand Fragen gestellt hat. Niemand wollte etwas wissen. [… Er] war zurück, nach dem Wie und Warum fragten weder Frau noch Tochter, der [… er] an [… seines] Bruders Statt ein guter Vater sein wollte. Und schließlich: es gab immer andere Dinge zu tun. (FB 215)

Entsprechend lässt sich das in der Erzählgemeinschaft der Familie Schmidt habitualisierte Schweigen über die Vergangenheit nicht allein als Folge des Erlebens jener Extremereignisse und Ausdruck des individuellen Wunsches fassen, sich vor einer erneuten Vergegenwärtigung jener schmerzhaften Erinnerungen zu schützen. Im Zentrum steht vielmehr die Qualität des Schweigens als repressives Nicht-Sprechen-Sollen. Seine gesellschaftlich-öffentliche Dimension rückt diese Form des staatlich generierten kollektiven Schweigens in die Nähe des Tabus840, das neben den Repressionserfahrungen auch das Sprechen der deut838 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 329. 839 Vgl. ebd., S. 327–333. 840 Das Tabu ist ein »kulturelles Verbot, etwas zu tun oder über etwas zu sprechen. […] Tabus und Tabuisierungen können nur sehr begrenzt begründet werden; nur so können sie gesellschaftliche Traditionen und Werte schützen, soziale Ordnung fundieren und aufrechterhalten. Tabus vereinfachen; sie unterbinden Differenzierungen und kritischen Diskurs. […] Literatur spielt […] eine wichtige Rolle in Prozessen der Enttabuisierung«. Braungart,

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schen Sprache umfasst. Letzteres zielt darauf ab, das Tradieren des Deutschen sukzessive mit dem generationellen Wechsel zum Erliegen zu bringen bzw. den Sprachverfall voranzutreiben.841 So kann auch Alina, anders als der Großvater und ihre Eltern »nicht [mehr] die Sprache ihrer Vorfahren sprechen. Nicht einmal bis zehn […] auf deitsch zählen« (FB 30). Die Aufrechterhaltung des Schweigegebots bzw. Redeverbots lässt sich auf die Angst der Betroffenen und ihrer Angehörigen zurückführen, bei Tabubruch erneut mit politischen und wirtschaftlichen Sanktionen konfrontiert zu sein und gesellschaftliche Ächtung bzw. soziale Ausgrenzung zu erfahren.842 Grundsätzlich ist die Praxis des ZumSchweigen-Bringens von Kritikern und Opfern des Regimes ein politisches Instrument totalitärer Strukturen, wie der Soziolinguist Adam Jaworsky betont: »The silence of oppression is a desirable state for all power groups that are afraid that the mere expression and exchange of opinions or the free flow of information will threaten the existing status quo.«843 Auch im Falle der durch Alinas Familie repräsentierten deutschen Volksgruppe (›Recht des sprechenden Subjekts‹) zielt das erzwungene Schweigen über die erlittenen Verbrechen bzw. jene schuldhafte Episode der sowjetischen Geschichte (›Tabu des Gegenstandes‹) insbesondere im offiziellen und öffentlichen Raum (›Ritual der Umstände‹) im Sinne von Foucaults Diskurstheorie auf die Kanalisierung der Diskursproduktivität (›System der Ausschließung‹) zugunsten der Legitimierung und Stabilisierung von Stalins Machtapparat:844 »Das Verschweigen, das Totschweigen als Herrscherstrategie ist immer ein In-den-Tod-Schweigen, es ist, politisch gesehen,

841 842 843 844

Wolfgang: [Art.] Tabu. In: Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3, P–Z. 3. Aufl. Berlin 2003: de Gruyter, S. 570–573, hier: S. 570. Vgl. Krieger, Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft. 2013, S. 197f.; vgl. Dalos, György: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart. München 2014: C.H. Beck, S. 214f., 225f., 249. Vgl. Kraft, [Art.] Tabu. 2014, S. 938–943; vgl. Ders.: Tabu. 2004, S. 14f.; vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 111f. Jaworski, The Power of Silence. 1993, S. 116. Michel Foucault fasst »Diskurse als geregelte und diskrete Serien von Ereignissen«, mithin als Zeit- bzw. Gesellschaftsgespräch, in dem Wissen und Bedeutungen nach veränderlichen Regeln über sprachliche, themenkohärente Aussagen formuliert werden. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. 2003, S. 38; Foucault nimmt an, dass »in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird«. Ebd., S. 10f.; er bestimmt drei externe Ausschließungssysteme, die auf die Ausklammerung der Ereignishaftigkeit des Diskurses gerichtet sind, das Verbot, die Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn sowie der Gegensatz zwischen Wahrem und Falschem. Vgl. ebd., S. 13–17; vgl. Ruoff, Foucault-Lexikon. 2018, S. 95f.; im vorliegenden Fall greift insbesondere das Ausschließungssystem des Verbots, das Foucault wie folgt näher bestimmt: »Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann. Tabu des Gegenstandes, Ritual der Umstände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts.« Ebd., S. 11.

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eine Variante, Makellosigkeit zu erzeugen.«845 Erinnerungstheoretisch lässt sich das Schweigegebot als Vorstufe des repressiven Vergessens zur symbolischen Vernichtung der deutschen Minderheit und ihrer Geschichte fassen.846 Folgt man einem Gedächtniskonzept, das, wie der Soziologe Maurice Halbwachs argumentiert, sozial und kulturell bedingt ist, mithin auf sprachlichem Austausch mit anderen basiert, wird durch die Einschränkung des familialen und öffentlichgesellschaftlichen Diskurses der Aushandlung pluralistischer Erinnerungsmilieus konsequent entgegengewirkt.847 Da sich das Schweigen über die Repressionen als signifikanter Faktor der gesellschaftlichen Wirklichkeit etabliert,848 hat eine geteilte Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft der sowjetdeutschen Volksgruppe – deren Siedlungsgebiete, dies kommt erschwerend hinzu, durch die Zwangsumsiedlungen aufgelöst und durch weit in der Sowjetunion verstreute Gebiete (Kasachstan, Ukraine, Sibirien) ersetzt worden sind – kaum entstehen können. Über den Terror Stalins schweigen zudem jene, die durch ihn zu Tode gekommen sind. Dies betrifft Alinas Urgroßvater, der wie seine Söhne im Zuge der politischen Säuberungen inhaftiert worden ist und seither als verschollen gilt – die Vermutung liegt nahe, dass er in der Haft ermordet worden ist, wie der Großvater resümiert: »[Im] Brief des Roten Kreuzes [… stand,] unser Vater sei 1937 in Untersuchungshaft gestorben. Ich weiß, seine Knochen liegen irgendwo in einem ›Brudergrab‹; seine Todesurkunden lagern in irgendeinem Archiv; die eine, die einsehbar ist, lautet auf Tod durch Herzversagen; die andere, die geheim ist, lautet auf Tod durch Erschießen, und beide tragen ihre Wahrheit in sich. Niemand wird mir den Ort dieses Massengrabes nennen können.« (FB 100) 845 Angelova, Penka: Topoi des Schweigens im Diskurs der Macht. In: Batts, Michael (Hrsg.): Alte Welten – neue Welten. Akten des IX. Kongresses der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG) 2. Abstracts. Tübingen 1996: Niemeyer, S. 15. 846 Aleida Assmann differenziert Formen des wertneutralen, positiven und negativen Vergessens. Wertneutrale Formen wie automatisches Vergessen, Verwahrensvergessen und selektives Vergessen »betonen die Funktion des Vergessens als mentale Filter und materielle Komplexitätsreduktion«. Positive Formen wie das konstruktive Vergessen und das therapeutische Vergessen »beziehen sich auf die Rolle des Vergessens im Umgang mit traumatischer Vergangenheit«. Bei den im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehenden negativ konnotierten Formen des repressiven, defensiven und komplizitären Vergessens »geht es um das Vergessen als eine Waffe, um aggressive und lautlose Formen der Erhaltung von Macht, um den Schutz der Täter und die Stabilisierung eines repressiven sozialen Klimas«. Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 67f. 847 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M. 1985: Suhrkamp, S. 15–40; Ders.: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M. 1991; vgl. Moller, Sabine: Das kollektive Gedächtnis. In: Gudehus/Eichenberg/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung. 2010, S. 85–92, hier: S. 85f. 848 Vgl. Bauer, Gerhard: Wortohnmacht und ohnmächtiges Schweigen in einem faschistisch regierten Volk. In: Schmitz, Schweigen. 1990, S. 155–167, hier: S. 164.

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Die Anzahl der deutschstämmigen Opfer des Terrors unter Stalin, von Erschießung, Deportation und Zwangsarbeit ist umstritten, wobei nach eher konservativen historischen Schätzungen davon ausgegangen wird, dass zwischen 1918 und 1948 nicht weniger als 480 000 deutsche Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer vorzeitig ums Leben gekommen [sind]: erschossen, erfroren, verhungert, an Entkräftung und Krankheiten aller Art verstorben. Eine gravierende Anzahl für eine Ethnie, die Anfang der Fünfziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts lediglich circa 1,35 Millionen Menschen zählte. Unter allen Völkern und Minderheiten der einstigen UdSSR waren es die Russlanddeutschen, die mit Abstand am meisten unter der Sowjetherrschaft gelitten haben.849

Auch die Stimme von Konrad Bachmeier, Alinas biologischem Großvater, der nach seiner gelungenen Flucht aus der Trudarmee zwar das Heimatdorf erreicht, dann jedoch spurlos verschwindet, verstummt für immer. Ein den Säuberungen entkommener älterer Dorfbewohner erinnert sich: »,Sie können nie alle kriegen. Ein paar bleiben immer übrig. […] ›Haben sie Konrad geholt?‹, fragte ich [der Großvater]. ›Holen mußte ihn keiner. Ist selbst mitgegangen.‹ […] ›Heißt das, er ist tot?‹ ›Das heißt, dein Bruder wird nicht zurückkommen.‹« (FB 163) Die personelle Absenz von Alinas Ur- und Großvater kommt einer damnatio memoriae gleich, einer »Form des strafenden Vergessens durch symbolische Vernichtung des Gegners, der abrupt in Ungnade gefallen ist«850. Diese gewalttätige Form der Machterhaltung zielt darauf ab, die Geschichte der Sowjetdeutschen, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (neben anderen Volks- und Religionsgemeinschaften) vom kommunistischen Regime als politisch ›unzuverlässig‹ eingestuft und verfolgt worden sind, auszulöschen – ihnen wird das Recht, erinnert zu werden, entzogen.851 Aleida Assmann beschreibt diese Form des Vergessens »als eine Waffe, [… als] aggressive und lautlose Form[] der Erhaltung der Macht, um den Schutz der Täter und die Stabilisierung eines repressiven sozialen Klimas [zu gewährleisten]«852. Das zentrale Anliegen einer staatlichen Geschichtspolitik, die hochgradig selektiv verfährt, ist die Vereinheitlichung und der konsequente Umbau des kulturellen Gedächtnisses.853 Im Romangeschehen wird dies mit Blick auf materielle Erinnerungsträger wie das Denkmal zu Ehren der Zarin Katharina II veranschaulicht, auf deren Einladungsmanifest aus dem Jahre 1763 die Anwerbung der mehrheitlich deutschen Siedler im Zarenreich zurückgeht: Nach der 849 850 851 852 853

Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. 2015, S. 12. Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 49. Vgl. ebd., S. 50. Ebd., S. 67. Der Begriff Geschichtspolitik bezeichnet den »öffentlichen Gebrauch der Geschichte durch Deutungseliten. Sie ist kein Signum autoritärer oder diktatorischer Systeme, sondern […] wird auch in pluralistisch verfassten Gesellschaften als notwendige ›politisch-pädagogische‹ Aufgabe erachtet und wahrgenommen«. Moller, Das kollektive Gedächtnis. 2010, S. 91.

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Oktoberrevolution 1917 und der Gründung der Sowjetunion 1922, dem Überfall von NS-Deutschland auf die Sowjetunion 1941 und der Auflösung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) 1942 wird dem Denkmal sein Status als Gedächtnisort entzogen und das Bauwerk dem Zerfall überlassen (vgl. FB 129f.). Hingegen wird noch heute Anfang Mai der ›Tag des Sieges‹ im ›Großen vaterländischen Krieg‹ über NS-Deutschland als bedeutendster Nationalfeiertag Russlands gefeiert – es ist dies der von Stalin etablierte Gründungsmythos der Sowjetunion.854 Die Verbrechen des Regimes an der deutschen Minderheit finden sich darin nicht wieder, wie Aleida Assmann herausstellt: Dass den von seiner Politik ausgelösten Hungersnöten und seinen politischen Säuberungen Millionen Menschen zum Opfer fielen, hat keinen Ort im nationalen Gedächtnis Russlands. […] Dasselbe gilt für die Millionen Opfer, die nach Sibirien deportiert wurden. Diese Opfer des Gulag sind dem Vergessen anheimgegeben und haben ebenfalls keinen Platz im neuen nationalen Gedächtnis Russlands. Keine Denkmäler, keine Tafeln im öffentlichen Raum verweisen auf ihre Geschichte. Diese hat ihren Ort in einem Gegengedächtnis gefunden, der NGO Memorial, die das Archiv dieser staatenlos gewordenen Erinnerung hütet.855

Schuld- und schambesetzte Bestandteile von (Lebens-)Geschichten wie diesen hatten in der sowjetischen Öffentlichkeit – es ist dies der Ort des politischen Gedächtnisses856– keinen Platz und fanden sich auch nicht in den medialen und materiellen Gedächtnisstützen wieder. Solche politisch-kulturellen Formen der staatlichen Gedächtnispolitik werden um politisch-rechtliche Elemente ergänzt,857 etwa die Amnestierung der in den Gulags Inhaftierten durch den ›Rehabilitierungserlass‹ von 1964, mit dem auch die Sowjetdeutschen »formal vom Vorwurf der Kollaboration mit NS-Deutschland«858 freigesprochen werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Schweigeverpflichtung bzw. das staatlich generierte Redeverbot als Maßnahme zur Entwertung und Ausgrenzung der deutschen Wahrnehmungspositionen aus dem kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion fassen. Es ist dies eine Form von ›struktureller Gewalt‹, die dafür sorgt, dass »immer nur einige Stimmen gehört werden und andere nicht«859. Sie ist auf

854 Vgl. Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 93–98. 855 Ebd., S. 96; auch Viktor Krieger betont, dass es »im heutigen Russland kein nationales Museum und Dokumentationszentrum, keine einzige Gedenkstätte auf dem Gelände eines ehemaligen Arbeitslagers und kein akademisches Institut zur Erforschung und Pflege des historischen und kulturellen Erbes der russlanddeutschen Minderheit [gibt]«. Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. 2015, S. 14. 856 Vgl. Moller, Das Politische des Gedächtnisses. In: Gudehus/Eichenberg/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung. 2010, S. 115–125, hier: S. 115. 857 Vgl. Moller, Das kollektive Gedächtnis. 2010, S. 91. 858 Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. 2015, S. 13. 859 Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 53.

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die Vereinheitlichung konkurrierender Erinnerungsbestände und die Affirmation der machthabenden Entscheidungsorgane gerichtet: [Nationalstaaten] sind mit der ununterbrochenen Propaganda der gemeinsamen Haltungen beschäftigt. Sie konstruieren gemeinsame historische Erinnerungen und tun ihr Bestes, widerspenstige Erinnerungen, die nicht in die gemeinsame Tradition hineingezwängt werden können, zu diskreditieren oder zu unterdrücken […]. Mit anderen Worten, Nationalstaaten fördern die Gleichförmigkeit.860

Es gibt, wie der Historiker Reinhart Koselleck präzisiert, »keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen«861. In diesem Sinne bildet die öffentliche Erinnerungskultur jene partikularen Erinnerungsgemeinschaften ab, die sich auf nationaler Ebene gegenüber anderen durchsetzen (in demokratisch-pluralistischen Systemen erfolgt dies durch öffentliche Aushandlungsprozesse) bzw. durch das kommunistische Regime ›von oben‹ durchgesetzt werden – wobei marginalisierten Erinnerungsgemeinschaften wie die sowjetdeutsche zum Großteil selbst die Archivierung ihrer Geschichte verwehrt blieb.862 Das Tabuisieren der Repressionen gegen die Sowjetbürger deutscher Herkunft, das mit dem Ausbleiben des staatlich geförderten Gedenkens seiner Opfer einherging, wirkte sowohl der gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Rehabilitierung als auch der Bewertung der Verfolgungsvergangenheit durch die Betroffenen – die neben ihrer Selbstbestimmung als Opfer auch eine Bestimmung der dem Innenministerium der UdSSR (NKWD) Unterstellten als Täter erfordert – entgegen. So lässt auch Alinas Großvater die Frage »›Wer bestimmt […], wofür sich ein Leben eignet?‹« (FB 54), mit den Worten: »›Vielleicht ist es besser, nicht danach zu fragen‹« (ebd.), offen. Eine eindeutige Evaluation der erinnerten Ereignisse, die eine Voraussetzung für die Integration der verstörenden Erfahrungen in seine Lebensgeschichte bildet, ist dem Großvater nicht möglich. Stattdessen betont er den schicksalhaften und verhängnisvollen Charakter jener sich plötzlich einstellenden politischen Entwicklungen: Im Zuge der politischen Säuberungen werden die Angehörigen der deutschen Volksgruppe durch das kommunistische Regime unter Anreiz von Kopfgeldern und Prämien 860 Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt/M. 1995: Fischer, S. 87. 861 Koselleck, Reinhart: Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 2000, 2001, S. 19–32, hier: S. 20. 862 Vgl. Moller, Das kollektive Gedächtnis. 2010, S. 90f.; mit Blick auf die Literatur der Russlanddeutschen konstatiert Carsten Gansel: »Es gibt zur Literatur der Russlanddeutschen kein Archiv im klassischen Sinne, denn die Texte sind nur in Ausnahmen dokumentiert und bibliographisch erfasst. Dies hat einen einfachen Grund: Erstens hängt es damit zusammen, dass die Autoren über verschiedene Unionsrepubliken der frühen UdSSR verstreut waren. Und zweitens – und dies wiegt für die Gegenwart schwer – sind große Teil der ursprünglich in Privatarchiven gesammelten Primärliteratur der Russlanddeutsche verloren gegangen.« Gansel, Das Vergangene erinnern. 2018, S. 23.

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als ›Volksfeinde‹ verfolgt (vgl. FB 94, 85), mit dem Überfall von NS-Deutschland auf die Sowjetunion dem Vorwurf der Kollaboration mit dem NS-Regime unterzogen und als Faschisten deklariert (vgl. FB 133). »›Die Sowjetdeutschen sollen sich nicht mit dem Sowjetfeind verbünden‹« (FB 145), heißt es, wobei die deutschen Truppen die Angehörigen der deutschstämmigen Minderheit ebenfalls einer Beurteilung ihrer politischen Zuverlässigkeit unterziehen. So lässt sich die Äußerung des Wehrmacht-Soldaten: »Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns« (FB 165), auf beide Kriegsparteien anwenden. Folgenschwer geraten die deutschsowjetischen Bauern zwischen die Fronten des Krieges. Entsprechend positioniert sich der Großvater gegenüber Alina als aus dem gesellschaftlichen Diskurs und dem kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion Ausgeschlossener: »Du wirst niemals einen Vortrag über deinen Großvater den Kriegshelden halten können, denn der war ich nicht« (FB 56). Sein Selbstverständnis wird durch Alinas Beobachtung bestätigt, die bemerkt, dass der Großvater im Unterschied zu den Kriegsveteranen, »die im Lebensmittelladen außer der Reihe bedient [werden]« (FB 9) »keine Medaillen [… besitzt], sich immer hinten anstellt[] und sein humpelndes Bein zu verstecken versucht[]« (ebd.). Seine soziale wie kommunikative Isolation veranschaulicht, dass die Brandmarkung der Sowjetdeutschen als ›Landesverräter‹ noch in den 1980er Jahren – ungeachtet ihrer offiziellen Rehabilitierung – andauert:863 Aufgrund der verhängten Informationsblockade über die Geschichte und Kultur der ›Sowjetdeutschen‹ und vor allem des völligen Verschweigens ihres opferreichen Beitrages zum Sieg der UdSSR im Rahmen der trudarmija [Arbeitsarmee] mussten sie stellvertretend für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland büßen und sahen sich weiterhin antideutschen Ressentiments ihrer Nachbarn oder Kollegen ausgesetzt.864

Angehörige der sowjetdeutschen Minderheit erfahren noch Jahrzehnte nach dem Kriegsende alltagskulturelle Diskriminierung.865 Alina, die Mitte der 1970er Jahre in Kasachstan geboren wird, haften ihre deutschen Wurzeln, symbolisiert durch ihren Nachnamen ›Schmidt‹ und ihr Erscheinungsbild – rote Haare, Sommersprossen (vgl. FB 13) – als Stigma bzw. »Schandmal [an], […] durch das [… sie] sich von allen übrigen Mitgliedern [ihrer Bezugsgruppe …] negativ unterscheidet und aufgrund dessen [… sie] soziale Deklassierung, Isolation [… und] allgemeine Verachtung (Stigmatisierung) [… erfährt]«866. Ungeachtet der Tatsache, dass die ›historische Heimat‹ Deutschland ebenso wenig Teil Alinas wie der Lebenswelt ihrer gleichaltrigen Mitschüler ist, ist das Mädchen im öffentlichen 863 864 865 866

Vgl. Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. 2015, S. 13. Ebd. Vgl. ebd., S. 14. Fuchs-Heinritz u. a., [Art.] Stigma. 2011, S. 864.

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Raum der Schule »von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen«867. Es ist eine Form der pauschalen Diskriminierung, mithin ein »phylogenetische[s] Stigma von Rasse, Nation und Religion, [… das] gewöhnlich von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben [… wird] und alle Mitglieder einer Familie in gleicher Weise kontaminier[t]«868. Mit einem Stigma behaftet zu sein, bedeutet, »in unerwünschter Weise anders, als […] antizipiert [zu sein]«869, wohingegen diejenigen als ›normal‹ gelten, »die von den jeweils in Frage stehenden Erwartungen nicht negativ abweichen«870 – in diesem Falle die Zugehörigkeit zu einer der Ethnien der fünfzehn Unionsrepubliken der UdSSR. In der Schule fristet Alina das Dasein einer Außenseiterin, das sie zeitweise mit der deutsch-sowjetischen Mitschülern Tanja Hirsekorn teilt – auf beide Mädchen trifft Alinas Beobachtung zu, dass »wer [den Gesprächen der anderen Schüler] nur zuhört[], nicht dazugehört[]« (FB 114). Die ihr entgegen gebrachte Voreingenommenheit veranlasst Alina sogar dazu, ihre deutschen Wurzeln zu verleugnen, als sie nach einem Klassenwechsel von ihrer Banknachbarin nach ihrem Namen und ihrer Nationalität gefragt wird: »Wir haben schon einen Schmidt in der Klasse. […] Er ist Deutscher. Bist du auch Deutsche?« Sie fragte freundlich, ohne Arglist, und trotzdem blieb mir für einen Moment die Luft weg. Ich fühlte mich durchschaut und entlarvt, mit dem Rücken zur Wand gestellt, und das gleich am ersten Tag. »Nein, bin ich nicht! Weißt du nicht, Schmidt ist ein ganz gewöhnlicher Name, auch du könntest so heißen.« Assja zuckte mit den Schultern. Sie nahm das Nein als Nein, Erklärungen interessierten sie nicht. (FB 117)

Im sozialen Austausch mit den als ›normal‹ geltenden sowjetischen Mitschülern ist Alina aufgrund ihres Deutschseins diskreditierbar und verunsichert – stets befürchtet sie, auf das pejorative Merkmal ihrer ethnischen Zugehörigkeit reduziert zu werden. Auch mittels »Meisterung von Tätigkeitsbereichen […], von denen [… ›Normale‹] gewöhnlich ann[ehmen], daß sie für jemanden mit seiner Unzulänglichkeit […] verschlossen sind«871, ist es Alina nicht möglich, das Stigma indirekt zu korrigieren.872 So geben ihre ausgezeichneten Russischkenntnisse – Russisch ist die erste Sprache, die sie gelernt hat, des Deutschen ist sie nicht mächtig – der Lehrerin Anlass, Alina am Tag der Zeugnisausgabe vor der Klasse eine Belobigung auszusprechen, wobei sie das Mädchen mittels kommunikativer Praxis aus der Schülergemeinschaft exkludiert, wie Alina erinnert (vgl. FB 178):873 »Es war, als verleihe sie mir […] eine Tapferkeitsmedaille für 867 868 869 870 871 872 873

Goffman, Stigma. 2018, S. 7. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Ebd., S. 19. Vgl. ebd. Vgl. Lobenstein-Reichmann, Stigma. 2009, S. 249.

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Heldentaten. ›Leistungen, die um so bemerkenswerter sind, als Russisch nicht deine Muttersprache ist‹, fuhr Alexandra Petrowna fort. Genauso gut hätte sie sagen können, ich solle mich vor der Klasse ausziehen« (ebd.). Durch die ergänzende Bemerkung der Russischlehrerin wird offenkundig, welche Annahmen sie Alina gegenüber vornimmt, dass die deutsche Schülerin ihrem Russischunterricht nur mangelhaft würde folgen können und dass sich ihre Erwartungen auf überraschende Weise als falsch erwiesen haben. In den Augen der anderen ist Alina auf das Deutschsein festgelegt, wobei auch in diesem Fall die Stigmatisierung mehr über die Stigmatisierenden als über die Stigmatisierte aussagt.874 Auch Alinas Sozialkontakte sind von dem Stigma betroffen. So wird sie von den Nachbarskindern, die »gerne Krieg [spielen … gedrängt,] die Rolle der Besiegten [zu] übernehmen [… und] wenn [… sie sich] weigert[], rufen sie ›Faschistin, Faschistin!‹ […, wobei] ihr Großvater […] seine spielenden Enkel mit wohlwollendem Blick [betrachtet]. [… Alina will] keine Faschistin sein« (FB 49). Das Spiel der Kinder bildet auf Mikroebene die gesellschaftliche Wirklichkeit ab und zeigt die Fortsetzung der seit Jahrzehnten dominierenden tiefgreifenden Ressentiments von anderen sowjetischen Bürgen gegenüber Angehörigen der deutschen Minderheit auf. In Alina, deren Vorfahren mit Kriegsbeginn kollektiv als Kollaborateure von NS-Deutschland verurteilt werden und den Nachbarskindern, die augenscheinlich Nachkommen eines Rotarmisten sind, wirkt die Historie fort – ungeachtet der Tatsache, dass der Bezug der Kinder zu den damaligen Ereignissen lediglich vermittelt ist. In Gänze betrachtet illustrieren die Textauszüge, dass das »in der Sowjetunion jahrzehntelang auferlegte kollektive Schweigen und die massive Tabuisierung bestimmter Anteile der Gesellschaftsgeschichte im öffentlichen Diskurs«875 mit einer Stigmatisierungspraxis der deutschen Minderheit einhergehen. So ist gezeigt worden, dass die Verfolgungsvergangenheit der Sowjetdeutschen sowohl im kommunikativen Gedächtnis der Familie Schmidt als auch im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion eine eklatante Auslassung bildet.

4.2.4 Fazit In »Die Fische von Berlin« thematisiert Eleonora Hummel das kollektive Verschweigen von verstörenden Erfahrungen – Verfolgung, Gulag, Zwangsumsiedlung und alltagskulturelle Diskriminierung – von Angehörigen der deutschen Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion. Am Beispiel der Alltagskommunikation der Familie Schmidt wird erzählt, auf welche Weise die leidvolle Ver874 Vgl. ebd., S. 258. 875 Rosenthal/Stephan/Radenbach, Brüchige Zugehörigkeiten. 2011, S. 60.

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gangenheit der Familie, insbesondere des Großvaters, vor der elf- bzw. zwölfjährigen Enkelin Alina verschwiegen wird. Dabei greifen die Familienmitglieder in der Figurenrede auf verbale (wortreiche Bagatellisierung, begrenzte Kumpanei, Themenwechsel) nonverbale (Schweigezug, Blickkontakt, Mimik) und paraverbale (Intonation) Strategien der Gesprächsabwehr zurück, um das offene Geheimnis der Verfolgungsvergangenheit gegenüber dem Mädchen zu bewahren. Die Geschichte des Großvaters, der seiner Enkelin auf ihre nicht abreißenden Nachfragen hin sukzessive seine Lebensgeschichte enthüllt, legt das Motiv für den schweigenden Umgang mit der Familienvergangenheit frei: Das Schicksal der deutschstämmigen Opfer der politischen Säuberungen wird (neben anderen minorisierten Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaften) über Maßnahmen struktureller Gewalt wie die Erteilung von Schweigeverpflichtungen gegenüber den überlebenden Opfern (ein Schweigen vom Typ des Nicht-Sprechen-Sollens) und die weitreichende Tabuisierung ihres Schicksals im öffentlich-gesellschaftlichen Diskurs der Sowjetunion ausgeschlossen. So gewährt der Roman durch das Aufzeigen familialer und kollektiver Prozesse des repressiven Verschweigens Einblicke in das spezifische Wechselverhältnis zwischen der kommunikativen Erinnerungsgemeinschaft der sowjetdeutschen Familie und dem kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion. Dabei wird das Brechen des transgenerationellen Schweigens bzw. das Erinnern jener verstörenden Ereignisse anhand von zwei aufbauenden Rückwendungen inszeniert, wobei die extradiegetische Erzählebene kaum ausgestaltet ist: Unmittelbar nach dem Texteinstieg setzt der Wechsel auf die Vergangenheitsebene ein, die primär als Ausgangspunkt für die von Alina (auf der intradiegetischen Ebene) und ihrem Großvater (auf der metadiegetischen Ebene) aufgerufenen Erinnerungen fungiert. Die erzählerische Vermittlung erfolgt in beiden Fällen anhand einer internen Fokalisierung, wobei der übergeordnete gegenwärtige Wissenshorizont des jeweiligen erinnernden Ichs zugunsten der Perspektive des erlebenden Ichs zurücktritt (es dominieren field memories).876 So werden aus dem Blickwinkel Alinas bzw. des Großvaters (personal voice) individuelle Lebenserfahrungen zur Sprache gebracht – erzählt wird, was der ›Stalinistische Terror‹ für den Großvater bedeutet hat und inwiefern dieser noch in die Gegenwart seiner Enkelin fortwirkt.877 Gleichwohl lässt sich die singuläre Stimme des Großvaters in gewissem Sinne als Sprachrohr für das unterdrückte deutsche Kollektiv verstehen, seine individuelle Verfolgungsgeschichte exemplarisch für zahlreiche leidvolle Schicksale von Angehörigen der deutschen Minderheit in der Sowjetunion lesen, sodass auch Züge des communal mode of narration erkennbar werden. Dies wird auch insofern deutlich, als der 876 Vgl. zur Unterscheidung von field memories und observer memories bzw. Feld- und Beobachtererinnerungen Shacter, Wir sind Erinnerung. 2001, S. 45. 877 Vgl. Lanser, Fictions of Authority. 2018, S. 18–21.

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Großvater Auszüge der einstigen politischen Propaganda in seine Erzählung einbindet (sprachliche Verdichtung), und sich als Angehöriger einer OpferGruppe definiert – sowohl auf Seiten des kommunistischen Regimes, wo die Sowjetdeutschen als »Feind des Volkes, Konterrevolutionär, Verräter [galten]. Jemand, von dem die Gesellschaft gesäubert werden mußte. […] Ungeziefer, Parasiten, Abschaum« (FB 86) als auch auf Seiten der deutschen Wehrmacht, die klarstellt: »Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Wer sich weigert[], Befehle auszuführen, [… der wird] als Ostarbeiter nach Westen [geschickt].« (FB 165) Zudem ersetzt der Großvater die Namen seiner Angehörigen durch den politischen Status minderen Rechts, den ihnen von staatlicher Seite zugewiesenen worden ist – so redet er in Bezug auf Berta nicht von seiner Schwester, sondern in erster Linie vom »Familienmitglied eines Volksfeinds« (FB 159). Auch ist seine Erzählweise gesamtheitlich betrachtet weniger durch eine ausschmückende Darstellung seiner Innenwelt als durch die Benennung der verstörenden Ereigniskette bestimmt.878 Dass die Analepsen von Alina und ihrem Großvater einer chronologischen Plotstruktur folgen und der Prozess des Erinnerns nicht problematisiert wird – die Erinnerungen sind für Alina ebenso wie für ihren Großvater gewusst und abrufbar – lässt sich auf die Intention zurückführen, das Verschwiegene im zeitlichen Abstand von mehreren Jahrzehnten zum ersten Mal überhaupt zu narrativieren, mithin die blinden Flecken der Familienvergangenheit nachträglich aufzufüllen. Es ist dies ein für den Gedächtnisroman typisches Erzählmuster.879 Eine Bewältigung bzw. sinnstiftende Anbindung der vergegenwärtigten Erfahrungen des erinnerten Ichs an das erinnernde Ich des Großvaters gelingt dabei nur ansatzweise: Seine von Verfolgung, Gulag, Verlust von Familienmitgliedern und destruktiver Fremdbestimmung geprägten Erfahrungen präsentiert er als tiefgreifenden Lebenseinschnitt, dessen Nachwirken in einem von Stigmatisierung und Ausgrenzung dominierten Alltag Alinas findet. Auf der Darstellungsebene wird dies insbesondere in der Überlagerung der Gegenwarts- durch die Vergangenheitsebenen und das Verhaften am begrenzten Wissenshorizont des erinnerten bzw. erlebenden Ichs der jeweiligen Erzählebene inszeniert, wodurch eine abschließende Evaluation der Ereignisse im Sinne einer narrativen Zuschreibung von Schuld und Verantwortung ausbleibt. Hinsichtlich der gattungstypologischen Einordnung des im Untertitel als ›Roman‹ gekennzeichneten Erzähltexts (Fiktionalitätsindikator) ist zu ergänzen, dass »Die Fische von Berlin« kontinuierlich auf die außerliterarische bzw. empirische Wirklichkeit referiert und auf diese Weise ein bislang wenig behandeltes Kapitel der deutschsowjetischen Geschichte (Handlung, Figuren und Schauplatz) fiktionalisiert. 878 Vgl. ebd., S. 21f. 879 Vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 210, 213–217; vgl. Gansel, Die »Grenzen des Sagbaren überschreiten«. 2009, S. 19–38.

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Nach Ansgar Nünnings Typologie dokumentarisch historischer Romane lässt sich Hummels Text tendenziell als realistisch historischer Roman einordnen, da wie »im Falle von dominant narrativer Präsentation […] vergangene Ereignisse oder Prozesse auf der diegetischen Ebene in Form einer fiktiven Handlung vermittelt [werden], die sich in einem raum-zeitlich mehr oder weniger präzise konturierten Milieu vollzieht.«880 Detailliert arbeitet Natalia Shchyhlevska die Realitätsreferenzen des Romans heraus bzw. die wichtigsten, im Roman ausführlich thematisierten historischen Geschehnisse […]: (1) die Großen Säuberungen […] (2) die Situation der Deutschstämmigen in den von NS-Truppen besetzten Ostgebieten und die Evakuierung der ›Volksdeutschen‹ sowie (3) die (massenhafte) Inkriminierung nach §58 des Strafgesetzbuches der UdSSR und die Verurteilungen zur Zwangsarbeit in Sibirien. [… die in dem Roman] beschriebenen Ereignisse lassen sich mit einem Handbuch zur Geschichte der Sowjetunion bis ins Detail verifizieren. Daten und Ortsnamen – Dudinka (S. 187), Igarka (S. 17, 206), Stalino [S. 83] – sowie der Aufstand Ende Mai 1953 im Gorlag und die Schließung des Norillags 1956 sind reale historische Fakten. Selbst die Rechtsgrundlage, den Paragraphen 58, nach dem der Großvater verurteilt wurde, zitiert die Autorin […].881

Als Auslöser des Erinnerns bzw. Erzählens dienen ein altes Foto und ein Klappmesser des Großvaters, es sind »materielle[] Überreste vergangener Epochen [… ›] stumme Zeugen der Vergangenheit, die […] noch einmal stückweise zum Sprechen gebracht werden«882. Artefakte wie diese sind Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses, das sich nach Jan und Aleida Assmann konzeptuell oberhalb des kollektiven Gedächtnisses ansiedeln lässt und sich anstatt auf »radikale inhaltliche Engführung, hohe symbolische Intensität und starke psychische Affektivität [… auf] externe Datenspeicher und Institutionen der Gedächtnispflege und Wissensvermittlung« [stützt].883 Jede Generation eignet sich ihr kulturelles Gedächtnis nach ihren »aktuellen Bedürfnissen und Ansprüchen 880 Nünning, Kriterien der Gattungsbestimmung. 2007, S. 91; vgl. ebd., S. 86–88. 881 Shchyhlevska schlussfolgert, dass sich »Die Fische von Berlin« durchaus als dokumentarisch-historischer Roman fassen lässt. Vgl. Shchyhlevska, Historizität und Interkulturalität. 2013; da die Figuren jedoch nicht historisch verbürgt sind und die Fiktionalität und Narrativität nicht zugunsten der historiografischen Authentizität durch außertextuelle Elemente (weitgehend) verschleiert, überlagert bzw. zurückgedrängt werden, lässt sich der Roman nach Ansgar Nünnings Typologie, so die Einschätzung der Verfasserin, eher als dominant realistisch-historisch einordnen. Zwar geht es auch um Geschichtsdarstellung. Gleichwohl stehen die Verfahren der literarischen Verarbeitung und Konfiguration im Zentrum, wobei die Historie durch »Semantisierung von Erzählstrukturen […] und intertextuelle Darstellungsverfahren indirekt vermittelt« wird. Nünning, Kriterien der Gattungsbestimmung. 2007, S. 91; vgl. ebd., S. 73–99. 882 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen, Wissen, Ethik 13, 2002, H. 2, S. 183–190, hier: S. 189. 883 Ebd.; vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Erwägen, Wissen, Ethik 13, 2002, H. 2, S. 239–249.

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der jeweiligen Gegenwart«884 neu an, indem »einem Werk, einer Person oder einem historischen Ereignis ein besonderer Wert und eine orientierende Bedeutung für die Zukunft zugesprochen [werden]«885 – und realisiert auf diese Weise ihr kollektives Selbstverständnis.886 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Literatur im weiteren und »Die Fische von Berlin« im engeren Sinne als Gedächtnismedium verstehen, dem die Bedeutung, »eine Pluralisierung von kollektiven Erinnerungen zu ermöglichen und verschiedene Versionen von Vergangenheit gegeneinanderzustellen«887, eingeschrieben ist. Im zeitlichen Abstand von zwei Generationen werden die im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion mittels Schweigeverpflichtung und Tabuisierung marginalisierten und in den familialen Erinnerungsgemeinschaften der Sowjetdeutschen verdrängten Leiderfahrungen dem Strudel des repressiven Vergessens entzogen – zu einem Zeitpunkt, an dem das Erfahrungsgedächtnis der beteiligten Jahrgänge nahezu versiegt ist. So gesteht die elfjährige Alina, die sich im Gespräch mit dem Großvater ihrer unbekannten deutschen Wurzeln und der Ursachen ihrer sozialen Ausgrenzung vergewissert, »›jetzt alles wissen [zu wollen], bevor [… der Großvater …] ›nicht mehr da [… ist]‹« (FB 54). Mit Blick auf den sich abzeichnenden Generationenwechsel und das im kommunikativen Gedächtnis der Familie Verschwiegene gilt es, die eigene Geschichte zu tradieren, andernfalls droht: »Löst sich die Gruppe auf, verlieren die Individuen jenen Teil an Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis, über den sie sich als Gruppe vergewisserten und identifizieren.«888 In diesem Sinne präsentiert »Die Fische von Berlin« ein Gegengedächtnis zum hegemonialen Kollektivgedächtnis der Sowjetunion, dessen »Träger die Besiegten und Unterdrückten sind, [… und dessen Motiv] die Delegitimierung von Machtverhältnissen [ist], die [von der sowjetdeutschen Minderheit] als oppressiv erfahren werden«889. So nimmt Eleonora Hummel in ihrem 884 Ebd. 885 Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 37. 886 Vgl. ebd.; vgl. Levy, Daniel: Das kulturelle Gedächtnis. In: Gudehus/Eichenberg/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung. 2010, S. 93–101, hier: S. 93. 887 Gansel, Die »Grenzen des Sagbaren überschreiten«. 2009, S. 21. 888 Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999: C.H. Beck, S. 131. 889 Zum Gegengedächtnis führt Carsten Gansel in Anlehnung an Michel Foucaults Prägung des Begriffs contre-mémoire aus: »Gegengedächtnisse sind darauf aus, von der Peripherie in den Kern zu gelangen und die Grenze zwischen Erinnern und Vergessen zu durchbrechen. In pluralen Gesellschaften, die über eine funktionierende Öffentlichkeit verfügen, besteht somit die Chance, das hegemoniale Kollektivgedächtnis sukzessive durch minoritäre Konzepte zu erweitern. Bei dieser Weitung kommt den Medien des Gedächtnisses, mithin der Literatur, besondere Bedeutung zu.« Gansel, Die »Grenzen des Sagbaren überschreiten«. 2009, S. 21; Aleida Assmann führt zur Gegenerinnerung aus: »Das Motiv der Gegenerinnerung, deren Träger die Besiegten und Unterdrückten sind, ist die Delegitimierung von Machtverhältnissen, die als oppressiv erfahren werden. Sie ist ebenso politisch wie die

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Debütroman eine Neubewertung bzw. Korrektur des kollektiven Gedächtnisses der Sowjetunion vor, die mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung und Restitution des Opfergedächtnisses der sowjetdeutschen Minderheit verbunden ist,890 und inszeniert ihre jahrzehntelang tabuisierte, mithin verschwiegene Verfolgungsgeschichte als zentralen Bestandteil der kollektiven Identität der Sowjet- bzw. Russlanddeutschen.

offizielle Erinnerung, da es in beiden Fällen um Legitimierung und Macht geht. Die Erinnerung, die in diesem Falle ausgewählt und aufbewahrt wird, dient zur Fundierung nicht der Gegenwart, sondern der Zukunft, d. h. jener Gegenwart, die auf den Umsturz der bestehenden Machtverhältnisse folgen soll.« Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. 1999, S. 139. 890 Vgl. Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 187.

5.

Schweigetyp III: Schweigen-Müssen/Nicht-reden-Können

Die Analysen im dritten Textcluster widmen sich dem Schweigen als Symptom traumatischer Erfahrungen, die das Leben und die Identität der Betroffenen bedrohen. Es ist in W.G. Sebalds ebenso wie in Hans-Ulrich Treichels Erzähltext Ausdruck von Hilflosigkeit, Furcht und Entsetzen. Die Figuren verbinden mit ihrem Schweigen mehr oder weniger intentional die Hoffnung auf einen Selbstund Fremdschutz im Sinne des Aufbaus einer emotionalen Distanz zu den zurückliegenden Geschehnissen.891 So entdeckt W.G Sebalds jüdischer Protagonist Austerlitz erst im Abstand von mehreren Jahrzehnten den Grund für seine anhaltende psychische Verstörung und das ihn nicht loslassende Gefühl, »in einem falschen Leben«892 gefangen zu sein: Es ist dies Ausdruck seines kindlichen Entwicklungstraumas, das in Zusammenhang mit dem Holocaust steht. Deutlich wird, dass das überwältigte Schweigen893 der Figur nicht allein ein Vermeidungssymptom ist. Da eine frühe »Lebenszeitperiode[ … in Vergessen und] in der Sprachlosigkeit [… versinkt] und [ihm] nur durch einzelne Bilder und Gefühle zugänglich [ist]«894, ist das Schweigen Ausdruck einer Blockade des autobiographischen Gedächtnisses. Auch bei Hans-Ulrich Treichels namenloser Erzählerin steht die Unfähigkeit zur Narration bzw. die Schwierigkeit, sich auf den narrativen Prozess einzulassen,895 im Zentrum der Darstellung. Zwar ist der Figur die Jahrzehnte zurückliegende Stör-Erfahrung der mehrfachen Vergewaltigung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in all ihren belastenden Details erinnerlich. Sie hüllt diese biographische Zäsur gemeinsam mit ihrem Ehemann jedoch in Schweigen, verschweigt sie in erster Linie vor ihrem Sohn, dessen ungeklärte Vaterschaft mit dem sexuellen Übergriff in Zusammenhang steht. Ihr partielles Schweigen ist primär Ausdruck einer Redeangst, »ein Schutzverhalten vor 891 Vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 333. 892 Sebald, W.G.: Austerlitz. 6. Aufl. Frankfurt/M. 2013, S. 306 [im Folgenden unter der Sigle »A« mit Seitenzahl im Text]. 893 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57. 894 Vgl. Neuer/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 333. 895 Vgl. ebd., S. 327–333.

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Kommunikationssituationen, denen [… sie] sich nicht gewachsen fühlt«896. Erst der Tod ihres erwachsenen Sohnes setzt ihre Suche nach Worten für das Geschehene in Gang. So sind die Figuren von Hans-Ulrich Treichel und W.G. Sebald mit dem Andauern von schmerzhaften Erfahrungen konfrontiert und suchen diese nach einer Phase der Abwehr mittels Formulierung eines Verlust- bzw. Opfernarrativs nachträglich in ihre Lebensgeschichte zu integrieren.

5.1

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5.1.1 Einleitung Winfried Georg Maximilian Sebald bzw. W.G. Sebald wurde 1944 in Wertach/ Allgäu geboren.897 Nach dem Studium der Germanistik und Allgemeinen Literaturwissenschaft in Freiburg/Breisgau und der Schweiz promovierte er 1973, 1986 folgte die Habilitation.898 Sebald arbeitete zunächst als Lektor an der University of Manchester (1966–1968, 1969–1970) und als Dozent für Literaturwissenschaft an der University of East Anglia in Norwich (1970–1975).899 Dort übernahm er 1988 die Professur für Neuere Deutsche Literatur und gründete 1989 das British Centre for Literary Translation.900 Sein schriftstellerisches Debüt gelang ihm mit dem 1988 veröffentlichten Gedichtband »Nach der Natur. Elementargedicht«, auf den die Erzähltexte »Schwindel Gefühle« (1989), »Die Ausgewanderten« (1992) und »Die Ringe des Saturn« (1995) folgten, »die ein polyphoner Diskurs der Erinnerung [verbindet]. Der Komplex der ›Erinnerung‹ bzw. die Frage, nach dem Ort von Geschichte im individuellen und kollektiven Bewusstsein ist allen […] Texten thematisch und strukturell zentral«901. Für Aufruhr sorgte Sebalds 1997 in Zürich gehaltene Poetikvorlesung »Luftkrieg und Literatur«, genauer seine dort formulierte »These, daß es uns bisher nicht gelungen ist, die Schrecken des Luftkriegs durch historische oder literarische Darstellungen ins öffentliche Bewusstsein zu heben«902. Der an die deutsche Nachkriegsliteratur gerichtete Vorwurf, »über die Bombardements deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg und ihre traumatischen Folgen für die Bevölkerung 896 Stedje, »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen.« 1983, S. 22. 897 Vgl. Weber, Markus: Eintrag »Sebald, W.G.« in Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Letzter Zugriff am 28. 04. 2021). 898 Vgl. ebd. 899 Vgl. ebd. 900 Vgl. ebd. 901 Mosbach, Bettina: Figurationen der Katastrophe. Ästhetische Verfahren in W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn und Austerlitz. Bielefeld 2008: Aisthesis, S. 15. 902 Sebald, W.G.: Luftkrieg und Literatur. München 1999: Hanser, S. 108.

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geschwiegen zu haben«903, löste vielfach Widerspruch und eine rege Debatte aus,904 die maßgeblich dazu beigetrug, dass »das Leiden der Deutschen im Zweiten Weltkrieg vom Tabuthema zum Gegenstand gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Auseinandersetzung [… erhoben wurde]«905. Für sein literarisches Schaffen wurde Sebald mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Heinrich-Böll-Preis (1997), dem Heine-Preis und dem JosephBreitbach-Preis (2000).906 Für die englische Übersetzung seines 2001 erschienenen Prosatexts »Austerlitz« sind ihm der US-amerikanische National Book Critics Circle Award (2001) und der britische Independent Foreign Fiction Prize (2002) verliehen worden.907 Es ist der letzte Erzähltext des Autors, der im Dezember 2001 bei einem Autounfall in Folge eines Herzinfarkts ums Leben kam;908 seinen Nachlass verwahrt das Literaturarchiv Marbach/Neckar. Dass Sebalds in zahlreiche Sprachen übersetztes Werk nicht nur im englischen Sprachraum eine »ungewöhnlich intensive Rezeption«909 erfährt, lässt sich neben der Komplexität und literarischen Qualität des Werks [… auf die] empathetische, Identifikation vermeidende Behandlung der psychosozialen Spätfolgen des Holocaust [zurückführen], die Sebald in stets die nötige Distanz wahrender Annäherung an individuelle jüdische Biografien veranschaulicht.910

Eben dies trifft auch auf den im deutschsprachigen Raum »inzwischen fest im Kernkanon der Gegenwartsliteratur nach 1989 verankert[en]«911 Erzähltext »Austerlitz« zu, der »das Trauma der Überlebenden [des Holocaust aufgreift …, wobei die u]nausgeleuchtete[n] Lücken in den Biographien und der Verzicht auf detaillierte Schilderung der Leiden […] eine unkonventionelle, neue Sicht auf

903 Jakobs, Harald: Eintrag »Sebald, W.G., eigentlich: Winfried Georg Maximilian Sebald« in Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 10. (Letzter Zugriff am 28. 04. 2021). 904 Vgl. Schütte, Uwe: W.G. Sebald. Einführung in Leben und Werk. Göttingen 2011: V&R, S. 235–238; vgl. Hage, Volker: Feuer vom Himmel. Der Spiegel, Literatur vom 11. 01. 1998. (Letzter Zugriff am 28. 04. 2021); vgl. Baumgart, Reinhard: Das Luftkriegstrauma der Literatur. Die Zeit, Literarische Themen vom 29. 04. 1999. (Letzter Zugriff am 28. 04. 2021). 905 Jakobs, Eintrag »Sebald, W.G.« in Killy Literaturlexikon. 906 Vgl. Weber, Eintrag »W.G. Sebald« in Munzinger Online/KLG. 907 Vgl. ebd. 908 Vgl. Jakobs, Eintrag »Sebald, W.G.« in Killy Literaturlexikon. 909 Ebd. 910 Ebd. 911 Ächtler, Norman: »Der Page, der gekommen war, sein Teil zurückzufordern«. Zur Inszenierung des Kindertransports als Kindheitstrauma in W.G. Sebalds Austerlitz. Der Deutschunterricht LXXI, 2019, H. 6, S. 9–20, hier: S. 9.

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den Holocaust [ermöglichen]«912. Anstelle seiner Einordnung als Roman zog Sebald die Bezeichnung »Prosabuch unbestimmter Art«913 vor – offenbar, um »die realitätsverhaftete Basis seiner Titelfigur zu betonen«914. Bereits die Konzeption der Hauptfigur geht auf reale Personen zurück, »[e]s stecken zweieinhalb Lebensgeschichten in ihm, Biografien, denen ich nachgegangen bin«915, bemerkte Sebald. Die Geschichte eines Baugeschichtler[s … aus] London […], der früh in den Ruhestand geschickt wurde […] und in eine tiefe Lebenskrise geriet. Er begann im Alter von ungefähr 60 Jahren damit, seine eigene Herkunft zu erforschen [… und] begriff Dinge, die er sein ganzes Leben lang nicht hatte begreifen wollen. [… Hinzu kommen biographische Details von Susi Bechthöfer], die im Alter von zweieinhalb Jahren mit ihrer Zwillingsschwester aus einem Münchener jüdischen Waisenhaus oder Kinderheim nach England gekommen war. Und die dann […] bei einem walisischen, fundamentalistischen Pfarrer aufgewachsen ist. […] Sie hat […] ihr Leben lang […] nichts über ihre Herkunft gewusst […], nur, dass sie einen anderen Namen hatte.916

Auch dokumentarisches Material fließt in die Geschichte ein, etwa SchwarzWeiß-Photographien von Personen, Gebäuden und Landschaften sowie Karten, Illustrationen und Auflistungen. Die als Einwand formulierte moralische Frage, ob »ein deutscher Autor reale jüdische Biografien benutzen [darf], um sein ästhetisches Spiel zu treiben«917, ließ Sebald nicht gelten: Diese Frage war mir von Anfang an bewusst. Meine Überlegung dazu war, dass das, was von deutschen Autoren über dieses Thema der Verfolgung und der versuchten Ausrottung des jüdischen Volks geschrieben worden ist, im Allgemeinen unzulänglich ist und über weite Strecken aus Peinlichkeiten besteht, auch aus Usurpationen. […] Man geht selbst dann noch auf Eis, wenn man mit den Überlebenden ausführlich spricht, sich erzählen lässt. Man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass es bei solchen Begegnungen bestimmte Grenzen gibt, dass die Redezeit begrenzt ist, dass man wiederkommen muss, dass man das Vertrauen dieser Personen gewinnen muss. Und das Vertrauen muss so weit gehen, dass der Text letztlich vor diesen Personen bestehen kann.918

Hinsichtlich der Darstellungsebene des über vierhundert Seiten umfassenden Texts ist zu konstatieren, dass der Autor das zentrale Thema des Erinnerns als 912 Weber, Eintrag »W.G. Sebald« in Munzinger Online/KLG. 913 Martin Doerry und Volker Hage im Gespräch mit Sebald: »Ich fürchte das Melodramatische«. Der Spiegel, Kultur vom 11. 03. 2001. (Letzter Zugriff am 24. 04. 2021). 914 Schütte, W.G. Sebald. 2011, S. 177. 915 Martin Doerry und Volker Hage im Gespräch mit Sebald, 2001. 916 Ebd. 917 Ebd. 918 Ebd.

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eine vernetzte Spurensuche [inszeniert], die immer neue, unerwartete, von der Imagination geleitete Verknüpfungen zwischen den Biographien der erzählten Lebensgeschichten, literarischen, geographischen, architektonischen, kunstwissenschaftlichen, naturgeschichtlichen und anderen kulturellen Horizonten herstellt; […] um durch den Überschuss an Sinnhorizonten und Beschreibungsdetails die unbewältigbare Qualität eines als katastrophal erfahrenen Geschichtsverlaufs hervorzuheben.919

Verstärkt wird diese Darstellungsform durch einen illusionsdurchbrechenden Erzählstil, der mittels mehrfach ineinander verschachtelter Inquit-Formeln Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem aufbaut. So wird »die Unabhängigkeit des Diskurses vom jeweiligen Subjekt […] unterstr[ichen]«920 und der Eindruck erweckt, »dass alle, Autor, Leser und die dazwischen geschobenen Instanzen der Narrativität, an einem unendlichen diskursiven Kontinuum teilhaben«921. In Ausreizung dieses Stilmittels gerät der Erzähler in vierter Instanz zum Sprachrohr, wenn er echoet: »Maximilian erzählte gelegentlich, so erinnerte sich Vera, sagte Austerlitz« (A 245). »Ich habe stets versucht, dieses Thema auf schon vermittelte Weise zu präsentieren: Es wird immer wieder daran erinnert, dass es so von jemandem erzählt worden ist, dass es durch den Filter des Erzählers gegangen ist«922, erläuterte Sebald. So werden die erzählten Erinnerungen »nicht als Wahrheiten präsentiert, sondern […] sind als subjektive Konstrukte klar erkennbar«923. Dieser künstlerische Effekt umfasst auch die formvollendete Erzählsprache, in der die Figur ihre sich fortwährend verzweigenden Gedanken in verschachtelten Sätzen, deren Länge sich im Extremfall über zehn Seiten erstreckt (vgl. A 339–349), ausführt. Doch worum geht es in »Austerlitz«? Im Mittelpunkt der Handlung steht der gleichnamige akademische Außenseiter, der der Rekonstruktion seiner Herkunft und Identität verhaftet rastlos durch Europa reist. Er entdeckt im Alter von etwa sechzig Jahren, dass er Anfang des Zweiten Weltkrieges aus Tschechien per Kindertransport nach England verschickt worden ist und dass der Verlust seiner Bindungspersonen, seiner vertrauten Umgebung und Muttersprache sowie die darauf folgenden Ereignisse den Grund für 919 Fuchs, Anne: ›Phantomspuren‹: Zu W.G. Sebalds Poetik der Erinnerung in Austerlitz. German Life and Letters 56, 2003, H. 3, S. 181–298, hier: S. 282. 920 Parry, Christoph: Die zwei Leben des Herrn Austerlitz. Biographisches Schreiben als nichtlineare Historiographie bei W.G. Sebald. In: Platen, Edgar/Martin Todtenhaupt (Hrsg.): Grenzen, Grenzüberschreitungen, Grenzauflösungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 3. München 2004: Iudicium, S. 113–130, hier S. 124. 921 Ebd. 922 Martin Doerry und Volker Hage im Gespräch mit Sebald. 2001. 923 Solheim, Birger: Die Wende als Möglichkeit eines neuen Blicks auf die Vergangenheit. Zeitund Raumkonzepte zwischen Realität und Fiktion bei W.G. Sebald und Jürgen Becker. In: Breuer, Ulrich/Sandberg, Beatrice (Hrsg.): Grenzen der Identität und Fiktionalität. Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 1. München 2006: Iudicium, S. 318–331, hier S. 319.

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seine jahrzehntelange andauernde Verstörung – das ihm lange Zeit unerklärliche Gefühl, »in einem falschen Leben« (A 306) gefangen zu sein – bilden. In der Figur des jüdischen Kunsthistorikers konzipiert Sebald mithin ein »verstörtes Selbst, für das das Herumgehen in der Welt gleichzeitig Symptom und Bewältigung einer durch traumatische Geschichtserfahrungen verursachten Beunruhigung ist«924. Über die Konstruktion der global vernetzten Gegenwart als sinnentleertem Verlustraum gerät die Vergangenheit der Figur zum Ort der eigentlichen Aktualität, semantischen Fülle und Erfahrung.925 Dass Austerlitz’ autobiographisches Gedächtnis in Bezug auf seine frühe Kindheit blockiert bzw. von »schmerzhaften blinden Stellen [überzogen ist], an denen gar nichts mehr ist« (A 327), ist nicht allein Resultat der traumatischen Qualität seiner Erfahrungen. Eine maßgebliche Rolle für das Fortwirken seiner Verstörung spielt das Schweigen der Zieheltern über seine Verschickung, »the continued absence of speech. Those two people who picked him up […] did not explain what was happening and why; they didn’t provide him with reasons«926. An diesem Punkt der ausbleibenden Narration der traumatischen Erfahrung ansetzend, widmet sich die Analyse zunächst den traumatischen Erfahrungen des kindlichen Protagonisten, ordnet dann seine baugeschichtlichen Monologe als Metapher seines in Vergessen und Sprachlosigkeit eingeschlossenen Traumas ein, um abschließend die Form und Funktion seiner mühsam rekonstruierten Lebensgeschichte in den Blick zu nehmen, die er dem in der Rolle des Zuhörers agierenden Erzählers darlegt.

5.1.2 Kindertransport als Entwicklungstrauma: Formen und Symptome Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, im Sommer 1939, wird der viereinhalbjährige Jacques Austerlitz mit einem Kindertransport aus seiner Heimat in Tschechien nach England verschickt. Vermittelt hat den Transport seine Mutter Agáta, die hofft, ihren Sohn auf diese Weise vor dem sich zuspitzenden Terror der Nationalsozialisten zu beschützen – für sich selbst kann die junge Frau zu jenem Zeitpunkt, an dem die jüdische Bevölkerung bereits unter unzähligen Restriktionen des alltäglichen Lebens leidet, keine Ausreisegeneh924 Fuchs, Anne: Von Orten und Nicht-Orten. Fremderfahrung und dunkler Tourismus in Sebalds Prosa. In: Heidelberger-Leonard, Irene/Tabah, Mireille (Hrsg.): W.G. Sebald. Intertextualität und Topographie. Literatur – Forschung und Wissenschaft 12. Berlin 2008: LitVerlag, S. 55–72, hier S. 55. 925 Vgl. ebd., S. 61f., 65. 926 Niehaus, Michael: No Foothold. Institutions and Buildings in W.G. Sebald’s Prose. In: Denham, Scott/McCulloh, Mark (Hrsg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma. Interdisciplinary German Cultural Studies 1. Berlin 2006: de Gruyter, S. 315–333, hier S. 332.

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migung mehr erwirken (vgl. A 252). Gleichwohl befürchtet sie, mit ihrem verzweifelten Schritt »etwas Unverantwortbares und Unverzeihliches zu tun« (A 253) und blickt der fraglichen Zukunft des »immer gut behütet gewesenen Knaben […] unter fremden Leuten in einem fremden Land« (ebd.) voller »Besorgnis und Kummer« (A 252) entgegen. Wie sehr sich ihre Sorge, dass die auf unbestimmte Dauer angelegte Trennung am Prager Wilson-Bahnhof einen irreversiblen Bruch in der Lebenslinie des Sohnes darstellt, bewahrheiten soll, wird Agáta, die 1942 nach Theresienstadt und sodann Richtung Osten deportiert wird, nicht mehr erfahren. Entgegen ihrer in den Kindertransport gesetzten Hoffnung auf eine gesicherte Zukunft, erlebt ihr Sohn seine Verschickung als traumatische Erfahrung, die seine »individuellen Bewältigungsmöglichkeiten [… übersteigt,] mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung [… seines] Selbst- und Weltverständnis[es] bewirkt«927. Auf den Verlust seiner Bindungspersonen, seiner vertrauten Umgebung sowie seiner Muttersprache folgen nach der Ankunft bei den walisischen Pflegeeltern, dem calvinistischen Prediger Emyr Elias und seiner Frau Gwendolyn, weitere verstörende Erfahrungen. Aus psychotraumatologischer Perspektive kann die sich einstellende Serie an Einzelereignissen als Typ-II-Trauma928 klassifiziert und der Unterkategorie des kindlichen Entwicklungstraumas929 zugeordnet werden. Es ist mit Blick auf das Ausmaß der psychischen Folgen derartiger Grenzerfahrungen zu vergegenwärtigen, dass in der Kindheit, mithin der »Entwicklungsphase zwischen Geburt und Vollendung des 14. Lebensjahres«930 im Gehirn »wichtige, basale Entwicklungsschritte bewältigt werden müssen […, weshalb] sich Traumatisierungen, die in dieser Zeit geschehen, besonders tief auf die psychische Struktur und damit auf alle weiteren Entwicklungsschritte aus[wirken]«931. Das gilt umso mehr, sofern die Traumatisierungen »über lange Zeit geschehen und Kinder in einem Traumatisierungsmilieu aufwachsen müssen«932. Eben dies trifft auf die Figur Austerlitz zu, wie folgend anhand von Textauszügen illustriert wird.

927 Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2020, S. 88. 928 Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 15. 929 Vgl. Garbe, Elke: Das kindliche Entwicklungstrauma: verstehen und bewältigen. Stuttgart 2015: Klett-Cotta, S. 30f.; ich danke Norman Ächtler für diesen Hinweis. Ächtler, »Der Page, der gekommen war, sein Teil zurückzufordern«. 2019, S. 16. 930 Garbe, Das kindliche Entwicklungstrauma. 2015, S. 17. 931 Ebd., S. 32; zu Langzeitfolgen kindlicher Traumatisierung auf neurobiologische Systeme und deren Zusammenhang zur Entwicklung psychischer und somatischer Störungen im Erwachsenenalter vgl. Wissmann, Juliane/Jacoby, Noémie/Heim, Christian: Neurobiologische Folgen von Traumatisierung im Kindesalter. In: Scheidt/Lucius-Hoene/Stukenbrock/ Waller, Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. 2015, S. 39–51. 932 Garbe, Das kindliche Entwicklungstrauma. 2015, S. 32.

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Auf die Verschickung folgen Grenzerfahrungen, die sich als ineinandergreifende Formen der kindlichen Traumatisierung, die Vernachlässigung und den Bindungsabbruch bzw. die nicht ausreichende Bindungssituation bestimmen lassen.933 Eindrücklich beschreibt der Protagonist die Atmosphäre des »unglückliche[n] Haus[es]« (A 69), das »für sich allein etwas außerhalb des Orts auf einer Anhöhe stand« (ebd.) als unheimlich und gleichermaßen bedrückend: Im oberen Stock gab es mehrere Zimmer, die abgesperrt waren jahraus und jahrein. Noch heute träumt es mir manchmal, daß eine der verschlossenen Türen sich auftut und ich über die Schwelle trete in eine freundlichere, weniger fremde Welt. Auch von den nicht abgesperrten Zimmern waren einige außer Gebrauch. Nur spärlich mit einem Bett oder einem Kasten möbliert, die Vorhänge selbst untertags zugezogen, dämmerten sie in einem Halbdunkel dahin […]. (ebd.)

Es ist dem Protagonisten erinnerlich, dass »in der ganzen Zeit, die [… er] bei dem Ehepaar Elias verbrachte, nie ein Fenster aufgemacht worden ist« (A 70) und dass eines »der beiden Fenster [s]eines Schlafzimmers von innen zugemauert gewesen ist, während es von außen unverändert erhalten war« (A 71), weshalb er sich wie »in einer Art von Gefangenschaft« (A 70) gefühlt habe. Zu diesem Eindruck trägt bei, dass es in dem Haus »keinerlei Bilder« (A 80), »weder einen Radioapparat noch eine Zeitung« (A 88) gegeben hat, weshalb er sich eine »Welt außerhalb von Wales […] nicht [hat] denken [können]« (ebd.). Um der Isolation zu entfliehen, gibt sich der Junge Phantasien hin, versetzt sich in andere Orte und Zeiten, etwa in die Szenerie seiner illustrierten Kinderbibel. Während dieser Realitätsflucht scheint ihm »das Lager der Hebräer in dem Wüstengebirge [der Geschichte Mose …] näher als das [… ihm] mit jedem Tag unbegreiflicher werdende Leben in Bala« (ebd.). Neben kognitiver Stimulation mangelt es in dem Haus an Wärme, »nicht bloß im Winter, wenn oft nur der Herd in der Küche geschürt wurde und nicht selten der steinerne Boden des Eingangs von Reif überzogen war, sondern auch schon im Herbst und bis weit in das Frühjahr und die unfehlbar verregneten Sommer hinein« (A 71), sowie an menschlicher Zuneigung. Die Pflegemutter bringt kein Interesse für das Kind auf, ist stattdessen »ständig mit ihrem Haushalt beschäftigt, mit Abstauben und dem Aufwischen der Fliesen, mit der Kochwäsche, dem Polieren der Messingbeschläge der Türen oder der Zubereitung der mageren Mahlzeiten« (ebd.). Nur ein einziges Mal, so erinnert sich Austerlitz, »fuhr [… sie ihm nebenbei] mit den Fingern durchs Haar« (A 72). Auch Emyr Elias, der sich mit der Vorbereitung seiner sonntäglichen Predigt »wenigstens vier Tage lang [… selbst peinigte und v]öllig niedergeschlagen […] jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor[kam], nur um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden« (ebd.) und der des Sonntags »vor die im 933 Vgl. ebd., S. 45–48.

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Bethaus versammelte Gemeinde hintrat und […] mit einer […] erschütternden Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers, die Qualen der Verdammnis […] vor Augen führte« (ebd.), zollt dem Jungen wenig Aufmerksamkeit. Der Mangel an kognitiver Anregung, emotionaler wie körperlicher Kontaktaufnahme und grundsätzlichem Interesse an seiner Person sind Ausprägungen von Vernachlässigung bzw. Unterstimulierung, die das Wohlbefinden und die Entwicklung des Jungen beeinträchtigen.934 Weil Kinder »für gesundes Wachstum ein ausgewogenes Maß an Stimulierung von außen [brauchen], das sowohl ihr Explorationsbedürfnis als auch ihr Bindungsbedürfnis befriedigt«935, bildet die Vernachlässigung eine Form der kindlichen Traumatisierung, die Austerlitz auch als solche empfindet. Hinzu kommt der fehlende kommunikative Austausch, denn »so wie in dem Haus in Bala die Kälte herrschte, so herrschte in ihm auch das Schweigen« (A 71). Der Mangel an Gesprächen, verbaler Ansprache und emotional engagierten Zuhörern belastet den Jungen psychisch, der sich bei den Zieheltern augenscheinlich »nicht sicher aufgehoben«936 fühlt und »mit der selbständigen Regulation [… seiner] Affekte überfordert [ist]«937. Austerlitz erinnert sich, dass er in jener Zeit einsilbig geworden ist (vgl. A 73) und die Leere in dem Haus »bald schon jedes Selbstgefühl auslöschte« (A 69). Auffällig ist, dass die verstörende Erfahrung des Kindertransports während all der Jahre – auch nachdem der Junge sich die walisische Sprache aneignet – nicht zum Gegenstand von Kommunikation gemacht wird. Ebenso hüllen Emyr und Gwendolyn den Grund für seinen Namenswechsels und das spurlose Verschwinden seiner persönlichen Habe, die ihm Beweis der Existenz seiner früheren Kindheit ist (vgl. A 69f.), in Schweigen. Es hat dies gravierende Folgen für das Gedächtnis des Jungen. Psychologische Studien belegen, dass autobiographische Erinnerungen nicht allein auf Selbsterfahrungen beruhen, sie sind auch Ergebnis sozial-kommunikativer Prägungen, da sie üblicherweise in Gesprächen nacherzählt, das heißt kontextbezogen nach dem sogenannten »principle of coconstruction«938 ausgehandelt werden.939 Dieser interaktive kommunikative Prozess, der zunächst zwischen Kindern und ihren Fürsorgepersonen erfolgt,940 zielt auf »die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Bezüge, wie auch Akte der Selbstoffenbarung oder das Zeigen von Em-

934 935 936 937 938

Vgl. ebd., S. 45f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 47. Ebd. Pasupathi, Monisha: The Social Construction of the Personal Past and Its Implications for Adult Development. Psychological Bulletin 127, 2001, H. 5, S. 651–672, hier: S. 652–656. 939 Vgl. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 80f. 940 Vgl. Nelson, Über Erinnerungen reden. 2006.

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pathie«941, wie der Psychologe Rüdiger Pohl erläutert: »Beim ›Mit-teilen‹, dem miteinander Teilen persönlicher Erlebnisse (memory sharing), geben wir etwas von uns preis und hoffen auf entsprechende Reaktionen.«942 Dem Nacherzählen autobiographischer Erinnerungen kommt die soziale Funktion zu, über Erfahrungen zu informieren und interpersonale Bindungen zu stärken.943 Vor diesem Hintergrund erzeugen die Sprachbarriere des Kindes, die gefühlte emotionale Distanz zu den Zieheltern und deren Dethematisierung der Verschickung einen problematischen interaktionalen Kontext, der dazu beiträgt, die Erzählbarkeit seines Verlusttraumas zu verhindern.944 So ist dem Jungen der Grund seines Aufenthaltes in Bala unerklärlich. Auf der Suche nach einer Antwort auf die drängende Frage nach dem Sinn seiner Verschickung kommt der Viereinhalbjährige zu verschiedenen Schlussfolgerungen, etwa dass er seine Familie »aus eigener Schuld [verlassen habe]« (A 70), nicht liebenswert gewesen und wie das biblische Kind Mose ausgesetzt worden sei (vgl. A 85). So ist der Junge, da ihm die Zieheltern weder die Zusammenhänge seiner Verschickung darlegen noch seinem Schmerz über den Verlust als empathische, trostspendende Zuhörer begegnen außer Stande, die verstörenden Ereignisse zu verstehen, in seine Lebensgeschichte einzuordnen und auch nur ansatzweise zu verarbeiten.945 Durch das Schweigen über seine Vergangenheit bzw. den ausbleibenden interaktiven Austausch, der eine Vergewisserung über die Geschehnisse und ihre soziale Anerkennung hätte bedeuten können,946 wird »ein wichtiger Teil [… seiner] Selbst- und Weltsicht zurückgewiesen«947, seine bisherige Wirklichkeit mithin dekonstruiert.948 Das Auslöschen seiner ( jüdischen) Herkunft zersetzt sein Selbstverständnis, so ist der Junge fortwährend von dem dumpfen Gefühl ergriffen, »nirgendwohin zu gehören« (A 362) und kann »während all der […] in dem Predigerhaus in Bala verbrachten Jahre nie das Gefühl [… loswerden, dass] etwas sehr Naheliegendes, an sich Offenbares [… ihm] verborgen [sei]« (A 84). Im Alter von fünfzehn Jahren eröffnet ihm der Direktor des Internats, das er seit seinem zwölften Lebensjahr besucht, dass sein Name nicht Dafydd Elias, sondern 941 Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 80. 942 Ebd. 943 Vgl. Bluck, Susan: Autobiographical Memory. Exploring its Functions in Everyday Life. Memory 11, 2003, S. 113–123, hier: S. 7. 944 Vgl. Scheidt, Carl/Lucius-Hoene, Gabriele: Kategorisierung und narrative Bewältigung bindungsbezogener Traumaerfahrungen im Erwachsenenbindungsinterview. In: Scheidt/ Lucius-Hoene/Stukenbrock/Waller, Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. 2015, S. 26–38, hier: S. 29. 945 Vgl. Steil, Regina/Rosner, Rita: Posttraumatische Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen. In: Maercker, Posttraumatische Belastungsstörungen. 2013, S. 351–376, hier: S. 357. 946 Vgl. Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität. 2004, S. 33f. 947 Ebd., S. 34. 948 Vgl. ebd., S. 75.

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Jacques Austerlitz ist und dass Emyr und Gwendolyn ihn zu Beginn des Krieges bei sich aufgenommen haben (vgl. A 101f.). Da der Junge sich »unter dem Wort Austerlitz nicht das geringste vorstellen [kann]« (A 102), er die mit dem Familiennamen typischerweise einhergehende »Vorstellung vom Selbst auf keinerlei Begriffe des Verwandtseins und der Tradition stützen [… kann]«949, misslingt sein erster Dekodierungsversuch.950 Zu diesem Zeitpunkt sind die Zieheltern verstorben und können ihm keine Auskunft über seine Wurzeln mehr geben – die Möglichkeit eines offenen Dialogs ist unwiderruflich verloren. Eindrücklich verdeutlicht »die Namensproblematik […], dass in Austerlitzens Leben die Verbindung zu seiner Familie und jüdischen Vorgeschichte gekappt [… worden ist]«951. Der ausbleibenden Narration der Verschickung kommt eine konstitutive Rolle bei der Aufrechterhaltung der Verstörung des Jungen zu: It is not a single event that has removed the ground of his existence and made him an emigrant without foothold, but the continued absence of speech. Those two people who picked him up […] did not explain what was happening and why; they didn’t provide him with reasons.952

Vor dem Hintergrund, dass sich die »(verbalen) Missachtungserfahrungen deutlich – und auch stärker als körperliche Gewalterfahrungen – auf das Ausmaß von emotionalen Problemen das Wohlbefinden, das Selbstvertrauen sowie die Selbstwirksamkeitserfahrungen junger Menschen auswirken«953, ist es nicht verwunderlich, dass dem Jungen »aus [s]einer frühesten Zeit in Bala fast nichts mehr erinnerlich [ist]« (A 69). Dieser Umstand weist darauf hin, dass der Junge aus Mangel an äußeren Ressourcen (fördernde Umgebungsfaktoren oder fürsorgliche Bezugspersonen) auf innere Ressourcen zurückgreift, um die verstörenden Erfahrungen zu bewältigen.954 Die vom Protagonisten rekapitulierten kindlichen Innenweltdarstellungen legen typische Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung offen, insbesondere Intrusionen955 und Vermeidungsverhalten956. So liegt der Junge, der 949 950 951 952 953

Fuchs, ›Phantomspuren‹. 2003, S. 289. Vgl. ebd. Ebd. Niehaus, No Foothold. 2006, S. 332. Ziegler, Holger: Abstract zur Gewaltstudie 2013: Gewalt- und Missachtungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. (Letzter Zugriff am 28. 04. 2021); vgl. Garbe, Das kindliche Entwicklungstrauma. 2015, S. 41f. 954 Garbe unterscheidet »zwischen inneren und äußeren Ressourcen. Während es sich bei äußeren Ressourcen um unterstützende, fördernde Umgebungsfaktoren, wie Bindungspersonen, handelt, sind mit inneren Ressourcen Eigenschaften, Überzeugungen, Spiritualität […], Glaube, aber auch Fertigkeiten, Fähigkeiten und biologische Ausstattung gemeint«. Garbe, Das kindliche Entwicklungstrauma. 2015, S. 54. 955 Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 17f.

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seine Eltern vermisst, nachts »stundenlang wach« (A 70) und versucht, sich seine Angehörigen ins Gedächtnis zu rufen, aber erst wenn die Müdigkeit [… ihn] lähmte und in der Finsternis [s]eine Lider sich senkten, sah [… er], für einen unfaßbaren Augenblick, die Mutter, wie sie sich herabneigt zu [… ihm], oder den Vater, wie er sich lächelnd gerade den Hut aufsetzt. Um so schlimmer war nach solchem Trost das Erwachen am frühen Morgen, das Jeden-Tagvon-neuem-Begreifenmüssen, daß [… er] nicht mehr zu Hause war. (ebd.)

Lebhafte Träume dieser Art lassen sich als Ausdruck von Austerlitz’ »Gebundenheit an das schreckliche Erlebte«957 fassen. Der Verlustschmerz und das Unverständnis über seinen Aufenthalt an einem fremden Ort, dessen Sprache er nicht spricht, übersteigen seine Bewältigungsmöglichkeiten. In seiner Hilflosigkeit spaltet er den Kern seiner traumatischen Erfahrung in einer Art Schutzreaktion auf die ihn erfüllende Leere seelisch ab:958 Indem er seine Erinnerungen an seine frühe glückliche Kindheit in Prag sowie das Trennungserlebnis ›verliert‹, schafft er »ein Containment für [… die ihm] unerträgliche und nicht zu bewältigende Realität […], die [er] als innere Katastrophe [… empfindet]«959. Die aus der Überwältigung resultierende Blockade seines autobiographischen Gedächtnisses bzw. seine dissoziative Amnesie960, schließt auch das »Absterben der Muttersprache« (A 203) ein, die in Bala »eine Zeitlang zumindest noch in [… ihm] gewesen ist wie eine Art Scharren oder Pochen von etwas Eingesperrtem, das immer, wenn man auf es achthaben will, vor Schrecken stillhält und schweigt.« (ebd.) Die Innenweltansichten lassen weiterhin erkennen, dass die Wahrnehmung des Jungen von sich selbst (Depersonalisation961) und von seiner Umwelt (Derealisation962) phasenweise verändert ist:

956 Vgl. ebd. 957 Ebd., S. 17. 958 Vgl. Bohleber, Werner: Trauma. Transgenerationelle Weitergabe und Geschichtsbewusstsein. Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 1, 2011, S. 9–24, hier: S. 22. 959 Ebd. 960 Das psychopathologische Phänomen der dissoziativen Amnesie bezeichnet den Zustand, dass »Informationen zur eigenen Person und Vergangenheit […] nicht erinnert [werden]; meist bezieht sich die Amnesie auf belastende oder traumatische Ereignisse […]; bei der selektiven Amnesie, werden Ereignisse und Begleitumstände nicht erinnert; bei der generalisierten Amnesie können ganze Zeitabschnitte nicht mehr erinnert werden«. EckhardtHenn, Annegret: [Art.] Dissoziation. In: Mertens, Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. 2014, S. 188. 961 Das psychopathologische Phänomen der Depersonalisation fasst einen Zustand, indem Betroffene das »eigene Selbst […] als verändert, unwirklich wahr[]nehmen; seelische Vorgänge, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Handlungen werden als fremd, unwirklich, nicht mehr zum Selbst gehörig erlebt; der Körper oder Körperteile werden als verändert (wie abgetrennt, wie tot, taub, ganz dick oder dünn etc.) erlebt; das Schmerzempfinden kann vermindert oder aufgehoben sein«. Ebd.

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Manchmal war es, als versuchte [… er] aus einem Traum heraus die Wirklichkeit zu erkennen; dann wieder meinte [… er], ein unsichtbarer Zwillingsbruder ginge neben [… ihm] her, sozusagen das Gegenteil eines Schattens. (A 84)

Derartige Störungen des Bewusstseins und unmittelbaren Empfindens treten auch kombiniert auf. So meint der Junge, als Emyr ihm von der gefluteten walisischen Gemeinde Llanwddyn erzählt und alte Fotos seines dort befindlichen Geburtsortes zeigt, dass »auch [… er] in dem dunklen Wasser [untergegangen sei], als müßte [… er], nicht anders als die armen Seelen von Vyrnwy, die Augen weit offen halten, um hoch über [… sich] einen schwachen Lichtschein zu sehen« (A 82). Der Eindruck, ein im Schicksal Untergegangener zu sein, der sein Leben bloß schemenhaft in der Ferne erahnt, wird in variierender Intensität zum Begleiter seiner voranschreitenden Gegenwart. Mithin liefert die »tote Unterwasserstadt […] ein Bild für die Verschüttung von Herkunft und die gespenstische Präsenz des Verdrängten«963. Augenscheinlich bilden die Reaktionen auf das traumatische Ereignis der Trennung und die folgenden Geschehnisse Bewältigungsstrategien zum Schutz der Psyche des Jungen. Unter Berücksichtigung der Gesamthandlung zeichnet sich ab, dass ihr Abspalten in Vergessen und Schweigen die Entwicklung seiner Persönlichkeit bzw. seines Selbstverständnisses langfristig beeinträchtigt. Dies näher betrachtend, wird folgend der Blick auf die Sprachlosigkeit gerichtet, in die jene Erfahrungen versinken und die der Protagonist erst Jahrzehnte später, nachdem sein »Körper [erneut] in einer Sprache der Symptome zu sprechen beginnt«964, überwinden wird.

5.1.3 Baugeschichtliche Trauma-Metaphorik und Sprachlosigkeit Dass Austerlitz seine Kindheit in Prag nach der Ankunft in Bala bald nicht mehr erinnerlich ist, deutet darauf hin, dass die Figur aus psychotraumatologischer Perspektive »nicht aus der traumatischen Szene herausgetreten [ist]; es hat, im wörtlichen Sinn keine Ex-Position […, keine] räumliche Verortung und zeitliche ›Vergeschichtlichung‹ […] stattgefunden«965. Das ihn erfassende dumpfe Gefühl, nirgendwohin zu gehören (vgl. A 362), bleibt somit unverstanden und unkontrolliert.966 Es bildet »ein[en] Fremdkörper, der nicht zum Bestandteil [… seiner]

962 Das psychopathologische Phänomen der Derealisation bezeichnet einen Zustand, in dem Betroffene die »Außenwelt und äußere Objekte […] als fremd, unwirklich wie hinter einer Glaswand empfunden«. Ebd. 963 Schütte, W.G. Sebald. 2011, S. 195. 964 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57. 965 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 329. 966 Vgl. Neuner, Stabilisierung vor Konfrontation. 2008, S. 110.

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Biografie werden kann«967. Mit dem Zusammenbruch seines episodisch-autobiographischen Gedächtnisses versinkt jene frühe »Lebenszeitperiode[ …] in der Sprachlosigkeit, im ›sprachlosen Terror‹, […] und [ist] nur durch einzelne Bilder und Gefühle zugänglich«968. So ist Austerlitz, der nach seinem Schulabschluss und Studienende Anfang der 1960er Jahre eine Stelle als Kunsthistoriker an einem Londoner Institut annimmt, nicht in der Lage, von seinen traumatischen Erfahrungen zu erzählen. Auffällig ist jedoch, dass sich seine baugeschichtlichen Überlegungen, die er dem Erzähler bei verschiedenen Treffen im Jahr 1967 stundenlang monologartig mitteilt, mit Kenntnis seines Entwicklungstraumas969 als räumliche Metapher seines Seelenzustands interpretieren lassen. An die Stelle des Sagens rückt mithin das Zeigen auf die beschädigte Architektur seiner Seele. Dieser Metapher folgend, kartographiert Austerlitz anhand der Darstellung architektonischer Unzulänglichkeiten und Paradoxien das erodierte Relief seiner Psyche. Am Beispiel der Antwerpener Festung Breendonk, die von den Deutschen von 1940 bis 1944 als Auffang- und Straflager genutzt und 1947 zur nationalen Gedenkstätte umfunktioniert worden ist (vgl. A 32), illustriert er den Versuch der Ingenieure, das Festungsinnere vor bedrohlichen äußeren Angriffen abzuschotten: [Um] gegen jeden Einbruch der Feindesmächte Vorkehrungen zu treffen, [sei man] gezwungen [… gewesen], in sukzessiven Phasen [… sich] stets weiter mit Schutzwerken zu umgeben, so lange, bis die Idee der nach außen sich verschiebenden konzentrischen Ringe an ihre natürlichen Grenzen stoße. (A 25)

Kritisch bemerkt er, dass sich der in der Fortifikations- und Belagerungskunst gegen Ende des 17. Jahrhunderts als idealtypisch durchsetzende Grundriss eines sternartigen Zwölfecks samt Vorgraben (vgl. A 26f.) »sogar dem Verstand eines Laien ohne weiteres einleuchte als ein Emblem der absoluten Gewalt« (A 27). Den Plan der Errichtung eines perfekten, nicht zu überwindenden Bollwerks entlarvt der Kunsthistoriker als Utopie: In der Praxis der Kriegsführung […] hätten auch die Sternfestungen, die im Lauf des 18. Jahrhunderts überall gebaut und vervollkommnet wurde, ihren Zweck nicht erfüllt, denn fixiert, wie man auf dieses Schema war, habe man außer acht gelassen, daß die größten Festungen naturgemäß auch die größte Feindesmacht anziehen, daß man sich, in eben dem Maß, in dem man sich verschanzt, tiefer und tiefer in die Defensive begibt. (ebd.)

Austerlitz äußert sein Unverständnis darüber, »mit welcher Beharrlichkeit Generationen von Kriegsbaumeistern« (A 25) trotz der auftretenden Unzuläng967 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 329. 968 Ebd., S. 333; vgl. Rosenthal, Traumatische Familienvergangenheiten. 1999, S. 40. 969 Vgl. Garbe, Das kindliche Entwicklungstrauma. 2015, S. 30f.

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lichkeiten der Schutzanlagen unbeirrt an den einmal gefassten architektonischen Grundsätzen festhalten und »immer der gleichen Logik gehorchend, […] einfach weiter an der Komplettierung des schon im Bau befindlichen und, wie man wußte, den tatsächlichen Erfordernissen längst nicht mehr genügenden Systems [arbeiten]« (A 30f.). Obzwar an der Einnahme von Antwerpen der ganze Wahnsinn […] des Befestigungsund Belagerungswesens offenkundig wurde, zog man aus ihr unbegreiflicherweise nur die einzige Lehre, daß man nämlich die Ringanlagen um die Stadt um vieles mächtiger wieder aufbauen und weiter noch nach draußen verschieben mußte. (A 29)

In seiner ursprünglich beabsichtigten Funktion als Schutzwall hält Austerlitz die Anlage für »vollkommen nutzlos« (A 31). Seine aus der Belagerungsgeschichte abgeleitete Erkenntnis, dass »gerade unsere gewaltigsten Pläne nicht selten am deutlichsten den Grad unserer Verunsicherung [verrieten]« (A 25), lässt sich mit seiner Reaktion auf den traumatischen Verlust seiner Herkunft in Verbindung bringen. Ähnlich dem Festungsbau schirmt Austerlitz den traumatisierten Kern seiner Psyche gegen äußere Einflüsse mit spezifischen Verhaltensformen ab, wobei er primär auf die Vermeidung symbolisierender Auslöser970 setzt: Ich las keine Zeitungen, weil ich mich […] vor unguten Eröffnungen fürchtete, drehte das Radio nur zu bestimmten Stunden an, verfeinerte mehr und mehr meine Abwehrreaktionen und bildete eine Art von Quarantäne- und Immunsystem aus, durch das ich gefreit war gegen alles, was in irgendeinem, sei es noch so entfernten Zusammenhang stand mit der Vorgeschichte meiner auf immer engerem Raum sich erhaltenden Person. (A 205f.)

So wie die Wallanlage von Breendonk immer weiter nach außen verschoben worden ist, führt Austerlitz’ »Quarantäne- und Immunsystem« (A 205) zu einem immer tieferen Einschluss des Traumas. Michael Niehaus stellt die zentrale Bedeutung der sich zwischen traumatischem Kern und umgebener Psyche ausdehnenden Leere in seinem Inneren heraus: The crucial point is not the perforation of the fortress, the crucial point is the distance – the empty space – between the outworks and the citadel at the center (so the traumatic incident is the perforation of the citadel). The fortifications […] are not able to allegorize the structure of the subject but only the deconstruction of the structure of the subject.971

Austerlitz’ »Vermeidungssystem« (A 286) soll das Aufkommen von Erinnerungen an die unverarbeitete Verlusterfahrung abwehren und eine emotionale

970 Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18. 971 Niehaus, No Foothold. 2006, S. 331.

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Distanz zu den Geschehnissen gewährleisten.972 Indem er sich entsprechend der »Weitläufigkeit seiner Interessen« (A 178) in umfangreichen »bau- und zivilisationsgeschichtlichen Untersuchungen« (ebd.) verliert, schirmt er seine Aufmerksamkeit vor seiner Herkunft ab. Erst im Alter von etwa sechzig Jahren macht er sich die Gründe seiner unablässigen Gedankenvermeidung973 bewusst: [Ich war] andauernd beschäftigt mit der von mir Jahrzehnte hindurch fortgesetzten Wissensanhäufung, die mir als ein ersatzweises, kompensatorisches Gedächtnis diente, und sollte es dennoch, wie es nicht ausbleiben konnte, einmal dazu gekommen sein, daß eine für mich gefahrvolle Nachricht mich trotz aller Sicherheitsvorkehrungen erreichte, dann war ich offenbar fähig, mich blind zu stellen und taub, und die Sache wie sonst eine Unannehmlichkeit kurzum zu vergessen. (A 206)

Zwar tragen seine baugeschichtlichen Studien dazu bei, die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit zu blockieren, sein »Quarantäne- und Immunsystem« (A 205) erfährt jedoch immer wieder Erschütterungen. So etwa 1972, als er seine Studienfreundin Marie de Verneuil auf eine Reise ins tschechische Marienbad begleitet, wo seine Gemütsverfassung ohne erkennbaren Anlass in ein »abgründige[s] Gefühl der Verstörung [umschlägt]« (A 305). Die ihn seit ihrer Ankunft erfasste »leichte[] Beunruhigung« (A 300) steigert sich über den Eindruck, »von einer schleichenden Krankheit befallen [zu sein]« (A 304) zu dem Gedanken, sich »in einem falschen Leben« (A 306) zu befinden. Beim Spaziergang durch den Kurort wird er erneut von dissoziativen Bewusstseinsstörungen erfasst, fühlt sich, »als ginge jemand anderer neben [… ihm] her oder als hätte [… ihn] etwas gestreift« (ebd.). Er meint, »überall […] Geheimnisse und Zeichen [… zu sehen], als wüßten die stummen Fassaden der Häuser etwa Ungutes über [… ihn]« (A 312). Dass er »den schlechten Zustand der einst herrschaftlichen Gebäude […] als einen genauen Ausdruck [s]einer seelischen Verfassung [empfindet]« (A 306f.), kann er sich ebenso wenig erklären. Es ist ihm nicht erinnerlich, dass er 1939 als Vierjähriger mit seinen Eltern in Marienbad gewesen ist, dies wird er erst Mitte der 1990er Jahre in Erfahrung bringen (vgl. A 297). Seine Verstörung entgeht Marie nicht, deren Fragen, »was in [ihm] vorgehe, weshalb [… er] so geistesabwesend, so in [s]ich gekehrt sei« (A 308) er kaum beantworten kann: Und meine Antwort war nur, ich wisse es nicht. Ich glaube, […] ich habe versucht zu erklären, daß mir irgend etwas Unbekanntes hier in Marienbad das Herz umdrehe, etwas ganz Naheliegendes, […] auf [das] man sich nicht besinnen kann, um nichts und niemanden auf der Welt. (ebd.)

972 Vgl. Welz, A Voice Crying Out from the Wound. 2017; vgl. Rosenblum, Distancing Emotion. 2011, S. 119–150. 973 Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18.

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Wiederholt bringt Marie seine mentale Abwesenheit zur Sprache: »Kannst du mir nicht sagen, […] was der Grund deiner Unnahbarkeit ist? […] Warum sehe ich, wie deine Lippen sich öffnen, wie du etwas sagen, vielleicht sogar ausrufen willst, und dann höre ich nichts?« (A 311) Bald erscheint ihr der sich immer stärker Entziehende wie eine »Maschine, deren Mechanismus man nicht kennt« (ebd.). Noch ist es Austerlitz nicht möglich, den Grund seiner Verwirrung aus den Tiefen seines Gedächtnisse zu bergen. So ist er in Bezug auf seine frühe Kindheit als »Teilbereich aus der Menge des überhaupt Sagbaren«974 von einem partiellen Schweigen erfasst, das noch weitere zwanzig Jahre anhalten wird.975 1991, als Austerlitz vorzeitig in den Ruhestand geht, um sich der Überarbeitung und Niederschrift seiner »über Tausende von Seiten« (A 178) erstreckenden bau- und zivilisationsgeschichtlichen Studien zu widmen, ergreift ihn eine Verstörung, die zu einer »fast vollkommenen Lähmung [s]eines Sprachvermögens [… und einem] Zusammenbruch[ führt]« (A 206). Es zeichnet sich ab, dass das als Weiterlebensstrategie fungierende Vergessen bzw. Versinken seines Traumas in Sprachlosigkeit langfristig destruktiv auf seine Person einwirkt.976 So gerät seine Arbeit ins Stocken und »je größer die Mühe, die [er] über Monate hinweg an dieses Vorhaben wandte, desto kläglicher dünkten [… ihn] die Ergebnisse und desto mehr ergriff [… ihn] ein Gefühl des Widerwillens und des Ekels« (A 179f.). Ist ihm »das Lesen und Schreiben immer seine liebste Beschäftigung gewesen« (A 180), erscheint ihm das Schreiben nun »so schwer […], daß [… er] oft einen ganzen Tag brauchte für einen einzigen Satz« (ebd.). Unfähig, seine Gedanken zu ordnen und Sätze zu formen, bricht er sein Vorhaben ab. Als er in seinen Aufzeichnungen nichts mehr als eine »peinliche Unwahrheit [s]einer Konstruktionen und die Unangemessenheit sämtlicher von [… ihm] verwendeten Wörter« (A 180) zu erkennen glaubt, erfasst ihn Panik. Auch das Lesen wird ihm unmöglich, gerät er doch »unweigerlich bei dem Versuch, eine ganze Seite zu überblicken, in einen Zustand der größten Verwirrung« (A 182f.) Mithin kommt der eloquenten Figur, die »aus der Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte« (A 22), ihre Ausdrucksfähigkeit abhanden: [S]owie [… er] nur den Bleistift ergriff, schrumpften die unendlichen Möglichkeiten der Sprache, der [… er sich] früher doch getrost überlassen konnte, zu einem Sammelsurium der abgeschmacktesten Phrasen zusammen. Keine Wendung im Satz, die sich dann nicht als eine jämmerliche Krücke erwies, kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang und verlogen. (A 181)

974 Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 39. 975 Vgl. ebd., S. 38f. 976 Vgl. Bohleber, Trauma. 2011, S. 22.

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Diese sich über Monate hinweg ausbreitende Lähmung der Sprache in Wort und Schrift, ein totales Schweigen977, kann Austerlitz erst Jahre später beschreiben: Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, […] so glich ich selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit […] nicht mehr zurechtfindet […]. Das gesamte Gliedwerk der Sprache, […] war eingehüllt in einen undurchdringlichen Nebel. […] Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte, die Worte in eine willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen und diese in eine bleigraue, da und dort silbrig glänzende Spur […]. (A 183f.)

In jenen Wochen fühlt er sich, »als drängte eine seit langem in [… ihm] bereits fortwirkende Krankheit zum Ausdruck, als habe sich etwas Stumpfsinniges und Verbortes in [… ihm] festgesetzt, das nach und nach alles lahmlegen würde« (A 182). Er ist damit konfrontiert, dass »the traumatic experience do not reach the conscious memory but appear instead through physical symptoms such as anxiety, strong headaches, excessive stress, and nervousness«978. In einer Kurzschlussreaktion vergräbt er seine gesammelten Aufzeichnungen im Garten seines Hauses, um sich von dieser »Last seines Lebens« (A 184) zu befreien. Von diffuser Angst und Selbstmordgedanken ergriffen, verfällt er bald darauf in einen Zustand tiefer Verzweiflung (vgl. A 185). Um der ihn »plagenden Schlaflosigkeit zu entkommen« (A 186) begibt er sich auf ausgedehnte Spaziergänge durch das nächtliche London. Als er bei einer dieser Touren am Zentralbahnhof einen stillgelegten Wartesaal entdeckt, holt ihn »zum erstenmal, soweit [… er] zurückdenken konnte, [die Erinnerung] an [s]ich selber [ein]« (A 201). Der ihn erfassende Flashback979 überwältigt ihn und macht ihn sprachlos: [E]s war ein Reißen, das ich in mir verspürte, und Scham und Kummer, oder ganz etwas anderes, worüber man nicht reden kann, weil dafür die Worte fehlen, so wie mir die Worte damals gefehlt haben, als die zwei fremden Leute auf mich zutraten, deren Sprache ich nicht verstand. Ich entsinne mich nur, daß mir, indem ich den Knaben auf der Bank sitzen sah, durch eine dumpfe Benommenheit hindurch die Zerstörung bewußt wurde, die das Verlassensein in mir angerichtet hatte im Verlauf der vielen vergangenen Jahre, und dass mich eine furchtbare Müdigkeit überkam bei dem Gedanken, nie wirklich am Leben gewesen zu sein oder jetzt erst geboren zu werden, gewissermaßen am Vortag meines Todes. (A 201f.)

977 Vgl. Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 38f. 978 Shamai, Michal/Levin-Megged, Orna: The Myth of Creating an Integrative Story: The Therapeutic Experience of Holocaust Survivors. Qualitative Health Research 16, 2006, H. 5, S. 692–712, hier: S. 700. 979 Sogenannte Flashbacks sind kurzdauernde Nachhallerlebnisse, die durch Plötzlichkeit und Lebendigkeit gekennzeichnet sind und für Betroffene mit dem Gefühl einhergehen, das traumatische Erlebnis noch einmal zu erleben. Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18.

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Nicht durch freien Abruf, sondern durch äußere Hinweisreize gelingt es Austerlitz, seine Jahrzehnte zurückliegende Ankunft in London zu vergegenwärtigen.980 Es hängt dies mit der Zustandsabhängigkeit des menschlichen Gedächtnisses zusammen, dem Umstand, dass Austerlitz den Ort seiner Ankunft wiedererkennt und er sich in einer ähnlich aufgelösten mentalen Verfassung wie zum Zeitpunkt seiner Ankunft befindet.981 Und wie die im Kontext der Fortifikationsgeschichte skizzierte »Idee der nach außen sich verschiebenden konzentrischen Ringe an ihre natürlichen Grenzen [stößt]« (A 25), so erfordert auch »das ständige Zurückweisen einer jeden in [… ihm] sich anbahnenden Erinnerung, […] von Mal zu Mal größere Anstrengungen« (A 206). Die Vergegenwärtigung seiner Ankunft in London, dem Symbol seines biographischen Bruchs, lässt die sorgfältig aufgebaute »Selbstzensur [s]eines Denkens« (ebd.) zusammenbrechen.

5.1.4 Traumanarration: Ein zuhörender Erzähler Erst im Frühjahr 1993 tritt »eine gewisse Besserung in [… Austerlitz’] Befinden ein[]« (ebd.) und ohne es zu ahnen gerät er erneut mit seiner Vergangenheit in Berührung. In einem Antiquariat schnappt er eine Radiosendung auf, in der »zwei Frauen […] miteinander darüber sprachen, wie sie im Sommer 1939 als Kinder mit einem Sondertransport nach England geschickt worden waren« (A 207f.). Der Name des Schiffes, das vom holländischen Hoek in Richtung Harwich ausgelaufen ist (vgl. A 208), gerät zum Schlüsselreiz seiner traumatischen Erfahrung, so weiß Austerlitz »jenseits jeden Zweifels, daß diese Erinnerungsbruchstücke auch in [s]ein eigenes Leben gehörten« (ebd.). Jahrzehntelang blockierte autobiographische Erinnerungen werden aktiviert: Ich sah mich nur warten, an einem Kai, in einer langen Zweierreihe von Kindern, von denen die meisten Rucksäcke trugen oder Tornister. Ich sah […] das rothaarige Mädchen mit Schottencape und dem Samtbarett, das sich während der Fahrt durch das dunkle Land um die kleineren Kinder gekümmert hatte in unserem Abteil, dieses Mädchen, von dem ich Jahre später noch, wie ich mich jetzt entsann, wiederholt träumte […] (A 208f.)

Die autobiographischen Erinnerungen an seine Abfahrt vom holländischen Hafen und an seine Ankunft am Londoner Zentralbahnhof setzen die Aufnahme von Bemühungen zur Rekonstruktion seiner Herkunft in Gang. Dass ihm jene für seine Lebensgeschichte und sein Selbstverständnis zentralen Momente wieder erinnerlich sind, bildet den ersten Schritt in Richtung der Überwindung seiner 980 Vgl. Staniloiu/Kordon/Markowitsch, Erinnerung und Erinnerungsblockaden. 2019, S. 38f. 981 Vgl. ebd., S. 36, 39.

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Sprachlosigkeit und des sich entwickelnden Trauma- bzw. Verlustnarrativs. Im März 1993 fliegt Austerlitz nach Tschechien, um im Staatsarchiv einen Registerauszug jener Personen mit dem Namen Austerlitz zu erfragen, die »in der Zeit zwischen 1934 und 1939 in Prag wohnhaft[ gewesen sind]« (A 216). Von starker nervlicher Anspannung erfasst, bringt er gegenüber einer Archiv-Mitarbeiterin hervor, dass ihm aufgrund verschiedener Umstände [s]eine Herkunft verbogen geblieben war, daß [… er] es aus anderen Gründen stets unterlassen hätte, Nachforschungen über [s]eine Person anzustellen, jetzt aber infolge einer Reihe von bedeutsamen Vorfällen zu der Überzeugung gelangt sei oder zumindest die Vermutung hege, im Alter von viereinhalb Jahren, in den Monaten unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges, die Stadt Prag verlassen zu haben mit einem der damals von hier abgehenden, sogenannten Kindertransporte […]. (ebd.)

Es ist das erste Mal, dass Austerlitz seine Überlegungen in Bezug auf seine Vergangenheit einem anderen Menschen mitteilt und er zeigt »enorme Schwierigkeiten, sich auf den narrativen Prozess einzulassen«982. Über seinen Bericht gerät er derart in Panik, daß [… er] zu stottern anfing und kaum noch ein Wort herausbrachte. [… Er] spürte plötzlich die Hitze, die von dem dicken, vielfach mit schlechter Ölfarbe gestrichenen Heizkörper unter dem sperrangelweit offenen Fenster ausging, hörte nur noch den Lärm, der von der Karmelitská heraufkam, das schwere Rollen der Straßenbahn, das Heulen der Polizeisirenen und Martinshörner irgendwo in der Ferne […] und beruhigte [s]ich erst wieder, als [… man ihm] ein Glas Wasser reichte […], das [… er] mit beiden Händen halten mußte, [… während er es] langsam austrank […]. (A 216f.)

Sein starker Erregungszustand resultiert offenbar aus der selbstbezogenen Bedeutung seiner rekonstruierten autobiographischen Erinnerungen.983 Zum ersten Mal gewinnt Austerlitz ein Bewusstsein dafür, welche der zurückliegenden Lebensereignisse für sein Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind und kann sein Selbstkonzept aktualisieren.984 Bis zu seiner Recherche ist er »immer bemüht gewesen […, sich] an möglichst gar nichts zu erinnern und allem aus dem Weg zu gehen, was sich auf die eine oder andere Weise auf [… seine ihm] unbekannte Herkunft bezog« (A 205). Doch die »Fähigkeit, sich an lange zurückliegende Lebensereignisse in einem räumlichen und zeitlichen Zusam982 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328. 983 Vgl. ebd. 984 Vgl. ebd.; Pohl bestimmt das Selbstkonzept als »Summe der individuellen Erlebnisse, Motive und Ziele[, die …] das eigene Selbstkonzept [determiniert]. Das (kognitive, motivationale und affektive) Selbst kann dabei als eine Menge schematischer Selbstzuschreibungen verstanden werden, die aus einzelnen Erfahrungen abstrahiert wurden. Zum Selbst gehören aber auch Erinnerungen an typische oder bedeutungsvolle Erlebnisse«. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 80.

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menhang zu erinnern, ist eine Voraussetzung dafür, sich selbst als eine über die Zeit beständige und eigenständige Person zu erleben«985. Mithin ermöglicht die Rekonstruktion selbstbezogener Erinnerungen die Entwicklung einer Vorstellung von einer kohärenten Lebensgeschichte, die ihm »das Gefühl von Identität (im Sinne persönlicher Konsistenz und Wachstum) vermittelt«986. Neben der selbstbezogenen und psychodynamischen Funktion autobiographischer Erinnerungen lässt sich seine Aufregung auch auf die identitätsstiftende Leistung des Erzählens seiner Lebensgeschichte zurückführen,987 den sozial-kommunikativen »Akt[] der Selbstoffenbarung«988 gegenüber der Archiv-Mitarbeiterin. Im institutionellen Rahmen des Archivs betreibt Austerlitz mittels »Erzählen von Selbsterlebtem […] sowohl Selbstdarstellung als auch interaktionell mitbestimmte und emergente Selbstherstellung, […] ›Identitätsarbeit in Aktion‹ […] und [beansprucht] für sich […] einen bestimmten Geltungsrahmen und soziale Konsequenzen«989. Indem er sich in Bezug zu dem vierjährigen Jungen (erzähltes Ich) setzt, avanciert der etwa sechzig Jährige (erzählendes Ich) erstmals zum narrativen Schöpfer seiner selbst.990 Mit dem vorgebrachten Anliegen offenbart er den Wunsch, eine diachrone Dimension seiner Identität,991 mithin eine »als kohärent und bedeutungsvoll erlebbare Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. vergangenem und gegenwärtigem Selbst herzustellen«992. Auf dieses Ziel sind fortan sämtliche Bemühungen gerichtet. Es gelingt ihm, an einer der im Archiv genannten Adressen eine Person ausfindig zu machen, die sich an das Kind Jacques Austerlitz und dessen Eltern erinnert – sein ehemaliges Kindermädchen Veˇra. Von ihr erfährt Austerlitz, dass seine Eltern, die Schauspielerin Agáta Austerlitz und der aus St. Petersburg stammende sozial-demokratische Funktionär Maximilian Aychenwald (vgl. A 224f.), seit dem Krieg verschollen sind. Als Veˇra ihm sodann von ihrem gemeinsamen Alltag Mitte der 1930er Jahre berichtet und instinktiv aus dem Französischen, ihrer damaligen »Umgangssprache« (A 227), ins Tschechische wechselt, erlebt Austerlitz eine Offenbarung: [I]ch, der ich weder am Flugplatz, noch im Staatsarchiv, ja nicht einmal beim Auswendiglernen der Frage, die mir, an der falschen Adresse, gewiß nicht viel weiterge985 986 987 988 989

Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 80. Vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 36. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 80. Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf: Narrative Identität und Positionierung. Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 5, 2004, H. 1, S. 166–183, hier: S. 168; zur Unterscheidung zwischen Dar- und Herstellung von Identität vgl. LuciusHoene/Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität. 2004, S. 56. 990 Vgl. Boothe, Erzähldynamik und Psychodynamik. 2000, S. 62. 991 Vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 36f. 992 Ebd., S. 36.

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holfen hätte, auch im entferntesten nur auf den Gedanken gekommen war, vom Tschechischen je berührt worden zu sein, verstand nun wie ein Tauber, dem durch ein Wunder das Gehör wiederaufging, so gut wie alles, was Veˇra sagte, und wollte nurmehr die Augen schließen und ihren vielsilbig dahineilenden Wörtern lauschen in einem fort. (ebd.)

Erst die persönliche Ansprache durch eine enge Bindungsperson in einer vertrauen Umgebung lässt den Protagonisten gewahr werden, dass das Tschechische seine Muttersprache ist. So lässt sich seine im Umgang mit der englischen Sprache empfundene Unsicherheit, »die sich in einem leichten Sprachfehler […] und in gelegentlichen Stotteranfällen [äußerte]« (A 50), als Ausdruck der Verdrängung bzw. Überlagerung seiner Erstsprache durch das Walisische bzw. Englische interpretieren. Der Verlust der Muttersprache markiert auf eindrückliche Weise das enorme Ausmaß an Stress, das mit dem Verlust seiner Angehörigen und der darauf folgenden Vernachlässigung in der Pflegefamilie auf die Psyche des Kindes eingewirkt hat. Dabei ist die Auflösung einer jahrelang anhaltenden Gedächtnisblockade durch ein Signal aus der Außenwelt nicht ungewöhnlich. Hirnforschungen zeigen, dass ein fehlschlagenden Abruf von Erinnerungen nicht den Verlust derselben bedeuten muss: »[D]ie Information ist in aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin im Gehirn existent, der Zugang zu ihr ist aber unterbunden«993. Eben dies trifft auf den für Austerlitz’ Lebensgeschichte zentralen Bestandteil der Muttersprache zu. Nach dem Wiedersehen mit Veˇra folgt er der Spur seiner Mutter, begibt sich in das Archiv jenes Prager Theaters, in dem sie engagiert gewesen ist, und in das ehemalige Ghetto Theresienstadt, ihrem letzten bekannten Aufenthaltsort. Doch trotz umfangreicher Recherche, die neben dem Besuch von Erinnerungsorten und Gedenkstätten auch die Sichtung von Gedächtnismedien wie Photographien und Filmmaterial umfasst, muss sich Austerlitz eingestehen, dass ihm der Zugang zum Großteil seiner frühen Kindheitserinnerungen verschlossen bleibt. Schmerzhaft wird ihm bewusst, dass es ihm »offenbar wenig [nutzte], daß [… er] die Quellen [s]einer Verstörung entdeckt hatte […,] die Vernunft kam nicht an gegen das seit jeher von [… ihm] unterdrückte und jetzt gewaltsam aus [… ihm] hervorbrechende Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins« (A 330). Wiederholt ergreift ihn nach seiner Rückkehr in England eine »schreckliche[] Angst« (A 331) – von Herzflattern, kalten Schweißausbrüchen und Zitteranfällen begleitete Panikattacken (vgl. ebd.) – die einen weiteren Zusammenbruch auslösen. Eine Stabilisierung seiner Verfassung bahnt sich vier Jahre später, im Dezember 1996 an, als Austerlitz in der Bar des Londoner Great Eastern Hotel auf 993 Markowitsch, Hans: Die Anfälligkeit autobiographischer Erinnerung gegenüber Streß. Eine neuropsychologische Perspektive. In: Neumann, Erzählte Identitäten. 2000, S. 215– 229, hier: S. 227.

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den Erzähler trifft. Ihm offenbart er sein dringliches Anliegen, dass er »für seine Geschichte, hinter die er erst in den letzten Jahren gekommen sei, einen Zuhörer finden müsse, ähnlich wie [… dieser] es seinerzeit [… Ende der 1960er Jahre] in Antwerpen, Liège und Zeebrugge [gewesen sei]« (A 68). Nach der bloßen Erwähnung biographischer Eckpunkte im Prager Staatsarchiv sucht Austerlitz in Gegenwart des Erzählers sämtliche zentralen Lebensereignisse in eine kontinuierliche Lebensgeschichte zu integrieren. Der Wunsch, seine Leidensgeschichte zu erzählen, ist offenkundig von der Hoffnung getragen, sein rekapituliertes vergangenes Ich an sein gegenwärtiges Ich anzunähern, um beide Komponenten seiner Identität zu einer einzigen Person mit einem gemeinsamen Bewusstsein zu verbinden:994 Seit [s]einer Kindheit und Jugend, […] habe [… er] nicht gewußt, wer [… er] in Wahrheit [… ist]. Es ist nicht einfach gewesen, aus der Befangenheit [… sich] selbst gegenüber herauszufinden, noch wird es einfach sein, die Dinge jetzt in eine halbwegs ordentliche Reihenfolge zu bringen. [… Er ist] aufgewachsen, so begann Austerlitz […], in dem Landstädtchen Bala in Wales […]. (A 68f.)

Der an diesem Abend aufgenommene Bericht umfasst seine Kindheit in Bala und seine Jugend in der Privatschule in der Nähe von Oswestry – mithin das »falsche[] englische[] Leben« (A 361). Dass seine Darstellung auch szenisch-dramatische Höhepunkte enthält,995 markiert, dass Austerlitz mittlerweile fähig ist, eine Lebensgeschichte zu erzählen, eine »bilderreiche, anschauliche, gefühlsmäßig packende Erzählung[ hervorzubringen], die [die] innere[n] Zusammenhänge des Ablaufs der Ereignisse nachvollziehen [lässt]«996. So illustriert etwa die Wiedergabe des Gesprächs mit dem Internatsdirektor, der Austerlitz über seine jüdische Herkunft informiert, seine anhaltende emotionale Betroffenheit. Unvermittelt wechselt Austerlitz an dieser Stelle seiner Erzählung in die damalige Situation, in die kindliche Perspektive und englische Sprache – mithin reinszeniert er die Szene: »Ich sehe ihn jetzt vor mir in seinem ausgefransten Talar [… Er sei] verpflichtet, mir zu eröffnen, daß ich auf meine Examenspapiere nicht Dafydd Elias, sondern Jacques Austerlitz schreiben müsse. It appears, sagte PenrithSmith, that this is your real name.« (A 101) Der Wechsel in den dramatischen Modus und die Synchronisierung von Vergangenheit und erzählerischer Gegenwart bilden die Reizüberflutung, Desorientierung und Verstörung des erzählten Ichs ab,997 zeigen sie doch, wie sehr sich jener Satz in Austerlitz’ Ge994 Vgl. Bruner, Jerome: Self-making and World-making. In: Brockmeier, Jens/Carbaugh, Donal (Hrsg.): Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture. Studies in Narrative 1. Amsterdam/Philadelphia 2001: John Benjamins, S. 25–37, hier S. 27. 995 Vgl. Deppermann/Lucius-Hoene, Trauma erzählen. 2005, S. 42. 996 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328. 997 Vgl. Deppermann/Lucius-Hoene, Trauma erzählen. 2005, S. 51.

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dächtnis eingebrannt hat. Bei ihrem nächsten Treffen in London, im März 1997, fährt Austerlitz unmittelbar mit seinem Bericht fort, wobei er in das Jahr 1997 springt, um von seinem abgebrochenen Schreibvorhaben, seinem Zusammenbruch, der Entdeckung des Wartesaals am Londoner Zentralbahnhof und seiner Reise nach Tschechien zu berichten. In einer Analepse verhandelt er seine Prager Kindheit Mitte der 1930er Jahre und seine Verschickung 1939, bevor er wieder zu seiner Recherche zurückkommt und von der Suche nach seiner Mutter erzählt. Erneut in die Vergangenheit wechselnd, führt er sein 1972 in Marienbad empfundenes Unwohlsein auf seinen ersten Aufenthalt im Kurort, 1938, zurück. Wieder an die Ereignisse der 1990er Jahre anknüpfend, berichtet er sodann von seiner ›zweiten‹ Zugfahrt von Prag nach London, wobei er das erstmalige Auftauchen jener »Zwangsvorstellung« (A 324) rekapituliert, die ihn lange Zeit nach seiner Ankunft in Bala begleitet hat, die Vorstellung »von einem Zwillingsbruder, der mit [… ihm] auf die nicht endenwollende Reise gegangen war, der, ohne sich zu rühren, in der Fensterecke des Zugabteils gegessen und hinausgestarrt hatte [… und] gegen Ende der Reise an Auszehrung gestorben war« (A 324f.). Die Ereignisse der 1990er Jahre fortsetzend, berichtet Austerlitz von seinem erneuten Zusammenbruch nach der Rückkehr in London, seiner Tätigkeit als Hilfsgärtner und seiner Befassung mit dem Theresienstädter Ghetto. Antrieb für die erneute Auseinandersetzung mit baugeschichtlichen Fragen ist nicht mehr der Wunsch, ein »kompensatorisches Gedächtnis« (A 206) aufzubauen, sondern Hinweise auf seine Angehörigen in Erfahrung zu bringen. Bei einem dritten und letzten Treffen der beiden im September 1988 in Paris rekapituliert Austerlitz den Lebensabschnitt, der zwischen Kindheit und Ruhestand liegt, seine Pariser Studienzeit in den 1950er Jahren, die Verbindung zu Marie de Verneuil und seinen Zusammenbruch samt Krankenhausaufenthalt in der Pariser Salpetrière 1959. Seine Analepse an die erzählerische Gegenwart anknüpfend, offenbart er dem Erzähler das ihn erfassende Gefühl einer Überlebensschuld (vgl. A 401), das Gefühl der »schuldhafte[n] Last, dem für ihn vorbestimmten Tod durch Zufall entkommen zu sein«998: [B]eim Anblick der Registraturkammer [drängte sich ihm] die zwanghafte Vorstellung auf, daß dort, in der kleinen Festung von Terezín, in deren naßkalten Kasematten so viele zugrunde gegangen sind, [s]ein wahrer Arbeitsplatz gewesen wäre und daß [… er] ihn nicht eingenommen habe aus eigener Schuld. (A 401)

Mit Beendigung seiner Geschichte überreicht Austerlitz dem Erzähler den Schlüssel zu seiner Londoner Wohnung und verabschiedet sich mit dem Vorhaben, nach seinem Vater, der Ende 1942 in Gurs interniert gewesen sein soll (vgl. A 410), sowie nach Marie suchen zu wollen (vgl. A 414). Unterzieht man diesen in 998 Schütte, W.G. Sebald. 2011, S. 202.

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drei Etappen erzeugten Lebensbericht einer narratologischen Prüfung, fällt hinsichtlich der Zeitstruktur auf, dass Austerlitz den linearen Verlauf der erzählten Zeit immer wieder abbricht, um an einem früheren oder späteren Zeitpunkt wieder einzusetzen. Da eine diskontinuierliche Zeitstruktur überwiegt, gelingt sein Vorhaben, jene Ereignisse »in eine halbwegs ordentliche Reihenfolge zu bringen« (A 69) lediglich in Ansätzen. Mit Blick auf die Handlungsebene lässt sich beobachten, dass sämtliche in die Lebensgeschichte integrierten Ereignisse in Zusammenhang mit dem Kindertransport stehen, den Austerlitz als katastrophalen Wendepunkt seiner Biographie bestimmt. Durch die kausale Verknüpfung erklärt er sein »Gewordensein[ und versucht …] Kontinuität seiner Erfahrungen und seiner Person zwischen früheren Phasen seines Lebens und ihrer Anbindung an das Heute [zu erzeugen]«999. Neben der temporalen und kausalen Dimension seiner Lebensrückschau lässt sich auch die Frage nach der Bewertung des Rekapitulierten stellen. Diesbezüglich fällt auf, dass Austerlitz keine Zuweisung von moralischer Schuld oder Verantwortung für das Erleiden seines Traumas vornimmt. Zwar spricht er in der ihm typischen topographischen Perspektive einmal »von der Eroberung Europas durch die Deutschen, von dem Sklavenstaat, den sie aufgerichtet hatten« (A 205). Von dieser Feststellung abgesehen deutet lediglich die Art und Weise seiner Beschreibung des Aufwachsens in Bala sein Unverständnis über den intrapersonalen Umgang und das Schweigen der Zieheltern über seine Herkunft an. Diese Überlegung wird durch den Hinweis auf die psychische Erkrankung der Eheleute, die offenbar triftige, jedoch unbekannte Gründe hat, abgeschwächt. Mithin wertet Austerlitz die Geschehnisse in Bala als Fortsetzung einer Kette von Unglückserfahrungen. Auf diese Weise wird mit Blick auf die Handlungs- und Erleidensbeteiligung, die sogenannte Agency1000, in der erzählten Zeit deutlich, dass es ihm im Abstand von sechzig Jahren zu den traumatischen Erfahrungen möglich ist, sich als Opfer eines katastrophalen Schicksalsschlags zu positionieren1001. Dies macht er im Dezember 1996 gegen999 Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität. 2004, S. 57. 1000 Vgl. Deppermann/Lucius-Hoene, Trauma erzählen. 2005, S. 45; vgl. zur Konzeption des Begriffs Agency die Übersicht von Deppermann, Arnulf: Agency in Erzählungen über Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend. Sprachliche Praktiken der Zuschreibung von Schuld und Verantwortung an Täter und Opfer. In: Scheidt/Lucius-Hoene/Stukenbrock/ Waller, Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. 2015, S. 64–75, hier: S. 64f. 1001 Als Positionierung bezeichnen Lucius-Hoene/Deppermann »denjenigen Aspekt der Sprachhandlungen, mit denen Interaktanten sich soziale Positionen und Identitäten zuweisen. […] Diskursive Positionierung beinhaltet als Selbstpositionierung die direkte oder indirekte Zuschreibung von Bestimmungsstücken zur eigenen Person. Als Fremdpositionierung [… beschreibt] es die entsprechenden Zuschreibungen und Positionszuweisungen an die Gesprächspartner […], die mit der eigenen Person interagieren. Selbst- und Fremdpositionierung sind als sprachliche Handlungen im interpersonellen Raum miteinander verwoben«. Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität. 2004, S. 196.

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über dem Erzähler explizit, als er resümiert, dass »schon ein Quantum persönlichen Unglücks [genügt], um uns abzuschneiden von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft« (A 151). Jene unverständlichen Widerfahrnisse haben ihn zufällig getroffen, wobei der Zufall »als Synonym für das Sinnlose, Grundlose [… jener] Ereignisse[] erschein[t]«1002. So schätzt er sich, indem er das Prozesshafte der historischen Umstände und die fehlenden Handlungs- und Kontrollmöglichkeiten in seiner Erzählung herausstellt, als hilfloses Opfer bzw. Objekt jener Prozesse ein.1003 Dieser Eindruck wird durch die Schilderung seiner anhaltenden Betroffenheit bzw. seines anhaltenden Leids aufgrund des Traumas gestützt – der Blockade früher autobiographischer Erinnerungen, des »jeher von [… ihm] unterdrückte[n …] Gefühl[s] des Verstoßen- und Ausgelöschtseins« (A 330) sowie der anzunehmenden Vernichtung seiner Eltern. Mit der Bewusstmachung seiner Traumatisierung und der Aufnahme von Bemühungen zur Rekonstruktion seiner Herkunft »am Vortag [s]eines Todes« (A 202) erstarkt seine Selbstwahrnehmung als handlungsfähiges Individuum. Die erzählerische Gestaltung seines Verlustnarrativs lässt gesamtheitlich erkennen, dass Austerlitz’ in der Bar des Londoner Great Eastern Hotel artikuliertes Bedürfnis, einen Zuhörer für seine Lebensgeschichte zu finden aus dem Wunsch nach »Kontingenzbewältigung [… resultiert bzw. aus dem Wunsch,] der Auslieferung an die Zufälligkeit […] die nachträgliche narrative Kontrolle entgegen[zusetzen]«1004. Nach der partiellen Auflösung seiner Gedächtnisblockade verwandelt er seine bis dahin empfundene Passivität über den Erzählprozess als »sprachliche[s] Verfahren nachträglich[ …] in Aktivität«1005 und stabilisiert sein neu gewonnenes Selbstkonzept. Neben der damit einhergehenden (in ihrem Umfang begrenzten) Selbstheilungsfunktion1006 erfährt der Protagonist durch das zwischenmenschliche Mitteilen seiner Lebensgeschichte auch soziale Anerkennung.1007 Zum »Gesehen- und Gehört-Werden[]«1008 trägt die Existenz eines Zuhörers bei, der bereit ist, sich auf das Erzählte einzulassen. Diese Rolle übernimmt der namenlose IchErzähler, dessen »diskrete Stimme«1009 lediglich in gewissen Abständen auftaucht, um die Treffen mit Austerlitz zeitlich und räumlich einzuordnen und das von der Figur monologartig entwickelte Gespräch einzuleiten. Insofern fungiert

1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009

Ebd., S. 60. Ebd., S. 59f.; vgl. Deppermann/Lucius-Hoene, Trauma erzählen. 2005, S. 52f. Boothe, Das Narrativ. 2011, S. 17. Ebd. Vgl. ebd., S. 70–73. Vgl. Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität 2004, S. 33. Ebd. Tabah, Mireille: Gedächtnis und Performanz. W.G. Sebalds Austerlitz versus Thomas Bernhards Auslöschung. In: Heidelberger-Leonard/Tabah, W.G. Sebald. 2008, S. 125–139, hier: S. 130.

W.G. Sebald: Austerlitz (2001)

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der »Erzähler […] nur als Medium. Sein bloßes, sozusagen kontigentes Dasein genügt, um Austerlitz die Zunge zu lösen«1010. The first person narrator gives no answers to the stories and explanations told by his witnesses or informants [… and] virtually fails to exist in the other’s speech. […] The first person narrator, one could say, is only the place in the narrative structure in which a story or a statement is laid down. […] Therefore the narrator, who is listening to the reports, doesn’t move into the position of a therapist [… ] and nothing the silent narrator could say to Austerlitz would help him.1011

Da er »nicht das Rederecht übernimmt […,] keine neue Frage stellt [… und] fortwährend […] Interesse an der weiteren Entfaltung der Thematisierung [zeigt]«1012, gibt der Erzähler Austerlitz »Gelegenheit, die offenbar schwer zugänglichen Erinnerungen zu reaktualisieren und sie nach und nach tastend in Worte zu fassen.«1013 Ein co-authoring1014, eine gemeinsame Rekonstruktion der Vergangenheit, die etwa durch Kohärenzabbrüche, widersprüchliche Äußerungen zu Raum und Zeit und Ausdrucksschwierigkeiten seitens der erzählenden Figur sowie metadiskursive Kommentare, Nachfragen und Reformulierungen seitens des zuhörenden Erzählers gekennzeichnet ist,1015 findet nicht statt. Der Erzähler wirkt in erster Linie »als eine Art Katalysator […] da Austerlitz seiner Gegenwart bedarf, um den Erzähl- und Erinnerungsstrom fließen zu lassen«1016. Da Austerlitz seine Leidensgeschichte bei ihm sozusagen deponiert1017 und dieser sie schriftliche festhält (vgl. A 146), wird der Erzähler auch »zum Zeugen des von Austerlitz im Prozess seiner Identitätssuche erfahrenen Leids«1018. Dass der üblicherweise die Ereignisse vermittelnde Erzähler die Rolle eines schweigenden Zuhörers einnimmt, um »anderen das Reden zu ermöglichen«1019, unterstreicht mit Blick auf die Ebene der erzählerischen Vermittlung des Texts, dass die Rekapitulation der Lebensgeschichte »in erster Linie im Dienste des Erzählers 1010 Heidelberger-Leonard, Irene: Zwischen Aneignung und Restitution. Die Beschreibung des Unglücks von W.G. Sebald. Versuch einer Annäherung. In: Dies./Tabah, W.G. Sebald. 2008, S. 9–24, hier: S. 21. 1011 Niehaus, Michael, No Foothold. 2006, S. 321f. 1012 Deppermann/Lucius-Hoene, Trauma erzählen. 2005, S. 42. 1013 Ebd. 1014 Vgl. Duranti, Alessandro: The Audience as Co-Author: An Introduction. Text – Interdisciplinary Journal for the Study of Discourse 6, 1986, H. 3, S. 239–249. 1015 Vgl. Gülich, Elisabeth/Schöndienst, Martin: Brüche in der Kohärenz bei der narrativen Rekonstruktion von Krankheitserfahrungen. Konversationsanalytische und klinische Aspekte. In: Scheidt/Lucius-Hoene/Stukenbrock/Waller, Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. 2015, S. 121–134, hier: S. 121, 130. 1016 Schütte, W.G. Sebald. 2011, S. 178. 1017 Vgl. Boothe, Das Narrativ. 2011, S. 6. 1018 Schütte, W.G. Sebald. 2011, S. 180. 1019 Luhmann, Niklas/Fuchs, Peter: Reden und Schweigen. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1989: Suhrkamp, S. 115.

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[Austerlitz] steh[t] und seinem Bedürfnis nach kognitiver Aufordnung und Klärung seines Erlebens, [nach] Entlastung Selbstdarstellung [… und] Selbstaufwertung nachkomm[t]«1020. Damit steht die soziale Funktion der Rekonstruktion selbstbezogener Erinnerungen im Vordergrund, insbesondere das Informieren des Zuhörers über eine nicht gemeinsam erfahrene Vergangenheit: »Sharing autobiographical memories with someone who was not present at the past episode (biographical self disclosure) introduces the listener to information about the speaker and his […] world.«1021 Auf diese Weise wird die narrative Bewältigung der traumatischen Verlusterfahrung des Protagonisten auf der Ebene der Darstellung inszeniert. Mit Blick auf die Ebene der realen Kommunikation lässt sich die spezifische Inszenierungsform mit der historischen Zugehörigkeit des Erzählers zur Seite der Täter und Mitläufer und des Protagonisten zur Seite der Opfer des Zweiten Weltkrieges in Zusammenhang bringen. Diesen Gedanken fortsetzend, tritt der deutschstämmige und in England lebende Erzähler in der Rolle eines »Erbe[n] der Tätergeneration […] ganz hinter der vergangenen und gegenwärtigen Leidensgeschichte des eigentlichen Protagonisten Austerlitz zurück«1022: Nirgends überschreitet der Ich-Erzähler seine Befugnis, nirgends spricht er über den Zeugen. Der Ich-Erzähler vermittelt nur die Umstände. Zu sagen, was sie leiden, das bleib den unmittelbar Betroffenen selber vorbehalten.1023

Möglicherweise lässt sich die Installation eines Zuhörers auf die moralische Überlegung zurückführen, die Geschichte eines jüdischen Opfers nicht einem deutschen Täternachkommen in den Mund legen zu wollen. Unbestreitbar ist, dass die Geschichte der durch den Zweiten Weltkrieg traumatisierten Figur durch ihre Narration und schriftliche Fixierung aus dem kommunikativen ins kollektive Gedächtnis überführt und dem Vergessen entzogen wird.1024

5.1.5 Fazit W.G. Sebald verhandelt in »Austerlitz« die Leidensgeschichte des gleichnamigen Kunsthistorikers, der im Alter von etwa sechzig Jahren den Grund seiner anhaltenden psychischen Verstörung entdeckt – er ist als Sohn einer jüdischen Mutter im Alter von viereinhalb Jahren zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mit 1020 1021 1022 1023 1024

Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität. 2004, S. 43. Bluck, Autobiographical Memory. 2003, S. 7. Tabah, Gedächtnis und Performanz. 2008, S. 130. Heidelberger-Leonard, Zwischen Aneignung und Restitution. 2008, S. 21. Vgl. Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 9–19; vgl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. 2008, S. 14.

W.G. Sebald: Austerlitz (2001)

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einem Kindertransport von Tschechien nach England verschickt worden. Auf das traumatische Verlustereignis seiner engen Bindungspersonen, seiner Muttersprache sowie seiner vertrauten Umgebung folgen im Haus der walisischen Zieheltern weitere verstörende Ereignisse. So ist der Junge mit kognitiver wie emotionaler Vernachlässigung bzw. Unterstimulierung und einer nicht ausreichenden Bindungssituation konfrontiert. Erst in einem zeitlichen Abstand von sechs Jahrzehnten wird der Protagonist gewahr, dass der Abruf der mit den traumatischen Ereignissen in Zusammenhang stehenden autobiographischen Erinnerungen in Folge der Überforderung seiner kindlichen Bewältigungsmöglichkeiten blockiert worden ist. Die psychische Erstarrung bedingt auch das Versinken der unverarbeitet gebliebenen Erfahrungen in Sprachlosigkeit. Dass im Haus der Zieheltern über die Verschickung und ihre Gründe Schweigen herrscht, ein gemeinsames Rekonstruieren und Nacherzählen jener Ereignisse ausbleibt, trägt maßgeblich zu ihrem ›Vergessen‹ bzw. zur Festigung der Gedächtnisblockade bei. Seine jahrzehntelange Sprachlosigkeit ist Ausdruck der ausbleibenden Integration jener Erfahrungen in seine Lebensgeschichte und des Andauerns des Traumas. Erst durch Einwirkung äußerer Hinweisreize, die die Abrufblockade der autobiographischen Erinnerungen teilweise lösen und die Anwesenheit eines aufmerksamen wie schweigsamen Zuhörers gelingt es dem Protagonisten, zentrale Ereignisse seines Lebens zu vergegenwärtigen, ansatzweise in eine kohärente Geschichte zu integrieren und einem anderen Menschen mitzuteilen – er entwickelt ein Verlustnarrativ. Einer psychotraumatologisch orientierten Interpretation folgend, lassen sich die einleitend geäußerten Überlegungen des Protagonisten zu Paradoxien der Bau- und Fortifikationsgeschichte als räumliche Metapher des erodierten Reliefs seiner Psyche interpretieren, die der expliziten narrativen Darstellung etwa dreißig Jahre vorausgehen. Bezüglich der Einordnung des Erzähltexts lässt sich festhalten: In »Austerlitz« wird »die Bedeutung des Erinnerns für die Identität von [… der Figur] zum zentralen Gegenstand«1025 und die für das Selbstverständnis der Figur zentralen Lebensereignisse werden »in der erinnernden Rückschau hervorgebracht«1026, sodass sich der offen endende Prosatext nach Birgit Neumanns Klassifikation der Gattung der fictions of memory zuordnen lässt. Da es bei Austerlitz’ Erinnerungsprozess nicht bloß darum geht, »Vergangene[s] zu vergegenwärtigen – dies ist ein offensichtliches Merkmal des Gedächtnisromans –, [… sondern] während des Erinnerns [auch] eine Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Sein [erfolgt]«1027, wodurch »die Schwierigkeit des Erinnerns beschrieben [wird]«1028, 1025 Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 137. 1026 Ebd. 1027 Gansel, Rhetorik der Erinnerung. Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur. 2009, S. 32. 1028 Ebd., S. 33.

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Schweigetyp III: Schweigen-Müssen/Nicht-reden-Können

kann »Austerlitz« nach Überlegungen von Carsten Gansel weiterhin der Subgattung des Erinnerungsromans zugeordnet werden – muss der Protagonisten doch schmerzlich erkennen, wie »brüchig und unvollkommen [… seine] Erinnerungen sind«1029.

5.2

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch (2016)

5.2.1 Einleitung Hans-Ulrich Treichel wurde 1952 in Versmold geboren, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität Berlin und war von 1995 bis 2018 Professor für Literatur am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig.1030 Seine schriftstellerische Arbeit begann in den 1970er Jahren mit der Veröffentlichung von Gedichten; neben Essays und Libretti kamen seit Anfang der 1990er Jahre Prosatexte hinzu.1031 Im Jahr 2000 hielt Treichel die Frankfurter Poetik-Dozentur.1032 In der 2016 erschienenen Erzählung »Tagesanbruch« variiert er zum dritten Mal jene tragische Familiengeschichte, die er erstmals 1998 in »Der Verlorene« erzählte und in »Menschenflug« (2005) und »Anatolin« (2008) fortsetzte: Die Flucht eines Ehepaares aus Ostpreußen zum Ende des Zweiten Weltkriegs, der Verlust ihres Sohnes im Flüchtlingstreck sowie das von Vergangenheitsverdrängung, Kommunikationsund Emotionslosigkeit geprägte Leben in einer westfälischen Kleistadt der Nachkriegsjahre. Dabei ist es insbesondere »das Changieren zwischen komischer Posse und geschildertem Leid, [das …] Treichels Texte abgründig und subversiv«1033 macht, wobei sich »die autobiographische Grundierung, das Festhalten an einem pikaresken Verlierertypus als Helden, parodistische Milieustudien und der schwarze Humor [… als] Grundkonstanten«1034 seines Schreibens identifizieren lassen. Tatsächlich ist die inszenierte und mehrfach aufgegriffene Familiengeschichte nah an Treichels eigener Biographie konzipiert, der in den 1950er und 1960er Jahren in einer westfälischen Kleinstadt als Sohn von Vertriebenen aufwuchs, die Zeit ihres Lebens (vergeblich) nach ihrem erstgeborenen und auf

1029 Ebd., S. 32. 1030 Schaefer, Thomas: Eintrag »Treichel, Hans-Ulrich«. Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Letzter Zugriff am 30. 03. 2020). 1031 Vgl. ebd. 1032 Vgl. ebd. 1033 Vgl. ebd. 1034 Vgl. ebd.

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch (2016)

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der Flucht ›abhanden gekommenen‹ Sohn Günter gesucht haben.1035 Im Nachlass der Eltern stieß Treichel auf eine Erklärung seines Vaters, in der sich dieser zu den Umständen der Flucht äußert. Bezugnehmend auf dieses Protokoll stellt Treichel das Schweigen über die verstörenden, mithin traumatischen Kriegserfahrungen seiner Eltern als typische Umgangsform ihrer Generation mit den schuldhaften und schambesetzten Kriegserfahrungen dar: Es gibt in der Aussage meines Vaters eine Schlüsselstelle, die meines Erachtens weit über den Einzelfall hinausweist. Die Stelle lautet: »Die Situationen, in die wir dann kamen, lassen sich im einzelnen kaum schildern.« Damit ist ausgesprochen, was wohl das Dilemma einer ganzen Generation war: dass man vom Krieg und vom erlittenen – und gegebenenfalls auch verursachten – Schrecken möglicherweise pauschal, aber ›im einzelnen‹ kaum zu erzählen vermochte. Und in der Tat weiß ich bis heute nicht, was genau meinen Eltern an jenem Januartag 1945 zugestoßen ist, dass sie sich gezwungen sahen, ihr Kind im Stich zu lassen. Sicher ist: Sie waren vom Tod bedroht. Und wahrscheinlich ist es zu einer Vergewaltigung gekommen.1036

Es ist die aus der traumatischen Erstarrung resultierende Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration, die Treichel in seiner jüngsten Erzählung explizit ins Zentrum rückt. Abgesehen vom Motiv des verlorenen Sohnes wird in »Tagesanbruch« erneut die Frage nach der »existentiellen Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte [verhandelt], die das wichtigste Strukturmerkmal des ›Familienromans‹ ist«1037. So macht seine jüngste Erzählung »wie in einem Brennglas das Lebensthema d[]es Autors noch einmal sichtbar«1038. Dabei setzt Treichel im Unterschied zu den Vorgänger-Romanen in »Tagesanbruch« nicht mehr den Sohn als Ich-Erzählinstanz ein, aus dessen Perspektive die »enge[] Nachkriegsatmosphäre und deren Alternativlosigkeit«1039 geschildert wird. Stattdessen ist es die sich im Ruhestand befindende Mutter, die anlässlich des Todes ihres (einzigen) erwachsenen und an Leberkrebs erkrankten Sohnes Bilanz über ihr Leben zieht. Die sich dabei assoziativ ein1035 Vgl. ebd.; Treichels Eltern haben ihm den Verlust des älteren Bruders jahrzehntelang verschwiegen; sie haben ihn für tot erklärt. Aus dem Nachlass der Eltern wird jedoch ersichtlich, dass der Bruder auf der Flucht vor den Russen nicht wie von den Eltern berichtet verhungert, sondern verloren gegangen ist. Vgl. Treichel, Hans-Ulrich: Trauma. Das Schweigen der Opfer. GEO Epoche. Das Magazin für Geschichte 09, 2002. Deutschland nach dem Krieg 1945–1955. (Letzter Zugriff am 09. 04. 2020). 1036 Vgl. ebd. 1037 Assmann, Geschichte im Gedächtnis. 2014, S. 74. 1038 Rüdenauer, Ulrich: Tote können gut zuhören. Süddeutsche Zeitung vom 22. 06. 2016. (Letzter Zugriff am 09. 04. 2020). 1039 Schröder, Christoph: Wenn der Zaunkönig singt. Frankfurter Rundschau vom 08. 05. 2016. (Letzter Zugriff am 30. 03. 2020).

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stellenden Erinnerungen kreisen allesamt um einen Störfall: Es ist ihr persönliches Kriegstrauma, das über die Lebensspanne des Sohnes in Stillschweigen gehüllt worden ist und das noch ihre erzählerische Gegenwart beeinflusst. So inszeniert Treichel in »Tagesanbruch« am Totenbett des Sohnes ein »tastendes Selbstgespräch, das die Mutter im Schutz der Nacht […] auf ein schreckliches Ziel zu[führt]«1040, wobei sie sich erzählend von einem »Unglück [befreit], das sie ihr ganzes Leben lang im Griff hatte«1041. Das in der Familie grassierende Schweigen, das in den ersten drei Textvariationen stets mitverhandelt worden ist, rückt in »Tagesanbruch« somit ins Zentrum. Eingebettet in den historischen Kontext und die gesellschaftliche Diskursordnung der Nachkriegsjahre setzt sich Treichel am Beispiel der namenlosen Erzählerin mit einer Generation auseinander, die die gewaltsamen sexuellen Übergriffe von Rotarmisten an Frauen der ehemaligen deutschen Ostgebiete zu Kriegsende aus Scham und Angst vor gesellschaftlicher Ächtung verschweigt, mithin tabuisiert. Als literarisches Prinzip konstituiert es die Handlungs- ebenso wie die Darstellungsebene der achtzig Seiten umfassenden Erzählung, in deren erstem Teil mittels einer »kargen, lakonisch verknappten Sprache«1042 eindringlich markiert wird, dass in der Familie etwas Gravierendes verschwiegen worden ist, bevor dessen Gegenstand im zweiten Teil offengelegt wird.

5.2.2 Reden über Schweigen zur Erzeugung von Rätselspannung »DER AUGUST WAR IMMER unser liebster Monat. Du warst ein Sommerkind, ein Hitzekind. Im August fühltest du dich am wohlsten. Wenn ich es recht bedenke, war der Sommer die einzige Zeit, in der du nicht gefröstelt hast.« (T 7) So lautet der in ultimas res einsetzende Erzählauftakt, wobei sich der Hinweis auf die ausgeprägte Kälteaversion des Sohnes nicht allein auf die erzählerische Gegenwart beziehen lässt, es ist ein Spätsommertag, sondern auch als Verweis auf die in der Familie grassierende emotionale Kälte und die Umstände seiner mutmaßlichen Zeugung an einem kalten Januartag 1945 lesen lässt. Es ist eine weibliche, namenlos bleibende Ich-Erzählerin, die sich mittels interner Fokalisierung und in Form der autonomen direkten Rede an ihren Sohn Johannes wendet. Hat sie den an Leberkrebs Erkrankten in den zurückliegenden Monaten noch in ihrer Wohnung gepflegt (ebd.), ist der Kopf des soeben Verstorbenen nun, in der 1040 Abenstein, Edelgard: Selbstbefreiung einer Mutter aus dem Kriegstrauma. Deutschlandfunk Kultur Lesart vom 30. 05. 2016. (Letzter Zugriff am 30. 03. 2020). 1041 Ebd. 1042 Ebd.

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Basiserzählung, auf ihrem Schoß gebettet.1043 Sein Tod ist in der Nacht bzw. am frühem Morgen eines undatierten Augusttages eingetreten, wie die Erzählerin berichtet: »Ich habe geschlafen, bin aber sehr früh aufgewacht, unruhig, vielleicht mit einer Vorahnung […] habe […] in aller Herrgottsfrühe und während es draußen noch vollkommen dunkel war, nach dir gesehen und dich gefunden.« (T 39f.) In der kurzen Zeitspanne zwischen dem Auffinden des Toten und dem Zeitpunkt, an dem sie den Arzt rufen wird, nimmt sie von ihrem Sohn Abschied und rekapituliert ausgehend von seinem ihr eigenes Leben. So setzt sein Tod einen Erinnerungsprozess in Gang, der zunächst Episoden aus der Kindheit und Jugend des Sohnes in der Nachkriegszeit umfasst, dann weiter zurück in die Vergangenheit führt und die Flucht der Erzählerin mit ihrem Mann vor der in Polen einmarschierenden Roten Armee 1945 sowie ihre Kindheit als eines von dreizehn Geschwistern in den 1920er bzw. 1930er Jahren im polnischen Remki einschließt, bis sie schließlich wieder in die Gegenwart gelangt und Erzählzeit und erzählte Zeit zusammenfallen. Die Erzählzeit umfasst etwa eine Stunde, in der die Nacht dem anbrechenden Tag weicht, die erzählte Zeit hingegen mehrere Jahrzehnte, mithin Schlaglichter aus zwei Generationen. Doch warum richtet die Erzählerin das Wort zu einem Zeitpunkt an ihren Sohn, an dem dieser die typische Funktion eines Zuhörers, die nicht zuletzt in »der sozialen Anerkennung, des Gesehen- und Gehört-Werdens«1044 der Erzählinstanz besteht – gar nicht mehr leisten kann? Es scheint ihr ein dringendes Bedürfnis zu sein, sich dem Sohn mitzuteilen, bevor dieser gänzlich aus ihrem Leben tritt, zögert sie den Anruf des Arztes doch hinaus: »[Ich] habe zum Telefon gegriffen, den Hörer aber wieder auf die Gabel gelegt. Den Arzt hätte ich stören dürfen, […] aber ich wollte uns nicht stören. Unsere letzte gemeinsame Stunde, bevor es hell draußen wird.« (T 40) Und während sie beginnt, die Vergangenheit assoziativ zu vergegenwärtigen, in kreisenden Bewegungen zu reflektieren, wird sie gewahr, dass das Auf-Immer-Verstummen des Sohnes die notwendige Bedingung darstellt, die ihre Zunge löst und den Erzählprozess in Gang setzt: »Jetzt kann ich es ja sagen, du hörst mich nicht mehr.« (T 33) Etwas, das deutet die rätselhafte Äußerung an, ist zwischen Mutter und Sohn unausgesprochen geblieben und es ist von solch immanenter Brisanz, dass die Erzählerin noch im Angesicht des stummen Toten vor dem In-Worte-Fassen zurückweicht: »Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten.« (T 10) Es sind gerade diese »Dinge« 1043 Bei der Geburt des Sohnes im Oktober 1945 war die Mutter 23 Jahre alt, geboren ist sie demnach 1921/1922. Da der Sohn in der Basiserzählung erwachsen, alleinstehend und akademischer Rat (vgl. T 38), die Mutter verrentet und körperlich gebrechlich, aber noch nicht pflegebedürftig ist (vgl. T 20), könnte Johannes zum Zeitpunkt des Todes etwa 50 Jahre und die Mutter 73 Jahre alt sein. So läge die erzählerische Gegenwart Anfang der 2000er Jahre. 1044 Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität. 2004, S. 33.

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(ebd.), die die aufgerufenen Erinnerungen – insbesondere an den von Sorgen und Arbeit geprägten Alltag im Textilgeschäft, mit dem sich ihr Ehemann und sie nach Kriegsende eine neue Existenz aufgebaut hatten (vgl. T 36) und die körperliche Beeinträchtigung des Mannes, der im Russlandfeldzug seinen rechten Arm verloren hatte und fortan bei alltäglichen Handgriffen auf ihre Hilfe angewiesen gewesen war (vgl. T 8f.) – mit jeder verstreichenden Minute weiter in den Hintergrund der Erzählung treten lassen. Äußerungen wie: »Man muss nicht alles mit seinen Kindern bereden« (T 9, 10, 12, 13), die die Erzählerin in der kurzen Spanne der Erzählzeit in fast identischem Wortlaut viermal wiederholt, markieren, dass das Schweigen in ihrem Leben eine zentrale Rolle gespielt hat. Es scheint sich zu einer Lebensformel entwickelt zu haben, deren Aufrechterhaltung und Richtigkeit sie sich noch am Totenbett des Sohnes vergewissert: »Man muss nicht alles mit seinen Kindern bereden. Man kann auch nicht alles erklären.« (T 13) Den Schweige-Kommentaren haftet ein ermahnender, teils rechtfertigender, teils hilfloser Ton an, der einen inneren Konflikt zum Ausdruck bringt: »Man kann nicht nur seinen Kindern nicht alles erklären, man kann auch sich selbst nicht alles erklären. Das Schlimme ohnehin nicht« (ebd.), und sie ergänzt: »Man muss auch schweigen können. Aber es hätte ihn [den Ehemann] fast umgebracht. Ihn und mich.« (T 12) Offenbar hat sie ihr Schweigen als Belastung empfunden, doch auch das Offenlegen des Schweigegegenstandes geht mit einer enormen Anstrengung und Überwindung einher, wie die Erzählerin gesteht: »Vor mir selbst habe ich regelrecht Angst. Vor dem, was ich zu sagen habe. Was ich mir zu sagen habe.« (T 63) Worauf sie mit den vagen, unpersönlichen Worthülsen ›Dinge‹, ›alles‹, ›das Schlimme‹ und ›es‹ referiert, formuliert sie im ersten Teil der Erzählung nicht explizit aus. Das Vermeiden der konkreten Benennung des Sachverhalts mittels Verallgemeinerung bzw. Redeweisen des »›leere[n] Sprechen[s‹ …, durch die] Akteure und ganze Geschehenszusammenhänge […] nicht benannt, sondern als ›sie‹, ›se‹, ›die‹ bzw. ›das da‹ bezeichnet [werden«]1045, bildet eine kommunikative Vermeidungsstrategie, die auf die Konflikthaftigkeit des Sachverhalts verweist. Gleichwohl tritt das Verschwiegene als roter Faden aus dem Hintergrund der Reflexionen hervor. So signalisieren die Schweige-Marker bei genauerer Betrachtung nicht allein, dass zwischen Mutter und Sohn etwas Gravierendes ungesagt geblieben ist. Ihre Andeutungen im Zusammenhang mit dem Kriegsende, der Beziehung zu ihrem Ehemann und Sohn konturieren auch den verschwiegenen Gegenstand. Es geht

1045 Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. 3. Aufl. Frankfurt/M. 2002: Fischer, S. 159; ich danke Lisa Schüler und Katrin Lehnen für diesen Hinweis. Schüler/Lehnen, Schweigen zur Sprache bringen. 2013, S. 130.

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um die verstörenden Ereignissen, die sich auf der Flucht des Ehepaares aus ihrer Heimat 1945 ereignet haben, wie die Erzählerin lakonisch bemerkt: Nach dem Krieg haben wir [der Ehemann und sie] uns keine Geschenke mehr gemacht, was hätten wir uns noch schenken sollen. Uns ist ja das Leben geschenkt worden, erst ist es uns beinahe genommen worden und dann geschenkt. Es war eine Laune. Eine Laune von drei russischen Soldaten. Aber was heißt schon geschenkt, vor die Füße geworfen hat man es uns. Wie Dreck. Unser eigenes Leben. Aber davon weißt du nichts. (T 15)

Die Stichworte ›Krieg‹, ›drei russische Soldaten‹ und ›eine Laune‹ legen nahe, dass das Paar während der Flucht mit einer außergewöhnlichen Bedrohung konfrontiert worden ist. Zudem deuten die kurzen Sätze und der abgehärmte Tonfall darauf hin, dass aus den Ereignissen eine psychische Verstörung der Erzählerin resultiert ist, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt andauert. Es ist eine innere Leere, die sich auch in folgendem Erzählerkommentar offenbart: »[Wir waren] verlorene Seelen. Und glaubten an gar nichts mehr. Mit guten Gründen, über die ich nicht reden möchte. Ich möchte auch nicht daran denken, tue es aber trotzdem, immerzu eigentlich, auch jetzt, in dieser Minute« (T 35). So scheint das Schweigen von dem Bestreben motiviert zu sein, jene verstörenden Ereignisse wie in einem Vakuum zu verschließen bzw. von sich abzuspalten. Auch eine Äußerung bezüglich ihres Ehelebens konkretisiert den Schweigegegenstand: »Dass dein Vater einarmig war, übergewichtig und ein Korsett trug, hat meiner Liebe zu ihm keinen Abbruch getan. Auch der körperlichen Liebe nicht. […] Wir waren allerdings nicht immer fähig dazu. Aus verschiedenen Gründen, worüber ich nicht reden möchte.« (T 10) Zudem bemerkt sie mit Blick auf das distanzierte Verhältnis zwischen ihrem Ehemann und Sohn: »Der Kirchgang war dir lästig. Gottlos hat er [der Ehemann] dich einmal genannt, voller Zorn. Als wärst du ein Wilder. Dabei warst du unser Sohn.« (T 35) Auch quält sie folgende Frage: »Eine richtige Familie, denke ich immer, […]. Ob wir […] eine richtige Familie waren? Wir haben zumindest alles dafür getan. Dein Vater und ich. Alles, was wir konnten.« (T 21) Die Häufung der Schweige-Kommentare und Andeutungen bezüglich des Verschwiegenen markieren, dass sich der Lebensrückblick der Erzählerin als ein Ringen um Zurückhaltung versus Offenbarung eines Geheimnisses entpuppt, das sich im Morgengrauen allmählich zugunsten dessen Preisgabe entscheidet. Verharrt die Erzählerin zu Beginn ihres Selbstgesprächs noch bei dem Standpunkt: »Das Beste ist, still zu sein« (T 13) bzw. »Erzählen half nicht« (T 14), festigt sich im Laufe des anbrechenden Tages ihr Entschluss: »Ich will ehrlich sein. Es hilft, ehrlich zu sein und alles deutlich auszusprechen. Wenn ich alles deutlich ausspreche, hat es keine Macht mehr über mich.« (T 53) Augenscheinlich ist es der Tod des Sohnes, der ihren Gesinnungswandel einleitet, geht mit dem Verlust des Angehörigen doch auch die Möglichkeit einher, mit einer belastenden Vergangenheit abzuschließen. Doch trotz des gefassten Ent-

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schlusses ringt die Erzählerin weiterhin mit den Worten. Dreimal in Folge räumt sie ein: »Es wäre alles schnell erzählt. Noch bevor der Tag beginnt« (T 51, 58, 63), um dann doch wieder kein Wort über die Lippen zu bringen. Da sie die Preisgabe des Verschwiegenen fortwährend ankündigt und immer wieder aufs Neue hinauszögert, entfalten die Schweige-Marker im Sinne von Ruberg auf der Stil- und Strukturebene1046 der Erzählung als Mittel zur Spannungssteigerung Wirkung. Dies umso effektvoller, als die Erzählerin auf Zweidritteln des Gesamtumfangs der Erzählung (56 von 80 Seiten, mithin 70 Prozent der Erzählung) ausschließlich Reflexionen und Kommentare über das Verschwiegene äußert, das Erzähltempo stark verringert, wobei die eigentliche Geschichte, auf die fortlaufend verwiesen wird, pausiert. Im Sinne von William Brewer liegt in Bezug auf den auf der Ebene der Erzählung erzeugten Spannungsverlauf eine curiosity discourse structure1047 vor, Wenzel spricht in diesem Fall vom sogenannten »Rätselspannungsschema«1048. Die von der Erzählerin kontinuierlich geäußerten Meta-Kommentare zum Schweigen signalisieren dem Leser einen Informationsvorbehalt, wobei erkennbar ist, dass das verschwiegene Geschehen eine zentrale Bedeutung im Leben der Erzählerin einnimmt und in der Vergangenheit bzw. vor dem Zeitpunkt der Erzählung liegt.1049 Auf die Hinweise zur Existenz eines Rätsels und die Phasen der Reflexion und der Suche nach Erklärungen und Blockierung derselben folgt zum Ende der Erzählung die Auflösung des Rätsels in Form der Offenbarung des Verschwiegenen.1050 Brewer beschreibt dies wie folgt: »[T]he curiosity is resolved by providing enough information later in the text to allow the reader to reconstruct the missing event.«1051 Zwar ist es der Erzählerin nicht möglich, ihr Geheimnis in Anwesenheit des Toten auszusprechen, doch: »[W]enn es nicht erzählt wird, dann kann es aufgeschrieben werden. Auf ein Blatt Papier. Ich habe es schon des Öfteren versucht, auch früher schon. Ich habe […] mehrmals versucht, alles aufzuschreiben.« (T 58) Mit Blick auf die voranschreitende Zeit bzw. den näher rückenden Anruf des Arztes wird ihr bewusst, dass der gegenwärtige Morgen die letzte Gelegenheit bietet, sich in Anwesenheit des Sohnes zu offenbaren: »Mir läuft die Zeit davon. […] Der Spiralblock liegt auf dem Tisch […]. Wenn ich jetzt nicht alles aufschreibe, werde ich es wohl nie mehr tun. Wenn die Wohnung leer ist und mein Sohn nicht mehr im Nebenzimmer, kann ich alles nur noch mir selbst erzählen.« (T 62f.) So fasst sie den Entschluss: »Ich werde alles aufschreiben. Es besteht keine Gefahr mehr.« (T 36) An die Stelle der Auseinandersetzung mit dem verstorbenen Sohn rückt diejenige mit der 1046 1047 1048 1049 1050 1051

Vgl. Ruberg, Beredtes Schweigen. 1978, S. 16f. Brewer, The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading. 1996, S. 111–113. Wenzel, Zur Analyse der Spannung. 2004, S. 187–190. Vgl. ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 188–190. Brewer, The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading. 1996, S. 112.

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eigenen Vergangenheit, wobei das Jahrzehnte andauernde Schweigen doch gebrochen wird – es handelt sich somit nicht um ein andauerndes, sondern um ein temporäres Schweigen.1052 Gesamtheitlich betrachtet illustrieren die zitierten Textauszüge, dass das Schweigen in »Tagesanbruch« in erster Linie ein Gegenstand der Reflexionen und Kommentare der Erzählerin ist. Es wird nicht in der Figurenrede auf der Ebene der Geschichte (diegetische Ebene) hervorgebracht, sondern auf der Ebene der Erzählung, im Sinne von Uwe Ruberg mithin auf der programmatischen Ebene1053 berichtet. Es hängt dies mit dem dominierenden narrativen Modus zusammen. Indem die Schweige-Kommentare sukzessive aus dem Strom der Reflexionen hervortreten und als bedeutungsvolle Einheit erkennbar werden, konstituiert sich ein Negativ-Abdruck dessen, worüber Stillschweigen bewahrt worden ist: Die mehrfache Vergewaltigung der Erzählerin auf der Flucht, auf die eine Schwangerschaft folgt und das knappe Entkommen des Ehepaares vor dem Tod. So entpuppt sich das, was anknüpfend an die rekapitulierten Episoden zum Familienalltag fallen gelassen, erwähnt, wie nebenbei bemerkt und nachgeschoben wird, als der eigentliche Kern der Erzählung, um den sämtliche Erinnerungen kreisen (Erzählmotivierung). Dies wird umso deutlicher mit Blick auf Erzähldetails, die hinsichtlich der Gesamtkomposition ästhetisch bzw. kompositorisch motiviert sind. So berichtet die Erzählerin etwa von ihrem Aquarium, in dem vor der Erkrankung des Sohnes Fische gelebt haben, bis diese sich – aufgrund einer Infektion – gegenseitig aufgefressen haben, sodass im Aquarium zum Erzählzeitpunkt nur noch Wasserpflanzen leben (vgl. T 37, 45f.). Dem Nachbarskind erklärt sie das Fehlen der Fische folgendermaßen: »Im Meer sind ja auch nicht überall Fische. Fische sind mal hier und mal dort. Mein Aquarium ist gewissermaßen eine Stelle im Meer, wo zurzeit keine Fische sind, aber jeden Moment welche sein könnten.« (T 45f.) Weil zuvor »kleine, zarte, in den schönsten Farben leuchtende Fische« (T 36) im Aquarium gelebt haben (und Aquarien typischerweise für die Haltung von Fischen installiert werden) empfindet das Nachbarkind, dessen »erster Weg [bei Besuchen der alten Dame] zum Aquarium [führt], um zu schauen, ob die Fische zufällig gerade vorbeikämen« (T 46), ihr plötzliches Fehlen als enttäuschende Leere (vgl. ebd). Die Binnengeschichte spiegelt auf intradiegetischer Ebene, wovon die Erzählung auf extradiegetischer Ebene handelt (korrelative Verknüpfung): Vom Eintreten eines unerwarteten Unglücks, das alles zuvor Gewesene verändert, von enttäuschten Erwartungen und vom Versuch, mittels einer Erzählung eine erträglichere Wirklichkeitsversion zu kreieren. Eine ähnliche Art von Auslassung evoziert die Metapher des stillen Klaviers. Das Markenklavier, das sich das Ehepaar leistet als das Textilgeschäft genügend Einnahmen abwirft, 1052 Vgl. Schönwadt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 39. 1053 Ruberg, Beredtes Schweigen. 1978, S. 16.

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steht »schwarz lackiert und auf Hochglanz poliert […] meistens zugeklappt« (T 28f.) im Wohnzimmer. Die Hoffnung des Paares, dass der Sohn sich fürs Klavierspielen begeistert, erfüllt sich nicht, dennoch lässt es das Klavier »alle paar Jahre stimmen« (T 30). So steht das Instrument »festlich und zugleich nutzlos im Wohnzimmer herum[]. Wie ein Sänger im Frack, der keine Stimme mehr hat« (ebd.). Ähnlich dem in der Erzählung thematisierten Schweigen, das eine Absenz von Sprache bildet (pragmatisches Schweigen), erzeugt das spielbereite, doch nicht in Gebrauch genommene Klavier eine Absenz von Geräuschen (akustisches Schweigen).1054 Wo Klang ertönen könnte, herrscht Stille. So nehmen das leere Aquarium und das stille Klavier im Sinne Rubergs auf der Zeichenebene1055 der Erzählung die Rolle von Absenz-Markern ein, die das Motiv der Auslassung variiert inszenieren. Im Zusammenspiel mit dem erzählten Schweigen entsteht eine desolate, resignierte Erzählatmosphäre des Stillstands. Verstärkt wird dieser stilistische Effekt durch einfließende Andeutungen zum schweigenden Umgang der Familie mit der eigenen Kriegsschuld und deren Folgen. Weder über die Umstände des zweifelhaften Erhalts des polnischen Bauernhofes als ›Ausgleich‹ für den verlorenen Arm des Ehemannes – »Die warme Milch der Polen stand noch auf dem Herd, hat er später einmal gesagt. Das hat ihn bewegt […]. Dann hat er nie wieder darüber gesprochen« (T 13) – noch über die Kriegsgefangenschaft des Bruders der Erzählerin, der Kradfahrer gewesen ist, wird offen gesprochen: »Zehn Jahre Kriegsgefangenschaft in Russland, was soll man dazu sagen? Wir haben gar nichts dazu gesagt« (T 30). Deutlich wird, dass das Lebensgefühl der Familie von der Abwehr der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und von Sprachlosigkeit geprägt ist.

5.2.3 Schweigen über Störerfahrungen: Vermeidungs- und Verhüllungsstrategie Die bis in die erzählerische Gegenwart andauernde emotionale Betroffenheit der Erzählerin sowie ihr Schweigen über das Geschehene signalisieren, dass sie den gewaltsamen sexuellen Übergriff und die darauf folgende Todeskonfrontation als traumatische Erfahrung erlebt hat, mithin als »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt«1056. Sie berichtet, noch immer unter Angespanntheit

1054 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 35. 1055 Vgl. Ruberg, Beredtes Schweigen. 1978, S. 16. 1056 Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2020, S. 88.

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und Schlafstörungen zu leiden:1057 »Ich [habe] schon lange keine Nacht mehr geschlafen, ohne nicht wenigstens einmal hochzuschrecken.« (T 57) Es liegt nahe, dass sie nachts, wenn sie sich nicht mithilfe des In-Arbeit-Stürzens im Textilgeschäft ablenken kann (vgl. T 8, 77), von belastenden Erinnerungen an den Überfall in Gestalt von Alpträumen eingeholt wird. Auch ihr andauerndes Gefährdungsgefühl lässt sich als Symptom ihrer Traumatisierung lesen.1058 Täglich verspürt sie Angst, in ihrem Haus, in dem das Textilgeschäft ebenso wie der Wohnbereich der Familie untergebracht sind, überfallen zu werden. Zwar gesteht sie: »Ich weiß nicht, wovor ich mich fürchtete, es ist ja letztlich auch nie etwas vorgefallen in unserem Ladengeschäft. Kein Einbruch, kein Überfall, nichts.« (T 83) Dennoch beunruhigt es sie ungemein, dass in so ein Ladengeschäft […] jeder hereinkommen [kann], das ist ja schließlich der Sinn eines Ladens, dass er für jedermann geöffnet ist, […] aber […] wer den Laden betrat, der betrat unser Wohnhaus. Der brauchte nur seitlich an der Theke vorbei und durch das Lager zu gehen, und schon befand er sich auf dem Flur, von wo es […] in unser Schlafzimmer ging. Wer es darauf anlegte, war in ein, zwei Minuten in unserem Schlafzimmer […] mitten in unserem Leben. […] Für mich war sie [die Ladenklingel] […] ein Warnlaut. Achtung! Jemand hat das Haus betreten! (T 82f.)

Es ist offenkundig die Angst vor einer Wiederholung der Erfahrung des schutzlosen Ausgeliefertseins, aus der ihre übermäßige Wachsamkeit, mithin das Gefühl des Nicht-trauen-Könnens resultiert. Zudem offenbart sie, dass der Überfall nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch die Beziehung zu ihrem Ehemann beschädigt hat: »[S]eit diesem Tag im Januar 1945 [… sind wir uns] auf schmerzliche Weise fremd geworden, um nicht zu sagen: verloren gegangen. Miteinander verschweißt und füreinander verloren.« (T 72) Gesamtheitlich betrachtet stellt sie ihr Leben rückblickend als verfehlt dar – wollte sie doch Lehrerin statt Textilverkäuferin werden (vgl. T 16f.), hat sie das Gefühl des Fremdseins in Westfalen nie ganz verlassen (vgl. T 21f.), sind ihre Erwartungen an den Sohn, etwa dass er Klavierspielen (vgl. T 25, 27, 29, 78) und Gottesfürchtigkeit lernt, unerfüllt geblieben (vgl. T 34), ist schließlich ihr Mann an Diabetes (vgl. T 12) und sie an Brustkrebs erkrankt (T 63). So fällt die an der Seite des toten Sohnes gezogene Lebensbilanz ernüchternd aus: »Es ist im Grunde zu gar nichts gekommen, nur das Geschäft hat irgendwann geblüht, […]. Aber das war zugleich mehr, als wir uns überhaupt erhofft hatten.« (T 36) Das traumatische Ereignis hüllen die Eheleute fortan in Schweigen: Was soll ich darüber sagen? Was hätte ich darüber sagen können in den ganzen Jahren, die seitdem vergangen sind? Ich weiß es nicht. Ich wusste es noch nie. Also habe ich 1057 Vgl. zu Einzelsymptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18f. 1058 Vgl. ebd.

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geschwiegen. Wie mein Mann auch. Wir haben das, was wir miteinander erlebt haben, nicht nur vor allen anderen, sondern auch vor uns selbst verschwiegen. Als wären wir beide nicht dabei gewesen, bei unserem eigenen Unglück. (T 80f.)

Die Äußerung verdeutlicht, dass der kommunikativ-strategische Zweck des Schweigens in der Abwehr einer erneuten Vergegenwärtigung jener schmerzund schambesetzten Erfahrung sowie in der Gesichtswahrung der Eheleute liegt – es stellt erstens eine Vermeidungsstrategie dar.1059 Mit dem Aufbau einer neuen Existenz in Westfalen verknüpfen die Eheleute den Wunsch, die leidvollen und verstörenden Erfahrungen des Krieges hinter sich zu lassen und fortan ein möglichst normales (Familien-)Leben zu führen. Entsprechend halten sie dem Sohn das Wissen um die ungeklärte Frage nach der Vaterschaft zugunsten der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und, wie zu vermuten ist, aus Angst vor Konsequenzen wie der Sorge, dass ihr ohnehin instabiles Familienkonstrukt gänzlich zerbrechen könnte, vor.1060 In der Rolle von Geheimnisträgern halten sie dem Sohn die Existenz der Frage nach der ungeklärten Vaterschaft vor, sodass es ihm gegenüber die Form eines Verschweigens annimmt.1061 Es ist, weil es nicht bloß einen Rede-, sondern auch einen intentionalen Thematisierungsverzicht darstellt,1062 »Ausdruck der bewussten Zurückhaltung von Information und der (absichtlichen) Vermeidung von Kommunikation«1063. In diesem Sinne fungiert ihre Geheimhaltung zweitens als eine Verhüllungsstrategie.1064 Die Sinnlosigkeit der Preisgabe rechtfertigend, stellt die Erzählerin die äußerliche Ähnlichkeit zwischen dem Kind und ihrem Mann bzw. sich heraus: »Es war dunkelblond, hatte einen blassen Teint, ganz wie mein Mann […]. Den vollen Mund, die hohe Stirn und [… die] blauen Augen hatte es von mir. […] Niemand wäre je auf die Idee gekommen, dass wir nicht die gemeinsamen Eltern des Kindes waren.« (T 76) Im öffentlichen Diskurs nimmt das Schweigen der Eheleute drittens die Form eines Tabus an: Die Vergewaltigung von Frauen seitens der Alliierten zum Ende des Zweiten Weltkrieges werden aus Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung und Ausgrenzung in Deutschland lange Zeit kaum thematisiert.1065 Da dieser Aspekt in der Erzählung jedoch nur gestreift wird, findet er zugunsten der Re1059 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 80, 101. 1060 Vgl. ebd., S. 108–110. 1061 Vgl. Hartmann, Dietrich: Sprache und Tabu heute. Zur Überprüfung eines ethnologischen Begriffs auf seinen Nutzen für die Ethnographie von Industriegesellschaften. In: Schmitz, Schweigen. 1990, S. 124–136, hier: S. 141. 1062 Zur Unterscheidung von Schweigen und Verschweigen vgl. Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 44. 1063 Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 108. 1064 Ebd., S. 108–110. 1065 Vgl. Gebhardt, Miriam: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Schriftenreihe 1498. Bonn 2015: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 1–14.

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konstruktion des individuellen Gedächtnisses keine weitere Berücksichtigung (zum Konnex von Schweigen und Tabu vgl. Kapitel 4.2). Im Zentrum von »Tagesanbruch« steht nach Jensen die linkage-function [des Schweigens …], in both a positive or negative sense. That is, it can bind together people or it can severe relationships»1066: Verbindet es die Eheleute einerseits in der gemeinsam erfahrenen Erschütterung, isoliert es sie zugleich voneinander, da sich ein jeder vor dem anderen aufgrund der fortwirkenden Beschämung darin zurückzieht: Mein Mann, der, von einer Waffe bedroht und mit erhobener linker Hand, alles mit ansehen musste, die ganze Untat, was mir die größte Scham bereitete. Eine Scham, die mein ganzes zukünftiges Leben vorhalten sollte. [… ich würde] auch jetzt noch vor Scham innhalten. Als müsste ich mich auch noch vor dem Toten verbergen. So wie ich mich vor meinem Mann verborgen habe und er sich zugleich von mir. Zwei Beschämte, die nicht mehr zueinander fanden. (T 77)

Die rückblickend gezogene Lebensbilanz der Erzählerin offenbart, dass der Versuch, die schmerzhafte Vergangenheit schweigend von sich abzukapseln, misslungen ist. Vielmehr hat sie sich, »indem sie ein Leben lang schwieg, […] selbst verloren«1067. Es liegt dies zum einen daran, dass die traumatische Erfahrung als »Leerstelle in ihrer Erinnerung«1068 unverarbeitet geblieben ist, wie das Andauern der psychischen Symptome und das Bedürfnis der Erzählerin, sich dem Sohn noch zu offenbaren, bevor dieser aus ihrem Leben tritt, zeigen. Das Abspalten der Vergangenheit gelingt jedoch auch deswegen nicht, weil der Sohn die Erzählerin über seine Lebensspanne hinweg an das traumatische Ereignis erinnert. Er fungiert in persona als Schlüsselreiz bzw. symbolisierender Auslöser von belastenden Erinnerungen an das Trauma.1069 So ist es der Erzählerin erst nach dessen Tod möglich, preiszugeben, dass sie den Sohn nicht uneingeschränkt hat lieben können, obwohl er trotzdem mein Kind war. Mein eigen Fleisch und Blut. Und dass alles andere meiner Liebe zu ihm doch keinen Abbruch tun dürfte. Was aber nicht der Wahrheit entsprach. Es tat meiner Liebe einen Abbruch. Ganz plötzlich konnte meine Liebe ins Rutschen geraten. Rutschte in die Hölle von Konin. Alles war wieder da, wenn ich das Kind betrachtete: die Kälte, der gefrorene Schnee, das dürre Birkenwäldchen und schließlich mein Mann, der […] alles mit ansehen musste. (T 76f.)

Für den Wunsch nach einem ›normalen‹ Familienleben zahlt sie einen hohen Preis: Ein Lebensgefühl, das seit ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr von 1066 Jensen, Vernon: Communicative Functions of Silence. ETC: A Review of General Semantics 30, 1973, H. 3, S. 249–257, hier: S. 249. 1067 Kegel, Sandra: Der stumme Akkord. Frankfurter Allgemeine Zeitung 126 vom 02. 06. 2016. Literatur, S. 12. 1068 Ebd. 1069 Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18.

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Scham, Zweifeln und Vergangenheitsverdrängung begleitet wird. Aus erzähltheoretischer Sicht fällt zudem auf, dass die Erzählerin im ersten Teil der Erzählung zu keinem Zeitpunkt aus der Perspektive des erinnernden Ichs in die Perspektive des erinnerten Ichs wechselt. Sie reflektiert und bewertet die Vergangenheit ausschließlich vor dem Wissenshorizont der erzählerischen Gegenwart. So wird das Andauern der psychischen Verstörung auch auf der Darstellungsebene als gravierende Zäsur inszeniert – hätten sie und ihr Ehemann seither doch »nichts [mehr gehabt], was nicht kaputt gegangen war« (T 33) –, als schier unüberwindbarer Bruch in ihrer Lebenslinie, da eine Ankopplung des erzählten Ichs an das erzählende Ich (noch) nicht möglich ist.

5.2.4 Narrative Traumabewältigung. Erzählen als Mittel der Selbstkonstitution Wird im ersten Teil von »Tagesanbruch« inszeniert, dass die Erzählerin über Jahrzehnte hinweg ein Geheimnis gehütet hat und wie ihr Entschluss sukzessive reift, es doch noch preiszugeben, steht im zweiten Teil die Darstellung des Verschwiegenen im Zentrum. Hinsichtlich der Erzählstruktur und -dynamik weicht die Rekapitulation des traumatischen Ereignisses deutlich von der Widergabe der übrigen Erinnerungen und Reflexionen ab. So setzt sich der summarischberichtende Erzählerkommentar (erster Teil) aus sich assoziativ einstellenden Eigenschaftsbeschreibungen wie: »Aus dir ist ja trotzdem etwas geworden. Beruflich gesehen. Akademischer Rat. Was auch immer das genau ist« (T 38), sowie Zustandsbeschreibungen wie: »Wer hat schon Zeit gehabt damals, im Wohnzimmer herumzusitzen. Wir jedenfalls nicht. […] Wir mussten uns um das Geschäft kümmern« (T 8), zusammen – mithin aus statischen Motiven. So wird zwar das erstarrte Lebensgefühls der Erzählerin inszeniert, es entsteht jedoch keine Handlung bzw. Geschichte im engeren Sinne. Dieser Eindruck wird durch das stark verringerte, teils pausierende Erzähltempo, das kontinuierliche Paraphrasieren des Schweigen-Müssens bzw. nicht Reden-Könnens sowie bildhafte Vergleiche im Assoziationsradius von Leere und Stille verstärkt. Im Unterschied dazu wechselt die Erzählerin bei der Darstellung ihrer traumatischen Erfahrung aus der Perspektive des erzählenden bzw. erinnernden Ichs in die Perspektive des erlebenden, erinnerten Ichs: »Drei Russen haben meinen Mann aus dem Treck geholt. Mit vorgehaltener Waffe. Und ich bin sogleich mitgegangen. […] bin ganz dicht neben ihm gegangen […] mit erhobenen Armen, die mir schwer wurden. […] ich sorgte mich um meinen Mann [… hatte] Todesangst.« (T 65f.) Chronologisch und unter Berücksichtigung von Angaben zur Zeit wie »es war ein kalter Januartag« (T 66) und zum Ort des Geschehens wie »ich kann mich an Birken erinnern […] in diesem Wäldchen in der Nähe von Konin« (T 66f.), erzählt sie, wie sich der Übergriff ereignet hat:

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Plötzlich [wurde ich] mit dem Kopf in den […] gefrorenen Schneematsch gedrückt […]. Ich hatte Schnee im Mund, in den Augen und in der Nase, sodass ich wenig Luft bekam. Zugleich hörte ich Stimmen hinter mir, es mussten die anderen beiden Soldaten sein, […] dann hörte ich nichts mehr oder wollte nichts mehr hören, fühlte nur noch, wie sie an meinen Kleidern rissen, und dann diesen Schmerz, die Nässe, die Kälte und immer wieder den Schmerz. (ebd.)

Bei der Darstellung der im Anschluss an die Vergewaltigung angedrohte Erschießung, die sich über vier Seiten erstreckt, erzeugt die Erzählerin sogar einen Spannungsbogen: »Irgendwann verschärfte sich der Ton zwischen den dreien. […] Ich wusste sofort, worüber sie sich geeinigt hatten. […] Der Soldat trieb uns weiter […] bergab, in eine Art Senke […]. Ich dachte daran, jetzt zu beten […]. Doch bevor […] ertönten zwei Schüsse.« (T 68f.) Zudem teilt die Erzählerin ihre die Ereignisse begleitenden Emotionen und Sinneseindrücke (Ereignisdetails) mit: Sie sieht den Schnee vor ihren Augen, verspürt Schmerzen und Scham und wünscht sich, ihren Mann vor der Erschießung noch einmal berühren zu dürfen (vgl. T 70). Auf diese Weise tritt der gegenwärtige Wissenshorizont in den Hintergrund, wobei der Grad der Mittelbarkeit abnimmt. Es sind sogenannte field memories wie »Stumm und blind stand ich in diesem Wäldchen […] im Schnee und wartete. Worauf ich wartete, weiß ich nicht. […] Ich wusste, ich war wach und was ich erlebte, war real« (T 67f.), die an die Stelle der zuvor dominierenden observer memories treten und einen Eindruck von Lebendigkeit und Nähe bzw. eines nahezu szenischen Erzählens erzeugen.1070 So ist die Darstellung der traumatischen Ereignisse in Gänze betrachtet durch einen hohen Grad an Narrativität gekennzeichnet.1071 Die Erzählerin ist, sobald sie sich auf den Erzählprozess eingelassen hat, fähig, auf heiße ebenso wie auf kalte Inhalte ihres Gedächtnis zuzugreifen – eine Erinnerungsblockade hat sich nicht eingestellt bzw. ihre Gedächtnisfunktion ist intakt.1072 Entsprechend gelingt es ihr, »eine räumliche

1070 Vgl. zur Unterscheidung von field memories und observer memories bzw. Feld- und Beobachtererinnerungen Schacter, Wir sind Erinnerung. 2001, S. 45. 1071 Vgl. zum diskursiven Umgang mit traumatischen Erfahrungen die Studie von Deppermann/Lucius-Hoene. Die Autoren schlagen vor, zur systematischen Analyse der Betroffenheit durch das Trauma, seiner subjektiven Interpretation und seiner Relevanz für die soziale Selbstpositionierung und -beziehungsgestaltung vier Ebenen zu differenzieren: (1) die Darstellbarkeit des traumatischen Erlebnisses überhaut (2) die Darstellung subjektiver Beteiligung und Agency in der Situation des traumatischen Erlebnisses (3) die Darstellung emotionaler Betroffenheit in der Erzählzeit und (4) die Verhandlung selbstund fremdbezogener moralischer Aspekte des Traumas (wie Schuld und Scham). Vgl. Deppermann/Lucius-Hoene, Trauma erzählen. 2005, S. 35–73. 1072 Vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 330f.; vgl. Metcalfe/Jacobs, A ›Hot-System/Cool-System‹ View of Memory Under Stress. 1996, S. 1–3; vgl. Brewin, A Cognitive Neuroscience Account of Posttraumatic Stress Disorder and its Treatment. 2001, S. 373–393.

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Verortung und zeitliche ›Vergeschichtlichung‹«1073 der Ereignisse vorzunehmen und diese ergänzt um ihre subjektive Erlebensperspektive zu einer kohärenten Ereigniskette zu verknüpfen.1074 Mit Blick auf ihre Handlungs- bzw. Erleidensbeteiligung (reduzierte Agency) wird deutlich, dass sie sich als Opfer bzw. als Objekt von Prozessen darstellt, die sich unerwartet eingestellt haben:1075 »[I]ch [wurde] plötzlich mit dem Kopf in den Schnee [gedrückt]« (T 66), und auf die sie keinen Einfluss hat nehmen können: »Bei der kleinsten Bewegung auf meinen Mann zu brüllte der Soldat mit wütender Stimme los […] ich rückte von meinem Mann ab.« (T 69) Indem sie hervorhebt, dass ihre vorausschauenden Einwände gegen das Vorhaben des Ehemanns, sämtliche persönliche Dokumente gesammelt in einer Tasche aufzubewahren, unberücksichtigt geblieben sind – »Ich war gleich dagegen gewesen […]. Aber mein Mann hatte darauf bestanden […] und ich hatte mich schließlich gefügt« (ebd.) – und ihnen die Tasche von den Soldaten abgenommen wird, wodurch ihre »wichtigsten Papiere […] für immer verloren sind: unsere Geburtsurkunden, die Heiratsurkunde, das Postsparbuch« (T 84), unterstreicht sie ihre Hilflosigkeit gegenüber dem Geschehensverlauf und schreibt ihrem Mann eine Mitschuld zu. Zudem zeichnet sie sich auf der Suche nach Gründen für das Geschehen mitverantwortlich:1076 »Warum [wir aus dem Treck geholt wurden], wusste ich nicht. Alle anderen aus unserem Treckabschnitt konnten ungehindert weiterziehen. Vielleicht weil [… mein Mann] ein ehemaliger Wehrmachtsangehöriger und [ich] eine junge und hübsche Frau [war].« (T 63) Auch relativiert sie die Schuld des älteren Soldaten: »Der gute Soldat, der Vergewaltiger, der uns nicht umgebracht, sondern in die Luft geschossen hatte und demgegenüber ich jetzt Dankbarkeitsgefühle verspürte.« (T 72) Auch ihre Einordnung des Überfalls in das allgemeine Kriegsgeschehen trägt zur Entdramatisierung des Vorfalls und Entschuldung der Rotarmisten bei: »Ich weiß, dass alles mit allem zusammenhängt. Alles Schlimme mit allem Schlimmen.« (T 64) So ist ihr eine eindeutige moralische Verurteilung der Soldaten als schuldhafte Täter nicht möglich. Über die Darstellung der traumatischen Ereignisse hinaus ist die Erzählerin in der Lage, die Erfahrungen mit Blick auf ihre Lebensgeschichte zu evaluieren bzw. darin einzubinden.1077 Mehrfach stellt sie heraus, dass der gewaltsame Übergriff ihr Leben zerstört hat: »Spätestens seit die drei Russen auftauchten, gab es kein Gleichgewicht mehr. Für mich nicht. Und für meinen Mann auch nicht« (T 64), und dass die Zweifel an der Vaterschaft des Sohnes ihren Mann und sie »bisweilen aufzufressen drohten« (T 77). So 1073 Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 329; vgl. Deppermann, Agency in Erzählungen. 2015, S. 64–75. 1074 Vgl. Scheidt/Lucius-Hoene, Kategorisierung und narrative Bewältigung. 2015, S. 26–38. 1075 Vgl. Deppermann/Lucius-Hoene, Trauma erzählen. 2005, S. 62–68. 1076 Vgl. Scheidt/Lucius-Hoene, Kategorisierung und narrative Bewältigung. 2015, S. 26–38. 1077 Vgl. ebd.

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kategorisiert sie das Erlittene als katastrophalen Schicksalsschlag, als »Schrecken« (T 13), der sie in ihrer Selbsteinschätzung, ein »furchtsamer Mensch« (T 52) zu sein, »seit dem Krieg erst recht« (T 82), bestätigt. Deutlich wird, dass das Erinnern und Erzählen der traumatischen Erfahrungen eine wirklichkeits- und identitätskonstituierende sowie eine Bewältigungsfunktion erfüllt:1078 Durch die Unterscheidung zwischen erinnerndem Ich (schreibendes Ich) und erinnertem Ich (Akteur der Geschichte), erzeugt sie narrativ eine Distanz zu den Ereignissen und erlebt sich zum ersten Mal als eine über die Zeit hinweg beständige Person.1079 In der Handlungsrolle der gestaltenden Erzählerin, die die Ereignisse erinnert, spannungsvoll ordnet und validiert, wechselt sie aus der Position des passiven, fremdbestimmten Opfers (Patients) in eine aktive Rolle (Agens) und gewinnt eine gewisse Kontrolle bzw. Souveränität über das Erlebte zurück.1080 So kann sie »im weitesten Sinne […] durch die Aktivität des Erzählens ein Stück verlorengegangener Autonomie [… wiederherstellen]«1081. Das Medium der Schrift, das sich durch seine intime und zugleich öffentliche Dimension zwischen Reden und Schweigen einordnen lässt, bietet der Erzählerin einen »geschützten Raum«, innerhalb dessen sie ihre Version der Geschichte frei vom Anpassungsdruck, der mit interaktionalen kommunikativen Aushandlungsprozessen der Familie und der etablierten gesellschaftlichen Diskursordnung einhergeht, offenbaren kann.1082 Erleichtert, dass sie »alles aufgeschrieben [hat]. Auch wenn die Hand zittert. Auch wenn es nur ein paar Seiten in [… einem] Spiralblock sind (T 84), ruft sie abschließend den Arzt an.

5.2.5 Fazit Im Zentrum der Erzählung »Tagesanbruch« steht ein Verschweigen, das in Form einer Rückwende inszeniert und erst nach Jahrzehnten gebrochen wird. Es verhüllt eine traumatische Erfahrung der Ich-Erzählerin, die sie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlitten hat: Ihre dreifache Vergewaltigung auf der Flucht aus Ostpreußen und eine vermutlich aus dem Übergriff resultierende Schwangerschaft. So nimmt das Schweigen mit der mutmaßlichen Zeugung des Sohnes an einem kalten Januartag 1945 und der daraus resultierenden Verstörung der Er1078 Vgl. ebd. 1079 Vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 328; vgl. Boothe, Das Narrativ. 2011, S. 73–83. 1080 Vgl. ebd. 1081 Scheidt/Lucius-Hoene, Kategorisierung und narrative Bewältigung. 2015, S. 27. 1082 Vgl. Assmann, Aleida: Die transformative Kraft der Sprache. Reden und Schweigen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. Acta Germanica: German Studies in Africa. Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika 39, 2011, H. 1, S. 105–116, hier: S. 107.

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zählerin seinen Anfang. Erst mit dem Tod des Sohnes, der sich vermutlich Mitte der 1990er oder 2000er Jahre ereignet, gibt die Erzählerin ihr Geheimnis preis, wobei der selbstreflexive Erzählprozess ihre psychische Entstörung einleitet. Das Niederschreiben ihrer Geschichte hat einen therapeutischen, mithin stabilisierenden Effekt. Im Erzählprozess gelingt es ihr, ihre damals erzwungene fremdbestimmte Position anzuerkennen und den gewaltsamen Übergriff als folgenreiche Zäsur in ihre persönliche Erfahrungsgeschichte einzubinden. Da der Gegenstand des Erinnerns die Annäherung an eine höchst emotionale individuelle Lebenserfahrung ist bzw. »das Wenige, was aber für [… sie] alles ist« (T 64), erfolgt die Reinszenierung mittels personal voice – Erinnern und Erzählen wirken in diesem Falle als Mittel zur Bestätigung der vergangenen Ereignisse und zur individuellen Sinnstiftung.1083 Nur am Rande findet Erwähnung, dass das schambesetzte Thema der Vergewaltigung von deutschen Frauen durch sowjetische Alliierte in der deutschen Öffentlichkeit tabuisiert wird. Entsprechend referiert die Darstellung primär auf eine Auslassung im kommunikativen Gedächtnis der Familie.1084 Da zentrale biographische Aspekte der Erzählerin in der erinnernden Rückschau auf der diegetischen Ebene hervorgebracht werden, lässt sich »Tagesanbruch« der Gattung der fictions of memory bzw. dem Gedächtnisroman zuordnen, wobei das Anliegen der Erzählerin darin besteht, ihre Lebensgeschichte an der Seite des toten Sohnes zum ersten Mal überhaupt offenzulegen.1085 Aus diesem Grund werden Aspekte wie die Brüchigkeit bzw. Unvollständigkeit des Erinnerns auch nicht thematisiert. Die Erzählung illustriert in Gänze betrachtet, dass das Verschweigen auf der Handlungsebene lediglich die Illusion eines stabilen Familienkonstrukts aufrechthält. Es verzögert die Auseinandersetzung der Erzählerin mit der Leiderfahrung und deren Integration in ihre Lebensgeschichte. Mithin verwandelt das jahrzehntelange Schweigen über die traumatische Erfahrung einen Großteil (Zweidrittel) ihrer Lebenspanne in eine biographische Leerstelle. Für die Entwicklung eines stabilen Selbstverständnisses offeriert es damit weniger eine Möglichkeit als vielmehr einen Mangel.1086 Auf der Darstellungsebene hingegen entfalten die Schweige-Marker und die kontinuierliche Verzögerung der Preisgabe des Verschwiegenen als Mittel der Spannungserzeugung in der Verlaufsform der Rätselspannung1087 1083 Susan Lanser schlägt vor, zwischen personal voice, communal voice (kollektiven Stimme) und authorical voice (normative Aussagen im Sinne einer verbindlichen kulturellen Sinnstiftung) zu unterscheiden. Vgl. Lanser, Fictions of Authority. 2018, S. 18–21; vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 170. 1084 Vgl. Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 9–19; vgl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. 2008, S. 14. 1085 Vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 137; vgl. Gansel, Die »Grenzen des Sagbaren überschreiten«. 2009, S. 19–38. 1086 Vgl. Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 44. 1087 Wenzel, Zur Analyse der Spannung. 2004, S. 187–190.

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch (2016)

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Wirkung. Auch im weitgehenden Pausieren (Stillstand) der erzählten Zeit im ersten Teil, in der Konzentration auf statische Motive und der Einbindung atmosphärischer Erzähldetails im Assoziationsbereich von Leere und Stille wird das zentrale Moment der Erzählung, die Auslassung, inszeniert.

6.

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Im Unterschied zu den vorangegangenen nehmen die Analysen im vierten Textcluster das Schweigen vorrangig aus der Perspektive seiner Rezipienten in den Blick. Gila Lustiger und Ute Scheub thematisieren in ihren Erzähltexten die Ambivalenz eines Schweigens, das von der Strategie einer schützenden Abwehr unverarbeitet gebliebener traumatischer Erfahrungen zum Mechanismus der Aktualisierung derselben gerät. So erzählt Gila Lustiger von einer jüdischen Vaterfigur, die den Holocaust überlebt und ihre Überwältigungserfahrungen von Deportation, Konzentrationslager und Todesmarsch mittels Schweigen emotional auf Abstand zu halten sucht, wobei das Nicht-Erzählen auch darauf abzielt, der nachfolgenden Generation ein möglichst unbeschwertes, von jenen Erfahrungen unbeeinflusstes Aufwachsen zu ermöglichen. Ute Scheub hingegen inszeniert die Familie eines ehemaligen SS-Mitgliedes und fanatischen Anhängers der NS-Rassenideologie, dessen defensives Schweigen1088 über die Verstrickung im Zweiten Weltkrieg in erster Linie ein Verschweigen von schuldhaftem Tun sowie Ausdruck der Weigerung ist, die in der Zeit des Zweiten Weltkrieges angeeignete Wertvorstellung aufzugeben. Beide Erzähltexte illustrieren, dass sich die Folgen des Erlebens traumatischer Erfahrungen nicht allein auf die Betroffenen beschränken, sondern – und dabei spielt das Schweigen als Modus der Transmission eine zentrale Rolle – auch nachfolgende Generationen beeinflussen und zum Auslöser von Familienkonflikten geraten können. Steht bei Gila Lustiger das reziproke Schonen durch Schweigen der Angehörigen einer Opferfamilie des Holocaust und die unbewusste Identifikation der Tochter mit den leidvollen Erfahrungen ihres Vaters im Zentrum (Transposition), fokussiert Ute Scheub das defensive Schweigen eines NS-Täters bzw. dessen Nicht-Anerkennung von persönlicher Schuld sowie die übermäßig stark ausgeprägte Schuld- und Schambereitschaft seiner Tochter (Gefühlserbschaft, projektive Identifizierung). So bilden gerade jene Erfahrungen, die die Töchter selbst nicht erlebt haben, ihnen jedoch auf latente Art und Weise in der familialen Kommunikation ver1088 Vgl. Bar-On/Gilad, Auswirkungen des Holocaust auf drei Generationen. 1992, S. 20.

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mittelt worden sind, die zentralen Bezugspunkte ihrer Entwicklung. Ihre rückwärtsgewandte Suche nach der Vergangenheit ihrer Väter wird von den dunklen und schmerzhaften Geheimnissen geleitet, die aus dem kommunikativen Gedächtnis der Familien getilgt worden sind – wenngleich aus diametral entgegengesetzten Motiven.

6.1

Gila Lustiger: So sind wir (2005)1089

6.1.1 Einleitung Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren, studierte in Jerusalem Germanistik und Komparatistik; heute lebt und arbeitet sie als Autorin, Übersetzerin und Lektorin in Paris.1090 Wie Maxim Biller, Robert Schindel, Barbara Honigmann und Irene Dische gehört Gila Lustiger jener deutsch-jüdischen Schriftstellergeneration an, die die NS-Verfolgung bzw. den Holocaust nicht selbst erlebt hat und deren Zugang zu dieser Zeit im Unterschied zu demjenigen der Überlebenden vermittelt ist.1091 Wiederkehrender Gegenstand ihrer Texte ist der Themenkomplex der jüdischen Herkunfts- und Identitätskonstituierung, zu dem insbesondere »der in die Familiengeschichte eingebettete Konflikt zwischen der ersten und zweiten Generation, die Opfer- und Täterrollen, die AutorIdentität, das Fremd- und Heimischsein im heutigen Europa«1092 gehören. Auch in Lustigers 2005 erschienenen Roman »So sind wir«, mit dem ihr im selben Jahr eine Platzierung auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelang, sind »Autobiographie, Familiengeschichte und Israelbezug deutlich miteinander verknüpft«1093. Darin schlägt sich auch ihr Literaturverständnis nieder, das die Autorin in dem Essay »Einige Überlegungen zur Lage der jüdischen Autoren in Deutschland« darlegt. So liege das Potential von Literatur darin, »aus der Distanz,

1089 Die folgenden Ausführungen sind unter dem Titel »Zum Schweigen als Medium der transgenerationellen Übertragung von historischer Erfahrung und seelischer Verletzung in Gila Lustigers ›So sind wir‹ (2005)« veröffentlicht worden in Ächtler/Heidrich/Fernández Pérez/Porath, Generationalität, Gesellschaft, Geschichte. 2021, S. 435–461. 1090 Vgl. Rauscher, Anna: Eintrag »Lustiger, Gila«. Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Letzter Zugriff am 25. 02. 2020). 1091 Vgl. Hessing, Jakob: Aufbrüche. Zur deutsch-jüdischen Literatur seit 1989. In: Horch, Hans (Hrsg.): Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Berlin/Boston 2016: de Gruyter Oldenbourg, S. 244–269, hier: S. 245. 1092 Schlosser, Jan: Von der »Zwischenzeit« zur »Zwischenidentität«. Zu Gila Lustigers Romans So sind wir. Literatur im Unterricht 8, 2007, H. 1, S. 1–18, hier: S. 4. 1093 Hessing, Aufbrüche. 2016, S. 256.

Gila Lustiger: So sind wir (2005)

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die das Schreiben schafft, über das Geschehene [zu] reflektier[en]«1094, wobei Lustiger betont, dass ihr Selbstverständnis als jüdische Schriftstellerin untrennbar mit dem Holocaust verbunden ist: »Es wäre naiv zu glauben, wir schreiben in einen luftleeren Raum hinein, losgerissen von Tradition, Kultur und der politischen Realität, die uns umgibt. […] der jüdische Schriftsteller […] erzählt unter der Berücksichtigung seiner kollektiven Geschichte.«1095 Aus dem historischen Ort ihres Schreibens resultiere auch das ihr Schreiben prägende Erinnern, für das die Autorin in die Rolle einer Chronistin schlüpfe, die »rückwärts voranmarschierend […] die Zukunft [ignoriert]«1096 und »Geschichten, Fakten, Bruchstücke von Geschichten und Fakten, Angaben, Rechnungen, Aufzählungen, Fälle, Belange, Untersuchungen, Listen, Bloßstellungen, Beschuldigungen, Verstöße, Nachweise […] mühsam zusammen[trägt]«1097. Die Beobachtung, dass »mit solch einer Strategie weder ein geschlossenes stimmiges Weltbild entstehen kann, noch ein fugenloses, maßvolles Werk«1098, trifft auch auf den Roman »So sind wir« zu, der die psychischen Nachwirkungen der Erfahrung des Holocaust in einer jüdischen Familie zum Thema macht. In dem zweiteiligen Text werden Erinnerungsbruchstücke, Familienanekdoten und historische Daten mit Imaginiertem amalgamiert, sodass entsteht, was der Untertitel ankündigt: ein Familienroman. Entsprechend der Gattungsspezifik des Familien- bzw. Generationenromans nimmt auch die weibliche Ich-Erzählinstanz von »So sind wir« eine genealogische Verortung mit dem Ziel der »Integration des eigenen Ichs in einen größeren Familien- und Geschichtszusammenhang«1099 vor, wobei der Zeithorizont im Kern zwei Generationen umfasst. Den Ausgangspunkt der Suchbewegung bildet eine Störung in der Erzählgemeinschaft der Familie, insbesondere zwischen der Figur des jüdischen Holocaust-Überlebenden und Familienvaters Arno Lustiger und seiner ältesten Tochter Gila, aus deren Nachgeborenen-Perspektive die Geschichte auch erzählt wird. Manifest wird die Störung vor allem in der ausbleibenden sprachlichen Vermittlung der Überwältigungserfahrungen des Vaters, wobei sich das Schweigen über die Vergangenheit als Dreh- und Angelpunkt des Erzählens ebenso wie des autobiographischen Erfahrungshorizonts der Autorin entpuppt. Darauf deuten neben der Namensgleichheit von Autorin und Erzählinstanz im 1094 Lustiger, Gila: Einige Überlegungen zur Lage der jüdischen Autoren in Deutschland. In: Hinderer, Walter (Hrsg.): Altes Land, neues Land. Verfolgung, Exil, biografisches Schreiben. Texte zum Erich Fried Symposium 1999. Zirkular Sondernummer 56. Wien: Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur 1999, S. 50–53, hier: S. 50. 1095 Ebd. 1096 Ebd., S. 51. 1097 Ebd. 1098 Ebd. 1099 Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007: C.H. Beck, S. 73.

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Sinne von Philippe Lejeunes »autobiographischem Pakt«1100 auch Übereinstimmungen in der Geschichte der Erzählerin und der Biographie der Autorin sowie die Situierung der fiktiven Romanhandlung in die reale Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts hin. Den Eindruck, dass »So sind wir« ungemein dicht an der empirischen Wirklichkeit konstruiert ist, bestätigte Lustiger bei einer Lesung im Jahr 2018. Dort kam sie auf die Beziehung zu ihrem Vater, dem jüdischen Holocaust-Überlebenden und Historiker Arno Lustiger und den schweigenden Umgang ihrer Familie mit dessen schmerzhafter Vergangenheit zu sprechen: Mein Vater hat sehr lange geschwiegen. Und uns hat er auf jeden Fall nichts erzählt. […] Wir [Kinder] hätten die Möglichkeit gehabt, zu fragen, das thematisiere ich […] auch [in diesem Buch]. Hätte ich gefragt, hätte mein Vater mir geantwortet. […] Er hat geschwiegen, um uns zu beschützen und ich hab’ geschwiegen, um ihn zu beschützen, weil ich ihn nicht wieder ins Lager bringen wollte und sehr wahrscheinlich auch, weil ich […] mir meine Kindheit nicht versauen wollte. Also, ich bin ja in Frankfurt aufgewachsen.1101

Der als Rückwende inszenierten Suchbewegung der Erzählerin nach dem aus der Kommunikation der Familie Getilgten folgend, geht es folgend darum, die Ursachen und die Gestalt des Schweigens nachzuvollziehen und die Formen seiner Rezeption und narrativen Inszenierung herauszuarbeiten. Dabei werden die erzähltheoretischen Ausführungen um psychoanalytische Ansätze ergänzt, um einzuordnen, inwiefern das Schweigen als Medium der transgenerationellen Übertragung von historischer Erfahrung und seelischer Verletzung fungiert.1102 Die auffällige Schnittmenge von autobiographischer Lebensgeschichte der Autorin und inszenierter Familiengeschichte aufgreifend, wird abschließend die Funktion der zwischen Faktualem und Fiktionalem changierenden Erzählstrategie diskutiert.

6.1.2 Holocaust, Trauma, Generation Wir waren und sind eine Familie, die schonend über die Vergangenheit schweigt. Nirgends wurde und wird so schonend und beschützend über die Vergangenheit geschwiegen wie bei uns. Ich habe dennoch schon als Kind […] gefühlt und daher gewusst, 1100 Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994: Suhrkamp. 1101 Bernd Rauls im Gespräch mit Gila Lustiger: »Gila Lustiger: So sind wir«. Stiftung Demokratie Saarland. Lesung vom 10. 09. 2018, 1:09:10, hier: 1:04:09–1:04:57. (Letzter Zugriff am 23. 03. 2020). 1102 Der Begriff intergenerationell betont die wechselseitige Interaktion zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Generationen, der Begriff transgenerationell akzentuiert den vergleichsweiche passiven Rezipientenstatus der nachkommenden Generationen. Vgl. Rosenthal, Fragestellung und Methode. 1999, S. 11.

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wovor mein Vater uns hat beschützen wollen und wovor er uns zeitlebens wird zu beschützen versuchen – vor sich selbst. […] nicht vor dem Mann, der er nach all den Jahren harter und disziplinierter Verdrängungsarbeit geworden war, sondern vor seinem ärgsten Feind […] den er fünfzig Jahre bekämpft hat […], vor dem ausgemergelten Jungen im KZ. (SW 68)

Mit diesen Worten fasst die Erzählinstanz, eine Frau Mitte Vierzig, das Resultat ihrer Suche nach dem Eigentümlichen ihrer Familie, ihrem signifikanten Charakteristikum zusammen: Es ist das Schweigen, das seit Jahrzehnten zwischen der Generation ihrer Eltern und ihrer eigenen grassiert und das, wie sie einräumt, ihr Aufwachsen geprägt hat. Dem auf den ersten Blick paradox erscheinenden Befund, dass »obwohl im Schweigen an sich nichts Konkretes repräsentiert ist, […] darin dennoch etwas Abwesendes als massiv anwesend erfahren [wird]«1103, dass das Schweigen mithin ein enges Band zwischen den Generationen bilden kann, wird folgend nachgegangen. Dazu lohnt es, den Blick zunächst auf das Verschwiegene sowie die Schweigeursachen zu richten. Es sind Schlüsselwörter aus dem zitierten Resümee wie ›beschützen‹, ›Verdrängungsarbeit‹ und ›KZ‹, die das aus dem kommunikativen Gedächtnis der Familie Ausgeklammerte konturieren.1104 Die an dieser und anderen Stellen in der Erzählung eingestreuten Hinweise zusammensetzend, wird das Verschwiegene als Leidensgeschichte des jüdischen Vaters erkennbar, der im Alter von fünfzehn Jahren von den Nationalsozialisten in Polen deportiert wird, in der Folge mehrere Konzentrationslager und Todesmärsche überlebt und dem gegen Kriegsende die rettende Flucht gelingt (vgl. SW 54–60, 148–152). Nach dem Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association (APA) wird eine Serie von verstörenden Einzelereignissen wie diese, die für die Betroffenen von anhaltender Todeskonfrontation und geringer Vorhersagbarkeit des weiteren Geschehens gekennzeichnet ist, als traumatisch klassifiziert.1105 Es ist hervorzuheben, dass willentlich durch Menschen verursachte Traumata bzw. man-made disasters1106, die zeitlich länger andauern, sogenannte »Typ II-Traumata«, vielfach stärker beeinträchtigende und chronischere psychische Folgen bei den Betroffenen hervorrufen als andere Trauma-Typen.1107 Weiterhin unterscheidet 1103 Bohleber, Werner: Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewußtsein. In: Ders./Straub, Jürgen (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2. Frankfurt/ M. 1998: Suhrkamp, S. 256–274, hier: S. 260. 1104 Vgl. zum Begriff kommunikatives Gedächtnis Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 9–19; vgl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. 2008, S. 14. 1105 Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 15. 1106 Leuzinger-Bohleber, Marianne/Roth, Gerhard/Buchheim, Anna: Trauma im Fokus von Psychoanalyse und Neurowissenschaften. In: Dies. (Hrsg.): Psychoanalyse – Neurobiologie – Trauma. SFI Hanse Wissenschaftskolleg. Stuttgart 2008: Schattauer, S. 3–18, hier: S. 7. 1107 Vgl. ebd.

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die Psychotraumatologie zwischen dem traumatischen Potential objektiver Ereignisse (A1-Kriterium) und der subjektiven Verarbeitungsfähigkeit bzw. der individuellen Vulnerabilität der Betroffenen (A2-Kriterium).1108 Die Psychoanalytiker Gottfried Fischer und Peter Riedesser definieren die traumatische Erfahrung als »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt«1109. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Überwältigungserfahrungen, die die Vaterfigur im Jugendalter erlitten hat, als Typ II-Traumata klassifizieren. Ein konzeptioneller Abgleich der Innenwelt der Figur mit der traumatischen Erfahrung legt nahe, dass die Figur die Ereignisse auch als ›vitale Diskrepanzerlebnisse‹ empfunden hat. So deuten die Beobachtungen der Erzählinstanz, dass der Vater »über seine Vergangenheit nicht reden [kann]« (SW 37), dass dieser sich selbst, »seine[n] ärgsten Feind […] fünfzig Jahre bekämpft [hat]« (SW 68) und seinen Töchtern »nie sein Kindergesicht [hat] sehen lassen« (ebd.), wenn diese auch »zeitlebens [danach] gesucht […] haben« (ebd.), darauf hin, dass der Vater als traumatisierte Figur konzipiert ist, deren »Fähigkeit […], die Kernerfahrung des Traumas zu erzählen, [gestört ist]«1110. So sucht die Figur noch mit einem zeitlichen Abstand von fünfzig Jahren zu den Geschehnissen den von Hilflosigkeit, Leid und Scham überwältigten Teil ihrer Vergangenheit zu vergessen, mithin von sich abzuspalten. Zugleich fungiert das Schweigen als Schutzmechanismus, um Gedanken und Gefühle, die an das Trauma erinnern, abzuwehren.1111 Ausgehend von seinen Ursachen lässt sich das »Nicht-reden-Können«1112 über die Vergangenheit als überwältigtes Schweigen eines Opfers typologisieren, das aus den erlittenen Gewalterfahrungen resultiert.1113 Der Einbezug von psychotraumatologischen Ansätzen für die Interpretation des Verhaltens und Innenlebens von Figur und Erzählinstanz ist auch durch die Situierung des Geschehens in die reale Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts berechtigt – lässt sich »So sind wir« doch offenbar nicht ausschließlich nach dem fiktionalen Pakt des Erzählens mit »nicht-wirklichen Ereignissen, nicht-wirklichen Figuren, nicht-wirklichen Orten 1108 1109 1110 1111 1112

Vgl. ebd. Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2020, S. 88. Bohleber, Trauma. 2011, S. 10. Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18. Ausgehend von den Schweigeursachen differenziert Klaus Zimmermann vier Schweigetypen: Schweigen-Wollen, Nicht-reden-Dürfen, Nicht-reden-Können und zweckloses Reden. Der Typ Nicht-reden-Können fasst Schweigeformen wie »von einer Situation oder einem Sachverhalt so gebannt oder erschüttert sein, daß ›es einem die Sprache verschlägt‹ [und] aus psychischen Gründen über Themen, Sachverhalte etc. nicht reden können«. Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 40. 1113 Vgl. Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57.

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oder nicht-wirklichen Zeiten«1114 auflösen. So lässt sich die Figur des jüdischen Vaters und Holocaust-Überlebenden nur schwerlich nicht mit dem gleichnamigen Vater der Autorin in Verbindung bringen, einem jüdischen HolocaustÜberlebenden polnischer Abstammung.1115 In der Geschichtsschreibung bildet der Holocaust, »die bürokratisch organisierte und industriell durchgeführte Massenvernichtung«1116 der europäischen Juden, »einen unwiderruflichen Scheidepunkt, der die Zeit in ein Vorher und Nachher teilt«1117. Entsprechend gilt der »Zivilisationsbruch«1118 auch als Nullpunkt der Generationen, der ihre Neuzählung erforderlich macht.1119 Im Generationenmodell als »zeitliche Ordnung der Nachkriegsgeschichte«1120 umfasst die erste Generation sämtliche horizontale Jahrgänge jüdischer Opfer, die die Vernichtungserfahrung erlitten bzw. überlebt haben.1121 In diesem Zusammenhang zielt der Begriff der Generation auf eine gemeinsam geteilte prägende Kernerfahrung ab.1122 Doch inwiefern wirken generationenspezifische Erfahrungen, insbesondere solche von katastrophaler Qualität, in der biologischen vertikalen Abstammungslinie fort? Die Frage, inwiefern das, »was in der ersten Generation konkrete Erfahrung war, […] die nachfolgende Generation in ihrer Bilder- und Symbolwelt [beschäftigt]«1123, entfaltet mit Blick auf »So sind wir« besondere Relevanz, da die traumatischen Erfahrungen des Vaters in der Erzählgemeinschaft der Familie nicht einmal explizit kommuniziert werden und die Erzählinstanz dennoch überzeugt ist, dass die schmerzhafte Vergangenheit ihres Vaters noch ihr Aufwachsen geprägt hat – habe sie doch »schon als Kind […] gefühlt und daher gewusst, wovor [… der] Vater [… sie] hat beschützen wollen« (SW 86). Das Phänomen der Weitergabe von nicht-genetischen, sondern psychischen Zuständen, Sinnstrukturen und Einstellungen wird unter dem Begriff der Transgenerationalität gefasst.1124 Be1114 Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Winko, Simone/Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard (Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York 2009: de Gruyter, S. 285–314, hier: S. 290. 1115 Vgl. Eintrag »Lustiger, Arno« in Munzinger Online/Personen. Internationales Biographisches Archiv. (Letzter Zugriff am 12. 08. 2021). 1116 Diner, Dan (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/M. 1988: Fischer, S. 7. 1117 Laub, Dori: Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens. In: Baer, Ulrich (Hrsg.): »Niemand zeugt für den Zeugen.« Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. 3. Aufl. Frankfurt/M. 2011: Suhrkamp, S. 68–83, hier: S. 83. 1118 Vgl. Diner, Zivilisationsbruch. 1988. 1119 Vgl. Grünberg, Schweigen und Ver-Schweigen. 1997, S. 20. 1120 Ostheimer, Ungebetene Hinterlassenschaften. 2013, S. 21. 1121 Vgl. Grünberg, Schweigen und Ver-Schweigen. 1997, S. 20. 1122 Vgl. Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata. 2013, S. 6. 1123 Bohleber, Transgenerationelles Trauma. 1998, S. 256. 1124 Vgl. Ostheimer, Ungebetene Hinterlassenschaften. 2013, S. 29–31.

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zogen auf die Übertragung der spezifischen historischen Erfahrung des Holocaust auf die nachfolgenden Generationen betont die Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, dass »die Figur des ›Transgenerationellen‹ […] Bruch und Genealogie in sich [vereinigt]: nicht als Bruch in der Genealogie, sondern vielmehr als Vorstellung einer Art Vererbung des ›Zivilisationsbruchs‹ und seiner Folgen«1125. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts konstatiert Sigmund Freud zur Übertragung von Erfahrungen im Lebenszusammenhang der Familie, »daß keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen«1126. Als bedeutende seelische Vorgänge zählen auch traumatische Erfahrungen, die von den Betroffenen kaum bzw. »nicht in die Konstruktion eines lebensgeschichtlichen Sinnzusammenhangs eingebettet werden können«1127 und daher unverarbeitet bleiben. Im Zuge der sogenannten Gefühlserbschaft formuliert Freud die Fragen, »wieviel man der psychischen Kontinuität innerhalb der Generationsreihen zutrauen kann und welcher Mittel und Wege sich die eine Generation bedient, um ihre psychischen Zustände auf die nächste zu übertragen«1128. Für den vorliegenden Beitrag ist vor allem die Frage nach der Art und Weise der Übertragung von Relevanz. Eine mögliche Antwort offeriert der Psychologe Dan Bar-On, der Angehörige dreier Generationen in Familien von Holocaust-Überlebenden (Überlebende, ihre erwachsenen Kinder sowie Enkel) zur multigenerationellen Weitergabe der erlittenen Traumata interviewt, wobei er der Frage nachgeht, was in der Familie erinnert, vergessen und was verschwiegen worden ist.1129 Bar-On arbeitet drei Modi der Transmission zwi1125 Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006: Wilhelm Fink, S. 102f. 1126 Freud, Sigmund: Totem und Tabu (Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker) (1912–13). In: Ders.: Studienausgabe 9. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1994: Fischer, S. 287–444, hier S. 441; es heißt an dieser Stelle: »Das Problem [›der psychischen Kontinuität‹ bzw. der ›Vererbung psychischer Dispositionen‹] erschiene noch schwieriger, wenn wir zugestehen könnten, daß es seelische Regungen gibt, welche so spurlos unterdrückt werden können, daß sie keine Resterscheinungen zurücklassen. Aber solche gibt es nicht. Die stärkste Unterdrückung muß Raum lassen für entstellte Ersatzregungen und aus ihnen folgende Reaktionen. Dann dürfen wir aber annehmen, daß keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen. Die Psychoanalyse hat uns nämlich gelehrt, daß jeder Mensch in seiner unbewußten Geistestätigkeit einen Apparat besitzt, der ihm gestattet, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten, das heißt die Entstellungen wieder rückgängig zu machen, welche der andere an dem Ausdruck seiner Gefühlsregungen vorgenommen hat. Auf diesem Wege des unbewußten Verständnisses all der Sitten, Zeremonien und Satzungen, welche das ursprüngliche Verhältnis zum Urvater zurückgelassen hatte, mag auch den späteren Generationen die Übernahme jener Gefühlserbschaft gelungen sein.« Ebd. 1127 Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickung. 2013, S. 4. 1128 Freud, Totem und Tabu. 1994, S. 441. 1129 Vgl. Bar-On/Gilad, Auswirkungen des Holocaust auf drei Generationen. 1992, S. 7–21.

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schen Generationen bzw. drei Wirkfaktoren heraus: Erstens die erzählten Geschichten, zweitens das faktische Verhalten und drittens die nicht erzählten Geschichten.1130 Dem Nicht-Erzählen bzw. Verschweigen schreibt er »u. E. die stärkste intergenerationelle Wirkung«1131 zu. Diese Ergebnisse aufgreifend, werden die Wirkfaktoren der transgenrationellen Weitergabe von historischer Erfahrung und seelischer Verletzung zwischen der Vaterfigur (im Sinne des Senders; Transfer) und der Erzählinstanz (im Sinne des Rezipienten; Aneignung) folgend anhand ausgewählter Textbeispiele illustriert.

6.1.3 Wirkfaktoren transgenerationeller Übertragung I: Transfer Es sind charakteristische Verhaltensweisen der Vaterfigur in Lustigers »So sind wir«, die darauf hindeuten, dass die erlittenen traumatischen Erfahrungen unverarbeitet geblieben sind und daher weiterhin intra- und interpersonelle Wirkung entfalten. So finden die seelischen Verletzungen etwa in dessen Zeitungsmanie Ausdruck, wie die Erzählerin erinnert: »Mein Vater las, wo immer er sich auch befinden mochte Zeitung. Zu jeder Tages- und Nachtzeit vertiefte er sich mit ernstem Gesicht in Mitteilungen, Darstellungen und Nachrichten, riss Artikel, die ihn interessierten, heraus, […] um sie sogleich zu verlieren« (SW 9). Begünstigt das rätselhafte Verhalten im Kinderblick der Erzählerin noch die Annahme, der Vater sei »ein Held auf der Suche nach dem Schrein der Erkenntnis« (SW 10), weicht diese schon bald dem Gefühl der Sehnsucht nach dem »nah[en] und doch so fern[en] und unzugänglich[en Elternteil]« (SW 14).1132 So wächst über die Feststellung: »Mein Vater schluckte haufenweise Geheimnisse und spuckte keines aus« (SW 16), sukzessive die Erkenntnis, dass dieser »die Meldungen [insbesondere zu antisemitischen Ausschreitungen] aus einem Grund [sammelte]: Er hatte sich einmal von der Welt überrumpeln lassen, das sollte ihm nie wieder geschehen […] nun hielt er sich, Zeitungen in acht Sprachen lesend, informiert« (SW 22f.). Erst der Erwachsenenblick bringt das auffällige faktische Verhalten des Vaters mit dessen schmerzhafter Vergangenheit in Verbindung und die Erzählerin erkennt, dass mit der Zeitung, die das Weltgeschehen sachlich-nüchtern zusammenfasst und in übersichtlichen Spalten präsentiert (vgl. SW 21), die mediale Vermittlung wie ein Schutzschild vor das Er1130 Vgl. ebd., S. 20. 1131 Ebd. 1132 Im Kontext der erzähltheoretischen Untersuchung des Prinzips Erinnerung führt Carsten Gansel die Unterscheidung zwischen Kinderblick (Perspektive des erlebenden Kindes) und Erwachsenenblick (Perspektive des erinnernden Erwachsenen) ein. Vgl. Gansel, Rhetorik der Erinnerung. Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur. 2009, S. 25.

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leben des Vaters tritt.1133 Die Zeitungsmanie ist Ausdruck des Sicherheitsbedürfnisses und der emotionalen Abkapselung des Vaters, dem »Dummheit und Unheil […] nur in ihrer destillierten Form, als ausgeklügeltes Zeitungswort erträglich [sind]. Die Zeitung reinigt und trennt Dummheit und Unheil vom Gefühl […], vor dem es ihm ekelt, wenn er sich auch intellektuell damit befasst« (ebd.). Es ist dies auch der Grund für die Abneigung, die die Erzählerin gegenüber der Zeitung verspürt, die, wie sie es formuliert, »Tag für Tag das Gefühl mit ihrer zurückhaltenden, kaltblütigen Ausgeglichenheit [zertrampelt]« (SW 22). Vermutlich ist es die Angst vor einer Wiederholung der Vergangenheit, die den Vater bewegt, sich täglich auf das Intensivste der Berichterstattung zu widmen: »Mein Vater las Zeitung, um sich der Welt zu stellen« (SW 23), resümiert die Erzählerin. Dass ihr Wunsch, diese Aufmerksamkeit selbst zu erfahren, oft unerfüllt geblieben ist, gesteht sie beim Aufrufen einer frühen Kindheitserinnerung, in der sie, am Fuße des zeitungslesenden Vaters sitzend, »ganz sanft den Stoff seines Hosenbeins [berührt … ihr Herz hämmert]. Und da passiert es! Mit einer linkischen Bewegung [… sich] ungestüm an sein Bein [klammert …] ein kleiner, goldener, sanfter Schmerz: herzzerreißende Sehnsucht« (SW 18). Der Vater, der »Schlagzeilen [überfliegt]. Weltpolitik, Innenpolitik, Außenpolitik [liest] und […] kein Auge für die Liebespolitik seines Kindes [hat]« (ebd.), kann offenbar aus dem Erlebten nicht heraustreten, mit der Folge, der Tochter nicht uneingeschränkt als stabile Bindungsperson begegnen zu können. Das Fortwirken des Traumas manifestiert sich neben der Zeitungsmanie in fest etablierten Regeln zum ›Was‹ des familialen Erzählens. So rekapituliert die Erzählinstanz ein »unantastbare[s], wenn auch nie ausgesprochene[s] Gebot, das zu übertreten keiner von uns gewagt hätte: Du sollst nicht über Gefühle sprechen, […] und ganz bestimmt nicht über solche, die ein glückliches, friedvolles Leben sabotieren« (SW 83). Das Stillschweigen schließt primär die Holocaust-Erfahrung des Vaters ein, was sich unter anderem darin zeigt, dass dieser Gesprächsanläufe seiner Töchter, die jene leidvollen Erfahrungen anvisieren, abwehrt. Es ist die jüngere Schwester, die sich traut, dem Vater – so formuliert es die Erzählerin zugespitzt – »die widerlichen, schleimigen Klumpen Liebe und Mitleid […] direkt ins Gesicht [zu spucken]« (SW 31), anstatt diese, wie sie es vorzieht, herunterzuschlucken »als wären sie ein widerlicher Klumpen schleimiger Spucke« (ebd.). Stabilisiert wird das Schweigen über die Vergangenheit durch die väterliche Einschränkung des Sprachgebrauchs um jene Wörter, die ihm gegenüber Liebe und Mitleid ausdrücken. Anstelle des »Vaters, der beharrlich schweigt« (SW 25), erläutert die Tochter: »Schmutzige Wörter [… besitzen] keinen praktischen Wert [… sie lassen …] sich nicht sofort in etwas Positives umsetzen […] der reinste Dreck an Wörtern, der Abschaum [… sind] Wörter, die [die] Erinnerung und, schlimmer 1133 Vgl. ebd.

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noch, seinen Schmerz [… heraufbeschwören]« (SW 29). Die Meidung des Gesprächs über die Vergangenheit und des Gebrauchs von Wörtern, die als Auslöser der Erinnerung Wirkung entfalten könnten, sind weitere Maßnahmen des Selbstschutzes vor einer erneuten Vergegenwärtigung jener Überwältigungsereignisse, mithin drücken sie den Wunsch aus, die extrem leidvolle Vergangenheit zu vergessen.1134 Im Unterschied zum Vater, der das Schweigen über die ihn noch immer quälenden Erfahrungen als Schonung empfindet, nimmt die Erzählinstanz das Schweigegebot als Belastung wahr. Mit Blick auf die ihrem eigenen Lebenszusammenhang entspringenden Sorgen, Ängste und Wünsche, die sie im Verbund der Familie teilen könnte, sieht sie sich, gemessen an der Ereignishaftigkeit und Last der (nicht erzählten) Geschichte der Erfahrung des Holocaust, kontinuierlich mit einem Legitimationsdruck und damit einhergehend mit dem Entzug des Rederechts konfrontiert: »Was sind, bitte schön, Alltagssorgen und ein paar Wünsche im Angesicht von Auschwitz? […] eine unverschämte Geschmacklosigkeit. Lächerlich, nicht der Rede wert, unbedeutend wie das eigene Leben.« (SW 85) In Anerkennung des Gebots, über Gefühle und Wünsche zu schweigen, empfindet sie ihre Zugehörigkeit zur zweiten Generation1135 als Last, mit der sie die Angst verknüpft, sich im unentrinnbaren Vergleich zur Erfahrungswelt der Elterngeneration »als unwürdig [zu] erweisen, ja als der letzte Jammerlappen, wenn wir [die Nachgeborenen] unseren Sorgen und Wünschen Luft machen« (ebd.) sowie als Bürde, die eigene Zukunft stets mit Blick auf die Konditionen ihrer Ermöglichung erfolgreich gestalten zu müssen. Neben der Zeitungsmanie und der Weigerung, über die Vergangenheit zu sprechen, manifestiert sich die traumatische Qualität der Erfahrungen schließlich auf folgende Weise: Zwar entzieht sich der Vater in der privaten Sphäre der Familie der Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit, in der Öffentlichkeit hingegen äußert er sich dazu und nimmt als Holocaust-Überlebender in der Rolle des historischen Zeitzeugens an Interviews und Gesprächsrunden teil.1136 So legt er in einem Bericht, der mit dem Satz beginnt: »Im Januar 1945 war ich Häftling Nr. A-5592 im KZ Blechhammer in Schlesien, einem Nebenlager von Auschwitz« (SW 57), seinen Leidensweg und die letzten Kriegstage dar, wobei er seinen 1134 Vgl. Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 56f. 1135 Zur sogenannten ersten Generation werden die Nachkommen der Überlebenden des Holocaust gezählt. Vgl. Grünberg, Schweigen und Ver-Schweigen. 1997, S. 20. 1136 Ausgehend von verschiedenen Äußerungskontexten differenziert Aleida Assmann vier Formen von Zeugenschaft: den juridischen, den religiösen, den historischen und den moralischen Zeugen. »Der historische Zeuge ist […] nicht nur der Überlebende, sondern auch der Noch-Lebende, der durch seine Erfahrung und Erinnerung das lebendige Zeugnis wichtiger vergangener Ereignisse an die Nachwelt weitervermittelt.« Assmann, Aleida: Pathos und Passion. Über Gewalt, Trauma und den Begriff der Zeugenschaft. In: Dies./ Hartmann, Geoffrey: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust. Konstanz 2012: Konstanz University Press, S. 9–40, hier: S. 27.

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Töchtern die Existenz des Berichts verschweigt. Jahre später – die Erzählerin ist Anfang Dreißig und Mutter eines vierjährigen Sohnes – wird sie in einer Buchhandlung zufällig auf den wenige Seiten umfassenden Bericht aufmerksam (vgl. ab SW 54). So erfährt sie nicht von ihrem Vater, sondern medial vermittelt durch einen historischen Band, in dem sich prominente Zeitgenossen zum 8. Mai 1945 äußern, was diesem durch die Nationalsozialisten widerfahren ist. Neben den verstörenden Ereignissen irritiert sie der emotional-distanzierte Erzählstil, der vielmehr der Textsorte Zeitungs- als Lebensbericht zu entsprechen scheint: Der Bericht meines Vaters hatte einen harten, mühelosen Glanz. Obwohl er in der ersten Person geschrieben hatte, konnte ich mich doch nicht des Gefühls erwehren, dass das Schicksal eines Fremden geschildert worden war. Mein Vater benutzte das Ich so, wie andere das Er oder Sie benutzt hätten. Er schrieb mit einem Ich wie aus Holz. Das war ein stilistisches Kunststück, dem man selten begegnete. […] Und ich habe auch gespürt, wozu so ein Ich wie aus Holz imstande ist. Gefühllos stellt sich mein Vater dar, um die anderen fühlen zu lassen. (SW 62f.)

Der Effekt des »Ich wie aus Holz« (ebd.) besteht auch darin, dass der Bericht ausschließlich Inhalte des sogenannten kalten Gedächtnisses, mithin Kontextinformationen über Orte, Daten und Ereignisabläufe enthält.1137 Gänzlich ausgelassen sind Bestandteile des heißen Gedächtnisses, es sind dies sensorischperzeptuelle Ereignisdetails wie Gefühle und Geräusche ebenso wie Assoziationen, Sorgen und Hoffnungen.1138 Das Auslassen subjektiver Perspektiven lässt sich als Hinweis auf die tiefgreifende Erschütterung des Vaters deuten, die er als nicht bewältigbar erlebt und aus seiner Wahrnehmung ausklammert.1139 Lückenhafte Darstellung von traumatischen Erfahrungen wie diese typologisieren Shamai und Levin-Megged, die Holocaust-Überlebende im Abstand von fünf Jahrzehnten zu den Ereignissen befragen, als »knowing the trauma but not feeling it«1140, sie erläutern: The language used by survivors who use this type of narrative to know the trauma is characterized by ›facts‹. These facts dominate the narrative of the trauma and eliminate the feelings typically accompanying experiences of loss, such as fear, pain loneliness, anger and guilt […]. By ›forgetting‹, the survivors create narratives about the trauma that serve to protect them from their unbearable feelings.1141 1137 Die Metapher kaltes Gedächtnis fasst die im Gedächtnis bewusst abrufbaren Kontextinformationen über Ort, Zeit und Ablauf von Ereignissen, die Metapher heißes Gedächtnis fasst sensorisch-perzeptuelle Ereignisdetails und emotionale Dispositionen. Vgl. Neuner/ Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 330f.; vgl. Metcalfe/Jacobs, A ›Hot-System/ Cool-System‹ View of Memory Under Stress. 1996, S. 1–3. 1138 Vgl. ebd. 1139 Vgl. Habermas, Tilmann: Beredtes Schweigen über Konflikte. Erzählen als Instrument der Psychotherapie. Forschung Frankfurt 36, 2019, H. 1, S. 77–81, hier: S. 78f. 1140 Shamai/Levin-Megged, The Myth of Creating an Integrative Story. 2006, S. 699. 1141 Ebd.

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Für den Prozess der nachträglichen Aneignung ihrer Familiengeschichte ist diese Erkenntnis ein Schlüsselmoment, wie die Erzählerin gesteht: »›Vierzig Jahre […] habe ich gebraucht, um zu sehen, was er [aus seinem Lebensbericht] ausgelassen hat. Vierzig Jahre, bis die Wahrheit zu dämmern begann und ich begriff, ja, das ist es, es ist sonnenklar, der Abfall fehlt‹« (SW 163). Was der Vater als »Abfall« deklariert, sind nichts anderes als seine Gefühle (vgl. ebd.), darunter insbesondere jene emotionalen Dispositionen, die die traumatischen Ereignisse begleitet haben und die er mittels Konzentration auf Daten und Fakten seither von sich abzuspalten sucht. So wird die Erzählerin im zeitlichen Abstand von einer Generation gewahr, dass das Schweigen des Vaters ein »Nicht-reden-Können«1142 ist, dessen kommunikativ-strategische Funktion auf die Abwehr der erneuten Vergegenwärtigung der Vergangenheit gerichtet ist und dem Bedürfnis des Selbstschutzes bzw. der Gesichtswahrung desjenigen Mannes dient, »der er nach all den Jahren harter und disziplinierter Verdrängungsarbeit geworden [ist]« (SW 68).1143

6.1.4 Wirkfaktoren transgenerationeller Übertragung II: Aneignung Anknüpfend an die Darstellung spezifischer Verhaltensweisen der Vaterfigur, mittels derer sie die durch das Trauma hervorgerufenen Folgen an die nächste Generation transferiert, wird im Folgenden der Fokus auf das Verhalten und die Innenwelt der Erzählinstanz gerichtet. Dabei lässt sich nachvollziehen, auf welche Weise sie sich die traumatischen Erfahrungen ihres Vaters aneignet. Die skizzierten Beispiele zum alltäglichen Miteinander der Familie zusammenfassend, lässt sich mit Blick auf die Erzählinstanz zunächst festhalten, dass diese sehr wohl spürt, dass in ihrer Familie etwas verschwiegen wird. Sie erinnert sich, das Milieu ihrer Familie als unheilvoll und belastend wahrgenommen zu haben: »Ich bin in einem ganz besonderen Klima aufgewachsen, […] in dem es keine Leichtigkeit gibt. Keine Freizügigkeit, keine offensichtliche und oberflächliche Einfachheit. […] unser Alltag ist immer doppeldeutig […] diese[] kranke[] Atmosphäre« (SW 162). Spätestens als Jugendliche wird ihr bewusst, dass das Verschwiegene die Vergangenheit des Vaters betrifft und mit der historischen Zäsur des Holocaust zusammenhängt, mithin etwas Schreckliches einschließt. Dies zeigt die Fortsetzung jener Szene, in der die Schwester der Erzählerin im Bestreben, dem Vater ihr Mitleid auszudrücken, harsch abgewiesen wird: 1142 Zimmermann, Überlegungen zu einer Theorie des Schweigens. 1983, S. 40. 1143 Im Unterschied zum kommunikativ-strukturierenden Schweigen, das primär der Gesprächsstrukturierung dient, fungiert das kommunikativ-strategische Schweigen im Sinne der Gesprächslinguistik in erster Linie als sprachliche Strategie zur Realisierung bestimmter Sprecherintentionen. Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 80, 101.

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»Lass das!«, sagte er. Dann stand er auf und ging in sein Zimmer, er hatte meine Schwester verscheucht, wie man eine Fliege oder ein paar Tauben verjagt, die einem lästig sind. »Du machst Dich lächerlich«, hatte er ihr noch zugerufen […]. Meine Schwester weinte leise vor sich hin, […] wischte sich die Tränen am Ärmel ihres Mantels ab: ein kleiner mutiger Soldat. […] nicht nur durch Familienbande mit mir vereint, sondern durch das Schweigen, in das mein Vater uns getaucht hatte, ein Schweigen, so anziehend und bedrohend wie ein schwarzes, ruhiges Meer. […] »Na«, sagte ich, »was hast du alte Heulsuse ihm wieder gesagt? Wie schrecklich das alles war.« (SW 31f.)

Der Textauszug verdeutlicht, dass das Verschwiegene nicht als konkrete Geschichte, sondern in der Aura eines dunklen und unzugänglichen Familiengeheimnisses für die Töchter spürbar ist. Es ist anzunehmen, dass die Schwestern, um die Lücken im Familiengedächtnis zu schließen, ihr partielles Wissen um Vorstellungen ergänzen, die um die erlittene Internierung und Repression ihres Vaters im Besonderen und den Massenmord an den Juden im Allgemeinen kreisen, was das Nicht-Erzählte im Bereich des Unheimlichen verankert.1144 In Fortsetzung dieser Überlegung lässt sich die diffuse Angst der erwachsenen Erzählerin, in Israel umgebracht zu werden – eine Angst, die sie seit Jahren davon abhält, ihre dort lebende Mutter zu besuchen –, mit der latent vermittelten Verfolgungsvergangenheit ihres Vaters assoziieren. Diesbezüglich erinnert die Erzählerin ein Telefongespräch mit ihrer Mutter, der Tochter eines zionistischen Pioniers: »›Ich komme nicht, weil ich Angst habe.‹ […] ›Angst?!‹, sagte sie und lachte. ›Angst?!‹ Ihre Stimme klang ungläubig. ›Das wäre ja noch schöner!‹, sagte sie, ganz gerechte Empörung. Angst, das ist bei uns schon immer eine Extravaganz gewesen.« (SW 89) Die Angst, ermordet zu werden, ist eine für Nachkommen von Holocaust-Überlebenden verbreitete Form der psychischen Beeinträchtigung durch die Erfahrungswelt der Elterngeneration, wie die Soziologin Gabriele Rosenthal in einer Studie zum Dialog über den Holocaust in Familien von Überlebenden und Nazi-Tätern herausstellt.1145 Oft ist die Vernichtungsangst der Nachfahren mit Schuldgefühlen gekoppelt, was auch auf die Erzählerin zutrifft, wie die Fortsetzung des Telefongesprächs bzw. des inneren Monologs veranschaulicht:

1144 Die Auswertung von biographischen Fallanalysen von Holocaust-Überlebenden und ihren Nachkommen zum Dialog über die Familienvergangenheit zeigt, dass »die zweite und dritte Generation – häufig unbewußt – sehr detaillierte Phantasien über die nicht-erzählten Geschichten und Familiengeheimnisse ausbildet [… und dass] diese in ihren inhaltlichen Ausprägungen in auffallender Weise mit den konkreten Erfahrungen in der verleugneten Familiengeschichte korrespondieren. […] Diese Phantasiebildungen sind mit den nichterzählten, aber dennoch latent tradierten Erlebnissen bzw. Handlungen der Eltern verknüpft«. Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Dialog über den Holocaust. In: Dies., Der Holocaust im Leben von drei Generationen. 1999, S. 18–25, hier: S. 22f. 1145 Vgl. ebd.

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»Du wirst noch ein Franzos«, […] und das Wort »Franzos« klang in ihrem Mund verachtungswürdig. »Franzos«, hörte ich, und es schwang die Kollaboration mit und Vichy und Drancy und die Geschichte meiner französischen Großtante, die von ihrer Haushälterin wegen ein paar Möbeln denunziert worden war. […] ja, obwohl man in Israel eigentlich nichts mehr machen kann, ohne sich und die Seinigen in Lebensgefahr zu bringen, erscheint mir der Vorsatz, meinen Kindern Israel nicht anzutun, nicht etwa vernünftig, sondern als Hochverrat an meiner Herkunft. […] Ekelerregend, dass ich mit dem großen Durchhalteprojekt nichts zu tun haben will. […] Ich bin der lebende Beweis dafür, dass sich nichts vererbt, außer vielleicht Schuldgefühle. (SW 91, 96f.)

Es zeichnet sich ab, dass das Schuldgefühl der Erzählerin aus der Gewissheit resultiert, die grausamen Ereignisse der Vergangenheit nicht ungeschehen machen zu können sowie aus der aus familialer Verbundenheit erwachsenen Wunschvorstellung, das Leid des Vaters durch persönliche Leistung zu entschädigen. Auch den Impetus, gegenüber Bedrohungen aus der nichtjüdischen Welt1146 keine Schwäche zuzulassen, scheint sie durch Erziehung und Einfühlung in die verschwiegenen traumatischen Erfahrungen des Vaters verinnerlicht zu haben.1147 Nach dem Konzept der Transposition, der unbewussten identifikatorischen Teilhabe der zweiten Generation an der vergangenen traumatischen Lebensgeschichte der Eltern,1148 wie es die Psychoanalytikerin Judith Kestenberg fasst, lassen sich die Vernichtungsangst und die Schuldgefühle der Erzählerin als psychische Inhalte der schweigend erfolgten Übertragung bestimmen. Dass die Aneignung unbewusst, überdies gegen ihren Willen geschieht, wird noch deutlicher unter Berücksichtigung ihrer Abneigung gegenüber der Zugehörigkeit zu einer Holocaust-Überlebenden-Familie bzw. gegenüber der Reduzierung ihrer Person auf die Nachkommenschaft eines Holocaust-Überlebenden. Rückblickend gesteht sie, sich wegen ihrer Familie geschämt (vgl. SW 130), die Auseinandersetzung mit dem Holocaust abgeblockt: »Das geht mich nichts an. Ich bin neunzehnhundertdreiundsechzig geboren, warum soll mich etwas, das vor neunzehnhundertdreiundsechzig geschehen ist, etwas angehen?« (ebd.), und mit ihrem Schicksal gehadert zu haben: »Nicht auf die Umbringer war ich wütend, […] sondern auf meine im Krieg und durch die Deutschen kaputtgemachte 1146 Ebd., S. 20. 1147 Vgl. Bohleber, Transgenerationelles Trauma. 1998, S. 263; vgl. Cournut, Jean: Ein Rest, der verbindet. Das unbewusste Schuldgefühl, das entlehnte betreffend. Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie und Praxis 22, 1988, S. 67–98. 1148 Vgl. Kestenberg, Judith: Die Analyse des Kindes eines Überlebenden. Eine metapsychologische Beurteilung. In: Dies./Bergmann, Martin/Jucovy, Milton (Hrsg.): Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt/M. 1995: Fischer, S. 173– 208; auf metapsychologischer Ebene beschreibt die Transposition die »Organisation des Selbst in bezug auf Zeit und Raum […] Sie transzendiert die Identifikation und dient der Verewigung des Einflusses bedeutender historischer Ereignisse im Laufe der Generationen.« Dies.: Neue Gedanken zur Transposition. Klinische, therapeutische und entwicklungsbedingte Betrachtungen. Jahrbuch der Psychoanalyse 24, 1989, S. 163–189, hier: S. 169.

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Familie. Gerade das musst du sein […]: Sprössling einer kaputtgemachten Familie.« (SW 130f.) Ihre damalige ablehnende Haltung gegenüber der Familienvergangenheit ist zugleich ein Indiz dafür, dass die Erzählerin ihrerseits zur Aufrechthaltung des Schweigens und zur Aneignung der traumatischen väterlichen Erfahrung beigetragen hat, was ein Telefongespräch anlässlich des Zufallsfundes dessen Berichts veranschaulicht. Darin stellt die emotional aufgewühlte Erzählerin ihren Vater »mit der Direktheit der Feiglinge« (SW 67) bezüglich seiner umfassenden Verschwiegenheit zur Rede: »›Warum hast du uns nie etwas über den Krieg erzählt?‹« (ebd.) Der Vater weicht dem Vorwurf zunächst aus, »er schwieg. Ich hörte ihn atmen. Und dann, nach ein paar Sekunden, die unerträglich lang waren, sagte mein Vater mit einer Stimme, die voller Ungeduld war und die ich kannte, sie hatte mich von Jugend auf zum Verstummen gebracht: ›Was soll das?‹« (ebd.) Die Erzählerin wiederholt ihre Frage im selben Wortlaut und erhält die Antwort: »Weil ich euch immer hab beschützen wollen« (ebd.), bevor der Vater unverzüglich »zu Alltäglichem über[geht] und […] nach dem Befinden meiner Kinder [fragt]. Ich erzählte ihm von meinem Sohn und seinem Klavierunterricht und von meiner Tochter und ihrem süßen Gebabbel und von Babysittersorgen« (ebd.). Gesprächslinguistisch betrachtet lässt sich das sekundenlange Schweigen des Vaters als Hesitationspause einordnen, die das planungsbedingte Zögern seines Redebeitrages ebenso wie einen inneren Konflikt signalisiert.1149 Durch den mittels Aufwerfen einer Gegenfrage erfolgenden Wechsel auf die Metaebene des Gesprächs markiert er seinen Unwillen bezüglich der Beantwortung der Frage und umgeht diese zunächst. Da die Tochter jedoch auf eine Antwort insistiert (sie wiederholt ihre Frage), ringt er sich zu einer Äußerung (ein einziger Satz) durch und wechselt abrupt das Thema, wodurch er die Absicht signalisiert, den begonnenen Beitrag nicht fortzusetzen. So entpuppt sich der Themenwechsel, da er »keine Fortsetzung des bisher Gesagten bildet, […] gerade im Wiedereinsetzen als Abbruch«1150. Bezüglich der lokalen Kohärenz von Abbrüchen gilt, wie die Linguistin Meise konstatiert, dass diese tendenziell in konfliktreichen Beziehungsgesprächen auftreten und sich oft »auf strategische Ursachen im weitesten Sinne [zurückführen lassen]: Ein Gesprächsteilnehmer läßt bewußt etwas offen, äußert nur einen Teil dessen, was er vermeintlich sagen will und enttäuscht damit die zuvor aufgebauten Erwartungen«1151. Eben dies trifft auf die vorliegende Gesprächssequenz zu, da der Vater eine Antwort gibt, die die Tochter zunächst als unzureichend wertet. Zwar wünscht sich die Erzählerin weitere Ausführungen, artikuliert dies jedoch nicht, 1149 Vgl. Meise, Une forte absence. 1996, S. 47–52; vgl. Müllerová, Olga/Nekvapil, Jirˇí: Zur Untersuchung von Pausen in tschechischen gesprochenen Texten. Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung ZPSK 43, 1990, S. 701–709. 1150 Meise, Une forte absence. 1996, S. 53. 1151 Ebd., S. 55.

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weil sie »beschlossen [hatte], ihn zu schonen. So wie er beschlossen hatte, uns zu schonen« (SW 68). So setzt sie nicht zu einer Korrektur initiierenden Intervention an und versucht nicht, den begonnenen Gesprächsverlauf auf einer Metaebene zu retten, etwa indem sie dem Vater Interpretationen für den Grund seines Abbruchs anbietet. Es würde dies »einen vertieften Einblick in die eigene (mentale und gefühlsmäßige) Innenwelt und den Mut zur gegenseitigen Selbstoffenbarung [erfordern]«1152. Vielmehr gibt sie durch das Absehen von drängenden Nachfragen zu erkennen, dass sie den Verzicht auf weitere Ausführungen, der »in einem Erwartungshorizont auftaucht, in dem auch Reden möglich gewesen wäre«1153, als bewusste kommunikative Option1154 und sein Bedürfnis, über die Vergangenheit zu schweigen, als Ausdruck seiner fortwirkenden seelischen Erschütterung anerkennt. Weil es »nicht nur ein Zustand des Nicht-redens ist, sondern auch – mehr oder weniger intentional – eine Botschaft übermittel[t]«1155, liegt ein kommunikatives, vielsagendes Schweigen vor. Aus psychologischer Perspektive lässt sich das Phänomen des reziproken Schonens durch Schweigen bildhaft im kommunikativ-psychologischen Effekt der doppelten Mauer beschreiben: Kinder spüren sehr genau, wenn ihre Eltern über etwas nicht sprechen möchten. Zwischen den beiden Generationen entsteht eine Art »doppelter Mauer«: Die Eltern erzählen nichts, und die Kinder fragen nicht nach. Und selbst wenn eine Seite versucht, ein Fenster in der Mauer zu öffnen, blickt sie oft nur auf die Mauer des anderen. Daß es zu spontanen, gleichzeitigen Öffnungen von Eltern und Kindern kommt, wodurch sie ihre Gefühle miteinander teilen und akzeptieren können, ist höchst unwahrscheinlich und selten.1156

In diesem Sinne ist es auch der Vaterfigur und der Erzählerin nicht möglich, sich einander zu offenbaren. Die skizzierten Ausführungen veranschaulichen, dass die vermeintlich positive Intention des Schützens durch Schweigen in der Erzählgemeinschaft der Familie konterkariert wird. Grundsätzlich empfindet die Erzählinstanz den Umstand, dass der Vater nicht allein aus Selbstschutz, sondern auch um seiner Töchter willen über seine Erfahrungen geschwiegen hat, um ihnen ein möglichst unbeschwertes Aufwachsen zu ermöglichen, als Belastung: »Einzig und allein für dich, Kind […] damit du dich friedvoll entfaltest, […] du vor Lebensfreude johlst, zu deinem Besten, Kind, hat man dir die Existenz deiner ermordeten Familienmitglieder verheimlicht« (SW 171), resümiert sie sarkastisch. Besorgt, sich gegenüber der Elterngeneration als unwürdig zu erweisen 1152 1153 1154 1155 1156

Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 99f. Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 29f. Ebd. Stedje, »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen.« 1983, S. 28. Bar-On, Furcht und Hoffnung. 1997, S. 33.

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(vgl. SW 85) und im Bewusstsein, aufgrund der tradierten Erfahrungen gerade keine »gefestigte Persönlichkeit« (SW 171) ausgebildet zu haben, wird sie gewahr, dass der Holocaust, obwohl sie weder über konkrete Erfahrungen noch über intime Erzählungen darüber verfügt, ihr eigenes Leben nachhaltig geprägt hat.1157 Doch wie geht die Erzählerin, die sich im Romanverlauf als Schriftstellerin zu erkennen gibt, mit der schweigend vermittelten Erblast um? Ihrer Profession folgend, beschließt sie, ihre Familiengeschichte literarisch zu verarbeiten, mithin sich von ihr freizuschreiben. Damit kommt sie auch dem Bedürfnis nach, die ihrer Familie in verschiedenen Kontexten immer wieder aufs Neue zugewiesenen Fremdzuschreibungen – der Vater ist in der Öffentlichkeit als Überlebender (vgl. SW 248) bekannt, die Erzählerin wird im Schulunterricht genötigt, den Holocaust als Angehörige der zweiten Generation zu beglaubigen (vgl. SW 241–248) – als unzureichend offenzulegen. Um nachzuweisen, mehr zu sein als »ein Radikal mit einem einzelnen Elektron – Tochter eines Überlebenden« (SW 247) – bzw. überzeugt, dass sich ihre »Individualität und [… ihr] Wesen […] nicht nur aus der Leidensgeschichte [… ihrer] Familie und des europäischen Judentums erklären [lassen]« (ebd.), nimmt sie die Suche danach auf, was sie selbst im Kern ausmacht. Doch die Montage von persönlichen Erinnerungen, Familienanekdoten und historischen Fakten will ihr nicht recht gelingen, zu brüchig sind die Erinnerungen: »Wo sind die Ereignisse hin, die mir damals wichtig erschienen?« (SW 76), zu groß sind die Auslassungen im kommunikativen Gedächtnis der Familie und zu unbeschreiblich ist das Leid des Vaters: »Was er erlebt hatte, überstieg ganz einfach mein Fassungsvermögen« (SW 161). Seine Geschichte, so die wachsende Einsicht der Erzählerin, würde sie sich »nicht […] aneignen können« (ebd.), weil sie ihr nicht gehört (vgl. ebd.) und die wenigen materiellen Erinnerungsträger der Familie – ein gläserner Briefbeschwerer der Großmutter, ein Foto des Vaters und eine Puppe der Mutter – ihr gegenüber stumm bleiben würden, da ihr »die Erinnerung [fehlt], die [… sie] gesprächig macht« (SW 81). So wirft der Schreibprozess drängende Fragen auf: Wie die rekapitulierten Fragmente verbinden? Wie erzählen, was nicht selbst erfahren und auch nicht berichtet worden ist, was sich mithin der sprachlichen Darstellung entzieht? Erschüttert von der sich im Bericht des Vaters auftuenden »unnachgiebige[n] Leere« (SW 161) und überzeugt, dass eine umfassende Erzählung beides enthält, Fakten ebenso wie Emotionen, dass demnach Fakten nichts sind und historisches Wissen nichts. Dass Daten nichts sind und Tatsachen ein Blendwerk, weil man der Geschichte meiner Familie nicht beikommen kann, wenn man sich nicht dem Zufall ausliefert […] und den Gefühlen, Geräuschen, Eindrücken, Begegnungen und Sehnsüchten […], den Lügen, Wünschen, Illusionen und Märchen, (SW 251) 1157 Vgl. Kestenberg, Die Analyse des Kindes eines Überlebenden. 1995, S. 173–208.

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schlüpft sie in die Rolle der »Gefühlschronistin« (SW 164) und erhebt ihre genealogische Suche zum literarischen Gegenstand. Die Leerstellen im Familiengedächtnis bzw. die nicht vorhandenen Erfahrungen füllt sie mit Imaginiertem auf, das zum Kitt der aufgerufenen Erinnerungen, Anekdoten und historischen Fakten wird: »Erlebtes wird mit Gehörtem verwoben, Familienlegende von armen Schluckern gratis hinzugefügt. Erdachtes wird ganz unauffällig eingeschoben, bis ein Knoten entsteht.« (SW 102). Dabei finden insbesondere ihre persönlichen Empfindungen, Hoffnungen und Wünsche Eingang in die Darstellungsebene. Komplementär zur sachlich-nüchternen Ereignisdarstellung im Bericht des Vaters realisiert die ,Gefühlschronistin‹ ein Schreibprogramm von schonungsloser Subjektivität. Im Unterschied zum Vater geht es ihr »nicht um Berichterstattung, sondern nur um [s]ich selbst. Immer nur um [s]ich selbst, wie all den anderen Egozentrikern, die sich Schriftsteller nennen« (SW 62f.). Zu diesem Zweck setzt sie eine Ich-Erzählinstanz mit interner Fokalisierung ein, die ausgehend von verschiedenen Zeitpunkten der erzählerischen Gegenwart (Basiserzählung) mittels Rückwenden (Analepsen) die rekapitulierten Versatzstücke vor dem gegenwärtigen Wissenshorizont kommentiert – auf ironisch-distanzierte Art und Weise: Selbst im Louvre habe ich meinen Vater Zeitung lesen sehen, was angesichts der Horden japanischer Touristen, die mit Fotoapparat bewaffnet auf Mona-Lisa-Hatz gehen, ein wahres Kunststück ist. Dieses […] rechne ich meinem Vater hoch an, wenn es mich auch fuchst, dass ich ihn nie habe für meinen Lieblingsmaler begeistern können. Den Caravaggio hat mein Vater nur einmal kurz beäugt, so zwischen Stellenmarkt und Sportbeilage, dann widmete er sich wieder der Wirtschaftspolitik. (SW 21)

Neben dem Kontrastieren von Erfahrungen des erinnerten mit Reflexionen des erinnernden Ichs generiert die schonungslose Offenlegung des assoziativ einsetzenden und unaufhörlich kreisenden Erinnerungs- bzw. Gedankenstroms den Effekt radikaler Subjektivität. Dies insbesondere, da die Erzählerin bei der Rekapitulation der für ihre Lebensgeschichte als besonders bedeutungsvoll eingestuften Erlebnisse das Erzähltempo stark verringert, wobei an die Stelle der Ereignisdarstellung die Präsentation ihrer Innenwelt (Gedanken, Empfindungen) rückt. So erinnert sie etwa die Umstände des Gemeinschaftsunterrichts, jener Schulstunde, in der der Lehrer den Themenschwerpunkt Holocaust einführt und sie statt einer Antwort auf die an sie gerichtete Frage bezüglich ihrer familialen Betroffenheit ihre Wahrnehmung der Situation präsentiert, mittels Bewusstseinsstrom: Mein Gesicht war heiß und fleckig. Mein Herz flatterte, und zur Linken, als eine Art rechteckiges Schlupfloch, ein Refugium, das Fenster, und, gesäumt von einem schmutzig weiß lackierten Fensterrahmen, eine kreidige Wolke, die gemächlich und verträumt vorbeizog, während ich erstarrte, von der Frage des Lehrers wie vor den Kopf

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geschlagen. Ich errötete, fühlte mein Blut durch mich hindurchfluten, es pulsierte sogar in meinem plötzlich ausgedörrten Mund. Und ich hob den Kopf, gegen die Schwerkraft ankämpfend, Zentimeter um Zentimeter mich vorarbeitend, wie im Traum, […] Blickte auf verschwommene Flecken, auf helle und dunkle Farbtupfer. Und plötzlich in dieser Leere geriet ich in den Strom der Eindrücke und nahm zahllose Einzelheiten wahr. Sie kreuzten, vermischten und überlagerten sich, zogen einander an und stießen einander ab. Die grünen Schwingungen eines Pullis, ein kurzes, abgebrochenes Auflachen wie ein blauer Knall, das gedämpfte Geflüster, das den warmen Ton von Bernstein hatte, und die abgestandene violette Luft […] Das Fenster war randvoll mit Himmel. […] ich sammelte mich und gab meiner Stimme Nachdruck, einen Klang, der nicht meiner war. […] Und ich sagte, im Bewusstsein hervorzutreten (ich wollte es nicht, es war keine Wahl, ich wollte es nie), ja. Ja, antwortete ich, mein Vater war dort gewesen. (SW 244f.)

Durch das Pausieren-Lassen des Geschehens zugunsten der Preisgabe der Wahrnehmungen und Empfindungen wird der erzählerische Fokus auf die Perspektive des erlebenden Ichs gerichtet. Die Dominanz des subjektiven Blicks findet weiterhin darin Ausdruck, dass sich die Erzählerin zugesteht, sich selbst zu kommentieren: »Mir fällt […] eine Anekdote ein. Sie zerschmettert zwar meine genauestens ausgeklügelte Erzählstruktur, aber das Verlangen, sie zu erzählen, ist zu groß, sei’s drum …« (SW 84) Zudem verteidigt sie ihren Blickwinkel mittels direkter Leseransprache, so etwa im Kontext der Darstellung der Staatsgründung Israels: Ja, nörgelnder Leser, ich ahne, was du jetzt denkst. Du hältst diesen Übergang für demagogisch. Wie Recht du hast! Und auch deine Einwände höre ich schon: Man muss auch an die Palästinenser denken. Das Land war nicht unbewohnt. […] trotzdem … Was? Kein Trotzdem? Aber ja doch, ein fettes, ungerechtes Trotzdem, zweimal rot unterstrichen, denn ob du willst oder nicht, hier bestimme ich. (SW 114)

Anhand von stilistischen Mitteln vollzieht die Erzählerin im Medium der Literatur, was üblicherweise im Prozess des Nacherzählens von Erinnerungen geschieht: Auszuwählen und auszuschmücken im Sinne des gegenwärtigen Selbstverständnisses. Auf diese Weise rückt sie explizit jene Elemente ins Zentrum ihrer Geschichte, die der Vater aus seinem Bericht ausgeklammert hat, weil sie aus dessen Blickwinkel vom Wesentlichen ablenken, den Fortlauf der Handlung unterbrechen und den Erzählfluss zerstreuen – weil er nicht vermag, sie in seine Lebensgeschichte einzubinden. Auf diese Weise macht die Erzählerin ihre eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen »neben Daten und Fakten als relevante historische Zusammenhänge geltend«1158. In der Rolle der Gefühlschronistin avanciert sie zur moralischen Zeugin, die das Fortwirken der Überwälti1158 Dornick, Sahra: »[D]er Abfall fehlt.« Überlegungen zur Zeugenschaft als widerständiger Tätigkeit im Familienroman So sind wir von Gila Lustiger. In: Schoeps, Julius/Bingen, Dieter/Botsch, Gideon (Hrsg.): Jüdischer Widerstand in Europa 1933–1945. Formen und Facetten. Berlin/Boston 2016: de Gruyter Oldenbourg, S. 274–293, hier: S. 275.

Gila Lustiger: So sind wir (2005)

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gungserfahrungen des Vaters an der eigenen Person bezeugt, mithin im Bedürfnis, schonungslos Ich zu sagen.1159

6.1.5 Fazit In Gila Lustigers »So sind wir« signalisiert das Schweigen über die HolocaustErfahrung eine Störung in der Erzählgemeinschaft der Familie. Das überwältigte Schweigen des Vaters resultiert aus dessen traumatischen Erfahrungen und soll seinen Schutz ebenso wie denjenigen seiner Angehörigen gewährleisten. Über Jahrzehnte hinweg entwickelt es sich jedoch zum Familienkonflikt. Gerade das Nicht-Erzählen belastet die Angehörigen, nicht zuletzt, weil das Verschwiegene in der Aura eines dunklen Familiengeheimnisses dennoch zum Ausdruck kommt. Die spezifischen Verhaltensweisen des Vaters zur Abwehr seiner schmerzhaften Erinnerungen einerseits und die Identifizierung mit dessen Scham- und Schuldgefühlen durch die Erzählerin andererseits illustrieren, dass das Schweigen als implizite Form der Familienkommunikation ein äußerst wirksamer Modus der transgenerationellen Übertragung ist,1160 das die erste und zweite Generation nachhaltig aneinanderbindet. Da es den Wunsch der Erinnerungsabwehr zumindest nicht ausschließlich einlöst, sondern vielmehr Dispositionen der traumatischen Erfahrungen und spezifischen Lebenseinstellungen an die nächste Generation vermittelt, stellt es für die Familie im Sinne eines »prägende[n] Lebenszusammenhang[s], dem [eine wesentliche Funktion] bei der Herausbildung einer eigenständigen Identität zu[kommt]«1161, weniger eine Möglichkeit als vielmehr einen Mangel dar.1162 Entsprechend werden Kindheit und 1159 Die dem moralischen Zeugen von Aleida Assmann bzw. Avishai Margalit zugeschriebenen drei Merkmale treffen nicht in Gänze auf die Erzählerin zu, dennoch lässt sich in Anlehnung an diese Typologie von einer moralischen Zeugenschaft sprechen: Zwar hat die Erzählerin den Holocaust nicht am eigenen Leib erfahren, wohl aber dessen Nachwirkungen mittels väterlicher Prägung, sodass auch sie (1) ein »Zeugnis verkörpert«. Über ihre Autorschaft bzw. ihre Selbstnarration wendet sie sich (2) an ein öffentliches Auditorium und trägt, auch wenn ihre Intention in erster Linie die genealogische Selbstverortung ist, zur Bildung einer »moralischen Gemeinschaft« bei. Sie verfolgt (3) eine »Wahrheitsmission« im eigenen Sinne – trotz des Changierens zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen beabsichtigt sie, die aus der familialen Kommunikation ausgeschlossenen Inhalte offenzulegen, mithin die im Schweigen zu vergessen drohenden Nachwirkungen auf die nachfolgende Generation aufzuzeigen. Vgl. Assmann, Pathos und Passion. 2012, S. 29–35. 1160 Vgl. Ostheimer, Ungebetene Hinterlassenschaften. 2013, S. 34. 1161 Dornick, Sahra: »Fußnoten zur Familie.« Zur Performativität des Traumas der Shoah in den deutsch-jüdischen Familienromanen »So sind wir« (Gila Lustiger) und »Familienleben« (Viola Roggenkamp). Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 64, 2012, H. 2, S. 138–151, hier: S. 142. 1162 Vgl. Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 44.

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Jugend der Erzählerin auch nicht als Schonraum, sondern als konfliktbehaftet inszeniert. Mithin steht eine Familie im Zentrum der Darstellung, die sich aufgrund ihres schweigenden Umgangs mit der Vergangenheit gerade dadurch auszeichnet, dass sie nicht als »Scharnier zwischen individueller und nationaler Geschichte [fungiert], als soziale Gemeinschaft, die zwischen persönlicher Erinnerung und offiziellem Erinnerungsdiskurs vermittelt«1163. So wird, da ihre Angehörigen einander essentielle identitätskonstituierende Erfahrungen und Selbstzuschreibungen vorenthalten, »im Miteinander und durch Erzählungen [gerade k]ein besonderes Familiengedächtnis [entwickelt], das neben das individuelle und das kulturelle Gedächtnis«1164 treten könnte. Vielmehr erzeugt das anhaltende Schweigen den Negativabdruck eines solchen. So ist die genealogische Verortung der Ich-Erzählerin primär von den Grenzen des Verstehens bzw. den Leerstellen im kommunikativen Gedächtnis der Familie geleitet. Da der Fixpunkt des Erinnerns stets die erzählerische Gegenwart ist, kommentiert und bewertet die Erzählinstanz das Rekapitulierte ausgehend von ihrem gegenwärtigen Wissenshorizont. Es lässt sich dies als Bestreben verstehen, die zusammengetragenen Fragmente in einen sinnvollen Erklärungszusammenhang zu bringen, mithin an ihre gegenwärtige Situation anzuschließen. Entsprechend lässt sich »So sind wir« der Gattung der fictions of memory bzw. dem Erinnerungsroman zuordnen, der nicht das Werden, sondern das Gewordensein der Erzählerin reflektiert.1165 Bei der produktiv-künstlerischen Aneignung ihres familialen Erbes gelingt es der Erzählerin nur bedingt, ihren Anspruch, sich von der als unzureichend empfundenen Fremdzuschreibung ›Tochter eines Überlebenden‹ freizuschreiben, einzulösen. Ob es die Erinnerungen an den Vater sind, dessen spezifische Verhaltensweisen als Ausdruck seiner Überwältigungserfahrung inszeniert werden, ob es die Anekdoten von Familienmitgliedern wie der (Groß-)Mutter sind, die individuelle israelische Einblicke in das Leben der Nachkriegszeit eröffnen oder ob es historische Zusammenhänge wie die Staatsgründung Israels und der Golfkrieg sind – alles Zusammengetragene kreist unaufhörlich um das Fortwirken der traumatischen Erfahrung des Holocaust und die zu tragende Erblast der nachgeborenen Erzählerin. Hinweise zur erzählerischen Gegenwart, die nicht im Zusammenhang mit dem Holocaust stehen, sind rar. Die wenigen Angaben zu ihrer Person, etwa dass sie eine Familie gründet, in Paris lebt und als Schriftstellerin arbeitet, bleiben auf Nebensätze reduziert. Zwar bildet das arrangierte Familienportrait die Individualität ihrer Mitglieder im Vergleich zu den vereinfachenden Fremdzuschreibungen ›Über1163 Ostheimer, Ungebetene Hinterlassenschaften. 2013, S. 15. 1164 Ebd., S. 17. 1165 Vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 137; vgl. Gansel, Die »Grenzen des Sagbaren überschreiten«. 2009, S. 19–38.

Gila Lustiger: So sind wir (2005)

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lebender‹ und ›Tochter eines Überlebenden‹ weitaus facettenreicher ab. Gleichwohl bleibt auch die Selbstnarration dem spezifischen Lebensgefühl einer bestimmten Generation verhaftet, bzw. bleiben Thema und Inszenierung an die besondere Perspektive und den Erfahrungsraum der Tochter eines HolocaustÜberlebenden gebunden. Die Unabgeschlossenheit der Auseinandersetzung mit der Familienvergangenheit findet weiterhin auf der strukturellen Ebene des Romans Ausdruck. So kehrt die Erzählinstanz, die im ersten Teil Erinnerungen, Anekdoten und Fakten zusammenträgt, sich im Fortlauf als Autorin ihrer Familiengeschichte zu erkennen gibt (Wechsel von der extra- in die intradiegetische Erzählebene) und gegen Ende des zweiten Teils sinniert, auf welche Weise sie die Geschichte ihrer Familie inszenieren könnte: »Zeile nach Zeile würde sie Gestalt annehmen, und ich würde mich mit ihnen [den Familienmitgliedern] abplagen, und ich würde […] mit vorsichtigen Schritten in ihre Welten eindringen und […] ihre Landschaften betreten […] ich würde […] ich würde […] ich würde« (SW 253–256), an den Ausgangspunkt ihrer Erzählung zurück (narrative Metalepse, mis en abyme). Auf diese Weise wird eine Grenzüberschreitung zwischen der Welt, in der erzählt wird, und derjenigen, von der sie erzählt, inszeniert. Eine weitere Grenzüberschreitung ergibt sich mit Blick auf die Relation von erzählter Geschichte und empirischer Wirklichkeit, wobei sich »So sind wir« als Autofiktion1166 präsentiert, mithin als Kombination von autobiographischem Pakt und Fiktionspakt:1167 So besteht Namensgleichheit zwischen der Ich-Erzählerin und der Autorin ebenso wie zwischen der Vaterfigur und dem Holocaust-Überlebenden Arno Lustiger. Auch die Verortung der Handlung in den Geschichtszusammenhang des 20. Jahrhunderts stimmt in den Eckpunkten mit der Historie und der Geschichte der Familie Lustiger überein. Weiterhin beteuert die Erzählerin, eine wahrheitsgetreue Darstellung vorzunehmen, wie es für die Gattung der Autobiographie typisch ist: »Warum ich das erwähne? Weil es sich so ereignet hat.« (SW 63) Zugleich finden sich Signale, die »So sind wir« in den Bereich der Fiktion verorten, so etwa der Hinweis »Familienroman« im Paratext und die Thematisierung der Lückenhaftigkeit der Erinnerungen und der Notwendigkeit, zu erfinden: »Ich habe eben erfunden, […] weil ich erfinden muss. Ein Grund ist wohl, dass ich mir den Leser vorstelle.« (SW 46) Das Angebot beider Pakte verunmöglicht die eindeutige Gattungszuordnung (ebenso wie eine ausschließlich individuelle oder exemplifizierende Rezeption). Im Erzählen, das gleicher1166 Die Gattungsbezeichnung Autofiktion ist vom Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky Mitte der 1970er Jahre geprägt worden und wird seither weitreichend diskutiert; sie verbindet zwei eigentlich unvereinbare Erzählweisen miteinander: die Autobiographie und den Roman. Vgl. Martínez, Matías: [Art.] »Fiktionalität«. In: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moennighoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3. Aufl. Stuttgart 2010: J.B. Metzler, S. 240. 1167 Vgl. Zipfel, Autofiktion. 2009, S. 304–311.

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maßen Wahrheit bzw. Realität und Wirklichkeit bzw. Phantasie forciert, spiegelt sich das aus eigenen und fremden bzw. imaginierten Aspekten konstituierende Ich. Gesamtheitlich betrachtet zeigen das ›Was‹ und ›Wie‹ des Romans die Korrelation von Thema und Inszenierung: Das Phänomen der Transgenerationalität bzw. die »Verklammerung der Generationen«1168 wird auf der Handlungsebene durch den Übertragungsmodus des Schweigens und auf der Darstellungsebene durch den kontinuierlichen Wechsel zwischen erinnerndem und erinnertem Ich sowie die zirkuläre Erzählweise erfahrbar.

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Ute Scheub: Das falsche Leben. Eine Vatersuche (2006)

6.2.1 Einleitung Die promovierte Politikwissenschaftlerin, Mitbegründerin der Tageszeitung taz, Journalistin und Autorin Ute Scheub wurde 1955, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Tübingen geboren.1169 In ihrem 2006 veröffentlichten autofiktiven Roman »Das falsche Leben« setzt sie sich kritisch mit ihrem Vater, einem ehemaligen Mitglied der Schutzstaffel (SS) und begeistertem Anhänger der nationalsozialistischen Idee, auseinander. Ausgangs- und Endpunkt ihrer genealogischen Verortung ist der Suizid des Vaters, den dieser 1969 auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart mittels Zyankali und den Worten »Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS« (FL 7) öffentlich inszenierte.1170 Zu diesem Zeitpunkt ist die Autorin dreizehn Jahre alt; soweit die tatsächlichen Ereignisse. 35 Jahre später, im Jahr 2004, wendet sich die im Erzähltext eingesetzte Ich-Erzählerin namens Ute explizit jenem Mann zu, der Rassenhygiene studiert und davon geträumt hat, »›Zuchtwart‹« (FL 88) zu werden, der sich freiwillig zum Flak-Kanonier hat ausbilden lassen, an Einsätzen der Wehrmacht in Italien und Nordafrika beteiligt gewesen ist, der sein Mittun an den NS-Verbrechen nach Kriegsende verschwiegen, seine NS-Anhängerschaft offenbar niemals ernsthaft revidiert und ihr in der Rolle des Vaters fremd geblieben ist. In ihrer Vatersuche legt Scheub »deutsche Familienverhältnisse [frei],

1168 Bohleber, Transgenerationelles Trauma. 1998, S. 256. 1169 Vgl. Scheub, Ute (Hrsg.): Ute Scheub, Personalien. (Letzter Zugriff am 18. 11. 2020). 1170 Der Suizid ereignete sich auf dem Kirchentag bei einer Lesung von Günter Grass, in der dieser gegen provozierten Protest Stellung nahm. Die Geschichte des Mannes verarbeitete Grass in seinem Roman »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« (1972) in der Figur Manfred Augst (FL 7f.).

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die nicht untypisch sind für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts«1171 und es gelingt ihr, so die einhellige Meinung der Presse, »diesen Mann, der seit seiner Jugend ein lebendig Verschütteter war und sich zugleich als Christ, Pazifist und Nationalsozialist fühlte, unter dem Schutt des Jahrhunderts hervorzuziehen«1172. Ausgelöst wird die in mehreren Schritten als Rückwende inszenierte Suchbewegung der Erzählerin durch einen Zufallsfund von Dokumenten des Vaters auf dem Dachboden ihres Elternhauses, der den bis dato verdrängten Generationenkonflikt neu entfacht: Ich schämte mich für diesen Vater nicht erst, seit er tot ist. Er war mir durch und durch peinlich […]. Seit ich denken kann, habe ich meinen Vater als unnahbar, unerreichbar, unfassbar empfunden. Ich weiß nicht, wann ich aufhörte, von ihm irgendetwas zu erwarten. Und irgendwann hörte ich auch auf, mich an ihn erinnern zu wollen. Schon vor seinem Tod versuchte ich, wann immer es mir möglich war, seine Existenz zu vergessen, und erst recht danach. […] Ich gebe der Kiste einen kleinen Fußtritt […]. Soll er doch verrotten in seinem Grab. Was geht mich der Kerl an. Seit 35 Jahren tot, und das soll er gefälligst auch bleiben. Andere haben Väter, die im großen Projekt der Weltveränderung engagiert waren, auf die sie stolz sein können, ich habe nur diesen abgestandenen Nazi zu bieten mit seinen abgestandenen Ideen. (FL 26, 27, 39)

Doch die Abwehrhaltung der Erzählerin weicht sukzessive dem Bedürfnis, sich auf die schmerzhafte Auseinandersetzung mit ihrem Vater und dem Familientabu einzulassen. Sie überwindet ihre Angst, möglicherweise schreckliche Verbrechen eines nahen Familienmitgliedes aufzudecken und sich den »damit verbundenen psychischen Konsequenzen«1173 zu stellen, die sie ihrem Vater gegenüber in einen Loyalitätskonflikt bringen würden. So geht sie nach über drei Jahrzehnten den furchteinflößenden Gedanken nach: Was würde es bedeuten, sein »Geheimnis [zu] ergründen, […] Beweise zu finden, dass mein Hass begründet war? Und wenn ich sie fände? Wenn ich sie fände, dann – dann wären die Leichen meines Vaters auch meine Leichen« (FL 43). Bei ihrer Suche »stehen Liebes-Sehnsucht und Wahrheits-Suche einander gegenüber, das Wissen-Wollen und das Nichtwissen-Wollen«1174. Doch wie soll sie vorgehen bei der Aufdeckung der verschwiegenen Geschichte, sind doch die Erinnerungen an den Vater, wie 1171 Cicero Magazin für politische Kultur (Hrsg.): Ute Scheub: Das falsche Leben. Eine Vatersuche. Cicero Kurz und Bündig. (Letzter Zugriff am 24. 08. 2021). 1172 Ebd.; vgl. Weickmann, Dorion: Der Verhasste. Süddeutsche Zeitung, Buchkritik vom 25. 04. 2006, S. 16; vgl. Nicolini, Elke: Ekel, Scham, Schuldgefühl. Ute Scheub: »Das falsche Leben. Eine Vatersuche.« Deutschlandfunk Kultur, Buchtipp vom 26. 02. 2006. (Letzter Zugriff am 19. 12. 2020). 1173 Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Dialog über den Holocaust. 1999, S. 21. 1174 Arnim, Gabriele von: Kein Gefühl, nirgends. Zeit online, politisches Buch vom 27. 04. 2006. (Letzter Zugriff am 19. 12. 2020).

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die Erzählerin gesteht, vage (vgl. FL 28)? Eine schemenhafte Kontur seines Charakters lässt sich aus den gefundenen Dokumenten herauslösen, den Feldpostbriefen, amtlichen Schreiben, handschriftlichen Notizen, theoretischen Abhandlungen und insgesamt vierzehn Abschiedsbriefen. Im Zuge ihrer Recherchen ergänzt die Erzählerin die im materiellen Erbe des Vaters enthaltenen Hinweise um weitere Stimmen, darunter Zeitungsartikel über dessen Tod, Erzählungen von Familienangehörigen, Stellungnahmen von anderen ›Täterkindern‹ zum Umgang mit ihren dunklen Familiengeheimnissen, historische Daten, soziologische, psychologische, politologische und neurowissenschaftliche Forschungserkenntnisse (u. a. zur Bindungstheorie, zur Verdrängung der Vergangenheit, ihrer unbewussten Weitergabe an die nachfolgende Generation und zum kollektiven Schweigen) sowie literarische Auseinandersetzungen mit dem Erbe der NS-Zeit. Durch die Orchestrierung dieser Vielzahl von Stimmen, durch die der Roman besonders im zweiten Teil »Züge eines wissenschaftlichen Textes«1175 annimmt – offenbar ein Bestreben der Autorin, die Authentizität des Dargestellten zu unterstreichen –1176, sucht die Erzählerin die klaffende Leerstelle in der Alltagskommunikation bzw. im kommunikativen Gedächtnis der Familie nachträglich auszufüllen,1177 mithin zu ergründen, wer ihr Vater gewesen ist und welcher Taten, möglicherweise Kriegsverbrechen, er sich im Einzelnen schuldig gemacht hat. Das Abarbeiten der nachfolgenden Generation an der Schuld der Nazi-Täter und Mitläufer am Zweiten Weltkrieg und an Verbrechen gegen die Menschlichkeit bildet das zentrale Gattungsmerkmal der sogenannten Väterliteratur. Das Genre umfasst autobiographische Texte der Erinnerungsliteratur, in denen sich die Autoren mit der Verstrickung ihrer Väter in der Zeit des Nationalsozialismus bzw. des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzen. Die Texte verstehen sich in der Regel als persönlicher Beitrag zur deutschen Geschichtsaufarbeitung im Rahmen des kulturell-gesellschaftlichen Gedächtnisdiskurses. Sie vermitteln historische Fakten am Beispiel persönlicher, privater Geschichten, in denen sich die große Geschichte mit ihren Brüchen und Kontinuitäten erkennen lässt.1178

Die literarische Vater-Suche ist wegen »der Partizipation der Väter am nationalsozialistischen System und der generationsübergreifenden ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ […] ein Phänomen des deutschsprachigen Raumes und dessen 1175 Borowicz, Dominika: Vater-Spuren-Suche. Auseinandersetzungen mit der Vätergeneration in deutschsprachigen autobiographischen Texten von 1975 bis 2006. Zugl. Berlin Univ. Diss. 2001. Göttingen 2013: V&R unipress, S. 24. 1176 Vgl. ebd., S. 23–25; vgl. Gansel, Rhetorik der Erinnerung. Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur. 2009, S. 29. 1177 Vgl. zum Begriff kommunikatives Gedächtnis Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 9–19; Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. 2008, S. 14. 1178 Borowicz, Vater-Spuren-Suche. 2013, S. 19.

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Mentalitätsgeschichte«1179. Scheubs Text »Das falsche Leben« lässt sich der zweiten Veröffentlichungswelle dieser Gattung zuordnen, die Anfang des 21. Jahnhunderts aufkam.1180 Suchten in den Ende der 1970er bzw. Mitte der 1980er Jahre publizierten Texte primär die Söhne die Auseinandersetzung mit ihren Vätern,1181 ergriffen »bei den […] Veröffentlichungen [ab 2000] überwiegend die Töchter das Wort, die ihre beschädigte Vater-Kind-Beziehung grundsätzlich im Kontext der Vaterlosigkeit und des Generationenkonflikts analysier[t]en«1182. Für die Autoren der ersten Welle steht insbesondere die »Frage nach der eigenen Identität«1183 im Zentrum ihres Schreibens, von der »auch die emotionalisierte und kompromisslose Abrechnung mit dem Vater [rührt], die viel stärker im Kontext der Abgrenzung vom nationalsozialistischen Erbe der Väter behandelt [… wird].«1184 Im Unterschied dazu erfolgen die ab der Jahrtausendwende, nach Ablauf eines längeren zeitlichen Abstands zu den Geschehnissen veröffentlichten Auseinandersetzungen mit den Vätern stärker »im generationellen Zusammenhang, wodurch sie grundsätzlich als Dialog zwischen Generationen und als Versuch einer Versöhnung mit der Vergangenheit zu verstehen [… sind]«1185.1186 Dies trifft auf Scheubs »Das falsche Leben« zu, in dem die Erzählerin neben der Abrechnung mit ihrem Vater auch eine Annäherung an seine Person zulässt: Ja, ich habe mich mit meinem Vater versöhnt, ich habe ihm verziehen, was er mir angetan hat. […] Doch eines kann ich [… ihm] nicht verzeihen: das, was er als aktiver Propagandist des Rassenwahns den Opfern angetan hat, direkt oder indirekt. Hier verläuft die absolute Grenze jeder familiären Aufarbeitung, […] hier beginnt die Sphäre des Politischen. […] mein Vater hat sich für das Täterkollektiv entschieden. Indem er jedes Mitgefühl für die Opfer verweigerte, indem er ihnen in über zwanzig Jahren […] nicht einen Lidschlag Aufmerksamkeit, nicht eine Sekunde Anerkennung, nicht eine einzige Bitte um Verzeihung [widmete]. Das ist und bleibt für mich das Schlimmste an ihm. (FL 262, 264f.)

1179 Ebd., S. 73. 1180 Vgl. ebd., S. 20f.; zu den Autoren der zweiten Väterliteratur-Welle zählt Borowicz u. a. Uwe Timm mit »Am Beispiel meines Bruders« (2003), Ulla Hahn mit »Unscharfe Bilder« (2003), Wibke Bruhns mit »Meines Vaters Land. Geschichten einer deutschen Familie« (2004), Monika Jetter mit »Mein Kriegsvater. Versuch einer Versöhnung« (2004), Dagmar Leupold mit »Nach den Kriegen« (2004) und Niklas Frank mit »Meine deutsche Mutter« (2005). Vgl. ebd. 1181 Vgl. ebd., S. 21f.; Borowicz stellt heraus, dass »das Konkurrenzverhältnis bzw. der Kampf gegen den Vater, vor allem auf der sozialen Ebene« im Zentrum steht. Ebd., S. 20f. 1182 Ebd. 1183 Ebd., S. 16. 1184 Ebd. 1185 Ebd., S. 16f. 1186 Vgl. ebd., S. 17.

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Nicht am eingenommenen Zyankali, so ist die Erzählerin überzeugt, sondern an den »in seiner Seele vergrabenen, nie eingestandenen, nie formulierten Schuldgefühle[n]« (FL 43f.), »an seinem Schweigen, [ist er] erstickt« (FL 40). Welche Taten ihr Vater darin gehüllt, welche intrapersonalen Folgen es für ihn mit sich gebracht und inwiefern sein Schweigen im Sinne eines Mechanismus’ seine reale, nicht anerkannte Schuld in eine stellvertretende Schuld- und Schambereitschaft der nächsten Generation übertragen hat,1187 wird folgend herausgearbeitet.

6.2.2 Erinnerungen an eine Vater-Tochter-Beziehung: Affektive Störungen Die Vergangenheit hatte sich auf dem Dachboden abgesetzt, und ich habe sie dort gefunden. Ich bin die Holzstufen hochgeknarrt, über die ich schon als Kind gelaufen war, vor vierzig Jahren und mehr. Jetzt bin ich nicht mehr so leichtfüßig, keuchen muss ich, und meine blonden Haare werden langsam weiß. Aber die Tür zum Dachboden ist immer noch die Geheimnistür meiner Kindheit. Auch damals hat sie wie ein Gespenst aufgeheult, wenn ich sie geöffnet habe. Ich will aber keine Gespenster suchen, sondern nur eine kleine Vase, meine Lieblingsvase aus grünem Glas, in die ich als Kind Margeritensträuße gestopft hatte […]. Ich will die Vase aus dem schwäbischen Haushalt nach Berlin retten, wohin auch ich mich gerettet hatte, gleich nach dem Abitur. (FL 9)

Es sind die Ereignisse, die die Vatersuche in Gang setzen, die im Anschluss an den zweiseitigen Texteinstieg, die Darstellung der väterlichen Suizid-Szene auf dem Kirchentag in externer Fokalisierung, präsentiert werden. Ausgehend vom Ende der Suchbewegung im Jahr 2005 erfolgt im Wechsel vom ersten, in ultimas res einsetzenden Satz zum folgenden Abschnitt eine Rückwendung (Analepse) in das Jahr 2004, in dem die autodiegetische Erzählinstanz namens Ute ansetzt, die Suche nach ihrem Vater gewissermaßen ab ovo in Form der Präsentation von Gedankenrede, dabei weitgehend im narrativen Modus, zu vermitteln. Die Erzählzeit bzw. ihre Recherche umfasst etwa ein Jahr, wohingegen die erzählte Zeit 56 Jahre, die Lebenszeit des Vaters, umspannt, beginnend von dessen Geburt im Jahr 1913 bis zu dessen Tod im Jahr 1969. Dabei wendet sich die Erzählerin zunächst ihren Kindheitserinnerungen an den Vater zu, wechselt in einem zweiten Schritt in die Zeit seines Aufwachsens und des Zweiten Weltkrieges, rollt sodann die Nachkriegszeit auf und beendet ihre Suche schließlich am Ort seines Suizids, wo erzählte Zeit und Erzählzeit zusammenlaufen. So weckt der Aufstieg auf den Dachboden des Elternhauses in Tübingen (Basiserzählung), Erinnerungen an ihre »vierzig Jahre[] und mehr« (FL 9) zurückliegende Kindheit. Angedeutet wird, dass dieser Lebensabschnitt von Erfahrungen geprägt worden 1187 Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickung. 2013, S. 14.

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ist, deren schmerzhafte, mithin verstörende Qualität ihren fluchtartigen Auszug »gleich nach dem Abitur« (ebd.), in der sich ihr »Wunsch nach Entidentifizierung und Distanzierung sowie reale räumliche und emotionale Entfernung [spiegelt]«1188, nach sich gezogen haben.1189 Zwar ist die Erzählerin auf der Suche nach der Vase nicht gewillt, sich zu erinnern, doch mit dem Öffnen der Dachbodenbzw. der »Geheimnistür« (ebd.) ihrer Kindheit gewährt sie jenem unliebsamen Gespenst Einlass in ihre Gegenwart, vor dem sie seit Jahrzehnten furchtsam zurückweicht – der Figur ihres Vaters. So lässt bereits der kurze Textausschnitt erkennen, dass neben dem Schweigen auch das Prinzip ›Erinnerung‹ für die Konzeption des Romans und die Entwicklung der Erzählerin im Sinne von Hans Robert Jauß den Status einer systemprägenden Dominante einnimmt.1190 Auf dem Speicher stolpert die Erzählerin über eine Pappkiste, die »längt jede ordentliche Kistenform verloren [hat … und aus der] Briefe […] heraus[fallen], halb zerfressene Briefumschläge, Blätter mit handschriftlichen Notizen, Blätter mit Maschinenschrift, verstaubtes, vergilbtes, sich brüchig auflösendes Papier« (FL 10). Dazwischen liegt ein auffällig »gelbliche[r] Briefumschlag, ohne Adresse, ohne Briefmarke, aber vorn und hinten vollgekrakelt […] ein Abschiedsbrief [… des] Vaters« (ebd.). Die Reaktion der Erzählerin auf den Fund spiegelt ihre über Jahrzehnte gefestigte innere Abkehr vom Vater wider und lässt ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber, die eine scheinbare ist, zutage treten: Ich horche in mein Inneres. Bin ich schockiert? Beginne ich zu zittern? Zittern mir wenigstens die Finger? Ich zittere nicht. Ich stöhne nicht. Ich muss mich nicht setzen. Mein Herz schlägt seinen normalen Takt. In mir herrscht eine Ruhe, die mir selbst unheimlich ist. Vielleicht ist es so etwas wie eine örtliche Betäubung, ausgelöst durch einen Kälteschock, den ich vor 35 Jahren erfahren habe. Kann jemand so viele Jahre örtlich betäubt in der Gegend herumspazieren? Betäubt in jenen Gegenden von Herz und Hirn, die für Väter reserviert sind? (FL 11)

Der unbeholfene, angestrengte Wortlaut des Abschiedsbriefes und die auf der Rückseite des Umschlags notierten Gedanken vergegenwärtigen der Erzählerin, dass der Vater sich mit Worten »überhaupt nicht ausdrücken [konnte]« (FL 12). Sie zitiert und kommentiert das Geschriebene: »›Einander antworten, doch Wort und Tat in die Antwort sich selber hineingeben …‹ Einer seiner typischen Sätze. Eine Nullaussage. Ein geschwollenes, geschwulstiges Nichts. Was soll das denn heißen?« (ebd.) Sein sprachliches Unvermögen erinnert sie als Eigentümlichkeit seiner Person: »Er presste Worte hervor, dann hielt er inne, rang mit ihnen als ob 1188 Ebd., S. 12. 1189 Vgl. zum Begriff Störung Gansel, Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur. 2014, S. 315–332; vgl. Ders., Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 31– 56. 1190 Jauß, Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. 1977, S. 332f.

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er es mit einem Gegner im Ring zu tun hätte, verhedderte sich in der Grammatik und verstummte irgendwann, innerlich und äußerlich völlig verkrampft. Und dabei wollte er doch so gerne reden.« (FL 36) Während sie über ihn nachdenkt, spürt sie Wut und Verachtung: »Vater«, flüsterte ich in der Düsternis des Dachbodens, »nicht einmal einen anständigen Abschiedsbrief hast du hingekriegt. Den schreibt man mit Pathos, mit Herzblut, mit Anklagen gegen Gott und die Welt! Und auf blütenweißem Papier, nicht auf einen gebrauchten Briefumschlag! Und man hinterlegt ihn so, dass die ganze Familie darüber stolpert! Stattdessen muss ich ihn nach so vielen Jahren als Fetzen […] finden. Nicht einmal einen anständigen Suizid hast du hinbekommen, du ewiger Versager, Du warst nur lächerlich. Dein ganzes Leben lang.« (FL 12f.)

Augenscheinlich stellt Verachtung eine Schlüsselemotion in der Beziehung zu ihrem Vater dar. Das Gefühl aktiviert eine Szene von seiner Beerdigung, die sich nachhaltig in ihr Gedächtnis eingebrannt hat. Es ist die einzige Erinnerung an den Vater, in der die Erzählerin aus der Perspektive des erinnernden erwachsenen Ichs in die Perspektive des erinnerten erlebenden Kindes, den Kinderblick, wechselt;1191 mithin setzen field memories ein:1192 Mir fällt ein, wie ich bei der Beerdigung meines Vaters aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen bin. Ich weiß noch, ich war […] dreizehn, ein Kind noch, dürr und busenlos […]. Solange ich denken konnte, hatte ich mir das gewünscht, und nun war es in Erfüllung gegangen! […] Mein Vater, den ich so gehasst hatte, war endlich weg! […] Ein paar Tage später Beerdigung. Andacht in der Kapelle des Bergfriedhofs […]. Dann ging es nach draußen, ins helle Licht des Lebens. Ein Sommertag, Sonnentag, Freudentag, Vögel sangen […]. Ich lief ein paar Schritte hinter dem Sarg, zwischen meinen Brüdern und meiner Mutter mit ihren komischen schwarzen Seidenstrümpfen. Die sehen vielleicht witzig aus! Ich spüre, wie mir ein Lachen den Hals heraufquillt, wie es von mir Besitz zu ergreifen versucht wie der Teufel von einer Seele. Der Brustkorb bebt, es will hinaus, hinaus! Hurra, der Vater tot! Endlich frei! Das Leben kann beginnen! Um Gottes willen, wenn das jemand sieht, jemand hört! Nein, mir ist nicht zum Lachen. Nicht ich lache, es lacht. Eine fremde, diabolische Macht in mir lacht. Ich presse die Hand vor den Mund, mein ganzer Körper ist verkrampft, woher soll ich die Luft zum Atmen nehmen, wenn ich das Lachen nicht hinauslassen darf, zum Glück sind alle damit beschäftigt, Trauergesichter zu ziehen, bloß weg hier, ich schere aus der Gruppe aus, tue so, als hätte mich ein Hustenanfall gepackt, huste heftig und ausführlich und lasse die Trauernden an mir vorbeiziehen. Langsam lässt der Lachkrampf nach. (FL 13f., 15f.)

1191 Vgl. zur Unterscheidung von Kinder- und Erwachsenenblick Gansel, Rhetorik der Erinnerung. Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur. 2009, S. 25. 1192 Vgl. zur Unterscheidung von field memories und observer memories Shacter, Wir sind Erinnerung. 2001, S. 45.

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Offenbar verknüpft die Erzählerin den Tod des Vaters mit solch einem immensen Gefühl der Befreiung, dass sie die Erinnerung daran noch nach über drei Jahrzehnten detailliert aus ihrem Gedächtnis abrufen kann. Es hängt dies, wie kognitions- und neurowissenschaftliche Untersuchungen zur Funktionsweise des autobiographischen Gedächtnisses zeigen damit zusammen, dass »spezifische Ereignisse […] gut [im Sinne von über einen längeren Zeitraum, mit hoher Genauigkeit und in detaillierter Form] erinnert [werden], wenn sie überraschend oder erstmalig waren, von starken Emotionen begleitet [… und] folgenreich waren«1193. Die herausragende Bedeutung seines Todes, der die Biographie der Erzählerin in ein Vorher und Nachher teilt, wird auf der Darstellungsebene durch verschiedene Mittel inszeniert: Erstens durch den abrupten Zeitformwechsel vom Präteritum zum Präsens – »ich lief ein paar Schritte« (FL 15) versus »Die sehen vielleicht witzig aus!« (FL 16) –, wodurch das bis dato nachträgliche ins gleichzeitige Erzählen mündet, zweitens durch die Konzentration auf die Innenwelt der Erzählerin, wodurch das sie umgebende Geschehen in die Ferne rückt und das Voranschreiten der Zeit retardiert wird und drittens durch das Zurückdrängen des distanziert evaluierenden Beobachterblicks (observer memories) durch kindlich-naive Bewusstseinsprozesse (sensorische, kognitive, emotionale und physiologische Elemente).1194 Noch in der erzählerischen Gegenwart, so beschreibt sie die anhaltende Wirkung seines Todes, wird sie von einem wiederkehrenden Alptraum verfolgt: Mein Vater kommt zurück, ein dunkler, hagerer, faltiger Mann mit verkniffenen Lippen und einer riesigen Hornbrille. Er sagt, er sei nicht gestorben, […] nur lange verreist gewesen […]. Er sagt, niemand könne beweisen, dass er gestorben sei […]. Er verlange, wieder in seine Rechte eingesetzt zu werden. Er verlangt Achtung und Beachtung. Wir, seine Kinder schuldeten ihm Gehorsam. (FL 26)

Der sich assoziativ einstellende Erinnerungsprozess offenbart die Ablehnung des Vaters durch die Erzählerin, ihre Flucht aus dem Elternhaus und ihre noch in der Gegenwart erfolgende Abwehr seiner Person als Ausdruck einer tiefgreifenden Störung der Vater-Tochter-Beziehung. Doch welche schmerzhaften Erfahrungen sind seinem Tod vorausgegangen? Worin begründet sich ihre Angst vor dem Vater, dem »größten aller Schrecken« (ebd.), der als Gespenst noch durch die Träume ihrer Gegenwart geistert? Es sind ausschließlich negativ konnotierte Erfahrungen, die die Erzählerin auf dem Dachboden im Zusammenhang mit ihren Vater erinnert. Rückblickend findet sie für sein Auftreten gegenüber seinen Kindern das Sinnbild der unablässig rotierenden »Vorwurfsmaschine« (FL 25): »Ihr seid zu laut, ihr gehorcht 1193 Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 76; vgl. Bohleber, Trauma. 2011, S. 13. 1194 Vgl. zur Unterscheidung von field memories und observer memories Shacter, Wir sind Erinnerung. 2001, S. 45.

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nicht, ihr vergesst eure Pflichten, ihr helft nicht im Garten, ihr seid dumm, ihr habt eine Zwei geschrieben statt einer Eins« (ebd.), hallt seine Stimme nach. Wiederkehrend erfährt sie Demütigungen, etwa bei der Gartenarbeit: »Der Vater […] tat, was ihn am meisten befriedigte: Rosen beschneiden. […] schnipp schnapp. Ja, und ich sollte die dornigen Zweige auflesen, ohne Handschuhe, und in den Kompostbehälter werfen. Er hatte seinen Spaß, und ich tat mir weh« (FL 51). Hinzu kommt Rücksichtslosigkeit, wie sie sie an jenem Tag erfährt, als der Vater sie zum Skilanglauf mitnimmt und er die Grenzen ihrer kindlichen Konstitution zugunsten seines eigenen Sportvergnügens maßlos überstrapaziert: Zuerst hatten wir [die Erzählerin und eine Freundin] unseren Spaß an den verschneiten Tannen, deren Zweige sich unter der dicken Zuckerschicht bogen. Aber mein Vater jagte uns weiter und weiter und immer weiter. Keine Pause, kein Verschnaufen. Und keine Antwort auf unsere Fragen, wann wir endlich umkehren würden. […] Durchgefroren bis aufs Mark, am Ende unserer Kraft, langten wir in tiefer Dunkelheit zu Hause an. Die beiden Mütter waren außer sich. (FL 29)

Resigniert rekapituliert die Erzählerin: »Härte zeigen, sich abhärten, das war sein Erziehungsprogramm.« (FL 30) Ihre Brüder hingegen treffen seine »kurzen, heftigen Eruptionen von Gewalt« (FL 35), er verpasst ihnen »in jähen Wutanfällen […] manchmal so heftige Ohrfeigen, dass sie aus der Nase bluteten, oder er tunkte ihre Gesichter in heiße Suppe« (ebd.). Dass der Vater gegenüber seinen Kindern eine »aggressiv-feindselige, Leistung und Gehorsam fordernde Einstellung«1195, mithin einen autoritären Erziehungsstil zeigt, lässt sich als Ausdruck der sogenannten Gefühlserbschaft1196interpretieren, die darauf hinweist, dass der Zusammenbruch des NS-Regimes beim Vater gerade »nicht zu einer Neubesinnung und tieferen Reflexion der Involvierung in die NS-Ideologie [führt], sondern dazu, dass [… er sich] der Richtigkeit [… seiner 1945 außer Kraft gesetzten] Wertvorstellungen in der Beziehung zu den Kindern versichert []«1197. Die narzisstische Funktionalisierung der Nachkommen als Selbstobjekte steht im Zeichen der Aufrechterhaltung und Stabilisierung seiner Selbstachtung und Identität.1198 Sie weiß noch, dass sie »in dem verzweifelten Bemühen, ihm zu imponieren« (FL 30) beginnt, väterliche Verhaltensweisen zu übernehmen, etwa die Morgendusche kalt zu vollziehen (vgl. ebd.) – »doch da ich auch dafür keinen Lidschlag erhöhter Aufmerksamkeit kassierte, gab ich das unangenehme kalte Ritual schnell wieder auf« (ebd.). Das von der Erzählerin erinnerte Gefühl des unablässigen, jedoch erfolglosen Ringens um die Anerkennung kindlicher Bedürfnisse beschreiben sozialpsychologische Studien als typische Ausprägung der 1195 1196 1197 1198

Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickung. 2013, S. 12. Freud, Totem und Tabu. 1994, S. 441. Bohleber, Trauma. 2011, S. 20. Vgl. ebd.

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(unbewussten) Weitergabe der Schuldverstrickung von NS-Tätern und Mitläufern an die nachfolgende Generation: die Ignoranz und Ablehnung kindlicher Bedürfnisse durch Eltern, die von nationalsozialistischer Erziehungs- und Herrenmenschenideologie geprägt sind, [bewirken] bei den Kindern Gefühle der Wertlosigkeit. Diese Kinder bekommen das Gefühl, nur mittels Unterwerfung und Selbstaufgabe eine Akzeptanz durch die Eltern erreichen zu können.1199

Vor dem Hintergrund der im Kinderalltag erfahrenen Zurückweisungen sticht ein Erlebnis von besonders verstörender Qualität hervor: Mir fällt eine Szene aus den österreichischen Alpen ein, die ich lange vergessen hatte. […] Einmal balancierten wir zusammen mit einer Gruppe von Bergwanderern auf einer gefährlich schmalen Spur über einen Gletscher. Wahrlich kein geeigneter Weg für eine Zehnjährige. Ich fühlte mich unsicher und hatte elende Angst. Und rutschte prompt aus, Richtung Abgrund. Einer der Wandersleute konnte mir in letzter Sekunde seinen Spazierstock hinhalten, ich ergriff ihn, er zog mich zurück. Auf den Pfad. Ich zitterte, ich empfand Todesangst und schrie nach meinem Vater. Der drehte sich kaum um, meinte nur über die Schulter: »War doch nichts, stell dich nicht so an.« (FL 32f.)

Die Szene illustriert den Kern des Vaterkonflikts, den implizit formulierten Vorwurf, er sei ihrem Bedürfnis nach Wahrnehmung in ihrer Eigenheit und Bedürftigkeit, nach Einfühlsamkeit und angemessener affektiver Interaktion nicht nachgekommen,1200 er habe mithin in seiner Rolle als Vater versagt. Seine Gefühlskälte und unterlassene Fürsorge haben die schmerzhafte Gewissheit geformt, ihm gleichgültig zu sein (FL 33). Den Eindruck des Kindes, für den Vater »nicht existent. Ein Loch in der Luft, […] uninteressant [zu sein]« (FL 27), erfährt durch eine Äußerung Bestätigung, mit der er »ausschließlich Mädchen und Frauen [meinte]« (FL 33): »›Bisschen doof ist niedlich‹« (ebd.). Retrospektiv erwidert sie: »Doch ich war nicht doof. Also war ich beleidigt. Und zutiefst verletzt.« (ebd.) Dass er sich von Teilen seiner eigenen Familie distanziert, die er als minderwertig betrachtet, offenbart sich ihr in einem Gespräch, in dem der ehemalige Student der NS-Rassentheorie äußert, nur blonde und blauäugige Menschen zu mögen (vgl. FL 36). Auf die entrüstete Nachfrage seiner Tochter: »Deine Frau und einer deiner Söhne, sie haben schwarze Haare und blaue Augen […]. Magst du sie nicht?« (FL 37), antwortet er: »Das ist die dinarische Rasse […]. Flacher Hinterkopf und schwarze Haare. Eine minderwertige Rasse, asiatisch 1199 Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickung. 2013, S. 22; vgl. Radebold, Hartmut/Bohleber, Werner/Zinnecker, Jürgen: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Kinder des Weltkrieges. 2. Aufl. Weinheim/München 2009: Juventa, S. 7–12. 1200 Vgl. Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickung. 2013, S. 17.

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beeinflusst. Ich war entsetzt: Wie redete er über uns?« (ebd.). Gesamtheitlich betrachtet variieren die aufgerufenen Erinnerungen das Gefühl der Wertlosigkeit, das sich als Kern ihrer väterlichen Wahrnehmung bestimmen lässt. Unter Einbezug sozialpsychologischer Studien zum Fortwirken der konflikthaften Vergangenheit in Familien von NS-Tätern und Mitläufern lässt sich der gefühlskalte, teils demütigende Umgang des ehemaligen SS-Mannes mit seinen Kindern als »Wendung gegen das Selbst und die eigene Familie«1201 interpretieren, als Fortsetzung jenes »destruktiven Impulse[s], mit [… dem er in der NSZeit] zuvor ›den Feind‹, Juden, Sinti und Roma oder andere Gruppierungen bedroht und verfolgt hat[]«1202. Es ist denkbar, dass er zu Lasten seiner Familie versucht hat, den Zusammenbruch seines »narzisstisch beschädigte[n] Selbst [zu] ›reparieren‹«1203. Auffällig ist, dass das Erinnern, dessen Fixpunkt in erster Linie die Gegenwart ist, in einer Art Schneeballverfahren erfolgt. Es hängt dies, wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur Funktionsweise des Gedächtnisses darlegen, mit der spezifischen Qualität der Gedächtnisinhalte zusammen. Dabei stehen weniger die räumlichen und zeitlichen Kontextinformationen jener Ereignisse im Fokus als vielmehr die sensorisch-perzeptuellen Ereignisdetails, primär emotionale Dispositionen, sogenannte heiße Gedächtnisanteile,1204 die im Gehirn in Form eines assoziativen Netzwerks abspeichert werden: »Innerhalb eines Netzwerks bedingt die Aktivierung einzelner Bestandteile die Koaktivierung anderer Elemente.«1205 Eben dies trifft auf die Erzählerin zu, die sich mit dem Eintritt auf den Dachboden ungewollt in einen sich verselbstständigen Strom des Erinnerns schmerzhafter Erfahrungen begibt. Hinsichtlich der Gesamtkonzeption des Romans erfüllt das Erinnern die explikative Funktion, offenzulegen wie es zu der »örtliche[n] Betäubung« (FL 11) jener »Gegenden von Herz und Hirn, die für Väter reserviert sind« (ebd.) gekommen ist (analytisches Erzählmodell). So gewähren die Rückwenden in einer Art Überschau Einblicke in die entscheidenden Momente bzw. Negativ-Piks der Vater-Tochter-Beziehung, die die innere Abkehr der Erzählerin von ihrem Vater als Ergebnis einer Serie von verstörenden Erfahrungen, die über dreißig Jahre lang unverarbeitet geblieben sind, nachvollziehen lassen.

1201 1202 1203 1204

Ebd., S. 12. Vgl. ebd. Ebd., S. 22. Vgl. Metcalfe/Jacobs, A ›Hot-System/Cool-System‹ View of Memory Under Stress. 1996, S. 1–3; vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 330f. 1205 Ebd., S. 331.

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6.2.3 Suche nach dem verschwiegenen schuldhaften Tun Rückblickend bringt die Erzählerin das verstörende Verhalten des Vaters mit seiner Verstrickung in den Zweiten Weltkrieg in Zusammenhang. Um mehr über ihn in Erfahrung zu bringen, fährt sie zum Ort seines Aufwachsen. Sie will »sehen, was das für ein Haus war, in dem [… er] aufgewachsen ist, was es für eine Luft atmet, welche Tapetenmuster es trägt, welche Spuren der Geschichte« (FL 63). Doch das Gespräch mit der dort noch lebenden Familienangehörigen, die »über 80 Jahre alt [… und] immer noch in der NPD aktiv [ist]« (ebd.) bringt kaum neue Erkenntnisse: »Meine Verwandte lebt in einer Welt, zu der ich keinen Zugang habe.« (FL 64) Lediglich ihr Vorwurf, der Vater habe sich nach dem Ende des Krieges einer ernsthaften Selbstkorrektur verweigert, gewinnt durch den Spruch »›Lerne zu schweigen, ohne zu platzen‹« (ebd.), der an der Badezimmerwand montiert ist, Nachdruck: Das Leitmotiv der Familie? Wie passend für das Klo! Mein Vater hat geschwiegen und ist dabei doch geplatzt. Er hat konsequent alles beschwiegen, was er im Nationalsozialismus getan hat. Kein Wort darüber drang ihm je über die Lippen. Wenn man nachfragte, und sei es noch so vorsichtig, machte er wütende Gesten der Abwehr. Der ehemalige Flak-Schütze ging in Stellung, seine Kanonen waren schussfertig. Aber nicht mit Worten, niemals mit Worten. Er schwieg und platzte. (FL 64f.)

Um Anhaltspunkte über die Art seiner nie erzählten Beteiligung am Krieg zu erfahren, gleicht sie die auf dem Dachboden gefundenen Reflexionen und Feldpostbriefe, das Fronttagebuch und die Abschiedsbriefe mit zeithistorischen Dokumenten zum Dritten Reich ab (vgl. FL 65). Dabei sucht sie nicht bloß den zeitlichen Verlauf des Krieges und die Stationierung des Flak-Soldaten zu rekapitulieren. Im Kern zielt der Einbezug externer Quellen, darunter auch wissenschaftliche Erkenntnisse zur Hirnforschung, zur Bindungstheorie und zur Sprache der NS-Zeit darauf ab, nachzuvollziehen, warum der Vater so begeistert in die NS-Ideologie eingestimmt ist und um seine auch in den Dokumenten bloß angedeutete Beteiligung am Krieg zu konkretisieren. Seine Aufzeichnungen zitierend und in teils verständnislosem, teils verachtendem Tonfall kommentierend, zeichnet sie den Vater als »hundertfünfzigprozentige[n] Nazi, ein[en] ideologische[n] Dogmatiker« (FL 82) nach, eine groteske, zu bemitleidende Figur – stets »suchend nach dem Absoluten. Süchtig nach Untergang und Erlösung« (FL 65) –, die unfähig zur Selbstkorrektur gewesen ist. Drei Aspekte sind für die Frage nach seiner verschwiegenen Schuld von besonderer Relevanz: Erstens seine preußische Erziehung, die von patriarchalem Rollenverständnis und mangelnder Gefühlskultur gekennzeichnet ist, mithin seine Sozialisation, zweitens seine Begeisterung für das Prinzip der Kameradschaft, für die Rassentheorie und die Notwendigkeit des Krieges, mithin seine Ideologie, und drittens seine Erfah-

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rungen im Krieg bzw. sein schuldhaftes Tun.1206 Die Dokumente legen nahe, dass der Großvater, »Jahrgang 1887, Volksschullehrer ohne einen höheren Schulabschluss« (FL 67), Soldat im Ersten Weltkrieg (vgl. ebd.), »einen Januskopf getragen haben [muss]: in der Schule und unter den Kollegen [zeigte er sich] jovial und beliebt, zu Hause gefühllos, geizig, manchmal auch gewalttätig. Für ihn war selbstverständlich, dass alle seinen Anweisungen folgen mussten« (FL 70). Der Vater und seine Geschwister sind »zum Schweigen und gehorsamen Hinnehmen erzogen worden« (FL 75), sie haben »gegenüber [… ihrem] herrschsüchtigen Vater [… weder] die Stimme zu erheben [… noch ihre] Gefühle auszudrücken [gelernt], Konflikte in Worte zu kleiden und ihnen damit die Schärfe zu nehmen« (FL 75, 76). »Diese Unfähigkeit zum Dialog [… ist Teil der] ›Schwarze[n] Pädagogik‹ […], die als Erziehungsmethode das Sprechen über eigene Gefühle und Emotionen genauso wie Eltern-Kind-Diskussionen nicht vorsah.«1207 In der Schule ist er »›meist der Jüngste, Kleinste und Schwächste [gewesen …] auch mit dem Reden langsam und leise und schwach‹« (FL 66). Er habe so »›manche Zurücksetzung‹« (FL 75) erlitten, war ein »›Außenseiter‹« (ebd.) und galt als »›Eisbär‹« (ebd.), dessen »höchster Wunsch [es] war, […] richtig dazuzugehören« (FL 66). »›Politisch aktiv […] wurde [… er] erst nach dem Abitur‹« (FL 80), er »›wollte dienen und für [s]ich selber nichts als ein menschliches Genügen finden‹« (FL 78). Konsterniert reflektiert die Tochter: Dienen. Sich einordnen. Verbunden sein. Sich fügen. Gehorchen. Für ihn war es die Erfüllung, sich als Teil eines heiligen Ganzen zu fühlen. Plötzlich war er kein Wicht mehr, sondern wichtig. Er konnte der Kälte seiner Familie entfliehen, er hatte Ideale und Ziele, und: Er trug eine Uniform. (ebd.)

Nicht die Tätigkeit als Apothekerpraktikant, sondern der SA-Dienst habe ihn innerlich ausgefüllt (vgl. 81), er nahm ihn »›in dankbarer Hinnahme der Kameradschaft, ohne groß zu fragen nach den Folgerungen und nach dem Warum […] und war dabei irgendwie glücklich, ohne das alles richtig artikulieren zu können‹« (FL 81). 1933 tritt er in die SS ein (vgl. FL 82), 1934 nimmt er ein Studium der Rassenkunde und Anthropologie in Jena bei NS-Rassentheoretiker Hans F.K. Günther auf (vgl. FL 83f.). »Ausgerechnet im ›Mustergau‹ Jena, an der Vorzeigehochschule der Nazis« (FL 83), bemerkt die Tochter. Er wohnt im »›SSMannschaftshaus Trutzburg‹« (ebd.), einer der »Aufzuchtstationen für die ›rasseorientierte‹ Wissenschaftselite des NS-Staates« (FL 85), ergibt ihre Re1206 Zu Aspekten des historisch-belasteten Generationenkonflikts zwischen den im Krieg beteiligten Vätern und ihren Kindern, der Nachkriegsgeneration, vgl. Assmann, Aleida: Hilflose Despoten. Väter in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Thomä, Dieter (Hrsg.): Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Berlin 2010: Suhrkamp, S. 198– 214, hier: S. 199. 1207 Borowicz, Vater-Spuren-Suche. 2013, S. 89.

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cherche. »Wer dort während seines Studiums wohnen und ›Reichsförderung‹ beziehen wollte, wurde zuvor einem ›scharfen Ausleseverfahren‹ im Hinblick auf ideologische Gesinnung unterzogen. Mein Vater bestand es« (FL 85). Doch »[w]as will einer werden, der Rassenkunde studiert? Mein Vater muss die Politik der ›Ausmerze‹ in jeder Hinsicht bejaht haben, war doch seine ›Rassenkunde‹ die ideologische Rechtfertigung für alle Institutionen, die die späteren Massenmorde planten« (FL 88). Seine Überzeugung geht soweit, dass sich der damals 21-Jährige an das Reichsernährungsministerium wendet und postalisch seinen Berufswunsch kundtut, wie aus dem Antwortschreiben des Ministeriums hervorgeht (ebd.). Erregt liest die Tochter: »Zuchtwart« wolle er werden! Nicht etwa für Tiere, nein für Menschen! Ich würde gerne lachen, wenn mir nicht zum Heulen wäre. Wollte mein Vater neben Betten mit arischem Inhalt sitzen und die gelungene geschlechtliche Vereinigung kontrollieren? Wollte er sich germanische Stammbäume vornehmen und geeignete menschliche Zuchthengste und Zuchtstuten zusammenführen? Selbst dem Reichsbauernführer ging diese Idee zu weit. […] Wie gut […], dass die »intellektuellen Mittel« des Studenten […] »nicht ausreichten«, dass es ihm an der Universität an »Führung« fehlte. Er kam nicht voran im Studium, und am Ende wurde er weder »Zuchtwart« noch »Fachbearbeiter für menschliche Blutsfragen«. (FL 88, 90, 91)

Überzeugt, dass »›die Pflege und Reinhaltung unseres Blutes […] die schönste und wichtigste irdische Aufgabe [ist]‹« (FL 98), plant der Vater, »die verschiedenen menschlichen Rasse-Typen [photographisch] für […] Diavorträge [zu] verewigen« (FL 112) und nach dem Krieg als Rassenkundler zu arbeiten (vgl. ebd.). 1933 tritt der »›vorbildliche[] SA-Mann‹« (FL 81) mit »›gute[m] Charakter‹« (ebd.) in die SS ein (vgl. FL 82), von 1935 bis 1936 dient er »freiwillig der Wehrmacht und [… lässt] sich […] zum Flak-Kanonier ausbilden« (FL 101). 1937 wird er zum SS-Rottenführer ernannt (vgl. FL 102), 1939 eingezogen und leistet »als Flak-Kanonier des ›Wachbataillons General Göring‹ seinen Dienst« (FL 105), »ohne anderen Ehrgeiz, als den, im großen Geschehen meine Funktion zu erfüllen« (FL 104). Im selben Jahr steigt er zum SS-Unterscharführer auf (vgl. ebd.), die Mitgliedschaft in der Waffen-SS bleibt ihm verwehrt, »da er ihren körperlichen Idealvorstellungen nicht entsprach: Er trug eine Brille. Es muss die Kränkung seines Lebens gewesen sein« (FL 103), befindet die Erzählerin. Nach Kurzeinsätzen im Ausland wird der inzwischen Obergefreite ins ›Afrika-Korps‹ versetzt (vgl. FL 112). Sein Fronttagebuch verzeichnet in Bengasi »tägliche Angriffe, ›Stellungswechsel‹, ›Volltreffer‹ und gefallene Kameraden« (FL 114). Er schießt »›1 MK3‹ und ›1 Hurricane‹ ab und [… zieht] Leichen raus, einen Tag später notiert er: ›Ich bei Kommiss muss in Ehren durchkommen, sonst kein Ziel mehr.‹« (ebd.) 1943 wird seine Einheit nach Italien versetzt, seine bejahende Einstellung zum Krieg ist ungebrochen: »›Trotz allem, was ich nun kenne, kann ich ihn nicht als Unglück ansehen‹« (FL 117), schreibt er den Eltern und bekennt:

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»›Der Dienst macht mir Freude [… und hat] Sinn‹« (FL 118). 1943 wird er zum Offizier ernannt, meldet »›er sei ›jetzt noch voller in die Sache rein …‹« (FL 121) und bekommt zwei Militärorden verliehen (vgl. FL 122). An seinem Glauben am Endsieg festhaltend, schreibt er den Eltern: »›Waren die Jabos [Jagdbomber] auch schon mal bei Euch? […] Die Brüder sollen nur frech werden jetzt. Ich hoffe und glaube, selbst noch Gelegenheit zur Vergeltung zu haben …‹ Und sechs Tage später: ›Habt ihr gelesen – in 2 Nächten haben wir hier neulich 11 Fe. runtergeholt.‹« (FL 123) 1945 wird er von amerikanischen Alliierten festgenommen und verhört, seine Notizen dazu sind nicht eindeutig: »Hatte er sich wirklich zur ›kämpfenden Truppe im Osten‹ durchschlagen wollen? Oder hatte er einen Vorwand gesucht, um sich der Kriegsgefangenschaft zu entziehen? War er im letzten Moment […] zum Deserteur geworden?« (FL 135), rätselt die Tochter. In der Gesamtschau legen die Dokumente die eindeutige NS-Gesinnung des Vaters und seine Überzeugung von der Berechtigung des Krieges offen. Augenscheinlich ist er kein Widerstandskämpfer gewesen, der sich für die Rechte der vom System ausgeschlossenen Minderheiten eingesetzt hat. Er hat sich freiwillig ausbilden lassen, fest an die Idee der Überlegenheit der arischen Rasse geglaubt und sich eine berufliche Zukunft als Rassekundler erträumt. Dass er als Flak-Kanonier in Italien und Afrika Soldaten getötet hat, geht aus den Dokumenten hervor – dass er dabei auch Zivilisten umgebracht ist denkbar. Zwar ist die Erzählerin erleichtert, dass ihr »ein Massenmörder oder KZ-Aufseher als Vater erspart geblieben ist« (FL 103). Dennoch bleibt die belastende Tatsache bestehen, dass er sich den Nationalsozialisten angeschlossen hat und zur Erfüllung seines persönlichen Bedürfnisses, ein »›kleine[s] Glied[] eines großen und Ganzen‹« (FL 152) zu sein, einer menschenverachtenden Ideologie gefolgt ist. Viele Fragen, die ihre Suche nach dem Wissenshorizont des Vaters hinsichtlich der NS-Verbrechen und seiner konkreten Beteiligung vorangetrieben haben, bleiben unbeantwortet. Hat er 1931, als er zusammen »mit seinen Kameraden durch die Straßen [zog] Kommunisten zusammengeschlagen? Zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen? Juden überfallen?« (FL 81), fragt sie sich und ob »er von dem KZ Buchenwald gewusst hat, das ab Mitte 1937 entstand?« (FL 102) Wissend, dass »insgesamt rund 100 000 Menschen […] bei Rommels Afrika-Feldzug [… starben, sucht sie seinen Beitrag zu beziffern:] Wie viele von ihnen hat mein Vater durch seine Abschüsse vom Leben in den Tod befördert?« (FL 114) Resigniert schlussfolgert sie: Ich werde es nie herausbekommen. Meine Gefühle verheddern sich. Ich spüre den Wunsch in mir, es mögen viele gewesen sein, damit ich meinen Vater mit Recht hassen kann. Und erschrecke vor mir selbst. Muss ich nicht froh sein, sehr sogar, dass das Schicksal immer wieder Schlimmeres verhinderte? (ebd.)

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Unerklärlich ist ihr der nüchterne Ton des Vaters: »Seine Feldpostbriefe klingen, als hätte er sie verfasst, während er lässig an seiner Flak-Kanone lehnte, als zünde er sich genüsslich eine Zigarette am Weltenbrand an. Angst? Wut? Heimweh? Sehnsucht nach Frieden? Nichts davon. Nur kalte Abwehr.« (FL 116) Dazu passt sein auffällig sparsame[r] Gebrauch des Wortes »Ich«. Mein Vater benutzte es nur, wenn es nicht anders ging. Er schrieb nicht: Meine Leistung in der Schule ging zurück. Oder: Ich radikalisierte mich. […]. Seine Sprache wand sich wie eine Schlange, züngelte hin und her, verknotete sich, nur um das Wort ›ich‹ zu vermeiden. Nicht, weil er so altruistisch und so bescheiden gewesen wäre, […] sondern weil er offenbar fast panisch Zusammenhänge zwischen seiner Person und seinen Gefühlen vermeiden wollte. (FL 77)

Dass das Wort ›ich‹ weithin fehlt, illustriert die Unfähigkeit des Vaters, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und zu artikulieren. Unsicher über den Wahrheitsgehalt mancher Notizen hält die Erzählerin abschließend fest: »Von einem Wunsch, sich als Held zu beweisen, ist nichts zu spüren. Allerdings machen mich seine ständig wiederkehrenden Beteuerungen, er habe ohne Ehrgeiz gehandelt, misstrauisch – wollte er etwa das Gegenteil überdecken?« (104)

6.2.4 Intrapersonale Folgen des Verschweigens: Sprache des Körpers Gegen Ende des Krieges, den der Vater mutmaßlich als »Untergang« (vgl. FL 149) erlebt, rechtfertigt er sein Handeln mehrfach schriftlich und beruft sich dabei auf sein Pflichtgefühl und den Befehlsnotstand. Im Mai 1945 notiert er: »›Unsere Lage ist im Augenblick fast aussichtslos […]. Aber uns bleiben 2 Dinge: Das gute Gewissen und die Tat. Wir standen als Volk in einem Gesundheitsprozess. Wir haben unsere Ehre als Volk verteidigt und haben nichts getan als unsere Pflicht …‹« (FL 150). An anderer Stelle heißt es: »Wir haben gelernt, Befehle auszuführen, ohne zu fragen, warum … […] Es war eine Sache des eigenen Herzens, der ›Befehl des Gewissens‹, das Pflichtgefühl, das uns hielt. Wir glaubten an Führung und Vaterland, taten unsere Pflicht, und alles war einfach und klar.« (FL 152) Es sind Versuche der Entschuldung, die weniger Schambereitschaft und Reue als die Überzeugung offenbaren, sich für das Richtige eingesetzt zu haben – mithin das Fehlen eines Schuldbewusstseins. Angesichts der nach Kriegsende durch die Alliierten eingeleitete Demilitarisierung und Demokratisierung (Reeducation) hüllt der Vater seine NS-Gesinnung und Kriegsbeteiligung in defensives Schweigen1208, dessen kommunikativ-strategische Funktion die Geheimhaltung (revelational

1208 Vgl. Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57.

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function) ist.1209 Da der Gegenstand seines Schweigens »im Blick [steht, …] gewusst und sprachlicher Darstellung zugänglich [ist]«1210, handelt es sich um ein Verschweigen bzw. einen bewussten Thematisierungsverzicht.1211 Im Zuge der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen sucht der Vater sich vom Vorwurf der nationalsozialistischen Gesinnung zu befreien und der Verantwortung seiner Taten zu entziehen – er setzt auf das Vergessen.1212 Mit dem Verleugnen seiner Überzeugungen und seines Mittuns beginnt seine »Schweigekommunikation«1213. Es ist die Angst vor Sanktionen, der Verurteilung seiner Taten, die ihn motiviert, ehemalige Institutskollegen um Ausstellung eines Persilscheins1214 zu bitten. So schreibt er etwa: »Auf jeden Fall brauch ich jetzt meine Entnazifizierung […]. Kannst Du mir da helfen? […] ich weiss nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte, da ich zu unbelasteten Lehrern kaum Verbindung habe. […] Ich glaube, Du weisst, dass ich kein Nutznießer war und niemand geschadet habe. Ich habe geglaubt, dass im NS die gesunden sozialen, geistigen und biologischen Kräfte des Volkes verkörpert waren. Heute weiss ich, dass vieles faul und hohl war.« (FL 165)

Dass »vieles faul und hohl war« (ebd.) ist eines der wenigen kritischen Werturteile, die er über die NS-Zeit formuliert – »immerhin. Aber eine wirkliche Distanzierung hört sich anders an« (ebd.), bemerkt die Tochter. Sein Bekenntnis, »zu unbelasteten Lehrern kaum Verbindung [zu] habe[n]« (ebd.) unterstreicht vielmehr seine (Mit-)Täterschaft. Einer der Kontaktierten antwortet frei heraus: »Manchmal gelingt ein Bluff […] hier im Reich ist alles so dreckig, daß man sich nicht zu schämen braucht, wenn man so einen Dreckwisch vorlegt.« (FL 166) Möglicherweise haben die Schreiben dazu beigetragen, die Einleitung eines Säuberungsverfahrens 1951 gegen ihn abzuwenden (vgl. FL 166f.) – »›da der Betroffene nicht in die Gruppe der Hauptschuldigen oder Belasteten einzureihen ist‹« (FL 167). Angesichts der geringen Zahl der Verurteilungen – »letztlich […] stuften sie [unbelastete Laienrichter in Spruchkammern] nur 0,6 Prozent der Betroffenen als Schuldige und 99,4 Prozent als ›Minderbelastete‹, ›Mitläufer‹ und 1209 Vgl. Ulsamer, Linguistik des Schweigens. 2002, S. 80–110; vgl. Jensen, Communicative Functions of Silence. 1973, S. 252–254. 1210 Assmann, Einführung. 2013, S. 18. 1211 Vgl. Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 44. 1212 Vgl. Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 53. 1213 Vgl. Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 45. 1214 Der Begriff Persilschein entstand nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Phase der Entnazifizierung und bezeichnet eine »Bestätigung[] von Unbelasteten, mit [… der] ehemalige NSDAP-Mitglieder ihre Harmlosigkeit dokumentieren wollten«. Benz, Wolfgang: Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung, Bundeszentrale für politische Bildung, Geschichte, Dossier Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg vom 11. 04. 2005. (Letzter Zugriff am 18. 08. 2021).

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›Entlastete‹ ein« (FL 165) – erklärt die Erzählerin die seitens der »Alliierten initiierte Entnazifizierung als endgültig gescheitert« (FL 164). Der schweigende Umgang des Vaters mit der NS-Vergangenheit steht neben der Abwehr von Strafverfolgung auch »im Dienste einer neuen Identität oder der Aufrechterhaltung der offiziellen Identität gegenüber einer geheimen zweiten, aber gleichzeitigen Alternatividentität«1215. Die Spaltung seiner Person in ein demokratisches Äußere und ein nationalsozialistisches Innere wird in der Aufrechterhaltung des Kontakts zu »deutschnationalen Kreisen« (FL 25) bei gleichzeitiger Entwicklung einer pazifistischen Einstellung kenntlich: Er ging demonstrieren, sammelte als Kassenwart der 1963 aufgelösten Ortsgruppe des »Kampfbundes gegen Atomschäden« Mitgliederbeiträge ein, schrieb und verteilte Flugblätter, nahm Kontakt zu den Quäkern auf […]. Er vertrat eine Botschaft, die auch wir Kinder übernehmen konnten: Krieg ist furchtbar. Nie wieder. (FL 173)

Rückblickend registriert die Tochter, einen Mann »voller Widersprüche [als Vater gehabt zu haben]: Nazi, Christ und Pazifist. Eine absonderliche Mischung. Und eine hochexplosive« (FL 36). Zwar vermutet sie Reue hinter seinem Wandel zum Frieden, »aber er brachte es nicht über sich, diese Reue zu formulieren« (FL 173f.), so ihr Vorwurf. »[W]enn er sich doch einmal, wenigstens ein einziges Mal, getraut hätte zu bekennen, wann und wo er […] dieses Gebot [Du sollst nicht töten] übertreten hatte! Ich glaube, es wäre der Anfang einer Heilung gewesen.« (FL 174) Sie relativiert sein Verhalten, betont, dass zu jener Zeit »niemand darüber sprach« (FL 195), dass mithin ein komplizitäres Schweigen in der Gesellschaft herrschte, das »die Täter davor [schützte], namhaft zu werden und sich für ihre Verbrechen verantworten zu müssen«1216: In den fünfziger und sechziger Jahren war das Schweigen meines Vaters das Schweigen aller. Bleideutsch lag es auf der Bunderepublik Heuchelland, bedeckte sie mit undurchdringlichem Nebel, machte die Menschen unfreundlich und unglücklich. Erwachsene brachten ihren Kindern bei, nie zu lügen, doch die Kinder spürten, wie sich die Balken im Hause bogen. Erwachsene forderten ihre Kinder auf, sich für ihre schlechten Taten zu schämen, doch sie selbst blieben schamlos. (FL 162f.)

Anstatt das Schweigen über seine Beteiligung am Krieg zu brechen und seine Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten als Verblendung anzuerkennen, 1215 Hahn, Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen. 2013, S. 45. 1216 Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 57; »Die notwendige Auseinandersetzung mit persönlicher Schuld, um die es zunächst ginge, wurde im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung vermieden, die Shoah verleugnet. Es wurde gelogen, die Wahrheit verschwiegen.« Grünberg, Vom Schweigen und Ver-Schweigen. 1997, S. 14; das nachträgliche Verschweigen schuldhaften Tuns bezeichnet Ralph Giordano als zweite Schuld. Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg 1997: Rasch& Röhring.

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produziert der Vater wie »ein Verrückter […] Texte […]. Als ob er sich im gesunkenen Schiff Nationalsozialismus hätte ab-dichten müssen gegen aufkommende moralische Zweifel. Als ob er angeschrieben hätte gegen ein sich regendes Gewissen« (FL 152), mutmaßt die Tochter. Seine Dokumente belegen bemühte Versuche, »Kernstücke seiner alten Überzeugung in neue Zeiten [zu] retten« (ebd.). Er entwickelt sich mithin zu einem Schreibautomat. Oder ein[em] Schreiautomat? Die alte Schreibmaschine, die auf dem Chaos an Zetteln und Papieren auf seinem Schreibtisch thronte, klapperte Tag und Nacht. Die Überschriften sprechen für sich: »Gehorsam und Liebe«, »Vom besessenen selbst der Kriegsgeneration«, »Gewissen«, »Gemeinschaft«, »Partnerschaft mit Jesus«, »Kameradschaft aus heutiger Sicht«, »Die neue Selbstentfremdung«, »Das Problem der Einsamkeit und die Funktion der Kirche«, »Halt verloren?«, »Besiegt?«, »Der Mensch in Einzelhaft«. Es ging um Glauben, Blut, Treue, Zucht, Aufgabe, Kameradschaft, Partnerschaft. Die Begriffe waren austauschbar. […] Die Nazi-Wörter hatten sein Gehirn verklebt, die ließen sein Denken um sich selbst kreisen und machten es steril. (FL 176f.)

Offenbar sucht der Vater schreibend sein sich regendes Gewissen zum Verstummen zu bringen: »Alles, was ihn praktisch oder emotional bedrückte, handelte er auf theoretischer Ebene ab, um es damit vermeintlich loszuwerden.« (FL 177f.) Das schier endlose Monologisieren geht mit seinem sozialen Rückzug einher. Seine von Kindheit an gering ausgebildete Fähigkeit, interpersonale Bindungen einzugehen, scheint gänzlich zu versiegen: Zwar definiert er die »›gegenseitige Verständigung, das Verstehen-lernen, d. h. das Gespräch, der Dialog‹« (FL 182) als »›Voraussetzung für jede personale Partnerschaft‹« (ebd.), doch im realen familialen Miteinander ist er nicht fähig, die Rolle eines fürsorglichen Vaters auszufüllen. Verletzt kommentiert die Tochter die personale »Leerstelle« (ebd.) im Familienensemble: In seiner theoretischen Welt war er ein großartiger Vater. Wahrscheinlich spürte er, dass seine Kinder den realen Vater als peinliche Figur ansahen, dass das Leben immer mehr ohne ihn ablief. Mutter und Kinder saßen im Wohnzimmer oder auf der Veranda, redeten, arbeiteten, lachten, Vater schlug in seinem Kämmerchen auf die Schreibmaschine ein: »Wer ist mein Partner? Für wen soll ich schreiben? An wen soll ich mich wenden? Die Familie identifiziert sich nicht mit meiner Auffassung […].« Sein Beitrag zum Familienleben beschränkte sich mehr und mehr auf aggressive Unnahbarkeit […]. (FL 178f.)

Augenscheinlich macht ihn die Weigerung, seine nationalsozialistische Vereinnahmung in Frage zu stellen und seine Desorientierung angesichts des politischen Systemwechsels und der gesellschaftlichen Aufarbeitung der NS-Zeit krank. Es kennzeichnet ihn eine mangelnde Fähigkeit, Freude und Glück zu empfinden: Mir »fiel [auf], dass ich [… den] Vater niemals habe lachen sehen« (FL 44), resümiert die Tochter. Sie ist überzeugt, dass seine Depression sich »im Laufe der Jahre als Folge seiner inneren Verbunkerung [entwickelt hat]«

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(FL 150), die das Familienleben belastet. In ihrer Erinnerung hat der Vater »in seinen letzten zwei Lebensjahren […] die gemeinsamen Mahlzeiten im Wohnzimmer [absolviert], ohne einen einzigen vollständigen Satz über die Lippen zu bringen. Wir Kinder gewöhnten es uns ab, das Wort an ihn zu richten« (FL 31). Die Ursache für seinen Rückzug ins Schweigen bestimmt sie in der für ihn unlösbaren Diskrepanz zwischen der geforderten jedoch, so mutmaßt sie, kaum empfundenen Schuld: Auf jeden Fall muss es massive Gründe gegeben haben, dass er seine Erinnerungen verschloss wie in einem Hochsicherheitstresor, als seien sie eine extrem giftige, gefährliche Substanz. Dass er über alles redete, es zumindest versuchte, aber niemals ein Sterbenswörtchen über seine eigenen Aktivitäten im Krieg verlor. Dass er jedem, der ihn darauf ansprach, aggressiv den Mund verbot. (FL 144)

Neben dem Thematisierungsverzicht ist die Antwortverweigerung Teil seiner Nichtenthüllung, eine kommunikative Strategie, die jedoch in erster Linie signalisiert, dass »es etwas zu verhüllen gibt«1217. In den 1960er Jahren, so reflektiert die Mutter, habe der Vater das Leben »nicht mehr ausgehalten« (FL 44). Die Ehe zerbricht (vgl. FL 180, 183, 204) und »immer öfter drohte der Vater, die Familie zu verlassen« (FL 184). Es ging »immer mehr abwärts mit ihm. […] In den letzten zwei Monaten [vor seinem Suizid] hat er meistens auf dem Bett gelegen und die Zimmerdecke angestarrt« (FL 42, vgl. FL 191). In einem Gedicht, das er im Anschluss an eine Bergwanderung notiert, reflektiert er sein Schweigen und seine innere Erstarrung: »Kein Wort für mich da, nur das Schweigen spricht – So muss es wohl sein – ich beklag mich nicht Es will mich nicht – die Welt will mich nicht Ich geh ja schon und beklag mich nicht Und das Schweigen spricht Und das Schweigen spricht und das Schweigen rauscht Und das Schweigen braust und es füllt mich aus Und es ruft und es lockt, und es saugt und es zieht Mich schwindelt. Ist das Gott? Es ist gleich Alles ist gut.« (FL 207)

Ob er beim Dichten der Zeilen unheimlich »nah […] an der Lösung seines Lebensproblems gewesen [… ist], so nahe am Sprechen über das, was er bislang beschwiegen hatte [… oder] das schon so etwas wie ein psychotischer Wahn [gewesen ist]« (FL 208), ist rückblickend nicht nachvollziehbar. Doch die Tochter ist überzeugt, dass das Schweigen sukzessive »in ihm auf[stieg] wie Nebel, […] 1217 Vgl. Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 39.

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sein Inneres aus[füllte, …] ihm den Mund und alle Sinne [verschloss, …] ihm die Fähigkeit zum Sprechen, zum Lachen, zum Leben [nahm]« (FL 210). Offenbar hat sein »Körper in einer Sprache der Symptome zu sprechen beg[onnen]«1218. Es sei das »››Gewissen‹, und zwar das nach bestem Wissen kontrollierte und revidierte Gewissen […], das mich in die Einsamkeit geführt hat, in der ich mich von Gott und den Menschen verlassen fühle …‹« (FL 192), formuliert er in einem seiner zahlreichen Abschiedsbriefe. Die Tochter kommentiert: »Ich kann nur ahnen, was er meint: Ein kontrolliertes und revidiertes Gewissen ist kein gefühltes Gewissen, sondern eins, dem der kontrollierende Verstand immer wieder einflüstert: Nein, du bist nicht verantwortlich, schuld sind die anderen.« (FL 193) Seine politische Einstellung hat er offenbar niemals revidiert – noch eineinhalb Jahre vor seinem Suizid schreibt er: »›Ich kann nicht anders, als, sobald es welche gibt, mit Kameraden zusammen den Kampf wiederaufzunehmen auf Biegen oder Brechen.‹« (FL 151) Dazu passt, dass er, bevor er 1969 auf dem Stuttgarter Kirchentag in den Freitod geht, seine »›Kameraden von der SS‹« (FL 7) grüßt. Der Suizid macht sein über zwei Jahrzehnte andauerndes Schweigen über seine überzeugte Teilhabe am Krieg sowie seine Weigerung zur Selbstkorrektur als massive Belastung kenntlich und offenbart, dass »die psychologischen Kosten für die Geheimhaltung den Nutzen (Belastung als Angst vor den Entdeckungen) merklich und dauerhaft überst[iegen haben]«1219.

6.2.5 Interpersonale Folgen des Verschweigens: Unbewusste Identifizierung Die widerholte Erfahrung der Ablehnung in Verbindung mit dem aggressivunnahbaren Verhalten des Vaters (vgl. FL 179), der der Tochter wie ein »ferner Mann im Nebel [erscheint …]. Ein Mann wie ein Phantomschmerz« (FL 27f.), mündet in Hass »und dieser Hass stand mir bis zum Hals« (FL 16). Zwar reagiert sie mit Erleichterung und Freude auf die Nachricht seines Todes, gleichwohl ist sie mit einem Loyalitätskonflikt konfrontiert und von Gewissensbissen geplagt: »Ich war eine schlechte Tochter, ein unmögliches Kind, böse, herzlos, teuflisch. Ich verstieß gegen Gottes zehn Gebote, denn ich bekam es nicht hin, meinen Vater zu lieben.« (FL 17f.) Nach seinem Tod wendet sie sich entschieden von ihm ab, definiert ihr Lebensziel mithin darin, das genau Gegenteil meines Vaters zu sei. So, als ob er das Sandförmchen sei und ich seine Negativform […]. Er stand politisch rechts, also wandte ich mich nach links. Er war autoritär, also wurde ich antiautoritär. Er war Rassist, also versuchte ich mich als Antirassistin. Er war Deutschnationalist, also wurde ich Internationalistin. […] Er 1218 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57. 1219 Spitznagel, Selbstenthüllung. 1986, S. 39.

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konnte nicht schreiben, sich nicht ausdrücken, also beschloss ich irgendwann, das Schreiben zu meinem Beruf zu machen. […] Er konnte nur ein Gefühl empfinden, das Mitleid mit sich selbst, also versuchte ich, Mitgefühl und Solidarität zu Grundprinzipien meines Lebens zu machen. (FL 34)

Ihre Reflexionen illustrieren, dass im »bemühten Versuch, anders als [… der Vater] zu sein, alle möglichen Ähnlichkeiten bei sich selbst abzulehnen oder zu verleugnen, ein anderes Leben zu führen und […] mögliche Wünsche nach Kontakt […] zu unterdrücken, [… ihre] Autonomieentwicklung behindert [wird].«1220 Denn im »Anstreben einer Gegenidentität, bleibt seine Person weiterhin im Zentrum der Selbstfindung der Erzählfigur[], ein Bezugspunkt, der gerade durch die Negation Orientierung gibt.«1221 Insofern triff auf die Erzählerin zu, was Studien zum generationsübergreifendem Fortwirken der konfliktbehafteten Vergangenheit in Familien von NS-Tätern und Mitläufern belegen – dass die Abkehr der Nachfahren von ihren Eltern vielmehr eine Bindung an die Herkunftsfamilie darstellt.1222 Charakter und Verhalten des Vaters in Zusammenhang mit seiner NS-Vergangenheit zu bringen übersteigt den damaligen Wissenshorizont des Kindes. Losgelöst von jeglichen Erklärungsmustern wirken beide Faktoren verstörend auf ihre affektive Beziehung zu ihm ein. Ihre innere Abkehr vom Elternhaus, aus dem sie »am liebsten geflohen [wäre]« (FL 187), resultiert jedoch nicht allein aus der väterlichen Zurückweisung, sie speist sich auch aus der Wahrnehmung von latenten Spannungen in der Familie, die ebenso wie das Verhalten des Vaters nicht offen thematisiert werden. Erst Jahre später deckt sie auf, welche Geheimnisse ihr als jüngstem Familienmitglied vorenthalten worden sind und spricht sich gegen das innerfamiliäre Schweigen aus: Auch meine Mutter breitete den Mantel des Schweigens über alles. Die Dummheit des Schweigens. Ich erfuhr nichts von der Kündigung der Putzfrau, nichts vom Suizidversuch [meines ältesten Bruders], nichts von der Ehekrise, nichts von den Depressionen und Drohungen meines Vaters. Als mein Vater tot war, bekam ich keinen Abschiedsbrief zu lesen, bis zum Fund auf dem Dachboden wusste ich nicht einmal, dass er mehr

1220 Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im familialen Dialog über den Holocaust. 1999, S. 22; zum Loyalitätskonflikt der Kinder zu ihren die Vergangenheit leugnenden Eltern vgl. Bohleber, Werner: Wege und Inhalte transgenerationaler Weitergabe. Psychoanalytische Perspektiven. In: Radebold/Bohleber/Zinnecker, Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. 2009, S. 115f. 1221 Borowicz, Vater-Spuren-Suche. 2013, S. 105f. 1222 Vgl. Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im familialen Dialog über den Holocaust. 1999, S. 22; vgl. Dies.: Nationalsozialismus und Antisemitismus im intergenerationellen Dialog. In: Dies., Der Holocaust im Leben von drei Generationen. 1999, S. 345– 356, hier: S. 353; vgl. Bar-On, Die Last des Schweigens. 1996; rückblickend erkennt die Erzählerin ihre Liebe zur Natur und ihre pazifistische Einstellung als »Positivabdruck« (FL 34) des Vaters an, mithin erfolgt eine Annäherung an ihn.

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als einen geschrieben hatte. Die Vorwürfe in diesem einen, von dem ich wusste, seien zu hart, sie wolle uns die Lektüre ersparen, sagte meine Mutter. (FL 186f.)

Sie erinnert sich, als Kind zu Hause »Spannungen [… und] Heucheleien [gespürt zu haben]. Vielfache Versuche, der Außenwelt eine heile Familie vorzugaukeln. Ich ahnte, dass sich in unserer Familie etwas Lügenhaftes eingenistet hatte, ohne dass ich es hätte benennen können« (FL 187). Die vermeintlich gute Absicht der Mutter, die Kinder zu schützen (vgl. ebd.), wertet die Tochter rückblickend als Fehlschluss, stattdessen habe ihr Schweigen »bleibende Verstörungen« (ebd.) hervorgerufen. Sie ist überzeugt, dass sie mit der Wahrheit besser hätte umgehen können und hätte sich eine »offene, aber nicht Grenzen überschreitende […] nicht ängstigende Kommunikation über [die] traumatische[n] Erfahrungen und deren Folgen«1223 gewünscht: »Natürlich, man kann Kinder mit der geballten Wahrheit überfordern. Aber sie [die Mutter] hätte ja nicht ballen müssen, sie hätte die Dinge andeuten und dann sehen können, dass ich etwas verkrafte, dass Kinder auch böse Wahrheiten verkraften können.« (FL 187) Es scheint paradox, dass das familiäre Schweigen das Mädchen gerade nicht vor der Wahrnehmung des Grassierens unheilvoller Familiengeheimnisse bewahrt hat. Die nichtsprachliche Vermittlung von Erfahrungen ist ein Untersuchungsgegenstand, mit dem sich die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Rosenthal auseinandersetzt, die das Schweigen anhand biographisch-narrativer Interviews zum intergenerationellen Umgang mit der Familienvergangenheit von NS-Tätern als zentralen Mechanismus des Fortwirkens verstörender Erfahrungen bestimmt: Unsere Fallanalysen machen auf der Ebene des familialen Dialogs deutlich, daß das Schweigen, die damit verbundenen Familiengeheimnisse und die Familienmythen sowohl in Familien von Verfolgten als auch in denen von MitläuferInnen und TäterInnen zu den wirksamsten Mechanismen beim Fortwirken problematischer Familienvergangenheiten gehören. Wir können deutlich beobachten: Je geschlossener oder verdeckter der Dialog in der Familie ist, je mehr verheimlicht und retuschiert wird, desto

1223 Klütsch/Reich, Die mehrgenerationelle Weitergabe von Traumatisierungen. 2012, S. 579; Klütsch/Reich beziehen sich auf Studienergebnisse von Natan Kellermann, der abmildernde Faktoren für die transgenerationale Trauma-Weitergabe bestimmt, die es Kindern von Holocaust-Überlebenden »ermöglichen, mit der psychologischen Belastung ihrer Eltern besser umzugehen [… bzw.] das Trauma [ihrer Eltern] möglicherweise nicht in sich auf[zunehmen]«, darunter die »offene Kommunikation«. Zu den erschwerenden Faktoren der Trauma-Weitergabe zählt Kellermann unter anderem einen Kommunikationsstil, der sich dadurch auszeichnet, dass »[ü]ber das Trauma […] zu wenig oder zu viel gesprochen [wurde]«. Kellermann, Natan: Die Kinder der Child Survivors. In: Radebold/Bohleber/ Zinnecker, Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. 2009, S. 57–73, hier: S. 67, vgl. auch S. 68.

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nachhaltiger wirkt sich die Familienvergangenheit auf die Kinder- und Enkelgeneration aus.1224

Eben dies trifft auf die Situation der Erzählerin zu, die im zeitlichen Abstand von über drei Jahrzehnten eigene Verhaltensweisen und Einstellungen, mithin symptomatische Reaktionen auf das innerfamiliäre Schweigen reflektiert, darunter ihre auffällige Angst vor Knallkörpern, die sie seit jeher »in Panik« (FL 143) versetzen: Schon als kleines Kind habe ich mich zitternd ins Bett verkrochen, wenn das Sommerfest in Tübingen mit einem mitternächtlichen Feuerwerk endete. Die ganze Familie stand am Fenster und formte die Münder zu »Ah« und »Oooh«. Doch mich bekam niemand aus dem Bett […]. »Du brauchst doch keine Angst zu haben«, mit diesen Worten versuchte sie [die Mutter] mir die Hände von den Ohren wegzuziehen, »das ist doch nur ein Spaß!« (ebd.)

Erst in der Bestimmung der NS-Vergangenheit ihrer Eltern als entscheidendem Einflussfaktor der Familiendynamik bringt sie ihre Angst vor Knallkörpern mit der Täterschaft ihres Vaters in Verbindung: »Für mich war es Krieg. Womöglich auch für [… ihn], verbunden mit lustvollen Empfindungen. Irgendwie spürte ich seine Zerstörungslust, vielleicht sah ich ein sadistisches Glimmen in seinen Augen oder hörte einen obszönen Spruch.« (ebd.) Assoziativ fließen Inhalte aus den gefundenen Feldpostbriefen und Traum-Notizen des Vaters in ihre Überlegung ein, die seinen Einsatz »im italienischen Partisanengebiet als ›Sprengmeister‹« (ebd.) belegen und seine Lust am Kriegsgeschehen andeuten: »›Saboteur, es behagt mir […] poche auf Kreuzverhör, Gaskammer (eskapistisch), Asbestanzug, schweißgebadet, träum deutsche Namen, erwacht: null Freund, appellative Umkehr, nebelverhüllt, Strasse Pappeln, Gehört, Artillerie‹« (ebd.) Die Ergebnisse von Rosenthals Fallstudien einbeziehend, ließe sich die bis in die Gegenwart der Erzählerin andauernde »Knallophobie« (ebd.) als Ausdruck ihrer kindlichen Phantasie über die »nicht-erzählten, aber dennoch latent tradierten Erlebnisse[] bzw. Handlungen [… des Vaters]«1225 deuten, die möglicherweise eng »mit den konkreten Familienvergangenheiten [korrespondieren]«1226. Für sich selbst ordnet sie ihre »Angst vor der Knallerei in Wirklichkeit [als] eine vor dem Vater [ein], der Explosionen sichtlich genoss« (FL 143). Seine Unberechenbarkeit assoziiert sie auch mit einer Überlegung, die er – wohl in Folge des 1224 Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im familialen Dialog über den Holocaust. 1999, S. 22; zum Nicht Erzählen, das »u. E. die stärkste intergenerationelle Wirkung« der verschiedenen Transmissionsmodi hat vgl. Bar-On/Gilad, Auswirkungen des Holocaust auf drei Generationen. 1992, S. 20. 1225 Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im familialen Dialog über den Holocaust. 1999, S. 23. 1226 Rosenthal, Nationalsozialismus und Antisemitismus im intergenerationellen Dialog. 1999, S. 355.

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mit dem Kriegsende einhergehenden »Zusammenbruch[s] [… seiner] narzisstisch besetzten (Ich-)Ideale und […, seines] Selbstwertgefühls«1227 sowie seiner Überzeugung, »in der Zukunft keinerlei Chance mehr [zu sehen]«1228 – vor seinem Suizid äußert: »Ich könnte euch ja auch alle mitnehmen … [in den Tod].« (FL 32) Sein Glaube an die NS-Herrenmenschenideologie bzw. die strikte Trennung von arischem und ›unwertem‹ Leben und seine Gefühlskälte gegenüber den Kindern amalgamieren in dieser Erwägung zu einer unheilvollen Assoziation, die trotz »stillschweigende[r] Annullierung des Mord-[…]-Vorhabens [… der Erzählerin] keine wirkliche Erleichterung beschert, sondern eher eine lebenslange Beeinträchtigung ihres Lebensvertrauens«1229. Neben der Angst vor dem Vater ruft sich die Erzählerin weitere interpersonale Folgen des Verschweigens der dunklen Familienvergangenheit, insbesondere ihre ausgeprägte Schuld- und Schambereitschaft, ins Bewusstsein: Die meisten Menschen scheinen einen Gleichgewichtssinn zu haben, der soziale Handlungen auf Gegenseitigkeit ausrichtet, im instinktiven Wissen, dass sich mitfühlendes Verhalten langfristig mehr auszahlt als Egoismus. […] Wenn meine Eltern die Anerkennung ihrer Schuld verweigern, fühle ich mich verpflichtet, diese an ihrer Stelle zu übernehmen, so als ob es Schulden seien, eine Art negatives symbolisches Kapital. Nicht, weil ich ein besserer Mensch bin, sondern weil es für mich erträglicher ist, mich für Taten schuldig zu fühlen, die ich nicht begangen habe, als im Gefühl des moralischen Chaos und des Ungleichgewichts zu leben. (FL 198)

Dass sie sich irritierenderweise »ständig […] für irgendetwas schuldig [fühlt], und […] kaum ein Tag in [… ihrem] Leben [vergeht], an dem [… sie sich] nicht für eine Kleinigkeit in Grund und Boden schäm[t]« (FL 198f.), wertet sie rückblickend als »entlehn[ten Teil ihres Selbst, der …] eigentlich der Geschichte der Eltern an[gehört]«1230. Die »Transformation nicht anerkannter realer Schuld in Schuldgefühle bei den Kindern und Enkeln«1231 stellt eine spezifische Ausprägung der transgenerationellen Weitergabe von Erfahrungen dar, insofern als bestimmte Erinnerungen und (vor allem auch unbewusste) Erfahrungsbestände wie etwa Traumata sowie bestimmte Ideologien, Einstellungen, Werte und Normen oder ein bestimmter Habitus als Elemente einer Mentalität, einer Handlungsproblematik, einer

1227 Moré, Die unbewusste Weitergabe von Trauma und Schuldverstrickung. 2013, S. 12. 1228 Schulz-Hageleit, Peter: Die Kinder der Täter. Vom Trauma des Jahres 1945 zur Wiedergewinnung einer humanen Lebensorientierung. Psychosozial 20, Nr. 68, 1997, H. II, S. 91– 101, hier: S. 92. 1229 Ebd., S. 93. 1230 Bohleber, Trauma. 2011, S. 18. 1231 Moré, Die unbewusste Weitergabe von Trauma und Schuldverstrickung. 2013, S. 14.

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Denk- und Lebensweise von einer Generation zur nächsten einem »Erbe« gleich »übertragen« werden.1232

Die ausgeprägte Schuldbereitschaft weist darauf hin, dass die Bindungsbeziehung zu ihren Eltern narzisstisch geprägt ist, mithin dass sie »für die nicht verarbeitete Geschichte und zur Bestätigung der eigenen verzerrten Realität der Eltern […] funktionalisiert [worden ist]«1233. Abweichend von der psychoanalytischen Forschung zur Tradierung traumatischer Erfahrungen von HolocaustÜberlebenden, die verschiedene bildhafte Übertragungsmodelle diskutiert,1234 haben sich in der Analyse der Beziehung zwischen der Tätergeneration und ihren Kindern […] keine entsprechenden Metaphern oder Erklärungsmodelle etabliert. Dabei bildete sich auch hier ein interpsychischer Raum, in dem die Kinder der Täter/innen zu unbewussten und ungewollten Erben der Schatten der elterlichen Vergangenheit wurden.1235

Die Beschreibung des Fortwirkens der konflikthaften Vergangenheiten in Familien von NS-Tätern und Mitläufern, insbesondere der Mechanismen der generationsübergreifenden Schuldverschiebung, greift vielfach auf den Prozess der 1232 Völter, Bettina: Generationenforschung und »transgenerationale Weitergabe« aus biografietheoretischer Perspektive. In: Radebold/Bohleber/Zinnecker, Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. 2009, S. 95–106, hier: S. 101; Bettina Völker unterzieht den Begriff der transgenerationalen Weitergabe aus der biografietheoretisch orientierten Mehrgenerationenforschung einer kritischen Prüfung und kommt etwa in Bezug auf die mit dem Begriff verbundene Unterstellung einer unilinearen Handlung, dem suggerierten Prägegedanken sowie der vereinfachenden Deutung als einem abschließbaren Vorgang zu dem Schluss, dass »weniger von einer ›transgenerationalen Weitergabe‹ [… als] eher von der wechselseitigen Herstellung von Generationserfahrungen in fortlaufenden Interaktionen« gesprochen werden kann. Ebd., S. 105. 1233 Vgl. Bohleber, Werner: Traumatische Kriegserfahrungen und deren transgenerationelle Folgen. In: Fooken, Insa/Heuft, Gereon (Hrsg.): Das späte Echo von Kriegskindheiten. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte. Göttingen 2014: V&R, S. 180–190, hier: S. 188. 1234 Zum vermittelten Trauma vgl. Kogan, Ilany: Vermitteltes und reales Trauma in der Psychoanalyse von Kindern von Holocaust-Überlebenden. Psyche 44, 1990, H. 6, S. 533–544; vgl. zur Ineinanderrückung (Telescoping) der Generationen Faimberg, Haydée: Teleskoping. Die intergenerationelle Weitergabe narzisstischer Bindungen. Frankfurt/M. 2009: Brandes&Apsel; vgl. zur Transposition bzw. zum Zeittunnel Kestenberg, Judith: Neue Gedanken zur Transposition. 1989, S. 163–189; vgl. zur ichsyntonen Objektmanipulation Eckstaedt, Anita: Nationalsozialismus in der »zweiten Generation«. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt/M. 1989: Suhrkamp; Gesa Koch-Wagner skizziert einen Überblick von Forschungsansätzen zur integrativen Weitergabe traumatischer Erfahrungen, u. a. von Faimberg, Kogan, Jokl, Freud, Moser, Kestenberg, Hardtmann, Chamberlain, Bar-On, Eckstaedt, Rottgardt, Reinke, Roberts. Vgl. Koch-Wagner, Gesa: Gefühlserbschaften aus Kriegs- und Nazizeit. Mutter-Tochter-Beziehungen unter dem Einfluss von Kriegstraumen und nationalsozialistischen Ideologiefragmenten. Berichte aus der Sozialwissenschaft. Zugl. Hannover Univ. Diss. 2001. Aachen 2001: Shaker, S. 24–29. 1235 Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen. 2013, S. 11.

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projektiven Identifizierung zurück,1236 die der Psychoanalytiker Werner Bohleber als einen Fantasievorgang [beschreibt], bei dem unerwünschte oder unerträgliche Vorstellungen aus dem eigenen Selbstbild ausgestoßen und in das Objekt als Gegenüber hineinverlagert werden, das damit identifiziert wird. Der unerwünschte Teil wird dann im anderen beobachtet und kontrolliert. Das Subjekt fühlt sich dadurch erleichtert, [… und das] Objekt dieses Vorgangs kann diesen ihm fremden Teil nicht assimilieren und erlebt ihn wie einen Fremdkörper.1237

Bezogen auf die intergenerationelle Familiendynamik der Erzählerin lässt sich die Störung der affektiven Vater-Tochter-Beziehung und die Ausbildung einer andauernden Schuldbereitschaft als Resultat jenes »ausstoßende[n] und zugleich intrusive[n] Vorgang[s]«1238 fassen. Die skizzierten interpersonalen Folgen des Verschweigens deuten an, dass der Vater nicht in der Lage gewesen ist, seine konflikthafte Vergangenheit zu verarbeiten bzw. »sich mit […] seinen lebensgeschichtlichen Erfahrungen [… und] Erlebnissen […] auseinanderzusetzen, sondern diese […] durch Verdrängung [… abgewehrt hat]«1239. Offenbar hat die Tochter »durch direkte Einfühlung in den unbewussten, verschwiegenen oder totgesagten Inhalt [d]es elterlichen Objekts«1240 die abgewehrten Schuldgefühle ihres Vaters im Sinne eines »psychischen Containers«1241 verinnerlicht. So ließe sich auch ihre Ausbildung von »Bindungsängste[n]. [Ihre] Männerangst und [ihr] Männerhass. Liebschaften mit Männern, die nicht ›zu haben‹ waren« (FL 140) als Fortwirken der affektiven Störung der Vater-Tochter-Beziehung und als Tendenz zur Selbstbestrafung fassen – mithin agiert sie die väterliche Schuld durch Grundierung des entlehnten Schuldgefühls mit eigenem schuldhaften

1236 Identifizierungen lassen sich als zentrales Verbindungsmoment zwischen Generationen, etwa Eltern und ihren Kindern, bestimmen. Die klassische Identifizierung fasst die Vermittlung »kognitive[r] und affektive[r] Imagines über Familienmitglieder, Wertvorstellungen, Erziehungsprinzipien und Weltbilder. […] Das Kind, das an seine Eltern gebunden ist, übernimmt und verinnerlicht diese Vorstellungen, weil es gerne so sein möchte, wie die Eltern, oder so, wie diese sich ihr Kind wünschen. [… Dabei] modifiziert das Subjekt auf bewusstem oder unbewusstem Wege seine Motive und Verhaltensmuster ebenso wie seine Selbstrepräsentanzen und erlebt sie als ähnlich oder gleich mit denen des Objekts. Dadurch werden die Bindungen an das Objekt gefestigt. […] Zu betonen ist […], dass der Vorgang der Identifizierung eine aktive Handlung des Subjektes ist, das sich auf diesem Wege dem geliebten Objekt oder dem Objekt, von dem es abhängig ist, anverwandelt«. Die projektive Identifizierung baut auf diesen Überlegungen auf. Bohleber, Trauma. Transgenerationelle Weitergabe und Geschichtsbewusstsein. 2011, S. 16f. 1237 Ebd., S. 17. 1238 Ebd. 1239 Timmermann, Eltern psychisch kranker Kinder. 2011, S. 23. 1240 Bohleber, Trauma. 2011, S. 17f. 1241 Timmermann, Eltern psychisch kranker Kinder. 2011, S. 23.

Ute Scheub: Das falsche Leben. Eine Vatersuche (2006)

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Verhalten aus.1242 Wie tiefgreifend dieses immaterielle Erbe die Tochter belastet, das »den psychischen Raum [verengt], in dem [… sie ihre] Identität frei von der entfremdenden Macht des Narzißmus [… des Vaters] hätte entfalten können«1243, illustriert ihr Versuch, sich mithilfe eines »›Schuldbriefs‹« (FL 199), den sie »im Beisein [… ihres] älteren Bruders in seinem Grab […] verbuddelt« (ebd.), loszusagen: Ich schrieb ihm, dass wir dringend innerfamiliäre Entschuldungsverhandlungen gebraucht hätten. Dass ich nicht mehr bereit sei, seine Schuld zu tragen. Verantwortung für dieses Land, jawohl, aber keine Schuld. Dass die Leichen in seinem Keller nicht meine seien, sondern einzig und allein seine. ›Lies das gefälligst!‹, rief ich, als der Brief endlich vergraben war, und mein Bruder lachte. Es war befreiend. (ebd.)

Allerdings ist die Wirkung des symbolischen Befreiungsakts nicht von Dauer, der Vorwurf der Tatschuld und der Schweigeschuld lastet zu stark.1244 Darauf deuten Alpträume hin, die die Tochter im Zuge der Rekonstruktion der väterlichen Beteiligung am Krieg heimsuchen. In ihren Träumen vermischen sich Phantasie und Abscheu, so in jener Szene, in der etwa »zwei Dutzend Menschen […] unter einem Baum mit weit ausladenden Ästen [stehen], die Gesichter voller Todesangst. Juden oder Partisanen oder einfach nur Zivilisten: Männer, Frauen, Kinder. Und mein Vater erschoss sie. Alle.« (FL 141) Die psychische Belastung der unbewussten Identifizierung mit der vom Vater nicht anerkannten, verschwiegenen Schuld wird in der über dreißig Jahre andauernden Abkehr ebenso konserviert wie die Dringlichkeit ihres Wunsches, er hätte sein Schweigen zu Lebzeiten gebrochen. Dies erkennend, imaginiert sie ein durch den Suizid verunmöglichtes klärendes Familiengespräch und beschwört den Vater als »Partner, der er nie war«1245, herauf: Der runde Esstisch im Wohnzimmer. Sechs Stühle, alle besetzt. Das Essen ist aufgegessen. Die Teller stehen noch da. Ich bitte euch, sitzen zu bleiben, sagt der Vater. Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen. Etwas, was ich all die Jahre verschwiegen habe. Stille. Die Mutter, die Kinder spüren die Anspannung. Vater mit Schweißperlen auf der Stirn. Ich habe Menschen umgebracht. Die Wanduhr tickt. Mit der Flak habe ich einige Flugzeuge vom Himmel geholt. Später die Leichen rausgezogen. Eine Schweinerei war das. Stille. Man kann sagen, das habe ich als Soldat getan. Wir haben unser eigenes Leben verteidigt. Die Flugzeuge hätten uns sonst mit Bomben beworfen. Die Uhr. Sonst

1242 Vgl. Rosenthal, Gabriele/Müller, Christine: Die Übertragung der Schuld an die Enkel: Die Familie Sonntag. In: Rosenthal, Der Holocaust im Leben von drei Generationen. 1999, S. 357–376, hier: S. 375f. 1243 Bohleber, Werner: Schweigen der Generationen. Autorität und Freiheit heute: Sind die 68er schuld am Rechtsextremismus? Polis – Analysen, Meinungen, Debatten. Eine Schriftenreihe der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung 6, 1994, S. 2–14, hier: S. 7. 1244 Grünberg, Schweigen und Ver-Schweigen. 1997, S. 19. 1245 Assmann, Hilflose Despoten. 2010, S. 201.

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hört man nichts. Aber ich habe auch Zivilisten umgebracht. Damals, in Norditalien. Wen?, fragt mein ältester Bruder. Seine Stimme krächzt. Vielleicht hätte jemand geschrien: Du Mörder! Nazi-Schwein! […] Vielleicht wären wir alle aufgestanden […] Hätten unseren Vater als Verbrecher verdammt bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus. […] Aber ich glaub’s nicht. […] ich glaube, ich hätte von jenem Tag an wieder begonnen, Achtung für ihn zu empfinden. Weil er den ersten Schritt in Richtung Wahrhaftigkeit gegangen wäre. Stimmt das? Wäre ich so souverän gewesen? (FL 209f.)

Ähnlich der erinnerten Beerdigungs-Szene, in der die Perspektive der erinnernden Erzählerin unvermittelt durch den Blickwinkel des erlebenden Kindes abgelöst wird, stellt sich auch in dieser Vorstellung ein Perspektivwechsel ein. Die Formulierung erfolgt im Präsens und die Erzählgeschwindigkeit wird retardiert, wodurch die Relevanz des Erzählten inszeniert wird. Indem sich die Tochter in den Vater einfühlt und mit seiner Stimme jene Worte formuliert, die er zu Lebzeiten nicht über die Lippen gebracht hat, vollzieht sie »ein Stück eigenhändiger Familienautotherapie«1246, durch den ihr Hass in den Wunsch nach Versöhnung übergeht. So gibt sie am Ende ihrer Suche nach dem Vater und seiner verschwiegenen Vergangenheit der »innere[n] Versöhnlerin« (FL 249) nach, die urteilt: Zeit seines Lebens ist er das Kind geblieben, das keine eigenen Gefühle entwickeln durfte, das nichts für sich war. Der Vater fühlte Verachtung für »unwertes Leben«, weil er sich selbst als »unwertes Leben« empfand. Er tut mir furchtbar Leid. […] Er war einfach nur ein tragischer Mensch. Ein zutiefst unglücklicher Mensch. (FL 249f.)

Sie muss akzeptieren, dass er nicht der Vater gewesen ist, den sie sich gewünscht hat. Gleichwohl ist ihr bewusst, dass der zufällig angestoßene Prozess der schmerzhaften Auseinandersetzung eine kritische Prüfung jener Anteile ihres Selbst initiiert hat, die durch ihn geprägt worden sind. Insofern hat die retrospektive Bearbeitung der familiengeschichtlichen Erbschaften aus dem Nationalsozialismus auch biografische Wachstumsprozesse1247 angeregt, die langfristig zur Festigung ihres Selbstverständnisses beitragen.1248

1246 Ebd. 1247 Vgl. Eichborn, Veronika von: Sexuelle Gewalterfahrung – Die Kraft der Betroffenen. Posttraumatisches Wachstum und biografische Bildungsprozesse. Marburg 2010: Tectum; ich danke Luise Reddemann und Silke Gahleitner für diesen Hinweis. Reddemann, Luise/ Gahleitner, Silke: Transgenerationelle Weitergabe und späte Folgen von Trauma – eine vernachlässigte Dimension in der Psychotherapie. Psychotherapie Forum 21, 2016, S. 118– 123, hier: S. 120. 1248 Vgl. Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. 2010, S. 77.

Ute Scheub: Das falsche Leben. Eine Vatersuche (2006)

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6.2.6 Fazit Ute Scheubs Roman »Das falsche Leben« bildet den inneren Monolog der IchErzählerin Ute ab, die durch ihre Geburt Mitte der 1950er Jahre lebensgeschichtlich selbst nicht in den Nationalsozialismus involviert gewesen ist, sich jedoch an den Folgen der Kriegsverstrickung ihres Vaters, einem nahezu fanatischen Anhänger der NS-Rassentheorie, SS-Mitglied und Flaksoldat, abarbeitet. Motiviert wird ihre Auseinandersetzung mit der verschwiegenen Familienvergangenheit durch den Wunsch nach einem offenen intergenerationellen »Dialog [mit dem Vater], der zu Lebzeiten nicht zustande [… gekommen ist und] im autobiographischen und literarischen Schreiben nachgeholt [wird]«1249. Es ist dies ein zentrales Gattungsmerkmal der in den 1980er Jahren aufkommenden Väterliteratur, die sich gegen das die Kultur der 1950er Jahre dominierende Schweigen über die Verbrechen der NS-Herrschaft richtet,1250 der sich Scheubs Roman zuordnen lässt. Ausgelöst wird die familiale Suchbewegung durch den zufälligen Fund von persönlichen Dokumenten des Vaters, die Einblicke in seine Sozialisation und die Art seiner Beteiligung am Zweiten Weltkrieg geben. Rückblickend bestimmt die Erzählerin die nach dem Kriegsende einsetzende Depression und den sozialen Rückzug des Vaters, der 1969 Suizid begeht, als intrapersonale Folgen seiner unter dem Mantel des Schweigens verdeckten Weigerung zur Selbstkorrektur und seiner inneren Desorientierung infolge des Zusammenbruchs des Dritten Reiches sowie der daraufhin einsetzenden Entnazifizierungs- und Demokratisierungsprozesse. Als interpersonale Folgen seines schweigenden Umgangs mit der belastenden Vergangenheit stellt sie die Störung der affektiven Vater-Tochter-Beziehung (zu dessen Lebzeiten) und die Verschiebung seiner persönlichen realen Schuld in Schuldgefühle der nächsten Generation (immaterielles Erbe) heraus.1251 Ausgehend von Erinnerungen an den Vater und dessen Aufzeichnungen sowie unter Einbezug von wissenschaftlichen Zugängen zum Fortwirken der belastenden Vergangenheit in Familien von NSTätern und Mitläufern reflektiert die Erzählerin eigene auffällige Verhaltensweisen und Einstellungen als vom Vater entlehnt: Aufgrund seines Verschweigens der Vergangenheit und verstörenden Verhaltens im Familienalltag (Mechanismen der Übertragung) hat sie sich mit der von ihm abgewehrten Schuld unbewusst identifiziert und fühlt sich für das seinerseits nicht revidierte Handeln und Denken, die nie anerkannte Schuldhaftigkeit seines Tuns stellvertretend verantwortlich.1252 Diese Gefühlserbschaft1253 stellt für die Erzählerin eine fort1249 Assmann, Hilflose Despoten. 2010, S. 201. 1250 Vgl. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. 2018, S. 178. 1251 Vgl. Moré, Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen. 2013, S. 14. 1252 Vgl. Bohleber, Trauma. 2011, S. 16–18, 20–22.

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wirkende Belastung dar, da sie ihre Autonomieentwicklung und Ablösung vom Elternhaus beeinflusst. Mithin erweist sich die über drei Jahrzehnte andauernde innere Abkehr vom Vater bzw. ihr selbsttäuschender Versuch, seine Existenz zu vergessen, als umso stärkere Bindung an den dunklen Teil seiner Lebensgeschichte, der die enge Verkettung der Generationen illustriert. In ihren Reflexionen formuliert die Erzählerin zwei zentrale Vorwürfe gegenüber ihrem Vater: Zum einen, dass er ihren kindlichen Bedürfnissen nach Geborgenheit, Liebe und Anerkennung nicht nachgekommen ist, er die Rolle eines liebenden Vaters mithin nicht hinreichend ausgefüllt hat. Zum anderen, dass er seine persönliche Mitschuld am Krieg und seine ideologische Verblendung niemals anerkennt hat (Tat- und Schweigeschuld),1254 wodurch er für sie als Identifikationsfigur abhanden gekommen ist. Gleichwohl bleiben am Ende ihrer engagierten Recherche Fragen offen, insbesondere nach den konkreten Kriegshandlungen des Vaters, die in dessen Aufzeichnungen nur angedeutet werden, aus dem Familiendialog getilgt sind und bloß in ihrer Vorstellung Gestalt annehmen. Diese Lücken im kommunikativen Gedächtnis der Familie lassen sich nicht mehr auffüllen. Gleichwohl nimmt die späte Auseinandersetzung mit der verschwiegenen Vergangenheit ihrer Familie für die Erzählerin Züge einer »eigenhändige[n] Familienautotherapie«1255 an, sodass sich die Funktion des Erzählens primär in der Bewältigung den nonverbal vermittelten schuldhaften Tuns bestimmen lässt.1256 Indem die Erzählerin anerkennt, dass Teile ihres Selbst auf die Lebensgeschichte ihres Vaters zurückzuführen sind, gelingt es ihr, das eigene Selbstbild zu stärken und, so wird angedeutet, die Kette der unbewussten Weitergabe problematischer Erfahrungen an die nächste Generation zu durchbrechen. Im Sinne einer »posthume[n] Kompensation des innerfamiliären Schweigediktats«1257 lässt sich Ute Scheubs »Das falsche Leben« als Versuch der Überwindung der kommunikativen Erstarrung ihrer Familie und als Plädoyer für die Stärkung der allgemeinen »Gesprächskultur [… lesen, ist] doch ihr[e] [… Kindheit] nachhaltig und schädlich-repressiv von Schweigen und Verschweigen [… und] von Sprachlosigkeit bestimmt [gewesen]«1258.

1253 1254 1255 1256 1257 1258

Vgl. Freud, Totem und Tabu. 1994, S. 441. Vgl. Grünberg, Schweigen und Ver-schweigen. 1997. Assmann, Hilflose Despoten. 2010, S. 201. Vgl. Lucius-Hoene/Scheidt, Bewältigen von Erlebnissen. 2017, S. 235–242. Ostheimer, Ungebetene Hinterlassenschaften. 2013, S. 172. Schulz-Hageleit, Die Kinder der Täter. 1997, S. 97.

7.

Schlussbetrachtung

Die vorliegende Studie ist der Frage nachgegangen, auf welche Weise das Schweigen als originär sprachliche Figuration der Auslassung in literarischen Texten erzählt werden kann. Im Rahmen der erzähltheoretischen Überlegungen ist das Schweigen in einem ersten Schritt unter Bezugnahme auf das Kommunikationsmodell narrativer Texte als Teil der literarischen bzw. imaginären Kommunikation bestimmt und auf den Kommunikationsebenen des fiktionalen Erzähltexts verortet worden. Der Leitfrage ›Wer schweigt gegenüber wem?‹ folgend, ist herausgestellt worden, dass sich das Schweigen werkimmanent auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung (extradiegetische Sprechsituation), in der darin eingebetteten Ebene des Erzählten (diegetische Sprechsituation) sowie im Wechselspiel zwischen der ersten und zweiten Kommunikationsebene lokalisieren lässt. Analog zur Redewiedergabe besteht auch für die Vermittlung des Schweigens in Abhängigkeit zum Grad der Mittelbarkeit des Erzählten ein Spektrum an Möglichkeiten seiner Einbettung in den Erzähltext, wobei das bloße Erwähnen oder Berichten durch den Erzähler (erzähltes Schweigen, narrativer Modus) und das Evozieren durch die Figuren (zitiertes Schweigen, dramatischer Modus) die Endpunkte einer Skala von verschiedenen Formen der Schweigewiedergabe bilden. Anhand von Auszügen aus dem Untersuchungskorpus ist die Bandbreite von Präsentations- bzw. Notationsformen des Schweigens konturiert worden, die aus der Kombination von formalen Indikatoren resultiert, darunter die explizite und implizite Schweiger- und Adressatenkennzeichnung, nomina und verba tacendi (teils mit limitiertem Aspekt), das Wiederholen einer Frage zur Markierung des Ausbleibens einer Antwort, die Beschreibung (nonverbaler) Handlungen anstelle von Sprechen, die explizite Darlegung des Schweigegegenstandes sowie graphische Indikatoren zur Visualisierung von kommunikativen Auslassungen. In einem zweiten Schritt ist anhand des Zweiebenenmodells das Wirkungspotential illustriert worden, das das Schweigen als konstitutives Strukturelement im Erzähltext entfalten kann. Die Weitung des Blickwinkels von der sprachlichen Kommunikation zu den Bestandteilen der Geschichte ermöglicht es, das

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Schlussbetrachtung

Schweigen nicht allein ins Verhältnis zur erzählerischen Vermittlung bzw. zum Erzähldiskurs (das Wie der Erzählung), sondern auch zu den dynamischen und statischen Strukturelementen einer Geschichte, die Handlung, Figuren und den Raum (das Was der Erzählung), zu setzen. Ausgehend von der binären Struktur des Erzähltexts lässt sich zwischen dem darstellenden Schweigen auf der Ebene des Erzähldiskurses und dem dargestellten Schweigen auf der Ebene der Geschichte differenzieren. Diese in den 1970er Jahren von Volker Roloff in die Diskussion eingeführte begriffliche Differenzierung aufgreifend, ist am Beispiel der im Textkorpus enthaltenen Erzählsituationen erarbeitet worden, dass literarische Schweigekonfiguration maßgeblich mit der eingesetzten Erzählinstanz korrelieren. So lässt sich in Hinblick auf das Wie der Darstellung, mithin die graduelle Einbettung des Schweigens in die erzählerische Vermittlung, Folgendes festhalten: Für die Inszenierung von individuellen Schweigeformen im Kontext von Trauma und Erinnerung sind solche Präsentationsformen besonders geeignet, in denen der Erzähler an der von ihm erzählten Geschichte als Figur beteiligt ist (homo- oder autodiegetische Erzählinstanz) und das Erzählte im Sinne von Gérard Genette mittels interner Fokalisierung präsentiert wird. Die Analysen haben illustriert, dass die Mitsicht dem Leser einen Informationsüberschuss eröffnen kann wie es bei Jan Koneffkes Roman der Fall ist, in dem über weite Strecken dem Leser die schuldhafte Teilhabe des Protagonisten am Zweiten Weltkrieg bekannt ist, da dessen Erfahrungen und Innenweltansichten am Textanfang detailliert geschildert, vom Protagonisten jedoch gegenüber dem Figurenensemble verschwiegen werden. Die enge Kopplung des Blickwinkels an die Wahrnehmung einer Figur kann für den Leser gleichwohl mit einer Beschränkung seines Wissens einhergehen wie es bei Eleonora Hummels Roman der Fall ist, deren Protagonistin herausfindet, dass ihr Großvater Teile seiner Lebensgeschichte jahrzehntelang verschwiegen hat, woraufhin sie (und mit ihr der Leser) das Geschehen sukzessive aufdeckt. So bildet die interne Fokalisierung für die Darstellung von Schweigehandlungen eine notwendige Bedingung, da sie leserseitig einen Abgleich zwischen den Gedanken, Reflexionen und Erinnerungen des Erzählers mit der Figurenrede ermöglicht. Eine Identifikation von Schweigehandlungen kann nur erfolgen, sofern diese erzählt, mithin durch einen Erzähler vermittelt werden. Die Frage nach der Perspektive markiert weiterhin, dass bereits die Konzeption des Erzählers als (Ver-)Schweiger oder Adressat des Schweigens unterschiedlich gelagerte Erzählformen hervorbringt. Bezüglich der Stimme haben die Analysen veranschaulicht, dass das Erzählen von Schweigen nachträglich erfolgen kann wie es bei Hans-Ulrich Treichels Erzähltext der Fall ist, dessen Erzählerin ihr Schweigen und dessen Gegenstand erst in einem zeitlichen Abstand von mehreren Jahrzehnten zu den Geschehnissen thematisiert. Auch eine Koinzidenz von Schweigen und Erzählen ist darstellbar, so setzt Linda Boström Knausgård eine Erzählerin ein, die über die gesamte Erzählzeit hinweg

Schlussbetrachtung

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schweigt und vergangenes wie gegenwärtiges Geschehen ausschließlich über die Präsentation von Gedankenrede, mithin nonverbal vermittelt. Mit Blick auf den Ort des Erzählens ist gezeigt worden, dass das Schweigen Bestandteil des extradiegetischen Erzählens sein kann wie es bei Ute Scheub und Gila Lustiger der Fall ist. Ebenso lässt es sich als Bestandteil des intradiegetischen Erzählens inszenieren, so entwickelt Eleonora Hummel eine Rahmengeschichte, in der eine IchErzählerin Gespräche mit ihrem Großvater erinnert, woraufhin eine zweite Erzählebene, die Binnengeschichte, eröffnet wird, in der ihr Großvater die Erzählinstanz stellt und die verschwiegenen Teile der Familiengeschichte offenlegt. Auch bezüglich der Erzählkomponente Zeit sind verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten erarbeitet worden. So kann die Reihenfolge des Erzählens chronologisch gestaltet sein, sofern zunächst Geschehnisse vermittelt werden, die seitens des Erzählers fortan verschwiegen werden, wie es bei Jan Koneffke der Fall ist, oder achronologisch, sofern zunächst der Akt des (Ver-)Schweigens erzählt wird und dessen Gegenstand sowie vorausgehende Ursachen im Fortlauf der Handlung offengelegt werden, wie es in Ute Scheubs Roman erfolgt, deren Protagonistin im Abstand von einer Generation das Ausmaß des Schweigens ihres Vaters über dessen Beteiligung am Zweiten Weltkrieg auszumessen sucht (Analepse). Auch über das Mittel der Retardierung und Beschleunigung des Erzähltempos kann das Schweigen im Erzähltext Gestalt annehmen, so setzt Linda Boström Knausgård eine Erzählerin ein, die dem Leser fortlaufend Einblicke in ihre Innenwelt bzw. Gedanken vermittelt, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Erzählzeit sich gegenüber der erzählten Zeit ausdehnt (Pause) – ein Effekt, der mit jedem Tag, an dem ihr Schweigen andauert, an Intensität zunimmt. Ebenso ist illustriert worden, dass das Schweigen als Auslassung in der Erzählerrede Gestalt annehmen kann (Ellipse) wie es bei Herta Müller der Fall ist, die eine auktoriale mit einer Ich-Erzählsituation verschränkt und im Wechsel zwischen interner und auktorialer Fokalisierung relevante Bestandteile der Geschichte in der Erzählung auslässt bzw. lediglich indirekt vermittelt. Zwar dominieren in den untersuchten Texten Erzählsituationen, in denen die Erzähler an der von ihnen erzählten Geschichte als Figur beteiligt sind, gleichwohl umfasst das Korpus mit Jan Koneffkes Roman auch eine abweichend gelagerte Erzählsituation: Es ist ein heterodiegetischer Erzähler, der die Geschehnisse vermittelt und sich gegen Ende überraschend als Teil des Figurenensembles zu erkennen gibt – als Sohn der Hauptfigur, dem ebenso wie dem Figurenensemble die Beteiligung seines Vaters am Zweiten Weltkrieg verschwiegen worden ist. Dieser erzählerische Clou lässt nicht nur das zuvor Erzählte in einem neuen Licht erscheinen, sondern den Leser das Verschweigen, von dem die Geschichte bis dahin erzählt hat, selbst erfahren – durch das Moment des plötzlichen Erkennens, dass für die Einordnung des Erzählten relevante Informationen vorenthalten worden sind, dass das vom Erzähler als authentisch und vollständig Behauptete mithin

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Schlussbetrachtung

Lücken aufweist. Auch mit einer unzuverlässigen Erzählinstanz lässt sich das Schweigen darstellen, wie es Herta Müller in ihrem Roman »Herztier« vornimmt, der am Ende in die Anfangsszene zurückkehrt, wobei leserseitig nicht eindeutig aufzulösen ist, ob das bis dahin Erzählte überhaupt verbalisiert worden ist oder ob es sich lediglich um die Präsentation von Gedankenrede handelt – verständigt sich die Erzählerin in jener Szene doch mit einer anderen Figur über die Unmöglichkeit, die in der Diktatur erfahrenen Repressionen in Worte zu fassen. In Hinblick auf das Was der Darstellung, die Relation von Schweigen und den dynamischen sowie statischen Bestandteilen einer Geschichte und weiteren Erzähltextaspekten wie die Gestaltung von Erzählanfang und -schluss, die Spannungsstruktur und das Wechselspiel von Illusionsbildung und -durchbrechung können abschließend folgende Ergebnisse festgehalten werden: Die Analysen zeigen bezüglich der Handlung bzw. deren Oberflächenstruktur, dass sich das Schweigen im Sinne einer Figuration der Auslassung eindrücklich mittels Absenz von Figurenhandlung im engeren Sinne inszenieren lässt. So entwickelt Linda Boström Knausgård eine Geschichte, in der das Schweigen der Erzählerin in der Limitierung ihres Handlungsradius’ Gestalt annimmt. Zudem bilden ihre Innenweltdarstellungen in erster Linie Eigenschaften, Zustände, Geschehnisse und repetitive Handlungen ab, mithin statische Ereignisse, wodurch die Erzählerin passiv und aus dem sie umgebenen Geschehen isoliert erscheint. Die erzählerische Gegenwart ist im Sinne von William Labov von einer auffällig geringen tellability geprägt – abgesehen von dem zu Beginn bereits andauernden Schweigen passiert kaum etwas, das überhaupt lohnt, erzählt zu werden. Dabei tritt das ›Nichttun‹ der Erzählerin in dem Maße in den Vordergrund, in dem ihr Schweigen für die übrigen Figuren zum Handlungsmotor gerät. Bezüglich der Tiefenstruktur der Handlung ist zu konstatieren, dass Claudia Benthiens Überlegung zum Drama, dass »das Schweigen und Verstummen von Figuren, oftmals an zentralen Umschlagpunkten der Handlung, ein wichtiges Gestaltungsmoment [ist]«1259, auch für Prosatexte zutrifft. In diesem Sinne bildet etwa das kurze Brechen des Schweigens, der Schrei von Linda Boström Knausgårds Erzählerin, einen Höhepunkt der Handlung – es ist ihre Reaktion auf einen familiären Gewaltakt, der den Angehörigen signalisiert, dass ihre Weigerung zu sprechen intentional erfolgt und kein Nicht-sprechen-Können ist. Auch kann Schweigen am Anfang einer Handlungskette stehen, wie es in Eleonora Hummels Erzähltext der Fall ist, in dem das Ausbleiben einer Antwort (Schweigezug) auf die Frage der Erzählerin nach dem Befinden des Großvaters den Auftakt für die Erkundung der nicht erzählten Anteile ihrer Familiengeschichte bildet. Komplementär dazu kann das Schweigen-Brechen auch mit dem Ende der Geschichte zusammenfallen, wie es bei Hans-Ulrich Treichel der Fall ist. Weiterhin haben die Analysen 1259 Benthien, Barockes Schweigen. 2006, S. 21.

Schlussbetrachtung

331

veranschaulicht, dass sich das Schweigen als erzählerisches Mittel zum Spannungsaufbau einsetzen lässt. Diesen Effekt nutzt etwa Hans-Ulrich Treichel bei der Konzeption seiner Handlung, in der die Erzählerin mittels Metakommentaren über ihr Schweigen permanent einen Wissensüberschuss gegenüber dem Leser signalisiert, wodurch im Sinne von William Brewer eine Rätselspannung1260 aufgebaut wird, die erst zum Ende des Texts mit der Offenlegung seines Gegenstands aufgelöst wird. Linda Boström Knausgårds Geschichte entfaltet ihre Sogkraft hingegen maßgeblich durch den Aufbau einer mit der Schweigedauer der Erzählerin einhergehenden Konfliktspannung1261. Schließlich lässt sich das Schweigen auch im Verhältnis von Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung inszenieren, wie es Linda Boström Knausgård vornimmt, deren schweigende Erzählerin über das Aufwerfen von Fragen nicht bloß ihre Gedanken anzustoßen, sondern auch den Leser anzusprechen scheint. Indem sie die narrative Illusion durchbricht und als vermittelnde Instanz in den Vordergrund rückt, tritt neben der Fiktionalität des Texts auch der Kunstcharakter ihres Schweigens zu Tage. In Hinblick auf das Verhältnis von Schweigen und den statischen Bestandteilen der Geschichte ist festzuhalten, dass sich die Annahme bestätigt hat, dass Schweigekonfigurationen im Kontext von Trauma und Erinnerung vorrangig in Kommunikationsverläufen lokalisiert sind, in denen die Beziehung der Partner im Sinne von Paul Watzlawick auf Unterschiedlichkeit beruht. Diese Prämisse nimmt, so haben es die Analysen gezeigt, Einfluss auf die Gestaltung der Erzählkomponenten Raum und Figur. So sind Herta Müllers und Eleonora Hummels Geschichten in einem besonderen Maße von der räumlichen Kategorie geprägt, die »im Sinne [… einer] Strukturdarstellung von Ordnungen der Einund Ausschließung«1262 die übrigen Bestandteile der Geschichte maßgeblich beeinflusst. In beiden Erzähltexten werden Kommunikationsräume konzipiert, in denen das Sprechen und Schweigen von Regeln bestimmt wird, die Ausdruck von etablierten Machtverhältnissen sind. Tendenziell verhindern bzw. limitieren diese Schauplätze das (sprachliche) Handeln der Figuren und werden in Abgrenzung zu Räumen des freien Sprechens bzw. Sagen-Dürfens entworfen. In beiden Texten ist offenkundig, dass die Entwicklung der Figuren mit ihrer Bewegung im Raum korreliert, etwa insofern, als sie Räume des freien Sprechens für sich erschließen, wie es bei Müllers Fall ist, deren Hauptfigur sich dem repressiven Schweigen der erzählten Diktatur durch Verstecke, sprachliche Codes und Ausreise zu entziehen sucht. Hummel hingegen parallelisiert Räume mit unterschiedlicher Limitierung des Sprechens, so ist der ›Raum des Sagbaren‹, den der Großvater in seiner Geschichte erinnert, deutlich stärker normiert als der1260 Vgl. Brewer, The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading. 1996, S. 113f. 1261 Vgl. ebd., S. 112f. 1262 Schreiber, Raumangebote bei Foucault. 2009, S. 199f.

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Schlussbetrachtung

jenige seiner erzählerischen Gegenwart. In beiden Geschichten herrscht bezüglich der Wahrnehmung der Schauplätze nach Elisabeth Ströker ein Anschauungsraum vor, der weniger vom Sagen und Handeln (Aktionsraum) als vom Sehen und Zeigen der Figuren geprägt ist – so inszeniert Müller das repressive Schweigen ihrer Figuren etwa über assoziative Verknüpfungen von Blickpunkten und Momentaufnahmen der Hauptfigur. Die komplementären Kommunikationsverläufe korrelieren zudem mit einer Konstellation von Figuren, die als Kontrastpaare angelegt sind – sei es zwischen Angehörigen verschiedener Generationen wie bei Linda Boström Knausgård (Mutter versus Tochter), disparater Erfahrungsgemeinschaften wie bei Gila Lustiger (Holocaust-Überlebender versus Nachkommen bzw. erste versus zweite Generation) und unterschiedlicher Hierarchieebenen wie bei Herta Müller (Regimeanhänger versus Dissidenten bzw. superiore versus inferiore Sprecherposition). Die Figuren verfolgen entsprechend ihrer Rolle als Träger oder Adressat von Schweigehandlungen im Sinne von Fleur Ulsamer divergierende kommunikativ-strategische Ziele. So sucht Jan Koneffkes Protagonist mittels Schweigen seine Beteiligung am Krieg, insbesondere seine unhinterfragte Verinnerlichung von soldatischen Werten und sein brutal-enthemmtes Vorgehen geheimzuhalten, um die öffentliche Annahme seiner moralischen Schuld, die mit sozialer Ächtung (Gesichtsverlust) einherginge, abzuwenden. In diesem Fall dominiert nach Vernon Jensen die revelational function des Schweigens. Linda Boström Knausgårds Protagonistin hingegen hält auch deshalb monatelang an ihrer Weigerung zu sprechen fest, weil das Schweigen ihrer untergeordneten Position im Familiengefüge ungeahnte Stärke verleiht. Es ist Ausdruck ihrer Ablehnung der Einflussnahme durch andere, mithin Machtausübung ( judgemental function). Beide Figuren entscheiden sich mehr oder weniger bewusst für das ungebrochen bleibende Schweigen, dessen Gegenstand in weiten Teilen »unter anderen Umständen durchaus zur Sprache gebracht werden [könnte]«1263, wobei das Verschweigen von Koneffkes Protagonisten von weiteren Strategien zur Abwehr von Kommunikation begleitet wird, wie die Meidung von selbstreferentieller Kommunikation, das Lügen und das Erfinden alternativer Geschehensdarstellungen. In Anlehnung an Klaus Zimmermann liegt in diesen Texten der Schweigetyp I: Schweigen-Wollen/Reden-Abwehren vor. Durch äußere politische Einflüsse erzwungen ist wiederum das repressive Schweigen von Herta Müllers und Eleonora Hummels Protagonisten (Schweigetyp II: Schweigen-Sollen/Nicht-Reden-Dürfen). Sie bewegen sich in Räumen, die von einer massiven Einschränkung der Kommunikationsformen bzw. einer rigiden Verteilung von »Rederecht und Schweigepflicht [gekennzeichnet sind, die ihrerseits …] Herrschaftsverhältnisse ab[bilden, wobei… ] die Art, in der [… die Figuren] damit 1263 Assmann, Einführung. 2013, S. 18.

Schlussbetrachtung

333

umgehen, […] über ihre gesellschaftlichen Chancen entscheide[t]«1264. So inszeniert Herta Müller eine sozialistische Diktatur, deren Anhänger mittels Sprachlenkung und formelhafter Indoktrination, Verbot konkreter Sprechweisen und Mundtot-Machen den offiziellen politisch-ideologischen Diskurs zu normieren und den Sprachgebrauch im Raum offizieller, öffentlicher wie privater Kommunikation zu entdifferenzieren suchen. Die daraus resultierende Destabilisierung der Selbstverständlichkeit des Sprachgebrauchs der Hauptfigur kann diese auch mittels Ausreise aus der Diktatur nicht überwinden. Vielmehr zeigt die Erschließung eines weniger stark limitierten Raums der Kommunikation bzw. des Sagen-Dürfens die Grenzen ihres Sagen-Könnens auf – wobei das repressive Schweigen Züge eines existenziellen Schweigens annimmt. Bei Eleonora Hummel sind staatlich erteilte Schweigeverpflichtungen und gesellschaftliche Prozesse der Tabuisierung auf den Ausschluss der von Verfolgung, Gulag, Zwangsumsiedlung und Diskriminierung geprägten Geschichte der deutschstämmigen Minderheit aus dem kulturellen Gedächtnis der Sowjetunion gerichtet. Am Beispiel der Alltagskommunikation der Familie Schmidt sind verbale (wortreiche Bagatellisierung, begrenzte Kumpanei, Themenwechsel) nonverbale (Schweigezug, Blickkontakt, Mimik) und paraverbale (Intonation) Strategien der Gesprächsabwehr zur Aufrechterhaltung des Geheimnisses über die Verfolgungsvergangenheit der Familie erarbeitet worden. In W.G. Sebalds und HansUlrich Treichels Erzähltexten ist das figurale Schweigen primär eine Folge bzw. ein Symptom unverarbeitet gebliebener und in Sprachlosigkeit versunkener traumatischer Erfahrungen (Schweigetyp III: Schweigen-Müssen/Nicht-redenKönnen). Bei Sebalds Protagonist spielt neben der Überforderung der kindlichen Bewältigungsmöglichkeiten das Ausbleiben des Nacherzählens seiner Verschickungserfahrung mit seinen Zieheltern eine entscheidende Rolle für die Abspaltung der frühen Kindheitsjahre und die Aufrechterhaltung seines speechless terros. Auch Treichels Erzählerin sucht mit ihrem Schweigen eine heilsame Distanzierung zu der verstörenden Erfahrung der mehrfachen Vergewaltigung mit einer Schwangerschaft in Folge aufzubauen. Entfaltet das Schweigen zwischen den Eheleuten eine verbindende Kraft (linkage function), wirkt es auf die Beziehung mit ihrem Sohn isolierend. Gila Lustigers und Ute Scheubs Figuren sind wiederum mit dem Schweigen ihrer Väter über deren unterschiedlich gelagerten Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg konfrontiert (Schweigen-aushaltenMüssen/Reden-Fordern). Resultiert das überwältigte Schweigen1265 des Vaters, einem Angehörigen der ersten Generation bei Gila Lustiger aus dem Wunsch nach Überwindung der Vernichtungserfahrung jüdischen Lebens und der Ermöglichung des unbeschwerten Aufwachsens nachfolgender Generationen, steht 1264 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 17. 1265 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57.

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Schlussbetrachtung

das Dethematisieren der Vergangenheit von Ute Scheubs Vaterfigur im Dienste der Verleugnung seiner NS-Mittäterschaft, rassenideologischen Gesinnung und Weigerung zur Selbstkorrektur. In Gänze betrachtet zeigen die erzähltheoretischen Beobachtungen das breite Spektrum an Inszenierungsmöglichkeiten von Schweigen im Erzähltext auf, womit der erste Teil der eingangs formulierten These, dass das Schweigen auf der Ebene der Erzählung als produktives Moment der literarischen Formgebung und Strukturierung wirkt, bestätigt wird. An die skizzierte Wirkung von Schweigen als strukturbildendes Element im Gesamtaufbau des Erzähltexts schließt die Bewertung von Schweigehandlungen im Kontext von traumatischen Erfahrungen an: Inwiefern bildet es für die Figuren »eine Möglichkeit bzw. einen Mangel«1266 in Bezug auf die Prozesse des Erinnerns und der Ausbildung von Identitätsentwürfen? Mit Blick auf Jan Koneffkes Protagonisten lässt sich resümieren, dass diesen die belastenden Primärerinnerungen nach Kriegsende nicht loslassen. Er ist überzeugt, dass ihn eine moralische Tat- und Unterlassungsschuld trifft, die er in erster Linie mittels Verschweigen und Negation einer ganzheitlichen Wahrnehmung seiner Persönlichkeitsanteile zu vertuschen sucht. Als biographische Reparaturstrategie ermöglicht ihm das defensive Schweigen1267 eine offizielle Identität gegenüber seiner geheim gehaltenen Alternatividentität aufrechtzuhalten. Es steht im Dienst der Vergangenheitsbewältigung, der Befreiung von jenen Teilen seiner Biographie, die mit seinem idealen Selbstbild bzw. Identitätsprofil inkompatibel sind. Zwar gelingt ihm die Täuschung von Familie, Freunden und Kollegen, sie geht jedoch mit hohen psychischen Kosten einher: Augenscheinlich bedingt das schlechte Gewissen die Ausbildung von starken Minderwertigkeitsgefühlen, die sich im Sinne einer Wendung gegen das Selbst als Form der Kompensation seiner Lebenslüge interpretieren lassen. Das jahrelange Lügen und Fingieren führt außerdem dazu, dass die Figur Erfahrung und Erfindung nicht mehr trennscharf voneinander abzugrenzen vermag, was ihr Selbstkonzept ebenso destabilisiert. Da sie sich Zeit ihres Lebens nicht öffentlich bekennt, bleibt ihr die entlastende Möglichkeit, im intersozialen Austausch »biographische Erfahrungen zu überprüfen, rückblickend anders zu interpretieren und vor diesem Hintergrund die Zukunft neu zu konstruieren«1268 verwehrt – ebenso wie die Neubewertung ihrer Schuld- und Schamgefühle. Auch bei Linda Boström Knausgårds Protagonistin ist das Schweigen eng mit zurückliegenden Stör-Erfahrungen verknüpft, die noch die erzählerische Gegenwart überschatten. Die Qualität ihres Schweigens changiert zwischen dem überwältigten Zuviel schmerzhafter Kindheitserfahrungen, der Verweigerung gegenüber dem Voranschreiten der Zeit und der Selbster1266 Schönwandt, Das Gegenstück zum Sprechen. 2011, S. 44. 1267 Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 57. 1268 Timmermann, Eltern psychisch kranker Kinder. 2011, S. 18.

Schlussbetrachtung

335

mächtigung im familialen Gefüge. Dabei schlägt die Möglichkeit, sich im Mantel des Schweigens der Einflussnahme durch andere zu entziehen, sukzessive in einen Mangel um. Mit jedem Tag, an dem ihr Schweigen andauert, wird ihre Entwicklung retardiert – ihr Handlungsradius verengt sich, ihre interpersonalen Beziehungen schwinden ebenso wie ihr Selbstwertgefühl. Erst der Eintritt in die Phase der Adoleszenz setzt eine bewusste Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, ihrem Selbstkonzept und ihrer familialen Rolle in Gang und stellt die Aufgabe ihres Schweigens in Aussicht. Bei Herta Müllers und Eleonora Hummels Geschichte wirkt das repressive Schweigen hingegen als Form des strukturellen Entzugs des Rechts zur freien Meinungsäußerung sowie des Rechts, erinnert zu werden. Es wird von den Protagonisten als Mangel empfunden, da das Ausbilden einer eigenen Stimme, die in beiden Fällen eine Gegenstimme zum dominierenden Diskurs bildet, durch strukturelle Gewalt verhindert wird. Bei Eleonora Hummel ist das Zum-Schweigen-Bringen der deutschstämmigen Minderheit, die zum Opfer von politischer Verfolgung wird, auf die Minorisierung ihrer Geschichte gerichtet, die aus dem kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion getilgt werden soll. Der Verpflichtung, über die Leidensgeschichte zu schweigen, folgt die Figur des Großvaters nach ihrer Entlassung aus der über zwanzigjährigen Haft zum Schutze ihrer selbst ebenso wie ihrer Angehörigen in der Hoffnung auf einen Neuanfang. In W.G. Sebalds Erzähltext geht mit dem Schweigen des Protagonisten über die Erfahrung der Kinderverschickung, des Verlusts der Bindungspersonen, der Muttersprache sowie der vertrauen Umgebung das scheinbare Vergessen derselben einher. Es lässt sich dies als Schutzreaktion der kindlichen Psyche fassen. Gleichwohl wird der Protagonist in den folgenden Jahrzehnten von seinem in Sprachlosigkeit versunkenen Trauma verfolgt. Als Schlüsselreize die Blockade seines autobiographischen Gedächtnisses partiell lösen, nimmt er Bemühungen zur Rekonstruktion seiner Herkunft auf. In Anwesenheit eines Zuhörers entwickelt die Figur ein Verlustnarrativ und sucht zentrale Lebensereignisse in eine kontinuierliche Lebensgeschichte zu integrieren. Der Wunsch, die Leidensgeschichte zu erzählen, wird von der Hoffnung getragen, das rekapitulierte vergangene an das gegenwärtige Ich anzunähern, um beide Identitätskomponenten zu einer einzigen Person mit einem beide Komponenten umfassenden Bewusstsein zu verbinden. Neben der Selbstheilungsfunktion durch das zwischenmenschliche Mitteilen seiner Lebensgeschichte erfährt der Protagonist auch soziale Anerkennung. Er nimmt durch das »Erzählen von Selbsterlebtem […] sowohl Selbstdarstellung als auch interaktionell mitbestimmte und emergente Selbstherstellung [… vor, mithin] ›Identitätsarbeit in Aktion‹«1269. Ähnlich ergeht es der Protagonistin von Hans-Ulrich Treichel, die ihre Geschichte der mehrfachen Vergewaltigung samt Todesdrohung gegen Ende 1269 Lucius-Hoene/Deppermann, Narrative Identität und Positionierung. 2004, S. 168.

336

Schlussbetrachtung

des Zweiten Weltkrieges erst nach dem Tod ihres erwachsenen Sohnes offenlegt. Das Schweigen hat es ihr ermöglicht, jene verstörenden Erlebnisse von ihrer Gegenwart abzuspalten. So ist es in erster Linie Ausdruck der »dauerhafte[n] Erschütterung [… ihres] Selbst- und Weltverständnis[ses]«1270, ein Symptom ihrer Verstörung. In der deutschen Gesellschaft der 1950er Jahre, in der das Thema der Vergewaltigung seitens der Alliierten weithin tabuisiert ist, schützt das Schweigen zudem ihr Gesicht. Auch sieht sie keinen Sinn darin, ihren Sohn in Bezug auf dessen Vaterschaft zu verunsichern. Doch ihr Wunsch nach einem ›normalen‹ Familienleben fordert einen hohen Preis: Einen Alltag, der über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger stark von Scham, Zweifeln und Vergangenheitsverdrängung geprägt ist. So kommt dem Erzählen der Geschehnisse auch bei Treichels Figur eine identitätsstiftende Leistung zu und dient als Mittel zur Selbstkonstitution. In der Handlungsrolle der gestaltenden Erzählerin, die die Ereignisse erinnert, ordnet und validiert, wechselt sie aus der Position des passiven, fremdbestimmten Opfers (Patients) in eine aktive Rolle (Agens) und gewinnt nachträglich eine gewisse Kontrolle bzw. Souveränität über das Erlebte zurück.1271 So kann sie »[i]m weitesten Sinne […] durch die Aktivität des Erzählens ein Stück verlorengegangener Autonomie [… wiederherstellen]«1272. Mit Blick auf Gila Lustigers und Ute Scheubs Protagonisten lässt sich Folgendes festhalten: Obwohl das Schweigen der Vaterfigur in Lustigers Erzähltext über die Holocaust-Erfahrung mit dem Ziel verknüpft ist, sich vor einer erneuten Konfrontation mit jenen Ereignissen zu schützen und den nachfolgenden Generationen ein unbeschwertes Aufwachsen zu ermöglichen, gerät gerade das NichtSprechen über die Vergangenheit zum Familienkonflikt – auch deshalb, weil das Nicht-Gesagte in der Aura eines dunklen Familiengeheimnisses auf latente Weise dennoch vermittelt wird. Die Verhaltensweisen des Vaters zur Abwehr seiner schmerzhaften Erinnerungen und die Identifizierung mit dessen Scham- und Schuldgefühlen durch die erzählende Tochter illustrieren im Sinne von Dan BarOn und Yael Danieli, dass das Schweigen als implizite Form der Familienkommunikation ein äußerst wirksamer Modus der transgenerationellen Übertragung ist, das die erste und zweite Generation nachhaltig aneinander bindet. In diesem Sinne gerät auch das Schweigen der Vaterfigur in Ute Scheubs Erzähltext, die ein Mitglied der SS und ein fanatischer Anhänger der NS-Rassenideologie gewesen ist, langfristig zu einem Mangel. Zwar verhüllt es das fehlende Schuldbewusstsein der Figur, ihre Angst vor Strafverfolgung und ihre Weigerung, sich zu korrigieren. Langfristig belastet die synchrone Aufrechthaltung einer offiziellen gegenüber der inoffiziellen Identität jedoch die psychische Stabilität und Bindungs1270 Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2020, S. 88. 1271 Vgl. Boothe, Das Narrativ. 2011, S. 73–83. 1272 Scheidt/Lucius-Hoene, Kategorisierung und narrative Bewältigung. 2015, S. 27.

Schlussbetrachtung

337

fähigkeit der Figur. So isoliert sich der Vater immer stärker, begeht Suizid und gerät noch in der adoleszenten Selbstfindungsphase seiner Tochter zu einem »Bezugspunkt, der gerade durch die Negation Orientierung gibt«1273, beim »Anstreben einer Gegenidentität, [… wobei] seine Person weiterhin im Zentrum der Selbstfindung der Erzählfigur[ bleibt]«1274. Im Sinne von Gabriele Rosenthal und Angela Moré fungiert das Schweigen des Vaters als Mechanismus des Fortwirkens problematischer Familienvergangenheiten, wobei die »Transformation nicht anerkannter realer Schuld in Schuldgefühle bei den Kindern und Enkeln«1275 eine spezifische Ausprägung der transgenerationellen Erfahrungsweitergabe in Familien von NS-Tätern bildet. Gesamtheitlich betrachtet führen die Analysen zu der Beobachtung, dass das Schweigen im Kontext von traumatischen Erfahrungen vorrangig mit dem Vergessen, das Erinnern hingegen mit dem Erzählen assoziiert ist. So verknüpft Jan Koneffkes Protagonist sein defensives Schweigen mit dem Wunsch, seine belastenden Erinnerungen an den Krieg abzuschütteln. Ähnlich ergeht es Linda Boström Knausgårds Protagonistin in Bezug auf die durch den Vater verursachten verstörenden Erfahrungen. Die Ausprägungen des von Herta Müller und Eleonora Hummel inszenierten repressiven Schweigens hängen wiederum mit einem staatlich erteilten Verbot, erinnert zu werden, zusammen. Und im Falle von W.G. Sebalds Protagonist setzt das Schweigen über die traumatischen Kindheitserfahrungen die psychischen Folgen auf Dauer. Trotz der skizzierten Tendenz erschöpft sich das Schweigen nicht darin, als Form des Vergessens1276 zu fungieren. Es kann, wie die Analyse der Erzähltexte von Gila Lustiger und Ute Scheub gezeigt hat, auch als Form des indirekten Erzählens zwischen den Generationen, mithin als Dynamik des Erinnerns1277 Wirkung entfalten. Weiterhin ist zu konstatieren, dass die untersuchten Texte tendenziell eine Auffassung repräsentieren, die das Erzählen von verstörenden Erfahrungen als heilsam befürwortet. So sind wiederkehrende Erzählfunktionen wie die Aktualisierung von Vergangenheit und die Selbstvergewisserung (u. a. bei Linda Boström Knausgård und Herta Müller), die Co-Konstruktion von Wirklichkeit (u. a. bei Eleonora Hummel und W.G. Sebald), die nachträgliche Bewertung und Kontingenzbewältigung (u. a. bei Hans-Ulrich Treichel) sowie die generationelle Verortung (u. a. bei Gila Lustiger und Ute Scheub) erarbeitet worden. Damit greifen die literarischen Erzähltexte ein Verständnis vom entlastenden bzw. bewältigenden Erzählen auf, wie es in der Psychologie, der Psychotherapie und der narrativen

1273 1274 1275 1276 1277

Borowicz, Vater-Spuren-Suche. 2013, S. 106. Ebd., S. 105f. Moré, Die unbewusste Weitergabe von Trauma und Schuldverstrickung. 2013, S. 14. Vgl. Assmann, Formen des Vergessens. 2017, S. 56f. Walburg, Zeit der Mehrsprachigkeit. 2017, S. 171.

338

Schlussbetrachtung

Identitätsforschung als Konsens gilt:1278 Sofern traumatisierte Patienten stabil genug für eine erneute Konfrontation mit der traumatischen Erfahrung sind,1279 gilt die narrative Exposition, das ordnende, verdichtende wie evaluierende Erzählen in einem geschützten Raum für die Integration der traumatischen Erfahrungen in die persönliche Lebensgeschichte, auch in transgenerationeller Hinsicht, als protektiv.1280 Gleichwohl weisen die Analyseergebnisse auf die Notwendigkeit hin, in der Diskussion zum Umgang mit traumatischen Erfahrungen den Fokus nicht ausschließlich auf das Erzählen derselben zu richten. Die damit einhergehende Forderung nach einer Überwindung des Schweigens durch die Betroffenen erscheint insofern zu einseitig, als sie dessen Leistung in Bezug auf die emotionale Entlastung nicht ausreichend berücksichtigt. Auch fordert sie von Betroffenen implizit eine Rechtfertigung für ihr Schweigen ein, anstatt dessen Ursachen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Nicht zuletzt hat die Analyse von W.G. Sebalds traumatisierter Kinderfigur gezeigt, dass »Dissoziation und Einkapselung […] als Versuch zu verstehen [sind], ein Containment für eine unerträgliche und nicht zu bewältigende Realität zu schaffen, die als innere Katastrophe erfahren wird – begleitet von Vernichtungsangst, Leere, Hilflosigkeit und Schmerz«1281. So scheint das Einkapseln von extrem belastenden Erinnerungen samt deren Abtrennen von anderen Teilen der Lebensgeschichte, wie es unter anderem Hans-Ulrich Treichels Protagonistin vornimmt, manchen Betroffenen zumindest phasenweise mehr Erleichterung zu verschaffen als das Erzählen derselben.1282 In diesem Sinne zielt auch die sich auf Fakten 1278 Vgl. Scheidt/Lucius-Hoene/Stukenbrock/Waller, Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. 2015; vgl. Boothe, Das Narrativ. 2011; vgl. Waller, Nicola/Scheidt, Carl Eduard: Erzählen als Prozess der (Wieder-)Herstellung von Selbstkohärenz. Überlegungen zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen. Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychotherapie 56, 2010, H. 1, S. 56–73. 1279 Vgl. Fischer, Einführung in die Theorie und Praxis der Traumatherapie. 2014, S. 56–58; vgl. Neuner, Stabilisierung vor Konfrontation in der Traumatherapie. 2008, S. 109–118. 1280 Vgl. Neuner/Schauer/Elbert, Narrative Exposition. 2013, S. 327–347; vgl. Waller/Scheidt, Erzählen als Prozess der (Wieder-)Herstellung von Selbstkohärenz. 2010, S. 69; vgl. Klütsch/Reich, Die mehrgenerationelle Weitergabe von Traumatisierungen. 2012, S. 579. 1281 Bohleber, Trauma. 2011, S. 22. 1282 Vgl. Shamai/Levin-Megged, The Myth of Creating an Integrative Story. 2006, S. 692–712; vgl. Rosenblum, Distancing Emotion. 2011, S. 119–150; Grünberg weist im Kontext von Interviews mit Familien von Holocaust-Überlebenden darauf hin, dass »keineswegs gesichert [scheint], daß Kinder, deren Eltern ›sprachen‹, es wirklich leichter hatten. Die Interviewte Judith B. etwa […] sagt über die immer wiederkehrenden Schilderungen der Verfolgungserlebnisse ihrer Eltern: ›Denn das lief immer so ab, daß man zum Beispiel übers Wetter sprach und garantiert beim KZ landete, immer […]. Ich weiß nur, daß das eigentlich in meinem Bewußtsein so stark drin ist, daß ich oft das Gefühl hatte, als ich jünger war, daß ich nicht mehr so richtig wußte, ob ich das selbst erlebt hatte oder ob ich das nur erzählt bekommen hatte.‹ […] Wiewohl es im ›gewöhnlicheren‹ Fall von Traumatisierung richtig ist, Bedingungen für ein offenes Gespräch über das Trauma zu schaffen, um weitreichende Folgewirkungen möglichst zu begrenzen, so scheint die direkte Über-

Schlussbetrachtung

339

beschränkende, jegliche Gefühle aussparende Trauma-Narration, die Gila Lustigers Vaterfigur eines Holocaust-Überlebenden formuliert, darauf ab, Schutz zu spenden, indem sie das unerträgliche Leid emotional auf Distanz hält.1283 Dabei besteht die lückenhafte bzw. »alternative story […] next to the story of the trauma and helps to keep it in the capsule – separated but not integrated«1284. Unter Berücksichtigung dieser Beobachtungen entzieht sich das Schweigen der Zuweisung des einseitig pejorativen Prädikats ›Mangel‹. Die Analysen haben detailliert illustriert, dass das Schweigen den Figuren im Sinne einer kommunikativen Strategie spezifische Möglichkeiten eröffnet, es ihnen vielfach »als subjektiv bessere, sinnvollere Wahl erscheint […, weil es dazu dient], ein bestehendes System aufrechtzuerhalten, das durch eine Offenbarung […] gefährdet würde«1285. Dass es seine Qualität im Zeitverlauf und in Abhängigkeit von den Kontextbedingungen ändern, es sich auch von einer Möglichkeit in einen Mangel verkehren kann, ist hinreichend verdeutlicht worden. So ist in Bezug auf den zweiten Teil der eingangs formulierte These, dass das Schweigen auf der Ebene der Geschichte destruktiv mit Prozessen der Erinnerungs- und Identitätsprozessen korreliert, abschließend festzuhalten: Beide Momente, das ermöglichende (Schweigen als Möglichkeit) ebenso wie das verhindernde (Schweigen als Mangel) Moment spielen bei der Bewertung dessen, was das Schweigen für die Figur bzw. den Erzähler leistet, eine maßgebliche Rolle. In Hinblick auf die Anschließbarkeit weiterer Forschungsfragen sei bemerkt, dass die vorliegende Dissertation den Fokus explizit auf Formen des negativ konnotierten individuellen Schweigens im Kontext von Trauma und Erinnerung gerichtet hat. Die hinreichend erprobte Typologie von Schweigen-Wollen, Schweigen-Sollen und Schweigen-Müssen ließe sich auch für weitere phänomenorientierte Fragestellungen fruchtbar machen, etwa in Hinblick auf kollektive Formen des (negativ konnotierten) Schweigens. Dabei könnten Ansätze einbezogen werden, wie sie Aleida Assmann zum komplizitären Schweigen entwickelt, das »hartnäckig auf die Erhaltung eines status quo ausgerichtet ist und einen […] Konformzwang ausübt. Sich dem Druck des komplizitären Schweigens zu widersetzen erfordert Mut, denn es führt zu Peinlichkeit, Imageverlust tragung dieser Erfahrungen auf die extremtraumatisierten Opfer der Shoah doch eher fragwürdig. Wenn die jahrelange Erfahrung sinnloser Nazi-Verfolgung nicht faßbar und gleichermaßen unvermittelbar ist, wenn es sich um eine Traumatisierung unvorstellbaren Ausmaßes handelt, die letztlich nicht integrierbar ist in ein auch nur annähernd menschliches Bild vom zivilisierten Menschen, wenn jedwede Erinnerung an das Trauma gleichsam erneute Traumatisierung bedeutet, so muß dies Konsequenzen für den Umgang mit dem Trauma der nationalsozialistischen Judenvernichtung haben.« Grünberg, Schweigen und Ver-schweigen. 1997, S. 13. 1283 Vgl. Rosenblum, Distancing Emotion. 2011, S. 119–150. 1284 Shamai/Levin-Megged, The Myth of Creating an Integrative Story. 2006, S. 707. 1285 Kavemann/Rothkegel, Trauma Sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. 2014, S. 204.

340

Schlussbetrachtung

und sozialer Ächtung«1286 sowie von Elisabeth Noelle-Neumann, die anhand des Konzepts der Schweigespirale1287 Prozesse der öffentlichen Bildung und Minorisierung von Meinungen in Bezug auf Themen untersucht, die gesellschaftlich emotional und moralisch aufgeladen sind. Ausgehend von den erarbeiteten literarischen Inszenierungsformen ließe sich auch untersuchen, inwiefern sich das Schweigen in der Kommunikation zwischen dem realen Autor und dem realen Leser verorten lässt – eine Frage, die den in der vorliegenden Untersuchung explizit eingenommenen werkimmanenten Blickwinkel um textexterne Überlegungen erweitern würde.

1286 Vgl. Assmann, Formen des Schweigens. 2013, S. 63. 1287 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Frankfurt/M. 1991: Ullstein.

8.

Bibliographie

8.1

Siglenverzeichnis

A ES FB FL H SW T WA

Sebald, W.G.: Austerlitz. 6. Aufl. Frankfurt/M. 2013: Fischer. Koneffke, Jan: Ein Sonntagskind. Berlin 2015: Galiani. Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen 2005: Steidl. Scheub, Ute: Das falsche Leben. Eine Vatersuche. München 2006: Piper. Müller, Herta: Herztier. München 2007: Hanser. Lustiger, Gila: So sind wir. Ein Familienroman. 4. Aufl. Berlin 2016: Piper. Treichel, Hans-Ulrich: Tagesanbruch. 2. Aufl. Berlin 2016: Suhrkamp. Boström Knausgård, Linda: Willkommen in Amerika. Frankfurt/M. 2017: Schöffling&Co.

8.2

Untersuchte Primärliteratur

Boström Knausgård, Linda: Willkommen in Amerika. Frankfurt/M. 2017: Schöffling&Co. Hummel, Eleonora: Die Fische von Berlin. Göttingen 2005: Steidl. Koneffke, Jan: Ein Sonntagskind. Berlin 2015: Galiani. Lustiger, Gila: So sind wir. Ein Familienroman. 4. Aufl. Berlin/München 2016: Piper. Müller, Herta: Herztier. München 2007: Hanser. Scheub, Ute: Das falsche Leben. Eine Vatersuche. München 2006: Piper. Sebald, W.G.: Austerlitz. 6. Aufl. Frankfurt/M. 2013: Fischer. Treichel, Hans-Ulrich: Tagesanbruch. 2. Aufl. Berlin 2016: Suhrkamp.

8.3

Weitere Primärliteratur

Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. 2. Aufl. Stuttgart 1980: Ernst Klett. Böll, Heinrich: Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren. 3. Aufl. Köln 2018: Kiepenheuer&Witsch, S. 7–54.

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Bibliographie

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8.4

Sekundärliteratur

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Sekundärliteratur

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Internetquellen

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Schwanitz, Mirko: »Anfang einer neuen Tradition«. Deutschlandfunk Kultur heute, Russlanddeutsche Literatur vom 04. 12. 2018. (Letzter Zugriff am 29. 04. 2020). Schwedische Verlagsvereinigung (Hrsg.): Augustpriset. Nominerade 2016. (Letzter Zugriff am 23. 08. 2021). Shchyhlevska, Natalia: Historizität und Interkulturalität im Roman Die Fische von Berlin von Eleonora Hummel. Germanica 51, 2013. (Letzter Zugriff am 25. 05. 2020). Siguan, Marisa im Gespräch mit Herta Müller. Kolloquium mit der Nobelpreisträgerin in der Aula Magna der Universität Barcelona vom 27. 06. 2012, 19:55–21:58/1:30:54. (Letzter Zugriff am 03. 08. 2021). Stadtverwaltung Hohenems (Hrsg.): Hohenemser Literaturpreis. Die bisherigen Preisträger/innen. (Letzter Zugriff am 05. 08. 2021). Staudacher, Cornelia: Pommersche Familiensaga. Deutschlandfunk Kultur vom 22. 09. 2015. (Letzter Zugriff am 09. 01. 2021). Treichel, Hans-Ulrich: Trauma. Das Schweigen der Opfer. GEO Epoche. Das Magazin für Geschichte 09, 2002. Deutschland nach dem Krieg 1945–1955. (Letzter Zugriff am 09. 04. 2020). Unterberg, Swantje: Schlacht am Waterberg. »Aufräumen, aufhängen, niederknallen«. Spiegel Geschichte vom 08. 08. 2014. (Letzter Zugriff am 30. 04. 2021). Weber, Markus: Eintrag »Sebald, W.G.« in Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Letzter Zugriff am 28. 04. 2021). Worbs, Susanne u. a. (Hrsg.): (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse. Nürnberg 2013: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (=Forschungsbericht 20). (Letzter Zugriff am 25. 05. 2020). Ziegler, Holger: Abstract zur Gewaltstudie 2013: Gewalt- und Missachtungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. (Letzter Zugriff am 28. 04. 2021). Zierden, Josef: Eintrag »Müller, Herta« in Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Weitere Bände dieser Reihe Band 33: Carsten Gansel/ José Fernández Pérez (Hg.)

Störfall Pandemie und seine grenzüberschreitenden Wirkungen Literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte 2023. 335 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1511-3

Band 32: Barbara Bollig (Hg.)

Mythos und Postmoderne Mythostransformation und mythische Frauen in zeitgenössischen Texten 2022. 235 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-1487-1

Band 30: José Fernández Pérez

Zur literarischen Darstellung von Adoleszenz in der DDR Entwicklungen der Gegenwartsliteratur seit 2000 2022. 380 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-0913-6

Band 29: Carolin Führer/Antonius Weixler (Hg.)

Umbruch – Bild – Erinnerung

Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten 2022. 358 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1379-9

Band 28: Carola Hähnel-Mesnard

Band 31: Carsten Gansel / Anna Kaufmann / Monika Hernik / Ewelina Kamińska-Ossowska (Hg.)

Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDRLiteratur

Theoretische Überlegungen und stofflich-thematische Zugänge zu aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten

2022. 293 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-1345-4

Kinder- und Jugendliteratur heute

2022. 522 Seiten, gebunden € 70,– D ISBN 978-3-8471-1480-2

Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck