Zur Kulturgeschichte Österreichs und Ungarns 1890-1938: Auf der Suche nach verborgenen Gemeinsamkeiten 9783205793786, 9783205795414

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Zur Kulturgeschichte Österreichs und Ungarns 1890-1938: Auf der Suche nach verborgenen Gemeinsamkeiten
 9783205793786, 9783205795414

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Studien zu Politik und Verwaltung Begründet von Christian Brünner ∙ Wolfgang Mantl ∙ Manfried Welan Herausgegeben von Ernst Bruckmüller ∙ Klaus Poier ∙ Gerhard Schnedl ∙ Eva Schulev-Steindl

Band 110

William M. Johnston

Zur Kulturgeschichte Öster­reichs und Ungarns 1890 – 1938 Auf der Suche nach verborgenen Gemeinsamkeiten

Aus dem Englischen von Otmar Binder

2015 Böhl au Verl ag Wien . Köln . Graz

Gedruckt mit der Unterstüztung des Zunkunftfonds der Republik Österreich

Textnachweis: Kapitel 2.1 und 2.4 basieren auf einem Text, der erstmals unter dem Titel »In What Ways Do Finde-Siècle Buildings in Austria-Hungary ›Speak‹?« veröffentlicht wurde in: MAK / ZINE # 2 / 2012 Wien 1900, Hg. Christoph Thun-Hohenstein, MAK – Öster­reichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien 2012, S. 76–87.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung  : Foto: © JONATHAN – Fotolia.com

© 2015 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H., Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat  : Nikola Langreiter, Lustenau Umschlaggestaltung  : Peter Fromann, Köln Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79541-4

»E se tu ricordar non te ne puoi«, sorridendo rispuose, »or ti rammenta come bevesti di Letè ancoi …« (Purgatorio XXXIII, 94–96) »Ja, wenn du dich daran nicht erinnern kannst«, erwiderte sie lächelnd, »so erinnere dich zumindest daran, wie du heute von Lethe getrunken hast …« (Übers. Hartmut Köhler)

Zur Erinnerung an Bernhard Stillfried (1925 – 2011)

Inhalt Vorwort  : Öster­reich und Ungarn als kulturelles Ökosystem . . . . . . . . . .  11

Erster Teil Zukunftsweisende Historiker Kapitel 1  : Referenzrahmen der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 1.1 Artikel oder Bücher  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   19 1.2 Terminologien und Paradigmen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  24 Kapitel 2  : Architekturhistoriker als Pioniere.. . . . . . . . . . 2.1 Charles S. Maier und die Architekturgeschichte . . . . . . . 2.2 Vielschichtige Loyalitäten in einem kulturellen Ökosystem . 2.3 »Territorialität« versus »Transnationalität« . . . . . . . . . 2.4 Architektur und das Problem der Sprache. . . . . . . . . . 2.5 Anthony Alofsin und der »Kontextuelle Formalismus« . . .

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Kapitel 3  : Die mitteleuropäische Bildungsethik. . 3.1 Der theresianische Mensch . . . . . . . . . . 3.2 Die Gindely-Illusion . . . . . . . . . . . . . 3.3 Bildungsethik versus höfischen Habitus.. . . 3.4 Das Menschen-Modell des Biedermeier.. . .

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Kapitel 4  : Die Theorie Öster­reichs von Grassl und Smith . . . . . 4.1 »Marginozentrische« Kulturen als Orte der Grenzüberquerung 4.2 Bartók zum Thema Volksmelodien als Grenzgänger . . . . . . 4.3 Ineinander verschränkte Bezugssysteme  : eine Theorie . . . . .

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Kapitel 5  : Moritz Csáky und das Für und Wider der Pluralität . . . 5.1 Eine Methodologie zur Erforschung der Pluralität . . . . . . . 5.2 Die Operette als tragende Säule der Doppelmonarchie-Kultur. . 5.3 Die Verlockungen der Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Kapitel 6  : György M. Vajdas Literarische Kulturgeschichte . . . . 6.1 Ein Meister der Komparatistik . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Vajda zu Sezessionismus und der Symbolistischen Bewegung . 6.3 Eine essayistische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 7  : Peter Weibel und die Avantgarden im selbstauferlegten Exil. . 7.1 Eine »Dritte Kultur« als Paradigma für kulturelle Symbiosen. . . . . 7.2 Künstlerische und literarische Avantgarden in Ungarn. . . . . . . . 7.3 Wissenschaftler-als-Künstler und ihre Forschungskultur. . . . . . .

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Kapitel 8  : J. P. Sterns Modell des (zu) teuer Erkauften. . . . . . . 8.1 Deutschlands »Übererfüller« . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Hyperaktive Deutsche und der öster­reichische Mensch . . . . 8.3 Leó Popper und die Experimente von Künstlern. . . . . . . . 8.4 Ein »Doppelmonarchie-Mensch« ? . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Babits und die Propagandisten des öster­reichischen Menschen 8.6 Protest gegen übermäßigen Ernst  : Kosztolányi und Szerb . . .

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Zweiter Teil Wegweisende Themen Kapitel 9  : Die Doppelmonarchie und Russland. . . . . . . . . . . . . . . . 187 9.1 Isaiah Berlin und die Kultur der Pluralität. . . . . . . . . . . . . . . . . 187 9.2 Martin Malias Modell eines West-Ost Kulturgefälles.. . . . . . . . . . . 198 Kapitel 10  : Die Psychoanalyse im Austausch zwischen Öster­reich und Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die Achse Wien – Budapest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Budapest als Wiens eifersüchtige Schwester . . . . . . . . . . . 10.3 Magisches Denken und geschönte Paralleluniversen . . . . . . . 10.4 Leopold Szondis Schicksalsanalyse und die ungarische Neigung zur Stasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 11  : Was schöpferische Geister unklassifizierbar macht.. 11.1 Probleme der Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 »Skurril« als Synonym für »unklassifizierbar«. . . . . . . . 11.3 Öster­reich und Ungarn als Gegensätze. . . . . . . . . . . 11.4 Die »Einzigartigkeit« von Gyula Krúdys Erzähltechnik. . .

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Inhalt

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11.5 Warum Endre Ady aus öster­reichischer Perspektive in keine Schublade passt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Kapitel 12  : Negative Einschätzungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Der Konsens in Frage gestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Eine Kritik des einseitigen Umgangs mit Polaritäten . . . . . . . . . . . 12.3 Ernest Gellner zum Thema Bauerngemeinden und Modernisierung.. . . 12.4 Miroslav Krleža als lebenslanger Schwarzmaler der Doppelmonarchie ..

251 251 258 265 271

Kapitel 13  : Die Leitha zu einem Fluss der Erinnerung machen . . . . . . . . 280 Bibliografie mit Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

Danksagung Dieses Werk hat, so paradox es klingen mag, seine wahre Gestalt erst in der deutschen Fassung gefunden. Der Dank dafür gebührt, ganz allgemein, dem Genius der deutschen Sprache und im Besonderen dem Vermittler in diesem Fall, dem Übersetzer Otmar Binder, mit dem mich mittlerweile eine lebhafte Freundschaft verbindet. William M. Johnston

Vorwort

Öster­reich und Ungarn als kulturelles Ökosystem Dieses Buch unternimmt den Versuch, für das Studium der Kulturgeschichte der habsburgischen Spätzeit insofern einen neuen Rahmen zu schaffen, als hier die Kultur Öster­reichs und die Ungarns als Teile ein und desselben Ökosystems aufgefasst werden. Es ist mein viertes Buch zum Themenkomplex der Geisteskultur des Habsburgerreiches und seines Nachlebens von 1848 bis 1938. Zwei frühere, darunter das Pionierwerk Öster­reichische Kultur- und Geistesgeschichte  : Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938 (1974) [The Austrian Mind (1972)], erschienen erstmals in den 70er Jahren, als sich die Faszination für »Wien um 1900« in Nordamerika und Westeuropa eben erst abzuzeichnen begann. Der Vorsatz, den Rahmen über Öster­reich hinaus auszudehnen und Ungarn stärker zu berücksichtigen, entstand im Lauf von mehreren bibliografischen Grabungskampagnen. Aus vier verschiedenen Anlässen innerhalb von vier Jahren durchkämmte ich englische, deutsche und französische Anmerkungsapparate und Bibliografien. Zum ersten Mal geschah dies, um die Bibliografie meines Buches Öster­reichische Kultur- und Geistesgeschichte für e­ inen Nachdruck der deutschen Version (2007) auf den letzten Stand zu bringen  ; der zweite Durchgang galt einer neuen Übersetzung ins Spanische (2009). Zur gleichen Zeit bot mir eine Reihe von Vorlesungen in Öster­reich die Möglichkeit, meine Forschungen zur Jahrhunderte währenden Kontinuität der spezifisch öster­reichischen Identität zu vertiefen. Dies führte zu dem Buch Der öster­reichische Mensch (2010) [The Austrian Human Type (2009)], das auf der Grundlage von fast ausschließlich deutschsprachigem Material versucht, das Selbstbild der Öster­ reicher nachzuzeichnen. Zuletzt folgte ich 2010 einer Einladung, einen Überblick zu »Wien um 1900« zur Ausstellung Vienna 1900  : Art and Design  : Klimt, Schiele, Hoffmann, Loos, die in der National Gallery of Victoria in Melbourne, Australien, von Juni bis Oktober 2011 gezeigt wurde, beizusteuern. Für diesen Auftrag grub ich einen regelrechten Schatz an neueren und neuesten Beiträgen zur bildenden Kunst in Öster­reich und Ungarn aus.1 Mitte 2011, nach vier Jahren bibliografischer Recherche, wiegte ich mich in der Vorstellung, es sei mir gelungen, einen Großteil der wichtigen und der we1 William M. Johnston, »The Political and Cultural Background of ›Vienna 1900‹  : A Golden Age of Cultural Exchange«, in Vienna Art and Design  : Klimt, Schiele, Hoffmann, Loos (Melbourne  : The National Gallery of Australia, 2011), S. 15  –  25, 282. Zeitgleich zeigte die Neue Galerie in New York die Ausstellung »Vienna 1900«. Siehe Jill Lloyd und Christian Witt-Dörring (Hg.), Birth of the Modern  : Style and Identity in Vienna 1900 (New York  : Neue Galerie, 2011).

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Öster­reich und Ungarn als kulturelles Ökosystem

niger wichtigen Sekundärliteratur der letzten dreißig Jahre zu Themen der öster­ reichischen Geistes- und Kulturgeschichte auszugraben. Wie sich bald herausstellte, lag ich mit dieser Annahme völlig falsch. Während ich noch überlegte, wie eine Synthese der bis dahin gesammelten Sekundärliteratur aussehen könnte, unterzog ich diese Literatur der fünften eingehenden Prüfung in ebenso vielen Jahren. Diesmal konzentrierte ich mich auf ungarische Publikationen und zwar im Besonderen auf solche in Periodika in westlichen Sprachen, die ich zuvor übersehen hatte, wie z. B. Neohelicon (gegründet 1973) und Hungarian Studies (gegründet 1985). Die auf Englisch, Deutsch und Französisch geschriebenen Artikel, die ich dort fand, eröffneten eine Fülle neuer Perspektiven sowohl auf Öster­reich wie auf Ungarn und machten mich auf mehrere Schichten von Sekundärliteratur aufmerksam, die mir bei meinen früheren Sichtungen verborgen geblieben waren. Als besonders ergiebig erwiesen sich Publikationen über Architektur und Kunst des gesamten Habsburgerreiches wie die großen Arbeiten von Ákos Moravánszky (1998), Anthony Alofsin (2006) und Elizabeth Clegg (2006). Indem sie die visuelle Kultur des Habsburgerreiches als ein riesiges Ganzes ins Auge fassen, haben diese Kunsthistoriker gezeigt, dass es nicht mehr angeht, sich ausschließlich – oder auch nur vorwiegend – auf Wien, Prag oder Budapest zu konzentrieren. Wenn die Kategorie »Wien um 1900« manchmal Gefahr läuft, zu einem bloßen Marketingslogan zu verkommen, wie, so fragte ich mich, würden erste Schritte zu einer Neukonzeption der Forschungsmodelle für die Kultur der habsburgischen Spätzeit aussehen, die auf einer das ganze Reich umfassenden und von den besagten Kunsthistorikern bereits geleisteten Perspektive aufbauen  ? Um herauszufinden, ob jemand bereits an einem solchen Projekt arbeitete, unternahm ich eine sechste Sichtung der Sekundärliteratur, für die ich mich auf Fußnoten und Bibliografien in Werken der Kunstgeschichte, Literaturgeschichte, Philosophie und interethnischen Geschichte konzentrierte. Mehr oder weniger zufällig stieß ich im sechsten Jahr meiner Suche auf zwei Gelehrte, deren Arbeiten zur habsburgischen Kulturgeschichte mir – wie im Übrigen auch allen andern – zuvor entgangen waren. Zwei Artikel von Virgil Nemoianu aus den Jahren 1989 und 1993 und einer von Charles S. Maier (1999) ließen mich erkennen, dass sich die darin geäußerten Ideen passgenau zu Gedanken fügen, die Wolfgang Grassl und Barry Smith in drei ebenfalls so gut wie unbeachtet gebliebenen Artikeln vorgetragen haben. Diese vier Autoren stellen im Verein mit weiteren hier noch zu nennenden in der Tat Ingredienzien für eine neue Sicht auf die Kultur Habsburgs bereit. Auf eine solche aus verschiedenen Quellen stammende Sicht trifft eine Reihe von Aussagen zu. Kein Kulturhistoriker hat, erstens, die Erkenntnisse dieser Autoren bis jetzt für seine Disziplin nutzbar gemacht, und allzu wenige Kollegen sind ihrer bis jetzt überhaupt ansichtig geworden. Der Fokus dieser Autoren liegt, zweitens,



Öster­reich und Ungarn als kulturelles Ökosystem

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auf dem Territorium des gesamten Habsburgerreiches ebenso wie auf dem Nachwirken seiner Kultur in den Nachfolgestaaten bis in die späten 1930er Jahre. Diese Gelehrten haben, drittens, die Vorbedingungen für intellektuelle Kreativität analysiert, die in Institutionen, geografischen Gegebenheiten und interethnischen Beziehungen gründen sowie in den von Grassl / Smith so genannten »Bezugssystemen«. Viertens, diese Historiker haben neue analytische Kategorien bereitgestellt, und sie fokussierten mit Vorliebe auf multivalente Persönlichkeiten, die sich ganz offenbar einer Einordnung in bestehende Kategorien widersetzen. Alle Autoren beweisen zudem eine glückliche Hand für die Konzeptualisierung dessen, was sich bisherigen einschlägigen Versuchen entzogen hat. Ich entschloss mich jetzt angesichts dieser Literaturfunde auf den Grundmauern weiterzubauen, die von Maier, Nemoianu und Grassl / Smith errichtet worden und bis jetzt ohne Überbau geblieben waren.2 Dieses Buch verbindet also ihre bahnbrechenden Überlegungen mit den Forschungsergebnissen einer Reihe anderer Historiker aus den 90er Jahren, von denen einige – Moritz Csáky, György M. Vajda, J. P. Stern – eine gewisse Bekanntheit haben, was für Peter Weibel, jedenfalls im angloamerikanischen Raum, noch nicht gilt. Diese Pioniere haben etwas ganz Wesentliches geschaffen, nämlich eine Serie alternativer Paradigmen für die Interpretation der intellektuellen und künstlerischen Bewegungen, die zwischen 1867 und 1918 in Öster­reich und Ungarn entstanden – und zwar nicht als Produkte ausschließlich der einen oder andern Region, sondern in der »großen Arena« des gesamten Habsburgerreiches. Während ich meine Netze von Literatur-, Philosophie- und Wissenschaftshistorikern zu Architektur- und Musikhistorikern spannte, wurde mir allmählich bewusst, dass einige dieser konzeptuellen Wegbereiter literarische Strategien neu erfunden haben, die bereits vor achtzig Jahren zur Beschreibung der Doppelmonarchie verwendet worden waren. Manche dieser jüngeren Historiker verwenden wieder Tropen, die von Schriftstellern der Zwischenkriegszeit – wie Hofmannsthal, Musil, Broch und dem weniger häufig gelesenen Mihály Babits – in einem ähnlichen Zusammenhang entwickelt worden waren. Dabei handelt es sich um Techniken wie das Abtragen sukzessiver Schichten, die unvermittelte Gegenüberstellung extremer Gegensätze und das Verbildlichen von Parallelwelten. Dieses Buch schlägt notgedrungen teilweise neue Terminologien vor, die dem Studium der kulturellen Phänomene des späten Habsburgerreiches dienen sollen. Dieses Reich wird so oft erwähnt, dass sein Name zweckmäßigerweise abgekürzt wird. Durchgehend bezeichnen dabei die Ausdrücke »Habsburg« und »habsburgisch« bzw. »Habsburger« das Reich Habsburg, nicht die Dynastie. Wenn diese 2 Eine teilweise Ausnahme ist Moritz Csákys beiläufiger Hinweis auf Grassl und Smith in  : Ideologie der Operette und Wiener Moderne, 2. Aufl. (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1998).

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Öster­reich und Ungarn als kulturelles Ökosystem

Verkürzung Politikhistorikern unpassend erscheint, kann ich nur sagen, dass die Alternativen – »Öster­reichische Monarchie«, »Öster­reich-Ungarn«, »Danubien«, »Donaumonarchie«, »Donauregion«, »Imperiales Öster­reich« oder »Kakanien« – ebenso irreführend sind, nur eben auf andere Weise. Der von mir bevorzugte Terminus für das Regime des späten Habsburgerreiches ist »Doppelmonarchie«. »Kakanien«, bekanntlich ein Wortspiel, das sein Erfinder Robert Musil nur auf die öster­reichische Reichshälfte bezog, eignet sich für meine Zwecke nicht. Ungeachtet des Sprachgebrauchs, der sich in den letzten Jahren eingebürgert hat, muss man doch sehen, dass dieses Jeu d’esprit zum Etikettenschwindel wird, sobald es in Bezug auf die ganze Doppelmonarchie verwendet wird, von der Musil nur die deutsch-öster­reichische Hälfte, das sogenannte Cisleithanien, näher kannte. Tony Judt hat, einstweilen noch fast unbemerkt, einen weiteren Ausdruck vorgeschlagen  : »Habsburgia«.3 Trotz seines leicht despektierlichen Beigeschmacks hat dieser Ausdruck zumindest im Englischen eine größere deskriptive Kraft als »Kakanien« und wird hier für die Erörterung des Nachlebens der »habsburgischen« Kultur nach 1918 fallweise verwendet. Künftige Generationen mögen die Verwendung des Ausdrucks »Post-Habsburgia« für erwägenswert halten, als Kürzel für das, was die Elegiker der Doppelmonarchie von dem untergegangenen Reich nach 1918 weiterleben lassen wollten. Zu unserem noch größeren Leidwesen gibt es auch keine adäquate geografische Bezeichnung für den Raum, den nach 1918 die acht Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie einnahmen. Diese lexikalische Lücke stellt ein beträchtliches Hindernis dar für jeden Diskurs über die Kontinuitäten innerhalb des habsburgischen Mitteleuropa vor und nach 1918. Die Ausdrücke »Mitteleuropa«, »Ost-Mitteleuropa« und das jetzt gern gebrauchte »Mittel- und Osteuropa« sind ausschließlich in Analysen spezifischer geopolitischer Debatten am Platz, da sie für meine Zwecke zu viel nicht-habsburgisches Territorium mitbezeichnen – Deutschland, Polen, manchmal auch noch die baltischen Staaten. »Mitteleuropa« und seine Varianten sind nicht mehr – und waren vielleicht nie – adäquate Synonyme für die Habsburger Monarchie. Der Begriff »Wien um 1900« hat als Bezeichnung für eine unwiederbringliche kulturelle Blütezeit nachgerade eine eigene Aura entwickelt. Während der 1980er Jahre wurde ihm ein nahezu totemischer Status zuteil als offenkundiges Saatbeet des damals neuen Postmodernismus. Obwohl es ein Anliegen dieses Buches ist, 3 Tony Judt with Timothy Snyder, Thinking the Twentieth Century (New York  : The Penguin Press, 2012), S. 12, 236. In der deutschen Version, Nachdenken über das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork (München  : Carl Hanser Verlag, 2013), wird »Habsburgia« allerdings durch bereits geläufige Ausdrücke wiedergegeben (Anm. d. Ü).



Öster­reich und Ungarn als kulturelles Ökosystem

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Forschungsstrategien, die sich auf »Wien um 1900« konzentrieren, um solche zu ergänzen, in deren Zentrum die Kultur der Doppelmonarchie steht, lässt es sich kaum vermeiden, den älteren Ausdruck als Kürzel für die Assoziationen zu gebrauchen, die wir jetzt mit der Hochkultur Wiens zur Zeit des Fin de Siècle verbinden. Dabei ist es gleichgültig, ob wir nun diese Zeit mit 1890 bis 1910 datieren oder sie erst 1918 enden lassen. Auf diesen Seiten bezeichnet »Wien um 1900 / Wien 1900« den kulturellen Aufbruch, zu dem sich in den 1980ern, im Gefolge von Autoren wie Toulmin, Janik, Schorske und Le Rider, ein Konsens in der Forschung herausgebildet hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Kürzel »Budapest um 1905 / Budapest 1905«, das die Konstellation in der Hochkultur dieser Donaumetropole bezeichnen soll, die in der Zeit zwischen 1890 / 95 und 1918 vorherrschte. Diese zunächst etwas befremdend wirkende Variante soll den Umstand unterstreichen, dass die Entwicklung der ungarischen Metropole ihrem eigenen Rhythmus folgte und selten, wenn überhaupt, synchron zu »Wien 1900« stattfand. Ein anregender Sammelband mit vergleichenden Beiträgen zu Öster­reich und Ungarn trägt den Titel »Leitha und Lethe«,4 der geradezu verstörend wirkt. Die Leitha, der Fluss, der die Doppelmonarchie in ihre zwei Hälften teilte, hat zu lange für die Bewohner auf beiden Seiten als der Fluss Lethe fungiert, dessen Wasser die Erinnerung an die Vergangenheit auslöschen. All zu oft in den letzten 150 Jahren hat die Grenze zwischen Habsburg-Öster­reich und Habsburg-Ungarn jeden dem Vergessen preisgegeben, der ein Loblied auf das Leben auf der andern Seite anstimmen wollte. Dieses Buch unternimmt es, die Leitha des Vergessens zu einer Leitha der Erinnerung zu machen.

4 Amália Kerekes u. a. (Hg.), Leitha und Lethe  : Symbolische Räume in der Kultur Öster­reich-Ungarns (Tübingen  : Francke, 2004).

Kapitel 1

Referenzrahmen der Forschung 1.1 Artikel oder Bücher ? Dieses Buch ist für Leserinnen und Leser geschrieben, die der Spätzeit der Habsburger Monarchie, der Doppelmonarchie (1867  –  1918), teils bewundernd, teils scharf ablehnend gegenüberstehen. Diese Leserschaft weiß sehr wohl, dass seit den 1970ern eine ganze Reihe wegweisender Bücher erschienen ist, die neue Wege gehen in der historischen Annäherung an die Kultur Öster­reichs – insbesondere in der Annäherung an die Wiener und, in geringerem Umfang, auch an die Budapester Kultur. Einschlägige Werke von Claudio Magris, Carl Schorske, Allan Janik, Stephen Toulmin, Alessandra Comini, David Luft, Steven Beller, Jacques Le Rider, Endre Kiss, Moritz Csáky, Péter Hanák und andern Autorinnen und Autoren haben die Diskussion um das intellektuelle, literarische und künstlerische Leben in Wien und Budapest mit neuem Leben erfüllt. Sie haben die Phrase »Wien um 1900« in Umlauf gebracht als Sigel für den Themenkomplex, zu dessen Erforschung sie beitragen wollen.5 Eine Reihe von Büchern, die zum Teil weniger bekannt sind, widmet sich der Kultur bestimmter Regionen der Doppelmonarchie. Pionierarbeiten wie Robert Wistrichs Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs (1999) und andere, die derzeit nur auf Englisch vorliegen – wie Ákos Moravánszkys Competing Visions (1998), Scott Spectors Prague Territories (2000) und Elizabeth Cleggs Art, Design, and Architecture in Central Europe, 1880  –  1918 (2006) – erweitern den Fokus der Betrachtung in überaus anregender Weise. Das gilt auch für Publikationen in deutscher und für solche in französischer und ungarischer Sprache, die zu einem geringeren Teil in deutschen, zu einem etwas größeren in englischen Übersetzungen vorliegen.6 5 Eine Maßstäbe setzende, nostalgisch-bittere Retrospektive der einschlägigen Geschichtsschreibung findet sich bei Steven Beller, »Fin de Fin-de-Siècle Vienna  ? A Letter of Remembrance«, Contemporary Austrian Studies, 20 (2011), S. 46  –  80. Auch er vertritt die Ansicht, dass sich der Begriff »Wien um 1900« nach anfänglich spektakulären Erfolgen mittlerweile totgelaufen hat. Frühere Einschätzungen desselben Autors in »Modern Owls Fly by Night  : Recent Literature on Fin de Siècle Vienna«, The Historical Journal, 31 (1988), 665  –  683, und ders. (Hg.), Rethinking Vienna 1900 (New York und Oxford  : Berghahn Books, 2001). Eine Kritik von »Wien um 1900«, in der Prag im Mittelpunkt steht, bei Scott Spector, »Beyond the Aesthetic Garden  : Politics and Culture on the Margins of Fin-de-Siècle Vienna«, Journal of the History of Ideas, 59  :4 (1998), S. 691  –  710. 6 Jacques Le Rider hat sich als außerordentlich produktiv erwiesen. Siehe besonders Das Ende der

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Zukunftsweisende Historiker

Der Schluss würde nahe liegen, dass das Studium der Kulturgeschichte der Öster­ reichisch-Ungarischen Doppelmonarchie seinen Niederschlag in erster Linie in Büchern gefunden hat. Das vorliegende Werk verwirft diesen Schluss  : Ein Großteil gerade der anregendsten Forschungsergebnisse zum intellektuellen, literarischen und kulturellen Leben in Öster­reich, Ungarn und andern Gebieten der Doppelmonarchie ist in Artikelform veröffentlicht worden. Mehrere Dutzend origineller Neukonzeptionen sind in Zeitschriften oder in Sammelbänden erschienen und nie zu Büchern ausgebaut worden. Eine nicht unbeträchtliche Zahl der geistvollsten Beiträge findet sich in geradezu obskuren Zeitschriften und ist infolgedessen selten – wenn überhaupt – von Forschern zur Kenntnis genommen worden. Eine regelrechte Bibliothek wegweisender Arbeiten ist seit den frühen 1980ern in Form von Artikeln erschienen, oft nur um sofort wieder aus dem Blickfeld zu verschwinden. Während in der Wissenschaft die oben genannten Bücher immer wieder zitiert werden, bleiben Artikel von vergleichbarer oder sogar überlegener Stringenz meist unbeachtet. Für das, was auf dem Gebiet der öster­reichischen und ungarischen Kulturgeschichte damit rechnen kann, zur Kenntnis genommen zu werden, gilt ein doppelter Maßstab. Gewisse Werke und ihre Autorinnen und Autoren dominieren die Debatte, während andere, keineswegs weniger bedeutende weitgehend unbeachtet bleiben, wenigstens zum Teil oder sogar hauptsächlich deshalb, weil ihre Beiträge nicht als selbständige Publikationen erschienen sind. Das vorliegende Buch vertritt die These, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern, von denen nicht wenige aus Ungarn oder Rumänien stammen, einen alternativen Kanon an Sekundärliteratur zur Doppelmonarchie und ihrer Kultur geschaffen hat. Abgefasst in englischer, französischer, deutscher sowie ungarischer Sprache liegt ein ganzes Corpus revisionistischer Forschung vor, eingebettet in Dutzende und Aberdutzende von Artikeln, aus denen so gut wie nie zitiert wird. Weiters behaupte ich, dass dieses unterseeische Riff neuer Interpretationen eine Grundlage für eine Neukonzeption der öster­reichischen und ungarischen Kulturgeschichte in der Zeit von 1890 bis 1938 abgeben kann. Artikel von György M. Vajda, István Fried, J. C. Nyíri, Virgil Nemoianu, Mihály Szegedy-Maszák, Miklós Szabolcsi, dem Autorenpaar Wolfgang Grassl und Barry Smith und zahlreichen andern ermöglichen die Formulierung einer ganzen Reihe weitgehend neuartiger Thesen, die sich von den etablierten und von Schorske, Janik, Le Rider und Beller vertretenen fundamental unterscheiden. Es zeigt sich außerdem, dass auch manche Buchautoren – z. B. Kiss, Illusion. Zur Kritik der Moderne. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität (Wien  : Öster­ rei­chischer Bundesverlag, 1990) und sein neuestes Buch, Les juifs viennois à la Belle Époque (1867  –   1914) (Paris  : Albin Michel, 2013). Siehe auch Michael Poll a k, Wien 1900  : eine verletzte Identität. Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffer (Konstanz  : UVK, Universitätsverlag Konstanz, 1997).



Referenzrahmen der Forschung

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Csáky, Hanák, von Beller ganz zu schweigen – wegweisende Artikel in obskuren Publikationen veröffentlicht haben, die zum Teil ebenfalls der Neuentdeckung harren. Ein Buch, das sich in erster Linie auf Forschungsberichte stützt, mag auf den ersten Blick ein sonderbares Unternehmen scheinen. Warum nun gerade ein Buch  ? Warum nicht eine Reihe von Artikeln zu diesem Thema  ? Ich hoffe zuallererst, dass das Buch sich als bibliografischer Wegweiser zu diesem schwer zugänglichen Material bewähren wird. 2011 hat Steven Beller sich zur Notwendigkeit geäußert, das Feld neu abzustecken, abseits von »Wien 1900«. Das vorliegende Buch legt nahe, dass viele der für diese Aufgabe notwendigen Forschungshypothesen bereits publiziert und in Überfülle vorhanden sind. Die Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, liegt eher darin, die bisher übersehenen grundlegenden Erkenntnisse in Umlauf zu bringen. Bevor noch weitere Gedanken zu »Wien 1900« oder »Budapest 1905« oder »Zagreb 1920« zu Papier gebracht werden, stünde es den Gelehrten gut an, die Ressourcen auszuwerten, die in den hier zur Diskussion gestellten Artikeln bereit liegen. Warum sind so viele innovative Ideen zu Öster­reich und Ungarn nach ihrer Erstveröffentlichung in Artikeln nie zu Büchern weiterentwickelt worden  ? Dies erklärt sich zum einen daraus, dass die Mehrzahl dieser Hypothesen für eine Abhandlung in Buchform weniger geeignet ist. Diese Einschränkung trifft besonders auf den Begriff der »mitteleuropäischen Bildungsethik« zu, den Virgil Nemoianu 1993 erstmals in einem Sammelband vorstellte und 2006 neuerlich publizierte. Wie hätte der rumänisch-amerikanische Komparatist ahnen sollen, dass sein wegweisender Beitrag zur Bedeutung der Erziehung im Kaiserreich in der Habsburg-Geschichtsforschung kaum zur Kenntnis genommen werden würde  ? Beispielhaft sind auch die drei Aufsätze von Wolfgang Grassl und Barry Smith (1986, 1988, 2004), in denen diese ihre »Theorie Öster­reichs« skizzieren. Sie zeigen, wie die in der Doppelmonarchie vorherrschenden Bedingungen eine »Hybridisierung« der Stile und Ideen förderten, ein Gedanke, der etwa auch bei Moritz Csáky und Katherine Arens auftaucht. Niemand hat freilich ein derart sparsames und elegantes Plädoyer für den kulturellen Austausch formuliert wie Grassl und Smith. Bei dem runden Dutzend Artikel, die György M. Vajda mit mehr als achtzig Jahren in Französisch, Deutsch und Englisch geschrieben hat, liegt die Vermutung nahe, es habe dem alten Meister einfach an Energie gefehlt, um die Summe seiner Arbeit zu einer Monografie auszugestalten. Vajda zog es stattdessen vor, einige Artikel – aber durchaus nicht alle – in Sammelbänden auf Deutsch oder Ungarisch zu publizieren. In den 1990ern hat Moritz Csáky etwa ein halbes Dutzend Beiträge in Französisch, Deutsch und Englisch zur »Pluralität« in der Doppelmonarchie verfasst. Wie wir noch sehen werden, hat er dabei Kategorien laufend verfeinert, seine Argumentation neu formuliert und seine Beispiele ausgeweitet, bis dieser Prozess seinen Abschluss fand in einem in seiner Konzinnität unübertroffenen Artikel, der dann im Sammelband Shaping the

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Great City (1999) verschwand. Zwischen der Mitte der 1980er Jahre und 2005 hat die stets neue Wege suchende Kunsthistorikerin Ilona Sármány-Parsons in einem Dutzend Texten Vergleiche zwischen Wien 1900 und Budapest 1905 gezogen, ohne diese je zu einem Buch zu machen. Diese Beispiele legen den Schluss nahe, dass die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen es angesichts der schieren Komplexität der Probleme und des daraus folgenden Risikos der unzulässigen Verallgemeinerung vorgezogen haben, ihre Kreativität in einer Reihe kürzerer Texte zu erproben. Die heterogene Kultur der Doppelmonarchie erfordert geradezu das intellektuelle Abenteurertum, das in Artikeln gestattet ist. Manche Neuerer auf dem Gebiet der Vergleichenden Literaturwissenschaft – wie György M. Vajda, István Fried und Mihály Szegedy-Maszák – haben das Feld in Artikelserien erkundet, die letztlich ein in sich geschlossenes Œuvre darstellen. Charles S. Maier dagegen publizierte nur zwei Beiträge über die Doppelmonarchie, die allerdings an Originalität ihresgleichen suchen. In einem Essay von 1999 vertritt Maier die Ansicht, dass Provinzstädte in Ungarn – und solche in Katalonien und Schottland – Pioniere einer »Architektur der Subsidiarität« waren, indem sie sich zum Anwalt der »sakralen Motive« der Provinz mit ihren ererbten Überlieferungen machten und diese gegen den Säkularismus des administrativen Zentrums verteidigten. Die Architekten machten für den gebauten Raum das, was »Smetana und Dvořák oder Sibelius in der Musik vorhatten«.7 Die ungarischen Architekten Ödön Lechner und Béla Lajta erhalten so als Wegbereiter transnationaler stilistischer Gemeinsamkeiten ihren Platz an der Seite von Antonio Gaudí und Charles Rennie Mackintosh. Darüber hinaus enthält Maiers Essay ein rundes Dutzend anderer innovativer Termini. So spricht er von »vielschichtigen Loyalitäten«, um das zu bezeichnen, was andere »Pluralität« (Csáky), »polyphone« Kultur (Arens) oder »Polykulturalität« (Fried) genannt haben. Maier beschreibt das Habsburgerreich als ein »Sprachenkartell«, innerhalb dessen die verschiedenen Ethnizitäten auf einem von ethnischen, sozialen und räumlichen »Schichtungen« gekennzeichneten Feld um ihre »sprachliche Anerkennung« kämpften. In einem Punkt unterscheiden sich diese Artikel von Monografien zu Öster­reich, Ungarn oder Böhmen  : In überraschend großer Zahl nehmen sie die Kultur- und Sozialgeschichte der Doppelmonarchie als Ganzes ins Visier. In merkwürdiger Umkehrung kommen Themen, die für ein Buch zu groß scheinen, gerade in Aufsätzen besonders gut zur Geltung. Der alternative Kanon öster­reichischer und ungarischer Studien, der sich da abzeichnet, thematisiert in erster Linie die Kultur der Doppel7 Charles S.  Maier, »City, Empire und Imperial Aftermath  : Contending Contexts for the Urban Vision«, in Eve Bl au und Monika Pl atzer (Hg.), Shaping the Great City  : Modern Architecture in Central Europe, 1890  –  1937 (München  : Prestel, 1999), S. 30.



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monarchie im Gegensatz zur Kultur ihrer Teilgebiete. Nach 1985 verfasste György M. Vajda mehr als ein Dutzend Artikel über die literarische und intellektuelle Kultur der Doppelmonarchie und sein Schüler István Fried fast ebenso viele, womöglich noch anspruchsvollere zum Thema »Ost-Mitteleuropa« und »Mitteleuropa«. Das wachsende Corpus an Artikeln, das im Folgenden zur Untersuchung ansteht, bietet vielfältige Interpretationen der von mir so genannten »Kultur der Doppelmonarchie«. Die Hypothesen, die darin ausgesprochen werden, sind kühne Versuche, verschiedenartigen neuen Ansichten zum Durchbruch zu verhelfen. Es geht dabei unter anderem um die Quellen der Kreativität, um stilistische und thematische Gemeinsamkeiten sowie um Unterschiede besonders zwischen der öster­reichischen und der ungarischen Reichshälfte. Zusammen haben diese Publikationen ein Gewicht, das einen exklusiven Fokus auf Wien, Budapest oder Prag immer weniger produktiv erscheinen lässt. Weitgehend ohne Fanfarentöne haben sie sich zu einem stattlichen Bauwerk gefügt, nämlich zu einer Kulturgeschichte der Doppelmonarchie. Dieses Buch will zu einer Vermessung eben dieses gelehrten Bauwerks beitragen und daran weiterarbeiten. Warum sind so viele Fürsprecher einer gemeinsamen Kultur der Doppelmonar­ chie Ungarn und – in geringerem Umfang – Franzosen und nicht Öster­reicher oder Angloamerikaner  ? Der ungarische Philosoph László Mátrai machte sich Anfang der 1970er Jahre als Erster auf die Suche nach Gemeinsamkeiten in der Kultur der Doppelmonarchie  ; ungarische Philosophiehistoriker wie Endre Kiss und J. C. Nyíri nahmen diese Herausforderung an und erhielten bald Verstärkung von Literaturwissenschaftlern wie Antal Mádl, György M. Vajda und István Fried und den Kunsthistorikern Ilona Sármány-Parsons und Ákos Moravánszky. Ihnen gelang eine Rekonzeptualisierung des Feldes der Doppelmonarchie-Studien. Sie schlugen geeignete Methodologien für das Studium der Literatur, Philosophie, Kunst- und Musikgeschichte der Doppelmonarchie vor. Nun war leider die unumgängliche Grundvoraussetzung der Würdigung ihrer Arbeit eine Kenntnis der ungarischen Literatur und Kunst, über die außerhalb Ungarns kaum Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Doppelmonarchie arbeiten, verfügen und die überhaupt nur wenige Nicht-Ungarn erworben haben. Nichts behindert das Studium der Kultur der Doppelmonarchie so sehr wie die mangelnde Bereitschaft von Nicht-Ungarn, sich ernsthaft mit ungarischer Kulturgeschichte zu beschäftigen. Die Worte von Ronald W. Zweig haben sich nur als allzu richtig erwiesen  : »Die Einzigartigkeit der magyarischen Sprache … stellt für Invasoren eine Barriere dar, die ebenso wirksam ist wie der Schutz, den die Alpen den Schweizern gewähren.«8 8 Ronald W. Zweig, The Gold Train. The Destruction of the Jews and the Second World War’s Most Ter­ rible Robbery (London  : Allen Lane, 2002), S. 1.

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Es gibt noch eine Anomalie, die zu erwähnen ist  : Mit Ausnahme von Robert S. Pyn­ sent neigen englischsprachige Kenner der Prager Kultur (wie Peter Demetz und Scott Spector) dazu, die Prager mit der Wiener Literatur zu vergleichen, nicht aber mit der von Budapest oder Zagreb. Auch die tschechische Wissenschaft hat sich nicht in dem Ausmaß in Vergleichender Kulturgeschichte hervorgetan wie die ungarische. Vergleiche von Prag und Wien unterstreichen zwar die Relevanz der böhmischen Geschichte, postulieren aber keine gemeinsame Kultur der Doppelmonarchie. Bis etwa zum Jahr 2000 lag diese Aufgabe fast ausschließlich in ungarischen Händen. Dann haben amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie die Germanistin Katherine Arens und der Architekturhistoriker Anthony Alofsin und die englische Kunsthistorikerin Elizabeth S. Clegg sich zu Wort gemeldet. Seit der Mitte der 1990er Jahre haben Kunst- und Architekturhistoriker allen andern vorgeführt, dass die Teilkulturen der Doppelmonarchie sinnvollerweise vor dem Hintergrund eines größeren Ganzen, ja geradezu als Teile ein und desselben kulturellen Ökosystems zu sehen sind.9 Die bildenden Künste haben, so John Updike, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts »die Richtung vorgegeben, die es einzuschlagen galt  ; sie waren unter den menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten immer die spektakulärsten und die frischesten und sie haben in unübertroffen brillanter Weise die Melodie gesucht, nach der die Moderne zu tanzen hat«.10 Es sollte daher nicht überraschen, dass jetzt Kunsthistoriker die Melodie vorgeben, nach der die andern Kulturhistoriker tanzen.

1.2 Terminologien und Paradigmen Im Zentrum dieses Buches stehen also die Doppelmonarchie (1867  –  1918) und ihre »imperiale Nachernte« bis 1938, ihr »imperial aftermath«, um den Ausdruck von Charles S. Maier zu verwenden. Deshalb ist hier ein Wort über die Struktur der Doppelmonarchie (kezös monárchia) angebracht. Nach der Niederlage gegen Preu 9 Zwei umfangreiche Kataloge, herausgegeben bzw. mitherausgegeben von Jean Clair, haben mit bewundernswerter Weitsicht die zentrale Stellung der Kunstgeschichte herausgearbeitet. Siehe Jean Clair (Hg.), Vienne 1880  –  1938  : L’apocalypse joyeuse (Paris  : Centre Pompidou, 1986)  ; Jean Clair, Cathrin Pichler und Wolfgang Pircher (Hg.), Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele (Wien  : Wiener Festwochen, 1989). Beide Bände quellen förmlich über vor Begeisterung über die Entdeckung von Neuland. Es ist erstaunlich, dass keine der nachfolgenden »Wien um 1900«-Ausstellungen eine ähnliche Breite an exquisiten Werken versammelt hat wie die allererste einschlägige Mammutausstellung im Palazzo Grassi in Venedig (20. Mai – 16. September 1984). Siehe Le Arti a Vienna  : Dalla Secessione alla caduta dell’Impero asburgico (Venedig  : Edizioni La Biennale, 1984) – mit mehr als 1.000 Schwarz-Weiß-Abbildungen und einer 200 Künstler umfassenden Biobibliografie. 10 John Updike, »Foreword to the MFA Edition« [2001] in Updike, Just Looking. Essays on Art [1989] (Nachdruck, Boston  : MFA Publications, 2001), S. ix-xi, x.



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ßen in der Schlacht bei Königgrätz (3. Juli 1866) schlossen Franz Joseph und seine Minister ein Abkommen mit dem andern »historischen Volk« des Habsburgerreiches, den Ungarn. Diese waren die stärkste und zugleich aufmüpfigste Ethnizität des Kaiserreiches. Eine Schlüsselrolle kam dem Grenzfluss zwischen Öster­reich und Ungarn, der Leitha, zu. Das Abkommen, der sogenannte »Ausgleich« (kiegyszés), räumte Budapest die administrative Oberhoheit über das Gebiet östlich der Leitha ein, das sogenannte »Transleithanien«, während die Oberhoheit über »Cisleithanien«, das Gebiet westlich und nördlich der Leitha, bei Wien verblieb. Es versteht sich von selbst, dass diese Namensgebung mit ihrem unüberhörbaren Anklang an die Nomenklatur Roms sich der unhinterfragten Zentralität Wiens verdankt. Man mag bedauern, dass diese latinisierenden Etiketten in einem Buch wie diesem immer wieder auftauchen, das Fehlen geeigneter Synonyme macht dies indes unvermeidlich. Just dieser Missstand ließ Robert Musil von »Kakanien« sprechen. Nun war im Rahmen des Ausgleichs zwar angedacht worden, dass die zwei Hauptstädte die Verantwortung für Handel, Außenpolitik und das Militär zu gleichen Teilen tragen würden, aber Wien behielt durchwegs unangefochten die Oberhand. Das Oberkommando der Streitkräfte verblieb in Wien ebenso wie das Außenministerium. Noch verletzender für die ungarische Selbstachtung war der Umstand, dass andere Länder es geflissentlich unterließen, Botschafter nach Budapest zu entsenden. Das Schlimmste aber war die Weigerung des Kaisers, die Hälfte des Jahres, wie ursprünglich erwartet, als König in Budapest zuzubringen. Auf dem Papier war Budapest zwar Mithauptstadt des Gebildes, das jetzt als »Öster­reichUngarn« apostrophiert wurde, de facto aber konnte sich die Stadt nicht aus dem Schatten Wiens befreien. Nur wenigen Menschen in Öster­reich – mit der rühmlichen Ausnahme von Franz Joseph, seiner Frau und seinem Sohn – war es außerdem ein Anliegen, Ungarisch zu lernen und die Entwicklungen in Ungarn im Einzelnen zu verfolgen. Im Gegensatz dazu hatten viele Ungarn gar keine andere Wahl, als sich die Verhältnisse in Wien angelegen sein zu lassen. Diese Asymmetrie der Aufmerksamkeit stellt eine zusätzliche Erschwernis beim Vergleich der beiden Entitäten dar. Immer sind solche Vergleiche überwiegend von Beobachtern, die von Budapest nach Westen schauten, angestellt worden und selten von solchen in Wien, die nach Osten schauten, sieht man von ungarischen Emigranten wie György Sebestyén (1930  –  1990)11 und Paul Lendvai (geb. 1929) ab. 11 Siehe György Sebestyen, Studien zur Literatur (Eisenstadt  : Roetzer, 1980) und Notizen eines Mitteleuropäers (Wien  : Edition Atelier, 1990). Zu Sebestyén siehe Neva Slibar, »György Sebestyén ›ein öster­reichisch-ungarischer Kentaur‹  : Von der Sprachwerdung eines bilingualen Schriftstellers und seiner Stellung in einem tentativen Modell bi / multilingualer Ästhetik«, in Antal Mádl und Peter Motzen (Hg.), Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen und Kulturen (München  : Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, 1999), S. 337  –  350.

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Diese Ambiguität spiegelt sich im Titel »Kaiser und König« wider und insbesondere auch darin, dass Historiker den Herrscher in Öster­reich als Kaiser und in Ungarn als König ansprechen, ganz selten, wenn überhaupt jemals, in beiden Eigenschaften. In Cisleithanien jedoch hieß er »Seine kaiserlich-königliche (k. k.) Hoheit«. In Ungarn war er »Seine königliche (= királyi  ; k.) Hoheit« und in militärischen und diplomatischen Belangen hieß er »Seine kaiserliche und königliche (k. u. k.) Hoheit«. Diese drei Spielarten der Initiale »k« prangten auf verschiedenen Gebäuden und Dokumenten. Ohne weiteres verständlich waren sie nur Eingeweihten, was Robert Musil dazu inspirierte, aus den Initialen »k. k.« das Wort »Kakanien« zu bilden. Obwohl er damit ausschließlich Cisleithanien bezeichnet wissen wollte, besteht seit 1970 selbst unter Historikern eine gewisse Bereitschaft, »Kakanien« als Bezeichnung für die ganze Doppelmonarchie zu verwenden. Im vorliegenden Buch wird von dieser Verwendung Abstand genommen. Musil wusste wenig über Ungarn und wollte mit Sicherheit nicht behaupten, die Eigenheiten, die er Cisleithanien zuschrieb, träfen auch für Transleithanien zu. Die Frage, inwieweit die beiden Reichshälften einander ähnlich oder unähnlich waren, bleibt ja eine Herausforderung für Kulturhistoriker. Das gesamte Gebiet unter »Kakanien« zu subsumieren würde diese zentrale Frage völlig zum Verschwinden bringen.12 Weniger problematisch ist die Verwendung von »Kakanien« durch Literaturkritiker. Diese bezeichnen damit die fiktionalen Parallelwelten zu Cisleithanien, die Romanschriftsteller wie Musil, Roth und Werfel geschaffen haben. Der ungarische Romanschriftsteller Péter Ester­házy zum Beispiel verwendet »Kakanien« mit Erfolg als Etikett für die fiktionale Version von Ungarn, die seine Vorgänger Márai und Kosztolányi erfunden haben. 12 Unrühmlicher Vorreiter bei der Ausweitung der Bezeichnung auf das gesamte Gebiet der Doppelmonarchie ist der Sammelband Eugen Thurnher u. a. (Hg.), »Kakanien«  : Aufsätze zur öster­reichi­ schen und ungarischen Literatur, Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende (Budapest  : Akadémiai Kiadó und Wien  : Verlag der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften, 1991). Leider scheint es keinerlei Absprache zwischen den öster­reichischen und ungarischen Beitragsverfassern gegeben zu haben, was die wechselseitige Abschottung, zu deren Überwindung sie ja doch ausgezogen sind, nur perpetuiert. Wesentlich besser beraten ist man mit Dieter Hornig und Endre Kiss (Hg.), VienneBudapest 1867  –  1918. Deux âges d’or, deux visions, un Empire (Paris  : Éditions autrement, 1996). Der Band quillt förmlich über vor gut recherchierten, bahnbrechenden Artikeln. Ein weiteres verlässliches Modell einer biurbanen Perspektive bietet der umfangreiche Katalog Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde (Wien  : Kunsthistorisches Museum und Mailand  : Skira, 2003). Keinen Wunsch offen lässt Mihály Szegdy-Maszák, der einen meisterhaften Überblick über die wesentlichen Themen bietet in »The Intellectual and Cultural Scene in the Dual Monarchy«, Hungarian Studies, 21  :1  –  2 (2007), S. 261  –  295. Dass die gegenseitige Nichtbeachtung zwischen Öster­reichern und Ungarn in die nächste Runde geht, erhellt auch Gerhard Baumgartner, »Distant Relatives – On the Austrian Perception of Hungarian History«, Regio  – Minorities, Politics, Society, 1 (2002), S. 1  –  16. Online unter http://epa.oszk.hu/00400/00476/00002/pdf/02.pdf [zuletzt abgerufen 22. August 2012].



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Ein weiterer Grund zur Vorsicht im Gebrauch von »Kakanien« außerhalb literarischer Diskussionen liegt darin, dass nur sehr wenige Schriftsteller und Wissenschaftler in Öster­reich und in Ungarn sich je ausführlich in ihren Schriften über die jeweils andere Reichshälfte geäußert haben. Autoren, die eine große Leserschaft gefunden haben, waren entweder Öster­reicher – Schnitzler, Roth, Musil – die auf Deutsch über Cisleithanien, oder Ungarn – Kosztolányi, Krúdy, Márai – die auf Ungarisch über Transleithanien geschrieben haben. Nur eine Handvoll – der Dramatiker Ferenc Molnár, der Kunstkritiker Ludwig Hevesi, der Operettenkomponist Emmerich Kálmán, der Psychoanalytiker Sándor Ferenczi – bewegten sich anscheinend mühelos in beiden Sphären. Deshalb besteht für eine Bestandsaufnahme der Kultur der Doppelmonarchie ein ernsthaftes Hindernis schon darin, dass die Intellektuellen dieser Zeit sich überhaupt nur vereinzelt zu kulturellen Berührungspunkten geäußert haben – und oft nur in Form von Lippenbekenntnissen. Diese Zurückhaltung mag ein weiterer Grund sein, weshalb Gelehrte sich vorzugsweise in Artikeln und nicht in Büchern über die gemeinsame Kultur äußern. Die Rekonstruktion der Gemeinsamkeiten des Habsburgerreiches setzt sich auf Gedeih und Verderb all jenen Risiken aus, mit denen ein Versuch, postum das wahrzunehmen, was in der historischen Realität so gut wie niemand wahrnahm, notgedrungen behaftet ist. Mit Ausnahme vielleicht der Architekturgeschichte sind jene Gedankenexperimente, die für die Neukonzeptualisierung eines fast unüberschaubar großen Gebietes erforderlich sind, daher eher in Artikeln möglich. Das Studium der Kultur der Doppelmonarchie verläuft notwendigerweise tentativ, schubweise und postum. Dieses Buch ist also eine erste Bestandsaufnahme der Sekundärliteratur zu diesem Unterfangen und will ihre Implikationen ermessen. Dass ein alternativer Kanon für den Blick auf die Doppelmonarchie allmählich Gestalt annimmt, bedeutet freilich noch lange nicht, dass der ältere Kanon eines exklusiven Fokus auf »Wien um 1900« auf dem Rückzug ist. Obwohl Architekturhistoriker sich nachdrücklich für den neuen Ansatz ausgesprochen haben, halten etwa Großveranstaltungen in Museen weiter daran fest. 2011 fanden zwei große »Wien um 1900«-Ausstellungen an entgegengesetzten Enden der Erde statt, in New York und in Melbourne. Begleitet wurden sie jeweils von opulenten Katalogen, welche die Kultur Wiens ohne Bezug auf irgendeine Art von Umfeld auszuloten suchen. Die Beiträge arbeiten großteils mit Paradigmen aus den 1980er und 1990er Jahren, mit Nachdruck auf Begriffen wie »bedrohte Identität« und »Angst vor Statusverlust« und einer Deutung der »Moderne«, die vorrangig als Bedrohung denn als Chance aufgefasst wird. Neuere Ansätze wie »vielschichtige Identität«, »kultureller Austausch« oder »stilistische Hybridisierung« fehlen. Während im neuen Paradigma die Möglichkeiten herausgearbeitet werden, die in der Doppelmonarchie für kreative Mischungen bestanden, werden im älteren Paradigma politische Blo-

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ckaden vorrangig als Anreiz interpretiert, die Kunst als einen Zufluchtsort zu konstruieren, der Schutz vor auswärtigen Aggressoren bietet. Im neuen Paradigma hat das Zusammenleben verschiedener Ethnizitäten das Potential, neue Ideen und konstruktive Zusammenarbeit freizusetzen  ; im alten resultieren daraus nur allzu oft Einsamkeit, Neurose und interethnischer Konflikt. Der Eindruck, den die beiden Standpunkte vermitteln, kann – zugegebenermaßen etwas vereinfacht – wie folgt beschrieben werden  : Die Doppelmonarchie-Perspektive zeichnet ein beschwingtes Bild von dem, was die schöpferischen Eliten des Reichs inspirierte  ; das Bild, das die »Wien um 1900«-Perspektive bietet, ist viel eher von der Angst bestimmt, mit der diese Eliten auf unerwünschte kulturelle Zusammenstöße reagierten und auf das Treibhaus, in dem sie eingesperrt waren. Im ersten Fall entstanden durch die als unvermeidbar und gegeben akzeptierten interethnischen Begegnungen Neukonzeptionen von unerhörter Komplexität und Verfeinerung, im zweiten war das häufige Ergebnis unerwünschter Begegnungen mit dem Andern ein Zustand der Liminalität, der stark beunruhigend wirkte und bei Großdeutschen und andern Antisemiten sich als heftiges Verlangen nach ethnischer Homogenität niederschlug. Im einen Fall rief die Moderne kreative Lösungen auf den Plan, im andern setzte sie Impulse zu Flucht und zur Suche nach Sündenböcken. Freilich weisen die beiden Paradigmen auch Gemeinsamkeiten auf. Sie sehen kulturelle Konstanten, erstens, in der Beschäftigung mit dem Potenzial der Sprache als Quelle von Missverständnissen und, zweitens, in der Faszination für vormals »unterbewusste« Schichten der Psyche. Beiden Modellen sind auch zwei Typen von Sonderfällen gemein  : Widerspruchsgeister, die mit Vorliebe gerade das in Abrede stellten, was für einen Großteil ihrer Zeitgenossen außer Streit stand, und unklassifizierbare Genies, die sich jeglicher konsensuellen Einordnung widersetzen. Die Mehrheit der einschlägig tätigen Sozial- und Kulturwissenschaftler bekennt sich heute – wenigstens nach außen – zum Doppelmonarchie-Ansatz. Unterschiedlichste Institutionen, wie die János Andrássy Universität in Budapest, das Center for Interethnic Germanistics der Universität Timişoara, Rumänien, das Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität in Graz, wo Moritz Csáky von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2004 Ordinarius war, das Center for Austrian Studies an der University of Minnesota und das CenterAustria an der University of New Orleans unter der Leitung von Günter Bischof haben sich diesem Ansatz verschrieben. Das hier Folgende will dazu beitragen, die Grundlage für die Debatte über die Konzeptualisierung des Feldes zu verbreitern und die Debatte insgesamt in Beziehung zu den alten und neuen Paradigmen zu setzen. Was die Kulturgeschichte der Doppelmonarchie heute vor allem nötig hat, ist eine aufgeschlossene Neukonzeptualisierung der Beziehung der Teile zum Ganzen.

Kapitel 2

Architekturhistoriker als Pioniere 2.1 Charles S. Maier und die Architekturgeschichte Charles S. Maier, ein 1939 geborener Sozialhistoriker des modernen Mitteleuropa, veröffentlichte seine Zusammenschau zur visuellen Kultur des späten Habsburgerreiches in einem Sammelband zur Architektur im mitteleuropäischen urbanen Raum (1999).13 Nichts an diesem Band bereitet auf die geradezu bestürzende Brisanz von Maiers wegweisendem Artikel vor. Knapp und stringent breitet er seine Gedanken zur Dynamik der habsburgischen Kultur aus, insbesondere dazu, wie Ethnizität und Territorium interagieren und zu einer Inspirationsquelle für eine Architektur der ethnischen Selbstdarstellung werden. Mit glücklicher Hand greift er das Potential des erst kurz davor erschienenen Buches Competing Visions von Ákos Moravánszky auf 14 und vergegenwärtigt sich und uns, wie Architekten aus verschiedenen Ethnizitäten das Problem »nationaler« Selbstdarstellung in ihren urbanen Bauwerken lösten. Maiers originäre Leistung besteht darin, dass er die Virtuosität sichtbar macht, mit der Moravánszky Architektur- und Geistesgeschichte verwebt. So ist Maiers Essay nicht, wie man aufgrund der fachlichen Herkunft des Autors vermuten würde, in erster Linie als Beitrag zur Sozial-, sondern zur Architekturgeschichte aufzufassen, wo dieser Text zu den wichtigsten Arbeiten gehört, in denen die Doppelmonarchie als kulturelles Ökosystem verstanden wird. 13 Charles S. Maier, »City, Empire, and Imperial Aftermath«. »Konkurrierende Kontexte« ­[contending contexts] erinnert an Moravánszkys »konkurrierende Visionen« [competing visions]. Höchst aufschlussreich ist die Würdigung zweier habsburgischer Städte bei Edward Timms, »Musil’s Vienna and Kafka’s Prague  : the quest for a spiritual city«, in Timms und David Kelley (Hg.), Unreal City. Urban experience in modern European literature and art (Manchester  : Manchester University Press, 1985), S. 247  –  263. 14 Ákos Moravánszky, Competing Visions. Aesthetic Invention and Social Imagination in Central Euro­ pean Architecture, 1867  –  1918 (Cambridge MA und London  : The MIT Press, 1998). Dieses Buch, im Kern Moravánszkys Dissertation aus dem Jahr 1983, ist eine erweiterte Version von Die Architektur der Donaumonarchie 1867 bis 1918 (Budapest und Berlin  : Corvina, 1988) und Die Erneuerung der Baukunst. Wege zur Moderne in Mitteleuropa, 1900  –  1940 (Salzburg  : Residenz Verlag, 1988). Vgl. auch Moravánszky, »Materialwahrheit und Bekleidungsästhetik  : Aladár Árkays refor­mierte Kirche in Budapest (1911  –  1913)«, in Jürgen Nautz und Richard Vahrenkemp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse Umwelt Wirkungen (Wien / Köln / Graz  : Böhlau, 1993), S. 588  –  604. Von wegweisender Bedeutung Ilona Sármány-Parsons, z. B. mit ihrem Artikel »Wahlverwandtschaften in der Architektur des Historismus in der Donaumonarchie«, in Richard G. Plaschka und Horst Haselsteiner (Hg.), Mitteleuropa. Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert (Wien  : Verlag der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften 1997), S. 145  –  174.

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Hier ist zunächst ein Wort über Ákos Moravánszkys Buch angebracht, das ein für allemal die zentrale Position der urbanen Architektur als Versuchslabor für Forscher etabliert hat, denen es um eine Neubewertung kultureller Initiativen quer durch das Habsburgerreich geht. Moravánszky beschränkt sich nicht darauf, Architekten und Bauwerke in Wien, Prag, Budapest, Zagreb und Ljubljana – Krakau, Lemberg und Czernowitz spart er weitgehend aus – zu vergleichen, er stellt auch Beziehungen zwischen Architekten und Debatten über Stil und Metaphysik her. So verschieden Otto Wagner, Adolf Loos, Ödön Lechner und Jože Plečnik in ihrer Arbeit als Architekten waren, sie entpuppen sich alle als Intellektuelle, die die kulturellen Kontroversen der Spätzeit des Reiches mit angestoßen und bestritten haben. Moravánszky schreibt ihnen und ihren architektonischen Dramaturgien eine zentrale Rolle in der Kultur der Doppelmonarchie zu. Unter diesen Neuerern hält Moravánszky Jože Plečnik (1872  –  1957), einen der vielen Schüler Otto Wagners, für besonders bedeutend, wenn nicht sogar für überragend und unklassifizierbar. Plečnik war in seinen Entwürfen äußerst innovativ und erwies sich als religiöser Denker mit ausgeprägter Affinität zu den zeitlosen, »perennialistischen« Werten des Benediktiner Künstler-Mönchs Desiderius Lenz (1832  –  1928), für dessen Beuroner Malerschule er 1905 eine Ausstellung im Gebäude der Wiener Secession gestaltete. Was Moravánszky über Lenz sagt, trifft auch für dessen slowenischen Freund zu  : »Der Beuroner Begriff der hieratischen Kunst schließt Kommunikation mit der Gesellschaft als primäres Ziel aus  ; ihrem Wesen nach nicht-anthropomorph, sucht sie sich stattdessen auf Gott hin zu orientieren, wie ja auch die lateinischen Texte der Messe nicht im wörtlichen Sinn von der des Lateinischen unkundigen Gemeinde ›verstanden‹ werden. Hieratische Kunst zielt, wie liturgische Zeremonien, durch die Verwendung typischer Symbole auf einen zeitlosen Ausdruck ab.«15 Man wird zugeben, dass sich ein weniger nutzerfreundlicher Zugang zur Architektur kaum denken lässt. Der slowenische »Perennialist« realisierte diese Grundsätze in seiner HeiligGeist-Kirche in Wien-Ottakring (1910  –  1913). In kühner Verknüpfung vergleicht Moravánszky die reduktive Ästhetik dieses Bauwerks mit Franz Kafkas Weigerung, seine Geschichten zu kommentieren. Dass die Wände frei von Details sind, ist eine »deutliche Anspielung auf das Schweigen der Architektur und eine Einladung an Betrachter und Betrachterinnen, ihre je eigene Lesart einzubringen, statt die des Architekten zu akzeptieren«. Plečnik wie Kafka laden den Betrachter zur Entdeckung universaler Gesetze ein, die in eine unmaskierte Oberfläche eingebettet sind. So erwecken diese Künstler den Eindruck, das Zeitlose selbst sei von außerhalb der Zeit am Wort. »Plečniks Zeit ist kosmisch und bewegungslos und wird 15 Ákos Moravánszky, Competing Visions, S. 404.



Architekturhistoriker als Pioniere

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überhaupt als Gegensatz zur Gegenwart verstanden … Nichts ist erschaffen, nichts ist verloren gegangen – kein Ereignis, keine Form ist einzigartig, alles hat schon immer existiert, existiert jetzt und wird existieren in Ewigkeit.« Für Plečnik war »kosmische Zeit … Wiederholung und ewige Wiederkehr«,16 wie es Moravánszky mit einer Wendung ausdrückt, die an den rumänischen Religionshistoriker Mircea Eliade (1907  –  1986) erinnert. Für die Dandys der Ringstraße hatte diese Idee wohl wenig Verlockendes. Indem sie einen wenig beachteten metaphysischen Bezugspunkt im architektonischen Diskurs der späten Donaumonarchie benennen, zeigen solche Aussprüche, wie stimulierend Moravánszkys Korrelationen zwischen Ideen und Bauwerken auf die Ortung allgemeiner kultureller Tendenzen wirken. Plečniks Multivalenz als grundlegende Eigenschaft eines vorwärtsgewandten Nutznießers der Archaik steht geradezu beispielhaft für die Herausforderungen der Neuinterpretation der Doppelmonarchie. Es gibt keine vorgefertigten Kategorien, in die eine derart singuläre Figur mit Gewinn eingeordnet werden kann. Wie Moravánszkys Vergleich von Plečnik mit dem ebenso unklassifizierbaren Franz Kafka zeigt, zwingen diese Neuerer uns, fortwährend neue Fluchtpunkte zu finden. Der hohe Standard, den Charles S. Maier dabei vorgibt, lädt uns ein, unser Repertoire an Kategorien zu vergrößern und die notwendigen Neuorientierungen anzugehen.

2.2 Vielschichtige Loyalitäten in einem kulturellen Ökosystem Indem Moravánszky eine Analyse stilistischer Kunstmittel mit metaphysischen Themen verwebt, schafft er für Architekten aus dem gesamten Reich den weitest möglichen Kontext. In seiner Vertiefung dieses Ansatzes hat Charles S. Maier gezeigt, dass die Anregungen des ungarischen Historikers sich zu einer Neukonzeption der kulturellen Spannungen ausbauen lassen, die von den »vielschichtigen Loyalitäten« innerhalb des Habsburgerreiches verursacht wurden. Maier nahm sich das »transnationale Engagement« vor, durch das die administrativen Eliten sich einem Ideal des Reiches als einem »Rahmenwerk für Pluralismus» verpflichtet fühlten. Manche Öster­reicher, so behauptet er, besonders solche im städtischen oder staatlichen Dienst, verkörperten ein ideologisches Engagement für ein transnationales Selbstbild und förderten so das Potential des Reiches, »ethnische Mischungen« zu begünstigen. Wenn es dem Reich gelingen sollte, aufmüpfige Ethnizitäten zu befrieden, dann durfte es nicht offenkundig ein »deutsches Marionettentheater« sein, das die Interessen des deutschen Kaiser-

16 Alle Zitate aus Moravánszky, Competing Visions, S. 404  –  405.

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reichs oder die Deutsch-­Öster­reicher17 begünstigte. Deutsche Sprachinseln gab es ja, wie Maier feststellt, vom westlichen Rand Böhmens und den Städten des Zipser Landes im äußersten Norden Ungarns (jetzt Spiš in der Zentralslowakei) bis zu den seit dem 13. Jahrhundert bestehenden sächsischen Dörfern in Siebenbürgen, die sich erst in unserer Zeit entvölkern. Zu den Sprachinseln gehörten auch seit dem 18. Jahrhundert die Ansiedlungen der Donauschwaben im Süden, in der Batschka und im Banat, dem heutigen Nordserbien und Südwest-Rumänien. Aufgrund dieser alten Sprachinseln, so Maier, waren die Deutschen eines von zwei »transnationalen« Ethnien. Das zweite transnationale Ethnos waren die Juden, die stärker urban orientiert und, sieht man von ihrer Situation in böhmischen und mährischen ländlichen Gebieten ab, stärker präsent waren. Wie wenigen Sozialhistorikern ist doch bis jetzt die strukturelle Parallele aufgefallen, die zwischen diesen alten Ansiedlungen der Deutschen und den rasch wachsenden jüdischen Dorfbevölkerungen, die es in die Städte zog, bestand. Das ideologische Engagement zugunsten einer »transnationalen« Identität, das unter Beamten zu finden war, erweist sich als ein bedeutsames Thema für die Forschung über die Doppelmonarchie und wird uns bei unserer Beschäftigung mit Virgil Nemoianu und Moritz Csáky wieder begegnen. Mein Buch Der öster­ reichische Mensch [The Austrian Human Type] (2010) widmet sich der Analyse von Essays zu diesem Thema von rund zwei Dutzend deutsch-öster­reichischen Autoren aus der Zeit zwischen 1910 und 1967. Ich habe darin nachzuweisen versucht, dass die Öster­reicher mit der Artikulation ihrer kulturellen Identität innerhalb des Reiches gefährlich lang zugewartet haben. Eine ernsthafte Diskussion dessen, was die öster­reichische Kultur im Gegensatz zur deutschen ausmacht, hat überhaupt erst ein, zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt. Der große Dichter und Dramatiker Hugo von Hofmannsthal agierte damals als Fürsprecher des Begriffs vom öster­reichischen Menschen. Eigenschaften wie Toleranz, diplomatisches Feingefühl und ein weitreichendes Einfühlungsvermögen ließen diese angeblich vorbildlichen Beamten als ideale potenzielle Vermittler erscheinen.18 Der Ausdruck »der öster­reichische Mensch« mag etwas hochtrabend klingen, aber kein anderer wird auch nur annähernd den Ansprüchen gerecht, die für diesen Archetypus des Öster­ reichers, den vollendeten habsburgischen Staatsdiener, von verschiedenen Literaten formuliert wurden. Hier werden diese hochfliegenden Ansprüche mit einer ganzen Reihe späterer Interpretationen konfrontiert. 17 »Deutsch-Öster­reicher«, ein heute veraltet und pedantisch wirkender Terminus, ist im Folgenden dort, wo der Zusammenhang einem Missverständnis entgegenwirkt, durch »Öster­reicher« ersetzt, in der Hoffnung, dass der Verlust an Korrektheit durch die verbesserte Lesbarkeit aufgewogen wird (Anm. d. Ü.). 18 William M. Johnston, Der öster­reichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Öster­reichs (Wien /  Köln / Graz  : Böhlau, 2010).



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Mit dem Geografen Hugo Hassinger (1877  –  1952) fand sich ein Sozialwissenschaftler, der willens war, eine Neuformulierung von Hofmannsthals idealisiertem Bild des öster­reichischen Menschen zu wagen. Für Hassinger, der zunächst kunstgeschichtlich gearbeitet hatte, war der öster­reichische Mensch Träger eines Sozialkapitals, das dem Reich zur Vermittlung zwischen den Ethnizitäten besonders in Böhmen und Mähren zu Gebote gestanden war. In seinem Buch über die neue tschechische Republik, Die Tschechoslowakei. Ein geographisches, politisches und wirtschaftliches Handbuch (1925), zeigte er sich besorgt, dass das innerhalb des Reiches über mehr als zwei Jahrhunderte aufgehäufte soziale Kapital von den Nachfolgestaaten achtlos vergeudet werde.19 Zu den Propagandisten des öster­reichischen Menschen gehört auch der Schriftsteller Anton Wildgans, der zu diesem Thema eine sehr bekannt gewordene Radioansprache, Der öster­ reichische Mensch (1930), beitrug, und, als ein später Konvertit zu diesem Denken, der Schriftsteller Franz Werfel. Noch im Jahr 1938 verneigte dieser sich vor der Bereitschaft der deutsch-öster­reichischen und slawisch-öster­reichischen Staatsdiener zum »sacrificium nationis«, dem »Opfer ihrer Nationalität«, um in den Konflikten des multiethnischen Europa eine Vermittlerrolle spielen zu können.20 Die Absage an nationale Verwurzelung verlangte von diesen Verwaltungsbeamten, ihre ethnischen Bindungen abzustreifen, um der supranationalen Sendung der Monarchie dienen zu können. Von seinen ihm mit größter Hingabe Dienenden forderte also das Reich, bewusst das zu opfern, was zunehmend als unentbehrlich empfunden wurde – die ethnische Identität. Was uns im Rückblick so evident erscheint – nämlich dass eine derartige Selbstverleugnung im konfliktträchtigen 20. Jahrhundert nicht von Dauer sein konnte –, war den Literaten der Zwischenkriegszeit nicht ohne Weiteres klar und konnte es auch nicht sein. Maier schreibt, das Habsburgerreich habe »innovativ sein müssen, aber es konnte nie innovativ genug sein«. Er hätte genauso gut sagen können, dass die Verwaltungsbeamten des Habsburgerreiches sich stets in Selbstverleugnung üben mussten, ohne Aussicht je genug Selbstverleugnung aufbringen zu können.21 Niemand kann die Essayisten der Zwischenkriegszeit von einer Mythisierung ihres Ideals des öster­reichischen Menschen freisprechen. Die Propagandisten transnationaler Werte exemplifizieren das, was Claudio Magris 1963 als »habsburgischen 19 Hugo Hassinger, »Die mitteleuropäische politische Organisation und der öster­reichische Mensch«, in Hassinger, Die Tschechoslowakei. Ein geographisches, politisches und wirtschaftliches Hand­buch (Wien / München  : Rikola, 1925), S. 30  –  41, insbes. S. 37  –  38. 20 Franz Werfel, »Ein Versuch über das Kaisertum Öster­reich« [April 1936], in Werfel, Zwischen oben und unten. Prosa. Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge, Adolf D. Klarmann (Hg.), 2. Aufl. (München  : Langen Müller, 1975), S. 493  –  520, insbes. S. 517. 21 Charles S. Maier, »City, Empire, and Imperial Aftermath«, S. 39.

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Mythos« in der öster­reichischen Literatur berühmt gemacht hat.22 Sie statteten ihr Bild mit archetypischen, sogar monumentalen Eigenarten aus, die, wie sie behaupteten, seit Jahrhunderten bestanden hatten und wahre Lobeshymnen verdienten. Nicht zufällig überwogen unter den führenden Apologeten die Dichter. Erst Oskar Bendas Die öster­reichische Kulturidee in Staat und Erziehung (1936) machte, wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden, einen entscheidenden Unterschied. Benda lieferte den Apologeten der Ersten Republik eine Interpretation, die nicht nur ideologisch, sondern durch den Rekurs auf den deutschen Kulturhistoriker Karl Lamprecht (1856  –  1915) auch sozialwissenschaftlich untermauert war.23 Charles S. Maiers »vielschichtige Loyalitäten« erweitern den Kontext für die Interpretation der explanatorischen Kraft der öster­reichischen Versuche zur Selbstdarstellung. Er beschreibt, wie »vielfach differenzierte Loyalitäten« überall im Reich gediehen, ganz besonders aber in den Städten, wo »das Lokale und das Zentrale« aufeinander trafen. Die von ihm so genannten »ethnischen, sozialen und räumlichen Schichtungen« machten Figuren unentbehrlich, die in diesem Ökosystem der Ethnizitäten eine vermittelnde Rolle spielen konnten. Gerade die für die Staatsdiener gleichsam vorherbestimmte Rolle als Verteidiger des »Rahmenwerkes für den Pluralismus« erschien den Propagandisten des öster­reichischen Menschen besonders bedeutsam. In ihren Augen war eine besondere Eignung für die Vermittlung zwischen den Ethnizitäten nicht nur das hervorragendste Merkmal des öster­reichischen Menschen, sie war auch die eigentliche Grundlage, auf der sich die Existenz der Ersten Republik (1918  –  1938) rechtfertigen ließ. Für Hofmannsthal, Hassinger und Benda wurde Öster­reich geradezu ein Synonym für die Berufung zur interethnischen, ja sogar zur paneuropäischen Vermittlung. Mehr als jeder andere schien der öster­reichische Mensch befähigt zur Verwaltung eines Ökosystems der Ethnizitäten. Mit seinen Formulierungen regt Maier an, die Ideologie der Zwischenkriegszeit zu deuten als allmähliche Bewusstwerdung einer schon lange bestehenden deutsch-öster­reichischen Berufung zum Schiedsrichteramt. Auf wesentlich schwächeren Beinen steht allerdings die These, für die sich die Apologeten der post­ imperialen Epoche ebenfalls stark machten, dass der öster­reichische Mensch auch nach 1918 in einer Region, in der es erstmals seit tausend Jahren kein Reich mehr 22 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen öster­reichischen Literatur [1963] (Salzburg  : Müller, 1966)  ; 2. Aufl. (Wien  : Zsolnay, 2000). Eine detaillierte Neubewertung der Romanliteratur bietet Leopold R. G. Decloedt, Imago Imperatoris. Franz Joseph I. in der öster­reichischen Belletristik der Zwischenkriegszeit (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1995). Zu Manipulationen des habs­­burgischen Erbes nach 1918 siehe Laurence Cole, »Der Habsburger Mythos,« in Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik, 2004), 1  : S. 473  –  504. 23 Oskar Benda, Die öster­reichische Kulturidee in Staat und Erziehung (Wien  : Saturn, 1936).



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gab, noch immer in der Lage sei, sein Schiedsrichteramt wahrzunehmen. Das Ökosystem der Kulturen war zerfallen.

2.3 »Territorialität« versus »Transnationalität« Charles S. Maiers Konkretisierung dessen, was das Habsburgerreich in besonderer Weise auszeichnet, gewinnt zusätzliche Bedeutung durch seine Arbeit an dem Begriff der »Territorialität«. In seiner Definition handelt es sich dabei um einen »eingegrenzten politischen Raum«, der oft als »Raum der Identität« fungierte.24 Seine Bezeichnung für die Epoche 1860 bis etwa 1960, »das Zeitalter der Territorialität«, stellt in der Tat einen geopolitischen Terminus für das Zeitalter des Nationalstaates dar, als fast alle Ethnien für sich Führerschaft in einem in sich abgeschlossenen politischen Raum beanspruchten. Mit Argumenten, die er aus einem enormen Bestand an vielsprachiger Sekundärliteratur zieht, sucht Maier nachzuweisen, dass die Epoche zwischen etwa 1860 und 1960 / 1970 von den Anstrengungen der Regierungen gekennzeichnet war, sich in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß territoriale Kontrolle zu sichern. Neben andern Faktoren band besonders die Eisenbahn das politische Territorium zu einer Einheit zusammen und ermöglichte sowohl wirtschaftliche wie politische Einflussnahme. Im gleichen Zeitraum nahm der überseeische Imperialismus Europas Gestalt an als ein Unternehmen, den eingegrenzten politischen Raum der Territorialität auch Gebieten in Afrika und Asien aufzudrängen, die bis dahin von solchen Ansprüchen verschont geblieben waren. Es ist von großer Bedeutung, dass das Habsburgerreich als einziges e­ uropäisches Regime sich nach 1860 dem Konzept der Territorialität entschieden widersetzte. Seine geografische Ausdehnung war derart, dass es keiner seiner Ethnizitäten e­ inen »eingegrenzten politischen Raum« oder einen »Identitätsraum« bieten konnte. Stattdessen beharrte das Regime auf dem älteren Konzept der Souveränität, die von einer Dynastie, einer Familienfirma, ausgeübt wurde. Das Habsburgerreich blieb eine Konfiguration von Fürstentümern, die über einen Zeitraum von sechs Jahrhunderten vom Haus Habsburg durch Heirat, Erbschaft, Krieg oder Verhandlung erworben worden waren. Nicht nur verschmolzen diese Gebiete nicht zu ­einem »eingegrenzten politischen Raum«, sondern nach dem Ausgleich von 1867 24 Charles S. Maier, »Consigning the Twentieth Century to History  : Alternative Narratives for the Modern Era«, The American Historical Review, 105  :3 (2000), S. 807  –  831, inbes. 807  –  808. Maiers Artikel über Gustav Mahlers Theatralik thematisiert die «performative Kultur«, die nicht nur den »Theaterstaat« der Doppelmonarchie, sondern Mitteleuropa insgesamt prägte. Siehe Maier, »The Performative and the Political in Central Europe, 1890  –  1910«, in Karen Painter (Hg.), Mahler and His World (Princeton NJ / Oxford  : Princeton University Press, 2002), S. 55  –  85, insbes. 63  –  66.

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mit den Ungarn widersetzten sich sowohl diese wie der Kaiser dem immer heftiger artikulierten Wunsch der slawischen Nationalitäten, ihrerseits einen eingegrenzten politischen Raum zugestanden zu bekommen. Die Doppelmonarchie wurde zum Duopol. Als das Reich 1918 / 1919 in acht »eingegrenzte politische Territorien« zerfiel, fand diese radikale Transformation etwa zur Halbzeit der von Maier so ­genannten Epoche der Territorialität statt. In den 1970ern, ein halbes Jahrhundert später, ließen die wirtschaftlichen Zwänge der Globalisierung die Vertragsvereinbarungen von 1919 / 1920 ebenso verspätet wie sinnlos erscheinen. Territorialität als ein herausragendes Merkmal der Epoche von 1860 bis 1970 unterscheidet das Habsburgerreich vom Rest Europas. Indem das Reich keiner andern Ethnizität außer den Ungarn gestattete, sich einen »eingegrenzten politischen Raum« zu schaffen, klammerte es sich an seine Verspätung in einer Weise, die an das psychologische Phänomen der Perseveration gemahnt. Die Entscheidungsträger des Reiches »perseverierten« zu oft und zu lange in einem Verhalten, das einfach nicht mehr zu den geänderten Umständen passte. Im Besonderen betraf dies die zunehmend lauter werdenden Forderungen nach nationalen Grenzen. So flexibel die Staatsdiener, die dem Typus des öster­reichischen Menschen angehörten, in kleinen Dingen waren, so wenig willens oder fähig waren sie, sich den großen Trends anzupassen. Die Apologeten der Zwischenkriegszeit wollten dieses Versagen nicht wahrnehmen und erlagen damit einer fatalen Illusion, zu der im nächsten Kapitel mehr zu sagen sein wird. Innerhalb der östlichen Hälfte der Doppelmonarchie (Transleithanien) zwangen die Ungarn alle andern Ethnizitäten, ihre Ansprüche auf ein eigenes Territorium zugunsten ihres eigenen Monopols zurückzustellen und übten die sich aus dieser Situation ergebenden Sprachrechte rücksichtslos aus. Kroaten, Slowaken, Deutsche und Rumänen mussten Ungarisch als Staatssprache lernen. Die sprachliche Magyarisierung kann durchaus als Versuch verstanden werden, ein Monopol auf Territorialität durchzusetzen. Der Prozess unterwarf Deutsche, Juden und Slawen dem sprachlichen Monopol des Ungarischen, indem alle gezwungen waren, den auf Ungarisch erteilten Volksschulunterricht zu besuchen. Im Gegensatz zu der Art, wie die Magyaren ihre kulturelle Souveränität ausübten, lehnte die Verwaltung im öster­ reichischen Teil der Doppelmonarchie, also in Cisleithanien, in deutlich sichtbarer, wenn auch charakteristisch verspäteter Form die Politik des sprachlichen Monopols ab. Dies gilt besonders für Böhmen, wo die Regierung Taaffe (1879  –  1893) 1882 tschechischsprachige Schulen und eine tschechischsprachige Universität zuließ. In Mähren wurde 1905 ein lokaler Kompromiss ausgehandelt, der eine Trennung in deutsch- und tschechischsprachige Gemeinden ermöglichte. Die deutsch-öster­ reichische Duldung separater sprachlicher Gemeinden in Cisleithanien hatte ironischerweise zur Folge, dass somit in dieser kleinen Welt schon für die Entstehung des



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unabhängigen tschechisch-slowakischen Staates im Jahr 1918 eine Probe abgehalten wurde. Während die magyarischen Nationalisten überall in Transleithanien emsig die Banner ungarischer Territorialität aufpflanzten, signalisierten wohlmeinende Beamte in Cisleitha­nien ihr – wenn auch zögerliches – Einverständnis zu kleinen gemischtsprachigen Gebilden innerhalb des buntscheckigen Ganzen. Die unterschiedliche Anwendung des Territorialitätsprinzips in den beiden Hälften der Monarchie trug weiter zur Erosion des politischen Zusammenhalts des Ganzen bei und schwächte den Glauben der Staatsdiener, dass es gelingen werde, die Forderungen der Minderheiten nach ihrem eigenen eingegrenzten politischen Territorium durch kluges Management auszusitzen. Am Ende des Ersten Weltkriegs rächte sich Europas »Zeitalter der Territorialität« an den Aussitzern der Doppelmonarchie. Maiers Begriff der Territorialität bietet noch eine weitere Möglichkeit, sich der habsburgischen Verspätung zu nähern. Zwischen 1860 und 1918 versuchte das Reich, sich den Forderungen der Territorialität durch die Schaffung einer multinationalen Armee, eines multinationalen Beamtenapparates und einer transnationalen administrativen Klasse zu entziehen. Das ältere Wort »multinational«, das die Rekrutierung von Soldaten, Offizieren und Bürokraten unter verschiedenen Ethnizitäten beschreibt, steht in direktem Zusammenhang mit dem Ideal des öster­ reichischen Menschen. Dieses ideologische Ideal basiert auf dem Glauben, die Diener der Dynastie würden sich transnationale Werte zu eigen machen können. In der Folgezeit substituierten die Propagandisten dieses Ideals den spezifisch öster­ reichischen Imperativ der Transnationalität für den immer stärker werdenden Imperativ der Territorialität. Wie wir in Kapitel 4 sehen werden, gelang es tatsächlich in »marginozentrischen« Regionen im Osten des Reiches, wie der Bukowina und dem Banat, ein freundschaftliches interethnisches Einverständnis zu leben – und das ohne nennenswerte Einmischung des Zentrums. Mit einem Minimum an bürokratischer Einmischung gelang es diesen Regionen, eigene nicht-territoriale Modelle interethnischer Kultur mit Leben zu erfüllen, mehr oder weniger unbemerkt das zu praktizieren, was spätere Fürsprecher des öster­reichischen Menschen aus zu großer räumlicher und zeitlicher Distanz predigten. Eine ganze Generation von Kulturhistorikern hat es sich angelegen sein lassen, den Beitrag der »marginozentrischen« Regionen zur Schichtenbildung des Ganzen zu untersuchen.

2.4 Architektur und das Problem der Sprache Charles S. Maier hat also im Einzelnen aufgezeigt, wie das Ideal der Transnationalität im Reich wirkte. Angeregt wurde er dazu, wie gesagt, durch den Architekturhistoriker Ákos Moravánszky, und er ist nicht der einzige Analytiker des öster­

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reichischen Sonderwegs, der sich hauptsächlich von Architekturhistorikerinnen und Architekturhistorikern leiten ließ. Jeder Reisende, der in den größeren Städten des alten Reiches unterwegs ist, wird die Gemeinsamkeiten bemerken. Besonders auffällig sind stilistische Gemeinsamkeiten an Bahnhöfen, Postämtern, Schulen und an Theater- und Museumsgebäuden. Sie gelten aber auch für Hotels, Kur­ anla­gen und Kaffeehäuser und sogar für Banken, Kasernen und Friedhöfe. Sie alle zeichnen sich durch eine geradezu frappierende Familienähnlichkeit aus – sei es nun in Innsbruck unweit Bayerns oder in Czernowitz unweit der russischen Grenze. Was diese Gebäude prägt, ist Joseph Roths »monarchisches Flair«25 und Tony Judts »Habsburgia«. Urbane Architektur ist ein Thema, das niemand auslassen kann, der erklären will, wie die Schöpfer des Reiches Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der Regionen, Ethnizitäten und Ideologien artikulierten. Moravánszky verknüpft eine genaue visuelle Analyse dieser Gebäude mit Hinweisen auf literarische und intellektuelle Bewegungen. In seiner überaus anspruchsvollen Art der Kulturgeschichtsschreibung werden stilistische Merkmale zu intellektuellen Debatten in Verbindung gesetzt, um zu zeigen, wie der Wille zur ethnischen Selbstdarstellung letztlich die Grundlage für die bravourösen Erfindungen von Ungarn (Ödön Lechner, Karóly Kós) und Slowenen (Jože Plečnik) bildete. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, war die Wirkung der Überfülle ethnischer Referenzen in der Architektur dieselbe wie die der Operette auf der Bühne  : Beide schufen ein »geschöntes Paralleluniversum«, dessen Zweck es war, die Pluralität zu feiern. Daran änderte auch die unablässige Polemik von Adolf Loos nichts, der unter amerikanischem Einfluss in Wien eine derartige Dramaturgie als verlogen brandmarkte. Ähnlich scharfsinnig wie Moravánszky hat der 1930 geborene, geradezu unglaublich produktive öster­reichische Architekturhistoriker Friedrich Achleitner sein doppeltes Expertentum auf dem Gebiet der Dichtung und der Architektur in ein vierbändiges Werk (1990) über die Bauten Öster­reichs im 20. Jahrhundert einfließen lassen. In einem später geschriebenen Artikel vertritt Achleitner, auch hier dem ungarischen Historiker ganz ähnlich, die Ansicht, die urbane Architektur der Doppelmonarchie spiegle verschiedenartige Zugänge zum »Sprachenproblem« des Reiches wider.26 Achleitner geht von der Metapher der Architektur als Sprache aus und folgt den Spuren der Architekten, deren Suche teils nach allgemeingültigen, teils 25 Zitiert in György M. Vajda, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740  –  1918 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994), S. 180. 26 Friedrich Achleitner, »The Pluralism of Modernity  : The Architectonic ›Language Problem‹ in Central Europe«, in Eve Blau und Monika Platzer (Hg.), Shaping the Great City. Modern Archi­ tecture in Central Europe, 1890  –  1937 (München  : Prestel, 1999), S. 94  –  106  ; als Grundlage für diesen Artikel benützt Achleitner sein Buch Wiener Architektur  : Zwischen typologischem Fatalismus und semantischem Schlamassel (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1996).



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nach ethnisch determinierten Stilen Parallelen zur Politik der Selbstbestimmung aufweist. Manche Architekten – Otto Wagner, zum Beispiel – suchten einen transnationalen »universalen« Stil zu realisieren, der sich ganz wesentlich auf ingenieurtechnische Neuerungen stützte, während andere, darunter eine Reihe von Wagners Schülern, zu »nationalen« oder ethnisch geprägten Stilen zurückzukehren suchten, die eine explizite Absage an eine universalisierende Absicht darstellten. Diese Adep­ ten eines nationalen Stils konnten ihrerseits wählen zwischen der Erfindung neuer Lösungen, wie der unter französischem Einfluss stehende Ungar Ödön Lechner, und der Wiederbelebung alter ländlicher Techniken, wie etwa der siebenbürgische Regionalist Karóly Kós.27 Seine Wiederbelebung bäuerlicher Baustile und -techniken fand nach dem Ersten Weltkrieg eine Entsprechung in den Veröffentlichungen von Volksliedern und Volksmärchen des archaisierenden siebenbürgischen Bauerndichters József Erdélyi (1896  –  1978). Im Rahmen seiner »ländlichen Revolution« postulierte dieser Dichter eine mittlerweile verloren gegangene Ursprache, deren einfache Formen ihm einst vertraut gewesen waren und die es jetzt wiederzuentdecken gelte. Der Ruralist Kós hatte ein ähnliches Programm für seine Architektur und schuf zwischen den Kriegen eine gebaute Dramaturgie, bestehend aus siebenbürgischen Folklore-Elementen. Diese architektonische Dramaturgie führte, wie bei Plečnik und Lechner, zu dreidimensionalen Monumenten des Zusammenspiels kultureller Gegenpole. Achleitners Analogie zwischen Sprache und Architektur erweist sich in der Anwendung auf Jože Plečnik, den slowenischen Schüler des universalistischen Otto Wagner, als besonders aussagestark. Moravánszky sah, wie wir bereits gehört haben, in ihm einen Perennialisten, der mit zeitlosen stilistischen Mittel eine hieratische Vision zu beschwören suchte. Der tiefgläubige Slowene verachtete alles in seinen Augen Triviale oder Schale. Geopolitisch verortet Achleitner Plečnik an der Stelle, wo die römische und die byzantinische Kultur einander begegnen, gewissermaßen in einem Schwebezustand zwischen der romanischen, germanischen und slawischen Kultur. So erscheint der Slowene als transnational im eigentlichen Sinn  : »Seine grenzenlose architektonische Erfindungsgabe scheint ihre Kraft aus diesen [romanischen, germanischen und slawischen] Spannungsfeldern bezogen zu haben. Zu diesen gesellten sich noch andere hinzu, wie die soziale Spannung zwischen seiner Herkunft aus dem Milieu slowenischer Handwerker und seiner künstlerischen Sozialisation im Wiener Großbürgertum.«28 Der Auftrag für einen Neuentwurf des 27 Zu diesen Parallelen siehe Ákos Moravánszky, »Budapest  ; le folklore d’abord«, in Dieter ­H ornig und Endre Kiss (Hg.), Vienne-Budapest 1867  –  1918. Deux âges d’or, deux visions, un Empire (Paris  : Éditions autrement, 1996), S. 173  –  183. 28 Achleitner, »The Pluralism«, S. 103.

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Präsidentenpalastes auf dem Prager Hradschin, den Plečnik nach 1918 von Tomáš Masaryk (1850  –  1937), dem Präsidenten des neuen tschechoslowakischen Staates, erhielt, brachte ihn in Kontakt mit einer »tripolaren (tschechisch-deutsch-jüdischen) und dementsprechend konfliktträchtigen großstädtischen Kultur«.29 Das Talent, in einer »konfliktträchtigen« Kultur harmonisierend zu wirken, das Achleitner Plečnik nachdrücklich zubilligt, ist nichts anderes als die Gabe, zwischen scheinbar unvereinbaren Gegensätze durch theatralische Gesten zu vermitteln. Eine Gabe, die Hofmannsthal dem öster­reichischen Menschen generell attestierte. Der in Wien ausgebildete Slowene zollte in der Dramaturgie seiner Architektur Tribut an das Ideal des transnationalen Dienstes. In Achleitners Urteil streifte Plečnik durch diese Synthese seine – und jede andere – Nationalität ab und schuf ein »verschönertes Paralleluniversum«, in das er Leihgaben der verschiedensten Art und Herkunft integrierte. Achleitner konstatiert einen schroffen Gegensatz zwischen Plečniks zeitloser Vision einer universalistischen Architektur und der technokratischen Vision seines Lehrers Otto Wagner. Für Wagner dienten die neuesten Ingenieurstechniken als Grundlage für seine transnationale Sicht, die ihn dazu führte, die moderne Stadt als tabula rasa ohne jede ethnische oder religiöse Anspielung zu imaginieren. Nichts hätte von der Vision seines Schülers weiter entfernt sein können. Die von Wagner und Loos in Wien realisierte »utilitaristische« Kultur wirkte geradezu abstoßend auf Plečnik und trieb ihn dazu, durch Adaptation der antiken griechischen und römischen Formensprache eine zeitlose, »perennialistische« Alternative zu entwickeln. Diese überaus sonderbare Alchemie machte es Wagners slowenischem Schüler möglich, eine alternative Version des Universalismus zu kreieren. Er bediente sich durchaus der neuesten Technologien, wie sein Lehrer es verlangte, aber er tat dies, um pränationale – und manchmal postnationale – Werte zu verkünden. Ihm war alles lieber als die – wie er es sah – seelenlosen Lösungen Otto Wagners oder des noch schlimmeren Adolf Loos. Der tiefgläubige Katholik Jože Plečnik zeigt sich als ein Archetypus des öster­ reichischen Menschen, dessen transnationales Engagement sich zu einem ganz Europa, ja die ganze Menschheit umfassenden Anliegen ausweitet. Als Symbolfigur weist er uns die Richtung, in der die Hybridisierungen der Doppelmonarchie im 21. Jahrhundert nutzbar gemacht werden könnten.30 Plečniks Abscheu vor jeder tabula rasa beflügelte seine idealistische Suche nach Ausdrucksformen, die bei regionalen Traditionen aller Art Anleihen nehmen. So wird die Möglichkeit einer grenzenlosen kulturellen Symbiose sichtbar, die nicht in einer wie immer gearteten Territorialität 29 Ebenda. 30 Ebenda, S. 103.



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wurzelt. In seiner architectura perennis skizziert Plečnik die vielfältigen Symbiosen, die Hofmannsthal in seinen Essays beschwor, die Riegl in der Kunst der späten Habsburgerzeit fand, und die Musil in seiner Fantasie von der Parallelaktion in Der Mann ohne Eigenschaften ironisierte.31 Diese Repräsentanten der Doppelmonarchie nahmen hinter den offenkundigen Schwächen und der Schaumschlägerei des »Operettenstaates« ein Potential für unerhörte Synthesen wahr. Das Spektrum potenzieller Hybridisierungen, das sich diese cisleithanischen Denker vorstellen konnten, war jedoch weiter als alles, was machbar war. Tatsächlich ist die Versuchung sich zu übernehmen ein wichtiges Thema in Musils Satire auf die hemmungslos ehrgeizigen Träume, denen die Planer der Parallelaktion in seinem Roman nachhängen. Schon die bloße Vorstellung, dass Wiener und Berliner Enthusiasten im Jahr 1913 allen Ernstes planten, 1918 eine gemeinsame Jubiläumsfeier für Franz Joseph und Wilhelm II. auszurichten, die alles Dagewesene überbieten soll, verrät einen hoffnungslosen Mangel an Realitätsbezug. Musils Figuren, darunter nicht wenige Staatsbeamte, illustrieren geradezu parodistisch die Anfälligkeit des öster­reichischen Menschen für die Überschätzung seiner Möglichkeiten. Uns Heutigen mag es manchmal scheinen, dass die betont eleganten Gebäude, die überall im Reich entstanden, einen ähnlichen Geist der Selbstüberschätzung atmen. Das bedeutet freilich nicht, dass die Imagination, mit der es Architekten und Schriftstellern gelang, die Zwänge einer dicht geschichteten Gesellschaft zu überlisten, ihre Strahlkraft verloren hat. Achleitner lotet die systematischen Folgerungen, die sich aus der Metapher der Architektur als Sprache ergeben, in interessanter, aber nicht erschöpfender Weise aus  ; Methodologie ist nicht seine Stärke. So behauptet er nicht, dass Architektur tatsächlich eine Bildersprache oder eine visuelle Sprache ist, für ihn manifestieren sich in ihr bloß »Ebenen der Kommunikation, die mit sprachlichen Ebenen verwandt sind«.32 Seiner Ansicht nach lässt sich Architektur lesen, als wäre sie eine Sprache, ohne jedoch wirklich eine zu sein. Ähnlich Heimito von Doderer, der in Die Strudlhofstiege (1951) in hymnischen Tönen vom »Meister der Stiegen« spricht, der die gleichnamige Stiege im Jahr 1910 konzipiert hat als wäre sie eine »lange, ausführliche Phrase«.33 Vor der Kulisse dieser »mit Prunk herabkaskadierenden Stiege« findet das gesellschaftliche Auf und Ab dieses Romans statt. Wesentlicher ist, wie Achleitner festhält, dass von den nonverbalen Künsten viel weniger Bedrohung für das Überleben der Habsburger Monarchie ausging als von den ver31 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Adolf Frisé (Hg.) (Reinbek bei Hamburg  : Rowohlt, 1978), Kapitel 21, 22, 36, 37, 44. 32 Achleitner, »The Pluralism«, S. 94. 33 Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (München  : Biederstein Verlag, 1951), S. 331.

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balen – und dies gilt besonders für Architektur und Musik. Das Regime wusste sehr genau, dass es sicherer war, Kunst und Musik zu unterstützen als Literatur oder Philosophie. Die zuletzt genannten »rationaleren und politisch effektiveren Instrumente einer Kultur« konnten jederzeit in Ideologie und Satire kippen,34 was bei Architektur und Musik höchstens in der gutartigen Form der Operette oder der Weltausstellung wie Paris 1900 möglich war. Üppige Finanzierung ermöglichte die Ausbildung bildender Künstler im ganzen Reich und künstlerische Durchbrüchen in den sechs konkurrierenden regionalen Zentren, deren Künstler Elizabeth Clegg in ihrer wegweisenden Studie vergleicht.35 Mit der gleichen Berechtigung hätte Achleitner nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine politische Metapher für die Architektur entwickeln können.36 In einer seiner riskanteren Hypothesen behauptet Achleitner, die massiven Investitionen des Reiches in bildende Kunst hätten möglicherweise »ungewollt ein besonderes Interesse auf die Sprache gelenkt und auf das Sprachliche an sich, das jedenfalls Gegenstand der Forschung in Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse geworden sei«.37 Eine plausiblere Erklärung für die Priorität, die dem Philosophieren über Sprache zugestanden wurde, ist die Distanz zwischen den schwer verständlichen Dekreten des Regimes und den Versuchen der Untertanen, diese Arcana in die Alltagssprache zu übersetzen. Ein bekanntes Beispiel dafür findet sich in Kapitel 8 von Musils Mann ohne Eigenschaften, wo der Autor den zugegebenermaßen vergeblichen Versuch unternimmt, die Funktionsweise der kakanischen Verwaltung zu erklären. Während unklar bleiben wird, ob die Obsession öster­reichischer Denker mit der Analyse der Alltagssprache, wie Achleitner meint, mit der Präferenz des Regimes für die Förderung von Architektur und Musik zusammenhängt, ist es wahrscheinlich, dass diese Präferenz des Auftraggebers »ein breit gestreutes allgemeines Interesse an den semantischen Aspekten« dieser Künste weckte.38 Saxa loquuntur. Wenn Steine reden können, dann sind auch Gebäude der Sprache mächtig. Die Rolle der Bauwerke für die Verkörperung von Gemeinsamkeiten innerhalb der Doppelmonarchie hat in der jüngsten Vergangenheit zu Diskussionen darüber geführt, wie Gebäude Bedeutung ausdrücken. Moravánszky hat sich in seiner Kulturgeschichte der »konkurrierenden Visionen« genau dieses Themas angenommen. 34 Achleitner, »The Pluralism«, S. 94. 35 Elizabeth Clegg, Art, Design and Architecture in Central Europe 1890  –  1920 (New Haven CT / London  : Yale University Press, 2006). 36 So jedenfalls Matthew Rampley in seinem Artikel über die Politik der kaiserlichen Patronage der Volks­kunst. Siehe Rampley, »Art History and the Politics of Empire  : Rethinking the Vienna School«, Art Bulletin, 91  : 4 (2009), S. 446  –  462. 37 Achleitner, »The Pluralism«, S. 94. 38 Ebenda.



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Dabei hätte er genauso gut von »konkurrierenden Dramaturgien« sprechen können. Anthony Alofsin hat in dem Buch, zu dem wir gleich kommen werden, Ähnliches unternommen. Wenn also Achleitner Architektur mit dem Problem der Sprache verknüpft, dann liegt die Berechtigung dazu nicht so sehr in der Tatsache, dass Bauwerke von sich aus Interesse an einer Philosophie der Sprache wecken. Vielmehr haben sie ethnische Besonderheit in Stein nachgebildet zu einer Zeit, als für die entsprechenden Ethnizitäten kein eigener, eingegrenzter politischer Raum zur Verfügung stand. Sobald zum Beispiel die Tschechen ab 1918 ihre eigene Nation hatten, verzichteten sie bei ihren Bauwerken völlig auf Merkmale nationaler Romantik. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Architektur kurzerhand aus dem Dienst an der nationalen Identität entlassen. »Nach 1918«, stellt Maier fest, »fand ein stilistische Polarisierung statt. Auf die erste Nachkriegszeit, die noch für expressionistisches und fantasievoll-überschwäng­liches Design offen war, folgte die ernste Funktionalität der neuen Sachlichkeit, die der Mission der sozialdemokratischen Stadtverwaltungen entsprach.«39 Achleitner hat gezeigt – und das ist einer seiner wichtigsten Beiträge –, dass die Metapher von Architektur als Sprache wirksam blieb, solange die Doppelmonarchie bestand und kaum einen Moment länger. In einer Weise, die für das späte Habsburgerreich kennzeichnend war, versahen seine Architekten ihre Bauwerke mit einer sprachlichen Funktion. Bauwerke erreichten mit ihrer Sprache jedermann. Das geschriebene Wort war, in einem Reich mit fünfzehn Sprachen, dazu nicht in der Lage.

2.5 Anthony Alofsin und der »Kontextuelle Formalismus« Anthony Alofsin, ebenfalls Architekturhistoriker, nahm Achleitners Metapher beim Wort  : Dass die Metapher der Sprache ein Kernbestandteil seiner Weiterentwicklung von Moravánszkys Material ist, macht schon der Titel seines Werks, Architektur beim Wort nehmen. Die Sprache der Baukunst im Habsburgerreich und in seinen Nachfolge­staaten, 1867  –  1933 (2006), deutlich. Alofsin kämpfte bei der Entwicklung einer seinem Thema angemessenen Methodologie ebenfalls mit Schwierigkeiten. Er führt eine Unterscheidung ein zwischen Sprache und Stil  : Stil, so Alofsin, bedient sich eines »wiedererkenn- und wiederholbaren Motivrepertoires, angeordnet innerhalb einer konventionellen Syntax«.40 Die Permutationen wiedererkennbarer visu39 Charles S. Maier, »City, Empire, and Imperial Aftermath«, S. 37. 40 Anthony Alofsin, Architektur beim Wort nehmen. Die Sprache der Baukunst im Habsburgerreich und in seinen Nachfolgestaaten, 1867  –  1933. Aus dem Englischen von Brigitte Willinger und Wolfgang Astelbauer (Salzburg  : Anton Pustet, 2011). S. 20.

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eller Motive addieren sich zu einem Aide-Mémoire von Konventionen, deren Austauschbarkeit allerdings – und dies ist bedauerlich – ihre tiefer liegende Bedeutung überdecken kann, so dass diese »visuell nicht sofort wahrnehmbar ist«. Diese weniger leicht zugängliche »Sprache« der Architektur bezieht sich auf die politischen und sozialen Rollen, die Bauwerke spielen, und zu deren Grundvoraussetzungen die für Moravánszky so faszinierenden ideologischen Debatten gehören. Für Alofsin wie für Achleitner dient die Sprachmetapher der Behauptung, dass die Doppel­ monarchie das Interesse von Architekten an der Auslotung noch unerforschter Tiefenschichten, die jenseits der stilistischen Unterschiede liegen, befördert habe. Mit einiger Heftigkeit wehrt sich Alofsin gegen die postmodernistische These, Architektur sei »ein autonomes, selbstreflexives Zeichensystem«, das »nicht an soziale Konstrukte gebunden« sei.41 Stattdessen geht es ihm um die Wiederbelebung einer älteren, weniger technikzentrierten Art des Nachdenkens darüber, wie Bauwerke sich verschiedener kultureller Vokabularien bedienen, um von einer bestimmten Position innerhalb e­ iner vielschichtigen Gesellschaft über diese zu sprechen. Alofsins Interesse an der sozialen Konstruktion der Bedeutung der Architektur veranlasst ihn, eine hybride Methodologie vorzuschlagen. Sein auf Pluralität fokussierender »kontextueller Formalismus«, der ihn in eine Reihe mit Historikern der Doppelmonarchie wie Maier, Csáky und Vajda stellt, lässt ihn alle reduktiven Methodologien als letztlich ungeeignet für das Verständnis der habsburgischen Kultur verwerfen. »Anstatt Bauwerke in übersichtliche Kategorien einzuteilen, wie Historiker dies in einschränkender Weise getan haben, betont dieses Buch das breite Bedeutungsspektrum, das ein Gebäude zu vermitteln vermag.«42 Für Alofsin stellt, wie für die meisten Neuerer, die wir erwähnt haben, die Doppelmonarchie das Geschick der Historikerinnen und Historiker auf die Probe, mit Kontexten zu jonglieren und zwischen vielfältigen Bedeutungen genau zu differenzieren. Er könnte im Namen seiner Zeitgenossen – Weibel, Nemoianu, Kiss – und sogar für Vorgänger wie Hofmannsthal, Musil und Broch sprechen, wenn er sagt, »die Erforschung und Analyse dieser Faktoren führen von Frage zu Frage und bilden ein Netz, aus dem sich eine Geschichte ergibt. Dieses Netz hat keine von vornherein definierten Ränder, so dass die Geschichte scheinbar kein Ende hat.«43 Auch Robert Musil hätte das Habsburg-Dilemma des Kulturhistorikers kaum zutreffender beschreiben können. Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb der Doppelmonarchie zwingt uns, uns mit verschiedenen Versionen von Alofsins »Netz ohne vordefinierte Ränder« auseinander zu setzen. Ein antireduktives Unternehmen wie 41 Ebenda. 42 Ebenda, S. 22. 43 Ebenda.



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dieses kennt definitionsgemäß keinen Schlusspunkt. Die Aufgabe ist endlos. In diesem Sinn trifft auf die Kultur der Doppelmonarchie dasselbe zu wie auf viele ihrer Repräsentanten  : Sie selbst ist »unklassifizierbar«, erzwingt sie doch fortwährend die Erfindung neuer Kategorien. Anders können neu zu Tage getretene Ergebnisse ethnischer Vermischung nicht interpretiert werden, und auch ältere Vorstellungen müssen immer wieder mit neuem Leben erfüllt werden. Inwiefern ist also Architektur als Sprache für die Kultur der Doppelmonarchie bedeutsam  ? Wenn wir einsehen, dass Architektur (und Operette und Drama) Vokabularien der Kultur in den Debatten zwischen Ethnizitäten, Ideologen, Künstlern und Verwaltungsbeamten verankerten, dann sehen wir, dass individuelle Werke politische und soziale Bedeutungen entfalteten, die sämtliche Vorstellungen ihrer Schöpfer weit übertrafen. Aufgrund ihrer Verwurzelung in einer endlosen Abfolge von Schichten bieten künstlerische und literarische Produkte der Doppelmonarchie einen denkbar weiten Raum für postume Neuinterpretation. Wie Moritz Csákys Metapher der »Operette als Ideologie« eröffnet uns die Metapher der Architektur als Sprache einen Zugang zu einer grenzenlosen Fülle von Neuinterpretationen der betreffenden Werke. In der Welt von Musils Mann ohne Eigenschaften entstanden unter den Händen der Architekten Bauwerke, die – wie konnte es anders sein  ? – über zu viele Eigenschaften verfügen. Der ungebrochene Reiz, den die Kultur der Doppelmonarchie bis heute verströmt, hat wenigstens teilweise damit zu tun, dass ihre Schöpfer und zeitgenössischen Interpreten unmöglich um alle Bedeutungen wissen konnten, die sich in den um sie herum entstehenden Hybridisierungen verbargen. Der Umstand, dass kein Künstler oder Schriftsteller hoffen konnte, alle Ebenen seiner Schöpfungen ausloten zu können, bedeutet, dass es hier eine ungemein reizvolle Rolle für uns entfernte Nachfahren gibt als achtsame Exegeten des damals Unverstandenen. Die Metapher »Architektur als Sprache« sagt aus, dass wir Heutigen noch immer in einem Lernprozess stehen, in dem wir jene Kontexte deuten, in denen die Architekten ihre Erfindungsgabe auslebten. Alofsins hybride Methodologie des »kontextuellen Formalismus« hat, wie wir später sehen werden, für die Architektur dieselbe Funktion wie György M. Vajdas hybride »literarische Kulturgeschichte« für die Literatur und Peter Weibels hybride »dritte Kultur« für die Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst. Diese konzeptuellen Wegbereiter haben alle darum gerungen, die vielschichtigen Loyalitäten innerhalb der Doppelmonarchie beim Namen zu nennen. Niemand hat die Herausforderungen, die diese Aufgabe stellt, zutreffender beschrieben als Charles S. Maier.

Kapitel 3

Die mitteleuropäische Bildungsethik 3.1 Der theresianische Mensch Der Titel meines Buchs Der öster­reichische Mensch (2010) würde bei einer Übersetzung ins Englische wohl etliche Schwierigkeiten bereiten. »The Austrian Human Type« gibt die Stoßrichtung einigermaßen gut wieder  ; »the Austrian Human Being« wäre plump und »the Austrian Man« banal. Das Buch selbst protokolliert den Diskurs über die vielschichtigen Loyalitäten des öster­reichischen Menschen von Hermann Bahr und Robert Musil in der Zeit unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg, bis zu Friedrich Heer, Friedrich Torberg und dem Historiker Alphons Lhotsky in dem Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die Wahl des Titels war maßgebend, dass für die insgesamt zwei Dutzend Essayisten menschliche Eigenschaften – und nicht Eigenschaften der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Kunst – das Besondere an der hybriden Kultur Öster­reichs sind. Für diese deutsch-öster­reichischen Essayisten besteht die Quintessenz Öster­reichs, vor allen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leistungen, im Charakter des öster­reichischen Menschen. Diese menschlichen Eigenschaften lassen sich um drei Themen gruppieren  : Dienst an der idealisierten habsburgischen Dynastie, fehlende Identifikation mit einer territorialen Heimat und ein Gefühl der Notwendigkeit, zwischen Öster­ reichertum und Deutsch- oder Preußentum zu unterscheiden. Der Dichter und Dramatiker Hugo von Hofmannsthal hat diese Ideale, die einer durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedingten neuen Rolle Öster­reichs entsprachen, mit geradezu ausufernder Ausführlichkeit beschrieben. In etwa einem Dutzend feinsinniger Essays, geschrieben zwischen Ende 1914 und dem Ende der Zwanzigerjahre, hat dieser exemplarische homme de lettres den Stammbaum des öster­reichischen Menschen nachgezeichnet.44 Bereits im Dezember 1914 führte er diesen auf Prinz Eugen von Savoyen (1663  –  1736) zurück, den in Savoyen geborenen, französisch erzogenen Oberkommandierenden der habsburgischen »Reconquista« von Zentral- und Ostungarn zwischen 1686 und den 1720ern. Eugen vereinigte in sich 44 Vgl. die Diskussion in Johnston, Der öster­reichische Mensch, S. 47  –  51, 64  –  79, 90  –  101, 147  –  153, 169  –  175. Eine scharfsinnige Interpretation bei Katherine Arens, »Hofmannsthal’s Essays  : Conser­ vation as Revolution«, in Thomas A. Kovach (Hg.), A Companion to the Works of Hugo von Hof­ manns­­thal (Rochester NY  : Camden House, 2002), S. 181  –  202. Siehe auch Heinz Lunzer, Hofmannsthals politische Tätigkeit in den Jahren 1914  –  1917 (Frankfurt a. M. / Bern  : P. D. Lang, 1981).



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eine ganze Reihe von Vorzügen  : fremde Abstammung, unerschütterliche Entschlossenheit, der habsburgischen Dynastie zu dienen, großzügiges Mäzenatentum und einen gesamteuropäischen Blickwinkel. Dass er sich in die Dienste des Hauses Habsburg begab, machte in Wien Ideale wie ritterliche Lehenstreue und katholische Inbrunst heimisch, die am Hof von Versailles ausgebildet worden waren. In Hofmannsthals Porträt war Prinz Eugen in erster Linie ein katholischer Paneuropäer, in zweiter ein Diener der Habsburger und in dritter Öster­reicher. Seine Verkörperung des öster­reichischen Menschen machte, wie Hofmannsthal meint, diese drei Eigenschaften – und, so ist man versucht zu sagen, ihre Reihung – vorbildlich für die nächsten zehn Generationen von Öster­reichern. Zweieinhalb Jahre später sah Hofmannsthal die Kaiserin Maria Theresia (1740  –   1780) als Urheberin der Institutionalisierung des öster­reichischen Menschen. Sie habe es verstanden, mit ihrem weiblichen Charme hunderte Aristokraten zu treuem Dienst an ihrem Reich zu verpflichten. Wohl unter dem Einfluss Hermann Bahrs zeigte sich auch Hofmannsthal begeistert darüber, wie die junge Kaiserin 1741 bei der Schwurzeremonie in Pressburg die ungarischen Magnaten in einem Akt, der ihrem Eigeninteresse zuwiderlief, dazu bewog, sich und ihren Reichtum für die Verteidigung Schlesiens zur Verfügung zu stellen. (Freilich konnten auch sie nicht verhindern, dass Friedrich der Große sich schließlich in den Besitz dieser reichen Region setzte, die bis dahin das nördlichste Fürstentum des Hauses Habsburg gewesen war.) Bahr und Hofmannsthal sahen in der Kaiserin einen seltenen Ausbund von Tugenden  : Takt, strategischer Weitblick, Festigkeit im katholischen Glauben und Eifer für eine Verwaltungsreform waren ihr eigen. Um ihre Ziele zu verwirklichen, musste die Kaiserin nicht nur hunderte Adelige aus Öster­reich, BöhmenMähren, Ungarn, Kroatien und Norditalien auf ihre Seite ziehen, sondern auch selbst die Charaktereigenschaften verkörpern, an deren Verbreitung im Reich ihr gelegen war. Die Inanspruchnahme des öster­reichischen Menschen wurde auf diese Weise sowohl eine politische Notwendigkeit als auch eine Verkörperung derselben. Durch das theresianische Regime des aufgeklärten Absolutismus wurde Prinz Eugen als Personifikation des paneuropäischen katholischen Adels an einer Schlüsselstelle der habsburgischen Identität verankert. Die Rolle, die Hofmannsthal in seiner Definition des Öster­reichertums Maria Theresia zuschreibt, rechtfertigt die Bezeichnung »der theresianische Mensch« für seine Version dieses Ideals. Der theresianische Mensch sollte nach Hofmannsthals Willen während des Ersten Weltkriegs mehrere ideologische Funktionen erfüllen. Zum einen diente dieses Ideal dazu, als Kriegsziele der Doppelmonarchie solche zu definieren, die über jede Kritik erhaben waren  ; es sollte zum anderen aber auch eine Trennlinie zwischen den Öster­reichern und ihren preußischen Kriegsverbündeten ziehen. Demnach zog die Doppelmonarchie nicht in den Krieg, um den preußischen Militarismus zu stärken,

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sondern um der milden, taktvollen Denkungsart des öster­reichischen Menschen in Mitteleuropa zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen. Gerade ein Krieg bot den Öster­reichern Gelegenheit, nach Maria Theresias Vorbild die Härte und Willkür preußischer Effizienz zu mildern und auszugleichen. Öster­reichs theresianische Mission bestand darin, die hyperprotestantische Strenge Preußens zu mildern.45 Ein historischer Roman des 1932 geborenen slowakischen Schriftstellers Anton Hykisch zeigt noch überzeugender als dies Hofmannsthal selbst gelungen war, wie man sich das Agieren dieser Prototypen vorzustellen hat.46 1984 in slowakischer Sprache und 1988 in deutscher Übersetzung erschienen, gibt der Roman Gespräche wieder, wie die Kaiserin sie mit ihrem Gemahl Franz Stephan (1708  –  1765), ihrem Sohn Joseph II. (1741  –  1790) und den Dienstaristokraten an ihrem Hof, besonders mit dem Diplomaten Wenzel Graf Kaunitz (1712  –  1790), geführt haben mochte. Hykisch zeigt, mit welchem Geschick diese außergewöhnliche Frau Lösungen im Sinn eines aufgeklärten Katholizismus auszuhandeln verstand. Er porträtiert sie als Stifterin der Grundlagen von Öster­reichs nachmaliger kultureller Blüte. So hat tatsächlich ein Schriftsteller in Bratislava Mitte der 1980er seine Bewunderung für den Prototyp des theresianischen Menschen und für jene Überlebensstrategien ausgedrückt, die Maria Theresia idealtypisch vorführte. Hykischs Roman ist ein weiterer Beweis dafür, dass Enklaven der Kultur der Doppelmonarchie sich in der Donauregion weit länger am Leben erhalten haben als manche Beobachter zugestehen wollen. Zwischen 1915 und 1918 schrieb Hofmannsthal Kriegspropaganda unter dem Deckmantel literarischer Grübeleien, ohne die bevorstehende Katastrophe zur Kenntnis nehmen zu wollen. Er rekrutierte Franz Grillparzer für sein Anliegen, den öster­reichischen Typus zu definieren, war dieser doch in seinen Augen der Inbegriff des paneuropäischen, katholischen Dieners hoher Ideale. Als Dramatiker hatte der unglückliche Grillparzer frühe Verkörperungen des öster­reichischen Typus auf die Bühne gebracht, wie Kaiser Rudolf I. in König Ottokars Glück und Ende (1825) und besonders Rudolf II. in Ein Bruderzwist in Habsburg (geschrieben 1848, veröffentlicht 1872). 45 Hugo von Hofmannsthal zählte die Unterschiede auf in »Preuße und Öster­reicher  : Ein Schema« [25. Dezember 1917], in Hofmannsthal, Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II 1914  –  1924 (Frankfurt a. M.: Fischer, 1979), S.  459  –  461. Dieser Band enthält die Essays über Prinz Eugen (25. Dezember 1914), 2  : 375  –  383, und über Maria Theresia (13. Mai 1917), 2  : 443  –  453. 46 Anton Hykisch, Es lebe die Königin. Aus dem Slowakischen von Gustav Just (Berlin / Weimar  : Aufbau, 1988). Zwischen 1993 und 1997 war Hykisch erster Kulturattaché der Slowakei in K ­ anada. Zu andern die Kaiserin betreffenden Topoi, unter Berücksichtigung der Literatur bis in die 1990er, siehe Werner Suppanz, »Maria Theresia«, in Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae. I. Menschen, Mythen, Zeiten (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik, 2004), S. 26  –  47, und Werner Telesko, Maria Theresia. Ein europäischer Mythos (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 2012).



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Die Niederlage von 1918 zwang Hofmannsthal zu einem Umbau seiner Argumentation. Er wollte jetzt stärkend auf das Lebensgefühl in der auf einen Rest des alten Reiches geschrumpften Republik einwirken. Die Öster­reicher hätten trotz allem Grund, stolz zu sein auf ihre neuerliche Sendung als Haupterben der hohen Ideale, die Prinz Eugen, Maria Theresia und Grillparzer vorgelebt hatten. Der Dichter schuf Platz für seine paneuropäischen ritterlichen Werte einer Dienstaristokratie in seiner Vision für die Salzburger Festspiele, die er 1920 mitbegründete, in seinen Dramen und in seiner Verteidigung von Öster­reichs handwerklichen Erzeugern von Luxusgütern, deren auf Handarbeit gründendes Ethos seiner eigenen Nostalgie für eine präindustrielle Lebensform entsprach. Öster­reich, wenn auch besiegt und mittlerweile ein Kleinstaat, muss die altehrwürdigen Werte paneuropäischer Katholizität in einer Welt hochhalten, die diese sonst völlig aus den Augen verlieren könnte. Mein Buch über den öster­reichischen Menschen behandelt unter anderem mehrere Publizisten, die in Hofmannsthals Nachfolge sich um die weitere Vertiefung dieses Verteidigungsmythos bemühten. Dies gilt besonders für den Sozialhistoriker Böhmens Hugo Hassinger, der den Ausdruck »der öster­reichische Mensch« im Jahr 1925 geprägt hat, um damit eine gewisse Spielart von »menschlichem Kapital« zu bezeichnen. Die höheren Staatsbeamten des Habsburgerreiches hatten, so Hassinger, indem sie zwischen den verschiedenen Ethnizitäten besonders in Böhmen und Mähren vermittelten, sozialen Zement bereitgestellt. Diese Repräsentanten des öster­reichischen Menschen im höheren Staatsdienst waren das, was wir heute ein »soziales Kapital« nennen, das sich dazu eignete, ethnische Rivalitäten zu zügeln. Hassinger zitiert zwar Hofmannsthals Essays nicht, aber seine Staatsbeamten wurden ganz offenbar von denselben Werten bewegt, die der Dichter bei den Nacheiferern des theresianischen Ideals am Werk sah. Dieses soziale Kapital hatte als Spezialität der Doppelmonarchie den entscheidenden Unterschied zwischen Öster­reich und Preußen bzw. Bismarcks Zweitem Reich ausgemacht und war allgegenwärtig im öster­reichisch-ungarischen Reich als Bindemittel zwischen den etwa fünfzehn Sprachen und Ethnizitäten. Die Doppelmonarchie hatte eine ganz besondere Spielart menschlichen Kapitals benötigt, und in Gestalt des theresianischen Menschen war dieses vorhanden gewesen. An der Vision von Hofmannsthal und Hassinger ist etwas ungemein Hochfliegendes. Ihr Bild des öster­reichischen Menschen, der den aus dem 18. Jahrhundert stammenden höfischen Idealen des Hauses Habsburg unverbrüchlich die Treue bewahrt, hat etwas Ungeerdetes, fast Ätherisches. Auf jemanden, der Öster­reich als Idee bewundert, mag dieser Verteidigungsmythos reizvoll wirken  ; aber es fehlt ihm jede Strenge, wie wir sie in den Sozialwissenschaften erwarten. Diese Vision ist doch kaum mehr als ein literarisches Surrogat anstelle einer dringend benötigten soziologischen Analyse. Man ist versucht, Hofmannsthals Formulierung einer the-

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resianischen Utopie zynisch damit abzutun, dass hier ästhetische Fantasie mit soziologischer Analyse verwechselt wird. Was ist der theresianische Mensch letztlich anderes als das Machwerk eines ehemals symbolistischen Dichters, der in einigen höfischen Figuren die Personifikation seiner Wunschvorstellungen zu sehen meinte  ? In dieser Sicht gehört der theresianische Mensch auf die Bühne, hauptsächlich vielleicht auf die Opernbühne oder noch besser  : auf die der Operette. In einem historischen Diskurs hat er jedenfalls nichts verloren. Eine Absage an den theresianischen Menschen und seine Einstufung als ein rhetorisches Konstrukt gewinnen an Stringenz, wenn man sich die Neuauflage dieser Typologie ansieht, die der Dichter Anton Wildgans – zu einer Zeit übrigens, in der er hartnäckig als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gehandelt wurde – in einer Radioansprache von 1930 unter dem Titel Der öster­reichische Mensch brachte. Beim besten Willen wird man darin nicht mehr finden als eine Ausschmückung Hofmannsthalscher Themen.47 Die Alpenrepublik entpuppt sich hier als Festung einer paneuropäischen katholischen Kultur. Das Erbe des theresianischen Menschen ist nicht tot – es lebt im grandiosen Theater, der grandiosen Literatur, Musik und Gelehrsamkeit, die der Republik von der verblichenen Doppelmonarchie zugewachsen sind. Die Republik Öster­reich hat allen Grund auf sich stolz zu sein. Sie ist eine Art Doppelmonarchie, wenn auch im kleinen Format, wo theresianische Höhenflüge tatsächlich noch stattfinden – im Gegensatz zum übrigen übermäßig protestantisierten, kapitalistischen Europa. Diesem Lobgesang wird man eine gewisse euphorisierende Wirkung – um die es Wildgans ja auch vordringlich ging – nicht absprechen können. Von der Substanz her ist er freilich unergiebig, da der Dichter sozialwissenschaftlich und philosophisch völlig unbeschlagen war. Es fehlte ihm einfach das intellektuelle Rüstzeug, das notwendig gewesen wäre, um die fortdauernde Relevanz theresianischer Verbindlichkeit für das Europa der Zwischenkriegszeit aufzuzeigen. Ohne soziologisches analytisches Rahmenwerk für seine rhetorische Akrobatik blieb ihm letztlich nichts als Nostalgie. Dabei schadet ihm nichts so sehr wie seine eigentliche Stärke  : seine poetische Gabe. Diese lässt ihn in genau in der enttäuschenden Rolle auftreten, die nur allzu viele Apologeten des späten Habsburgerreiches schon vor ihm eingenommen hatten. Mit weltmännischer Gewandtheit bot er in seinem Verteidigungsmythos Fantasie und keine Fakten. Dass Hofmannsthals Einsichten doch auch Unterstützung von sozialwissenschaftlicher Seite erhielten, ist uns nicht mehr unmittelbar gegenwärtig. Oskar 47 Eine äußerst kritische Einschätzung von Wildgans’ Standpunkt im Ersten Weltkrieg bei Albert Berger, »Lyrische Zurüstung der ›Öster­reich‹-Idee  : Anton Wildgans und Hugo von Hofmannsthal«, in Klaus Amann und Hubert Lengauer (Hg.), Öster­reich und der Große Krieg, 1914  –  1918  : Die andere Seite der Geschichte (Wien  : Christian Brandstätter, 1989), S. 144  –  152.



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Benda (1886  –  1954), ein in Ungarn geborener Erziehungs- und Literaturwissenschaftler, ist heute völlig vergessen. In seinem Buch Die öster­reichische Kulturidee in Staat und Erziehung (1936),48 in dem er sich auf den deutschen Sozialkulturhistoriker Karl Lamprecht (1856  –  1915) und dessen Typologie stützt, konstruiert Benda einige Typen, die angeblich in Öster­reich florierten. Nur einer dieser Typen, der öster­reichische Dienstaristokrat, ist eine spezifisch öster­reichische Erscheinung, die im übrigen Mitteleuropa nicht zu finden ist. Andere Länder können auf ihren Erbadel verweisen, auf Geldaristokraten und adelige Dandys  ; dem Habsburgerreich blieb es vorbehalten, die Dienstaristokraten zum Rückgrat seiner Infrastruktur zu machen. Benda sieht im theresianischen Menschen – unbedingt loyal, nicht in einer spezifischen Region verwurzelt und über außerordentliche Toleranz und Empathie verfügend – die Form des sozialen Kapitals, die das Haus Habsburg befähigte, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs fünfzehn verschiedene Ethnizitäten zu regieren. Als kultureller Typus unterschied sich der öster­reichische Dienstaristokrat von seinem Gegenstück, dem preußischen Junker, indem er keinen Landbesitz hatte. Während die Junker ihre ererbten Ländereien in Ostpreußen hatten, auf die sie sich notfalls zurückziehen konnten, war er völlig abhängig von seiner Anstellung am Kaiserhaus. Da den öster­reichischen Staatsdienern und Offizieren nur die Ressourcen zur Verfügung standen, zu denen sie ihr Dienst berechtigte, waren sie auf Gedeih und Verderb dem Haus Habsburg ausgeliefert und mussten in vielen Fällen ein unstetes Wanderleben von einer Provinzhauptstadt oder Garnisonstadt zur andern auf sich nehmen. Zu einer vagabundierenden Existenz verurteilt, wie wir sie aus Joseph Roths Radetzkymarsch (1932) kennen, war der öster­reichischen Dienst­elite jene Ortsverbundenheit fremd, die ererbter Grundbesitz mit sich bringt. Benda führt ein Gefühl der Entwurzelung und der Heimatlosigkeit als ein Grundthema öster­reichischer Romane auf eben diesen Umstand zurück. Schriftsteller wie Saar, Schnitzler, Bahr, Musil, Roth und Doderer verarbeiteten dieses Thema in einer Literatur, in der Entfremdung, Vergänglichkeit und die ultimative Vergänglichkeit, der Tod, eine wesentliche Rolle spielen. Der Schriftsteller, der – so Benda – die Heimatlosigkeit der habsburgischen Dienstelite am anrührendsten verkörperte, war Rainer Maria Rilke. Erst im Alter von fünfundvierzig Jahren ließ Rilke sich in der Schweiz nieder  ; bis dahin hatte er nirgends Wurzeln geschlagen und am allerwenigsten in der Doppelmonarchie.49 Ungarn, dessen Tausendjahr-Feier im Jahr 1896 er als »carnevalartig« abqualifi48 Oskar Benda, Die öster­reichische Kulturidee in Staat und Erziehung (Wien  : Saturn, 1936). 49 Zu Rilkes Beziehungen zu verschiedenen europäischen Ländern (außer zu Ungarn) siehe die neunzehn Essays in Peter Demetz, Joachim W. Storck und Hans Dieter Zimmermann (Hg.), Rilke. Ein europäischer Dichter aus Prag (Würzburg  : Königshausen und Neumann, 1998).

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zierte, übte keinerlei Anziehung auf ihn aus, ebenso wenig wie England und Griechenland.50 Zwischen 1910 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte der Dichter ein Wanderleben, das ihn zwischen mehr als vierzig Orten in neun verschiedenen Ländern, drei davon in Nordafrika, umherirren ließ. Der berühmteste dieser Aufenthalte war natürlich der auf Schloss Duino nördlich von Triest, wo er sieben Monate, von Oktober 1911 bis zum Mai 1912 zubrachte. Diese Zeit ist durch die ersten zwei der zehn Duineser Elegien, an denen Rilke in unregelmäßigen Abständen vom Jänner 1912 bis Februar 1922 arbeitete, verewigt. Die Gedichte, um es mit den Worten des polnischen Dichters Adam Zagajewski zu sagen, »schaffen einen Ort, der nie seine nationale Flagge oder Hymne haben wird  ; es ist der Ort des Menschen an sich«.51 Als ewig Suchender offenbart sich Rilke als Abkömmling der öster­reichischen Dienstelite. Sein Vater musste aufgrund einer Verletzung früh seinen Abschied als Berufsoffizier nehmen, sein Onkel führte einen Adelstitel. Heimatlos überall und überwachsam, wo immer er sich gerade aufhielt, gelang es dem Dichter erst spät im Leben, eine Bleibe für sich zu finden. Im Gegenzug befähigte ihn seine Ruhelosigkeit zu einer unerhörten Synthese von Materialien aus dem gesamten europäischen Einzugsbereich. Das Ethos des theresianischen Mensch trug Rilke in neue visionäre Gefilde. In seinen Dichtungen auf Deutsch und Französisch nahm dieser heimatlose Öster­reicher es als Lebensaufgabe auf sich, eine Heimat aus Worten zu schaffen – nicht einmal, sondern tausende Male. Unter dem Druck der Heimatlosigkeit entstand eine Leidenschaft für das Bauen von Nistplätzen aus Worten, ein Öster­reich der poiesis. Auch in Oskar Bendas Versuch, das Wesen des Öster­reichers zu beschreiben, spielen selbstloses Wollen und edle Denkungsweise eine wichtige Rolle. Seine Typologie ist trotzdem befriedigender als alles, was ihr voranging, da sie sich ihres Status als ein Konstrukt der soziologischen Imagination bewusst bleibt. Sie besticht durch ihre Kühnheit als Theorie, es fehlt ihr aber an historischem Detail. Angenommen, die öster­reichische Dienstelite stellte für das Reich in seiner Spätzeit ein wertvolles soziales Kapital dar, wie sah dann die Erziehung dieser Elite aus  ? Wer initiierte diese Tradition der Einimpfung gesamteuropäischer katholischer Werte  ? Wer hat ihre Einübung institutionalisiert  ? Und eine besonders schwierige Frage  : 50 »Carnevalartige National-Gestalten, in verschnürten pompösen Costümen … eine Fülle von Eindrücken aber ohne Plastik, alle Gestalten wie Typen und Statisten.« Rilke, Brief an Baronesse Láska van Oestéren aus dem Jahr 1896, zitiert in Ferenc Szasz, »Rainer Maria Rilke oder der Versuch, Kakanien zu entfliehen«, in Joachim W. Storck (Hg.), Rainer Maria Rilke und Öster­reich. Symposion im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes ’83 Linz (Linz  : Bruckner Haus, 1986), S. 17  –  24, insbes. 18. 51 Adam Zagajewski, »Introduction  : Rereading Rilke«, in The Poetry of Rilke, übersetzt von Edward Snow (New York  : North Point Press, 2009), S. vii–xxviii, insbes. xvii.



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Warum büßten diese Garanten der Langlebigkeit des Reiches ihre Wirksamkeit ab 1880 in zunehmend katastrophaler Weise ein  ? Bendas analytischer Durchbruch gibt der historischen Forschung die dringende Aufgabe vor, den Rahmen, den seine Kategorien skizzieren, mit Detail zu füllen.52 Sehen wir uns zunächst die Frage an, ob die Mitglieder der theresianischen Diensteliten in Ungarn ebenso effektiv funktionierten, wie man ihnen das in Öster­ reich attestiert. Mindestens in einem Fall, für József Eötvös (1813  –  1871), wird dies einhellig bejaht. Eötvös war, wie noch genauer auszuführen sein wird, ein brillanter Vertreter der von Virgil Nemoianu so genannten mitteleuropäischen Bildungsethik. Es war seine Leistung, dass diese Ethik in Ungarns Erziehungssystem nach 1850 verankert wurde. In den Romanen, die Eötvös in den 1840ern schrieb, leben, wie Gábor Gángó erst kürzlich erklärt hat, »Personen edler und aristokratischer Abstammung … in einem sozialen Status des Dazwischen«, der die doppelte Identität des uns bekannten öster­reichischen Menschen in Ungarn widerspiegelt. Bis 1848 mussten solche Personen zugleich als Deutsche und als Ungarn funktionieren.53 Wie andere hervorragende Vertreter des Dienstideals unterschätzte Eötvös »die emotionalen Auswirkungen von Religion und Nationalismus … und versuchte, Ungarns nationalen und konfessionellen Problemen mit den KonfliktmanagementStrategien des politischen Liberalismus zu Leibe zu rücken«.54 Diese knappe Formel beschreibt die Schwierigkeiten, mit denen die Staatsdiener zu kämpfen hatten. Die Achillesferse des öster­reichischen Menschen, wie wir gleich sehen werden, war die Fehleinschätzung, Verwaltungsbeamte seien in der Lage, interethnische Konflikte zu befrieden ohne eine der beteiligten Seiten zu bevorzugen. Nur unter Missachtung dieser Fehleinschätzung konnten Hofmannsthal, Hassinger, Wildgans und Benda auf der Suche nach dem, was wir heute die öster­ reichische Identität nennen würden, ihren essayistischen Diskurs entfalten. Selbstverständlich ist es notwendig, die Schwächen in ihrer Argumentation aufzuzei52 Beispiele sind u. a. Lothar Höbelt, »Das Problem der konservativen Eliten in Öster­reich-Ungarn«, in Jürgen Nautz und Richard Vahrenkemp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse Umwelt Wirkungen (Wien / Köln / Graz  : Böhlau, 1993), S. 777  –  787, und Ernst Bruckmüller, »Was There a ›Habsburg Society‹ in Austria-Hungary  ?« Austrian History Yearbook, 37 (2006), S. 1  –  16. 53 Gábor Gángó, »Joseph Eötvös«, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th Centuries, 4 Bde. (Amsterdam / Philadelphia PA  : John Benjamins, 2004  –  2010), 4 (2010), S. 521  –  526, insbes. 523. Zu Eötvös siehe auch D. Mervyn Jones, Five Hungarian Writers (Oxford  : Clarendon Press, 1966), S. 160  –  228, und Tibor Frank, »Acts of Creation  : The Eötvös Family and the Rise of Science Education in Hungary«, in Mitchell G. Ash und Jan Surman (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848  –  1918 (Houndmills, Basingstoke / New York  : Palgrave Macmillan, 2012), S. 113  –  137. 54 Gángó, »Joseph Eötvös«, S. 523. Siehe oben, Anm. 53.

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gen, aber man sollte sich dennoch hüten, ihre Leistung insgesamt kleinreden zu wollen. Jemand musste diese Aufgabe leisten  ; sie können nichts dafür, dass kein Öster­reicher des 19. Jahrhunderts die Herausforderung früh genug aufgegriffen hat. Erst 1918 und teilweise noch viel später entwickelten die Deutsch-Öster­reicher ihre e­ igene ethnische Ideologie. Es war dabei für sie von Nachteil, dass ihnen kein Diskurs zu Gebote stand, der mit der Selbstbeschreibung vergleichbar gewesen wäre, die von den Ungarn, in erster Linie von den Calvinisten unter ihnen, seit dem 16. Jahrhundert rund um eine »Nationalreligion« konfiguriert worden war.55 In seinem Essay zum Ungarnaufstand des Jahres 1956 fasst Stephen Vizinczey (geb. 1933) diese Nationalreligion zusammen. »Die Geschichte unserer Niederlagen und unseres Überlebens dient uns, wie auch den Juden, als eine Art Religion  ; unsere Selbstachtung baut darauf auf  ; unsere Köpfe sind voll von Kalamitäten, die uns trotzdem nicht umgebracht haben … Wir sind richtig stolz darauf, dass wir die Invasion der Tataren (1241) überdauert haben, die türkische Besatzung (1526  –  1699), die öster­reichische Besatzung (1711  –  1918) und die Besatzung durch die Deutschen (1944  –  45) … Die Ungarn glauben an den Zerfall der Macht, an ihre Rolle als widerspenstige Untertanen und daran, dass sie die Starken für ihre Eroberungen zur Kasse bitten sollen.«56 Keine dieser Aussagen ist so auf die Deutsch-Öster­reicher anwendbar. Von einer ähnlich trotzigen Haltung zeugt der autobiografische Roman, den der von Béla Bartók bewunderte Zsigmond Móricz (1879  –  1942) über seine Zeit in den 1890er Jahren am calvinistischen Kollegium in Debrecen schrieb. Darin räsonniert ein Geschichtslehrer ganz ähnlich wie Stephen Vizinczey über Ungarns National­ religion, erzählt Legenden über die Magyaren und fragt verzweifelt  : »Mit wem sollen wir uns verbünden  ? Es gibt niemand, mit dem wir auch nur ein Wort, auch nur einen Funken von Sprache gemeinsam haben, mit dem wir auch nur einen Tropfen Blut teilen. Ein Ungar könnte jede beliebige Sprache auf der Welt perfekt meistern, es gibt aber keinen einzigen Nicht-Ungarn, der unsere Sprache so gut erlernen könnte, dass man ihn für einen Einheimischen halten würde.«57 Wie sehr diese 55 József Szili, »Nation-Religion in Nineteenth-Century Hungarian Poetry«, Hungarian Studies, 16  :1 (2002), S.  3  –  28, und Szili, »Westward Hoe or Half-Way Between Eastern and Western Europe«, Neohelicon, 28  :2 (2006), S. 247  –  261. Zu den ungarischen calvinistischen Dichtern, die eine entscheidende Rolle in Szilis Analyse einer von der Bibel inspirierten »Nationalreligion« spielten, gehören Ferenc Kölcsey, János Arany und Pastor Mihály Tompa. Öster­reich hat keine vergleichbaren Schriftsteller und kein vergleichbares Glaubenssystem hervorgebracht. 56 Stephen Vizinczey, »Commentary on a Poem« [1976], in Vizinczey, Truth and Lies in Literature. Essays and Reviews (London  : Hamish Hamilton, 1986), S. 322  –  339, insbes. 324. 57 Zsigmond Móricz, Be Faithful Unto Death (Budapest / London / New York  : Central European University Press, 1995), Stephen Vizinczeys Übersetzung von Légy jó mindhalálig (1921), S. 174  –  185, insbes. 181.



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sprachliche und kulturelle Isolation nach 1870 als irritierend empfunden wurde, konnten sich nur wenige Deutsch-Öster­reicher vorstellen. Ihr Problem war ein diametral entgegengesetztes. Ihre Kultur war der des dynamischen Deutschen Reiches im Westen und Norden zu ähnlich und Analoges galt für den deutschsprachigen Teil der Schweiz. Die Ungarn hatten keine Geschwister, die Öster­reicher zu viele. Die Rolle der Calvinisten bei der Entfaltung des ungarischen Volksbewusstseins legt nahe, dass die kulturelle Kraftlosigkeit der Protestanten in Öster­reich zur Verzögerung der Debatte über eine deutsch-öster­reichische Eigenart beigetragen hat. Es gab einfach zu wenige aufmüpfige Protestanten, denen daran lag, mit den Unterschieden zwischen den Öster­reichern und den übrigen Deutschen vorzupreschen. In jedem Fall nahm der Diskurs über den öster­reichischen Menschen erst zum spätest möglichen Zeitpunkt Fahrt auf, als es schon zu spät war, der Doppelmonarchie neuen Glauben an sich selbst einzuhauchen. Die dafür grundlegenden Essays entstanden unter dem Eindruck eines verheerenden Krieges oder unmittelbar nach einer nicht vorhergesehenen Niederlage. Man kann nur staunen, dass die Schriftsteller unter diesen Umständen immerhin zu einer gewissen Stringenz fanden und muss sie nicht in erster Linie für ihre sozialwissenschaftlichen Unzulänglichkeiten tadeln. Die postmoderne kritische Theorie wird ihre Ideologie als Versuch sehen wollen, einen idealen Verhaltenskodex zu perpetuieren, den sie an Staatsdienern und Offizieren in der Spätzeit des Habsburgerreiches beobachtet hatten. Diese Ideologie stellt ein Ethos in den Vordergrund, das zu seiner Blütezeit weitgehend unausgesprochen geblieben war, das aber nach 1918 wiederbelebt werden konnte, um die Moral der neuen Republik Öster­reich zu unterfüttern. Das Konstrukt des öster­ reichischen Menschen sicherte ein gewisses Maß an kultureller Kontinuität zwischen den letzten Tagen des Reiches und den ersten Jahrzehnten der Republik. Es gehört somit zu den Elementen des Weiterlebens des Reiches nach 1918, ein Thema, das in diesem Buch immer wieder anklingt.

3.2 Die Gindely-Illusion Es wäre verfehlt, wollte man annehmen, dass die Faszination für den öster­reichi­ schen Menschen völlig zum Erliegen gekommen sei. Das Gegenteil ist der Fall. In den 1980ern sponserte zum Beispiel das Institut für Geschichte an der Universität Wien eine alljährliche Vorlesung zum Thema des ideologischen Engagements für transnationale Ideale, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten des Habsburgerreiches manifestiert hatten. Zwischen 1979 und 1991 begleiteten diese Vorlesungen die Verleihung des Anton-Gindely-Preises an einen öster­reichischen Historiker oder

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an eine öster­reichische Historikerin, dessen oder deren Werk in den Augen der Jury wesentlich dazu beigetragen hatte, das im verschwundenen Reich florierende Ideal transnationaler Identität zu erneuern.58 Wer war Anton Gindely (1829  –  1892) und warum fiel die Wahl gerade auf ihn  ? Sein Vater, so Brigitte Hamann in der ersten Gindely-Vorlesung (1979), war ein Donauschwabe aus Debrecen, seine Mutter ein tschechisches Dienstmädchen aus Prag. Es wird schwerfallen, eine schlagendere Illustration dafür zu finden, wie Mischehen verschiedene kulturelle Stränge miteinander verbinden. Nach seinem Studium in Prag identifizierte sich der Historiker mit der kurzlebigen »bohemistischen« Bewegung, die zwischen 1820 und 1848 das Ziel verfolgte, deutsch-böhmische und tschechische Traditionen zu einer entnationalisierten »böhmischen« Identität zu verschmelzen. Ungeachtet der offenkundigen Vergeblichkeit seines Versuches, der nationalistischen Begeisterung gegenzusteuern, blieb Gindely hartnäckig den Idealen dieses flüchtigen Experiments transnationaler Kooperation treu. Mit andern Worten, er lebte bis zur Neige das aus, was Franz Werfel im Jahr 1938 »das Opfer der Nationalität« durch den öster­reichischen Menschen nannte, ja man wird sogar sagen können, dass er wesentlich zur Mythisierung dieses Konzeptes beigetragen hat. Als Geschichtslehrer von Kronprinz Rudolf Mitte der 1870er Jahre vermittelte Gindely diesem seine eigene transnationale Denkweise. Dann nahm sein Leben eine tragische Wende. 1882 sprach er sich heftig gegen die bevorstehende Teilung der Karls-Universität in einen deutschsprachigen und einen tschechischsprachigen Zweig aus. Da der deutschsprachige Zweig – wie Gindely wohl vorausgesehen hatte – sich rasch zu einer deutsch-nationalistischen und antitschechischen Universität wandelte, zog der enttäuschte Bohemist sich von dem Lehrstuhl zurück, den er seit 1863 innegehabt hatte. Als frühes Opfer der zunehmend von Gewalt begleiteten Auseinandersetzungen zwischen tschechischen und deutschen Nationalisten musste Gindely zu seinem Schmerz erkennen, dass es für sein lebenslanges Engagement als transnationaler Öster­reicher inmitten der nationalistischen Aktivisten in Prag keine institutionelle Plattform mehr gab. Gindelys Ratlosigkeit angesichts des Untergangs des transnationalen Ideals in Böhmen macht ihn zu einem geeigneten Namenspatron für Vorlesungen, die das Nachwirken dieses Ideals ausloten sollen. Da Gindelys Typus der entnationalisierten Identität nach 1880 zunehmend prekär und in manchen Gebieten nachgerade unlebbar wurde, möchte ich ihn auch zum Namensgeber der »Gindely-Illusion« 58 Siehe Erhard Busek und Gerald Stourzh (Hg.), Nationale Vielfalt und gemeinsames Erbe in Mitteleuropa (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik und München  : R. Oldenbourg Verlag, 1990). Seit 1991 wird der Preis unter anderer Patronanz verliehen. Siehe http://www.idm.at/projekte/projektfoer derung/anton­gindely (zuletzt abgefragt August 2012).



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machen. Diese Illusion besteht im Glauben, dass auch nach 1880 der ältere transnationale Standpunkt innerhalb des Habsburgerreiches sowohl wünschenswert als auch durchsetzbar war. Die »Gindelyisten« waren die Publizisten der letzten Jahrzehnte des Habsburgerreiches, die mit Gindely und Eötvös glaubten, der öster­ reichische Mensch könne zwischen den widerstreitenden Ethnizitäten vermitteln, ohne sich auf die Seite einer der Parteien zu schlagen. Die Gindely-Illusion hält daran fest, dass es für einen Staatsdiener in den letzten Jahrzehnten des Reiches nach wie vor möglich war, seine nationale Zugehörigkeit mit derselben Unbeschwertheit abzustreifen wie seine Vorgänger bis 1848. Wie Franz Werfel dann rückblickend im Jahr 1938, beharrten die Gindelyisten auf ihrer Meinung, das Reich werde weiter funktionieren, wenn eine ausreichend große Zahl höherer Staatsdiener ihren Anspruch auf nationale Zugehörigkeit opferten. Freud nahm an, das Ego fungiere als eine Art »Beschwichtigungshofrat« und könne, obwohl selbst außerstande, Konflikte beizulegen, bei ihrer Austragung in der Psyche helfen. Ähnlich fühlten sich öster­reichische Staatsbeamte berufen, in Konflikten zwischen den Ethnizitäten zu vermitteln, wenn sie diese auch nicht beilegen konnten. Diese resignative, alles andere als aktivistische Illusion war die Triebfeder hinter den im Krieg verfassten Essays von Hofmannsthal, Richard Kralik und Hermann Bahr und hinter der nostalgischen Sehnsucht nach dem öster­reichischen Menschen, die nach dem Krieg bei Hassinger, Wildgans und Benda spürbar ist. Für diese Schriftsteller gehörten die Beamten, die die Gindely-Illusion auf konstruktive und durchaus undramatische Weise verkörpert hatten, mit zum »Besten«, was Öster­ reich hervorgebracht hatte.59 Die Gindelyisten, so wurde unterstellt, glaubten, mit ihren altmodischen transnationalen Loyalitäten das zunehmend gebrechliche supranationale Projekt des Habsburgerreiches vor der Wahl zwischen Degeneration zu einem »deutschen Marionettentheater« und Fortschreibung des deutschöster­ reichisch-ungarischen Duopols bewahren zu können.60 Als Hüter des Gleichgewichts im Ökosystem der nationalen Kulturen vertraten sie, freilich ohne sich dessen in vollem Umfang bewusst zu sein, in den, wie Maier es nennt, »vielschichtigen kulturellen Spielen«, die sich aus einem »fortwährend wackligen, fortwährend knir59 Michael André Bernstein, ein kanadisch-amerikanischer Komparatist, der in Kapitel 8 ausführlicher besprochen wird, ist der Verfasser eines historischen Romans, in dem jüdische Intellektuelle siegreich aus einem Konflikt mit der Polizei im Galizien des Jahres 1913 hervorgehen. Unter dem Titel Conspirators (New York  : Farrar Straus and Giroux, 2004) verknüpft er Reminiszenzen an Musil, Broch und Roth zu einer stark essayistisch gefärbten Erzählung. Der Wandergouverneur Graf Wiladowski, eine der Hauptfiguren, wägt darin die Risiken ab, die mit interethnischer Mediation der Art, wie Hugo Hassinger sie dem öster­reichischen Menschen als Charakterzug zuschreibt, verbunden sind. Siehe Conspirators, S. 327  –  343, 459  –  460, 480. 60 Charles S. Maier, »City, Empire, and Imperial Aftermath«.

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schenden Kompromiss zwischen Lokalismus und Zentralismus« ergaben,61 einen Standpunkt der »Subsidiarität«, der auf Initiativen auf lokaler Ebene setzt. Vielleicht erleben wir noch den Tag, an dem diese vergessenen Vertreter des Ideals lokaler Kulturen als Vorbilder für die Verwaltungsbeamten der Europäischen Union von heute erkannt werden. Auch rafft sich die EU in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre, wie von Moritz Csáky angeregt,62 vielleicht doch noch dazu auf, das Vertrauen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen, das die selbstlosen Schiedsrichter des späten Habsburgerreiches – jedenfalls nach Meinung der Vertreter der Gindely-Illusion – verdienten.

3.3 Bildungsethik versus höfischen Habitus Wir können uns jetzt der Frage zuwenden, welcher Fortschritt sich in den nach 1975 über die Doppelmonarchie geschriebenen Artikeln gegenüber den öster­reichischen Essayisten der Zwischenkriegszeit feststellen lässt. Welche dieser Artikel skizzieren Antworten auf Fragen, die bei den früheren Fürsprechern der theresianischen Mentalität unbeantwortet geblieben sind  ? Gesetzt den Fall, es gab wenigstens in der öster­reichischen Hälfte der Doppelmonarchie dieses theresianische Ethos im Staatsdienst, wie wurde es etabliert  ? Um sich ein Bild von der Verwurzelung des theresianischen Ethos in der Gesellschaft, die daraus Nutzen ziehen sollte, zu machen, ist ein Blick auf die Geschichte der Erziehung in Öster­reich angebracht.63 Virgil Nemoianu, ein 1940 in Rumänien geborener und ab 1973 zunächst in Großbritannien und dann in den Vereinigten Staaten lehrender vergleichender Literaturwissenschaftler, ermöglicht uns einen solchen Blick in zwei Artikeln (1989 und 1993), die allerdings bis jetzt weitgehend unbeachtet geblieben sind. Es ist an der Zeit, die öster­reichischen Essays über den theresianischen Menschen aus der Zwischenkriegszeit mit Nemoia61 Ebenda, S. 39. 62 Moritz Csáky, »Multicultural Communities  : Tensions and Qualities, the Example of Central Europe«, in Eve Blau and Monika Platzer (Hg.), Shaping the Great City. Modern Architecture in Central Europe, 1890  –  1937 (München  : Prestel, 1999), S. 43  –  55, bes. 51  –  54. 63 Zu den wichtigen Werken über das Bildungswesen in Öster­reich gehören Gary B. Cohen, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848  –  1918 (West Lafayette IN  : Purdue University Press, 1996) und Deborah R. Coen, Vienna in the Age of Uncertainty. Science, Liberalism, and Private Life (Chicago  : University of Chicago Press, 2007)  ; sie beschreibt u. a. die Bildungsbeflissenheit der Familie Exner. Siehe auch Ernst Bruckmüller, »Patriotic and National Myths  : National Consciousness and Elementary School Education in Imperial Austria«, in Laurence Cole und David L. Unowsky (Hg.), The Limits of Loyalty. Imperial Symbolism, Popular Allegiances and State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy (New York / Oxford  : Berghahn Books, 2007), S. 11  –  35.



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nus Darstellung der von ihm so bezeichneten »mitteleuropäischen Bildungsethik« zu verknüpfen. Nemoianu beruft sich zwar überhaupt nicht auf die Zwischenkriegs-Essayisten, aber seine Analyse und die der erwähnten Ideologen der 1920er Jahre weisen verblüffende Ähnlichkeiten auf. In einem wichtigen Punkt unterscheidet er sich allerdings von diesen, denn er findet die von ihm entdeckte Bildungsethik in Öster­reich wie in Deutschland. Dies ist nicht verwunderlich, liegt doch der Ursprung des besagten Ethos in einer Zeit, in der die beiden Länder noch nicht getrennte Wege gingen. Nemoianu stimmt mit den Zwischenkriegs-Literaten überein, indem er den Entstehungszeitpunkt in die Regierungszeit Maria Theresias legt, wobei für ihn der Einfluss von Joseph von Sonnenfels (1732  –  1817), eines wichtigen Beraters der Kaiserin, entscheidend ist. Im Gegensatz zu Hofmannsthal und ähnlichen Denkern betont er aber die nachfolgende Verbreitung der Bildungsethik sowohl im Habsburgerreich wie im Deutschland des Biedermeier. Für Nemoianu besteht Mitteleuropa aus allen bis 1867 in deutscher Sprache verwalteten Regionen. Es war also ein Gebiet, das sich von der Schweiz und dem Rheinland über das Habsburgerreich bis nach Siebenbürgen und in die Bukowina erstreckte. Diese sprachlich-kulturelle Definition ist das Ergebnis von Nemoianus Interpretation der Literatur des Biedermeier als »gezähmte Romantik«. Anhand seines Konzepts einer mitteleuropäischen oder genauer, einer »deutsch administrierten« Bildungsethik zeichnet er nach, wie die Kultur der Mittelschicht im Habsburgerreich, in seinen Nachfolgestaaten und in Deutschland bis 1938 von den biedermeierlichen Werten einer »herabgestimmten Romantik« geprägt wurde. Die Bildungsethik besteht, kurz gesagt, darin, dass im Reich von Maria Theresia und Joseph II. der bürgerliche Nachwuchs dazu angehalten wurde, sich Wissen und Kenntnisse bildungs- und berufsmäßiger Art anzueignen. So sollte diese Schicht wenigstens zum Teil dafür entschädigt werden, dass ihr die Partizipation am politischen Leben weiter verweigert wurde. Die durch Lehre und Lernen zu vermittelnden Werte waren dieselben wie die von Hofmannsthals paneuropäischen Aufklärern am Wiener Hof. Die von Johann Ignaz Felbiger (1724  –  1788) ausgearbeitete »Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämtlichen Kayserlichen Königlichen Erbländern«, die ähnlich wie in Preußen, das auf diesem Weg schon vorausgegangen war, die sechsjährige Schulpflicht an Grundschulen einführte, trat 1774 in Kraft. Ende der 1770er Jahre wurde in der Neuen Favorita, einem vormaligen kaiserlichen Sommerschloss, die Theresianische Ritterakademie eröffnet, die eine Alternative zu dem in der Aristokratie üblichen Hausunterricht zur Erziehung des adeligen Nachwuchses für den Staatsdienst bot. Zahllose Schulbauten wurden errichtet, die erforderlichen Vorkehrungen für die Lehrerausbildung getroffen und neue Universitäten wie beispielsweise Lemberg

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(1784) gegründet. Prüfungsordnungen wurden eingeführt, um die Qualität beruflicher sowie handwerklicher Abschlüsse sicher zu stellen. Die Bildungsethik manifestierte sich auch in Lesezirkeln, öffentlichen Bibliotheken, Theater- und Musikgruppen und Stätten der handwerklichen Fortbildung. Obwohl bis zum Ersten Weltkrieg auch in den Sekundarschulen (Gymnasien) das mechanische Auswendiglernen des Lehrstoffes und strenge Disziplin inklusive körperlicher Strafen im Vordergrund standen, vermittelte die Schule doch die Gewissheit, dass eine entsprechende Ausbildung überall Anerkennung finden werde. Fähig­keiten und Kenntnisse wurden in Prüfungen, sowohl schriftlich und mündlich wie praktisch, abgefragt. Anstellung im Staatsdienst und Zulassung zu den medizinischen und juristischen Berufen erfolgten jeweils über Prüfungen  ; auch Offiziere mussten sich, unabhängig von der Ethnizität, der sie angehörten, in verschiedenen komplexen Materien auf Deutsch Prüfungen stellen. Ab den 1760ern und noch stärker unter Joseph II. in den 1780er Jahren bildete die Förderung des Unterrichts in deutscher Sprache in allen Regionen und für alle aufstrebenden Individuen – und dies galt sowohl für den Adel wie für das Bürgertum – ein Kernstück der aufklärerischen Reform des Reiches. Bildung vermochte jedoch nicht, dem Bürgertum Zugang zu politischen Karrieren zu verschaffen  ; dazu bedurfte es eines Parlaments, das erst Ende der 1860er Jahre geschaffen wurde. Aber von dieser einen Ausnahme abgesehen, garantierte Bildung Aufstiegschancen in allen Lebensbereichen. Aristokratische Selbstkultivierung und bürgerlicher Bildungshunger wetteiferten miteinander in einem Staat, der die Schule als Weg zum Erfolg institutionalisierte. Joseph von Sonnenfels hatte dieses Ideal am Hof Maria Theresias konzipiert.64 Der niederländische Arzt Gerhard van Swieten (1700  –  1772) und sein Sohn, der Bibliothekar Gottfried van Swieten (1733  –  1803), sorgten dafür, dass der Hof in der Regierungszeit von Joseph II. (1765  –  1790) und Leopold II. (1790  –  1792) bis hinein in die Zeit von Franz I. (1792  –  1835) der allgemeinen Bildung seine Patronanz nicht entzog. Am kleinen Hof von Weimar arbeiteten Goethe und Schiller und in Berlin deren Freund Wilhelm von Humboldt (1767  –  1835) an einer ähnlichen Synthese klassischer und christlicher Werte. Das Weimarer Erziehungsideal, wie es bei Nemoianu heißt, wurde auch in der Schule des öster­reichischen Biedermeier inthronisiert. Goethe und Schiller war ein Ideal lebenslanger Selbsterziehung vorgeschwebt  : Der Mensch widmet sein ganzes Leben der Erweiterung und Vertiefung 64 Siehe Leslie Bodi, »Sprachregelung als Kulturgeschichte  : Sonnenfels, Über den Geschäftsstil (1784) und die Ausbildung der öster­reichischen Mentalität«, in Gotthart Wunberg und Dieter A. Binder (Hg.), Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung. Festschrift für Moritz Csáky (Wien / Köln /  Weimar  : Böhlau Verlag, 1996), S. 339  –  362.



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seines geistig-sittlichen Horizonts, ein Vorgang, der von Goethe im Faust (1808 und 1832) und in der Wilhelm Meister-Trilogie (1795 und 1821 / 1829) dramatisiert wurde  ; in Wilhelm Meisters Wanderjahre wird die anti-utilitaristische Ausrichtung dieses Bildungsideals in einem Wort, das Goethe der Figur des Montan / Jarno in den Mund legt, klar ausgesprochen  : »Was nützt, ist nur ein Teil des Bedeutenden. Um einen Gegenstand ganz zu besitzen, zu beherrschen, muss man ihn um seiner selbst willen studieren.«65 Die Möglichkeit beständigen Wachstums im Erwachsenenalter setzt die Einübung in den Kanon antiker und moderner Klassiker in der Jugend voraus. In kluger Voraussicht dehnten die habsburgischen Schulbehörden die Möglichkeit des kanonbasierten Unterrichts auf alle Ethnizitäten im Reich aus. Wenn man von den Alldeutschen absieht, die sich ab den 1870ern nach einer Vereinigung mit Bismarcks Zweitem Reich sehnten, gelang dies, ohne faustische Zerstörer auf den Plan zu rufen. Öster­reichs gezähmte Version der Weimarer Klassik respektierte soziale Grenzen und lehnte mephistophelische Ironien von der Art, die Nietzsche so teuer war, ab. Sie schuf breiten Zugang zu Wissen und sah darin eine Kraft zur Mäßigung. Adalbert Stifter (1805  –  1868), der als junger Mann einige der wissenschaftlichen Mitstreiter Goethes in Marienbad und Karlsbad im Westen Böhmens kennengelernt hatte, feierte dieses Ideal im Nachsommer (1857).66 Diese Erziehungsutopie spielt im Rosenhaus des Freiherrn von Risach, wo jede Art aristokratischer oder bürgerlicher Selbstvervollkommnung als ein Ziel aufgefasst wird, das auch dann gültig ist, wenn keine politische Validierung erfolgt. Diese Vision ist eine Zusammenfassung der Ideale der mitteleuropäischen Bildungsethik, für die Beruf, Selbstkultivierung und von utilitaristischen Überlegungen freies Lernen keiner äußeren Rechtfertigung bedürfen. Zur gegebenen Zeit fanden diese apolitischen Bestrebungen sowohl in Stifters Roman wie in der habsburgischen Gesellschaft Erfüllung, in Form von Theateraufführungen, musikalischen Darbietungen, wissenschaftlichen Liebhabereien, der Beschäftigung mit und Restauration von Kunstwerken und sogar in Form von landwirtschaftlichen Experimenten. Ein weiteres gewichtiges Beispiel für die Effektivität der mitteleuropäischen Bildungsethik finden wir in der Person des Augustinerchorherrn Gregor Mendel 65 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden, Sämtliche Werke, Bd. 8 (Zürich  : Artemis, 1949), S. 42. 66 Zu Stifter und Goethe siehe Johannes Urzidil (1896  –  1970), Goethe in Böhmen, 2. Aufl. (Zürich  : Artemis, 1964), S.  463  –  472. Urzidils Kurzroman über Stifters Jugend in Böhmen gipfelt in einem Treffen mit Joseph Sebastian Grüner (1780  –  1864), Goethes Freund aus Eger. Siehe Urzidil, Der Trauermantel (1962), nachgedruckt in Urzidil, Morgen fahr’ ich heim. Böhmische Erzählungen (München  : Langen Müller, 1971), S. 37  –  70, insbes. 68  –  70. Siehe auch István Fried, »Adalbert Stifters Beziehungen zu Ungarn«, Arbeiten zur deutschen Philologie, 7 (1973), S. 51  –  59.

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(1822  –  1884), der sich zwischen 1856 und 1863 in der Abgeschiedenheit des Klosters St. Thomas am Stadtrand von Brünn intensiv mit der Kreuzung von Erbsen beschäftigte und mit einem Vorsprung von einer Generation vor allen andern Forschern die Permutationen der Gene, wie wir sie mittlerweile nennen, entdeckte. Im öster­reichischen Teil Schlesiens auf dem väterlichen Bauernhof geboren, studierte er nach Eintritt ins Kloster und Priesterweihe in Wien (1851  –  1853), wo er neben andern den großen Physiker Christian Doppler und den Botaniker, Paläontologen und Pflanzenphysiologen Franz Unger hörte. Nach seiner Rückkehr ins Kloster nahm er seine Kreuzungsexperimente wieder auf. Dieser deutschöster­reichische Bauernsohn und Mönch diente seinem Herrn in völliger Verinnerlichung der mitteleuropäischen Bildungsethik. Mendel ahnte wohl kaum, dass er eines Tages geradezu als Personifikation des zweckfreien Forschers gelten würde, dessen bedingungslose Hingabe einem scheinbar wenig bedeutsamen und allgemein vernachlässigten Gebiet galt. Aber gerade der Umstand, dass die Bildungsethik definitionsgemäß auf alle Forderungen nach praktischem Nutzen verzichtete, kam letzten Endes durch die Förderung reiner Forschung eben diesem praktischen Nutzen zugute. Mendels Hingabe an die höchsten Ideale wissenschaftlicher Forschung entfaltete sich übrigens in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem typisch öster­reichischen Widerspruch. Unweit seines Klosters, in dem Leoš Janáček (1854  –  1928) ab 1866 als Mitglied des Kirchenchores aus- und einging, befindet sich die Gefängnisfestung Spielberg, wo von den frühen 1820ern bis 1855 Vertreter der berüchtigten Carbonari gefangen gehalten wurden, die Metternich im Kampf gegen das Risorgimento verfolgte. In Brünn also bekamen die italienischen Patrioten die Unmenschlichkeit eines – seinem eigenen Verständnis zufolge – transnationalen Regimes zu spüren, zu einem Zeitpunkt, da der Augustinermönch Mendel, fast in Rufweite, in Ruhe die Früchte der weitsichtigen Politik bürgerlicher Erziehung desselben Regimes ernten durfte. Als Nemoianu seinen 1993 erstmals erschienenen Artikel 2006 noch einmal in Buchform veröffentlichte, stellte er ihn unter den provokanten Titel »Information  : The Moderating Force« – Wissen, die mäßigende Kraft.67 Die Jahrzehnte nach dem napoleonischen Umsturz zeichneten sich durch »ein enormes Anschwellen der mä67 Virgil Nemoianu, »Learning over Class  : The Case of the Central-European Ethos«, in The Triumph of Imperfection. The Silver Age of Sociocultural Moderation in Europe, 1815  –  1848 (Columbia SC  : The University of South Carolina Press, 2006), S. 175  –  202. Dies ist ein Nachdruck der Erstveröffentlichung in Ann Rigney und Doewe Fokkema (Hg.), Cultural Participation. Trends since the Middle Ages (Amsterdam / Philadelphia PA  : John Benjamins, 1993), S. 79  –  107. Siehe auch Nemoianu, »Romanticism and Biedermeier in East-Central European Literatures«, Hungarian Studies, 5  :1 (1989), S. 21  –  38, insbes. 34  –  35.



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ßigenden Diskurse und der Dialektik des Konsenses« aus. Die von Revolution und Eroberung verursachten Turbulenzen führten in Mitteleuropa zur Allgegenwart, »wo nicht eines Gefühls der Niederlage, so doch der Angst davor. Die [erwähnten] mäßigenden Impulse … sind nichts anderes als resolute, luzide Versuche, mit dem Umstand der Niederlage fertig zu werden und Unvollkommenheit akzeptabel zu machen«.68 In dieser Hinsicht mit dem Gedanken des öster­reichischen Menschen vergleichbar, hat die mitteleuropäische Bildungsethik einen mäßigenden Einfluss institutionalisiert, der Rückschlägen vorbeugen sollte. Sie hat Generationen von Intellektuellen vor »einem völligen Bruch mit der Vergangenheit« bewahrt und »zugunsten einer kreativen Kontinuität« prädisponiert. Öster­reich und bis zu einem gewissen Grad auch Ungarn vor 1945 sind diesen Weg des Kompromisses und des Ausgleichs gegangen. Nemoianu verteidigte die Bildungsethik als eine »Art Sicherheitsnetz, als eine Möglichkeit, den Ansturm der Moderne zu bändigen«, unter anderem durch den Einsatz »literarischer Rhetorik als eines Verfahrens zur Komprimierung und Portionierung [packaging] von Wissen«. Die Neuportionierung von Wissen diente dem »geschickten Einsatz von substitutiver Intertextualität und von Techniken der Analogie, um den Wandel verkraftbar zu machen«. Durch die Art, wie sie »Techniken der Analogie« handhabten, bewiesen die Apologeten des öster­ reichischen Menschen Geschick bei der Bewahrung von Werten durch die Übersetzung von »Traditionen in neue Idiome«, ein Geschick, das sie dann ihrerseits bei ihren Landsleuten konstatierten. Nach 1914 sahen Hofmannsthal und seine Verbündeten Öster­reich als einen europäischen Austragungsort eines mäßigenden Diskurses, der sich aus älteren Texten – Sonnenfels, Grillparzer – speiste. Insbesondere hatte Öster­reich den Auftrag geerbt, mäßigend auf die deutschsprachigen Exzesse im Zweiten Reich einzuwirken. Nur wenige Öster­reicher waren sich bewusst, dass viele ungarische Intellektuelle dasselbe Ziel vor Augen hatten, dem sie sich näherten, indem sie eher französischen und englischen Schriftstellern nacheiferten als solchen, die auf Deutsch schrieben. Nemoianus Beschreibung der pädagogischen Praxis ist ein Loblied auf dieselbe idealistische Grundeinstellung, die auch in Hofmannsthals oder Bendas Beschreibung des theresianischen Menschen das entscheidende Merkmal ist. Im Gegensatz zu ihrer doch eher schematisierenden Darstellung zählt der rumänisch-amerikanische Komparatist Dutzende Beispiele dieser Ethik auf und verortet sie in Unterrichtsgesetzgebung, Reformprogrammen und kommunalen Institutionen aller Art. Während die Essayisten der Zwischenkriegszeit dazu neigten, sich auf einzelne Staatsbeamte zu konzentrieren, gibt es für Nemoianu keine klassen- oder berufsmäßigen Grenzen. In der Epoche des Biedermeier etablierte sich seine »Bildungsethik« 68 Alle Zitate in diesem Absatz aus Nemoianu, The Triumph, S. x und xi. Siehe oben, Anm. 67.

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in jeder Schicht des Bürgertums, und zwar sowohl als Ideal wie als tatsächlich gelebter Lebensstil. Diese Ethik konnte das Bürgertum in allen Teilen des Habsburgerreiches voll ausleben. Emigranten nahmen es mit in die Vereinigten Staaten, wie zum Beispiel an den böhmischen Bauern ersichtlich ist, denen Willa Cather in ihrem in Nebraska spielenden Prairie-Roman My Ántonia (1918) ein Denkmal setzte. Während das von Hassinger so genannte soziale Kapital des Reiches an dessen Territorium gebunden blieb, erwies sich die mitteleuropäische Bildungsethik als leicht transportabel – ein weiterer Grund Nemoianus Konzeption vorzuziehen. Der rumänisch-amerikanische Gelehrte geht sogar so weit zu behaupten, dass in der Zeit zwischen den 1930ern und den 1980ern Flüchtlinge aus dem von den Nazis beherrschten Mitteleuropa die Bildungsethik an amerikanische Colleges und Universitäten verpflanzten. Allan Blooms Lamento, The Closing of the American Mind (1987), kann daher als Elegie auf das Verschwinden der mitteleuropäischen Bildungsethik im Bereich der tertiären Erziehung in Amerika gelesen werden. In diesem Licht erscheint sogar die Popularität der Kultur von »Wien um 1900« in der ersten Hälfte der 1980er als Abschied von den Früchten der mitteleuropäischen Bildungsethik, die Nordamerika seit den 1930ern so sehr bereichert hatten. Die Begeisterung für »Wien um 1900«, die amerikanische, britische und französische Museen, Universitäten und Verlage in den 1980er Jahren beflügelte, war ein Tribut an Werte, die mitteleuropäische, mehrheitlich jüdische Emigranten vierzig oder fünfzig Jahre zuvor nach Amerika transplantiert hatten. Die Begegnung mit der mitteleuropäischen Bildungsethik, wie Nemoianu sie versteht, bot dem angelsächsischen Engagement um die Kultur Wiens und der Doppelmonarchie reiche Nahrung. Unter der Anleitung von Emigranten, die selbst von dieser Ethik geprägt waren, wurden die Studierenden in die Lage versetzt, die Höhepunkte von deren Wirksamkeit in Kunst, Literatur und den Sozialwissenschaften der Monarchie zu würdigen. Mit der Hypothese, die Nemoianu anhand der »mitteleuropäischen Bildungs­ ethik« formuliert, sucht er als einziger Kulturhistoriker von Rang nachzuweisen, dass die intellektuellen Ideale im gesamten mittel- und osteuropäischen Bereich und vor allem in Öster­reich und Ungarn der Ertrag einer pädagogischen Praxis sind, die sich über acht bis zehn Generationen entfalten konnte. Diese von ihm skizzierte pädagogische Praxis, deren Auswirkungen mehr als zweihundert Jahre vorhielten, verband Öster­reicher, Magyaren, Juden und Slawen. In Nemoianus Sicht stellte die Bildungsethik der Gymnasien des Reiches die gemeinsamen Grundannahmen zur Verfügung, denen die Kultur der Doppelmonarchie ihre Einheit als Ökosystem verdankte.69 69 Tibor Frank hat mit stupender Gelehrsamkeit ähnliche Thesen über die Erziehung in Ungarn for­­



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Nemoianu wählte den Ausdruck Bildungsethik in Anlehnung an Max Weber und dessen Essay von 1904  /  1905 über die protestantische Arbeitsethik.70 Er sieht in den westlichen Gesellschaften verschiedene »miteinander konkurrierende Ethiken« am Werk, unter denen die mitteleuropäische Bildungsethik für ihn besondere Bedeutung hat. »Sie postuliert, dass Befreiung und Fortschritt des Individuums oder der Gruppe gleichbedeutend sind mit vermehrtem Zugang zu Wissenschaft, Information und geisteswissenschaftlichen Werten. Das Eintauchen in die Welt der Werte der höheren Kultur und der beruflichen Kompetenz wird, so nahm man an, belohnt … durch Zugang zu einer höheren Ebene des Menschseins, durch integrative Akzeptanz, erweiterten Horizont und schließlich durch Befreiung und Wachstum.«71 Nemoianu betont, dass ein derartiges System der Belohnung, wie Goethe und Stifter es entwarfen, im Habsburgerreich tatsächlich Realität wurde. Die Ethik erbrachte die versprochenen Leistungen, noch dazu für eine ungewöhnlich große Vielfalt von Ethnizitäten und Menschen. Im Roman Die Dämonen (1956) liefert Heimito von Doderer ein Beispiel, das genau diesen Sachverhalt spiegelt. Er beschreibt detailreich, wie das Erlernen von Latein das Leben des jungen Arbeiters Leonhard Kakabsa noch Mitte der 1920er von Grund auf zu verändern vermag. Wie Doderer hat auch Nemoianu, vielleicht ohne sich dessen ausdrücklich bewusst zu sein, einen Nachtrag und eine Bestätigung der Thesen geliefert, die uns von den Apologeten aus der Zeit der Ersten Republik geläufig sind. Ein Schwachpunkt in der Darstellung des öster­reichischen Menschen durch Hofmannsthal, Hassinger und Benda ist die fehlende Erklärung, wie dieser ideale Verhaltenskodex vermittelt wurde. Sie versäumten zu fragen, welche Rolle der Erziehung bei der Durchsetzung der Ideale der Selbstlosigkeit, des fehlenden Nationalbewusstseins und des Dienstes für ein transnationales Regime zukam. Mein Buch Der öster­ reichische Mensch beruft sich auf Norbert Elias’ Begriff des »Habitus«, um zu erläutern, wie die Apologeten sich die Wirkung des öster­reichischen Menschen vorstellen. Statt aufzuzeigen, dass eine Bildungsethik in den Schulen des Reiches am Werk war, behaupteten sie, die Einzelnen bemühten sich, dem Typus von Verhaltenskodex zu entsprechen, den Elias als »Habitus« bezeichnet.72 Unter dieser Bezeichnung muliert. Siehe Frank, The Social Construction of Hungarian Genius (1867  –  1930). Online ­unter  : www. franktibor.hu/img/kozl/Frank.Social%20Construction3.doc (zuletzt abgefragt 15. August 2012). 70 Nemoianu, »Learning«, S. 179  –  180. 71 Ebenda, S. 181. 72 Zu Elias siehe Robert van Krieken, Norbert Elias (London  : Routledge, 1998). Helmut Kuzmics benützt Elias als hauptsächliche Grundlage seiner vergleichenden Geschichte Öster­reichs und Englands. Siehe Kuzmics, Autorität, Staat und Nationalcharakter  : Der Zivilisationsprozess in Öster­reich und England, 1700  –  1900 (Opladen  : Leske und Budrich, 2000).

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versteht Elias ein – meist von Courtoisie geprägtes – Modell zwischenmenschlichen Verhaltens. Beispiele sind das habsburgische Hofzeremoniell, der militärische Verhaltenskodex, aber auch einfach die Benimmvorschriften, die das Verhalten eines Kaffeehauskellners regeln. Die Mitglieder einer sozialen Klasse oder Kaste mögen zwar einen Habitus gemeinsam haben, aber diese Errungenschaft verweigert sich der Formulierung als ein ohne weiteres zu unterrichtendes Ethos. Ein Habitus bleibt ein individuell erworbenes Benehmen oder Verhalten. Er ist eine überaus komplexe Fertigkeit, vergleichbar dem Tanzen oder Fechten, nicht eine intellektuelle Haltung oder Denkgewohnheit, wie zum Beispiel Mathematik oder eine juristische Argumentationsweise. Die mitteleuropäische Bildungsethik war demokratischer und leichter zu vermitteln als der Habitus des öster­reichischen Menschen, der in tadellosen Manieren und selbstloser Hingabe an den transnationalen Dienst bestand. Elias leitete den Terminus aus seinem Studium der Höflinge in der Zeit nach der Renaissance ab. Manche ihrer Verhaltensformen blieben bis 1918 und darüber hinaus lebendig. Admiral Horthy, Franz Josephs ehemaliger Marineattaché, bestand bis 1944 auf peinlicher Einhaltung eines höfischen Habitus in der ungarischen Regierung. Für den Versuch, der Bedrohung, die vom Erzfeind aller feinen Unterschiede ausging, die Stirn zu bieten erwies sich dies freilich als unzulänglich. Öster­reichs Apologeten der Zwischenkriegszeit erhoben ein aristokratisches, ja höfisches Verhalten nachgerade zu einem nationalen Stereotyp. Der elitäre Charakter ihres Habitus verlieh der behaupteten idealistischen Gesinnung des Typus eine fast ätherische Aura. Das ist einer der Gründe, warum literarische Porträts des öster­reichischen Menschen in ihrem Nicht-von-dieser-Welt-Sein fast komisch wirken. Ein derartiger Typ ist recht eigentlich auf der Bühne zuhause, wie Hans-Karl Bühl in Hofmannsthals Der Schwierige (1920), oder im Roman, wie der ältere Leutnant von Trotta in Roths Radetzkymarsch (1932), Graf Leinsdorf in Musils Mann ohne Eigenschaften (ab 1930) und Hofrat Gürtzner-Gontard in Doderers Dämonen (1956). Der Mangel an Erdung, der diesen gleichsam entkörperten literarischen Figuren zu eigen ist, charakterisierte diese »öster­reichischen Menschen«. Sie wirken fallweise wie die Marionetten eines verblassten Benimmideals in ihrem Beharren auf einem höfischen Habitus, das an Schwachsinn grenzt. Schon in den Zwanzigerjahren und nicht zuletzt am Hof von Admiral Horthy gehörte ihr Gepränge zu den Requisiten eines Operettenstaates. So wie Nemoianu die handfesten Tugenden eines im Klassenzimmer beheimateten Ethos beschreibt, könnte der Gegensatz zu den höheren Weihen des höfischen Habitus nicht größer sein. Während ein Habitus in der Tanzschule floriert, gedeiht das Ethos in einem Klassenzimmer ohne besonders ausgewähltes Personal. Nemoianus Begriff zeigt, dass die Kultur der Doppelmonarchie nicht durch eine höfische Firnis der Selbstlosigkeit glänzte, sondern durch eine weit verbreitete Praxis trocke-



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nen Büffelns in den Naturwissenschaften, in Geschichte, den Sprachen und den Geisteswissenschaften. Der Habitus des öster­reichischen Menschen war zweifellos allgegenwärtig in einer kleinen Elite am oberen Ende des Beamtentums und des Militärs der Doppelmonarchie. Was aber diese Kultur dazu befähigte, jede denkbare Kreativität zu stimulieren, das waren die unermüdlichen Gymnasiallehrer, geistliche wie weltliche, in deren Händen die Vermittlung der Bildungsethik lag. Nicht ohne Melancholie orteten die Apologeten der Zwischenkriegszeit den quintessenziellen Typus des Öster­reichers in einer fragilen und rasch dahin schmelzenden sozialen Kohorte. Nemoianus Alternative, die Erzieher in den Sekundarschulen als unentbehrliche Former der Einzigartigkeit dieses Reiches, stellen demgegenüber eine handfeste Verbesserung dar. Ein Habitus bleibt schwer fassbar und ist in seiner gesellschaftlichen Wirkung zu beschränkt, um als Erklärung für den besonderen Charakter Öster­reichs zu taugen. Nur die Vermittlung eines auf Weimarer Humanismus und wissenschaftlicher Orientierung basierenden Ethos über sechs bis acht Generationen konnte die Grundlagen für die Kreativität der Doppelmonarchie schaffen. Während der höfische Habitus in Ehrerbietung vor einer feudalen Vergangenheit versank, lieferte die Bildungsethik eine bürgerliche Zukunft. Nemoianu stellt ausdrücklich klar, dass die mitteleuropäische Bildungsethik geisteswissenschaftliche Ausbildung mit einer solchen in den Naturwissenschaften verband. Sie war weder ausschließlich eine literarische noch primär eine naturwissenschaftliche Erziehung. Sie förderte Vielseitigkeit der Art, wie sie für die von Goethe selbst bevorzugte abwechselnde Beschäftigung mit literarischen und naturwissenschaftlichen Themen typisch war. Als diese Vielseitigkeit in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts freigesetzt wurde, ermöglichte sie die Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst, die von Peter Weibel als die »Dritte Kultur« bezeichnet wurde. Auch diese kam als Produkt der Sekundarschulen der Doppelmonarchie zustande. Ein höfischer Habitus mag zur Ausdifferenzierung des öster­reichischen Menschen beigetragen haben. Das Klassenzimmerethos leistete dagegen einen entschiedenen Beitrag dazu, die Kultur der Doppelmonarchie zu einem Forum intellektueller Innovation zu machen. Eine weitere Trägerin der mitteleuropäischen Bildungsethik in Ungarn war die römisch-katholische Kirche. Nach der kommunistischen Machtübernahme 1946 hat die ungarische Kirche wenige Fürsprecher gefunden. Eine Ausnahme ist der Publizist und Übersetzer Stephen Vizinczey, der seit 1966 in Großbritannien aktiv ist. Als wollte er die ungarische Kirche für die Verdammung durch Antiklerikale wie Ady entschädigen, zeichnet Vizinczey sie als eine Bastion der mitteleuropäischen Bildungsethik und der Aufstiegschancen für talentierte Menschen aus den unteren Schichten. »In einer von Ausländern und reichen Magnaten dominierten Gesellschaft gab es für begabte Jugendliche aus den Dörfern und den Armenvier-

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teln der Städte nur einen Weg zum guten und zivilisierten Leben  : … über die Kirche und die Ordensgemeinschaften.«73 Mit Mitteln aus ihrem eigenen Landbesitz finanzierte die Kirche »kostenlose Schulen und Spitäler, Waisenhäuser und Altersheime … Das Personal bestand zum größten Teil aus Priestern, Mönchen und Nonnen, deren Mitgefühl den Ärmsten im Lande galt«.74 Dieses Loblied hält am Ende noch eine Überraschung bereit. Der Reichtum der Kirche enthob ihr Personal aller drückenden materiellen Sorgen. »Das Geheimnis all dieser draufgängerischen Husaren  ? Sie hatten ihre Kindheit in der Obhut von draufgängerischen Mönchen und Nonnen verbracht.«75 Eines der vielen Bücher, die es noch zu schreiben gilt, wird das Ethos, das die Lehrer der religiösen Ordensgemeinschaften in Ungarn ihren Zöglingen einimpften, mit dem der katholischen Schulen Öster­reichs vor 1938 vergleichen. Vizinczey hätte auch erwähnen können, dass es den Calvinisten 1785 generell gestattet wurde, Schulen in Ungarn zu eröffnen. Diese Schulen leisteten dann einen wesentlichen Beitrag durch die Erziehung von bedeutenden Dichtern und Schriftstellern wie Mihály Csokonai Vitéz (1773  –  1805), Ferenc Kölcsey (1790  –  1838), János Arany (1817  –  1882), Mihály Tompa (1817  –  1868), Sándor Petőfi (1823  –  1849), Mór Jókai (1825  –  1904), Endre Ady (1877  –  1919), Zsigmond Móricz (1879  –  1942) und erst recht von Lajos Kossuth (1802  –  1894).

3.4 Das Menschen-Modell des Biedermeier Eine weitere These, die für unseren Zusammenhang bedeutungsvoll ist, sind Nemoianus Überlegungen dazu, was in literarischen Theorien und Kulturtheorien als »primär« und was als »sekundär« behandelt wird.76 Jede Theorie, so Nemoianu, hat die Aufgabe, Prioritäten zu setzen, so dass alle Variablen, die von einer Theorie berücksichtigt werden, zu »primären« werden und alle, die nicht aufgenommen werden, zu »sekundären«. Nemoianu behauptet nun, dass alles, was ältere Theorien als »sekundär« außer Acht gelassen hatten, früher oder später als neues »Primäres« wiederentdeckt wird. Diese Regel gilt nicht nur für voll entwickelte Theorien, sondern auch für Arbeitshypothesen, wie für die Fokussierung auf Öster­reich mit gleichzeitiger Ausklammerung Ungarns oder der slawischen Völker, zu der viele 73 Stephen Vizinczey, »The Cardinal’s Conscience« [1975], in Vizinczey, Truth and Lies in Literature, S. 308  –  311, insbes. 308. 74 Ebenda, S. 309. 75 Ebenda. 76 Virgil Nemoianu, »A Short Theory of the Secondary«, in A Theory of the Secondary. ­Literature, Progress, and Reaction (Baltimore MD / London  : The Johns Hopkins University Press, 1989), S. 173  –  203.



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nordamerikanische Gelehrte neigen. Im Verein mit vielen andern wird hier versucht, diese vormals entwerteten Kulturen aus der Position des »Sekundären«, in die sie ein einseitiger Austrozentrismus gedrängt hat, zu befreien. Es braucht wohl kaum betont zu werden, dass Nemoianus korrektiver Strategie gemäß Osteuropa allgemein und Ungarn im Besonderen ihrem Wesen nach keinesfalls »sekundär« sind. Die richtige Folgerung ist, dass gewisse Öster­reich betreffende Annahmen diesen Regionen sekundären Status zugeschrieben haben, genau wie andere Annahmen ihnen jetzt den Status des Primären zurückgeben können. Eben darauf zielt das vorliegende Buch. Es widmet sich der Frage, was mit Hypothesen über Öster­reich geschieht, wenn diese auf die Ungarn und einige slawische Völker – Tschechen, Polen, Kroaten – ausgedehnt werden. Sein Buch The Taming of Romanticism (1984) hat Nemoianu von einem Standpunkt noch größerer Inklusivität geschrieben, der auch die Russen mit einschließt. Nemoianus Theorie des Sekundären warnt davor, das von einer Theorie Unberücksichtigte auszuschließen, denn früher oder später wird das Ausgeschlossene sich in anderer Form wieder in den Vordergrund drängen. Jede Kulturtheorie muss sich für die Rückkehr des Ausgeschlossenen wappnen. So mussten diverse Hypothesen über Öster­reich in jüngster Zeit die Rückkehr der Slawen und Magyaren als Mitträger der alles umspannenden habsburgischen Kultur zur Kenntnis nehmen. Diese Revitalisierung hatten in den 1980ern und frühen 1990ern in erster Linie ungarische Gelehrte unternommen. Sie dehnten die Forschungsfelder der öster­ reichischen und der ungarischen Kultur in einer Weise aus, die schließlich dazu führen musste, dass sie sich wechselseitig inkludierten. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist das Entstehen eines neuen Forschungsfeldes – der Kultur der Doppelmonarchie 1867  –  1918, oder noch weiter gefasst, der Kultur des Habsburgerreiches seit dem 18. Jahrhundert. Die Vorstellung von der Doppelmonarchie als einem kulturellen Ökosystem zielt auf die Abkehr von einer Praxis, in der das Studium Öster­ reichs und das Studium Ungarns sich gegenseitig ignorieren. Nemoianu selbst hat sich nie ausschließlich mit dem Habsburgerreich beschäftigt, ja dieses wird bei ihm kaum namentlich erwähnt. Stattdessen dehnt er seine Analyse der Romantik und des Biedermeier auf ganz Europa aus  ; sie umspannt ein Gebiet von England bis Russland und von Skandinavien bis Italien. Daraus folgt, dass jeder Versuch, seine Kategorien primär auf die Doppelmonarchie zu beziehen, auf eine Vereinseitigung seines Schemas hinausläuft, die nicht seinen Absichten entspricht. Trotzdem wirft Nemoianus Interpretation des Biedermeier nicht nur Licht auf die öster­reichische, ungarische und böhmische Kultur – ein Punkt, den er bereitwillig zugesteht –, sondern die von ihm umrissene Kultur hat auch in der am stärksten sichtbaren Form in der Ersten und Zweiten Republik in Öster­reich und in ihrer Selbstwahrnehmung bis nach dem Zweiten Weltkrieg weitergelebt. Die

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Doppelmonarchie hat an den Werten des Biedermeier hartnäckiger festgehalten als jedes andere Regime und die Wiederentdeckung des, wie Nemoianu sich ausdrückt, »Menschen-Modells« des Biedermeier ist ein regelmäßig wiederkehrendes Motiv in öster­reichischen Selbstbeschreibungen über vier und fünf Generationen hinweg. Diejenigen, die sich – von Hofmannsthal und Bahr bis Heer und Lhotsky – um eine Definition des öster­reichischen Menschen bemühten, haben die Konzeption des »Menschemodells des Biedermeier« unter einem andern Namen betrieben. Das Herzstück öster­reichischer Identität hat seinen Biedermeier-Grundton von der Zeit Metternichs und Grillparzers bis mindestens in die 1970er Jahre bewahrt. Diese These ist eines von Nemoianus wichtigsten Geschenken an das Forschungsfeld austriazistischer Studien. Die US-amerikanische Germanistin Katherine Arens bewegt sich in ganz ähnlichen gedanklichen Bahnen. Anlässlich der Spiegelung des »polyphonen« Charakters der habsburgischen Kultur in den Romanen Joseph Roths bemerkt sie, dass er »die Geschichte eines Habsburgerreiches erzählt, das sein menschliches Kapital vergeudete«. 77 Sie hat, auch ohne dieses Etikett zu benutzen, mit Einfühlung und Sympathie über die Werte des öster­reichischen Menschen geschrieben. »Dieses politisch gescheiterte Gebilde machte es neuen Gruppen leicht, den Raum der Geschichte zu betreten, indem es ihnen Teilnahme an den Institutionen des Reiches erlaubte, insbesondere am Staatsdienst und am Militär. Die betreffenden Familien verloren ihre Verwurzelung in ihren Ethnizitäten und wurden Teil von etwas, das sie für größer und gerechter hielten  : einer Verwaltung, die ein gewisses Maß an Zivilisation und Ordnung garantierte, was durchaus Hand in Hand gehen konnte mit der Beförderung ihres eigenen Machtmissbrauchs. Dieses Gefühl eines Selbst, das Teil einer multiethnischen Nation war, mag lange eine Fiktion gewesen sein, aber es war auch … eine Anleitung zu menschengerechtem Verhalten und ein Ansporn, ein gemeinsames Schicksal anzunehmen.«78 Das Thema der Verwurzelung in einem größeren Ökosystem wird im Folgenden – in den Kapiteln über Moritz Csáky und György M. Vajda – nochmals aufgegriffen. Es ist denkbar, dass Nemoianus mitteleuropäisches Biedermeier-Modell jene Bedeutung für die 2010er Jahre haben wird, die Claudio Magris’ Idee des »Habs77 Katherine Arens, »Joseph Roth« in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures 1 (2004), S. 214  –  228, insbes. 224. Siehe auch ihre Essays über Doderer, Stifter, Schnitzler und Grillparzer in Arens, Austria and Other Margins. Reading Culture (Columbia SC  : Camden House, 1996). Arens’ Vienna’s Dreams of Europe  : Culture and Identity Beyond the Nation State (New York  : Continuum, 2013) konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden. 78 Katherine Arens, »Joseph Roth«, S. 227. Ähnlich argumentiert Kati Tonkin, Joseph Roth’s March into History. From the Early Novels to Radetzkymarsch and Die Kapuziner­gruft (Rochester NY  : Camden House, 2008).



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burger Mythos« in den letzten fünfzig Jahren zugekommen war. Jeder dieser beiden Literaturwissenschaftler hat ein literarisch-kulturelles Modell vorgelegt, das der Debatte zu dem Thema, wie Schriftsteller nach 1918 das späte Habsburgerreich imaginierten, Struktur verlieh. Magris’ Konstruktion fokussiert auf nostalgische Sehnsucht nach Dynastie und nach Franz Joseph als zeremonieller Figur, die die verschiedenen Nationalitäten in Loyalität zu ihm einte  ; so beschrieben es Mythenbildner wie Joseph Roth, Franz Werfel und Stefan Zweig. Nemoianus Konstruktion dagegen konzentriert sich auf das Vermögen der mitteleuropäischen Bildungsethik, alle Schichten des Bürgertums innerhalb so gut wie aller Ethnizitäten – nur die »Zigeuner«, wie man damals sagte, blieben ausgeschlossen – für ein gemeinsames Ethos des sozialen Aufstiegs durch Bildung zu gewinnen. Auch ohne politische Teilhabe in Aussicht zu stellen, strahlte dieses Ethos auf Bildungsinstitutionen und die Praxis eigenständiger Weiterbildung in dem großen Reich aus. Als Ersatz für politische Betätigung zeitigte die Bildungsethik größere Wirkung als die ästhetischen Impulse, die Schorske als Flucht aus der politischen Stagnation von Wien um 1900 deutet. Das erklärt sich mindestens teilweise daraus, dass Nemoianus Bildungsethik sich über mehr als zweihundert Jahre entfaltete  : Seit ihren Anfängen in Wien in der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sie weitgehend alle Ethnizitäten erreicht. Als Interpretationsrahmen hat sie zudem den Vorteil, dass sie einen detaillierten Blick auf das Erbe ermöglicht, das jüdische Emigranten in den 1930ern und 1940ern nach Nordamerika und an andere Orte brachten. Mit hoher Plausibilität verweist Nemoianu auf die Möglichkeit einer Kontinuität zwischen dem Erziehungssystem der Doppelmonarchie im 19. Jahrhundert und der Bildungsethik der aus Deutschland und Ost-Mitteleuropa emigrierten Professoren, die die Atmosphäre vieler Colleges und Universitäten prägten. Dieser Prozess begann Mitte der 1930er Jahre und erreichte in den 60ern seinen Höhepunkt.79 So bietet Nemoianus Bildungsethik eine Perspektive auf die Monarchie für die Zeit des Ausgleichs (1867  –  1918) und für die gesamte Epoche seit der Rückeroberung der mitteleuropäischen Gebiete von den Osmanen in den 1680ern. Weit entfernt von der Annahme, die Vertreibung der Osmanen aus Ungarn durch die Habsburger habe, wie István Bibó 1946 behauptete, Ungarns Völkern jede Hoffnung auf schließliche Unabhängigkeit genommen, betont Nemoianu die positiven Seiten der habsburgischen Verwaltung.80 Er räumt sogar ein, dass die Hegemonie der 79 Zu ungarischen Intellektuellen in Nordamerika siehe die Arbeiten von Tibor Frank in der Bibliografie, Teil II, am Ende dieses Bandes. 80 István Bibó (1911  –  1979), A Kelet-európai Kisállamok nyomorúsága [1946  : übersetzt ins Französische unter dem Titel Misère des petits états d’Europe de l’Est (Paris  : L’Harmattan, 1986)] und Democracy, Revolution, Self-Determination  : Selected Writings (Boulder CO  : East European Monographs,

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deutschsprachigen Kultur sich positiv auf die Verbreitung der mitteleuropäischen Bildungsethik in weiter entfernte Regionen ausgewirkt hatte. Nemoianus Konzeptualisierung der mitteleuropäischen Bildungsethik verschmilzt die Tugenden von Schillers und Goethes Pädagogik einer humanistischen Selbstbildung mit denen des josephinischen Schulwesens. Von unserem Standpunkt aus wäre es durchaus nicht verfehlt gewesen, hätte Nemoianu sein Konstrukt die »weimarisch-habsburgische Bildungsethik« genannt. Dieses Amalgam war der Nährboden einer biedermeierlichen Praxis, die dem Ideal bürgerlicher Selbsterziehung durch diszipliniertes Studium zur Geltung verhalf. Die mitteleuropäische Bildungsethik umfasst auch Qualitäten, welche die Zwischenkriegszeit-Generation von Deutsch-Ungarn – wie Jakob Bleyer (1874  –  1933) oder Fritz Valjavec (1909  –  1960) – als Fortschritt deuteten. Einen Fortschritt, den die Ausdehnung des deutschsprachigen Siedlungsgebietes donauabwärts in Richtung Südosteuropa gebracht hatte.81 Kein anderer Import, um es kurz zu sagen, den diese Ausdehnung Habsburgs brachte, war von ähnlich bleibendem Wert wie die mitteleuropäische Bildungsethik. Über seine eigentlichen positiven Auswirkungen hinaus, bewirkte dieser Vorgang, dass diejenigen, die dieses Ethos wiederum nach Nordamerika brachten, nicht ausschließlich Deutsche oder Öster­reicher waren. Neben unzähligen Deutschen, Öster­reichern und Deutschböhmen gehörten Ungarn wie der Historiker Oszkár Jászi (1875 Nagykároly – 1957 Oberlin, OH), Polen wie der Historiker Oskar Halecki (1891 Wien – 1978 New York), Rumänen wie der Vergleichende Religionswissenschaftler Mircea Eliade (1907 Bukarest – 1986 Chicago) und Südslawen wie der Erfinder Michael Pupin (1954 Idvor, Banat – 1935 New York) zu dieser Gruppe. In einem Maß, das man heute als typisch für die Intellektuellen der Doppelmonarchie ansieht, teilten diese Männer vor allem zwei Eigenschaften  : stupende Gelehrsamkeit und ein rechthaberisches, selbstherrliches Wesen.

1991). Bibós Buch motivierte Jenö Szűcs zu seinem Opus magnum über das West-Ost Kulturgefälle. Vgl. Kapitel 9, Anm. 329. 81 Zu Bleyer siehe György M. Vajda, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740  –  1918 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994), S. 20  –  21, und Loránt Tilkovszky, »Das Deutschtum von Budapest und Umgebung zwischen den beiden Weltkriegen und danach«, in Wendelin Hambuch (Hg.), Deutsche in Budapest (Budapest  : Deutscher Kulturverein, 1999), S. 122  –  138, insbes. 125, 127  –  128, 636.

Kapitel 4

Die Theorie Öster­reichs von Grassl und Smith 4.1 »Marginozentrische« Kulturen als Orte der Grenzüberquerung Eine dritte Quelle bilden drei Artikel des öster­reichischen Wirtschaftswissenschaftlers Wolfgang Grassl (geb. 1955) und seines Koautors, des 1954 geborenen englischen Philosophen Barry Smith. Wie Maiers und Nemoianus Arbeiten blieben sie für die Erforschung der Kreativität im Habsburgerreich bisher weitgehend ungenützt. Mit Ausnahme von Moritz Csáky hat so gut wie niemand Bezugnahmen auf die Thesen, die diese Autoren in »A Theory of Austria« (1986) vorgetragen haben, durch Verweise kenntlich gemacht. Die von Grassl und Smith geprägten Formulierungen tauchen mitunter in eher beiläufigen Erwähnungen von Bartóks Auseinandersetzung mit Motiven der Volksmusik auf, für die sich eine intensive Pendelbewegung über Grenzen hinweg nachweisen lässt. Grassl und Smith haben mit äußerster Sorgfalt die entsprechenden Hinweise des Komponisten zu einer umfassenden Analyse dessen ausgeweitet, was in der Philosophie und in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften des späten Habsburgerreiches spezifisch öster­reichisch ist. Ihr Artikel nimmt zurecht für sich die Bezeichnung Theorie (statt Hypothese) in Anspruch. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Theorie die Allgegenwart der mitteleuropäischen Bildungsethik als gegeben annimmt. Die Thesen der beiden stellen in gewissem Sinn die Vorwegnahme eines weiteren Schlüsselkonzeptes dar, der »marginozentrischen« urbanen Kultur, die der 1946 geborene rumänischstämmige Literaturwissenschaftler Marcel Cornis-Pope 2004 vorstellte. Die Idee einer »grenzfokussierten« Interaktion lohnt einen genaueren Blick, bevor wir uns ansehen, wie Grassl und Smith sie mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen haben. Cornis-Pope griff provinzielle städtische Zentren an den äußersten Flanken des Habsburgerreichs heraus, wie Czernowitz (Cernivtsi), Temesvár (Timişoara) und Grosswardein (Oradea), in denen Ethnizitäten ein gedeihliches Zusammenleben praktizierten, was nur möglich war, weil sie nationalistische Agitatoren weitestgehend mit Nichtbeachtung straften. Von den Metropolen meist wenig wahrgenommen, fungierten diese Binnenzentren in ganz besonderer Weise als »›Schwellenstädte‹ für mehrere Kulturen und als ›Magnetfelder‹, die in einem fortwährenden, wenn auch meist asymmetrischen Dialog östlichen wie westlichen literarischen Trends als Andockstationen dienten«.82 82 Marcel Cornis-Pope, »Introduction  : Representing East-Central Europe’s Marginocentric Cities«,

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Cornis-Pope hob das »multikulturelle Potenzial« von Städten hervor, in denen mehrere Ethnizitäten sowohl vor wie nach 1918 in unaufgeregter Missachtung der Ideologen des Separatismus friedlich zusammenlebten. Bis vor kurzem haben diese Orte, an denen Kulturgrenzen überschreitende Verhandlungsprozesse recht eigentlich zuhause waren, wenig Aufmerksamkeit erhalten. Bis 1989 war diese lokale Art von interethnischem Einverständnis nicht das, woran die meisten Leute im Zusammenhang mit der Doppelmonarchie erinnert werden wollten. Cornis-Pope prägte den Ausdruck »marginozentrisch« zur Bezeichnung abgelegener Städte im Landesinneren. Er dehnte ihn nicht auf Hafenstädte wie Triest oder Fiume / R ijeka aus, obwohl auch dort drei Ethnizitäten – Öster­reicher, Italiener, Slowenen – verhältnismäßig freundschaftlich zusammenlebten. Auch sie verstanden es, den »fortwährend wackligen, fortwährend knirschenden Kompromiss zwischen Lokalismus und Zentralismus«, von dem Maier in Hinblick auf die Doppelmonarchie spricht, zu ihrem jeweiligen Vorteil zu nutzen.83 Man kann darüber streiten, ob noch andere regionale Hauptstädte, vor allem solche weit im Osten des Habsburgerreiches, einen Platz auf der Liste multiethnischer Friedensorte beanspruchen können. Cornis-Pope hat deutsch besiedelte Städte im damaligen Oberungarn wie Zips oder Kassa, das heutige Košice in der Ostslowakei, Geburtsort des ungarisch-deutschen Schriftstellers Sándor Márai, unerwähnt gelassen ebenso wie Pressburg (Pozsony, Bratislava) und Brünn (Brno). Die zwei zuletzt genannten Kreuzungspunkte wichtiger Verkehrswege liegen vielleicht zu nahe an Wien, um zu Cornis-Popes Vorstellung von abgelegenen Zentren zu passen, deren bloße Entfernung von beiden Reichshauptstädten schon ausreichte, um sie vor dem Gift des »ethnischen Solipsismus«, wie Tony Judt es nannte, zu bewahren.84 Ein marginozentrisches Bewusstsein in den Randgebieten des Reiches bewahrte seine Nutznießer vor den Bruderkriegen, die im Kessel von Prag nach 1880 tobten und an den Sprach-»Grenzen« in Böhmen, Mähren und der Südsteiermark (heute Slowenien).85 Bis in unsere Zeit ist solchen Zonen des Kampfes mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden als den friedlichen. in Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th Centuries, 4 Bde. (Amsterdam / Philadelphia  : John Benjamins, 2004  –  2010), 2 (2006), S. 9  –  11, und Cornis-Pope, John Neubauer und Nicolae Harsanyi, »Literary Production in a Marginocentric Cultural Node  : The Case of Timişoara«, ebenda, S.  105  –  124. Siehe auch Victor Neumann, »Multiculturality and Interculturality  : The Case of Timişoara«, Hungarian Studies, 21  :1  –  2 (2007), S. 3  –  18. 83 Charles S. Maier, »City, Empire, and Imperial Aftermath«, S. 39. 84 Tony Judt, Das Chalet der Erinnerungen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. (München  : Carl Hanser, 2012), S. 100. 85 Siehe Pieter M. Judson, »Frontiers, Islands, Forests, Stones  : Mapping the Geography of a German Identity in the Habsburg Monarchy, 1848  –  1900«, in Patricia Yaeger (Hg.), The Geography of Identity (Ann Arbor MI  : University of Michigan Press, 1996), S. 382  –  406, insbes. 395  –  396.



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»Marginozentrisch« bezeichnet zwar ein gut dokumentiertes Phänomen  – bestimmte regionale Hauptstädte waren ein Boden, der die Vermischung verschiedener Ethnizitäten begünstigte – dem Verständnis erschließt sich der Begriff jedoch nicht ohne Weiteres. Es ist klar, dass damit nicht »marginalisiert« gemeint ist oder »entfremdet«. Von den zwei Möglichkeiten einer Deutung – »ein Ort, der an einer Grenze liegt« und »ein Schnittpunkt von Grenzen, wo diese überwunden werden« – ist eindeutig die zweite vorzuziehen. Eine marginozentrische Stadt und das Bewusstsein, das sie erzeugt, sind wesentlich geprägt von der Überwindung von Grenzen – administrativen Grenzen zwischen Regionen oder kulturellen Grenzen zwischen verschiedenen Ethnizitäten. Gewöhnlich in der Nähe einer als einschneidend empfundenen Grenze gelegen – auch Straßburg, Görz und Triest sind solche Städte – und von zwei oder mehreren rivalisierenden Ethnizitäten bewohnt, können solche »Grenzen überquerende« Städte ihre Bewohner darin unterweisen, interethnische Konflikte, die an andern Orten brandgefährlich werden, auf Sparflamme zu halten. Wenigstens eine signifikante Zahl von Bürgerinnen und Bürgern dieser marginozentrischen Städte verstand sich darauf, den sie umgebenden kulturellen Barrieren ein Schnippchen zu schlagen. Diese harmonisierenden, ausgleichenden Figuren wahrten das Gleichgewicht im lokalen Ökosystem der Ethnizitäten. Wenn man den Gedanken der »Grenzüberquerung« nicht nur für Städte, sondern auch für bestimmte Gebiete des Habsburgerreiches gelten lässt, dann stellt sich die Frage, in welchen Gebieten – zusätzlich zu den ausgewählten Städten – verschiedene Ethnizitäten in relativer Harmonie zusammenlebten. Dieser Anspruch wird oft für Mähren erhoben und für die Hauptstadt, Brünn – im Gegensatz zu Böhmen nach 1860 und seiner von Konflikten zerrissenen Hauptstadt Prag. Andere derartige Friedensinseln waren angeblich Istrien, die Bukowina und das Banat. Auch dort lebten mehrere Ethnizitäten, zu denen gewöhnlich auch Juden gehörten, verhältnismäßig einträchtig zusammen. Der vielleicht am stärksten mit Nostalgie befrachtete Anspruch ist für Czernowitz in der Bukowina erhoben worden, das heutige Tscherniwzi am westlichen Rand der Ukraine. Zwischen 1774 und 1918 beherbergte diese, mit Deutsch, Polnisch, Ukrainisch, Rumänisch, Jiddisch fünfsprachige Region den am weitesten nach Osten vorgeschobenen Grenzposten Cisleithaniens. Hier gab es in manchen Familien die auch andernorts praktizierte Regelung, zuhause an verschiedenen Wochentagen verschiedene Sprache zu sprechen – eine pfiffige Anwendung der mitteleuropäischen Bildungsethik auf den Spracherwerb. Leserinnen und Leser von Lyrik werden Czernowitz vor allem als Geburtsort von Paul Celan (1920  –  1970) kennen, in dem eine ganze Schule deutschsprachiger jüdischer Dichter, die dort vor allem in den 1930er und 1940er Jahren hervortraten, ihren Höhepunkt fand. Detailreich beschreibt Amy Colin in einem Artikel, wie »Schriftsteller, Journalisten,

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Historiker und politische Figuren aus der Bukowina ihre multiethnische Heimat immer wieder als eine Insel des Friedens und des wechselseitigen Verstehens porträtiert haben … Manche Autoren sahen die Bukowina nicht nur als eine in einem hervorragenden Sinn europäische Region, sondern als das Versuchslabor für ein vereintes Europa«.86 Im Jahr 1920 entwarf der jüdische Kaufmann Josef Drach Pläne für eine Europäische Union mit einer gemeinsamen Währung, dem Europäischen Friedenstaler, und ihrem Mittelpunkt in Wien.87 Elf Jahr davor hatten ein ukrainischer, ein rumänischer und ein öster­reichisch-jüdischer politischer Führer der Bukowina einen »Nationalitätenausgleich« ausgehandelt, der die ethnische Autonomie bei Wahlen garantieren sollte.88 Zwischen 1920 und 1944, als Rumänien den Norden der Bukowina regierte, ging dieses multiethnische fröhliche Treiben den angeblich reinrassigen Faschisten zunehmend auf die Nerven. Zu den Genervten gehörte auch Mircea Eliade, der diesen widerwärtigen Anfängen später eine radikale Absage erteilen sollte.89 Im Rückblick erscheint das dortige deutschsprachige literarische Leben wie ein in voller Blüte stehendes Paralleluniversum. Den meisten Leserinnen und Lesern wird die Entdeckung dieser weit ostwärts von Wien und Prag gelegenen »friedlichen, multiethnischen Oase« wohl noch bevorstehen. »Ob Mythos, Erinnerung oder literarisches Paradigma«, schreibt Peter Rychlo, »die Botschaft der Bukowina und ihrer Hauptstadt ist noch einmal eine ganz andere  : Pluralismus ist ein unabdingbarer Teil der condition humaine. Die bukowinischen Autoren des 20. Jahrhunderts sind lebendige Verkörperungen dieser These. Wer die Weltkriege in dieser seiner Heimat erlebte, musste Staatszugehörigkeit und seine politische, soziale, sprachliche und manchmal sogar seine religiöse Identität mehrmals, manchmal sogar innerhalb ein und desselben Jahres wechseln. Und wer seine Heimat verließ, war gezwungen, seine Identität noch öfter und noch viel radikaler zu wechseln als diejenigen, die er zuhause zurückgelassen hatte.«90 Die differenzierten, ausgewoge86 Amy Colin mit Peter Rychlo [zur Zeit nach 1940], »Czernowitz / Cernauti / Chernovtsy / Cherniv­ tsi / Czerniowce  : A Testing Ground for Pluralism«, in Cornis-Pope und Neubauer (Hg.), His­tory of the Literary Cultures, 2 (2006), S. 57  –  77, insbes. 57. 87 Ebenda, S. 57. 88 Ebenda, S. 59. 89 Tony Judt mit Timothy Snyder, Nachdenken über das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork (München  : Carl Hanser Verlag, 2013), S. 177  –  178. 90 Colin, »Czernowitz«, S.  76. Alfred Kittner (1906  –  1991) legte eine Sammlung von Gedichten von sechsundzwanzig deutschsprachigen Dichtern vor als »Gedichte« in Amy Colin und Alfred Kittner (Hg.), Versunkene Dichtung der Bukowina. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik (München  : Wilhelm Fink, 1994) [mit 101 Biografien], S. 39  –  344. Siehe auch Peter Rychlo und Oleg Liubkiwskyj (Hg.), Literaturstadt Czernowitz. Autoren Texte Bilder (Czernowitz  : Bukowina-Zentrum, 2007). Ein etwas mühevolles Unterfangen ist George Guţu (Bukarest), »Möglichkeit geistes-



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nen Darstellungen von Colin und Rychlo machen deutlich, dass der Einsatz von binären Gegensätzen, so unverzichtbar er ist, bei einer derart vernetzten Kultur nur zu Missverständnissen führen kann. Es ließe sich argumentieren, dass den Forschern das Vokabular, das nötig ist, um einer in fünf Sprachen verwurzelten Kultur gerecht zu werden, noch nicht zur Verfügung steht. Die Charakterisierung eines derartigen Nebeneinander als »marginozentrisch« verweist auf eine Komplexität, die, ähnlich wie dreidimensionales Schach, unser Erkenntnisvermögen schlicht überfordert.91 Nichtsdestotrotz fällt eine Ausnahme von dieser Aufgeschlossenheit auf. Die Nationalitäten der Bukowina, dieses Außenpostens Cisleithaniens, der weiter im Osten lag als irgendein Teil des magyarisch regierten Transleithanien, zeigten kein wie immer geartetes Interesse an ungarischen Angelegenheiten. Seit 1989 haben in Czernowitz ansässige Gelehrte die interethnische Kultur ihrer Heimat wiederentdeckt und pflegen jetzt ein retrospektives Selbstbild, dessen zentrales Charakteristikum eben diese interethnische Aufgeschlossenheit ist. Dasselbe gilt für das Banat, eine marginozentrische Region par excellence, die früher zum südöstlichen Transleithanien gehörte und jetzt, abgesehen von einem kleinen Teil, der serbisch ist, den Südwesten Rumäniens bildet. Das Banat ist die Heimat der 1953 geborenen Herta Müller, Literatur-Nobelpreisträgerin 2009, der es virtuos gelingt, ihren Leserinnen und Lesern das marginozentrische Bewusstsein dieser Region zu vermitteln.92 Eine Subdisziplin der Germanistik blüht und gedeiht in Timişoara, der Hauptstadt des Banat, wo seit etwa 1999 das Journal Temeswarer Beiträge zur Germanistik sich der jetzt so genannten »interethnischen Germanistik« widmet. Nicht ausgespart wird dabei ein etwas anrüchiger Sohn des Banat, der »rumänischdeutsche« Adam Müller-Guttenbrunn (1852  –  1923), der – diametral entgegen zu den Tendenzen seiner Heimat – sich in Wien zum glühenden Deutschnationalen mauserte und von 1898 bis 1903 als Gründungsdirektor dem antisemitischen Kaiserjubiläums-Stadttheater vorstand. Nach dem Bankrott wurde das Etablissement übrigens 1904 als Volksoper wieder eröffnet und schließlich zu einem Synonym für Operette. geschichtlicher Vergegenwärtigungsdiskurse  : Fallbeispiel Bukowina«, Trans. Internet-Zeitschrift für Kul­turwissenschaften, 13 (2002), S. 1  –  28  ; online unter  : http://www.inst.at/trans/13Nr/gutu13.pdf (zuletzt abgerufen 7. September 2012). 91 Der ungarisch-amerikanische Linguist Adam Makkai reflektiert über seine Erfahrung mit dem Verfassen von Gedichten in zwei Sprachen in »Anasemiotic Multilingual Poetry  : Fact or Fiction  ? (A Linguistic Self-Portrait with Illustrations)«, Hungarian Studies, 5  :2 (1989), S. 167  –  190. 92 Zu Müller (und zu dem 1914 in Czernowitz geborenen Gregor von Rezzori d’Arezzo) siehe Valentina Glajar, The German Legacy in East Central Europe as Recorded in Recent German-Language Literature (Rochester NY  : Camden House, 2004). Zu Müllers Übersiedlung nach Deutschland 1987 siehe Thomas Cooper, »Herta Müller  : Between Myths of Belonging«, in John Neubauer und Borbála Zsuzsanna Török (Hg.), The Exile and Return of Writers from East-Central Europe (Berlin / New York  : de Gruyter, 2009), S. 475  –  496.

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1995 erschien im Zusammenhang mit einem Symposium in Ungarn ein Band mit Aufsätzen zu einem runden halben Dutzend zweisprachiger Schriftsteller des Banat, denen allen, mit einer einzigen Ausnahme, ein langes Leben gegönnt war. Lässt man sich ihre Namen über die Zunge rollen, gibt das schon einen Eindruck der interethnischen Echos, die aus dieser versunkenen Welt herüberhallen  : Zoltán Franyó (1887  –  1978), Todor Manojlović (1883  –  1968), Willy Stepper-Tristis (1899  –  f rühe 1940er  ?), Hilde Martini-Striegl (1884  –  1974), Franz Liebhard (1899  –  1989).93 Keiner der fünf hat es zu einer internationalen Reputation gebracht, und eine solche kann man für Schriftsteller aus marginozentrischen Regionen auch nicht von vornherein erwarten. Eine geradezu lyrisch anmutende Beschwörung des Banat findet sich in einem französischen Sammelband mit dem Titel Le Banat  : Un Eldorado aux confins (Paris, 2007), dessen etwa drei Dutzend Essays die interethnische Kooperation als das typische Merkmal dieser Region herausstreichen. Ein aus dem Rumänischen übersetzter Beitrag ist eine Reminiszenz von Virgil Nemoianu.94 Ist es nicht bemerkenswert, dass eine Gruppe von Intellektuellen in Paris es sich angelegen sein lässt, den Franzosen die marginozentrischen Tugenden einer Region am andern Ende Europas vorzuführen  ? Werden wir hier einer Art Habsburg-Nostalgie ansichtig, teilweise vielleicht motiviert durch die Malaise der Europäischen Union in den Jahren nach der Jahrtausendwende  ? Ist dies der Fall, dann ist diese Nostalgie weder imperial noch weltstädtisch noch selbstgefällig, sondern subnational, lokal und bescheiden. Marginozentrische Regionen sind der Inbegriff dessen, was Nemoianu als »sekundär« bezeichnet. In ihrer Vorliebe dafür, übersehen zu werden, haben derartige Regionen die Ideologien und Avantgarden abgelehnt, die in Wien und Budapest reüssierten. Bis vor Kurzem – und man könnte sagen, dass dies in widersinniger Weise völlig folgerichtig ist – haben diejenigen, deren Anliegen es ist, die Innovationen von »Wien um 1900« zu feiern, dieses quintessenzielle Phänomenon der Doppelmonarchie, ihre Inseln interethnischen Gleichgewichts, einfach übersehen. Wenn, wie Charles S. Maier meint, das Habsburgerreich nicht wusste, wie es »Territorialität«, die Forderung der verschiedenen Ethnizitäten nach einem eigenen »eingegrenzten politischen Raum« als Wunschziel des ausgehenden 19. Jahrhunderts integrieren sollte, dann haben die Einwohner grenzüberquerender Städte in 93 Siehe Antal Mádl und Peter Motzan (Hg.), Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen und Kulturen (München  : Südostdeutsches Kulturwerk, 1999), S. 179  –  194, 217  –  251. Das Buch enthält zahlreiche Besprechungen mehrsprachiger Autoren der Doppelmonarchie. 94 Virgil Nemoianu, »Ma Famille«, in Adriana Babeti und Cécile Kovacshazy (Hg.), Le Banat. Un Eldorado aux confins in Cahiers d’Europe Centrale, Hors série No. 4 (Paris  : Centre Interdisciplinaire de Recherches Centre-Européennes, 2007), S. 234  –  239  ; online unter  : http://www.memoria banatuli.ro/…/banat%20brumar%20oct%202007.pdf (zuletzt abgefragt 25. August 2012).



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marginozentrischen Regionen diese Forderung zum Großteil einfach ignoriert. Ihr Ideal einer Kultur war stattdessen ein nicht-territoriales, das in einem marginozentrischen Bewusstsein wurzelte. Ihr Anliegen war das Herstellen und Bewahren einer lokalen Ausgewogenheit innerhalb jenes Ökosystems der Ethnizitäten, das die Doppelmonarchie darstellte. Dasselbe gilt für die Propagandisten des öster­reichischen Menschen. Und doch haben die meisten von ihnen diese marginozentrischen Einsprengsel übersehen, wo einfache Menschen jene Ideale lebten, die ihrer Ansicht nach vorrangig die Domäne hochgestellter Staatsdiener waren. Regionen wie die Bukowina und das Banat praktizierten – man wäre versucht zu sagen  : spontan, wenn es nicht auch dazu eine Vorgeschichte gäbe – eine interethnische Mediation der Art, wie Hofmannsthal, Hassinger und Benda sie nach 1914 vor allem den öster­reichischen Staatsbeamten zuschrieben. In Kapitel 3 wird im Zusammenhang mit dem Phantomschmerz dieser Propagandisten die Bezeichnung »Gindelyisten« vorgeschlagen. Dass der tragisch isolierte Historiker Böhmens Anton Gindely für sie als Namenspatron herhalten muss, unterstreicht die Aussichtslosigkeit ihrer Sache, besonders in Böhmen. In offenbarer Unkenntnis der marginozentrischen Regionen im Osten des Reiches sprachen Öster­reichs Ideologen der Zwischenkriegszeit in höchsten Tönen von der von ihnen georteten Praxis, den »kleinen Grenzverkehr« durch Eingriffe von oben zu steuern, und versäumten es, eine ganz ähnliche Praxis anzuerkennen, die von unten – von den heute vielzitierten Graswurzeln – kam. Die Wortführer des öster­ reichischen Menschen in der Ersten Republik scheinen tatsächlich übersehen zu haben, dass ihr Ideal des guten Einvernehmens zwischen den Ethnizitäten im Osten geblüht hatte, ohne der Pflanzung durch höhere Staatsbeamte zu bedürfen. Während Hassinger und Benda die nationalitätenlosen Bürokraten als unentbehrlich für das Funktionieren des mittlerweile untergegangenen Reiches priesen, kamen die Ethnizitäten in der Bukowina und im Banat auch ohne Hilfe von außen – oder von oben – mehr als nur leidlich miteinander aus. In den marginozentrischen Regionen war der öster­reichische Mensch weder ausschließlich Öster­reicher noch ausschließlich Staatsdiener. Einige dieser im Verborgenen blühenden Musterbeispiele des habsburgischen Sozialkapitals waren bis in die 1940er Jahre hinein aktiv und ihre Nachkommen sind es wieder seit 1989. Diese ehemaligen Inseln des sozialen Wohlbefindens werden jetzt immer deutlicher sichtbar als ein unersetzbares Erbe der Doppelmonarchie. Es handelt sich um Orte, wie Katherine Arens und andere angemerkt haben, wo ein bis vor 1918 zu datierendes marginozentrisches Bewusstsein sich von Neuem zu regen beginnt. Eine andere blühende marginozentrische Region befand sich unweit von Wien. Während der ein, zwei Jahre bevor Franz Werfel 1938 schließlich ins Exil ging, genoss er das gute Einvernehmen zwischen den Ethnizitäten im nördlichen Bur-

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genland, das bis 1918 die westlichste Region Ungarns gewesen war. In mehreren Werken, in dem unvollendet gebliebenen Roman Cella oder die Überwinder zum Beispiel, erklärte Werfel diesen Teil des Landes zur Verkörperung der Quintessenz des vielseits betrauerten Habsburgerreiches. Dieses Dreiländereck, wo Öster­reich, Ungarn und die damalige Tschechoslowakei aneinander stießen, »wird von einem bunten Völkergemisch bewohnt, von ungarischen Gutsbesitzern, öster­reichischen Bauern, slowakischen Erntearbeitern, jüdischen Handelsleuten, kroatischen Handwerkern, Zigeunern und schließlich von den undefinierbaren Kumanen«. Seit Jahrhunderten hatte dieses Völkergemisch friedlich zusammengelebt.95 Noch im Exil in Frankreich und den Vereinigten Staaten schwelgte der in Prag geborene und zur Liebe zur Doppelmonarchie konvertierte Werfel in diesen Erinnerungen. Durch eine Verkettung von Umständen hat Norman Stone, ein britischer Historiker Mitteleuropas, 1964 eine in dieselbe Richtung weisende Erfahrung gemacht.96 In seinen Lehr- und Wanderjahren – Stone war damals 23 – traf er sich regelmäßig mit Ungarn, Slowaken und Öster­reichern in Bratislava oder in der Umgebung der Stadt, unweit also von Werfels Insel der Seligen. Als er einmal törichterweise auf der Rückkehr nach Öster­reich versuchte, den Eisernen Vorhang auf eigene Faust zu überqueren und dabei aufgegriffen wurde, musste er einen Monat im Gefängnis von Bratislava zubringen. Die Leute, die er zufällig in der Stadt, im Hotel, bei Gericht oder im Gefängnis kennenlernte, sprachen alle zwei oder drei regionale Sprachen und verständigten sich mit der größten Leichtigkeit durch Gesten mit jenen, denen mit diesen Sprachen nicht gedient war. Mitgefangene unterwiesen ihn, als wäre dies die natürlichste Sache der Welt, in ihrer Sprache und gaben ihm Einblick in ihre Kultur. Ungeachtet ihres Bildungsgrades schienen alle über ein mehr oder weniger großes Repertoire an ererbten Verständigungsmöglichkeiten zu verfügen. Auf diese Weise wurde 1964 (!) ein nichts ahnender Brite der Früchte teilhaftig, die in Jahrhunderten marginozentrischer Interaktion an dieser uralten Grenze, am Schnittpunkt dreier Kulturen, herangereift waren. Bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg gedieh dieses marginozentrische Bewusstsein in vielen – zeit95 Franz Werfel, »Die wahre Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz« [1942], in Das Reich der Mitte, Stiasny Bücherei No. 76 (Graz / Wien  : Stiasny, 1961), S. 73. Werfels unvollendeter Roman Cella oder die Überwinder (1938) sollte u. a. das Andenken an Juden in Eisenstadt sichern. Siehe Michael Wagner, Literatur und nationale Identität. Öster­reichbewusstsein bei Franz Werfel (Wien  : Prae­sens Verlag, 2009), S. 263  –  283. Robert W. Eshbach hat zur Rolle solcher Juden in den 1830ern auf den weiter südlich gelegenen fürstlich esterházischen Besitzungen in der Nähe von Kittsee geforscht. Siehe Eshbach, »Joachim’s Youth  – Joachim’s Jewishness«, The Musical Quarterly, 94  :4 (2011), S. 548  –  592, insbes. 549  –  543. Heimito von Doderer bedauert die interethnischen Spannungen im Burgenland im Jahr 1926 in Die Dämonen (München  : Biederstein, 1956), S. 540  –  550. 96 Norman Stone, »Note«, in The Atlantic and Its Enemies. A Personal History of the Cold War (London  : Allen Lane, 2010), S. 371  –  381.



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weise vielleicht sogar in den meisten – Regionen der Doppelmonarchie und ihrer Nachfolgestaaten, und Inseln dieser Sensibilität bestehen sogar noch heute. Heute mehr denn je sind Kulturhistoriker verpflichtet, dafür zu sorgen, dass diese Flamme nicht erlischt.

4.2 Bartók zum Thema Volksmelodien als Grenzgänger Wolfgang Grassl und Barry Smith haben mehr als alle andern zu unserem Verständnis dessen beigetragen, was marginozentrische Städte und Regionen nicht nur harmonisierend im Zusammenleben, sondern auch innovativ auf intellektuellem Gebiet sein ließ. Diese beiden haben begriffen, dass das gesamte Habsburgerreich über die Stärken verfügte, die Cornis-Pope und andere Vergleichende Literaturwissenschaftler vor allem abgelegenen Kreuzungspunkten wie der Bukowina und dem Banat zugestehen wollen. Grassl und Smith, die den Ausdruck nicht verwenden, hätten ihre »Theorie Öster­reichs« sehr wohl auch eine Theorie des marginozentrischen Bewusstseins nennen können. Es ist durchaus sinnvoll, dort anzufangen, wo auch Grassl und Smith angefangen haben, bei Texten, die Béla Bartók (1881  –  1945) über Ungarns Musikkultur schrieb. Von den großen ungarischen »Modernisten« auf dem Gebiet der Literatur, Musik und bildenden Kunst ist Bartók – jedenfalls im englischen und ähnliches gilt für den deutschen Sprachraum – mit Abstand am breitesten rezipiert worden. Musikhistoriker haben Analysen seiner Essays in Besprechungen seiner Kompositionen oder seiner Rolle im Kulturleben Ungarns integriert. Als zeitweiliger Sympathisant der Nyugat-Bewegung [Nyugat = Westen, Abendland, Anm. d. Ü.] war er ein Bewunderer der Lyrik von Endre Ady. Mit dem Librettisten Béla Balázs erarbeitete er die Oper Herzog Blaubarts Burg (1911), die auch als Studienobjekt besonders beliebt ist. Er lebte eine Zeitlang mit Georg Lukács unter einem Dach. Judit Frigyesi hat in ihrem bemerkenswerten Buch über Bartók alle diese Verbindungen eingehend erforscht.97 Bartóks essayistische Tätigkeit begleitete seine Karriere als Komponist. Einige seiner Essays schrieb er auf Englisch  ; der von Kulturhistorikern am öftesten z­ itierte 97 Judit Frigyesi, Béla Bartók and Turn-of-the-Century Budapest (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 1998). Dieses Werk bietet einen Überblick über die ästhetischen Ideale der ersten Nyugat-Generation, der Generation u. a. von Endre Ady, Mihály Babits, Dezső Kosztolányi und Zsigmond Móricz, S. 72  –  74, 89  –  98, 113  –  115, 295  –  297. Siehe auch Frigyesi, »Béla Bartók and the Concept of Nation and Volk in Modern Hungary«, The Musical Quarterly, 78  : 2 (1994), S. 255  –  287. Nützlich David E. Schneider, Bartók, Hungary, and the Renewal of Tradition (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 2006).

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ist »Race purity in music« von 1942, der einen Gipfelpunkt in seiner fast vierzig Jahre währenden volksmusikalischen Sammeltätigkeit in ganz Transleithanien markiert.98 Anlässlich seines Aufenthalts bei den Szeklern in Siebenbürgen im Jahr 1908 folgte Bartók der von seinem Freund Zoltán Kodály 1905 begonnenen Praxis, gesungene und instrumentale volksmusikalische Darbietungen auf Wachszylindern aufzunehmen. Diese werden heute vom Bartók-Archiv im Institut für Musikologie, einer Abteilung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, in Budapest gehütet. Kodály und Bartók konnten sehr bald zeigen, dass die alte, genuin magyarische Musik aus solchen bislang noch nicht aufgezeichneten Volksmelodien bestand. Die zwei Ethnomusikologen widerlegten damit die langlebige, von Franz Liszt nobilitierte These, die ungarische Musik habe sich vor allem aus militärischer Rekrutierungsmusik, dem sogenannten verbunkos (vom deutschen Wort Werbung), entwickelt. Seit dem 18. Jahrhundert hatten »Zigeuner« mit einer kommerzialisierten Form von verbunkos den Landadel und später das städtische Bürgertum unterhalten, und Touristen kommen ja heute noch in diesen Genuss, wenn »Zigeuner« im Restaurant aufspielen. Bartók und Kodály gelang es somit, zwei grobe Irrtümer auszumerzen  : Die »Zigeuner« waren nicht die Erfinder der Musik, die mit ihrem Namen assoziiert wurde (magyar nóta). Und die ungarische Volksmusik hatte sich über Jahrhunderte, völlig unabhängig von der hoch raffinierten Spielweise, mit der die »Zigeuner« verbunkos interpretierten, in der bäuerlichen Bevölkerung ohne Beteiligung der »Zigeuner« entwickelt. Die Vielfalt dieser pentatonischen Musik widerlegte, sehr zum Ärger der konservativen Nationalisten, den Mythos von Ungarns einheitlicher Musiktradition. Von noch viel größerer Bedeutung für uns als Bartóks Aufräumen mit einem weitverbreiteten Irrtum ist seine Analyse in dem Artikel aus dem Jahr 1942, in dem er feststellt, dass Musiker Volksmelodien von einander übernahmen und über Jahrhunderte hinweg jeweils anders ausformten. In seiner Erklärung der unerhörten Vielfalt transleithanischer Volksmusik war Bartók zum Schluss gekommen, »dass da ein ständiges Geben und Nehmen von Melodien vor sich ging, eine ständiges Kreuzen und Wiederkreuzen, das seit Jahrhunderten anhält«.99 Er verweist nachdrücklich auf das Hin- und Herpendeln von Melodien über Sprachgrenzen, was 98 Bartók, »Race Purity in Music«, Modern Music, 19 (1942), S. 153  –  158, Nachdruck in Horizon, 10 (1944), S.  403  –  406, und in Bartók, Essays, Benjamin Suchoff (Hg.) (London  : Faber and Faber, 1976), S. 29  –  32. Die Zitate hier stammen aus der deutschen Fassung »›Rassenreinheit‹ in der Musik«, in Bence Szabolcsi (Hg.), Béla Bartók. Weg und Werke. Schriften und Briefe (Budapest  : Corvina Verlag, 1972), S. 207  –  209. – Dezső Kosztolányi, »Béla Bartók  : An Interview« [1925]. Aus dem Ungarischen von David E. Schneider, in Peter Laki (Hg.), Bartók and His World (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1995), S. 228  –  239. 99 Ba rtók, »›Rassenreinheit‹«, S. 208.



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sie jeweils der »Unähnlichkeit in Bezug auf die Aussprache, den Tonfall, die metrischen Verhältnisse, den Silbenbau usw. zweier Sprachen« aussetzte.100 Diese Unterschiede zwischen den auf langen Traditionen fußenden Nachbarkulturen machten es wahrscheinlich, dass die »emigrierte« Melodie in ihrem neuen Zuhause unüberhörbare Veränderungen erfuhr. Solche Transformationen konnten leicht eine Kettenreaktion weiterer Veränderungen des Originals auslösen. »Eine ungarische Melodie wird zum Beispiel von den Slowaken übernommen und ›slowakisiert‹. Diese slowakisierte Form kann dann von den Ungarn rückübernommen und so ›re-magyarisiert‹ werden. Aber … diese re-magyarisierte Form wird von der ursprünglichen ungarischen Form verschieden sein.«101 Ohne diese Bezeichnung zu verwenden, redet Bartók hier vom Phänomen marginozentrischer Regionen, deren ethnisch bunte Mischung er auf weit in der Vergangenheit liegende Kolonisationsperioden zurückführte. Er dachte zweifellos an Ansiedlungen wie die der Donauschwaben, die unter Karl VI. und Maria Theresia auf ihren Zillen von Süddeutschland donauabwärts trieben, um die vom Krieg verwüsteten Gebiete der Batschka und das Banat neu zu besiedeln. »Einige Gebiete haben eine völlig gemischte Bevölkerung, Resultate von Kriegsverwüstungen, denen zur Besiedlung der unbewohnten Landstriche Kolonisation folgte.«102 In dieser ironisch-kritischen Anmerkung aus dem Jahr 1942 zur Rassenideologie der Nazis begrüßt der Komponist die Tatsache, dass der »Kontakt zwischen fremden Völkern … zur Ausbildung neuer Stilarten« anregt. »Gleichzeitig werden aber auch die … alten Stilarten gut am Leben erhalten.« Vor allem unterstrich er dabei das Potenzial für neue Kombinationen, ein Faktor, der auch Grassl und Smith ein Hauptanliegen ist. »Als das Resultat einer ununterbrochenen gegenseitigen Beeinflussung zwischen der Volksmusik der verschiedenen Völker«, so Bartók, »ergeben sich eine gewaltige Mannigfaltigkeit und ein riesiger Reichtum an Melodien und Melodientypen. Die ›rassische Unreinheit‹ ist entschieden zuträglich.«103 Eben dieses Phänomen der Hybridisierung in einem Milieu ethnischer Vielfalt, das Bartók hier schon vor mehr als 70 Jahren analysiert, motiviert jetzt einen substanziellen Teil der Forschung zur Kultur der Doppelmonarchie. Indem Bartók ein – wie wir es empfinden – befreiendes Prinzip postulierte, musste er notwendig die musikalischen Chauvinisten unter den Magyaren, Slowaken, Rumänen usw. gegen sich aufbringen, zeigte er doch, dass keines dieser Völker eine ethnisch »reine« Musik frei von den Einflüssen der Nachbarn sein eigen nennen kann.104 Wenngleich die Volksmusik überall die Motive 100 Ebenda. 101 Ebenda. 102 Ebenda. 103 Ebenda, S. 209. 104 Bartók, »Folk Song Research and Nationalism« [1937], in Essays, S. 25  –  28.

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vermischte, hatte eine jede Ethnizität Jahrhunderte wechselseitiger Beeinflussung auf ihre je eigene Weise gestaltet. Was dabei für Unverwechselbarkeit sorgte, war die Art, wie jede Ethnizität die Inhalte, die sie mit den andern teilte, mischte. Bartók hat die kürzest denkbare Fassung von Grassls und Smiths »Theorie Öster­reichs« geliefert, insofern diese Theorie letztlich Aussagen dazu trifft, wie der Austausch von Ideen unter marginozentrischen Bedingungen das kreative Denken befruchtet. Mihály Szegedy-Maszák hat die Komplexität von Bartóks eigener k­ ultureller Zugehörigkeit nachgezeichnet. Er porträtiert ihn als lebenslangen ­Grenzgänger zwischen »der Hochkultur des Westens und der Folklore der vorindustriellen Kleinbauern Ungarns … [Mit den musikalischen Mitteln dieser Folklore] versuchte [Bartók,] die Grenze der von Wagner und Brahms repräsentierten Kultur zu überqueren, eine Grenze, die für manche die Demarkationslinie zwischen Zivilisation und Barbarentum bildet«.105 Mehr als jede andere der in diesem Buch behandelten Figuren wird Bartók als Verkörperung der Position gesehen, die nativistische Kulturkritiker Ungarn als Ganzes zuschreiben – ein Land, das sich in einem Schwebezustand zwischen zwei Konstruktionen europäischer Kultur befindet. Der Komponist scheint jetzt die für ungarische Intellektuelle eigentümliche Berufung zu personifizieren, die darin besteht, »das Andere, das die westliche Zivilisation vernichten will«, zu erforschen.106 Es ist bedeutsam, dass der calvinistische Schriftsteller Zsigmond Móricz etwa zur selben Zeit, um 1905, von Dorf zu Dorf fuhr, um Volkslieder und Volkserzählungen zu sammeln. Leon Botstein hat auf eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden Erforschern des ländlichen Ungarn hingewiesen  : »Für den nicht-ungarischen Leser wurde die Sicht auf Móriczs Originalität … (wie Bartók sehr wohl erkannte) durch die Eigenart [particularity] seiner Themen verstellt. In gleicher Weise minderte – für den Außenseiter – Bartóks fundamentales Beharren auf Rhythmen und Tonalitäten, die er aus der archaischen Logik des volksmusikalischen Materials destillierte, seine Originalität – ganz gegen seine eigentliche Absicht«.107 In Vorwegnahme dessen, was wir in Kapitel 9 über die Beziehungen zwischen der Doppelmonarchie und Russland erfahren werden, lässt sich sagen, dass der Komponist sich selbst am Dreh- und Angelpunkt des hier als Wippe, meist aber als schiefe Ebene gedachten West-Ost-Kulturgefälles sah, das sich, wie manche meinen, von London bis Moskau erstreckt. Dieser Balanceakt bedeutet, so Szegedy-Maszák, dass Bartóks Musik »ein Sammelbecken ist, in dem Ost und West, archaisches Kleinbauerntum und moderne urbane Kultur, Kind105 Mihály Szegedy-Maszák, »Bartók and Literature«, Hungarian Studies, 15 (2001), S. 245  –  254, insbes. 251. 106 Ebenda, S. 251. 107 Leon Botstein, »Out of Hungary  : Bartók, Modernism, and the Cultural Politics of TwentiethCentury Music«, in Laki, Bartók and His World, S. 3  –  63, 20.



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heit und Erwachsenenalter, eine geschlossene statische und eine offene, dynamische Welt« aufeinander treffen.108 Dieser fast mythische Status eines praktischen Anwenders von Hybridität ist ein zusätzlicher Grund, weshalb für Wolfgang Grassl und Barry Smith Bartóks Darstellung des Grenzgängertums archaischer Elemente von so überragender Bedeutung für den kulturellen Austausch ist.

4.3 Ineinander verschränkte Bezugssysteme  : eine Theorie Die drei bahnbrechenden Artikel, die Wolfgang Grassl und Barry Smith in schwer zugänglichen Publikationen 1986, 1987 und 2004 veröffentlicht haben, zeichnen sich durch einen Grad von Klarheit, Stringenz und Eleganz aus, der in wissenschaftlicher Literatur sehr selten ist.109 Die zwei Autoren sprechen von einem »supranationalen Staat« und seinen »verzweigten Strukturen«, um das politische Gerüst zu bezeichnen, das der »Überlappung und wechselseitigen Durchdringung der rassischen und nationalen Gruppierungen« des Habsburgerreiches als Halt diente.110 Die Autoren widmen zwei Seite einer Paraphrase von Bartóks Essay von 1942, den sie im Zusammenhang mit einer Bemerkung von Franz Werfel zur Sprache bringen. Werfel hatte 1937 gesagt, das Kaiserreich sei über Jahrhunderte »der Kreuzungspunkt aller Straßen, die Wasserscheide aller Ströme, der Umschlagplatz aller Güter, die Europas Musik ausmachen,« gewesen.111 Die Analyse einer Reihe von Beispielen öster­reichischer Musik führt Grassl und Smith zum Befund, dass hier eine Synthese von »Stilrichtungen deutschen, italieni108 Mihály Szegedy-Maszák, »Bartók and Literature«, S. 251. Siehe Anm 105. 109 Wolfgang Grassl und Barry Smith, »A Theory of Austria«, in J. C. Nyíri (Hg.), From Bolzano to Wittgenstein (Wien  : Hölder-Pichler-Tempsky, 1986), S.  11  –  30  ; »The Politics of National Diversity«, The Salisbury Review, 5 (1987), S.  33  –  37  ; »On Creativity and the Philosophy of the Supranational State«, in Tamás Demeter (Hg.), Essays on Wittgenstein and Austrian Philosophy (Amsterdam / New York  : Rodopi, 2004), S. 25  –  39. Einer der wenigen Wissenschaftler, der zumindest den Artikel von 1986 zitiert, ist Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay [1996], 2. Aufl. (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1998), S. 259. Csákys Buch entwickelt viele der Themen von Grassl und Smith weiter und bietet eine außerordentlich umfangreiche Bibliografie. 110 Grassl und Smith, »A Theory of Austria«, S. 7. Die Seitenzahlen beziehen sich auf eine Version, die im Internet zu finden ist unter http://consultorium.com/docs/A%20Theory%20of%20Austria. pdf. [zuletzt abgefragt 12. August 2012]. 111 Bei Grassl und Smith, »A Theory of Austria«, S. 8, zitiert aus Franz Werfel, »An Essay upon the Meaning of Imperial Austria«, in Twilight of a World (New York  : Viking Press 1937), S. 3  –  40, 38, eine Übersetzung von »Ein Versuch über das Kaisertum Öster­reich«, in Werfel, Zwischen Oben und Unten. Prosa Tagebücher Aphorismen Literarische Nachträge, 2. Aufl. (München / Wien  : Langen Müller, 1975), S. 493  –  520, 519.

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schen und tschechischen Ursprungs« vorliegt. Sie wenden dann Bartóks These auf Kreativität in allen Gebieten intellektueller und künstlerischer Betätigung in der Doppelmonarchie an und heben damit die Beobachtungen des Komponisten auf die allgemeinste Ebene, die möglich ist, die Ebene der von ihnen so genannten Bezugssysteme. Unter Berufung auf Christian von Ehrenfels’ »Gestaltqualitäten« (1890) definieren sie Bezugssysteme als in der Gesellschaft verankerte Bedeutungsysteme sprachlicher, musikalischer oder allgemein kultureller Art. In diesem Sinne finden sich in Bartóks Volksmusik melodische Gestalten, denen »aufgrund von feststehenden Beziehungen der Opposition und der Komplementarität … systemische Eigenschaften zukommen … Solche Bezugssysteme … sind in der Tat in allen Dimensionen der menschlichen Erfahrung anzutreffen. Unsere verschiedenen weltlichen und religiösen Kalender und überhaupt die jeweils verschiedene nationale und kulturelle Geschichte, der wir angehören, stellen einen Set von ineinander verschränkten Bezugssystemen dar«.112 Bezugssysteme sind so ein Grundbaustein für die Vision von Öster­reich, die Grassl und Smith zu entwerfen suchen. Die These, zu der sich ihre »Theorie Öster­reichs« bis zu einem gewissen Grad vereinfachen lässt, besagt, dass der interethnische Charakter des Habsburgerreiches für eine ungebremste Vermehrung von Kreuzungs- und abermaligen Kreuzungsvorgängen sorgte, nicht nur im Hinblick auf musikalische und andere künstlerische Motive, sondern auch auf Bezugssysteme jeder Art und auf jeder Ebene des Lebens. Der Austausch ineinander verschränkter Bezugssysteme fand nicht nur unter Künstlern, Musikern und Schriftstellern statt, sondern auch unter Philosophen, Wissenschaftlern und Ideologen. Geschmeidigkeit des Denkens dominierte. Diese Dimension der Theorie von Grassl und Smith wird von späteren Kommentatoren wie Csáky, Vajda, Weibel und Moravánszky gern aufgegriffen, ohne explizite Zuordnung – vielleicht sogar ohne ausdrückliches Wissen um die Quelle. Der Punkt, über den sich diese Gelehrten einig sind, ist die Bedeutung des Austauschs zwischen den Ethnizitäten innerhalb des riesigen kulturellen Ökosystems, der sich auf die Kreativität sehr stimulierend auswirkte. Grassl und Smith haben diesen Konsens antizipiert und dafür im Voraus einigermaßen anspruchsvolle Bedingungen festgelegt. Im Unterschied zu den meisten ihrer Nachfolger bestehen sie darauf, dass die Besonderheit öster­reichischer und ungarischer Kreativität in der Art besteht, wie Individualität sich mit den Traditionen verbindet, die in den zahllosen verschränkten Bezugssystemen aufgehoben sind. Was die Kreativität im »supranationalen« Öster­reich auszeichnet, war nicht nur die Bartóksche Selbstverständlichkeit, mit der die in Umlauf befindlichen Motive modifiziert wurden. Ausschlaggebend waren viel größer dimensionierte Ver112 Grassl und Smith, »A Theory of Austria«, S. 10.



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schmelzungsprozesse innerhalb der Bezugssysteme. »Supranational«, der Ausdruck, den Grassl und Smith verwenden, könnte genau so gut durch »marginozentrisch« ersetzt werden, um auszudrücken, dass im Habsburgerreich jeder in einem Randgebiet und in unmittelbarer Nachbarschaft zu andern Ethnizitäten lebte. Als besonders bezeichnend für die öster­reichische Kreativität erachten die zwei Autoren das Verschmelzen und Überlappen ganzer Bezugssysteme (Sitten und Bräuche, Sprachen, Traditionen und Praktiken), so dass die ephemer erschaffenen, gegebenen Gestalten neue Formen und Bedeutungen annehmen dank der Systeme der Umgebung, in der sie sich befinden. Je größer der Umfang ist, in dem ineinander verschränkte Bezugssysteme am Werk sind, umso bedeutender, so könnten wir folgern, sind die Kunstprodukte, die innerhalb solcher Systeme entstehen«.113 Diese etwas wortreich geratene Formulierung deckt jeden nur denkbaren Fall von marginozentrischem Austausch ab und macht diesen Vorgang zu einem Leitmotiv der öster­reichischen und ungarischen Kultur. Was jeden Austausch zwischen den Bezugssysteme so bereicherte, war ihre unerhörte Vielzahl und Komplexität. Zugleich wiesen diese Bezugssysteme eine ganz bestimmte Familienähnlichkeit auf. Dies machte es Volksmelodien aus allen Gebieten des Ökosystems des Reiches möglich, wie Bartók feststellte, miteinander – in den Symphonien Gustav Mahlers zum Beispiel – in Grazie zusammenzuleben, was für schottische oder spanische Melodien so nicht zutrifft. Die alles überwölbende ›Gestalt‹ der Doppelmonarchie garantierte, dass die meisten Verbindungen, die Produkte der Bezugssysteme des kulturellen Ökosystems miteinander eingingen, tatsächlich attraktiv waren. Zwar findet sich bei Grassl und Smith keine Erwähnung der Apologeten des öster­reichischen Menschen aus der Zwischenkriegszeit  ; ihr einschränkender Hinweis auf Familienähnlichkeit legt aber nahe, dass die Vermittlerrolle dieser Staatsbeamten sich nur innerhalb der Bezugssysteme des Reiches entfalten konnte. Da diese Ähnlichkeit sich nicht auf das übrige Europa erstreckte, kam das Sozialkapital des öster­reichischen Menschen nur im Reich zur Geltung. Entgegen der von Hofmannsthal und Wildgans vorgebrachten Behauptung muss man also festhalten, dass der öster­reichische Mensch nicht deckungsgleich mit europäischer Kultur ist. Stattdessen sind in ihm ›Gestalten‹ verkörpert, die sich vorwiegend oder ausschließlich in der Doppelmonarchie entfalteten. Man mag nun bedauern, dass die Publizisten der Zwischenkriegszeit keinen Sinn dafür hatten, dass Öster­reichs Bezugssysteme für das übrige Europa ungeeignet waren. Einer ähnlichen Fehleinschätzung erlagen aber auch die Nyugat-Reformer, deren Eifer für den Import französischer und britischer Bezugssysteme nach 1908 auf den Widerstand von Ungarns ganz anders gelagerten Systemen traf. So bietet die Theorie 113 Ebenda, S. 11  ; Hervorhebungen im Original.

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von Grassl und Smith eine Erklärung nicht nur für die kreative Fruchtbarkeit der Doppelmonarchie, sondern auch für die Hindernisse, auf die jede auf importierten Modellen basierende Reform stößt. Die höchst kunstvoll miteinander verwobenen Bezugssysteme des kulturellen Ökosystems hemmten jeden Ansatz zu sozialer Neuerung ebenso sicher wie sie intellektuelle Innovation förderten. Grassl und Smith behaupten ferner, Öster­reich habe eine »schwache Gestalt« dargestellt. Die Doppelmonarchie sei eine abhängige Formation gewesen, d. h. eine Formation, deren Existenz von den subjektiven Artikulationen ihrer Mitglieder abhängt … Im Fall eines gesellschaftlichen Ganzen wird allerdings die Aufgabe der Artikulation und Integration von innen wahrgenommen, von den Mitgliedern des Ganzen … Und eine derartige Artikulation ist typischerweise nicht eine Angelegenheit von einzelnen für sich bestehenden Akten, sondern von ganzen Traditionen, Gewohnheiten, institutionell etablierten Regeln und miteinander verwobenen Bildungsprozessen und das in einem Ausmaß, in dem das betreffende Ganze von Generation zu Generation am Leben erhalten wird auf eine Weise, die keiner einzelnen Gruppe von Mitgliedern voll verständlich ist«.114 Dies knüpft unmittelbar an Nemoianus Thesen zur mitteleuropäischen Bildungsethik an. Die »miteinander verwobenen Bildungsprozesse«, die ihren Akteuren nie in vollem Umfang einsichtig sind, konnten dazu führen, dass der oder die Einzelne ein halbes Leben oder noch länger brauchte, bis er oder sie sich die Gesamtheit der »Traditionen, Gewohnheiten [und] institutionell etablierten Regeln«, die zusammen das kulturelle Ökosystem ausmachen, angeeignet hatte. Das Gewicht der miteinander konkurrierenden Bezugssysteme konnte sich entweder belebend auf die Kreativität auswirken, wie Moravánszky anhand seiner »konkurrierenden Visionen« in der Architektur behauptet, oder es konnte Ansätze zur Reform ersticken, wie Maier dies mit seinen »konkurrierenden Kontexten« veranschaulicht. Niemand kommt daran vorbei anzuerkennen, dass in diesem überreichen Gewebe, bestehend aus von einander abhängigen ethnischen Kulturen, Gelingen und Scheitern im selben Maß latent vorhanden waren. Der Essay von Grassl und Smith aus dem Jahr 1986 gipfelt in einem Vergleich ihrer miteinander verschränkten und sich überlappenden Bezugssysteme mit vier älteren Theorien zur öster­reichischen Kreativität. An jeder dieser Theorien heben sie gewisse Vorzüge hervor. Die Theorien selbst sind einigermaßen bekannt. Der Vergleich besticht durch die Eleganz und Konzinnität seiner Durchführung. Die erste, die »Externe oder ›Irische‹ Theorie«, sieht die Ursache der Kreativität Öster­reichs in Interaktionen mit seinem reicheren Nachbarn Deutschland. Bis mindestens in die 1950er Jahre betrachteten ja viele Musikhistoriker und Komponisten die öster­ reichische Musik als ein Unterkapitel der deutschen Musikgeschichte. Vergeblich 114 Ebenda, S. 14  ; Hervorhebungen im Original.



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hatten die Apologeten der Zwischenkriegszeit versucht, diese Ansicht durch das Argument aus der Welt zu schaffen, dass der öster­reichische Mensch etwas anderes und mehr sei als die bloße Variante irgendeines deutschen Prototyps. Die zweite Theorie, die »Politische Sublimierungstheorie«, ist mit Überzeugung von Carl Schorske vertreten worden und wird in Kapitel 12 im Zusammenhang mit Claude Cernuschi ausführlich besprochen. Die dritte, die »Schicksalsgemeinschafts- (oder ›Türkische‹) Theorie«, postuliert, dass das mehrere Jahrhunderte währende Ringen mit den Türken den Öster­reichern »ein zielgerichtetes Streben nach Einheit, … einen eigentümlichen Konservatismus, … ein Streben nach Assimilation selbst unter den kreativsten Künstlern des Landes« eingeimpft hat.115 Die publizistischen Anwälte des öster­reichischen Menschen waren Vertreter dieses dritten Typus, behaupteten sie doch, die habsburgischen Beamten seien dazu berufen gewesen, die verschiedenen Ethnizitäten zu überreden, ein gemeinsames Schicksal unter den Auspizien Habsburgs zu akzeptieren. Auch Katherine Arens hat im Hinblick auf Völker, die sich zuvor in ihrer eigenen Provizialität eingesperrt gefühlt hatten, von der Anziehung gesprochen, die vom Gedanken einer Schicksalsgemeinschaft ausgeht.116 Die vierte Theorie, die Theorie der »Kruden Vielfalt«, ist eine vereinfachte Version von Bartóks These, laut der »der kreative Künstler als der Gestalter neuer und immer variantenreicherer Mosaike verschiedener Elemente verstanden wird«.117 Grassl und Smith haben diese Sicht insofern verfeinert, als sie mit Nachdruck darauf hinweisen, dass die Doppelmonarchie ihre intellektuelle Innovationskraft nicht nur einer Überfülle an Motiven, sondern vor allem dem jahrhundertealten Rahmenwerk ineinander verschränkter Bezugssysteme verdankte. 2004 fassten sie ihre Theorie wie folgt zusammen  : »Charakteristisch für die Kreativität, die sich im supranationalen Öster­reich manifestierte, ist nicht einfach die Verschiedenheit der Elemente, sondern die Fusion und Re-Fusion ganzer Bezugssysteme (Sitten und Bräuche, Sprachen, Traditionen, Praktiken). Die einzelnen kulturellen Produkte sind daher nicht bloß neue Kombinationen bereits vorhandener Elemente, sondern Manifestationen neuer Formen und Bedeutungen, die durch die sie umgebenden neuen, komplexeren Bezugssysteme ermöglicht werden.«118 Die Überfülle immer wieder von neuem fusionierender Bezugssystemen löst in Kunst, Literatur, Philosophie und Wissenschaft Visionen von immer größerer Komplexität aus. Grassls und Smiths Theorie ist nicht die Aufmerksamkeit zuteil geworden, die sie verdient. Dafür gibt es mehrere Gründe  : Keine Paraphrase kann, erstens, der 115 Ebenda, S. 16. 116 Katherine Arens, »Joseph Roth« in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer, (Hg.), History of the Literary Cultures of East-Central Europe, 1 (2004), S. 214  –  228, insbes. 224. 117 Ebenda  ; Hervorhebung im Original. 118 Grassl und Smith, »On Creativity and the Philosophy of the Supranational State«, S. 34.

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Subtilität ihrer Argumentation Genüge tun. Die Feinheit ihrer Unterscheidungen und ihr Beharren auf dem großen Bild machen es für Leserinnen und Leser schwer, sich ihren enzyklopädischen Horizont stets gegenwärtig zu halten. Zweitens ist eine der tragenden Säulen ihrer Theorie ein politischer und gesellschaftlicher Konservatismus, der nicht vor der Behauptung zurückschreckt, die dauerhaftesten Formen von Kreativität würden sich innerhalb eines ererbten Systems institutionalisierter Gewohnheiten einstellen, wie die mitteleuropäische Bildungsethik eines ist oder der sich in Selbstbescheidung übende Habitus des öster­reichischen Menschen. Ihre Anklänge an Stifter und Hofmannsthal machen diese Behauptung wenig attraktiv in den Augen von Menschen, die sich selbst dem linken Lager zurechnen. Drittens macht schon die Subtilität ihrer Argumentation eine reduktionistische Antwort fast unvermeidlich, da jede Paraphrase an Karikatur grenzt. Das ist auch der Grund, weshalb ihre tiefe Einsicht in das Geben und Nehmen von Motiven innerhalb eines Rahmenwerks von Orientierung vermittelnden Bezugssystemen manchmal verkürzt wird zu einem bloßen Zitat aus Bartóks Essay aus dem Jahr 1942. Auch das vorliegende Werk muss darauf verzichten, der von Grassl und Smith fein gesponnenen Argumentation in vollem Umfang Genüge zu tun, und folgt der Mehrzahl der Kulturhistoriker, darunter so scharfsinningen wie Csáky, Vajda und Moravánszky, die sich alle mit einer philosophisch weniger anspruchsvollen Argumentation begnügt haben. Ist man tatsächlich zu keinen Abstrichen bereit, bringt der Zwang, ständig die Komplexität und die gegenseitige Durchdringung übereinander geschichteter Bezugssysteme zu beschwören, die Narration zum Stillstand und verhindert jeden Vergleich mit andern Thesen zu intellektueller Innovation. Grassl und Smith, so viel steht fest, haben eine Theorie geliefert, die das non plus ultra in Bezug auf die Eigenart habsburgischer Intellektualität leistet. Ihre fundamentalen Erkenntnisse sind zwar allgegenwärtig in diesem Buch, in den meisten Fällen erweisen sich aber andere Neuformulierungen von Bartóks These als leichter handhabbar. Ihr hohes Abstraktionsniveau macht die Theorie von Grassl und Smith zu einem faszinierenden Beispiel der Anwendung der Gestalt-Philosophie auf Kulturgeschichte, aber die Dichte ihrer Argumentation bedeutet, dass nur Fachphilosophen ihr mit der wünschenswerten Leichtigkeit folgen können. Man mag es immerhin bedauern, dass diese höchst sachkundigen Autoren eine Form der Kulturgeschichte gewählt haben, die nur einer kleinen Elite zugänglich ist.

Kapitel 5

Moritz Csáky und das Für und Wider der Pluralität 5.1 Eine Methodologie zur Erforschung der Pluralität Das Widerstreben der Öster­reicher und der auf dem Gebiet der öster­reichischen Geistes- und Sozialgeschichte tätigen Wissenschaftler, Ungarn und seine Kultur als Teil des Ökosystems der »habsburgischen Kultur« und seiner Bezugssysteme zu sehen, geht auf die »Rebellion« Ungarns 1848 / 1849 zurück und auf die lang schwelende Feindseligkeit, die sie verursachte. Seit 1945 haben nur allzu viele öster­ reichische Historiker die gegenseitige Missachtung, die das Verhältnis zwischen Öster­reichern und Ungarn prägte und die sogar der Musik Bartóks jahrzehntelang widerstand, einfach weitergeschrieben. Bis in die jüngste Vergangenheit ist eine auf Öster­reich zentrierte Perspektive unter Germanisten – mit Ausnahme der ungarischen und rumänischen Fachkollegen und -kolleginnen – endemisch geblieben und die meisten französischen, britischen und nordamerikanischen Gelehrten haben bis vor wenigen Jahren diese Prämisse unkritisch übernommen. Selbst Historiker vom Rang eines Jacques Le Rider, Steven Beller und Robert S. Wistrich zitieren nur selten ungarische Fallbeispiele im Zusammenhang mit habsburgischen Themen. Sie reden viel bereitwilliger über Böhmen oder Galizien als über Ungarn und Kroatien. Der Begriff der »Doppelmonarchie-Kultur«, etabliert von ungarischen Gelehrten der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Kulturgeschichte und Architektur in den 1980er und 1990er Jahren, macht es unmöglich, die Kulturgeschichte Habsburgs weiter gegen Material aus Ungarn und Kroatien abzuschotten. Wenn Vajda, Fried, Hanák, Csáky und Moravánszky zeigen konnten, dass es Gemeinsamkeiten in Literatur, Musiktheater, architektonischer Praxis, Etikette und dem Verhaltenskodex des Militärs gab, dann ist es nicht nur wünschenswert, sondern unumgänglich, die öster­reichische und ungarische Kultur in ein gemeinsames Netzwerk von Kategorien einzubetten. Es ist einfach nicht mehr sinnvoll, Prag, Krakau und sogar Czernowitz als Außenposten öster­reichischer Kultur zu privilegieren bei gleichzeitiger Missachtung von Budapest, Zagreb und Kolozsvár (Klausenburg) als Mittelpunkte einer verwandten Kultur. Dieser Ansatz wird angesichts der steigenden Zahl an Neuinterpretationen, die von der Forschung zur gemeinsamen Doppelmonarchie-Kultur erarbeitet werden, immer selbstverständlicher. Auf dem Gebiet der öster­reichischen Sozial- und Kulturgeschichte hat niemand mehr für die Förderung eines pluralistischen Ansatzes zur Doppelmonarchie-Kultur getan als Moritz Csáky. Er ist als Historiker des Habsburgerreiches viel be-

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kannter als Charles S. Maier, Virgil Nemoianu, Wolfgang Grassl und Barry Smith. Während seiner Lehrtätigkeit an der Grazer Universität verfasste er eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln in mindestens vier Sprachen sowohl zu öster­ reichischen wie zu ungarischen Themen, darunter eine Artikelserie in wichtigen europäischen Journalen wie Les Temps Modernes (1992) über Manifestationen von »Pluralität« im gesamten Habsburgerreich. Seine Analysen der Pluralität bestätigten die Thesen der zuvor genannten vier Wissenschaftler und weiteten sie aus. Auch ohne ausdrücklich so benannt zu werden, erscheint die »Doppelmonarchie-Kultur« bei ihm als eine Arena kultureller Pluralität. Wie Hanák und Vajda hat er ganz wesentlich dazu beigetragen, die Operette als ein glänzendes Artefakt der Symbiose zwischen Wien und Budapest zu rehabilitieren. Allen dreien – und das mag überraschen – gilt ja die Operette als das die Zeit am besten überdauernde Denkmal dessen, was den zwei Reichshauptstädten gemeinsam war. Csáky führt viele Typen und Ebenen von Pluralität innerhalb des Reiches im Einzelnen vor. Er präsentiert sie als Vorbedingung für die Entstehung dessen, was den Ethnizitäten, Klassen, Regionen und künstlerischen Produkten gemeinsam war und was sie voneinander unterschied. Die von ihm so genannten endogenen Pluralitäten hatten ihren Ursprung innerhalb des Reiches, während die exogenen durch Kulturtransfer aus andern habsburgischen Domänen wie Spanien und Flandern oder aus Paris, Europas kultureller Hauptstadt, zustande kamen. Ausdrücklicher als alle andern hat Csáky auch auf die schädlichen Folgen von Pluralität hingewiesen, im Besonderen auf das, was »homogenisierende Ideologien« wie Antisemitismus und – vor allem in Böhmen – deutschtümelnder Chauvinismus angerichtet haben. Diese Ideologien trugen wesentlich zur Schwächung gegenläufiger Ideologien bei, deren Hauptanliegen die Symbiose der kulturellen Codes war, und trieben sie letztendlich in den Untergang. Csáky sah die Ursache für die schwindende Effizienz des öster­reichischen Menschen in seiner Unfähigkeit, mit der höchst ominösen Ablehnung dieses Ideals durch Antisemiten und andere Rassisten fertig zu werden. Ein Reich, das vielfältige kulturelle Identitäten förderte, bot zugleich einen idealen Nährboden für seinen Erbfeind, den Hass zwischen den Ethnizitäten. In der Zwischenkriegszeit haben die meisten Apologeten des öster­reichischen Menschen dieses – wiewohl offenkundige – Faktum einfach nicht zur Kenntnis genommen. Csáky zeichnet sich gegenüber andern Historikern auch durch den Nachdruck aus, den er auf die langen Zeiträume legt, die nötig sind, damit benachbarte Bezugssysteme allmählich zusammenwachsen. Als nach der ungarischen Niederlage gegen die Osmanen in der Schlacht von Mohács 1526 die Kronen Böhmens, Ungarns und des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation den Habsburgern zufielen, markierte dies den Höhepunkt einer Jahrhunderte währenden Entwicklung. Jede Krone brachte jahrhundertealte wirtschaftlich und kulturell eigenstän-



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dige Subregionen in die größere Konföderation der habsburgischen Monarchie ein. Die Verbindungen des Hauses Habsburg mit Spanien, Flandern und Deutschland trugen zu exogener, gesamteuropäischer Pluralität in Wien und Prag bei. Zugleich waren die autochthonen kulturellen Codes – die Bezugssysteme von Grassl und Smith – in den vielen Subregionen Einladungen an den Einzelnen, vielfältige kulturelle Identitäten auszubilden. Ein Slowene in Südkärnten etwa konnte sich mindestens als Slowene, Kärntner und Öster­reicher zugleich fühlen. In diesem Kontext – wir erinnern uns an das »marginozentrische Bewusstsein« – vermischten sich die kulturellen Codes zu bis dahin unbekannten Subidentitäten, für die kultureller Austausch und kulturelle Interaktion Fakten des alltäglichen Lebens waren. Diese soziokulturelle Multipolarität der Bezugssysteme förderte sowohl endogene wie exogene Pluralität. Kulturelle und ethnische Durchmischung innerhalb des kulturellen Ökosystems konnte bis zur Ausbildung neuer Ethnizitäten führen. Zu Recht fühlen wir uns bei dieser Ethnogenese an Grassls und Smiths These erinnert, in der interethnische Verquickung als Katalysator für Innovation gesehen wird. Csáky verband die Würdigung des kreativen Potenzials der marginozentrischen Regionen des Habsburgerreiches mit Trauer über den durch die Bevölkerungsdichte in den großen Städten entfesselten Chauvinismus und Antisemitismus. In den 1990ern veröffentlichte Csáky mindestens drei bedeutende Artikel über die Lehren, die sich für uns aus den Strukturen der Doppelmonarchie ziehen lassen.119 Jeder Artikel für sich ist eine tour de force, ein Manifest, aus dem sich Richtungen für die Forschung der Zukunft ablesen lassen – nicht nur auf dem Gebiet der Kulturgeschichte der Doppelmonarchie an sich, sondern auch zu deren Relevanz für das heutige Europa. Im Verein mit seinem gleichzeitig erschienenen Buch über die »Ideologie der Operette« stellen diese Texte eine neue Art der Annäherung an das späte Habsburgerreich dar und an sein Potenzial als Vorbild für die Europäische Union. Jeweils erweitert um eine allen Ansprüchen genügende Bibliografie in vier Sprachen widersetzen sich diese Artikel durch ihren Reichtum und ihre Verschiedenheit einer einfachen Paraphrase. Csákys methodologische Beutezüge in französisch- und englischsprachigen Quellen sind ohnegleichen bei Austriazisten seiner Generation. Namen wie Jean-François Lyotard, Marcel Gauchet, Ernest 119 Moritz Csáky, »Pluralité culturelle et identité  : Critères d’une auto-reconnaissance transnationale sous la Monarchie des Habsbourg«, Les Temps Modernes, 48  :550 (1992), S. 154  –  170  ; »Pluralität  : Bemerkungen zum ›Dichten System‹ der Zentral-Europäischen Region«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S. 9  –  30  ; unveränderter Nachdruck als »Öster­reich-Ungarn  : Eine kulturhistorische Annäherung«, in Wilfried Seipel, Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde (Wien  : Kunsthistorisches Museum, und Mailand  : Skira, 2003), S.  51  –  59  ; »Multicultural Communities«. Siehe auch Gotthart Wunberg und Dieter A. Binder (Hg.), Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung. Festschrift für Moritz Csáky (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1996).

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Gellner, Clifford Geertz, Eric Hobsbawm und Stephen Greenblatt tauchen in originellen Gegenüberstellungen auf. Diesem Historiker gelingt es, eine unerhörte Bandbreite zeitgenössischer Autoritäten in Beziehung zu setzen, um so historische Manifestationen von Pluralität zu erläutern. Allerdings verweist er dafür nur sehr selten auf abgelegene Regionen als Beispiele und zieht stattdessen Wien und Budapest als urbane Milieus vor, wo »intensive gegenseitige Beeinflussung« florierte.120 Dabei weicht, wie schon gesagt, Csáky keineswegs einer negativen Einschätzung der ethnischen Übervölkerung der Metropolen aus und ebenso wenig der des Chauvinismus und Antisemitismus, die beide in diesem Milieu gedeihen. »In der beengten Dichte des urbanen Milieus wurde regionale Heterogenität als Bedrohung empfunden. Hier erlebte man in unmittelbarer Nähe, was fremd, andersartig war, was einen Unterschied ausmachte, und empfand ein entsprechendes Gefühl der Verunsicherung, auf das die dominante soziale Gruppe (die sich zuweilen in die Rolle der Minderheit gedrängt fühlte) mit zunehmender Irritation antwortete. Sie versuchte, sich dieser fremdartigen Einflüsse zu entledigen und reagierte auf die grassierende ethnische und kulturelle Fragmentierung mit aufgenötigter sprachlicher und kultureller Assimilation oder mit gewalttätiger Marginalisierung und Unterdrückung der fremden Elemente.«121 Als stünde er in einem Dialog mit den Exponenten der relativen Harmonie in den Beziehungen zwischen den Ethnizitäten in marginozentrischen Regionen, bestand auch Csáky darauf, dass »nationalistische und protofaschistische Ideologien … nicht in den ländlichen Regionen, sondern in den dicht bevölkerten städtischen Gebieten ihren Ursprung hatten, in denen die Heterogenität Mitteleuropas nicht nur als sichtbar, sondern als bedrohlich erlebt wurde«.122 Es überrascht nicht, dass Csáky am Ende seines Artikels aus dem Jahr 1999 davor warnt, auf das heutige Mitteleuropa eine einseitige Konzeption von Multikulturalismus anzuwenden. Viel zu viele Konfliktquellen bleiben und geben keinen Grund zu Optimismus. »Das komplexe kulturelle System der mitteleuropäischen Region war – und ist bis zum heutigen Tag – eine Quelle fortwährender Verunsicherung und individueller sowie kollektiver Konflikte und Krisen.«123 Um diese »Krisenanfälligkeit« bewusst zu machen, weist er zunächst ausdrücklich amerikanische Vorstellungen »einer naiven ›Utopie kultureller Vielfalt‹« zurück. Stattdessen »muss man sich darum bemühen, den kulturellen Text Mitteleuropas als ein ›Konzept polyphoner, hybrider Kulturen‹ zu verstehen«.124 Kein anderer Historiker, 120 Csáky, »Multicultural Communities«, S. 45. 121 Ebenda, S. 45  –  46. 122 Ebenda, S. 46. 123 Ebenda, S. 53. 124 Ebenda, S. 54.



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der hier zur Sprache kommt, hat mit derselben Eindringlichkeit wie Moritz Csáky die Implikationen ausgelotet, die die Pluralität in der Doppelmonarchie für die Methodologie der »cultural studies« überall in der Welt bereit hält. Seiner Überzeugung nach muss sich jede optimistische Annahme der Überprüfung am mitteleuropäischen Exempel sowohl der damaligen wie der heutigen Zeit und einem nüchternen Realitätstest in Bezug auf die generelle Zukunft des »Multikulturalismus« stellen. Eine derartige ›Engführung‹ bietet eine gewisse Erklärung dafür, warum Wortführerinnen und Wortführer der »cultural studies« in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und Australien kaum je Fallstudien aus der Doppelmonarchie zitieren. Das in ihnen enthaltene Beweismaterial ist so ernüchternd, dass jene, für die das leichte Zustandekommen eines kulturübergreifenden Einvernehmens ein Glaubensartikel ist, es nur ungern zur Kenntnis nehmen.

5.2 Die Operette als tragende Säule der Doppelmonarchie-Kultur Csákys umfassendste Abhandlung zur kulturellen Pluralität hat als – zugegeben abseitiges – Thema die Operette in Wien und Budapest. Ebenso zugegebenermaßen haben nur wenige Kulturhistoriker außerhalb von Öster­reich oder Ungarn je die Operette als einen – geschweige denn als den – Höhepunkt der DoppelmonarchieKultur gesehen. Die Suche nach Berührungspunkten zwischen der öster­reichischen und ungarischen Kultur ist außerdem eine günstigere Basis, um zu einer positiven Bewertung der Operette zu gelangen, als ein einseitiger Fokus auf Wien, der andere Regionen völlig ausklammert. Bei dieser Suche hat Moritz Csáky Vorläufer wie László Mátrai, Zoran Konstantinović, György M. Vajda, Péter Hanák, die ebenfalls auf die Rolle der Operette in Text und Musik hingewiesen haben als Trägerin von Bestrebungen, die Öster­reichern und Ungarn gemeinsam waren. Schon 1976 behauptete Mátrai, die Operette sei die älteste und langlebigste – wenn auch durchaus nicht die wichtigste – gemeinsame kulturelle Ausdrucksform der Doppelmonarchie.125 Während seiner Unterrichtstätigkeit in Innsbruck kam der Komparatist Zoran Konstantinović auf Basis von Mátrais Beobachtungen auf eine wesentlich kontroversiellere These. Er behauptete, es habe um 1900 des heraufdämmernden Bewusstseins um den möglicherweise bevorstehenden Untergang des Reiches bedurft, 125 László Mátrai, Alapját vesztett felépitmény (Budapest, 1976), S. 99  –  100, zitiert in Csáky, Ideologie, S. 37. Mátrai analysierte weitere Berührungspunkte in einer Vorschau auf sein Buch in »The Cultural Legacy of the Austro-Hungarian Monarchy«, New Hungarian Quarterly, 14  :49 (1973), S. 133  –  142.

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damit einige wenige Öster­reicher und Ungarn sich erstmals auf die Suche nach kulturellen Gemeinsamkeiten machten.126 Nur wenige haben sich dieser Meinung angeschlossen, die zudem durch Csákys Artikel aus den 1990er Jahren als widerlegt gilt. Mátrai und Konstantinović waren sich jedenfalls einig, dass die Aufgabe, Musik zum Brückenbau über ethnische Gräben einzusetzen, weniger Gustav Mahler oder Hugo Wolf zukam, als vielmehr Komponisten wie Johann Strauß Sohn, Franz Lehár, Emmerich Kálmán und ihren Mitstreitern. Eine der Herausforderungen, die sich den Rehabilitatoren der Operette stellt, ist, die Bewunderer der Hochkultur dazu zu bringen, ihren snobistischen Widerwillen gegen diese Musikgattung abzulegen, die ihnen schon deshalb suspekt ist, weil sie ein so großes Publikum hat. Den Verteidigern geht es vor allem um das bemerkenswerte Ausmaß, in dem diese Komponisten das kulturelle Ökosystem der Doppelmonarchie personifizierten. Bis vor kurzem haben die Snobs das Feld absolut beherrscht. Der ungarische Kulturkritiker Pál (Paul) Ignotus (1901  –  1978), Sohn von Hugó Veigelsberg, ­einem Mitbegründer von Nyugat, zum Beispiel tat die Operette ab als »hybrides Musiktheater, das den gebildeten Schichten der Doppelmonarchie eine lingua franca« andienerte.127 Ursprünglich der Zigeunermusik entstammend, mische diese gemeinsame Sprache ihre angeblichen Ingredienzien – »anfallsartige Sentimentalität, überschäumende Fröhlichkeit und ritterliche Zurückhaltung« – zu einem Gebräu, dem alle Klassen zusprachen, selbst Intellektuelle, »wenn sie etwas angeheitert waren«.128 Ignotus’ herablassende Kritik an dem Genre wirkt zahm neben der von Gerald Stieg bei Karl Kraus diagnostizierten. Für Kraus war die Operette »der künstlerische Ort leicht(fertig)er Identifikation, sie ist die Kunstform, in der sich das erfüllte Wunschdenken gedankenlos ausbreitet. Ein Erholungsort wie Bad Ischl.«129 Noch schwerer wog, dass das Genre im Ersten Weltkrieg zur Kriegspropaganda verkam, wie Stieg in Zusammenfassung des Kraus’schen Widerwillen anmerkt  : »Die Massenhysterie, die bei Kriegsausbruch auch die gesamte Intelligenz erfasst hatte, verwandelte den Krieg in eine ›riesige Operette‹.«130 Kulturhistoriker hätten herauszuarbeiten, was dieses allzu gefällige Genre so lange so populär sein ließ – obwohl schon Loos, Schönberg, Kraus und andere vehement ein Ende des kindischen Trei126 Zoran Konstantinović, »Die Schönheit des Untergangs  : Eine komparatistische Betrachtung zur Öster­reichischen Literatur der Jahrhundertwende«, in G. J. Carr und Eda Sagarra (Hg.), Fin-de-siècle Vienna. Proceedings of the Second Irish Symposium in Austrian Studies (Dublin  : Trinity College, 1985), S. 90  –  103, insbes. 102. 127 Paul Ignotus, Ungarn (New York  : Praeger, 1972), S. 4. Ignotus war das Pseudonym des Autors. 128 Ebenda. 129 Gerald Stieg, »Die letzten Tage der Menschheit  : Eine negative Operette  ?« in Klaus Amann und Hubert Lengauer (Hg.), Öster­reich und der Große Krieg, 1914  –  1918. Die andere Seite der Geschichte (Wien  : Christian Brandstätter, 1989), S. 180  –  185, insbes. 183. 130 Ebenda, S. 182.



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bens forderten. Sein Bühnendebut erfuhr das Genre übrigens, bereits im Schmuck seiner vollen Rüstung, mit Johann Strauß’ Die Fledermaus (1874). György M. Vajda widmet sich in einem Kapitel seines Essaybandes, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie (1994), einigen grundlegenden Fragen. Er beginnt seine Überlegungen, indem er Beispiele von Dekorativität im gebauten Environment der Städte und Metropolen des Reiches erläutert. Dekorative, majestätische Bauwerke, ausgeschmückt von den Sezessionisten der verschiedenen Hauptstädte, bildeten zusammen ein Reich des von Friedrich Schiller so genannten »schönen Scheins«.131 Vajda folgerte, dass diese Überfülle des schönen Scheins auf so vielen Gebieten des Lebens in der Doppelmonarchie unweigerlich die Frage provoziere  : »Was verbirgt sich hinter dem Schein  ?« In dem Zwang, hinter diese Kulissen schauen zu wollen, sah Vajda den Impuls, der Edmund Husserl hinter allen Erscheinungen Tiefenstrukturen vermuten ließ. Im nächsten Kapitel werden wir die These näher untersuchen, dass die Priorität, die die Doppelmonarchie der Dekorativität vor der Substanz verlieh, Husserl bei der Konzeption seiner Phänomenologie geholfen habe. Auch Vajda war auf der Suche nach dem, was von Dauer ist hinter den Fassaden von Gebäuden, Bürokratie, Theater und eben auch der Wiener und Budapester Operette, der er die letzten Seiten seines Kapitels über »Das Reich des schönen Scheins« widmet. In seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) hatte Schiller auf die Frage, was den zivilisierten Menschen vom Wilden unterscheide, geantwortet  : »Die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiel« (26. Brief), und in einer Abhandlung aus dem Jahr 1784, Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, der Quelle des geflügelten Wortes vom Theater als moralische Anstalt, stellt er das ästhetische Reich des Theaters als ein Paralleluniversum neben den Alltag. Lange vor seiner Übersiedlung nach Weimar – Goethes Einladung im Jahr 1799 folgend – hatte der idealistische Dramatiker, Dichter, Denker und Historiker einen Entwurf des Theaters vorgestellt, in dem diesem die Aufgabe zugewiesen wird, Fallstudien zu präsentieren, die geeignet waren, das Publikum zu erbauen und sein Streben, wenn schon nicht zu veredeln, so doch wenigstens bewusst zu machen. »Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele.« Und wenn Schiller in der »Schaubühne« sogar ein mögliches Korrektiv für das Erziehungswesen sieht, dann nimmt er die Notwendigkeit der Institutionali131 György M. Vajda, »Das Reich des schönen Scheins«, in ders., Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740  –  1918 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994), S. 179  –  204, insbes. 182, 183, 204.

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sierung vorweg, die Virgil Nemoianu der gezähmten Romantik des Biedermeier zuschreibt. Diese Idealisierung galt es auch dort über die Rampe zu bringen, wo das Klima rauer war als am Weimarer Hof. Schon die Dramatiker des öster­reichischen Biedermeier – Franz Grillparzer, Ferdinand Raimund, ihr ungarischer Zeitgenosse Mihály Vörösmarty – brachten Bilder der Unschuld auf die Bühne, oft in einer märchenhaften Umgebung idealer Schönheit. Diese Schriftsteller wussten sehr genau – siehe Kapitel 10 – wie man ein Publikum dazu bringt, sich kurzfristig in ein, wie der ungarische Psycholinguist Iván Fónagy es nannte, »geschöntes Paralleluniversum« zu verabschieden. Vajdas Aufzählung der Arenen des schönen Scheins innerhalb der Künste in der Doppelmonarchie lässt die Operette als einen der Gipfelpunkte des Kults der geschönten Parallelwelten erscheinen. Ihre Plots, großteils konzipiert von jüdischen Librettisten, stellen die Versöhnung zwischen den Ethnizitäten als durchaus machbar dar. Die beiden ungarischen Komponisten Lehár und Kálmán bemühten sich vor allem um die Versöhnung zwischen Öster­reichern und Ungarn. Bemerkenswerterweise gelang es dem früheren Militärkapellmeister Lehár tatsächlich, eine derartige Fantasie wenigstens in seiner eigenen Familie zu verwirklichen  : Er hatte einen öster­reichischen Vater, eine ungarndeutsche Mutter und eine jüdische Frau. In der Traumwelt des Musiktheaters fand diese Versöhnung statt mit Hilfe des gemeinsamen Habitus tadelloser Manieren, von Werberitualen, die zu interethnischen Ehen führten, und von diversen dii deaeque ex machina in Gestalt von Dienstboten, Offizieren und Staatsbeamten.132 Das beste Medium der Versöhnung oder, in andern Worten, die beste Verkörperung des Vermittlungstalents des öster­reichischen Menschen war natürlich die Musik, besonders die mitreißenden Melodien für den Sopran, die oft an Zigeunerweisen erinnern. Strauß, Lehár und Kálmán wussten genau, wie man diese Zigeunerweisen zu sofort erkennbaren Liedern eines Paralleluniversums umarbeitet, in dem es nichts gibt, das nicht dem Gemeinwohl dient. Wollte man vermuten, die Operette habe vereinfachte Verkörperungen des Hofmannsthalschen öster­reichischen Menschen auf die Bühne gebracht, dann müsste man auch fragen, wie weit das Musiktheater dieses Ideal trivialisieren musste. Wie Csáky und Hanák sucht Vajda, einem solchen abwertenden Schluss zu entgehen. Zu diesem Zweck deutet er die Kultivierung einer geschönten Parallelwelt durch die Operette als eine Reflexbewegung der Doppelmonarchie-Kultur, die sich damit gegen ihren Zerfall wehrt. Vajdas Reich des schönen Scheins bevorzugt das 132 Diese Analyse gilt in etwa dem gleichen Ausmaß auch für das ungarische Volksstück (népszínmű), das von Ede Szigligeti (1814  –  1878) zur Vollendung gebracht wurde. Zu diesen in einem bäuerlichen Milieu angesiedelten, idealisierten Unterhaltungsstücken siehe Rita Ratzky, »Das Volksstück  : eine in Öster­reich entstandene, aber höchst ungarisch gewordene Gattung«, in Seipel, Zeit des Aufbruchs, S. 259  –  264. Siehe auch Csáky, Ideologie, S. 46  –  47.



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»Schwerfällig-Elegante« und begünstigt »eine atmosphärische Verwandtheit« zwischen unzähligen Kunstgenres.133 Das majestätische Dekor in Gebäuden, Kunstausstellungen und dem Theater stellte ästhetische Nahrung bereit, die von jedermann ohne Weiteres genossen werden konnte. Zeitweise mochten ihre Konsumenten sogar annehmen, die Versöhnung, die sich in der Parallelwelt des Musiktheaters vollzog, könnte auch das reale Leben erreichen, besonders in marginozentrischen Regionen wie der Bukowina und dem Banat, wo die Ethnizitäten nach wie vor miteinander mehr oder minder gut auskamen. Eine positive Sicht der interethnischen Ideologie, wie sie in der Operette vorgeführt wird, müsste dem Genre lobend zugestehen, dass es das Potenzial für marginozentrische Interaktion nicht nur in bevorzugten Regionen dramatisierte (und erotisierte), sondern im ganzen Habsburgerreich. Im Erscheinungsjahr von Vajdas Essay veröffentliche auch Péter Hanák seine subtile Analyse der Wiener und Budapester Operette.134 Dem großen Sozialhistoriker gelang damit einer der gewichtigsten Beiträge zu diesem Thema. In seinen Augen fand in den zwei Hauptstädten die Transformation der elitären Oper zu einem Medium großstädtischer Massenunterhaltung statt. Die Operette verkörperte dort »die Popularkultur, deren Reiz in gleicher Weise von der Ober- und Mittelschicht und noch mehr von den Schichten am unteren Rand des sozialen Spektrums« geschätzt wurde.135 Als wollte er die Bevorzugung von Offenbach durch Karl Kraus erklären, charakterisierte Hanák die Wiener Operette im Gegensatz zu ihrer Pariser Vorfahrin als »nicht so erbarmungslos ironisch. In ihrer Musik setzte sie nicht in erster Linie auf scharfen, ausgelassenen Humor, sondern auf Melodik, Süße und Gefühlsseligkeit als Leitmotiv«.136 Diese Faktoren passen auch gut zur Beschreibung der Prosa von Gyula Krúdy und der Theaterstücke von Ferenc Molnár. Hanák analysiert das Libretto von Strauß’ Der Zigeunerbaron (1886), dessen Plot der Novelle Saffi des »ungarischen Dichterfürsten« Mór Jókai entnommen ist. In der vom Librettisten Ignaz Schnitzer adaptierten Fassung spielt die Geschichte zur Zeit Maria Theresias unter Exilungarn und »Zigeunern«  ; Schauplatz ist die marginozentrische Provinz Banat, gleichsam prädestiniert für die Rolle als Ankerplatz einer Parallelwelt interethnischer Versöhnung. Passenderweise durfte der RákócziMarsch, ein ungarisches patriotisches Lied, das seit 1848 in Öster­reich behördlich 133 Vajda, »Das Reich«, S. 180. 134 Péter Hanák, »The Cultural Role of the Vienna-Budapest Operetta«, in Thomas Bender und Carl E. Schorske (Hg.), Budapest and New York. Studies in Metropolitan Transformation. 1870  –   1930 (New York  : Russell Sage Foundation, 1994), S. 209  –  223  ; Nachdruck in Hanák, The Garden and the Workshop (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1998), S. 135  –  146. 135 Hanák, The Garden, S. 136. 136 Ebenda.

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verboten war, keck von einer öster­reichischen Bühne herab erklingen. Voll Bewunderung für diese und ähnliche Gesten, mit denen Strauß und sein Librettist sich über Bürokratie und Zensur hinwegsetzten, betont Hanák mehrmals, dass dieses romantische Idyll, für das Hermann Broch nur Verachtung übrig hatte, in Wien und in Budapest gleichermaßen Anklang fand, unbeschadet der Tatsache, dass einige ungarische Kritiker Einwände gegen die »Verwalzerung« patriotischer ungarischer Musik äußerten.137 Wenige Lobsprüche auf die Operette sind so ernst gemeint wie Hanáks Urteil, wenn er meint, es sei »keine Übertreibung zu sagen, der Zigeunerbaron sei selbst Teil des Ausgleichsprozesses, als Versöhnung der Herzen [und als] politisches Abkommen, von dem in Wort und Musik erzählt wird«.138 Der ungarische Historiker rückt diesen Erfolg ins Zentrum der Analyse, die er der offenbaren Notwendigkeit von Vajdas »Reich des schönen Scheins« als Arena der Versöhnung widmet. »Staatspatriotismus, der noch dazu im Schwinden war, Geschichte und schöne Literatur« konnten unmöglich das leisten, wozu Musik und Kunst fähig waren.139 Nur die Komponisten in ununterbrochener Folge von Haydn, Mozart, Schubert, Brahms und Liszt bis Smetana, Dvořák, Goldmark, Strauß, Lehár und Kálmán kamen als Schöpfer einer Sprache in Frage, »die allgemein verstanden wurde, von allen Völkern, Ländern und Städten, einer Art Gemeinschaft der kulturellen Identität«.140 Ohne das Konzept des öster­reichischen Menschen direkt zu erwähnen, behauptet Hanák, die versöhnende Funktion, die Hofmannsthal und andere diesem Typus zuschrieben, sei in erster Linie nicht von Staatsbeamten, sondern von Komponisten wahrgenommen worden. In diesem Licht erscheinen die Operettenkomponisten als Fortsetzer der vornehmsten Traditionen Öster­reichs. Hanák ging noch weiter als Vajda, indem er für die Operette einen »monarchischen« Charakter in Anspruch nahm, band sie doch Melodien, Tänze, Volkstypen und Mentalitäten von fast allen Völkern der Monarchie zu einem einzigen Strauß. Sie war außerdem die einzige künstlerische Gattung, die sich dieser Aufgabe stellte. Die »allgemeine Massenkultur«, der sie zuarbeitete, musste die kulturelle Integration und wenigstens Ansätze einer sich selbst bewussten marginozentrischen Einstellung fördern. Mochte Der Zigeunerbaron seinen Protagonisten ein solches Bewusstsein zuschreiben  : Die Inszenierung des Stücks in Kostümen des 18. Jahr137 Ebenda, S. 138. 138 Ebenda, S. 139. 139 Ebenda, S. 140. 140 Ebenda. Für eine differenzierte Sicht auf die versöhnende Funktion der Operette während des Kriegs siehe Steven Beller, »The Tragic Carnival  : Austrian Culture in the First World War«, in Aviel Roshwald und Richard Stites (Hg.), European Culture in the Great War. The Arts, Entertainment and Propaganda, 1914  –  1918 (Cambridge / New York  : Cambridge University Press, 1999), S. 127  –  161, insbes. 154  –  159.



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hunderts war schwerlich geeignet, die Hypernationalisten der Zeit um 1900 zu besänftigen. Charles S. Maier gab Hanáks hochfliegender Analyse des Musiktheaters eine ominöse Wendung, indem er behauptete, »das Habsburgerreich war das geworden, was Clifford Geertz einen ›Theaterstaat‹ nennt – ein Regime, das nicht den utilitaristischen Zwecksetzungen der allgemeinen Wohlfahrt, seiner Ausdehnung oder selbst dem weiteren Erhalt einer dynastischen Familie dient und dessen einzige Aufgabe darin besteht, eine theatralische Existenz zu führen, Zeremonien zu inszenieren, sich selbst und die Rolle seiner Eliten durch eine dramaturgische Politik zu affirmieren«.141 Das von Hof und Militär dargebotene »sublimierte Zeremoniell« konnte, wie Maier zu bedenken gibt, einem solchen Regime ebenso wenig dazu verhelfen, einen modernen Krieg zu überleben, wie Inseln marginozentrischer Umgänglichkeit mäßigenden Einfluss auf den Konflikt zwischen den Ethnizitäten in Wien oder den böhmischen Industriestädten nehmen konnten. Für den Zauber der geschönten Parallelwelten eines »Theaterstaates« war nicht jeder empfänglich, am allerwenigsten die fanatischen Nationalisten, die nur mit territorialer Eigenständigkeit zu befrieden waren.

5.3 Die Verlockungen der Pluralität Moritz Csáky, der Hanák ausführlich zur Kenntnis nimmt – im Gegensatz zu Konstantinović und Vajda, die bei ihm nicht vorkommen – hat diese Art der Analyse in seinem Buch über die Operette zur Vollendung gebracht.142 In neun Kapiteln verwebt er die Geschichte der Operette mit einer ganzen Reihe von Topoi über die Eigenart Öster­reichs und Ungarns. Pluralität, Heterogenität und Vielschichtigkeit dienen Csáky dazu, Kritik an der Operette zu entkräften  : Sie sei billige Unterhaltung (Alma Mahler, Theodor Adorno)  ; sie habe die fatale Neigung, Sinnloses ernst zu nehmen (Karl Kraus, Egon Friedell)  ; sie verhülle mit ihrer schönen Fassade

141 Charles S. Maier, »The Performative and the Political in Central Europe, 1890  –  1910«, in Karen Painter (Hg.), Mahler and His World (Princeton NJ / Oxford  : Princeton University Press, 2002), S. 55  –  86, 65. 142 Moritz Csáky, Ideologie. Eine knappe Zusammenfassung bei Csáky, »Entre féerie et réalité  : l’ope­ rette viennoise«, in Dieter Hornig und Endre Kiss (Hg.), Vienne-Budapest 1867  –  1918. Deux âges d’or, deux visions, un Empire (Paris  : Éditions autrement, 1996), S. 231  –  245. Einer von Csákys Kollegen, der Musikologe Christian Glanz, hat ähnliche Themen entwickelt  ; siehe Glanz, »Wiener Operette und öster­reichische Identität«, S – European Journal for Semiotic Studies, 13  : 3  –  4 (2001), S. 505  –  521. Eine ungarische Sicht bei András Batta, Träume und Schäume. Die Operette in der Donaumonarchie (Budapest  : Corvina, 1992).

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die Leere in ihrem Zentrum (Hermann Broch).143 Wie Vajda rückt Csáky diese Vorwürfe zurecht, indem er die Verankerung der Formeln der Operette sowohl in öster­reichischen wie ungarischen Traditionen aufzeigt. Für ihn war die Operette die Verkörperung der Bezugssysteme der Doppelmonarchie-Kultur nicht zuletzt deshalb, weil sie so viele traditionelle Kunstmittel in sich aufhob – Ironie, jüdischen Witz und andere codierte Sprachformen.144 Csáky war wie Hanák der Meinung, dass die Wiener und Budapester Operette nach 1860 das Unterhaltungsmedium der urbanen Mittelschicht gewesen war. Was ihn unter anderem von Vajda unterscheidet ist die Behauptung, die Operette sei das einzige Vehikel multiethnischer Kultur im Reich gewesen. Andere Formen ›öffentlicher‹ Kunst, wie z. B. die Architektur, seien nur in der Lage gewesen, die Identität jeweils einer Ethnizität wiederzugeben. Die Musik der Militärkapellen – Franz Lehár hatte in einer solchen Kapelle unter der Aufsicht seines Vaters seine Lehrjahre absolviert – absorbierte zwar ebenfalls Melodien der verschiedensten Ethnizitäten, aber nur eine Operette wie Der Zigeunerbaron konnte öster­reichische und ungarische Themen zu einer Einheit verschmelzen, und dasselbe galt für Emmerich Kálmáns große Erfolge – Der Zigeunerprimas (1912), Die Csárdásfürstin (1915), Gräfin Mariza (1924), Die Zirkusprinzessin (1926). Kálmán bediente sich nach seinem Umzug nach Wien 1910 deutschsprachiger Libretti, er hatte aber am Königlichen Konservatorium in Budapest in einer Klasse mit Bartók und Kodály studiert, ohne sich nachher für die Ethnomusikologie dieser radikalen Alles-in-Frage-Steller zu interessieren. Er gab Liszts Illusionen über die Herkunft ungarischer Volksmelodien von den »Zigeunern« den Vorzug. Bartók seinerseits strafte jede Art von Operette mit Verachtung und scheint noch 1944, ein Jahr vor seinem Tod, nie von Franz Lehár gehört zu haben.145 Kompromisslos und abweisend markiert Bartóks einaktige Oper Herzog Blaubarts Burg (1911) den absoluten Gegenpol zur Operette. Geschönte Parallelwelten hatten für ihn keinen Reiz. Csákys Buch über die Ideologie der Operette könnte, mit einem Ausdruck, den der schon mehrfach erwähnte Kulturanthropologe Clifford Geertz (1926  –  2006) geläufig gemacht hat, den Untertitel »Eine dichte Beschreibung« haben. Wie Geertz 143 Csáky, Ideologie, S. 24. Edward Timms hat die Nuancen in Karl Kraus’ Haltung zur Operette von Offenbach und der Wiener Operette dargelegt in Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. The Post-War Crisis and the Rise of the Swastika (New Haven CT / London  : Yale University Press, 2005), S. 412  –  421. Timms widmete das Buch dem Andenken seines Mentors J. P. Stern  ; mehr zu Stern in Kapitel 8. 144 Eine wegweisende Analyse der sozialen Rollen der Ironie in Öster­reich bei Leslie Bodi, »Comic Ambivalence as an Identity Marker  : The Austrian Model«, in David Roberts und Philip Thomson (Hg.), Comic Relations. Studies in the Comic, Satire and Parody (Frankfurt / Bern  : Lang, 1985), S. 67  –  75. 145 Leon Botstein, »Out of Hungary  : Bartók, Modernism, and the Cultural Politics of TwentiethCentury Music«, in Laki, Bartók and His World, S. 21.



Moritz DieCsáky Bedeutung und das von Für Bildung und Wider im Judentum der Pluralität

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und sein Bewunderer Charles S. Maier hat auch Csáky danach getrachtet, eine möglichst große Zahl großer und kleiner Kontexte zu benennen. Immer geistreich – manchmal fast bis zur Verwirrung –, zeitigt die Pluralität von Interpretationsschemata so bewundernswerte Früchte wie eine Interpretation der Libretti, die Hofmannsthal für Richard Strauss schrieb. Es zeigt sich dabei, dass der Dichter Opernlibretti schreiben wollte, in denen – wie in der Operette – »Musik, Handlung und Gesellschaft« in leicht zugänglicher Manier zu einer Einheit fanden.146 Da Hofmannsthal ausdrücklich jeden Anspruch auf einen ausgebildeten musikalischen Geschmack für sich ausschloss, fühlte er sich nicht berechtigt – wie aus seiner Korres­pondenz mit Strauss ersichtlich –, die Operette zu verurteilen, er verteidigte sie sogar als eine Form des Theaters, die das Publikum ebenso unmittelbar ansprach wie er das selbst vorhatte.147 Hofmannsthals ideale Oper sollte das verzaubernde Charisma der Operette mit der seelenbewegenden Tiefe Mozarts verbinden. Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Fülle von Kontexten, die Csáky beschwört, ist seine kurze Abhandlung über ein Schlüsselzitat aus der Fledermaus (1874)  : »Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.«148 Er verfolgt diesen Ratschlag für den richtigen Umgang mit Melancholie zunächst zurück auf das Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1864), Schopenhauers Übersetzung des Orácolo moral (1647), ein Werk des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601  –  1658). Die nächste Etappe seiner Suche nach der Quelle dieser Maxime war Dezső Kosztolányi, von dem der Weg schließlich zu einem Lieblingsautor Kosztolányis, dem römischen Stoiker L. Annaeus Seneca (1  –  65 n. Chr.) führte. Csáky interpretierte die Warnung, sich nicht vom Unabänderlichen bedrücken zu lassen, als eine Weisheit, die unentbehrlich war in einem Reich, wo eine geringfügige Veränderung an einem Punkt katastrophale Folgen an einem unvorhersehbaren andern verursachen konnte. So ergibt die scheinbar harmlose Zeile eines Operettenlibrettos eine dicht argumentierte Verteidigung der Vorsicht, mit der die Bürger der Doppelmonarchie einer nahezu unbewältigbaren Pluralität gegenüberstehen sollten. Mit einer Referenzbreite, die an die Essayisten der dritten Generation von Nyugat wie Antal Szerb und Gábor Halász erinnert, zeigt Csáky, dass die Stoa, das barocke Spanien und Schopenhauer gerade dort anwesend sind, wo man sie am allerwenigsten erwartet – in der berühmtesten aller Operetten. Csáky widmet, einigermaßen vorhersagbar, sein ausführlichstes Kapitel einer Auflistung von Beispielen der »Heterogenität« und der kulturellen Pluralität in der Doppelmonarchie. Hier finden wir eine voll entwickelte Phänomenologie der po146 Csáky, Ideologie, S. 159. 147 Ebenda, S. 160. 148 Ebenda, S. 48  –  58.

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litischen und kulturellen Folgen, die die »widersprüchliche Kohärenz« der Region zeitigte.149 Ohne Grassl und Smith hier zu erwähnen, die Csáky an anderer Stelle sehr wohl zitiert, bringt er ein englisches Zitat aus Bartóks Essay »Race Purity in Music« (1942). Csáky nutzt dabei die Verblüffung des Komponisten über die Vielfalt der bäuerlichen Volksmusik, um aus dem Duett Grassl und Smith ein Terzett zu machen. »Das Geben und Nehmen von Melodien«, ihr Hin- und Herpendeln über kulturelle Grenzen hinweg findet ein Gegenstück im Hin- und Herpendeln von kulturellen Motiven und gesellschaftlichen Codes in andern Bereichen des Lebens wie der Küche und der Etikette.150 In einer verblüffenden Zusammenschau vergleicht Csáky die Vermischung von Motiven in der Lebenswelt marginozentrischer Regionen mit Oskar Kokoschkas Technik, Farben ineinander laufen zu lassen, so dass sie »ineinander übergingen und sich wechselseitig durchdrangen«.151 Darüber hinaus lässt Csáky die Pläne von Schreibtisch-Föderalisten wie Masaryk, Popovici und Karl Renner Revue passieren, wobei er in den Vorschlägen, die diese vor 1914 machten, konstruktive Reaktionen auf die herrschende Heterogenität sieht.152 Aurel Popovicis Die Vereinigten Staaten von Groß-Öster­reich (1906) bietet eine positive Sicht auf das politische Regenerationsvermögen in einem Reich, das es so neu aufzubauen galt, dass die marginozentrischen Regionen verstärkt ins Blickfeld rückten. Csáky zitiert Joseph Roths Credo, »Das Wesen Öster­reichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie … Die öster­reichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern«,153 und kann nicht umhin, zu wünschen, die Öster­reicher und Ungarn des Fin de Siècle hätten in größerer Zahl diese Ansicht geteilt – statt, wie es tatsächlich der Fall war, die Überschwemmung der Großstädte durch »fremde« Ethnizitäten zu bedauern. Die größte Überraschung hebt Moritz Csáky sich für den Schluss auf  : Dieses Buch über die kulturelle Bedeutung der Wiener und Budapester Operette gipfelt in einem Kapitel über historiografische Methodologie. Csáky beruft sich auf Clifford Geertz’ Konzept der »komplexen Systeme« als Matrix, die es ermöglichen soll, den vielen Dimensionen kultureller Pluralität im Allgemeinen und der Operette im Besonderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ausgehend von Siegfried Kracauers Offenbach-Interpretation isoliert Csáky die »Langeweile« des übersättigten Kunstkonsumenten als ein Faktum der Periode rund um 1900. Die Schöpfer der Ope149 Ebenda, S. 169. 150 An einer andern Stelle im Buch zitiert Csáky zustimmend die Verwendung von Ehrenfels’ Konzept der Gestalt-Eigenschaften durch Grassl und Smith für die Konstruktion ihrer »Theorie Öster­ reichs«. Ideologie, S. 259 und Anm. 22. 151 Ebenda, S. 190. 152 Ebenda, S. 200. 153 Joseph Roth, Die Kapuzinergruft (1938), zitiert bei Csáky, Ideologie, S. 202, Anm. 39.



Moritz Csáky und das Für und Wider der Pluralität

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rette reagierten auf den ästhetischen Überdruss des Fin de Siècle mit der »Flucht in eine imaginierte Welt der Unterhaltung«,154 in Fónagys »geschönte Parallelwelt«. So schließt sich der Kreis, indem die Analyse der Operette letztendlich Variationen von Vajdas »Reich des schönen Scheins« zu Tage fördert. Csáky vertieft diese Schlussfolgerung noch, indem er einige politische Initiativen, Identitätskrisen und historiografische Visionen beleuchtet, die sich zeitgleich mit der Entstehung der Operette entfalteten. Die Werke von Johann Strauß, Franz Lehár und Emmerich Kálmán werden als Beispiele der künstlerischen Erfindungskraft der Doppelmonarchie gewürdigt. Die musikalische Vision, die sie darstellen, überdeckte mit ihrer herrlichen Oberfläche den Kampf, der in einem Kontext nicht zu bewältigender Verschiedenheit in der Tiefe tobte. Csákys Leistung besteht darin, dass er eine stupende Vielfalt der Perspektiven aufgeboten hat, um diese Komplexität zu kartografieren. Seine methodologische Pluralität hält Schritt mit der Pluralität, die er innerhalb des kulturellen Ökosystems der Doppelmonarchie wahrnimmt. Wenn wir in ihrer Heterogenität ein wesentliches – oder sogar das wesentliche – Merkmal der Doppelmonarchie sehen, dann müssen wir auch die Operette als das Produkt des »Theaterstaats«, das die größte Verbreitung fand, ernst nehmen. Dabei wollen wir nicht übersehen, dass Vajda, Hanák und Csáky nicht behaupteten, die Operette sei Wiens charakteristischstes Kulturprodukt. Sie ist Wiens und Budapests sichtbarster künstlerischer Ausdruck der Heterogenität, die im gesamten Reich florierte und gebieterisch nach Wiedergabe in einer für ein Massenpublikum tauglichen ästhetischen Form verlangte. Die Operette drückte die Bereitschaft des Wiener Publikums zu einem Tribut an die ethnische Heterogenität aus, die viele in den Eliten der Stadt, zuvorderst die Deutschnationalen, gern aus der Stadt verbannt gesehen hätten, während das Budapester Publikum in der Welt des schönen Scheins seinen Frieden schloss mit dem Faktum, dass ihre Stadt an die Hauptstadt der Habsburger gekettet war. Ohne sich um den Donnerer Karl Kraus zu kümmern, würdigt Csáky die Librettisten und Komponisten, die in der Parallelwelt der Operettenbühne das Vielvölkergemisch in den leuchtendsten Farben malten. Dass sie der Pluralität eine so verführerische Note gegeben haben, rechtfertigt unser Interesse bis zum heutigen Tag.

154 Csáky, Ideologie, S. 273.

Kapitel 6

György M. Vajdas Literarische Kulturgeschichte 6.1 Ein Meister der Komparatistik Der ungarische Komparatist und Experte für Heterogenität in der Literatur, Györ­g y M. Vajda, dessen Gedanken zur Operette wir bereits kennen gelernt haben, ähnelt in einem Punkt der Mehrzahl der in diesem Buch behandelten Autoren, die sich mit den Folgen der Pluralität in der öster­reichischen und ungarischen Kultur beschäftigt haben  : Er ist weitgehend unbeachtet geblieben. In einem andern Punkt aber unterscheidet er sich ganz wesentlich. Während man für mehrere dieser konzeptuellen Pioniere – Virgil Nemoianu, Grassl / Smith, Charles S. Maier – nur auf eine Handvoll einschlägiger Publikationen verweisen kann und Moritz Csáky als Einziger eine größere Anzahl von Manifesten zur Pluralität geschrieben hat, war Vajda ein Virtuose des Fachbeitrags. Er veröffentlichte mehr als achtzig davon in sechs Sprachen. Auch seine Bücher versammeln in erster Linie Essays, wie es sich für einen Mitbegründer von Neohelicon gehört. Vajda war seit 1973 zusammen mit Miklós Szabolcsi Herausgeber dieser bahnbrechenden mehrsprachigen Fachzeitschrift für Vergleichende Literatur. Mit dem Anspruch, das gesamte Feld der europäischen Vergleichenden Literaturwissenschaft mit Artikeln in Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch (nicht aber in Ungarisch) abzudecken, leistet Neohelicon von seinem Standort Szeged aus Pionierarbeit zur öster­reichischen und ungarischen Kultur mit besonderer Berücksichtigung des frühen 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Auch in den letzten 25 Jahren vor seinem Tod im Jahr 2001 im Alter von 86 Jahren, in einer Lebensphase also, in der die meisten Menschen allmählich verstummen, produzierte der große alte Mann der ungarischen Literaturwissenschaft einen innovativen Artikel nach dem andern. Seine Beiträge umfassen Monografien über wegweisende Schriftsteller des Fin de Siècle in Öster­reich und Ungarn, eine Reihe von Essays über literarische Parallelen zur Kunst des Sezessionismus und Neubewertungen der Kultur der Doppelmonarchie insgesamt. Einige dieser Artikel liegen gesammelt in einem deutschen (1994) und in einem ungarischen Band (2000) vor.155 Für den deutschen Band skizziert Vajda sein Konzept einer 155 György M. Vajda, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie  : Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740  –  1918 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994) und Vajda, Egy irodalmi Közép-Európáért. Kilenc tanulmáany [Die Einheit der Literatur Mitteleuropas  : Neun Studien] (Budapest  : Fekete Sas



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»literarischen Kulturgeschichte«, die er als eine auf der denkbar größten Basis literarischer Quellen aufbauende Kulturgeschichte auffasst. Vajda entwickelte diesen Ansatz als weitgehend ideologiefreie Alternative zu den verschiedenen Marxismen, die damals in Ungarn in Umlauf waren. Es findet sich darin keine wie auch immer geartete Spur des methodologischen Erbes von Georg Lukács oder seiner marxistischen Nachfolger. Einige ungarische Kollegen Vajdas – Miklós Szabolcsi, Antal Mádl, István Fried – wirkten ebenfalls an dieser Umwandlung der Vergleichenden Literaturwissenschaft in ein ideologiefreies Forum der Kulturgeschichte mit, das auf einer unvergleichlich breit gefächerten Lektüre basiert. In den 1980ern lotete Vajda in mehr als einem Dutzend Artikeln über Symbolismus und Sezessionismus in Kunst und Literatur Parallelen zwischen öster­ reichischen und ungarischen Schriftstellern aus der Zeit zwischen 1890 und 1918 und danach aus. Diese Serie enthält Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturgeschichte, die nach jedem Maßstab, auch dem anspruchsvollsten, nur als Glanzleistungen zu bezeichnen sind. Seine Forschungen drängten Vajda allmählich zu einer radikalen Neukonzeption der Gemeinsamkeiten, die sich in der Hochkultur von Cisleithanien und Transleithanien manifestierten. In den 1990ern fanden diese Arbeiten ihren krönenden Abschluss in der Konstruktion einer Phänomenologie der Doppelmonarchie-Kultur, für die Vajda sich auf Edmund Husserls Lebenswerk stützte. Diese neue Sicht entfaltete er in einer Reihe von Artikeln, als er schon 80 und älter war, eine einzigartige Leistung, die eine ausführliche Würdigung verlangt. Zum einen bezieht er eine für seine Zwecke vereinfachte Version von Husserls Philosophie in überaus produktiver Weise mit ein, zum andern konfrontiert er bekannte Figuren durch neue Kontexte mit völlig neuartigen Fragen. Vajda blieb bis zuletzt ein unaufgeregter Wegbereiter, »a quiet pathfinder«, wie Anna Balakian (1915  –  1997), die selbst wesentlich dazu beigetragen hat, der Komparatistik in den Vereinigten Staaten den Weg zu ebnen, ihn charakterisiert hat.156 Wenige Literaturwissenschaftler haben so viele neuartige Interpretationen in die Welt gesetzt wie Vajda in seinen Artikeln. Es ist nun Zeit, einige dieser Artikel für unsere Neukonfiguration der Kulturgeschichte des späten Habsburgerreiches heranzuziehen. Vajda war einer der großen kosmopolitischen Gelehrten seiner Zeit, der wie sein jüngerer Kollege István Fried in englischer, französischer, deutscher und ungarischer Sprache publizierte. Mit seinem kompetenten Zugriff auf Literatur in etwa Kiadó, 2000). Zu Vajda siehe József Pál, »György Mihály Vajda«, Neohelicon, 29  :1 (2002), S. 5  –  19 [Die Bibliografie vermerkt 15 Bücher, 29 Sammelbände und 80 Artikel], und Pál, »La monarchie vivante«, Neohelicon, 29  :2 (2002), S. 7  –  21, eine Besprechung von Egy irodalmi Közép-Európáért (2000). 156 Anna Balakian, »Art Criticism as Poetry«, in Katalin Kürtösi und József Pál (Hg.), Celebrating Comparativism. Papers Offered for György M. Vajda and István Fried (Szeged, 1994), S. 77  –  83, 83.

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zehn Sprachen verwirklichte er Goethes Ideal von Weltliteratur – ein Thema, zu dem er mehrere Werke veröffentlicht hat – geradezu, als wollte er im Alleingang das Erbe von Mihály Babits (1883  –  1941) und Antal Szerb (1901  –  1945) antreten und vermehren.157 Ähnlich vertraut mit der Weltliteratur wie die beiden und auch ähnlich scharfsichtig, übertraf Vajda sie noch durch seine lebenslang geübte wissenschaftliche Disziplin und durch seine Offenheit für gemeinschaftliche Projekte. Neben den Artikeln aus den letzten fünfundzwanzig Jahren seines Lebens nehmen sich die Beiträge, die Mihály Babits und Antal Szerb zur Erschließung der Welt­ literatur geleistet haben – beiden war freilich kein so langes Leben gegönnt, Szerb wurde in seinem 43. Lebensjahr von den Nazis erschlagen – eher beiläufig und wenig konsequent aus. Vajda demonstrierte, darin wieder Goethe vergleichbar, dass lebenslange Beschäftigung mit den grundlegenden Fragen gleichsam von selbst zu intelligentem Revisionismus befähigt. Zu Recht ist er einer der wenigen Gelehrten überhaupt, die mit drei Festschriften geehrt worden sind – 1984 zu seinem Siebziger, 1994 zu seinem Achtziger und 1999 zu seinem 85. Geburtstag. Als einem der Letzten seiner Art kommt ihm ein Platz an der Seite des deutschstämmigen Sozialhistorikers Norbert Elias (1897  –  1990) zu, der ebenfalls noch jenseits des 75. Lebensjahres wissenschaftlich hervorragende Arbeit geleistet hat. Selbst dem Getümmel entrückt, haben diese Nestor-Figuren auf den kompetitiven postmodernen Wissenschaftsbetrieb wie ein belebendes Ferment gewirkt. György M. Vajda gelang es immer wieder, die überraschendsten Bezüge zwischen Schriftstellern, Kontexten und Methodologien herzustellen in einer Weise, die wir schon an Virgil Nemoianu bewundert haben. Die Scharfsicht, mit der diese Literaturwissenschaftler Zusammenhänge zwischen scheinbar nicht zusammengehörigen Persönlichkeiten und Milieus erkennen, erinnert an Bartóks Aufspüren von über Grenzen hinweg pendelnden Motiven. Die zwei Komparatisten machen die notwendige Vermischung der Bezugssysteme im Habsburgerreich, von der Grassl und Smith sprechen, im Detail nachvollziehbar. Nemoianu und Vajda haben auch die Methodologie des »Kontextuellen Formalismus« vorweggenommen, die der Architekturhistoriker Anthony Alofsin bei seiner Interpretation der vielschichtigen Bedeutungen von Bauwerken anwendet. Diese Begabung zeigt Nemoianu und Vajda selbst in der harmonisierenden Rolle, die von den Apologeten der Zwischenkriegszeit dem öster­reichischen Menschen attestiert wurde. Als herausragende Exponenten der von Vajda so genannten »literarischen Kulturgeschichte« erscheinen sie wie spät zur Blüte gelangte Musterbeispiele des öster­reichischen Menschen, als Verkörperungen des Humankapitals, das zur Kohärenz des späten Habsburgerreiches beigetragen hat. Die Kraft ihrer wissenschaftlichen Synthese erinnert an Hofmannsthal, Benda 157 Zu Mihály Babits und Antal Szerb siehe Kapitel 8.



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und Friedrich Heer, Denker, denen sie allerdings an akademischer Disziplin und aufgrund der Fortschritte, die sich in der Literaturtheorie in der Zwischenzeit ergeben hatten, überlegen sind. Nemoianu und Vajda, diese exemplarischen Vertreter der literarischen Kulturgeschichte, verwirklichten Ideale, die von vorangegangenen Apologeten des Habsburgerreiches zwar formuliert, aber nicht erreicht werden konnten. Die zwei Komparatisten, Rumänisch-Amerikaner der eine, Ungar der andere, vollenden ein Kapitel der Selbstentdeckung Öster­reichs – genauer  : der Doppelmonarchie. Mit einer selbst für öster­reichische Verhältnisse verblüffenden Verspätung haben sie gezeigt, dass dieses zwischen den Kriegen von Öster­reichern hochgehaltene Ideal auch fünfzig Jahre später noch Gestalt annehmen kann. Auf der Suche nach den Spuren eines gesamteuropäischen Biedermeier hat Nemoianu nur selten ausdrücklich zum Habsburgerreich Stellung bezogen. Die mitteleuropäische Bildungsethik nahm zwar seiner Meinung nach ihren Ursprung am Hof Maria Theresias und Joseph II., Nemoianu sah aber in ihr keineswegs ein auf das Habsburgerreich beschränktes Phänomen. Sie machte sich stattdessen in den öster­reichischen wie in den deutschen Ländern dadurch bemerkbar, dass sie zur Institutionalisierung einer Tendenz zu »mäßigenden Impulsen« und der Notwendigkeit führte, »Unvollkommenheit akzeptabel zu machen«.158 1957 hielt Friedrich Heer in seinem Essay »Humanitas Austriaca« eine Lobrede auf die öster­reichische Fähigkeit zur Versöhnung der Gegensätze, die nicht nur im Habsburgerreich, sondern überall im habsburgischen Europa, von Spanien und Flandern bis in die Bukowina unaufhaltsam wucherten.159 Nemoianu dachte ganz ähnlich. Die von Öster­reich aus propagierte Bildungsethik führte ab dem frühen 19. Jahrhundert zu einem Aufbruch, der sich nicht auf Deutschsprachige beschränkte, sondern bei allen Ethnizitäten des Habsburgerreiches spürbar wurde. In dieser Ethik artikulierte sich für Nemoianu die große Aufgabe, die diese Epoche den Deutsch Sprechenden ebenso wie den Osteuropäern stellte  : die Extreme der französischen Aufklärung und der deutschen Romantik zu einem ›way of life‹ zu gestalten. Die Ethik sorgte, in den Augen des Rumänisch-Amerikaners, für die Verfrachtung westeuropäischer Idealvorstellungen nach Osten und deren Verwurzelung in fünf bis sechs Generationen einer bildungsbeflissenen Mittelschicht von Köln bis Czernowitz und von Schleswig bis Bosnien-Herzegowina. Nemoianu entdeckte so Gemeinsamkeiten ­a ller Art im Europa der gezähmten Romantik. Diese überall, auch in England, sichtbaren Trends fasste er unter dem Begriff »Biedermeier« zusammen. 158 Virgil Nemoianu, The Triumph of Imperfection. The Silver Age of Sociocultural Moderation in ­Europe (Columbia SC  : The University of South Carolina Press, 2006), S. x. 159 Friedrich Heer, »Humanitas Austriaca«, in Otto Schulmeister (Hg.), Spectrum Austriae (Wien  : Herder, 1957), S. 478  –  523  ; Nachdruck in Heer, Land im Strom der Zeit. Öster­reich ges­tern, heute, morgen (Wien / München  : Herold, 1958), S. 17  –  105.

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Anders als Nemoianu konzentrierte Vajda seine Aufmerksamkeit zunehmend auf die Kultur des späten Habsburgerreiches. Es ging ihm dabei vorrangig um Gemeinsamkeiten innerhalb der Doppelmonarchie in Literatur, Bildender Kunst, Musik, Philosophie, gelegentlich auch in der Soziologie  ; die Naturwissenschaften, Medizin und Jurisprudenz ließ er außer Acht. Die Frage, an der er sich dabei orientierte, lautete  : Welche Leistungen bildeten die gemeinsame Grundlage der deutschen, ungarischen und slawischen Eliten der Doppelmonarchie  ? In den Antworten, die er fand, spielten angebliche paneuropäische Eigenschaften der Völker der Monarchie, die Nemoianu und Friedrich Heer für sie in Anspruch nahmen, keine Rolle.

6.2 Vajda zu Sezessionismus und der Symbolistischen Bewegung Von den drei zwischen 1980 und 1982 geschriebenen Artikeln, die Vajda zur Lite­ ratur der Doppelmonarchie um 1900 publizierte, liefert der erste, englisch geschriebene, »Some Aspects of Art Nouveau in Arts and Letters«, eine Charakteristik dieser Stilrichtung in der europäischen Kunst und Literatur.160 Der zweite, »The Structure of the Symbolist Movement«, eine Übersetzung aus dem Ungarischen für einen zu diesem Thema von Anna Balakian herausgegebenen Sammelband, bietet eine Neukonzeption der Struktur der symbolistischen Bewegung in Europa.161 Der dritte, »Literarische Sezession in Ungarn«, auf Deutsch geschrieben, baut auf Vajdas Vorarbeiten auf dem Gebiet der Kunst auf, deren Ergebnisse er zwei Jahre davor vorgelegt hatte.162 Allen gemeinsam ist die für Vajda insgesamt charakteristische Leichtigkeit, mit der er sich zwischen Sprachen, Genres und Methodologien bewegt. Kaum jemand versteht so wie er, weit voneinander liegende Stränge der Hochkultur zu faszinierenden Tapisserien der Gelehrsamkeit zu verknüpfen. Diese Artikel markierten in den frühen 1980ern den Anfang seiner neuen Herangehensweise an die literarische und künstlerische Kultur der Doppelmonarchie, die schließlich in das Projekt einer Phänomenologie dieser Kultur und ihres Nachwirkens bis in die 1930er Jahre einmündet. 1994 war Vajda dann so weit, von einem »Kryptodasein« der Doppelmonarchie in der Quasi-Monarchie 160 Vajda, »Some Aspects of Art Nouveau in Arts and Letters«, Journal of Aesthetic Education, 14  :4 (1980), 73  –  81. 161 Vajda, »The Structure of the Symbolist Movement«, in Anna Balakian (Hg.), The Symbolist Movement in the Literature of European Languages (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1982), S. 29  –  41. 162 Vajda, »Literarische Sezession in Ungarn«, Neohelicon, 9  :2 (1982), 33  –  43. Dieser Essay beginnt mit einem Zitat aus Gábor Halász’ »Skizze der Sezession« [»Vázlat a szecessióról«] in Nyugat, 32  :10 (1939). Vajda teilte mit diesem Vorgänger das Geschick, Schriftsteller, Künstler, Architekten und Komponisten zu einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten zusammenzufassen.



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des Horthy-Regimes zu sprechen. Diese Einsicht gründet in einer sich über eineinhalb Jahrzehnte erstreckenden Reihe von immer tiefer schürfenden Neuformulierungen.163 In mehrfacher Hinsicht ist Vajdas Abenteuerlust am deutlichsten spürbar in »Some Aspects of Art Nouveau in Arts and Letters«. Was hier geboten wird, ist nicht weniger als eine Phänomenologie der Fin de Siècle Kunst und Literatur, die mit einem französisch-belgischen Ausdruck als »Art Nouveau« bezeichnet werden. Er beginnt gleich mit einer wichtigen Klarstellung  : »Während Naturalismus und Symbolismus ursprünglich literarische Stilrichtungen waren, liegen die Anfänge des Art nouveau in der ornamentalen und angewandten Kunst.«164 Es folgt eine faszinierende Analyse von Endre Adys Gedicht »Lédával a bálban« als ein Musterbeispiel des Sezessionismus.165 »Hier finden wir nicht weniger als alles  : stilisierte dekorative Details und den Glanz des Erhabenen – und, als ihr Gegenteil, Dekadenz und Tod  : Das Ganze ausgedrückt in den anspielungsreichen Bildern eines objektivierten lyrischen Impressionismus, der sich mit sinnenfrohem Naturalismus (›Gemüter, jugendtoll, die duftdurchwallten‹) und dem mystischen Höhenflug des Symbolismus (›umflort die toten Mienen‹) paart.«166 Das Fazit des Komparatisten  : »Man kann sagen, dass der Sezessionismus erst dann verständlich wird, wenn wir darin eine synthetisierende Bewegung in Kunst und Literatur sehen, die alles, was sich im Lauf des 19. Jahrhunderts angesammelt hatte, in sich aufgenommen und zu einer Einheit verschmolzen hat. … Kontrastierende und einander widersprechende Trends verschmelzen im Sezessionismus.«167 Hier könnte genauso gut von den interagierenden Bezugssystemen Grassls und Smiths die Rede sein. Vajdas Konzeption des Sezessionismus als einer »synthetisierenden Strömung«, die sich die Summe der Innovationen des 19. Jahrhundert einverleibte, ist ebenso anwendbar auf seine späteren Beschwörungen der Kultur der Doppelmonarchie, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung  : Diese kultivierte als Eigenart die Technik, Tiefe hinter trügerischer Oberfläche verschwinden zu lassen. Die Kultur der Doppelmonarchie verlangt deshalb von ihren Analytikern einen noch schärferen Blick als der Sezessionismus, wenn es darum geht, verborgene Strukturen 163 György M. Vajda, »Die Armee als Modell der Doppelmonarchie in der Literatur«, in Joseph P. Strelka (Hg.), Im Takte des Radetzkymarschs. Der Beamte und der Offizier in der öster­reichischen Literatur (Bern  : Lang, 1994), S. 371  –  382, insbes. 381. 164 Vajda, »Some Aspects«, S. 73. 165 Endre Ady, »Lédával a bálban« [Mit Leda auf dem Ball], in Vér és arany [Blut und Gold] (1907), in Összes Versei [Sämtliche Gedichte] (Budapest  : Szépirodalmi könyvkiadó, 1965), 1  : S. 151. 166 Vajda, »Some Aspects«, S. 75. Die deutschen Zitate aus »Lédával a bálban« stammen aus Andreas Ady. Umdichtungen aus dem Ungarischen von Theodor H. von Hoch (Budapest / Leipzig  : Theodor Lauffer, 1942), S. 23 (Anm. d. Ü.). 167 Vajda, »Some Aspects«, S. 75.

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zu entschlüsseln. Ein solcher Versuch der Entschlüsselung dessen, was sich hinter dem Selbstausdruck der späten habsburgischen Kultur verbirgt, so Vajda, sei für Edmund Husserl ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung seiner Philosophie gewesen, die das Vorhandensein von bleibenden Tiefenstrukturen unterhalb der sich ständig wandelnden Erscheinungen postuliere. Noch in seinen letzten Jahren hatte Vajda die Kraft, aus einem Gewirr ererbter Bezugssysteme einfachere sichtbar zu machen, die darauf warten, an die Oberfläche zu steigen. Der Sezessionismus, so Vajda in dialektischer Hochform, verbindet scheinbar unversöhnliche Gegensätze  : auf der einen Seite »stilbewusste dekorative Wirkung, souveräne Eleganz und edle Pose«, auf der andern Funktionalismus und Zweckdienlichkeit.168 William Morris und Robert Ashbee, um englische Beispiele zu nennen, wollten »jeden einzelnen Gebrauchsgegenstand zu einem Kunstwerk« machen, um den verheerenden Auswirkungen der Industrialisierung entgegenzuarbeiten.169 Diese Gesinnung führt dazu, so Moravánszky und Alofsin, dass ästhetische und funktionale Anliegen in der sezessionistischen Architektur zu einer Einheit verschmelzen. Im Werk sezessionistischer Architekten – wie Antonio Gaudí, Otto Wagner und Ödön Lechner – manifestiert sich zugleich »Respekt für das Material, … Monumentalität … und Berücksichtigung der Erfordernisse des modernen Lebens«.170 Wir erinnern uns an Charles S. Maiers Vergleich zwischen Gaudí und Lechner. In ähnlicher Weise findet Vajda Beispiele in ganz Europa und verweist auf Klimt, den frühen Strawinsky, Stefan George und Rudyard Kipling mit seiner »vulgarisierenden Härte«, den expressiven Stil von Zsigmond Móriczs frühem Roman Gold im Kote (Sárarany 1911) und die »Objektivität« von Oscar Wildes ­Komödien.171 Indem der ungarische Komparatist diesen verschlungenen Pfaden nachging, verfolgte er ein weiteres großes Anliegen  : Vom Sezessionismus, dessen Programm ganz wesentlich in einer Synthese künstlerischer und literarischer Bewegungen besteht, kann der Literaturwissenschaftler lernen, »gemeinsame Merkmale der Literatur und der Kunst« zusammenzuschauen.172 Die Leichtigkeit, mit der im Sezessionismus gegenläufige Tendenzen zu einer Einheit gefügt werden, kann eine neue Sichtweise eröffnen, in der sich dem komparatistischen Betrachter immer größere Muster offenbaren. In diesem Sinn stellt Vajda eine nüchterne Version der sezessionistischen Neigung zur Hybridisierung der Künste bereit. Für das Potenzial dieser Technik ist Vajda selbst das überzeugendste Beispiel. Durch die für ihn typische 168 Ebenda, S. 75  –  76. 169 Ebenda, S. 76  ; Hervorhebung im Original. 170 Ebenda. 171 Ebenda, S. 78. 172 Ebenda, S. 83.



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Einbindung zahlloser Autoritäten fungiert er als Vermittler sämtlicher Trends, die sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert artikuliert hatten. »The Structure of the Symbolist Movement«, 1982 geschrieben, leistet Analysearbeit auf den drei verschiedenen Ebenen des philosophischen Hintergrunds, einer Methodologie oder Poetik und des Repertoires der formalen Kunstmittel.173 Entscheidend auf der Ebene des philosophischen Hintergrunds ist der gegen Zolas Naturalismus gerichtete Schönheitskult. In diesem Kult kann entweder der Intellekt, wie bei Baudelaire, Mallarmé, Valéry und George, die Führerschaft beanspruchen oder die Emotion, wie bei Verlaine, Rimbaud, Samain und Rilke. Eine übergeordnete Rolle kommt dabei der Abstraktion zu  : »Während manche Symbolisten bei mathematischen Abstraktionen der Realität landeten, d. h. bei Symbolen, widmeten sich andere – die emotional-sentimentalisch-stimmungsbezogenen Symbolisten – in ihren melodiösen Linien dem Ausdruck atmosphärischer Effekte, verschiedenster Abschattierungen von Gefühlen und einer allgemeinen Unentschiedenheit. Bei genauerer Betrachtung erweist sich jedoch die letztere Methode ebenfalls als eine Spielart der Abstraktion.«174 Die Charakterisierung der »emotional-sentimentalisch-stimmungsbezogenen« Symbolisten erinnert an frühe Gedichte Hugo von Hofmannsthals und Árpád Tóths, der ja dem französischen Dichter Albert Samain verpflichtet war.175 Die geradezu unüberschaubare Vielfalt symbolistischer Schriftsteller thematisiert Vajda anhand eines Vergleichs. Während es in den Naturwissenschaften um das Errichten eines Weltmodells geht, zielt die »Sprache der Symbolisten … nicht auf eine ›Replikation‹ der Welt  ; ihr Ziel war die Erschaffung einer eigenen, poetischen Welt. … Die Poetik des Symbolismus … bezweckt nie vorrangig ein getreues Abbild der Realität«. So sehr sich Symbolisten wie Verhaeren, Blok und Ady um einen Typus von Dichtung bemühten, der auf der Suche nach »Wirklichkeitsbezug« sich durch zahlreiche »gesellschaftliche, nationale und gelegentlich sogar revolutionäre Elemente« auszeichnete, war das Ergebnis nie ein Modell der Welt nach den Vorstellungen dieser Dichter.176 Der daraus resultierende Mangel an Bestimmtheit ist für Literaturwissenschaftler seit jeher Quell der Ratlosigkeit. Auch was André Karátson, Miklós Szabolcsi und Vajda selbst auf diesem Gebiet geleistet haben, ändert nichts an der Tatsache, dass der Begriff des literarischen Symbolismus letzten Endes zu vage bleibt, um ihn für eine Erörterung der Gemeinsamkeiten der Doppelmonarchie-Kultur nutzen zu können. 173 Ebenda, S. 29. 174 Ebenda, S. 31. 175 André Karátson, Le Symbolisme en Hongrie. L’influence des poétiques françaises sur la poésie hongroise dans le premier quart du XXe siècle (Paris  : Presses universitaires de France, 1969), S. 276  –  300. 176 Vajda, »Some Aspects«, S. 31.

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Vajdas nüchterne Behandlung des Begriffs ›Dekadenz‹ im Zusammenhang mit der Zeit um 1900 ist besonders willkommen. Das Thema Dekadenz war vom Historiker Edward Gibbon mit seinem Verfall und Untergang des Römischen Imperiums (1776  –  1788) in Umlauf gebracht und durch »byroneske«, von Lebensüberdruss geplagte Helden à la Childe Harold von Senancour (1770  –  1846), Constant (1767  –  1830), Puschkin (1799  –  1837) und Lermontow (1814  –  1841) popularisiert worden. Vajda sah den Unterschied zwischen den frühen Autoren, die das Phänomen an ihren Protagonisten diagnostizierten, und den »Dekadenten« um 1900 darin, dass die Letzteren diese Haltung zu einem Lebensstil machten. »[Die dekadente Haltung] schloss noch immer den Versuch mit ein, der Trivialität des Alltags einer geordneten bürgerlichen Existenz zu entrinnen, aber diese Fluchtversuche fanden in Richtung eines ganz besonderen – und besonders raffinierten – Ästhetizismus statt, in einen Kult des Außergewöhnlichen, Exzeptionellen und in Pessimismus und Morbidität.«177 Vajda räumte zwar ein, dass die Bezeichnung »dekadent« von früheren Interpreten wie Gustave Kahn (1859  –  1936) mit einer ausdrücklichen Einschränkung entweder auf Vorläufer der symbolistischen Bewegung oder auf eine bestimmte Gruppierung innerhalb derselben versehen worden war, bestand aber darauf, dass eine »ästhetisierende Dekadenz in der Methode und dem Stil« der ganzen Bewegung offenkundig vorhanden sei.178 Dieser Befund passt gut zur Faszination der Symbolisten für das Mystische und Okkulte, und Vajda seinerseits wusste, wie die Tiefen auszuloten waren, von denen andeutungsweise die Rede war.

6.3 Eine essayistische Phänomenologie Vajdas Konzept einer Phänomenologie der Doppelmonarchie-Kultur entsprang ­einer Prämisse, die eng verwandt mit der im Zusammenhang der Operette bereits diskutierten ist. Die Fassaden und dekorativen Oberflächen, die in der späten Kultur des Habsburgerreiches in solcher Überfülle vorhanden waren, verlangten gebieterisch nach entschlüsselnden Strategien, nach Ausloten der Tiefe. Manche Beobachter, wie z. B. Claude Cernuschi, sahen in Adolf Loos’ Ekel vor Ornamenten 177 Ebenda, S. 33. 178 Ebenda, S. 33  –  34. Eine maßgebende Autorität zum Thema Befürworter und Kritiker der »Dekadenz« in der Doppelmonarchie ist Robert B. Pynsent. Vgl. seine von Information überquellenden Essays, »Conclusory Essay  : Decadence, Decay and Innovation«, in Pynsent (Hg.), Decadence and Innovation. Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century (London  : Weidenfeld und Nicolson, 1989), S. 111  –  248, und »The Decadent Self«, in Pynsent, Questions of Identity. Czech and Slovak Ideas of Nationality and Personality (Budapest / London / New York  : Central European University Press, 1994), S. 101  –  146.



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trivialer Art oder in Alois Riegls Betonung des Alters der dekorativen Muster eine solche Reaktion. Für Riegl herrscht unter den Gegenständen ein Kommen und Gehen, das Muster hingegen ist von Dauer. Vajda formulierte eine andere Reaktion auf die Flut von »schönem Schein«  : Der Philosoph Edmund Husserl (1859  –  1938) habe es sich zur Aufgabe gemacht, das Vorhandensein von Strukturen zu postulieren, die sich unterhalb oder hinter den Oberflächen verbargen, von denen die Doppelmonarchie-Kultur nicht genug kriegen konnte. Öster­reichs Überangebot an dekorativem Detail, so Vajda, habe in dem mathematisch genial begabten Husserl einen förmlichen Hunger nach Struktur erzeugt. Husserl auf diese Weise fest in der Doppelmonarchie-Kultur verankern zu wollen, ist freilich allem Anschein nach ein Forschungsphantom oder bestenfalls ein heuristischer Mythos. Der Philosoph absolvierte schließlich seine gesamte Karriere nach 1886 in Deutschland, wo er an den Universitäten in Halle, Göttingen und Freiburg lehrte. Er stammte aus Mähren und die fünf Jahre seines Studiums in Wien (1881  –  1886) reichten wohl kaum aus, ihn mit Überdruss an dem dekorativen Oberflächenzauber der Ringstraße zu infizieren, jedenfalls nicht in dem Ausmaß, das Vajdas Ansatz offensichtlich erfordern würde. Vajda störte das wenig. Er formulierte, mit geringfügigen Anleihen bei Husserl, seine eigene Theorie zur Struktur der Doppelmonarchie-Kultur, eine Art »essayistische Phänomenologie« oder, anders gesagt, eine »Amateur-Phänomenologie«. Was, so fragt er, bleibt unverändert inmitten der sich ständig wandelnden Oberflächenphänomene  ? Die schier allgegenwärtige Verschiedenartigkeit in der Doppelmonarchie – Verschiedenheit der Menschen, Sprachen, Sitten, der literarischen und künstlerischen Stilrichtungen, der wissenschaftlichen Hypothesen – machte die Suche nach bleibenden Mustern unter der Oberfläche zum Imperativ. Nicht nur generierte die Doppelmonarchie pausenlos »geschönte Parallelwelten« – Iván Fónagys Begriff, den wir im Zusammenhang mit der Operette schon kennen gelernt haben –, sie inspirierte mit derselben Regelmäßigkeit eine Gegenbewegung, indem sie Denker wie Endre Ady, Leó Popper und Robert Musil zur Erkenntnis der unterhalb oder hinter diesen Parallelwelten gelegenen strukturellen Muster anregte. Bereits 1973 unterzog Vajda Husserls Gedanken von der Intentionalität des Bewusstseins einer ersten Prüfung. »Im intentionalen Akt war das Subjekt wesentlich auf das Objekt bezogen und das Objekt wurde wesentlich dem Subjekt gegeben und hinter dem so konstituierten Phänomen lag nichts, was wesentlicher war.« 179 Um zum »Wesen« eines Objektes vorzudringen, klammert der in179 György M. Vajda, »Outline of the Philosophic Backgrounds of Expressionism«, in Ulrich Weisstein (Hg.), Expressionism as an International Phenomenon (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1973), S. 45  –  58, insbes. 52  –  53.

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tentionale Bewusstseinsakt Unwesentliches durch den von Husserl so genannten Akt der Epoché, der Urteilsenthaltung, ein. Dabei bedarf es keines zusätzlichen Begriffs zur Vermittlung. Für das Verstehen dieses Vorgangs ist es auch nicht erforderlich, einen verborgenen Kern in den Objekten zu postulieren, der dem Bewusstsein unzugänglich bleibt, wie Kant dies mit dem »Ding-an-sich« tut, das uns notwendig »völlig unbekannt« bleiben muss. Das Wesen der »Objekte« ist für uns erkennbar. Künstler nehmen notwendig einen vergleichbaren Standpunkt ein, so Vajda, wenn sie in ihrem Bemühen um das Wesentliche die empirische Welt ignorieren oder »einklammern« und »ihre eigene künstlerische Welt … ins Leben rufen«.180 Vajda verwies als Beispiel für diese Praxis auf Kafka, der mit Husserls Denken möglicherweise durch Max Brod bekannt geworden war. »Die Situationen und Ereignisse in [Kafkas] Geschichten fluktuieren zwischen Realität und Traumwelt  ; sie bewegen sich hinüber und herüber und realistische Details und groteske und phantastische Elemente wechseln einander ab, als wären Realität und Fantasie prinzipiell durch keine Grenze getrennt.« Vajda leitet davon eine Aussage zu Kafka ab, die genau Husserls Sichtweise wiedergibt  : »… als gäbe es keinen Unterschied zwischen der realen Welt und ihrer Spiegelung im Bewusstsein. … Kafkas [wie auch Husserls, Anm. d. A.] Welt erscheint nicht als etwas, dem eine unabhängige Existenz zukommt, sondern sie ist [einzig und allein, Anm. d. A.] im Bewusstsein gegeben oder intendiert.«181 Zwei Jahrzehnte später benutzte Vajda diese Aussage als Basis für seine Phänomenologie der Doppelmonarchie-Kultur. Öster­reichs und Ungarns Schriftsteller zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen unbequemen aktuellen Zustand einklammern und ein dahinter liegendes ›Wesen‹ postulieren. Bei Kafka und Musil zum Beispiel erweist sich das zu Tage geförderte ›Wesen‹ als viel faszinierender als jede verhüllende Oberfläche. 1983 setzt Vajda seine Untersuchungen zum Potenzial der Phänomenologie als Werkzeug der Literaturwissenschaft fort.182 Nach einer sachten Rüge für René Wellek (1904  –  1995) – dieser habe es verabsäumt, die Phänomenologie zu seiner Liste der sechs literaturwissenschaftlichen Haupttendenzen des 20. Jahrhunderts hinzuzufügen –, untersucht er das Lebenswerk des polnischen Philosophen Roman Ingarden (1893  –  1970), in dem er das Herzstück einer siebten solchen Haupttendenz entdeckt. Noch aber gibt es kein äußeres Anzeichen, dass Vajda vorhat, die Phänomenologie als Ansporn für die Entdeckung struktureller Tendenzen in einer Kultur insgesamt zu benutzen und nicht bloß als Technik der Textinterpretation. 180 Ebenda, S. 52. 181 Ebenda, S. 53  ; Hervorhebung im Original. 182 György M. Vajda, »Phenomenology and Comparative Literature (A Kind of Fictitious Letter to Students)«, Neohelicon, 10  : 2 (1983), S. 133  –  146.



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Dieser zuerst genannte, viel ambitiösere Ansatz machte sich dann in den letzten vier Abschnitten des Essaybandes Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie (1994) bemerkbar, am stärksten in »Das phänomenologische Bild der Monarchie in der Literatur«. Dieser Essay nimmt sich »charakteristische Eigenarten« des Reiches vor, wie sie in der Literatur abgebildet werden. Auch hier wird Husserl noch nicht ausdrücklich als Autorität angerufen. Zwei Jahre später ist es dann so weit  : In ­einem englischen Essay, in dem Vajda sich auf die Vorlesungen beruft, die Husserl in Prag (1935) und in Wien (1936) zur Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie gehalten hatte, erhält der Philosoph einen Ehrenplatz.183 Husserl betont die anscheinend unerschöpfliche Fähigkeit Europas, über jede feststehende Form, jede »zur Reife gekommene Gestalt« hinauszuwachsen. Dies gelte für einzelne Individuen wie für ganze Nationen – und, so fügt Vajda hinzu, in ganz besonderer Weise für die Doppelmonarchie.184 Vajda, mit an Husserl erinnerndem Pathos  : »Im Rückblick auf die historische Formierung der Monarchie neigt man dazu zu meinen, diese sei einstmals ein Europa im Kleinformat gewesen, dessen telos – ein homogener Staat einander in Freundschaft zugetaner Völker und Natio­nen – niemals den Zustand einer gereiften Gestalt erreichen konnte, der deshalb, ähnlich der gereiften Gestalt Europas, in unendlicher Ferne lag.«185 Was wir bisher von Vajda gehört haben – dass marginozentrische Regionen der Monarchie eine gewisse völkerverbindende Haltung kultivierten, ohne freilich in der Lage zu sein, diesem modus vivendi generell innerhalb oder außerhalb des Reiches zum Durchbruch zu verhelfen –, geht über die von Csáky und Grassl / Smith vertretenen Thesen noch nicht hinaus. Vajda leistet aber unverkennbar Eigenes in seiner Behandlung des Gegenthemas, des gegenseitigen Hasses unter den Ethnizitäten. »Die Nationen [der Doppelmonarchie] hassten einander, und die Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler in Städten wie Prag, Zagreb, Bratislava, Sarajevo fühlten sich von beiden Nationen, die dem Doppelstaat seinen Namen gaben, unterdrückt  ; die verschiedenen Nationalitäten angehörigen Offiziere und gemeinen Soldaten konnten einander nicht ausstehen … Trotzdem kann man über die Bürger der großen mitteleuropäischen Monarchie dasselbe sagen, was Husserl über die verfeindeten Nationen Europas sagte, dass sie nämlich ungeachtet aller Gefühle 183 György M. Vajda, »The Austrian-Hungarian Monarchy Approached from a Phenomenological Angle«, in Marlies Kronegger und Anna-Teresa Tymieniecka (Hg.), Life. The Human Quest for an Ideal, Analecta Husserliana, Bd. 49. (Dordrecht / Boston / London  : Kluwer, 1996), S. 301  –   310. Eine etwas längere Version dieses Textes erschien unter dem Titel »The World of the CentralEuropean Monarchy« in Neohelicon, 23  :2 (1996), S. 65  –  77. Die Zitate stammen aus der längeren Version. 184 Vajda, »The World«, S. 67. 185 Ebenda.

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von Feindseligkeit in ihrem Innersten ein geheimes Gefühl naher Verwandtschaft und eines vertrauten Zuhauses nährten.«186 Diese Wahrheiten sind nur von wenigen angloamerikanischen Historikern so direkt ausgesprochen worden. Unter der Feindseligkeit an der Oberfläche erkannte der untrügliche Blick des Phänomenologen eine tiefer liegende Verwandtschaft. Optimisten wie Csáky, Arens und die interethnischen Germanisten in Timişoara können sich freuen, dass dieses Gefühl der Verwandtschaft sich heute endlich wieder an die Oberfläche wagt überall dort, wo marginozentrische Regionen sich auf ihre besondere Begabung besinnen. Vajda wendet sich dann der Figur des greisen Franz Joseph zu. Erwartungsgemäß entdeckt er unter dem Habitus von Franz Joseph, seiner tenue, zwei einander widersprechende Gesichter der Monarchie, an deren Spitze er stand. »Sein Auftreten, seine condotta, entsprach auf der einen Seite dem gut organisierten äußeren Bild seines Reiches, der offenkundigen Eleganz  ; seine Unsicherheit und Einsamkeit spiegelte andererseits dessen innere Schwäche und Dekadenz wider.«187 Die scharfe Sicht des Ungarn, ja seine Begabung mit dem zweiten Gesicht lässt Vajda einen Blick in das Herz der Dinge tun. Unter Berufung auf Hermann Brochs Urteil über den Werteverfall in »Wien um 1900« behauptet er, in diesem Theaterstaat »sei nichts das gewesen, was es vorgab zu sein. Hinter der Erscheinung, die zum Gegenstand der Erfahrung gemacht werden kann, war ein Wesen, das sich nur dem Gefühl und der Vermutung darbot«.188 Kurz  : »Die Monarchie, deren Polarität von Erscheinung und Wesen so krass in die Augen stach«, war dazu prädestiniert, Husserl zur Formulierung der phänomenologischen Methode zu inspirieren.189 Das Reich wartete förmlich auf seine Enthüllung durch die Phänomenologie. 186 Ebenda, S. 68. 187 Ebenda, S. 69. 188 Ebenda, S. 73. Vajda paraphrasiert hier Hermann Broch, »Hofmannsthal und seine Zeit  : Eine Studie« (1947 / 48], in Broch, Schriften zur Literatur 1. Kritik. Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9 / 1, Paul Michael Lützeler (Hg.) (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975), S. 111  –  284. Kritische Anmerkungen zu Broch bei Michael P. Steinberg, The Meaning of the Salzburg Festival. Austria as Theater and Ideology, 1890  –  1938 (Ithaca NY / London  : Cornell University Press, 1990), S. 1  –  2, 145  –   149, 175  –  179, und Endre Kiss, »Nietzsche in einer Soziologie der ›fröhlichen Apokalypse‹ (Hermann Brochs Hofmannsthal-Essay)«, in Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche and the Austrian Culture. Nietzsche und die öster­reichische Kultur (Wien  : WUV, 2004), S. 127  –  143. 189 Vajda, »The World«, S. 79. Ein wichtiger Versuch, einen öster­reichischen Dichter im Licht der Husserlschen Phänomenologie zu deuten, ist Käte Hamburger, »Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes« [1966], in Hamburger, Rilke in neuer Sicht (Stuttgart  : Kohlhammer, 1971), S.  83  –  158. Ablehnend zu Hamburgers Herstellung einer Beziehung zwischen Rilkes Dinggedichten und Husserls »phänomenologischer Reduktion« Wolfgang G. Müller, »Rilke, Husserl und die Dinglyrik der Moderne«, in Manfred Engel und Dieter Lamping (Hg.), Rilke und die Weltliteratur (Düsseldorf / Zürich  : Artemis & Winkler, 1999), S.  214  –  235, insbes. 221  –   227.



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Zu den Schriftstellern, die das Aufspüren von Wesentlichem hinter den Erscheinungen zu einem Anliegen gemacht haben, zählt Vajda Kafka mit seinen Allegorien, Musil und seinen Blick für die Turbulenzen, die sich in Die Verwirrungen des Zöglings Törless (1906) unter der Oberfläche einer Militärakademie verbergen, und Freuds Postulat von verdrängten Elementen in einem »unbewussten Wesen«.190 Husserl sah sich gezwungen, »die Realität einzuklammern«, ebenso wie Franz Joseph sie gewohnheitsmäßig einklammerte, indem er es vorzog, »in strikter Einsamkeit und völligem Unverständnis der Probleme seines Reiches zu leben«.191 Mit ihrer Einklammerungstechnik standen die beiden allerdings nicht allein da. »Die Realität verschwand aus Kafkas poetischer Welt und machte Platz für Visionen und Träume. … Statt seine Umwelt wahrzunehmen, zog Italo Svevo es vor, in die ›conscienza‹ [sic] Zenos, seines zum Helden stilisierten Selbst, einzutauchen, und die Romanprosa des ungarischen Schriftstellers Gyula Krúdy schwebt über der Grenzzone zwischen Traum und Wirklichkeit. Diese Formen poetischen Verhaltens, wage ich zu behaupten, sind lauter Anzeichen und Symptome einer obsoleten, antiquierten Epoche, die zusammen mit ihrem alten Herrscher vergreist, dem schlohweißen Monarchen, der schon zu Lebzeiten zum Mythos geworden war.«192 Schon vor dem Ende der Epoche drängte also der Habsburgermythos an die Oberfläche. Vajdas Katalog der Konstanten, die sich unter den Oberflächen der Doppelmonarchie-Kultur verbargen, gipfelt in dem Gedanken, in dieser Kultur manifestiere sich ein »Altersstil«, ein Konzept, das er aus einem weitgehend unbekannt gebliebenen Essay von Hermann Broch, »Mythos und Altersstil« (1947) übernahm.193 Wenn Vajdas Phänomenologie nichts anderes bewirkt hätte, als Brochs Diagnose in Erinnerung zu rufen, dann wäre das schon genug. Broch definierte wie folgt  : »Der ›Altersstil‹ ist nicht immer bloß das Ergebnis der Jahre  ; er ist eine dem Künstler verliehene Gabe unter andern Gaben, wiewohl ausreifend mit fortschreitendem Alter, doch oft vorzeitig unter der Ahnung des nahenden Todes seine volle Blüte erlangend … Er ist der Durchstoß zu einer neuen Ausdrucksebene.«194 Man hat das Gefühl, Broch liefere ein Selbstbildnis, wie er es jedenfalls in dem kurz zuvor fertig gestellten Roman Der Tod des Vergil (1945) getan hatte, ein Werk, das unverkennbar 190 Vajda, »The World«, S. 74. 191 Ebenda, S. 75. 192 Ebenda, S. 75  –  76. 193 Hermann Broch, »Mythos und Altersstil«, in Broch, Schriften zur Literatur 2. Theorie. Kommen­ tierte Werkausgabe, Bd. 9 / 2, Paul Michael Lützeler (Hg.) (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975, 2. Aufl. 1981), S. 212  –  233. [Eine Erwähnung dieses Essays en passant bei Edward Said, On Late Style. Music and Literature Against the Grain (New York  :Vintage Books, 2007), S. 136  –  137]. 194 Ebenda, S. 212. Zu dem von Brochs Gebrauch abweichenden Begriff des Altersstils, wie er in der Kunstgeschichte verwendet wird, siehe Julius S. Held, »Commentary«, Art Journal, 46  : 2 (1987), S. 127  –  133.

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alle Merkmale des »Altersstils« trägt. Bei diesem »handelt es sich … um eine scharfe stilistische Wendung, die am treffendsten wohl als eine Art ›Abstraktionismus‹ bezeichnet werden [kann] …, in welchem der Ausdruck sich in immer geringerem Maße auf das jeweils gegebene Vokabularium stützt, so dass von diesem letztlich nur wenige Ursymbole verbleiben und der Ausdruck sich in zunehmendem Maße bloß der Syntax bedient«.195 Vajda seinerseits brachte diese Einsichten in das Reifen der künstlerischen Vision mit der Spätphase einer Kultur in Verbindung  ; wie Mihály Babits verstand er sich darauf, das charakteristische Gemeinsame auch in weit auseinander liegenden Phänomenen zu identifizieren. Der nächste Schritt, den Vajda auf diesen Vergleich folgen lässt, ist einigermaßen überraschend  : Er beschwört Husserls Gedanken der Unendlichkeit als Ziel der europäischen Kultur. »Wenn Husserl die in der europäischen Idee enthaltenen Werte mit der Unendlichkeit in Beziehung setzt, dann sehen wir, wie in den letzten Jahren der Geisteskultur der Monarchie diese sich ihrem eigenen Telos näherte, bevor sie ins Nichts stürzte. Als Mythos überlebte sie ihre eigene Vernichtung. Und das Dasein eines Mythos ist unabhängig von Zeit, Dauer und jeder andern Wirklichkeit  : Er kann gültig sein und in und für die Unendlichkeit weiter bestehen.«196 Vajda hatte den Eindruck, dass von einer Kultur, die vor dem Zusammenbruch stand, im Rückblick eine Faszination ausgeht, die nur allzu leicht in den Mythos abgleitet. Dass Vajda zu diesem Zeitpunkt selbst schon sehr alt war, ist dabei bedeutsam. Ein ehrfürchtiger Blick auf den Untergang Venedigs im 18. Jahrhundert – eine von Hofmannsthal und Rilke geliebte Epoche – und wir sehen, dass hohes Alter und Mythenbildung zusammengehören. Beide haben einen wesentlichen Bezug zur Unendlichkeit. Dabei – das dürfen wir nicht übersehen, stellen es hier aber nur fest – bleiben gewisse Probleme bestehen. Ganz abgesehen davon, dass Vajda nicht klar macht, was er mit »Unendlichkeit« meint, hat er bei anderen Gelegenheiten erklärt, die Kultur der Monarchie sei nicht zur Gänze verschwunden, sondern habe bis in die 1930er Jahre bei Schriftstellern wie Molnár und Krúdy weitergelebt, ganz zu schweigen von der Silbernen Operette und dem Hof Admiral Horthys. Auch erinnert er daran, dass verschiedene Formen der Courtoisie als Abglanz höfischer Etikette in den Nachfolgestaaten noch in Gebrauch sind. Dass im Unterschied zu andern Phänomenen, denen man viel eher Langlebigkeit zugetraut hätte, wenigstens die blumige Courtoisie überlebt hat, ist für Vajda eine auf sonderbare Weise tröstliche Erinnerung an das kulturelle Ökosystem des Reiches. Vajda scheint die Verwandlung der reifen Kultur um 1900 von einem historischen zu einem mythischen Phänomen begrüßt zu haben, ja, er scheint fast nahe zu 195 Broch, »Mythos und Altersstil«, S. 213. 196 Vajda, »The World«, S. 77.



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legen, dass das verschwundene Reich einem vorbestimmten Ziel diente. Sein telos, wie Husserl es genannt hätte, habe gleichsam den Übertritt aus der Geschichte in den Mythos erfordert. Damit geht Vajda meines Erachtens entschieden zu weit. Die Zeit des Mythisierens ist endgültig vorbei. Nach vierzig Jahren des Lobpreises von »Wien um 1900« dürfen sich die Kulturhistoriker Öster­reichs keine weiteren Mystifizierungen gestatten und wenn der Phänomenologie eine Rolle in der Kulturgeschichte zugestanden werden soll, dann darf sie jedenfalls nicht als Entschuldigung für ein Abgleiten in den Mythos herhalten. Im Allgemeinen bedient Vajda sich jedoch einer nüchternen Methodologie, die er durch Verweise auf Husserls Spätwerk verstärkt. Ohne jede Sentimentalität stellt er die Anziehungskraft einer verlorenen Vergangenheit für die Nachgeborenen dar, die ein unwiderstehliches Gefühl der Trauer über ungenützt gebliebene Möglichkeiten überkommt. Und damit ist wohl das eigentümlichste Merkmal von Vajdas essayistischer Phänomenologie benannt  : Sie leistet Trauerarbeit. Vajda und Csáky haben vorgezeigt, wie man in Würde um ein verlorenes Erbe trauert, das zwei hochkreative Kulturen eine Zeitlang teilten, um es dann, nach 1945, mehrere Jahrzehnte lang zu verleugnen. Nur wenige bedauern am Anfang des 21. Jahrhunderts das Verblassen des habsburgischen Mythos  ; ebenso haben nur wenige in der Vergangenheit sich bemüßigt gefühlt, das, was von der Kultur der Doppelmonarchie in der Zwischenkriegszeit und danach überlebte, zu würdigen. Konzipiert mit ruhigem Blick auf das Ansteigen der Gleichgültigkeit stellt Vajdas Phänomenologie einen substanziellen Beitrag zur Anerkennung der Gemeinsamkeiten Cisleithaniens und Transleithaniens dar, die zu lange auf Anerkenntnis hatten warten müssen.

Kapitel 7

Peter Weibel und die Avantgarden im selbstauferlegten Exil 7.1 Eine »Dritte Kultur« als Paradigma für kulturelle Symbiosen Der öster­reichische Künstler und Kunsttheoretiker Peter Weibel (geb. 1944 in Odessa) hat sich als erstaunlich vielseitiger Phänomenologe eingehend mit den Avantgarden der Vergangenheit und der Gegenwart beschäftigt. Mit seinem leidenschaftlichen Interesse an Figuren, die zwei, drei oder noch mehr Disziplinen abdecken, verkörpert er selbst die Multidisziplinarität, die das Studium der Kultur der Doppelmonarchie erfordert. Er hat sich erfolgreich als Künstler, Wissenschaftler und als Veranstalter ungewöhnlicher Ausstellungen betätigt. Zudem ist er eine der gebildetsten Figuren in diesem Buch, ein Umstand, der ihn in die Nähe von György Mihály Vajda rückt. Unklassifizierbare schöpferische Geister und Bewegungen faszinieren Peter Weibel. Dass er selbst wohl ebenfalls zu den Unklassifizierbaren zählt, ist vielleicht auch der Grund, weshalb sein Beitrag von Kulturhistorikern – inklusive solch verwandter Geister wie Eric R. Kandel – unbeachtet geblieben ist  ; die Ausnahme bildet wieder Moritz Csáky. Wie viele seiner Wiederentdeckungen ist auch Weibel zu sperrig, um in ein vorgefertigtes Schema zu passen.197 Hier richtet sich im Folgenden das Hauptaugenmerk auf den Katalog einer Ausstellung, die dieser einzigartige Innovator in Budapest, Graz und Antwerpen in den Jahren 1996 bis 1998 kuratierte.198 Der etwas kryptisch anmutende Titel Jenseits von Kunst weist auf die Schwierigkeit hin, die Weibel nicht nur bei der Konzeption sondern schon bei der bloßen Namensgebung für ein neues Gebiet historischer Forschung bewältigen musste. Tatsächlich hält keine mir bekannte europäische Sprache eine Sigle bereit für eine »Kunst, die auf die Wissenschaft befruchtend wirkt« oder eine »in der Kunst verankerte Wissenschaft«. Auch Bindestriche – Kunst-als197 Zu Weibel siehe Moritz Csáky, »Multicultural Communities«, S. 51. 198 Peter Weibel (Hg.), Jenseits von Kunst (Wien  : Passagen Verlag, 1997). Englische Übersetzung  : Beyond Art. A Third Culture. A Comparative Study in Cultures. Art and Science in 20th Century Austria and Hungary (Wien / New York  : Springer, 2005). Der Künstler und Kunsttheoretiker ­Peter Weibel hatte mehr als zwanzig Jahre auf die Sammlung des Materials aufgewendet, die er mit einer Biobibliografie von bis dahin vernachlässigten Literaten und Wissenschaftlern einleitete, »Literatur  – Wissenschaft«, in Oswald Oberhuber und Peter Weibel, Öster­reichs Avantgarde 1900  –  1938. Ein unbekannter Aspekt (Wien  : Galerie nächst St. Stephan, 1977), S. 91  –  176.



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Wissenschaft oder Wissenschaft-als-Kunst – helfen uns nicht bei der Aufgabe, das Thema dieses Katalogs zu bezeichnen, das kein geringeres ist als die Frage, wie und warum das Hin- und Herpendeln zwischen den Bereichen Kunst und Wissenschaft im Habsburgerreich und seinen Nachfolgestaaten in so intensiver Weise stattfand. Ungeachtet des Umstands, dass kein passender Begriff zur Verfügung steht, haben doch andere Historiker des habsburgischen kulturellen Ökosystems Ideen beigesteuert, die Weibels Vision von einer wechselseitigen Durchdringung von Wissenschaft und Kunst in einen größeren Zusammenhang stellen. Diese Vision hat die Idee der Hybridisierung als Voraussetzung, den nämlichen Prozess, um den, wie wir schon mehrfach gesehen haben, die Innovatoren in der Zeit der Doppelmonarchie und danach exzellent Bescheid wussten. Man könnte bei Weibels Ausstellung meinen, sie sei mit dem Ziel vor Augen konzipiert worden, Grassls und Smiths überlappende Bezugssysteme zu illustrieren. In seinem Katalog wimmelt es von miteinander verflochtenen Bezugssystemen auf dem Gebiet der Kunst und der Wissenschaft. Diese Verflechtungen führen zu neuen Subdisziplinen, außergewöhnlichen Bildern und geradezu hellsichtigen Texten. Neologismen gibt es in jedem Kapitel, manchmal sogar auf jeder Seite, und mehr als zweitausend Fotos wetteifern miteinander, welches den größten Überraschungseffekt erzielt. Kein anderes Buch auf dem Gebiet der öster­reichischen oder ungarischen Kulturgeschichte zwingt auch den Experten, sich mit so vielen unvertrauten Denkern, Ideen und Bewegungen auseinanderzusetzen. Um die Leistungen der Leute, die diese Hybridisierungen zustande brachten, ins rechte Licht zu rücken, versah Weibel seinen Katalog mit einer Reihe fein ausgeklügelter Unterteilungen, deren Koexistenz den Eindruck erweckt, es handle sich um Abteilungen des kakanischen Verwaltungsapparates. Die zehn Abschnitte zerfallen jeweils in Unterabschnitte, dreiunddreißig in einem Fall, ansonsten nicht mehr als sechs. Beinahe ein Viertel der Texte hat Weibel selbst geschrieben. Der erste Abschnitt über Studien von Öster­reichern und Ungarn zur Bewegungswahrnehmung aus der Zwischenkriegszeit, der etwa ein Viertel des Bandes einnimmt, ist für sich genommen ein gewichtiger Beitrag zur Geschichte der Kunst des Konstruktivismus, zu Fotografie und Laborpsychologie. Weibel und fast zwei Dutzend Kollegen zeigen hier, wie Wissenschaftler zusammen mit bildenden Künstlern und Musikern um die Verbildlichung von Wahrnehmungsprozessen rangen. Zwei- und dreidimensionale Bewegungsmodelle werden in Beziehung zu Gestaltpsychologie und zu Laboruntersuchungen der Wahrnehmung gesetzt. In Anbetracht von Weibels Freundschaft mit dem Philosophen J. C. Nyíri – ­einer von Nyíris Essays wird auch in Jenseits von Kunst nachgedruckt – ist es nicht wirklich überraschend, dass der Band einige der Thesen von Grassl und Smith anspricht, allerdings ohne Namensnennung der beiden. Wie dem auch sei  : Weibels

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Ideen zur Kreuzung von Wissenschaft und Kunst finden entschiedenen Rückhalt bei Grassls und Smiths Vision des intensiven Austauschs, der unter dem Schirm der späthabsburgischen Bezugssysteme auf allen Gebieten stattfand. Weibel versammelt hunderte Fallstudien für die Querbefruchtungen, die zwischen Wissenschaft und Kunst stattgefunden haben, und illustriert so eine Dritte Kultur, die jenseits ihrer beiden konstituierenden Elemente liegt. Das Verhältnis dieser Dritten Kultur zu ihren Elementen erinnert allerdings ein wenig an die prekäre Kohabitation zwischen den k. u. k. und den k. k. Einrichtungen der Doppelmonarchie  : Das Doppelgebilde Wissenschaft-und-Kunst steht in einem immer wieder verschwimmenden Verhältnis zu Wissenschaft und Kunst als eigenständigen Bereichen. Selbst Weibel gelingt es nicht, sich die unzähligen Verzweigungen seiner Diagramme stets präsent zu halten. Seine Dritte Kultur erweist sich als quintessenzielles schillerndes Produkt der Doppelmonarchie-Kultur. So wie Grassl und Smith konzeptuelle Vorarbeit auf diesem Gebiet geleistet haben, können auch andere bereits erwähnte Historiker Schlaglichter auf die Symbiose zwischen Wissenschaft und Kunst werfen. Die mitteleuropäische Bildungsethik schuf, wie Virgil Nemoianu uns zu sehen gelehrt hat, ein Erziehungssystem, das sowohl Wissenschaftler hervorbrachte, die etwas von Kunst verstanden, als auch Künstler, die in der Lage waren, mit Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten. Der Lehrplan des habsburgischen Gymnasiums orientierte sich an dem ursprünglich von Goethe formulierten Programm, in dem geistes- und naturwissenschaftliche Bestrebungen gleichberechtigt nebeneinander stehen. In Abwandlung der Terminologie von Cornis-Pope könnte man von »marginozentrischen Fusionen« zwischen Kunst und Wissenschaft sprechen. In einer solchen grenzüberschreitenden Konföderation der Disziplinen hat keiner der Pole Vorrang vor dem andern. Im Zuge ihrer wechselseitigen Akkulturation tauschen Wissenschaft und Kunst kulturelle Codes aus und generieren neue Subidentitäten. Man könnte soweit gehen zu behaupten, hier finde ein Gegenstück zu der von Csáky so genannten Ethnogenese statt. Das Ergebnis ist ein neues hybrides Gebilde – Kunst, die zur Wissenschaft wird. Aus der habsburgischen Pluralität schälen sich neue Modalitäten des Austauschs heraus. So erschließt sich die Kulturgeschichte der späten Doppelmonarchie eine weitere Aufgabe – die Erstellung konzeptueller Modelle für die Kategorisierung kultureller Symbiosen verschiedenster Art. Das jüngst erschienene Buch von Eric R. Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis (2012), nimmt diese Tradition auf, wenngleich ohne Namensnennung der Kulturhistoriker, die sie kartografiert haben. Seit den frühen 1980ern hat sich die Forschung zum Thema Avantgarden in der Doppelmonarchie und ihren Nachfolgestaaten sprunghaft ausgeweitet.199 Eine 199 Endre Bojtar publizierte eine Klassifizierung der Avantgarden, in der er fünf Strömungen unter­



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von Weibels Innovationen besteht darin, dass er Wissenschaftler gelegentlich so behandelt, als wären sie zur Avantgarde gehörende Künstler. Die Idee einer wissenschaftlichen Avantgarde wird, wie er zeigt, in der Anwendung auf Intellektuelle in der Emigration besonders fruchtbar. Selbst ehrwürdige Geisteswissenschaftler, die dann im Ausland ihre Laufbahn fortsetzten und dabei Neuland erschlossen wie Viktor Zuckerkandl (1896  –  1965, Musikologie), Ernst Gombrich (1909  –  2001, Kunstgeschichte) – beide aus Wien stammend – oder der aus Prag gebürtige René Wellek (1903  –  1995, Vergleichende Literaturwissenschaft) passen durchaus in dieses Konzept einer wissenschaftlichen Avantgarde. Um Weibels Beitrag zur Kulturgeschichte besser würdigen zu können, wollen wir uns zunächst ansehen, wie andere die Avantgarden in den letzten Jahren der Doppelmonarchie gesehen haben. Die Diskussion wirft auch Licht auf die kulturellen Übergänge nach dem Umsturz von 1918  /  1919.

7.2 Künstlerische und literarische Avantgarden in Ungarn Für das Thema Avantgarden in der Doppelmonarchie ist Ungarn ungleich wichtiger als Öster­reich. Das ist auch wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb Austriazisten sich so wenig mit den Avantgarden beschäftigt haben, wenn man von den Wiener Expressionisten wie Robert Müller (1887  –  1924) absieht.200 Der Schwerpunkt lag eindeutig in Ungarn, was auch durch Emigranten deutlich wurde, die wie Lajos Kassák (1887  –  1967) 1919 nach Wien kamen oder wie László MoholyNagy (1895  –  1946) und mehrere andere zum Bauhaus nach Weimar und später nach Dessau wechselten. Die meisten von ihnen verließen Horthys Ungarn aus freien Stücken und wurden auch später wieder zur Rückkehr eingeladen  ; ihr Exil war also ein selbstauferlegtes. Diese ungarischen Avantgarden haben seit den 1980ern eine wahre Springflut an Forschung inspiriert, nicht zuletzt deshalb, weil die vor der Wende von 1989 noch in Ungarn verbliebenen Marxisten sie zur Zielscheibe ihrer heterodoxen Interpretationen machten. scheidet  : Dadaismus, Futurismus, Expressionismus, Konstruktivismus und Surrealismus. Siehe Bojtar, »The East European Avantgarde as a Literary Trend«, Neohelicon, 2  :3  –  4 (1974), S. 93  –   126, nachgedruckt als East European Avant-Garde Literature (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1992) und, in gekürzter Form, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th Centuries, 4 Bde. (Amsterdam / Philadelphia PA  : John Benjamins, 2004  –  2010), 1  : S. 364  –  373. 200 Eine Ausnahme stellt die Typologie des Expressionismus dar in Manfred Engel, Rainer Maria Rilkes »Duineser Elegien« und die moderne deutsche Lyrik. Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde (Stuttgart  : Metzler, 1986), S. 183  –  227.

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Tibor Frank, Jahrgang 1948, Professor für Geschichte am Lehrstuhl für Amerikanistik der Eötvös-Loránd-Universität Budapest, zu dessen besonderen Forschungsschwerpunkten Ungarns ›brain drain‹ der 1920er und 30er Jahre gehört, erklärt, warum in Ungarn 1919 eine immer stärkere Abwanderung jüdischer Intellektueller einsetzte, wie wir sie in Deutschland und Öster­reich erst ab 1933 bzw. ab 1938 sehen. Alle Juden, die 1919 oder später in irgendeiner Form an einer der ungarischen Revolutionen – der bürgerlich-liberalen oder der bolschewikischen – beteiligt waren oder bloß der Beteiligung verdächtigt wurden, sahen sich zur Auswanderung gezwungen, in vielen Fällen noch bevor der steigende Antisemitismus andere zum gleichen Schritt bewog. Frank stellt dazu fest, dass »dabei … die meisten ungarischen Juden zur assimilierten, magyarisierten, meist nichtreligiösen Mittelschicht oder oberen Mittelschicht [zählten]«, die wesentlich zur Modernisierung Ungarns beigetragen hatten.201 Viele von ihnen durchliefen einen Prozess der stufenweisen Emigration, in dem Wien oder Berlin zu Sprungbrettern nach Nordamerika wurden. In dieser Gruppe befinden sich viele, die dann später Peter Weibel so faszinierten. Der Dichter, bildende Künstler und Autobiograf Lajos Kassák fand früh zu sich selbst. Er kehrte der Schule mit zwölf den Rücken und ohne je Sprachunterricht erhalten zu haben, ging er 1909 zu Fuß von Wien über Deutschland nach Paris. In Frankreich als Landstreicher ausgewiesen, kehrte er nach Ungarn zurück. Für seine frühen Gedichte wählte er Themen, die er im Pester Industrievorort Angyalföld fand. Während des Ersten Weltkriegs gründete er zwei Zeitschriften, A Tett [Aktion] (1915) und Ma [Heute] (1916). Kassák war Pazifist und Sozialdemokrat, eine Linie, die sich in den Blättern widerspiegelte, aber nie Marxist. Im Sommer 1919 übte er scharfe Kritik an Béla Kuns kommunistischem Regime wegen dessen Verfolgung von Künstlern. Von 1920 bis 1926 lebte er in Wien, wo er weiterhin Ma herausgab und eine Quelle der Inspiration für bildende Künstler wie Sándor Bortnyik (1893  –  1976) und Farkas Molnár (1897  –  1945) war. Diese sogenannten Konstruktivisten, die in Ernő Kállai einen Theoretiker fanden, arbeiteten mit kleinformatigen Medien, die ohne große Umstände zu transportieren waren  ; außerdem war der Umgang mit ihnen leicht vermittelbar. Gleichsam als Ersatz für die misslungene Revolution entwarf Kassák képarchitektúra [Bildarchitektur], winzige Ansammlungen geometrischer Grundformen auf Papier, aus denen sich für ihn eine postrevolutionäre Utopie ablesen ließ. Obwohl die in Armut lebenden Emigranten kaum Verkehr außerhalb ihres engen Kreises hatten, zählen Kritiker wie Peter Wei201 Tibor Frank, »Station Berlin  : Ungarische Wissenschaftler und Künstler in Deutschland, 1919  –  1933«, IMIS Beiträge, 10 (1999), S.  1  ; online unter  : www.franktibor.hu/img/kozl/017.TIBORFRANK.PDF (zuletzt abgerufen 20. September 2013).



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bel sie zu den kreativsten Figuren im Wien der frühen 20er Jahre, die sich zudem durch ihre intensive Lehrtätigkeit auszeichneten. 1987 waren die Konstruktivisten Gegenstand einer bedeutenden Ausstellung in Kassel und Bochum und von zwei kleineren Schauen in den Vereinigten Staaten, in New England (1987  –  1988) und in Santa Barbara (1991).202 Wohl niemand kann sich dem wehmütigen Zauber dieser ungarischen Avantgardisten entziehen. Kassáks Rolle als hartnäckiger Warner vor dem Wahnsinn des Kriegs macht ihn zum Sympathieträger. Während seiner Zeit in Wien bemächtigte sich seiner ein Gefühl der zunehmenden Entwurzelung. Literatur, die außerhalb Ungarns auf Ungarisch veröffentlicht wird, kann kaum mit einem Lesepublikum rechnen, für das Ungarisch nicht die Muttersprache ist, wie Sándor Márai in einem halben Jahrhundert selbstauferlegten Exils nach 1948 nie aufhörte zu beklagen.203 Kann es für einen andern Europäer je dieses Gefühl der Verlassenheit geben, das auf den ungarischen Intellektuellen im selbstgewählten Exil wartet, noch dazu, wenn er, wie Kassák mit seinem Mangel an Schulbildung, nicht einmal über 202 Zu Ungarn in der Emigration siehe Wechselwirkungen. Ungarische Avantgarde in der Weimarer Republik (Marburg  : Jonas Verlag, 1986) [31 Artikel]  ; John Kish (Hg.), The Hungarian Avant-Garde 1914  –  1933 (Storrs CT  : University of Connecticut, 1987) [fünf Essays]  ; S. A. Mansbach (Hg.), Standing in the Tempest. Painters of the Hungarian Avant-Garde 1908  –  1930 (Santa Barbara CA  : S. B. Museum of Art, 1991). Hungarian Studies, 9  : 1  –  2 (1994) publizierte Beiträge, die erstmals bei einer Konferenz in Santa Barbara 1991 vorgetragen worden waren. Siehe auch Oliver A. I. Botar (Jr.), »Connections between the Hungarian and American Avant-Gardes during the Early 1920s«, Hungarian Studies Review, 15  :1 (1988), S. 37  –  52. Eine zweite Welle von Veröffentlichungen wurde ausgelöst durch den Überblick von S.  A. Mansbach, Modern Art in Eastern Europe. From the Baltic to the Balkans ca. 1890  –  1939 (Cambridge  : Cambridge University Press, 1999) und die beiden Kataloge von Timothy O. Benson zu einer Ausstellung in Los Angeles, Central European Avant-Gardes. Exchange and Transformation, 1910  –  1930 (Cambridge MA  : MIT Press, 2002). Eva Forgács legt den Ertrag von mehreren Jahrzehnten Forschung dar in »In the Vacuum of Exile  : The Hungarian Activists in Vienna 1919  –  1926«, in John Neubauer und Borbála Zsuzsanna Török (Hg.), The Exile and Return of Writers from East-Central Europe (Berlin / New York  : de Gruyter, 2009), S. 109  –  122. Eine Namensliste der Exilanten ebenda, S. 597  –  604. Siehe auch Anna Wessely, Károly Kókai und Zoltan Péter (Hg.), Habitus, Identität und die exilierten Dispositionen (Budapest  : Nemzeti Tankönyvkiadó, 2008). Zu den öster­reichischen Intellektuellen, die in den 1930er Jahren ins Exil gingen, siehe Jeanne Benay, Alfred Pfabigan und Anne Saint Sauveur (Hg.), Öster­reichische Satire (1933  –  2000). Exil, Remigration, Assimilation (Bern  : Peter Lang, 2003). 203 Die Tagebücher von Márai in seinem selbstgewählten Exil 1944 bis 1989 sind in deutscher Übersetzung erhältlich  : Tagebücher, 7 Bde. (Berlin  : Oberbaum, 2001). Zu Márai siehe Ernő KulcsarSzabó, »Classical Modernity – with a Cartesian Distancing of Values«, Neohelicon, 18  :2 (1991), S.  227  –  245 [zu Das Wunder des San Gennaro (1957)]  ; István Fried, »Das Wien-Bild Sándor Márais«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S.  143  –  152  ; Mihály Szegedy-Maszák, »The Reevaluated Past  : The Memory of the Dual Monarchy in Hungarian Literature«, Hungarian Studies, 23  :2 (2009), S. 247  –  266, und John Neubauer, «From Diary to Novel  : Sándor Márai’s San Gennaro vére and Ítélet Canudosban«, in Neubauer und Török, The Exile, S. 416  –  421.

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rudi­mentäre Kenntnisse einer Fremdsprache verfügt  ? Dass Kassák es verstand, eine Gruppe gleichgesinnter schöpferischer Geister, die seine Isolation teilten, zu animieren, war eine Großtat, der gleichwohl kein Bestand beschieden sein konnte. Die Konstruktivisten in Wien verkörperten das Dilemma der meisten Avantgardekünstler, die, wie Weibels Wissenschaftler, ihre Arbeiten hauptsächlich für einander schufen. Im Gegensatz dazu kamen die Ungarn am Bauhaus in den Genuss der Vorteile, die ihnen von einem Netzwerk von Kontakten geboten wurden, und konnten verschiedenste Aufträge annehmen. Einige von ihnen – László MoholyNagy, György Kepes (1906  –  2001), Marcel Breuer (1902  –  1981) – wurden nach dem Zweiten Weltkrieg einflussreiche Lehrer in den Vereinigten Staaten. Die Erfahrung der Emigration hat sie vielleicht im Vorsatz bestärkt, die mitteleuropäische Bildungsethik an neue Generationen englischsprachiger Architekten und Designer weiterzugeben. Die Wien-Erfahrung, die zweisprachig erzogene Ungarn wie Georg Lukács und Béla Balázs machten, war eine ganz andere. Diese zwei Marxisten schrieben ihre vielleicht wichtigsten Werke im Wien der frühen 1920er Jahre, Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) im Fall von Lukács und in dem von Balázs das bahnbrechende Werk zur Ästhetik des Stummfilms, Der sichtbare Mensch (1924).204 Als Filmkritiker einer Wiener Tageszeitung hatte Balázs gelernt, das urbane Refugium des Kinos dem Kaffeehaus vorzuziehen. Als ein für den Film besonders charakteristisches Kennzeichen isolierte er die Expressivität, ja geradezu die Sakralität des menschlichen Gesichts in Nahaufnahme. Damit klinkte sich Balázs in eine in Wien schon lange bestehende Tradition der Physiognomik ein, zu der später noch mehr zu sagen sein wird. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir in der liebevollen Aufmerksamkeit, die der 1938 geborene ungarische Regisseur István Szabó den Gesichtern seiner Schauspielerinnen und Schauspielern schenkt, eine der Nachwirkungen des Unterrichts sehen, den er bei Balázs im Budapest der zweiten Hälfte der 1940er genoss.205 204 Balázs, Der sichtbare Mensch, oder die Kultur des Films (Wien / Leipzig  : Deutsch-Öster­reichischer Verlag, 1924). Robert Musils Besprechung in »Ansätze zu neuer Ästhetik  : Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films« [1925], in Musil, Tagebücher, Aphorismen Essays und Reden (Hamburg  : Rowohlt, 1955), S. 667  –  683. Zu den Emigranten siehe Lee Congdon, The Young Lukács (Chapel Hill NC / London  : The University of North Carolina Press, 1983), S. 168  –  186  ; Congdon, Exile and Social Thought. Hungarian Intellectuals in Germany and Austria, 1919  –  1933 (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1991)  ; und John Neubauer, »Exile  : Home of the Twentieth Century«, in Neubauer und Török, The Exile, S. 4  –  103, insbes. 47  –  58, zu Wien [mit einer umfangreichen Bibliografie]. Tibor Frank als Quelle erstklassiger Information auf Basis von Interviews, »Between Red and White  : The Mood and Mind of Hungary’s Radicals, 1919  –  1920«, Hungarian Studies, 9  :1  –  2 (1994), S. 105  –  126. 205 Katherine Arens, »Central Europe’s Catastrophe on Film  : The Case of István Szabó«, in Cornis-



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Den Avantgarden, die doch darauf bedacht waren, Aufsehen zu erregen, war in der Doppelmonarchie kein sonderlicher Erfolg beschieden. Das Habsburgerreich mag Literaten dazu angeregt haben, ererbtes Material weiter zu bearbeiten, sei es im Zugriff auf die abendländische Literatur wie bei Hofmannsthal und Babits oder im bescheideneren Ausloten lokaler Traditionen wie bei Saar und Schnitzler. Wir haben schon gesehen, wie Bartók das Potenzial für die Vermischung von Melodien, die das Erbgut benachbarter Völker bildeten, als ein ganz besonderes Geschenk des ländlichen Ungarn an einen Komponisten betrachtete, und wie Grassl / Smith diese Beobachtung zu ihrer vielschichtigen »Theorie Öster­reichs« erweiterten. Aber wie hätten Avantgarde-Künstler sich des leicht verfügbaren Reservoirs traditioneller Motive sinnvoll bedienen können  ? Wollten Kassák und seine konstruktivistischen Mitstreiter eine neue Welt ohne Verankerung in der feudalen oder bürgerlichen Vergangenheit bauen, dann mussten sie auf eine solche Matrix verzichten.206 Das Arsenal von Motiven, aus dem sich traditionsgebundene Literaten und Künstler mit Gewinn bedienen konnten, wirkte sich auf diese Suchenden, denen es um einen Durchbruch ins Unbekannte ging, nur lähmend aus. Ihr zwanghaftes Verlangen, eine tabula rasa herzustellen, verursachte ihnen eine Malaise, ein Gefühl ohnmächtiger Wut, das sie unter anderen mit Endre Ady teilten, aber im Gegensatz zu diesem Dichter stand ihnen kein Rückzug in die Predigerrhetorik des 16. Jahrhunderts offen oder in die schmerzerfüllte Manie Baudelaires. Die radikalen Avantgarden konnten aus dem Umstand, dass sie in einer traditionsorientierten Gesellschaft aufgewachsen waren, keinen Profit ziehen. Die mitteleuropäische Bildungsethik war keine Hilfe beim Abschütteln einer Vergangenheit, deren Reichtümer sie ihnen nur allzu gut vermittelt hatte. Das Desinteresse in der Doppelmonarchie für radikale Neuerer ist auch für den ungarischen Ideengeschichtler Endre Kiss eines der Themen in seiner schematischen Darstellung der Entstehung der Moderne.207 Es lohnt, dieses Schema Pope und Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures, 1 (2004), S.  548  –  558. Zu Balázs siehe Ivan Sanders, »Symbolist and Decadent Elements in Early Twentieth-Century Hungarian Drama«, Canadian-American Review of Hungarian Studies, 4  :1 (1977), S. 23  –  42  ; Joseph Zsuffa, Béla Balázs. The Man and the Artist (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 1987), und Tibor Frank, »Béla Balázs  : From the Aesthetization of Community to the Communization of the Aesthetic«, Journal of the Interdisciplinary Crossroads, 3  :1 (2006), S. 117  –  134 [besonders aufschlussreich]. 206 Siehe Marian Mazone, »The Art of Visual Poetry in Central Europe  : Kassák and Schwitters be­ tween Dada and Constructivism«, Hungarian Studies, 12  :1  –  2 (1997), S. 205  –  221. 207 Endre Kiss, »Dans le tourbillon des esprits«, in Dieter Hornig und Kiss (Hg.), Vienne-Budapest 1867  –  1918. Deux âges d’or, deux visions, un Empire (Paris  : Éditions autrement, 1996), S. 134  –  145. Dieser Artikel resümiert die überaus kenntnisreiche Synthese in Kiss, Der Tod der k. u. k. Weltordnung in Wien. Ideengeschichte Öster­reichs um die Jahrhundertwende (Wien / Weimar  : Böhlau, 1986).

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trotz seiner offenkundigen Überzogenheit hier zu rekapitulieren, da es Licht auf das Funktionieren der Avantgarden in Öster­reich und Ungarn wirft. Die erste Phase des Schemas, die außerhalb der Doppelmonarchie in andern Teilen Europas stattfand, war vom Auftreten heroischer Meister gekennzeichnet – Baudelaire, Ibsen, Strindberg, der frühe Nietzsche. Es ist bezeichnend, dass keiner dieser heroischen Meister aus dem Habsburgerreich stammte – und dass keiner von ihnen sonderlich Notiz von diesem nahm. Wie Forscher auf dem Gebiet der Wissenschaften operierten sie in einem sozialen Vakuum, in dem sie eigene Werte postulierten. Sie übten sich – wir werden das im nächsten Kapitel noch deutlicher sehen – in aufopferungsvoller Selbsthingabe. J. P. Stern hat für diesen Vorgang die Bezeichnung des »(zu) teuer Erkauften« [the dear purchase] geprägt. Ständiges Über-sich-selbst-Hinauswachsen und rückhaltlose Hingabe an das »Destrukturieren der Konstruktivität und [an] konstruktive Destruktivität« befeuerten ihre Umwertung der Werte.208 In der Epoche zwischen 1850 und 1880 intensivierten die französischen Impressionisten und Zolas naturalistische Romane das Prinzip der Mimikry. Mit der üblichen Verspätung im Umgang mit radikalen Strömungen ignorierte Wien mindestens bis 1890 großteils diese Phase der titanischen Demiurgen, während Budapest sich um 1900 mindestens auf einen Flirt mit ihnen einließ durch die – ebenfalls verspätete – Rezeption von Baudelaire und Nietzsche. In der zweiten Phase von Kiss’ Schema entdeckten die heute von uns mit »Wien um 1900« in Verbindung gebrachten Personen das multinationale Reich als ideale Bühne für ihre Spielart der apolitischen Moderne. In einigermaßen idiosynkratischer Diktion legt Kiss dar, wie eine neue Generation von Wiener Literaten unter Führung von Bahr, Schnitzler, Altenberg und dem noch sehr jungen Hofmannsthal sich universellen Problemen zuwandte und so ihre Abkehr von »ethnischem Solipsismus« unterstrich. In seinem Wunsch, »dem Selbst Substanz zu verleihen«, hatte das Individuum um 1900 seinen vormaligen Willen, sich selbst zu objektivieren oder zu übertreffen, gegen eine andere Bestrebung eingetauscht  : Es versuchte jetzt »zur Essenz der Welt zu werden«, indem es sich dieser gleichsam überstülpte.209 Exponenten dieser dramaturgischen Objektifizierung waren, neben andern, Oscar Wilde, Stefan George, Gabriele D’Annunzio, Maurice Maeterlinck und, als hauptsächlicher Vertreter Öster­reichs, der junge Hugo von Hofmannsthal. In seinen »lyrischen Dramen« aus den 1890er Jahren folgt der jeweilige Protagonist dem Programm von Kiss, indem er sich »als einzigartig, unteilbar« empfindet, als ein Selbst, das »seine Zielsetzung in sich trägt, das an metaphysischen Realitäten Anteil hat«. Da ein solches Selbst in die Metaphysik hineinragt und so zu einer eigenständigen 208 Kiss, »Dans le tourbillon«, S. 140. 209 Ebenda, S. 141.



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Entität wird, müssen solche Individuen sich nicht mehr abmühen, über sich selbst hinauszuwachsen, wie Baudelaire, Ibsen und Nietzsche es getan hatten. Sie können sich dessen erfreuen, was sie erreicht haben, während sie zugleich eine allgegenwärtige Vergänglichkeit bedauern, wie dies die Protagonisten von Hofmannsthal, Schnitzler und Beer-Hofmann (1866  –  1945) tun. In Kiss’ Sicht war Wien das ideale Forum für diese zweite Phase, die sich außer im jungen Hofmannsthal noch im »symbolisch-impressionistischen« Universum von Schnitzler, Beer-Hofmann, Klimt und Mahler verkörperte.210 Kiss vertieft sein Gruppenporträt, indem er den Angriff des jungen Rudolf Kassner auf Mach als dessen Protest gegen den Relativismus dieses Physikers zugunsten des Absoluten interpretiert.211 Der Protest bestätige die zentrale Rolle eben dieses Relativismus, den der formbesessene Kassner ablehnte. Es sei kein Zufall, dass der ebenso unzufriedene junge Georg Lukács Kassners Streben nach der Transzendierung des Selbst begrüßte. Kiss kontrastiert die transnationale Stoßrichtung der Wiener Kreativen mit dem Impuls der Ungarn, diese zweite Phase mit der Aufgabe des Wiederaufbaus ihrer Nation zu verbinden. Die Nyugat-Literaten suchten ihr Land und insbesondere dessen Literatur an den Westen heranzuführen. In Kiss’ Augen bemühte sich Georg Lukács in Die Seele und die Formen (1910) sich von Wiens Relativismus zu distanzieren, obwohl sein Versuch, den »Impressionismus in einer Metaphysik gipfeln zu lassen«, typisch für Jung-Wien sei.212 Ohne auf Lukács’ Freund Leó Popper näher einzugehen, vermutet Kiss, Lukács, Sohn eines ungarischen Vaters und einer öster­reichischen Mutter, habe einen aus Budapester Sicht verständlichen Horror vor allem gehabt, was nach einer Nachahmung Wiens, der intellektuellen Doppelgängerin der Hauptstadt Transleithaniens, aussah.213 Diese etwas willkürlich anmutende Analyse entpuppt sich als das Vorspiel zur Erklärung, warum in Kiss’ Augen weder Wien noch Budapest sich eigneten, ein Zentrum seiner dritten Phase, der Avantgarde, zu werden. Erstens betonte das dekonstruktive Programm aller Avantgarden vor allem ihre internationale Bruderschaft und wählte deshalb auch kein Land – und schon gar nicht die Doppelmonarchie – als Kandidat für eine Umgestaltung aus. Zweitens sollte mit dem Vorhaben, »Kultur und Gesellschaft in völlig neue Formen und neue Inhalte« zu gießen, das Alte überhaupt beseitigt und nicht nur verbessert werden. Was vorher bestanden hatte, war für die Neubauer ohne Interesse. Und während, drittens, die zweite Phase dem Selbst Substanz verliehen hatte, stand eben dieses Selbst jetzt zur 210 Kiss, »Dans le tourbillon«, S. 143. 211 Ebenda. 212 Ebenda. 213 Ebenda, S. 143, Anm. 12.

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Auflösung durch die Avantgarden an. Kassák hatte jede Auflösung begrüßt als Befreiung, die neue Kombinationen ermöglichte. Die schöpferischen Geister in Wien konnten sich hingegen nicht von ihrem kulturellen Erbe lossagen, von der Kulisse, vor der sich die Substanzialisierung ihres Selbst vollzog. Sie brauchten die Doppelmonarchie als Bühne für die Inszenierung ihres metaphysisch validierten Selbst und perhorreszierten alles, was in Kassáks Projekt nach der Herstellung eines kulturellen Vakuums aussah. Ein solcher Schwebezustand mochte jemandem zusagen, der in selbstauferlegtem Exil lebte, die Wiener der zweiten Phase fühlten sich davon abgestoßen. Viele von ihnen – Hofmannsthal und Josef Hoffmann in Wien und Kosztolányi und Babits in Budapest – hielten an ihrer Verbundenheit zur Tradition fest, während der 1920er Jahre und auch noch später. Die zweite Phase dauerte in Wien und für manche Nyugat-Literaten länger als irgendwo sonst. Kiss sah in den verhinderten Avantgarden der Doppelmonarchie und ihres Nachlebens vor allem Lehrbeispiele für andere Intellektuelle der 1920er Jahre. Robert Musils Essays von 1913 anatomisierten die politische Dekadenz des Reiches ebenso wie die seines Freundes Robert Müller 1916 oder die von Ady während der ganzen Dauer des Kriegs. Sie loteten die Bedingungen aus, unter denen die Avantgarden litten, aber konnten sie nicht ändern. Solche Echolotungen bilden die Grundlage für Musils großartigen Roman und für das Lebenswerk von Miroslav Krleža, einem kroatischen Bewunderer von Ady.214 Kiss schließt mit einem nicht gerade schmeichelhaften Abgesang auf die Literaten und Künstler der Avantgarde, indem er erklärt, sie verdienten weniger für ihre innovative Kunst gewürdigt zu werden als für die Einsichten, zu denen sie Kulturkritikern verholfen hatten.215 Das in jüngster Zeit erwachte Interesse an völlig vergessenen Avantgarden hat einen kroatischen Literaten wieder an die Oberfläche gebracht, der alle diese Bestrebungen in seiner Person vereinigt zu haben scheint. Vor seinem Umzug nach Belgrad war Ljubomir Micić (1895  –  1971) zwischen 1921 und 1923 Herausgeber einer avantgardistischen Zeitschrift in Zagreb. Seine Bewegung des »Zenitismus«, benannt nach der Zeitschrift Zenit, um die sie sich formierte, würde kaum Beachtung verdienen, hätte sie nicht die unter Intellektuellen der Doppelmonarchie verbreitete Tendenz, Ideen und Ideale aus dem Westen zu importieren, zu neuen Höhen geführt. Anstatt einige Strömungen zu favorisieren und andere zu verdammen, wollte Micić im Zenitismus alle Bewegungen zu einem Sturzbach der Innovation bündeln  : »Der Zenitismus sucht die Flüsse aller Bewegungen zu vereinigen 214 Zu Miroslav Krleža als Kritiker der Doppelmonarchie siehe Kapitel 12. 215 Eine nuancenreichere Sicht bietet Mihály Szegedy-Maszáks Überblick über die ungarischen ideologischen Debatten, »Conservatism, Modernity und Populism in Hungarian Culture«, Hungarian Studies, 9  :1  –  2 (1994), S. 15  –  37.



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und sie zu einem einzigen Schwall werden zu lassen.«216 In der durch die Gründung des jugoslawischen Staats hervorgerufenen Euphorie stand dem jungen Kroaten ein Nonplusultra an kultureller Synthese vor Augen. Seine Gruppe würde jede Tendenz in der zeitgenössischen Kultur, die es verdiente, einer einzigen unüberbietbaren Synthese, dem Zenit aller Synthesen, einverleiben. Die jungen Leute wollten sich selbst unbesiegbar machen, indem sie sich die Einsichten eines jeden Neuerers aneigneten – der edle Traum einer Jugend, vor der sich plötzlich eine lichtere Zukunft auftut. Micić formulierte sein Programm zur »Ästhetisierung aller Dynamismen und Mystizismen« in einem »Manifest« (1921), dessen atemlose Ausbrüche an Nietzsches Zarathustra (1883  –  1885) und an Marinettis Manifeste du futurisme (1909) erinnern.217 Besessen vom Gedanken an die Zukunft, stellten er und seine Kollegen sich den »Zenit« als das höchste Ziel aller Bestrebungen vor, als eine Synthese, die die Summe aller möglichen Ziele darstellte und dies in einer Höhe, die auf alle andern Ismen hinabblickte und dem Zenitisten die Fülle der »sublimsten Kraft des inneren Kosmos« versprach.218 Das Manifest enthielt außerdem das Versprechen, die Bewegungen des Impressionismus, Expressionismus und Futurismus zu integrieren und dadurch zu übertreffen. Voraussetzung dafür war ein Aufschwung des »allmenschlichen« Geistes. »Die letzten Barbaren sind nichts anderes als die Urahnen der ersten Zenitisten.«219 Das »Neue Heute« werde »Denken und Fühlen« zur Vollendung bringen. So werde eine neue Religion entstehen, die besonders geeignet sei für einen Menschentypus, der der Erhabenheit und der Bewegung in großen Höhen fähig ist, »für einen Menschen, der immer höher steigen und nach oben, unermüdlich nach oben langen kann – für einen Menschen, der nicht unter Schwindel leidet, wenn er tief hinunter schaut – in den Abgrund«.220 In seinen Rhapsodien feiert Micić das Potenzial des neuen Jugoslawien. In teils beißenden, teils halluzinierenden Dithyramben verkündet er eine Hyperharmonisierung der andern Reformbewegungen, die, ausgehend von Südosteuropa, ganz Europa erfassen werde. Seit Jahrhunderten leide die westliche Religion des Denkens an einem Mangel an Gefühl  ; deshalb sei es Vorläufern des Zenitismus bis 216 Zitiert bei Esther Levinger, »Ljubomir Micić and the Zenitist Utopia«, in Timothy D. Benson (Hg.), Central European Avant-Gardes. Exchange and Transformation, 1910  –  1936 (Cambridge MA /  London  : The MIT Press, 2002), S. 260  –  278, 262. 217 Ljubomir Micić, »The Spirit of Zenithism« [»Duh Zenitisma«] in Zenit, 1  : 7 [1921] in Timothy O. Benson und Éva Forgács (Hg.), Between Worlds. A Sourcebook of Central European AvantGardes, 1910  –  1930 (Cambridge MA / London  : The MIT Press, 2002) S. 269  –  299, 291. 218 Micić, »The Spirit of Zenithism«, S. 295. Siehe oben, Anm. 216. 219 Ebenda, S. 298  –  299. 220 Ebenda, S. 297.

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jetzt auch noch nicht gelungen, die versprochene Transformation herbeizuführen. Spätestens ab 1924 war aus diesem Ismus die »Zenitosophie« geworden, ein neuer Modus des Denkens, der »sich dreht und sich an seiner Achse in die Höhe schwingt wie ein Feen­reigen. … Ein neues Denken in Kegelform, in einer Spirale, in der Vertikalen«.221 Der alte Genius werde dem »Barbarogenius« weichen und dessen Wirken werde ein »kollektives Gefühl in den Menschen wach rufen, ein urtümliches, elementares Gefühl, das [früher, Anm. d. A.] vom Widerspruch der Kulturen und von unmenschlichen Religionen abgetötet wurde«.222 Diesen Barbarogenius pries Micić in den höchsten Tönen. Sein Streben richte sich auf »vollständige Kollektivität[,] … auf eine Ökonomie kollektiven Fühlens. Alle individuellen Kräfte sollten im großen Kreis des Ganzen konzentriert werden«.223 Im Gegensatz zu Albert Ehrensteins Neologismus »Barbaropa,« den dieser »Mythenzerstörer und Mythenschöpfer« Anfang 1917 geprägt hatte, um seinen Ekel vor den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs auszudrücken,224 versprach Micić in seinem Essay »Energetics of Creative Zenithism« eine »totalisierte und vereinheitlichte Ausformung der Synthese des neuen Geistes und seiner Anstrengungen im Streben nach dem Zenit«.225 Die hyperbolische Rede vom »Barbarogenius« klingt mitunter wie eine übermütige Parodie auf andere Manifeste, die in dieser Zeit große Mode waren, die Manifeste der Dadaisten, Futuristen und Surrealisten. Die Utopie der zenitistischen Synthese scheint in einem slawischen Kontext die Ideale der Vermittlung widerzuspiegeln, die von manchen Öster­reichern als Grundmerkmale ihres eigenen Wesens reklamiert wurden. Was wenn nicht das Talent zur universellen Synthese macht das Wesen von Hofmannsthals öster­reichischem Menschen aus, ein Talent für die Zusammenfügung des scheinbar nicht Zusammenfügbaren zu immer größeren Mosaiken  ? Und das Programm der Nyugat-Literaten, war es nicht eine Kampagne zur Synthetisierung alles dessen, was sie bewundernswert fanden in der neueren Literatur des gesamten Westens, der Großbritannien, Frankreich, Belgien, Italien und selbst Whitmans Amerika miteinschloss  ? Worauf lief Bartóks Sammeln von neu kombinierten Volksmelodien hinaus, wenn nicht auf den sich ständig weitenden Horizont neuer Synthesen  ? Worauf zielt Csákys Lobpreis der kulturellen Pluralität, wenn nicht auf das Potenzial zunehmend größer angelegter Synthesen  ? Micić hat, wahrscheinlich ohne es zu wissen, in seinen Manifesten die höchsten Ziele der 221 Ljubomir Micić, »Zenitosophy  : or the Energetics of Creative Zenithism« [Zenitozofija] in Zenit, 4  :26  –  33 [1924], in Between Worlds, S. 514  –  518, 517. 222 Ebenda, S. 516. 223 Ebenda. 224 Siehe Armin A. Wallas, Albert Ehrenstein. Mythenzerstörer und Mythenschöpfer (München  : Klaus Boer Verlag, 1994), S. 425. 225 Micić, »Zenitosophy«, S. 517.



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Intellektuellen in der untergehenden Doppelmonarchie angesprochen. Wenn, wie Kiss behauptet, die Avantgarden der Doppelmonarchie vor allem der Inspiration künftiger Kulturkritiker dienten, dann hat diese Funktion mit Micić ihren Höhepunkt erreicht. Er verpackte in seine Utopie einen Mikrokosmos dessen, was sich das Reich an kultureller Symbiose erträumte. Die Synthese der Synthesen würde alles zusammenfassen, was sich an Ernstzunehmendem je irgendwo gezeigt hatte. Der Zenitismus versprach eine riesige Doppelmonarchie der miteinander versöhnten Bezugssysteme. Ein derart nach dem Höchsten greifender Ehrgeiz erinnert uns unwillkürlich an die Debatten über die Parallelaktion, die Musil im ersten Teil von Der Mann ohne Eigenschaften (1930) den Figuren zuschreibt, die 1913 mit der Ausrichtung ­einer gemeinsamen Feier des Habsburgerreiches und des Deutschen Reiches betraut werden, die in fünf Jahren stattfinden soll. Der Anlass war als Apotheose des Theaterstaats gedacht. Ganz ähnlich wie Ljubomir Micić hegen auch Musils fiebernde Intellektuelle, vor allem die unbezähmbare Diotima, unmögliche Träume, in denen alle Vorzüge des Habsburgerreichs in einem großartigen Panorama dargestellt werden sollen. Die Parallelaktion soll zum Zenit aller Errungenschaften der Doppelmonarchie werden. Musils aristokratische und bürgerliche Utopisten zeichnen sich wie die Zenitisten vor allem durch das Verfassen von Manifesten aus. Es ist schwer zu sagen, ob Musils handelnde Personen, die in den 1920ern von ihrem Autor konzipiert wurden, nun ein Parodie auf Micić sind, ob es sich umgekehrt oder überhaupt anders verhält. Zu guter Letzt jedenfalls bringen Musils Möchtegern-»Barbarogenies« nichts von Dauer zustande, der Weltkrieg vereitelt ihre Pläne. Ihnen, wie auch andern Avantgarden, bleibt ein einziger Ausweg  : Sie müssen lernen, die Frustration ihrer Hoffnungen zu einem Training in Resignation umzudeuten. Wie die gezähmten Romantiker, die hundert Jahre zuvor zu dem von Nemoianu beschriebenen Kompromiss in Gestalt des Biedermeier gefunden hatten, mussten die ernüchterten Avantgarden in Musils Roman und den diversen Nachfolgestaaten den Zusammenbruch ihrer Hoffnungen verkraften. Die Unmöglichkeit tatsächlich etwas zustande zu bringen, was auch nur entfernt an Micićs mächtigen Wasserfall innovativer Ankündigungen herankam, wurde zu einer Herausforderung für die Kulturkritiker, die während der Nachbeben des Ersten Weltkriegs heranreiften. Ihre Desillusionierung trug ganz maßgeblich zu jenen dauerhafteren wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen bei, die Peter Weibel unter dem Begriff »Dritte Kultur« zu fassen sucht. Die einflussreichsten Avantgarden, die aus der Doppelmonarchie hervorgingen, waren für Weibel nicht Künstler, sondern Wissenschaftler, die mit Künstlern zusammenarbeiteten. In der Wiederentdeckung dieser Zusammenarbeit liegt die eigentliche Leistung, die Weibel und seine Kolleginnen und Kollegen erbracht haben.

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7.3 Wissenschaftler-als-Künstler und ihre Forschungskultur Obwohl die künstlerischen Avantgardisten aus dem Umstand, dass sie in der Doppelmonarchie aufwuchsen, wenig Nutzen ziehen konnten, gilt dies nicht für die innovativen Wissenschaftler, deren Spuren Weibel nachgezeichnet hat. Das Bildungsangebot der Schulen und die Diskussionskultur, für die das Kaffehaus der Doppelmonarchie stellvertretend steht, ermutigten sie zu einem Denken, das nicht an den Grenzen zwischen den Disziplinen Halt machte. Das Schwergewicht in Weibels Katalog liegt außerdem auf Figuren, die so viel reisten und sich dabei oft so weit von ihrem Ursprung entfernten, dass sie, auch ohne dies ausdrücklich zu wollen, ihre nationale Identität abstreiften. Weibel stellt in seinem Vorwort fest, dass »die meisten der in Ausstellung und Buch vertretenen KünstlerInnen«, obwohl in der Doppelmonarchie geboren, »keine einfache territoriale Identität und meist auch keine ethnische« haben. »Kultur entwickelt sich jenseits des geopolitischen Codes. Insbesondere in Europa. … Kultur ist offensichtlich ein immer wieder neu konstruiertes Netz jenseits geopolitischer, nationaler, staatlicher, ethnischer Grenzen.«226 Nationale Traditionen können auch anderswo weiterleben, an einem dritten Ort, an andern Orten. Kultur ist also ein heterogenes Projekt – selbst ein dritter Ort. Diese Feststellung klingt wie ein persönliches Credo oder, besser, wie eine Affirmation der postmodernen Entwurzelung  : Sie ist deshalb um nichts weniger anregend. Viele, ja die meisten Avantgarde-Künstler und -Wissenschaftler, die nach ihrer Kindheit und Jugend in der Doppelmonarchie als Erwachsene im Ausland lebten, fühlten sich weder an traditionelle Disziplinen noch an eine Staatsangehörigkeit gebunden. Die Dritte Kultur entfaltete sich an einem dritten Ort jenseits territorialer Grenzen, in einem Raum, der eine Fortsetzung darstellt des Ökosystems der Kulturen der Doppelmonarchie und des intensiven Austauschs, der zwischen ihren Bezugssystemen stattfand. Das ist eine der wesentlichen Zielsetzungen, die Weibel bei der Zusammenstellung seines Katalogs verfolgte. Seine These vom kreativen Potenzial der Emigration wird durch das Faktum untermauert, dass von den vierzehn gebürtigen Ungarn, die vor 2005 einen Nobelpreis erhielten, nur zwei ihre weitere Karriere in Ungarn absolvierten.227 Man kann sich dem Eindruck nicht verschließen, dass das marginozentrische Bewusstsein, das in der Monarchie in voller Blüte stand, nach ihrem Ende in den von Weibel anvisierten Diasporagemeinden weiterlebte. Die Doppelmonarchie 226 Peter Weibel, »Vorwort«, in Weibel (Hg.), Jenseits von Kunst (Wien  : Passagen Verlag, 1997), S. 12  –   15, 12  –  13. 227 David E. Schneider, Bartók, Hungary and the Renewal of Tradition (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 2006), S.  7. Siehe auch weiter unten, Anm. 234, zu Tibor Frank.



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förderte in ihren letzten Jahrzehnten ein besonderes interethnisches Bewusstsein, das manchmal konstruktiv war, wie bei Bartók und Ady, manchmal destruktiv, wie bei Schönerer und Lueger, und manchmal in verstörender Weise bedrohlich, wie bei Kafka und Krleža. Nach dem Untergang des Reiches streiften viele der im selbstgewählten Exil Lebenden ihre ethnische und territoriale Identität gänzlich ab. Weibel erwähnt zwar die literarischen Propagandisten des öster­reichischen Menschen nicht, aber ihr Ideal eines Ökosystems der interethnischen Zusammenarbeit gelangte, ohne dass diese Entwicklung bewusst hätte angestrebt werden können, zur vollen Blüte erst auf Schauplätzen, wo dies am wenigsten zu erwarten war  : in den Diasporen, auf die Weibel uns verweist. Bei Weibel findet sich eine Definition von Kultur, die uns an Grassl und Smith er­innert  : »Die Kultur als wissensproduzierendes System … rekurriert auf Geschichte und Zeit, überschreitet die Grenzen eines Territoriums, einer Sprache, eines Staates, eines Volkes, einer Nation, einer Religion. Kultur ist offensichtlich eine Übersetzungsarbeit von Generation zu Generation jenseits der geografischen, staatlichen, ethnischen Einheit.«228 Weibel erweitert diese Einsicht in Richtung von Nemoianus These zur Verpflanzbarkeit der mitteleuropäischen Bildungsethik  : »Emigranten [schützen] die Kultur eines Landes vor diesem selbst …, indem sie sie ins Ausland mitnehmen. […] So ist es möglich, daß trotz der Exilierung vieler Beteiligter die gemeinsamen geistigen Strömungen zwar ihre geografische Einheit verloren haben, sie aber – rückimportiert nach Öster­reich und Ungarn – wieder fortgesetzt und weiterentwickelt werden.«229 Mit einem Wort, die Beharrlichkeit, mit der nach 1918 die freiwilligen Exilanten aus beiden Hälften des Reiches dessen kreative Traditionen fortsetzten, war selbst ein Teil des Erbes der Doppelmonarchie-Kultur. Laut Weibel haben diese Erneuerer dabei weniger darauf gesetzt, schon bestehende künstlerische und intellektuelle Stile weiter zu pflegen. Sie zogen es vor, neue zu konstruieren, wobei sie auf der Prämisse aufbauten, dass die Kultur der Geisteswissenschaften und der Künste mit der Kultur der Natur- und Formalwissenschaften untrennbar zusammenhängt. Nicht zuletzt dank der mitteleuropäischen Bildungsethik standen diesen Erfindern Mittel und Wege offen, einen neuen Typus von Forschungskultur zu kreieren, ein Ökosystem, in dem Kunst und Wissenschaft im Verbund florieren konnten. Weibel und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter widmeten sich nicht ausdrücklich der Suche nach öster­reichischen oder nicht-öster­reichischen Prototypen des Wissenschaftlers-als-Künstler. Dies blieb einer wahrhaft monumentalen Aus228 Peter Weibel, »Vorwort«, in Weibel (Hg.), Jenseits von Kunst (Wien  : Passagen Verlag, 1997), S. 12  –   15, S. 13. 229 Ebenda.

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stellung vorbehalten, die aus Anlass des 50. Todestages von Freud in Wien stattfand. Der Katalog Wunderblock  : Eine Geschichte der modernen Seele (1989) enthält mehr als sechzig Essays dazu, wie Künstler und Wissenschaftler zwischen 1600 und 1939 in ganz Europa die Psyche in gesundem oder krankem Zustand abbildeten.230 Hier finden sich Abschnitte zu ehrwürdigen, mittlerweile aus der Mode gekommenen Disziplinen – Physiognomik, Phrenologie, frühe Psychiatrie und Psychophysik – ebenso wie solche zu neueren Gebieten wie Sexualforschung, Kriminalanthropologie und Psychoanalyse. Zahllose Reproduktionen von Gemälden, Zeichnungen und Fotografien illustrieren, wie Künstler die Resultate der Laborforschung visualisierten und wie Forscher sich der Mitarbeit von Künstlern versicherten, um das Potenzial ihrer Laborprojekte zu steigern. Öster­reichischen Wissenschaftlern – Moritz Benedikt (1835  –  1920, Psychiater), Hans Gross (1847  –  1915, Kriminologe), Friedrich Salomon Krauss (1859  –  1938, Anthropologe) – galt die von der Phrenologie und Psychophysik übernommene Behauptung, Kunst und Wissenschaft seien in der Lage nahtlos zusammenzuarbeiten, als evident. Ein lohnendes Thema für einen Essay wäre die Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Psychiatern und Künstlern in Öster­reich – hier denkt man zuallererst an Leo Navratil (1921  –  2006), aber er steht nicht allein –, neben der eigenen künstlerischen Tätigkeit dieser Ärzte. Hermann Heller (1866  –  1949), um ein Beispiel zu nennen, war zunächst Schiffsarzt, arbeitete dann als Bildhauer und Zeichner, bevor er schließlich Professor für Anatomie an der Akademie der Bildenden Künste in Wien wurde.231 Weit davon entfernt, sich auf Öster­reich oder die Medizin zu kaprizieren, sorgte Weibel dafür, dass jene Disziplinen vorrangig behandelt wurden, in denen sich Öster­reicher wie Ungarn betätigt hatten. Sein Katalog stellt deshalb eine der umfangreichsten Zusammenführungen ungarischer und öster­reichischer schöpferischer Geister dar, die je unternommen wurde. Diese Zielsetzung erhielt Biss durch eine Polemik in der programmatischen Erklärung, die bestehenden Klischees das Wasser abgrub  : »Der Schwerpunkt wurde dabei auf analytische und abstrahierende Methoden der Weltauffassung (von den Formalwissenschaften zu den Formalkünsten) gelegt  : erstens weil die Formalwissenschaften längst einen zentralen, wenn auch unsichtbaren Teil unserer Kultur bilden …, und zweitens, weil Öster­reich und Ungarn gerade auf diesem Gebiet der analytischen Methoden überragende 230 Jean Clair, Cathrin Pichler und Wolfgang Pircher (Hg.), Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele (Wien  : Wiener Festwochen, 1989). 231 Siehe Hermann Heller, Modelle der Künstler-Anatomie, Kurt Straznicky (Hg.) (Wien / Bozen  : Folio Verlag, 2001). Der Wunderblock-Katalog enthält Fotografien, die Heller 1895 zur Illustration des physiognomischen Ausdrucks von sich selbst machte, und skulpturale Abbildungen der Gesichtsmuskeln, die seinem Buch Grundformen der Mimik und des Antlitzes (Wien, 1902) entnommen sind. Siehe Wunderblock (1989), S. 175  –  177.



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Leistungen erbracht haben, ganz im Gegensatz zu dem vom Inland wie Ausland entworfenen repressiven und reaktionären Bild eines barock-expressiven Öster­ reichs und Ungarns. Es musste daher über die klassischen Disziplinen der Kunst hinausgegangen werden, um ein adäquates interdisziplinäres Bild der Kultur abseits der Klischees zeichnen zu können.«232 Hoch theoretische und hoch formalisierte Methoden, oft angesiedelt in unmittelbarer Nähe zum Wiener Logischen Positivismus der 1920er- und 30er Jahre, liegen den Hunderten Fallstudien zugrunde, die Weibel hier präsentiert. Und doch darf man auch diese Nähe nicht überbewerten. Was die Logik dieses Katalogs recht eigentlich ausmacht, ist ein quijotesker Sammelimpuls, der es unmöglich macht, seinen Inhalt in herkömmlicher Weise zusammenzufassen. Auf den ersten hundertfünfzig Seiten finden sich dreiunddreißig Essays von achtundzwanzig Autoren über insgesamt sechsundachtzig Persönlichkeiten. Von diesen haben höchstens ein halbes Dutzend einen gewissen Wiedererkennungswert. Mit andern Worten  : Eine derartige Vielzahl unbekannter Genies, Begriffe und Methoden tummeln sich auf diesen einhundertfünfzig Seiten, dass der Leser versucht ist, zu kapitulieren. Die Zahl der beigefügten Fotografien – mehr als fünfhundert  ! – beschleunigt den Griff nach dem Handtuch, das er werfen will. Die ungarischen Konstruktivisten, die sich in Wien um Kassák oder um Moholy-Nagy am Bauhaus scharten, werden in einem Atem genannt mit Dutzenden wenig bekannter Wahrnehmungspsychologen, Neurophysiologen und Elektroingenieure. Intermedia-Experimentatoren werden groß herausgestellt für ihren Einsatz für »Farblichtmusik«, »konkretes Licht« oder »Musikgrafik«. Andere neuartige Bezeichnungen verkünden transgressive Hybridisierungen – wie »autonome kybernetische Skulpturen«, »Sehmaschinen« und »Fast eine Farbreligion«. Keine Aufzählung kann hoffen, die Überfülle von bewegten Bildern, Manifesten und Erfindungen, die sich auf diesen Seiten finden, auch nur annähernd wiederzugeben. Die Enthüllungen pulsieren förmlich vor kreativer Energie, die sich den Leserinnen und Lesern mitteilt, sie aber zugleich überfordert. Die Anhäufung von visuellem und literarischem Beweismaterial, das Hunderte vergessene Experimente, die zwischen 1918 und den 1980ern von Auslands-Öster­reichern und -Ungarn durchgeführt wurden, dokumentiert, lässt sie in Ehrfurcht und Ratlosigkeit versinken. Dass es angesichts eines derartigen Overkill schwerfällt, eine nuancierte Reaktion zu entwickeln, ändert nichts an Weibels gigantischer Leistung. In mehr als zwanzig Jahren trug er abertausende Beweisstücke für seine These zusammen, dass wir den Emigranten aus der Doppelmonarchie nicht einen oder einige, sondern 232 Wolfgang Maass und Peter Weibel, »Einleitung«, in Rainer E. Burkard, Wolfgang Maass und Peter Weibel (Hg.), Zur Kunst des formalen Denkens (Wien  : Passagen Verlag, 2000), S. 15  –  20, 15  –  16.

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buchstäblich zahllose revolutionäre Ansätze zur Neukonzeption der menschlichen Wahrnehmung und unseres Denkens über Wahrnehmung verdanken. Manche der etwas ausgefalleneren Bilder – Georg Jungs Farbfantasien, Victor Vasarelys optische Kinetik, Gaetano Kanizsas »subjektive Umrisse« von Dreiecken, Quadraten und Kreisen – scheinen außerhalb von Raum und Zeit zu residieren, gleichsam losgerissen von jeder irdischen Verankerung.233 Diese Phantasmagorien sind geradezu der Inbegriff des Unklassifizierbaren. So bestätigen – auf bizarre Weise, zugegeben – diese endlosen Serien von Hybridisierungen die Autonomie des »Reichs des schönen Scheins« in György M. Vajdas Sinn. Um zu verhindern, dass das scheinbar freie Flottieren der Bilder als Beweis für die Wurzellosigkeit der Künstler-Wissenschaftler in der Emigration gedeutet wird, geben Weibel und sein Stab einen Überblick über die Karrieren dieser Tüftler und Erfinder, um sie in ganz spezifischen Umgebungen zu verorten. Als ein ihnen gemeinsamer Zug kommt dabei zu Tage, dass sie alle ihre Kindheit und Jugend in der Doppelmonarchie verbracht haben. Sie nahmen also die mitteleuropäische Bildungsethik ebenso in sich auf wie ihre besser bekannten Zeitgenossen unter den Literaten und Denkern. Die vielschichtigen Loyalitäten und das interethnische kulturelle Grenzgängertum im ausgehenden Habsburgerreich waren auch für sie prägende Einflüsse. Weibels Protagonisten verstehen sich geradezu unvergleichlich darauf, das Hin- und Herpendeln visueller und akustischer Motive in ganz neue Bahnen zu lenken. Weitgehend unbemerkt von ihrer neuen Umgebung brüteten sie jahrzehntelang über unerhörten Neukonzeptionen, ersannen verblüffend neue Konstellationen des Materials, mit dem sie arbeiteten – Muster, Farben, Begriffe – und schufen so ein Erbe von unvorstellbarer Komplexität und Kühnheit. Keine noch so bemühte Rekonzeption kann einem kulturellen Output von solcher Reichweite gerecht werden und Lobeshymnen vermögen die versäumten Gelegenheiten und den Verzicht auf Renommee – die Begleiterscheinungen derart furchtloser Innovation – nicht aufzuwiegen. Wir sehen zwar in Weibels Katalog manche Resultate, die diese vergessenen Magier der Diaspora nach 1918 zustande gebracht haben, aber können nicht hoffen, dass jene Energie oder jener Trotz, der sie zum Durchhalten befähigte, wiederbelebt werden kann. Weibel und seine Koautorinnen und -autoren haben, wahrscheinlich ohne dies ausdrücklich zu beabsichtigen, eine großartige Elegie auf die Jahrzehnte verfasst, in der diese Erfinder im Verborgenen am Werk waren. Dabei geht es hier nicht um Nostalgie wie bei Joseph Roth und Gyula Krúdy, sondern um die schmerzlich verspätete Erkenntnis, dass der marginozentrischen Kultur der Doppelmonarchie nach deren physischem Ende noch ein Nachleben unter diesen genialen, intellektuell unendlich wendigen 233 Weibel, Beyond Art, S. 98  –  99, 104  –  105 und 112  –  117.



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Emigranten beschieden war. Der Armut, Missachtung und dem Antisemitismus zum Trotz sind diese Pioniere einer Dritten Kultur bei ihrer Sache geblieben – in einer Weise, die auch Musil, Broch oder Canetti begeistert hätte, hätten diese Zeitgenossen von ihnen gewusst. Weibels exilierte Innovatoren bezeugen jedenfalls die Überlebensfähigkeit einer Kultur, deren Potenzial allerdings selbst auf ihrem Höhepunkt – und erst recht in der Zeit, da sie im Ausland verdämmerte – nur von wenigen erkannt wurde. Dass Weibel für die Sentimentalität derer, die Claudio Magris’ Habsburger Mythos oder der Ideologie von Gindely anhängen, nur Verachtung übrig hat, ändert nichts daran, dass sein Material ein äußerst positives Licht auf die intellektuellen Erben der Doppelmonarchie wirft. Seine Überlebenden zeichnen sich nicht durch das Nachbuchstabieren von Ruinen aus, sondern durch alternative Visionen, in denen künstlerische Höhenflüge und wissenschaftlicher Scharfsinn zu neuem Einklang zusammenfinden. Diese Emigranten waren wesentlich beteiligt an der Schaffung ­einer neuen Forschungskultur, für die der ständige Austausch zwischen Labor, Atelier, fotografischer Dunkelkammer und Kaffehaus, dem klassischen Zufluchtsort des Exilanten, bestimmend war. Weibel ist der Meinung, dass die Forschung Ideen wie eine an ein Territorium gebundene kulturelle Identität meiden muss. Seine Protagonisten sind ebenfalls jeder territorialen Version eines marginozentrischen Bewusstseins entwachsen. Die Emigration zwang sie, statt sich am Rand von Ethnizitäten, Regionen oder Sprachen anzusiedeln, zu einer prekären Existenz in den Grenzbereichen von Disziplinen, Techniken und Methoden. Dies befähigte sie, Bilder und Systeme zu schaffen, die sich in einem Schwebezustand jenseits aller Grenzen befinden, ohne je in einem neuen Zentrum anzukommen. Sie lernten in einer transnationalen Dimension zu funktionieren, in einem Bereich der Liminalität ohne geopolitisches Territorium und kulturellen Zuspruch. Ermutigt durch das Phänomen ethnischer Nachbarschaft in der späten Doppelmonarchie florierte dieses marginozentrische Bewusstsein unter Emigranten und führte zur Herausbildung einer neuen Kultur – einer Kultur, könnte man sagen, die am Rand, für den Rand und jenseits jeder Art von Rand existierte. Nachdem der geopolitische Mittelpunkt, den das Habsburgerreich vier Jahrhunderte lang gebildet hatte, 1918 implodiert war, nahm das Bewusstsein für den Rand, das einige seiner Bürger entwickelt hatten, ein abstrakt-formales Eigenleben an. Mit vereinzelten Ausnahmen wie Eric R. Kandel, von dem wir gleich mehr hören werden, hat der Hauptstrom der Forschung noch kaum begonnen, sich den postimperialen Leistungen der Pioniere der Dritten Kultur zuzuwenden. Das erste Kapitel von Weibels Katalog schlägt den Leser durch seine Bilder in Bann und die nächsten drei, vier Kapitel sind nicht weniger anregend. Kapitel 3 und 4 bieten auf hundert Seiten einen geradezu euphorisierenden Überblick über Phy-

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sik und Mathematik, der mit John von Neumann (1903  –  1957) und Erwin Schrödinger (1887  –  1961) beginnt, mindestens weitere fünfzig Persönlichkeiten, wie den legendären Wandermathematiker Pál Erdős (1913  –  1996), unter die Lupe nimmt und mit Kurt Gödel (1906  –  1978) und Leó Szilárd (1898  –  1964) endet. Der Beitrag, den Öster­reicher und Ungarn zur subatomaren Physik geleistet haben, könnte kaum dramatischer aufgezeigt werden. Im Gegensatz zu andern Darstellungen wird der Umstand, dass viele von ihnen Juden waren, höchstens am Rand erwähnt. Für Weibel umfasst seine Dritte Kultur eine marginozentrische Domäne, die nicht nur Territorium und Disziplinarität, sondern auch Ethnizität obsolet macht. In seinen Augen sind alle veralteten Grenzziehungen im transethnischen Schmelztiegel, den Wissenschaftler und Künstler zusammen in der Emigration schufen, so gut wie verschwunden. Wie Michael P. Steinberg wendet sich auch ­Weibel scharf gegen jede Essenzialisierung ethnischer Charakteristika durch Kulturhistoriker. Kapitel 5 bietet siebzig Seiten Information zu Kybernetik und Informationstheorie, die auf heute teilweise veraltetem Material aufbaut, während Kapitel 6 zur System- und Spieltheorie diese bekannten Gebiete auf ein unerwartete Weise aufbereitet. Kapitel 7 erzählt die Entwicklung der Kunsttheorie und Kunstgeschichte in Budapest nach 1900 und setzt diese Innovatoren in Beziehung zu Ernst Mach. Der Essayist Leó Popper (1886  –  1911) – mehr über ihn weiter unten – hätte wohl auch eine Erwähnung verdient, würde sich nicht aufgrund seines frühen Todes ein Vergleich mit den oben Genannten verbieten. Kapitel 8 bietet Kurzbiografien von 50 Psychoanalytikern, während die zwei Schlusskapitel der Architektur und Grafik nach 1945 gewidmet sind. Der von Peter Weibel und von ihm und mehr als hundert Mitautorinnen und -autoren verfasste Katalog ist durch die schiere Fülle der Information, das Kaliber der dargestellten Intellektuellen und die Komplexität der verschlungenen Verbindungspfade so überwältigend, wie das Material, das er präsentiert, disparat, ja geradezu abstrus ist. Die großteils im Exil lebenden Öster­reicher und Ungarn verarbeiteten Ideen, Motive und Schemata mit großem Flair zu einer verwirrenden Vielfalt von Artefakten. Diese legen Zeugnis ab für eine im Entstehen begriffene Dritte Kultur, eine fast unüberschaubare Collage visueller, mathematischer und philosophischer Komponenten, die sich dadurch auszeichnet, dass in ihr Elemente, die nie zuvor miteinander in Kontakt gebracht worden waren, mit Hilfe eines abstraktformalen Räsonnement verflochten werden. Die dauerhaften Synthesen, die bei Micićs Zenitosophen über ein himmelstürmendes Programm nicht hinauskamen, wurden von diesen exilierten Avantgarden erreicht, in einer Weise, die erhellend und inspirierend, zugleich aber auch verwirrend und frustrierend wirkt. So gut wie jede Darstellung der Kultur der Doppelmonarchie und ihres Nachwirkens hat Weibels abstrakt-formale Innovatoren unberücksichtigt gelassen. Nicht



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einmal die abenteuerlustigsten Kunsthistoriker erwähnen sie, auch Vajda und Csáky nicht. Nicht einmal Endre Kiss hat es gewagt, einen Fuß auf diese terra incognita zu setzen, und auch J. C. Nyíri, einer von Weibels Verbündeten, hat sich nur Teile davon vorgenommen. Hier zeigt sich ein sonderbares Paradoxon, wenn man es so nennen kann  : Das vorliegende Werk steht auf der Grundlage von bisher verhältnismäßig wenig beachteten Gelehrten wie Nemoianu, Grassl / Smith und Vajda. Die Innovationen, die wir diesen Gelehrten verdanken, sind neue Paradigmen, die uns eine neue Sicht auf vertraute Figuren und Phänomene ermöglichen. Weibel und seine Koautorinnen und Koautoren haben umgekehrt Hunderte uns unvertraute Innovatoren zu Tage gefördert, die dadurch, dass sie so gut wie unbemerkt gewirkt haben, nie in ein wie immer geartetes Paradigma eingepasst worden sind. Dass es hier zwei Spielarten der Unvertrautheit gibt, einmal der Konzepte, das andere Mal der Protagonisten, bedeutet, dass auf künftige Generationen eine zweifache Aufgabe wartet. Die analytischen Kategorien, die in dem vorliegenden Werk besprochen werden, müssen in größerem Maßstab angewendet werden, und andererseits gilt es, die von Weibel dem Vergessen entrissenen Erfinder allmählich in das sich entfaltende Bild zu integrieren  ; dies schon deshalb, weil die schiere Bandbreite und Originalität von Weibels Protagonisten die traditionellen Interpretationen von »Wien 1900« und »Budapest 1905« stärker in Frage stellen als jede andere Vision, die hier zur Sprache kommt. Wenn Weibels Diasporen sich in großartiger Weise bewährt haben bei der Aufgabe, die Ernte der marginozentrischen Formen des Bewusstseins in der Doppelmonarchie einzubringen, so kann man das von uns, ihren intellektuellen Erben, leider nicht behaupten. Mit Ausnahme des bereits erwähnten Tibor Frank haben die Forscher der letzten 35 Jahre noch nicht einmal ernsthaft damit begonnen, den erwähnten Köpfen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, obwohl diese das Talent der Doppelmonarchie, disparate Elemente zu elektrisierenden neuen Mustern zusammenzufügen, vielleicht mit mehr Scharfsinn und mit mehr Beharrungsvermögen am Leben gehalten haben als alle andern.234 Ein versunkenes Atlantis harrt hier seiner Entdeckung. Weit entfernt von ihren Herkunftsländern Öster­reich und Ungarn schufen diese Neuerer Ansätze zu einer Dritten Kultur und ein entsprechendes Forschungsethos. Was Hunderte Individuen im Lauf ihres Lebens geleistet haben, deutet auf eine Zukunft hin, in der, so die Hoffnung, die Ausübung von Kunst-als-Wissenschaft und von Wissenschaft-als-Kunst in einem gemeinsamen Ökosystem willkommen geheißen wird. Nach 1918 entließ Musils 234 Siehe Tibor Frank The Social Construction of Hungarian Genius (1867  –  1930) [Überaus reichhaltig dokumentiert]  ; online unter www.franktibor.hu/img/kozl/Frank.Social%20Construction3.doc (zuletzt abgerufen 15. August 2012) und Frank, Double Exile. Hungarian Intellectual Migration through Germany to the United States 1919  –  1941 (New York  : Peter Lang, 2007).

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Reich für Genies eine Welle von Emigranten nach der andern. Durch ihre Bereitschaft, sich an keinen geopolitischen Ort zu binden, sorgten sie für die größtmögliche Verbreitung des marginozentrischen Bewusstseins. Wie Weibel und sein Team uns mit allem Nachdruck gezeigt haben, müssen unsere konzeptuellen Schemata erst an die Konsequenzen dieser Wanderbewegung angepasst werden oder, genauer gesagt, diese müssten erst einmal wenigstens zur Kenntnis genommen werden. Auch hier muss Platz gelassen werden für zumindest eine Ausnahme. Der 1929 in Wien geborene Neurophysiologe Eric R. Kandel hat ein Schlüsselwerk vorgelegt, das vollkommen mit Weibels Begriff der Dritten Kultur harmoniert.235 Kandel, Nobelpreisträger und Pionier der Neurowissenschaft, wuchs im Wien der Jahre vor 1938 auf und setzt den künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Eliten der Stadt in seinem Das Zeitalter der Erkenntnis ein Denkmal von großer Strahlkraft. Das Buch ist ein weiterer unklassifizierbarer Beitrag zu dem Corpus »Wien um 1900«. Zur Einführung in die Physiologie des Gehirns untersucht Kandel die neuronale Verarbeitung der emotionalen Informationen, die von Porträts vermittelt werden. Mit diesem Unternehmen reiht er sich in die Tradition der Wiener Physiognomiker ein, die im Wunderblock-Katalog (1989) thematisiert werden. Er benutzt dazu die Untersuchungen, die Ernst Gombrich (1909  –  2001) und der Psychoanalytiker Ernst Kris (1900  –  1957) in den 1930er Jahren zum Prinzip der Verzerrung in der Porträtmalerei durchführten.236 Die beiden folgten ihrerseits den Spuren von Alois Riegl (1858  –  1905) und von andern Mitgliedern der Wiener kunsthistorischen Schule. Kandel sichtet zunächst Freuds Verwurzelung in der Wiener medizinischen Tradition. Dann zeigt er uns mit der für ihn spezifischen Expertise hinsichtlich der Physiologie des Hirns, wie durch bestimmte Porträts die »biologische Regulierung von Emotion und Empathie« aktiviert wird. Anhand von Klimts Judith (1901) geht er z. B. der Frage nach, wie »die Ästhetik der leuchtend goldenen Bildoberfläche, die weiche Gestaltung des Körpers und die insgesamt harmonische Kombination der Farben die Genussschaltkreise aktivieren und die Freisetzung von Dopamin auslösen«.237 Es ist wohl noch niemand so weit gegangen wie Kandel im Versuch, ganz spezifische ästhetische Reaktionen auf chemische Reaktionen im Gehirn zurückzuführen. Dieser Beitrag zur Neuroästhetik unterstreicht abermals die Bedeutung von Weibels Rahmenwerk. Selbst der von Weibel so groß herausgestellten Tradition der öster­reichischen Emigranten verhaftet, hat Kandel das Konzept des 235 Eric R. Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. Aus dem Englischen von Martina Wiese (München  : Siedler, 2012). Das Buch ist aufwändig illustriert. 236 E. H. Gombrich (mit Ernst Kris), »The Principles of Caricature«, British Journal of Medical Psychology, 17 (1938), S. 319  –  342 [Trapp no. 1938A.1]. 237 Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis, S. 504  –  505.



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Wissenschaftlers-als-Künstler auf eine völlig neue Ebene gehoben, auf die Ebene des Hirnforschers, der in die bildende Kunst eintaucht und fähig ist, eine Beziehung zwischen der Chemie des Gehirns und ganz spezifischen Reaktionen auf Kunstwerke herzustellen. Hier werden die Lockungen einer weiteren Grenze spürbar.

Kapitel 8

J. P. Sterns Modell des (zu) teuer Erkauften 8.1 Deutschlands »Übererfüller« Bis jetzt haben wir es hauptsächlich mit Experten für die Hochkultur der Doppel­ monarchie zu tun gehabt, die sich auf die Erforschung neuer Grenzen spezialisierten. Diese Experten haben neue Konzepte entwickelt für die Klassifikation von Denkern und für die Identifikation von bedeutenden und weniger bedeutenden Kontexten, in denen Kreativität florierte. Sie haben dafür neue Terminologien und neue Methodologien geschaffen, die es der Kulturhistoriografie der Spätzeit des Habsburgerreiches ermöglichen, sich neue, noch ehrgeizigere Ziele zu stecken. Der Großteil ihrer Beiträge lässt sich in die von Vajda so genannte »literarische Kulturgeschichte« einordnen. Viele scharen sich um das Phänomen des wiederholten Sich-Kreuzens der Motive, das Bartók in der Jahrhunderte währenden Entfaltung der Volksmusik beobachtete. Grassl / Smith – wir haben es bereits gehört – erweiterten Bartóks Erkenntnisse zu einem Modell der »Bezugssysteme«, die, eingebettet oberhalb und innerhalb sowohl der Ethnizitäten wie der intellektuellen Disziplinen, sich kreuzten und wieder und wieder kreuzten und so vormals unbekannte, oft neue und brisante Kombinationen erzeugten. Die Denker des Habsburgerreiches trieben auf vielen Ebenen diesen kulturellen Austausch bis aufs Äußerste, mit dem Ergebnis einer schwindelerregenden Vielfalt von Hybridisierungen. Der Einbau ungarischer Fallstudien in Grassl und Smiths »Theorie Öster­reichs« durch Moravánszky, Csáky, Hanák, Vajda und Weibel hat den Weg freigemacht für die Ausweitung dieser Theorie zu einem umfassenden Modell der Kreativität der Doppelmonarchie. Weibel hat über hundert Fallstudien von Öster­reichern und Ungarn zusammengetragen, die dieses innovative Grenzgängertum sowohl innerhalb der Naturwissenschaften wie – und das ist weniger oft gesehen worden – zwischen der bildenden Kunst und den Naturwissenschaften pflegten. Weibels Gedanke einer »Dritten Kultur«, die Kunst und Naturwissenschaft verschmilzt zu »Kunst&Naturwissenschaft« und »Naturwissenschaft&Kunst« exemplifiziert in großem Maßstab Grassl und Smiths Vermischung und Überlappung der Bezugssysteme. Dass Grassl / Smith sich auf Öster­reich konzentrierten und Ungarn links liegen ließen, hat zumindest teilweise damit zu tun, dass die Kulturgeschichte Öster­ reichs von der stärker international ausgerichteten Forschung ausführlicher thematisiert worden ist als die ungarische. Nemoianu kommt auch auf die habsburgi-



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sche Kultur zu sprechen, aber sein eigentlicher Fokus liegt auf Frankreich, England und Deutschland  ; Maier befasste sich als Wissenschaftler ebenfalls vorrangig mit Deutschland. Csáky, Vajda, Weibel, Moravánszky, Nyíri und Kiss haben das Bild wesentlich erweitert, indem sie öster­reichische und ungarische Phänomene zu ­einem Modell der Doppelmonarchie-Kultur vereinigten. Keine der bisher genannten Personen hat sich die Frage gestellt, wie sich die öster­reichische Kultur von einem spezifisch deutschen Standpunkt ausnahm. Gibt es deutsche Haltungen, die ein besonderes Licht auf das Wesen der öster­reichischen Kreativität werfen und, wenn ja, welche  ? Eine kühne Antwort auf diese Frage kommt von dem in Prag geborenen J. P. Stern (1920  –  1991), der 1939 nach England floh, wo er schließlich als Germanist in Cambridge eine überaus suggestive Spielart von Vajdas literarischer Kulturgeschichte entwickelte. Sein besonderes Augenmerk galt der philosophischen Dimension literarischer Texte und im Besonderen den Strategien, mit denen Literatur versucht, »Wirklichkeit« zu erfassen. Die Krise der Sprache, ein Thema, das Stern in die Nähe eines seiner bedeutendsten Kollegen im Exil, Ludwig Wittgenstein, brachte, zwang ihn, eine eigene Terminologie zu entwickeln, um jene Hindernisse zu bezeichnen, die von den Literaten der Moderne überwunden werden müssen, um das, was für sie Wirklichkeit ist, darstellen zu können. Stern widmete sich der Frage, wie deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts die Herausforderung der Wirklichkeit bewältigen, erstmals in einem Artikel aus dem Jahr 1968, und ein zweites Mal in einem Buch, das erst 1995, als Stern schon tot war, erscheinen konnte. Beide Publikationen tragen den Titel »The Dear Purchase«.238 Dazu kommt ein weiterer Beitrag aus dem Jahr 1977. Der Gedankengang, auf den sich der etwas opake Titel »The Dear Purchase« bezieht und der mit »das (zu) teuer Erkaufte« umrissen werden kann, ist folgender  : So manches schöpferische Genie im deutschsprachigen Raum des frühen 20. Jahrhunderts sah sich gezwungen, eine exorbitante, ja übermenschliche Anstrengung auf sich zu nehmen, um das in seinen Augen einzig lohnende Ziel zu erreichen. Dabei war für diese Elite unter dem Einfluss von Nietzsche die Intensität des Einsatzes, den sie erbrachten, wichtiger als das Ergebnis. Schon in dem Artikel von 1968 legt Stern dar, dass seine »Übererfüller« auf der Suche waren nach einer »Rettung oder Validierung des Menschen, die nur um den höchsten Preis, der denkbar ist, erreicht werden kann. … Es ist eine Rechtfertigung, deren Gültigkeit vorrangig von dem Umstand abhängt, 238 J. P. Stern, »The Dear Purchase«, The German Quarterly, 41  : 3 (1968), S. 317  –  337, und Stern, The Dear Purchase. A Theme in German Modernism (Cambridge  : Cambridge University Press, 1995). Lorna Martens folgt eloquent und genau einem ähnlichen Gedankengang in Shadow Lines. Austrian Literature from Freud to Kafka (Lincoln NB / London  : University of Nebraska Press, 1996).

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dass sie unvergleichlich schwierig, oder, in der radikalsten Formulierung, unmöglich ist«.239 Jede Rechtfertigung, die sich um weniger als einen völlig »exorbitanten Preis« erreichen lässt, kann »nicht das Wahre sein«.240 Im selben Artikel postuliert Stern das Sich-Einlassen »auf das stark besuchte Niemandsland zwischen Endlich und Unendlich« als Kriterium für die Unterscheidung zwischen bedeutenden und weniger bedeutenden Schriftstellern dieser Zeit.241 Wir fühlen uns an Edmund Husserl erinnert und an seinen Gedanken, dem wir bei György M. Vajda begegneten, dass die europäische Kultur als Ganzes ins Unendliche strebe. Husserl, Vajda und Stern teilen die Ansicht, dass deutschsprachige Genies in der Zeit um 1900 nach Nietzsches Vorbild sich dazu zwangen, weiter, tiefer und unerschrockener in dieses Niemandsland vorzudringen als irgendjemand je zuvor. Als Beispiele für diese Entschlossenheit oder – negativ gesehen – für diese Obses­sion nannte Stern Stefan George, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Ernst Jünger, Hermann Hesse und Gottfried Benn unter den deutschen Schriftstellern, unter den Öster­reichern Hofmannsthal, Trakl, Rilke, Kraus, Musil und besonders Kafka und Wittgenstein. Diese öster­reichischen Schriftsteller litten noch mehr als die deutschen an panischer »Angst falsch interpretiert zu werden, an dem Gefühl der Unzulänglichkeit der gewöhnlichen sprachlichen Mittel, das freilich gepaart war mit einer unvergleichlichen sprachlichen Virtuosität im Umgang mit dieser Aporie – eine Analogie, im Bereich der Sprache, zur Randständigkeit der Rechtfertigung«.242 Kraus, Trakl und Musil veranlassten Stern zur Bemerkung, die »beispiellose sprachliche Kreativität dieser Schriftsteller [sei] die in Sprache umgemünzte Währung, mit der sie das (zu) teuer Erkaufte bezahlen, mit der sie den Preis für die Wahrheit über den Menschen entrichten wollen – eine Wahrheit, von der sie glauben, sie sei nicht mehr einfach und direkt zugänglich«.243 Obwohl sie einen exorbitanten Preis an psychischer Energie zahlten, gelang es diesen Schriftstellern nicht, das quälende Gefühl der »Enteignung« loszuwerden. Zehn Jahre später charakterisiert Stern genauer, was er mit dem »dear purchase«, dem (zu) teuer Erkauften, meint. Dieses Mal bedingt der peinsame Handel den Versuch, den Dualismus Welt und das Transzendente zu durchbrechen ins »Niemandsland zwischen Endlich und Unendlich[, wo] der gerade noch erreichbare oder letztlich unerreichbare Akt der Erlösung oder Rechtfertigung stattfindet«.244 239 Stern, »The Dear Purchase«, S. 321. 240 Ebenda. 241 Ebenda. 242 Ebenda, S. 332. 243 Ebenda, S. 333. 244 J. P. Stern, »Literature and Ideology« (1977), in Stern, The Heart of Europe. Essays on Literature and Ideology (Oxford  : Blackwell, 1992), S. 13  –  28, insbes. 19.



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In dieser Ideologie der äußersten Anstrengung werden alle Werte, die für einen geringeren Preis zu haben sind, »als ›unwirklich‹ und ungültig verworfen«.245 Die Angst, falsch verstanden zu werden, erzwingt ein Ethos der äußersten Anstrengung. Dieses führt zu einem »akrobatischen Anspielungsreichtum« wie bei Hofmannsthal und Musil und lässt alle »leichten, fließenden Lösungen und Befreiungen« verdächtig erscheinen. »Die sprachliche Kreativität … ist nichts anderes als das sprachliche Korrelativ des Themas (Über-)Forderung.«246 Man ist versucht, Sterns Gedanken des Strebens nach dem Unerreichbaren mit dem mathematischgeometrischen Konzept der Asymptote zu verbinden. Ein asymptotisches Streben bringt uns definitionsgemäß unter unendlichen Mühen immer näher an das Ziel, ohne dass wir dieses je erreichen. Die Asymptote findet sich bei Rilke in den Duineser Elegien (1912  –  1922), die eine unüberbrückbare Distanz zu den jenseits aller Kunst vollkommenen »Engeln« artikulieren. In einem Brief vom 21. Jänner 1912, drei Wochen bevor die erste dieser Elegien von ihm Besitz ergriff, sagt der Dichter über den Schmerz, den das zu teuer Erkaufte verursacht, es sei »das Furchtbare an der Kunst, dass sie, je weiter man in ihr kommt, desto mehr zum Äußersten, fast Unmöglichen verpflichtet«.247 Zehn Jahre davor hatte der frühe Hofmannsthal seinen fiktiven Lord Chandos, einen Meister im Umgang mit der Sprache, beredt Klage führen lassen, wie die Sprache ihn von der sinnlichen Wirklichkeit abschneide, indem sie immer einen zwar geringen, aber doch unüberbrückbaren Abstand bestehen lasse. Je ausgeprägter die sprachliche Meisterschaft, desto akuter die Vertrauenskrise bei dem Betreffenden, die ihn das Vermögen der Sprache, über ihre eigenen Grenzen hinauszureichen, bezweifeln lässt.248 In den späteren Teilen des Mann ohne Eigenschaften gibt sich Robert Musil unendliche Mühe mit der Formulierung und Umformulierung der Erkenntnisse, deren er seine Protagonisten Ulrich und Agathe in ihrem »andern Zustand« jenseits der Worte für fähig 245 Ebenda. 246 Ebenda. 247 Rilke, Brief vom 28. Dezember 1911, in Rainer Maria Rilke – Lou Andreas-Salomé Briefwechsel, Ernst Pfeiffer (Hg.), 2. Aufl. (Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1975), S. 241. 248 Der 1929 geborene Schweizer Germanist Karl Pestalozzi widmete zwei umfassend recherchierte Werke der »Sprachkrise« bei Hofmannsthal und seinen Zeitgenossen. Siehe Pestalozzi, Sprach­ skepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hugo von Hofmannsthal (Zürich  : Atlantis, 1958) und »La Lettre de Chandos dans le contexte de son époque«, Revue d’esthétique, N. S. 9 (1985), S. 93  –  103 [behandelt Fritz Mauthner, Gustav Landauer und Martin Buber als Leser von Hofmannsthals »Ein Brief« (»Brief des Lord Chandos an Francis Bacon«) von 1902]. Siehe auch Manfred Engel, Rainer Maria Rilkes »Duineser Elegien« und die moderne deutsche Lyrik. Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde (Stuttgart  : Metzler, 1986), S.  51  –  55, und Lorna Martens, Shadow Lines. Austrian Literature from Freud to Kafka (Lincoln NB / London  : University of Nebraska Press, 1996), S. 201  –  216, 267  –  268.

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hält. Ähnlich lobt der polnische Dichter Adam Zagajewski nicht ohne Ironie die Autoren der Jahrhundertwende dafür, dass sie sich »gleich auf der ersten Seite [ihrer Werke] … auf das Mysterium des Daseins stürzen«.249 Er argumentiert, dass die Akzeptanz der Verspätung sich für manche vorteilhaft auswirkte. »Zu den Veteranen der neoromantischen Krise, die ihren Höhepunkt zur Jahrhundertwende erreichte, gehörten hervorragende europäische Schriftsteller wie Robert Musil und sogar Rilke, der seine Duineser Elegien zu einer Zeit vollendete [1922], als Ernest Hemingway, der Sendbote des Geistes des Jazz, des Sports und der Lakonie, bereits seine ersten Auftritte in Paris absolvierte.«250 Könnten Rilkes ausgedehnte Aufenthalte in den Schlössern der Aristokratie, wo die Verspätung sich ja recht eigentlich verschanzt hält, dem wandernden Dichter über seine lebenslänglichen Anstrengungen des asymptotischen Strebens hinweggeholfen haben  ? 1995 veröffentlichte ein Team von Herausgebern, das aus ehemaligen Studenten von J. P. Stern bestand, sein bei seinem Tod unvollständig gebliebenes Manuskript The Dear Purchase. Kapitel 1 stellt das Thema mit neuen Details dar. Der Kult der äußersten Anstrengung findet in Musils Der Mann ohne Eigenschaften in Ulrichs »intellektueller Hyperaktivität seinen Ausdruck«.251 Kapitel 2 gibt einen höchst aufschlussreichen Überblick über vier Aspekte von ›Wirklichkeit‹ als ultimatives Ziel allen Strebens. Unter Ausnutzung der Unbestimmtheit des Wortes ›Wirklichkeit‹ stufen Sterns Schriftsteller dieses Endziel einerseits zu etwas Gemeinem, Alltäglichem herab und erheben es andererseits zugleich zu einer »höheren Bedeutung [,] … zu einem privilegierten Augenblick, der am Rand alltäglicher Erfahrung angesiedelt ist und von dort auf diese mit Verachtung hinabschaut«.252 Für diejenigen, denen der Sinn nach dem teuer Erkauften steht, beruhigt sich ›Wirklichkeit‹ nie zu etwas Greif­barem, sondern oszilliert fortwährend zwischen unvereinbaren Polen. Die vier Bestimmungen, die Stern zu ›Wirklichkeit‹ vornimmt, sind in ihrer Mehrdeutigkeit geradezu prototypisch ›modern‹. Anstatt sich gegenseitig zu verstärken widersprechen sie einander. Nichts anderes ist von asymptotischem Streben zu erwarten. Erstens bezeichnet Wirklichkeit einen »prekären Geisteszustand, 249 Adam Zagajewski, »Drohobycz and the World« [1988], in Zagajewski, Two Cities. On Exile, History und the Imagination (New York  : Farrar Straus and Giroux, 1995), S. 196  –  204, insbes. 201 [zum polnischen Schriftsteller und Künstler Bruno Schulz (1892  –  1942)]. 250 Ebenda. 251 Stern, »The Theme«, in The Dear Purchase, S. 25  –  60, insbes. 57. Zu Stern siehe Nicholas Boyle, »Foreword«, ebenda, S.  xi-xix  ; Essays von Stephen Heath und Richard Brinkmann in Nicholas Boyle und Martin Swales (Hg.), Realism in European Literature. Essays in Honour of J. P. Stern (Cambridge  : Cambridge University Press, 1986), S. 103  –  122 und 183  –  202, und vor allem Ritchie Robertson, »Difficult truths  : an essay review of J. P. Stern, The Heart of Europe«, Comparative Criticism, 16 (1994), S. 247  –  261, insbes. 251  –  255. 252 Stern, »The Theme«, S. 57.



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Produkt der Mythen schaffenden Vorstellungskraft«. Dieser Geisteszustand wird in privilegierten kreativen Augenblicken erlebt.253 Man denkt an Ulrich und Agathe, die ihren »andern Zustand« auskosten. Zweitens bezeichnet Wirklichkeit einen äußerst schwer zu erreichenden Geisteszustand, »die Frucht einer alles beherrschenden existentiellen Suche, die oft nicht ohne Opferung des wagemutigen Selbst auskommt«.254 Stern, der kein Freund der Psychoanalyse war, legt dar, wie Freuds »Realitätsprinzip« die Lust ausschließt, mit dem Ergebnis, dass eine »vom ›Realitätsprinzip‹ regierte Welt … zu einem Feind des Denkens wird«.255 Der Geist muss ohne Unterlass versuchen, eine starre »Wirklichkeit« zu transzendieren. Stern hätte als Beispiel auch den perfektionistischen Otto Weininger nennen können, der die Wirklichkeit der Bedrohung des Intellekts durch die Sexualität erlebte. Drittens erhalten Dinge, die nicht immer schön, ja nicht einmal immer sicher sind, als Ergebnis existenzieller Anstrengung oder der Unterordnung unter eine charismatische Führerfigur wie z. B. Stefan George den Anschein, »realer« zu sein als alles andere. Diese neuen Bedeutungen perpetuieren, viertens, »die alte Dichotomie zwischen ›Wirklichkeit‹ und ›Sprache‹«.256 Einer auf Sprache allein beruhenden Kultur kann kein Erfolg beschieden sein bei ihrem existenziellen Versuch, diese Kultur, d. h. sich selbst, zu überwinden. Einsichten, die von jenseits der Sprache kommen, können nicht ohne Weiteres sprachlich ausgedrückt werden. Das wird in den Diskussionen um die »Sprachkrise« ebenso wie in Husserls asymptotischer Suche nach bleibenden Strukturen hinter den Erscheinungen thematisiert. Auf die Herausforderung, die diese Skrupel für die literarische Imagination bedeuten, reagierten die besagten Jahrhundertfiguren mit aufopferungsvoller Hingabe und asymptotischem Streben nach dem unerreichbaren Ziel, das Unaussprechliche auszusprechen. Es muss nicht betont werden, dass das, was die Literatur hier gewonnen haben mag, auf Kosten des common sense ging. Der aus Öster­reich stammende Komparatist Michael André Bernstein (1947  –   2011) hat ein alternatives Vokabular vorgeschlagen, mit dem sich erklären lässt, warum heutigen Lesern Sterns Protagonisten zunehmend rätselhaft bleiben.257 In seinen Essays zu Rilke, Musil, Celan, Martin Heidegger und Walter Benjamin liefert 253 Ebenda, S. 68. 254 Ebenda, S. 69. 255 Ebenda, S. 70. 256 Ebenda. Edward Timms wandte Sterns Konzept des »Realitätsverlusts« auf die Wien-Erfahrung von Schriftstellern an in Timms, »Musil’s Vienna and Kafka’s Prague  : the quest for a spiritual city«, in Timms und David Kelley (Hg.), Unreal City. Urban experience in modern European literature and art (Manchester  : Manchester University Press, 1985), S. 247  –  263, insbes. 255  –  259. 257 Michael André Bernstein, Five Portraits. Modernity and the Imagination in Twentieth-Century German Writing (Evanston IL  : Northwestern University Press, 2000). In seinem Essay »Robert Musil  : Precision and Soul« zitiert Bernstein auf S. 36 aus J. P. Stern, The Dear Purchase, S. 182.

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der kanadisch-amerikanische Professor Kriterien für das von ihm so genannte »Erlösung verheißende [redemptive] Meisterwerk«. Die genannten Figuren investierten ihre ganze Lebenskraft in ein einzigartiges, unvergleichliches und unersetzbares Werk, das sich durch drei Hauptmerkmale auszeichnete  : Es war »universell, schwierig und Erlösung verheißend«. Nur ein zeitloses Meisterwerk, so die einhellige Überzeugung dieser Figuren, kompensiert »das Leid, die Trivialität und die Sinnlosigkeit des Lebens«.258 Dieses Ethos zeichnet öster­reichische Komponisten wie Mahler und Schönberg und ungarische Schriftsteller wie Ady und Babits aus. Diese potenziellen Erlöserfiguren sahen – und gaben – sich als »Genies«, die der Menschheit durch ihre Selbstaufopferung ein einzigartiges Geschenk machten. Von ihrem Publikum erwarteten sie nicht weniger als eine »identifikatorische Selbstaufgabe« und die Bereitschaft zu einer »kulturell gemeinsam getragenen Mythologisierung der einzigartigen Erkenntnisse des Genies«.259 Seit dem Zweiten Weltkrieg sind solche Ansprüche immer weniger in der Lage, eine Gefolgschaft anzuziehen, die bereit ist, auf ihr eigenes Urteil zu verzichten. Dieser Autoritätsverlust ist einer der Gründe, weshalb die Literatur- und Kunstkritiker der letzten siebzig Jahre ständig neue Wege finden müssen, um sich Schriftstellern oder Künstlern zu nähern, die »universell, schwierig und erlösend« sein wollten. Die sich selbst unablässig überfordernden Zeloten haben zwar die Kraft eingebüßt, ihre Leser zu überwältigen, aber ihre Fähigkeit, auf Kritiker stimulierend zu wirken, hat im gleichen Maß zugenommen. Die Auseinandersetzung mit diesen Titanen hat einigen Spätankömmlingen – Isaiah Berlin, Friedrich Heer, George Steiner – Gelegenheit geboten, ihre eigene, etwas weniger spektakuläre Hingabe an das zu teuer Erkaufte auszuleben.

8.2 Hyperaktive Deutsche und der öster­r eichische Mensch Was aber hat Sterns Modell in einer Diskussion der Kultur der Doppelmonarchie verloren  ? Der Zwang zur äußersten Anstrengung, der sich in den Anhängern des (zu) teuer Erkauften manifestiert, ist doch reichlich weit entfernt von den »mäßigenden Impulsen«, die wir mit dem öster­reichischen Menschen und mit Grassls und Smiths Gestaltern intellektueller Hybridisierungen assoziieren. Was verbindet Sterns auf Deutschland zentriertes Konstrukt mit Nemoianus mitteleuropäischer Bildungsethik, Csákys Arena der interagierenden Pluralität oder mit Vajdas Phänomenologie der verborgenen Strukturen  ? Für Sterns Modell des hyperaktiven Lite258 Bernstein, The Culture of Redemption (Cambridge MA  : Harvard University Press, 1990), S. 7. 259 Bernstein, Five Portraits, S. 9.



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raten standen Deutsche wie Nietzsche, Wagner und George Pate und nicht Öster­ reicher wie Schnitzler, Bahr und Altenberg – und schon gar nicht die eigentlichen Personifikationen des öster­reichischen Menschen wie Stefan Zweig, Anton Wildgans und Franz Werfel. Nemoianu behauptet, dass spätestens ab 1800 die öster­ reichische Erziehung dämpfend auf die Extreme der deutschen Romantik wirkte. Eine ähnliche Mäßigung findet sich auch in den öster­reichischen und ungarischen Reaktionen auf die Extreme der literarischen Moderne. Zu den in der Doppelmonarchie lebenden und von ihr geprägten großen Ausnahmen gehört neben den rastlosen Suchern Rilke und Ady zweifellos Gustav Mahler. Das ständige Streben nach dem kaum Erreichbaren war für ihn eine zweite Natur und seine nie versiegende Erfindungskraft scheint eine Parallele in Musils und Hofmannsthals Angst vor dem Missverstandenwerden zu haben. Mahler lebte tatsächlich in einem Niemandsland zwischen Endlich und Unendlich, in einem existenziellen Hochseilakt, in dem er privilegierte kreative Momente und deren ständig erneuerte Realisierung in musikalischer Darbietung suchte. Sein Ethos der Unerbittlichkeit hatte für alle »leichten, fließenden Lösungen und Befreiungen« nur Verachtung übrig. Wie Rilke fühlte er sich – seine Biografen haben es gezeigt – in der Doppelmonarchie nie wirklich zuhause und Versuche, diesen Umstand durch Umdeutungen weg zu retuschieren, hätten nicht mit seiner Billigung rechnen können. Der Kontext, dem er mit viel mehr Berechtigung zugezählt werden kann, ist Sterns Elite von hyperaktiven Suchenden. Mahler als ein jedem Widerstand Trotzender und jedem sozialen Kontext Entwachsener regt dazu an, eine ähnliche Frage bezüglich anderer öster­reichischdeutscher Maximierer der Selbstüberforderung zu stellen. Kafka, Rilke und Trakl sind hervorragende Kandidaten. Sterns Gedanke des asymptotischen Strebens stellt einen alternativen Kontext bereit für diese Suchenden nach einer unerreichbaren ›Wirklichkeit‹. Csáky und Vajda sahen in ihnen quintessenzielle Vertreter der Doppelmonarchie-Kultur. Genauso gut können sie aber auch den asymptotisch Strebenden Gesellschaft leisten, deren Besessenheit sie alle kulturellen Institutionen transzendieren lässt. Die dem teuer Erkauften Verpflichteten waren widerstrebende Öster­reicher. Es ist noch leichter, das von dem Dichter Rilke, dem Komponisten Mahler oder dem Philosophen Wittgenstein zu sagen als von den Prosaschriftstellern Kraus, Musil und Broch, für die es aber ebenfalls zutrifft. Sie verfassten Satiren voll peinlicher Details über eben die Gesellschaft, deren Schwächen – oder Laster – sie in ihrem Streben überwanden. Ihre Weigerung, sich mit den Beschränkungen der Bürokratie und der Gesellschaft der Doppelmonarchie abzufinden, ist ein Zeichen ihres Beharrens auf einem Streben nach dem Unendlichen. Mit Blick auf Sterns Dichotomie werden wir jedenfalls Hofmannsthals frühe Lyrik ebenso wie die Gedichte Georg Trakls als Produkte asymptotischen Strebens

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ansehen. In seiner Lyrik und in den lyrischen Dramen zeigt er wenig Interesse an gesellschaftlicher Anbindung. Seine Dramen und Opernlibretti haben dagegen ­einen stärker auf Kultur und Gesellschaft der Doppelmonarchie orientierten Ansatz, der weitgehend der Musik entgegenkommt. Hofmannsthal, der als Ersteller eines Profils des öster­reichischen Menschen Pionierarbeit leistete, hatte begonnen, sich in den Dienst der zerrütteten Gesellschaft zu stellen, die er in seinem unmittelbar nach dem Krieg verfassten Stück Der Schwierige (1919) beschrieb. In einer Würdigung der Dramen und Libretti Hofmannsthals heißt es, »die dramatischen Mittel [seien] gering und indirekt, die Trauer hingegen scharf. Hofmannsthals besonderes Talent bestand darin, Bühnenfiguren, deren Wirrsale uns einige Stunden lang fesseln und deren Stimmen und Körper eindeutig der Gegenwart anzugehören scheinen, gleichzeitig als verloren und entschwunden erscheinen zu lassen«.260 Stern zögerte nicht, Hofmannsthals verunsicherte »schwierige« Protagonisten in die Gefolgschaft des (zu) teuer Erkauften einzureihen, für die ja ihre Angst, missverstanden zu werden, kennzeichnend ist  : »›Lauter Missverständnisse‹ wäre ein geeignetes Motto für Hofmannsthals gelungenste Komödie, Der Schwierige (Will He  ? – Won’t He  ? wäre eine mögliche englische Übersetzung des Titels)«.261 Sterns Modell passt also zu manchen öster­reichischen Schriftstellern verblüffend gut, besonders zu solchen, die in diesem Buch als unklassifizierbar eingestuft werden, während es mit den meisten Konzepten, die hier für die Eigenarten der Doppelmonarchie entwickelt werden, keine Übereinstimmung gibt. Seine Erkenntnisse führen uns wieder vor Augen, dass gerade unter den größten schöpferischen Geistern Öster­reichs solche waren, die alles dran setzten, sich den als »Theorien Öster­reichs« bereitstehenden Gussformen zu entziehen. Mahler, Rilke, Trakl, Wittgenstein  : Sie alle verkörpern nur wenig von dem, was wir in der Kultur der Doppelmonarchie als geteiltes Gemeinsames finden. Wenn wir Sterns Kategorie des »(zu) teuer Erkauften« akzeptieren, dann müssen wir folgern, dass viele der größten Schriftsteller, Künstler und Denker der Monarchie sich jedem institutionellen Kontext entzogen haben. Ihr auf das Unendliche gerichtetes Streben stellt sie eher an die Seite der genannten deutschen »Übererfüller«  ; mit Vertretern der Wiener Secession wie Hermann Bahr und Peter Altenberg oder den milden Kündern eines gesamteuropäischen Bewusstseins wie Stefan Zweig und Egon Friedell haben sie hingegen weit weniger gemeinsam. Und Ungarn  ? Welche Einsichten zu ungarischen Schriftstellern bietet uns Sterns Konzept  ? Das Ungarn des Fin de Siècle brachte mindestens eine Figur hervor, auf 260 Carolyn Abbate und Roger Parker, A History of Opera. The Last Four Hundred Years (London  : Allen Lane, 2012), S. 456  –  457. Zu Der Rosenkavalier (1911) als »Reiseführer zu einer untergegangenen Kultur«, siehe ebenda, S. 457  –  461. 261 Stern, »Literature and Ideology«, S. 19. Die Frage »Wird er sich binden  ? Wird er sich nicht binden  ?« würde sich übrigens auch als Devise für Musils Ulrich eignen.



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die der Begriff des (zu) teuer Erkauften verblüffend gut passt  : den Dichter Endre Ady. Das Sternsche Modell zeigt auf den ersten Blick, dass Ady mit mehr Berechtigung den asymptotisch Strebenden in Öster­reich und Deutschland zuzurechen ist als seinen ungarischen Zeitgenossen. Früh zu Nietzsche bekehrt, war Ady Ungarns existenzieller fahrender Ritter, der immer alles auf eine Karte setzte. Auf immer neue Weise beteuert er in seinen Gedichten vor Gott und den Menschen, dass er, der Dichter, sich mit nichts anderem zufrieden geben werde als mit dem Unerreichbaren.262 Mit seinem antikonformistischen Ingrimm war Ady in Ungarn sowohl unter Katholiken als auch unter Calvinisten eine Ausnahmeerscheinung, wie er selbst zu seinem Leidwesen feststellte. Aber war er tatsächlich als einziger in dieser Lage  ? Im Folgenden werden wir uns einigen ungarischen Literaten und Denker zuwenden, die sich ebenfalls den Herausforderungen des zu teuer Erkauften stellten.

8.3 Leó Popper und die Experimente von Künstlern Der wohl bekannteste ungarische »Übererfüller«, Georg Lukács, Sohn eines ungarischen Bankiers und einer öster­reichischen Mutter, wuchs zweisprachig auf, wie auch seine Freunde Béla Balázs und Sándor Ferenczi. Alle drei entstammten Familien, die sich an die magyarische Umgebung assimiliert hatten, ohne ihre ursprüngliche deutschjüdische kulturelle Prägung aufzugeben. Ihre bikulturelle Erziehung mag dazu beigetragen haben, dass die drei sich dem Kult des schwer Erreichbaren verschrieben. Zu Leó Popper (1886  –  1911), dem mit Abstand am wenigsten bekannten unter diesen jüdischen Intellektuellen, passt Sterns Paradigma sogar noch besser. Im 262 Endre Kiss schrieb zwei bahnbrechende Essays zu Adys Nietzsche-Rezeption, in denen er den Einfluss des Stils von Also sprach Zarathustra auf Adys Gebrauch von Metaphern und zusammengesetzten Wörtern nachweist. Kiss, »Von der ›schaffenden Zerstörung‹ bis zur Methode des Zarathustra  : Friedrich Nietzsches Wirkung auf den jungen Endre Ady«, Annales Universitatis Scientiarum Budapestiensis de Rolando Eötvös Nominatae  : Sectio Philosophica et Sociologica, (1981), S. 123  –  135, und Kiss, »Endre Adys politisch-dichterische Auffassung über ›Kakanien‹ – Kakanien aus der Sicht eines sich erneuernden Ungarns innerhalb der Gesamtmonarchie«, in Josef Strutz und Johann Strutz (Hg.), Robert Musils »Kakanien«  – Subjekt und Geschichte  : Festschrift für Karl Dinklage zum 80. Geburtstag, Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1986 (München  : Wilhelm Fink Verlag, 1987), S.  27  –  43. Zur Haltung anderer Ungarn zu Nietzsche siehe Kiss, »Die Rezeption Friedrich Nietzsches in Ungarn bis 1918  –  19«, Nietzsche-Studien, 9 (1980), S.  268  –  284  ; Kiss, »Nietzsches ›Zarathustra‹  : Vorbild philosophischer Dichtung in Ost-Europa«, Nietzsche-Studien, 17 (1988), S. 298  –  311  ; und Kiss, »Les débuts de la réception de Nietzsche parmi les intellectuels juifs hongrois, de Diner-Dénes à Lukács«, in Dominique Bourel und Jacques Le Rider (Hg.), De Sils Maria à Jérusalem. Nietzsche et le judaïsme. Les intellectuels juifs et Nietzsche (Paris  : Cerf, 1991), S. 201  –  210. Siehe auch Béla Egyed, »Nietzsche’s Early Reception in Hungary«, in Alice Freifeld u. a. (Hg.) East Europe Reads Nietzsche (New York  : Columbia University Press, 1998), S. 85  –  101.

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Elternhaus – sein Vater, ein Cellovirtuose, stammte aus Prag – wurde Deutsch gesprochen, in der Schule Ungarisch. Seine Freundschaft mit dem um ein Jahr älteren Georg Lukács (1885  –  1971) war bis zu seiner Wiederentdeckung – mehr dazu später – der Grund, weshalb dieser geniale Frühreife nicht in völlige Vergessenheit geriet. Lukács’ frühe Essays, 1910 unter dem Titel Die Seele und die Formen erschienen, basieren auf seiner Korrespondenz mit Popper, dessen allmählich sich herauskristallisierender Begriff von »Form« stark auf Lukács abfärbte.263 Popper starb im 25. Lebensjahr an Tuberkulose. Dieser Schlag hatte im Verein mit dem Tod seiner früheren Geliebten Irma Seidler, die fünf Monate vorher 1911 durch Selbstmord aus dem Leben geschieden war, Lukács völlig aus der Bahn geworfen. Es fällt schwer, kontrafaktische Spekulationen ganz zur Seite zu schieben. Wäre Popper ein längeres Leben gegönnt gewesen, welche Früchte hätte diese Symbiose noch gezeitigt  ? Vielleicht hätte der große Literaturkritiker nicht den Weg zum Marxismus genommen, den er ab 1918 de facto einschlug. Lukács’ Ruhm hatte Popper im Bewusstsein der Nachwelt total verdrängt, bis Philippe Despoix und Lothar Müller ihn wiederentdeckten. 1987 veröffentlichten sie eine deutsche Ausgabe von dreizehn Essays, von Popper teils auf Deutsch, teils auf Ungarisch verfasst, zusammen mit einem aufschlussreichen Nachwort, das dann, etwas gekürzt, auch Teil einer französischen Ausgabe wurde.264 Die Autoren heben darin besonders Poppers Gedanken hervor, wie der bildende Künstler über die Form zu einer »dissonanten Synthese« aus widerspenstigem Material und subjektiver Vision findet. Popper entwickelte diese Gedankengänge aufgrund seiner eigenen Betätigung als Maler, Bildhauer, Sänger und Geigenspieler, während er in seinen letzten drei Lebensjahren zwischen Paris, Berlin, Budapest und mindestens vier Sanatorien hin- und herhetzte. Für Popper besteht die Aufgabe eines Malers oder Bildhauers ganz wesentlich darin, mit dem Widerstand zu ringen, den Stein, Lehm, Pigment oder Stift ihm entgegensetzen, ihm und seinem Traum, das Material nach seiner Vision zu prägen. Der Materialcharakter, die Schwere, die Dinghaftigkeit des Materials sperren 263 Zu Popper und Lukács, siehe Lee Congdon, The Young Lukács (Chapel Hill NC / London  : The University of North Carolina Press, 1983), S. 40  –  67 passim. Eine feinsinnige Lesart bei Ian Fairley, »On ›Soul and Form‹«, Hungarian Studies, 4  :1 (1988), S. 3  –  22. Große Teile von Lukács’ Korrespondenz mit Popper sind abgedruckt in Georg Lukács¸ Briefwechsel, 1902  –  1917, Éva Karádi und Éva Fekete (Hg.) (Stuttgart  : Metzler, 1982). Siehe auch Júlia Bendl, »Herkunft eines Philosophen  : Die Kindheit von Georg Lukács«, Hungarian Studies, 5  :1 (1989), S. 75  –  90. 264 Philippe Despoix und Lothar Müller, »Nachwort«, in Leó Popper, Schwere und Abstraktion. Versuche (Berlin  : Brinkmann und Bose, 1987), S. 105  –  122, übersetzt (mit Ausnahme der Seiten 121  –  122) als Despoix und Müller, »Le périple intellectuel européen de Leo Popper«, in Dieter Hornig und Endre Kiss (Hg.), Vienne-Budapest 1867  –  1918. Deux âges d’or, deux visions, un Empire (Paris  : Éditions autrement, 1996), S. 146  –  159.



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sich gegen das Verlangen des Künstlers, das Material in die Form zu bringen, die ihm vorschwebt. Die zunächst imaginierte Konzeption kann so nicht realisiert werden. Stattdessen wird die endgültige Form besonders in der von Suche geprägten Kunst des frühen 20. Jahrhunderts – Rodin, Maillol, Cézanne sind die von Popper gewählten Vorbilder – unbeabsichtigt die eines Überrests an Dissonanz zwischen Material und Plan sein. Zwei gegenläufige Kräfte ringen z. B. in Rodins Skulpturen miteinander – das Gewicht des Lehms, des Marmors, des Metalls und der Wille des Bildhauers. Aus der Spannung zwischen den beiden ergibt sich als Nebenprodukt, was dann als »Form« erscheint. Der Künstler kann die Form nicht im Voraus konzipieren. Sie wartet auf ihn erst am Ende, als Ergebnis des Kampfes, in dem er versucht hat, dem widerspenstigen Material eine Vision aufzuprägen, die anders aussah als das schließliche Ergebnis. Die Form ist also vor dem Ringen des schöpferischen Künstlers mit seinem Material nicht vorhanden, sie nimmt eher beiläufig Gestalt an, indem sich der Künstler dem »Teig« aus Ton oder Pigmenten unterwirft. Die Dichte des Materials schließt eine unmittelbare Umsetzung der Vision aus. Das Material leistet Widerstand. Form resultiert aus einer dissonanten Begegnung zwischen geschickten, im Dienst der Vision stehenden Händen und der Widerspenstigkeit des Materials. In J. P. Sterns Sprechen vom (zu) teuer Erkauften findet Poppers Beharren auf der Unerreichbarkeit der Vision des Künstlers seinen Nachhall. Wie von Sterns Adepten des teuer Erkauften geltend gemacht, erhöht die Schwierigkeit der Aufgabe, ihr »Widerstandsvaleur«, wie Popper es nennt, den Wert der Form. »Und es ist natürlich, dass ein Paganini, dem das Geigenspiel gar keine Schwierigkeiten mehr bereitet, Werke ›gegen die Geige‹ schaffen muss. Ebenso schafft Rodin Werke ›gegen den Stein‹, und – abermals wie Paganini – Werke gegen den Menschen«.265 Eine Vision, deren Umsetzung im Material zu einfach ist, produziert Resultate, die wir als Kitsch bezeichnen. Sie stellen die »Reduktion des Kunstwerks auf ein wesensfremdes Minimum« dar.266 Schon als kaum 20-Jähriger war Popper fasziniert von französischen AvantgardeKünstlern, die, wie wir jetzt sehen, sich allmählich vorwärts tasteten zur Ablösung der Form vom Sujet. Matisse, Rodin und Maillol lieferten ihm Beispiele dafür, dass die Widerständigkeit des teigigen oder steinigen Materials den Künstler dazu verurteilte, diesem Material Formen zu geben, die nicht Teil seines Konzepts waren. Diese geometrischen Muster konnten, die entsprechende Übung vorausgesetzt, sich zu einer »Form« zusammenfügen, die der Künstler, bevor er zu Lehm oder Pigment griff, sich nicht hätte vorstellen können. Cézannes hartnäckige Versuche, Dreidimensionales in den zwei Dimensionen der Leinwand wiederzugeben, führten über 265 Popper, »Die Bildhauerei, Rodin und Maillol« [April 1911], in Schwere und Abstraktion, S. 68  –  69. 266 Popper, »Der Kitsch« [Dezember 1910], ebenda, S. 56.

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das von Popper so genannte »Gesetz des Umschlag[en]s der Darstellung« zum genauen Gegenteil, nämlich zu flachen Mustern und zu einer dementsprechenden Umlenkung der Aufmerksamkeit auf die Oberfläche. Die Absicht, drei Dimensionen wiederzugeben, führte also zur Aufhebung dieser Absicht und zur Betonung der Zweidimensionalität. Durch ein »produktives Missverständnis« ruft der Widerstand des Materials ein Umschlagen der Absichten hervor, das auf unvorhergesehene Weise Form erschafft. Nichts lag Popper ferner, als diesen asymptotischen Vorgang im Sinn irgendeines metaphysischen Prinzips zu deuten, aber selbst er, Antimystiker der er war, konnte nicht umhin, von einem mystischen »Umschlagpunkt der coincidentia oppositorum zur Abstraktion« zu sprechen.267 Form ist das Ergebnis der Niederlage des visionären Selbst. Im Niemandsland zwischen Vision und Material gelingt dem unermüdlich Strebenden vielleicht ein Meisterwerk, dessen Form er als Befreiung oder Erlösung erlebt. Anlässlich des Vorgangs, wie die formende Hand des Künstlers auf anders geartetes Material trifft und aus diesem Aufeinandertreffen Kunst entsteht, die für den Künstler unvorhersehbar war und deren Herstellung er auch nur langsam zu replizieren lernt, kommt Popper auch auf das Problem der Stilbildung zu sprechen. Am Anfang hat der moderne Künstler kein Rezept, an das er sich halten kann, kein Handbuch, das ihm die notwendigen technischen Tricks verrät, und keinen Meister, den er nachahmen kann. Stilbildung ist das Ergebnis der Hingabe des Künstlers an die Widerständigkeit des Materials und seiner Bereitschaft, der Interaktion zwischen Hand und Material freien Lauf und jeweils das erschaffen zu lassen, was der Vorgang hergibt. Trifft das nicht auch den Kern der Beobachtungen, mit denen Bartók zeigte, wie sich Kreuzungen und abermalige Kreuzungen der Motive in der Volksmusik vollziehen  ? Eine Tonfolge, die seit Vorzeiten besteht, wandert weiter von ihren bisherigen Hütern zu Musikanten, für die sie neu ist. Das alte Muster ist widerständig und verweigert sich leichtfertiger Manipulation. Für die Visionen der Musiziertradition, in die sie eingewandert ist, ist sie nicht ohne weiteres verfügbar, aber die neue Musizierpraxis führt doch zu ihrer Modifikation in einer Weise, die niemand vorhersehen konnte. Wenn dieser Vergleich zwischen Popper und Bartók nicht zu sehr konstruiert ist – was nicht der Fall zu sein scheint –, wird man sagen können, dass die beiden Ungarn schon am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Nachdruck auf die Unvorhersagbarkeit hingewiesen haben, mit der Kreativität auch völlig unerwartete Hemmnisse überwindet. Ein Vergleich auf einer allgemeineren Ebene zwischen Grassl / Smiths Modell der Bezugssysteme, die sich zu unvorhersehbaren Hybriden verknüpfen, und Leó 267 Despoix und Müller, »Nachwort«, S. 119.



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Poppers Modell der unvorhersehbaren Verknüpfungen der Visionen des Künstlers mit dem Material, das er bearbeitet, fördert gleichfalls Ähnlichkeiten zu Tage. In beiden Fällen ist das Ergebnis ein unbeabsichtigtes Produkt, das nach Interpretation durch einen Kritiker verlangt. Dieses Produkt gegenläufiger Impulse wird umso mehr in Richtung höherer Abstraktion tendieren, je mehr der Künstler sich bemüht, die Spannung zwischen den Impulsen aufrecht zu erhalten. Als Popper im Oktober 1911 starb, wusste er weder von den Durchbrüchen in der abstrakten Kunst, an denen Wassily Kandinsky (1866  –  1944), Franz Marc (1880  –  1916) und andere Mitglieder des Blauen Reiters in München arbeiteten, noch vom Kubismus, der sich unter den Händen von Pablo Picasso und Juan Gris (1887  –  1927) entfaltete. Seine intuitive Erfassung der zunehmenden Tendenz zur Abstraktion ist für uns ebenso bemerkenswert wie die Anwendbarkeit seiner Theorie der kreativen Spannung zwischen Gegensätzen auf Probleme, die sich bei der Darstellung der verschiedenen Arten der in der Doppelmonarchie florierenden Kreativität ergeben. Popper sah Form als eine unbeabsichtigte Folge des Aufeinandertreffens von intensiver Subjektivität und verarbeitungsunwilligem Material. Fehlende Spannung in diesem Aufeinandertreffen zeitigt, wie gesagt, Kitsch als Ergebnis. Da es unvorhersehbar ist, welche Gestalt Form annehmen wird und da kreative Spannung sich jeder Manipulation entzieht, kann man annehmen, dass die Begegnung umso produktiver sein wird, je weniger vorhersehbar diese ihrem Wesen nach ist. Denkt man an die verschiedenen Kreise von Innovatoren, die in der Doppelmonarchie florierten – und hier im Besonderen an die künstlerischen Avantgarden, zu denen Historikerinnen und Historiker wie Steven A. Mansbach, Hubertus Gassner und Elizabeth Clegg uns so viel sagen können –, dann lässt sich vermuten, dass die Debatten zwischen den Mitgliedern in dem Maß verblüffendere Ergebnisse erbrachten, je gegensätzlicher die ursprünglichen Positionen waren. Radikale Innovation entfaltet sich nach ihrem eigenen »Gesetz des Umschlag[en]s der Darstellung«, indem das Resultat, das einem Forscher vorschwebt, in einem andern ein zuvor nicht vorgesehenes, unter Umständen völlig konträres Resultat hervorruft. Der Gedanke der unwahrscheinlichen Querbefruchtung unter rivalisierenden Forschern ermöglicht uns die Übertragung von Poppers »Gesetz des U ­ mschlag[en]­s der Darstellung«, das für die künstlerische Produktion gilt, auf ein »Gesetz des Umschlagens der Intentionen« im Bereich der Naturwissenschaften und der Philosophie. Dies erinnert uns an die Interaktion zwischen Naturwissenschaft und Kunst, die Peter Weibel als wesentliches Kriterium seiner »Dritten Kultur« ansah. Seine Vision eines oszillierenden Austauschs zwischen Naturwissenschaft und Kunst erweist sich als verwandt mit dem Konzept von Popper, der denselben oszillierenden Austausch zwischen subjektiver Vision und widerständigem Material auf dem Weg zur Formwerdung postuliert. Wie Bartók – und Grassl / Smith in seinem Gefolge – haben

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auch Popper und Weibel dem Spiel des Zufalls ihre Reverenz erwiesen. Dieses führt kreative Interaktionen zu Ergebnissen, die jenseits jeder Vorhersehbarkeit liegen. Popper sieht den bildenden Künstler von der Dissonanz zwischen seiner Absicht und der Hartnäckigkeit des Materials profitieren. Grassl / Smith und Weibel beanspruchen Ähnliches für die Kreativität der Wissenschaftler und Philosophen. Auch sie profitiert von Dissonanzen zwischen Bezugssystemen oder, in andern Worten, zwischen konzeptuellen Schemata, die in der Interaktion mit Kollegen und anderen Gesprächspartnern sichtbar werden. Je disparater – und das heißt je dissonanter – die Bezugssysteme sind, desto unwahrscheinlicher ist es zwar einerseits, dass überhaupt eine Kreuzung stattfinden wird, aber desto wahrscheinlicher ist es andererseits, dass die Ergebnisse, falls es doch zu einer Kreuzung kommt, verblüffend sein werden. Nach allem bisher Gesagten versteht es sich von selbst, dass im späten Habsburgerreich solche Begegnungen unglaublich häufig stattfanden. Die große Arena brachte Begegnungen zwischen völlig disparaten Wissenschaftlern zustande und konfrontierte sie mit ­einer ganzen Reihe von vermeintlich unlösbaren Problemen. Wenn Popper Recht hat, dann generiert die Widerständigkeit solcher Probleme unerwartete Nebenprodukte, die von den nachgeborenen Beobachtern als Durchbrüche erkannt werden, selbst wenn zu der Zeit, als sie das Licht der Welt erblickten, niemand ihr Potenzial als Grundlage künftigen Forschens erkannte.

8.4 Ein »Doppelmonarchie-Mensch« ? Dass Popper, ein junger, todgeweihter Theoretiker der Innovation in der Kunst, sich geradezu prototypisch als Beispiel für J. P. Sterns Paradigma der äußersten Anstrengung eignet, steht wohl außer Frage. Es gibt aber auch andere Beispiele, wie der Werdegang des Dichters, Schriftstellers und Essayisten Mihály Babits (1883  –  1941) zeigt. Babits begann, wie sein Freund Dezső Kosztolányi, als Redakteur von Nyugat  ; mit Kosztolányi verband ihn auch das Interesse an der Psychoanalyse. Mit seiner Parteinahme für den Pazifismus am Anfang des Ersten Weltkriegs und einer neuerlichen Hinwendung zum Katholizismus ging Babits dann seinen eigenen Weg, der dem des nicht-religiösen französischen Kulturkritikers Julien Benda (1867  –  1941) nicht unähnlich ist.268 Babits war dann der letzte Herausgeber der Zeitschrift Nyugat, die nach seinem Tod ihren Namen ändern musste. 268 Mihály Babits, »Az irástudók árulása« [Der Verrat des schriftstellernden Wissenschaftlers], in Nyugat, 21  :18 (1928). Zu Bendas Rolle als Schiedsrichter für Konservative siehe Stefan Collini, Absent Minds  : Intellectuals in Britain (Oxford / New York  : Oxford University Press, 2006), S. 279  –  300.



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In dieser Eigenschaft war er der Mentor einer ganzen Generation hervorragender junger Literaten wie Gábor Halász und Antal Szerb. Der Tod dieses überragenden homme de lettres, der in der englischen, französischen, deutschen, spanischen und italienischen Literatur in gleicher Weise zu Hause war wie in den Literaturen der klassischen Antike und des frühen Christentums, bedeutete nicht nur das Ende von Nyugat  ; er war der letzte der noch in Ungarn verbliebenen großzügigen, weitherzigen Humanisten, die es in diesem Land seit den Tagen von István Széchenyi (1791  –  1860) immer gegeben hatte. Ende der 1930er Jahre hatten die allermeisten so gesinnten Ungarn ihre Heimat schon verlassen, auch der Babits nicht nur im Katholizismus verwandte, ungemein produktive ungarisch-amerikanische Historiker John Lukacs. Von den drei überragenden literarischen Figuren, die allgemein mit Nyugat assoziiert werden, ist Mihály Babits außerhalb Ungarns viel weniger bekannt als Ady und Kosztolányi. In der englischsprachigen Welt gab es niemand, der ihn in ein gebührendes Licht gerückt hätte, wie Mihály Szegedy-Maszák das für Kosztolányi oder Marianna D. Birnbaum für Ady getan hat. Man ist versucht, ihn als einen der großen Unklassifizierbaren einzustufen, wäre da nicht der Umstand, dass er sich nach 1920 ganz eindeutig als Mitstreiter der Öster­reicher Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Kassner für das gesamteuropäische literarische Erbe profiliert hat. Wie Hofmannsthal und Kassner sah er in der literarischen Tradition ein Bollwerk gegen jede Art von Verirrung. Vergleichbar mit Figuren wie Rudolf Borchardt, Rudolf Alexander Schröder, Julien Benda und dem französischen Literaturhistoriker Albert Thibaudet, unterschied sich Babits von diesen schon dadurch, dass er keine Reisen außerhalb seines Heimatlandes unternahm und keine literarischen Freundschaften in Europa pflegte. Als genaues Gegenteil des nie länger sesshaften Rilke hat dieser Allerbelesenste aller Paneuropäer seine gesamte Laufbahn im Land seiner Geburt absolviert. Unabhängig vom Maßstab, den man anlegt, ist klar, dass dieser völlig zu Unrecht vernachlässigte Intellektuelle eine geradezu beispielhafte Verkörperung von J. P. Sterns aufopfernder Selbstüberforderung ist. Die mitteleuropäische Bildungsethik erreichte in ihm einen neuen Gipfel der Selbsterziehung. Babits gab zwar englischen Schriftstellern wie Browning und Swinburne den Vorzug vor ihren deutschen Zeitgenossen, er selbst war aber den obsessiven Deutschen im Ehrgeiz, in seinen literarischen Werken die Totalität der Erfahrung zu erfassen, gar nicht unähnlich. Ein Roman von Hermann Hesse bietet sich als erhellende Parallele an. Als Adept des teuer Erkauften ist Babits mit der Figur des Joseph Knecht, dem Magister ludi in Hesses Glasperlenspiel (1943), vergleichbar.269 Die Quintessenz dieses litera269 Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht, samt Knechts hinterlassenen Schriften (Berlin / Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1953). Zu diesem

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rischen Werkes, das, um Bernstein zu zitieren, »universell, schwierig und Erlösung verheißend« zu sein beansprucht, ist das Wirken eines quasi-mönchischen Ordens, der durch die alljährliche Aufführung des »Glasperlenspiels« der Bewahrung der europäischen Kultur dienen will. Jedes Jahr vom Meister neu inszeniert, verlangt der nahezu akrobatische Anspielungsreichtum des Spiels uneingeschränkte, aufopfernde Hingabe von Darstellern und Zuschauern. Die Darbietungen sind ein äußerst anspruchsvolles Gemisch aus Musik, Literatur und Philosophie, mit dem auch das Publikum manchmal seine liebe Not hat.270 Der resolute Elitismus von Hesses weltlichen Monastikern in Kastalien, einer auf dem Umweg über Delphis Kastalische Quelle vergeistigten Schweiz, verpflichtet das Publikum zu einem unablässigen Streben, das wir auch von Babits, dem Magister ludi des Glasperlenspiels im Dienst der europäischen Literatur, kennen. Wie Joseph Knecht, der alle Vorzüge der mitteleuropäischen Bildungsethik exemplarisch in sich vereint, dient auch der polyglotte Ungar dem Anspruch, das Beste der europäischen Literatur seit ihren Anfängen im alten Griechenland in sich aufzunehmen und zu verkörpern. Ähnlich dem charismatischen Knecht inspirierte Babits eine ganze Generation brillanter Literaten – Antal Szerb, Gábor Halász, László Cs. Szabó, um nur die wichtigsten zu nennen – dazu, seinem Beispiel zu folgen.271 Szerb, wie wir noch sehen werden, variierte Babits’ heiligen Ernst durch Exkurse in die »Neofrivolität«, die allerdings besser in das 21. Jahrhundert passt als die Kultivierung einer kaum mehr lebbaren Quasi-Allwissenheit durch seinen Mentor. Von zentraler Bedeutung für Babits – wie für Hofmannsthal, dessen geistige Verwandtschaft schon mehrfach erwähnt worden ist – war die Praxis des kulturellen Gedächtnisses. György Tverdota hat diese Praxis in Zusammenhang gebracht mit Babits’ Interesse an der Gedächtnistheorie, die Henri Bergson (1859  –  1941) in Matière et mémoire  : Essai sur la relation du corps à l’ ésprit (1896) formulierte.272 Der französische Philosoph unterscheidet zwischen utilitaristischem Gedächtnis, das gewohnheitsmäßig durch Wiederholung funktioniert, und reinem Gedächtnis, das die Totalität der Erfahrung aufbewahrt  ; das tägliche Leben bleibt darin ausge»Spiel von Utopia« siehe Stern, The Dear Purchase, S. 346  –  363. 270 Hesse gibt Knecht in seiner Funktion als neu gewählter Meister des Spiels Gelegenheit, die Gründe für seinen Elitismus in einer bewegenden Rede am Anfang des siebten Kapitels darzulegen. Siehe Hesse, Das Glasperlenspiel (Berlin / Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1953), S. 316  –  322. 271 László CS. Szabó (1905  –  1984), ein ungarischer Emigrant, demonstriert eine mühelose Verbindung von Gelehrsamkeit und Virtuosität in dem Überblick über die ungarische Literatur, den er für Adam Makkais Anthologie adaptierte. Siehe CS. Szabó, »A Nation and Its Poetry« [1972], in Adam Makkai (Hg.), In Quest of the »Miracle Stag«. The Poetry of Hungary. An Anthology from the 13th Century to the Present (Urbana IL  : University of Illinois Press, 2000), S. 1051  –  1122. 272 Siehe György Tverdota, »Le Bergsonisme dans la littérature hongroise du début du siècle«, Neohelicon, 25  :1 (1998), 119  –  130.



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klammert. Das reine Gedächtnis macht es möglich, dass lückenlose Erinnerung – »Hypermnesie«, um Bergsons Ausdruck zu verwenden – sich einstellt, sobald die Anforderungen des Alltags schweigen. Das klassische Beispiel ist natürlich Marcel Proust, dem die berühmte, in Tee getunkte Madeleine die verlorene Zeit vor Augen stellt. Babits’ frühe Gedichte wie »Die ewige Arkade« (1906) rekapitulieren solche Augenblicke. Der Dichter erlebt hier – wie Judit Frigyesi es nennt – ein »gleichsam entgrenztes Universum«, in dem sich »die Zeit zu unbestimmtem Ende und Anfang öffnet in der Art eines Kreises. … Wiederholung ist hier zugleich ewige Bewegung und tote Reglosigkeit«.273 In den Essays der Zeit ab 1920 unternimmt Babits, wie György Tverdota bemerkt hat, eine Neubewertung des literarischen Potenzials der totalen Erinnerung. Von Bergson hatte er sich schon im Lauf des Ersten Weltkriegs abgewandt, als er dessen Irrationalismus Mitschuld am Wahnsinn des Krieges gab. Gegen Ende der 1920er Jahre half ihm Julien Bendas Bergson-Kritik, einen Rahmen zu konzipieren, in dem die Kultivierung eines potenziell alles umfassenden »Panorama«-Gedächtnisses als literarisches Ziel – und für uns auch als Realisierung von J. P. Sterns (zu) teuer Erkauftem – ihren Platz finden konnte. Zu dieser Entwicklung gehörte auch Babits’ neuerliche Hinwendung zum Katholizismus, die ohne jede doktrinäre Spiegelfechterei stattfand. Die möglichst starke Ausweitung des kulturellen Gedächtnisses erschien ihm als das noch verlässlichste Bollwerk gegen die entfesselten Avantgarden. Unmittelbarer Auslöser von Babits’ Angst vor den seitens der Avantgarden drohenden Verwüstungen war wohl der ebenfalls rastlos tätige Lajos Kassák, dem – wir haben es schon gehört – eine von jeder Vergangenheit bereinigte Welt vorschwebte. Das Auftreten dieses charismatischen Ikonoklasten und ungemein produktiven Nyugat-Autors beunruhigte Babits so sehr, dass er sich gezwungen sah, gegen dieses Unternehmen eine Rekapitulation der gesamten literarischen Vergangenheit, die diese Avantgarde über Bord zu werfen sich anschickte, in Stellung zu bringen. Das Ergebnis war Az Európai irodalom története, seine Geschichte der europäischen Literatur (1934  –  1935, 1941 auf Ungarisch erschienen, 1949 auf Deutsch), in der er alle Register der literarischen Hypermnesie zieht. Gedacht als Kommentar zu einer nie realisierten Anthologie, setzt dieser Überblick mit Homer und Hesiod ein und findet 600 Seiten später seinen Abschluss mit Valéry, Gide und Claudel. Ein durchgehendes Merkmal sind Verbindungen zwischen Literaten und Werken, die über Generationen und Kulturen hinweg hergestellt werden und ein dichtes Gewebe von Vergleichen und Genealogien erzeugen. So werden Dante 273 Babits, »Az örök folyosó« [Die ewige Arkade]. Siehe Judit Frigyesi, Béla Bartók and Turn-of-theCentury Budapest (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 1998), S. 205  –   213, insbes. 213.

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und Proust nebeneinander gestellt als Neuerfinder der Memoirenliteratur, ihre Lebensbeichten verbinden Augustinus und Strindberg, und Petrarca und Lamartine reichen einander als Elegiker die Hand. Zusammenfassend kann man sagen, dass Babits mit seiner Literaturgeschichte die These stützen will, dass eine möglichst lückenlose Erinnerung an die europäischen Klassiker sich wesentlich fruchtbarer auf die Zukunft auswirken wird als ihre von Kassák vorgeschlagene Entsorgung. Dass dem so war, bewiesen in kleinerem Rahmen auch Antal Szerb und Gábor Halász, bis das Horthy-Regime und seine Nazi Helfershelfer sie zu Zwangsarbeit verurteilten und ermordeten. Babits’ Nachfolger als Herausgeber von Nyugat unter einem neuen Namen, Gyula Illyés (1902  –  1983), verwies zur Erklärung von Babits’ stupendem Gedächtnis auf dessen Familie. In dem Haus, in dem er aufwuchs, fand niemand etwas Besonderes daran, dass sein Großvater mit dem Kanonikus der Kathedrale auf Lateinisch parlierte, seine Großmutter ein Faible für Béranger hatte und ihn auswendig rezitierte und seine Mutter ein ähnliches Verhältnis zu Lenau unterhielt.274 Die fünfzehn Seiten, die er Dante widmet – Babits hatte die Göttliche Komödie übersetzt, sicher eine seiner größten Leistungen – und in denen er das Einstehen des Dichters für ein Europa und einen einheitlichen Kosmos würdigt, lassen sich ohne Weiteres auf ihn selbst beziehen. Ist ein derart magisterialer Überblick, dessen bloßen Versuch wir heute veraltet finden mögen und von dem wir uns jedenfalls überfordert fühlen, noch wünschenswert  ? Ist er überhaupt denkbar  ? Es lässt sich argumentieren, dass Harold Bloom mit Büchern wie The Western Canon (1994) und Genius (2002  ; dt. 2004) sich als später Nachfahre dieser Meister des Glasperlenspiels profiliert hat.275 In ihm hätte der große Ungar ebenso wahrscheinlich einen Geistesverwandten gesehen, wie der nicht unumstrittene amerikanische Meisterkritiker selbst sich als Überlebenden aus besseren Zeiten sieht.

274 Julius [= Gyula] Illyés, »Vorwort«, in Mihaly Babits, Geschichte der europäischen Literatur (Zürich / Wien  : Europa Verlag, 1949), S. xiv. Anita Czeglédy, »Michael Babits als Kulturvermittler aus der Perspektive des deutschen Sprachraumes«, in József Tóth (Hg.), Wechselbeziehungen in der Germanistik  : kontrastiv und interkulturell (Veszprém / Wien  : Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis, Supplement  ; 9, 2008) war mir nicht zugänglich. 275 Harold Bloom, The Western Canon. The Books and School of the Ages (New York  : Harcourt Brace, 1994), Genius  : die hundert bedeutendsten Autoren der Weltliteratur. Bearbeitet von Yvonne Badal (München  : Knaus, 2004) und The Anatomy of Influence. Literature as a Way of Life (New Haven CT / London  : Yale University Press, 2011) [eine Summe lebenslanger Reflexion über literarische Kanones].



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8.5 Babits und die Propagandisten des öster­r eichischen Menschen Der Gedanke liegt nahe, dass Babits’ Sympathie für die Großen im Kanon der westlichen Literatur und die Virtuosität, mit der er sie profilierte, ihm die Aufmerksamkeit öster­reichischer Zeitgenossen wie Hofmannsthal, Kassner und Wildgans hätte sichern müssen, liest sich doch ihre Beschreibung des öster­reichischen Menschen wie eine Porträtskizze des universalen »Empathisanten« Babits. Leider müssen wir feststellen, dass die Leitha sich auch hier als unüberwindliche Grenze erwies. Nicht nur kam es zu keiner Beziehung, es wurden nicht einmal bestehende Fehler und Missverständnisse ausgeräumt.276 Babits nahm die vielen literaturkritischen Essays, die Hofmannsthal im Lauf seines Lebens schrieb, nicht zur Kenntnis, vielleicht weil sie seinen eigenen Produktionen zu ähnlich waren. Hofmannsthals literaturkritische Essays machen deutlich, dass seine Theorie des öster­reichischen Menschen nur ein Thema unter vielen war, und dass er ohne Weiteres zu einer ebenso brillanten Geschichte der europäischen Literatur fähig gewesen wäre. In mancherlei Hinsicht scheint Babits’ Literaturgeschichte das zu leisten, was Hofmannsthal nicht einmal ins Auge fassen konnte, weil er nicht lange genug lebte. Beide Kritiker bildeten die Kompetenz aus, ein universell empathisches Kompendium der westlichen Klassiker zu schreiben, eine Art Anleitung zum Literaturgenuss. Auch von den andern Propagandisten des öster­reichischen Menschen nahm keiner Notiz von Babits und er selbst suchte keinen Kontakt zu ihnen. Wie ist es möglich, so muss man fragen, dass die Entfernung Wien – Budapest mit ihren weniger als 200 Kilometern ausreichte, um die Kontaktaufnahme zwischen diesen zur Freundschaft gleichsam prädestinierten Humanisten zu verhindern  ? Es muss wohl der Hinweis genügen, dass dies nur einer der vielen Einzelfälle einer allgemeinen Tendenz war, die öster­reichische und ungarische Schriftsteller in der Zeit zwischen 1890 und 1938 auf Distanz zueinander gehen ließ. Die eine Ausnahme, auf die G ­ yörgy Király hingewiesen hat, war Dezső Kosztolányi (1885  –  1936), der 1904  –  1905 in Wien studiert hatte und als einziger Vertreter des Nyugat-Zirkels die öster­reichische und speziell die Wiener Literatur schätzte. Er hat sich allerdings, 276 So ist Babits in der Geschichte der europäischen Literatur der Meinung, Hofmannsthals in der »Manier Goethes« verfasste frühe Gedichte seien im George-Kreis entstanden  ; in Wahrheit reagierte Hofmannsthal auf Georges stürmisches Werben bald nach dem ersten Kennenlernen mit zunehmender Distanzierung und brach 1902 jeden Kontakt ab. Noch überraschender ist das zweischneidige Lob, mit dem Babits Hofmannsthals Dramen aus der Zeit vor 1914 bedenkt  : »Er ist es, der griechische Tragödien und mittelalterliche Mysterien für den Geschmack eines snobistischen Vorkriegspublikum neu bearbeitet hat, ein sensibler Dichter von vornehmer Haltung, der Verfasser schöner lyrischer Dramen« (Babits, Geschichte, S. 568).

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wie wir gleich sehen werden, mehr als Übersetzer hervorgetan denn als Kritiker.277 Die reflexhafte Weigerung der Intellektuellen auf beiden Seiten der Leitha, in ihrem Denken den Fluss zu überqueren, taucht die fünfundzwanzig Jahre währende Freundschaft zwischen Freud und Ferenczi in ein umso strahlenderes Licht.278 Einen der seltenen Vergleiche, die in diesem Fall Hofmannsthal und Rilke einerseits und Babits und Kosztolányi auf der andern Seite betreffen, verdanken wir László Ónodi. Sein Essay aus dem Jahr 1984 konzentriert sich zunächst auf Unterschiede, die für diese Literaten ebenso wie für die Kulturen, denen sie jeweils angehörten, kennzeichnend sind.279 Für Ónodi waren die Wiener Schriftsteller des Fin de Siècle durch den Generationenkonflikt weit weniger belastet als ihre Kollegen in Budapest. Die öster­reichische literarische Secession habe ein ungebrochenes Verhältnis zu ihren Vorgängern wie Ferdinand Saar gehabt – eine These, die auch Schorske vertritt –, während ihre ungarischen Zeitgenossen, die sich vor allem um Nyugat scharten, die ältere Generation der Stagnation zieh. Diesem Vorwurf suchten sie sogar durch öffentlich zugängliche Vorträge und in jugendfreundlich ausgerichteten politischen Versammlungen Gehör zu verschaffen. Von den apolitischen Öster­reichern unterschieden sich die Ungarn außerdem dadurch, dass sie nicht nur die Literatur des Landes, sondern auch seine politischen und wirtschaftlichen Strukturen reformieren wollten. Ein dritter, weniger leicht vorhersehbarer Unterschied kam im Ersten Weltkrieg zu Tage. Bald nach Kriegsbeginn lancierten Hofmannsthal und Bahr ihre Idee des öster­reichischen Menschen als ein den imperialen Kriegsanstrengungen dienendes Ideal. Ady und Babits dagegen hatten von allem Anfang an den Krieg als das Ende Ungarns und Europas bezeichnet. Man darf dabei nicht vergessen, dass Babits und auch sein enger Vertrauter Kosztolányi sich vor dem Krieg durch eine völlig apolitische Haltung ausgezeichnet hatten, eine Haltung, die in Ungarn so unerhört war, dass sie als »dekadent« bezeichnet ­w urde.280 Dann jedoch vollzog sich ein verblüffender Umschwung  : In Öster­reich 277 Siehe István Király, »Dezső Kosztolányi und die öster­reichisch-ungarische Monarchie«, Neohelicon, 13  :1 (1986), S. 271  –  285. Zum wechselseitigen Desinteresse, das die Beziehung zwischen Ungarn und Deutsch-Öster­reichern in dieser Zeit prägte, siehe Ilona Sármány-Parsons, »Entfremdete Nachbarn  : Ein Doppelporträt der Wiener und Budapester Kunst um die Jahrhundertwende«, in Eugen Thurnher u. a. (Hg.), »Kakanien«. Aufsätze zur öster­reichischen und ungarischen Literatur, Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende (Budapest  : Akadémiai Kiadó und Wien  : Verlag der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften, 1991), S. 415  –  437. 278 Vgl. Kapitel 10. 279 László Ónodi, »Die Sezession beim jungen Hofmannsthal und Rilke bzw. Babits und K ­ osztolányi«, Neohelicon, 11  :1 (1984), S. 125  –  134. 280 Zu diesem Sprachgebrauch siehe George F. Cushing, »Mihály Babits  : ›All Great Poets Are Decadent‹« [1988], in Cushing, The Passionate Outsider. Studies on Hungarian Literature (Budapest  : Corvina, 2000), S. 208  –  232, insbes. 210  –  212. Árpád Tóth bezeichnete Ernő Széps »dekadenten



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politisierte der Krieg die zuvor apolitischen, nach ungarischem Maßstab »dekadenten« Literaten, in Ungarn hingegen entfremdete der Krieg zwei der wichtigsten Figuren der ungarischen literarischen Elite der Öffentlichkeit  ; Angehörige jener Elite, deren Mitglieder zum allergrößten Teil die Politisierung der Kultur seit mehr als einem Jahrhundert befördert hatten. Für Ónodi gibt es allerdings auch zumindest eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen Babits und Hofmannsthal. Beide sahen die Aufgabe des Dichters in der Konzeption sich weitender konzentrischer Kreise, die niemals enden, das literarische Gegenstück zu den sich unendlich entfaltenden Motiven des Art nouveau. Das rastlose Streben von J. P. Sterns deutschen »Übererfüllern« nahm in diesen beiden Seelenverwandten die Form der »Spitzenseele« an, die unermüdlich an der Ausweitung ihres Bewusstseins arbeitet. In diesem Zusammenhang bringt Ónodi auch Rilke ins Spiel  : den Dichter, der sein Leben lebt »in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn«. Er sieht Rilkes Figur des russischen Ikonenmalers im Stunden-Buch (1898  –  1905) als die Verkörperung einer solchen Seele an, die, Kunst und Kosmos in einer endlosen Abfolge sich stets neu entfaltender Bilder schauend, um Gott, »den uralten Turm« kreist. Kosztolányi, der ausgebildeter Pianist war, vergleicht Rilkes Aufschub eines Abschlusses im Stunden-Buch mit einer Reihe verminderter Septakkorde.281 Ähnliches gilt wohl auch für Babits, für den sich die europäische Literatur in einer unendlichen Folge von Trugschlüssen immer weiter entfaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste der Ideenhistoriker Friedrich Heer in ähnlichem Geist seinen Überblick über die Geschichte des europäischen Gedankens, dem er bis in die feinsten Verästelungen nachging.282 Asymptotisches Streben war der Lebensinhalt dieser europäischen Meister des Glasperlenspiels. In noch einer Hinsicht wird Babits’ Nähe zu Hofmannsthal sichtbar. Für ihn war Europa eine vergrößerte Ausführung der Doppelmonarchie. Europa war für ihn der Ort, wo Schriftsteller, die in den verschiedensten Sprachen beheimatet waren, in einem riesigen Netzwerk marginozentrischer Regionen koexistierten, verbunden durch gemeinsame Bezugssysteme. In den konzentrischen Kreisen dieses pan-habsburgischen Europa hatte schon jeder Literat im Prinzip mit jedem anderen Motive ausgetauscht, unter den Augen der gemeinsamen griechischen und lateiStil« als »Überreife auf dem Weg zur Verwesung« in »Szép Ernő  : Emlék«, Nyugat, 11  : 4 (1918). Siehe auch André Karátson, Le Symbolisme en Hongrie. L’influence des poétiques françaises sur la poésie hongroise dans le premier quart du XXe siècle (Paris  : Presses universitaires de France, 1969), S. 274  –  275. 281 Kosztolányi Dezső, »Rilke, Az isten« [etwa  : Rilke über Gott], Nyugat, 2  :8 (1909)  ; online ­unter  : http://epa.oszk.hu/00000/00022/nyugat.htm (zuletzt abgerufen 9. August 2012). 282 In Friedrich Heer Europa – Mutter der Revolutionen (Stuttgart  : Kohlhammer, 1964) findet sich auf tausend Seiten eine große Fülle Material zum kreativen Denken in Europa.

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nischen Mentoren. Diese glichen ihrerseits den Staatsdienern der Vergangenheit, die ihre Schutzbefohlenen zur Erfüllung des Auftrags der mitteleuropäischen Bildungsethik anleiteten. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Erbes hatten sich – in Geschmack und Talent völlig unterschiedliche – Literaten mehr als zweieinhalb Jahrtausende lang an einem Unternehmen beteiligt, das in der ständig erneuerten Erinnerung an dieses Erbe bestand und in seiner ständigen Neuausrichtung auf eine sich immerfort neu darstellende Zukunft. Jeder Dichter und Schriftsteller in diesen zweieinhalb Jahrtausenden erscheint wie ein Produkt der mitteleuropäischen Bildungsethik in einem Europa der poetae docti, und jeder hat sich auf seine Weise das Streben nach Unendlichkeit zu eigen gemacht, in dem Husserl bekanntlich ein wesentliches Merkmal Europas sieht. Wie Bartóks Volksmusiker hatten auch die Dichter und Schriftsteller über viele Jahrhunderte hinweg als kulturelle Vermittler gewirkt, und das stetige Sich-Kreuzen der Bezugssysteme, das Grassl / Smith in erster Linie im Hinblick auf die Intellektuellen der Doppelmonarchie herausgearbeitet haben, sieht Babits in der europäischen Literatur insgesamt am Werk. Für ihn, so könnte man sagen, bezeugt sich die kreative Stärke des marginozentrischen Bewusstseins in einer endlosen Beweiskette. Babits verkörperte also in geradezu idealtypischer Weise die Werte, die von den Propagandisten des öster­reichischen Menschen kaum je einer andern Ethnizität als ihren Mit-Öster­reichern zugesprochen wurden. Rechtfertigt das schon den Ausdruck »Doppelmonarchie-Mensch«  ? Leider steht zu vermuten, dass ein derartiger, auf die Doppelmonarchie ausgeweiteter Typus sich noch stärker als Ausgeburt eines Gelehrtenhirns ausnehmen wird als der um etliches plausiblere öster­ reichische Mensch. Man mag es als tragisch empfinden, aber beide Menschentypen zeichneten sich erst nach dem Ende der Monarchie deutlich ab. György M. Vajda nahm dankbar zur Kenntnis, dass der Doppelmonarchie-Mensch nach dem Ersten Weltkrieg in den Ungarn Molnár, Horváth und Márai noch eine Zeitlang auf der Bühne der Literatur verweilte,283 und dasselbe gilt für Literaten und Literaturwissenschaftler wie Szerb, Halász, László Cs. Szabó und erst recht für John Lukacs, einen ihrer amerikanischen Nachfahren. Die Hervorhebung John Lukacs’ verlangt eine kurze Erklärung. 1988 fand Lukacs bewegende Worte zu Babits’ katholischem Humanismus  : »Die philosophische Geschlossenheit von Babits’ Schriften ist derart, dass er, wäre er in Frankreich zur Welt gekommen, wohl als der große katholisch-humanistische Dichter des Jahrhun283 György M. Vajda, »Grablegung und Weiterleben der Monarchie in der ungarischen Literatur bis zur Mitte der 20er Jahre«, Hungarian Studies, 8  :1 (1993), S. 83  –  97, Nachdruck, vermehrt um fünf Seiten, als Kapitel 11 von Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994), S. 205  –  221.



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derts gegolten hätte«.284 Das würde diesen Erben der Doppelmonarchie-Kultur in Frankreich neben Paul Claudel und Charles Péguy stellen, die ein wenig älter waren als er, und neben Jacques Maritain und Étienne Gilson  ; in Spanien sind die Kulturphilosophen Miguel de Unamuno und José Ortega y Gasset Geistesverwandte. Sie alle haben in dunklen Zeiten humanistisch-menschliche Integrität bewiesen. An Vielseitigkeit werden sie allerdings von Babits überragt, der sich als Dichter, Schriftsteller, Essayist, Übersetzer und literarischer Ideengeber bewährte. Seine Universalität lässt den Ungarn als einen Menschen des 19. Jahrhunderts unter lauter Spezialisten erscheinen – auch dies ein Grund, warum ihm der gesamteuropäische Ruhm verwehrt blieb. Ein weiterer Grund dafür ist, dass der Typus des Doppelmonarchie-Menschen, wie gesagt, erst sichtbar wurde, nachdem der Erste Weltkrieg sein soziales Umfeld zerstört hatte. Die in diesem Typus verkörperte Sensibilität hatte in marginozentrischen Regionen wie der Bukowina, dem Banat und Istrien vorgeherrscht, wo Kontakte zwischen den verschiedenen Ethnizitäten auch nach 1918 die Kohabitation von Haltungen, Ideen und Zielsetzungen erleichterten. Musterbeispiele des Doppelmonarchie-Menschen bevölkern auch Peter Weibels Jenseits von Kunst, wo deutlich gemacht wird, wie die sich »in wachsenden Ringen« vollziehende Suche der exilierten Avantgarden zu neuen Verschmelzungen von Kunst und Naturwissenschaft führte. Babits repräsentiert eine noch wesentlich traditioneller getönte Form dieser Sensibilität. Die »wachsenden Ringe« hatten in seinem Fall die griechischen, lateinischen und frühchristlichen Klassiker als Achse. Mag er deshalb auch auf uns weniger anregend wirken als Weibels Pioniere von Kunst-als-Wissenschaft und von Wissenschaft-als-Kunst, so waren sie doch alle auf dem Boden der Doppelmonarchie-Kultur gewachsen und hatten von der mitteleuropäischen Bildungsethik profitiert. Mit andern Worten, sie alle lebten in einem Milieu, in dem sich verschiedene Sprachen, Kulturen und Lebensziele mischten, und sie alle profitierten von Kollegen, die ebenfalls in marginozentrischen Gebieten aufgewachsen waren. Das gehört zu den Talenten des Doppelmonarchie-Menschen. Es ist nicht verwunderlich, dass sie alle den nationalistischen Fanatismus der 1930er Jahre in Europa, sofern sie ihn noch erlebten, als völlig fremd empfanden. Das Widerstreben – um nicht zu sagen, die Weigerung – der öster­reichischen Apologeten, die Möglichkeit einzuräumen, dass neben den Vertretern des öster­ reichischen Menschen, die auch nach 1918 noch zu finden waren, ein hypothetischer Typus des Doppelmonarchie-Menschen in Ungarn überlebt haben könnte, spricht Bände über die Verwirrung der Zwischenkriegszeit. Die fortgesetzte Miss284 John Lukacs, Budapest 1900. A Historical Portrait of a City and Its Culture (New York  : Grove Weidenfeld, 1988), S. 162.

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achtung des jeweils jenseits des Flusses des Vergessens, der Leitha, gelegenen Landes setzte das frühere Versagen der Öster­reicher fort, das darin bestanden hatte, den ungarischen Anteil an der gemeinsamen Kultur nicht anzuerkennen. Heute wächst zwar glücklicherweise die Erkenntnis der Gemeinsamkeiten innerhalb der Doppelmonarchie-Kultur, aber dies ist eine Entwicklung, die erst in den 1980ern einsetzte. Erst dann widmeten sich ungarische Historiker allmählich der Erforschung dessen, was »Wien 1900« und »Budapest 1905« gemeinsam gewesen war. Wieder ist es schwer, sich kontrafaktischen Spekulationen über mögliche Entwicklungen in Kunst, Philosophie und Naturwissenschaft zu verschließen, hätten Öster­reicher und Ungarn rückhaltlos gemeinsame Sache gemacht in der Weichenstellung des Fin de Siècle, im Goldenen Zeitalter von 1890 bis 1918, das Endre Kiss die »zweite Phase des quintessenzialisierten Selbst« nannte. Was hätten z. B. Leó Popper und Otto Weininger einander zu sagen gehabt, wenn sie einander über die Leitha hinweg wahrgenommen hätten  ? Solche Gedankenexperimente sind dazu angetan, uns mit allem Nachdruck auf das hinzuweisen, was die Denker der Doppelmonarchie tatsächlich erreicht haben. Sie haben dem Widerstand, den das Material der Vision entgegensetzt, in unzähligen Fällen den Durchbruch zu unerwarteter »Form« abgerungen. Die Suche nach Gemeinsamkeiten in der Doppelmonarchie, die etwa 1980 einsetzte, hat auch versäumte Gelegenheiten thematisiert. Das größte Versäumnis betrifft den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Für alle Protagonisten gilt hier die gleiche eklatante Fehlanzeige. Nach 1914 trauerten Babits und Ady, Pazifisten der ersten Stunde, nicht nur über die Tragödie des Ersten Weltkriegs, sondern auch über die von Öster­reichern und Ungarn in gleicher Weise versäumten Gelegenheiten, die Kreativität des Reiches in produktivere Bahnen zu lenken.285 Eines muss abschließend gesagt werden  : Die Entscheidung für den Krieg, die Ende Juli 1914 fiel, trat alles mit Füßen, was einem aus marginozentrischen Regio­ nen bestehenden Reich wertvoll sein musste. Es mutet darüber hinaus ironisch an, dass der paneuropäisch denkende Ungar Babits – und nicht ein Öster­reicher wie Hofmannsthal – diese vernichtende Erkenntnis als Erster aussprach. So wie Babits die Geschichte der europäischen Literatur schrieb, die auch Hofmannsthal hätte schrei­ben können, aber nicht schrieb, so hat der ungarische Literat 1914 den pazifistischen Standpunkt eingenommen, auf den das Ideal des öster­reichischen Menschen auch Hofmannsthal hätte verpflichten müssen. Im Licht der Ideale, zu 285 André Karátson, Le Symbolisme en Hongrie, S. 410  –  417. Szegedy-Maszák hat kritisch ­angemerkt, dass der Einfluss Frankreichs auf die ungarischen Dichter hier überbewertet wird. Siehe Sze­g e­­d yMaszák, »Symbolism and Poetry in the Austro-Hungarian Monarchy«, Neohelicon, 11  : 1 (1984), S. 135  –  145, insbes. 143.



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denen der Öster­reicher sich erst im Rückblick bekannte, hat sich ein Ungar 1914 auf die überzeugendste Weise zur Kultur der Doppelmonarchie bekannt. Dass Babits heute nahezu völlig vergessen ist, erscheint unverständlich und entbehrt jeder Berechtigung. Abhilfe ist hier dringend nötig.

8.6 Protest gegen übermäßigen Ernst  : Kosztolányi und Szerb Während J. P. Sterns Modell der Selbstüberforderung wertvolle Erkenntnisse für Ady, Popper und Babits liefert, kann es auf andere Ungarn nicht mit dem gleichen Erfolg angewendet werden. Im Großen und Ganzen neigten die ungarischen Intellektuellen dazu, sich gegen die Zumutung eines übertriebenen Eifers zu wehren. Mit Ausnahme von Imre Madáchs Die Tragödie des Menschen (1862), ein Stück, dessen zeitgenössische Bühnenbilder so manchen filmischen Effekt vorwegnahmen, findet sich wenig in der ungarischen Literatur, das Anspruch auf Bernsteins Liga der »universellen, schwierigen und Erlösung verheißenden« Meisterwerke erheben kann. Zugegeben, Ady schrieb Lyrik, die helfen sollte, »das Leid, die Trivialität und die Sinnlosigkeit des Lebens zu korrigieren und zu heilen«,286 aber ebenso wenig wie sein großes Vorbild Baudelaire nahm er je ein großes Projekt in Angriff. Er schrieb keinen Roman, kein Drama und schuf außer der eigenen lyrischen Persona keine Figur, die das (zu) teuer Erkaufte hätte verkörpern können. Ady beschwor das Ideal aufopfernder Hingabe mit calvinistischer Inbrunst  ; Babits verkörperte beharrlich und mit Würde die Ideale des Doppelmonarchie-Menschen. Die meisten andern Mitarbeiter von Nyugat aber distanzierten sich von solcher Selbstüberhöhung. Anführer des Protestes gegen Ady war niemand anderer als der schon mehrfach erwähnte vielseitige Dichter, Schriftsteller, Übersetzer und Essayist Dezső Kosztolányi (1885  –  1936), für Mihály Szegedy-Maszák der einzige ungarische Literat, der als lyrischer Dichter wie als Verfasser von Prosatexten in gleicher Weise zu überzeugen vermochte.287 Von den öster­reichischen Schriftstellern gilt das wohl nur für Grillparzer, Hofmannsthal und vielleicht noch für Werfel. Kosztolányis Meisterschaft der Nuance macht das Übersetzen seiner Werke extrem schwierig, vielleicht noch schwieriger als die Werke vergleichbarer Öster­reicher vor 1938, ausgenommen Trakl und Rilke. Sterns Festschreibung bedingungsloser existenzieller Radikalität als das Kriterium, mit dem der Status eines modernen Schriftstellers steht oder fällt, provozierte Kosztolányis entschiedenen Widerspruch. Für Kosztolányi brauchte die 286 Bernstein, The Culture of Redemption (Cambridge MA  : Harvard University Press, 1990), S. 7. 287 Mihály Szegedy-Maszák, »Dezső Kosztolányi (1885  –  1936)«, in George Stade (Hg.), European Writers (New York  : Scribner’s, 1983  –  1990), 10 (1989), S. 1231  –  1249, insbes. 1248.

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Literatur des 20. Jahrhunderts nichts nötiger als lässig-elegante Haltung, leichte Hand und kecke Geschmeidigkeit. Seine uneingeschränkte Bewunderung für Rilke änderte nichts daran, dass er für dessen Ansiedlung im Niemandsland zwischen dem Endlichen und Unendlichen keine Sympathien aufbrachte. Metaphysischen Anspielungen durchaus abgeneigt, gab der Ungar, wenn auch nicht ganz uneingeschränkt, dem Hier und Jetzt den Vorrang. Asymptotisches Streben war nicht seine Sache, abgesehen vielleicht von seiner Tätigkeit als Übersetzer von Lyrik. Wir sind Dezső Kosztolányi schon einmal begegnet und zwar im Zusammenhang mit Péter Esterházys Deutung von Kakanien als Reich der Literatur. Ein ausgewiesener Kenner Kosztolányis ist der vergleichende Literaturwissenschaftler Mihály Szegedy-Maszák,288 der uns auf mindestens zwei charakteristische Haltungen in Kosztolányis Werk hinweist, die mit dem Kult der Selbstüberforderung in Widerspruch stehen. Zum einen betont Szegedy-Maszák, wie oft der Dichter einen Knaben für sich sprechen lässt, am eindrucksvollsten in seinem Gedichtzyklus von 1910, A szegény kisgyermek panaszai. »Der Band ist eine Art dramatischer Monolog, in dem der Dichter durch die Maske eines jungen Knaben spricht. Die Romantik wird heraufbeschworen, aber unter ironischen Vorzeichen, und die doppelte Per­ spektive ist voll der Zweideutigkeit. Obwohl allem Anschein nach noch unschuldig, wird der Knabe doch von heftigen Emotionen heimgesucht. Seine leidenschaftliche Liebe zu seiner Mutter und seine sadistischen Anwandlungen werden in einer Weise porträtiert, die nahe legt, dass Friedrich Schillers berühmte Antithese nicht mehr relevant ist  : Das Naive ist das Sentimentalische.« 289 Für Szegedy-Maszák ist ein Merkmal von Kosztolányis Lyrik ein »stilisierter Kult der Kindheit«, wie er schon davor in Gustav Mahlers Kindertotenlieder (1902) zum Ausdruck kam. In seinem gesamten späteren poetischen Werk vergleicht er immer wieder seinen gegenwärtigen Zustand mit einer Phase seiner Kindheit, als hätte diese für ihn eine unwiederholbare Zeit gesteigerter Wahrnehmung bedeutet. Weit davon entfernt, in der Art der »Übererfüller« nach zunehmend umfassender Reife zu streben, blieb der ungarische Schriftsteller dabei, privilegierten Augenblicken der Kindheit den Vorzug über alles zu geben, was später kam. Eine ähnlich zweideutige Haltung zum 288 Die umfassendste Darstellung in englischer Sprache ist Szegedy-Maszák, ebenda. Eine noch viel umfangreichere Studie desselben Autors liegt auf Ungarisch vor, Kosztolányi Dezső (Pozsony  : Kollegium, 2010), in der sich auch die Ergebnisse wichtiger Artikel wiederfinden, wie »Kosztolányi et la tradition stoïque«, Hungarian Studies, 13  : 1 (1998  –  99), S.  77  –  82 [zur Identifikation des Dichters nach 1920 mit Senecas Glauben an eine dauerhafte ästhetische Ordnung als Substitut für jegliche Ideologie]. Instruktiv auch Thomas Cooper, »Dezső Kosztolányi and Intertextuality  : Anticipations of Post-Modern Literary Criticism«, Hungarian Studies, 14  :1 (2000), S. 45  –  54. 289 Szegedy-Maszák, »Dezső Kosztolányi« (1989), 10, S. 1234. Der ungarische Titel lautet A szegény kisgyermek panaszai [Die Klagen eines armen kleinen Kindes] (1910).



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Dasein des Erwachsenen prägt die fünfunddreißig Kapitel des Antiromans Kornél Esti (1925  –  1936  ; dt. Die Abenteuer des Kornel Esti, 2006), an dem er mit Unterbrechungen im letzten Jahrzehnt seines Lebens arbeitete. Zum andern unterstreicht Szegedy-Maszák mit seiner virtuosen Interpretation von Die Lerche (1924) den Umstand, dass Kosztolányi jeder Ansatz zur Selbstüberforderung fremd war. Der Roman spielt in der für Péter Esterházy die »kakanische« Provinz schlechthin repräsentierenden Stadt Sárszeg. Dort genießt Kosztolányis Hauptfigur Ákos Vajkay das gesellschaftliche Leben im Kasino, während seine anspruchsvolle Tochter zu Besuch bei Verwandten ist. Der sich selbst wenig artikulierende Vajkay »ist von Leuten umgeben, deren Geschwätzigkeit sich direkt proportional zu ihrer Oberflächlichkeit verhält. In der Welt dieses Romans steht ausgeprägte Mitteilsamkeit im Gegensatz zu Charaktertiefe«.290 Andererseits verweist bei den Spielern im Kasino der Mangel an Zielstrebigkeit auf Weisheit einer höheren Ordnung, eine Weisheit, die den Kult der Überforderung entschieden ablehnt. Diese Müßiggänger »haben alle Erwartungen hinter sich gelassen  ; der Zustand, in dem sie sich befinden, macht es ihnen unmöglich, in dem, was ihnen widerfährt, nach einem Sinn zu suchen. Sie leben in purer Dauer, die weder Ende noch Ziel hat, und fühlen sich hingezogen zu einer fast perversen Ablehnung jeder Form von zielgerichtetem Handeln.«291 Damit ist vollends der Gegenpol zum (zu) teuer Erkauften erreicht. In Szegedy-Maszáks Interpretation der Lerche wird eine adyeske Karikatur ungarischer Apathie zum Ausdruck des Wesens der späten Doppelmonarchie. Kosztolányis Einsicht in die »Widersprüche der Doppelmonarchie, ihrer gesellschaftlichen Rückständigkeit einerseits und andrerseits ihrer intellektuellen Erneuerungskraft« führte ihn in Szegedy-Maszáks Augen dazu, eine neue Phase in der »Geschichte des menschlichen Denkens« zu postulieren, »in der die Menschen aufhören zu glauben, dass sich die Menschheit insgesamt auf irgendein Ziel zubewegt. Das Sárszeg von 1899 wird dargestellt als Inbegriff eines posthistorischen Zustands, eines Abhandenkommens von allen Zielen und Absichten, das der Welt als ganzer früher oder später bevorsteht. (Der Name Sárszeg bedeutet so etwas wie ›Verworrenheit des Denkens‹.)«292 Was ist weiter entfernt von Nietzsches oder Wagners Kult der Selbstüberforderung als dieser Lobpreis der Weisheit provinzieller Resignation  ? Im Gegensatz zu den Deutschen, die entschlossen waren, alles aufs Spiel zu setzen, sah Kosztolányi nur in einem radikalen Ausstieg aus dem historischen Prozess eine Lösung für die Ausweglosigkeiten der zeitgenössischen Kultur. 290 Szegedy-Maszák, »Dezső Kosztolányi« (1989), 10, S. 1237. 291 Ebenda. 292 Ebenda, 10, S. 1238.

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Die reservierte Haltung, die Kosztolányi gegenüber dem nur allzu geläufigen Kult der Überverantwortlichkeit einnahm, drückt sich auch in seiner Nähe zur Literatur Wiens aus. In den Jahren 1904  –  1905 hatte er, als einziger bedeutender Vertreter der ersten Generation von Nyugat, in Wien studiert, wo ihn besonders die Philosophieprofessoren Emil Reich (1864  –  1940), Robert Reininger (1869  –  1955) und Wilhelm Jerusalem (1854  –  1923) beeindruckten. Er verehrte Rilke geradezu abgöttisch und die Beiträge, die er ihm in Nyugat widmete, zeugen von seinem außerordentlichen Einfühlungsvermögen.293 Als Musterbeispiel intellektueller Osmose übertraf Kosztolányi seine Freunde und Dichterkollegen Mihály Babits, Árpád Tóth und Lőrinc ­Szabó in der Bandbreite von Autoren und Sprachen, aus denen er übersetzte. Niemand hat mehr dafür getan, seinen Landsleuten den Zugang zu englischer, französischer, deutscher, italienischer, spanischer und russischer Lyrik zu ermöglichen als dieser Kosmopolit des Geschmacks. Allerdings nahm er sich routinemäßig – hier kommt eine Verachtung für das allzu Wortgetreue zum Vorschein – beträchtliche Freiheiten im Umgang mit den Quellentexten heraus – ein Ethos, das uns auch von den Übersetzungen Ezra Pounds vertraut ist. Wie der amerikanische Dichter, mit dem Kosztolányi das Geburtsjahr 1885 teilt, war der Ungar nachgerade stolz darauf, ein betont genialischer und möglichst wenig wortgetreuer Übersetzer zu sein.294 Meist gab sich keiner der beiden Dichter bei seinen Übersetzungen die Mühe, zwischen den eigenen Präferenzen und denen des Verfassers der Vorlage klar zu unterscheiden. Wie in einer nicht enden wollenden Adoleszenz anverwandelten sich beide einer Unzahl Anderer. Wie beurteilte also dieser virtuose Dichter-Übersetzer seine zeitgenössischen Kollegen in Wien  ? Auch ihnen fehlte es an ultimativem Ernst, und sie alle zeigten die Widersprüche, die in einer in sich gespaltenen Seele zu erwarten sind. Dies ist zumindest das Resümee, das der ungarische Germanist István Király (1921  –  1989) 1986 zog.295 In einem Ansatz, der in seiner Schematisierung – wenn auch nicht 293 Siehe Karátson, Le Symbolisme en Hongrie, S. 216  –  219. 294 André Karátson, »The Translation and Refraction of Symbolism  : A Survey of the Hungarian Example«, in Anna Balakian (Hg.), The Symbolist Movement (Amsterdam / Philadelphia  : Benjamins, 1982), S. 165  –  182, 175. Zum Thema Treue zum Ursprungstext siehe Thomas Cooper, »Envisioning or Effacing the Other  : Different Approaches to Translation in the English and Hungarian Literary Traditions«, Eger Journal of American Studies, 12  : 1  –  2 (2010), S. 259  –  283. Die Erzählung »Der kleptomanische Übersetzer«, in der der Übersetzer Gallus sich alle möglichen (und unmöglichen) Freiheiten mit seiner Vorlage nimmt, benutzt Kosztolányi dazu, seine eigene Freizügigkeit zu karikieren. Vgl. Dezső Kosztolányi, Der kleptomanische Übersetzer und andere Geschichten. Aus dem Ungarischen von Jörg Buschmann (Nördlingen  : Franz Greno, 1988). 295 István Király, »Dezső Kosztolányi und die öster­reichisch-ungarische Monarchie«, Neohelicon, 13  : 1 (1986), S.  271  –  285, postum nachgedruckt in Eugen Thurnher u. a. (Hg.), »Kakanien«  : Aufsätze zur öster­reichischen und ungarischen Literatur, Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende



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unbedingt in seiner Stringenz – an Georg Lukács erinnert, skizziert Király mehrere Idealtypen, um Kosztolányis Haltung zu seinen öster­reichischen Kollegen und Rivalen zu charakterisieren. Király, einer der besten Kenner Adys, ist seiner spätmarxistischen Sicht zum Trotz gar nicht so weit von den öster­reichischen Literaten der Zwischenkriegszeit entfernt, obwohl er höchstwahrscheinlich keinen von ihnen gelesen hatte. Er zitiert aus Texten von Kosztolányi aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in denen der Dichter in bemerkenswerter Weise viel von dem antizipiert, was die Öster­reicher zehn oder zwanzig Jahre später über sich selbst sagen sollten. Insbesondere lobt der Dichter das apolitische, auf die Person zentrierte Bewusstsein, das er bei manchen öster­reichischen Schriftstellern fand. Die Bezeichnung »monarchischer Geist«, die er dafür verwendete, ist wohl etwas irreführend, sollte aber zweifellos ausdrücken, dass der Schwerpunkt nicht wie bei den Ungarn auf der Nation lag. Während die Öster­reicher dem Individuum zu seinem Recht verhelfen wollten, taten die Ungarn dasselbe für die Nation. Als wohl einziger ungarischer Kritiker fand Kosztolányi Worte der Anerkennung für Öster­reicher, die eine unungarische Art der patriotismusfreien Introversion pflegten. In einer Reihe von Besprechungen, die zwischen 1906 und den frühen 1920er Jahren erschienen, wiederholte der Dichter-Kritiker, Schriftsteller wie Hofmannsthal, Schnitzler, Werfel, Zweig und Altenberg seien zu sehr mit ihren eigenen inneren Widersprüchen und ihrer radikalen Introversion beschäftigt gewesen, um sich in den Dienst irgendeiner politischen oder andern Sache stellen zu können. Immer lächelnd, aber mit Tränen in den Augen, ging von ihnen, so ihr ungarischer Bewunderer, eine »heitere Traurigkeit« oder sogar eine »lächelnder Nihilismus« aus.296 Hin- und hergerissen zwischen der germanischen Tiefe des »Nordens« und der »südländischen« Leichtlebigkeit der Italiener, wohnten zwei Seelen in der Brust der Deutsch-Öster­reicher. Sie fühlten sich zugleich gefährdet und geborgen. Als Träger des »quintessenzialisierten Selbst« (Endre Kiss) arbeiteten sie unablässig an der Verfeinerung der Gefühle – dasselbe galt für den austrophilen Kosztolányi. (Budapest  : Akadémiai Kiadó und Wien  : Verlag der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften, 1991), S. 297  –  311. Im Folgenden wird aus der Version von 1986 zitiert. Siehe auch Ferenc Szász, »Die Rezeption der Dichtung von Hugo von Hofmannsthal in Ungarn«, in Wolfram Mauser (Hg.), Hofmannsthal und das Theater, Hofmannsthal Forschungen 6 (Wien  : Karl M. Halosar, 1981), S. 311  –  331. 296 István Király, »Dezső Kosztolányi und die öster­reichisch-ungarische Monarchie«, S. 278. Die Idee des »lächelnden Nihilismus« weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem »theatralischen Selbst« und seiner »Individualitätsmalaise« auf, auf die Kurt Klinger in seiner Analyse der Werke des jungen Hofmannsthal, von Beer-Hofmann, Andrian-Werburg und Schaukal hinweist. Siehe Klinger, »Lyrisches Drama – Lyrisches Lebensgefühl  : Zur Theaterkunst der Wiener Jahrhundertwende«, in G. J. Carr und Eda Sagarra (Hg.), Fin-de-Siècle Vienna  : Proceedings of the Second Irish Symposium in Austrian Studies (Dublin  : Trinity College, 1985), S. 7  –  25.

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István Király stellte aus Kosztolányis Literaturbesprechungen Gegensatzpaare zusammen, die von Öster­reichern – man denkt etwa an Wildgans und Benda – zu einer »unentwirrbaren Einheit« zusammengeschmiedet worden seien. In Kosztolányis Begrifflichkeit heißen diese Paare »›Wachsein und Traum‹, ›Humor und Metaphysik‹, ›Lebenskunst und Todeskunst‹, ›der Tod und das Lachen‹, ›das Leben und der Tod‹«.297 Claude Cernuschi, ein Kunsthistoriker unserer Tage, kritisiert Wiener Polemiker wie Loos und Weininger dafür, dass sie sich zum Anwalt jeweils nur eines Pols machen. Kosztolányi geht den umgekehrten Weg, der ebenso zu dem von Cernuschi verfolgten Ziel führt  : Er würdigt die Schriftsteller, die sich darauf verstanden, das scheinbar Unüberbrückbare zu überbrücken. In höchst bemerkenswerter Weise entdeckt Király in Kosztolányis Literaturbesprechungen von vor 1914 ein aus unzähligen Puzzleteilen zusammengesetztes Bild des Öster­reichers, das bereits in vielen Zügen dem noch nicht voll artikulierten Ideal des öster­reichischen Menschen ähnelt. Kosztolányis Bewunderung galt der Fähigkeit, die Widersprüche einer »tragischen tiefen Wertekrise« zu überwinden. Während übereifrige Deutsche wie Nietzsche, Stefan George und Thomas Mann jede Krise durch einen zu allem entschlossenen Angriff lösen wollten, suchten die Wiener mit einem lächelnden und einem weinenden Auge einen Weg zu erspähen, der es ihnen möglich machte, die Krise zu umgehen. So schafften sie es tatsächlich, sich aus den Zwängen der Geschichte davonzustehlen und sich dem Genuss ihres Seelenlebens hinzugeben. Diese Dichter verkündeten die Überlegenheit des Künstlers über jegliches Milieu, sei es sozialer, politischer oder literarischer Art. Auch Kosztolányi blieb als einer von ganz wenigen Ungarn dem Glauben an das quintessenzialisierte Selbst treu. Erst in seinen letzten drei Lebensjahren, als seine Kräfte vom Kampf gegen eine bösartige Erkrankung stark in Anspruch genommen waren, schwenkte er allmählich in die ungarische Tradition der politischen Selbstbehauptung ein. Kosztolányi fühlte, so Király, eine besondere Nähe zu dem in den Stücken Arthur Schnitzlers ausgedrückten Gedanken des »Beinahe-Tragischen«. Ein Überraffinement der Gefühle führt in Schnitzlers Dramen zu einem ganz bestimmten Typus der »ironisierte[n] und durchästhetisierte[n] Tragik«.298 Kosztolányi spricht wohl in Schnitzlers Namen wie in seinem eigenen, wenn er sagt  : »Wir schweben alle in einer grenzenlosen Unsicherheit. … [Schnitzler verkündet,] dass alles vergeht und dass diese verfallende, wogende, sich verändernde Welt unbegreiflich ist«.299 Angesichts einer solchen Einsicht ruft das Selbst seine Autonomie durch eine reiche Subjek297 Király, »Dezső Kosztolányi und die öster­reichisch-ungarische Monarchie«, S.  277, Zitat aus Kosz­t olányi, Színházi esték [Theaterabende], 2, S. 376, 365. 298 Ebenda, S. 280, Zitat aus Színházi esték, 2, S. 462 zu Schnitzler. 299 Ebenda, S. 280, Zitat aus Színházi esték, 1, S. 369.



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tivität auf, für die jede Andeutung von Tragik sich in Musik hüllt. »Die Wiener ­ yrik«, so Kosztolányi, »ist nur ein Hinweis auf etwas Höheres, eine nach oben seufL zende Geste, das ins Mystische rufende Wort, welches das Staunen eines Menschen erklärt«.300 Dieses »beinahe tragische« Gefühl hüllt sich laut Király »in Ahnungsnebel … und Hoffnungslosigkeit[,] in Versuche aufzusteigen und in Beharrung«.301 Weit davon entfernt, sich dem (zu) teuer Erkauften zuzuneigen, lässt diese Aussage das (zu) teuer Erkaufte ziehen mit einem Seufzer, der dem der Marschallin nicht unähnlich ist, wenn sie am Ende des Rosenkavalier (1911) Verzicht leistet. Es ist überaus bemerkenswert, wie Király 1986 für den Kosztolányi der Zeit vor 1914 Feststellungen trifft, mit denen Csáky zehn Jahre später Pluralität in der Doppelmonarchie charakterisieren sollte. Kosztolányi kultivierte – wie die besagten öster­reichischen Dichter – ein »vielschichtiges, kompliziertes, polyphones Gefühl[,] ein charakteristisch bipolares künstlerisches Weltbild«, in dem »ein beunruhigendes, störendes Allgemeinbefinden … in Widerstreit zu der es einhüllenden, dämpfenden Musik« der Verse steht.302 Kosztolányis »Beinahe-Tragik« verbindet den Schmerz »reißender Verzweiflung, der Nihilbestürzung« mit dem Lächeln des »spielerischen, ironischen Distanzwahrens, des Sich-darüber-Hinwegsetzens«.303 Es ist, als wollte die von Nemoianu so genannte »mäßigende Tendenz« des Biedermeier sich inmitten all der metaphysischen Verzweiflung von Neuem zu Wort melden. Die Musik der Worte immunisiert den Leser gegen das ebenfalls darin ausgesprochene seelische Unbehagen. Zeit seines Lebens übte sich Kosztolányi in der Kunst, auf dem Vulkan zu tanzen. Kosztolányis Porträt seiner öster­reichischen Zeitgenossen ist natürlich vor allem ein Selbstporträt. So wie es für ihn als Übersetzer nicht wirklich ein Anliegen war, ein treues Abbild seines Ausgangstextes zu liefern, so respektierte er auch als Kritiker die Eigenart des Andern, den er beurteilte – eben seine Andersartigkeit – wenig. Osmo­tisch veranlagt wie er war, bemühte er sich nicht, eine Trennlinie zwischen sich und den von ihm bewunderten Schriftstellern zu ziehen. Stattdessen zog er es vor, diese in sein Weltbild zu integrieren, ohne Rücksicht auf allfällige Unterschiede. Im Unterschied zu Szegedy-Maszák, seinem postmodernen Bewunderer, fehlte es Kosztolányi durchwegs an Respekt für das Anderssein der Andern. Kosztolányi lebte zwar intellektuelle Osmose in extremer Weise, aber schon die bloße Tendenz, sich mit einer Vielzahl zeitgenössischer Schriftsteller zu identifizieren – unter denen durchaus auch solche waren, die sich selbst ständig den höchsten 300 Ebenda, S. 281, Zitat aus Színházi esték, 1, S. 372. 301 Ebenda. 302 Ebenda. 303 Ebenda, S. 282.

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Anforderungen stellten, wie z. B. Rilke – bewahrte ihn davor, im (zu) teuer Erkauften eine Versuchung zu sehen. Dandy der er war, gab er sich die größte Mühe, alles völlig mühelos erscheinen zu lassen. Im Gegensatz zu seinem Freund Mihály Babits fühlte Kosztolányi sich nie berufen, ein Erbe weiterzugeben oder auf die Nachwelt erzieherisch einzuwirken. Sich lang an irgendeine Sache zu binden, war ihm fremd. Wie Lenau und Stifter, die durch das Biedermeier, wie Nemoianu es versteht, zu Mäßigung und Maß gefunden hatten, zog auch er es vor, seinen Schmerz mit der Musik der Worte zu lindern und »das Beinahe-Tragische« mit einem Lächeln der Resignation aufzuhellen. Die Gabe, beide Pole eines jeden Gegensatzpaares begreifen zu können, bewahrte ihn zwar vor Nietzsches lyrischen Deklamationen, vor Kraus’ manischem Polemisieren und vor Stefan Georges unablässigem Proselytisieren. Stattdessen trieb sie ihn aber zu einem endlosen Paraphrasieren seiner eigenen Rastlosigkeit. Seine Unruhe war für ihn weniger Anlass zur Selbstüberforderung als dazu, die Selbstüberforderung ständig in Abrede zu stellen – eine Haltung, in der er sich mit Hermann Bahr und Peter Altenberg traf. Es ist doch bezeichnend für einen Aspekt des Fin de Siècle-Wien, dass der einzige ungarische Literat, der sich mit den Autoren Wiens identifizierte, sich der Jagd nach dem Unerreichbaren konsequent verweigerte. Machs Rigorosität, Weiningers Perfektionismus, Wittgensteins Sühneopfer, Musils bohrendes Nachfragen  : Das alles beeindruckte ihn wenig. Auch Rilkes unablässiger Wechsel des Aufenthaltsortes in Sterns »stark besuchtem Niemandsland zwischen Endlich und Unendlich« brachte Kosztolányi nicht mit Metaphysik in Verbindung, sondern mit musikalischen Kadenzen, die lediglich dazu dienten, den Schluss hinauszuzögern.304 Was er an Rilke bewunderte, war das Handwerkliche, nicht seine »aufs Ganze gehende existenzielle Anstrengung«. Kosztolányi konnte es, zu Recht oder zu Unrecht, nicht lassen, den Wiener Literaten seinen eigenen »lächelnden Nihilismus« zu unterstellen. Ob man ihm deswegen, wie Király meint, einen »monarchischen Geist« zubilligen soll, ist jedoch mehr als fraglich. Natürlich war Király sich bewusst, dass manche Öster­reicher – etwa Oskar Bendas aristokratische Staatsbeamte – viel nachdrücklicher für die Meriten der Doppelmonarchie eintraten als die meisten Ungarn. Ebenso ist aber unbestritten, dass kein Literat in Öster­reich oder Ungarn vor 1914 eine Position einnahm, die tatsächlich die gesamte Monarchie umfasste. Es ist einfach nicht richtig zu behaupten, Kosztolányi habe die Ansichten Schnitzlers oder Hofmannsthals als repräsentativ nicht nur für Öster­reich oder Wien, sondern für das ganze Reich angesehen. Kosztolányi lässt sich nicht rückwirkend zu einem Vertreter eines postulierten »Doppelmonarchie-Menschen« machen. Dieser hatte seinen ersten Auftritt vermutlich erst in den späten Essays seiner europhilen Freunde Mihály Babits und Antal Szerb. Der Dich304 Vgl. oben, Anm. 281.



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ter-Dandy Kosztolányi wollte viel eher mit einem Europa der Dichter identifiziert werden als mit der Doppelmonarchie. Das Europa, das ihm vorschwebte, bestand aus einer riesigen Gemeinde literarischer Stilkünstler, die ihn mit Texten versorgte, welche er dann für eine wachsende Leserschaft in Ungarn zusätzlich aufmotzen konnte. Zusammenfassend halten wir fest, dass es vor 1914 keinen Literaten in der Doppelmonarchie gab, der von sich oder irgendjemand anderem behauptete, er habe die Eigenart sowohl von Cisleithanien als auch von Transleithanien zugleich im Blick. Von den Herausgebern des Kronprinzenwerkes (1886  –  1902) abgesehen, hat niemand je für sich in Anspruch genommen, alle Ethnizitäten der Monarchie zu berücksichtigen, und das Kronprinzenwerk selbst erwies sich mit seinen gargantuesken Dimensionen als zu sperrig für den einfachen Gebrauch. Ob relativ nahe bei Wien in Brünn und Eisenstadt (Kismarton) oder weit weg in der Bukowina und dem Banat gelegen, machten schon die marginozentrischen Regionen eine derartige Anmaßung umöglich. Kosztolányi mag unter der optischen Illusion gelitten haben, die Schriftsteller in der »kaiserlich-königlichen« Hauptstadt Wien seien zu einer großzügigeren Sicht auf die Doppelmonarchie fähig als seine Kollegen in der nur »königlichen« Hauptstadt Budapest. Tatsächlich muss er gewusst haben, dass niemand in den beiden Städten die Pluralität des Reiches adäquat erfasste oder sein Wesen überzeugend artikulierte. Dies wurde nicht einmal angestrebt, und am allerwenigsten von Kosztolányi selbst. Genau besehen ist der Umstand, dass niemand vor 1945 fähig war, die Komplexität der marginozentrischen Regionen voll zu erfassen, der Grund, weshalb es für die Historiker nach 1970 so schwierig war, auch nur die ersten Schritte zu einer Konzeption der innovativen Doppelmonarchie-Kultur zu tun. Kein Zeitgenosse fand sich zu der äußersten Anstrengung bereit, die es gebraucht hätte, um das Poten­zial des Reiches für innovatives Denken zu verstehen oder eine Bestandsaufnahme seiner intellektuellen Leistungen zu wagen. Diese Aufgabe musste auf die Gelehrtengeneration warten, die nach 1970 aktiv wurde. Ein Blick auf die Nationen Westeuropas bringt Erstaunliches zu Tage. Schon um 1800 waren Kulturkritiker, die sich mit England, Deutschland und ganz besonders mit Frankreich beschäftigten, drei, vier, fünf Generationen weiter in der Inventarisierung der kulturellen Leistungen ihres Landes als die Öster­reicher und Ungarn. Wann, in der Geschichte der Gelehrsamkeit, hat die hermeneutische Eule der Minerva ähnlich lang gezögert, ihren Flug zu beginnen  ? Sechzig oder siebzig Jahre mussten nach der Blüte dieser Kultur um 1900 bis zum Einsetzen der wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Rätsel vergehen. Zu diesen Rätseln zählt nicht zuletzt ihr merkwürdiger Mangel an Selbstreflexion. Kosztolányi, der sich so virtuos der Selbstüberforderung entzog, hatte ebenso wenig einen zutreffenden, umfassenden Begriff von den Schätzen der Kreativität in

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der Doppelmonarchie wie Hofmannsthal, Schnitzler, Rilke, Babits und Co. Was Kulturhistoriker zwei oder drei Generationen später zu Tage förderten, hätte sie alle gleichermaßen unvorbereitet getroffen. Als sie noch tätig waren, reichten alle öster­ reichische Weitsicht, alle ungarische Wahrhaftigkeit, alle deutsche intellektuelle Leistungsversessenheit nicht aus, um der Doppelmonarchie-Kultur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die verspätete Blüte dieser Kultur führte zu einer – noch deutlicher wahrnehmbaren – Verspätung im Verständnis dieser Kultur. Selbst wenn Sterns »aufs Ganze gehende existenzielle Anstrengung« oder sein »Sühneopfer« zum Einsatz gekommen wäre, hätte dieser Mangel nicht ausgeglichen werden können. Selbst wenn Leó Popper ein längeres Leben gegönnt gewesen wäre  : Dieser Aufgabe wäre er höchstwahrscheinlich ebenso wenig gewachsen gewesen wie Georg Lukács, der in den sechzig Jahren, die er den Freund überlebte, kein einziges Mal auch nur ein Wort der Anerkennung für die Doppelmonarchie fand. Neben Popper gibt es mindestens noch einen Kandidaten für die Rolle des Meisterinterpreten der Doppelmonarchie-Kultur in diesem Was-wäre-gewesen-wennSpiel  : Antal Szerb (1901  –  1945). Die Verbindung zwischen diesem charismatischen, vielseitig gebildeten Literaturhistoriker und Literaten, der eine Generation jünger war als seine Mentoren Babits und Kosztolányi, und Sterns Modell des (zu) teuer Erkauften als Prüfstein der literarischen Moderne besteht in Szerbs fast ideologisch zu nennender Ablehnung desselben. In überaus attraktiver Weise bewegte sich Antal Szerb scheinbar mühelos, mit dem sicheren Instinkt eines Wünschelrutengängers auf allen Gebieten literarischer oder künstlerischer Betätigung. Er verstand es, jedes Anzeichen von Anstrengung bei der Bewältigung einer Aufgabe hinter einer Fassade eleganter Meisterschaft verschwinden zu lassen. Schon in seinen frühen Dreißigern galt er als Ungarns sprachgewandtester Darsteller sowohl der ungarischen wie der Weltliteratur. Nach wie vor in Druck ist A magyar irodalom története, seine Ungarische Literaturgeschichte (1934), das Musterbeispiel einer ausgewogenen Darstellung, die ohne Jargon und ohne Musils endlose Analysen auskommt.305 Eine kommentierte Übersetzung dieses Meisterwerks der Popularisierung, dessen einziger Mangel eine zu scharfe Periodisierung in der Art marxistischer Historiker ist, würde selbst heute ungarischen Schriftstellern Aufmerksamkeit im Ausland verschaffen. Weitgehend unbemerkt ist auch eine 25 Seiten umfassende Kurzversion seiner Darstellung geblieben, die Szerb während des Zweiten Weltkriegs im Kapitel »Literature« in A Companion to Hungarian Studies (1943) veröffentlichte.306 305 Antal Szerb, Magyar irodalomtörténet [Ungarische Literaturgeschichte, 1934], 3. Aufl. (Budapest  : Magvető Könyvkiadó, 1978). 306 Szerb, »Literature«, in A Companion to Hungarian Studies, The Hungarian Quarterly, (1943), S. 391  –   414. Der ehemalige Premierminister István Graf Bethlen hatte The Hungarian Quarterly 1936 in der Absicht ins Leben gerufen, die englischsprachige Welt mit ungarischer Kultur vertraut zu machen.



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Auch dieses Kapitel würde einen Nachdruck verdienen. Mit Selbstverständlichkeit in allen Epochen und Stilrichtungen zuhause, verbindet Szerb Luzidität, Grazie und Energie. Ein unersättlicher Leser von seiner frühesten Jugend an, zog er der Monografie die Form der Überblicksdarstellung vor, die sich bei ihm weniger durch streng durchgehaltene Beweisketten wie durch eine Fülle von Erkenntnissen auszeichnet. Mit der ihm eigenen Irenik suchte er kontroversielle Punkte zu glätten durch Schematisierungen der Art, wie auch der Literatursoziologe Oskar Benda sie pflegte  ; Szerb und Benda erscheinen als Musterbeispiele des Diskurses der Mäßigung, in dem Nemoianu ­einen wesentlichen Ausdruck der mitteleuropäischen Bildungsethik sieht. Überhaupt ist Szerbs scheinbar mühelos erworbene, umfassende Bildung eine der schönsten Früchte dieser Ethik. Ungeachtet der Tatsache, dass Szerbs Grundausrichtung auf englische und amerikanische Literaten ihm wenig Gelegenheit ließ, sich mit öster­reichischen Schriftstellern und Dichtern auseinanderzusetzen, scheint er in geradezu klassischer Weise die Tugenden des öster­reichischen Menschen zu verkörpern. Mit dem Takt eines Diplomaten mied er bei seiner Suche nach Konsens jegliche Polemik. Frei von Obsessionen und Monomanien ist er ein Antipode zu Sterns Anhängern des teuer Erkauften. Weder ein Leben, das sich durch den Genuss weniger privilegierter Augenblicke rechtfertigt, noch die Zeitgenossen, die diesem Ideal anhingen, konnten mit seiner Billigung rechnen. Statt deutschen Titanen wie Mann oder Hesse nachzueifern, sah Szerb in Aldous Huxley (1894  –  1963) das Musterbeispiel einer unkonventionellen, scheinbar leichtfüßigen, aber dennoch scharfsichtigen Intellektualität. Wie Huxley bekannte sich auch Szerb zu Anregungen und Einflüssen aus so vielen Richtungen, dass er für sich beanspruchen konnte, niemandes Gefolgsmann oder Sprachrohr zu sein. Sein im Vergleich zu Babits und Kosztolányi noch einmal deutlich erweiterter Horizont gibt ihm eine Art Brückenfunktion zwischen diesen frühen Nyugat-Mitarbeitern und solch eminent gebildeten Nachfahren wie György Mihály Vajda, Moritz Csáky und John Lukacs. Nicht einmal der Aufstieg der Nazi-Partei brachte den kosmopolitischen Szerb dazu, sich zum écrivain engagé zu wandeln. Noch 1942 war er voll des Lobes für das Venedig des 18. Jahrhunderts, da es seiner Meinung nach auf jede Art der Selbstüberforderung verzichtet hatte. Szerb stellte dem (zu) teuer Kaufenden den intellektuellen Flaneur zur Seite, der es verstand, die Dinge mit Witz und Humor zu würzen und sogar mit einer Dosis ungarischer Schrulligkeit, wie er besonders in seinem Budapest-Führer für Marsmenschen (1935) zeigt.307 1944 musste die Zeitschrift schließen, wurde aber 1960 als The New Hungarian Quarterly wieder belebt. 1993 wurde der ursprüngliche Name wieder eingeführt. 307 Antal Szerb, »Führer durch Budapest« [Kalauz Marslakók számára (1935)], in Aranka Ugrin

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Nie um le mot juste verlegen, bezeichnete Szerb seine antideutsche Haltung als »Neofrivolität«. Im Roman Reise im Mondlicht (1937), der Geschichte eines verzögerten Übertritts aus der Adoleszenz ins Erwachsenenleben während einer Reise in das von Szerb geliebte Italien, sagt er über sein Alter Ego  : »Pataki … nahm die wirtschaftlichen und finanziellen Belange nicht ernst  ; er verhielt sich zu ihnen wie der Arzt zu den Kranken. Er wusste, dass es auf diesem Gebiet so ist wie auf allen andern Gebieten, nämlich dass die Unbegabten oft viel weiter kommen als die Begabten, dass die Unkundigen sich besser bewähren als die Sachverständigen … Auch hier wird der Kampf um eine Fiktion geführt, so wie in der Wissenschaft, wo eine inexistente und gar nicht wirklich erwünschte Wahrheit gesucht wird. … Das ganze Aufhebens ist so unseriös wie alles andere auf der Welt«.308 Ein Manifest, das eine größere Distanz zum asymptotischen Streben im Sinn von J. P. Stern markiert, ist schwer denkbar. Auf die Ablehnung der Ideale, dieser »unbegründeten Fiktionen«, folgt die von der Ironie des Flaneurs getönte Beobachtung derer, die sich ihrer Verfolgung widmen. Für sich selbst zog er dem Meisterwerk zur Selbstrechtfertigung, wie es den rastlos Strebenden – Thomas Mann, Karl Kraus, Gustav Mahler – vorschwebte, das leichte Dahinplätschern der Neofrivolität vor, das der bedrohlichen Welt noch immer genügend Trotz bot. Mit Adys Mythenmacherei und dem Ringen mit seinem Gott oder mit Karl Kraus’ wütenden Attacken auf Sprachverhunzer hatte er wenig im Sinn. Wie viel vernünftiger war es doch, die Wonnen des intellektuellen Flanierens in den großen Werken der Vergangenheit und der Gegenwart auszukosten  ! Szerb quittierte mit tiefer Genugtuung, dass der Drang, etwas »Universelles, Schwieriges und Erlösung Verheißendes« zu schaffen, sich erschöpft hatte. Ein Bekenntnis zu Europa stellt eine mehr als ausreichende Replik auf die »unbegründeten Fiktionen« der nationalistischen Fanatiker dar. Es lohnt sich, zum Schluss noch einmal zurückzugehen, um einen kurzen Blick auf eine krasse Gegenposition zu Szerb zu werfen, da sich auch hier eine Moral verbirgt. Im letzten Kapitel sind wir dem kroatischen Utopisten Ljubomir Micić (1895  –  1971) begegnet, der 1921 – Szerb studierte gerade im zweiten Jahr Ungarische Philologie, Germanistik und Anglistik an der Budapester Universität – in seinem »Manifest des Zenitismus« die Notwendigkeit der Übersteigerung jeder bekannten und unbekannten Reformbewegung verkündete. Es wäre schwer, selbst und Kálmán Vargha (Hg.), Budapester Cocktail. Literatur, Kunst, Humor 1900  –  1935 (Budapest  : Corvina, 1988), S.  187  –  198. Siehe Géza Buzinkay, »Antal Szerb, the Inquisitive Martian and Budapest in the 1930s«, The Hungarian Quarterly (Winter 2005)  ; online unter  : hungarianquarterly. com/no180/4.html (zuletzt abgerufen 9. August 2012). 308 Antal Szerb, Reise im Mondlicht. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Mit einem Nachwort von Péter Esterházy (München  : Deutscher Taschenbuch Verlag, 2001), S. 233.



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unter den deutschen Expressionisten ein Gegenstück zu finden zu Micićs Dithyramben an die – in seiner Ausdrucksweise – erhabenste Manifestation des Geistes und der Seele, den »mystischen Halbgott a na rch«.309 Im Dämmerschatten des Art nouveau aufgewachsen, stattete der Kroate den Künstler mit kosmischen Kräften aus, die ihn seiner Ansicht nach befähigten, die »Wirklichkeit«, wie andere es nannten, zu erlösen. In ungewollter Parodie des Kults des Meisterwerks, welches das Leben seines Autors rechtfertigt, verkündete er  : »In das neue Leben wollen wir leidenschaftlich den barbarischen Geist des Zenitismus hineinbringen – in alle Bereiche des befreiten Geistes – in jeden Nerv des neuen künstlerischen Schaffens. … Vereinigen wir uns, um alle räudigen Künste zu vernichten  : im Namen des Zenitismus  ! … Denn der barbarische Zenitismus als Totalisator des neuen Lebens ist auch eure Wiege des künftigen großen Sieges.«310 Die schiere Energie dieses »barbarischen Genies« vom nördlichen Rand des Balkans schien der völligen Hingabe von Sterns sich selbst zu Höchstleistungen spornenden Deutschen gleich zu kommen, wenn sie nicht sogar zu übertreffen. Ady und vielleicht auch Babits hätten daran Gefallen gefunden, während Micićs »unbegründete Fiktionen« auf Kosztolányi und Szerb wohl eher abstoßend gewirkt hätten. Solche Gegensätze also loderten in den 1920ern auf in den Hauptstädten Budapest und Zagreb, zwischen denen nicht mehr als 300 Kilometer Luftlinie liegen. Nur wenige Jahre nach dem Ende der Doppelmonarchie hatten in diesen kulturellen Zentren des abgewickelten Königreichs Ungarn die Gemeinsamkeiten, deren Wiederentdeckung durch die mit dem kulturellen Ökosystem der Doppelmonarchie befassten Historiker so spannend werden sollte, bereits aufgehört, sich zu manifestieren. Im Handumdrehen mutierte Micićs angeblicher Zenit allerhöchster Werte in sein Gegenteil. Selbstüberforderung – darauf haben J. P. Stern und Hermann Hesse neben andern verwiesen – ist äquidistant zu Kreativität und zu Massenkriminalität.

309 Ljubomir Micić, »Manifest des Zenitismus« [1921], in Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909  –  1938) (Stuttgart / Weimar  : Verlag J. B. Metzler, 1995 / 2005), S. 253. 310 Ljubomir Micić, »Manifest an die Barbaren des Geistes und Denkens auf allen Kontinenten« [1925], in ebenda, S. 359.

Kapitel 9

Die Doppelmonarchie und Russland 9.1 Isaiah Berlin und die Kultur der Pluralität In der Forschung zu »Wien 1900« und »Budapest 1905« hat das Thema der Pluralität durchwegs eine wichtige Rolle gespielt. Die Zahl impliziter wie expliziter Vergleiche zwischen den beiden Hauptstädten und andern kulturellen Zentren im Westen, in Frankreich, Belgien, im Vereinigten Königreich und natürlich in Deutschland ist Legion. Paris, Brüssel, München und Berlin, Städte, die schon zur Zeit der Doppelmonarchie als Konkurrentinnen der beiden habsburgischen Metropolen gesehen wurden, dienen auch der Forschung als Referenzpunkte. Dasselbe gilt jedoch nicht für weiter östlich gelegene Städte wie Warschau und Sankt Petersburg und am wenigsten für Moskau. Gerade in letzter Zeit ist dieser Umstand mehrfach zur Sprache gebracht worden. Die Öster­reicher und Ungarn orientierten sich um 1900 entschieden nach Westen und vernachlässigten den Osten. Ob wir nun Hermann Bahr als Beispiel herausgreifen, der sich in seinem Band Russische Reise eher auf Kuriosa beschränkt,311 während er den Wienern in Die Moderne (1891) detailliert über seine in Paris verbrachten Jahre berichtete, oder die Mitarbeiter von Nyugat, für die kein Zweifel daran bestand, dass Ungarn Frankreich, Belgien, Italien und dem Vereinigten Königreich nacheifern müsse  : Die schöpferischen Geister der Doppelmonarchie schauten einmütig in den Westen. Mit wenigen Ausnahmen wie Tomáš Masaryk und Rainer Maria Rilke kehrten die Intellektuellen dem russischen Koloss, der erst 1849 eine Armee nach Ungarn entsandt hatte, den Rücken. Der Mangel an Studien zur Frage, wie die Kultur der Doppelmonarchie sich zu der des Zarenreiches verhielt, welche Ähnlichkeiten es gab und welche Unterschiede, hat einen blinden Fleck in unserem Bild des Habsburgerreiches zur Folge. Dabei fallen oberflächliche Ähnlichkeiten durchaus ins Auge. Wie das viel kleinere, kompaktere und besser regierte Habsburgerreich umfasste auch das Zarenreich eine Vielzahl von Ethnizitäten, Sprachen und regionalen Eigenarten, ja, es übertraf in jedem dieser Punkte das Habsburgerreich bei weitem, auch wenn selbst heute die Öster­reicher oder Ungarn dies nur ungern zugeben würden. Wie die Tschechen, Slowaken, galizischen Polen, Ungarn, Rumänen und Südslawen mussten auch die Russen sich ab 1750 sputen, um Anschluss an die deutsche, französische und eng311 Hermann Bahr, Russische Reise (Dresden  : E. Pierson, 1891).

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lische Hochkultur zu finden, soweit sie ihrer gewahr wurden. So waren in beiden Reichen die Eliten mit einem Prozess der Verwestlichung beschäftigt, der darin bestand, ausgewählte kulturelle Leistungen, die im Westen erbracht worden waren, in ihren Wirkungsbereich zu importieren. Darüber hinaus hatten das Zarenreich und das Reich der Habsburger (ebenso wie das Königreich Serbien und die Griechische Orthodoxie) vom späten byzantinischen Reich dasselbe heraldische Symbol, den Doppeladler, geerbt. Wir haben gesehen, welch wesentliche Rolle das Thema Pluralität für Maier, Nemoianu, Csáky und Vajda spielt. In diesem Kapitel gilt unser Augenmerk Isaiah Berlin und Martin Malia, zwei englischsprachigen Ideenhistorikern, die sich beide eingehend mit Russland beschäftigt haben. Ihre Einsichten in Bezug auf Pluralität und Europas kulturelles West-Ost-Gefälle stützen die Thesen der eben Genannten und erweitern sie in Richtung Osten. Sir Isaiah Berlin (1909  –  1997) hat wie kaum ein Zweiter lebenslang vor den Gefahren des Monismus gewarnt und dem Pluralismus das Wort geredet. Prägnant hat er den Unterschied in seiner berühmten Gegenüberstellung von Igeln und Füchsen ausgedrückt, für die er sich eines Fragments des griechischen Lyrikers Archilochos bedient  : »Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.« Igel beziehen für Berlin »alles auf eine einzige, zentrale Einsicht …, auf ein mehr oder weniger zusammenhängendes oder klar gegliedertes System, im Rahmen dessen sie verstehen, denken und fühlen – ein einziges, universales, gestaltendes Prinzip, das allein dem, was sie sind und sagen, Bedeutung verleiht«. Füchse hingegen verfolgen »viele, oft unzusammenhängende und sogar widersprüchliche Ziele …, die, wenn überhaupt, nur in einem faktischen Zusammenhang stehen … Diese Menschen leben, handeln und denken in einer Weise, die eher zentrifugal als zentripetal zu nennen ist«. (Igel sind für Berlin z. B. Plato, Dante, Pascal, Hegel, Dostojewski, Nietzsche, Proust »in unterschiedlichem Maße«  ; Füchse hingegen Herodot, Aristoteles, Montaigne, Erasmus von Rotterdam, Shakespeare, Molière, Goethe, Puschkin, Balzac und Joyce.)312 Für Berlin war es wie für Maier, Csáky und Vajda klar, welche Denkweise vorzuziehen war. Alle waren sich einig, dass ein unbefangenes Studium der Kulturgeschichte eine Position voraussetzt, die jenseits von Ideologie, Rechthaberei und metaphysischen idées fixes liegt. Ausdrücklicher als seine Gesinnungsgenossen wandte sich Berlin gegen die marxistische Ideologie als gefährliche Fortschreibung der Hegelschen Kompromisslosigkeit. In Isaiah Berlins Augen ist keine metaphysische Position, ob sie nun auf Fortschritt, Stasis oder Verfall abstellt, zu einer Erklä312 Sir Isaiah Berlin, Der Igel und der Fuchs  : Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis. Aus dem Englischen von Harry Maor (Frankfurt a. M.: Bibliothek Suhrkamp, 2009 [1981]), S. 7  –  8.



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rung des historischen Prozesses fähig. Keine einzelne Theorie oder Theoriengruppe und keine einzelne groß angelegte Hypothese oder Denkschule – lauter Produkte des Igel-Denkens – können je dieser Aufgabe genügen. Die Freiheit des Menschen macht geschichtliche Vorhersagen unmöglich. Die Handlungen, mit denen jede Generation diese Freiheit realisiert, schaffen für die nächste Generation eine neue Situation, in der sie diese Wahlfreiheit für sich beanspruchen wird. Groß angelegte Geschichtstheorien werden für ihre Anhänger zum Gefängnis. Berlin hat sich zwar nicht unmittelbar zur öster­reichischen oder ungarischen Kultur geäußert, seine Thesen erweisen sich aber auch in diesem Zusammenhang als fruchtbar. Mit dem ungarischen Dramatiker Imre Madách (1823  –  1864) zum Beispiel teilt er den skeptischen Blick auf die optimistischen Visionen der französischen Utopisten und Republikaner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beide zeigen sich ebenso wenig beeindruckt von den hochfliegenden Hoffnungen eines Charles Fourier oder eines Victor Hugo wie von den Visionen der Dekadenz, welche die von Robert B. Pynsent mit unvergleichlichem Brio analysierten Pessimisten plagten.313 Madáchs Tragödie des Menschen (1861, deutsch erstmals 1865 in der Übersetzung von Ludwig von Dóczi) gilt als Absage an die französischen »poèmes d’humanité«, die »Menschheitsgedichte« mit ihren hochfliegenden Visionen der Zukunft der Menschheit.314 Madách war überzeugt, dass zu unerbittlich verfochtene Glaubenssysteme – er dachte in erster Linie an Ideologen wie Calvin, die Wiedertäufer, Danton und Charles Fourier – nur zur Verfolgung Anderer und letztlich zur Selbstzerstörung führen  ; Isaiah Berlin hätte daran wenig auszusetzen gehabt. Auf den in Riga geborenen Isaiah Berlin übten russische Intellektuelle eine starke Anziehungskraft aus, während er, wie schon gesagt, für die Doppelmonarchie wenig Interesse bekundete. Als Stichwortgeber für eine Antwort auf die Frage, warum noch kein grundlegender Vergleich zwischen dem intellektuellen Leben in Russland und im Habsburgerreich nach 1800 gezogen worden ist, kommt Berlin 313 Robert B. Pynsent, »Conclusory Essay  : Decadence, Decay and Innovation«, in Pynsent (Hg.), Decadence and Innovation. Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century (London  : Weidenfeld and Nicolson, 1989), S. 111  –  248. 314 Vgl. die drei Artikel von Dieter P. Lotze, »Of Cockroaches and ›Civilizing‹ Hungary  : Imre Madách as an Aristophanic Satirist«, Neohelicon, 10  :1 (1973), S.  203  –  219  ; Lotze, »The ›Poèmes d’humanité‹ of Guernsey and Alsó-Sztregova  : Victor Hugo’s La légende des siècles and Imre Madách’s The Tragedy of Man«, Neohelicon, 5  :2 (1977), S. 71  –  81  ; und Lotze, »Madách’s Tragedy of Man and the Tradition of the ›Poème d’humanité‹ in European Literature«, Neohelicon¸ 6  :1 (1978), S. 235  –  245. Eine Freudsche Lesart bietet Géza Róheim, »Psychology and History, or ›The Tragedy of Man‹«, in Róheim, Psychoanalysis and Anthropology. Culture, Personality und the Unconscious (New York  : International Universities Press, 1950), S. 461  –  487. Insgesamt überzeugender ist Mihály Szegedy-Masák, »The Tragedy of Man  : A Reading«, in Imre Madách, The Tragedy of Man (New York  : Columbia University Press, 1989), S. 133  –  148.

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also nur bedingt in Frage. Allgemein lässt sich sagen, dass die Angst vor russischer Aggression im Europa des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig war. Die Russophobie war mitverantwortlich für den Krimkrieg (1853  –  1856), in dessen Folge schicksalshaft die mehr als ein halbes Jahrhundert währende antirevolutionäre Allianz zwischen Öster­reich und Russland beendet wurde.315 Seit Zar Nikolaus I. auf Franz Josephs Bitte hin Mitte 1849 durch seine militärische Intervention mitgeholfen hatte, Ungarns Sezession vom Habsburgerreich zu vereiteln, empfand die Mehrheit der Ungarn für die Russen nur Verachtung. Von Ausnahmen wie Mihály Babits mit seiner Geschichte der europäischen Literatur (1934  –  35) abgesehen, bestand in Ungarn kaum Interesse an der Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert, begreiflicherweise am allerwenigsten während der sowjetischen Herrschaft im Land zwischen 1945 und 1989. In Cisleithanien wieder herrschte die Angst, Russland könnte auf der Seite der Slawen im Reich eingreifen, nicht nur auf dem Balkan, wo diese Befürchtung sich 1914 ja bewahrheitete, sondern auch in Böhmen. Der Panslawismus stellte eine große Bedrohung des Habsburgerreiches dar und machte einen unparteiischen Blick auf Russland von Öster­reich oder von Ungarn aus unmöglich. Das Gespenst der Russophobie in der habsburgischen Geopolitik treibt nach wie vor seinen Spuk, dem sich auch die Historiker Habsburgs, und vor allem die Ungarn unter ihnen, nicht ganz entziehen können. Das ist vielleicht auch mit ein Grund, weshalb – soweit ich weiß – noch niemand einen Vergleich zwischen Endre Ady und Alexander Blok (1880  –  1921) angestellt hat, zwei symbolistischen Visionären des Untergangs  ; im Abstand von nur drei Jahren geboren, starben beide früh nach jahrzehntelangem Leiden an den Folgen der Syphilis. Oder zwischen Mihály Babits, der Ungarn nie verließ, und dem vielgereisten Wjatscheslaw Iwanowitsch Iwanow (1866  –  1949)  ; Robert Birds Beschreibung von Iwanow ist fast unverändert auf Babits übertragbar  : ein »Mann des Übergangs, eine prototypische Figur des Fin de Siècle, der das Heraufdämmern eines neuen Zeitalters ankündigt, indem er sich selbst in die ausgebleichten Roben der Vergangenheit hüllt. … Seiner Vitalität und seinem Einfluss zum Trotz bleibt [er] eine rätselhafte Chiffre am Horizont der europäischen Moderne«.316 Wie diese zwei Paare schwer fassbarer Dichter förmlich nach einem Vergleich und einer Analyse ­ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede verlangen, so auch St. Petersburg 1900 und Budapest 1905. Isaiah Berlin hätte gewusst, 315 Zur englischen Russophobie der 1830er und 1840er Jahre, die durch Differenzen mit Polen, Griechenland, dem Osmanischen Reich und Ungarn ausgelöst wurde, siehe Orlando Figes, Der Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter (Berlin  : Berlin Verlag, 2011), S. 111  –  164. Zur Intervention von Zar Nikolaus I. in Ungarn, zu der ihn auch seine Feindschaft gegenüber den Polen, die dort gegen Öster­reich kämpften, motivierte, siehe S. 159  –  162. 316 Robert Bird, The Russian Prospero. The Creative Universe of Viacheslav Ivanov (Madison WI/London  : University of Wisconsin Press, 2000), S. 3.



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wie dies anzustellen ist, hätte er sich nur überwinden können, sein Augenmerk auf Öster­reich und Ungarn zu richten. Mehr Glück haben wir mit der Frage, welche Russen eine Affinität zu öster­ reichischen oder ungarischen Werten aufweisen. Hier ist Isaiah Berlin in seinem Element. Die Figur, der er sich lebenslang am nächsten verwandt fühlte, war der russische Publizist Alexander Herzen (1812  –  1870), dessen Vater ein russischer Aristokrat und dessen Mutter Deutsche war. Herzen blieb Zeit seines Lebens liberalen humanistischen Werten treu und kämpfte für das Recht seiner Landsleute auf ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben. Seine frühe Auseinandersetzung mit Schelling und Feuerbach ließ in ihm die Einsicht in die entscheidende Rolle des Einzelnen als Träger der Werte reifen. Sein leidenschaftliches Eintreten für das Recht eines jeden Individuums auf lebenslängliche Entwicklung seiner Anlagen ohne obrigkeitlich verfügte Zwänge wurzelt letztlich in der Hinwendung des Biedermeier zur Bildung. Herzen wollte seine Landsleute genauso in den Genuss der mitteleuropäischen Bildungsethik kommen lassen, wie dies in Deutschland der Fall war. Für ihn waren es nicht »Ismen« oder Ideologien, die das Leben lebenswert machen, sondern die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten, weitab von jeder Überwachung. Herzen und Berlin hatten für den Polizeistaat nur Verachtung übrig.317 Welche Aspekte der Doppelmonarchie entsprachen also am ehesten dem Wesen Isaiah Berlins  ? Berlin hatte zwar keine Gelegenheit mehr, Virgil Nemoianus »mitteleuropäische Bildungsethik« zur Kenntnis zu nehmen, das ändert aber nichts daran, dass dieser Ansatz sich passgenau zu Berlins Eintreten für den Pluralismus fügt. Die Bildungsethik befähigte die Jugend der Mittelschicht aller mitteleuropäischen Ethnizitäten zu lebenslangem Wissenserwerb. In Russland freilich tickten die Uhren anders. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die meisten russischen Intellektuellen als Kinder und Jugendliche in der Obhut von meist französischen oder deutschen Hauslehrern und -lehrerinnen gewesen, eine Praxis, die das habsburgische Schulsystem spätestens ab den 1850ern endgültig obsolet gemacht hatte. Die weiterführenden Schulen der Doppelmonarchie, so lässt sich behaupten, verringerten die Wahrscheinlichkeit, dass junge Leute sich zu radikalen Intellektuellen russischen Typs entwickelten. Die öster­reichische und ungarische Schule bereitete auf sinnvolle Berufslaufbahnen vor  ; in Russland war dies nicht der Fall. Wenn man das als plausibel ansieht, dann ist der Umstand, dass das Habsburgerreich so wenige Nihilisten und Terroristen hervorbrachte, nicht nur auf das nach 1860 317 Roger Hausheer hat mit großer Eloquenz Berlins Widerwillen gegen Ideologen und seine Verwandtschaft mit Herzen dargelegt in seiner »Introduction« zu Berlin, Against the Current  : Essays in the History of Ideas (London  : Hogarth Press, 1979  ; Nachdruck London  : Pimlico Press, 1997), S. xiii-liii.

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offensichtliche Fehlen jeder Spur eines Polizeistaats – wenn man von der inkonsequent gehandhabten Zeitungszensur absieht – zurückzuführen, sondern auch auf den weit verbreiteten Zugang zu einem zeitgemäßen Erziehungswesen. Die Doppelmonarchie legte der Selbstentfaltung zumindest derjenigen Bürger nichts in den Weg, die damit einverstanden waren, in deutscher oder ungarischer Sprache unterrichtet zu werden, versprach doch nach 1867 das sprachliche Duopol diese Möglichkeit jedem, der sich mit einer der staatlich verordneten Sprachen abfinden konnte. Wir haben also zunächst das Paradoxon, dass die Doppelmonarchie, die ihren Liberalismus vor allem durch ihr Erziehungswesen manifestierte, diesen wieder beschnitt, indem sie die Wahl der Sprache, in der diese Erziehung stattfinden sollte, einschränkte. Erst nach 1880 ließ sich der Staat in Cisleithanien – und auch da nur teilweise – herbei, lokale Regelungen auszuverhandeln, welche die Gründung von slawischen Schulen möglich machten. Trotz der Verspätung, die für uns ja nichts Neues ist, wird man sagen können, dass diese Förderung der Pluralität in Isaiah Berlins Sinn war. Eine Frage bleibt noch zu Isaiah Berlin, bevor wir uns wieder allgemeinen Themen zuwenden. Hat ein öster­reichischer oder ungarischer Denker Berlins radikalen Pluralismus vorweggenommen  ? Vor 1938 gibt es keinen wirklich überzeugenden Kandidaten. Warum nicht Robert Musil  ? Zwar passt Musils amüsierte Skepsis in Bezug auf politische Ideologien gut zu Berlins Haltung, aber Berlin war alles, nur kein Satiriker. Die Gabe universeller Empathie, die er bewies, indem er sich in so gut wie jeden Denker und Schriftsteller einfühlen konnte, verträgt sich nicht mit Musils intellektualisiertem Witz und seinem Drang, Figuren satirisch zu zeichnen. Oder Rudolf Kassner  ? So sehr Kassner von der Überfülle menschlicher Typen in der Doppelmonarchie angetan war, blieb er doch Platoniker und passt als solcher nicht zu Berlins Ablehnung der Metaphysik als Orientierungsinstanz in der Lebensführung. Und als letzter von den Öster­reichern  : Hugo von Hofmannsthal  ? Er teilte mit Berlin die Gabe der universellen Empathie, versank aber nach 1914 in eine konservative Ideologie, die es ihm unmöglich machte, diese Empathie in gerechter und billiger Weise unter seinen Zeitgenossen zu verteilen. Und unter den Ungarn  ? Mihály Babits  ? Für ihn gilt, ähnlich wie für Hofmannsthal, dass ihm nach dem Ersten Weltkrieg allmählich der Mut zum Weiterkämpfen abhanden kam. Das Wissen, mit dem er die gesamte westliche Literatur der Vergangenheit überblickte, war größer und breiter gefächert als bei Berlin, aber er verlor das Interesse an politischen Ideologien und hielt sich in ihrer Beurteilung immer mehr zurück. Er blieb ganz homme de lettres und weigerte sich, den Schritt zum politischen Denker zu vollziehen. Und Antal Szerb  ? Ähnlich wie Babits stand Szerb eine enzyklopädische Reichweite zu Gebote, mit der Berlin nicht hätte konkurrieren können, aber der Rückzug des Ungarn in die Neofrivolität machte den Unter-



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schied zum großen englischen Polemiker unüberbrückbar. Berlin schrieb elektrisierende Essays, kann aber nicht als bloßer Essayist eingestuft werden. Antal Szerb beschränkte sich wiederum auf Belletristik, was auf Isaiah Berlin nicht zutrifft. Was geschieht, nach so vielen Fehlanzeigen, wenn man die Frage umdreht  ? Wenn kein Öster­reicher oder Ungar genau zu Isaiah Berlins intellektuellem Profil passt, kann man dann nicht fragen, ob er selbst Haltungen verkörperte, die wir als typisch für die Doppelmonarchie kennengelernt haben  ? Die Antwort ist einigermaßen verblüffend  : Was Isaiah Berlin letztlich ausmachte, war seine universelle Empathie, die extrem verschiedenen intellektuellen Positionen galt, einschließlich solcher, die jeder Plausibilität entbehrten oder sogar abstoßend waren. Aber ist nicht gerade diese universelle Empathie die Tugend, die Hofmannsthal und andere Öster­reich-Apologeten in der Zwischenkriegszeit dem öster­reichischen Menschen, diesem hervorragenden Vermittler, bescheinigten  ? Der anglo-russische Philosoph verkörperte diese Tugend in höchstem Grad und mit gleichbleibender Intensität. Im Lauf seines langen Lebens verlieh er völlig konträren Denkweisen in jeweils plausibler Form Ausdruck, der Denkweise von Reaktionären, Konservativen, Kompromisslern, Liberalen, Radikalen und Utopisten. Dabei suchte er immer ihre Motive, ihre Logik und ihren Einfluss zu verstehen, ohne sich deshalb auf ihre Seite zu stellen. Als Ideenhistoriker funktionierte Isaiah Berlin als europäischer Mensch, der zwischen allen denkbaren Positionen vermittelt, einiges billigt, vieles verwirft und alles versteht. Indem Berlin mit seiner pluralistischen Agenda die Tugenden verkörpert, die Hassinger und Benda den fähigsten k.u.k. Beamten zusprachen, verortet er diese Tugenden nicht nur mit eindrucksvoller Rhetorik in ganz neuen Bereichen des Denkens, sondern führt sie auch als Vorbilder und Grundmuster in die ideengeschichtliche Praxis ein. Neidlose Großzügigkeit und einfühlsamer Scharf blick kennzeichnen sämtliche seiner Äußerungen und zeigen, dass er seine Wertschätzung des Pluralismus auch tatsächlich gelebt hat. Außerdem – damit kehren wir zu dem eingangs angesprochenen Thema zurück – wendet er die dem öster­reichischen Menschen attestierte Fähigkeit, das Fremde, Widerständige zu verstehen, auf den Teil Europas an, der sich seit jeher dem öster­reichischen Verständnis entzogen hat – auf Russland und das russische Denken. Damit hat er eine Grundlage für einen eingehenden Vergleich zwischen der Kultur der Doppelmonarchie und der russischen Kultur geschaffen, den es noch zu realisieren gilt. Sympathie für die russische Tradition ist aus verständlichen Gründen nicht Teil der Pluralität, die Moritz Csáky und andere der Doppelmonarchie attestiert haben. Mit Isaiah Berlins Hilfe können zukünftige Gelehrte dieses Manko überbrücken und zwischen den beiden Traditionen Kontakt herstellen, was schon lange überfällig ist. So wünschenswert dies erscheint – es wird nicht heute oder morgen passieren. Schon hier und jetzt aber können einige Prämissen für diese erhoffte russisch-öster­

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reichisch-ungarische kulturelle Konstellation skizziert werden. Weder Öster­reich noch Ungarn haben Schriftsteller vom Rang der großen Russen – Puschkin, Turgenew, Tolstoi, Dostojewski, Tschechow – hervorgebracht. Die großen Russen bestechen durch die Menschlichkeit ihrer Figuren und ihre groß angelegten Plots und werden dafür von ihren Lesern auf ganz eigene Weise geschätzt und geliebt. Tschechow zum Beispiel ist zweifellos einer der meist gelesenen europäischen Autoren aller Zeiten und seine Attraktivität kennt keine durch Zugehörigkeit zu einer Klasse, Kaste, Nation oder Geschmacksrichtung provozierten Grenzen. Der Umstand, dass es dem Habsburgerreich an derart anerkannten Prosaschriftstellern fehlt, ist ein ernsthaftes Handicap für jeden, der die Werbetrommel für die Kultur Habsburgs rühren will. Mit Ausnahme von Franz Kafka kommt kein habsburgischer Autor auch nur in die Nähe einer derart – im buchstäblichen Sinn – grenzenlosen Attraktivität. Manche der großen Öster­reicher des 20. Jahrhunderts – Musil, Broch, Doderer, Canetti – sind für ein weltweites Publikum zu analytisch, zu ironisch und zu streitlustig, während andere, wie Saar, Zweig, Werfel und Roth, durch ihr Übermaß an Nostalgie und Pathos eine mehrfache Lektüre unwahrscheinlich machen. Und die Ungarn  ? Móricz, Kosztolányi und Márai lassen durch ihre Trockenheit, Distanziertheit und durch ihr starkes Lokalkolorit bei Leserinnen und Lesern außerhalb Ungarns keine rechte Liebe aufkommen. Wie in der Vergangenheit müssen sich ungarische Romanschreiber – mit wenigen Ausnahmen wie Péter Esterházy – selbst heute damit abfinden, dass sie hauptsächlich von ihren Landsleuten gemocht werden. Der Begriff ›Intelligentsia‹ entstand bekanntlich im Russland des 19. Jahrhunderts, um eine Gruppe kritischer, gegen die repressive zaristische Autokratie protestierender Beobachter zu bezeichnen. Russische Publizisten der Art, die wir heute im Englischen als ›public intellectuals‹ bezeichnen, wurden aktiv als Widersacher der zaristischen Unterdrückung, zunächst sporadisch in den letzten Jahren von Alexander I. (1801  –  1825) und dann regelmäßig während der Regierung des autokratischen Nikolaus I. (1825  –  1855). Selbst in den schlimmsten Phasen der Unterdrückung von »Revoluzzern« in Öster­reich unter Kaiser Franz I. zwischen 1815 und 1835 und dann wieder in den ersten Jahren der Regierung von Franz Joseph zeigte das Habsburgerreich nicht annähernd dieselbe Härte wie der Polizeistaat von Nikolaus I. Obwohl Kaiser Franz I. die italienischen Carbonari mit offenbarer Genugtuung in der Brünner Spielbergfestung in Isolationshaft hielt, gab es in Öster­ reich keine Entsprechung zu der in Russland routinemäßig verhängten Verbannung nach Sibirien oder zumindest in weit von Moskau entfernte Gebiete. Die Habsburger und ihre Beamten, darunter zweifellos auch Vertreter des öster­reichischen Menschen, empfanden nicht das Bedürfnis oder den Zwang, Untertanen derart zu demütigen, und diese relative Milde trug zweifellos dazu bei, rebellischen Intel-



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lektuellen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die von den Russen so genannte »wunderbare Dekade« der 1840er, in der politisch aktive Schriftsteller die Szene in St. Petersburg aufmischten, hatte kein wie immer geartetes Gegenstück in Öster­ reichs Literaturen. Auch die etwa gleichzeitige Phase des nationalen Erwachens in Ungarn, die von Széchenyi, Kossuth, Petőfi und Eötvös angeführt wurde, lässt sich nicht mit dem intellektuellen Tiefgang von Gogol, Belinski, Herzen und zahlreichen andern vergleichen. Die Russen hatten viel tiefer aus dem Born der deutschen Philosophie der Romantik getrunken als je ein Ungar vor Georg Lukács. Trotzdem wäre es der Mühe wert, einen Vergleich zwischen Russland und Ungarn in den zwei Jahrzehnten vor 1848 anzustellen, der allerdings den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Er würde möglicherweise zeigen, wie viel die ungarischen Insurgenten über die Rolle des Intellektuellen als Rebell in einem stagnierenden Land hätten lernen können, hätten sie die Mühe auf sich genommen, Russisch zu lernen und St. Petersburg in den 1840ern oder später einen Besuch abzustatten. Sowohl in Russland wie in Ungarn gab es »Westler«, an deren Bewunderung für Frankreich, England und Deutschland sich Debatten mit traditionalistischen Fürsprechern der Bauernkultur entzündeten. Auf konservativer Seite bestand eine Verwandtschaft zwischen den Slawophilen in Russland und den ungarischen Populisten. Beide Bewegungen redeten dem kulturellen Isolationismus das Wort und verstiegen sich zu gewagten Hypothesen. Ein Beispiel ist die Bewegung des rassistischen Pan-Turanismus, der eine Verbindung zwischen den Magyaren und andern nicht-arischen oder ural-altaischen Völkern postulierte. Die Urheimat dieser Völker habe in dem hypothetischen Turan im altpersischen Reich gelegen. Diese Gedanken wurden 1853 erstmals von Max Müller, einem englischen Linguisten deutscher Herkunft, vorgetragen und von ihm bald darauf wieder verworfen. Nach 1900 ging Ede Somogyi so weit, Ungarisch mit einer andern »isolierten Sprache«, Sumerisch, in Verbindung zu bringen.318 Was die verschiedenen Pan-Bewegungen immer bravourös beherrscht haben, ist die Entdeckung angeblicher Berührungspunkte. Die russische Invasion Ungarns Mitte 1849 machte jede Hoffnung auf eine ungarisch-russische Zusammenarbeit zunichte. Dass den ungarischen Intellektuellen auf diese Weise die Sicht nach Osten verstellt wurde, schnitt sie von russischen aktivistischen Kritikern wie Wissarion Belinski (1811  –  1848), Apollon Grigorjew (1822  –  1864) und Nikolai Dobroljubow (1836  –  1861) ab, die sich vorrangig damit befassten, wie Literatur die Gesellschaft abbildet und transformiert. Wären deren 318 Peter Sherwood, »›A nation may be said to live in its language‹  : Some Socio-historical Perspectives on Attitudes to Hungarian«, in Robert B. Pynsent (Hg.), The Literature of Nationalism. Essays on East European Identity (London  : Macmillan, 1996), S. 27  –  39, insbes. 32  –  34. Ida Bobula (1900  –   1980) erörtert die sumerische Hypothese in Origin of the Hungarian Nation (Gainesville FL  : Danubian Research and Information Center, 1966).

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Einsichten zur Kenntnis der Ungarn gelangt, dann hätte dies vermutlich die Analyse des Einflusses von Ungarns hommes de lettres auf die Gesellschaft des Landes beschleunigt. Zusätzlich hätte wohl der Einfluss der russischen Intellektuellen dazu beigetragen, das in Ungarn verbreitete Gefühl der eigenen Einzigartigkeit etwas zu dämpfen. Die Abschottung ließ nur mehr einen schwachen Bezug zur russischen Literatur zu. Ein Beispiel dafür ist der Dichter und Schopenhaueranhänger Gyula Reviczky (1855  –  1889). Unter seinen »Epitaphen« findet sich eine Klage, welche die Vernachlässigung des Grabes des kurz davor (1883) verstorbenen Turgenew auf dem Wolkowo-Friedhof in St. Petersburg zum Thema hat.319 Das Eintreten für Kommunen des kropotkinschen Anarchisten Jenö Henrik Schmitt (1851  –  1916), der mit Tolstoi in brieflichem Austausch stand,320 gehört ebenso auf dieses Blatt wie die kurzlebige Anteilnahme an der Russischen Revolution von 1905, die Endre Ady während eines Paris-Besuchs empfand.321 Einen Sommer in den ungarisch-russischen Beziehungen machten diese wenigen Schwalben nicht. Zu den Öster­reichern, die sich Russland zuwandten, gehörte neben Rudolf Kassner, dem Übersetzer von Werken von Gogol, Tolstoi, Dostojewski und Puschkin, vor allem der junge Rilke, dessen Russisch so gut war, dass er russische Lyrik nicht nur übersetzte, sondern selbst schrieb. Aber selbst bei Rilke reichte die Liebe zu Russland nur zu zwei – allerdings prägenden – Besuchen in den Jahren 1899 und 1900, die er in Gesellschaft Lou Andreas-Salomés unternahm. Der Dichter, so Anna A. Tavis, »hatte sich auf eine Fin de Siècle-Suche nach Wurzeln eingelassen  : den Wurzeln der Kunst, den Wurzeln Russlands und seinen eigenen Wurzeln«.322 In den folgenden fünfundzwanzig Jahren der Wanderschaft von Schweden nach Sizilien und von Böhmen bis Portugal und Ägypten fand Rilke keinen Anlass mehr, Russland noch einmal zu besuchen, obwohl Russlands vormoderne Kultur und be319 Gyula Reviczky, »A Volkov-temető« und »Turgenjev«, in Epitafiumok, online unter http://mek. oszk.hu/01000/01058/01058. Der Dichter mag dabei den Unterschied zwischen dem vernachlässigten Wolkowo-Friedhof in St. Petersburg, gegründet 1773, und dem prächtigen Kerepesi Friedhof, der 1847 in Budapest eröffnet worden war, vor Augen gehabt haben. 320 Siehe András Bozöki und Miklós Sükösd, Anarchism in Hungary. Theory, History, Legacies (Boulder CO  : East European Monographs, 2006). 321 Siehe László Bóka, »Endre Ady and the Present«, New Hungarian Quarterly, 3  :1 (1962), S. 83  –  108, bes. 92  –  93 und George F. Cushing, »Endre Ady as Journalist« [1977], in Cushing, The Passionate Outsider. Studies on Hungarian Literature (Budapest  : Corvina, 2000), S. 191  –  207, 203. 322 Anna A. Tavis, Rilke’s Russia. A Cultural Encounter (Evanston IL  : Northwestern University Press, 1994), S. xiv. Tavis zeichnet sich durch ihre subtilen Lesarten der Gedichte aus. Siehe auch Konstantin Asadowski (Hg.), Rilke und Russland. Briefe, Erinnerungen, Gedichte (Frankfurt a. M.: Insel, 1986) [enthält 170 Briefe von und an Rilke und seine russischen »Bauerngedichte« aus den Jahren 1900  –  1901  ; der Kommentar des Herausgebers ist übersetzt aus dem Russischen] und Daria A. Reshetylo-Rothe, Rilke and Russia. A Re-Evaluation (New York  : Peter Lang, 1990).



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sonders die Religiosität für ihn Quellen der Inspiration blieben. Zwei Treffen mit Leo Tolstoi veranlassten Rilke, den Versuch des Russen, Kunst durch Religion zu ersetzen, für sich aufs entschiedenste zu verwerfen. Der russisch-orthodoxe Ikonenmaler, den der junge Dichter in seinem Stundenbuch (1899  –  1905) einführt, fand gelegentlich Nachfolger in Rilkes Œuvre. Während seines achtmonatigen ParisAufenthalts im Jahr 1925 bewegte sich der mittlerweile kranke Dichter vor allem in russischen Emigrantenkreisen. Seine letzte intensiv gepflegte Brieffreundschaft galt der russischen Dichterin Marina Zwetajewa (1892  –  1941), die, dreisprachig wie er selbst, ihn als »deutschen Orpheus« apostrophierte, als »eine Naturerscheinung, … das verkörperte fünfte Element  : die Dichtung selbst«.323 Dass es dem Dichter nicht mehr gegönnt war, die in einem Brief an Zwetajewa erwähnte Absicht, seine Erinnerungen an Russland niederzuschreiben, zu verwirklichen, ist ein großer Verlust für uns. Welchen Einfluss hatten seine Eindrücke vom Leben vor 1917 in Russland auf sein Lebenswerk  ? Wie verhielten sich diese Eindrücke zu den Erinnerungen, die ihm von seiner Prager Kindheit geblieben waren  ? Wir können nur Vermutungen anstellen. Bei öster­reichischen Prosaautoren genoss vor allem Turgenew ein gewisses Prestige und beeinflusste nachweislich Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar. Das ändert nichts daran, dass niemand auf die Idee kam, Belinskys Behauptung, Literatur habe die Fähigkeit, ein in seiner Entwicklung stagnierendes Land zu verjüngen, auf die Doppelmonarchie anzuwenden. Während selbst Hofmannsthal mit seiner Gabe des universalen Verstehens sich wenig für die Russen interessierte,324 finden wir neben Kassner und Rilke in Sigmund Freud eine weitere Ausnahme zur allgemeinen Regel. Freuds Mutter Amalie Nathanson (1835  –  1930) wurde in Brody knapp diesseits der russischen Grenze geboren und blieb zeit ihres langen Lebens mit Verwandten in Russland in Kontakt. Zu Freuds engerem Kreis gehörten Max Eitingon und die von Freud als »Muse und sorgsame Mutter« Rilkes apostrophierte, unklassifizierbare Lou Andreas-Salomé  ; beide stammten aus Russland.325 Im Allgemeinen wird man aber Friedrich Heer zustimmen müssen, dass die viel gerühmte Rezeptivität des öster­reichischen Menschen Russland ihren blinden Fleck zukehrte.326 Dass die Doppelmonarchie der Pluralität als einem Wert an sich verpflichtet war, wie Csáky betont, mag für den 323 Ihr erster Brief vom 9. Mai 1926 in Rainer Maria Rilk und Marina Zwetajeva. Ein Gespräch in Briefen, Konstantin M. Asadowski (Hg.) (Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1992), S. 46  –  47. 324 Differenzierter dazu  : Nino Nodia, Das Fremde und das Eigene. Hugo von Hofmannsthal und die russische Kultur (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1999). 325 Siehe James L. Rice, Freud’s Russia. National Identity in the Evolution of Psychoanalysis (New Brunswick NJ / London  : Transaction Publishers, 1993) [mit Fokus auf Dostojewski]. 326 Friedrich Heer, Europa Mutter der Revolutionen (Stuttgart  : Kohlhammer, 1964), S. 730  –  831.

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Westen, für Frankreich und England, es mag für den Norden und für den Süden, für Skandinavien, für Italien und das barocke Spanien Geltung haben  ; für Russland gilt es nicht.

9.2 Martin Malias Modell eines West-Ost Kulturgefälles Martin Malia (1924  –  2004), wohl einer der bedeutendsten amerikanischen Ideenhistoriker Russlands, schrieb gleich zu Beginn seiner Karriere eine Biografie von Alexander Herzen, dem Geistesverwandten und Vorbild Isaiah Berlins und wandte dann den Großteil seines langen Lebens für sein Opus magnum auf, das der Sicht des Westens auf Russland gewidmet ist.327 In diesem Werk entwickelt Malia den Gedanken des kulturellen West-Ost Gefälles, der, wie zu erwarten, auch ein interessantes Licht auf die öster­reichische und ungarische Haltung zu Russland und dem Balkan wirft. Zunächst legt Malia ein Schema dar, das – ähnlich dem von Nemoianu vorgetragenen – die Romantik in vier Phasen einteilt. Da ist zunächst die Vor- oder Frühromantik von Rousseau und von Herders Sturm und Drang. Es folgt die »Hochromantik« des Jenaer Kreises der Brüder Schlegel um 1800. Malia setzt dann eine dritte Phase in den 1820ern an. Diese stand in Frankreich unter dem Zeichen des »Romantischen Liberalismus« und bei den verschiedenen Ethnizitäten im Habsburgerreich unter dem eines von Herder inspirierten kulturellen Nationalismus. Malias dritte Phase ist, wie man sieht, weitgehend deckungsgleich mit Nemoianus Biedermeier, der Epoche der »gezähmten Romantik«, die in Deutschland und in Öster­ reich von etwa 1815, dem Beginn der auf dem Wiener Kongress ausgehandelten europäischen Ordnung, bis zum Revolutionsjahr 1848 dauerte. In den Schulsystemen dieser beiden Länder – so Nemoianu – schlugen sich die Biedermeier-Werte der »soziokulturellen Mäßigung« in Form der mitteleuropäischen Bildungsethik nieder, einer kulturellen Praxis, deren Nachwirkungen Nemoianu – und in ganz ähnlicher Weise Allan Bloom in The Closing of the American Mind (1987) – bei den von den Nazis vertriebenen deutschen, öster­reichischen und ungarischen Emigranten nachspüren, die nach 1933 in Nordamerika Zuflucht suchten und fanden.328 Im Unterschied zu Nemoianu sieht Malia in Hegels politisch-kultureller Synthese eine vierte, abschließende Phase der Romantik, die allerdings ebenfalls Biedermeier-Werte 327 Martin Malia, Russia under Western Eyes. From the Bronze Horseman to the Lenin Mausoleum (Cam­­bridge MA / London  : Harvard University Press, 1999). 328 Wie das Beispiel von Peter Drucker (1909  –  2005) zeigt, lässt sich dieses Phänomen bis in die 1990er Jahre nachweisen.



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inkorporiert. Hegels »Geist« als ein die Welt transformierender Dämon lässt die mitteleuropäische Bildungsethik geradezu als Teil des Prozesses der Weltgeschichte erscheinen. Für Hegel ist diese Ethik die treibende Kraft, die innerhalb der Kulturgeschichte Europas zu einer immer intensiveren Fusion zwischen der aufklärerischen Aufmerksamkeit für Daten und der romantischen Erforschung der Psyche drängt. So stellt Malias vierter konzentrischer Kreis auch seine eigene Synthese der vier Phasen dar, als eine Art Mikrokosmos von Hegels noch großartigerer Vision. Die chronologische Erzählung dehnt sich in den vier Kreisen immer weiter nach Osten aus  : Sie führt von der Frühromantik Rousseaus in Frankreich zu Herder, Goethe und den Brüdern Schlegel in Deutschland und zu Petőfi in Ungarn und zu Puschkin in Russland. Malia beschreibt ein von Westen nach Osten und zugleich chronologisch verlaufendes Kulturgefälle. Je weiter man sich auf der Achse nach Osten bewegt, desto weniger geht es um kulturelle Vertiefung, immer mehr um kulturelle Ausdünnung. Obwohl beide Synthesen eine Korrelation zwischen chronologischer Entfaltung und geografischer Expansion herstellen, führen sie zu sehr verschiedenen Schlussfolgerungen. Der Gedanke eines West-Ost-Kulturgefälles hat seinen Ursprung in Deutschland. Eine seiner umfassendsten Darstellungen stellt Die drei historischen Regionen Europas (1983) dar, das Hauptwerk des ungarischen Mediävisten Jenö Szűcs (1928  –  1988).329 Während es für uns hier nicht darum gehen kann, Szűcs’ Thesen zu bewerten, sollen sie uns dazu dienen, die Stärken und Schwächen der Hypothese eines europäischen Kulturgefälles aufzuzeigen. Szűcs teilt den mittelalterlichen Feudalismus in drei Gebiete ein, in ein westliches, auf Frankreich zentriertes, ein zentrales, das sich hauptsächlich auf Deutschland, und ein östliches, das sich auf Ungarn beschränkt. Die Demarkationslinie zwischen Westen und Osten verläuft dabei entlang der Ostgrenze des Karolingischen Reichs im Marchfeld östlich von Wien. Szűcs’ dreigliedrige Einteilung des historischen Europa hat für heftige Debatten gesorgt und Material für Definitionen und Gegendefinitionen von »Mitteleuropa« und »Osteuropa« geliefert. Es ist unvermeidlich, dass jede derart großflächige Bestimmung Details auf allen nur möglichen Ebenen auf den Plan ruft, die ihr widersprechen. Malia wollte mit der Konstruktion seiner Version des West-Ost Kulturgefälles vor allem einen Rahmen gewinnen, in den er den Wandel in den Haltungen einordnen konnte, die Westeuropa zum russischen Reich einnahm. Für ihn war ent329 Jenö Szűcs, Die drei historischen Regionen Europas [1983] (Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik, 1990). Siehe Erich Landsteiner, »Europas innere Grenzen  : Reflexionen zu Jenö Szűcs’ ›Skizze‹ der regionalen Dreigliederung Europas«, Öster­reichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 4  :1 (1993), S. 8  –  43. Szűcs’ Buch ist mindestens zum Teil eine Antwort auf István Bibós wegweisenden Essay aus dem Jahr 1947. Siehe Anm. 80, Kapitel 3.

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scheidend, dass Russland von etwa 1600 an am unteren Ende eines postulierten kulturellen Gefälles stand, das von seiner Spitze in England und Frankreich durch ­Deutschland, Öster­reich, Ungarn und Polen verlief und in Russland endete. Malia hatte von deutschen Historikern der Zeit nach 1945 den Begriff des deutschen Sonderwegs übernommen und adaptierte ihn dahingehend, dass das Kulturgefälle nicht nur den Sonderweg für das in der Mitte gelegene Deutschland einschließt, sondern auch e­ inen weiter nach Osten reichenden für die Ethnizitäten, die durch den romantischen Natio­nalismus der 1820er und 30er Jahre erweckt worden waren. Für ihn dient das Kulturgefälle nicht mehr wie bei Szűcs einer Makroanalyse sozialer Institutionen in Großregionen  ; es wird zu einem Schema für die Klassifizierung kultureller Phänomene, die auf einer über die ganze Breite von Mittel- und Osteuropa verlaufenden schiefen Ebene verortet sind. Dem Konzept nach eine Schablone zur Bewertung der Pluralitäten, die von Csáky und andern zusammengetragen worden sind, setzt der Gedanke des Kulturgefälles voraus, dass die Nationen im Westen die Rolle von Mentoren für die sich entwickelnden Nationen im Osten übernahmen. Es liegt in der Natur der Dinge, dass ein Begriff wie ›Kulturgefälle‹ ein einigermaßen grobes Werkzeug ist, das auf der Makroebene noch am besten funktioniert  : Selbst dort muss es aber für krasse Ausnahmen Platz lassen. Malia zeigt, wie Guizot (1787  –  1874), Michelet (1798  –  1874) und andere westliche Historiker an der Verfestigung des Standpunkts arbeiteten, dass die Kultur umso mehr an Dichte und Aktualität verliert, je weiter man sich von Paris über Berlin oder Wien nach Warschau und Budapest und weiter nach Russland bewegt. Für Malia – wie übrigens auch für Norbert Elias – wird die grundsätzliche Differenz zwischen Frankreich und Deutschland in der deutschen Unterscheidung zwischen ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ fassbar. Im Gefolge Herders konstruierten die deutschen Romantiker, was die Franzosen unter ›civilisation‹ verstehen, nicht als ein Ensemble übertragbarer Praktiken, das sich zum Export anbietet, wie am Beispiel Napoleons ablesbar ist, sondern als eine »Vielfalt partikulärer nationaler Kulturen«, die je nach Zeit und Ort verschiedene Gestalten annehmen. Die deutsche Nation, so Malia, »umfasste bis 1866 die preußische und die öster­reichische Monarchie, war aber noch kein auf Staatsbürgern aufbauendes Gemeinwesen. So hat sich ›Kultur‹ von ihrer früheren Bedeutung [wie bei Goethe, Anm. d. A.] im Sinn des spezifischen Innenlebens ­eines einzelnen Menschen weiterentwickelt zu einem die kollektiven Eigenarten des jeweiligen Volkes, der jeweiligen Nation – und hier vor allem die Eigenarten der deutschen Nation – bezeichnenden Begriff. Dies stellte die Antwort Deutschlands, als es allmählich Form annahm, auf den von Frankreich und England vorgetragenen Anspruch dar, die Normen ihrer ›Zivilisation‹ hätten den kulturellen Horizont der Menschheit ein für allemal festgelegt. ›Kultur‹ war mit einem Wort identisch



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mit der Selbstdefinition, die das romantische und idealistische Deutschland für sich fand«.330 In dieser Sicht wird durch Csákys Auflistung der Pluralitäten in der Kultur der Doppelmonarchie die romantische Selbstdefinition von Deutschland als eine ›Kultur‹ auf das ganze Habsburgerreich ausgeweitet. Das Reich wird zu einer Ansammlung von koexistierenden ethnischen Kulturen, die, wie Herder es vorausgesehen hatte, einmal zusammenarbeiten und ein andermal in Konkurrenz stehen, wobei der letztere Fall zusehends die Oberhand gewann. Die Bohemistische Bewegung der Jahrzehnte zwischen etwa 1820 und 1850, in der Öster­reicher und Tschechen ihre jeweilige Nationalität abzustreifen suchten, wollte diese Tendenz still legen, indem sie rivalisierende Ethnizitäten zu regionalen Verbündeten erklärte. Allerdings fiel all dies, wie der bereits erwähnte Historiker Anton Gindely zu seinem Leidwesen erfahren musste, nur allzu bald wieder in Stücke. Malias Interesse gilt weit eher Deutschland als dem Habsburgerreich, und Ungarn oder Galizien finden bei ihm kaum Erwähnung. Das steht jedoch der Anwendung des Gedankens des Kulturgefälles auf die West-Ost-Achse des Habsburgerreiches nicht im Wege und führt in der Tat zu interessanten Schlussfolgerungen. Zweifellos war das Tempo der Industrialisierung in den Regionen Böhmens in unmittelbarer Nähe zu Deutschland weit höher als etwa im Bergland Siebenbürgens. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Westböhmen und den Hochkarpaten im heutigen Zentralrumänien war enorm. Oder, um Ungarn als Beispiel zu nehmen  : Die westliche Hälfte von Dunántul oder Transdanubien, das Gebiet westlich der Donau, stand nie unter türkischer Besatzung. Es blieb deshalb dicht besiedelt und wies weit mehr Städte auf als die von den Osmanen verwüstete Puszta östlich von Budapest. Eine Folge war, dass der Adel in diesen westlichen Gebieten sich stärker mit der habsburgischen Hegemonialmacht identifizierte als die weiter östliche gelegenen Distrikte, in denen es eine starke antihabsburgische, kuruzische Stimmung besonders unter den Calvinisten in und um ihre Hauptstadt Debrecen gab. Das Kernland magyarischer Selbstbehauptung lag östlich von Budapest. Aber selbst innerhalb von Ungarn zeigen sich Abweichungen. Die zwei transnationalen Ethnizitäten, die Deutschen und die Juden, förderten eine gewisse kosmopolitische Entwicklung selbst im Bergland Oberungarns (jetzt Slowakei) und im abgelegenen Siebenbürgen. Von Deutschen besiedelte Städte wie Sándor Márais in der jetzigen Slowakei gelegener Geburtsort Kaschau (Košice, Kassa) oder Klausenburg (Cluj, Kolozsvár), die Hauptstadt von Siebenbürgen, erlebten eine kulturelle Blüte, wie wir sie mit anderen marginozentrischen Orten mit jahrhundertelanger Interaktion mehrerer Ethnizitäten verbinden.331 Das Phänomen marginozentrischer Regionen – wie 330 Malia, Russia, S. 104. 331 Zu deutschen (»sächsischen«) Enklaven in Siebenbürgen siehe Katherine Verdery, »Internal Co-

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das Zipser Land in Oberungarn (jetzt Spiš in der Zentralslowakei) oder das Banat – widerspricht dem simplen Schema einer fortschreitenden kulturellen Ausdünnung, je weiter man sich nach Osten bewegt. Noch spektakulärer durchkreuzt die kulturelle Blüte von Czernowitz, der östlichsten Stadt des Habsburgerreiches, jede mechanische Anwendung des postulierten Kulturgefälles. Als kultureller Dynamo im äußersten Osten Cisleithaniens konnte Czernowitz ganz leicht mit Brünn, Bratislava oder dem im äußersten Westen gelegenen Innsbruck oder Bregenz mithalten. Malias Schema macht deutlich, dass die Doppelmonarchie im Gegensatz zu ihren Nachbarn sich in erster Linie durch ihre Vielgestaltigkeit auszeichnete, eine Eigenschaft, die einem reichlich mit marginozentrischen Regionen durchsetzten Gebilde definitionsgemäß zukommt. Dieser Eigenschaft der Doppelmonarchie-Kultur ist es zu verdanken, dass die These des kulturellen West-Ost Gefälles, so überzeugend sie auf der gesamteuropäischen Ebene sein mag, auf das Habsburgerreich – und im Besonderen auf die Regionen im Osten und im Norden von Budapest – nicht angewendet werden kann. Transleithanien bietet sich der kulturellen Analyse weniger als eine schiefe Ebene dar, die sich von dem heutigen Burgenland zu den Hohen Karpaten neigt, denn als ein Flickenteppich, zusammengestückelt aus unbeschreiblich verschiedenartigen Ethnizitäten, deren Kulturen sich auf unvorhersehbare Weise mischten und kreuzten, wie Bartók das gerade in den am weitesten östlich gelegenen Regionen durch seine volksmusikalischen Forschungen nachgewiesen hat. In dieselbe Kerbe – wir haben es bereits gesehen – schlagen Grassls und Smiths Thesen zu den Bezugssystemen, deren Verschmelzungen den Nährboden für Öster­reichs intellektuelle Innovation erzeugten. Csáky, Vajda und die erwähnten Architekturhistoriker haben eine Fülle von Fallstudien lokaler Sonderwege erarbeitet, fast als wollten sie dem Postulat eines Kulturgefälles zuvorkommen. Wo Malia das Schema eines Sonderwegs auf ganze Nationen anzuwenden sucht, haben Csáky und die heutigen »interethnischen« Germanisten im Banat ein ähnliches Konzept auf Kleinregionen und die dort ansässigen Gemeinden angewandt. Csáky ist es wohl überzeugender als allen andern im vorliegenden Buch besprochenen Forschern und Forscherinnen gelungen, das Kulturgefälle von einer schnurgerade verlaufenden Achse zu einem ver-rückten Flickenteppich unterschiedlichster Kleinregionen aufzulösen. Zur Anwesenheit von Deutschen und Juden in Ober- und Ost-Ungarn, die schon für sich genommen die Berechtigung der Annahme eines Kulturgefälles in lonialism in Austria-Hungary«, Ethnic and Racial Studies, 2 (1979), 378  –  399  ; Verdery, Transyl­ vanian Villages. Three Centuries of Political, Economic und Ethnic Change (Berkeley / Los Angeles /  Lon­­don  : University of California Press, 1983)  ; und R. J. W. Evans, »The Transylvania Saxons  : A German Diaspora«, in Evans, Austria, Hungary and the Habsburgs (Oxford  : Oxford University Press, 2006), S. 209  –  227. Siehe auch László Kürti, The Remote Borderland. Transylvania in the Hungarian Imagination (Albany NY  : State University of New York Press, 2001).



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Frage stellt, kommt noch der in Siebenbürgen florierende Calvinismus hinzu. Man braucht nur an die Bedeutung zu erinnern, die Max Weber dieser Form des Christentums für die Entwicklung der Wirtschaft im Westen zuschreibt. Die Calvinisten am westlichen Ende des Kulturgefälles, in Schottland, den Niederlanden und in der Schweiz hatten, so überraschend das klingen mag, Glaubensgenossen am östlichen Ende der Achse, in Siebenbürgen. Dort schützte die Anwesenheit der osmanischen Besatzer Zentralungarns die Protestanten zwischen 1526 und den 1680ern vor katholischen Repressalien. Danach behielt Kaiser Karl VI. (1711  –  1740) die osmanische Tradition religiöser Toleranz wenigstens in den Karpaten bei. Weiterführende Schulen und die Universität in Debrecen boten den ungarischen Calvinisten, einschließlich der Kleinbauern entlang der Theiß und in Siebenbürgen, über Jahrhunderte hinweg die Möglichkeit einer auf die Bibel ausgerichteten Bildung, die insgesamt besser war als alles, was den ungarischen Katholiken oder den Öster­ reichern zur Verfügung stand. Im Gefolge des von Joseph II. 1781 erlassenen Toleranzedikts brachten die Calvinisten im Königreich Ungarn eine weit überproportionale Zahl antihabsburgischer Patrioten hervor – Ferenc Kazinczy (1759  –  1831), Mihály Fazekas (1766  –  1828), Lajos Kossuth (1802  –  1894) –, ganz zu schweigen von hervorragenden Literaten, von Mihály Csokonai Vitéz (1773  –  1805), Ferenc Kölcsey (1790  –  1838) und János Arany (1817  –  1882) bis zu einigen führenden Köpfen der ersten Nyugat-Generation wie Ady, Móricz und Tóth.332 Da Öster­reich nach den 1620ern auf seinem Boden keine vergleichbar Gruppe christlicher Dissidenten mehr beherbergte, kann man mit Blick auf die ungarischen Calvinisten behaupten, Ungarn habe eine größere ethnische, kulturelle und vor allem religiöse Vielfalt beherbergt als jeder Teil von Cisleithanien, mit Ausnahme der Ukrainer in Ostgalizien und in der Bukowina. Die Beiträge calvinistischer Literaten wie Ady und Móricz zur ungarischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts machen diese einzigartig unter allen Literaturen der Osthälfte und lassen jeden Versuch, ein simples, das Habsburgerreich in östlicher Richtung durchquerendes Kulturgefälle zu konstruieren, als äußerst fragwürdig erscheinen. Malia stellt sich das Gefälle als von Paris östlich über Berlin und Warschau nach Moskau verlaufend vor. Wie sinnvoll auch immer dieses Schema für das Verständnis der Beziehungen Russlands zum Westen erscheint – für die Anwendung auf 332 Andrew C. Janos bringt die calvinistische Grundhaltung in Ungarn auf den Punkt in The ­Politics of Backwardness in Hungary, 1825  –  1945 (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1982), S. 13  –  16. Zum Hintergrund siehe Graeme Murdock, Calvinism on the Frontier, 1600  –  1660. Inter­national Calvinism and the Reformed Church in Hungary and Transylvania (New York  : Oxford University Press, 2000). Der Ausstellungskatalog, Péter Farbaky und Réka Kiss (Hg.), Calvin’s Legacy. The Cultural Heritage of Calvinism along the Danube (Budapest  : Budapest History Museum and Danube Calvinist Ecclesiastical District, 2009) war mir leider nicht zugänglich.

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Südost-Europa taugt es nicht. Es mag ein eigenes Gefälle auf dem Balkan geben, das sich von Nordosten nach Südosten erstreckt und London und Amsterdam über Köln, Wien und Kroatien mit Belgrad und Sarajewo verbindet, dieses ist aber nicht zwingend identisch mit dem von Malia vorgeschlagenen. Der Balkan ist für viele Wissenschaftler überhaupt ein eigenes Thema mit einem Sammelsurium von Sonderwegen und gehört deshalb nicht hierher. Die Andersartigkeit des Balkans hat mehr als einen Makrohistoriker ins Leere laufen lassen.333 Eine interessante Anwendung von Malias Schema rückt ins Blickfeld, wenn man For­mulierungen über Ungarn bedenkt, die in die entgegengesetzte Richtung weisen und Paris und London anvisieren. Das literarische Programm der Nyugat-Bewegung zielte in eben diese Richtung. Ungarns progressive Literaten der Epoche um 1910 wollten vor allem eines  : sich über das angrenzende deutschsprachige Europa hinweg katapultieren, um der gallischen Kultur nacheifern zu können. Der ›Westen‹ war für sie nicht einfach Europa westlich von Budapest, sondern ausschließlich Frankreich, Belgien und England. Die angehenden literarischen und politischen Erneuerer hatten bei ihren Bestrebungen die Ursprungsländer der Aufklärung im Blick, nicht das Deutschland von Malias vier Kreisen der Romantik. Die mitteleuropäische Bildungsethik hatte zwar auch in Ungarn den Begriff ›Kultur‹ in seiner deutschen Bedeutung als Träger einer kollektiven Identität verankert, die ungarischen ›Westler‹ hatten dennoch 1910 nicht deutsche oder öster­reichische, sondern französische Vorbilder moderner Literatur vor Augen. André Karátson interpretiert das Programm von Nyugat sogar als den Versuch einer Annäherung an französische und belgische Alternativen, der ausdrücklich an Wiens deutschsprachiger Kultur vorbei erfolgen sollte. Für ihn bestand das Ziel der Ungarn darin, die Öster­reicher in ihrem eigenen Spiel – der Schaffung einer symbolistischen Literatur – zu schlagen, indem sie sich französischen Quellen zuwandten. Die Nyugat-Literaten wollten ihren Kollegen in Wien zeigen, dass ein Volk, das im Osten von ihnen lebte, sich noch stärker verwestlichen kann als die Öster­reicher. Gelang es, die Öster­reicher als Nacheiferer Frankreichs zu übertreffen, dann hätte dies eine Lücke im Kulturgefälle zur Folge, die auf halbem Weg von West nach Ost, eben in Wien, entstünde. Eine derartige Rivalität bedeutete nichts weniger als den Versuch, das kulturelle West-Ost Gefälle überhaupt zum Verschwinden zu bringen. Das Gefälle ist, genau besehen, nichts anderes als ein rhetorisches Mittel, mit dem sich Verspätung diskutieren und noch öfter einfach zuschreiben lässt, aber es fehlt an jeglicher Methode, die behauptete Verspätung zu messen. Es handelt sich um ein be333 Siehe Éva Hózsa, »Stereotypes of Deficiency in the Hungarian Literature from Vojvodina in the Nineties of the Twentieth Century«, Acta Universitatis Sapientiae Philologica [Cluj, Romania], 3  :1 (2011), S. 18  –  28, insbes. 20  –  23.



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griffliches Konstrukt ohne spezifizierbaren Inhalt und ohne Möglichkeit, es mit Inhalt zu versehen. Dieses sozialwissenschaftliche Defizit hilft uns zu verstehen, warum der Begriff Verspätung so attraktiv ist für Leute, die ihre kulturelle Überlegenheit im Vergleich zu den Nachbarn im Osten oder im Süden betonen wollen. Dass der Begriff überhaupt nur mit großen Einschränkungen auf die Doppelmonarchie anwendbar ist, sollte ein Hinweis darauf sein, dass Vorsicht geboten ist, will man ›Verspätung‹ als ein Merkmal des Habsburgerreiches oder einer seiner Regionen deuten. Martin Malia benutzt ›Kulturgefälle‹ schlüssig zur Strukturierung eines ungemein stimmigen Buches über den westlichen Blick auf Russland. Auf die Kulturgeschichte des Habsburgerreiches angewandt, kann derselbe Gedanke aber leicht zu einem leeren jeu d’esprit verkommen. Soweit Öster­reich und Ungarn Sonderwege verfolgten, die sich von dem deutschen unterschieden, bestand deren Eigenart – so die einhellige Meinung aller bisher zu Wort gekommenen Gelehrten – in ihrer Irregularität, in ihrer beispiellosen Vielfalt. Die Vielgestaltigkeit der Doppelmonarchie-Kultur entzieht sich jeglichem vereinfachenden Schema, sei dieses räumlich wie das Kulturgefälle oder chronologisch wie die vier Kreise der Romantik. In seinen zahllosen Vorträgen und Vorlesungen in Frankreich, Deutschland, Öster­reich, Ungarn und Nordamerika wurde Csáky nicht müde zu betonen, die Kultur der Doppelmonarchie lasse sich nicht auf eine oder zwei Ausnahmen reduzieren. Sie sei eine Ansammlung von Ausnahmen und Abweichungen, für die er selbst, wie wir schon gehört haben, die Bezeichnung »Pluralität« vorschlug. Die Habsburgermonarchie – und nicht Russland oder Polen, wie Berlin und Malia meinten – ist der exzeptionalistische Paradefall in der Geschichte Europas. Öster­reich-Ungarn und nicht Deutschland ist das aussagekräftigste Beispiel eines Ensembles von Kulturen, von denen jede – ungeachtet der Gemeinsamkeiten – ihren eigenen Sonderweg einschlug. Kehrt man die Pluralität so stark heraus, dann wächst proportional dazu die Notwendigkeit eines Kitts, der die Kulturen der Doppelmonarchie zusammenhielt. Es ist deshalb angebracht, jetzt einen Blick auf Phänomene wie Etikette, urbane Architektur, Militärdienst, Militärmusik, Operette und die Verehrung für Franz Joseph zu werfen, die alle zum Zusammenhalt der Ethnizitäten beitrugen. Das wissenschaftliche Interesse an Pluralität verlangt – und dies gilt ganz besonders für die Postmoderne und ihre Faszination für lokale Variationen und ethnische Unterschiede – nach einer gegenläufigen Bewegung, dem Aufspüren von Gemeinsamkeiten. Die Vielgestaltigkeit, die die meisten Gelehrten, die hier zu Wort kommen, der Doppelmonarchie attestieren, wirkt wie eine Vorwegnahme unserer eigenen Präferenz für ein Europa, das die Vielfalt seiner Regionen betont. Csáky steht nicht allein da mit der These, das Muster der Doppelmonarchie erleichtere das Verständnis der noch viel größeren Pluralität ihrer Nachfolgeorganisation, der Europäischen Union.

Kapitel 10

Die Psychoanalyse im Austausch zwischen Öster­reich und Ungarn 10.1 Die Achse Wien – Budapest Besteht ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Freudschen Psychoanalyse und der Dynamik der Doppelmonarchie-Kultur  ? Um es vorwegzunehmen  : Dies ist in der Tat sehr wahrscheinlich. Wir sind zwar gewohnt, die Entstehung der Psychoanalyse ausschließlich mit Wien zu verbinden, und, soweit Freud vor 1908 Interesse an andern Kulturen bezeugte, galt dieses nicht andern Zentren der Doppelmonarchie, sondern eher Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Seine Orientierung nach Westen relativierte sich aber, als er 1908 den Budapester Psychiater Sándor Ferenczi (1873  –  1933), der schon 1907 Jung begegnet war, persönlich kennen lernte. Daraus ergab sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, eine fruchtbare Zusammenarbeit, die gleichsam en passant unser Augenmerk wieder auf Gemeinsamkeiten der Doppelmonarchie-Kultur lenken wird. Wann immer in der Forschung psychoanalytische Kategorien auf die öster­ reichische oder ungarische Kultur angewandt wurden, handelte es sich fast ausschließlich um Freudsche. Es ist an der Zeit, dass auch andere Stimmen gehört werden. Ferenczis »magisches Denken« bietet sich zur Erklärung dafür an, warum Öster­reichern und Ungarn das von Vajda so genannte »Reich des schönen Scheins« so sehr am Herzen lag. Und wenn man bereit ist, vertraute Pfade zu verlassen, bietet sich Leopold Szondis Schicksalsanalyse zur Deutung der Rolle an, die das von ihm so genannte »familiäre Unbewusste« in der ungarischen Geschichte spielt. Ferenczi avancierte sehr schnell zu einem der drei, vier engsten Mitarbeiter Freuds, und ihr persönliches Vertrauensverhältnis hielt – für Freud höchst ungewöhnlich – über ein Vierteljahrhundert hinweg an. Der kontaktfreudige Ungar machte die Psychoanalyse in Budapest bekannt, wofür die Institution des Kaffeehauses mit seinen Literatenzirkeln ohne Zweifel ein ideales Forum bot. Zu Ferenczis Freundeskreis gehörten einige der wichtigsten ungarischen Schriftsteller und Dichter der Zeit wie Mihály Babits, Dezső Kosztolányi und Géza Csáth (1887  –  1919), ein medizinischer Schriftsteller und Cousin Kosztolányis.334 Csáth 334 Eine Anthologie mit Texten, die Kosztolányi, Csáth, Karinthy, Babits und Krúdy unter dem Einfluss der Psychoanalyse schrieben, ist Sophie Képès (Hg.), Cure d’ennui. Écrivains hongrois autour



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erwies sich allerdings als ebenso resistent gegen die Psychoanalyse wie der vielgeliebte Dichter Attila József (1905  –  1937). Csáths Drogensucht war letztlich doch unheilbar, und selbst lange psychoanalytische Sitzungen konnten József nicht davon abhalten, sich mit 32 Jahren das Leben zu nehmen.335 Spätestens 1912 hatte Ferenczi für die Popularisierung der Psychoanalyse im Schriftstellermilieu Budapests mehr getan als irgendein Wiener Kollege Freuds in dessen Stadt. Außerhalb von Ungarn kaum beachtet, war Budapest schon 1914 die erste Metropole, in der Debatten über die Psychoanalyse zur Tagesordnung gehörten. Vor dem Hintergrund der gewohnheitsmäßigen Missachtung, die einen intensiven Austausch zwischen öster­reichischen und ungarischen Intellektuellen nicht vorsah, bildeten Ferenczi und Freud zweifellos eine Ausnahme.336 In den Jahren des Ersten Weltkriegs, als Freuds Kontakt zu Schülern in England und Nordamerika sehr eingeschränkt war, pendelte der jüngere Kollege Ferenczi regelmäßig mit dem Zug zwischen Budapest und Wien und brachte Freud dazu, seine Hilfe mehr und mehr in Anspruch zu nehmen. Ferenczi hatte in Wien Medizin studiert und pflegte in dieser Stadt intensiv seine professionellen Kontakte. Seine Freundschaft mit Freud war einzigartig, nicht nur weil andere anfangs ähnlich Vertraute an Freuds eifersüchtiger Bewahrung der reinen Lehre gescheitert waren, sondern weil eine Zusammenarbeit zwischen Öster­reichern und Ungarn ausser in der Frauen- und Friedensbewegung so gut wie nie stattfand. Kosztolányi hatte z. B. auch 1904  –  1905 in Wien studiert und trat danach als Übersetzer der Literaten des Jungen Wien auf. Deren Gesellschaft aber hat er nicht gesucht und er hat sie auch nicht dazu gebracht, Ähnlichkeiten zwischen ihrer Arbeit und der seinen zu entdecken. Noch überraschender ist, dass die Herausgeber von Nyugat (1908  –  1941) zwar über öster­ reichische Kunst in Budapester Ausstellungen berichtet, aber für die Präsentation ungarischer Kunst oder Literatur in Wien praktisch nichts getan haben. Ihre Aktivität galt nicht möglichen öster­reichischen Verbündeten, sondern einzig der Suche nach französischen, belgischen und italienischen Vorfahren der ungarischen Literatur. Die Nyugat-Schriftsteller richteten, wie wir im vergangenen Kapitel schon gesehen haben, ihren Blick über Öster­reich hinweg auf den Westen Europas. Dabei de Sándor Ferenczi (Paris  : Gallimard, 1992). Siehe auch György Kassai, »Littérature et psychanalyse en Hongrie (1910  –  1940)«, Hungarian Studies, 4  :2 (1988), S. 213  –  226. 335 Siehe Arthur Koestler, The Invisible Writing, being the Second Volume of Arrow in the Blue (London  : Collins, 1954), S. 214  –  221 [Erinnerungen an József aus dem Jahr 1933]  ; Kassai, »Littérature«, S. 218  –  226, und Miklós Szabolcsi, »L’Avant-garde littéraire hongroise et l’itinéraire poétique d’Attila József«, Revue de littérature comparée, 60  :3 (1986), S. 295  –  306 [überaus erhellend]. 336 Éva Brabant, Ernst Falzeder und Patrizia Giampieri-Deutsch (Hg.), Sigmund Freud – Sándor Ferenczi – Briefwechsel, 3 Bde. in 6 Teilen (Wien  : Böhlau, 1993  –  2005). Zu Ferenczi heute siehe die Webseite www.ferenczihouse.org (zuletzt abgerufen 20. August 2012).

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konzentrierten sie sich jedoch auf die Pioniere von Vorgestern und Gestern, wie Baudelaire und Verlaine, mit dem Ergebnis, dass die Ungarn mit der zeitgenössischen französischen Dichtkunst nicht in Kontakt kamen. Die Hoffnung der Nyugat-Leute, von der André Karátson spricht, mit den Öster­reichern hinsichtlich des Imports der literarischen Moderne gleichzuziehen oder sie, besser noch, zu überholen, ist Zeichen einer verdeckten Geschwisterrivalität zwischen den Metropolen. In deren Licht nimmt sich die rückhaltlose Zusammenarbeit zwischen Ferenczi und Freud umso eindrucksvoller aus. Es gelang den beiden, ein an Verachtung grenzendes Klima gegenseitiger Missachtung zu überwinden.337 Ferenczi ist einer von vielen aus Ungarn stammenden Psychoanalytikern, die nach 1930 zum Großteil nach Frankreich, Großbritannien oder in die Vereinigten Staaten auswanderten. Einer von ihnen, Franz G. Alexander (1891  –  1964), ein Pionier der psychosomatischen Medizin, war der Mitverfasser einer der ersten für einen breiten Leserkreis geschriebenen, maßgebenden Darstellungen der Bewegung.338 Aber selbst nachdem Historiker Ende der 1980er begonnen hatten, Ferenczi den ihm gebührenden Platz einzuräumen, hat sich die Anerkennung der Bedeutung der ungarischen Psychoanalyse für die Bewegung als Ganzes nur allmählich und widerstrebend vollzogen. Figuren des ungarischen Mainstream wie Ignác Herrmann (1854  –  1935) und Béla Grünberger (1903  –  2005) sind in der Englisch sprechenden Welt nach wie vor ebenso unbekannt wie der 1947 geborene Paul Harmat, der wichtigste Historiker der ungarischen Psychoanalyse, der seit den 1980er Jahren in Öster­reich lebt.339 Die spielerische Leichtigkeit, mit der Ungarn wie der 337 Ilona Sármány-Parsons hat über die Entfremdung zwischen den beiden Hauptstädten Aufschlussreiches geschrieben in »Entfremdete Nachbarn  : Ein Doppelporträt der Wiener und Budapester Kunst um die Jahrhundertwende« in Eugen Thurnher u. a. (Hg.), »Kakanien«. Aufsätze zur öster­reichischen und ungarischen Literatur, Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende (Budapest  : Akadémiai Kiadó und Wien  : Verlag der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften, 1991), S. 415  –  437. 338 Franz G. Alexander und Sheldon T. Selesnick, The History of Psychiatry. An Evaluation of Psychiatric Thought and Practice from Prehistoric Times to the Present (New York  : Harper and Row, 1966). Die Geschichte des psychoanalytischen Denkens, die heute am ehesten als Referenzwerk gilt, ist George Makari, Revolution in Mind. The Creation of Psychoanalysis (New York  : HarperCollins, 2008), zu Alexander siehe S. 382  –  387. 339 Paul Harmat, Freud, Ferenczi und die ungarische Psychoanalyse (Tübingen  : edition diskord, 1988), Übersetzung von Freud, Ferenczi és a magyarországi pszichoanalízis. A budapesti mélylélektani iskola története, 1908  –  1983 (Bern  : Európai Protestáns Magyar Szabadegyetem, 1986). Diesem mit akribischem Detail aufwartenden Buch würde man eine größere Leserschaft wünschen, besonders unter englischsprachigen Historikerinnen und Historikern der Psychoanalyse. Auf den Seiten 187  –  217 erörtert Harmat die Kontakte, die ungarische Schriftsteller wie Kosztolányi, Babits und der Dichter Attila József mit verschiedenen Psychoanalytikern pflegten. Siehe auch György Vikár, »The Budapest School of Psychoanalysis«, in Peter L. Rudnytsky (Hg.), Ferenczi’s Turn in Psychoanalysis



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Psycholinguist Iván Fónagy Einsichten der Psychoanalyse auf andere Disziplinen übertragen haben, ist den meisten Nicht-Experten verborgen geblieben – mit Ausnahme des auf Interdisziplinarität spezialisierten Peter Weibel. Die Geschichte der ungarischen Psychoanalyse und ihrer avantgardistischen Denker passt auch allzu gut zu seiner Dritten Kultur, die Wissenschaft und Kunst miteinander verbindet. Die Ungarn – und nicht zuletzt die Psychoanalytiker unter ihnen – haben diese Fähigkeit schon praktiziert, lange bevor Weibel sie auf den Begriff brachte.

10.2 Budapest als Wiens eifersüchtige Schwester Die Psychoanalyse brachte, wie wir wissen, Stringenz und Energie in die Erforschung der Kindheit und ihrer mentalen Zustände. Diese scheinbar simple Feststellung ist allerdings nicht frei von Paradoxien. Freuds Konzept des ödipalen Konflikts zwischen Vätern und Söhnen greift bei verblüffend wenigen der schöpferischen Genies, die Wien hervorbrachte. Abgesehen von Fällen wie Heimito von Doderer – ein weiterer, noch viel wichtigerer Fall kommt im nächsten Absatz zur Sprache –, erwartete man in dieser Stadt eher, dass Söhne sich des Erbes ihrer Väter annahmen anstatt sich dramatisch dagegen aufzulehnen.340 Der Großteil der »Jung Wien«-Literaten akzeptierte in den 1890ern spontan die Werte der mitteleuropäischen Bildungsethik und blieb ihnen im Lauf ihrer Karriere treu, war doch die reibungslose Übergabe der Kultur von einer Generation an die nächste eine der Hauptfunktionen dieses Erziehungs- und Bildungsprogramms. Arthur Schnitzler folgte seinem Vater in die Medizin, Freud hatte die gesamte psychiatrische Literatur in sich aufgenommen, als er die Pionierleistung seiner eigenen Analyse in den 1890ern in Angriff nahm, und Hugo von Hofmannsthal schaffte es schon vor seinem 20. Lebensjahr, dem Besten Ausdruck zu verleihen, was in der europäischen Literatur seit der Antike gesagt und gedacht worden war. Der ganze Stolz dieser Erneuerer lag darin, dass sie alles, was ihre Vorgänger sie lehren konnten, aufgesogen hatten. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Kronprinz Rudolf (1858  –  1889), der sich, nach zwei Jahrzehnten erfolgloser Versuche, seinem Vater Anerkennung abzuringen, das Leben nahm. Der mit Sandor Ferenczi befreundete Schriftsteller Gyula Krúdy (1878  –  1933) behandelt diesen Vater-Sohn-Konflikt in seinem Jockey Club (1926), ein Werk, das er als Gast von Baron Lajos Hatvany (1880  –  1961) in der (New York  : New York University Press, 1996), S. 60  –  76, und Judit Mészáros, »The Tragic Suc­ cess of European Psychoanalysis  : ›The Budapest School‹«, International Forum of Psychoanalysis, 7 (1998), S. 207  –  214. 340 Siehe John Neubauer, The Fin-de-Siècle Culture of Adolescence (New Haven CT / London  : Yale University Press, 1992), S. 104  –  121.

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Hermes-Villa in Lainz schrieb. Die Villa war in den 1880ern als Rückzugsort vom höfischen Zeremoniell für Kaiserin Elisabeth erbaut worden. Krúdy zeichnet den Kaiser als Urbild des Vaters, der in seinem Sohn eine zutiefst ambivalente Haltung erzeugt. Anna Fábri spricht in diesem Zusammenhang von einer »strafende[n] und schützende[n], Furcht- und Sicherheitsgefühle erweckende[n] Janus-Figur«.341 Nach dem Tod des Kaisers – Krúdy nahm am Begräbnis im Dezember 1916 teil – durchlebte der Schriftsteller allerdings Jahre intensiver Sehnsucht nach der untergegangenen Epoche des kaiserlichen Übervaters, der über die Rituale des »Theaterstaats« gewacht hatte. Die Haltung zur Figur des greisen Kaisers würde sich als Thema für eine Anthologie eignen. Eine Zusammenstellung einschlägiger Passagen öster­reichischer und ungarischer Autoren – Roth, Werfel, Zweig, Krúdy – böte reichlich Gelegenheit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden literarischen Kulturen sichtbar zu machen. André Karátson, der 1933 geborene Historiker des literarischen Symbolismus in Ungarn, hat die Paradoxien behandelt, die in der scheinbaren Rebellion der ersten Generation der Nyugat-Literaten gegen ihre Väter wie auch gegen ihre öster­ reichischen Zeitgenossen verborgen sind. Diese energiegeladene Kampagne für Reform und Erneuerung mag auf den ersten Blick ödipale Wurzeln haben, Karátson lehnt diese Hypothese jedoch ab. Der auf Erneuerung drängende Nyugat-Kreis importierte poetische Praktiken nach Ungarn, die in den 1850ern (Baudelaire) oder in den 1880ern (Verlaine) neu und aufregend gewesen waren. Die Innovation, um die es Nyugat ging, bestand also darin, das zu rezipieren, was französische Avantgarden ein oder zwei Generationen zuvor erfunden hatten, und es durch vorbildliche Übersetzungen oder durch neue Lyrik (Ady) zu magyarisieren. Die Nyugat-Literaten hätten auch eine Kampagne zur Übersetzung ihrer eigenen Werke ins Französische, Deutsche oder Englische lancieren können. Stattdessen konzentrierten sie sich auf die Kultivierung einer Leserschaft im eigenen Land. Die ungarischen Reformer verzichteten also auf einen Dialog mit zeitgenössischen Dichtern und Schriftstellern in Paris darüber, was das künstlerische Gebot der Stunde war – dies zugunsten des Imports »›stabiler Werte‹ aus dem Westen, um Ungarn mit Öster­reich gleichziehen zu lassen … und Wien die Privilegien, die es jetzt noch genoss, zum gegebenen Zeitpunkt zu entreißen und auf Budapest zu übertragen«.342 Die Anleihen im 341 Anna Fábri, »Das Bild Wiens in den Werken von Gyula Krúdy«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S. 127  –   142, insbes. 138. Zum Jockey Club finden sich in diesem Artikel leider keine weiteren bibliografischen Informationen. 342 André Karátson, »Paradoxes in the Hungarian Adepts of Symbolism and Decadence at the Beginning of the Twentieth Century«, in Robert B. Pynsent (Hg.), Decadence and Innovation. AustroHungarian Life and Art at the Turn of the Century (London  : Weidenfeld and Nicolson, 1989), S. 66  –  73, insbes. 71.



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Westen dienten mit einem Wort ausschließlich dazu, Anerkennung in der näheren Umgebung zu erreichen. Karátson zog darüber hinaus einen noch radikaleren Schluss. Weit entfernt von einer Revolte gegen die Doppelmonarchie projiziere die Nyugat-Generation auf ein idealisiertes Europa nichts anderes als »die Strukturen eines multinationalen Reichs. Stellt sich von diesem Standpunkt das ungarische Interesse am Westen nicht als eine nach dem Ebenbild der Monarchie gestaltete Fiktion von Europa dar, einer Monarchie, deren Literaten mit ihrem unerschütterlichen Glauben an die Mission ihrer Kunst zu den Letzten gehörten, die noch auf eine große kulturelle Blüte hofften  ? Jedenfalls hat, allen Paradoxien zum Trotz, dieser Traum von Integration die Kohärenz ihres kulturellen Entwurfs sichergestellt«.343 Das Desinteresse für die Literatur Öster­reichs, das die Ungarn mit solchem Eifer zur Schau stellten, und die Bevorzugung der Literaturen Frankreichs, Belgiens und Englands verraten doch letztlich den Ehrgeiz der Ungarn, selbst auf der großen Bühne die Doppelmonarchie als europäischen Mikrokosmos darzustellen und die zentrale Rolle darin für sich zu reklamieren. Indem sie sich entschieden, wenngleich mit ziemlicher Verspätung daran machten, die besten »modernen« Dichter Westeuropas ex post zu ihren Verbündeten zu machen, nahmen die Nyugat-Reformer die Ideale vorweg, die dann, in den 1920ern, für den »öster­reichischen Menschen« reklamiert wurden. In ihrem Bemühen, sich die neuen Literaturen Westeuropas einzuverleiben, legten die Ungarn jenes feine Urteilsvermögen an den Tag, das für Hofmannsthal und Wildgans ein Hauptmerkmal des gebildeten Öster­reichers war. Mit einem Wort, die Ungarn waren bestrebt zu zeigen, dass sie kosmopolitischer waren als ihre öster­reichischen Rivalen. Dieser heimliche Wunsch, öster­reichischer zu sein als die Öster­reicher, ist jedenfalls als eine Hommage an die Kultur der Doppelmonarchie zu werten. Gewisse publizistisch lancierte Ideale dieser Kultur konnten realisiert werden, nicht zuletzt durch das unvergleichlich tiefe Verständnis der ungarischen Autoren für gesamteuropäische literarische Trends. In einer merkwürdigen Variation des Ödipus-Themas hat sich diese Rivalität zwischen zwei Kulturen entwickelt, die sich selbst nicht in der Rolle von Vater und Sohn, sondern als Geschwister wider Willen sahen. Robert Musil baute in den Mann ohne Eigenschaften einen verschmitzten Kommentar über diese ungewollte Geschwisterrivalität ein  : »Der Öster­reicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung  ; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder der öster­reichischungarischen Monarchie, was das gleiche bedeutet wie einen Öster­reicher mehr 343 Ebenda, S. 71  –  72. Siehe auch Karátson, »Le projet culturel de la revue Nyugat«, Revue de littéra­ ture comparée, 60  :3 (1986), S. 283  –  294, insbes. 293  –  294.

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einem Ungarn weniger diesen Ungarn, und er tat das nicht aus Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe, die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebenso wenig leiden wie die Ungarn ihn.«344 Versteckt in der Mitte des ersten Teils des Romans und im Präteritum, legte diese hellsichtige Nebenbemerkung nahe, dass nur in Ungarn ein »Öster­reicher« als solcher galt. Musil meint hier offenbar, die Öster­reicher seien als Ethnizität hauptsächlich in einem Spiegel sichtbar geworden, den ihnen ihre feindlichen Geschwister entgegenhielten. In den Augen des jeweils Andern blieben beide nur eins  : das jeweils Andere. Damals wie heute hegte nur eine Minderheit von Intellektuellen die Absicht, aus der Leitha einen Fluss der Erinnerung zu machen.

10.3 Magisches Denken und geschönte Paralleluniversen Wenn die Öster­reicher und die Ungarn es vorzogen, in wechselseitig antipathischen Paralleluniversen zu leben, dann ergibt das ein hartnäckiges konzeptuelles Problem. Die Historiker haben wiederholt auf eine in der ungarischen Mittelschicht um 1900 weit verbreitete Tendenz hingewiesen, Zuflucht in einer Fantasiewelt zu suchen, die Neigung, wie der Literaturhistoriker Lóránt Czigány (1935  –  2008) es ausdrückt, »in einer Zwangslage zu träumen«.345 Ein vor kurzem erschienenes Buch von András Gerő, Ungarns führendem Historiker der Doppelmonarchie, zeigt, dass weder Nationalisten noch Kommunisten gegen den »ungarischen Illusionismus« immun waren.346 Schon in der Vergangenheit hatte Vajda auf die Rolle der Operette hingewiesen, die sich als Fluchtmöglichkeit in »das Reich des schönen Scheins« anbot, als Fluchtpunkt innerhalb des von Charles S. Maier so genannten »Theaterstaats«. Dabei ist die These einer ungarischen Neigung zum »Illusionismus« schon durch die Unschärfe des Begriffs für die Interpretation von Texten ungeeignet. Damit der Diskurs über die angebliche Wirklichkeitsflucht der Ungarn um 1900 an Stringenz gewinnt, ist eine griffigere Definition dieses Begriffes nötig. Die klassische Definition des »magischen Denkens« stammt aus Ferenczis wegweisendem Essay über »Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes« aus dem Jahr 1913, in dem er »Wirklichkeit« in dem speziellen Sinn verwendet, den Freud selbst 344 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Adolf Frisé (Hg.) (Reinbek bei Hamburg  : Rowohlt, 1978), S. 170. Siehe Walter Weiss, »Ungarn (und die Ungarn) bei Grillparzer, Lenau, Stifter und Musil«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S. 115  –  125, insbes. 122  –  124. 345 Lóránt Czigány, The Oxford History of Hungarian Literature from the Earliest Times to the Present (Oxford  : Clarendon Press, 1984), S. 264. 346 András Gerő, Hungarian Illusionism (New York  : Columbia University Press, 2009), die Übersetzung von Magyar illuzionizmus (2006).



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erstmals bei der Erörterung des Lustprinzips und des Realitätsprinzips in seinen »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens« (1911) andeutet.347 Dieser Wirklichkeit begegnen wir auch bei J. P. Sterns Adepten des (zu) teuer Erkauften, die nach ihr als etwas letztlich Unerreichbarem streben. Ferenczi verdeutlicht den Begriff, indem er vier aufeinander folgende Stadien unterscheidet, die jedes Kind durchlaufen muss, wenn es die totale Selbstabsorption (Lustprinzip) überwinden und zur »äußeren Realität« vorstoßen soll (Realitätsprinzip). Die vier Stadien Ferenczis sind  : »1. Periode der bedingungslosen Allmacht  ; 2. Periode der magisch-halluzinatorischen Allmacht  ; 3. Periode der Allmacht mit Hilfe magischer Gebärden  ; 4. Periode der magischen Gedanken und der magischen Worte«.348 Zu den Risiken des Erwachsenwerdens zählt für Ferenczi eine Tendenz des erwachsenen Ego, von der Anerkennung der »äußeren Realität«, zu der es sich mühsam genug durchgerungen hat, wieder in das vierte Stadium des »magischen Denkens« zurückzufallen. Sein Schüler Sándor Lóránd (1893  –  1987) hat das magische Denken des Neurotikers definiert als den »narzisstischen Wunsch, entweder das störende Realitätsprinzip überhaupt zu eliminieren oder es mindestens so zu verändern, dass es sich nicht störend bemerkbar macht«.349 Für Ferenczi hat das magische Denken positive Auswirkungen, wenn z. B. Märchen zur Entfaltung der Einbildungskraft des Kindes beitragen  ; der neurotische Erwachsene hingegen bedient sich »magischer Gedanken«, um auf seiner Realitätsverweigerung beharren zu können. Vermutlich ist das die Versuchung, die der Kult des Illusionismus für die Ungarn bereit hält – die ›Wirklichkeit‹ mit Hilfe illusionärer Hoffnungen zu manipulieren. Aufbauend auf der von Ferenczi herausgearbeiteten Doppeldeutigkeit des magischen Denkens hat der Psycholinguist Iván Fónagy (1920  –  2005) dieses für verwandte Fragestellungen herangezogen. Dabei ist die Rolle von Euphemismen in Höflichkeitsformeln ein wichtiges Thema. Auf Englisch geschrieben, sind Fónagys Essays zu Metapher und andern poetologischen Techniken intellektuelle Leistungen der höchsten Ordnung.350 Mit verblüffender Originalität interpretiert er etwa Parenthesen in religiösen Gedichten als »miniaturisierte (grafische) Versionen oder 347 Ferenczi, »Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes« [1913], in Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse (Frankfurt  : Fischer, 1970), 1, S. 148  –  163. 348 Ebenda, S. 152, 153, 155, 158. 349 Sándor Lóránd, »Sándor Ferenczi 1873  –  1933  : Pioneer of Pioneers«, in Franz Alexander (Hg.), Psychoanalytic Pioneers (New York  : Basic Books, 1966), S. 14  –  35, insbes. 17. 350 Iván Fónagys Artikel über Typen der poetischen Sprache bietet eine umfassende Taxonomie der Diktion in der europäischen Dichtung mit Beispielen in mehreren Sprachen. Er beweist besondere Originalität in der Auseinandersetzung mit Ady, Trakl und Rilke. Siehe Iván Fónagy, »Why Poetic Language  ?« in Languages within Language. An Evolutive Approach (Amsterdam and Philadelphia PA  : John Benjamins, 2001), S. 358  –  504. »Playing with Language  : Joke and Metaphor« [1982], ebenda S. 276  –  336, ein Essay über Witze, ist ebenso aufschlussreich.

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Hieroglyphen, die ein Mandala darstellen, eine stilisierte Hülle, die Buddha oder Christus einrahmt«.351 Diese Essays, in denen sich Fónagy der Analyse wie der Synthese mit gleichem Elan zuwendet, sind bis jetzt von der Literaturkritik weitgehend unbeachtet und ungenutzt geblieben. Dabei gehören sie zu den bemerkenswertesten Zeugnissen der Budapester Schule der Psychoanalyse im Besonderen und des »Kryptodaseins« von Post-Habsburgia im Allgemeinen. Einer dieser Essays skizziert eine Art Phänomenologie des konstruktiven magischen Denkens und seiner Ausdrucksformen in der Literatur wie im alltäglichen Umgang.352 In Anbetracht der vielen Höflichkeitsformeln, die überall in den Sprachen der Nachfolgestaaten als Erbe der Doppelmonarchie weiterleben, verdient Fónagys Theorie über den Euphemismus als Vehikel der Höflichkeit ernsthafte Beachtung. Sie wirft ein Licht auf die in den Kulturen des »Theaterstaats« vorhandene Bereitschaft, mit performativen Gesten den Alltag zu schönen, um das an sich Ungenießbare akzeptabel erscheinen zu lassen. Fónagy interpretiert sowohl den Euphemismus wie sein Gegenteil, den »Kakophemismus«, als Versuche »intrapsychische und soziale Konflikte mit rein verbalen Mitteln zu lösen«.353 Euphemismus hält ein Arsenal schmerzfreier Alternativen zur Benennung stigmatisierter Themen bereit, die mit Aggression, Körperfunktionen, Krankheit und Tod verbunden sind. Die geläufigste Methode zur Vermeidung belastender Themen besteht in ihrer Einbettung in Höflichkeit, die Fónagy primär unter dem verbalen Aspekt betrachtet. Alle Formen der Höflichkeit haben eine »magische Unterfütterung«. Die Prozeduren der Höflichkeit »nehmen stillschweigend an, dass eine Änderung in der sprachlichen Projektion der Dinge auch diese selbst schlagartig verändern wird«. Auf buchstäblich magische Weise »schafft verbale Höflichkeit ein geschöntes Paralleluniversum, in dem die Menschen nie sterben, sondern nur von uns scheiden oder entschlafen  ; sie mögen indisponiert sein, aber niemals krank  ; sie altern nicht, sie sind höchstens nicht mehr jung oder schlimmstenfalls betagt  ; hässliche Männer oder Frauen gibt es nicht – sie haben höchstens markante Gesichtszüge«.354 Wer denkt bei dieser Interpretation des verbalen Taktes als Sprache der magischen Schönung nicht an Beschreibungen der höfischen Etikette und der Operette, ganz zu schweigen von der Architektur eines Jože Plečnik und Ödön Lechner oder der Prosa Joseph Roths und Gyula Krúdys  ? 351 Fónagy, »Semantic structure of punctuation marks«, in Languages within Language, S. 531  –  561, insbes. 547. 352 Iván Fónagy, »A Hidden Presence  : Verbal Magic«, in Leslie Bódi u. a. (Hg.), Weltbürger – Textwelten. Helmut Kreuzer zum Dank (Frankfurt a. M.: Lang, 1995), S. 398  –  409. Nachdruck in Lan­ guages within Language, S. 266  –  274. 353 Fónagy, »A Hidden Presence«, in Languages, S. 268. 354 Ebenda, S. 269.



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Fónagys Essays öffnen ihrer Kürze zum Trotz bedeutsame Ausblicke auf die Funktion von Höflichkeitsformeln in der Doppelmonarchie und ihren Nachfolgestaaten. Die umständliche Courtoisie der Öster­reicher und noch mehr die der Ungarn ist ja etwas, das von Ausländern oft bemerkt wird. Diese Höflichkeit bedient sich manchmal ausgesprochen blumiger Euphemismen, um die Teilnehmer einer Interaktion zum Betreten eines »geschönten Paralleluniversums« einzuladen, das ihnen einen mindestens temporären Schutz vor den krassen Tatsachen der Grausamkeit, Krankheit und des Sterbens verheißt. Auch Ferenczis »magisches Denken« bedient sich der Sprache, um einen Ausweg in eine Scheinwelt zu eröffnen, in der die Dinge so sind, wie wir sie uns wünschen. Die Tendenz, einem von Courtoisie und Fantasie geschaffenen »geschönten Paralleluniversum« den Vorzug zu geben, liegt wohl dem Fin de Siècle-Kult des »Illusionismus« zugrunde, den Lóránt Czigány bei seinen Landsleuten ortet. Zu Fónagys Sicht passt auch das »Reich des schönen Scheins«, eine Formulierung, mit der Vajda etwas wie Coleridges »willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit« (1817) als ein kollektives Grundphänomen der Doppelmonarchie bezeichnet, das dort auf der Bühne, im Hofzeremoniell, in der mit dramaturgischen Finessen inszenierten Politik, in der Operette und in einer Prosa, die wie Honig floss, sichtbar wurde. All das macht das rituelle Wesen des »Theaterstaats« aus. Zur Illustration des oben Gesagten nehmen wir abschließend den Dramatiker Ferenc Molnár (1878  –  1952) in den Blick, für den die Beschwörung »geschönter Paralleluniversen« ein Anliegen war wie kaum für einen zweiten. In den Erinnerungen, die er nach dem Selbstmord von Wanda Bartha, seiner Begleiterin in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens, »im Herbst 1947 zu schreiben begann und an denen [er], mit Unterbrechungen, bis zum Herbst 1948 arbeitete«,355 stellte er nicht ohne Befriedigung fest, dass sein Geist »durch [die] Tätigkeit als Autor, die ein halbes Jahrhundert währte, alle Voraussetzungen dafür erhielt, dass das Geheimnisvolle ihm glaubhaft erschien«.356 Er besitze die Gabe der »geistigen Makropie [sic] … – man sieht kleine Gegenstände größer, als sie wirklich sind« –, eine Vorbedingung dafür, dass sie als Dramen Gestalt annehmen konnten.357 Er konnte kleine Dinge so in Szene setzen, dass sie sich nahtlos zu einem »geschönten Paralleluniversum« fügten. Als Dramatiker nutzte er das Potenzial von Anekdoten, um 355 Ferenc Molnár, Gefährtin im Exil. Aufzeichnungen für eine Autobiographie. Aus dem Amerikanischen von Werner von Grünau (Bad Wörishofen  : Kindler und Schiermeyer, 1953), S. 323. 356 Ebenda, S. 293. Zu Molnár siehe György M. Vajda, »Bemerkungen zu zwei Dramatikern der ausgehenden Donaumonarchie  : Ferenc Molnár und Ödön von Horvath«, Neohelicon, 11  : 1 (1984), S. 185  –  194. István Várkonyi, Ferenc Molnár and the Austro-Hungarian Fin de siècle (New York  : Peter Lang, 1992) [zu den Arbeiten bis 1920] war mir leider nicht zugänglich. 357 Molnár, Gefährtin im Exil, S. 282.

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die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Er war, mit andern Worten, ein Meister der Inszenierung »geschönter Paral­leluniversen«. Welche Gabe, so kann man fragen, war für einen Dramatiker im Theaterstaat der Habsburgermonarchie wichtiger als diese  ? Sie stellte jedenfalls sicher, dass Molnár im Berlin der Zwischenkriegszeit und dann in New York die Erinnerung an dieses untergegangene Reich mit so großem Erfolg beschwören konnte. Molnárs Talent, dem scheinbar Unbedeutenden durch Dramatisierung Bedeutung zu verleihen, ließ ihn sich überall – und ganz besonders in kulturell randständigen Situationen – zuhause zu fühlen. Er konnte eine marginozentrische Situation in ein beliebig angesiedeltes geschöntes Paralleluniversum verwandeln. Für die den öster­reichischen Menschen personifizierenden Dienstaristokraten bedeutete die Wanderschaft wie für Molnár geradezu ein Elixier. Nachdem er 1946 amerikanischer Staatsbürger geworden war, fasste er seine neue Befindlichkeit mit folgenden Worten zusammen  : »Vor vielen Jahren, als ich jung und sorglos war, fühlte ich mich in der Gesellschaft von Leuten, die im Leben das Rennen machten, völlig wohl. Heute aber fühle ich mich nur in meiner großen Familie der Verlierer zu Hause.«358 Was einem Zyniker als reiner »Illusionismus« erscheinen mag, kann für den, der diese Haltung verkörpert, zu einer Quelle neuen Lebens werden. Das sind die Freuden, die Ferenczis magisches Denken wenn schon nicht für alle bereithält, so doch für diejenigen, die diese Vergünstigungen zu schätzen wissen. Der eine oder andere unter den ungarischen Wissenschaftler-Künstlern, die von Weibel wiederentdeckt wurden, war wohl in ähnlicher Weise dafür begabt, selbst aus ungünstigsten Voraussetzungen das Beste zu machen. Vielleicht verstanden sich manche dieser Innovatoren auf ein gutartiges magisches Denken, ist dieses doch ein Talent, das bei Einwanderer hoch im Kurs steht. Hier gäbe es Stoff für ein Buch zu den Manifestationen des magischen Denkens bei den Schriftstellern der Zwischenkriegszeit in Öster­reich wie in Ungarn, von Roth und Werfel bis Kosztolányi und Márai. Gyula Krúdy, ein Experte in Sachen Illusionismus, gestand seinen Protagonisten als einzig mögliche Lebensform die des magischen Denkens zu.

10.4 Leopold Szondis Schicksalsanalyse und die ungarische Neigung zur Stasis Viele Menschen stehen heute der Psychoanalyse zunehmend reserviert gegenüber. Es hat aber schon immer Figuren in dieser großen Bewegung gegeben, die als etwas dubios galten. Dies trifft vielleicht auf niemanden mehr zu als auf den ungarischen 358 Ebenda, S. 291.



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Außenseiter Leopold (Lipót) Szondi (1893  –  1986), der sich letztlich jeder Klassifizierung entzieht.359 Sein Beharren auf dem Standpunkt, dass unsere scheinbar individuellen, schicksalsbestimmenden Entscheidungen in Wahrheit von den von unseren Vorfahren ererbten, »rezessiven« Genen bestimmt werden, ein Standpunkt, der für Szondi zur Grundlage seiner sogenannten Schicksalsanalyse wurde, scheint sowohl dem europäischen Existenzialismus wie der amerikanischen Erwartung, dass Kinder den Ehrgeiz haben, ihre Eltern zu übertreffen, zu widersprechen. Perseveration, ein Begriff der Lerntheorie, der die Tendenz eines Individuums bezeichnet, an einem früher erworbenen adaptiven Verhalten festzuhalten, bezeichnet bei Szondi das Festhalten einer Familie an genetisch ererbten Verhaltensmustern. Auf den ersten Blick steht diese Sicht in Gegensatz zu allem, was wir mit Modernität verbinden. Mit seiner Betonung des von den Ahnen Ererbten scheint Szondi sich dem Denken des 20. Jahrhunderts völlig zu verweigern. In Wahrheit ist exakt das Gegenteil der Fall. Die langsame Rezeption von Szondis Lebenswerk und seine Verortung im Hinblick auf die Theorien von Sigmund Freud und C. G. Jung lassen sich mit Hilfe von Virgil Nemoianus »Theorie des Sekundären« verstehen. Die klassische Psychoanalyse hatte die Rolle des »genbestimmten« Erbes unterdrückt, der Außenseiter Szondi hat es wieder in sein Recht eingesetzt. Sobald das als sekundär Ausgeschlossene wieder sichtbar wird, ergibt sich ein völlig neues Bild im Kaleidoskop, in dem die Bedeutung der Elemente verstärkt zu Tage tritt. Neue Erklärungsansätze werden möglich. So lässt sich mit Szondi unter anderem verstehen, warum so viele Menschen in Ungarn, besonders auf dem Land, sich der Moderne verweigern. Leopold Szondi wurde 1893 in der heutigen Slowakei als Lipót Sonnenschein in die Familie eines streng orthodoxen, für seine Talmudstudien lebenden Schusters und seiner zweiten Frau hineingeboren. Er war das zwölfte von dreizehn Kindern. In der Darstellung Paul Harmats erweist sich sein Leben als reich an geradezu romanhaften Wendungen, die eines Mór Jókai or Gyula Krúdy würdig wären. Seine älteren Brüder stellten die finanziellen Mittel für sein Studium in Budapest zur Verfügung. Im Ersten Weltkrieg diente er als Sanitäter. Dabei trug er immer ein Exemplar von Freuds Traumdeutung in seinem Tornister mit sich. Eines Tages stellte er nach einem Artilleriebombardement fest, dass in dem Buch ein Granatsplitter 359 Leopold Szondi wird selbst in den anspruchsvollsten Geschichten der Psychoanalyse routinemäßig ausgeblendet. Die zwei besten Darstellungen sind Susan K. Deri, Symbolization and Creativity (New York  : International Universities Press, 1984), S. 125  –  129, und Harmat, Freud, Ferenczi und die ungarische Psychoanalyse, S. 218  –  229. Siehe auch György Gyori, »Interview  : Lipót Szondi on his Life and on Destiny Analysis«, New Hungarian Quarterly, 17  :64 (1976), S. 93  –  102. Germanisten kennen Leopold Szondi vor allem als Vater des vergleichenden Literaturwissenschaftlers Peter Szondi (1929  –  1971).

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steckte, der, hätte das Buch ihn nicht abgefangen, zweifellos in seinem Brustkorb gelandet wäre.360 In einer späteren Episode veranlasste ihn ein Traum, eine lebenswichtige Entscheidung zu revidieren. Während einer verletzungsbedingten Rekonvaleszenz in Budapest fasste Szondi, wie er mittlerweile nach einer Namensänderung hieß, den Plan, eine Nicht-Jüdin zu heiraten. Im Traum fiel ihm eine halb vergessene Episode ein  : Einer seiner älteren Halbbrüder hatte, als Szondi selbst noch nicht auf der Welt war, eine Nicht-Jüdin geheiratet, was der Auftakt zu einer sehr unglücklichen Ehe gewesen war. Er erkannte, dass er sich eben anschickte, einem Muster, das in der Familie vorgegeben war, zu folgen  ; er löste die Verlobung und kehrte an die Front zurück. Als Psychiater bewies Szondi, wie Susan K. Deri (1916  –  1983), eine seiner namhaftesten Schülerinnen, berichtet, nicht nur ein enormes therapeutisches Einfühlungsvermögen, er war auch ein hervorragender Vortragender und Lehrer. In seiner Forschung konzentrierte er sich zunächst auf Familien mit zwei oder mehreren geistig behinderten Kindern. 1925 veröffentlichte er Schwachsinn, das erste von einem halben Dutzend Werken, die er abwechselnd auf Deutsch, Ungarisch und Englisch publizierte  ; deren Schwerpunkt lag auf Gebieten wie Zwillingsforschung, Familiengenetik und ererbten psychischen Veranlagungen. Im Lauf der 1930er Jahre festigte sich in ihm die Überzeugung, dass Verhaltensmuster, die sich in Familien wiederholen und von den betroffenen Individuen vorzugsweise als »Spiel des Zufalls« gedeutet werden, das Ergebnis einer genetisch bedingten Prädisposition sind. Dies versuchte er für die Wahl des Ehepartners in dem auf Englisch geschriebenen Buch Analysis of Marriages (Den Haag, 1937) nachzuweisen. Szondi entwarf seine Schicksalsanalyse und die darauf basierende Therapie als eine Methode, lebensbestimmende Entscheidungen, wie die Wahl eines Ehepartners, Berufs oder Domizils, innerhalb der von der Vererbung festgelegten Grenzen zu optimieren. Seine Therapie hilft Ratsuchenden dabei, potenziell ruinöse Entscheidungen, die von der »repetitiven Tyrannei der Gene« gesteuert werden, noch einmal zu überdenken.361 Ab 1939 trat Szondi in der Schweiz zunehmend in die Öffentlichkeit und konnte Schicksalsanalyse. Wahl in Liebe, Freundschaft, Beruf, Krankheit und Tod. Erbbiologische und psychohygienische Probleme bei Benno-Schwabe 1944 in Basel erscheinen lassen. Szondi hatte bis 1944 am Budapester Spital für Therapeutische Pädagogik gearbeitet. Im Juni dieses Jahres wurde er nach Bergen-Belsen deportiert, wo er seine psychiatrische Erfahrung fast sechs Monate lang einsetzte, um seinen Mithäftlingen das Lagerleben erträglicher zu machen. Nach seiner Entlassung hielt er sich in Caux in der Schweiz auf, wo er zufällig den Sohn von Auguste Forel traf, der 360 Harmat, Freud, Ferenczi und die ungarische Psychoanalyse, S. 219. 361 Deri, Symbolization, S. 127.



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ihn als Mitarbeiter nach Zürich einlud. (Auguste Forel, 1848  –  1931, war der Entdecker des Neurons und der Begründer der Psychiatrie in der Schweiz.) Von 1946 bis 1986 arbeitete Szondi in Zürich und gründete mehrere Institute, unter denen das seit 1970 bestehende »Lehr- und Forschungsinstitut für Allgemeine Tiefenpsychologie und speziell für Schicksalspsychologie« das bedeutendste ist. Mit Szondis Tod im Alter von 92 Jahren rundete sich eine Biografie, die schon für sich genommen ein Lehrstück ist und zeigt, was ein Mensch innerhalb der ihm von der Genetik vorgegebenen Grenzen zu leisten vermag. Seine Beiträge zur Psychiatrie, Pädagogik und Psychoanalyse sind hier erwähnt worden, da sein Lebenswerk tief in den ungarischen Verhältnissen verankert ist. Er hat nicht nur seine frühen Fallstudien zu Familien, zur Wahl des Ehepartners und zu geistig behinderten Kindern in Ungarn erstellt, auch sein Konzept der »Tyrannei der Gene« ist in besonderer Weise mit ungarischen Verhältnissen verbunden. Ausgehend von diesem lokalen Kontext hat Szondi dann die Parameter erweitert, indem er die Vererbung als eine das Leben des Menschen schlechthin gestaltende Macht erkannte. Dem marxistischen Konzept der Klasse und dem Freudschen frühkindlichen psycho­ sexuellen Trauma hat Szondi ein weiteres Konzept zur Seite gestellt  : die genetische Prädisposition, die der Fähigkeit des Menschen, frei zwischen lebensbestimmenden Möglichkeiten zu wählen, Grenzen setzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich Szondi dem Studium von an C. G. Jung gemahnenden mythischen Archetypen zu. In seiner Zusammenschau der Figuren Kain, Abel und Moses kommt Letzterem eine Rolle zu, die Täter und Opfer vereint. Es ist für Szondi nicht genug, die »kainitische, affektbedingte Aggression« als böse zu verurteilen und sich auf die Seite des Opfers zu stellen.362 Damit Moses als »brückenbauender« Zivilisationsbringer tätig werden kann, müssen Kain und Abel als komplementäre Gegensätze, als Polaritäten verstanden werden. Erst dann kann Moses – wie der Psychoanalytiker – die aggressiven Triebe in konstruktive Bahnen lenken. Eine Vollendung des Vergleichs von Szondis und Jungs Verständnis dieser Archetypen der Theodizee, wie Susan K. Deri (1916  –  1983) ihn in ihrem postum erschienen Buch, Symbolization and Creativity (1984), begonnen hat, wäre eine überaus lohnende Aufgabe. Im Gegensatz zu Freuds Überzeugung von der »völligen Gestaltlosigkeit der Kräfte des Es«, sieht Deri bei Szondi und Jung – die sich trotz ihrer Nachbarschaft in Zürich im Alter offenbar nie persönlich kennen lernten – die Ansicht, dass »formgebende kreative Prozesse aus der Tiefe der Psyche ihre Kraft nach oben vermitteln«.363 362 Szondi, Kain. Gestalten des Bösen (Bern / Stuttgart / Wien  : Verlag Hans Huber, 1969) und Moses. Antwort auf Kain (Bern / Stuttgart / Wien  : Verlag Hans Huber, 1973). 363 Deri, Symbolization, S. 119.

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Affinitäten zwischen Szondis Lebenswerk und Konzepten, denen wir in diesem Buch bereits begegnet sind, liegen auf der Hand. Szondis Nachdruck auf bisher unbeachtet gebliebenen Faktoren, die lebensbestimmende Entscheidungen mit beeinflussen, ist ein Paradebeispiel für die Wiederentdeckung des Sekundären, die Nemoianu als eine Hauptaufgabe der Forschung ansieht. Nicht genug damit, dass die Psychotherapeuten des Mainstream in der Vererbung einen solchen sekundären Faktor sehen, der demgemäß in ihren Modellen nicht vorkommt, blenden sie auch Szondi als eine sekundäre Figur völlig aus. Dasselbe Schicksal ist auch Susan K. Deri, seiner brillanten Schülerin, widerfahren, die in den 1930er Jahren an der Entwicklung des Szondi-Tests beteiligt war. Sie muss bis heute als die wahrscheinlich fähigste Interpretin ihres Mentors gelten, besonders mit Blick auf seine Bedeutung für die Psychologie der Kreativität. Szondi ist es laut Deri gelungen, »das Konzept ›Schicksal‹ von seinen fatalistischen Konnotationen zu befreien«.364 Indem die Gene in der Rolle der den »Schicksalsfaden spinnenden« Moiren auftreten, beeinflussen sie das »familiäre Unbewusste«, das als eine Art »biologisches Substrat« gedacht ist und acht »genetisch festgelegte ›instinktive Triebe‹ umfasst«. Diesen entsprechen acht Formen mentaler Störung, von denen Szondi der Meinung war, sie seien genetischen Ursprungs. Als Grundlage des Szondi-Tests nahm er Fotografien von Menschen, die an einer dieser acht Typen von Störung litten. Was das Schicksal »dirigierbar« macht, ist der Umstand, dass jede dieser acht Tendenzen sich in »einer Vielzahl von Formen ausdrücken kann, von schwerer Pathologie zu Charaktermerkmalen und angepassten Formen sozial konstruktiver Aktivitäten«.365 »Szondi postuliert«, so Deri, »das familiäre Unbewusste [aber eben nicht das gesamte Unbewusste, Anm. d. A.] als ein achtdimensionales Triebsystem, … das die äußersten Grenzen der möglichen Formen des individuellen Schicksals markiert.«366 Die auf der Schicksalsanalyse aufbauende Therapie zielt darauf ab, konstruktive Kombinationen der Triebe zu ermöglichen, die von Szondi so genannten »Kanalisierungen« oder lebensbestimmenden Entscheidungen. Jeder Trieb kann entweder in »spezifische Formen der Pathologie oder in spezifische Formen der Sozialisation und Sublimierung« kanalisiert werden.367 Entscheidungen auf dem Gebiet der Liebe, des Berufs, der Freundschaft, der Krankheit und selbst der Todesart machen es möglich, dass die acht »genbestimmten« Triebe so ausgelebt werden, dass sie für die Betroffenen selbst und für andere entweder lebensfördernd oder lebenshemmend – im schlimmsten Fall sogar 364 Ebenda, S. 125. 365 Ebenda, S. 126. 366 Ebenda. 367 Ebenda, S. 127.



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lebenszerstörend – sind. Aufgabe des »Ego pontifex«, des brückenbauenden Ich, ist es zwischen diesen Polen zu vermitteln. Eine Therapie nach Szondi ist eine frontale Auseinandersetzung mit dem »biologischen Wiederholungszwang, … [der] das Individuum zu Entscheidungen treibt, die auf die Neuinszenierung von Lebensformen, die aus dem Repertoire der familiären Vergangenheit der betreffenden Person stammen, hinauslaufen«.368 Der Therapeut sucht dieses »potentiell schädigende, genetisch gesteuerte repetitive Ausagieren« zu reduzieren, indem er seine Klienten mit der »hartnäckigen und buchstäblich konservativen Triebkraft« konfrontiert. Allerdings wird jede »›freie Entscheidung‹ die formgebenden Tendenzen des familiären Unbewussten respektieren und auf diesen aufbauen müssen«.369 Um eine Lücke zu schließen, die von den andern Erben Freuds gelassen worden war, sah Szondi eine Form der Therapie ausdrücklich auch für Klientinnen und Klienten vor, »deren frühere Psychoanalysen gescheitert waren. … Szondi formulierte für diese Gruppe eine genetisch fundierte ätiologische Theorie, … die auf den formgebenden, negativen wie positiven Tendenzen des familiären Unbewussten basiert«.370 Dieser Ehrgeiz war besonders sinnvoll für ein Land wie Ungarn, wo ererbte soziale Muster des noch in Resten vorhandenen Feudalismus auf dem Land noch immer stark vertreten waren. Welches Licht werfen Szondis Formulierungen genetisch strukturierter Triebe auf die ungarische Kulturgeschichte  ? Eine Argumentationslinie müsste wohl die von Szondi gesetzten Schwerpunkte mit der ungarischen Geschichte in Beziehung setzen, um zu zeigen, wie seine Konzepte Tendenzen der Kultur widerspiegeln, in der er aufwuchs. Eine zweite Argumentationslinie müsste den Versuch wagen, eine szondische Diagnose der ungarischen Geschichte zu erstellen, um in dieser die Entfaltung derselben Schlüsselkonzepte nachzuweisen. Beide Argumentationslinien zusammen werden wohl den Nachweis erbringen, wie deutlich die szondische Schicksalsanalyse Wahrheiten über die ungarische Geschichte rekapituliert. Sehen wir uns einige im Detail an. Auf der lokalen Ebene bestand vor 1938 in ländlichen Gebieten, ganz besonders im Kleinadel, unbestreitbar eine Abneigung gegen das Ablegen ererbter Verhaltensweisen. Als solche lassen sich Indolenz, Neigung zum Alkoholismus und obsessive Konzentration auf lokale Angelegenheiten identifizieren. Die soziale Apathie der ungarischen »Brache«, mit der Ady zu Gericht ging, war eine Folge des rückhaltlosen Versinkens in ein in den Familien weitervererbtes Verhalten, das jeder Rhetorik und jeder Zwangsmaßnahme widerstand. Sehr viele kleinadelige Familien lebten in 368 Ebenda. 369 Ebenda, S. 128. 370 Ebenda.

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den entlegeneren Regionen so, als seien sie in den überkommenen Kanalisierungen von Szondis familiärem Unbewussten stecken geblieben. Viele vormals hochangesehene Familien, oft solche, deren Landbesitz durch Fideikommisse zusätzlich belastet war, zeigten sich unfähig zu sozial konstruktiver Tätigkeit, wie die Schriftstellerin Margit Kaffka (1880  –  1918) in ihrem autobiografischen ersten Roman Farben und Jahre (1913) beschreibt.371 Dasselbe Syndrom wird in unzähligen Satiren auf den Klein­adel beschrieben, u. a. von Kálmán Mikszáth und Zsigmond Móricz. Der Topos des durch das Gewicht seiner Vorfahren gelähmten Landbesitzers ist in der ungarischen erzählenden Literatur bis 1938 allgegenwärtig. Dies ist die Pathologie, die Szondi auf das familiäre Unbewusste zurückführt. Ebenso offenkundig war auf nationaler Ebene die Unfähigkeit, das Wahlrecht nach 1867 über sechs Prozent hinaus auszuweiten. Solange die Doppelmonarchie währte, war Ungarns parlamentarische Regierung nie mehr als eine Parodie des »Theaterstaats«, eine Oligarchie, deren leeres Gepränge dazu dienen sollte, die Privi­ legien der Aristokratie und des Kleinadels zu kaschieren, die auf Kosten der Städter und Kleinbauern aufrecht erhalten wurden. Noch symptomatischer für Perseveration im szondischen Sinn war 1904 das Scheitern eines konzertierten Versuchs zur Erweiterung des Wahlrechts. Alle Bestrebungen, die Politik in konstruktivere »Kanalisierungen« umzulenken, waren durch die Trägheit des bestehenden Systems, wie Endre Ady nicht müde wurde zu wiederholen, zum Scheitern verurteilt. Es war geradezu so, als hätte sich das ganze Land in einem ungeheuren familiären Unbewussten festgefahren, im »Sumpf«, wie Ady sagt. Man konnte sich einfach nicht von der über viele Generationen geübten Unterordnung unter die Oberschicht und ihre Verstocktheit losreißen. Zwar fand kein Politiker und kein avantgardistischer Denker einen Ausweg aus diesem Kreislauf, aber immerhin gelang dem wenig beachteten Psychiater Leopold Szondi eine Diagnose der Ursachen. Die Idee, dass das Ungarn der Doppelmonarchie ein riesiges familiäres Unbewusstes in sich barg, wirft ebenfalls ein Licht auf György Mihály Vajdas Interpretation des Horthy-Regimes als ein verlängertes »Kryptodasein« der Habsburgermonarchie. Der Ausdruck »Kryptodasein« trifft gut Szondis Beschreibung, wie biopsychologische Schichten des Unbewussten in verdrängter Form sich über Generationen hinweg am Leben erhalten und diesen Umstand nutzen, um Wahlfreiheit einzuschränken und Initiativen verkümmern zu lassen. Wenn es je ein Land gegeben hat, das den Versuch unternommen hat, Freiheit der Wahl im Wechsel seines politischen Systems auszuüben und mit diesen Versuchen fortwährend gescheitert ist, dann war das Ungarn zwischen 1867 und der Mitte der 1940er Jahre. 371 Margit Kaffka, Farben und Jahre. Aus dem Ungarischen von Ita Szent-Ivanyi (Berlin  : Verlag Volk und Welt, 1958).



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Manche Beobachter sprechen von einem unerklärlich schweren Los der Ungarn. Mit Szondi könnte man dieses Los als das Ausagieren eines nicht diagnostizierten genetischen Wiederholungszwangs deuten, der unüberlegte, vorschnelle Entscheidungen begünstigt. Beispiele für solche Entscheidungen sind Kossuths hitzköpfige Unabhängigkeitserklärung im Mai 1849, die Entscheidung der Regierung Karóly im November 1918, die Armee zu einem Zeitpunkt zu entlassen, als sie dringender gebraucht wurde denn je, und die Entscheidung derselben Regierung im März 1919, die Macht an Béla Kuns Kommunisten abzutreten. Derart schicksalsträchtige politische Schachzüge mit szondischen Kategorien in Verbindung zu bringen ist natürlich völlig willkürlich. Auf dieser Ebene ergibt eine szondische Diagnose keine kausale Erklärung, sie liefert eher die metaphorische Beschreibung eines eingefahrenen Verhaltens. Die Symmetrie zwischen Szondis Kategorien und der schädlichen Wiederholungsträchtigkeit der ungarischen Geschichte unterstreicht lediglich seine Affinität zu der Kultur, die ihn hervorgebracht hat. Die konzeptuellen Konstrukte, die er ersonnen hat, kommen unheimlich nahe an ungarische Wirklichkeiten heran. Man muss sich auch nicht um den Wahrheitsgehalt seiner Hypothesen sorgen, wenn es nur um ihr heuristisches Potenzial für die Benennung ungarischer Eigenarten geht. Betrachtet man Szondis Hypothesen losgelöst von ihrem psychotherapeutischen Kontext, dann erscheinen sie in einem andern Licht. Sie erklären mittels der Psychoanalyse, warum die Vorfahren dafür geehrt werden müssen, dass sie den Einzelnen wie die Nation zum Leben motivieren. In der Epoche zwischen 1850 und 1945 und ganz besonders während der Millenniums-Festivitäten 1896 – eine Sondervorstellung eigener Art des Theaterstaats – überschüttete Ungarn seine kämpferischen Urahnen wie Graf Miklós Zrínyi (1620  –  1664) und Ferenc Rákóczi II. (1676  –  1735) mit Ehrungen. Dabei fielen sogar solche für mythische Kollektive ab, wie für die arpadischen Invasoren des letzten Jahrzehnts des 9. nachchristlichen Jahrhunderts. Man konnte meinen, die Nation feiere im Jahr 1896 ihr familiäres Unbewusstes, indem sie Festzüge veranstaltete, Statuen auf öffentlichen Plätzen errichtete und historische Romane schrieb. Die ungarische Kultur der Doppelmonarchie verstand sich ausgezeichnet auf die Externalisierung des familiären Unbewussten im spektakulären Abfeiern konstruktiver Leistungen. Es gab freilich auch eine negative Folge  : Das ständige Bejubeln der Vorfahren schwächte den kollektiven Willen zur Modernisierung des Gemeinwesens und zu einer Neugestaltung der Klassenhierarchie, die über das hinausging, was von den Vorfahren abgesegnet worden war. Wenig konstruktive, greisenhafte Lösungen trotzten den Protesten der Reformer. Das Streben der Nyugat-Literaten nach Verwestlichung, das aufgeladen war mit der Energie von Adys fiebriger Ungeduld über die Neigung der Nation, in altmodischem Verhalten vor sich hin zu dümpeln, kann als gescheiterter Versuch gesehen

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werden, eine genetisch sanktionierte Lebensweise auszuhebeln. Die Nyugat-Modernisierer mühten sich vergeblich, das Erbe schicksalsträchtiger Entscheidungen, die lange vor ihrer Zeit getroffen worden waren, abzuschütteln. Die durch Szondi vermittelte Einsicht in den Einfluss, dem wir seitens ­unserer Vorfahren ausgesetzt sind, wirft ein neues Licht auf die Lesart der westeuropäischen Literatur, die Mihály Babits in seiner Geschichte der europäischen Literatur (1934  –  1935) vorlegt. Er weist dabei auf Ähnlichkeiten in Vision und Stil hin, die Dichter und Schriftsteller verbinden, zwischen deren Lebenszeit Hunderte, wenn nicht Tausende Jahre liegen. Es hat den Anschein, als hätten die später Gekommenen die genetischen Muster ihrer fernen Vorgänger geerbt. Babits verknüpft Literaten verschiedener Epochen und Nationen miteinander, als teilten sie alle ein familiäres Unbewusstes, aus dem die Nachfahren Muster schöpften, welche schon die Begründer der jeweiligen Tradition beseelt hatten. Er bildete aus sechsundzwanzig Jahrhunderten Literatur – von Tyrtaios aus Sparta (7. Jahrhundert v. Chr.) bis zu dem Belgier Verhaeren (1855  –  1916) – einen riesigen Genpool literarischer Eigenarten und suchte damit sein leidenschaftliches Plädoyer zu begründen, das Ungarn der Zwischenkriegszeit möge sich mit diesem gesamteuropäischen Repertoire literarischer Vorbilder identifizieren. Man könnte sagen, der gesamteuropäische Genpool sei für ihn zum geheimen eigentlichen Protagonisten seiner Literaturgeschichte geworden. Das Eintauchen und Überwechseln von Ungarn in das gesamteuropäische familiäre Unbewusste schien für ihn denkbar, als könnte er – einsamer Weiser, der er war – eigenhändig den Triumphwagen der europäischen Kultur der ungarischen Ahnenlast vorspannen. Babits konnte nicht voraussehen, wie vollständig sein Projekt der »Kanalisierung« ungarischer Kreativität in Richtung ihrer westeuropäischen Bestimmung erst von Hitler und dann von Stalin vernichtet werden sollte. Auch Gyula Krúdy, ein Fantastiker par excellence, bedient sich jener ererbten kollektiven Erinnerungen, deren Vorhandensein Szondi postuliert. Seine Großtante hatte ihm erzählt, dass sie vor Zeiten in der Region von Nyírség im Norden von Debrecen eine Schamanin gewesen war. Ähnlich zeitlose Erinnerungen machen sich im Bewusstsein von Krúdys höchst unwahrscheinlichen Figuren in höchst unwahrscheinlichen Augenblicken breit. Seine Figuren – wir werden es in Kapitel 12 noch genauer sehen – leben in einer Erzählzeit, die sich zwischen Präteritum und Präsens in unruhiger Schwebe hält. Ereignisse erweisen sich häufig schon deshalb als undatierbar, weil das familiäre Unbewusste ohne Rücksicht auf narrative Abfolge aufquillt. Wie ein Schamane, der zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendelt, lebt Krúdys Figur Sindbad von einem Augenblick zum nächsten, eingehüllt in ungebetene Erinnerungen, die er nicht in konstruktive Kanäle zu lenken vermag  ; es fehlt ihm dazu an Willenskraft. In einem Gedankenexperiment erscheint es möglich, dass Sindbad – ebenso wie die Hauptfigur von Krúdys



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Die rote Postkutsche (1913  ; deutsch 1966) – in einer szondischen Therapie lernen könnte, seine unbeherrschbaren, genbestimmten Erinnerungen in sozial sinnvolle Bahnen zu lenken.372 Tatsächlich vergeuden diese Figuren ihr Leben, indem sie geschönten Paralleluniversen nachjagen, die wie Trugbilder kommen und gehen. An Ungarns familiäres Unbewusstes gekettet, gelingt es Krúdys Phantasten nicht, im sich rapide modernisierenden Pest eine bürgerliche Existenz aufzubauen, und sie ziehen sich, wie Krúdy selbst, in die prekäre Sicherheit ihrer Schlupfwinkel in Buda zurück. In diesem Licht ist es verlockend, Szondis und Deris Vision als eine holistische Kulturtheorie zu deuten. Beide sehen die gewachsene Bindung von Individuen an ihre Gemeinschaften als durch jene Gene verursacht, die sie mit ihren Vorfahren teilen. Die Gemeinde der eigenen Vorfahren lebt ein Kryptodasein in unseren Genen und muss in jeder Lebenszeit neu organisiert oder »kanalisiert« werden. Wir alle sind Bündel der rezessiven Gene unserer Vorfahren und können nur dann hoffen, uns vom Einfluss ihres unrealisierten Strebens zu befreien, wenn es gelingt, uns diese Tatsache bewusst zu machen. Zweifellos hätte Endre Ady mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, dass seine Warnungen vor ungarischer Stasis auf eine so ingeniöse Weise bestätigt wurden, und auch Béla Bartók hätte wohl einen Zusammenhang zwischen Szondis Forschungsergebnissen und seinen eigenen gesehen. Nicht nur betrachtete er seine Sammlung von Tausenden zum Teil seit Urzeiten überlieferten Volksmelodien als einen neu entdeckten Schatz archaischen Kulturguts, er integrierte als virtuoser »Bricoleur« immer wieder derartige »gefundene Objekte« in Kompositionen, die das ursprüngliche Material zu Mustern von phänomenaler Komplexität hybridisierten. Das elementare Material der Vorfahren wurde unter seinen Händen zu hypermodernen musikalischen Gebilden. Eine Melodie, die bereits unzählige Kreuzungen durchlaufen hatte, erlebte durch diese Kanalisierung ihre aktuelle Erweckung zu einem neuen, zeitgemäßen Kryptodasein. Das Musikgut, das von der gewachsenen Gemeinschaft genetisch miteinander verwandter Kleinbauern über viele Generationen hinweg am Leben erhalten worden war, findet sich wieder in Bartóks Werken, die mittlerweile Teil des Welterbes der Musik sind. Ady und Bartók mögen hier stellvertretend genannt sein für die lange Reihe potenzieller ungarischer Erneuerer – oder, genauer gesagt, potenzieller Erneuerer Ungarns –, die mit verblüffenden Ergebnissen uralte Komponenten kreuzten in der Manier, die letztendlich für die Kultur der Doppelmonarchie insgesamt typisch ist. Die Kunst der Hybridisierung stand hoch im Kurs gerade in einem Land, dessen 372 Gyula Krúdy, Die rote Postkutsche. Aus dem Ungarischen von György Sebstyén (Wien / Hamburg  : Zsolnay, 1966).

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politische Elite stolz war auf ihr starres Festhalten an den tief verwurzelten Mustern des von Szondi so genannten familiären Unbewussten. Die für Ungarn typische Versuchung, an veralteten Mustern perseverierend festzuhalten, spornte die schöpferischen Geister des Landes zu – oft genug verzweifelten – Versuchen an, das Joch des Ererbten abzuschütteln. Leopold Szondi lieferte dafür im Nachhinein das theoretische Rüstzeug.

Kapitel 11

Was schöpferische Geister unklassifizierbar macht 11.1 Probleme der Kategorisierung Was kann von dem bisher Gesagten wegweisend für künftige Forschung sein  ? Alte und zum Teil neue Kategorien für Individuen, Gruppen und Regionen in der Doppelmonarchie zwischen 1867 und 1938 und ganz besonders für Wien und Budapest sind zur Sprache gekommen. Es hat sich gezeigt, dass das Repertoire an kulturgeschichtlichen Schlüsselbegriffen der Erweiterung bedarf. Vertraute Kategorien müssen neu konzipiert, weniger vertraute zurückgewonnen und neue erst gefunden werden. Hinsichtlich der Originalität des Analyseansatzes lassen sich Parallelen feststellen zwischen Moravánszkys Kulturgeschichte der bildenden Kunst, Vajdas literarischer Kulturgeschichte und Steinbergs Kulturgeschichte der Musik. Letztere hat seit 1992 besondere Aufmerksamkeit erfahren – durch akribisch recherchierte Artikel im Musical Quarterly, dessen Herausgeber Leon Botstein und Michael Steinberg sind. Manche Konzepte – Nemoianus mitteleuropäische Bildungsethik zum Beispiel oder die von Vajda festgestellten Gemeinsamkeiten innerhalb der Doppelmonarchie – können zu Ausgangspunkten für neue Fallstudien werden, während andere, wie Weibels Dritte Kultur oder Sterns »(zu) teuer Erkauftes«, sich unter Umständen als zu wenig konkret erweisen, um künftiger Forschung als Anhalt zu dienen. Eine Möglichkeit, um Aufgaben für künftige Forschung zu identifizieren, ist die Konzentration auf Figuren, die am deutlichsten außerhalb aller bekannten Kategorien stehen. Lässt sich ein Anreiz denken, der stärker zu Neukonzeptionen herausfordert als das Studium derjenigen, die sich am hartnäckigsten jeder gängigen Kategorisierung widersetzen  ? Rilke, Kafka, Musil, Mahler, Schönberg, Plečnik – das sind die Persönlichkeiten, die wir zum Teil bereits als unklassifizierbar kennen gelernt haben. Der bloße Gedanke des unklassifizierbaren Genies bedeutet eine Gefahr für die zuvor ausgesprochene Prämisse, dass die Kulturgeschichte der Doppelmonarchie ihre Kernkonzepte revidieren und deren Anzahl erweitern muss. Sollte sich herausstellen, dass eine signifikante Anzahl dieser schöpferischen Geister, von denen einige geradezu synonym mit öster­reichischer oder ungarischer Kreativität sind, tatsächlich so gut wie in keine dieser Kategorien passt – alte, neue, vergessene –, was geschieht dann mit dieser Zielsetzung  ?373 373 Scott Spector hat die »Räume dazwischen« kartografiert, die in Prag von Gruppen ohne eigent­

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Je eingehender man die wirklich Großen – Rilke, Kafka, Mahler, Schönberg – studiert, desto deutlicher bestätigt sich ihre Einzigartigkeit. Bei den meisten manifestiert sich, wie Daniel Barenboim mit Bezug auf Gustav Mahler sagt, »eine gewisse Verrücktheit«.374 Wo es um unklassifizierbare Denker geht – in der Doppel­ monarchie oder wo auch immer –, lässt sich kein nur annähernd vollständiger Katalog erstellen. Noch wichtiger ist, dass die Diagnose der Unklassifizierbarkeit einen eindeutigen Maßstab voraussetzt. Ist dieser auf eine Figur, einen Pionier nicht anwendbar, erweist ihn eben das als unklassifizierbar. Der schon mehrfach erwähnte Rudolf Kassner hat diesem Thema einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Lebensarbeit gewidmet.375 Als ausgewiesener Kenner menschlicher »Typologien« war Kassner sich der Vielzahl der Typen, die das Habsburgerreich hervorbrachte und die innerhalb Europas einzigartig war, bewusst, verwies aber zugleich auf seinen Freund Rilke, der als Person keinem dieser Typen entsprach. Der Typologe hätte auch hinzufügen können, dass in der Doppelmonarchie unzählige Menschen lebten, von denen jeder eine Spezies für sich darstellte. Aus naheliegenden Gründen bleibt bei ihm auch unerwähnt, dass er, der große Kenner des öster­reichischen Menschen, selbst unklassifizierbar war, was sich allerdings für ihn und seine Reputation nachteilig ausgewirkt hat  : Da es so schwer ist, ihn irgendeiner Schule oder einer Gruppe von Gleichgesinnten zuzurechnen, rutscht er nur allzu leicht durch das Netz der Aufmerksamkeit. Ähnliches gilt für Alfred Kubin und Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1877  –  1954), die fast fünfzig Jahre miteinander korrespondierten.376 Wie zu erwarten, wetteiferten diese Ausnahmeerscheinungen in der Darstellung ihrer Mit-Exzentriker.377 liches »Zentrum« besetzt wurden, und zeigt beispielhaft vor, wie man das Unklassifizierbare durch unablässige Neukartografierung zähmen kann. Siehe Spector, Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 2000), insbes. S. 1  –  35, 234  –  240. 374 Daniel Barenboim, Musik – Mein Leben. Herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Michael Lewin (Reinbek bei Hamburg  : Rowohlt, 1992), S. 200. 375 Zu Kassner siehe William M. Johnston, Der öster­reichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Öster­reichs (Wien / Köln / Graz  : Böhlau, 2010), S. 264  –  273. Manfred Engel hat ein typologisches Porträt des »Jahrhundertwendlers« geschaffen, das an Kassners eigene Methode erinnert  ; siehe »Das Frühwerk  : Einleitung«, in Rainer Maria Rilke, Gedichte 1895 bis 1910, Werke  : Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 1 (Frankfurt a. M. / Leipzig  : Insel Verlag, 1996), S. 626  –  627. 376 Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Sämtliche Werke in zehn Bänden. Texte, Briefe, Dokumente (Salzburg  : Residenz Verlag, 1983  –  1991). Band 7 (1983) enthält den Briefwechsel mit Alfred Kubin, 1903  –  1952, 213 Briefe und Postkarten. 377 Dagmar Barnouw hat zwei weitere unklassifizierbare Essayisten höchst geistreich verglichen, den Öster­reicher Franz Blei, Autor des im Text erwähnten Werks Das große Bestiarium der modernen Literatur, und den Engländer Lytton Strachey. Siehe Barnouw, »Franz Blei, Literat – Lytton Strachey, Writer  : Zur Frage ihrer Rezeption«, Neohelicon, 6  :2 (1978), S. 177  –  225.



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Wie lässt sich wenigstens ansatzweise eine Erklärung für das Überangebot an Individuen sui generis in der Doppelmonarchie finden  ? Die ethnische Vielfalt im Reich – eines von Csákys Lieblingsthemen – garantierte, dass in keiner einzelnen Region, geschweige denn in ganz Cisleithanien oder Transleithanien, irgendein Persönlichkeits- oder Intellektualitätstypus überwog. Die Doppelmonarchie verpflichtet nicht auf ein menschliches Idealbild, das dem homme moyen sensuel in Frankreich nach 1789, dem viktorianischen Gentleman und seiner Lady in England oder dem preußischen Junker entsprochen hätte. Der Diskurs über den öster­reichischen Menschen kam überhaupt erst nach 1914 auf. Dieser Diskurs füllte das Vakuum, das entstanden war durch das Versäumnis des Reiches, ein plausibles Menschenbild zu definieren und damit deutlich zu machen, wodurch Öster­reicher und Deutsche sich unterscheiden. Dass die Öster­reicher es nicht als geboten ansahen, sich von den Ungarn abzugrenzen, die ihr Selbstporträt mit übermäßiger Schärfe profilierten, sollte sich zur gegebenen Zeit rächen. Im Zeitalter von Maiers territorialem Nationalismus erwies sich der mangelnde Konsens der Öster­reicher über ihr Selbstbild rasch als Nachteil, ja als ein letztlich fatales Versäumnis. Ungarn, die ihrem Chauvinismus freien Lauf ließen, bekrittelten, die Öster­reicher wüssten nicht, wer sie seien  : Im Vergleich zu den ihrer selbst übermäßig sicheren Magyaren war an dieser Kritik jedenfalls etwas Wahres. Die Öster­reicher waren dramatisch ins Hintertreffen geraten hinsichtlich der Formulierung ihrer Charaktereigenschaften und hinsichtlich des Wissens darum, was Hassinger später ihr soziales Kapital nannte. Dass bis 1914 jegliches Bewusstsein öster­reichischer Eigenart fehlte, verweist deut­lich auf die Gefahren kulturellen Nachzüglertums. Dieser Mangel hatte mindes­tens zwei einander widersprechende Konsequenzen. Wenn sie kein Paradigma des Öster­reichertums zustande brachten, welche Chancen hatten dann die Öster­reicher, ihre Hegemonie im Reich gegen die Slawen, Magyaren und das deutsche Kaiserreich in ihren Schriften zu verteidigen  ? Ohne ein bis ins Detail ausgeprägtes Selbstbild hatten sie keine Aussicht, im Kampf der konkurrierenden ethnischen Publizisten zu bestehen. Das war das eine. Dazu kam als Zweites, dass die Unfähigkeit, eine Formel für die öster­reichische Eigenart zu finden, eine stehende Einladung für Literaten von der Art Herzmanovsky-Orlandos war, ihre Exzentrik ungebremst auszuleben und auf diese Weise die Vielzahl menschlicher Sonderbarkeiten noch weiter zu vermehren.

11.2 »Skurril« als Synonym für »unklassifizierbar« Welche Etiketten standen den Literaten der Doppelmonarchie um 1900 als Bezeichnungen für Exzentrik zur Verfügung  ? Rudolf Kassner beschäftigte sich schon ab

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etwa 1905 intensiv mit dem charakterologischen Diskurs in Frankreich und wurde zeitlebens nicht müde, dessen Relevanz für Mitteleuropa zu betonen. Kassner sah, wie wir schon wissen, in der schier unüberblickbaren Fülle menschlicher Typen eine der hervorragenden Eigenschaften der Doppelmonarchie. Dieselbe Überzeugung lag dem Werk Öster­reich-Ungarn in Wort und Bild (1886  –  1902) zugrunde, einer Serie von Publikationen, die allgemein zu Ehren ihres Initiators als das »Kronprinzenwerk« bezeichnet wurde. 1883 hatte Kronprinz Rudolf (1858  –  1889) die zwölf Bände zu Cisleithanien und die neun zu Ungarn in Auftrag gegeben  ; Herausgeber der ungarischen war Mór Jókai, ein immens produktiver Schriftsteller.378 Indem die Herausgeber und Autoren dieser Bände, wie György M. Vajda betont, in liebevollem Detail die Vielfalt der Völker, Sitten und Landschaften vor ihrem Lesepublikum ausbreiten, machen sie die typologische Überfülle zu einem bestimmenden Merkmal des Reiches und nehmen damit Moritz Csákys Lieblingsthese gleichsam vorweg. Die Möglichkeit, dieses Programm Realität werden zu lassen, starb in Sarajewo. Man kann selbstverständlich nicht erwarten, dass im »Kronprinzenwerk« als einem Produkt der Patronage des Kaiserhauses dem Unklassifizierbaren Raum geboten wurde. Die Herausgeber waren viel eher bemüht, die widerspenstige Vielfalt der Ethnizitäten des Reiches zu zähmen als auf das hinzuweisen, was sich der Kategorisierung entzog. Bei der Lektüre dieser Bände käme niemand auf die Idee, dass die öster­reichische Variante des Deutschen ein eigenes Wort für »unklassifizierbare« Personen und Ereignisse hat, nämlich skurril, ein Terminus, der sich anbietet für alles, was widersinnig oder in phantastischer Weise unwahrscheinlich erscheint. Dem Adjektiv liegt das lateinische Wort scurra zugrunde, der notorisch unernste Mensch, der Possenreißer. Den Abstand, der zwischen einem Possenreißer und einem römische Sitte respektierenden Familienvater liegt, bringt das Sprichwort »De scurra multo facilius dives quam pater familias fieri potest« [Aus einem lustigen Bruder wird eher ein reicher Mann als ein guter Hausvater] zum Ausdruck.379 Für unseren Zusammenhang unmittelbar relevant ist folgendes, ebenfalls bei Cicero überliefertes Zitat  : »Zeno Socratem scurram Atticum fuisse dicebat [Zeno pflegte zu sagen, Sokrates sei ein attischer Spaßmacher gewesen]. Es war, so könnte man sagen, Sokrates’ »Skurrilität«, die in seinen Mitbürgern die Idee reifen ließ, er sei ein Kandidat für den Schierlingsbecher.380 378 Siehe György M. Vajda, »Die öster­reichisch-ungarische Monarchie in Wort …«, in Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740  –  1918 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994), S. 143  –  164. 379 Karl Ernst Georges, Der neue Georges. Ausführliches Handwörterbuch Lateinisch-Deutsch (Hannover, 1918, neubearbeiteter Nachdruck Darmstadt  : Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, 2013), Bd. 2, Spalte 4310. 380 Ebenda.



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Aus dem schon Gesagten wird klar, dass der scurra jedenfalls außerhalb der gesellschaftlich sanktionierten Mores und Erwartungen steht. Während das Spektrum der Bedeutungen von englisch »scurrilous« einen großen Bereich des Widerlichen abdeckt, fühlen sich Öster­reicher (und Süddeutsche) eher durch unwahrscheinliche Zufälle, durch das harte Aufeinanderprallen gegensätzlicher sozialer oder ästhetischer Register oder die schockierende Juxtaposition von Erhabenem und Vulgärem zur Aussage »Das ist doch einfach skurril  !« veranlasst. Skurril dient somit in der Alltagssprache zum Ausdruck der Ratlosigkeit bei der Begegnung mit etwas – eher als mit jemand – anscheinend Unklassifizierbarem oder Unerklärlichem. Es kann sowohl Billigung wie Missbilligung ausdrücken – und oft genug beides. Diejenigen, die hier als unklassifizierbar rubriziert worden sind, schaffen häufig Werke, die sich mit dem Begriff »skurril« charakterisieren lassen  ; es bedeutet dann soviel wie »unergründlich«. Die Romane von Herzmanovsky-Orlando oder Kafka, die Zeichnungen von Alfred Kubin oder Oskar Kokoschka werden gern damit bezeichnet, schon weil dieses Wort es den Öster­reichern ermöglicht, sich vom Unheimlichen, Einzigartigen dieser Werke zu distanzieren. Diese Art der Distanzierung bot sich an in einer Gesellschaft, die einerseits streng reguliert war, andererseits geringfügige Akte der Rebellion willkommen hieß. Eine Kultur, die sich über Jahrhunderte durch ein Übermaß an grotesken Juxtapositionen auszeichnete, hatte in »skurril« ein Wort gefunden, aus dem ein gewisser – wenn auch widerwilliger – Respekt sprach. Einige unklassifizierbare Schriftsteller – Kafka etwa, Kubin als Verfasser von Die andere Seite, Herzmanovsky-Orlando – kultivierten förmlich ihre Skurrilität in Erzählungen voll unverständlicher Wendungen und kurioser Begebenheiten. Eine von Harald Szeemann kuratierte Schau zu diesem Genre, auf die wir uns hier berufen können, fand 1996  –  1997, ein Jahr vor Peter Weibels »Dritte Kultur«Ausstellung, statt. Ihr Titel Austria im Rosennetz bezog sich auf HerzmanovskyOrlandos Roman Der Gaulschreck im Rosennetz (1928) und gab so die Absicht zu erkennen, einen Katalog der ausgefallensten schöpferischen Geister Öster­reichs zu präsentieren.381 In einem vordem beispiellosen Unterfangen versammelte der Katalog nicht weniger als 168 Persönlichkeiten und berücksichtigte auch Bühne und Film, die von Ausstellungen üblicherweise übergangen werden. Der sonderbare Titel dieser Aufzählung, »Biographarium«, weckt mit seinem Anklang an »Bestiarium« – und an Das Große Bestiarium der modernen Literatur (1922) von Franz Blei (1871  –  1942) – die Assoziation zu einer Art Menschenzoo. Schon die bloße Auf381 Peter Noever (Hg.), Austria im Rosennetz. Eine Ausstellung von Harald Szeemann (Wien  : MAK und Zürich  : Kunsthaus Zürich, 1996). Klaus Ferentschiks »Biographarium« mit 168 Einzelporträts bietet auf S.  229  –  329 eine 600 Titel umfassende Bibliografie  ; viele der Einträge sind außergewöhnlich, um nicht zu sagen skurril.

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listung der Namen würde ausreichen, Öster­reich einen führenden Rang im Reich des Skurrilen zu sichern. Kassners schon mehrmals zitierte These vom Wuchern der Typen in der Doppelmonarchie nimmt mit jeder Seite konkretere Gestalt an. Der Kompilator des »Biographarium«, Klaus Ferentschik, überhöht die distanzierende Wirkung durch seinen Kommentar, dessen Sonderbarkeit sich absolut kongenial zu den von ihm ausgegrabenen Exzentrikern verhält. Ein Team französischer und belgischer Surrealisten oder spleeniger englischer Exzentriker wäre chancenlos gegen die skurrile Phalanx, die Öster­reich aufzubieten hat. Im Katalog Austria im Rosennetz sind zwei Künstler-Schriftsteller als stellvertretend für das Genre des Skurrilen herausgegriffen. Der eine ist Alfred Kubin (1877  –  1959), der sich 1906 in das Schloss Zwickledt bei Wernstein in Oberöster­ reich zurückzog, wo er auch seinen einzigen Roman, Die andere Seite (1909), schrieb. Die Geschichte, die surrealistische Züge aufweist, acht Jahre bevor der Begriff bei Guillaume Apollinaire erstmals auftaucht, spielt in einem Traumreich im Fernen Osten, das mit seinen missgestalteten Figuren und einstürzenden Bauwerken eine Absage an alles Moderne, »Amerikanische« ist. Zwar lässt sich der Roman nicht ohne Weiteres als Satire auf die Doppelmonarchie lesen, was aber auffällt ist die Angst vor dem Zusammenbruch, die diese Gesellschaft fest im Griff hat, und eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem unzugänglichen Diktator Patera und Kafkas noch ungeborenen Gesetzeshütern.382 Der zweite beispielhafte Exzentriker ist Aloys Zötl (1803  –  1887), ein vor seiner Entdeckung Mitte der 1950er Jahre völlig unbekannter oberöster­reichischer Färbermeister und Maler, Schöpfer – so André Breton – des schönsten Tierbuchs der Welt. Breton bezeichnete Zötls Bestiarium als ein Werk des Surrealismus avant la lettre. Aber weder dieses Etikett noch die Bezeichnung von Zötls Lebenswerk als Skurrilität werden seiner fünf Dezennien währenden Hingabe an die Tiermalerei abseits jeder Öffentlichkeit wirklich gerecht. Er bleibt ein Rätsel in der allerbesten Tradition öster­reichischer unklassifizierbarer Künstler. Wie wir schon am Beispiel Zötls sehen können, ist die Grenze zwischen »skurril« und »surreal« zwar fließend, vorhanden ist sie dennoch.383 Der Anhängerschaft der 382 Siehe Clemens Ruthner, »Traumreich  : Die fantastische Allegorie der Habsburger Monarchie in Alfred Kubins Roman Die andere Seite (1908 / 09)«, in Amália Kerekes u. a. (Hg.), Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Öster­reich-Ungarns (Tübingen / Basel  : A. Francke Verlag, 2004), S. 179  –  197. Für andere Visionen der »Einübung in Katastrophen« siehe Armin A. Wallas, »Gewalt und Zerstörung  : Zur Thematisierung von Violenz in der öster­reichischen Literatur der Jahrhundertwende«, Zeitschrift für deutsche Philologie, 108 (1989), S.  198  –  221, insbes. 214  –  218. 383 Patrice Higonnet hat ein Modell vorgestellt, wie sich Kulturhistoriker die Kreativität des französischen Surrealismus vor Augen führen können, ohne sich zugleich auf dessen Unberechenbarkeiten einzulassen. Siehe Higonnet, Paris. Capital of the World (Cambridge MA  : Harvard University



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Dichter André Breton, Tristan Tzara, Paul Éluard und Louis Aragon wird man nachsehen, wenn sie zum Schluss kommen sollten, das öster­reichische Skurrile sei mit dem französischen Surrealen ident. Verleitet vom Reim von »skurril« und englisch »surreal«, ein linguistischer Zufall, der schon für sich genommen sowohl skurril wie surreal ist, mögen Angelsachsen ähnlich denken. Trotzdem bleibt ein Unterschied bestehen – zwischen den Begriffen und zwischen den Kulturen, aus denen sie jeweils hervorgegangen sind. Für die Öster­reicher produziert ihre Kultur das Skurrile spontan, gewohnheitsmäßig und ohne künstlerisches Zutun, während die Franzosen in André Bretons Surrealismus eine Entfesselung der Vorstellungskraft sehen, eine Übung in freiwilliger Halluzination, die Künstlern und Schriftstellern geholfen hat, Natur in Kunst oder mindestens ins Artifizielle überzuführen. In der Doppelmonarchie wie im heutigen Öster­reich macht das Skurrile sich ungebeten und ungekünstelt jedermann bemerkbar. In Frankreich und Belgien hingegen fanden die Auftritte des Surrealen ab dem Anfang der 1920er Jahre erst nach entsprechender Manipulation und nur zum Vergnügen eines eingeweihten Kreises statt. Das Skurrile ist ein alltägliches Phänomen, das sich jedes Mal einstellt, wenn zwei oder mehr kulturelle Merkwürdigkeiten mit amüsantem oder abstoßendem Effekt aufeinander prallen. Das Surreale ist dagegen ein raffiniertes Produkt künstlerischer Intervention, die mit Träumen Bricolage treibt. Die Öster­reicher sehen das Skurrile als Teil ihres angestammten Erbes, während manche französische Intellektuelle es Frankreich zugute halten, dass die surrealistische Liebe zum Präsentismus – ein Begriff, der fast zeitgleich mit dem des Surrealismus erstmals auftaucht – und zu Phantasmagorien mittlerweile Teil der postmodernen Sensibilität geworden ist.384 Selbst wenn man die Lust am Skurrilen für eine lokale Variante des Surrealen hält, wird dies aus Kubin, Herzmanovsky-Orlando oder Zötl keine Figuren von universaler Bedeutung machen. Tief verwurzelt in alpin-öster­reichischer Provinzialität sperren sich ihre Visionen gegen den Export. Man mag sie noch so sehr mit Pariser Vokabular besprühen, sie werden nie gallisches Flair annehmen. Aus diesen Überlegungen folgt die Frage, warum gerade die Doppelmonarchie so viele unklassifizierbare Innovatoren hervorbrachte. Das Reich mit seinen unzähligen, nahe beieinander siedelnden Ethnizitäten stellte eine »große Arena« für die Vermischung von Motiven, Ideen, Bezugssystemen und, wie wir zuletzt gesehen haben, von Genen dar. Was Letztere betrifft, lohnt ein kurzer Blick auf Mischehen zwischen Press, 2002), Kapitel 15, S. 374  –  397. Für Higonnet ist der Pariser Surrealismus »eine gereizte Reaktion auf die Krise der Moderne im europäischen Bewusstsein«, S. 397. Dies gilt genauso für das Lebenswerk ungarischer und öster­reichischer Avantgardisten wie Lajos Kassák und Robert Müller. 384 Jacqueline Chénieux-Gendron, Surréalisme (Paris  : Presses universitaires de France, 1984), in englischer Übersetzung als Surrealism (New York  : Columbia University Press, 1990) erschienen.

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Abkömmlingen stark differierender Ethnizitäten. Die Großeltern des Komponisten Alexander Zemlinsky (1871  –  1942), dessen Schwester Mathilde Arnold Schönberg heiratete, unterschieden sich radikal in ihrer jeweiligen Herkunft. Väterlicherseits war Zemlinskys Großvater ein katholischer Slowake und die Großmutter Öster­ reicherin. Mütterlicherseits war sein Großvater ein sephardischer Jude aus Sarajewo, der mit einer bosnischen Muslima verheiratet war. Alexander entschied sich für die jüdische Religion seines mütterlichen Großvaters. Anton Gindely mit seinem ungarischen Vater und seiner tschechischen Mutter haben wir bereits erwähnt. Die Verhältnisse im Reich erleichterten besonders für jüdische Bürger Heiraten zwischen Individuen aus weit entfernten Regionen. Mihály Pollacsek, der Vater des Wirtschaftswissenschaftlers Karl Polanyi (1886  –  1964) und des Chemikers und Philosophen Michael Polanyi (1989  –  1976), stammte vom östlichen Rand der Slowakei (heute Ukraine)  ; der Vater seiner Frau Cecile Wohl war Oberrabbiner im litauischen Vilnius. Solche Ehen bedingten eine Vermischung des genetischen Materials, deren Folgen auf die Bezugssysteme in Kunst, Philosophie und Wissenschaft Forscher wie Grassl und Smith beschäftigten. Die Wiederholung der Mischung des ursprünglich weit entfernten Materials musste neue menschliche Typen hervorbringen. Zu dieser Überfülle an Typen passt gut die Überfülle unklassifizierbarer schöpferischer Geister, ja die Buntheit des Hintergrunds dient geradezu als Schutzanstrich für Individuen, die in keine gängige Kategorie passen. Die Doppelmonarchie, so Robert Musil, sei ein »Land für Genies« gewesen, ein Land, wo abgehobene Genies Nischen fanden, in denen sie weder von Nachbarn noch von der Bürokratie belästigt wurden.385 Die bürokratischen Absurditäten der Verwaltung wirkten sich sogar positiv für sie aus, denn – wie Musil andeutet – ein Regime, dessen byzantinisch vertrackte Verwaltung sich selbst der Klassifizierung entzieht, war ein günstiges Milieu für unklassifizierbare Individuen.

11.3 Öster­r eich und Ungarn als Gegensätze Deutsch-öster­reichische unklassifizierbare Genies wie Klimt, Mahler und Kokoschka sind, gewissermaßen definitionsgemäß, in Europa und Nordamerika besser bekannt als ihre ungarischen Zeitgenossen. Kafka ist für unzählige Menschen ein Begriff und viele haben ihn gelesen. In den 1970er und 1980ern war der Ausdruck »kafkaesk« zur Brandmarkung bürokratischer Exzesse in Mode. In den letz385 »Ja, es war, trotz vielem, was dagegen spricht, Kakanien vielleicht doch ein Land für Genies  ; und wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen.« Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Adolf Frisé (Hg.) (Hamburg  : Rowohlt, 1978), S. 35.



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ten Jahrzehnten hat durch die Übersetzungen von Edward Snow eine ansehnliche Leserschaft zu Rilke gefunden, besonders in den Vereinigten Staaten, und jeder, der sich für die letzten Jahrzehnte des Habsburgerreiches interessiert, kennt Musils Ausdruck Kakanien und Roths Hymnus auf die k. u. k. Armee in Radetzkymarsch. Auf dem Höhepunkt der Faszination für Wien 1900 standen auch die Dramen und Erzählungen Arthur Schnitzlers hoch im Kurs. Diese Schriftsteller haben jetzt ihren festen Platz im Pantheon der modernen europäischen Literatur. Nichts dergleichen gilt für ihre ungarischen Kollegen. Den meisten Lesern Rilkes oder Hofmannsthals ist der Dichter und Journalist Endre Ady bestenfalls dem Namen nach bekannt  ; für Mihály Babits und Dezső Kostolányi gilt nicht einmal das und, was ein Publikum außerhalb Ungarns betrifft, hätte Árpád Tóth (1886  –  1928) seine unglaubliche metrische Virtuosität gar nicht erst erwerben müssen. Dass Ady und Tóth einen calvinistischen Hintergrund hatten und das Urteil von Babits, der 1922 Tóths Übersetzung von Shelleys »Ode to the West Wind« zum schönsten auf Ungarisch geschriebenen Gedicht erklärte – wen kümmert es außerhalb Ungarns  ?386 Keiner der vier hat es bis jetzt zu einer ihm gewidmeten umfassenden Monografie in Englisch, Deutsch oder Französisch gebracht. Die am schwersten einzuordnenden ungarischen Autoren sind wahrscheinlich Endre Ady und der ein Jahr später (1878) geborene Gyula Krúdy. Die ungarische Lite­raturgeschichte – und für nicht-ungarische Interpreten gilt dies erst recht – kämpft noch immer mit Schwierigkeiten bezüglich der Beschreibung ihrer Leistungen. Die Lücke, die durch das Fehlen englischer, französischer oder deutscher Monografien über sie entstanden ist, behindert die Vergleichende Literaturwissenschaft. Öster­reichischen Figuren von ähnlicher Bedeutung – Trakl, Rilke, Hofmannsthal – sind seit etwa 1980 zusätzlich zur buchstäblich unüberschaubaren deutschen Sekundärliteratur Dutzende Bücher und Hunderte Artikel auf Englisch, Französisch und Italienisch gewidmet. Ihre ungarischen Kollegen betreffende europäische Sekundärliteratur muss man mit der Lupe suchen.387 Der große amerikanische Kritiker Edmund Wilson (1895  –  1972) gehört zu den wenigen, die sich dieses Missstands bewusst waren. Anfang der 1960er lernte er Ungarisch – hauptsächlich Ady zuliebe. Natürlich lohnte sich der erforderliche Auf386 André Karátson, Le Symbolisme en Hongrie  : L’influence des poétiques françaises sur la poésie hongroise dans le premier quart du XXe siècle (Paris  : Presses universitaires de France), S. 318. Siehe auch Mihály Szegedy-Maszák, »Symbolism and Poetry in the Austro-Hungarian Monarchy«, Neohelicon, 11  : 1 (1984), S. 135  –  145. 387 Ein überaus anregender Überblick über ungarische Politik, Literatur und Kunst findet sich bei Ilona Sármány-Parsons, »Die Kultur von Budapest zwischen 1890 und 1914«, in Emil Brix und Allan Janik (Hg.), Kreatives Milieu. Wien um 1900 (Wien / München  : Verlag für Geschichte und Politik, 1993), S. 85  –  110.

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wand in seinen Augen – das Ergebnis sind zwei überaus erhellende Essays zur ungarischen Kultur – aber eine wirklich präzise Standortbestimmung Adys in Bezug auf die französische und englische Lyrik gelang auch ihm nicht.388 Wilson wählte zum Vergleich der Position Adys in Ungarn die von Yeats in Irland. Ähnlich wie Yeats, der dreizehn Jahr früher geboren wurde und Ady um mehr als zwanzig Jahre überlebte, stand der ungarische Dichter »unter dem Einfluss Verlaines und der Dichter des Symbolismus. … [Er] identifizierte sich mit seinem Land und beschäftigte sich eingehend mit seinen Vorfahren, die zur Hälfte magyarisch waren und stark ländlich verwurzelt waren  ; und seine Gedichte sind voll geografischer und mythologischer Anspielungen, die, wie im Fall von Yeats, nur von einer mit dem Land vertrauten Leserschaft verstanden werden können. Die Bandbreite seiner Lyrik ist groß sowohl in Bezug auf Metrum als auch auf Stimmung. Er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Ähnlich wie Yeats kreierte er sein eigenes Idiom«.389 Man könnte den Vergleich noch weiter spinnen mit dem Hinweis, dass beide Dichter einer protestantischen Minderheit in einer katholischen Mehrheitsgesellschaft entstammen. Solche Beobachtungen mögen englischen Lesern helfen, Ady mindestens in die Reichweite ihres Radars zu bekommen. Im Übrigen aber isoliert die irische Parallele Ady nur noch stärker von seinen ungarischen und deutsch-öster­reichischen Zeitgenossen. Für den Kulturhistoriker der Doppelmonarchie bringt der Vergleich Adys mit einem in mancher Hinsicht verwandten irischen Dichters weniger als jener mit einem Öster­reicher, der Ady noch am ehesten ähnlich wäre. Der gesamte Diskurs über ungarische Schriftsteller steht und fällt mit der Bereitschaft, wenigstens ein bisschen Ungarisch zu lernen, die tatsächlich nur sehr selten gegeben ist. In dieser Hinsicht ist Edmund Wilson eine große Ausnahme. Selbst in Öster­reich beherrschen nur wenige Germanisten Ungarisch, ein Umstand, der das Entstehen einer »interethnischen Germanistik« im rumänischen Timişoara und im ungarischen Szeged umso lobenswerter macht. Gelehrte, die selbst den deutschen und magyarischen Minderheiten im südwestlichen Rumänien entstammen, nehmen hier eine Tradition der Zusammenarbeit auf, die in der Zeit der Doppelmonarchie lange ein herausragendes Merkmal dieser marginozentrischen Region war. Als eine Sprache außerhalb der indogermanischen Familie genießt das Ungarische selbst den Ruf der »Unklassifizierbarkeit«.390 Ungarische Autoren riskieren 388 Edmund Wilson, »My Fifty Years with Dictionaries and Grammars« [1963], in The Bit Between My Teeth  : A Literary Chronicle of 1950  –  1965 (NY  : Farrar, Straus und Giroux, 1966), S. 598  –  652, insbes. 642  –  652, und »Budapest«, in Europe without Baedeker. Sketches among the Ruins of Italy, Greece and England, together with Notes from a European Diary. 1963  –  1964 (London  : Rupert HartDavis, 1967), S. 418  –  467. 389 Wilson, »My Fifty Years«, S. 648. 390 Aufschlussreich zur ungarischen Sprache Edmund Wilson, ebenda, S. 642  –  652 [basiert im We-



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daher eine zweifache Relegation aus der westeuropäischen Familie – aufgrund ihrer Sprache und aufgrund ihrer Ethnizität. Mit Hilfe ungarischer Komparatisten wie György M. Vajda, Mihály Szegedy-Maszák, Ilona Sármány-Parsons und István Fried, um nur einige zu nennen, wird hier der Versuch unternommen, einen derartigen Schluss nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Eine Kultur, deren Adel und Klerus jahrhundertelang Latein in gesprochener und geschriebener Form benutzt hatten, musste sich notgedrungen an westeuropäischen Vorbildern orientieren, als es ab etwa 1770 darum ging, die magyarische Sprache, die bis dahin vor allem von Kleinbauern, Soldaten und calvinistischen Predigern benutzt worden war, auf den Stand der Zeit zu bringen. Der Umstand, dass Ungarisch keine indogermanische Sprache ist, hinderte die führenden Erneuerer der Sprache wie die Calvinisten Kazinczy und Kölcsey nicht, bei der deutschen Wortbildung Anleihen für die Umgestaltung des ungarischen Vokabulars zu nehmen.391 Wie Deutsch – aber anders als Französisch oder Italienisch – ist Ungarisch als agglutinierende Sprache problemlos in der Lage, zusammengesetzte Substantiv- und Verbalformen zu bilden. Unter dem Einfluss der Ungarndeutschen, der sich am Anfang des 19. Jahrhunderts besonders stark bemerkbar machte, entstanden Tausende solcher Zusammensetzungen als Lehnübersetzungen aus dem Deutschen. Darunter sind Wörter, die wir für quintessenziell deutsch halten, wie korszellem »Zeitgeist«, szalonképes »salonfähig« und nyarspolgár »Spießbürger«. Manche Ausdrücke verraten eine fast liebevolle Nachahmung öster­ reichischer Höflichkeitsfloskeln, wie »bitte schön« (kérem szépen), »Küss die Hand« (csókolom), »herzliche Grüße« (szívélyes köszönés), »alles Gute« (minden jót), »gnädige Frau« (asszo­nyom) or »Servus« (Szervusz). Im Deutschen sind wir mit Menschen, mit denen wir vertrauten Umgang haben, »per Du«  ; in Ungarn heißt das »per tu« oder »tegezés«. Zu ähnlichen Überraschungen führt es, wenn man das ungarische Vokabular akademischer Disziplinen und ganz besonders das der Philosophie entziffert. Ungarische Philosophen und Sozialwissenschaftler haben, wie aus den zahllosen Lehnübersetzungen ersichtlich, ihre Terminologie analog zur deutschen gestaltet. Dies gilt für die sogenannten Geisteswissenschaften ebenso wie für die Sozial- und sentlichen auf Aurélien Sauvageot, Esquisse de la langue hongroise (Paris  : Klincksieck, 1951)]  ; Géza Barczi, »The Hungarian Language«, New Hungarian Quarterly, 4  :1 (1963), S. 52  –  62  ; Paul Ignotus, »Appendix«, in Ignotus, Hungary (New York  : Praeger, 1972), S. 302  –  310 [außerordentlich reichhaltig]  ; André Karátson, »The Translation and Refraction of Symbolism  : A Survey of the Hungarian Example«, in Anna Balakian (Hg.), The Symbolist Movement in the Literature of European Languages (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1982), S. 165  –  182, insbes. 180. 391 Lóránt Czigány, »Hungarianness  : The Origin of a Pseudo-Linguistic Concept«, Slavic and East European Review, 52 (1974), S. 325  –  336  ; István Margócsy, »Some Aspects of Hungarian Neology«, Hungarian Studies, 5  : 1 (1989), S. 3  –  7.

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Naturwissenschaften. Wie sehr diese verwandten Terminologien das gemeinsame Erbe der Doppelmonarchie-Kultur widerspiegeln ist bis heute so gut wie unbemerkt und unkommentiert geblieben. Das oben Gesagte gilt ausschließlich für den kleinen Ausschnitt der ungarischen Lexis, der von Lehnübersetzungen gebildet wird. Es darf nicht zum Schluss verführen, Ungarisch sei je in Gefahr gewesen, zu einer Doublette von Deutsch zu verkommen. Die Sprache ist so reich an Suffixen und freistehenden Bindewörtern – ganz zu schweigen von ihrem reich ausgestalteten Partizipialsystem –, dass ihre Syntax so gut wie keine Ähnlichkeit zu Deutsch aufweist. Die für den deutschen Satzbau charakteristische Strenge sucht man jenseits der Leitha vergeblich. Da Ungarisch das Hilfsverb »haben« nicht kennt, gibt es kein mit diesem gebildetes Perfekt und Plusquamperfekt und keine komplexen Satzstrukturen, die sich im Deutschen aus den zusammengesetzten Vergangenheiten ergeben. Auch das fehlende Genus bei Pronomina und Adjektiven macht sich vereinfachend bemerkbar. Die ungarische Syntax zieht beiordnende Bindewörter und dementsprechend die Parataxe vor, die deutsche hingegen unterordnende und die Hypotaxe. Partizipien können im Ungarischen freier verwendet werden als im Deutschen, sowohl zur Bezeichnung von Agenten (-o, -ő) und zu Modifikation von Verben (-va, -ve). Letztere Möglichkeit generiert adverbielle Partizipien, die sich wunderbar zur Evokation von Atmosphäre in der Lyrik durch ein einziges, geschmeidiges Wort eignen, ein Stilmittel, das häufig von symbolistischen Dichtern – Gyula Juhász, Árpád Tóth, Endre Ady – eingesetzt wurde. Das adverbielle Partizip (Präsenspartizip + -weise, z. B. bezeichnenderweise) steht zwar, wenn auch eingeschränkt, im Deutschen ebenfalls zur Verfügung, ist aber zu schwerfällig, um für Stimmungslyrik zu taugen. Die ungarischen Stilmittel veranlassten Edmund Wilson dazu, von einer »gefälligen Kompaktheit, … einer gewissen prallen Würze« zu sprechen, »die der Dichtung eine äußerste Verknappung ermöglichen, wie sie den europäischen Ausdrucksformen völlig fremd ist«.392 Vielleicht ist gerade die Flexibilität der ungarischen Alltagssprache, die, wie Wilson sagt, »kompakt und muskulös und dabei doch auch lyrisch ist«,393 der Grund, weshalb die ungarischen Dichter auch nach etwa 1870 viel seltener zum vers libre oder zum Prosapoem griffen als ihre französischen Kollegen. Es versteht sich von selbst, dass die Unklassifizierbarkeit des Ungarischen nicht automatisch diesen oder jenen ungarischen Schriftsteller unklassifizierbar macht. Nicht nur eignet sich die Sprache mit bemerkenswerter Leichtigkeit für die Übersetzung von Prosa und Lyrik aus andern Sprachen, dasselbe gilt auch umgekehrt für 392 Wilson, »My Fifty Years«, S. 646. 393 Ebenda, S. 645, 646.



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die Übersetzung ungarischer Texte in andere Sprachen. Die Gründe, weshalb Literaten wie Krúdy und Ady als unklassifizierbar einzustufen sind, müssen anderswo gesucht werden.

11.4 Die »Einzigartigkeit« von Gyula Krúdys Erzähltechnik Von den ungarischen Prosaschriftstellern der Doppelmonarchie gibt uns keiner mehr Rätsel auf als Gyula Krúdy (1878  –  1933). Dass er geradezu unglaublich produktiv war bedeutete für ihn nicht, dass er seine literarische Karriere sonderlich ernst nahm. Skizzen und Kurzgeschichten flossen aus seiner Feder zu Hunderten mit solcher Leichtigkeit, dass er sich nicht einmal um ihren weiteren Verbleib kümmerte. Seine Alkoholsucht verstärkte die fatale Neigung, von der Hand in den Mund zu leben. Dreißig Jahre mussten nach seinem Tod verstreichen, bis einige seiner Romane und Kurzgeschichten in westlichen Sprachen erschienen. Erst seit Mitte der 1980er hat Krúdy in dem bereits mehrfach erwähnten, 1924 in Budapest geborenen John Lukacs und in andern Kritiker gefunden, die sich auf die Eigenart seines Werks verstehen. In Krúdys Erzählungen bewegt sich der Zeitfluss zwischen einer undefinierten Gegenwart und mehreren ebenso undefinierten Vergangenheiten scheinbar wahllos hin und her. Seine Technik der Manipulation der Zeit ist von Narratologen noch nicht ausreichend gewürdigt worden und würde eine eigene Studie reichlich lohnen. Hier müssen einige Andeutungen genügen. Mit Hilfe des Ansatzes, den die bedeutende, aus Wien gebürtige amerikanische Germanistin Dorrit Cohn (1924  –  2012) für die französische, englische und deutsche erzählende Literatur entwickelt hat und der weiter unten ausführlich erörtert wird, lässt sich zunächst zeigen, dass Vergleichbares zu Krúdys Neuerungen in Hermann Brochs Tod des Vergil (1945) und in W. G. Sebalds Austerlitz (2001) zu finden ist. Diese Parallelen müssten in Beziehung gesetzt werden zu den Ansprüchen, die John Lukacs für Krúdys »Einzigartigkeit« erhebt. Für Lukacs ist Krúdy »vielleicht … der größte Prosaautor in der gesamten ungarischen Literatur und mit Sicherheit einer der großen europäischen Schriftsteller«.394 Für die Bestellung des »Alluvialboden[s] seiner Vorstellungskraft und seines Gedächtnisses« (Lukacs) bot Krúdy jedenfalls ein hohes Maß raffinierter literarischer Technik auf. 394 John Lukacs, Budapest 1900. A Historical Portrait of a City and Its Culture (New York  : Grove Weidenfeld, 1988), S. 18. Zu Krúdy siehe ebenda, S. 18  –  24 und 160  –  161. Von Lukacs auch das gewinnende Porträt von Krúdy in »The Sound of a Cello«, The New Yorker (1. Dezember 1986), S. 46  –  60.

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Krúdy wuchs im Nordosten Ungarns auf, einer rückständigen, landwirtschaftlich geprägten Region, und empfand eine lebenslängliche Nostalgie für den »zeitlosen« Lebensrhythmus, der dort geherrscht hatte. Sein Großvater hatte noch im Krieg von 1848  –  1849 gegen Öster­reich gekämpft, und seine Großtante – wir haben es schon im vorigen Kapitel gehört – erzählte ihm Geschichten von ihrem Leben als Schamanin und Wunderheilerin, deren Seele sich auf Reisen außerhalb der linearen Zeit begab. Alles an Krúdys literarischer Karriere ist einzigartig. 1896, im Jahr von Ungarns Millenniumsfeier, kam er als 17-Jähriger nach Budapest, um Journalist zu werden. Mit offenbar unerschöpflicher literarischer Erfindungskraft begabt, ist er Autor von mehreren Tausend Erzählungen, die nie systematisch gesammelt erschienen sind. Da er selbst über seine literarische Produktion nicht Buch führte – seine Erzählungen nachzubearbeiten war ihm sowieso fremd, und er schrieb gewöhnlich nachts unter dem Einfluss von Alkohol – kann auch heute niemand sagen, wie viele Werke er in den mehr als 35 Jahren seines Schaffens geschrieben hat. George Szirtes spricht von dreitausend Kurzgeschichten und mehr als tausend Artikeln.395 Wäre Krúdy mit einem christlichen Kontext in Verbindung zu bringen, dann würde man sich ihn als »heiligen Narren« in franziskanischer oder orthodoxer Tradition vorstellen wollen. Auch so schien die Gegenwart, die er bewohnte und in der er seine Erinnerungen beschwor, eine zeitlose zu sein. Wie andere Budapester Literaten war er viel im Kaffeehaus anzutreffen, er gehörte aber zu keiner Clique und nur am Rande zur Nyugat-Bewegung. Paul Harmat, der bereits erwähnte Historiograf der ungarischen Psychoanalyse, betont Ähnlichkeiten zwischen Krúdy und Sándor Ferenczi. Ferenczi wunderte sich immer wieder darüber, mit welcher Leichtigkeit Krúdy Zugang zu verschüttetem Material fand.396 Für sein geschultes Auge bewohnte der Freund eine Region des Übergangs zwischen einer scheinbar sorglosen Gegenwart und den schamanistischen Tiefen des – um Leopold Szondis uns schon vertrauten später geprägten Ausdruck zu verwenden – familiären Unbewussten. Der Gegensatz zwischen der Geschäftigkeit von Pest und dem verträumten Buda auf der anderen Seite des Flusses ist ein Thema, das Krúdy wiederholt aufgreift. Es ist keine Frage, wo er selbst sich mehr zuhause fühlte. Seine letzten Jahre verlebte er auf der Margareteninsel mitten in der Donau. In seinen Erzählungen beschwört er, wie Éva Forgács sagt, »kleinstädtisch wirkende idyllische Winkel der Stadt, wo zeitlose kleine Gaststuben von Leuten bevölkert werden, die kaum je ihre unmittel­bare 395 George Szirtes, »Introduction«, in Krúdy, The Adventures of Sindbad (Budapest  : Central European Press, 1998), S. xii. 396 Paul Harmat, Freud, Ferenczi und die ungarische Psychoanalyse [1986] (Tübingen  : edition diskord, 1988), S. 189.



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Nachbarschaft verlassen«.397 Der Gegensatz zwischen dem Leben in Pest, das nach den Gesetzen der linearen Zeit abläuft, und Budas sich außerhalb der Zeit abspielendem kontemplativen Dasein spiegelt sich in Krúdys Erzählungen im Wechsel zwischen der Aufzeichnung einer minutiösen zeitlichen Abfolge und dem Eintauchen in einen Bewusstseinszustand, dem jede Chronologie fremd ist. Für György M. Vajda und viele andere ist Krúdys Figur Sindbad, die 1911 erstmals in einer Erzählung auftaucht, ein Selbstporträt des Autors. Wie Sindbad war sein Schöpfer unterwegs, »eigentlich ohne Zweck und Ziel, sozusagen nur vom ewigen Strom der Zeit getrieben wie Rimbauds trunkenes Schiff, als wollte er uns zuflüstern, das Leben sei ohnehin nur ein Übergang. Der Schiffer, eine alterslose Figur, die ewig jung war und zugleich mehrere hundert Jahre zählte, reiste von Stadt zu Stadt, von Frau zu Frau in unübertreffbarer Eleganz und Kavaliersmanier und nie ganz mit beiden Füßen auf dem Boden stehend, eher über den realen Dingen schwebend«.398 Für Krúdy ist sein Alter Ego eine archetypische Figur von fast mythischen Proportionen, deren Botschaft lautet  : »Alles hat seine Zeit, man muss abwarten«.399 Alle, die sich mit Krúdy kommentierend auseinandersetzen, müssen sich, wie schon angedeutet, auf die Unklassifizierbarkeit seines Zeitsinns einlassen.400 In seiner Einleitung zu The Adventures of Sindbad (1998) bemüht sich der Übersetzer George Szirtes so sehr, Krúdys verwirrende Manipulation des Zeitflusses zu beschreiben, dass er in unmittelbare Nähe von Krudys eigener Prosa gerät. »Erzählende Prosa hat etwas Prophetisches. Sie blickt auf der Suche nach ihrem Ethos 397 Éva Forgács, »Avant-Garde and Conservatism in the Budapest Art World  : 1910  –  1932«, in Thomas Bender und Carl E. Schorske (Hg.), Budapest and New York. Studies in Metropolitan Transformation  : 1870  –  1930 (New York  : Russell Sage Foundation, 1994), S. 309  –  331, 317. 398 György M. Vajda, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740  –  1918 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994), S. 166. 399 Krúdy, Szindbád (Budapest  : Magyar Helikon, 1970), S. 548, zitiert in Vajda, Wien und die Literaturen, S. 166. Deutsch  : Sindbad  : Reisen im Diesseits und Jenseits. Nachwort von György Sebstyen. Aus dem Ungarischen von Franz Meyer (Wien / Hamburg  : Zsolnay, 1967). Um nicht im Leser / in der Leserin den falschen Eindruck entstehen zu lassen, Krúdy setze sich immer über die lineare Abfolge der Zeit hinweg, sei auf zwei seiner berühmtesten Erzählungen hingewiesen, »The Last Cigar at the Grey Arab« (Mitte der 1920er) und »The Journalist and Death«, in denen er sich eines streng nach Stunden geordneten Schemas bedient, ähnlich wie Arthur Schnitzler das schon Anfang der 1890er machte. Siehe Mihály Szegedy-Maszák, »Gyula Krúdy’s Visions of Unexpected Death«, New Hungarian Quarterly, 49  :190 (2008), S. 3  –  6. 400 Beispiele sind u. a. Anna Fábri, »Das Bild Wiens in den Werken von Gyula Krúdy«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S. 127  –  142, bes. 130  –  142  ; Gábor Bezeczky, »Gyula Krúdy’s Early Short Stories«, Hungarian Studies, 13  : 2 (1998  –  99), S. 179  –  198  ; und Balázs Mesterházy, »Temporalität und ästhetische Totalität (Identitätsbildung bei Gyula Krúdy)«, Hungarian Studies, 16  : 1 (2002), S. 51  –   62.

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mit Entschiedenheit zurück – Sindbad ist schließlich mehr als dreihundert Jahre alt, sofern Alter für ihn überhaupt von Bedeutung ist – und die Anstrengung, die erforderlich ist, die Erzählung vorwärts zu bringen, bedeutet den Ruin der syntaktischen Struktur.«401 Mit Bezug auf den einleitenden Absatz von Sindbad stellt Szirtes fest, dass »die Zeit ungewiss und die Perspektive eine verschwommen retrospektive ist, der Ort aber ist präzise definiert und die Sicht überaus detailreich. … Sindbads Abenteuer bestehen ausschließlich aus unterbrochenen, prolongierten, letztlich ergebnislosen Anekdoten, deren Ziel die Beschwörung des Gottes ist  ; Erwartungen bezüglich Charakter und Folgerichtigkeit werden nicht erfüllt. In diesem Sinn sind diese Anekdoten auch amoralisch. … Etwas geschieht, dann etwas anderes, aber alle in Erscheinung tretenden Ereignisse sind hauptsächlich Anlässe, dem versteckten ›wirklichen‹ Ereignis zu dienen, dem Absterben und der Auferstehung der Begierde. … So wird der Fluss der Erzählung immer wieder unterbrochen, und Sindbad stirbt und kehrt zurück und driftet durch die Zeit, als wäre die Zeit nichts als ein Nebel im Herbst«.402 Hier hat sich der Kritiker eine krúdyeske Modulation von einem Register in ein anderes gestattet, von den Rätseln der Zeitlichkeit innerhalb des Textes zu einer fortwährenden Rückkehr zu sexueller Begierde. Eine der möglichen Lesarten von Krúdys wechselnden Gezeiten ist die Konstruktion der mangelnden Linearität der Erzählung als Zunahme und Schwinden der Libido. Die Begierde scheint hier sich ihren Fantasien hinzugeben, als bestünde die Prosa großteils aus einem endlosen Strom erotischer Vorstellungen. Szirtes weitet diese an Ferenczi erinnernde Sicht noch aus, indem er bemerkt, dass Sindbad, »der Anknüpfungspunkte zu jedem Körper und zu jedem Ding findet, ebenso proteisch ist wie die Begierde selbst. Die Art, wie Sindbad sich treiben lässt, erinnert an den Don Juan des späten Byron. Sindbad ist ein sentimental ausufernder Don Juan«.403 Der Kommentator fühlt sich dadurch veranlasst, eine Verbindung zwischen Byrons Venedig und Krúdys Ungarn herzustellen, die uns zum Thema von Krúdys Sicht auf die Doppelmonarchie zurückführt. Indem er sich Krúdys Sicht aneignet, spricht Szirtes von »imperialen Werten … [als] Resonanzen und Assoziationen, die in der provinziellen Leere sinnlos vor sich hinflattern«. Wir kommen dem Kern der Sache schon näher mit der Behauptung des Kritikers, in dieser Vision von Transleithanien gebe es »Gelegenheiten zum Vorwärtskommen hauptsächlich in der Form der Träumerei, einer Träumerei, deren Beziehung zum Möglichen und zum Hier-und-Jetzt problematisch ist. Die [sozio401 Szirtes, »Introduction«, S. xiv. 402 Ebenda, S. xiv-xv. 403 Ebenda, S. xvi.



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kulturelle, Anm. d. A.] Wirklichkeit als Grundlage für die Wirksamkeit der Fantasie ist selbst im Schwinden begriffen«.404 Die an einen Schamanen erinnernde Intuition des Schriftstellers bebrütet die verblichene Realität der »öster­reichischungarischen Hirtenwelt«, die in einer Generation dörflichen Lebens nach der andern für die Replikation der in den Familienbildern sichtbaren Eigenschaften sorgte.405 Es mag traurig stimmen, dass Sindbad »weder [den Porträts] noch sich selbst ganz glaubt. Er ist ein alternder Liebhaber, der schon einige Male tot gewesen ist. Was diese magischen Verwandlungen und dieses ständige Hin-und Herwechseln zwischen Geist und Fleisch vor allem deutlich macht, ist das Faktum, dass er kaum noch anwesend ist«.406 Und so geht es weiter bei Szirtes mit Ideen, die Sindbad mit »einem ödipalen Knaben, der den Sinnen seiner Mutter schmeichelt«, assoziieren und mit einem Wiederaufleben der »alten Muttergottheit-Kulte von Krúdys Heimat, den Aulandschaften der Theiß, wo sich Marija Gimbutas’ neolithische Religionen noch immer verschanzt hielten«.407 Die Unmöglichkeit einer einengenden Deutung von Krúdys Werken zwingt jeden, der sich darauf einlässt, zur Kontextualisierung in immer weiteren konzentrischen Kreisen, da jeder Versuch, einen definitiven Kontext zu etablieren, durch den Strom weiterer Assoziationen vereitelt wird. Das proteische Wesen von Krúdys Imagination, das in keinem einzelnen analytischen Rahmenwerk zu fassen ist, und seine Beziehung zur linearen Zeit lassen sich am ehesten mit Hilfe von Kategorien illustrieren, die von der bereits oben erwähnten Germanistin Dorrit Cohn in ihrem Buch über narrative Strategien zur Darstellung von Bewusstseinszuständen vorgeschlagen worden sind.408 Cohn erwähnt zwar keine ungarischen Autoren, aber manche ihrer Kategorien passen verblüffend gut zu Krúdy. Sie beschäftigte sich intensiv u. a. mit Hermann Broch und schuf eine Reihe neuer Termini zur Klassifikation narrativer Strategien, die in der von ihr so genannten »psycho-narration«, dem Gedankenbericht, angewendet werden. Um der Unbestimmtheit traditioneller Termini wie »stream of consciousness«, »erlebte Rede« oder »récit indirect« zu entgehen, prägte sie einen neuen Ausdruck für die 404 Ebenda, S. xvii. 405 Ebenda. 406 Ebenda, S. xviii. 407 Ebenda, S. xix and xxi. Zu der litauisch-amerikanischen Gelehrten Marija Gimbutas (1921  –  1994) siehe Joan Marler, Realm of the Ancestors  : An Anthology in Honor of Marija Gimbutas (Manchester CT  : Knowledge, Ideas & Trends, 1997). 408 Dorrit Cohn, Transparent Minds  : Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1978). Ein Überblick zu rezenten Studien zu Erzähltechniken bei Mihály Szegedy-Maszák, »Nonteleological Narration«, in Hans Bertens und Douwe Fokkema (Hg.), International Postmodernism. Theory and Literary Practice (Amsterdam / Philadelphia PA  : John Benjamins, 1997), S. 273  –  282.

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allumfassende Temporalität traumähnlicher Passagen bei Musil, Woolf, Joyce und Broch. Wo deren Figuren in gleichzeitigem Kontakt mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie Molly Bloom im abschließenden Monolog in Ulysses (1922) oder Vergil in den am stärksten nach innen gewandten Teilen von Brochs Tod des Vergil (1945), spricht Cohn von »Omnitemporalität«. Um zu betonen, wie sehr die Dinge im Fluss sind, wird in solchen Passagen schon auch einmal auf Satzzeichen oder Absätze verzichtet (Broch, Sebald). An manchen Stellen lässt Broch seinen sterbenden Dichter in »einen ununterbrochenen Strom des Hyperbewusstseins eintauchen«.409 Dieser Zustand stellt dem Dichter nicht nur sein eigenes Leben und Werk noch einmal zur Gänze vor Augen, sondern auch die Geschichte Roms und seine Visionen von dessen Zukunft. Cohns Omnitemporalität als ein Modus des literarischen Bewusstseins fügt sich gut zu Bergsons Gedanken des allwissenden Gedächtnisses, der »Hypermnesie«, der wir in Kapitel 8 im Zusammenhang mit J. P. Sterns Begriff der äußersten Anstrengung begegnet sind. Bergsons Vermutung, dass eine sterbende Person ungehinderten Zugang zu ihrem Erinnerungsspeicher habe, wird von Broch in den Monologen des sterbenden Dichters umgesetzt. In Analogie zu »Hypermnesie« würde sich zusätzlich zu »Omnitemporalität« »Hypertemporalität« anbieten, ein Ausdruck, der sich besonders für die Beschwörung des allwissenden Gedächtnisses eignen würde, die W. G. Sebald (1942  –  2001) vervollkommnet hat. »Omnitemporalität« durch die Einführung von »Hypertemporalität« weiter zu differenzieren, würde die Unterscheidung ermöglichen zwischen dem, was Cohn als einen Modus der erzählenden Kunst interpretiert, und den Fällen, wo allwissendes Erinnern nicht in der Kunst, sondern im Leben stattfindet. In Krúdys und Sebalds Prosa erschließen sich alle Modi menschlicher Zeit – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – dem erzählten Bewusstsein, das sich in einer linearen Darstellung der Omnitemporalität entfaltet. Cohns Omnitemporalität bezeichnet die von den oben erwähnten Schriftstellern erzählten Bewusstseinszustände ihrer Figuren, in denen diese einen privilegierten Zugang zu allen Zeitmodi haben. Die Schwierigkeit einer Anwendung dieses Konzepts auf Krúdy besteht darin, dass es bei ihm so gut wie unmöglich ist, die Omnitemporalität, die er an seinen Figuren beobachtet, und die erlebte Erfahrung der Hypertemporalität, die dem Autor zuzuordnen ist, auseinander zu halten. Jede Erfahrung von Hypertemporalität im realen Leben umfasst ebenfalls Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – dies ist ein Grundmerkmal von Krúdys Stil. In seiner Prosa taucht die Vergangenheit fortwährend in der Gegenwart auf und bringt erinnerte Augenblicke mit, in die frühere Erfahrungen von Hypertemporalität eingebet409 Cohn, Transparent Minds, S. 124.



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tet sein können. Die Gegenwart erweitert sich zu einem Joyceschen Traumzustand, in dem alle Zeitmodalitäten inbegriffen sind, mit der Zukunft als in Schwebe gehaltenen Bildern, die ankündigen, was zum Vollzug – oder doch nur zur Erinnerung  ? – ansteht. Krúdy stellt, wie Szirtes bemerkt, oft eine Gleichung her zwischen solchen Traumzuständen und Zuständen der Begierde. Seine Figuren erfahren Hypertemporalität, während sie in den Wassern der Begierde baden, die ihm die Aulandschaft der Theiß vor Augen stellen mochte, in der seine Großtante ihren schamanistischen Praktiken nachgegangen war. In Krúdys Erzählungen pendelt das Erinnerungsvermögen zwischen vielen Vergangenheiten und einer fließenden Gegenwart hin und her wie Bartóks Motive der Volksmusik zwischen den verschiedenen Ethnizitäten. Parallelen zu Krúdys Mobilisierung der Hypertemporalität ließen sich auch im Hinblick auf die Verwendung volksmusikalischer Motive bei Mahler und Bartók ziehen und bezüglich der Aufhebung aller Schranken im Umgang von Weibels KünstlerWissenschaftlern mit ihrem vielfältigen Material. In der Erfahrung der Hypertemporalität im realen Leben vermischen sich die Modi der Zeit so wie die Pluralität der Kultur im Bewusstsein der Bewohner marginozentrischer Regionen. Man mag dieser Interpretation zugutehalten, dass sie Krúdys Pendeln zwischen den verschiedenen Tempora, Epochen und Zeitzuständen entmystifiziert. Er war vielleicht doch nicht vor allem der Zauberer, der Hexenmeister einzigartiger Innovation, als den John Lukacs ihn zu sehen scheint  ; eher experimentierte er wie auch andere Schriftsteller im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit dem Gedankenbericht, der »psycho-narration«. Schnitzler, Broch, Musil und Krúdy statteten manche ihrer Figuren mit dem zweischneidigen Geschenk der Erfahrung von Hypertemporalität aus, die manchmal willentlich herbeigeführt wird, noch öfter aber sich ohne den Willen der betreffenden Figur einstellt. In Krúdys Prosa im Speziellen löst sich die lineare Zeit zu Nebel in einer Aulandschaft auf, in einen Zustand der Allbewusstheit, in dem sich ein allumfassender Strom der Erinnerungen von der Vergangenheit herauf in die Gegenwart wälzt, um ein Fortdauern des Erinnerns in der Zukunft anzukündigen. Literarische Omnitemporalität setzt im realen Leben eine Fähigkeit des unwillkürlichen, aber uneingeschränkten Aufrufens von wesentlichen Erinnerungen voraus, die sich selbst zu wechselnden Mustern des Erzählens verweben und fortgesetzt neue Metaphern generieren. So sehr diese literarische Technik eine scheinbare Allwissenheit suggerieren und Leserinnen und Leser in ehrfürchtigen Bann schlagen mag  : Sie ist doch nichts anderes als eben eine literarische Technik, wenn auch eine, die sich der Vielschichtigkeit der Doppelmonarchie-Kultur als besonders adäquat erweist. In diesem Sinn muss man auch Krúdy als einen für diese Kultur besonders charakteristischen Autor werten, eine Auszeichnung, die er gewiss zu schätzen gewusst hätte, hat er doch das Eintauchen in Vielschichtigkeit und Marginozentrik als Teil alltäglicher Erfahrung imaginiert.

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Wie sehr sich die von ihm miterfundene literarische Technik der Omnitemporalität dazu eignet, die Pluralität der Doppelmonarchie auszudrücken, soll anhand von zwei Beispielen gezeigt werden. Als hätte Szondi seine Theorie des familiären Unbewussten aus Krúdys Werken destilliert, postuliert er dieses Unbewusste in Gestalt einer ungewollten Bürde ererbter Hypertemporalität, die Familien über Generationen hinweg das Leben deutlich erschweren kann. In Krúdys Alter Ego Sindbad manifestiert sich ein solches familiäres Unbewusstes, das nicht nur Vorfahren, sondern auch ehemalige Geliebte aus verschiedenen Epochen der Vergangenheit in einem pulsierenden Netz der Hypertemporalität gefangen hält. Das zweite Beispiel ist Babits’ Geschichte der europäischen Literatur (1934  –  1935). Sein total recall der abendländischen Literatur lässt Babits in einer unendlichen Serie von Beschwörungen der Omnitemporalität zwischen vielen Vergangenheiten und der Epoche, die er gerade beschreibt, pendeln. Er verfasste seine eigene Brochsche Fantasie über die europäische Literatur als eine großformatige Übung in omnitemporaler Kommunikation quer durch die Jahrhunderte. In diesem Buch führt Babits sich die von ihm lebenslang geübte Lektüre vor Augen als eine Serie von Begegnungen mit der Hypertemporalität, an denen er und die Vorgänger, an die er erinnert, glei­chermaßen beteiligt sind. Auch sein ähnlich gestimmter Kollege Hofmannsthal war fasziniert von der Vorstellung, wie der Mythos zu ganz verschiedenen Zeiten und an ganz verschiedenen Orten Werte zu neuem Leben erweckt  : als Teile eines einzigen familiären Unbewussten, aus dessen Fundus der Künstler schöpfen kann. Gleiches gilt für Alois Riegl und sein Beharren auf der Langlebigkeit oder, wie man auch sagen könnte, der Omnitemporalität dekorativer Muster, kraft deren sie über sechsundzwanzig Jahrhunderte vom antiken Griechenland bis zur Zeit der Doppelmonarchie lebendig geblieben sind. Zusammenfassend kann man sagen, dass diese unklassifizierbaren schöpferischen Geister, die in Öster­reich und Ungarn so zahlreich vertreten waren, und die Überfülle bizarrer Menschentypen und skurriler Ereignisse kennzeichnend waren für eine Gesellschaft, in der veraltete Phänomene scheinbar gleichberechtigt neben Zeichen des Aufbruchs und der Erneuerung existierten. Dazu kam noch, dass es vielen Menschen in diesen letzten Dezennien der Doppelmonarchie ebenso schwer fiel wie Krúdys Sindbad, sich eine Zukunft vorzustellen, die von der vergangenheitsgesättigten Gegenwart eines immerwährenden franzisko-josephinischen Regimes radikal verschieden war. So wie diese in Omnitemporalität getauchten Erzählungen von dem unklassifizierbaren ungarischen Autor imaginiert wurden, eigneten sie sich geradezu ideal für eine Gesellschaft, die außerstande war, eine Zukunft jenseits der Stasis der Gegenwart in den Blick zu nehmen und es stattdessen vorzog, die unzähligen Versionen der stets neu auftauchenden Sindbadschen Vergangenheit zu genie-



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ßen. Für Musil war Kakanien ein Land der Genies, für Vajda eines der Phänomenologen. Krúdy und Szondi, so könnte man meinen, hielten die Kenner und Liebhaber der Omnitemporalität für am ehesten in der Lage, Ungarns Nimbus zu würdigen.

11.5 Warum Endre Ady aus öster­r eichischer Perspektive in keine Schublade passt Wir beschließen unsere Betrachtungen mit Endre Ady (1877  –  1919), der ebenso schwer zu fassen ist. Seine Bedeutung für die ungarische Lyrik in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, nicht nur, weil seine Lyrik sowohl technisch wie thematisch einzigartig ist, sondern weil er sich an die Spitze einer ganzen Generation stellte mit seiner Kritik an den abgewirtschafteten Eliten, die in Ungarns semifeudalen Regionen das Regiment mehr schleifen ließen als führten. Er war ein Vulkan, der sein politisches Feuer in blendende Formulierungen goss. Seine Invektive gegen die »Brache«, den »Sumpf«, die Öde der ungarischen ländlichen »Wüste« war ein ständiger Ansporn für seine Mitstreiter und ließ die Segel von Nyugat schwellen. Neben der Kreation von Metaphern mit hohem Wiedererkennungswert und der denkwürdigen Umformung alter Mythen experimentierte er mit über siebenhundert metrischen Mustern in mehreren tausend Gedichten – eine Leistung, die an sich schon einzigartig ist.410 Sein Schaffen als innovativer Lyriker ging Hand in Hand mit einer Karriere als kampflustiger Journalist und als Verfasser von Hunderten Artikeln über alle Arten von Missständen, zunächst in Siebenbürgen um Oradea (Nagyvárd, Grosswardein) und dann in ganz Transleithanien.411 Mit schier unersättlichem Appetit 410 Die umfassendste englischsprachige Darstellung von Adys Karriere und vieler seiner Gedichte ist Marianna D. Birnbaum, »Endre Ady (1877  –  1919)«, in George Stade (Hg.), European Writers (New York  : Scribner, 1983  –  1991), 9 (1989), S. 859  –  880. Aufschlussreich zu Adys einzigartigem Status ist Péter Pór, »The Symbolist Turn in Endre Ady’s Poetry«, in Anna Balakian (Hg.), The Symbolist Movement in the Literature of European Languages (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1982), S.  361  –  380. Zu seiner politischen Einstellung siehe Lee Congdon, »Endre Ady’s Summons to National Regeneration in Hungary«, The Slavic Review, 33  :2 (1974), S.  302  –  322, und Péter Hanák, »The Start of Endre Ady’s Literary Career (1903  –  1905)« [1978], in Hanák, The Garden and the Workshop. Essays on the Cultural History of Vienna and Budapest (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1998), S. 110  –  134. 411 Der englische Hungarist George F. Cushing (1923  –  1996) hat eine Auswahl von Adys Sensationsjournalismus übersetzt. Siehe Endre Ady, The Explosive Country. A Selection of Articles and Studies, 1898  –  1916 (Budapest  : Corvina, 1977). Cushings Einleitung wurde nachgedruckt als »Endre Ady as Journalist« in Cushing, The Passionate Outsider. Studies on Hungarian Literature (Budapest  : Corvina, 2000), S. 191  –  207.

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auf journalistische Details verbiss er sich in die Recherche von Korruptionsfällen und administrativer Inkompetenz und fand auch hier immer wieder blendende Formulierungen. Anlässlich eines Klinikaufenthalts im Jahr 1913 in Maria-Grün bei Graz nannte er zum Beispiel die habsburgische Dynastie eine »große, glückliche und fürchterliche« Firma.412 Es fällt schwer, einen zweiten Autor in der Zeit um 1900, gleich in welchem Land, zu nennen, der mit Adys Meisterschaft in zwei so gegensätzlichen Gebieten wie der Lyrik und des Journalismus konkurrieren kann. Kein Öster­reicher, nicht einmal Karl Kraus, ist mit ihm in seiner fieberhaften Melancholie der ständigen Krise vergleichbar. Manche Lyriker waren auch Essayisten, wie Hofmannsthal und der – allerdings rabiat antisemitische – Richard Schaukal (1874  –  1942). Journalisten von Adys Zuschnitt waren sie deswegen noch lange nicht. Adys doppelte Karriere als Lyriker und als investigativer Journalist würde allein genügen, um seine Einordnung in bekannte Rubriken unmöglich zu machen. Im Kontext der öster­reichischen Literatur freilich nimmt sich Ady nicht nur als unklassifizierbar aus, er ist fast unverständlich. Die Unterschiede zu seinen öster­ reichischen Zeitgenossen sind so durchgehend, dass sie die Idee einer gemeinsamen literarischen Kultur der Doppelmonarchie geradezu torpedieren. Einer Gemeinsamkeit – über Öster­reich war zwischen Grillparzer in den 1820ern und Hofmannsthal in den 1890ern kein neuer lyrischer Stern aufgegangen und dasselbe gilt für Ungarn in der Zeit zwischen Petőfi und Arany in den 1840ern und Ady ab 1905 – standen mindestens vier Unterschiede gegenüber, die vielleicht dafür mitverantwortlich sind, dass sich wenige Deutsch Sprechende für ihn je erwärmen werden.413 Erstens, kein Öster­reicher, auch nicht Karl Kraus, kann sich mit Ady hinsichtlich seines Durchhaltevermögens in politischer Invektive und als Quelle der Inspiration für seine Zeitgenossen im Kampf gegen die Idiotien einer zurückgebliebenen ländlichen Gesellschaft messen. Seine Wirkung auf andere Intellektuelle lässt sich am ehesten mit der von Alexander Blok in Russland vergleichen. Kein öster­reichischer Literat erreichte, zweitens, einen mit Ady vergleichbaren Status als charismatische Figur, die alles Konstruktive in den Reformbewegungen 412 Endre Kiss, »Endre Ady’s politisch-dichterische Auffassung über ›Kakanien‹ – Kakanien aus der Sicht eines sich erneuernden Ungarns innerhalb der Gesamtmonarchie«, in Josef Strutz und Johann Strutz (Hg.), Robert Musils »Kakanien« – Subjekt und Geschichte. Festschrift für Karl Dink­ lage zum 80. Geburtstag, Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1986 (München  : Wilhelm Fink Verlag, 1987), S. 27  –  43, insbes. 41  –  42. 413 Ein couragierter Versuch zur Überwindung des großen Abstands ist Endre Ady, Gib mir deine Augen. Gedichte (Wuppertal / Wien  : Arco Verlag, 2011), übersetzt von Wilhelm Droste, mit ungarischen Paralleltexten.



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ihrer Zeit in sich zu vereinen scheint. Mit seiner scheinbar unerschöpflichen Energie, seinen beißenden Metaphern, seinem von Tragik überschatteten Lebensweg und seinem frühen Tod war er ideal dazu geeignet, das Streben seiner Generation nach sozialem und politischem Fortschritt zu verkörpern. Von den öster­reichischen Kandidaten für einen ähnlichen Status war Hofmannsthal zu konservativ in ideologischer, inhaltlicher und technischer Hinsicht, während der Wanderer Rilke keinen Anlass sah, sich als im Habsburgerreich verwurzelter Dichter zu präsentieren. Ady hingegen erhob sich selbst, wie Péter Pór es ausdrückt, in den Rang seines wichtigsten Symbols.414 Um den Vergleich mit Adys russischem Zeitgenossen Alexander Blok zu wiederholen  : Beiden gelang es, als vates, als Dichter-Seher ihre eigene Persönlichkeit zum Symbol ihrer Berufung zu erheben, die darin bestand, die Gesellschaft zu einen. Kein öster­reichischer Lyriker oder Dramatiker konnte an derlei auch nur denken  ; Rilke, dem jedes Talent für Eigenwerbung abging, am allerwenigsten. Durch seinen Calvinismus unterschied sich Ady, drittens, von jedem deutschöster­reichischen Intellektuellen. Ungeachtet seiner schwankenden Haltung zum Christentum verstand er es, eine den calvinistischen Predigern des 16. Jahrhunderts vergleichbare Angriffslust auf neue Ziele zu lenken. Die moralische Rigorosität, die er von seinen protestantischen Vorfahren geerbt hatte, richtete sich bei ihm gegen den Morast einer agrarischen Gesellschaft, die sich überlebt hatte, und gegen den leeren Pomp des »Theaterstaats«. Moritz Csáky hat die These vertreten, dass Adys calvinistischer Puritanismus für ihn wie für seine Glaubensbrüder in Debrecen der Grund war, die deutschsprachige Operette als »frivol« und un-ungarisch zu bezeichnen und zu verurteilen.415 Ady verkörperte die moralische Glut, die im katholischen Öster­reich – die letzten Protestanten waren fast zweihundert Jahre zuvor des Landes verwiesen worden – nur zu oft fehlte. Die nominell protestantischen Deutschen, die im 19. Jahrhundert ins Land kamen, Friedrich Hebbel, Johannes Brahms oder Freuds Lehrer Ernst von Brücke, waren überwiegend agnostisch oder atheistisch. Viertens  : Seinen Ausdruck fand das calvinistische Erbe, das Ady von seiner Mutter zugefallen war – sein Großvater mütterlicherseits war calvinistischer Prediger in Siebenbürgen – in Adys Ringen mit seinem Gott. Er war einer der wenigen Schriftsteller und Dichter in Öster­reich oder Ungarn, für den das Alte Testament eine reich gedeckte Tafel war. Ohne Parallele in Öster­reich ist eine Reihe von Gedichten Adys, die Elija, Hiob, Jona und andere Propheten des Alten Testaments anrufen, um Klage gegen Gott zu führen, dass er sich dem Dichter nicht eindeutig zu erken414 Peter Pór, »The Symbolist Turn«, S. 377. 415 Moritz Csáky, Ideologie S. 47.

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nen gebe. Paul Ignotus hat Adys Versuch, die calvinistische Theodizee wiederzubeleben, mit André Gide (1869  –  1951), einem ebenfalls unruhigen Protestanten, und dessen Feldzug gegen die Heuchelei verglichen. Kein öster­reichischer Schriftsteller hätte wie Ady von sich sagen können, Gide sei »ein Mensch, der mir näher steht in Bezug auf meine menschliche und literarische Entwicklung als jeder andere, dem ich begegnet bin«.416 Mit diesen vier Identitäten – als politischer Polemiker, charismatischer Reformer, Sprachrohr des calvinistischen Gewissens und als Suchender nach dem verborgenen Gott – stellt Ady sich außerhalb der Parameter des deutsch-öster­reichischen literarischen Lebens. Öster­reicher müssen ihn wohl oder übel als radikal unklassifizierbar ansehen  ; für Ungarn stellt er sich anders dar. Deutlicher sichtbar als jeder andere magyarische Literat seiner Zeit inszenierte er sich – wie der weit friedfertigere Walt Whitman in den Vereinigten Staaten zwei Generationen früher – als Verkörperung des Potenzials der Sprache, sich selbst – und damit die ganze Kultur – zu revolutionieren. Öster­reich hat keinen Literaten hervorgebracht, der in Charisma, Originalität und Tragik an Ady und seinen Helden Charles Baudelaire heranreicht. Nach dieser euphorischen Einschätzung muss auch noch Platz sein für Ilona Sármány-Parsons’ abweichende, nüchterne Einschätzung von Adys Haltung zu seiner Nation und zu den Frauen. In ihren Augen ist Ady in der Tat weit davon entfernt unklassifizierbar zu sein. Er personifiziert für sie den von ihr so genannten homme fatal, der auf andere Ungarn faszinierend wirkte. Sármány-Parsons’ Vorbehalte gegen Ady lohnen ein sorgfältiges Abwägen  : »Für Ady ist die Frau als Einzelwesen keine bestimmende Kraft  ; da sie keine Macht über ihn hat, wird sie zum bloßen – manchmal unwilligen – Mittel, um den Zustand der Ekstase zu erreichen. … Er ist verliebt in die Liebe oder, noch genauer, er liebt sich selbst in der Spiegelung durch die Geliebte. … In der Seele des ungarischen Mannes lauert, wie Ady entdeckt, die tödliche Gefahr in seinen eigenen Instinkten, in seiner Gier, seiner Herrschsucht, seiner Apathie und seiner Todessehnsucht, in den ›ererbten, aus dem mythischen Osten mitgebrachten Sünden‹, die er mit der ganzen Nation teilt.«417 Das ist nicht ein Rezept, in dem heute irgendjemand einen Weg zur Erneuerung erblicken würde. Ins 21. Jahrhundert ragt dieser potenzielle Erwecker seines Volkes herein als großartiger Dichter, dem es an Achtung gegenüber den Frauen fehlte.

416 Paul Ignotus, Hungary, S. 123. Siehe auch Miklós Magyar, »L’acte gratuit chez Gide et Kosztolányi«, Neohelicon, 25  :1 (1998), S. 151  –  159. 417 Ilona Sármány-Parsons, »The Image of Women in Painting  : Clichés and Reality in AustriaHungary, 1895  –  1905«, in Steven Beller (Hg.), Rethinking Vienna 1900 (New York / Oxford  : Berghahn Books, 2001), S. 220  –  263, insbes. 246. Zum homme fatal siehe S. 260.

Kapitel 12

Negative Einschätzungen

12.1 Der Konsens in Frage gestellt Fast alle Gelehrten, die bisher zu Wort gekommen sind, haben die Kultur der Doppelmonarchie positiv bewertet, einige – Grassl / Smith, Csáky, Vajda – sogar sehr positiv. Darin unterscheiden sie sich deutlich von Endre Ady, Karl Kraus, Adolf Loos, Miroslav Krleža und andern »unklassifizierbaren« Kritikern Habsburgs. Das politische Leben im »Theaterstaat« des Habsburgerreiches mag in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz unproduktiv, ja sogar destruktiv gewesen sein, seine schöpferischen Geister haben uns dennoch ein überaus vielfältiges Erbe hinterlassen, das wir, je nach Haltung, wertschätzen, betrauern oder neu interpretieren werden. Welche Auswirkung auf die Neueinschätzung dieses Erbes, so müssen wir fragen, wird die Konfrontation mit der negativen Beurteilung des Erbes zeitigen, welche die oben Genannten konsequent vertreten haben  ? Wie weit zwingen uns negative Einschätzungen der Kultur der Doppelmonarchie zu einer Revision des bereits zu ihrem Lob Gesagten  ? Hat der Nachdruck, den wir auf die Gemeinsamkeiten in der Kultur der Doppel­monarchie gelegt haben, uns dazu verleitet, sie über Gebühr zu würdigen  ? Die Literaten der in Frage stehenden Zeit bieten uns wenig Hilfe bei der Beantwortung dieser Fragen. Wie die Doppelmonarchie in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens so gut wie keine profilierten Verteidiger gefunden hat, so fanden sich auch nur wenige, die sie direkt attackierten. Man nahm das Regime einfach als gegeben hin. Mit wenigen Ausnahmen, wie Ady, Kraus und ethnisch motivierte Unzufriedene wie der Ukrainer Iwan Franko (1856  –  1916) und der Kroate Miroslav Krleža (1893  –  1981), neigten die Kritiker in dieser Zeit dazu, sich auf einzelne Aspekte des Regimes und seiner Kultur zu beschränken und das Ganze weitgehend unangetastet zu lassen. Gegen Ende der Monarchie und erst recht nach ihrem Ende wollten die Großdeutschen durchsetzen, dass Öster­reich sich vom Rest des Reiches löse und Teil des Deutschen Reiches bzw. Deutschlands werde. Diese Ideologen kümmerte wenig, wie es mit den übrigen vierzehn Ethnizitäten weitergehen sollte. Auch die ungarischen Patrioten, die für Unabhängigkeit plädierten, dachten die Frage nicht zu Ende, welches Regime die Implementierung magyarischer Autonomie ans Ruder bringen solle. Das Habsburgerreich bot sich zwar als Zielscheibe für Satiren aller Art an, ob als Kabarett, Feuilleton, Erzählung oder Essay, aber bis

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Wegweisende Themen

nach 1914 gingen selbst die härtesten Kritiker wie Karl Kraus von einem Weiterbestand der Monarchie aus. Potenzielle sozialistische Föderalisten wie Otto Bauer, Karl Renner und Aurel Popovici in Öster­reich und erst recht Oscar Jászi in Ungarn brüteten Pläne für eine Konstitution aus, doch kaum jemand dachte an eine Staatsform, welche die Monarchie ersetzen konnte. Das Fehlen einer umfassenden, konsequent durchgehaltenen negativen Einstellung zur Doppelmonarchie hatte mehrere Konsequenzen. Eine davon war das Versäumnis der öster­reichischen Patrioten, das Regime gegen seine Kritiker zu verteidigen. Die Apologeten der Zwischenkriegszeit, die ich rückblickend »Gindelyisten« genannt habe, hatten vor 1914 keine Vorläufer. Sie hatten auch zu wenige Gegner, die den Anhängern der Monarchie Anlass hätten geben können, Gründe für deren Überleben vorzubringen. Das von uns hier hochgehaltene Bild der Doppelmonarchie als einer Arena des innovativen Denkens hat sich für Publizisten erst geraume Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als attraktiv erwiesen. Noch erstaunlicher ist der Umstand, dass das Wesen der marginozentrischen Regionen und die Art, wie diese einen Schauplatz abgaben für das Hin- und Herpendeln kultureller Motive, erst ab den 1980er Jahren zunehmend zur Kenntnis genommen wurden. Auch heute würden sich nur wenige zum Konzept der mitteleuropäischen Bildungsethik bekennen, denn wer käme auf die Idee, gerade im Habsburgerreich Vorbilder für die weiterführende Erziehung zu vermuten  ? Zumal die dort angewandten Unterrichtsmethoden aus heutiger Sicht fast ausschließlich auf stumpfsinnigem Auswendiglernen und e­ inem schmalen Lektürekanon basierten.418 Das Fehlen einer begründeten Kritik der Doppelmonarchie wirkt sich, zweitens, für den Kulturhistoriker insofern erschwerend aus, als er die Gruppen ihrer Schwarzmaler, Satiriker, konstruktiven Kritiker und potenziellen Sezessionisten auseinanderhalten muss. Es ist bemerkenswert, aber keineswegs verwunderlich, dass es, soweit mir bekannt, noch keine historische Abhandlung zum Thema »bedeutende intellektuelle Kritiker des späten Habsburgerreiches« gibt. Die Protagonisten auf diesem Gebiet widersetzen sich einer systematischen Analyse, reichen sie doch von Jung­tschechen und großdeutschen Agitatoren in Böhmen oder ukrainischen Schwarzmalern wie Ivan Franko über öster­reichische literarische Satiriker wie Musil, Kraus und Kubin zu ungarischen Widerspruchsgeistern wie Ady und zu seinem kroatischen Verbündeten Miroslav Krleža. Das Auftreten dieser Kritiker in wenig vertrauten Sprachen und in abgelegenen Städten hat ihre ohnehin schon geringe Wirkung auf das Zentrum zusätzlich geschwächt. 418 Zur Kritik der Pädagogik durch Rilke, Musil, Roth und Móricz siehe Florence Godeau, »Pédagogie et satire chez quelques écrivains au tournant du siècle«, Neohelicon, 25  : 1 (1998), S. 131  –   150, insbes. 141  –  144 zu Ellen Keys Einfluss auf Rilke und Musil.



Negative Einschätzungen

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In den slawischen Literaturen finden sich noch andere negative Stimmen, wie der Schriftsteller und Dichter Ivan Cankar (1876  –  1918), der erste slowenische Berufsautor, der zwischen 1898 und 1909 in Ottakring, einem der Außenbezirke Wiens, in äußerster Armut lebte.419 Es ist verständlich, dass in der Forschung zu den Gemeinsamkeiten der Kultur der Doppelmonarchie der negative Diskurs über die Monarchie nicht gebührend berücksichtigt worden ist. Ganz ausgeklammert wurde er jedoch nicht. Vajda und andere haben z. B. auf negative Darstellungen des Heeresdienstes aus der Sicht gewöhnlicher Rekruten – im Gegensatz zur Offizierskaste – hingewiesen.420 Sowohl Vajda wie László Mátrai (1909  –  1983) haben angeregt, die allgegenwärtige Unzufriedenheit nicht-deutschsprachiger Soldaten im militärischen Apparat als kulturelle Gemeinsamkeit anzusehen. »Schon lange vor dem Krieg«, stellte Mátrai 1973 fest, »war die k. u. k. Armee zu der Institution geworden, die der Monarchie die größte Anzahl von Feinden machte. … Dies war ein wichtiges Signal, ein Symptom dafür, dass die zentrifugalen Kräfte in der Monarchie die Oberhand gewannen und für diese ›mittlere‹ Großmacht existenzbedrohlich wurden.«421 Da diese Sicht 419 Zu Cankar siehe Evgen Bavčar, »Ivan Cankar et la réalité sociale de Vienne«, Revue d’esthétique, N. S. 9 (1985), S. 163  –  168, und György M. Vajda, »Quelques types de la modernité dans les littératures de la Monarchie Austro-Hongroise«, Neohelicon, 27  :xxx (1998), S. 15  –  23, insbes. 18  –  19. Seine Romane und Theaterstücke erscheinen seit 1994 in neuen deutschen Übersetzungen, eine verlegerische Großtat des Drava Verlags, Klagenfurt  ; von der deutsch- oder ungarischsprachigen Forschung sind sie bis jetzt nur am Rand wahrgenommen worden. Zu slawischen Schriftstellern generell siehe besonders István Fried, »Die slawischen Literaturen der Monarchie – Die Monarchie der slawischen Literaturen«, Neohelicon, 35  :2 (2008), S. 255  –  263. Als langjähriger Kollege von György M. Vajda hat Fried eine Reihe von Artikeln geschrieben, in denen er slawische, ungarische und deutsch-öster­reichischen Literaten einer vergleichenden Betrachtung unterzieht. Siehe István Fried, »Zur Frage der ostmitteleuropäischen Region«, Studia Slavica, 31 (1984), S. 3  –   60  ; »Zentrum und Peripherie  : Polykulturalität der öster­reichischen Literatur«, in Karlheinz F. Aucken­t haler (Hg.), Lauter Einzelfälle. Bekanntes und Unbekanntes zur neueren öster­reichischen Literatur (Bern u. a.: Peter Lang, 1996), S. 59  –  76  ; »Die Kleinstadt der Monarchie als kulturelles und /  oder literarisches Gedächtnis in Ostmitteleuropa«, Neohelicon, 28  :xxx (2001), S. 123  –  128  ; »Öster­ reichisch-ungarische Kontakte in der modernen Literatur um die Jahrhundertwende«, in Wilfried Seipel (Hg.), Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde (Wien  : Kunsthistorisches Museum und Mailand  : Skira, 2003), S. 251  –  257  ; Gibt es ein literarisches (Ost-) Mitteleuropa  ? [2007] (Leipzig  : Leipziger Universitätsverlag, 2010) [zu Márai, Jókai, Krleža]. Siehe auch István Fried, »Emigration and Labyrinth« (1998), online unter  : http://www.hhrf.org/kisebb segkutata/mr_04/cikk.php?id=1191 (zuletzt abgerufen 16. August 2012). 420 György M. Vajda, »Die Armee als Modell der Doppelmonarchie in der Literatur«, in Joseph P. Strelka (Hg.), Im Takte des Radetzkymarschs  : Der Beamte und der Offizier in der öster­reichischen Literatur (Bern  : Lang, 1994), S. 371  –  382. 421 László Mátrai, »The Cultural Legacy of the Austro-Hungarian Monarchy«, New Hungarian Quarterly, 14  :49 (1973), S. 133  –  142, 136. István Szabós hochgradig fiktionalisierter Film Oberst Redl (1985), eine dramatisierte Version dieser These, zeichnet sich durch fein dosierte Ironie aus. Siehe

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eine der Säulen des Habsburgermythos zum Einstürzen bringt, wäre sie wohl weder Joseph Roth noch den Propagandisten des öster­reichischen Menschen in der Zwischenkriegszeit sonderlich willkommen gewesen. Eine weitere durchgängig negative Gemeinsamkeit war die Unzufriedenheit der weder Deutsch- noch Ungarischsprachigen mit dem Umstand, dass die zivile Verwaltung und besonders die Gerichte in einer für sie fremden Sprache funktionierten. Das Sprach-Duopol des Deutschen und Ungarischen war für jene, die keine Gelegenheit gehabt oder diese versäumt hatten, eine der Sprachen zu lernen, eine ständige Quelle von Ärgernis. William Wickham-Steed (1871  –  1956) und R. W. Seton-Watson (1879  –  1951), beide neben ihren andern Agenden geradezu fanatische Agitatoren für die Zerschlagung der Monarchie, lenkten die Aufmerksamkeit der englischen Öffentlichkeit auf diese schwärende Unzufriedenheit, zu einem Umdenken in der Doppelmonarchie selbst reichte dies allerdings nicht aus.422 Gerade dieses letzte Beispiel führt direkt zu einem Thema, das auch andere Kritiker wie Endre Ady, Karl Kraus und Hermann Bahr zur Weißglut trieb. Auf Kritik reagierten die Verwalter des späten Habsburgerreiches mit demonstrativer Gelassenheit. Versuche, Beschwerden ernst zu nehmen oder den Beschwerdeführern wenigstens zuzuhören, gingen über zaghafte Ansätze nicht hinaus. Allzu oft war die offizielle Reaktion Gleichgültigkeit, gespeist aus der selbstverständlichen Überzeugung, der »Theaterstaat« müsse einfach weiterwursteln. Ungeachtet der großen Meriten, die sie auf andern Gebieten haben mochten, wird man den Verwaltungsbeamten der Doppelmonarchie wenig Sensibilität im Umgang mit lang angemahnten Missständen attestieren können. Was die Satire bei Karl Kraus, Robert Musil, Endre Ady und andern so beißend macht, ist ja gerade die Erwartung, nicht gehört zu werden. Die Bitterkeit im Ton der Literaten, die sich mit allen Mitteln Gehör verschaffen wollten, stellt selbst eine durchgängige Gemeinsamkeit dieser Epoche als Grundmerkmal des öffentlichen Diskurses in der habsburgischen Spätzeit dar. Die Überzeugung, von denen ignoriert zu werden, die kraft ihres Amtes in der Lage wären, den Missständen abzuhelfen, war bei den Beschwerdeführer zu einem Teil ihrer Mentalität geworden. Die Intransigenz, mit der hohe Beamte gewohnheitsmäßig auf Beschwerden reagierten, widerspricht dem Bild der retrospektiven Apologeten der 1920er und Katherine Arens, »Central Europe’s Catastrophe on Film  : The case of István Szabó«, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Junctures and Conjunctures in the 19th and 20th Centuries, 4 Bde. (Amsterdam / Philadelphia  : John Benjamins, 2004  –  2010), Bd. 1 (2004), S. 548  –  558. 422 Siehe Hugh Seton-Watson und Christopher Seton-Watson, The Making of a New Europe. R. W. Seton-Watson and the Last Years of Austria-Hungary (Seattle WA  : University of Washington Press und London  : Methuen, 1981).



Negative Einschätzungen

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1930er Jahre. Es war ja die These gindelyistischer Publizisten, dass hochrangige öster­reichische Beamte sowohl in der Lokalverwaltung wie beim Militär eine selbstlose, von eigenen Interessen freie Haltung einnehmen konnten, die sie befähigte, zwischen den Ethnizitäten zu vermitteln und so die Spannungen zwischen diesen zu mindern. Das Aufgeben der eigenen ethnischen Identität, das diese Beamten – gewöhnlich Deutsch-Öster­reicher – leisteten, war ja ein hervorragendes Merkmal der von Benda so genannten »Dienstaristokratie«. Unter diesen Dienst­ aristokraten befanden sich für Hassinger, Wildgans und Benda die wahren Öster­ reicher, die Fackelträger, wenn man es pathetisch ausdrücken will, der habsburgischen Identität. Ihre eigene Identität war definitionsgemäß transethnisch und ihr Patriotismus transnational. Da sie selbst es sich nicht gestatteten, sich auf die Seite einer Ethnizität in deren Auseinandersetzung mit einer andern zu stellen, konnten sie das Regime nur in einer sehr abstrakten, sozusagen entkörperten Weise verteidigen. Wenn man das gindelyistische Ideal gegen den ethnischen Dauerzwist hält, zu dessen Beilegung in Böhmen oder Galizien es sich letztlich als unfähig erwies, dann wirkt diese Vision des Regierens durch Zeremoniell merkwürdig blutleer. Franz Joseph, das Leitgestirn des Theaterstaates, inszenierte sich als Diener des hohen Ideals der Selbstlosigkeit, und das Bild dieses scheinbar dem Zugriff der Zeit entrückten Bürokraten in der Hofburg bildet den Kern des Habsburgermythos in der öster­reichischen Literatur. Seine mythische Qualität – hier wird gefeiert, was zu gut ist, um wahr zu sein – hat seiner Plausibilität damals wie heute geschadet und unweigerlich die Satire auf den Plan gerufen. Dennoch hat noch niemand eine systematische Darstellung der Entmystifizierer versucht, die nach 1900 und noch einmal verstärkt nach 1920 auftraten. Idealerweise könnte das vorliegende Buch seinen Höhepunkt in einer solchen Darstellung finden. Brücken zu schlagen zwischen ungarischen Dissidenten, die sich mit der Reaktionsverweigerung des Regimes nicht abfinden konnten, wie Ady und Kassák, und Öster­reichern wie Karl Kraus und Robert Müller wäre eine äußerst reizvolle Aufgabe.423 Im Licht einer solchen Darstellung ließe sich behaupten, die Fehler und Unterlassungen des Regimes seien Auslöser von höchst eindrucksvollen Schmerzensbezeugungen gewesen. Heute noch hinterlassen Ady und Krleža als Mitglieder eines Chors der Neinsager einen tiefen Eindruck. Sie bilden einen Gegenpol zum Lob, mit dem Maier, Nemoianu, Csáky und erst recht Grassl / Smith und Weibel den Umstand hervorheben, dass die Doppelmonarchie, so hartnäckig 423 Zu Müller siehe Stephan Dietrich, »›Krise der nervösen Aufreibung‹  : Zum imaginierten Großstadtraum im Werk Robert Müllers«, in Amália Kerekes u. a. (Hg.), Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Öster­reich-Ungarns (Tübingen / Basel  : A. Francke Verlag, 2004), S. 199  –  212, und Johnston, Der öster­reichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Öster­reichs (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 2009), S. 102  –  119.

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sie sich weigerte, fähige Reformer oder fantasievolle Verwaltungsbeamte hervorzubringen, doch fähig war, kreative Künstler, Literaten, Gelehrte und Naturwissenschaftler zu inspirieren. Unsere Wertschätzung für die Kreativität, die einer zunehmenden, durch Zeremoniell gemilderten politischen Dysfunktionalität zum Trotz blühte, braucht uns nicht blind zu machen für die Dummheit des Regimes und seine daraus resultierende Unfähigkeit, jene schöpferische Matrix am Leben zu erhalten, deren Produkte wir so sehr bewundern. Eine Reihe von ungarischen Forschern wie André Karátson haben mit Bedauern festgestellt, dass die Doppelmonarchie, hätte sie nur weitere zehn Jahre Bestand gehabt, die Nyugat-Bewegung in die Lage versetzt hätte, ihre Wirkung zu konsolidieren und in Ungarn nachhaltig zur Verfestigung einer neuen Mentalität beizutragen.424 In dieser Sicht ist das Reich zu dem für die ungarische Kultur ungünstigsten Zeitpunkt zusammengebrochen, als eine rechtsradikale Gegenbewegung an Stärke gewann und bevor sich die Leistungen der ›Westler‹ zu einem dauerhaften Erbe konkretisieren konnten. Die Torheit, den Ersten Weltkrieg zu beginnen, schadete so gesehen Ungarn ganz besonders. Das Land hätte noch ein, zwei Jahrzehnte im kreativen Klima der Doppelmonarchie gebraucht, um effektiver mit seiner halbfeudalen ländlichen Vergangenheit brechen zu können. Kaum jemand hat eine ähnliche Klage in Bezug auf Cisleithanien angestimmt. Die relative Fortschrittlichkeit seiner westlichen Regionen hat die Anpassung an die nach 1918 herrschenden Bedingungen zumindest scheinbar leichter gemacht als dies in Polen, Rumänien, Jugoslawien und Ungarn selbst der Fall war. Vielleicht finden sich im Chor der Stimmen, die sich zur 100. Wiederkehr des Kriegsausbruch 2014 zu Wort melden, auch solche, die der Rückständigkeit gedenken, zu der die Entscheidung für den Krieg im Juli 1914, wenn schon nicht Öster­reich und die nachmalige Tschechoslowakei, so doch die Regime weiter im Osten verurteilte. Die Falken von 1914 um Leopold Graf Berchtold sind dafür verantwortlich, dass das, was den vormals transleithanischen Gebieten an Hinterlassenschaft des Reiches blieb, hauptsächlich aus Verlust und Mühsal bestand. Wenn die transnationalen Ideale der Gindelyisten der politischen Führung des Reiches die Pflicht der Fürsorge auferlegten, dann haben die Gestalter der Außenpolitik Mitte 1914 in ihrer Verantwortung für die Ostgebiete unter ihrer Obhut katastrophal versagt. Wie verhält sich die Wiederentdeckung der kulturellen Leistungen der Doppelmonarchie seit etwa 1970 zu dem Gesagten  ? In mancher Hinsicht handelt es 424 André Karátson, »Paradoxes in the Hungarian Adepts of Symbolism and Decadence at the Beginning of the Twentieth Century«, in Robert B. Pynsent (Hg.), Decadence and Innovation. AustroHungarian Life and Art at the Turn of the Century (London  : Weidenfeld and Nicolson, 1989), S. 66  –   73, insbes. 71. Siehe auch Karátson, »Le projet culturel de la revue Nyugat«, Revue de littérature comparée, 60  : 3 (1986), S. 283  –  294, insbes. 293  –  294.



Negative Einschätzungen

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sich dabei um den Versuch, den Mangel an Wertschätzung in der Monarchie selbst auszugleichen. Dass die Zeitgenossen die künstlerischen Leistungen sehr wohl zu schätzen wussten, während sie für die intellektuellen und literarischen Pioniertaten der Doppelmonarchie blind waren, stellt für die heutige Forschung die Herausforderung dar, ausgleichende Gerechtigkeit zu üben. Die bildende Kunst ist, wie Moravánszky gezeigt hat, die große Ausnahme in der mangelnden zeitgenössischen Wahrnehmung schöpferischer Leistungen. Kunstkritiker wie Ludwig Hevesi und viele andere verfolgten aufmerksam die Neuerungen auf dem Gebiet der Architektur, der Malerei und der Skulptur und viel gelesene Literaten wie z. B. Hermann Bahr, aber auch zahlreiche Autoren aus dem Umkreis von Nyugat setzten sich ausführlich mit dem Kunstbetrieb auseinander. Das üppige Sprießen des zeitgenössischen Diskurses über die bildende Kunst macht die Aufgabe für Kunsthistoriker des Habsburgerreiches wesentlich befriedigender und bietet viel mehr Material, als für die Arbeit mit den Literaturen der Zeit zur Verfügung steht. Welche Rolle sollte also den negativen Stimmen in einer revisionistischen Neubewertung der Kultur der Doppelmonarchie zukommen  ? Ihre Kritik, wir haben es bereits gehört, hatte meist weniger das System als Ganzes als vielmehr regionale oder lokale Missstände zum Ziel. Dass dem so war, wird nicht zuletzt aus dem Umstand verständlich, dass nur wenige Intellektuelle überhaupt in die Lage kamen, das System so weit zu verstehen, dass sie es schlüssig kritisieren konnten. Die Komplexität – um nicht zu sagen  : die Unverständlichkeit – des Regimes war sein Schutz gegen Kritik, die auf seine Gesamtheit zielte. Von ganz wenigen Ausnahmen wie etwa Oscar Jászi abgesehen, zogen sowohl Kritiker wie Reformer Fallstudien einer strukturellen Analyse grundlegender Mängel vor.425 Dass diese Angriffe jeweils nur Teilaspekte betrafen und somit z. B. bei Ady und bei Kraus Stückwerk blieben, mindert ihren Wert für einen Versuch, zu allgemeingültigen Einsicht zu gelangen, besonders hinsichtlich jener Faktoren, die für intellektuelle Innovation sorgen. »Theorien Öster­reichs«, wie die von Grassl / Smith oder Csáky, und erst recht Phänomenologien der Doppelmonarchie, wie die von Vajda und, bis zu einem gewissen Grad, die von Weibel, lassen die Ergebnisse von Fehlersuchern weitgehend unberücksichtigt. Umgekehrt erscheinen im Licht allgemeiner Theorien über die Wurzeln der Kreativität die Kritiker nicht ohne weiteres als Nebenprodukte dieser Bedingungen. Eine umfassende Darstellung der Kreativität in der Doppelmonarchie muss thematisieren, wie deren Bezugssysteme zugleich Kritiker des Regimes 425 Zu Jászi siehe Attila Pók, »Modern Sociology and Modern Art in Early Twentieth Century Hungary«, Hungarian Studies, 9  :1  –  2 (1994), S. 65  –  71  ; Nina Bakisian, »Oscar Jászi in Exile  : Danubian Europe Reconsidered«, Hungarian Studies, 9  : 1  –  2 (1994), S. 151  –  159, und György Litván, A Twentieth-Century Prophet  : Oscar Jászi 1875  –  1957 (Budapest und New York  : Central European University Press, 2006).

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und apolitische Innovatoren auf den Plan riefen  ; bis jetzt haben die Kulturhistoriker letztere einseitig bevorzugt. Die negativen Stimmen haben auch in der Forschungsliteratur zur bildenden Kunst eine bedeutendere Rolle gespielt als auf andern Gebieten. Architektur, Malerei und Skulptur haben, so kann man sagen, wesentlich mehr und wesentlich schärfere Kritik erfahren als alle anderen schöpferischen Unternehmungen in der Monarchie. Ákos Moravánszky, Elizabeth Clegg und andere haben ihre Analysen des Anschauungsmaterials mit einer Fülle von zeitgenössischem, mindestens teilweise deutlich skeptischem Kommentar verknüpft. Erst seit kurzem ziehen auch Literaturwissenschaftler in vergleichbarer Weise und in vergleichbarem Umfang Material zur zeitgenössischen Rezeption ihrer Schriftsteller und Denker heran. Wenige Literaturwissenschaftler haben, um nur ein Beispiel zu nennen, sich bis heute der in die Hunderte gehenden Artikel zur Literaturkritik angenommen, die in Nyugat nicht nur zu ungarischen, sondern auch zu englischen, französischen, belgischen, italienischen, deutschen und öster­reichischen Dichtern und Schriftstellern erschienen sind. Eine nach Jahrgängen gegliederte intellektuelle Geschichte von Nyugat würde eine reiche Ernte einbringen.426

12.2 Eine Kritik des einseitigen Umgangs mit Polaritäten Man mag es bedauern, dass sich Grassl und Smith in ihrer Theorie der öster­ reichischen Kreativität auf eine verhältnismäßig kleine Zahl von Denkern beschränkten. Angesichts des resultierenden Vakuums ist es umso erfreulicher, dass für »Wien 1900«, wenn auch nicht für »Budapest 1905« ein amerikanischer Kunsthistoriker die Betrachtung auf weitere bedeutende Denker und Künstler ausgeweitet hat. Dieser Pionier ist Claude Cernuschi, Professor für Kunstgeschichte am Boston College. Wie breit angelegt seine Darstellung ist, zeigt schon der etwas umständliche Titel, Re / Casting Kokoschka  : Ethics and Aesthetics, Epistemology and Politics in Fin-de-Siècle Vienna.427 Cernuschi ist ein weiteres frappierendes Beispiel 426 Zur Diskussion sozialgeschichtlicher Themen in Nyugat siehe Mario D. Fenyő, »Literature and Political Change. Budapest. 1908  –  1918« in Transactions of the American Philosophical Society, 77  :6 (1987). Das Werk basiert auf persönlichen Erinnerungen das Autors an seinen Vater Miksa Fenyő (1877  –  1972), einen Mitbegründer von Nyugat. Siehe auch József Szili, »The Uncompromising Standards of Nyugat (1908  –  1941)«, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Junctures and Disjunctures, Bd. 3 (2007), S. 70  –  79. Eine deutschsprachige Anthologie von fast hundert Artikeln nach Jahren geordnet, aber infolge ihrer marxistischen Ausrichtung nur bedingt brauchbar, bietet Aranka Ugrin und Kálmán Vargha (Hg.), ›Nyugat‹ und sein Kreis 1908  –  1941 (Leipzig  : Reclam, 1989). 427 Cernuschi, Re / Casting Kokoschka. Ethics and Aesthetics, Epistemology and Politics in Fin-de-Siècle



Negative Einschätzungen

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dafür, dass konzeptuelle Durchbrüche, die sich dann auf andere Kulturhistoriker befruchtend auswirken, oft ihren Ausgang bei Kunsthistorikern nehmen. Neben neuen Lesarten von Kokoschka und Loos präsentiert Cernuschi solche von Freud, Kraus, Wittgenstein, Klimt, Schönberg, Riegl, Mach, Herzl, Weininger, Schnitzler, Hofmannsthal und Bahr. Schon diese Liste weist auf den Anspruch seines Ansatzes hin. Ebenfalls wird rasch deutlich – und es ist nötig, sich das im Detail vor Augen zu führen, noch ehe wir versuchen, Cernuschis Leistung zu würdigen –, dass es auch Fehlanzeigen gibt. Von den Großen fehlen u. a. Musil, Mahler, Gerstl, Schiele, Kubin und Trakl. Vor einem Hintergrund, für den Schopenhauer, Nietzsche, Bachofen und Darwin das Material liefern, präsentiert Cernuschi eine germanozentrische Vision, aus der französische, englische und italienische Dichter und Schriftsteller weitgehend ausgeblendet sind. Noch überraschender ist, dass das auch für Architekten wie Otto Wagner zutrifft  ; Loos erhält die überragende Rolle, die er spielt, in seiner Eigenschaft als Schriftsteller. Von den französischen Malern wird gerade einmal Gauguin erwähnt. Von unserem Standpunkt aus erscheint besonders bedauernswert, dass kein einziger Ungar dabei ist. Für den Gedanken der Doppelmonarchie ist hier also wenig zu holen. Die vielleicht gravierendste Fehlanzeige in einem Werk, das eine entschiedene Neukonzeptualisierung unternimmt, ist der allzu sparsame Gebrauch, der von Historikern auf dem Gebiet der öster­reichischen Philosophie gemacht wird. Während Janik und Toulmin reichlich, Schorske gelegentlich und Le Rider zweimal zitiert werden, fehlen andere Schwergewichte – Rudolf Haller, Grassl und Smith, J. C. Nyíri und Endre Kiss – völlig. Soviel zu den Grenzen, innerhalb deren Cernuschi operiert. Die großen und kleinen Texte und die Bilder, die er in seinen Kanon aufgenommen hat, werden einer eindringlichen Analyse unterzogen, die der Autor durch vielfältige Querbeziehungen anreichert. Mit akribischer Scharfsicht verknüpft er Kokoschka wie Loos mit fast allen Großen der Zeit von »Wien 1900« und webt so vielfältige Netze des Vergleichs und der Kontrastierung um die zur Diskussion anstehenden Probleme. Man sieht, wie die beiden im Treibhaus Wien, wo der Expressionismus neben dem Antifeminismus und Antisemitismus gedieh, ihre je eigene Identität ausbildeten. Freud – aber keiner seiner Schüler – wird gezeigt als Wegbegleiter des Malers Kokoschka, während Wittgenstein seinem Freund Loos Rede und Antwort stand. Obwohl Cernuschi die großen Topoi der Kultur der Doppelmonarchie, die wir schon kennen – die Hybridisierung der Motive (Smith / Grassl), die Pluralität und ihren Vienna (Madison and Teaneck NJ  : Fairleigh Dickinson University Press und London  : Associated University Presses, 2002). Cernuschi hat seine Sicht präzisiert in »Depth and Surface, Will and Representation  : Egon Schiele and Arthur Schopenhauer«, in Jill Lloyd und Christian WittDörring (Hg.), Birth of the Modern. Style and Identity in Vienna 1900 (New York  : Neue Galerie, 2011), S. 173  –  187.

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Nutzen (Csáky) –, nicht beim Namen nennt, wendet er innerhalb der Grenzen von »Wien 1900« diese Konzepte zumindest implizit an. Er zeigt z. B. mit großer Ausdauer den an Bartók erinnernden Austausch von Motiven, der von den führenden Neuerern praktiziert wurde, besonders von Freud und Weininger oder von Loos und Wittgenstein, und er selbst stellt immer wieder Kreuzungen von Begriffen her, die ursprünglich in der Psychoanalyse, der Sprachphilosophie, Kunstkritik, Medizin und im Antifeminismus beheimatet sind und tut dies mit dem Elan eines Meisterdialektikers. So erhellt er Phase um Phase im Wachstum seiner beiden Protagonisten. Das Auf und Ab der miteinander verquickten Debatten, das den Hintergrund für diese Entwicklung abgibt, hat selbst eine ›Gestalt‹, die an die ineinander geschachtelten Bezugssysteme von Grassl / Smith denken lässt. Cernuschi hat die Erkenntnisse amerikanischer Forschung zu »Wien 1900« zusammengeführt zu einer hochoriginellen Monografie über zwei Künstler und Schriftsteller, die diese Zeit bis zur Neige ausgekostet haben. Das Bild, das dabei entsteht, ist alles andere als erbaulich. Es zeugt von Streit, Gehässigkeit und einem Kampf fast auf Leben und Tod gegen den Antisemitismus. Das Kapitel über »The Impossibility of Jewish Assimilation«, die Unmöglichkeit jüdischer Assimilation, ist eine der schonungslosesten Analysen jüdischer Identitätskrisen in Wien in englischer Sprache. Je weiter das Buch fortschreitet, desto stärker wird der Eindruck einer zunehmenden Desillusionierung des Autors. Die bestehende Gräben unerbittlich noch vertiefende Rhetorik der Jahrhundertwende veranlasst Cernuschi zu einer grundsätzlichen Bestandsaufnahme. Er erstellt einen Katalog binärer Gegensätze, die von ihm analysiert worden sind – »Struktur / Ornament, Funktion / Dekoration, Wahrheit / Lüge, Mann /  Frau, Christ / Jude, Deutscher / Nichtdeutscher«. Die Wiener Kultur des Fin de Siècle, so Cernuschi, hat »nicht nur oft die Gegensätze vertieft zwischen politischen Parteien, ästhetischen Lagern und ethnischen Gruppen, sie hat … auch gegen die Kontamination der einen Gruppe durch die jeweils andere gekämpft«.428 Aus Angst vor der »Degeneration der Kunst, der Sprache, der Politik oder des menschlichen Körpers … haben viele Denker der Jahrhundertwende sich an eindeutige, scharfe Grenzen zwischen den angeblich ›positiven‹ Merkmalen einer Kultur und ihren ›negativen‹ Gegenstücken geklammert«.429 Die irrationale Essenzialisierung von Gruppenmerkmalen sorgte dafür, dass die Grenzen zwischen den Gruppen zu scharf gezogen wurden. Auf der Suche nach einer damals vorhandenen Möglichkeit, »trennender Polemik«, unüberbrückbarer Polarisierung und rhetorischer Verdrehung der gegnerischen Positionen« zu entgehen,430 verweist Cernuschi auf den Kunsthistoriker Alois 428 Cernuschi, Re / Casting, S. 193. 429 Ebenda. 430 Ebenda, S. 194, 188.



Negative Einschätzungen

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Riegl, der binäre Gegensätze formulierte, sie aber nicht für entwertende Reihungen in der Kunstgeschichte verwendet wissen wollte. Cernuschi – wie auch Margaret Olin – sah Riegls Zurückhaltung als eine des öster­reichischen Menschen würdige Eigenschaft.431 Der beamtete Riegl »vermied jede Privilegierung der gegenständlichen über ornamentale Kunstformen oder der schönen über die angewandte Kunst  ; sein diesbezüglicher Verzicht hinderte ihn aber nicht daran, andere Formen des binären Gegensatzes einzuführen – Gegensätze, die nicht von sich aus eine Kunstform auf Kosten einer andern – z. B. die optische zu Ungunsten der haptischen – privilegieren«.432 Was Cernuschi letzten Endes an »Wien 1900« so unbefriedigend findet, ist die in jeder Debatte spürbare Tendenz der Wiener Intellektuellen, einen der beiden Pole eines Gegensatzpaares in den Himmel zu heben und den andern zu verdammen. Er sieht sich hier auf ein- und derselben Linie mit Wittgenstein. »Indem seine Philosophie sich vom Anspruch auf absolute Wahrheit trennt, trennt sie sich auch vom Vorurteil.«433 Auch in Machs Ablehnung des Ich erkennt Cernuschi eine Ablehnung der »vom Loos-Zirkel über alles geschätzten Idee – des Schopenhauerschen Glauben an ein metaphysisches ›Ding-an-sich‹ und der Unterscheidung zwischen Realität und Erscheinung«.434 Mit seiner entschieden revisionistischen Sicht auf die Polemik, die ein Hauptmerkmal der Zeit um 1900 war, mit deren Ablehnung als Vorbild für postmoderne Neukonzeptionen, wie Jacques Le Rider es vorgeschlagen hat, und schließlich mit der Ablehnung ihres Anspruchs, trügerische Oberflächenschichten abheben zu können, unter denen ein wahrer Kern zum Vorschein kommt, wie Vajda dies mit seiner Phänomenologie bezweckt, warnt dieser Kunsthistoriker uns in eindrucksvoller Weise gegen den Missbrauch polarer Gegensätze, der die Debatten dieser Zeit beherrschte.435 Er teilt nicht den Enthusiasmus von Schorske oder von Janik und Toulmin für konzeptuelle Durchbrüche – im Zuge der Erfindung der Psychoanalyse, der Sprachkritik, der Kritik am Ornament oder der Obsession mit der Aus431 Siehe Margaret Olin, »Alois Riegl  : The Late Roman Empire in the Late Habsburg Empire«, in Ritchie Robertson und Edward Timms (Hg.), The Habsburg Legacy  : National Identity in Historical Perspective (Edinburgh  : Edinburgh University Press, 1994), S. 107  –  120. Eine anders gewichtete Sicht bei Matthew Rampley, »Art History and the Politics of Empire  : Rethinking the Vienna School«, Art Bulletin, 91  :4 (2009), S.  446  –  462, bes. 454  –  456. Ein wichtiger Beitrag zu Riegls Methodologie ist Mike Gubser, Time’s Visible Surface  : Alois Riegl and the Discourse on History and Temporality in Fin-de-Siècle Vienna (Detroit  : Wayne State U.P., 2006). 432 Cernuschi, Re / Casting, S. 194. 433 Ebenda. 434 Ebenda. 435 Eine ähnliche, auf breit gefächerter Lektüre slawischer Schriftsteller beruhende Kritik bei Krasz­ tev, »From modernization to modernist literature«, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures of East-Central Europe, Bd. 1 (2004), S. 332  –  348.

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tauschbarkeit des Physischen und des Psychologischen. Mit seiner Darstellung der intellektuellen Hahnenkämpfe der Zeit rät Cernuschi uns, zu ihnen auf Distanz zu gehen und zieht auch für sich selbst eine klinische Lesart dieser obsessiven Denker vor. Indem er sich von seinem Studienobjekt so radikal distanziert, repräsentiert Cernuschi ein spätes, wenn nicht sogar abschließendes Stadium der Auseinandersetzung mit »Wien um 1900«, deren Entwicklung Steven Beller über die Jahre hinweg nachgezeichnet hat, zuletzt in einer Glanzleistung in Contemporary Austrian Studies (2011).436 Cernuschi und Beller erwähnen Ungarn ebenso wenig als Kontrast zum Wien des Fin de Siècle, wie sie ungarische Forscher zu dieser Thematik zitieren. Mit seiner exklusiven Ausrichtung auf die Wiener Polemiker veranschaulicht Cernuschi die Verblendung, die in ihrer gegenseitigen Belegung mit Bannflüchen zum Ausdruck kam, und ihre Angst vor Kontamination durch das ihnen fremdartig Scheinende. Weit davon entfernt, für das Andere offen zu sein, werden Kokoschka, Loos, Kraus und Weininger, von Schönerer und Lueger ganz zu schweigen, sichtbar als große Hasser, denen zur Verbreitung ihrer Ideologie der Exklusion alle Arten rhetorischen Feuerwerks jederzeit zur Verfügung standen. Die Suche nach Wahrheit verkam bei ihnen zu ritueller gegenseitiger Beschimpfung und wechselseitiger Ausgrenzung. Dieses Bild einer mit allen Mitteln der Rhetorik angefachten Gehässigkeit entfernt uns in der Tat sehr weit von den Mythen der Apologeten des öster­reichischen Menschen. Der von Hofmannsthal, Wildgans und Benda vorgebrachte Vorschlag, die Erste Republik möge mit Stolz auf die katholisch-humanistischen, gesamteuropäischen Werte der Blüte der habsburgischen Beamtenschaft blicken, klingt nach seiner Befragung durch Cernuschi ausgesprochen hohl. Statt die Gegensätze durch eine Synthese zu überbrücken, haben nur allzu viele Intellektuelle der Jahrhundertwende ihr Heil darin gesehen, einen Pol eines Gegensatzpaares bis zum Ausschluss der Gegenposition aufzublähen. In der Zwischenkriegszeit haben die Apologeten die Helden, die sie auf den Schild hoben, dafür gerühmt, dass sie ein gegenteiliges Ethos lebten  : Angeblich verstanden sie sich darauf, wie man die Pole binärer Gegensätze miteinander versöhnt. Cernuschis Ansatz lässt dies zweifelhaft erscheinen. Anders gesagt  : Der Ort, den das gindelyistische Lob des transnationalen Irenismus als Grundvoraussetzung für Habsburgs Staatsbeamte und für die Kultur, der sie dienten, einnimmt, entpuppt sich seinerseits als Pol in einem Gegensatzpaar, dessen Gegenpol durch den unerbittlichen Diskussionsstil der Intellektuellen markiert wird. 436 Steven Beller, »Fin de Fin-de-Siècle Vienna  ? A Letter of Remembrance«, Contemporary Austrian Studies, 20 (2011), S. 46  –  80.



Negative Einschätzungen

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Die Beschwörung des öster­reichischen Menschen hat also, wie sich zeigt, ­darunter gelitten, dass die Apologeten selbst eine Rhetorik polarer Gegensätze nicht vermei­ den konnten. Statt die Tricks der dualistischen Rhetorik abzulehnen, haben die Apologeten sie verwandelt in die ebenso einseitige und unwahrscheinliche Behauptung, Habsburgs Beamte hätten sich speziell auf einen transnationalen und transdualistischen Stil der Überwindung von Gegensätzen verstanden. Der öster­reichische Mensch war zu einem völlig unwahrscheinlichen Wesen geworden, einem trans­natio­ nalen und transdualistischen Vermittler, der in der Endphase der Habsburgermonarchie irgendwie gelernt hatte, sich außerhalb des Bannkreises polarer Gegensätze zu bewegen. Cernuschi weist jede derartige Annahme zurück, indem er zeigt, wie sehr die dualistische Rhetorik das intellektuelle Ethos der Zeit, auch bei den Apologeten der Zwischenkriegszeit, durchdrungen und korrumpiert hatte. Die angeblichen Verkörperungen des öster­reichischen Menschen konnten sich ebenso wenig dieser vergifteten Atmosphäre entziehen wie die Antisemiten und Antifeministen. Cernuschi erwähnt zwar Grassl / Smith nicht, aber er teilt implizit ihre These, die in Öster­reich und Ungarn geübte Praxis habe eine reiche gegenseitige Befruchtung zwischen Begriffen, Motiven und Debatten innerhalb ererbter Bezugssysteme ermöglicht. Cernuschi zeigt nicht nur, wie nahe sich die Polemiker in Wien um 1900 standen, als Verbündete ebenso wie als Kontrahenten  ; er hat auch selbst ihre Debatten zu einer Serie virtuoser Synthesen verwoben. Die schönste Frucht dieser Synthesen besteht in einer Reihe von – bisher jedenfalls nicht in dieser Form wahrgenommenen – Ironien. Indem er bei seinen Protagonisten – Loos, Kraus, Weininger, Kokoschka und andern – Angst vor Kontamination durch das Andere feststellt, enthüllt diese Diagnose etwas sehr Wichtiges über die Apologeten des öster­reichischen Menschen, des vielgerühmten Vorkämpfers für jede Art des kulturellen Austauschs  : Denn was ist kultureller Austausch, wenn nicht die Akzeptanz gegenseitiger Kontamination  ? In ihrer Rolle als Vermittler haben die Vertreter des öster­reichischen Menschen genau jene Art von kultureller Kontamination gefördert, die von Puristen wie Loos, Kraus und Weininger und von den Großdeutschen wie Schönerer angeprangert wurde. Die Herausforderung für die Versöhner bestand mit einem Wort darin, sich mit ihren Verächtern zu versöhnen. Wie kann man also dem Versuch widerstehen, im Schatten dieses Widerspruchs einen weiteren Gegensatz zu postulieren, der eine zentrale Rolle für »Wien 1900« spielt  : den Gegensatz zwischen Kraus und Loos als Gegner der Kontamination und den Mitstreitern von Hassinger und Benda als deren Befürworter  ? Die Dualität zwischen dem Sich-hingezogen-Fühlen zur kulturellen Infektion und dem Sichabgestoßen-Fühlen scheint der Strategie der Apologeten der Zwischenkriegszeit zugrunde zu liegen, als sie sich zur positiven Seite dieser Dualität bekannten und dieses Bekenntnis zum Grundmerkmal des, wie man sagen könnte, »höheren öster­

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reichischen Menschen« erklärten. Wo der »höhere öster­reichische Mensch« sich für Vermittlung, Akzeptanz der Unterschiede und Friedfertigkeit einsetzt, dort predigt der »niedrige öster­reichische Mensch« Ausgrenzung, Verteufelung der Unterschiede und die Politik des Hasses. Indem er für sich in Anspruch nimmt, die höhere Variante des Öster­reichertums zu verkörpern, setzt der öster­reichische Mensch die Stigmatisierung seines Gegenteils, des hasserfüllten Rassisten voraus, der eine Rhetorik der Exklusion und der unüberwindbaren Grenzen pflegt.437 Weit davon entfernt, die gegensätzlichen Pole zu vereinen, impliziert das Konzept des öster­reichischen Menschen die Existenz seiner Antithese, des öster­reichischen Xenophoben. Im Licht von Cernuschis Diagnose der Rhetorik der Jahrhundertwende würde ein genauer durchdachtes Porträt des öster­reichischen Menschen eine Figur postulieren, die in der Mitte des Kampfes zwischen Vermittlern und Hassern operiert, zwischen Versöhnern und Rassisten, zwischen Befürwortern marginozentrischer Freundlichkeit und deren Gegnern. Es ist nicht verwunderlich, dass die potenziellen Vermittler manchmal ein Gefühl der Paralyse überkam, wie Michael André Bernstein das in der Figur des Grafen Wiladowski in seinem Roman Conspirators (2004) dargestellt hat. Wiladowski sucht in der spannungsgeladenen Arena Ostgaliziens eine Rolle zu spielen, die der des Pontifex-Ich von Leopold Szondi entspricht. Im Jahr 1913 war die Zeit für solche politischen Brückenbauer abgelaufen. Wie wäre Cernuschis Analyse von »Wien 1900« ausgefallen, hätte er einen Blick auf Budapest 1905 geworfen  ? Péter Hanák, György M. Vajda, Judit Frigyesi und Moritz Csáky haben mit ähnlichen Aufgabenstellungen gearbeitet, freilich ohne eine ähnlich dichtes Gewebe widerstreitender Argumentationslinien zu produzieren. In der ungarischen Forschung besteht ein von Victor Karady 1994 ausgesprochener Konsens darüber, dass wenigstens bis 1910 Juden sich in Budapest assimilieren konnten, ohne dem in Wien endemischen Antisemitismus zu begegnen.438 Im Budapest der Vorkriegszeit spielte zum Beispiel bei der Besetzung des Stadtrats die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Kandidaten eine hervorragende Rolle. Das hatte zur Folge, dass zahlreiche Juden diese Position einnahmen – ein Privileg, das im Wien Karl Luegers undenkbar war. Hätte Cernuschi die Virulenz des Antisemitismus in den beiden Hauptstädten verglichen, er hätte gesehen, dass die polarisierende Rhetorik, die er bedauert, weitgehend eine Wiener Spezialität war. Innerhalb des Habsburgerreiches war Wien zweifellos die Hauptstadt des politischen Antisemitismus par excellence. 437 Cernuschi, Re / Casting, S. 193. 438 Victor Karady, »Les communautés juives  : des profils contrastés«, in Dieter Hornig und Endre Kiss (Hg.), Vienne-Budapest 1867  –  1918. Deux âges d’or, deux visions, un Empire (Paris  : Éditions autre­ment, 1996), S. 59  –  86.



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Und doch muss man bedenken, dass auch diese Medaille zwei Seiten hat. Zwischen 1905 und 1912 gelang es den öster­reichischen Beamten, das gleiche Wahlrecht für Tschechen in Mähren, für Polen in Galizien, für Slowenen in der Südsteiermark und für vier Ethnizitäten in der Bukowina auszuhandeln.439 In Ungarn blieben derartige Verhandlungen bis zuletzt undenkbar. Ungeachtet der Vielzahl marginozentrischer Regionen in Nord- und Ostungarn – Zipser Land, Banat, Batschka – hielt die Regierung in Budapest an Ungarisch als Grundvoraussetzung für Schulbildung fest. Die ungarische Staatspolitik lehnte die Art interethnischer Versöhnung ab, die die Öster­reicher zwar nicht in Böhmen, aber doch in Mähren, Galizien und Slowenien durchsetzten. Rückblickendes Rühmen der Weitsicht des öster­ reichischen Menschen als Brückenbauer zwischen den Ethnizitäten kann sich nicht nur auf gut gemeinte Absichten berufen, die letztendlich nichts erreichten, sondern auch auf echte institutionelle Leistungen, die – verspätet, gewiss – doch noch im Jahrzehnt vor 1914 zustande kamen. Das Ungarn der Zeit vor 1918 bietet im Gegensatz dazu keine Gelegenheit, irgendwelche offiziellen Initiativen lobend zu erwähnen, die darauf abzielten, andere Formen des marginozentrischen Bewusstseins als die sich auf Ungarisch artikulierenden zu institutionalisieren. Ungarns politische Bezugssysteme waren weniger akkommodierend als die öster­reichischen. Das läuft letztlich darauf hinaus, dass beide, Wien um 1900 und Budapest um 1905, eine negative Bewertung verdienen, wenngleich jeweils aus verschiedenen Gründen. Was immer die beiden Fin de Siècle-Metropolen sonst an Gemeinsamkeiten aufweisen, die Einwände, die sie auf sich ziehen, sind sehr verschieden. Auch dieses Forschungsgebiet wartet auf Pioniere.

12.3 Ernest Gellner zum Thema Bauerngemeinden und Modernisierung Eine noch bissigere Einschätzung der Endphase der Doppelmonarchie findet sich in Language and Solitude. Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma, einem postum erschienenen Buch des Soziologen und Philosophen Ernest Gellner (1925  –  1995).440 Der darin vertretene Ikonoklasmus wirkt wie die Widerspiegelung des ethnischen Konflikts, den Gellner aus nächster Nähe mitbekam, als er in den 1930er Jahren in Prag zur Schule ging. Gellner war einer der letzten großen, aus den 439 Gerald Stourzh, From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America (Chicago IL / London  : University of Chicago Press, 2007), S. 157  –   189 [zu Mähren im Jahr 1905 und der Bukowina 1909 / 1910]. 440 Ernest Gellner, Language and Solitude. Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma, David N. Gellner (Hg.) (Cambridge  : Cambridge University Press, 1998).

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Ländern der Doppelmonarchie Gebürtigen, die einen prägenden Einfluss auf das intellektuelle Leben Großbritanniens ausübten. Sohn einer aus Böhmen stammenden deutschsprachigen jüdischen Familie, brach er den Besuch des englischsprachigen Gymnasiums in Prag 1939 ab und emigrierte nach England, wo er in Oxford am Balliol College studierte. Language and Solitude ist eines von mehr als einem Dutzend Werken aus Gellners Feder. Er behandelt darin zwei sehr verschiedene Schicksalsgenossen, Ludwig Wittgenstein (1889  –  1951) und Bronislaw Malinowski (1884  –  1942), die beide aus der Doppelmonarchie stammten und in England Karriere machten. Dies gilt übrigens in ähnlicher Weise für den von Gellner einmal erwähnten bedeutenden Historiker Sir Lewis Namier (1888  –  1960), Sohn jüdischer Landbesitzer in Ostgalizien, und für den ab 1940 in London wohnhaften ungarischstämmigen Arthur Koestler (1905  –  1983), dessen Ruhm eine Zeitlang den der andern in den Schatten stellte. Gellners eigenwilliges Buch stellt einerseits eine Fortsetzung seiner lebenslangen Polemik gegen die Philosophie Ludwig Wittgensteins dar, andererseits lobt er darin Malinowskis flexiblere »polyphonische« Sicht der menschlichen Gesellschaft. Obwohl sich Gellner eine leichtfertige Handhabung polarer Gegensätze gestattet, die in unserer sehr viel vorsichtiger gewordenen Zeit nicht mehr angebracht erscheint, verlangt schon seine Bündigkeit in unserem Zusammenhang Aufmerksamkeit, zumal er auch Begriffe, die im gegenwärtigen Buch eine wichtige Rolle spielen, aufgreift, wenngleich in desillusionierten – um nicht zu sagen verzerrten – Versionen. Bei der Lektüre seiner Kritik hat man das Gefühl, man blicke auf ein vom Zerrspiegel unvereinbarer Polaritäten erzeugtes Bild der Doppelmonarchie. Alles Vertraute erscheint plötzlich in einem schiefen Licht, als sei einer von Cernuschis leidenschaftlich Einseitigen wieder zum Leben erwacht und werfe weltvergessen mit seinen Polaritäten um sich. Der Umstand, dass es Gellner nicht mehr möglich war, das Buch selbst zu vollenden, erklärt zum Teil seine Unausgewogenheit. Es ist scharfsichtig und oft geistreich, aber viele Formulierungen erscheinen überzogen, manchmal geradezu grobschlächtig, und die ewige Polemik gegen Wittgenstein nervt. Gellner schlägt eine Variante des West-Ost-Kulturgefälles vor, für die er als Angelpunkt den Begriff ›Modernisierung‹ verwendet. Mit Hilfe des Gegensatzpaares, das der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies mit seinem Grundlagenwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) berühmt gemacht hatte, setzt Gellner als Eckpunkte des von ›Modernisierung‹ bestimmten Gefälles an einem Ende das Stadium der bäuerlichen Gemeinde (Gemeinschaft) fest und am andern das des bürgerlichen Individualismus (Gesellschaft). Er behauptet, darin Moritz Csáky nicht unähnlich, die Doppelmonarchie habe innerhalb ihrer Grenzen viele Abstufungen der Modernisierung beherbergt, von Ansätzen derselben bis zu weit fortgeschrittenen Versionen, und



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vielfältige Interaktionen zwischen diesen verschiedenen Abstufungen hätten sich zugunsten mannigfacher Pluralität ausgewirkt. Während Malinowski, der in Krakau aufwuchs, klug genug gewesen sei, die Kohabitation zwischen den verschiedenen Ethnizitäten, die jeweils auf ganz verschiedenen Entwicklungsstufen funktionierten, als Faktum zu erkennen, sei Wittgenstein dies nicht gegönnt gewesen. Dies habe Wittgenstein veranlasst, fortwährend Klage zu führen darüber, dass es für die Sprache des Individualismus keinerlei Legitimierung in irgendeiner Form von Gemeinschaft gebe.441 Wittgenstein habe – so Gellner – sein eigenes Defizit an gewachsener Gemeinschaft zu einer Theorie der Sprache sublimiert, die einen Ausbruchsversuch aus großbürgerlicher Isolation in Richtung eines unauffindbaren Gemeinschaftsgefühls darstelle. Wittgenstein wird hier als unheilbarer Einzelgänger gesehen, der nie wirklich begriffen hat, wie Gesellschaft funktioniert. Für diese Karikatur bietet Gellner seine ganze Brillanz auf. Überzeugend ist sie nicht. Dabei muss man freilich Gellner zugute halten, dass er für sich keine Expertise auf dem Gebiet der Kultur der Doppelmonarchie in Anspruch nimmt. Er bezieht seine Information eher aus Erinnerungen an seine Prager Schulzeit denn aus der Forschung. Umso bemerkenswerter ist der Umstand, dass er mit einer ganzen Reihe von Formulierungen Themen streift, die uns in diesem Buch beschäftigen, und sie verwandelt oder zumindest verzerrt. In einem besonders dichten Kapitel zu »Crisis in Kakania« skizziert er in Umrissen die mitteleuropäische Bildungsethik. Die Betonung liegt allerdings auf einer Art der Indoktrinierung, die in den Nachfolgestaaten – etwa in Prag in den 1930er Jahren, das Gellner aus eigener Anschauung kannte – viel eher stattfand als im untergegangenen Reich. »Die neue Hochkultur [der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Gruppen, Anm. d. A.] sollte perpetuiert und weitergegeben werden von einem System formaler Bildung mit hochmotiviertem Vollzeitpersonal, das den Klerus des nationalen Kulturglaubens abgeben sollte. Der Schulmeister war der Nationenbauer, der Professor der Prophet.«442 Alle posthabsburgischen Nationen »zogen es vor, ihre neue Kultur, ob als ›wieder- oder erstgeborene‹ oder als angeblich ›historische‹, eingehüllt in ihre eigene, ununterbrochene Kontinuität, im Sinn der kleinbäuerlichen Kultur zu definieren, aus der sich alle rekrutierten, die in die neue, mobile Gesellschaft eintraten«.443 In einer solchen Gesellschaft befand sich jedes Mitglied an einem Punkt X auf der Gefällelinie zwi441 Zur Entwicklung in Krakau zwischen 1900 und 1918 siehe Jacek Purchla, »Krakau um die Jahrhundertwende und sein kreatives Milieu«, in Emil Brix und Allan Janik (Hg.), Kreatives Milieu Wien um 1900 (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik und München  : R. Oldenbourg Verlag, 1993), S. 54  –  84, und Nathaniel D. Wood, Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow (DeKalb IL  : Northern Illinois University Press, 2010). 442 Gellner, Language and Solitude, S. 32. 443 Ebenda.

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schen kleinbäuerlichen Wurzeln und entwurzeltem urbanen Individualismus. Ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt war das Phänomen, dass die »Paria-Liberalen« in Wien und Prag, indem sie über die Widersprüche dieses Kontinuums nachdachten und schrieben, »die großen Meisterwerke des Liberalismus des 20. Jahrhunderts hervorbrachten«.444 Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass Gellner, der 1995 starb, noch mit dem Ausdruck »marginozentrisch« bekannt wurde, der erst nach 2000 in Umlauf kam. Und doch wusste er bereits um die Bedeutung gesellschaftlicher Situationen, die durch das Zusammenleben verschiedener Ethnizitäten entstehen und sich heute im Fach Interethnische Studien großer Beliebtheit erfreuen. Aber in Gellners Augen ging es den Ethnizitäten in ihren verschiedenen Stadien der Modernisierung nicht um konstruktiven Austausch, sondern eher um gegenseitige zerstörerische Rivalitäten. Statt den Fokus auf die Regionen zu richten, wo Ethnizitäten friedlich miteinander auskamen, sah Gellner das ganze Reich als ein unregierbares Flickwerk miteinander im Clinch liegender Ethnizitäten. Der interethnische Konflikt war leider ein Nullsummenspiel. »Angesichts der Komplexität der ethnischen Landkarte und der Verteilung der Ethnizitäten auf der Karte und in der Gesellschaftsstruktur war es einfach unmöglich, alle zufriedenzustellen. … Das Reich hatte nur die Wahl, manche zufriedenzustellen, indem es andere gegen sich aufbrachte. Es war leicht, alle gegen sich aufzubringen und es war ein Glücksfall, wenn irgendeine Gruppe befriedet wurde«.445 Die Doppelmonarchie, so Gellner, umfasste so viele um Förderung miteinander wetteifernde Ethnizitäten, dass kein Regime hoffen konnte, auch nur eine knappe Mehrheit zufrieden zu stellen. Gellner hatte nichts übrig für Gindelys Illusion, der entsprechend es selbstlosen Beamten möglich war, das Überleben des Reiches zu sichern, indem sie sich selbst über die Zwistigkeiten stellten. Der radikale Pessimismus von Gellners Vision macht ihn blind für das Potenzial marginozentrischer Regionen, kulturelle Hybride hervorzubringen. In krassem Gegensatz zu Grassl und Smith hält Gellner es für unmöglich, dass vormals kleinbäuerliche Gemeinden einem Neuanfang zugunsten der Vermischung ihrer getreulich gehüteten Idiosynkrasien mit denen ihrer Nachbargemeinden zustimmten. Gellners Bild der Gesellschaft der Doppelmonarchie scheint bar aller Nuancen und nimmt sich fast wie eine Karikatur aus, hält man es gegen die Bilder, die Maier, Nemoianu oder Csáky zeichnen. Allzu oft begeht der Soziologe den Fehler – bei dem er (aber nicht Cernuschi) Wittgenstein zu ertappen vermeint –, nämlich überscharfe Polaritäten zu konstruieren, die keine Synthese zulassen. »Die große ideologische Konfrontation fand zwischen der geschlossenen, heimeligen Gemeinschaft 444 Ebenda, S. 34. 445 Ebenda  ; Hervorhebungen im Original



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und der offenen, eisigen, individualistischen Gesellschaft statt«.446 Abstoßend wie sie ist, dient diese Polarität jedoch nur dazu, eine noch tiefere Kluft innerhalb der Monarchie zu überdecken. »Die eigentlichen Kontrahenten waren ein hierarchisches, stabiles, absolutistisches, aber moralisch entkräftetes ancien régime und die neue nationale Ordnung, mobil im Inneren und anonym, aber mit akzentuierten und exakt definierten kulturellen Grenzen.« Das West-Ost-Kulturgefälle der Modernisierung kam also innerhalb einer jeden nationalen Ethnizität zum Tragen. Obwohl Gellner die sich herausbildenden nationalen Entitäten als »moderner« ansieht – und das heißt, als für die Entfaltung des Individualismus besser geeignet als das Reich, an dessen Stelle sie treten wollten –, fehlte der »neuen nationalistischen Ordnung« bedauer­licherweise jeder Sinn für Universalität. Unter dieser Perspektive scheint die Aufgabe des öster­reichischen Menschen in der Perpetuierung universaler Ideale zu liegen, die über der »geschlossenen Lokalkultur« der ihren eigenen Idiosynkrasien verhafteten Ethnizitäten schweben.447 Gellner hatte keinen Blick für das Potenzial fruchtbarer Interaktion zwischen benachbarten Ethnizitäten, das Bartók bezeugt und Grassl / Smith zu ihrer »Theorie Öster­reichs« ausgearbeitet haben. Er bietet stattdessen eine Gegentheorie, in deren Zentrum nicht fruchtbare Hybridisierung steht, sondern der unlösbare Konflikt zwischen zwei unvereinbaren Bestrebungen  : dem Streben nach urbanem »liberalem« Individualismus, das die »Paria-Liberalen« betreiben, einerseits, und andererseits der Suche nach gewachsenen Wurzeln in einer bäuerlichen Vergangenheit nationalistischer Ideologen. Wie fast jeder Kommentator, der sich zur Kultur der Doppelmonarchie zu Wort gemeldet hat, ist auch Gellner unter deren Abweichungen fündig geworden, aber anders als freundlicher gestimmte Autoren wie Vajda oder Weibel interpretiert er, was er gefunden hat, betont desillusioniert, ja geradezu zynisch. Wiederholt äußert er sich spöttisch über die Suche nach ethnischen Wurzeln. An einer Stelle listet er Beispiele nationaler Protagonisten auf, die eine Kehrtwendung in ihrer ethnischen Zugehörigkeit vollzogen hatten, und geißelt etwas, das genauso gut – oder besser  ? – als Zeichen der Reife gesehen werden kann. »Was dieses ganze Getue um die Authentizität der kulturellen Wurzeln anlangt, so gab es hier jedenfalls ein gotterbärmliches Wirrwarr. Der magyarische Nationaldichter [Petőfi] war in Wahrheit Slawe [ein Slowake], der kroatische Nationalheld [Joseph Graf Jelačić von Bužim] wäre zunächst gern Magyare gewesen, die Begründer [Miroslav Tyrš, eigentlich Friedrich Tiersch, und Jindřich (eigentlich Heinrich) Fügner] der wichtigsten sportlich-patriotischen Organisation [Sokol] – mens patriotica in corpore sana [sic] – waren Deutsche, der Begründer des Zionismus [Theodor Herzl] redete 446 Ebenda, S. 37  ; Hervorhebung im Original 447 Ebenda.

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zunächst der Assimilation das Wort.«448 Was als von der Doppelmonarchie geförderte Fähigkeit zu individuellem Wachstum gesehen werden kann, ist für Gellner Schusselköpfigkeit, ja Verrat. Im Gegensatz zu fast allen andern, die in diesem Buch vorkommen, verharrte Gellner in einem Zustand tiefer Entfremdung gegenüber der Gesellschaft des späten Habsburgerreiches. Mit derselben Löwenpranke zeichnet Gellner ein attraktives Bild der polnischen Intellektuellen in Krakau, wo Malinowski aufgewachsen war. In einer antisemitisch angehauchten Bemerkung behauptet er, diese Provinzstadt habe vom Umstand »profitiert«, dass die meisten galizischen Juden nach Wien zogen, um sich an »die führende Kultur und an eine Weltsprache« zu assimilieren, »statt an eine weitere untergeordnete Kultur mit eigenen Problemen«.449 Die polnischen Intellektuellen genossen außerdem beträchtliche Autonomie in Galizien. »Im Unterschied zur Wiener Spitzenintelligenz wurden sie nicht zu einem leidenschaftlichen ProZentrismus gedrängt durch die Angst vor virulent chauvinistischen Ethnizitäten [z. B. den Tschechen und den Großdeutschen]. … Sie empfanden auch Dankbarkeit gegenüber dem Zentrum für dessen tolerante, ja sie sogar ausdrücklich unterstützende Kulturpolitik – dies gilt jedenfalls für Malinowski.«450 In einer bemerkenswerten Variation über Bartóks Lehre verortet Gellner die Ursprünge der Bedeutung, die Malinowski der Feldforschung als Grundlage der Kulturanthropologie beimisst, in der Doppelmonarchie. Der Pole führte im Südpazifik denselben Typus von Forschung vor Ort durch, den andere schon vor ihm praktizierte hatten, nur eben im Reich. Malinowski »praktizierte Ethnografie, wie man dies in den Karpaten tat, an der Donau, auf dem Balkan oder im Kaukasus. Er hatte sich dafür die Trobriand-Inseln ausgesucht und rechtfertigte seine Entscheidung nicht mit Liebe zur Heimat, sondern mit Wissenschaft und radikalem Empirismus. … Dies versetzte ihn zugleich in die Lage, sein eigenes persönlichpolitisches Problem [der Wahl zwischen polnischer Romantik und deutsch-öster­ reichischem Positivismus] zu lösen. Die Schlüsseltechnik, die in der Neuzusammensetzung romantischer und positivistischer Elemente bestand, nannte er dann ›Funktionalismus‹. Man kann die Eleganz, mit der ein einziger Set von Ideen für so viele Zielsetzungen verwendet und mit so viel Kohärenz ausgestattet wird, nur bewundern«.451 Diese Feststellung gilt in gleicher Weise für andere Innovatoren, wie Riegl, Freud und – Wittgenstein. 448 Ebenda, S. 104. 449 Ebenda, S. 138. 450 Ebenda, S. 139. Vergleichbar ist Michael André Bernsteins Roman Conspirators (2004), in dem die verschwörerischen Aktivitäten jüdischer und polnischer Intellektueller geschildert werden, die von einem frustrierten öster­reichischen Menschen, dem Grafen Wiladowski, aufmerksam beobachtet werden. 451 Gellner, Language and Solitude, S. 140.



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Gellner selbst deklinierte ebenfalls einen einzigen Set von Ideen durch, den er bei den Soziologen der Modernisierungstheorie entlehnt hatte und für viele Zielsetzungen verwenden und mit Kohärenz ausstatten wollte. In seinem letzten Buch ist ihm der Beweis, dass dieser Ansatz einen brauchbaren Beitrag zur Geistesgeschichte leisten kann, nicht uneingeschränkt gelungen. Er ist zu willkürlich in seinem Urteil, in seinem Lob zu sehr mit Vorurteilen behaftet, mit Verurteilung zu rasch zur Hand. Überfrachtet mit veralteten Gegensatzpaaren und im Bann leichtfertiger Brückenschläge zwischen den Ideen, liest sich das Buch wie eine Karikatur der Ideologien der Zwischenkriegszeit, die Gellner selbst mit Verachtung straft. Dieser Rückfall in einen abgelebten intellektuellen Stil verkommt oft genug zu einem leeren Jonglieren mit Begriffen. Noch schlimmer ist freilich die Rache, die von der mitteleuropäischen Bildungsethik an einem Mann genommen wird, der sich durch einen bewundernswert agilen Intellekt auszeichnete  : Sie verführt ihn zum Anspruch, allwissend zu sein. Wenn das Buch eine Lektion für uns bereithält, dann die, dass auf einem dermaßen vertrackten Gebiet wie dem Studium der Doppelmonarchie die erste Tugend Bescheidenheit ist.

12.4 Miroslav Krleža als lebenslanger Schwarzmaler der Doppelmonarchie Ein anderer Weg, der sich zur Sammlung negativer Einschätzungen der Doppel­ monarchie anzubieten scheint, ist eine Überprüfung des in dieser Periode allgegenwärtigen Schlagworts der ›Dekadenz‹. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass ein uneingeschränktes Abstellen auf diesen schwer fassbaren Begriff in die Irre führen muss, wie Robert B. Pynsent in seiner umfassenden Analyse der sogenannten tschechischen Dekadenten gezeigt hat.452 Der Ausdruck ›Dekadenz‹ bleibt notgedrungen zu vielschichtig und zu belastet mit inneren Widersprüchen, um sich als analytische Kategorie auf dem Gebiet der habsburgischen Forschung zu eignen. Nur eine Handvoll Ideologen, die meisten von ihnen Tschechen, haben je behauptet, die 452 Robert B. Pynsent, »Conclusory Essay  : Decadence, Decay and Innovation«, in Pynsent (Hg.), Decadence and Innovation. Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century (London  : Weidenfeld and Nicolson, 1989), S.  111  –  248, und Pynsent, »The Decadent Self«, in Pynsent, Questions of Identity. Czech and Slovak Ideas of Nationality and Personality (Budapest / London / New York  : Central European University Press, 1994), S. 101  –  146. Brillant auch András Csillaghy, »Une approche socio-psychologique des thèmes de la littérature décadente  : La géante, le petit enfant et le vertige«, Neohelicon, 8  :1 (1980), S. 213  –  223, und Armin A. Wallas, »Gewalt und Zerstörung  : Zur Thematisierung von Violenz in der öster­reichischen Literatur der Jahrhundertwende«, Zeitschrift für deutsche Philologie, 108 (1989), S. 198  –  221.

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Doppelmonarchie habe akutere Symptome kultureller Dekadenz gezeigt als andere Milieus wie Paris oder St. Petersburg. Oft dient der Vorwurf der Dekadenz bloß dazu, über den Punkt zu diskutieren, den das Reich angeblich auf dem West-OstKulturgefälle einnahm. In diesem Fall funktioniert der Ausdruck Dekadenz als Synonym für ›Rückständigkeit‹. Der Begriff ›Dekadenz‹ eignet sich, wie man sieht, nicht zum Aufspüren negativer Einschätzungen. Abschließend wollen wir uns noch Miroslav Krleža (1893  –  1981) zuwenden, ­einem kroatischen Literaten, der zeit seines langen Lebens nicht müde wurde, in Erzäh­lungen, Gedichten, Dramen und Essays die Erfahrungen, die er in GroßUngarn gemacht hatte, in ein denkbar negatives Licht zu tauchen. Außerhalb Kroa­ tiens ist dieser unerbittliche Kritiker so gut wie unbekannt, wahrscheinlich deshalb, weil er die siebenundsechzig Jahre seiner literarischen Karriere ganz wesentlich dafür genutzt hat, alles schwarz zu malen, was Roth, Musil, Krúdy, Márai, Szerb und andere uns zu schätzen gelehrt haben. Obwohl der Zugang zu ihm durch den Mangel an Übersetzungen zusätzlich erschwert wird, muss gerade die Unerbittlichkeit seiner Ablehnung ihm Gehör verschaffen. Das Gefühl der Unterdrückung veranlasste ihn, seinen angeblichen Unterdrückern mit tiefem »Ressentiment«, wie Nietzsche das nannte, entgegenzutreten. Dass Krleža, von Forscherinnen und Forschern mit Ausnahme von Ralph Bogert in Nordamerika und Großbritannien weitgehend unbeachtet geblieben ist – ein Umstand, der umso unverständlicher ist, als Krleža so lange gelebt hat und als die herausragende literarische Figur Kroatiens im 20. Jahrhundert gilt –, stimmt nicht für Ungarn und für Hungaristen.453 Im Besonderen hat sich der 1934 geborene 453 Ralph Bogert, The Writer as Naysayer  : Miroslav Krleža and the Aesthetic of Interwar Central Europe, UCLA Slavic Studies, Bd. 20 (Columbus OH  : Slavica, 1990) [eine weit ausgreifende Monografie]  ; Bogert, »Miroslav Krleža (1893  –  1981)«, in George Stade (Hg.), European Writers, 11 Bde. (New York  : Scribner’s, 1983  –  1990), Bd. 11 (1990), S. 1807  –  1834) [mit Schwerpunkt auf den Dramen und reichhaltiger Bibliografie]  ; Marianna D. Birnbaum, »Krleža and Hungarian Modernism«, Hungarian Studies, 6  :2 (1990), S. 167  –  172  ; Peter V. Zima, »Die Revolte der Natur in der Prosa der Moderne«, in Katalin Kürtösi und József Pál (Hg.), Celebrating Comparativism. Papers Offered for György M. Vajda and István Fried (Szeged  : Gold Press, 1994), S. 289  –  299  ; István Fried, »Das Monarchie-Erlebnis Miroslav Krležas und Sándor Márais«, in R. G. Plaschka u. a. (Hg.), Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge aus öster­reichischer und ungarischer Sicht (Wien  : Verlag der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften, 1997), S. 89  –  96  ; Guido Snel, »The Return of Pannonia as an Imaginary Topos and Space of Homelessness«, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures of EastCentral Europe, Bd. 2 (2006), S. 333  –  340  ; István Fried, Gibt es ein literarisches (Ost-) Mitteleuropa  ? (Leipzig  : Leipziger Universitätsverlag, 2007), S. 17  –  20  ; István Fried, »Die slawischen Literaturen der Monarchie – Die Monarchie der slawischen Literaturen«, Neohelicon, 35  : 2 (2008), S. 255  –  263  ; Nikola Petkovic, A Central Europe of Our Own  : Postmodernism, Postcolonialism, Postcommunism and an Absence of Authenticity (Zagreb  : Adamic, 2003). Nicht verfügbar für mich war Reinhard



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Komparatist István Fried eingehend mit Krležas Ablehnung der Doppelmonarchie und all ihrer Werke beschäftigt. Sein sechsbändiger Roman Zastave [Flaggen] (1962  –  1967), der bisher nur ins Ungarische übersetzt wurde, ist nach wie vor neben Miklós Bánffys Siebenbürger Trilogie der ausführlichste Roman über die letzten Jahre der Doppelmonarchie, dieses »zufällig zerflossene[n] Amalgam[s]«.454 Krležas Suche nach der verlorenen Zeit, die in seinem Fall ein halbes Jahrhundert zurücklag, beschwört Vater-Sohn-Konflikte in Budapest, Wien, Zagreb und Belgrad im Jahrzehnt zwischen 1912 und 1922. Sollte wenigstens eine teilweise englische, deutsche oder französische Übersetzung von Zastave zustande kommen, dann würde eine westliche Leserschaft mit Gewinn eine mit den Werken von Roth, Musil, Werfel und Broch kontrastierende Folie kennen lernen. Der Zugang wäre durch Krležas Affinitäten mit dem Existentialismus Jean Paul Sartres, auf die Peter V. Zima hingewiesen hat, zusätzlich erleichtert. Krleža bietet mit »Pannonien« als Bezeichnung nicht des tatsächlichen Territoriums, in dem sein Roman spielt, sondern seines literarischen Doppelgängers eine Parallele zu Musils Kakanien. Im Gegensatz zu Musil, der zu einem Neologismus griff, zog Krleža es vor, der römischen Bezeichnung Pannonia neues Leben einzuhauchen. Oberpannonien oder Pannonia superior war im 2. und 3. nachchristlichen Jahrhundert eine römische Kolonie, die sich nach Süden bis über die Save hinaus erstreckte und das heutige Burgenland, das ungarische Transdanubien und das nördliche Kroatien umfasste. Viele Ungarn und Kroaten sind mit Recht auf ihr römisches Erbe stolz  ; nicht so Krleža in seinem Roman über Ostkroatien in den 1920ern, Die Rückkehr des Filip Latinovic (1932, dt. 1961). Eine an Nietzsche gemahnende Umwertung aller Werte verwandelt die römische Provinz in einen »dystopischen Ort«, wo Krleža sich an der auf Endre Ady zurückgehenden Metapher des Sumpfes weidet. »Das Pannonische Meer«, so Guido Snel, »hinterlässt die Sümpfe einer eintönigen Ebene zwischen den Flüssen Pannoniens. Das Wasser ist im Geräusch der Regentropfen präsent, die das Vorübergehen des Augenblicks markieren, in nicht-mechanischen Uhren wie den Lauer, Wer ist Miroslav K.  ? Leben und Werk des kroatischen Klassikers Miroslav Krleža (Klagenfurt  : Wieser Verlag, 2010). Den Hinweis verdanke ich Filip Šimetin. 454 Krleža, Zastave, 6 Bde. (1962  –  1967)  ; übersetzt ins Ungarische als Zászlók (1965). Das Zitat stammt von ebenda, Bd. 2, S. 121  –  122, zitiert in György M. Vajda, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994), S.  190. Siehe Bogert, »Miroslav Krleža (1893  –  1981)«, S. 1828  –  1830. Der zweite Mammutroman ist die Siebenbürger Trilogie von Miklós Bánffy (1873  –  1950), der übrigens, damals noch Graf Miklós Bánffy von Losoncz, als Direktor der Budapester Oper und des Nationaltheaters 1912  –  1918 Bartók den Weg in die Konzertsäle ebnete. Die ersten beiden Bände der Trilogie sind in Andreas Oplatkas exzellenter Übersetzung auf Deutsch erschienen  : Bd. 1 Die Schrift in Flammen ([1934]  ; Wien  : Zsolnay, 2012), Bd. 2 Verschwundene Schätze ([1937]  ; Wien  : Zsolnay, 2013).

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Wegweisende Themen

Klepsydren und Sanduhren und im Nebel und in den Birken. Die Jahreszeiten erscheinen als das Gegenteil ihrer herkömmlichen Schönheit  : Der Schnee im Winter ist schmutzig, das Sonnenlicht im Sommer lastet. … Die Zeit kriecht immer der Abend-, nie der Morgendämmerung entgegen. Pannonien ist ein agrarisch geprägter Raum voller Ruinen, die noch aus der Habsburgerzeit herrühren, Ruinen von Bollwerken gegen die Türken. … Als Grenzregion war Pannonien oft der Schauplatz von Schlachten, durch die Europas politische Grenzen neu gezogen wurden. Als solche war es immer Objekt der Geschichte, nie ihr Subjekt. Krležas Pannonien projiziert eine negative Geschichte, eine Geschichte der Ruinen, die manchmal an vergangene Kulturen gemahnen, meist aber bloß letzte Überreste der Zerstörung sind.«455 Krležas Pannonien ist grau, impotent, demoralisierend, das genaue Gegenteil des antiken Rom. Peter V. Zima hat gezeigt, wie Krleža dieses Gefühl kultureller Entfremdung in Die Rückkehr des Filip Latinovic intensiviert, indem er die Natur zur Widersacherin menschlichen Strebens macht. Die Überreste der Kultur erweisen sich ihrerseits unfähig, dem invasiven Vorrücken der Natur Widerstand zu leisten. Nicht nur fühlen die Überlebenden sich erdrückt vom Gewicht der Ruinen halbvergessener Eroberungen, sie können sich nicht einmal gegen die Überschwemmungen behaupten, die sie jetzt bedrohen.456 Dass Pannonien immer Kolonie irgendeines Fremdherrschers war, weckt Krležas Ressentiment. Was bleibt sind Ruinen von Denkmälern, die Fremde errichtet haben – Römer, Öster­reicher, Ungarn – und Festungen, deren Zweck es war, ihre Herrscher, nicht jedoch die lokale Bevölkerung gegen Invasoren zu schützen. Die oft beschworene Mission der Habsburger, Westeuropa gegen die Osmanen zu verteidigen, verwandelt sich in eine »negative Geschichte«, ein Bürde, die den nichtsahnenden Einheimischen von Fremden aufgeladen wird. Die 1932, im selben Jahr wie Roths Radetzkymarsch erschienene Erzählung Beisetzung in Theresienburg (dt. 1964) karikiert ein ungarisches Regiment des Jahres 1906, das obsessiv seine früheren Befehlshaber und deren vor Jahrhunderten errungene Siege feiert.457 Der 455 Guido Snel, »The Return of Pannonia as an Imaginary Topos and Space of Homelessness«, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures, Bd. 2 (2006), S. 333  –   343, 335. Im Mittelpunkt dieses Artikels stehen Miroslav Krležas großteils marxistisch beeinflusste Essays aus den 1930er und 1940er Jahren. Mirjana Stančić, »Karl Kraus und Miroslav Krleža  : Beispiel einer ungewöhnlichen Rezeption«, Kraus-Hefte, 44 (1987), S. 1  –  9, war mir leider nicht zugänglich. 456 Peter V. Zima, »Die Revolte der Natur in der Prosa der Moderne«, in Katalin Kürtösi und József Pál (Hg.), Celebrating Comparativism, S. 289  –  299, insbes. 294. 457 Miroslav Krleža, »Beisetzung in Theresienburg«. Aus dem Kroatischen von Barbara Sparing. ([1932], Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1964). Siehe auch Branko Lenski, »Introduction« in »A Funeral in Teresienburg«, in Krleža, The Cricket Beneath the Waterfall (New York  : Vanguard Press, 1964), S. 9  –  23.



Negative Einschätzungen

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Selbstmord eines Leutnants wirkt verstörend auf seine Mit-Offiziere, die sich nichts sehnlicher wünschen, als sich im Wachsfigurenkabinett einer erfundenen Vergangenheit, bevölkert von sich selbst parodierenden Exzentrikern, zu verstecken. Die Unklassifizierbaren werden zu Unaussprechbaren, und die Gindely-Illusion, die Menschen veranlasst, ihr Vertrauen auf Bürokraten zu setzen, wird zu einer Art Todeswunsch. Eine solche Verhöhnung der k. u. k. Armee wird Bewunderern von Joseph Roth sauer aufstoßen. Der Kroate lanciert einen Gegenmythos, der sich dem mitteleuropäischen Ethos der Selbstparodie verdankt, wie wir es vom tschechischen Satiriker Jaroslav Hašek (1883  –  1923) kennen  : Statt sehnsüchtiger Erinnerung an Franz Joseph finden wir hier die Darstellung einer hirnlosen Verherrlichung der Vergangenheit, eine dubiose Moral und völlige Teilnahmslosigkeit gegenüber einem Waffenkameraden. Krleža-Experten betonen einmütig seine Affinität zur politischen Ausrichtung von Endre Ady. Nicht nur identifizierte der Kroate sich in Folge des Ersten Weltkriegs mit der »jakobinischen« antihabsburgischen Haltung des ungarischen Dichters, er übernahm auch das Motiv von Adys negativen Metaphern für eine sogenannte Heimat, die für beide keine war und die sie verachteten. Der Kult der geschönten Paralleluniversen hatte für sie nichts Tröstendes. Weit entfernt, eine Region des schönen Scheins zu sein, zeigt sich die Osthälfte des Habsburgerreiches vielmehr als Morast, als Sumpf, als brachliegendes Land. Kulturen kommen und vergehen. Ewig ist nur Pannoniens Schlamm. Hinter diesen Metaphern verbirgt sich, wie István Fried vermutet, ein tiefer Vater-­Sohn-Konflikt. Krležas Vater, ein Staatsbeamter, hatte seinen Sohn in die k. u. Honvéd Kadettenschule in Pécs geschickt und dann an die Ludovika-Akademie in Budapest, eine Kadettenschule, wo Krleža in den zwei Jahren, die er dort verbrachte, nicht nur eine leidenschaftliche Liebe zur Literatur, sondern einen ebenso leidenschaftlichen Hass gegen die Bürokratie entwickelte, für die sein Vater stellvertretend stand. Dem Gedanken des öster­reichischen Menschen, der sich darauf verstand, das Beste aus verschiedenen Kulturen zu neuen Kombinationen zusammenzusetzen, stellt Krleža seine eigene, diametral entgegengesetzte Version gegenüber. Hybridisierungen erzeugten bei ihm Ekel. Er demonstriert das anhand von Agramerstvo, einer hybriden Wortbildung, die sich des kroatisch-deutschen Pidgin, das man in Zagreb sprach, bedient. Krleža versah das deutsche Wort »Agramer«, das einen Bewohner Zagrebs, deutsch Agram, bezeichnet, mit dem slawischen Suffix »-stvo« und benutzte das Wort, in seinen Augen vielmehr ein widerwärtiger Bastard denn ein originelles Hybrid, als Bezeichnung für das »Wesen Zagrebs«, für »Agramertum«. Zagrebs Wesen war für Krleža, wie István Fried erläutert, eine »hedonistische, leere Weltanschauung«, die sich viel einbildete auf ihr Nachäffen »intersprachlich-interkulturelle[r] Zusammenhänge«. Die Vertreter dieser Zwi-

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Wegweisende Themen

schensprachigkeit bedienten sich eines bastardisierten Mischmaschs aus Kroatisch, Deutsch und Französisch und arbeiteten an der Erfindung einer dem Anspruch nach »translinguale[n] Sprache«, einer Travestie von Nyugats frankozentrischer Modernität.458 Diese veröster­reicherten Kroaten hatten sich in eine Sackgasse pseudokultureller Selbstinszenierung verirrt. Für die k. u. k. Armee, in der er im Ersten Weltkrieg mit einer kurzen Stationierung an der galizischen Front gedient hatte, empfand Krleža besondere Verachtung. In den Erzählungen, die in der ungarischen Armee spielen, nimmt er Anstoß an der bastardisierten Sprache des Offizierskorps. Er antizipiert in gewisser Weise László Mátráis Feststellung, dass »die k. u. k. Armee die Institution gewesen war, die der Monarchie die meisten Feinde verschafft hatte«.459 Auf gedankenlose Weise parodiert das Agramerstvo einer entwurzelten Bourgeoisie die transnationalen, interkulturellen Ideale des öster­reichischen Menschen, indem sie durch den Manierismus »öster­reichisch-ungarisch-italienisch-französischer« Klischees diese Ideale ihres Wertes beraubt. Die Poseure, die sich mit dem Pidgin des »Agramertums« identifizierten, brachten sich selbst um jedes Zugehörigkeitsgefühl zu einer Heimat. Als wollte sie all dieser Negativität möglichst direkt in die Augen schauen, hat Marianna D. Birnbaum einige Höhepunkte der ersten zwei Bände von Zastave (1962) resümiert, wo ein antihabsburgisches Eintauchen in das Lokalkolorit des »karpatische[n] Krater[s]« starke Effekte zeitigt. Das kroatische Café in Budapest zum Beispiel fungiert für Studenten verschiedenster Nationalitäten »als Zuhause weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause, jeder eine Kassandra in seinen Vorhersagen zum Schicksal seines Landes. … Und doch hört man überall im Hintergrund die befremdende, herablassende Stimme des Gastgeberlandes [Ungarn]«.460 An anderer Stelle geißelt der Autor das Um-sich-Werfen mit großen Namen als eine mitteleuropäische Unart  : »Eine typische Konversation zwischen jungen Intellektuellen wird wiedergegeben. Namen und Bezeichnungen von Bewegungen fallen dutzendweise  : Münchner Impressionismus, Wiener Secession, die französische Plein-airBewegung und ihr ungarischer Gefolgsmann Szinnyei [sic] sowie Klimt, Klee und 458 István Fried, »Die slawischen Literaturen der Monarchie – Die Monarchie der slawischen Litera­ turen«, Neohelicon, 35  : 2 (2008), S. 257. Siehe auch Fried, Gibt es ein literarisches (Ost-) Mitteleuropa  ?, S. 17  –  20. 459 László Mátrai, »The Cultural Legacy of the Austro-Hungarian Monarchy«, New Hungarian Quar­ terly, 14  :49 (1973), S.  255  –  263, 136. Zur Dokumentation siehe Norman Stone, »Army and Society in the Habsburg Monarchy, 1900  –  1914«, Past and Present, 33  :1 (1966), S. 95  –  111, insbes. 100  –  103. Zu Krležas Kriegstagebüchern siehe Marijan Bobinac, »Miroslav Krleža und der Erste Weltkrieg«, in Klaus Amann und Hubert Lengauer (Hg.), Öster­reich und der Große Krieg, 1914  –  1918. Die andere Seite der Geschichte (Vienna  : Christian Brandstätter, 1989), S. 242  –  247. 460 Marianna D. Birnbaum, »Krleža and Hungarian Modernism«, Hungarian Studies, 6  : 2 (1990), S. 167  –  172, 168.



Negative Einschätzungen

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Picasso werden diskutiert. Die Mitteleuropäer, ständig im Abseits, wollen ja beweisen, dass sie à jour sind«.461 Wie Krúdy und Altenberg verstand sich Krleža auf die Kunst, einen Kaffehausober als Figur zu gestalten, an der sich der fäulnisschillernde Geist der Zeit ablesen lasse. Als »Vermittler zwischen Klassen und Kulturen« bleibt der Ober eine »paradigmatische Figur der Monarchie  : oft mehrsprachig, zugleich unterwürfig und aggressiv, ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Werte seiner Umgebung und ein verlässlicher Konservator vergangener Jahrzehnte«.462 Krležas Ober verkörpert die Trägheit, die Ady und er am provinziellen Ungarn verabscheuten, das sie hassten ohne von ihm lassen zu können. Krležas Negativität scheint auch auf Marianna D. Birnbaum, die ihn uns näher bringt, abgefärbt zu haben. In einem 1989 veröffentlichten Artikel über Budapest spricht sie davon, wie die »zerfallende öster­reichisch-ungarische Monarchie« eine »dekadente, erstickende Atmosphäre« geschaffen habe, »in der eine riesige bürokratische Maschine bemüht ist, den Gegensatz zwischen den größenwahnsinnigen Träumen des Reichs und der düsteren Realität, die auf das unvermeidliche Ende vorausdeutet, zu übertünchen. Diese vorgetäuschte Pracht drückt sich aus im Eklektizismus der Architektur der öster­reichischen Hauptstadt mit ihrer Talmi-Romanik, Talmi-Gotik und ihrem Talmi-Barock«.463 Die meisten Forscherinnen und Forscher, die in diesem Buch zu Wort gekommen sind, haben in ihrer Arbeit gegen die Feindseligkeit, mit der hier die Entscheidung für geschönte Paralleluniversen und für den »Theaterstaat« gegeißelt wird, Front gemacht. Ohne die Patronanz von Miroslav Krleža wäre wohl die Unverblümtheit nicht denkbar, mit der Marianna D. Birnbaum hier diese früher häufig vertretene, heute jedoch längst überholte Ansicht ausspricht. Krleža blieb wohl oder übel der Kulisse der Doppelmonarchie-Kultur verhaftet. Wie Molnár und Krúdy mit ihren positiven Einschätzungen für das Weiterleben dieser Kultur nach 1918 sorgten, so auch Krleža mit seiner negativen Sicht. Sein Roman Zastave bezeugt noch Mitte der 1960er das von Vajda so genannte »Kryptodasein« der Kultur der Monarchie, dessen herausragende Merkmale freilich für den Kroaten »erstarrtes Verhalten, in den Weltkrieg zurückweichender [sic] Soldatengeist, Operette, oberflächlicher Glanz« sind.464 Die Überlebenden der Monarchie 461 Ebenda. Gemeint ist Pál Szinyei Merse, Anm. d. Ü. 462 Ebenda. 463 Marianna D. Birnbaum, »Budapest in the Literature of the Fin-de-siècle«, in György Ránki (Hg.), Hungary and European Civilization (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1989), S. 331  –  341, insbes. 339. Ralph Bogerts Kapitel »Background  : Krleža and Austro-Hungarian Culture« in The Writer as Naysayer, S. 20  –  81, zeichnet sich durch einen ähnlich skeptischen Ton aus, besonders in dem Vergleich zwischen dem kroatischen Schriftsteller und Musil, S. 71  –  75. 464 Fried, »Das Monarchie-Erlebnis«, S. 92.

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Wegweisende Themen

verharrten in einem von Glitzer und Dreck besudelten Denken. Ein »Erlösung verheißendes Meisterwerk« ist Zastave nicht, denn in Pannoniens Sümpfen kennt man Erlösung nicht. In Krležas böser Vision erbt hier jeder ein destruktives familiäres Unbewusstes und kein Szondi ist zur Hand, der durch konstruktive Kanalisierung einen Weg aus diesem Morast weist. Dies führt zu einer merkwürdigen Umkehr. In den Augen des kroatischen Querdenkers erreichte die Doppelmonarchie-Kultur das Gegenteil dessen, was andere für sie in Anspruch nehmen. In Zagreb führte der Austausch sprachlicher Elemente zwischen drei oder vier Sprachen statt zu einem nuancenreichen Idiom zu einer primitivisierten Lingua franca. Hybridisierung bedeutet hier Bastardisierung. Wenn wichtige Figuren in Krležas Erzählungen, besonders Vater und Sohn in Zastave, den öster­reichischen Menschen geradezu zu parodieren scheinen, ist man versucht, statt vom öster­reichischen Menschen von Krležas pannonischem Menschen zu sprechen, der gar nicht anders kann, als eine Satire auf die deutsch-öster­reichischen Ideale gesamteuropäischer Empathie und kulturübergreifender Vermittlung zu liefern. Krležas pannonischer Mensch ist ein provinzieller Kleinbürger, der die Zielsetzungen anderer als hochgestochen abwertet und dem Kitsch mehr bedeutet als Kunst. In unwiderstehlicher Paradoxie proklamiert Krleža seine Verbundenheit mit der Doppelmonarchie, indem er sie anschwärzt – eine Geste Nietzscheschen Ressentiments. Krleža hatte sich mit dem Nietzsche-Anhänger Ady verbündet und hätte wohl die Werturteile der meisten im vorliegenden Werk besprochenen Forscher in den Wind geschlagen. Für den Querdenker, der mit den Thesen dieser Leute nichts anfangen konnte, war die Doppelmonarchie jedenfalls nicht wie für Maier eine Arena der innovativen Genies, sie war bestenfalls eine Bühne für abgeschmackte Poseure. Architektur, für Moravánszky der Ausdruck der Seele einer Nation, wird zum Geschwätz des Ornaments, zum architektonischen Gegenstück des Pidgin. Nemoianus mitteleuropäische Bildungsethik vermittelt nicht nützliche, lebensfördernde Fertigkeiten, sondern eine saft- und kraftlose Mehrsprachigkeit, die nur zum Nachteil authentischer Sprachgemeinschaften ist. Bartóks Austausch kultureller Motive führt nicht zu einer erfinderischen Neukonzeption der grundlegenden Elemente, sondern zu einer schalen Selbstinszenierung. Kulturelle Pluralität, der Csáky ein so großes befreiendes Potenzial zuschreibt, hat nicht fruchtbare Gedankenexperimente zur Folge, sondern eine dem eigenen Vorteil dienende, kurzschlüssige Banalität. Vajdas »Reich des schönen Scheins« wird zum Reich des korrumpierenden Kitschs und die Operette zum Inbegriff des Mangels an Authentizität. Für Krleža gab es ein gutartiges Paralleluniversum weder auf der Bühne noch sonst wo, am allerwenigsten im »Theaterstaat«. Wo Weibel meinte, das Auftauchen einer Dritten Kultur, die Wissenschaft und Kunst zu einer Einheit verschmilzt, begrüßen



Negative Einschätzungen

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zu können, fand der Kroate zu seinem Ekel nichts als eine entwurzelte Kultur, die Unvereinbares in eine ungenießbare Pseudosprache zu pressen versuchte. Statt den hochgesteckten Zielen von J. P. Sterns »Übererfüllern« nachzueifern, begnügen sich Krležas Opportunisten mit Parodien der Glanzleistungen vergangener Kulturen. Während Kosztolányi und Szerb so kultiviert waren, dass sie es sich erlauben konnten, ein Übermaß an Ernst zu parodieren, sah Krleža nichts als Unernst in seiner Umgebung. Mochten deutsch-öster­reichische Literaten im Abstreifen der Zugehörigkeit zu einer Nation, im sacrificium nationis eine Vorbedingung für wahrhaft zivilisiertes Benehmen erblicken  : Was Krleža am vehementesten kritisierte, war das Abstreifen der Sprache, das sacrificium linguae, das direkt in die Unkultur führt. Für diesen Provokateur war die Kultur der Doppelmonarchie der Inbegriff des Talmihaften, des Verfälschten und künstlich Aufgeblähten, und das Theatermäßige der Politik war nichts anderes als ein Kult der Lüge. Krleža hielt an seiner negativen Einschätzung der Doppelmonarchie eine ganze, fast siebzig Jahre währende Schriftstellerkarriere lang fest. Sein langes Leben ließ ihn nach seiner Jugend in der Doppelmonarchie noch in unsere Zeit hereinragen und schon in dieser Hinsicht ist er, in einer Symbolik, die uns schmerzlich berühren mag, vergleichbar mit einem andern Querdenker, mit Oskar Kokoschka (1886  –  1980). Wenn, wie Vajda behauptet, wesentliche Aspekte der Doppelmonarchie deren Untergang lange überdauert haben, dann haben manche sich am hartnäckigsten nicht in Bewunderern wie Krúdy oder Molnár ans Leben geklammert, sondern in Gestalt der zwei wichtigsten Gegner. Es ist ein Glück, dass nachgeborene Gelehrte wie Birnbaum, Snel und Fried für sich Energie ziehen können aus dem Studium dieser via negativa, die uns diese unbeugsamen Protestierer hinterlassen haben. Ihre Einseitigkeit verlangt ebenso gebieterisch wie die Ernest Gellners danach, durch eine ausgewogenere Einschätzung der Stärken und Schwächen der Monarchie ins Lot gebracht zu werden. Seit dem Ende der 1990er haben vor allem englischsprachige Kunsthistoriker begonnen, die Regionen, Ethnizitäten und künstlerischen Genres in der Doppelmonarchie neu zu gewichten, und Moritz Csáky, Peter Weibel, György M. Vajda und Claude Cernuschi haben sich in den Dienst einer methodologischen Ausgewogenheit gestellt. Die Fähigkeiten, die es braucht, um ausgewogene Urteile zu bilden, kann uns Miroslav Krleža nicht lehren. Was er aber uns sehr wohl lehrt ist, wie dringend diese gerade jetzt gebraucht werden. Nirgends gilt das so sehr wie auf dem heiß umkämpften Gebiet der Geschichte der Doppelmonarchie.

Kapitel 13

Die Leitha zu einem Fluss der Erinnerung machen

Die Leitha von einem Fluss des Vergessens, der sie in der Vergangenheit war, zu einem Fluss der Erinnerung zu machen  : Welche Unterstützung ist für eine solche Neuausrichtung der Forschung in Sicht  ? Wo Vajda 1994 vom »Kryptodasein« einer Kultur nach 1918 sprach, entspricht es dem Zustand von 2015 eher – und hier wird tatsächlich Hilfe sichtbar – von der noch andauernden Existenz eines kulturellen Ökosystems zu sprechen. In Mittel- und Osteuropa gab es kulturelle Muster, welche die politischen Strukturen, die sie einst trugen, über 1918 hinaus überlebten. Das Überleben von »Post-Habsburgia« wird offenbar in der »Silbernen Ära« der Operette bis 1938, dem silbernen Zeitalter der Zeitschrift Nyugat bis 1941, dem goldenen – oder silbernen, je nachdem, wie man es sieht – Zeitalter der Psychoanalyse in den 1920ern, dem goldenen Zeitalter von Weibels Künstler-Wissenschaftlern in der Emigration und des logischen Empirismus in Wien. Zwischen den Kriegen kam neue Kunde von der Dämmerung dieses kulturellen Ökosystems durch die von Roth, Musil, Werfel, Zweig und Márai gestaltete Sehnsucht nach dem Kaiserreich, ebenso aber auch durch das Ressentiment gegen dasselbe bei Hašek und Krleža und durch die Essays der Ideologen des öster­reichischen Menschen. Bestimmte von Schriftstellern und Essayisten in den 1920er und 30er Jahren mythisierte Eigenarten Öster­reichs und Ungarns können jetzt als Nebenprodukte einer kulturellen Symbiose verstanden werden, deren Nachwirkungen bis 1938 fortdauerten. Wenn wir annehmen, die mitteleuropäische Bildungsethik habe tatsächlich das kulturelle Ökosystem der Doppelmonarchie unterfüttert, dann ist dieses Ökosystem auf Nordamerika und in die britische Universitätslandschaft übergeschwappt in Gestalt emigrierter charismatischer Wissenschaftler und Gelehrter, die noch bis in die 1980er Jahre aktiv waren. Die Konzeption der Kultur der Doppelmonarchie als ein kulturelles Ökosystem bietet uns ein Etikett für das, was vom habsburgischen Europa so unerwartet lang überlebt hat. Mit einem Wort  : Das von Vajda fast etwas schüchtern so bezeichnete »Kryptodasein« hat zwar nicht allen, aber doch einigen kulturellen Mustern, die in diesem Buch analysiert worden sind, ein Weiterleben ermöglicht. Tony Judts »Post-Habsburgia« eignet sich als Bezeichnung für die Grundmerkmale der Kultur der Doppelmonarchie, die ihre potenziellen Bewahrer nach 1918 weiter am Leben zu halten trachteten. Inspiration für das vorliegende Buch kam vom Titel eines Sammelbandes aus dem Jahr 2004, »Leitha und Lethe«, der für die Zunft der Historiker eine Heraus-



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forderung darstellt. Ist es nicht an der Zeit, die Langlebigkeit dieses kulturellen Ökosystems anzuerkennen  ? Diese Herausforderung sollte uns darüber hinaus ermutigen, die Leitha, die das habsburgische Öster­reich vom habsburgischen Ungarn trennte, von einer Lethe des Vergessens zu einem Erinnerungen weckenden Strom der Mnemosyne zu machen. Wenn die Leitha nicht mehr ihre diesseits und jenseits siedelnden Anwohner dazu bringen soll, gleichsam automatisch die jeweils andern zu vergessen, dann ist die Zunft der Historiker aufgefordert, den Prozess der Aufarbeitung der hier nachgezeichneten kulturellen Erinnerung zu beschleunigen. Nach dem Kryptodasein, das sie über einen Großteil des 20. Jahrhunderts gefristet haben, müssen sie sich jetzt wieder manifestieren. Die Historiker können sich nicht mehr damit begnügen, auf demselben Ufer der Leitha stehen zu bleiben, ohne über den Fluss zu blicken. Heute verlangt das Studium der Doppelmonarchie nicht nur eine zweifache, sondern eine dreifache Perspektive, die, wie es in diesem Buch versucht wird, den öster­reichischen, den ungarischen und den Monarchie-bezogenen Standpunkt berücksichtigt. Der öster­reichische Standpunkt ist mit Begeisterung seit den 1970ern von Forschern in der ganzen Welt eingenommen worden, der ungarische war in Ungarn und in geringerem Ausmaß in Nordamerika seit den 1960ern populär und dasselbe gilt, besonders in Ungarn, für den Standpunkt der Doppelmonarchie. Die Aufgabe der nächsten Generation wird die Synchronisation dieser drei Standpunkte zu einer alles überspannenden Vision sein, in der sichtbar wird, wie sich die Kultur auf beiden Seiten der Leitha entfaltete. Statt eines neuen Paradigmas braucht es die Koordination der bereits bestehenden – wobei gerade in einem Buch, in dem die sich stets ausweitenden Bezugssysteme wiederholt anerkennende Erwähnung gefunden haben, die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden soll, dass eine solche Koordination ihrerseits ein neues Paradigma darstellt. Ein Reich, das so viele Virtuosen der Erinnerung hervorgebracht hat – Hofmannsthal und Babits, Rilke und Kosztolányi, Freud und Krúdy, um nur einige zu nennen – sollte es auch uns leicht machen, völlig unterschiedliche Bereiche der Erfahrung miteinander zu verbinden. Wir haben – und hier sei ein letzter großer Rückblick gestattet – gesehen, wie Denker, Literaten und Künstler in der Zeit der Doppelmonarchie und ihres Nachlebens Kreativität entfalteten. Ausgehend von Grassl / Smiths Vertiefung von Bartóks Einsichten in den regen Austausch volksmusikalischer Motive und deren Ausbau zu Bezugssystemen haben wir versucht, den Umgang dieser schöpferischen Geister mit der Pluralität von Ethnizitäten, Traditionen, Lebensweisen, Gen-Pools und Bezugssystemen der Monarchie zu würdigen. Die These, die wir mithilfe der Terminologien von Charles S. Maier, Virgil Nemoianu, Wolfgang Grassl / Barry Smith, Moritz Csáky, Marcel Cornis-Pope, György Mihály Vajda, Peter Weibel, J. P. Stern und anderen formuliert haben, besagt, dass das späte Habsburgerreich eine

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Wegweisende Themen

riesige intellektuelle Arena darstellt, einen Tummelplatz, auf dem die verschiedensten Persönlichkeiten miteinander ihre Sträuße ausfochten und dabei vom Erbe und den Leistungen des jeweils andern lernten. Diese kreativen Begegnungen führten zu völlig unvorhersehbaren Ergebnissen. Kulturhistoriker haben seit den 1970ern Bartóks Erkenntnisse ständig verfeinert, und Maier, Nemoianu, Grassl / Smith, Csáky und Vajda haben zahlreiche neue Ausdrücke geprägt, um den kreativen Austausch zwischen bodenständigen (endogenen) und importierten (exogenen) Pluralitäten zu beschreiben, für die das Reich seit Jahrhunderten ein Nährboden gewesen war. Multiple kulturelle Identitäten brachten täglich neue Kombinationen hervor, Kombinationen ethnischer Merkmale, traditioneller Praktiken und institutionalisierter Bezugssysteme. Nemoianus »mitteleuropäische Bildungsethik« ist das Musterbeispiel eines solchen institutionalisierten konzeptuellen Systems, das, von Millionen internalisiert, Sitten und Werte über Generationen hinweg weitervermittelte. Immer wieder sich wiederholendes Kreuzen von ›Gestalten‹, wie Bartók es bei den Volksmelodien beobachtet hatte, lässt sich auch hinsichtlich gelehrter Hypothesen, intellektueller Disziplinen und künstlerischer Impulse beobachten. Das kulturelle Ökosystem der Doppelmonarchie war ein riesiges Labor für bewusst und unbewusst herbeigeführte Experimente mit kulturellen Produkten, durch die mehrfach der Beweis für deren – von Michael P. Steinberg so bezeichneten – »nicht-essenzialisierbaren« Charakter erbracht wurde. Das Reich war, wie Maier sagt, ein Asyl für Innovatoren, und ihre Neuerungen geben auch den Maßstab vor, an dem unser eigener Reichtum an Ideen gemessen wird. Manche Innovatoren der Doppelmonarchie – Kubin, Ady, Krúdy – tendierten in Richtung Fantasie oder machten diese zum Gegenstand ihrer Theorien, wie Ferenczi und Fónagy  ; andere – Mach, Freud, Musil – zogen die empirische Beobachtung vor oder, wie die Empiristen des Wiener Kreises Neurath und Schlick, deren Systematisierung. Was diese schöpferischen Geister der Doppelmonarchie aber alle auszeichnete, war der Elan, mit dem sie Faktum und Theorie miteinander verknüpften. Sie waren intellektuelle Brückenbauer von unvergessener Kühnheit, Ausdauer und breitgefächerter Relevanz. Inwiefern können wir in unserer heutigen Situation, in der Lösungskompetenz und Kreativität zweifellos für unser Überleben noch dringender gebraucht werden als vor hundert Jahren, von diesen originellen, kreativen Figuren lernen  ? Wer sich mit den kulturellen Produkten der Doppelmonarchie eingehend beschäftigt, wird in denselben Strudel hineingezogen, der die schöpferischen Geister damals zugleich bewegte und lähmte  : Mit welchen Vermutungen – sie mögen auf den ersten Blick noch so ausgefallen wirken – können wir uns den harten Fakten der Existenz nähern, welche von uns erdachte Theorie kann den Daten standhalten  ? Diese Fragen



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waren der Weckruf für Weibels Künstler-Wissenschaftler, für Cernuschis Dialektiker polarer Gegensätze, für Vajdas autodidaktische Phänomenologen. Sie waren die Herausforderung, die der junge Leó Popper entdeckte in den von den französischen Künstlern seiner Zeit unternommenen Versuchen, dem widerspenstigen Ton, Stein oder der Leinwand ihre Vision aufzuprägen. Popper kam zum Schluss, dass die Form, die Rodin, Maillol oder Cézanne ihrem Material abrangen und in der wir eine unüberbietbare Vollkommenheit sehen mögen, das Ergebnis eines Kompromisses ist, der letztlich fast einem Zufall geschuldet ist. Die endgültige Form stellt nicht das dar, was dem Künstler vorschwebte  ; vielmehr ist sie das, was übrigbleibt, nachdem der Künstler sich im Ringen um die Ausprägung der Form erschöpft hat. So sind sogenannte Meisterwerke das Ergebnis eines Ringens, in dem der Künstler ebenso Verlierer wie Sieger ist  : Sieger insofern, als ein Werk zustande kommt, Verlierer, da ja die Materialität, in der er seine Vision realisieren muss, diese aus ihren eigentlichen Bahnen wirft und in neue zwingt, von denen nicht alle produktiv sind. Während der junge Leó Popper mit seiner Tuberkulose kämpfte, fühlte er wohl, dass seine Einsicht auf ihn selbst in einem existenziellen Sinn zutraf, indem sein Körper seiner genialen Schaffenskraft einen Riegel vorschob. Die Resignation, die das vom Tod gezeichnete junge Genie als unvermeidlichen Teil der Kreativität erkannte, ist nicht nur für Innovationen, wie sie in Wien um 1900 und in Poppers Budapest um 1905 stattfanden, von Bedeutung, sondern auch für unsere heutigen Versuche, diese Epochen explosiver Kreativität auf den Begriff zu bringen. Im Kontext der gerade in unserem Zusammenhang höchst bedeutsamen »mitteleuropäischen Bildungsethik« spricht Virgil Nemoianu von der notwendigen »Akzeptanz der Unvollkommenheit«. Diese resignative Selbstberuhigung war ein Grundmerkmal sowohl der Biedermeier-Kultur wie des Erziehungssystems, das diese an die Doppelmonarchie weitergab. Eine positive Bewertung unseres grundsätzlichen Mangels an Gewissheit untermauerte die soziokulturelle Mäßigung, die das Wesen dieser Kultur ausmacht – ein idealer Nährboden für neue Möglichkeiten produktiv mit Ungewissheit zu leben. Bei Grassl und Smith führt ein vergleichbarer Befund zu einer anders gewichteten Konstellation. Der Umstand, dass die Ergebnisse des Aufeinanderprallens von Motiven, Ideen und Disziplinen grundsätzlich unvorhersehbar sind, veranlasst die beiden, gerade diese Unvorhersehbarkeit in den Rang einer treibenden Kraft zu erheben, die die intellektuellen Innovationen der Doppelmonarchie ermöglichte. In dieser Sicht entfalteten sich unzählige Akte der Innovation unter dem Schirm institutionalisierter Bezugssysteme, in denen schöpferische Geister bei der Suche nach funktionsfähigen Lösungen Orientierung finden konnten. Weit davon entfernt in einem Vakuum zu operieren, arbeiteten ja alle in den überlappenden Netzwerken gemeinsamer Grundannahmen. Wo so viele Optionen nebeneinander existieren,

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muss die Überfülle der Bezugssysteme zu neuen Kombinationen inspirieren. Dafür sorgten schon die Unvollkommenheit und Ungewissheit, die sich aus dem Zusammenleben verschiedener Kulturen auf engstem Raum ergaben. Dies galt besonders in marginozentrischen Regionen, wo der »Theaterstaat« der Zentralverwaltung keine alles überwölbende Ideologie implantiert hatte. Hier kam es durch die Vermischung ererbter Muster zu den unvorhersehbaren Ergebnissen, von denen dieses Buch berichtet, wie der Musik Bela Bartóks, der Lyrik Endre Adys, der Prosa Gyula Krúdys, aber auch Leopold Szondis Schicksalsanalyse und Mihály Babits’ ganz Europa erfassender Adlerblick. Jeder Versuch, derartige Leistungen zu deuten, muss die ungeheuer komplexen Bedingungen berücksichtigen, unter denen sie erbracht wurden. Die gesamte intellektuelle Produktion der Doppelmonarchie steht so gesehen unter dem Vorzeichen von Poppers Gedanken, dass jede gestaltgebende Vision sich zunächst am Widerstand der Materie abmühen und untergehen muss, ehe sie, in etwas Neues und Merkwürdiges verwandelt, in die Welt tritt. In den Worten von Michael P. Steinberg widersetzen sich solche intellektuelle Leistungen erfolgreich allen Versuchen, sie zu »essenzialisieren«, das heißt, sie wieder auf einen materiellen Status zurückzuführen.465 Sie bleiben formbar. In Claude Cernuschis Einsicht in die Sucht der Wiener Polemiker, jeweils nur einen Pol eines Gegensatzpaares auf den Schild zu heben und die Existenz des andern strikt abzuleugnen, begegnen wir einer andern, sozusagen negativen Variante von Leó Poppers Grundgedanken. Adolf Loos, so der amerikanische Kunsthistoriker, versuchte der zeitgenössischen Architektur seine Obsession mit reiner Funktionalität und seine Ablehnung des seit jeher bestehenden Bedürfnisses nach Dekoration aufzunötigen. Loos gelang ein ausgewogener Blick auf die menschliche Natur ebenso wenig wie Otto Weininger, der seiner Sicht auf die Frau eine obsessiv maskuline Härte aufpfropfte. Beide hätten sich wohl beeilt, ihr Nicht-Einverstandensein mit Leó Poppers Überzeugung zu bekunden, dass selbst die scheinbar zwingendste Denkweise bei ihrer Umsetzung in die materielle Realität an Rigorosität einbüßen und die »Reinheit« der Vision gegenüber den Zwängen der Welt den Kürzeren ziehen muss. In Nemoianus Sicht ist das die Lektion, die viele – aber eben nicht alle – durch ihre frühe Bekanntschaft mit der mitteleuropäischen Bildungsethik lernten. Poppers Gedanke erweist sich als fruchtbar auch für die zwischenkriegszeitlichen Propagandisten des öster­reichischen Menschen. Hofmannsthal, Wildgans und Werfel sahen in den besten Vertretern der habsburgischen Verwaltung die ver465 Michael P. Steinberg, Judaism Musical and Unmusical (Chicago IL / London  : University of Chicago Press, 2007), S. 222.



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innerlichte Zielsetzung am Werk, zwischen den Ethnizitäten zu vermitteln, ohne selbst auf Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen Anspruch zu erheben. Diese »transnationale« Identität bescherte den deutsch-öster­reichischen Beamten eine Unsicherheit eigenen Zuschnitts und – jedenfalls in den Augen ihrer Befürworter – eine marginozentrische Sensibilität, die sie dazu befähigte, das Beste in allen Anderen wahrzunehmen, wenn auch nicht notwendigerweise bei sich selbst. Hofmannsthal und Seinesgleichen, so scheint es im Licht der Popperschen These, haben den öster­reichischen Menschen für fähig gehalten, die Materialität der verschiedenen Ethnizitäten in Richtung eines Kompromisses zu »kanalisieren«, in dem sie eine überlebensfähige Form erhielt – eben die der Doppelmonarchie selbst. Die »transnationalen« öster­reichischen Beamten hatten eine bemerkenswert gute Hand dafür, Poppersche Kompromisse zwischen den »idealen« Erfordernissen staatlicher Politik und den hartnäckigen Forderungen konkurrierender Ethnizitäten auf den Weg zu bringen. Dass die Ergebnisse letztlich alle Parteien enttäuschten, war ebenso unvermeidlich wie der Kompromiss, mit dem für jeden Künstler sein Ringen mit der Materie endet. Moritz Csáky und György Mihály Vajda gehören beide zu den Historikern, die das Hauptmerkmal dieses Treibhauses der Kreativität, der Monarchie, in der Pluralität erblicken. Sie betonen damit die Bedeutung der soziokulturellen Mäßigung, die ein Teil des Biedermeier-Erbes der Doppelmonarchie ist. Darin liegt allerdings eine Schlussfolgerung, die noch nicht allgemein gezogen worden ist. In einem Gemeinwesen, das vor Pluralität aus allen Nähten platzt, entstehen neuartige Lösungen, von denen manche gut, andere mittelmäßig und wieder andere potenziell bösartig sind  ; alle diese Lösungen koexistieren mit der Stagnation, die von Kraus, Ady und Krleža gegeißelt wird. Es lässt sich nicht vermeiden, dass Pluralität zugleich ein Potenzial für Apathie und Untätigkeit in sich birgt. Die unüberschaubare Vielzahl menschlicher Typen, die Rudolf Kassner und Heimito von Doderer so fasziniert, schließt obstruktive Figuren wie Georg von Schönerer und konstruktive wie Karl Renner ein. Sie bot Platz für Dichter, denen der Sinn nach Konfrontation stand – Endre Ady – und für solche, die in erster Linie Aussöhnung suchten, wie Hugo von Hofmannsthal  ; für dämonische Figuren wie Hitler ebenso wie für heilige Narren à la Krúdy. Dieses im oben diskutierten Sinn skurrile Nebeneinander macht die Kultur der Doppelmonarchie selbst fast unklassifizierbar. Es ist gerade diese auch im großen Maßstab sichtbare Unklassifizierbarkeit, die Kulturhistoriker zu immer weitmaschigeren Konzepten herausfordert, genau wie die Unvorhersehbarkeiten einer marginozentrischen Gesellschaft deren Bürger ständig zur Suche nach neuen Lösungen für die Rätsel zwang, die überall auf sie warteten. Im Alter von über achtzig Jahren, nachdem er sein Leben dem Studium von einem halben Dutzend Literaturen gewidmet hatte, machte sich György M. Va-

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jda auf die Suche nach einer Methodologie mit zunehmend flexibleren Interpretationskategorien. Unter dem Einfluss von Edmund Husserl entwickelte er eine Art Phänomenologie, die ihm helfen sollte, in der verwirrenden Mannigfaltigkeit des Lebens der Doppelmonarchie Gemeinsamkeiten zu entdecken. In seiner eigenwilligen Phänomenologie erwartete der ungarische Gelehrte keine völlige Eins-zueins-Entsprechung zwischen den postulierten Strukturen und den durch diese klassifizierten Daten. Wie Leó Popper war er willens, sich mit Unvollkommenheiten abzufinden, hielt aber daran fest, dass jedes Konstrukt weitaus besser sei als keines. Die in sechzig Jahren Forschertätigkeit gesammelten Erfahrungen hatten ihm gezeigt, dass Muster für uns unverzichtbar sind  ; je unterschiedlicher diese Muster sind, desto besser. Vajdas Phänomenologie arbeitet mit der Vermehrung interpretatorischer Kategorien, bis riesige begriffliche Gespinste sich um jede Figur und jedes Phänomen winden. Wie die Liliputaner, die Gulliver mit ihren Seilen fesselten, so überzieht der Gelehrte sein sich immer weiter entfaltendes Thema mit hunderten Gedankenfäden. Eine große Zahl von Kategorien hilft, ein Gewebe des Verstehens zu verfertigen, das dicht genug ist, um wenigstens einige Aspekte einer äußerst schwer fassbaren Realität einzufangen. Wenn man hunderte Kategorien heranzieht, wie Vajda das getan hat in seiner lebenslangen Tätigkeit als Komparatist auf dem Feld von zumindest sechs Literaturen, dann werden Erkenntnisse möglich, die mit einer bloßen Handvoll von Begriffen nicht zu beschreiben sind  ; jede unzulässige Verallgemeinerung wird dann durch die nächste korrigiert. Endloses experimentelles Verweben interpretatorischer Kategorien macht den Kulturhistoriker zum gelehrten Gegenstück von Weibels Wissenschaftler-Künstlern. Diese Rolle steht jedem Forscher auf dem Gebiet der Doppelmonarchie-Kultur gut an. In diesem Sinn sollten wir Kulturhistoriker als eine Weibelsche Avantgarde die Aufgabe angehen, die beiden Ufer der Leitha miteinander zu verbinden. Dieses Buch hat unter anderem von den genannten Vorbildern auf dem Gebiet einer – man könnte sagen – kaleidoskopischen Geistes- und Kulturgeschichte der Doppelmonarchie Ermutigung erhalten. Riesige Mengen von Texten, Bildern und Bauwerken sind dabei herangezogen und verarbeitet worden und haben sich zu einer leichter überschaubaren Zahl von Schlüsselkategorien verdichtet. Konstrukte wie die mitteleuropäische Bildungsethik, der rege Austausch von Motiven in den marginozentrischen Regionen eines größeren Ökosystems oder Weibels Dritte Kultur der Wissenschaftler-als-Künstler dienen wie Sindbads Magnetberg dazu, jeweils das vielgestaltige Volumen globaler intellektueller Schifffahrtsrouten an sich zu ziehen. Obwohl die den Konstrukten inhärente Verkürzung zu denselben Mängeln führt, die Leó Popper selbst an den gefeiertsten Kunstwerken diagnostizierte, können die Konstrukte uns doch für den Bau von neuen, bisher ungedachten dienen. Die Liliputschen Fäden werden auch noch von zukünftigen Forschern



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weiter gesponnen und das konzeptuelle Gewebe wird dichter und elastischer gestaltet werden. Die Wegbereiter, die hier zur Sprache gekommen sind, haben bei der Erfindung und Anwendung interpretatorischer Themen eine Mischung von Begeisterung und Vorsicht an den Tag gelegt, die geeignet ist, auch in Zukunft eine Geistesgeschichte auf der Höhe der von ihr untersuchten Erfinder zu inspirieren. Darauf hat der kreative Reichtum der Doppelmonarchie zweifellos Anspruch. Um uns selbst als Interpreten auszuweisen, müssen wir für diese Aufgabe Fantasie, Erfindungsgabe und Auffassungstiefe in einem Ausmaß mitbringen, das den Schöpfern dieses Reichtums angemessen ist. Nach ihrem Beispiel müssen wir empirische Skrupel mit kühnen Flügen der Imagination verquicken. Nur so können wir hoffen, Modelle zustande zu bringen, die tatsächlich dem Wagemut dieser Schöpfer ein Weiterleben sichern. Nicht weniger ist gefordert, um die Leitha von einem Fluss des Vergessens zu einem Fluss der Erinnerung zu machen.

Bibliografie mit Kommentar Die Kulturgeschichte der Donaumonarchie  : drei Forschungsrahmen Diese Bibliografie enthält Werke auf Deutsch, Englisch und Französisch, die seit 1970 erschienen sind. Der Kommentar in Klammern nennt besondere Stärken, fallweise auch Schwächen, und verweist – wo angebracht – auf Kapitel des vorliegenden Buches. In der Bibliografie wird unterschieden zwischen Werken, in denen Öster­ reich (Cisleithanien), solchen, in denen Ungarn (Transleithanien) im Vordergrund steht, und solchen, die in erster Linie Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb der Doppelmonarchie behandeln. Die Bibliografie korrespondiert also in ihrer Einteilung mit drei verschiedenen Forschungsrahmen, von denen der eine auf dem öster­reichischen Standpunkt basiert, der zweite auf dem ungarischen und der dritte auf dem Standpunkt der Monarchie. Auf letzterem Gebiet haben vor allem Kunsthistoriker Pionierarbeit geleistet. Dass es in diesem dritten Teil nur verhältnismäßig wenige Werke gibt, die nicht der Kunstgeschichte oder der Literaturgeschichte Ungarns zuzurechnen sind, unterstreicht, wie wünschenswert weitere Forschung auf dem Gebiet der Kultur der Doppelmonarchie ist. In ihrer Gesamtheit bilden diese dreihundert Bücher und Artikel eine Grundlage für die von György Mihály Vajda skizzierte Aufgabe, eine multidisziplinäre Phänomenologie zu erstellen, aus der ersichtlich wird, worin jeweils die Kultur der Doppelmonarchie in toto den partikularen Kulturen Öster­reichs und Ungarns zugleich ähnlich wie unähnlich war.

I. Öster­r eich einschliesslich »Wien um 1900« A nderson, Harriet, Utopian Feminism. Women’s Movements in Fin-de-Siècle Vienna (New Haven CT / London  : Yale University Press, 1992). [Eine Pionierleistung in der Forschung zu einer Reihe bisher unbeachtet gebliebener Persönlichkeiten.] Anderson, Mark M., Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle (Oxford  : Clarendon Press, 1992). [Verblüffend originelle Sicht auf den Jugendstil, den Antiästhetizismus von Karl Kraus und Adolf Loos und den Körperkult.] A ngelova, Penka, »Vorläufer der Kulturwissenschaften  : Musil, Canetti, Broch«,

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in Iris Hipfl und Raliza Ivanova (Hg.), Öster­reichische Literatur zwischen den Kulturen, Schriftenreihe der Elias Canetti Gesellschaft, Bd. 4 (St. Ingbert  : Röhrig Universitäts-Verlag, 2008), S. 155  –  172. [Interpretiert die drei Essayisten als Pioniere eines neuen Paradigmas für die Integration der Kulturwissenschaften.] Beller, Steven, »Modern Owls Fly by Night  : Recent Literature on Fin de Siècle Vienna«, The Historical Journal, 31 (1988), S. 665  –  683. [Ein Dutzend Bücher zu »Wien um 1900« auf dem Prüfstand  ; versieht die Behauptung, dass Wiens damalige Kultur die Postmoderne vorwegnahm, mit Fragezeichen.] –, Wien und die Juden  : 1867  –  1938 [1990.] Aus dem Englischen von M. Th. Pitner (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1993). [Präsentiert Statistiken, Fallstudien und Begriffsanalysen zur Untermauerung der These, dass Wiens säkularisierte Juden sich stärker zu universalen Werten als zu Öster­reichs provinziellen hingezogen fühlten.] –, »Who Made Vienna 1900 a Capital of Modern Culture  ?« in Emil Brix und Allan Janik (Hg.), Kreatives Milieu Wien um 1900 (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik und München  : R. Oldenbourg Verlag, 1993), S. 175  –  180. [Bündige Formulierung von Bellers wichtigsten Thesen zu Wiens säkularisierten Juden.] –, »Patriotism and the National Identity of Habsburg Jewry, 1860  –  1914«, in Yearbook of the Leo Baeck Institute, 41 (1996), S. 215  –  238. [Eine Fülle erhellender Anmerkungen zum sozialen Status der Juden in Öster­reich.] –, »The Tragic Carnival  : Austrian Culture in the First World War«, in Aviel Roshwald und Richard Stites (Hg.), European Culture in the Great War. The Arts, Entertainment and Propaganda, 1914  –  1918 (Cambridge / New York  : Cambridge University Press, 1999), S. 127  –  161, 378  –  385. [Überaus spannende Forschungsergebnisse zu zentralen Themen, einschließlich der Operette, S. 154  –  159.] –, »Kraus’s Firework  : State Consciousness Raising in the 1908 Jubilee Parade in Vienna and the Problem of Austrian Identity«, in Maria Bucur und Nancy Wingfield (Hg.), Staging the Past  : The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe, 1848 to the Present (West Lafayette IN  : Purdue U. P., 2001), S. 46  –  71. [Anregende Betrachtungen über die theatralischsten Momente des «Theaterstaats«.] –, »Introduction«, in Beller (Hg.), Rethinking Vienna 1900 (New York und Oxford  : Berghahn Books, 2001), S. 1  –  25. [Eine scharfsichtige Neubewertung der Forschungsergebnisse aus der Zeit der »Wien um 1900«-Flitterwochen in den 1980ern.] –, »What is Austrian about Austrian Culture  ?« in Gertrud Diem-Wille, Ludwig Nagl und Friedrich Stadler (Hg.), Weltanschauungen des Wiener Fin de Siècle. Festgabe für Kurt Rudolf Fischer zum achtzigsten Geburtstag (Frankfurt a. M.: Pe-



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ter Lang, 2002), S. 25  –  41. [Formuliert den Gedanken einer «meta-nationalen« öster­reichischen Identität, die in der Kultivierung der Beziehungen zu anderen Kulturen wurzelt.] –, Geschichte Öster­reichs. Aus dem Englischen von Susi Schneider (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 2007). [Eine wegweisende Synthese, die so manches überflüssig macht.] –, »Fin de Fin-de-Siècle Vienna  ? A Letter of Remembrance«, Contemporary Austrian Studies, 20 (2011), S. 46  –  80. [Umfassende, stellenweise kritisch-bissige Bewertung der Sekundärliteratur seit den 1970ern.] Benay, Jeanne, Alfred Pfa big a n und Anne Sa in t Sau v eu r (Hg.), Öster­ reichische Satire (1933  –  2000). Exil, Remigration, Assimilation (Bern  : Peter Lang, 2003). [Höchst originelle Essays zu Intellektuellen im Exil seit den 1930ern, erstmals vorgestellt bei einer Tagung in Metz.] Ber nstein, Michael André, Five Portraits. Modernity and the Imagination in Twentieth-Century German Writing (Evanston IL  : Northwestern University Pess, 2000). [Diese Essays zum »Erlösung verheißenden Meisterwerk« bei Rilke, Musil, Heidegger, Benjamin und Celan entwickeln Themen, die J. P. Sterns The Dear Purchase (1995) entnommen sind.] –, Conspirators (New York  : Farrar Straus und Giroux, 2004) [Roman über jüdische Intellektuelle in Ostgalizien 1913 und ihre Beziehungen zu Graf Wiladowski, einem hohen Verwaltungsbeamten, der sich unter schwierigen Bedingungen behaupten muss.] Bl acksh aw, Gemma und Leslie Topp (Hg.), Madness and Modernity. Mental Illness and the Visual Arts in Vienna 1900 (London  : Lund Humphries, 2009). [Bietet eine Fülle von neuem Material zu Otto Wagner, Klimt, Kokoschka und Loos.] Bl aukopf, Kurt, Pioniere empiristischer Musikforschung. Öster­reich und Böhmen als Wiege der modernen Kunstsoziologie (Wien  : Hölder-Pichler-Tempsky, 1995). [Kritische Analyse der Musik- und Kunsttheoretiker in Wien bis 1900 mit hervorragender Bibliografie.] Botstein, Leon, Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und öster­reichischen Kultur 1848  –  1938 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1991). [Tiefschürfende Essays über Juden als Musiker, z. B. Mahler und Schönberg, und als Kulturkritiker, z. B. Herzl, Nordau, Freud, Friedell, Zweig und Roth.] –, »Music and the Critique of Culture  : Arnold Schoenberg, Heinrich Schenker und the Emergence of Modernism in Fin-de-Siècle Vienna«, in Christopher Hailey und Juliane Br ands (Hg.), Constructive Dissonance  : Arnold Schoenberg and the Transformations of Twentieth-Century Culture (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 1997), S. 3  –  22. [Eine neue Sicht auf »Brennpunkte« und »merkwürdige Bündnisse«, die Schenkers Musikkritiken der 1890er Jahre mit Schönberg und Kraus in Beziehung setzt.]

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–, »Gustav Mahler’s Vienna«, in Donald Mitchell und Andrew Nichol son (Hg.), The Mahler Companion (Oxford / New York  : Oxford University Press, 1999), S. 6  –  38. [Brillant und tiefschürfend.] –, »Whose Gustav Mahler  ? Reception, Interpretation und History«, in Karen Painter (Hg.), Mahler and His World (Princeton NJ / Oxford  : Princeton University Press, 2002), S. 1  –  53. [Zieht alle Register in der Bewertung kritischer Stellungnahmen zu Mahler, mit Parallelen zwischen den Strukturen seiner Musik und der Romane von Flaubert, Fontane und James.] –, »The Salons of Modernism«, in Emily D. Bilski und Emily Braun (Hg.), Jewish Women and Their Salons  : The Power of Conversation (New Haven CT / London  : Yale University Press, 2005), S. 84  –  99, 211  –  213. [Zu Berta Zuckerkandl.] Bow ie, Malcolm, »A Message from Kakania  : Freud, Music, Criticism«, in Peter Collier und Judy Dav ies (Hg.), Modernism and the European Unconscious (Cambridge  : Polity Press, 1990), S. 3  –  17. [Deutet Freuds »neuen hermeneutischen Stil« und Schönbergs »Emanzipation der Dissonanz« als Entfaltung von psychischen Entdeckungen im Zeitlupentempo in einer durch Ironie grundierten Gesellschaft.] Boyer, John W., Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement, 1848  –  1897 (Chicago  : University of Chicago Press, 1981). –, Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897  –  1918 (Chicago  : University of Chicago Press, 1995). [Meisterhafte, auf zuvor weitgehend unberücksichtigtem Material basierende Synthese.] Br andstätter, Christian (Hg.), Wien um 1900. Kunst und Kultur. Fokus der europäischen Moderne (Wien  : Brandstätter, 2005  ; München  : dtv, 2006). [740 Illustrationen.] Brix, Emil, Ernst Bruck müller und Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae, 3 Bde (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik Oldenbourg, 2004  –  2005). [Fast fünfzig detaillierte Essays über die Inanspruchnahme von »Erinnerungsorten« in der Ersten und Zweiten Republik.] Bruck müller und Peter Ur ba nitsch (Hg.), Ostarrichi Öster­reich 996  –  1996 (Wien  : Verlag Horn, 1996). [Dieser umfangreiche Ausstellungskatalog bietet eine Fülle exzellent recherchierter Essays, unter denen die von Peter Melichar über kulturelle Stereotypen besonders hervorzuheben sind.] Brugger, Evelyne u. a. (Hg.), Geschichte der Juden in Öster­reich (Wien  : Carl Überreuter, 2006), publiziert als Bd. 15 von Herwig Wolfram (Hg.), Öster­reichische Geschichte. [Albert Lichtblaus Kapitel zu 1848 bis zur Gegenwart ist eine brillante Synthese.]



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Cernuschi, Claude, Re / Casting Kokoschka. Ethics and Aesthetics, Epistemology and Politics in Fin-de-Siecle Vienna (Madison / Teaneck NJ  : Fairleigh Dickinson University Press und London  : Associated University Presses, 2002). [Eine Neubewertung der Parallelen zwischen Kokoschka und Freud, Kraus, Loos, Weininger und Wittgenstein, die auf uns lieb gewordene Einschätzungen keine Rücksicht nimmt  ; vgl. Kapitel 12.] Cl air, Jean (Hg.), Vienne 1880  –  1938. L’apocalypse joyeuse (Paris  : Centre Pompidou, 1986). [Dieser Katalog der dritten großen Ausstellung in Europa zu »Wien um 1900« bleibt unübertroffen mit siebenhundert Illustrationen und 57 Essays von Forschern und anderen bedeutenden Persönlichkeiten.] –, Cathrin Pichler und Wolfgang Pircher (Hg.), Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele (Wien  : Wiener Festwochen, 1989). [Hier geht es um wenig begangene Pfade der Forschung zur Tiefenpsychologie seit den allerersten Anfängen um 1700  ; vgl. Kapitel 10.] Coen, Deborah R., Vienna in the Age of Uncertainty  : Science, Liberalism und Private Life (Chicago  : University of Chicago Press, 2007). [Über die Familie Exner als Reformer und exemplarische Vertreter der mitteleuropäischen Bildungsethik zwischen den 1840er und den 1920er Jahren.] C oh e n, Gary B., Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848  –  1918 (West Lafayette IN  : Purdue University Press, 1986). [Eine Sozialgeschichte der Modernisierung.] Cole, Laurence, »Der Habsburger Mythos«, in Emil Brix, Ernst Bruck müller und Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik, 2004), Bd. 1  : S. 473  –  504. [Zeigt wie Texte, Filme und Ausstellungen bis in die 1990er Jahre immer wieder auf Bilder der Dynastie fokussiert sind.] Csendes, Peter und Ferdinand Opll (Hg.), Wien  : Geschichte einer Stadt. Band 3. Von 1790 bis zur Gegenwart (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 2006). [Wolfgang Maderthaners Abschnitt zu 1860  –  1945 zeichnet kulturelle Entwicklungen detailreich nach  ; mit 45-seitiger Bibliografie.] Decloedt, Leopold R. G., Imago Imperatoris. Franz Joseph I. in der ­öster­reichischen Belletristik der Zwischenkriegszeit (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1995). [Zu Kraus, Werfel, Musil, Roth mit 30 Seiten Bibliografie.] Demeter, Tamás (Hg.), Essays on Wittgenstein and Austrian Philosophy. In Honour of J. C. Nyíri (Amsterdam / New York  : Rodopi, 2004). [Zwölf Essays, davon der Großteil von hoher Originalität.] Eh a lt, Hubert Christian (Hg.), Ich stamme aus Wien. Kindheit und Jugend von

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der Wiener Moderne bis 1938 (Weitra  : Verlag Bibliothek der Provinz, 2008). [Besonders bemerkenswert die Erinnerungen von Erwin Chargaff, Ernst Gombrich, Walter Sorell und Harry Zohn.] Engel, Manfred, Rainer Maria Rilkes »Duineser Elegien« und die moderne deutsche Lyrik. Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde (Stuttgart  : Metzler, 1986). [Rekontextualisiert die »Sprachkrise« von ca. 1900 bei Rilke, Hofmannsthal, Trakl, Kafka und Bahr, S. 43  –  119, und die Entstehung der Avantgarden, S. 186  –  227.] –, »Das Frühwerk  : Einleitung«, in Rainer Maria R ilk e, Gedichte 1895 bis 1910, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden (Frankfurt a. M. / Leipzig  : Insel Verlag, 1996), Bd. 1  : S. 612  –  630. [Diese Synthese intellektueller und dichterischer Strömungen gipfelt in einer Porträtcollage sogenannter »Jahrhundertwendler«, S. 626  –  627.] Gaugusch, Georg, Wer einmal war  : Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800  –  1938, Bd. 1 A-K (Wien  : Amalthea, 2011). [Die erste Hälfte eines genealogischen Handbuchs, 1649 Seiten.] Gilm an, Sander L. und Jack Zipes (Hg.), Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096  –  1996 (New Haven CT / London  : Yale University Press, 1997. [Etwa ein Drittel der hundert Essays sind öster­reichischen Juden auch in zuvor unbemerkt gebliebenen Kontexten gewidmet  ; umfangreiche Bibliografien.] Golomb, Jacob (Hg.), Nietzsche and the [sic] Austrian Culture  : Nietzsche und die öster­reichische Kultur (Wien  : Facultas, 2004). [Beleuchtet die Wiener Gemeinde von Nietzsche-Bewunderern, darunter nicht wenige Frauen.] Gr aborszki, Ernst und James Hardin (Hg.), Literature in Vienna at the Turn of the Centuries  : Continuities and Discontinuities around 1900 and 2000 (Rochester NY  : Camden House, 2003). [Zehn Kapitel über interessante Parallelen zwischen den Literaturen um 1900 und um 2000.] Gr assl, Wolfgang und Barry Smith, »A Theory of Austria«, in J. C. Nyíri (Hg.), From Bolzano to Wittgenstein  : The Tradition of Austrian Philosophy (Wien  : Hölder-Pichler-Tempsky, 1986), S. 11  –  30. [Außerordentlich erhellender Essay über die Wurzeln öster­reichischer Kreativität  ; vgl. Kapitel 4.] Gubser, Mike, Time’s Visible Surface  : Alois Riegl and the Discourse on History and Temporality in Fin-de-Siecle Vienna (Detroit  : Wayne State University Press, 2006). [Eine profunde Studie über den Begründer der akademischen Kunstgeschichte in Wien, 1858  –  1905.] Hacohen, Malachi Haim, Karl Popper – The Formative Years 1902  –  1945  : Politics



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and Philosophy in Interwar Vienna (Cambridge / New York  : Cambridge University Press, 2000). [Monumentale Neubewertung mit 35 Seiten Bibliografie.] Harrowitz, Nancy A. (Hg.), Jews and Gender  : Responses to Otto Weininger (Phila­ delphia  : Temple University Press, 1995). [Neunzehn Essays zur Rezeption von Weininger  ; außerordentlich anregend.] Healy, Maureen, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire  : Total War and Everyday Life in World War I (Cambridge  : Cambridge University Press, 2004). [Bietet eine Fülle akribisch recherchierter Forschungsergebnisse zur alltäglichen Not in den Jahren 1914 bis 1919.] Heer, Friedrich, Der Kampf um die öster­reichische Identität (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1981). [Eine Fundgrube für Archetypen der öster­reichischen Kultur seit dem 12. Jahrhundert.] Hofm ann, Werner, Experiment Weltuntergang  : Wien um 1900 (München  : Prestel Verlag, 1981). [Ein scharfsinniger öster­reichischer Kunsthistoriker unternimmt eine Neuvermessung von Makart, Klimt, Kokoschka, Schiele, Gerstl, Schönberg und Kubin.] Hoppe, Manfred, »The Symbol in the Austrian Literature of the Turn of the Century  : Problems and Attempted Solutions«, in Anna Bal ak ian (Hg.), The Symbolist Movement in the Literature of European Languages (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1982), S. 425  –  435. [These  : Im Gegensatz zu ihren ungarischen und italienischen Zeitgenossen haben Öster­reichs Dichter die Poetik des französischen Symbolismus nur zögerlich, wenn überhaupt, übernommen.] Ja nik, Allan, Wittgenstein’s Vienna Revisited (New Brunswick NJ  : Transaction Books, 2001). [Zwölf Essays über Weininger, Offenbach, Kraus, Trakl und Wittgenstein unterziehen das zusammen mit Stephen Toulmin geschriebene, bahnbrechende Werk des Autors, Wittgensteins Wien, einer Neubewertung. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Merkel (Wien  : Döcker, 1998 [1973]), noch einmal einer eingehenden Überprüfung.] –, »Vienna 1900 Revisited  : Paradigms and Problems« [1995], in Steven Beller (Hg.), Rethinking Vienna 1900 (New York / Oxford  : Berghahn Books, 2001), S. 27  –  56. [Vgl. den vorhergehenden Eintrag.] Johnston, William M., Öster­reichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848  –  1938 [1974], 4. Aufl. (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau Verlag, 2006). [Mit neuer Einleitung und erweiterter Bibliografie.] –, Visionen der langen Dauer Öster­reichs (Wien  : Picus Verlag, 2009). [Über Hans Sedlmayr, Viktor Zuckerkandl und Friedrich Heer als Exponenten der öster­ reichischen kulturellen Eigenart.] –, Der öster­reichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Öster­reichs (Wien / Köln / 

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Weimar  : Böhlau, 2010). [Skizziert zwei Dutzend Essayisten, die sich zwischen 1910 und 1967 mit der Eigenart des öster­reichischen Mensch auseinandergesetzt haben  ; vgl. Kapitel 2 und 3.] K andel, Eric R., Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. Aus dem Amerikanischen von Martina Wiese (München  : Siedler Verlag, 2012. [Diese mutige, kenntnisreiche und großzügig illustrierte Studie taucht Klimt, Schiele, Kokoschka und Freud in das Licht von Kandels lebenlangen Forschungen auf dem Gebiet der «hirnbasierten Psychologie«  ; 45 Seiten Bibliografie  ; vgl. Kapitel 7.] K aszyński, Stefan H., Kleine Geschichte des öster­reichischen Aphorismus (Tübingen /  Basel  : Francke, 1999). [Die verschiedenen Spielarten des Aphorismus bei Grillparzer, Ebner-Eschenbach, Hofmannsthal, Schaukal, Altenberg, Kraus, Kafka, Canetti, Doderer, Eisenreich und Handke.] Kilcher, Andreas B. (Hg.), Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur (Stuttgart / Weimar  : Metzler, 2000) [Einträge zu einem halben Hundert öster­reichischer und 230 anderer deutschsprachiger Literaten loten die sich allmählich entwickelnde Haltung eines jeden zum Judentum aus.] K linger, Kurt, »Lyrisches Drama – Lyrisches Lebensgefühl  : Zur Theaterkunst der Wiener Jahrhundertwende« in G. J. Ca r r und Eda Saga r r a (Hg.), Finde-Siècle Vienna  : Proceedings of the Second Irish Symposium in Austrian Studies (Dublin  : Trinity College, 1985), S. 7  –  25. [These  : Das «lyrische Lebensgefühl« des «theatralisierten Selbst« führte zu einer Suche nach Momenten einer allumfassenden Erfahrung beim frühen Hofmannsthal und bei Beer-Hofmann, AndrianWerburg, Schaukal und Altenberg.] Korst vedt, Benjamin M., »Reading Music Criticism beyond the Fin-de-siècle Vienna Paradigm«, The Musical Quarterly, 94  :1  –  2 (2011), S. 156  –  210. [Eine Neubewertung der Sekundärliteratur zum Paradigma »Wien um 1900«, besonders in den Anm. 41 und 42, und der Versuch, mit Kraus und Habermas die These zu untermauern, dass die Musikkritik dem öster­reichischen Bürgertum bei seiner Identitätsfindung behilflich war.] Kos, Wolfgang und Christian R a pp (Hg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war [2004], 2. Aufl. (Wien  : Czernin Verlag, 2005). [Ein reich illustrierter Katalog mit mehr als 50 Essays über den Wandel im Erscheinungsbild Wiens und seiner Vorstädte seit 1850.] Le Arti a Vienna  : Dalla Secessione alla caduta dell’Impero asburgico (Venedig  : Edizioni La Biennale, 1984). [Die mehr als tausend Fotografien in diesem Katalog der allerersten Großausstellung zu »Wien um 1900« stellen eine auch heute noch verblüffende Sammlung von Bildern aus dem Fin de Siècle-Wien dar.]



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Lebr echt, Norman, Why Mahler  ? How One Man and Ten Symphonies Changed The World (London  : Faber & Faber, 2010). [Präsentiert eine Fülle von Gründen, weshalb Mahler zum Rang des weitaus populärsten Genies von Wien um 1900 aufgestiegen ist.] Le R ider, Jacques, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität (Wien  : Öster­reichischer Bundesverlag, 1990 [1990]) [Le Riders umfassendste Annäherung an große öster­reichische Denker und ihre Rezeption damals und heute.] –, »Wittgenstein und Weininger«, in Emil Br ix und Allan Janik (Hg.), Kreatives Milieu Wien um 1900 (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik und München  : R. Oldenbourg Verlag, 1993), S. 188  –  208. [Schlüssige Dekonstruktion verschiedener Kontroversen, besonders in Bezug auf Wittgensteins »jüdische Identität«.] –, Hugo von Hofmannsthal  : Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1997 [1995]). –, Freud – von der Akropolis zum Sinai  : Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne (Wien  : Passagen Verlag, 2004 [2002]). Lloyd, Jill und Christian Witt-Dör r ing (Hg.), Birth of the Modern  : Style and Identity in Vienna 1900 (New York  : Neue Galerie, 2011). [Zehn Essays, besonders bemerkenswert Jill Lloyd über Frauen, Claude Cernuschi über Schiele und Alessandra Comini über Musiker.] Leser, Norbert, Genius Austriacus  : Beiträge zur politischen Geschichte Öster­reichs und Geistesgeschichte Öster­reichs, 2. Aufl. (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1986). [Leidenschaftliche Essays über Sozialtheoretiker und soziale Bewegungen.] –, Skurrile Begegnungen  : Mosaike zur öster­reichischen Geistesgeschichte (Wien / Köln /  Weimar  : Böhlau, 2011) [28 Porträts aus der Zweiten Republik  : zum Begriff des »Skurrilen« siehe S. 7  –  8.] Lor enz, Dagmar, Wiener Moderne (Stuttgart / Weimar  : J. B. Metzler, 1996). [Bündige Darstellung der deutschsprachigen Forschung zur Literatur des Fin de Siècle, mit einer umfassenden Bibliografie.] Luft, David S., Robert Musil and the Crisis of European Culture (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 1980). [Eine bahnbrechende Synthese.] –, Eros and Inwardness in Vienna  : Weininger, Musil, Doderer (Chicago / London  : The University of Chicago Press, 2003). [Eine reich nuancierte Rekontextualisierung von drei Schlüsselfiguren mit einer ausgezeichneten Bibliografie.] –, »Austrian Intellectual History and Bohemia«, Austrian History Yearbook, 38 (2007), S. 108  –  121. –, »Cultural Memory and Intellectual History  : Locating Austrian Literature«, in Studies in Twentieth and Twenty-First Century Literature, 31  :1 (2007), S. 4  –  51 (on-

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line unter www.articlearchives.com). [Kritisiert Doderer, Heer, Ivask, Eisenreich und Seidler für ihre Essenzialisierung von Grundmerkmalen der öster­reichischen Literatur.] –, (Übersetzer und Hg.), Hugo von Hofmannsthal and the Austrian Idea  : Selected Essays and Addresses, 1906  –  1927 (East Lafayette IN  : Purdue University Press, 2011). [Vgl. Kapitel 3.] Magris, Claudio, Der habsburgische Mythos in der modernen öster­reichischen Literatur (Salzburg  : Müller, 1966 [1963]), 2. verb. Aufl. (Wien  : Zsolnay, 2000). [Eine bahnbrechende Studie zur Nostalgie in der Romanliteratur nach 1918.] –, Donau  : Biographie eines Flusses (Wien  : Zsolnay, 1986 [1981]). [Anregender Essay über die Kulturlandschaften entlang der Donau von Schwaben bis zum Schwarzen Meer, wie diese sich Mitte der 1980er Jahre dem Autor darboten  ; heute etwas überholt.] M ak ar i, George, Revolution in Mind  : The Creation of Psychoanalysis (New York  : HarperCollins, 2008). [Kritischer Blick eines Psychiaters auf die Debatten zwischen Freud und seinen Schülern bis 1939  ; Kapitel 4, »Vienna«, bietet einen erfrischend neuen Blick auf diese Kultur, S. 129  –  178  ; ein Meisterwerk.] Martens, Lorna, Shadow Lines  : Austrian Literature from Freud to Kafka (Lincoln NB / London  : University of Nebraska Press, 1996). [Schlägt eine neue, auf Freud, Nietzsche und Hofmannsthal zentrierte »Familie von Gedankengebäuden« vor, um zu zeigen, wie sich große Schriftsteller um epistemologische Neuorientierung und »unerreichbare Sinngebung« bemühten  ; besonders bemerkenswert Kapitel 7 über die Sprachkrise.] Messing, Scott, Schubert in the European Imagination, 2 Bde. (Rochester  : University of Rochester Press, 2006  –  2007). [Bd. 2 lotet Gender-Themen in Wien um 1900 aus in Kapiteln über Klimt, Schnitzler, Hofmannsthal, Altenberg und Schönberg, mit 28 Seiten Bibliografie.] Mittelmann, Hanni und Armin Wall as (Hg.), Öster­reich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis im 19. und 20. Jahrhundert (Tübingen  : Niemeyer, 2001). [Äußerst anregende Essays.] Nautz, Jürgen und Richard Vahr enk emp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse Umwelt Wirkungen (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1993). [Ein Kompendium sorgfältig recherchierter Essays.] Neubauer, John, The Fin-de-Siècle Culture of Adolescence (New Haven CT / London  : Yale University Press, 1992). [Kapitel 6 über Hofmannsthal, Kokoschka und Schiele bietet eine geradezu verblüffende neue Sicht.] Noever, Peter (Hg.), Austria im Rosennetz. Eine Ausstellung von Harald Szeemann



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(Wien  : MAK und Zürich  : Kunsthaus Zürich, 1996). [Ein Kompendium von Öster­reichs unklassifizierbaren schöpferischen Geistern  ; die Bibliografie umfasst 600 Einträge  ; vgl. Kapitel 11.] Nussbaumer, Martina, Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images (Freiburg im Breisgau  : Rombach, 2007). [Eine Schilderung wie Gedenkfeiern, Musikfeste, Einweihungen von Konzertsälen und Statuen bis 1914 der Ehrung von Komponisten und ausführenden Ensembles dienten.] Péter, László und Robert B. Py nsent (Hg.), Intellectuals and the Future in the Habsburg Monarchy (London  : Macmillan Press, 1988). [Erfrischende Artikel von Martin Swa les über Schnitzler, Irit Rogoff über Klimt und Brian Far r ell über Freud, S. 13  –  62.] R a mpley, Matthew, »Art History and the Politics of Empire  : Rethinking the Vienna School«, Art Bulletin, 91  :4 (2009), S. 446  –  462. [Bewertung der Förderung der Volkskunst durch die Kulturpolitik.] R enner, Ursula, »Die Zauberschaft der Bilder«. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten (Freiburg im Breisgau  : Rombach, 2000). [Ein Meisterwerk literarischer Kulturgeschichte  : eine umfassende, urteilssichere und innovative Stellungnahme zu Hofmannsthals Reaktionen auf bildende Künstler.] Roazen, Paul, Freud and His Followers (New York  : Knopf, 1975). [Eine auf Interviews mit Psychoanalytikern, die Freud noch persönlich gekannt hatten, basierende Pionierleistung.] Robinson, Ritchie und Judith Beniston (Hg.), Catholicism and Austrian Culture (Edinburgh  : Edinburgh University Press, 1999). [Acht Fallstudien seit 1600.] Rose, Alison, Jewish Women in Fin de Siècle Vienna (Austin  : University of Texas Press, 2008). [Akribisch recherchiert mit 33 Seiten Bibliografie.] Schmidt-Dengler, Wendelin, »Das Fin de Siècle – Ende eines Bildungs-Ideals  ? Zur Antike-Rezeption im Kreis des ›Jung Wien‹«, Neohelicon, 9  :2 (1982), S. 61  –  85. [Tiefschürfende Analyse von Theodor Gomperz, Freud und Hofmannsthal.] Schorske, Carl E., Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle [1980] (Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1982) [Vorschlag eines Paradigmenwechsels, der zu einer Neuausrichtung der Forschung 1975  –  2000 führte  ; vgl. Kapitel 1, Anm. 5, und die kritischen Werke von Beller und Spector, die in dieser Bibliografie angeführt sind.] Smith, Barry, »The Neurath-Haller Thesis  : Austria and the Rise of Scientific Philosophy«, in Keith Lehr er und Johann Christian Mar ek (Hg.), Austrian Philosophy Past and Present  : Essays in Honor of Rudolf Haller (Dordrecht  : Kluwer,

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1997), S. 1  –  20. [Hinterfragt Hallers Thesen zu Ursprung und Kohärenz der «öster­reichischen Philosophie«.] Spec tor, Scott, »Beyond the Aesthetic Garden  : Politics and Culture on the Margins of Fin-de-Siècle Vienna«, Journal of the History of Ideas, 59  :4 (1998), S. 691  –  710. [Eine Überprüfung von Schorskes Paradigma in Bezug auf Prag und Wien.] –, Prague Territories  : National Conflict and Cultural Innovation in Kafka’s Finde- ­Siècle (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 2000). [Eine überaus sorgfältige Neupositionierung der Prager Intellektuellen – Deutsche, Tschechen und Juden – und ihrer kulturellen Strategien der »Reterritorialisierung« 1900  –  1925, mit umfangreicher Bibliografie.] Sta dler, Friedrich, Studien zum Wiener Kreis  : Ursprung, Entwicklung und Wirkung des logischen Empirismus im Kontext (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997). [Eine vorbildliche Habilitationsschrift.] Steinberg, Michael P., Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele 1890  –  1930 [1990] (Salzburg  : Pustet, 2000). [Erforscht Hofmannsthals »Theatralik« im Zusammenhang mit Steinbergs radikaler Analyse jüdischer Themen einerseits und von Haltungen zur musikalischen Darstellung andererseits.] –, Listening to Reason  : Culture, Subjectivity and Nineteenth-Century Music (Princeton NJ  : Princeton University Press, 2004). [Eine Neuausrichtung der Debatte um »kulturelles Vokabular« und musikalische Darstellung bei Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Wagner, Dvořák, Mahler und Schönberg.] –, »The House and the World  : On Jewish Experience and the Critique of Identity«, in Steinberg, Judaism Musical and Unmusical (Chicago IL / London  : University of Chicago Press, 2007), S. 17  –  37. [Ein unerbittlicher Methodologe verwirft hier die »Ideologie der Identität« in Studien zur Wiener und jüdischen Moderne und plädiert für die Artikulation der »nicht-essenzialisierbaren« Dimensionen der Kultur, besonders der Musik.] Ster n, J. P., »Das Wien der Jahrhundertwende aus tschechischer Sicht«, Öster­ reichische Osthefte, 28 (1986), S. 5  –  21. [Zur Sicht deutsch-öster­reichischer Autoren auf Machar, Hašek und Masaryk.] –, The Dear Purchase  : A Theme in German Modernism (Cambridge  : Cambridge University Press, 1995). [These  : Bedeutende Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts in Öster­reich und Deutschland ließen sich auf eine »aufopfernde Selbstverpflichtung« ein, die zu einem Leben der »Überanstrengung« und intellektuellen »Überaktivität« führte, wie besonders bei Freud, Rilke, Trakl, Musil, Kafka und Wittgenstein zu beobachten  ; vgl. Kapitel 8.] Stourzh, Gerald, »An Apogee of Conversions  : Gustav Mahler, Karl Kraus, and fin de siècle Vienna«, in Stour zh, From Vienna to Chicago and Back  : Essays on In-



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tellectual History and Political Thought in Europe and America (Chicago / London  : University of Chicago Press, 2007), S. 224  –  247. [Eine detaillierte Darstellung der gesetzlichen und gesellschaftlichen Aspekte der Konversion vom Judaismus zum Christentum.] Thur m, Volker (Hg.), Wien und der Wiener Kreis. Orte einer unvollendeten Moderne  : Ein Begleitbuch (Wien  : Facultas, 2003). [Eine Anthologie von erstaunlicher Vielfalt mit zeitgenössischen Texten zu Bildung, Philosophie, Architektur, Malerei, Musik und ihrem jeweiligen Kontext.] Timms, Edward, »Musil’s Vienna and Kafka’s Prague  : the quest for a spiritual city«, in Timms und David K elley (Hg.), Unreal City  : Urban experience in modern European literature and art (Manchester  : Manchester University Press, 1985), S. 247  –  263. [Verblüffend originelle These, dass »architektonische Opulenz« ein Lebensgefühl der Unwirklichkeit zur Folge haben kann.] –, Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1974  –  1918. Aus dem Englischen von Max Looser und Michael Strand (Wien  : Deuticke, 1995). [Eine meisterhafte Bestandsaufnahme der Wiener Satiriker und ihrer Milieus.] –, Karl Kraus – Apocalyptic Satirist  : The Post-War Crisis and the Rise of the Swastika (New Haven CT / London  : Yale University Press, 2005). [Umfassend, sachlich, erfrischend.] –, »Cultural Parameters between the Wars  : A Reassessment of the Vienna Circles«, in Deborah Holmes und Lisa Silver man (Hg.), Interwar Vienna  : Culture between Tradition and Modernity (Rochester NY  : Camden House, 2009), S. 21  –  31. [Mit einem überaus aufschlussreichen Diagramm von etwa siebzig einander überlappenden intellektuellen »Zirkeln« in Wien um 1925.] Topp, Leslie, Architecture and Truth in Fin-de-Siècle Vienna (Cambridge  : Cambridge University Press, 2004). [These  : Olbrich, Hoffmann, Wagner und Loos verstanden »Wahrheit« als »Klienten-Zentriertheit«, nicht als den Beginn des Funktionalismus.] Traum und Wirklichkeit. Wien 1870  –  1930 (Wien  : Museen der Stadt Wien, 1985). [Dieser Katalog der zweiten großen Ausstellung zu »Wien um 1900« in Europa bietet mehr als fünfhundert Illustrationen und viele Artikel.] Wall as, Armin A., »Gewalt und Zerstörung  : Zur Thematisierung von Violenz in der öster­reichischen Literatur der Jahrhundertwende«, Zeitschrift für deutsche Philologie, 108 (1989), S. 198  –  221. [Plädiert für eine »polyvalente« Sicht auf »Wien um 1900« und sucht diese zu untermauern mit »Visionen der Destruktion« und der »Erotik der Grausamkeit« bei einem Dutzend Schriftstellern.] –, Albert Ehrenstein  : Mythenzerstörer und Mythenschöpfer (München  : Klaus Boer Verlag, 1994). [Radikale Neubewertung der Rolle alter Mythen bei Wiener

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Schriftstellern, durchgeführt von einem bedeutenden Forscher auf dem Gebiet vergessener jüdischer Schriftsteller.] –, (Hg.), Jüdische Identitäten in Mitteleuropa  : Literarische Modelle der Identitätskonstruktion (Tübingen  : Max Niemeyer Verlag, 2002). [21 Essays über wenig bekannte jüdische Literaten und Themen.] Wistr ich, Robert S., The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph (Oxford / New York  : Oxford University Press, 1989). [Tiefschürfende Recherche, sensible Analyse, vorbildlich im historischen Urteil  ; ein Klassiker.] –, Between Redemption and Perdition  : Modern Anti-Semitism and Jewish Identity (London / New York, Routledge, 1990). [Leidenschaftliche Essays zu Lueger, Hitler und Freud, S. 43  –  85.] –, »Friedrich Nietzsche and the Austrian Fin-de-Siècle«, in Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche and the [sic] Austrian Culture  : Nietzsche und die öster­reichische Kultur (Wien  : WUV, 2004), S. 42  –  57). [Zeichnet zahlreiche Parallelen zwischen Nietzsche und den Kulturkritikern Nordau, Kraus und Weininger nach.] –, From Ambivalence to Betrayal  : The Left, the Jews und Israel (Lincoln NB  : University of Nebraska Press, 2012). [Seziert die Haltung von Viktor Adler, Otto Bauer, Engelbert Pernerstorfer und Karl Kautsky zum jüdischen Nationalismus.] Wor bs, Michael, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende (Frankfurt  : Europäische Verlagsanstalt, 1983). [Eine feinfühlige Untersuchung der Parallelen zwischen Freud und Bahr, Hofmannsthal, Kraus und Schnitzler, besonders im Hinblick auf die klassische Antike.]

II. Ungarn einschliesslich »Budapest um 1905« Bár any, George, »Magyar Jew or  : Jewish Magyar  ? To the Question of Jewish Assimilation in Hungary«, Canadian Slavic Studies, 8  :1 (1974), S. 1  –  44. [Außerordentlich sorgfältig dokumentiert.] Botstein, Leon, »Out of Hungary  : Bartók, Modernism und the Cultural Politics of Twentieth-Century Music«, in Peter Laki (Hg.), Bartók and His World (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1995), S. 3  –  63. [Zeichnet unzählige literarische und musikalische Verbindungen zwischen Ungarn und Westeuropa nach.] Cooper, Thomas, »Dezső Kosztolanyi and Intertextuality  : Anticipations of PostModern Literary Criticism«, Hungarian Studies, 14  :1 (2000), S. 45  –  54. [These, unter Berufung auf Michail Bachtin  : In der literarischen Parodie manifestiert sich die Humboldtsche Theorie, in der Sprache als ein »mächtiger, in sich abgeschlossener Organismus, ein Naturprodukt« gesehen wird (S. 46).]



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–, »Envisioning or Effacing the Other  : Different Approaches to Translation in the English and Hungarian Literary Traditions«, Eger Journal of American Studies, 12  :1  –  2 (2010), S. 259  –  283. [These  : Während englischsprachige Übersetzer dazu neigen, gegenüber ihrem Ausgangstext völlig in den Hintergrund zu treten, drängen ungarische Übersetzer sich diesem förmlich auf.] Cornelius, Deborah S., »The Recreation of the Nation – Origins of the Hungarian Populist Movement«, Hungarian Studies, 6  :1 (1990), S. 29  –  40. [Neuartiger Ansatz, aus dem ersichtlich wird, wie Studentenorganisationen in den 1920er Jahren eine führende Rolle bei der Konstruktion einer agrarischen Ideologie spielten.] Czig á n y, Lóránt, The Oxford History of Hungarian Literature from the Earliest Times to the Present (Oxford  : Clarendon Press, 1984). [Im Exil in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geschrieben, wirkt diese akribische, ungemein anspruchsvolle Darstellung teilweise mittlerweile veraltet, gelegentlich sogar etwas bizarr, was besonders für Literaten nach 1939 gilt.] De ák, István, »Hungary  : A Brief Political and Cultural History«, in S. A. M ansbach (Hg.), Standing in the Tempest  : Painters of the Hungarian Avant-Garde, 1908  –  1930 (Santa Barbara  : Santa Barbara Museum of Art, 1991), S. 21  –  45. [Vielleicht die erhellendste Kurzdarstellung in englischer Sprache.] –, »Historiography of the Countries of Eastern Europe  : Hungary«, American Historical Review, 97  :4 (1992), S. 1041  –  1063. [Erstaunlich umfassend.] –, »Antisemitism in Eastern Europe (Excluding Russia and the Soviet Empire) Since 1848«, in Albert S. Lindem ann und Richard S. Lev y (Hg.), Antisemitism  : A History (Oxford / New York  : Oxford University Press, 2010), S. 222  –  236. [Eine neue Sicht auf den »liberalen Idealismus des reformbereiten Adels« und sein Verschwinden vom Baltikum bis zum Balkan.] Dow, Fiona, The Broken Crown  : Reappraisals of Hungarian Identity in the Interwar Years [Hungarian Studies Review, Kingston, Ontario] (2002), online unter  : http:// vmek.oszk.hu/02200/02236.htm (zuletzt abgerufen 20. September 2012). [Beschäftigt sich eingehend mit Gyula Szekfű, Lajos Prohászka und dem Turanismus.] Eshbach, Robert W., »Joachim’s Youth – Joachim’s Jewishness«, The Musical Quarterly, 94  :4 (2011), S. 548  –  592. [Die Ergebnisse einer eingehenden Beschäftigung mit Joseph Joachim (1831  –  1907) und dem Prozess seiner Assimilation in West­ ungarn und Pest.] Fejtő, François, Hongrois et juifs. Histoire millénaire d’un couple singulier  : Contribution à l’ étude de l’ intégration et du rejet (Paris  : Balland, 1997). [Akribisch recherchiert, aber extrem eigenwillig.]

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Fen yő, Mario D., Literature and Political Change  : Budapest, 1908  –  1918, in Transactions of the American Philosophical Society¸ 77  :6 (1987), S. 1  –  156. [Dieser Liebesdienst von Mario D. Fenyő für seinen Vater, Miksa Fenyő (1877  –  1972), einen Gründer und Mitherausgeber von Nyugat, quillt förmlich über vor sonst unzugänglichen Informationen über das erste Jahrzehnt dieser Zeitschrift.] Forg ács, Éva, »Avant-Garde and Conservatism in the Budapest Art World  : 1910  –  1932« in Thomas Bender und Carl E. Schorsk e (Hg.), Budapest and New York  : Studies in Metropolitan Transformation  : 1870  –  1930 (New York  : Russell Sage Foundation, 1994), S. 309  –  331. [Eleganter Überblick.] Fr ank, Tibor, »Between Red and White  : The Mood and Mind of Hungary’s Radicals, 1919  –  1920«, Hungarian Studies, 9  :1  –  2 (1994), S. 105  –  126. [Basiert auf Interviews und anderem Insiderwissen.] –, The Social Construction of Hungarian Genius (1867  –  1930), online unter www. franktibor.hu/img/kozl/fr ank.Social%20Construction3.doc. (zuletzt abgerufen 15. August 2012). [Reich dokumentierte Studie von Ungarns Sekundarschulen und Universitäten, mit besonderer Berücksichtigung der Mathematik.] –, »Béla Balázs  : From the Aesthetization of Community to the Communization of the Aesthetic«, Journal of the Interdisciplinary Crossroads, 3  :1 (2006), S. 117  –  134. [Ein unermüdlicher Forscher unternimmt die Neupositionierung einer sehr umstrittenen Figur.] –, Double Exile  : Hungarian Intellectual Migration through Germany to the United States 1919  –  1941 (New York  : Peter Lang, 2007). [Hervorragende Recherche.] –, »Acts of Creation  : The Eötvös Family and the Rise of Science Education in Hungary«, in Mitchell G. Ash und Jan Sur m an (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848  –  1918 (Houndmills / Basingstoke /  New York  : Palgrave Macmillan, 2012), S. 113  –  137. [Grundlegend.] Fr eifeld, Alice, Nationalism and the Crowd in Liberal Hungary, 1848  –  1914 (Baltimore MD  : Johns Hopkins University Press, 2000) [Neuformulierung zentraler Fragen zum «Theaterstaat« im Licht von Elias Canettis Masse und Macht (1960).] Frigyesi, Judit, »Jews and Hungarians in Modern Hungarian Musical Culture«, in Ezra Mendelsohn (Hg.), Modern Jews and Their Musical Agendas, Studies in Contemporary Jewry, Bd. 9 (New York / Oxford  : Oxford University Press, 1993), S. 40  –  60. [Höchst aufschlussreich zum Begriff, den bürgerliche Juden von ihrer Rolle als Musiker in Ungarn hatten.] –, Béla Bartók and Turn-of-the-Century Budapest (Berkeley / Los Angeles / London  : University of California Press, 1998). [Setzt Blaubarts Schloss (1911) in Beziehung zu Nyugat-Mitarbeitern, besonders zu Ady, Babits und Balázs, deren Ansichten



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auf S. 295  –  297 in bewundernswerter Klarheit zusammengefasst sind  ; die Anmerkungen sind besonders ergiebig.] Gellér, Katalin, »Hungarian Art Nouveau and Its English Sources«, Hungarian Studies, 6  :2 (1990), S. 155  –  165. [Ein neuartiger Forschungsansatz, der auf sonst schwer zugänglichem Material in Englisch und Ungarisch basiert.] Gerő, András, Imagined History  : Chapters from Nineteenth and Twentieth Century Hungarian Symbolic Politics (Boulder CO  : East European Monographs, 2007). [Meisterhafte Darstellung von dem auf diesem Gebiet führenden Historiker Ungarns.] –, Hungarian Illusionism [2006] (New York  : Columbia University Press, 2009). [Ein Essay zu einem heiklen Thema  ; vgl. Kapitel 10.] Gluck, Mary, Georg Lukács and His Generation 1900  –  1918 (Cambridge MA / London  : Harvard University Press, 1985). [Eine detaillierte Geistesgeschichte der jungen radikalen Denker Budapests.] Hanák, Péter, »Mentalité et symbolique des mouvements socialistes agraires«, Archives des sciences sociales de religion, 45 (1978), S. 65  –  73. [These  : Ungarn steht in der Mitte zwischen italienischem und spanischem Katholizismus und russischer und rumänischer Orthodoxie.] –, Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates [1975] (Wien  : Oldenbourg und Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1984). [Eine gewichtige Sammlung früher Essays, übersetzt aus dem Ungarischen.] –, »Hungary’s Contribution to the Monarchy«, in György R ánki (Hg.), Hungarian History – World History (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1984), S. 165  –  180. [Dieser Essay, gefolgt von László Demes’ Kritik (S. 181  –  189), ist bedauerlicherweise nie nachgedruckt worden.] – und Joseph Held, »Hungary on a Fixed Course  : An Outline of Hungarian History«, in Joseph Held (Hg.), The Columbia History of Eastern Europe in the Twentieth Century (New York  : Columbia University Press, 1992), S. 164  –  228. [Hanák beschreibt detailliert die Periode 1918  –  1945.] Hanebrink, Paul A., In Defense of Christian Hungary  : Religion, Nationalism und Antisemitism, 1890  –  1944 (Ithaca NY  : Cornell University Press, 2006). [Eine penibel recherchierte Geistesgeschichte der Ideologien des «Christlichen Nationalismus«.] Held, Joseph, »Young Hungary  : The Nyugat Periodical, 1908  –  1914«, in Stanley Winters und Joseph Held (Hg.), Intellectual and Social Developments in the Habsburg Empire from Maria Theresa to World War I  : Essays Dedicated to Robert

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A. Kann (Boulder CO  : East European Quarterly, 1975), S. 271  –  290. [Ein mittlerweile in Ehren ergrauter Überblick.] –, »Culture in Hungary During World War I,« in Aviel Roshwa ld und Richard Stites (Hg.), European Culture in the Great War  : The Arts, Entertainment and Propaganda, 1914  –  1918 (Cambridge / New York  : Cambridge University Press, 1999), S. 176  –  192, 390  –  397. [Außerordentlich detailliert.] Janos, Andrew C., The Politics of Backwardness in Hungary, 1825  –  1945 (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1982). [Ein Pionierwerk der sozioökonomischen Geschichtsschreibung, das sich durch kühne Synthesen auszeichnet.] K assa i, György, »Littérature et psychanalyse en Hongrie (1910  –  1940)«, Hungarian Studies, 4  :2 (1988), S. 213  –  226. [Ein neuer Blickwinkel auf Csáth, Karinthy, Kosztolányi, Babits und József.] Lit ván, György, A Twentieth-Century Prophet  : Oscar Jászi 1875  –  1957 (Budapest /  New York  : Central European University Press, 2006). [Eine Darstellung zahlreicher Reformprojekte.] Luk acs, John, Budapest 1900  : A Historical Portrait of a City and Its Culture (New York  : Grove Weidenfeld, 1988). [Ein höchst lebendiges Bild der Stadt, zu dem dieser versierte Historiker viel Persönliches beiträgt] –, »About the Psychology of the Émigré«, Hungarian Studies, 7  : 1  –  2 (1991  –  92), S. 35  –  41. [Betont die »Gespaltenheit« des Denkens von exilierten Intellektuellen.] –, A Thread of Years (New Haven CT und London  : Yale University Press, 1998). [Geistreiche Momentaufnahmen der Interaktion europäischer und amerikanischer Milieus zwischen 1900 und den 1990ern, mit der Vignette einer Konversation von zwei zukünftigen jüdischen Wissenschaftlern in Budapest im Jahr 1904, S. 41  –  47.] Nemes, Robert, The Once and Future Budapest (DeKalb IL  : Northern Illinois University Press, 2005). [Eine Sozialgeschichte der nationalistischen Bewegung im 19. Jahrhundert.] Neubauer, John und Mihály Szegedy-M a sz á k, »Topographies of Literary Culture in Budapest«, in Marcel Cor nis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of Literary Cultures in East Central Europe  : Junctures and Disjunctures, 4 Bde. (Amsterdam / Philadelphia PA  : John Benjamins, 2004  –  2010), Bd. 2 (2006), S. 162  –  175. [Zwei Experten geben einen knappen Überblick.] Patai, Raphael, The Jews of Hungary  : History, Culture, Psychology (Detroit  : Wayne State University Press, 1996). [Dieses Opus magnum zieht die Summe aus einem



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der ethnografischen Forschung gewidmeten Leben  ; mit einem Nachwort von Miklós Szabolcsi.] Péter, László, »Hungarian Liberals and Church-State Relations (1867  –  1900)«, in György R ánki (Hg.), Hungary and European Civilization (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1989), S. 79  –  138. [Überaus informative chronologische Darstellung.] –, »Church-State Relations and Civil Society in Hungary  : A Historical Perspective«, Hungarian Studies, 10  :1 (1995), S. 3  –  33. [Eine umfassende Darstellung der rechtlichen Aspekte seit 1790.] Romsics, Ignác, »Hungarian Society and Social Conflicts before and after Trianon«, Hungarian Studies, 13  :1 (1998  –  99), S. 47  –  58. Sak myster, Thomas, Hungary’s Admiral on Horseback  : Miklós Horthy, 1918  –  1944 (Boulder CO  : East European Monographs, 1994). [Eine detaillierte, ausgewogene Darstellung.] Sherwood, Peter, »›A nation may be said to live in its language‹  : Some Socio-historical Perspectives on Attitudes to Hungarian«, in Robert B. Pynsent (Hg.), The Literature of Nationalism  : Essays on East European Identity (London  : Macmillan, 1996), S. 27  –  39. [Ein umfassender Überblick auf die einander ablösenden Theorien und Ideologien zum Ursprung der ungarischen Sprache.] Sugar, Peter F. (Hg.), A History of Hungary (Bloomington IN  : Indiana University Press, 1990). [Besonders bemerkenswert Kapitel 15 von Géza Jeszenszk y über Ungarn in der Zeit der Doppelmonarchie.] Sz a bolcsi, Miklós, »On the Spread of Symbolism«, in Anna Ba l a k i a n (Hg.), The Symbolist Movement in the Literature of European Languages (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1982), S. 183  –  189. [Frappierend neuer Ansatz, der aufzeigt, wie die Bezugnahme der Dichter vor 1914 auf den Symbolismus auf den Populismus der Zwischenkriegszeit abfärbte.] –, »L’avant-garde littéraire hongroise et l’itinéraire poétique d’Attila József«, Revue de littérature comparée, 60  :3 (1986), S. 295  –  306. [Bietet vielschichtige Lesarten zu einem der beliebtesten ungarischen Dichter.] –, »Thematische und stilistische Aspekte des Eintretens der Juden in die ungarische Literatur«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S. 105  –  113. [Dieser und der folgende Artikel sind die Frucht lebenslanger persönlicher Teilhabe.] –,  »From King David to the Computer  : A Contribution to the Better Understanding of the Jewish Elements in Hungarian Cultural History«, Neohelicon, 28 (2001), S. 81  –  90. [Weitgreifende Reflexionen eines umfassend gebildeten Augenzeugen.] Szegedy-M asz ák, Mihály, »Conservatism, Modernity und Populism in Hungarian Culture«, Hungarian Studies, 9  :1  –  2 (1994), S. 15  –  37. [Eine großartige Synthese des Geisteslebens zwischen 1867 und 1939.]

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–, »Bartók and Literature«, Hungarian Studies, 15 (2001), S. 245  –  254. [Zur Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und Béla Balázs, besonders bei Blaubarts Schloss  ; vgl. Kapitel 4.] –, »Great Literature in an Inaccessible Language«, in László Somlyódy und Nóra Somlyódy (Hg.), Hungarian Arts and Sciences 1848  –  2000 (Boulder CO  : East European Monographs, 2003), S. 204  –  243- [Ein höchsten Ansprüchen genügender Überblick über die Zeit von 1780 bis 1989.] Szerb, Antal, »Literature«, in A Companion to Hungarian Studies (Budapest  : Hungarian Quarterly, 1943), S. 391  –  414. [Diese wenig bekannte Kurzfassung von Szerbs Tour de force, History of Hungarian Literature (Magyar irodalomtörténet [1934], 3. Aufl. [Budapest  : Magveto Könyvkiadó, 1978]  ; dt. Übersetzung Ungarische Literaturgeschichte (Youngstown  : Franciscan Fathers, 1975) ist noch immer lesenswert und würde einen Nachdruck verdienen.] Szili, József, »Nation-Religion in Nineteenth-Century Hungarian Poetry«, Hungarian Studies, 16  :1 (2002), S. 3  –  28. [Eine Typologie der von Dichtern vorgeschlagenen Formulierungen der ungarischen nationalen Identität von ca. 1520 bis János Arany (1817  –  1882).] –, »Westward Hoe or Half-Way Between Eastern and Western Europe«, Neohelicon, 28  :2 (2006), S. 247  –  261. [Sorgfältig dokumentierte Erörterung der von ungarischen Gelehrten vorgeschlagenen Definitionen von »Mitteleuropa«.] Szivós, Erika, Social History of Fine Arts in Hungary (Boulder CO  : East European Monographs, 2011). [Tiefschürfende Studie über die Professionalisierung der Künste.] Tezl a, Albert, Hungarian Authors  : A Bibliographical Handbook (Cambridge MA  : Harvard University Press, 1970). [Diese monumentale Kompilation enthält mehr als 4600 bibliographische Einträge zu 139 Autoren.] Vörös, Kati, »How Jewish is Jewish Budapest  ?« Jewish Social Studies, N.S. 8  :1 (2001), S. 88  –  125. [Bemerkenswert sachlich in der Differenzierung der Naheverhältnisse zur jüdischen Gemeinde.]

III. Die Kultur der Doppelmonarchie 1867 –  1918 und ihres Nachwirkens einschließlich ausdrücklicher Vergleiche zwischen Öster­r eich und Ungarn A lofsin, Anthony, When Buildings Speak  : Architecture as Language in the Habsburg Empire and its Aftermath, 1867  –  1933 (Chicago IL / London  : University of Chicago Press, 2006). [Eine eloquente Darstellung der fünf Sprachen – der Ge-



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schichte, des organischen Gewachsenseins, des Rationalismus, des Mythos und der Hybridisierung –, in denen städtische Architektur »spricht«  ; vgl. Kapitel 2.] A m a nn, Klaus und Hubert Leng auer (Hg.), Öster­r eich und der Grosse Krieg, 1914  –  1918  : Die andere Seite der Geschichte (Wien  : Christian Brandstätter, 1989). [Vierzig Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte, oft frappierend originell, mit 126 ungewöhnlich ausdrucksstarken schwarz-weiß Fotografien  ; eine zu wenig bekannte Schatzkammer.] A m a nn, Klaus und Armin A. Wa ll as (Hg.), Expressionismus in Öster­reich. Die Literatur und die Künste (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994. [Untersucht Dutzende bedeutende und weniger bedeutende Literaten aus allen Regionen des Habsburgerreiches in der Epoche 1900 bis 1920.] A r ens, Katherine, »Linguistic Skepticism  : Towards a Productive Definition«, Monatshefte, 74  :2 (1982), S. 145  –  155. [Beruft sich auf Fritz Mauthner zur Klärung des breit diskutierten Begriffs der »Sprachkrise«.] –, Austria and Other Margins  : Reading Culture (Columbia SC  : Camden House, 1996). [Erhellende Essays zu Doderer, Mozart, Stifter, Schnitzler und Grillparzer  ; besonders aufschlussreich zu Doderers »Ideologie der Ideologielosigkeit«.] –, »Beyond Vienna 1900  : Habsburg identities in Central Europe«, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures of EastCentral Europe  : Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th Centuries, 4 Bde. (Amsterdam und Philadelphia PA  : John Benjamins, 2004  –  2010), Bd. 1 (2004), S. 216  –  228. [Widerlegt die Behauptung, Schriftsteller wie Joseph Roth hätten den Niedergang des Reiches als unvermeidlich angesehen.] –, »Central Europe’s Catastrophe on Film  : The Case of István Szabó«, in Marcel Cornis-Pope und John Neubauer (Hg.), History of the Literary Cultures, Bd. 1 (2004), S. 548  –  558. –, Vienna’s Dreams of Europe  : Culture and Identity Beyond the Nation State (New York  : Continuuum, 2013). Ash, Mitchell G. und Jan Sur m an (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848  –  1918 (Houndmills, Basingstoke / New York  : Palgrave Macmillan, 2012). [Zehn Fallstudien, die zeigen, wie die Zugehörigkeit zu spezifischen Volksgruppen der wissenschaftlichen Forschung sowohl eine nationale wie eine internationale Ausprägung gab.] Baumgartner, Gerhard, »Distant Relatives – On the Austrian Perception of Hungarian History«, Regio – Minorities, Politics, Society, 1 (2002), S. 1  –  16, online unter epa.oszk.hu/00400/00476/00002/pdf/02.pdf [zuletzt abgerufen 22. August 2012]. [Eine vernichtende Kritik des Desinteresses an ungarischer Geschichte in Öster­reich.]

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Ber end, Iván T., »Alternatives to Class Revolution  : Central and Eastern Europe after the First World War«, in Pat Th a ne, Geoffrey Crossick und Roderick Floud (Hg.), The Power of the Past  : Essays for Eric Hobsbawm (Cambridge  : Cambridge University Press und Paris  : Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme, 1984), S. 251  –  282. [Eindrucksvolle Klassifizierung der «Ideologien der Rückständigkeit« im Europa der Zwischenkriegszeit.] Brix, Emil und Hans Stekl (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1997) [Beiträge zu Jahrestagsfeiern von acht Volksgruppen nach 1848 – Deutsch-Öster­reichern, Tschechen, Slowaken, Polen, Magyaren, Slowenen, Kroaten und Bosniern.] Bruckmüller, Ernst, »Was There a ›Habsburg Society‹ in Austria-Hungary  ?« Austrian History Yearbook, 37 (2006), S. 1  –  16. [Eine klar argumentierte und hervorragend dokumentierte Unterscheidung der verschiedenen Typen sozialer Integration von zahllosen Klassen und Regionen der Doppelmonarchie.] Clegg, Elizabeth, Art, Design and Architecture in Central Europe 1890  –  1920 (New Haven CT / London  : Yale University Press, 2006) [»Central Europe« im Titel dieses überragenden Überblicks von Künstlergruppen in sechs Hauptstädten bezieht sich ausschließlich auf Öster­reich-Ungarn.] Cole, Laurence und Daniel L. Unowsk y (Hg.), The Limits of Loyalty  : Imperial Symbolism, Popular Allegiances und State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy (New York / Oxford  : Berghahn Books, 2007). [Neun Beiträge zum Thema, wie Deutsch-Öster­reicher, Ungarn, Polen, Ruthenen, Kroaten und Juden Spannungen zwischen ethnischem Nationalismus und Staatspatriotismus handhabten.] Congdon, Lee, »The Tragic Sense of Life  : Lukács’s ›The Soul and the Forms‹«, in J. C. Nyír i (Hg.), Austrian Philosophy  : Studies and Texts (München  : Philosophia Verlag, 1981), S. 43  –  74. [Eine umfassende Auseinandersetzung mit Lukács’ Denken bis 1911.] –, The Young Lukács (Chapel Hill NC / London  : The University of North Carolina Press, 1983). [Besonders bemerkenswert Kapitel 2 über Lukács und Leó Popper.] –,  Exile and Social Thought  : Hungarian Intellectuals in Germany and Austria 1919  –  1933 (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1991). [Vergleicht Ungarn und Öster­reich als Nährboden sozialen Denkens und kommt zu völlig anderen Ergebnissen als Weibel, Jenseits von Kunst (1997).] –, Seeing Red  : Hungarian Intellectuals in Exile and the Challenge of Communism (DeKalb IL  : Northern Illinois University Press, 2001). Cor nwall, Mark (Hg.), The Last Years of Austria-Hungary  : A Multi-National Experiment in Early Twentieth-Century Europe [1990], 2. verb. Aufl. (Exeter  : University of Exeter Press, 2002). [Mit Beiträgen zu vielen verschiedenen Ethnizitäten.]



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–, The Undermining of Austria-Hungary  : The Battle for Hearts and Minds (New York  : St. Martin’s Press, 2000). [Zur Propaganda, die von allen Ethnizitäten während des Ersten Weltkriegs betrieben wurde.] Csák y, Moritz, »Gemeinsames historisches Gedächtnis  : Versuch einer Komparatistik der öster­reichischen und ungarischen Vergangenheit«, in Gerda Mr az (Hg.), Ungarn und Öster­reich  : Szenen einer «Ehe« (Eisenstadt  : Museum Öster­reichischer Kultur, 1989), S. 7  –  21. [Ein virtuos gestalteter Überblick über Beziehungen zwischen öster­reichischen und ungarischen Regionen in der Zeit von 1251 bis 1918.] –, »Pluralité culturelle et identité  : Critères d’une auto-reconnaissance transnationale sous la Monarchie des Habsbourg«, Les temps modernes, 48  :550 (1992), S. 154  –  170. [Ein Manifest, das Prinzipien der Forschung präsentiert, ohne Fußnoten.] –, »Pluralität  : Bemerkungen zum ›Dichten System‹ der Zentral-Europäischen Region«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S. 9  –  30  ; unveränderter Nachdruck als »Öster­ reich-Ungarn  : Eine kulturhistorische Annäherung«, in Wilfried Seipel (Hg.), Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde (Wien  : Kunsthistorisches Museum und Mailand  : Skira, 2003), S. 51  –  59. [Überlegungen zu den Folgen kultureller Pluralität  ; vgl. Kapitel 5.] –, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay [1996], 2. verb. Aufl. (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1998). [Überzeugend vorgetragene »dichte Beschreibung« eines vielfach diskutierten Phänomens, der Wiener und Budapester Operette  ; vgl. Kapitel 5.] –, »Multicultural Communities  : Tensions and Qualities. The Example of Central Europe«, in Eve Bl au und Monika Pl atzer (Hg.), Shaping the Great City  : Modern Architecture in Central Europe, 1890  –  1937 (München  : Prestel, 1999), S. 43  –  55. [Eine Spitzenleistung  ; vgl. Kapitel 5.] –, Astrid Kury und Ulrich Tr agatschnig (Hg.), Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne (Innsbruck  : Studien Verlag, 2004). [Analysiert die Beschleunigung des »Kulturtransfers« als Schlüssel zu Öster­reichs intellektueller Modernisierung.] Csill aghy, András, »Une approche socio-psychologique des thèmes de la littérature décadente  : La géante, le petit enfant et le vertige«, Neohelicon, 8  :1 (1980), S. 213  –  223. [Verblüffende Lesart des Vater-Sohn-Konflikts bei Rilke, Trakl, Roth und Proust.] De ák, István, Beyond Nationalism  : A Social and Political History of the Habsburg Officer Corps, 1848  –  1918 (Oxford  : Oxford University Press, 1990). [Kontrastierender Vergleich der deutsch-öster­reichischen und ungarischen Beteiligung.]

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Fábri, Anna, »Das Bild Wiens in den Werken von Gyula Krúdy«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S. 127  –  142. [Scharfsichtige Analyse, besonders im Hinblick auf die Vater-Sohn-Rivalität zwischen Franz Joseph und Kronprinz Rudolf.] Fr ied, István, »Zur Frage der ostmitteleuropäischen Region«, Studia Slavica, 31 (1984), S. 3  –  60. [Ein Meister der vergleichenden Literaturwissenschaft auf der Höhe seiner Gelehrsamkeit.] –, »Zentrum und Peripherie  : Polykulturalität der öster­reichischen Literatur«, in Karlheinz F. Auck enth a ler (Hg.), Lauter Einzelfälle. Bekanntes und Unbekanntes zur neueren öster­reichischen Literatur (Bern  : Peter Lang, 1996), S. 59  –  76. –, »Das Wien-Bild Sándor Márais«, Neohelicon, 23  :1 (1996), S. 143  –  152. [Vergleicht Márai mit Peter Altenberg und Stefan Zweig.] –, »Emigration and Labyrinth« (1998), online unter epa.oszk.hu/00400/00463/000 04/pdf/086­fried.pdf. –, »Die Kleinstadt der Monarchie als kulturelles und / oder literarisches Gedächtnis in Ostmitteleuropa«, Neohelicon, 28 (2001), S. 123  –  128. –, »Öster­reichisch-ungarische Kontakte in der modernen Literatur um die Jahrhundertwende«, in Wilfried Seipel (Hg.), Zeit des Aufbruchs  : Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde (Wien  : Kunsthistorisches Museum und Mailand  : Skira, 2003), S. 251  –  257. [Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption öster­reichischer Schriftsteller in Ungarn und ungarischer in Öster­reich.] –, »Die slawischen Literaturen der Monarchie – Die Monarchie der slawischen Literaturen«, Neohelicon, 35  :2 (2008), S. 255  –  263. [Ein Artikel aus einer Serie.] –, Gibt es ein literarisches (Ost-) Mitteleuropa  ? [2007] (Leipzig  : Leipziger Universitätsverlag, 2010). [Zu Márai, Jókai, Krleža  ; vgl. oben, Kapitel 12.] Gellner, Ernest, Language and Silence  : Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma (Cambridge  : Cambridge University Press, 1998). [Eine polemische Bewertung Wittgensteins in seinem Wiener Milieu vor dem Hintergrund von Malinowski in seinem galizischen Milieu  ; vgl. Kapitel 12.] Gode au, Florence, »Pédagogie et satire chez quelques écrivains au tournant du siècle«, Neohelicon, 25  :1 (1998), S. 131  –  150. [Vergleicht die Kritik des weiterführenden Bildungswesens bei Roth, Márai, Rilke und besonders Musil.] H anák, Péter, The Garden and the Workshop  : Essays on the Cultural History of Vienna and Budapest (Princeton NJ  : Princeton University Press, 1998). [Besonders bemerkenswert Kapitel 3. Eine verbesserte und erweiterte Version von Hanák, Der Garten und die Werkstatt. Ein kulturgeschichtlicher Vergleich  : Wien und Budapest um 1900 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1992).] Her ná di, Miklós, »Otto, Franz, Georg  : An Exercise in the Psycho-History of



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Weininger, Kafka und Lukács«, Hungarian Studies, 9  :1  –  2 (1994), S. 73  –  77. [Zum Vater-Sohn Konflikt in sozial aufsteigenden jüdischen Familien.] Judson, Pieter M., Exclusive Revolutionaries  : Liberal Politics, Social Experience und National Identity in the Austrian Empire, 1848  –  1914 (Ann Arbor MI  : University of Michigan Press, 1996). [Darstellung und Analyse liberaler Organisationen und Kampagnen in Cisleithanien.] –, »Frontiers, Islands, Forests, Stones  : Mapping the Geography of a German Identity in the Habsburg Monarchy, 1848  –  1900«, in Patricia Yaeger (Hg.), The Geography of Identity (Ann Arbor MI  : University of Michigan Press, 1996), S. 382  –  406. [Typologie der Begriffe deutscher kultureller und politischer Identität in Cislei­ thanien.] –, Guardians of the Nation  : Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria (Cambridge MA / London  : Harvard University Press, 2007). [Eine innovative Auslotung der Sprachkonflikte in Südböhmen, der Südsteiermark und in Südtirol.] Judt, Tony, »Das jüdische Europa des Manès Sperber« [1996], in Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork (München  : Carl Hanser Verlag, 2010), S. 71  –  81. [Kontrastiert Sperbers Selbstdistanzierung von seinen Wurzeln in einem Schtetl im östlichen Galizien mit Joseph Roth, der »Öster­reich-Ungarn zu einem Land für Heimatlose« (S. 74) machte.] – mit Timothy Sn y der, Nachdenken über das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork (München  : Carl Hanser Verlag, 2013). [Eine Neuformulierung von Grundfragen durch zwei meisterhafte Historiker, die sich darauf verstehen, »mehrere Rahmen gleichzeitig als gültig zu akzeptieren« (S. xv)  ; zu Wien und »Habsburgia«, das allerdings in der deutschen Übersetzung als »Habsburg« wiedergegeben wird, siehe S. 12  –  19 und 28  –  32.] K ar átson, André, Le Symbolisme en Hongrie  : L’ influence des poétiques françaises sur la poésie hongroise dans le premier quart du XXe siècle (Paris  : Presses universitaires de France, 1969). [Scharfsichtige, immens detailreiche Interpretation der Gedichte.] –, »The Translation and Refraction of Symbolism  : A Survey of the Hungarian Example«, in Anna Ba l a k i a n (Hg.), The Symbolist Movement in the Literature of European Languages (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1982), S. 165  –  182. [Eine Pioniertat in der Unterscheidung verschiedener Zugänge zur Übersetzung von Lyrik.] –, »Le projet culturel de la revue Nyugat«, Revue de littérature comparée, 60  :3 (1986),

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S. 283  –  294. [Formuliert die Zielsetzung von Nyugat  : Es sei darum gegangen, das deutsch-öster­reichische bürgerliche Milieu im Nachahmen Westeuropas zu übertreffen.] –, »Paradoxes in the Hungarian Adepts of Symbolism and Decadence at the Beginning of the Twentieth Century«, in Robert B. Py nsent (Hg.), Decadence and Innovation  : Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century (London  : Weidenfeld und Nicolson, 1989), S. 66  –  73. [Der Ästhetizismus von Nyugat war, im Gegensatz zum Wiener Ästhetizismus, ein verdeckter Nationalismus, der versuchte, die französischen und englischen Poetiken zu magyarisieren.] K er ek es, Amália u.a. (Hg.), Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Öster­reich-Ungarns (Tübingen / Basel  : Francke Verlag, 2004). [Weitausgreifende Essays von achtzehn jüngeren Gelehrten zu den Modi der Erinnerung in Ungarn und Öster­reich.] –, u. a. (Hg.), Mehr oder Weininger. Eine Textoffensive aus Öster­reich (Wien  : Braumüller, 2005). [Eine auf Widerspruch zielende Anthologie wenig bekannter Texte öster­reichischer und ungarischer Literaten zum Thema Frau, denen Exzerpte von Otto Weininger gegenübergestellt werden.] Kiss, Endre, Der Tod der k. und k. Weltordnung in Wien. Ideengeschichte Öster­reichs um die Jahrhundertwende (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1986). [Ein ungarischer Philosophiehistoriker unternimmt eine von Gelehrsamkeit sprühende Synthese weniger bekannter Denker.] –, »Endre Ady’s politisch-dichterische Auffassung über ›Kakanien‹ – Kakanien aus der Sicht eines sich erneuernden Ungarns innerhalb der Gesamtmonarchie«, in Josef Strutz und Johann Strutz (Hg.), Robert Musils »Kakanien« – Subjekt und Geschichte. Festschrift für Karl Dinklage zum 80. Geburtstag, Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1986 (München  : Wilhelm Fink Verlag, 1987), S. 27  –  43. [In diesem Artikel untersucht Kiss den Einfluss von Nietzsches Stil auf Ady und vergleicht Adys Sicht auf die Doppelmonarchie mit der von Musil.] –, »Nietzsche in einer ›Soziologie der fröhlichen Apokalypse‹ (Hermann Brochs Hofmannsthal-Essay)«, in Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche and the [sic] Aus­ trian Culture. Nietzsche und die öster­r eichische Kultur (Wien  : WUV, 2004), S. 127  –  143. [Bedeutende Neubewertung von Brochs Essay über das Wien Hofmannsthals (1949).] Konr ád, György, »Die Herausforderung der Großstadt«, in Peter Ber ner, Emil Br i x und Wolfgang M a ntl (Hg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne (München  : Oldenbourg, 1986), S. 259  –  275. [Neuartige Thesen zur Rolle von Wien und Budapest.] Konsta ntinov ić, Zoran, »Die Wirklichkeit, wie sie wirklich war  : Zu einigen



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öster­reichischen Romanen der Jahrhundertwende«, Neohelicon, 9  :2 (1982), S. 15  –  32. [Zu Ebner-Eschenbach, Saar, Bahr und einigen weniger bekannten Schriftstellern.] –, »Die Schönheit des Unterganges  : Eine komparatistische Betrachtung zur öster­ reichischen Literatur der Jahrhundertwende«, in G. J. Carr und Eda Sagarr a (Hg.), Fin-de-Siècle Vienna  : Proceedings of the Second Irish Symposium in Austrian Studies (Dublin  : Trinity College,1985), S. 90  –  103. [Der nicht ganz unumstrittene Komparatist vertritt die These, ein Ahnung des bevorstehenden Untergangs des Reichs habe die Literaten um 1900 wachgerüttelt.] –, »Universitas complex  : Überlegungen zu einer Literaturgeschichte Mitteleuropas«, in Eugen Thurnher, u. a. (Hg.), »Kakanien«. Aufsätze zur öster­reichischen und ungarischen Literatur, Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende (Budapest  : Akadémiai Kiadó und Wien  : Verlag der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften, 1991), S. 9  –  30. [Überlegungen zu einer geplanten kollektiven Literaturgeschichte.] – und Fridrun R inner, Eine Literaturgeschichte Mitteleuropas (Innsbruck  : Studien Verlag, 2003). [Unterscheidet zwischen einer gesamtöster­reichischen und einer deutsch-öster­reichischen Mentalität  : mit einer Maßstäbe setzenden Bibliografie in mindestens acht Sprachen.] M aier, Charles S., »City, Empire und Imperial Aftermath  : Contending Contexts for the Urban Vision«, in Eve Bl au und Monika Pl atzer (Hg.), Shaping the Great City  : Modern Architecture in Central Europe, 1890  –  1937 (München  : Prestel, 1999), S. 25  –  41. [Eine kraftvolle Neuformulierung grundlegender Themen  ; vgl. Kapitel 2.] –, »The Performative and the Political in Central Europe, 1890  –  1910«, in Karen Pa inter (Hg.), Mahler and His World (Princeton NJ / Oxford  : Princeton University Press, 2002), S. 55  –  85. [These  : Die »Expansivität« von Mahlers Aufführungen befriedigte den »Appetit einer ganzen Generation für das Dramaturgische« (S. 56) nicht nur im »Theaterstaat« der Doppelmonarchie, sondern in ganz Mitteleuropa.] M átr a i, László, »Kulturhistorische Folgen der Auflösung der Öster­reichischUngarischen Monarchie«, Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae, 14 (1968). –, »The Cultural Legacy of the Austro-Hungarian Monarchy«, New Hungarian Quarterly, 14  :49 (1973), S. 133  –  142. [Wie der oben angegebene Essay bietet dieser Artikel Vorschau auf Mátrais Pionierwerk Alapját vesztett felépitmény (Budapest, 1976), mit dem das Studium der öster­reichisch-ungarischen Gemeinsamkeiten beginnt.]

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McCagg, William O., Jr., A History of the Habsburg Jews, 1670  –  1918 (Bloomington IN / Indianapolis IN  : Indiana University Press, 1989). [Außerordentlich sorgfältig recherchiert.] –, »Vienna and Budapest around 1900  : The Problem of Jewish Influence«, in György R ánki (Hg.), Hungary and European Civilization (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1989), S. 241  –  263. [Hervorragend dokumentiert.] Melinz, Gerhard und Susan Zimmer m a nn, Über die Grenzen der Armenhilfe. Kommunale und staatliche Sozialpolitik in Wien und Budapest in der Doppelmonarchie (Wien  : Europaverlag, 1991). Molnár, Miklós und André Reszler (Hg.), Le génie de l‘Autriche-Hongrie (Paris  : Presses Universitaires de France, 1989). [Anregender Tour d‘Horizon.] Nemoi anu, Virgil, The Taming of Romanticism  : European Literature and the Age of Biedermeier (Cambridge MA / London  : Harvard University Press, 1984). [Eine grundlegende Neukonzeption der Periodisierung.] –, »Romanticism and Biedermeier in East-Central European Literatures«, Hungarian Studies, 5  :1 (1989), S. 21  –  38. [Einführung der mitteleuropäischen Bildungsethik, S. 34  –  35.] –, »A Short Theory of the Secondary«, in A Theory of the Secondary  : Literature, Progress und Reaction (Baltimore / London  : The Johns Hopkins University Press, 1989), S. 173  –  203. [Vgl. Kapitel 3.] –, »Learning over Class  : The Case of the Central European Ethos«, in Ann R igney und Douwe Fok k em a (Hg.), Cultural Participation  : Trends since the Middle Ages (Amsterdam / Philadelphia PA  : John Benjamins, 1993), S. 79  –  107. [Wegweisende Interpretation der erzieherischen Praxis  ; nachgedruckt in The Triumph of Imperfection (2006), S. 175  –  202  ; vgl. Kapitel 3.] –, The Triumph of Imperfection  : The Silver Age of Sociocultural Moderation in Europe, 1815  –  1848 (Columbia SC  : University of South Carolina Press, 2006). [Eine Sammlung von elf Essays, meist mit umfangreicher Bibliografie.] Ny ír i, J. C., »From Eötvös to Musil  : Philosophy and its Negation in Austria and Hungary«, in Ny ír i (Hg.), Austrian Philosophy  : Studies and Texts (München  : Philosophia Verlag, 1981), S. 9  –  30. [Umsichtige Kontextualisierungen von Madách, Lukács, Freud, Kafka, Wittgenstein, Musil.] –, »Musil und der Begriff der Tradition«, in Josef und Johann Strutz (Hg.), Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik, Musil-Studien, Bd. 13 (München / Salzburg  : Wilhelm Fink Verlag, 1985), S. 143  –  152. [Dieser Artikel nimmt in gewisser Weise Grassl / Smith vorweg.] –, Am Rande Europas. Studien zur öster­reichisch-ungarischen Philosophiegeschichte (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1988). [Schlüssige Essays zu Hofbauer und Szé-



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chenyi, Ehrenfels und Masaryk, Wittgenstein Vater und Sohn, Lukács und Dostojewski.] –, »Fin-de-siècle Austrian Philosophy  : Qualities without a Man«, in György R ánki (Hg.), Hungary and European Civilization (Budapest  : Akadémiai Kiadó, 1989), S. 361  –  378. [Zum fehlenden «metaphysischen Selbst« bei Bolzano, Eötvös, Mach, Brentano.] –, »Öster­reich und das Entstehen der Postmoderne« [1990], in Ny ír i, Vernetztes Wissen  : Philosophie im Zeitalter des Internets (Wien  : Passagen Verlag, 2004), S. 15  –  31. [Betont 1. den Verlust des Glaubens an Geschichte, 2. Zweifel an der Zuverlässigkeit von Gesetzen, und 3. die eklektische Kunst der Secession als Vorbotin des postmodernen Relativismus.] Py nsent, Robert B., »Conclusory Essay  : Decadence, Decay and Innovation«, in Py nsent (Hg.), Decadence and Innovation  : Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century (London  : Weidenfeld und Nicolson, 1989), S. 111  –  248. [Diese erstaunliche Tour de Force kontextualisiert tschechische »Dekadente« in einer Folge von konzentrischen Kreisen, die ganz Europa umspannen.] –, »The Decadent Self«, in Py nsent, Questions of Identity  : Czech and Slovak Ideas of Nationality and Personality (Budapest / London / New York  : Central European University Press, 1994), S. 101  –  146. [Eine weitere Vertiefung der Thesen des zuvor angeführten Essay.] R eifow itz, Ian, »Francis Joseph’s Fatal Mistake  : The Consequences of Rejecting Kremsier, Nationalities Papers  : The Journal of Nationalism and Ethnicity, 37  :2 (2009), S. 133  –  157. [Vertritt die These, dass der Verfassungsentwurf von 1849 die Entwicklung einer transnationalen Identität unter den Ethnizitäten begünstigt hätte.] Rössner, Michael (Hg.), Literarische Kaffeehäuser, Kaffeehausliteraten (Wien /  Köln / Weimar  : Böhlau, 1999). [Enthält aufschlussreiche Kapitel zu Schriftstellercafés in Wien, Prag, Budapest, Krakau, Zagreb, Ljubljana und Triest  : besonders eindrucksvoll Claudio Magris über das Caffè San Marco in Triest.] Sá r m á n y-Pa r sons, Ilona, »Hungarian Art and Architecture 1896  –  1914«, in A Golden Age  : Art and Society in Hungary 1896  –  1914 (London  : The Barbican Gallery, 1989), S. 31  –  43. [These  : Ungarns bildende Künstler waren sich in ihrer Zielsetzung immer uneins und erreichten weder die stilistische Homogenität noch das Prestige der Wiener Secession und der Wiener Werkstätte.] –, »Der Einfluss der französischen Postimpressionisten in Wien und Budapest«, Mitteilungen der Öster­reichischen Galerie, 34 / 35 (1990  –  1992), S. 61  –  101.

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–, »Entfremdete Nachbarn  : Ein Doppelporträt der Wiener und Budapester Kunst um die Jahrhundertwende«, in Eugen Thurnher, u. a. (Hg.), »Kakanien«. Aufsätze zur öster­reichischen und ungarischen Literatur, Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende (Budapest  : Akadémiai Kiadó und Wien  : Verlag der Öster­ reichischen Akademie der Wissenschaften, 1991), S. 415  –  437. [Dieses Pionierwerk auf dem Gebiet von Kunst und Lebensstil in Wien und Budapest vertritt die These, dass Wiens Kultur auf Kunst und Musik, die Kultur Budapests hingegen auf Literatur basierte.] –, »Die Kultur von Budapest zwischen 1890 und 1914«, in Emil Br i x und Allan Janik (Hg.), Kreatives Milieu  : Wien um 1900 (Wien  : Verlag für Geschichte und Politik und München  : R. Oldenbourg Verlag, 1993), S. 85  –  110. [Eine ehrgeizige, einfühlsame, stellenweise fast lyrische Synthese von Politik, Literatur und bildender Kust im »Zaubergarten« von Budapest 1905.] –, »Ungarns Millenniumsjahr 1896«, in Emil Br i x und Hans Stek l (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa (Wien / Köln /  Weimar  : Böhlau, 1997), S. 273  –  292. –, »Wahlverwandtschaften in der Architektur des Historismus in der Donaumonarchie«, in Richard G. Pl aschk a und Horst Haselsteiner (Hg.), Mitteleuropa. Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert (Wien  : Verlag der Öster­ reichischen Akademie der Wissenschaften, 1997), S. 145  –  174. [Eine profunde Analyse der Theorie des neugotischen, neubarocken und nationalen Stils in der Architektur, mit großartiger Bibliografie.] –, »Malerei 1890  –  1900  : Aufbruch in die Moderne  : Wien – Prag – Budapest. Probleme der Forschung«, in Richard G. Pl aschk a und Horst H aselsteiner (Hg.), Mitteleuropa. Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert (Wien  : Verlag der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften, 1997), S. 175  –  186. [Untersucht die Rezeption von Malern durch die Kunstkritik in den drei Städten.] –, »Das Bild von der Stadt in der Literatur und Malerei um 1900  : Drei Einakter mit einem Helden und einigen Nebenfiguren«, in Moritz Csák y und Marcel R eichensperger (Hg.), Literatur als Text der Kultur (Wien  : Passagen Verlag, 1999), S. 205  –  216. [Über die Maler von Stadtansichten in Wien, Budapest und Prag  ; These  : Im Gegensatz zu Wien lädt Budapest nicht zur liebevollen Abbildung ein.] –, »The Image of Women in Painting  : Clichés and Reality in Austria-Hungary, 1895  –  1905«, in Steven Beller (Hg.), Rethinking Vienna 1900 (New York / Oxford  : Berghahn Books, 2001), S. 220  –  263 [Eine fantasievolle Standortbestimmung der Malerei von Frauen in Wien, Krakau, Prag und Budapest  ; These  : In Ungarn stach der »homme fatal« die »femme fatale« aus, S. 260.]



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–, »Der Aufbruch zur Moderne  : Die ungarische Kunst und Wien 1890  –  1914«, in Wilfried Seipel (Hg.), Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde (Wien  : Kunsthistorisches Museum und Mailand  : Skira, 2003), S. 391  –  408. [Gut aufbereiteter Überblick mit ausgezeichneter Bibliografie.] Schwartz, Joseph, Cassandra’s Daughter  : A History of Psychoanalysis in Europe and America (London  : Allen Lane, 1999). [Übersichtliche Darstellung der Protagonistinnen und Protagonisten und ihrer Paradigmenwandlungen.] Sebest yén, György, Notizen eines Mitteleuropäers (Wien  : Edition Atelier, 1990). [Auf Widerspruch zielende Essays eines perfekt zweisprachigen ungarischen homme de lettres, der von 1956 bis 1990 in Wien lebte.] Seipel, Wilfried (Hg.), Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde (Wien  : Kunsthistorisches Museum und Mailand  : Skira, 2003). [Ein vorbildlicher, hervorragend illustrierter Ausstellungskatalog mit 37 Essays.] Sk ed, Alan, The Decline and Fall of the Habsburg Empire 1815  –  1918 [1989], 2. durchgesehene Aufl. (London  : Longman, 2001). [Eine ausgewogene Neubewertung der Versäumnisse und Fehlentscheidungen, besonders in den Jahren 1848  –  49, 1867 und 1914.] Stone, Norman, »Army and Society in the Habsburg Monarchy, 1900  –  1914«, Past and Present, 33  :1 (1966), S. 95  –  111. [Vernichtende Kritik an der ungarischen Obstruktionspolitik, die durch die Aushöhlung der militärischen Rekrutierung 1914 zu einer Politik »unvorstellbarer Frivolität« gegenüber Serbien führte.] Stourzh, Gerald, »The Multinational Empire Revisited  : Reflections on Late Imperial Austria« [1989], in From Vienna to Chicago and Back (Chicago und London  : University of Chicago Press, 2007), S. 133  –  156. Szegedy-M asz ák, Mihály, »The Idea of National Character  : A Romantic Heritage«, in Peter Boer ner (Hg.), Concepts of National Identity  : An Interdisciplinary Dialogue (Baden-Baden  : Nomos Gesellschaft, 1986), S. 45  –  61. [These  : Seit 1920 haben Ungarns Populisten, die einer kulturellen Isolation das Wort reden, sich an das aus der Romantik stammende statische Konzept eines in der Frühgeschichte wurzelnden Nationalcharakters geklammert.] –, »Symbolism and Poetry in the Austro-Hungarian Monarchy«, Neohelicon, 11  :1 (1984), S. 135  –  145. [Kritisiert Karátson (1969) für die Überschätzung des Einflusses französischer Dichter – besonders von Mallarmé – auf Babits.] –, »The Intellectual and Cultural Scene in the Dual Monarchy«, Hungarian Studies, 21  :1  –  2 (2007), S. 261  –  295. [Eine meisterhafte, wenn auch stellenweise zu dicht argumentierte Neueinschätzung großer Schriftsteller, Denker, Künstler und Themen.]

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Ta rusk in, Richard, The Oxford History of Western Music, 6 Bde. (Oxford / New York  : Oxford University Press, 2005). [Eine großartige Kulturgeschichte  : siehe Bd. 4  : S. 1  –  36 zu Mahler, Bd. 4  : S. 303  –  365 zu Schönberg und Bd. 4  : S. 365  –  421 zu Bartók und Kodály.] Telesko, Werner, Geschichtsraum Öster­reich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau Verlag, 2006). [Eine monumentale ikonografische Analyse der Habsburger-Dynastie, die Maler, Bildhauer und Architekten im gesamten Reich berücksichtigt.] –, Kulturraum Öster­reich. Die Identität der Regionen in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau Verlag, 2008). [Ein ikonografisches Inventar der Eigenart der Regionen  ; ergänzt das zuvor genannte Werk.] Vajda, György M., »Some Aspects of Art Nouveau in Arts and Letters«, Journal of Aesthetic Education, 14  :4 (1980), S. 73  –  81. [Vgl. Kapitel 6 zu allen Arbeiten Vajdas.] –, »Die Moderne und die Strömungen der Literatur des angehenden zwanzigsten Jahrhunderts«, Neohelicon, 9  :1 (1982), S. 45  –  55. [Analysiert Probleme der literarischen Periodisierung in ganz Europa um 1900.] –, »Literarische Sezession in Ungarn«, Neohelicon, 9  :2 (1982), S. 33  –  43. [Zum Austausch zwischen Literatur und bildender Kunst.] –, »Bemerkungen zu zwei Dramatikern der ausgehenden Donaumonarchie  : Ferenc Molnár und Ödön von Horváth«, Neohelicon, 11 (1984), S. 185  –  194. [Fokussiert auf das Nachleben der Dopplemonarchie-Kultur.] –, »Naissance de la modernité en Hongrie«, Revue de littérature comparée, 60  :3 (1986), S.  269  –   2 82. [Zum »Eklektizismus« weniger bekannter Autoren, 1867  –  1900.] –, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740  –  1918 (Wien / Köln / Weimar  : Böhlau, 1994). [Eine Sammlung von zehn wegweisenden Essays.] –, »Die Armee als Modell der Doppelmonarchie in der Literatur«, in Joseph P. Str elk a (Hg.), Im Takte des Radetzkymarschs. Der Beamte und der Offiizier in der öster­reichischen Literatur (Bern  : Peter Lang, 1994). [Eine kühne Synthese.] –, »The Austrian-Hungarian Monarchy Approached from a Phenomenological Angle«, in Marlies K ronegger und Anna-Teresa Ty mienieck a (Hg.), Life  : The Human Quest for an Ideal, Analecta Husserliana 49 (Dordrecht / Boston / London  : Kluwer, 1996), S. 301  –  310. Eine etwas längere Version dieses Textes mit dem Titel »The World of the Central-European Monarchy« in Neohelicon, 23  :2 (1996), S. 65  –  77. [Vgl. Kapitel 6.] –, »Kontakt und Konflikt in der Monarchie  : Gedanken über ein kulturelles Mit-



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teleuropa«, Neohelicon, 23 (1996), S. 155  –  172. [Untersucht Autoren aus sechs Sprachregionen.] –, »Quelques types de la modernité dans la littérature de la Monarchie Austro-Hongroise«, Neohelicon, 25  :1 (1998), S. 15  –  23 [Ansichten der Monarchie bei Móricz, Cankar, Ady, Kraus, Rilke, Kafka und Svevo.] –, »Aspects des écrivains juifs de la monarchie austro-hongroise«, Dalhousie French Studies, Sonderausgabe (Herbst 2000), S. 113  –  123. Weibel, Peter, »Literatur – Wissenschaft«, in Oswald Oberhuber und Peter Weibel, Öster­reichs Avantgarde 1900  –  1938. Ein unbekannter Aspekt (Wien  : Galerie nächst St. Stephan, 1977), S. 91  –  176. [Mindestens ein Drittel der 84 Literaten und Wissenschaftler in dieser Bio-Bibliografie warten weiterhin auf angemessene Berücksichtigung in der Forschung.] – (Hg.), Jenseits von Kunst. Katalog Ludwig Museum, Budapest und Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz, 1996  –  1997 (Wien  : Passagen Verlag, 1997). [Hunderte Fallstudien zur Interaktion zwischen Kunst und Wissenschaft in Öster­ reich und Ungarn seit 1918  ; vgl. Kapitel 7.] Weiler, Bernd »›E Pluribus Unum‹  ? The Kakanian Intellectual and the Question of Cultural Pluralism« [2002], in  : Compass  : Academic Journalism, Reviews and Resources in Austrian & Central European Studies, 2 (2003), online unter users.ox.ac. uk/~oaces/conference/papers/Bernd_Weiler.pdf [zuletzt abgerufen 25. August 2012]. [Ein öster­reichischer Ethnograf zeigt, wie sich in der Karriere von Ludwig Gumplowicz, Eugen Ehrlich, Bronislaw Malinowski und Karl Mannheim der »Zusammenstoß« von Einheit und Vielfalt im Habsburgerreich exemplifiziert.] Wessely, Anna, Károly Kók ai und Zoltan Péter (Hg.), Habitus, Identität und die exilierten Dispositionen (Budapest  : Nemzeti Tankönyvkiadó, 2008). [Die Reaktion von Mannheim, Moholy-Nagy, Balázs und Kassák auf das Exil.] Zar etsk y, Eli, Secrets of the Soul  : A Social and Cultural History of Psychoanalysis (New York  : Knopf, 2004). [In diesem revisionistischen Klassiker wird die sich weltweit wandelnde Rolle der Psychoanalyse in der Zeit von 1890 bis 2000 neu definiert. Die beste Ergänzung dazu ist die technische Details stärker berücksichtigende Darstellung von Mak ari, Revolution in Mind (2008).]

Register Achleitner, Friedrich 38 – 44 Adorno, Theodor 101 Ady, Endre 67, 68, 81, 113, 115, 129, 132, 137, 152, 153, 155, 161, 166, 170, 171, 183, 190, 196, 203, 210, 221, 222, 225, 235, 236, 238, 239, 247 – 252, 254, 255, 257, 273, 275, 277, 278, 282, 285 Alexander, Franz G. 208, 234 Alexander I., Zar 194 Alofsin, Anthony 12, 24, 43, 44, 108, 112 Altenberg, Peter 130, 153, 154, 175, 178, 277 Andreas-Salomé, Lou 197 Apollinaire, Guillaume 232 Aragon, Louis 233 Arany, János 68, 203, 248 Archilochos 188 Arens, Katherine 21, 22, 24, 70, 79, 89, 118 Aristoteles 188 Ashbee, Robert 112 Augustinus; Augustinus von Hippo 164 Babits, Mihály 13, 108, 120, 129, 132, 152, 160 – 171, 174, 178, 180, 181, 183, 190, 192, 206, 224, 235, 246, 281, 284 Bachofen. Johann Jakob 259 Bahr, Hermann 46, 47, 51, 57, 70, 130, 153, 154, 166, 178, 187, 254, 257, 259 Balakian, Anna 107, 110 Balzac, Honoré de 188 Balázs, Béla 81, 128, 155 Barenboim, Daniel 228 Bartha, Wanda 215 Bartók, Béla 54, 81 – 84, 87, 102, 129, 137, 146, 158, 159, 202, 225, 245, 260, 269, 282 Baudelaire, Charles 113, 130, 131, 171, 208, 210, 250 Bauer, Otto 252 Beer-Hofmann, Richard 131 Belinski, Wissarion Grigorjewitsch 195 Beller, Stephen 19 – 21, 91, 262 Benda, Julien 160, 161

Benda, Oskar 34, 51, 53, 57, 65, 79, 109, 176, 181, 193, 255, 262, 263 Benedikt, Moritz 138 Benjamin, Walter 151 Benn, Gottfried 148 Berchtold, Leopold Graf 256 Bergson, Henri 162, 163 Berlin, Isaiah 126, 152, 188 – 193, 205 Bernstein, Michael André 151, 162, 264 Birnbaum, Marianna D. 161, 276, 277, 279 Bischof, Günter 28 Bleyer, Jakob 72 Blok, Alexander Alexandrowitsch 113, 190, 248, 249 Bloom, Allan 64, 198 Bloom, Harold 164 Bogert, Ralph 272 Borchardt, Rudolf 161 Bortnyik, Sándor 126 Botstein, Leon 84, 227 Brahms, Johannes 84, 100, 249 Brecht, Bertolt 148 Breton, André 232, 233 Breuer, Marcel 128 Broch, Hermann 13, 44, 100, 102, 119, 141, 153, 194, 243 – 245, 273 Brod, Max 116 Browning, Robert 161 Brücke, Ernst von 249 Byron, Lord George Gordon 242 Calvin, Johannes 189 Canetti, Elias 141, 194 Cankar, Ivan 253 Cather, Willa 64 Celan, Paul 75, 151 Cernuschi, Claude 89, 114, 176, 258 – 264, 268, 279 Cézanne, Paul 157, 283 Claudel, Paul 163, 169 Clegg, Elizabeth 12, 19, 24, 42, 159, 258



Register

Cohn, Dorrit 239, 243, 244 Colin, Amy 75, 77 Comini, Alessandra 19 Constant, Benjamin 114 Cornis-Pope, Marcel 73, 74, 81, 124, 281 Csokonai Vitez, Mihály 203 Csáky, Moritz 13, 19, 21, 22, 28, 32, 44, 58, 70, 73, 86, 90 – 95, 98, 101 – 106, 117, 118, 121, 122, 124, 143, 146, 147, 153, 177, 181, 188, 193, 197, 200, 202, 205, 249, 251, 255, 257, 260, 264, 266, 268, 278, 279, 281, 282, 285 Czigány, Lóránt 212, 215 D’Annunzio, Gabriele 130 Dante; Dante Alighieri 163, 164, 188 Danton, Georges Jacques 189 Darwin, Charles 259 Demetz, Peter 24 Deri, Susan K. 218 – 220 Despoix, Philippe 156 Dobroljubow, Nikolai Alexandrowitsch 195 Dóczi, Ludwig von 189 Doderer, Heimito von 41, 51, 65, 194, 209, 285 Doppler, Christian 62 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 188, 194, 196 Drach, Josef 76 Dvořák, Antonín 22, 100 Ebner-Eschenbach, Marie von 197 Ehrenfels, Christian von 86 Eitingon, Max 197 Eliade, Mircea 31, 72, 76 Elias, Norbert 65, 66, 108, 200 Elisabeth, Kaiserin 210 Éluard, Paul 233 Eötvös, József 53, 57, 195 Erasmus von Rotterdam 188 Erdélyi, József 39 Erdős, Pál 142 Esterházy, Péter 26, 173, 194 Eugen von Savoyen, Prinz 46, 47, 49 Fábri, Anna 210 Fazekas, Mihály 203 Felbiger, Johann Ignaz 59 Ferenczi, Sándor 27, 155, 166, 206 – 209, 213, 240, 242, 282

323

Ferentschik, Klaus 232 Feuerbach, Ludwig 191 Fónagy, Iván 98, 209, 213, 214, 282 Forel, Auguste 218, 219 Forgács, Eva 240 Fourier, Charles 189 Frank, Tibor 126, 143 Franko, Iwan 251 Franyó, Zoltán 78 Franz I., Kaiser 60, 194 Franz Joseph I., Kaiser 25, 41, 71, 118, 119, 194, 205, 255, 275 Franz Stephan von Lothringen 48 Freud, Sigmund 57, 138, 166, 197, 206 – 209, 212, 217, 259, 260, 270, 281, 282 Fried, István 20, 22, 23, 91, 107, 237, 273, 275, 279 Friedell, Egon 101, 154 Frigyesi, Judit 81, 163, 264 Fügner, Jindrich 269 Gángó, Gábor 53 Gassner, Hubertus 159 Gauchet, Marcel 93 Gaudí, Antonio 22, 112 Gauguin, Paul 259 Geertz, Clifford 94, 101, 102, 104 Gellner, Ernest 94, 265 – 271 George, Stefan 112, 113, 130, 148, 151, 153, 176 Gerstl, Richard 259 Gerő, András 212 Gibbon, Edward 114 Gide, André 163, 250 Gilson, Étienne 169 Gimbutas, Marija 243 Gindely, Anton 55 – 57, 79, 141, 201, 234, 275 Gödel, Kurt 142 Goethe, Johann Wolfgang 60, 61, 65, 67, 108, 124, 188, 199, 200 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch 195, 196 Goldmark, Carl 100 Gombrich, Sir Ernst 125, 144 Gracián, Baltasar 103 Grassl, Wolfgang 12, 13, 20, 21, 73, 81, 83, 85 – 90, 92, 93, 104, 106, 108, 111, 117, 123, 124, 129, 137, 143, 146, 159, 160, 168, 234, 251, 255, 257 – 260, 263, 268, 269, 281 – 283

324

Register

Greenblatt, Stephen 94 Grigorjew, Apollon Alexandrowitsch 195 Grillparzer, Franz 48, 49, 63, 98, 171, 248 Gris, Juan 159 Gross, Hans 138 Grünberger, Béla 208 Guizot, François Pierre Guillaume 200 Habsburg, Haus 51 Halecki, Oskar 72 Halász, Gábor 103, 161, 162, 164, 168 Hamann, Brigitte 56 Hanák, Péter 19, 21, 91, 92, 95, 98 – 102, 105, 146, 264 Harmat, Paul 208, 217, 240 Hassinger, Hugo 33, 34, 49, 53, 57, 64, 65, 79, 193, 229, 255, 263 Hatvany, Lajos Baron 209 Haydn, Joseph 100 Hašek, Jaroslav 275, 280 Hebbel, Friedrich 249 Heer, Friedrich 46, 70, 109, 110, 152, 167, 197 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 188, 199 Heidegger, Martin 151 Heller, Hermann 138 Herder, Johann Gottfried 198, 199, 201 Herodot 188 Herrmann, Ignác 208 Herzen, Alexander 191, 195, 198 Herzl, Theodor 259, 269 Herzmanovsky-Orlando, Fritz von 228, 231, 233 Hesse, Hermann 148, 161, 181, 183 Hesiod 163 Hevesi, Ludwig 27, 257 Hitler, Adolf 285 Hobsbawm, Eric 94 Hoffmann, Josef 132 Hofmannsthal, Hugo von 13, 32, 34, 40, 41, 44, 46 – 49, 53, 57, 59, 63, 65, 70, 79, 87, 90, 100, 103, 109, 120, 129 – 132, 148, 149, 154, 161, 162, 165 – 167, 170, 171, 175, 180, 192, 193, 197, 209, 211, 235, 246, 248, 249, 259, 262, 281, 284, 285 Homer 163 Horthy, Admiral 66, 111, 164, 222 Horváth, Ödön von 168 Hugo, Victor 189, 192

Humboldt, Wilhelm von 60 Husserl, Edmund 97, 112, 115 – 121, 148, 168, 286 Huxley, Aldous 181 Hykisch, Anton 48 Ibsen, Henrik 130, 131 Ignotus, Pál (Paul) 96, 249 Ingarden, Roman 116 Iwanow, Wjatscheslaw Iwanowitsch 190 Janik, Allan 15, 19, 20, 259, 261 Janáček, Leoš 62 Jászi, Oscar 72, 252, 257 Jelačić von Bužim, Joseph Graf 269 Jerusalem, Wilhelm 174 Joseph II., Kaiser 48, 59, 60, 109, 203 Jókai, Mór 68, 99, 217, 230 Joyce, James 188, 244, 245 József, Attila 207 Judt, Tony 14, 74 Juhász, Gyula 238 Jung, C.G. 206, 217, 219 Jünger, Ernst 148 Kaffka, Margit 222 Kafka, Franz 30, 31, 116, 119, 137, 148, 153, 194, 227, 228, 231, 234 Kahn, Gustave 114 Kállai, Ernõ 126 Kálmán, Emmerich 27, 96, 98, 102, 105 Kálmán, Imre 100 Kandel, Eric R. 122, 124, 141, 144 Kandinsky, Wassily 159 Karady, Victor 264 Karl VI., Kaiser 83, 203 Karátson, André 113, 204, 208, 210, 211, 256 Kassner, Rudolf 131, 161, 165, 192, 196, 197, 228 – 230, 285 Kassák, Lajos 125 – 129, 132, 139, 163, 164, 255 Kaunitz, Wenzel Graf 48 Kazinczy, Ferenc 203, 237 Kepes, György 128 Kipling, Rudyard 112 Király, György 165, 174 – 178 Kiss, Endre 19, 20, 23, 44, 129 – 132, 135, 143, 147, 170, 175, 259



Register

Klee, Paul 277 Klimt, Gustav 112, 131, 234, 259, 276 Kodály, Zoltán 82, 102 Koestler, Arthur 266 Kokoschka, Oskar 231, 234, 258, 259, 262, 263, 279 Kölcsey, Ferenc 68, 203, 237 Konstantinović, Zoran 95, 96, 101 Kós, Karóly 38, 39 Kostolányi, Dezső 26, 27, 103, 132, 160, 161, 165 – 167, 171 – 181, 183, 194, 206, 207, 216, 235, 279, 281 Kossuth, Lajos 68, 195, 203 Kralik, Richard 57 Krauss, Friedrich Salomon 138 Kraus, Karl 96, 99, 101, 105, 148, 153, 182, 248, 251, 252, 254, 255, 257, 259, 262, 263, 285 Kris, Ernst 144 Krleža, Miroslav 132, 137, 251, 252, 255, 272 – 280, 285 Krúdy, Gyula 27, 99, 119, 120, 140, 209, 210, 216, 217, 224, 225, 235, 239 – 241, 243 – 245, 247, 272, 277, 279, 281, 282, 285 Kubin, Alfred 228, 231 – 233, 252, 259, 282 Lajta, Béla 22 Lamartine, Alphonse de 164 Lamprecht, Karl 34, 51 Lechner, Ödön 22, 30, 38, 39, 112, 214 Lehár, Franz 96, 98, 100, 102, 105 Lenau, Nikolaus 164, 178 Lendvai, Paul 25 Lenz, Desiderius 30 Leopold II., Kaiser 60 Le Rider, Jacques 15, 19, 20, 91, 259, 261 Lermontow, Michail Jurjewitsch 114 Lhotsky, Alphons 46, 70 Liebhard, Franz 78 Liszt, Franz 82, 100 Loos, Adolf 30, 38, 40, 96, 176, 251, 259 – 263, 284 Lueger, Karl 137, 262 Luft, David 19 Lukacs, John 161, 168, 181, 239, 245 Lukács, Georg 81, 107, 128, 131, 155, 156, 175, 180, 195 Lyotard, Jean-François 93

325

Lóránd, Sándor 213 Mach, Ernst 131, 142, 259, 282 Mádl, Antal 23, 107 Mackintosh, Charles Rennie 22 Madách, Imre 189 Maeterlinck, Maurice 130 Magris, Claudio 19, 33, 70, 71, 141 Mahler, Alma 101 Mahler, Gustav 87, 96, 131, 152 – 154, 182, 227, 228, 234, 245, 259 Maier, Charles S. 12, 13, 22, 24, 29, 31 – 37, 43 – 45, 57, 73, 74, 78, 88, 92, 101, 103, 106, 147, 188, 212, 255, 268, 278, 281, 282 Maillol, Aristide 157, 283 Malia, Martin 188, 198 – 200, 202 – 205 Malinowski, Bronislaw 266, 267, 270 Mallarmé, Stephane 113 Mann, Thomas 148, 176, 181, 182 Manojlović, Todor 78 Mansbach, Steven A. 159 Márai, Sándor 26, 27, 74, 127, 168, 194, 216, 272, 280 Marc, Franz 159 Maria Theresia, Kaiserin 47 – 49, 83 Maritain, Jacques 169 Martini-Striegl, Hilde 78 Masaryk, Tomáš 40, 104, 187 Matisse, Henri 157 Mátrai, László 23, 95, 96, 253 Mendel, Gregor 61, 62 Michelet, Jules 200 Micić, Ljubomir 132 – 135, 182 Mikszáth, Kálmán 222 Moholy-Nagy, László 125, 128, 139 Molière 188 Molnár, Farkas 126 Molnár, Ferenc 27, 99, 120, 168, 215, 216, 277, 279 Montaigne, Michel de 188 Moravánszky, Ákos 12, 19, 23, 29 – 31, 37 – 39, 42, 44, 86, 88, 90, 91, 112, 146, 147, 257, 258, 278 Móricz, Zsigmond 54, 68, 84, 194, 203, 222 Morris, William 112 Mozart, Wolfgang Amadeus 100 Müller, Herta 77 Müller, Lothar 156 Müller, Max 195

326

Register

Müller, Robert 125, 132, 255 Müller-Guttenbrunn, Adam 77 Musil, Robert 13, 14, 25 – 27, 41, 44, 46, 51, 115, 116, 119, 135, 141, 148 – 151, 153, 192, 194, 211, 212, 227, 234, 244, 245, 247, 252, 254, 259, 272, 273, 280, 282 Namier, Sir Lewis 266 Nathanson, Amalie 197 Nemoianu, Virgil 12, 13, 20, 21, 32, 44, 53, 58 – 60, 62 – 73, 78, 92, 98, 106, 108 – 110, 124, 135, 143, 146, 153, 177, 178, 181, 188, 198, 220, 255, 268, 281 – 283 Neumann, John von 142 Neurath, Otto 282 Nicholas I., Zar 190 Nietzsche, Friedrich 61, 130, 131, 147, 153, 155, 176, 188, 259, 272, 273, 278 Nikolaus I., Zar 194 Nyíri, J. C. 20, 23, 123, 143, 147, 259 Offenbach, Jacques 99, 104 Olin, Margaret 261 Ónodi, László 166, 167 Ortega y Gasset, José 169 Paganini, Niccolò 157 Pascal, Blaise 188 Péguy, Charles 169 Petrarca, Francesco 164 Petőfi, Sándor 68, 195, 199, 248, 269 Picasso, Pablo 159, 277 Plato 188 Plečnik, Jože 30, 31, 38 – 41, 214, 227 Polanyi, Karl 234 Polanyi, Michael 234 Pollacsek, Mihály 234 Popovici, Aurel 104, 252 Popper, Leó 115, 131, 142, 155 – 160, 170, 171, 180, 283, 286 Pór, Peter 249 Proust, Marcel 163, 188 Pupin, Michael 72 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 114, 188, 194, 196, 199 Pynsent, Robert S. 24, 189, 271 Raimund, Ferdinand 98

Rákóczi II., Ferenc 223 Reich, Emil 174 Reininger, Robert 174 Renner, Karl 104, 252, 285 Reviczky, Gyula 196 Riegl, Alois 41, 115, 144, 246, 259, 261, 270 Rilke, Rainer Maria 51, 52, 113, 120, 148 – 151, 153, 154, 161, 166, 167, 171, 172, 174, 178, 180, 187, 196, 197, 227, 228, 235, 249, 281 Rimbaud, Arthur 113 Rodin, Auguste 157, 283 Roth, Joseph 26, 27, 51, 71, 140, 194, 210, 216, 254, 272, 273, 275, 280 Rousseau, Jean-Jacques 198 Rudolf, Kronprinz 48, 56, 209, 230 Rudolf I., Kaiser 48 Rudolf II., Kaiser 48 Rychlo, Peter 76, 77 Saar, Ferdinand von 51, 129, 166, 194, 197 Samain, Albert 113 Sármány-Parsons, Ilona 22, 23, 237, 250 Schaukal, Richard von 248 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 191 Schiele, Egon 259 Schiller, Friedrich 60, 97 Schlegel, August Wilhelm und Karl Wilhelm Friedrich 198, 199 Schlick, Friedrich Albert Moritz 282 Schmitt, Jenö Henrik 196 Schnitzer, Ignaz 99 Schnitzler, Arthur 27, 51, 129 – 131, 153, 175, 176, 180, 209, 245, 259 Schönberg, Arnold 96, 152, 227, 228, 234, 259 Schönerer, Georg von 137, 262, 263, 285 Schopenhauer, Arthur 259 Schorske, Carl E. 15, 19, 20, 71, 89, 166, 259, 261 Schröder, Rudolf Alexander 161 Schrödinger, Erwin 142 Schubert, Franz 100 Sebald, W.G. 244 Sebestyén, György 25 Seidler, Irma 156 Senancour, Étienne Pivert de 114 Seneca, L. Annaeus 103 Seton-Watson, R.W. 254 Shakespeare, William 188



Register

Sibelius, Jean 22 Smetana, Bedřich 22, 100 Smith, Barry 12, 13, 20, 21, 73, 81, 83, 85 – 90, 92, 93, 104, 106, 108, 111, 117, 123, 124, 129, 137, 143, 146, 159, 160, 168, 234, 251, 255, 257 – 260, 263, 268, 269, 281 – 283 Snel, Guido 273, 279 Snow, Edward 235 Somogyi, Ede 195 Sonnenfels, Joseph von 59, 60, 63 Spector, Scott 19, 24 Steinberg, Michael P. 142, 227, 282, 284 Steiner, George 152 Stepper-Tristis, Willy 78 Stern, J.P. 13, 130, 147, 148, 150, 151, 154, 182, 183, 281 Stieg, Gerald 96 Stifter, Adalbert 61, 65, 90, 178 Stone, Norman 80 Strauss, Richard 103 Strauß, Johann (Sohn) 96 – 100, 105 Strawinsky, Igor 112 Strindberg, August 130, 164 Svevo, Italo 119 Swieten, Gerhard van 60 Swieten, Gottfried van 60 Swinburne, Charles Algernon 161 Szabolcsi, Miklós 20, 106, 107, 113 Szabó, István 128, 162, 168, 174 Szeemann, Harald 231 Szegedy-Maszák, Mihály 20, 22, 84, 161, 171 – 173, 177, 237 Szerb, Antal 103, 108, 161, 162, 164, 168, 178, 180 – 183, 192, 193, 272, 279 Szilárd, Leó 142 Szinyei Merse, Pál 277 Szirtes, George 240, 242, 243, 245 Szondi, Leopold 217 – 224, 226, 246, 247, 264, 278 Széchenyi, István 161, 195 Szűcs, Jenö 199, 200 Taaffe, Eduard Graf 36 Tavis, Anna A. 196 Thibaudet, Albert 161 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 194, 196, 197 Tönnies, Ferdinand 266 Torberg, Friedrich 46

327

Tóth, Arpad 113, 174, 203, 235, 238 Toulmin, Stephen 15, 19, 259, 261 Trakl, Georg 148, 153, 154, 171, 235, 259 Tschechow, Anton Pawlowitsch 194 Turgenew, Iwan Sergejewitsch 194, 196, 197 Tverdota, György 162, 163 Tyrtaios 224 Tyrš, Miroslav 269 Tzara, Tristan 233 Unamuno, Miguel de 169 Unger, Franz 62 Updike, John 24 Vajda, György M. 13, 20 – 23, 44, 70, 86, 90 – 92, 95, 97, 98, 100 – 102, 105 – 122, 143, 146 – 148, 153, 168, 181, 188, 202, 206, 212, 215, 227, 230, 237, 241, 247, 251, 253, 257, 261, 264, 269, 277, 279 – 282, 285, 286 Valjavec, Fritz 72 Valéry, Paul 113, 163 Veigelsberg, Hugó 96 Verhaeren, Émile 113, 224 Verlaine, Paul 113, 208, 210 Vizinczey, Stephen 54, 67, 68 Vörösmarty, Mihály 98 Wagner, Otto 30, 39, 40, 112, 259 Wagner, Richard 84, 153 Weber, Max 65, 203 Weibel, Peter 13, 44, 67, 86, 122 – 124, 126, 127, 135 – 144, 146, 147, 159, 160, 209, 216, 255, 257, 269, 278, 279, 281 Weininger, Otto 151, 170, 176, 259, 260, 262, 263, 284 Wellek, René 116, 125 Werfel, Franz 26, 33, 56, 57, 71, 79, 80, 85, 153, 171, 175, 194, 210, 216, 273, 280, 284 Whitman, Walt 250 Wickham-Steed, William 254 Wilde, Oscar 130 Wildgans, Anton 33, 50, 53, 57, 87, 153, 165, 176, 211, 255, 262, 284 Wilhelm II., Kaiser 41 Wilson, Edmund 235, 236, 238 Wistrich, Robert 91 Wittgenstein, Ludwig 147, 148, 153, 154, 259 – 261, 266 – 268, 270

328 Wohl, Cecile 234 Wolf, Hugo 96 Woolf, Virginia 244 Yeats, William Butler 236 Zagajewski, Adam 52

Register Zima, Peter V. 273, 274 Zötl, Aloys 232, 233 Zrínyi, Miklós Graf 223 Zuckerkandl, Viktor 125 Zweig, Ronald W. 23 Zweig, Stefan 71, 153, 154, 175, 194, 210, 280 Zwetajewa, Marina Iwanowna 197

STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 1

KORRUPTION UND KONTROLLE. HG. VON CHRISTIAN BRÜNNER. 1981. 726 S. MIT 8 TAB. BR. ISBN 978-3-205-08457-8 (VERGRIFFEN)

2

UNBEHAGEN IM PARTEIENSTAAT. JUGEND UND POLITIK IN



ÖSTERREICH. VON FRITZ PLASSER UND PETER A. ULRAM. 1982. 208 S. BR. ISBN 978-3-205-08458-4 (VERGRIFFEN)

3

LANDESVERFASSUNGSREFORM. HG. VON REINHARD RACK. 1982. 255 S. BR. ISBN 978-3-205-08459-4 (VERGRIFFEN)

4

NATION ÖSTERREICH. KULTURELLES BEWUSSTSEIN UND GESELLSCHAFTLICH-POLITISCHE PROZESSE. VON ERNST BRUCKMÜLLER. 2. ERWEITERTE AUFLAGE 1996. 472 S. ZAHLR. GRAF. BR. ISBN 978-3-205-98000-1

5

KRISE DES FORTSCHRITTS. HG. VON GRETE KLINGENSTEIN. 1984. 172 S. BR. ISBN 978-3-205-08461-2 (VERGRIFFEN)

6

PARTEIENGESELLSCHAFT IM UMBRUCH. PARTIZIPATIONSPROBLEME VON GROSSPARTEIEN. VON ANTON KOFLER. 1985. 132 S. 58 TAB. BR.



ISBN 978-3-205-08463-2 (VERGRIFFEN)

7

GRUNDRECHTSREFORM. HG. VON REINHARD RACK. 1985. 302 S. BR.



ISBN 978-3-205-08462-4 (VERGRIFFEN)

8

AUFGABENPLANUNG. ANSÄTZE FÜR RATIONALE VERWALTUNGSREFORM. VON HELMUT SCHATTOVITS. 1988. 220 S. BR.

9

ISBN 978-3-205-08464-0 (VERGRIFFEN) DEMOKRATIERITUALE. ZUR POLITISCHEN KULTUR DER INFORMATIONSGESELLSCHAFT. HG. VON FRITZ PLASSER, PETER A. ULRAM UND MANFRIED WELAN. 1985. 291 S. 91 TAB. BR. ISBN 978-3-205-08467-9

10 POLITIK IN ÖSTERREICH. DIE ZWEITE REPUBLIK: BESTAND UND WANDEL. HG. VON WOLFGANG MANTL. 1992. XV, 1084 S. GB.

ISBN 978-3-205-05379-8 (VERGRIFFEN)

11 FLEXIBLE ARBEITSZEITEN. EINE FIXE IDEE. VON RUDOLF RETSCHNEIDER, RUPERT DOLLINGER, JOACHIM LAMEL UND PETER A. ULRAM. 1985. 133 S. 33 TAB. BR. ISBN 978-3-205-08469-1 (VERGRIFFEN) 12 VERFASSUNGSPOLITIK. DOKUMENTATION STEIERMARK. VON CHRISTIAN BRÜNNER, WOLFGANG MANTL, DIETMAR PAUGER UND REINHARD RACK. 1985. 294 S. BR. ISBN 978-3-205-08465-9 (VERGRIFFEN)

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 13 KRISEN. EINE SOZIOLOGISCHE UNTERSUCHUNG. VON MANFRED PRISCHING. 1986. 730 S. ZAHLR. TAB. UND GRAF. BR.

ISBN 978-3-205-08468-6

14 SCHWEIZ – ÖSTERREICH. ÄHNLICHKEITEN UND KONTRASTE. HG. VON FRIEDRICH KOJA UND GERALD STOURZH. 1986. 279 S. BR.

ISBN 978-3-205-08902-2 (VERGRIFFEN)

15 WAS DIE KANZLER SAGTEN. REGIERUNGSERKLÄRUNGEN DER ZWEITEN REPUBLIK 1945–1987. VON MAXIMILIAN GOTTSCHLICH, OSWALD PANAGL UND MANFRIED WELAN. 1989. VI, 325 S. BR. ISBN 978-3-205-08900-6 (VERGRIFFEN) 16 TECHNIKSKEPSIS UND NEUE PARTEIEN. POLITISCHE FOLGEN EINES „ALTERNATIVEN“ TECHNIKBILDES. VON ERICH REITER. 1987. 167 S. BR. ISBN 978-3-205-08904-9 (VERGRIFFEN) 17 DEMOKRATIE UND WIRTSCHAFT. HG. VON JOSEPH MARKO UND ARMIN STOLZ. 1987. 367 S. BR. ISBN 978-3-205-08905-7 (VERGRIFFEN) 18 SOCIETY, POLITICS AND CONSTITUTIONS. WESTERN AND EAST EUROPEAN VIEWS. VON ANTAL ADAM UND HANS G. HEINRICH. 1987. 212 S. BR. ISBN 978-3-205-08907-3 (VERGRIFFEN) 19 USA: VERFASSUNG UND POLITIK. VON FRANCIS H. HELLER. 1987. 120 S. BR. ISBN 978-3-205-08906-5 (VERGRIFFEN) 20 UMWELTSCHUTZRECHT. VON BERNHARD RASCHAUER. 2. AUFL. 1988. 304 S. BR. ISBN 978-3-205-05143-2 (VERGRIFFEN) 21 VERFALL UND FORTSCHRITT IM DENKEN DER FRÜHEN RÖMISCHEN KAISERZEIT. STUDIEN ZUM ZEITGEFÜHL UND GESCHICHTSBEWUSSTSEIN DES JAHRHUNDERTS NACH AUGUSTUS. VON KARL DIETRICH BRACHER. 1987. 348 S. BR. ISBN 978-3-205-08909-2 (VERGRIFFEN) 22 DAS ÖSTERREICHISCHE PARTEIENSYSTEM. HG. VON ANTON PELINKA UND FRITZ PLASSER. 1988. 800 S. BR. ISBN 978-3-205-08910-0 (VERGRIFFEN) 23 PARTEIEN UNTER STRESS. ZUR DYNAMIK DER PARTEIENSYSTEME IN ÖSTERREICH, DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND DEN VEREINIGTEN STAATEN. VON FRITZ PLASSER. 1987. 344 S. BR. ISBN 978-3-205-08911-1 (VERGRIFFEN)

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 24 IDEOLOGIE UND AUFKLÄRUNG. WELTANSCHAUUNGSTHEORIE UND POLITIK. VON KURT SALAMUN. 1988. 142 S. BR. ISBN 978-3-205-05126-2 (VERGRIFFEN) 25 DIE NEUE ARCHITEKTUR EUROPAS. REFLEXIONEN IN EINER B EDROHTEN WELT. HG. VON WOLFGANG MANTL. 1991. 332 S. GB. ISBN 978-3-205-05412-2 26 DIE GROSSE KRISE IN EINEM KLEINEN LAND. ÖSTERREICHISCHE FINANZ- UND WIRTSCHAFTSPOLITIK 1929–1938. VON DIETER STIEFEL. 1989. X, 428 S. BR. ISBN 978-3-205-05132-7 (VERGRIFFEN) 27 DAS RECHT DER MASSENMEDIEN. EIN LEHR- UND HANDBUCH FÜR STUDIUM UND PRAXIS. VON WALTER BERKA. 1989. II, 356 S. BR.

ISBN 978-3-205-05194-7 (VERGRIFFEN)

28 STAAT UND WIRTSCHAFT. AM BEISPIEL DER ÖSTERREICHISCHEN FORSTGESETZGEBUNG VON 1950–1987. VON WERNER PLESCHBERGER. 1989. 579 S. BR. ISBN 978-3-205-05204-8 (VERGRIFFEN) 29 WEGE ZUR GRUNDRECHTSDEMOKRATIE. STUDIEN ZUR BEGRIFFS- UND INSTITUTIONEN-GESCHICHTE DES LIBERALEN VERFASSUNGSSTAATES.VON GERALD STOURZH. 1989. XXII, 427 S. BR. ISBN 978-3-205-05218-0 (VERGRIFFEN) 30 GEIST UND WISSENSCHAFT IM POLITISCHEN AUFBRUCH MITTELEUROPAS. BEITRÄGE ZUM ÖSTERREICHISCHEN WISSENSCHAFTSTAG 1990. HG. VON MEINRAD PETERLIK UND WERNER WALDHÄUSL. 1991. 268 S. BR. ISBN 978-3-205-05464-1 31 FINANZKRAFT UND FINANZBEDARF VON GEBIETSKÖRPERSCHAFTEN. ANALYSEN UND VORSCHLÄGE ZUM GEMEINDEFINANZAUSGLEICH IN ÖSTERREICH. HG. VON CHRISTIAN SMEKAL UND ENGELBERT THEURL. 1990. 307 S. BR. ISBN 978-3-205-05237-1 (VERGRIFFEN) 32 REGIONALE UNGLEICHHEIT. VON MICHAEL STEINER. 1990. 258 S. BR. ISBN 978-3-205-05281-4 33 BÜROKRATISCHE ANARCHIE. DER NIEDERGANG DES POLNISCHEN „REALSOZIALISMUS“. VON AUGUST PRADETTO. 1992. 156 S. BR.

ISBN 978-3-205-05421-4

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 54 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE. DAS INTERPELLATIONS-, RESOLUTIONS- UND UNTER SUCHUNGSRECHT. EINE RECHTSDOGMATISCHE DARSTELLUNG MIT HISTORISCHEM ABRISS UND EM P IRISCHER ANALYSE. VON ANDREAS NÖDL. 1995. 198 S. BR. ISBN 978-3-205-98161-9 55 ALFRED MISSONG. CHRISTENTUM UND POLITIK IN ÖSTERREICH. AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN 1924–1950. HG. VON ALFRED MISSONG JR. IN VERBINDUNG MIT CORNELIA HOFFMANN UND GERALD STOURZH. 2006. 476 S. GB. ISBN 978-3-205-77385-6 56 STAAT UND GESUNDHEITSWESEN. ANALYSEN HISTORISCHER FALLBEISPIELE AUS DER SICHT DER NEUEN INSTITUTIONELLEN ÖKONOMIK. VON ENGELBERT THEURL. 1996. 302 S. BR. ISBN 978-3-205-98461-0 57 ELITEN IN ÖSTERREICH. 1848–1970. VON GERNOT STIMMER. 1997. 2 BDE., 1151 S. 38 SW-ABB. GB. ISBN 978-3-205-98587-7 58 FRANKREICH – ÖSTERREICH. WECHSELSEITIGE WAHRNEHMUNG UND WECHSELSEITIGER EINFLUSS SEIT 1918. HG. VON FRIEDRICH KOJA UND OTTO PFERSMANN. 1994. 307 S. 19 SW-ABB. BR.

ISBN 978-3-205-98295-1

59 FAHNENWÖRTER DER POLITIK. KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE. HG. VON OSWALD PANAGL. 1998. 351 S. BR. MIT SU.

ISBN 978-3-205-98867-0

60 AVANTGARDE DES WIDERSTANDS. MODELLFÄLLE MILITÄRISCHER AUFLEHNUNG IN OSTMITTEL- UND OSTEUROPA IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT. VON RICHARD G. PLASCHKA. 1999. 2 BDE., 1062 S. 32 SW-ABB. GB. ISBN 978-3-205-98390-3 61 BERNARD BOLZANO. STAAT, NATION UND RELIGION ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE PHILOSOPHIE IM KONTEXT VON SPÄTAUFKLÄRUNG, FRÜHNATIONALISMUS UND RESTAURATION. HG. VON HELMUT RUMPLER. 2000. 423 S. BR. ISBN 978-3-205-99327-8 62 UM EINHEIT UND FREIHEIT. STAATSVERTRAG, NEUTRALITÄT UND DAS ENDE DER OST-WEST-BESETZUNG ÖSTERREICHS 1945–1955. VON GERALD STOURZH. 5., DURCHGESEHENE AUFL. 2005. 848 S. 19 SW-ABB. GB. ISBN 978-3-205-77333-7 (VERGRIFFEN)

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 63 ÖSTERREICH UNTER ALLIIERTER BESATZUNG 1945–1955. HG. VON ALFRED ABLEI TINGER, SIEGFRIED BEER UND EDUARD G. STAUDINGER. 1998. 600 S. ISBN 978-3-205-98588-4 64 EVALUATION IM ÖFFENTLICHEN SEKTOR. VON EVERT VEDUNG. 1999. XVIII, 274 S. 47 GRAFIKEN U. TABELLEN. BR. ISBN 978-3-205-98448-1 65 LIBERALISMUS. INTERPRETATIONEN UND PERSPEKTIVEN. HG. VON EMIL BRIX UND WOLFGANG MANTL. 1996. 320 S. GB. ISBN 978-3-20598447-4 (VERGRIFFEN) 66 HERBERT STOURZH – GEGEN DEN STROM. AUSGWÄHLTE SCHRIFTEN GEGEN RASSISMUS, FASCHISMUS UND NATIONALSOZIALISMUS 1924–1938. HG. VON GERALD STOURZH. 2008. 186 S. BR. ISBN 978-3205-77875-2 67 DIE UNIVERSITÄT ALS ORGANISATION. DIE KUNST, EXPERTEN ZU MANAGEN. VON ADA PELLERT. 1999. 346 S. 5 SW-ABB. BR.

ISBN 978-3-205-99080-2

68 GEMEINDEN IN ÖSTERREICH IM SPANNUNGSFELD VON STAATLICHEM SYSTEM UND LOKALER LEBENSWELT. HG. VON DORIS WASTL-WALTER. 2000. 248 S. 18 GRAF. 17 KARTEN. 71 TAB. 1 FALTK. BR.

ISBN 978-3-205-99212-7

69 NOCH EINMAL DICHTUNG UND POLITIK. VOM TEXT ZUM POLITISCHSOZIALEN KONTEXT, UND ZURÜCK. HG. VON OSWALD PANAGL UND WALTER WEISS. 2000. 462 S. BR. ISBN 978-3-205-99289-9 70 POLITIK, STAAT UND RECHT IM ZEITENBRUCH. SYMPOSION AUS ANLASS DES 60. GEBURTSTAGS VON WOLFGANG MANTL. HG. VON JOSEPH MARKO UND KLAUS POIER. 2001. 197 S. 3 SW-ABB. GB.

ISBN 978-3-205-99259-2

71 QUALITÄTSSICHERUNG UND RECHENSCHAFTSLEGUNG AN UNIVERSITÄTEN. E VALUIERUNG UNIVERSITÄRER LEISTUNGEN AUS RECHTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHER SICHT. VON EVA PATRICIA STIFTER. 2002. 410 S. BR. ISBN 978-3-205-99317-9 72 KULTURGESCHICHTE DES HEILIGEN RÖMISCHEN REICHES 1648 BIS 1806. VERFASSUNG, RELIGION UND KULTUR. VON P ETER CLAUS HARTMANN. 2001. 510 S. ZAHLR. SW-ABB. GB. ISBN 978-3-205-99308-7

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 34 VOR DER WENDE. POLITISCHES SYSTEM, GESELLSCHAFT UND POLITISCHE REFORMEN IM UNGARN DER ACHTZIGER JAHRE.

HG. VON SÁNDOR KURTÁN. AUS DEM UNGAR. VON ALEXANDER KLEMM. 1993. 272 S. BR. ISBN 978-3-205-05381-1 (VERGRIFFEN)

35 HEGEMONIE UND EROSION. POLITISCHE KULTUR UND POLITISCHER WANDEL IN ÖSTERREICH. VON PETER A. ULRAM. 1990. 366 S. BR.

ISBN 978-3-205-05346-X (VERGRIFFEN)

36 GEHORSAME REBELLEN. BÜROKRATIE UND BEAMTE IN ÖSTERREICH 1780–1848. VON WALTRAUD HEINDL. 1991. 388 S. 12 SW-ABB. GB. ISBN 978-3-205-05370-5 37 KULTUR UND POLITIK – POLITIK UND KUNST. VON MANFRED WAGNER. 1991. 367 S. BR. ISBN 978-3-205-05396-5 38 REVOLUTION UND VÖLKERRECHT. VÖLKERRECHTSDOGMATISCHE GRUNDLEGUNG DER VORAUSSETZUNGEN UND DES INHALTS EINES WAHLRECHTS IN BEZUG AUF VORREVOLUTIONÄRE VÖLKERRECHTLICHE RECHTE UND PFLICHTEN. VON MICHAEL GEISTLINGER. 1991. 554 S. BR. ISBN 978-3-205-05414-6 (VERGRIFFEN) 39 SLOWENIEN – KROATIEN – SERBIEN. DIE NEUEN VERFASSUNGEN. HG. VON JOSEPH MARKO UND TOMISLAV BORIC. 1994. 467 S. BR.

ISBN 978-3-205-98283-5 (VERGRIFFEN)

40 DER BUNDESPRÄSIDENT. KEIN KAISER IN DER REPUBLIK. VON MANFRIED WELAN. 1992. 119 S. BR. ISBN 978-3-205-05529-7 41 WEGE ZUR BESSEREN FINANZKONTROLLE. VON HERBERT KRAUS UND WALTER SCHWAB. 1992. 167 S. BR. ISBN 978-3-205-05530-6 42 BRUCHLINIE EISERNER VORHANG. REGIONALENTWICKLUNG IM ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN GRENZRAUM. VON MARTIN SEGER UND PAL BELUSZKY. 1993. XII, 304 S. 16 S. FARBABB. GB. ISBN 978-3-205-98048-3 43 REGIERUNGSDIKTATUR ODER STÄNDEPARLAMENT? GESETZGEBUNG IM AUTORITÄREN ÖSTERREICH. VON HELMUT WOHNOUT. 1993. 473 S. BR. ISBN 978-3-205-05547-1

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 44 DIE ÖSTERREICHISCHE HANDELSPOLITIK DER NACHKRIEGSZEIT 1918 BIS 1923. DIE HANDELSVERTRAGSBEZIEHUNGEN ZU DEN NACHFOLGESTAATEN. VON JÜRGEN NAUTZ. 1994. 601 S. BR.

ISBN 978-3-205-98118-3 (VERGRIFFEN)

45 REGIMEWECHSEL. DEMOKRATISIERUNG UND POLITISCHE KULTUR IN OST-MITTELEUROPA. HG. VON PETER GERLICH, FRITZ PLASSER UND PETER A. ULRAM. 1992. 483 S. ZAHLR. TAB. UND GRAF. BR. ISBN 978-3-205-98014-8 46 DIE WIENER JAHRHUNDERTWENDE. HG. VON JÜRGEN NAUTZ UND RICHARD VAHRENKAMP. 2. AUFL. 1996. 968 S. 32 S. SW-ABB. GB.

ISBN 978-3-205-98536-5

47 AUSWEG EG? INNENPOLITISCHE MOTIVE EINER AUSSENPOLITISCHEN UMORIENTIERUNG. VON ANTON PELINKA, CHRISTIAN SCHALLER UND PAUL LUIF. 1994. 309 S. BR. ISBN 978-3-205-98051-3 48 DIE KLEINE KOALITION IN ÖSTERREICH: SPÖ – FPÖ (1983–1986). VON ANTON PELINKA. 1993. 129 S. BR. ISBN 978-3-205-98052-2 (VERGRIFFEN) 49 MANAGEMENT VERNETZTER UMWELTFORSCHUNG. WISSENSCHAFTSPOLITISCHES LEHRSTÜCK WALDSTERBEN. VON MAX KROTT. 1994. 325 S. BR. ISBN 978-3-205-98129-9 (VERGRIFFEN) 50 POLITIKANALYSEN. UNTERSUCHUNGEN ZUR PLURALISTISCHEN DEMOKRATIE. VON WOLFGANG MANTL. 2007. 345 S. BR. ISBN 978-3-205-98459-7 51 AUTONOMIE UND INTEGRATION. RECHTSINSTITUTE DES NATIONALITÄTENRECHTS IM FUNKTIONALEN VERGLEICH. VON JOSEPH MARKO. 1995. 632 S. BR. ISBN 978-3-205-98274-6 52 GRUNDZÜGE FREMDER PRIVATRECHTSSYSTEME. EIN STUDIENBUCH. VON WILLIBALD POSCH. 1995. XXVIII, 205 S. BR. ISBN 978-3-205-98387-3 53 IDENTITÄT UND NACHBARSCHAFT. DIE VIELFALT DER ALPEN-ADRIALÄNDER. HG. VON MANFRED PRISCHING. 1994. 424 S. BR.

ISBN 978-3-205-98307-1 (VERGRIFFEN)

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 73 MINDERHEITENFREUNDLICHES MEHRHEITSWAHLRECHT. RECHTS- UND POLITIKWISSENSCHAFTLICHE ÜBERLEGUNGEN ZU FRAGEN DES WAHLRECHTS UND DER WAHLSYSTEMATIK. VON KLAUS POIER. 2001. 379 S. 18 TAB. 8 GRAF. BR. ISBN 978-3-20599338-4 74 RECHTSENTWICKLUNG IM BANNKREIS DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION. VON HUBERT ISAK. BR. ISBN 978-3-205-99326-8. IN VORBEREITUNG. 75 GIGATRENDS. ERKUNDUNGEN DER ZUKUNFT UNSERER LEBENSWELT. HG. VON FRANZ KREUZER, WOLFGANG MANTL UND MARIA SCHAUMAYER. 2003. XII, 339 S. 13 SW-ABB. UND 2 TAB. GB. ISBN 978-3-20598962-2 76 AUTONOMIE IM BILDUNGSWESEN. ZUR TOPOGRAPHIE EINES BILDUNGSPOLITISCHEN SCHLÜSSELBEGRIFFS. VON WALTER BERKA. 2002. 213 S. BR. ISBN 978-3-205-99309-4 77 HOCHSCHULZUGANG IN EUROPA. EIN LÄNDERVERGLEICH ZWISCHEN ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND, ENGLAND UND DER SCHWEIZ. VON ELISABETH HÖDL. 2002. 227 S. BR. ISBN 978-3-205-99421-3 (VERGRIFFEN) 78 FORSCHUNG UND LEHRE. DIE IDEE DER UNIVERSITÄT BEI HUMBOLDT, JASPERS, SCHELSKY UND MITTELSTRASS. VON HEDWIG KOPETZ. 2002. 137 S. 4 SW-ABB. BR. ISBN 978-3-205-99422-0 79 EUROPÄISCHE KULTURGESCHICHTE: GELEBT, GEDACHT,

VERMITTELT. VON MANFRED WAGNER. 2009. 922 S. GB.



ISBN 978-3-205-77754-0

80 KULTUR DER DEMOKRATIE. FESTSCHRIFT FÜR MANFRIED WELAN ZUM 65. GEBURTSTAG. HG. VON CHRISTIAN BRÜNNER, WOLFGANG MANTL, ALFRED J. NOLL UND WERNER PLESCHBERGER. 2002. 383 S. ZAHLR. TAB. UND 1 SW-ABB. GB. ISBN 978-3-205-77005-3 81 OKKUPATION UND REVOLUTION IN SLOWENIEN (1941–1946). EINE VÖLKERRECHT L I C HE UNTERSUCHUNG. VON DIETER BLUMENWITZ. 2005. 162 S. BR. ISBN 978-3-205-77250-7

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 82 DER KONVENT ZUR ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN UNION. HG. VON WOLFGANG MANTL, SONJA PUNTSCHER RIEKMANN UND MICHAEL SCHWEITZER. 2005. 185 S. BR. ISBN 978-3-205-77127-2 83 ART GOES LAW. DIALOGE ZUM WECHSELSPIEL ZWISCHEN KUNST UND RECHT. HG. VON DIETMAR PAUGER. 2005. 269 S. 9 SW-ABB. BR.

ISBN 978-3-205-77128-9

84 DIREKTE DEMOKRATIE UND PARLAMENTARISMUS. HG. VON THEO ÖHLINGER UND KLAUS POIER. 2015. 407 S. BR. ISBN 978-3-205-79665-7 85 HOCHSCHULRECHT – HOCHSCHULMANAGEMENT – HOCHSCHULPOLITIK. SYMPOSION AUS ANLASS DES 60. GEBURTSTAGES VON CHRISTIAN BRÜNNER. HG. VON GERHARD SCHNEDL UND SILVIA ULRICH. 2003. 258 S. 7 GRAF. UND 5 TAB. GB. ISBN 978-3-205-99468-8 86 DAS ZERRISSENE VOLK. SLOWENIEN 1941–1946. OKKUPATION, KOLLA BORATION, BÜRGERKRIEG, REVOLUTION. VON TAMARA GRIESSER-PEČAR. 2003. 583 S. GB. ISBN 978-3-205-77062-6 87 ZUR QUALITÄT DER BRITISCHEN UND ÖSTERREICHISCHEN DEMOKRATIE. EMPIRISCHE BEFUNDE UND ANREGUNGEN FÜR DEMOKRATIEREFORM. VON E. ROBERT A. BECK UND C HRISTIAN SCHALLER. 2003. XXII + 620 S. ZAHLR. TAB. BR. ISBN 978-3-205-77071-8 88 DIE ÖSTERREICHISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN. AUFGABEN, RECHTS S TELLUNG, ORGANISATION. VON HEDWIG KOPETZ. 2006. XX + 457 S. 8 SW-ABB. BR. ISBN 978-3-205-77534-8 89 RAUMFAHRT UND RECHT. FASZINATION WELTRAUM. REGELN ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE. HG. VON CHRISTIAN BRÜNNER, ALEXANDER SOUCEK UND EDITH WALTER. 2007. 200 S. 66. FARB. ABB. BR.

ISBN 978-3-205-77627-7

90 SOZIOKULTURELLER WANDEL IM VERFASSUNGSSTAAT.

PHÄNOMENE POLITISCHER TRANSFORMATION. FESTSCHRIFT FÜR WOLFGANG MANTL ZUM 65. GEBURTSTAG. HG. VON HEDWIG KOPETZ, JOSEPH MARKO UND KLAUS POIER. 2004. 2 BDE. IM SCHUBER. XXIV + 700 S. X + 1000 S. ZAHLR. TAB., GRAF. UND ABB. GB.



ISBN 978-3-205-77211-8

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 91 NATIONALES WELTRAUMRECHT. NATIONAL SPACE LAW. DEVELOPMENT IN EUROPE – CHALLENGES FOR SMALL COUNTRIES. HG. VON CHRISTIAN BRÜNNER UND EDITH WALTER. 2008. 231 S. ZAHLREICHEN ABB. BR. ISBN 978-3-205-77760-1 93 KARL LUEGER (1844–1910). CHRISTLICHSOZIALE POLITIK ALS BERUF. VON JOHN W. BOYER. AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT VON OTMAR BINDER. 2009. 595 S. 19 SW-ABB. GB. ISBN 978-3-205-78366-4 94 DER ÖSTERREICHISCHE MENSCH. KULTURGESCHICHTE DER EIGENART ÖSTERREICHS. VON WILLIAM M. JOHNSTON. BEARBEITET VON JOSEF SCHIFFER. 2009. 384 S. GB. ISBN 978-3-205-78298-8 95 FUNKTIONEN DES RECHTS IN DER PLURALISTISCHEN WISSENSGESELLSCHAFT. FESTSCHRIFT FÜR CHRISTIAN BRÜNNER ZUM 65. GEBURTSTAG. HG. VON SILVIA ULRICH, GERHARD SCHNEDL UND RENATE PIRSTNER-EBNER. 2007. XXIV + 696 S. GB. ISBN 978-3-205-77513-3 97 DEMOKRATIE IM UMBRUCH. PERSPEKTIVEN EINER WAHLRECHTSREFORM. HG. VON KLAUS POIER. 2009. 329 S. MIT ZAHLREICHEN TAB. BR. ISBN 978-3-205-78434-0 98 DIE FREIHEIT DER POLITISCHEN MEINUNGSÄUSSERUNG. IHRE ENTWICKLUNG IM ÖSTERREICHISCHEN UND BRITISCHEN VERFASSUNGSRECHT UND IHRE STAATSPHILOSOPHISCHEN WURZELN. VON STEPHAN G. HINGHOFER-SZALKAY. 2011. 307 S. 2 TAB. UND 3 GRAFIKEN. BR. ISBN 978-3-205-78622-1 99 DER UMFANG DER ÖSTERREICHISCHEN GESCHICHTE. AUSGEWÄHLTE STUDIEN 1990–2010. VON GERALD STOURZH 2011. 344 S. BR.

ISBN 978-3-205-78633-7

101 SKURRILE BEGEGNUNGEN. MOSAIKE ZUR ÖSTERREICHISCHEN GEISTESGESCHICHTE. MIT EINEM VORWORT VON WILLIAM M. JOHNSTON. VON NORBERT LESER. 2011. 254 S. 2 S/W-ABB. GB. MIT SU. ISBN 978-3-205-78658-0 102 SOFT LAW IN OUTER SPACE. THE FUNCTION OF NON-BINDING NORMS IN INTERNATIONAL SPACE LAW. HG. VON IRMGARD MARBOE. 2012. 407 S. FRANZ. BR. ISBN 978-3-205-78797-6

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STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG HERAUSGEGEBEN VON ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS POIER, GERHARD SCHNEDL, EVA SCHULEV-STEINDL 103 EUROPASPRACHEN. HERAUSGEGEBEN VON PETER CICHON UND MICHAEL MITTERAUER. 2011. 166 S. BR. MIT SU. ISBN 978-3-205-78608-5 104 BILDUNG, WISSENSCHAFT, POLITIK. CHRISTIAN BRÜNNER ZUM 72. GEBURTSTAG. HERAUSGEGEBEN VON WERNER HAUSER UND ANDREAS THOMASSER. 2014. 1042 S. GB. MIT SU. ISBN 978-3-205-78944-4 105 LEBENSZEUGNISSE ÖSTERREICHISCHER VIZEKANZLER. DAS POLITISCHE SYSTEM ÖSTERREICHS IM EUROPÄISCHEN VERGLEICH. 2012. ISBN 978-3-205-77759-5 106 ÖSTERREICH AUF DEM WEG ZUR DEMOKRATIE? AUFMERKSAME

BEOBACHTUNGEN AUS EINEM HALBEN JAHRHUNDERT. 2012. 358 S.



GB. MIT SU. ISBN 978-3-205-78853-9

107 JOSEPHINISCHE MANDARINE. BÜROKRATIE UND BEAMTE IN ÖSTERREICH BAND 2: 1848–1914. 2013. 332 S. GB. MIT SU. ISBN 978-3-205-78853-9 108 HEIMATRECHT UND STAATSBÜRGERSCHAFT ÖSTERREICHISCHER JUDEN. VOM ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS BIS IN DIE GEGENWART. 2014. 274 S. GB. MIT SU. ISBN 978-3-205-79495-0 109 TRANSPARENZ UND KOMMUNIKATION DER EUROPÄISCHEN UNION IM LICHTE DES ART. 15 AEUV. 2015. CA. 240 S. BR. ISBN 978-3-205-79608-4 110 ZUR KULTURGESCHICHTE ÖSTERREICHS UND UNGARNS 1890–1938. 2015. 328 S. GB. MIT SU. ISBN 978-3-205-79541-4

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WILLIAM M. JOHNSTON

ÖSTERREICHISCHE KULTURUND GEISTESGESCHICHTE GESELLSCHAFT UND IDEEN IM DONAURAUM 1848 BIS 1938

Wer erinnert sich heute noch daran, dass etwa die moderne Sprachphilosophie, die Psychoanalyse, die Soziologie des Wissens, der Feuilletonismus, der Ästhetizismus Hofmannsthalscher Prägung, die Reine Rechtslehre, die Zwölftonmusik von Österreich aus ihren Weg angetreten haben? Viele der Persönlichkeiten, die dieses Buch behandelt, sind weltbekannt geworden und geblieben, andere wieder sind so gut wie vergessen, aber ihr Beitrag zu einem neuen Weltbild verdient es sehr wohl, sich mit ihnen auseinander zu setzen. In derselben Stadt, in der Johann Strauß die „schöne blaue Donau“ glorifi zierte, rang Schönberg um einen neuen musikalischen Kosmos, und in einer dem Ästhetizismus überschwänglich huldigenden Gesellschaft, die von verlogenen Tabus gezeichnet war, haben Freud und Karl Kraus das Dickicht der Zweideutigkeiten und Doppelzüngigkeiten kompromisslos durchbrochen. Kontraste wie Lebenslust und Todestrieb, therapeutischer Nihilismus und Ignaz Semmelweis, Makart und Schiele, Brentano und Wittgenstein, Otto Weininger und Rosa Mayreder zeigen, wie vielfältig traditionelle und moderne Strömungen einander befruchten. 4. ERG. AUFL. 2006, XXXV, 506 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-77498-3

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